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German Pages 358 [360] Year 2009
Marco Böhlandt Verborgene Zahl – Verborgener Gott
SUDHOFFS ARCHIV Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte –––––––––––––––––––––––– Beihefte Herausgegeben von Klaus Bergdolt Peter Dilg Menso Folkerts Gundolf Keil Fritz Krafft Heft 58
Marco Böhlandt
Verborgene Zahl – Verborgener Gott Mathematik und Naturwissen im Denken des Nicolaus Cusanus (1401–1464)
Franz Steiner Verlag 2009
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09289-0 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. © 2009 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Printed in Germany
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Danksagung Die vorliegende Abhandlung wurde im Sommer 2006 als Dissertation an der Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften der Ludwig-MaximiliansUniversität München angenommen. Herzlich danke ich meinem Betreuer Herrn Prof. Dr. Menso Folkerts für die tatkräftige Unterstützung dieser Arbeit, seine beständigen Zuspruch und seine vielen wertvollen Anregungen im Zusammenhang mit diesem Forschungsvorhaben, ohne die die schiere Masse des Materials kaum zu bewältigen gewesen wäre. Ich möchte ferner Frau Prof. Dr. Claudia Märtl für ihre Bereitschaft danken, sich der vorliegenden Arbeit als Zweitgutachterin anzunehmen. Dank gebührt auch den Mitarbeitern am Lehrstuhl für Geschichte der Naturwissenschaften, insbesondere Frau Rosemarie Jakimenczuk, für viel Verständnis und moralische Unterstützung. Mein abschließender und besonderer Dank gilt meinen Eltern Barbara und Dietmar Böhlandt. Für alles.
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Für Michael (in Erinnerung)
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INHALTSVERZEICHNIS
Siglenverzeichnis ................................................................................................... 11 1. Einleitung ........................................................................................................... 15 1.1. Zielsetzung ...................................................................................................... 15 1.2. Formalia .......................................................................................................... 20 1.2.1. Editionen und Übersetzungen der mathematischen Schriften ............................... 20 1.2.2. Anmerkungen zur Zitierweise
....................................................................... 20
1.2.3. Nomenklatur
............................................................................................. 21
1.2.4. Orthographie
............................................................................................. 21
1.2.5. Zur Berechnungsgrundlage ........................................................................... 21
2. Die frühen Jahre: Komputistik, Kosmologie, Konjektur ................................... 22 2.1. Biographische Prämissen. Von der Unmöglichkeit einer ‚Vita Cusani‘
........................ 22
2.2. ‚In die Welt‘. Nikolaus universitäre Ausbildung in Heidelberg, Padua und Köln ............ 27 2.3. ‚Alle Zeit der Welt‘. Erste Pfründen und die Kalenderreformfrage auf dem Basler Konzil ................................................................................................... 41 2.4. Londoner Skizzen. Ein früher Beitrag zur Sehnenrechnung im Cod. Harl. 3631 ............ 48 2.5. ‚Der Lauf der Welt‘. Begegnung mit Ptolemaios
..................................................... 52
2.6. ‚Die Mitte der Welt‘. Eine kosmologische Skizze im Cod. Cus. 211 ............................ 59 2.7. Vom Ende der Welt (und der Macht der Sterne). Die astrologischen und apokalyptischen Beiträge der frühen Jahre....……………………………………..67 2.8. Zusammenfassung und Ausblick .......................................................................... 82
3. Die theologisch-philosophischen Grundlagen der cusanischen Mathematik .... 83 3.1. Begrenzung und Entgrenzung: De docta ignorantia. Aufbruch ins Unendliche .............. 83 3.1.1. Die Leiter der Erkenntnis: sensus, imaginatio, ratio und intellectus ....................... 83 3.1.2. Circulus infinitus. Mittelalterliche Approximationsmathematik?
.......................... 93
3.1.3. Flächen und Winkel. Spekulationen über das ‚unendliche Dreieck‘ ....................... 97 3.1.4. Drehen und Ziehen. Von der Linie zur Kugel.................................................. 100 3.1.5. Paradoxien über das Universum. Die endliche Grenzenlosigkeit des Alls ............. 104 3.1.6. Fazit. Drei Formen der Unendlichkeit in einer Einheit ...................................... 105
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Inhaltsverzeichnis
3.2. Kunst der Mutmaßung. Erkenntnisbegriff, Zahlenlehre und Kosmologie in De coniecturis ................................................................................................ 107 3.2.1. Blick zurück im Zweifel. Die Logik der Mutmaßung
....................................... 107
3.2.2. Paradigmenwechsel. Zahlenmystik vs. Geometrische Analogie .......................... 113 3.2.3. Figura paradigmatica. Das Licht der Welt(en) ............................................... 119 3.2.4. Progressio naturalis. Der (mutmaßliche) Ursprung der Zahlenreihe .................... 130 3.2.5. Figura universi. Die Nummerierung der Himmel ............................................ 142 3.2.6. Die figura universi. Ein Schaubild zur harmonia mundi? .................................. 154 3.2.7. Audire aure intellectus. Musik und Mutmaßung .............................................. 164 3.2.8. Gedankenspiele. Die konjekturale Erkenntnislehre in den Dialogen De ludo globi .......................................................................................... 175 3.2.9. Zusammenfassung und Ausblick .................................................................. 187
4. Die Quadraturschriften .................................................................................... 188 4.1. Verwandlungskünste. De geometricis transmutationibus ......................................... 188 4.2. Nachrechnen. De arithmeticis complementis ......................................................... 207 4.3. Grenzgänge. De circuli quadratura ..................................................................... 222 4.4. Neue Einfachheit, neue Vorbilder. Drei Bücher über den Laien ................................ 226 4.5. Dunkle Bücher. Die Quadraturtraktate der 1450er Jahre .......................................... 236 4.6. Neue Einfachheit. Dialogus de quadratura circuli ................................................. 264 4.7. Der ‚lächerliche Geometer‘. Regiomontans Stellungnahmen und ein unbekannter Traktat ........................................................................................................... 269 4.8. Bar aller Bücher. De caesarea circuli quadratura .................................................. 278 4.9. Vollendung und Vollkommenheit. De mathematica perfectione................................ 282 4.10. Goldene Regeln. Aurea propositio in mathematicis .............................................. 301
5. Schlussbetrachtung .......................................................................................... 305 Literaturverzeichnis ............................................................................................. 312 Register ................................................................................................................ 356
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SIGLENVERZEICHNIS 1. WERKAUSGABEN
h……………………...………………………Nicolai de Cusa Opera Omnia, Iussu et auctoritate Academiae Litterarum Heidelbergensis ad codicum fidem edita, Leipzig / Hamburg 1932ff. p…………………………………………….Nicolai Cusae Cardinalis Opera, in 3 Bänden, ed. Jacques Lefèvre d´Etaples (Faber Stapulensis) u.a., Paris 1514 [Nachdruck: Kurt Flasch (Hg.), Frankfurt 1962] a……………………………………………. Werke des Nikolaus von Kues, (Neuausgabe des lateinischen Inkunabeldrucks von Martin Flach, Straßburg 1488) in 2 Bänden, Paul Wilpert (Hg.), Berlin 1976 b…………………………………………… D. Nicolai de Cusae Cardinalis Opera, [teils. Nachdruck der Ausgabe Paris 1514], ed. Henricus Petri, Basel 1565 MATH. SCHRIFTEN……………………..Nikolaus von Kues, Die mathematischen Schriften, Schriften des Nikolaus von Kues in deutscher Übersetzung, Heft 11, Josepha Hofmann (Übers.), Joseph Ehrenfried Hofmann (Vorwort und Kommentar), Hamburg 19803 NvKdÜ……………………………………. Schriften des Nikolaus von Kues in deutscher Übersetzung, hrsg. Im Auftrage der Heidelberger Akademie der Wissenschaften Leipzig 1932ff und Hamburg 1949ff. RN………………………………………......Joannis de Regio Monte de triangulis libri quinque, Johannes Schöner (Hg.), Nürnberg 1533 [Ausgabe der Dreieckslehre des Regiomontanus, enthält als Anhang verschiedene Stellungnahmen Regiomontans zu den Quadraturschriften des Nikolaus von Kues]
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Siglenverzeichnis
2. EINZELNE SCHRIFTEN [Abkürzungen für die mathematischen Schriften nach: Nikolaus von Kues, Die mathematischen Schriften, Schriften des Nikolaus von Kues in deutscher Übersetzung, Heft 11, Joseph Ehrenfried Hofmann (Hg.), Hamburg 19803]
AP Apol. doct. ign. CA CC CM Comp. De beryl. DC De conc. Cathol. De coni. De ludo De mente De non aliud De poss. DQ De sap. De stat. exper. De theol. compl. De vis. Doct. ign. PM QC TG Ven. sap.
Aurea propositio in mathematicis Apologia doctae ignorantiae De arithmeticis complementis De caesarea circuli quadratura De mathematicis complementis Compendium De beryllo De circuli quadratura De concordantia catholica De coniecturis De ludo globi Idiota de mente Directio speculantis seu de non aliud De possest Dialogus de circuli quadratura Idiota de sapientia Idiota de staticis experimentis De theologicis complementis De visione Dei De docta ignorantia De mathematica perfectione De quadratura circuli De geometricis transmutationibus De venatione sapientiae
3. REIHEN CCSL …………………………………...Corpus Christianorum. Series Latina, Turnhout 1953ff. CSEL………………………………….…Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum, Wien 1866ff. CST……………………………………....Cusanus-Studien, In: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (Philosophisch-Historische Klasse), Heidelberg 1930ff. CT…………………………………..…….Cusanus-Texte, In: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (Philosophisch-Historische Klasse), Heidelberg 1929ff.
Siglenverzeichnis
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MFCG………………………………….. Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft, Rudolf Haubst (Hg.), Mainz 1961ff. PG Migne………………………………. Patrologia Graeca, Jacques Paul Migne (Hg.), Paris 1856ff. PL Migne………………………………. Patrologia Latina, Jacques Paul Migne (Hg.), Paris 1844ff.
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1. EINLEITUNG It has been well said, that the good people who rummage among a dead man’s papers and publish any of them they choose, have added another terror to death. (John Louis Emil Dreyer)1
1.1. ZIELSETZUNG Im Vergleich zu den philosophisch-theologischen Hauptschriften des deutschen Kardinals, Kirchenrechtlers, Theologen und Philosophen Nikolaus von Kues (1401–1464), die gerade in der jüngeren Vergangenheit besonders durch ihre systematische Aufarbeitung im Umfeld der Cusanus-Gesellschaft gut erforscht sind, wurden insbesondere die elf uns direkt überlieferten mathematischen Traktate, die alle das Problem der Kreisquadratur zum Thema haben und verstreut über einen Zeitraum von fast zwanzig Jahren entstanden, bisher nur selten zum Gegenstand eingehenderer Untersuchungen. Zwar hatte, wie Fritz Nagel überzeugend dargestellt hat, die Wiederentdeckung der cusanischen Philosophie im frühen 20. Jahrhundert einige Arbeiten der noch jungen mathematikhistorischen Forschung im 19. Jahrhundert zur Voraussetzung.2 Diese aber konnten nur auf einen rudimentären Quellenfundus zurückgreifen und deshalb lediglich ein sehr verzerrtes Bild der cusanischen Beiträge zur Mathematik gewinnen. Zugleich zeugen einige dieser frühen mathematikhistorischen Untersuchungen deutlich von einer generell metaphysik-skeptischen Grundhaltung, die die vielen philosophischen Referenzen und Exkurse innerhalb der mathematischen Schriften des Kusaners als sachfremd und verfälschend betrachtete, und dessen mathematische Befähigung entsprechend abqualifizierte.3 1
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John Louis Emil Dreyer: A History of Astronomy from Thales to Kepler, New York 21953 (Erstauflage 1905 mit abweichendem Titel: History of the Planetary Systems from Thales to Kepler), S. 287. Nagel, S. 166-172. Siehe hierzu: Abraham Gotthelf Kästner: Geschichte der Mathematik. Seit der Wiederherstellung der Wissenschaften bis an das Ende des achtzehnten Jahrhunderts, Bd. 1, Göttingen 1796 [Nachdr.: Hildesheim 1970], S. 40f.; Georg Simon Klügel: Mathematisches Wörterbuch (oder Erklärung der Begriffe, Lehrsätze, Aufgaben und Methoden der Mathematik mit den nöthigen Beweisen und litterarischen Nachrichten begleitet in alphabetischer Ordnung), Bd. 4, Leipzig 1823, S. 77-81; Michel Chasles: Geschichte der Geometrie (hauptsächlich mit Bezug auf die neueren Methoden), Brüssel 1837 [unveränd. Neudr.: Vaduz (Liechtenstein) 1988], S. 622f., Paul Schanz: Der Cardinal Nicolaus von Cusa als Mathematiker, Rottweil 1872 [Nachdruck: Wiesbaden 1976]. Besonders nachdrücklich bei Hermann Hankel: Zur Geschichte der Mathematik in Altertum und Mittelalter, Hildesheim 21965 (Leipzig 1874), S. 352.
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1. Einleitung
Tatsächlich muss man zugestehen, dass die Rekonstruktion vieler von Nikolaus’ mathematischen Ideen erheblicher Mühen bedarf (und sie diese oft auf den ersten, flüchtigen Blick kaum wert zu sein scheinen). Zum einen lässt Nikolaus zumeist jene strukturelle Klarheit und methodische Stringenz vermissen, die sich in den Schriften einiger anderer Mathematiker des 15. Jahrhunderts durchaus finden lassen. Zum anderen verleiten die vielen allgemein-philosophischen Ableitungen innerhalb dieser Texte schnell dazu, die vermeintlich nebensächlichen mathematischen Details zurückzustellen. Dabei sind es gerade die konkreten Konstruktionsvorschriften, Beweisverfahren und (wenn auch seltenen) Berechnungen, die zeigen, dass Nikolaus in der Mathematik zwar auch, aber eben nicht allein ein Vehikel zur Veranschaulichung der Grundsätze seiner philosophierenden Theologie sah. Mit dem Einsetzen der breit gefächerten ‚Cusanus-Renaissance‘ im 20. Jahrhundert, die vor allem durch Ernst Cassirers Arbeit zu Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance angestoßen wurde,4 kam es dann zu einer gewissen Polarisierung, in der Nikolaus’ philosophiegeschichtliche Bedeutung (bis heute) stetig wuchs, er gleichzeitig aber von Seiten der Wissenschafts- und Mathematikgeschichte mehr und mehr zur Ausnahmeerscheinung des an Naturwissenschaft und Mathematik interessierten, letztlich aber in diesen Bereichen wenig kompetent, ja, naiv vorgehenden ‚hauptamtlichen‘ Theologen und Philosophen marginalisiert wurde − zumeist, ohne dass diese Einschätzungen detailliert dargelegte Interpretationen seiner mathematischen Schriften begleiteten. Man muss dabei im Blick behalten, dass wir es bei nicht wenigen Vertretern der frühen Mathematikgeschichte mit Beurteilern zu tun haben, deren eigentliche Expertise, fernab einer historisch-kritischen Methode, vor allem im Bereich der Mathematik lag und (vielleicht etwas harsch formuliert) nur durch ein bildungsbürgerlichhumanistisches Geschichtsinteresse begleitet wurde. Eine wichtige Ausnahme stellen die Arbeiten Joseph Ehrenfried Hofmanns dar, der sich immer wieder mit bewundernswerter Ausdauer diesen teils so schwer verständlichen mathematischen Stücken gewidmet hat. Wir verdanken ihm nicht nur einige der fundiertesten Analysen zur cusanischen Mathematik, sondern auch die unter maßgeblicher Mitwirkung von Josepha Hofmann entstandene erste deutsche Gesamtausgabe der Quadraturtraktate, die bis heute, trotz einiger zwischenzeitlicher Veränderungen des Quellenstandes, eines der wichtigsten Werkzeuge für die mathematikhistorische Einordnung des Kusaners liefert. Die Arbeiten Hofmanns waren für die vorliegende Abhandlung von unschätzbarem Wert. Es wäre entsprechend einigermaßen vermessen, den Anspruch zu erheben, Hofmanns Beiträge auch nur annähernd ersetzen zu können. Ziel soll es vielmehr sein, einerseits unter Berücksichtigung des aktuellen Quellenstandes zu Nikolaus von Kues und der ihm möglicherweise zu Gebote stehenden mathematischen Quellen einen Überblick zu Nikolaus’ Auseinandersetzung mit einem für 4
Ernst Cassirer: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Berlin u. Leipzig 1927.
1.1. Zielsetzung
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sein gesamtes intellektuelles Schaffen zentralen Gegenstand, dem Problem der Kreisquadratur, zu geben. Zugleich sollen die mathematischen Einzelschriften einerseits mit Nikolaus’ an anderer Stelle, teils innerhalb der philosophisch-theologischen Schriften, teils aber auch als eigenständige Arbeiten, vorgebrachten Ansätzen zu (im weitesten Sinne) naturwissenschaftlichen Problemfeldern in Relation gesetzt werden. Dabei sollen (und, wie wir noch sehen werden, müssen) kursorisch auch die philosophischen und theologischen Grundlagen seiner konkreten naturwissenschaftlichmathematischen Studien beleuchtet werden, insbesondere, da letztere ohne ein Verständnis der cusanischen Grundauffassungen zu Wesen, Methodik und Nutzen von Mathematik und Naturlehre oft gänzlich unverständlich bleiben. Hier spielen vor allem die Verwendung geometrischer, (elementar-)arithmetischer und kosmologischer Symbole innerhalb der frühen Schriften zur Erkenntnislehre und Seinsmetaphysik eine Rolle. Gerade aus diesen lassen sich viele wertvolle Schlüsse auf Nikolaus’ Kenntnisstand in Mathematik, Astronomie und Naturphilosophie ausfiltern. Es ist dabei kaum möglich – dies die nachgeradezu unvermeidliche klassische Apologetik historischer Abhandlungen –, mehr als nur Schlaglichter auf dieses breite Themengebiet zu werfen. Nikolaus von Kues war ein ebenso vielseitiger wie produktiver Autor. Neben der großen Zahl umfangreicher Schriften zu Philosophie, Theologie, Gesellschaftstheorie und Religionspolitik sind eine wahre Fülle von Predigten, Briefen, Urkunden, Notizen, Glossierungen und Skizzen erhalten geblieben, was zwar für die Cusanus-Forschung insgesamt fraglos einen Glücksfall ist, diejenigen aber vor unüberwindbare Probleme stellen muss, die trotz der schieren Unüberschaubarkeit des Materials ihre Untersuchungen mit einem Vollständigkeitsanspruch unterlegen. Natürlich ist fraglich, wie viel von den erhaltenen Quellen für einen größeren Rezipientenkreis bestimmt war, und welche Bedeutung Nikolaus diesen Texten im Einzelnen selbst beigemessen hat. Das gilt insbesondere für den schriftlichen Nachlass aus Nikolaus’ Frühzeit, worunter ich hier vorrangig die Zeit zwischen seinem Studienbeginn in Heidelberg 1417 und der ersten großen philosophischtheologischen Arbeit De docta ignorantia von 1440 zusammenfassen will. Für diesen Zeitraum liegen uns nur wenige gesicherte biographische Daten vor, und was darüber hinaus an schriftlichen Zeugnissen erhalten geblieben ist, liefert ein bestenfalls brüchiges Bild von Nikolaus’ intellektueller Tätigkeit in diesen Jahren. Dennoch ist gerade diese Zeit für die Bewertung seiner mathematischnaturwissenschaftlichen Leistungen wichtig, denn es wird zu klären sein, inwiefern Nikolaus bei seinen grundsätzlichen Überlegungen zum Wesen der Mathematik wie auch bei seinen späteren fachmathematischen und naturwissenschaftlichen Beiträgen auf eine entsprechende Vorbildung bauen konnte. Im ersten Teil dieses Buches (Die frühen Jahre: Komputistik, Kosmologie, Konjektur) soll genau diese Frage, soweit eben möglich, geklärt werden. Zugleich sollen dabei wichtige Einflüsse, die Nikolaus’ Wissenschaftsverständnis wie auch die in diesen Jahren schon nachweisbaren Interessen an praktischen ma-
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1. Einleitung
thematisch-naturwissenschaftlichen Problemen bestimmt haben könnten, aufgezeigt werden. Der zweite Großabschnitt dieser Abhandlung (Die philosophischtheologischen Grundlagen der cusanischen Mathematik) ist weitgehend philosophiegeschichtlich ausgerichtet. Die Übergänge von Philosophie, Theologie und Mathematik sind bei Nikolaus von Kues fließend. Prinzipiell ist das zwar weder für ihn noch für seine Zeit spezifisch, sondern letztlich fast so etwas wie eine Kenngröße der vormodernen Wissenschaften insgesamt. So eng wie bei Nikolaus aber stehen Mathematik und Zahlenmystik, Physik und Metaphysik, Astronomie und Kosmologie selten zusammen. Ohne die Prämissen aus seiner Seins- und Erkenntnislehre und den zu ihrer Erläuterung vorgebrachten mathematischen Symbolismen sind Nikolaus’ Beiträge zu Mathematik und Naturwissenschaft daher kaum verständlich. Schon deshalb nimmt die Behandlung dieser Aspekte hier viel Raum ein. Mathematik spielt allerdings eine derart zentrale Rolle bei Nikolaus von Kues, dass eine erschöpfende Auseinandersetzung mit ihrer philosophisch-theologischen Instrumentalisierung in seinen Schriften streng genommen einer Gesamtschau seiner geistigen Entwicklung gleichkommen müsste. Ich habe stattdessen versucht, aus den ersten beiden großen philosophisch-theologischen Abhandlungen De docta ignorantia und De coniecturis nur die wichtigsten Aspekte der cusanischen Erkenntnis-, Seins- und Gotteslehre herauszuarbeiten, wobei damit in keiner Weise angedeutet werden soll, dass dadurch bereits so etwas wie eine integrale ‚cusanische Lehre‘, etwa im Sinne einer philosophisch-theologischen Schulrichtung, bestimmt werden könnte. Ob Nikolaus’ Werk sich überhaupt auf diese Weise fassen lässt, ist fragwürdig. Es geht hier allein um das Herausstellen von Grundzügen des philosophisch-theologischen Denkens des Kusaners, insofern diese für die Genese seiner mathematisch-naturwissenschaftlichen Beiträge von Bedeutung waren, bzw. insofern sie selbst (direkt oder indirekt) Aspekte der Naturlehre und Mathematik berühren. Im Zentrum des dritten und umfangreichsten Abschnitts (Die Quadraturschriften) stehen Nikolaus’ Schriften zum Problem der Kreisquadratur, bzw., allgemeiner formuliert, der Kurvenrektifikation, dessen Lösung Nikolaus sich selbst, wie er in seiner Schrift De coniecturis (~1453) anmerkt, zu einer Lebensaufgabe gemacht hatte.5 Für Nikolaus hat die Quadraturfrage nicht nur in der Mathematik, sondern auch in der Philosophie eine Schlüsselstellung eingenommen. Es ist deshalb nicht möglich (und soll auch gar nicht versucht werden), Nikolaus’ mathematische Schriften vollständig aus philosophischen Kontexten herauszulösen. Dennoch soll auch eine im engeren Sinne mathematische Überprüfung von Nikolaus’ Ansätzen unternommen werden, um so ein Bild seiner fachmathematischen Fähigkeiten und seiner konkreten Ergebnisse in der Sache zu gewinnen und 5
De coniecturis (= Opera omnia 3), Karl Bormann/Josef Koch/Johannes Gerhard Senger (Hgg.), Hamburg 1972 [im Folgenden zit. als: De coni., h 3], lib. 1, cap. 2, n 82, S. 80, Z. 2123: Temptabo hanc demonstrationibus aliquando vita comite explicare, ut ipsam scientiam hac via ad sufficientiam quandam reducam.
1.1. Zielsetzung
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ihn damit auch vor dem mathematikhistorischen Hintergrund seiner Zeit einordnen zu können. Es mag manchem Leser ungerecht erscheinen, wenn im Folgenden mathematische und naturwissenschaftliche Denk- und Darstellungsweisen einer Vergangenheit, deren fast alle Lebensbereiche betreffende ‚Fremdheit‘ sogar durch die Grenzziehung eines Epochenbegriffs untermauert wird, in das enge Gerüst moderner Formelsprachen gezwängt werden. Ein rein beschreibender Nachvollzug aber müsste, auch wenn durch aufrichtiges Bemühen um historische Integrität motiviert, unweigerlich in einen Verschleierungsdialekt münden, der nur auf Grundlage eines (ganz gezielt) vieldeutigen und ornamentalen Sprachgestus intellektuellen Tiefgang und Innovationsgeist impliziert. Gerade Nikolaus von Kues, der schon in seiner Zeit für exotische Wortschöpfungen und weitläufige Gedankenkaskaden geradezu berüchtigt war, liefert uns in der Verweisungsvielfalt und starken Symbolsprachlichkeit seines Schriftwerks eine breite Projektionsfläche, die auch in der jüngeren Vergangenheit nicht selten riskante Diskurse über Modernität und Universalität des auch ohne solche Spekulationen unumstritten großen Denkers ausgelöst hat. Gleich von ‚des Kaiser neuen Kleidern‘ zu sprechen, wäre sicher völlig verfehlt. Und dennoch: eine Art ‚Entkleidung‘ tut not, wenn wir begreifen wollen, wie nah oder fern uns Nikolaus’ mathematischnaturwissenschaftlichen Vorstellungen tatsächlich sind, eine Entkleidung von allzu euphorischen (da mehr intuitiv verallgemeinernd als konkret prüfend getroffenen) historischen Gesamturteilen auf der einen, eine Entkleidung von allzu großen hermeneutischen Bedenken auf der anderen Seite. Denn dass der moderene ‚Mathematiker-Typus‘ nicht zum Maßstab eines Renaissancegelehrten taugt, ist eine Selbstverständlichkeit und stumme Voraussetzung aller hier nachfolgenden Analysen. Zum Schluss des Anfangs eine Bitte um Verständnis: ohne ein Mindestmaß an mathematischem Formel- und Begriffswerk kommt diese Abhandlung nicht aus. Eher philosophiehistorisch interessierte Leser mögen die im engeren Sinne mathematischen Anteile dieses Buches unter Umständen als ‚störendes‘ Beiwerk erscheinen. Ich habe versucht, beim Aufbau der einzelnen Kapitel dieser Leserschaft Rechnung zu tragen, so dass die stärker mathematisch geprägten Abschnitte übersprungen werden können, ohne dass dadurch große Lücken im Gesamtnachvollzug entstehen. Umgekehrt sollten auch die mathematischen Analysen losgelöst von den stärker philosophisch-theologischen Anteilen dieser Abhandlung veständlich sein. Ich hoffe, dass mir beides im Rahmen des Möglichen gelungen ist. Die vorliegende Abhandlung wurde im Sommer 2006 als Dissertation an der Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften der Ludwig-MaximiliansUniversität München angenommen.
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1. Einleitung
1.2. FORMALIA 1.2.1. Editionen und Übersetzungen der mathematischen Schriften Die bisher für die mathematischen Schriften des Nikolaus von Kues maßgebliche Ausgabe ist die von Joseph Ehrenfried Hofmann, die die Quadraturtraktate in deutscher Übersetzung (von Josepha Hofmann) und eine Vielzahl überaus wertvoller, für das Verständnis der cusanischen Quadraturansätze nach wie vor unentbehrlicher Anmerkungen enthält. Eine lateinische Ausgabe, erstellt von Menso Folkerts, befindet sich derzeit in der Endredaktion und erscheint innerhalb der Werkausgabe der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (dort: Band XX (= Scripta Mathematica)). Diese kritische Edition, die auch neue Quellenfunde berücksichtigt, wird in Zukunft die maßgebliche Referenzquelle für die mathematischen Werke des Nikolaus von Kues sein. Ich danke an dieser Stelle Menso Folkerts herzlich, dass er mir die jeweils aktuellen Fassungen der Ausgabe der Scripta Mathematica zur Verfügung gestellt hat. Da bis zum Abschluss der vorliegenden Abhandlung allerdings noch keine endgültige Fassung dieser Ausgabe vorlag, mithin vollkommen gesicherte Seiten- und Zeilenangaben nicht gewährleistet werden konnten, wird bei allen Verweisen auf die mathematischen Schriften zusätzlich zu den Stellenangaben nach der Sammeledition von Menso Folkerts auf mindestens eine weitere lateinische Quelle verwiesen (Handschriften, Renaissancedrucke oder moderne (Teil-)Editionen). Zusätzlich wird, wo möglich, die jeweilige Referenz innerhalb der deutschen Übersetzung von Josepha Hofmann angegeben. Alle übrigen Werke des Nikolaus von Kues werden (mit Ausnahme einiger Notizen und Textfragmente) nach der Heidelberger Akademieausgabe zitiert.
1.2.2. Anmerkungen zur Zitierweise Alle Zitate sowie Buch- und Aufsatztitel stehen in Kursiv-Druck, längere Zitatpassagen sind abgesetzt und eingerückt. Einfügungen und Anmerkungen durch den Autor stehen durchgängig in eckigen Klammern (‚[Einfügung (Anm. d. Autors)]‘). Auslassungen in zitierten Passagen werden durch […] gekennzeichnet. In lateinischen Zitaten wurden Auslassungen (‚(zu streichender Wortteil)‘) und Zusätze (‚[einzufügender Wortteil]‘) mit Hinblick auf die klassische Grammatik bzw. Orthographie vorgenommen. Gesperrt gedruckte Zitatteile sind, soweit nicht anders vermerkt, Hervorhebungen durch den Verfasser dieser Abhandlung. Platon-Stellen werden verkürzt nach der dreibändigen Gesamtausgabe von Henricus Stephanus (auch: Henri Étienne) (Paris 1578) annotiert (Bsp.: Plat. Symp. 206a = Platon: Symposion, Stephanus-Seite 206, Seitenabschnitt a). Bei Aristoteles werden angegeben: abgekürzter Titel, Buch, Kapitel, Seite, Spalte (a
1.2. Formalia
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bzw. b) und Zeile nach der (insgesamt fünfbändigen) Ausgabe der Preußischen Akademie von Immanuel Bekker (Berlin 1831-1870) (Bsp.: Aristoteles: Met. K 12.1068a8-10 = Aristoteles: Metaphysik, Buch 11, Kap. 12, Bekker-Seite 1068, Sp. a, Z. 8-10). Bei Zitaten aus den euklidischen Elementen werden, mit Ausnahme von expliziten Referenzen auf mittelalterliche Übersetzungen, keine spezifischen Ausgaben, Seiten- oder Zeilenangaben angeführt. Bei der verkürzten Form ‚Elem. 3. 23’ bezeichnet die erste Zahl das Buch, die zweite die Proposition. ‚Def.‘ steht in diesem Zusammenhang für ‚Definition‘. Bei Internet-Quellen wird neben dem URL der Autor (wo angegeben) und der Stand (Datum der letzten Aktualisierung) der jeweiligen Webseite angegeben. Bei Abbildungen steht der Quellennachweis in der Bildunterschrift. Wo zur Verbesserung der Lesbarkeit notwendig, wurden die Abbildungen digital nachbearbeitet.
1.2.3. Nomenklatur Der vorliegende Text verwendet die Namen ‚Nikolaus von Kues‘, ‚(Nicolaus) Cusanus‘ und ‚der Kusaner‘ synonym.
1.2.4. Orthographie Die vorliegende Arbeit folgt der neuen deutschen Rechtschreibung. Deutsche Zitate, Buchtitel etc. werden allerdings vollständig in der originalen Schreibweise wiedergegeben.
1.2.5. Zur Berechnungsgrundlage Nikolaus führt seine Berechnungen auf der Grundlage des Sexagesimalsystems aus. Zur besseren Verständlichkeit wird in der vorliegenden Arbeit überwiegend in das dezimale System umgerechnet.
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2. DIE FRÜHEN JAHRE: KOMPUTISTIK, KOSMOLOGIE, KONJEKTUR Though disciplines in the Middle Ages, whether theology, astronomy or natural philosophy, were considerably distinct […], there can always be found a constant concern running through the entire period to pull them together into a coherent framework to representthe culture as a whole 6 (W.G.L. Randles)
2.1. BIOGRAPHISCHE PRÄMISSEN. VON DER UNMÖGLICHKEIT EINER ‚VITA CUSANI‘ Seine ersten im engeren Sinne fachmathematischen Exkurse, oder, genauer, jene, von denen wir über direkte Quellenzeugnisse verfügen, unternimmt Nikolaus spät, als bereits 44-jähriger vielbeachteter Kanonist und Kirchenpolitiker und in der Nachfolge zweier gleich bedeutender wie kontroverser7 philosophischtheologischer Grundsatzschriften, De docta ignorantia (1440) und De coniecturis (zwischen 1440 und 1444).8 1445 verfasst er in kurzer Abfolge mit De geometricis transmutationibus und der dieser nachgetragenen Erläuterungsschrift Über die arithmetischen Ergänzungen (De arithmeticis complementis) zwei kurze Abhandlungen zum Doppelproblem der Kreisquadratur und Kurvenausstreckung – jenem Problemkreis, der für Nikolaus ein Königsproblem seiner mathematisierenden Seins- und Erkenntnislehre darstellte und ihn immer wieder nicht nur zu hoher theologischer und philosophischer Spekulation, sondern auch zu einigen – trotz 6
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The Unmaking of the Medieval Christian Cosmos, 1500‒1760. From Solid Heavens to Boundless Æther, Aldershot/Brookfield 1999, S. xivf. In seiner gegen die cusanische Gotteslehre aus den Büchern Über die belehrte Unwissenheit (1440) gerichteten Streitschrift De ignota litteratura von 1442/43 formulierte der Heidelberger Theologieprofessor und Albertinist Johannes Wenck (1396–1459) den für Nikolaus, da von so prominenter Seite vorgebracht, nicht ganz ungefährlichen Vorwurf des Pantheismus, der sich wesentlich auf Nikolaus’ Nähe zu einigen häresieverdächtigen Grundsätzen der mystischen Theologie im Geiste Meister Eckhardts gründete. Nikolaus reagierte spät, aber er reagierte: 1449 vollendete er seine (vergleichsweise kurze) Invektive Apologia doctae ignorantiae (ediert in: h 2, Raimund Klibansky (Hg.), Leipzig 1932 [im Folgenden zit. als: Apol. doct. ign., h2). Um 1910 hatte Edmond Vansteenberghe De ignota litteratura wiederentdeckt und den Text in seiner Studie Le ‚De ignota Litteratura‘ de Jean Wenck de Herrenberg contre Nicolas de Cuse. Texte inédit et étude (= Beitr. z. Gesch d. Philos. und Theol. d. Mittelalters, Bd. 8 Heft 6), Münster (Westfalen) 1910 ediert. Ausführlich zum Grundlagenstreit zwischen Wenck und Cusanus: Edmond Vansteenberghe: Autour de la docte ignorance. Une controverse sur la théologie mystique au XVe siècle, Münster (Westf.) 1915 (= Beitr. z. Gesch d. Philos. und Theol. d. Mittelalters, Bd. 14, Heft 2‒4); Rudolf Haubst: Studien zu Nikolaus von Kues und Johannes Wenck (aus Handschriften der Vatikanischen Bibliothek) (= Beitr. z. Gesch. d. Philos. und Theol. des Mittelalters, Bd. 38, Heft 1), Münster (Westf.) 1955. Zu den Datierungsschwierigkeiten der Schrift Über die Mutmaßungen siehe die praefatio editoris der Heidelberger Akademieausgabe: De coni., h 3, S. ix.
2.1. Biographische Prämissen. Von der Unmöglichkeit einer ‚Vita Cusani‘
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vieler methodischer Schwächen im Einzelnen – insgesamt bemerkenswerten mathematischen Beiträgen führen sollte. Ältere, im engeren Sinne mathematische Abhandlungen des Kusaners, oder zumindest solche, die als selbstständige und abgeschlossene Beiträge gelten können, sind bisher nicht aufgefunden worden, und es ist keineswegs sicher, dass es diese überhaupt gegeben hat. Das in Forschung und Publizistik so häufig gezeichnete Bild vom ‚Ausnahmedenker‘, der über die symbolmathematisch geprägten Theologie auf konkrete mathematische und naturwissenschaftliche Fragestellungen ausgriff und so zum vermeintlichen Vordenker der neuzeitlichen exakten Wissenschaften werden konnte, basiert damit beim gegenwärtigen Quellenstand vorrangig auf den geistigen Erträgen aus Nikolaus’ letztem Lebensdrittel. Dieser Befund für die mathematisch-naturwissenschaftlichen Arbeiten deckt sich mit dem Stand der allgemeinen biographischen Forschung, die bis weit in die 1430er Jahre hinein ein allenfalls diffuses Licht auf Nikolaus’ Leben zu werfen vermag. Es hat allerdings einige Ansätze gegeben, über die Verknüpfung von Einzelergebnissen der Personengeschichte und die eingehende Analyse der wenigen frühen Textzeugnisse die vielen weißen Flecken, die Nikolaus’ Jugend- und Studienjahre bestimmen, auszufüllen – mitunter auch, um sie (fast ist man versucht, zu sagen: mit Gewalt) mit dem Idealbild des stets antizipierenden Universalgelehrten in Einklang zu bringen. Die tatsächlichen Schwierigkeiten, eine geschlossene vita Cusani zu rekonstruieren, hat der Historiker Erich Meuthen, der ganz ohne Zweifel zu den bedeutendsten Kennern der Materie gehört, bei seiner wegweisenden Cusanus-Biographie schon programmatisch in die Titelgebung eingefasst: Nur die S k i z z e einer Biographie9 glaubte sich Meuthen zutrauen zu können – deutlicher als in diesem Vorbehalt könnte die schwierige Situation in der biographischen Aufarbeitung des Kusaners gar nicht ausgesprochen werden. Denn zwar sind wir, vergleicht man Nikolaus mit einigen anderen intellektuellen Exponenten des 15. Jahrhunderts, noch erstaunlich gut über seine frühen Lebensjahre informiert. Annähernd lückenlose biographische Textzeugnisse aber hat selbst das starke bürgerliche Individualitätsbewusstsein des italienischen Renaissance-Humanismus mit seiner Vielzahl von Autobiographien, privaten Briefsammlungen und mitunter dichter urkundlicher Erfassung des Einzelnen nicht hervorgebracht. Für Nikolaus, Kaufmannssohn aus der moselländischen Provinz, sind sie umso weniger zu erwarten. Was immer an Erkenntnissen über seine Jugend- und Studienjahre zutage gefördert werden mag, wird immer nur in hohem Maße fragmentarischen Charakter haben können und weite interpretatorische Freiräume lassen. Das gilt umso mehr, als Nikolaus selbst sich als (auto-)biographischer Revisionist erweist: Historia reverendissimi illustrissimi domini cardinalis Nicolai de Cusa10 hat Nikolaus jene lebensgeschichtlichen Skizze von 1449 genannt, die er anlässlich seiner anstehenden Erhebung in den Kardinalsstand, die 1450 erfolgte, auf dem Weg 9 10
Nikolaus von Kues 1401‒1464. Skizze einer Biographie, Münster (Westfalen) 71992. Historia reverendissimi illustrissimi domini cardinalis Nicolai de Cusa, ediert in: Johannes Uebinger: Zur Lebensgeschichte des Nikolaus Cusanus, in: Historisches Jahrbuch 14 (1893), S. 549‒550.
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nach Rom seinem Sekretär Peter Erkelenz (eigentlich: Peter Wimar) in die Feder diktierte und die vor allem den (unhaltbaren) Mythos der eigenen ständischen Inferiorität und des klerikalen Leistungsprimats, der allein ihm den Weg in den Kardinalsstand geebnet haben sollte, herausstellt. Nikolaus’ fraglos bemerkenswerter Aufstieg bis in die Spitzenpositionen der römischen Kurie war demgegenüber nicht ganz so unwahrscheinlich, wie Nikolaus es uns glauben machen will, oder sagen wir besser, wie es sich dem heutigen, mit den großen Freizügigkeiten humanistischer Selbstdarstellung unvertrauten Betrachter darstellen mag. Die in den Acta Cusana aufgeführten Zins- und Rentkäufe und Kreditierungen des ansässigen Landadels durch Nikolaus’ Eltern, Johan und Katharina Cryffts (= Krebs), zeigen deutlich, dass der klerikale Aufsteiger einer durchaus wohlhabenden, proto-bürgerlichen Kaufmannsfamilie entstammte, die über gute Kontakte zu den landsässigen Adelskreisen der Trierer Diözese verfügte – was ihm später nicht zuletzt auch den Zugang zur renommierten Universität Heidelberg ermöglicht haben mag.11 Nun sind derartige autobiographische Nachbesserungen ja weder eine Besonderheit des Kusaners, noch die seiner zur schriftlichen Selbstbetrachtung erwachten Zeit, sondern eher Kenngröße der Personengeschichte in ihrer Gesamtheit. Bei der Auseinandersetzung mit Nikolaus von Kues treten aber als erschwerender Faktor jene Verzerrungen hinzu, die sich aus der scheinbaren Autonomie und Bezugslosigkeit seiner Ideen ergeben: Nikolaus zeichnet sich in seinem gesamten Werk durch einen außergewöhnlichen Drang nach Originalitätssicherung und Sonderrezeption aus, die nicht zuletzt auf einer unübersehbaren Grundskepsis gegenüber dem (scholastischen) Buchwissen gründet. In aller Regel zeigt sich Nikolaus deshalb bei der Benennung seiner Quellen, ganz gleich ob philosophisch-theologischer oder naturwissenschaftlich-mathematischer Provenienz, äußerst reserviert, und das, obwohl er zweifellos über tiefgehende Quellenkenntnisse in verschiedensten Studienfeldern verfügte. Denn auch wenn Nikolaus selbst an prominenter Stelle, in den einleitenden Grußworten zu seiner Schrift Über die belehrte Unwissenheit, das epiphanische Element in der Genese seiner frühen Denkgrundsätze herausstreicht, schimmert sein Eklektizismus doch immer wieder durch.12 Dass das cusanische Denken nicht, wie häufig impliziert wurde, das Produkt geistiger Vereinzelung und radikaler Abkehr vom Hergebrachten ist, zeigt schon ein Blick in die reiche Bibliothek des von Nikolaus gestifteten Hospiz in Kues,13 deren Inhalt zu großen Teilen Nikolaus selbst noch zu Lebzeiten zusammengetragen und stellenweise sehr eingehend studiert und überarbeitet hat. Die wenigsten der hier versammelten Schriften haben allerdings über die aus11
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Acta Cusana. Quellen zur Lebensgeschichte des Nikolaus von Kues, Bd. 11 (= 1401‒17. Mai 1437), Erich Meuthen u. Hermann Hallauer (Hg.), Hamburg 1976, Nr. 1‒10, S. 1‒3. So schreibt Nikolaus in der in der Heidelberger Akademieausgabe dem dritten Buch angefügten Widmungsepistel für Kardinal Giuliano Cesarini (Doct. ign., h 1, S. 163f. (= Epistola ad dominum Iulianum cardinalem), hier: S. 163, Z. 7f.): […] in mari me ex Graecia redeunte, credo superno dono a patre luminum. Einen trotz einiger Lücken immer noch unentbehrlichen Zugang zu den Beständen der Hospitalsbibliothek in Kues liefert: Jacob Marx: Verzeichnis der Handschriftensammlung des Hospitals zu Cues, Trier 1905.
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drückliche Bezugnahme den Weg in die Werke ihres Besitzers gefunden. Unzweifelhaft aber sind viele von Nikolaus’ philosophisch-theologischen, und genauso seiner mathematischen Grundauffassungen durch ältere Traditionslinien überliefert worden. Entscheidender als die einzelne Idee ist daher bei Nikolaus oft die in der Kompilation des Hergebrachten angelegte Umdeutung. In der so entstandenen Verweisungsvielfalt der cusanischen Thesen muss aber nahezu jede Aussage über ihre geistesgeschichtliche Herkunft notwendig mutmaßenden Charakter haben. Der eindeutigen Zuordnung zu einer philosophischen Schule versperrt sich Nikolaus’ Werk genauso wie einer konsequenten geistesgeschichtlichen Kontextualisierung einzelner in ihm gefasster Ideen. Zusätzlich erheblich erschwert wird die Suche nach den Inspirationskeimen der cusanischen Denkansätze durch den Umstand, dass Nikolaus’ vielfältige geistige Erträge nicht im Umfeld eines weitgehend konformistischen akademischen Lehrbetriebs gedeihen – seine Studienzeit ist vergleichsweise kurz, zwei anschließende Rufe an die renommierte Universität Löwen lehnt er ab14 –, sondern dem engen Zeitplan eines hochrangigen kirchlichen Diplomaten und Juristen zumeist mühsam abgerungen werden mussten – bisweilen sogar, wie Nikolaus selbst schreibt, zu Pferde.15 Bei seinen vielen kirchlichen Gesandtschaften ist er stets auch Bildungsreisender, und das im reinsten Wortsinne. Unterwegs sammelt er Handschriften für seine private Bibliothek, entleiht Bücher, ersteht astronomische Instrumente, schließt Freundschaften mit Vertretern der intellektuellen Eliten seiner Zeit. Weniger noch als die Universität war die mönchische Schreibstube Nikolaus’ Wirkungsstatt, obwohl er zeitlebens gute Kontakte zur monastischen Welt, so unter anderem zum Kloster Tegernsee und zum Münstermaifelder Stift St. Martin und St. Severus in der Voreifel, unterhielt. Insbesondere ist die noch bei Vansteenberghe mit einiger Selbstverständlichkeit vorgebrachte ‚Deventer-These‘,16 der zufolge Nikolaus seine früheste Ausbildung bei der Kongregation der Brüder vom Gemeinsamen Leben (Broeders des gemeenen Levens), einem vom Kartäuser Bußprediger Gerrit Grote (auch: Gerhardus Magnus, 1340‒1384) um 138017 gegründeten Laienkonvent, und damit im Geiste der klösterlichen devotio moderna erhalten habe, mangels stichhaltiger Indizien kaum haltbar.18 14 15 16
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Acta Cusana, Bd. 11, Nr. 64 und 235, S. 23 und 161. QC, MATH. SCHRIFTEN, S. 58 = h 20, Z. 7–8, S. 71 = n, S. 5. Edmond Vansteenberghe: Le cardinal Nicolas de Cues (1401‒1464). L´action ‒ la pensée, Paris 1920 [unveränderter Nachdruck: Frankfurt am Main 1963], S. 15. Zunächst war 1379 in Deventer eine Schwesternschaft vom Gemeinsamen Leben entstanden, die Brüderschaft folgte etwas später. So bedeutend die devotio moderna mit ihren neuplatonischen und mystischen Einflüssen und ihrem Streben nach allgemeiner religiöser Erneuerung für das eigene theologische und philosophsche Schaffen des Kusaners auch war, aus erster Hand hat er sie wohl nicht gekannt. Hierzu liefern stichhaltige Argumente: Erich Meuthen: Skizze, S. 11; Ders.: Cusanus in Deventer, in: Concordia Discors. Studi su Niccolò Cusano e l`umanesimo europeo offerti a Goivanni Santinello, Padua 1993, S. 39‒54. Regnerus R. Post: The modern devotion. Confrontation with Reformation and Humanism, Leiden 1968, S. 356. Die Existenz einer dem Konvent der Brüder vom Gemeinsamen Leben angeschlossenen ‚Fraterherrenschule‘ ist oh-
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Eine Eingrenzung auf die akademische oder monastische Bildungswelt wird dabei ohnehin nicht nur Nikolaus von Kues, sondern dem europäischen 15. Jahrhundert in seiner Gesamtheit nicht wirklich gerecht. Besonders die sich längst nicht mehr nur im urbanen Umfeld rasch verbreiternden und an politischem Einfluss gewinnenden Mittelschichten der Gewerbetreibenden entwickelten zum Ziele gesellschaftlicher und ökonomischer Bestandssicherung ganz eigene Ansprüche an Bildung und Erziehung ihrer Nachkommen. Eine direkte Folge ist das Entstehen neuer, dem direkten Einfluss der Kirche weitgehend entzogener Bildungseinrichtungen, wie die im 15. Jahrhundert zunächst in den italienischen Handelsmetropolen an Bedeutung gewinnenden scuole d’abbaco, die schließlich prototypisch für die nordalpinen Schreib- und Rechenschulen des 16. Jahrhunderts werden sollten. Mit der äußeren, institutionellen Diversifizierung der mittelalterlichen Wissensformationen im Quattrocento ging aber auch ein innerer, kanonischer Wandel der zu vermittelnden Wissensinhalte einher, die sich weitgehend mit einer deutlichen Aufwertung der experimentierenden Wissenschaften und − trotz ihrer formalen Herabsetzung innerhalb der studia humanitatis − der praktischen Künste (allen voran Handwerk und Handelswesen), im weitesten Sinne noch durch die begriffliche Klammer der artes mechanicae zusammengefasst, umschreiben lassen. Die Gründe für die Erosion der mittelalterlichen Bildungstraditionen sind vielfältig und können hier nicht in gebührender Ausführlichkeit verhandelt werden. Wichtig ist aber, dass sich auch in den nördlichen Provinzen des Reiches im 15. Jahrhundert neue Bildungswege Bahn brachen und die Nutznießer wissenschaftlich-technischer Innovation, natürlich nicht zuletzt durch die neuen schriftlichen Reproduktionsverfahren des Buchdrucks mit beweglichen Lettern, nun auch zunehmend außerhalb der klassischen Bildungsträger anzutreffen waren. Vor dem Hintergrund des hier Umrissenen kann man durchaus annehmen, dass Nikolaus’ Interesse an mathematisch-naturwissenschaftlichen Fragestellungen nicht erst in seiner akademischen Zeit entstanden ist. Als kirchlicher Diplomat und Verwalter sollte häufig sein bemerkenswertes kaufmännisches Geschick zutage treten – wo immer Nikolaus neue Pfründen erwerben konnte, setzte er sich umgehend und zum größten Teil mit beachtlichem Erfolg für wirtschaftliche Reformen ein,19 oft vermochte er weniger gute Präbenden gegen bessere zu tauschen und sich lukrative Pfründen reservieren zu lassen, wobei man ihn vom Vorwurf, sich an der weit verbreiteten Praxis der Pfründenhäufung beteiligt zu haben, nicht freisprechen kann. Mit Sicherheit gründete Nikolaus’ Begabung für das Geschäftliche auch auf den Erfahrungen, die er sich im elterlichen Gewerbe hatte aneignen können. Als ältester Sohn der Familie dürfte er für die spätere Übernahme des Geschäfts vorgesehen gewesen sein, und man muss annehmen, dass man ihm eine entsprechende Ausbildung zukommen ließ, was dann auch Unterrichtung zumin-
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nehin umstritten. Hierzu: Charles G. Nauert: Humanism and the culture of RenaissanceEurope, Cambridge 1995, S. 98. Dies gilt insbesondere, trotz Nikolaus’ späteren politischen Scheiterns, für die Zeit des Brixener Episkopats.
2.1. Biographische Prämissen. Von der Unmöglichkeit einer ‚Vita Cusani‘
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dest in den Grundlagen der kaufmännischen Mathematik mit eingeschlossen haben sollte.
2.2. IN DIE WELT. NIKOLAUS’ UNIVERSITÄRE AUSBILDUNG IN HEIDELBERG, PADUA UND KÖLN Die erste verlässliche Spur, die Nikolaus auf seinem Bildungsweg hinterlassen hat, stammt erst aus dem Jahr 1416, in dem er sich unter dem Titel Nycolaus Cancer de Coesze, clericus Treverensis dyocesis (also wohl bereits als Anwärter für das Priesteramt) zum Studium der Freien Künste an der landesherrlichen Universität Heidelberg immatrikulierte. Dass Nikolaus im Rahmen dieser propädeutischen Studien wirklich entscheidende Impulse für seine späteren mathematischen und naturphilosophischen Beiträge erhalten haben könnte, kann man mit einiger Sicherheit ausschließen. Die Vermittlung jener Lehrinhalte, die gemeinhin dem quadrivium zugerechnet wurden, also der Geometrie, Arithmetik, Musik und Astronomie, nahm in Heidelberg zu Nikolaus’ Studienzeit keine hervorragende Stellung ein. Heidelberg stand immer noch im langen Schatten der Pariser Universität, obwohl diese vor allem in Folge des Großen Schismas zwischen 1378 und 1418 ihre quasi-hegemoniale Lehrautorität für das akademische Bildungswesen weitgehend eingebüßt hatte, und andere Universitäten (wie die Wiener Rudolphina) im nordalpinen Raum gerade in Hinblick auf die mathematischnaturphilosophische Ausbildung an Einfluss gewannen.20 Dennoch blieb Paris als Hauptsitz der Dialektik und Theologie in den Kernbereichen der akademischen Schulung auch in den deutschen Territorien federführend. So war in Heidelberg der starke Einfluss der theologischen Fakultät auf alle übrigen Studienbereiche durch das französische Muster bereits vorgegeben. In Paris hatte die Dominanz der Theologie zeitweise – ähnlich wie in Oxford – zu einer systematischen Überwachung des Lehrbetriebs geführt. Diese hatte vor allem Lehrveranstaltungen zur Medizin, aus Furcht vor einem Einsickern averroistischer Lehren, und zur Astronomie, die, unter anderem aufgrund des Misstrauens gegenüber den astrologischen Unterrichtsanteilen, zeitweise sogar gänzlich aus dem regulären curriculum herausgenommen wurden, im Blick.21 Auch in Heidelberg wirkten sich theologische Vorbehalte innerhalb der artes liberales hemmend aus. Zudem verfügte Heidelberg über keine besonders starke medizinische Fakultät, wie sie an anderen Universitäten eine gewisse Kontinuität und zugleich eine Vertiefung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Ausbildung garantierte, und es ist mithin insge-
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Einen der besten Überblicke zur Entwicklung der mathematischen Fächer an den europäischen Universitäten im Mittelalter und der frühen Neuzeit bietet: Christoph Schöner: Mathematik und Astronomie an der Universität Ingolstadt im 15. und 16. Jahrhundert (= Ludovico Maximilanea, Forschungen Bd. 13), Berlin 1994, vor allem: S. 23-108. John North: Das quadrivium, in: Geschichte der Universität in Europa 1, Walter Rüegg (Hg.), München 1993, S. 303‒320.
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samt nicht verwunderlich, dass die heftigsten Angriffe gegen Nikolaus’ mathematisierende Philosophie von hier ihren Ausgang nehmen sollten.22 Sicher befriedigten die innerhalb des offiziellen universitären curriculums in Heidelberg dargebotenen mathematischen Inhalte nicht alle Studenten und Universitätslehrer in ihren Interessen.23 Möglichkeiten zu weniger regulären Formen des mathematischen Unterrichts (exercitia particularia et cameralia) waren allerdings, wie Rashdall nachgewiesen hat, an den meisten Universitäten gegeben und erlaubten dem Studenten so durchaus den Zugang zu komplexeren Bereichen der mathematisch-naturwissenschaftlichen Lehre.24 Darin stellte Heidelberg gewiss keine Ausnahme dar. In den Statuten der Wiener Universität, die in Hinblick auf die Organisation der Lehre an der Artistenfakultät von Heidelberg als Vorbild gedient hatte, ist eine entsprechende Anweisung der Universitätsleitung an einige Bakkalauren verzeichnet, an den untergeordneten Festtagen außerhalb der Universität unentgeltlich zusätzliche Vorlesungen und Disputationen zur Komputistik und anderen mathematischen Themen abzuhalten.25 Von solchen Sonderregelungen ausgehend war es nur noch ein kleiner Schritt bis zu einer weitgehenden und langwährenden Auslagerung der mathematischen Wissenschaften insgesamt. In genau diesen Zusammenhang hat Meuthen den neuzeitlichen Typus universitätsfreier Gelehrter gestellt, wie ihn im 16. und 17. Jahrhundert vor allem Leonardo da Vinci (1452‒1519), Nicolaus Copernicus (1473‒1543), Giordano Bruno (um 1548‒1600), Johannes Kepler (1571‒1630) oder René Descartes (1596‒1650), um nur einige der prominentesten Vertreter zu nennen, repräsentierten,– und auch Nikolaus von Kues hat Meuthen zu dieser Gruppe gezählt.26 Ob dieser allerdings schon in seinen frühen studentischen Jahren jene Abneigung gegen das konformistische Buchgelehrtentum und den formalisierten Universitätsbetrieb ausgebildet hatte, die sein späteres Schriftwerk mitbestimmen sollte und ihn dann auch in Opposition zu akademischen Eliten in Heidelberg bringen sollte, lässt sich nicht sicher sagen. Ebenso unsicher ist, ob er schon als Student der artes ein Interesse an Mathematik und Astronomie entwickelt haben könnte, das über den in den Lehrplänen vorgesehenen Stoff hinausging – und diese kanonischen Inhalte des artes-Studiums waren in Heidelberg vergleichsweise dürftig. Zwar orientierte man sich auch hier an den Vorgaben der Wiener Universitätsstatuten, die für Geometrie, Arithmetik und Astronomie ausführliche ‚konventionelle‘ Regelungen 22 23
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Siehe: S. 22, Anm. 7. Hierzu: George Molland: The quadrivium in the Universities, in: Miscellanea Mediaevalia 221 (= Scientia und ars im Hoch- und Spätmittelalter), Ingrid Craemer-Ruegenberg u. Albert Speer (Hgg.), Berlin u. New York 1994, S. 66‒78, hier: S. 77. Hastings Rashdall: The universities of Europe in the Middle Ages 2, Oxford 1936, S. 243. Rudolf Kink: Geschichte der kaiserlichen Universität zu Wien 2, Wien 1854, S. 196. Meuthen: Das 15. Jahrhundert, S. 91. Vgl. hierzu auch die ganz ähnliche Darstellung in: Otto Gerhard Oexle: Alteuropäische Voraussetzungen des Bildungsbürgertums – Universitäten, Gelehrte und Studierte, in: Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil I: Bildungssystem und Professionalisierung in internationalen Vergleichen (= Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte 38), Stuttgart 1985, S.55: Nikolaus von Kues, Kopernikus, Kepler, Giordano Bruno, Galileo, Descartes, Spinoza, Pascal, Leibniz, – keiner von ihnen ist in seinem Wirken einer Universität wesentlich verbunden gewesen.
2.2. Nikolaus’ universitäre Ausbildung
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enthielten,27 sah aber für Anwärter auf das Bakkalaureat als verbindlich zumeist lediglich Vorlesungen zu Aristoteles’ Physica und De anima vor, und dies natürlich nur mit all den Einschränkungen, die sich aus der teils als sophistisch geltenden und damit tendenziell häresieverdächtigen aristotelischen Argumentation ergaben.28 Für das Lizentiat, also für die Erlangung des Magisteriums, kamen Vorlesungen zu den Proportiones hinzu, wohl entweder auf der Grundlage des Textes Thomas Bradwardines (um 1290‒1349)29 oder Nicole Oresmes’ Algorismus proportionum,30 ferner Lektionen zum Algorismus, wahrscheinlich in der Tradition des arabischen Mathematikers Muhammad ibn Mūsā al-Ḫwārizmi (um 780‒850), einem Traktat De sphaera, sicher in der Fassung nach Johannes de Sacrobosco (†1256?),31 und den ersten vier Büchern der Elementa Euklids.32 Bedenkt man, dass Nikolaus in seiner kurzen Heidelberger Studienzeit allenfalls den niedrigsten Grad eines Bakkalauren der Freien Künste erlangt haben dürfte, kann das, was ihm im Rahmen seiner quadrivialen Pflichtstudien an mathematischem Rüstzeug mit auf den Weg gegeben wurde, bestenfalls von – vorsichtig gesagt – elementarer Natur gewesen sein. Schwerpunkte seiner Ausbildung dürften in den Fächern des triviums, also Grammatik, Rhetorik und Dialektik gelegen haben. Man muss in Frage stellen, ob Nikolaus abseits der obligatorischen Studienverpflichtungen Zeit und Gelegenheit für ein vertiefendes Selbststudium mathematischer oder astronomischer Texte gefunden haben könnte, wenngleich den Studierenden an der Artistenfakultät in Heidelberg eine ganze Anzahl anspruchsvollerer Schriften zu diesen Gebieten prinzipiell zur Verfügung standen,33 von de27 28 29
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Sarnowsky, S. 76. Ebd. unter Bezug auf: Urkundenbuch 1, S. 34. Bekannt unter dem Titel Tractatus de proportionibus, ediert und ins Englische übersetzt in: Henry Lamar Crosby: Tractatus de Proportionibus. Its Significance for the Development of Mathematical Physics, lat.-engl., Madison 1955, S. 64‒140. Ediert in: Maximilian Curtze (Hg.): Der algorismus proportionum des Nicolaus Oresme. Zum ersten Male nach der Lesart der Handschrift R.4o.2. der Königlichen GymnasialBibliothek zu Thorn herausgegeben, Berlin 1868, S. 13‒30. Auszugsw. Edition von Edward Grant: The Mathematical Theory of Proportionality of Nicole Oresme (ca. 1320‒1382), (Diss.) Univ. Wisconsin 1957 sowie engl. Übersetzung des ersten Teils von Edward Grant in: Part I of Nicole Oresme's Algorismus Proportionum, in: Isis 563, Nr. 185 (1965), S. 327‒341. Zu Leben und Werk Sacroboscos: Olaf Pedersen: In quest of Sacrobosco, in: Journal for the History of Astronomy 16 (1985), S. 175‒221; Wilbur Knorr: Sacrobosco's Quadrans. Date and Sources, in: Journal for the History of Astronomy 28 (1983), S.187‒222; ausführlich zum Traktat De Sphaera und seiner Wirkgeschichte: Lynn Thorndike: The Sphere of Sacrobosco and Its Commentators, Chicago 1949. Urkundenbuch der Universität Heidelberg, Bd. 1 (= Urkunden), Eduard Winkelmann (Hg.), Heidelberg 1886, S. 38 und S. 41f. Hierzu auch: Sarnowsky, S. 78. Die Bibliotheca Palatina in Heidelberg war bis zum 17. Jahrhundert sicher die bedeutendste Bibliothek im Reich nördlich der Alpen und verfügte entsprechend über einen großen Bestand mathematisch-naturwissenschaftlicher und medizinischer Werke. Hierzu: Ludwig Schuba: Die Quadriviums-Handschriften der Codices Palatini Latini in der Vatikanischen Bibliothek (= Kataloge der Universitätsbibliothek Heidelberg 2), Wiesbaden 1992; Ders.: Die medizinischen-Handschriften der Codices Palatini Latini in der Vatikanischen Bibliothek, Wiesbaden 1981 (= Kataloge der Universitätsbibliothek Heidelberg 1). Bereits 1421 verfügte
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nen einige auch für Nikolaus’ spätere Abhandlungen eine Rolle gespielt haben.34 Aufmerksamkeit verdient unter diesen besonders die Geometria speculativa des Thomas Bradwardine (1295‒1349), Erzbischof von Canterbury und wegen seiner mathematischen und theologischen Beiträge zum doctor profundus geadelter Scholar am Oxforder Merton College. Den Anwärtern auf das Bakkalaureat stand eine Abschrift dieses mathematisch durchaus fordernden Textes, der sich auch mit den für Nikolaus später so bedeutenden Problemen isoperimetrischer35 Figuren und hornförmiger (Kontingenz- und Inzidenz-)Winkel auseinandersetzt, zur freien Verfügung.36 An verschiedener Stelle hat Hofmann mit Nachdruck den möglichen Einfluss dieses Textes auf die frühen cusanischen Schriften und im Besonderen auf die darin enthaltene geometrische Symbolik zur Koinzidenzlehre postuliert, und es wäre entsprechend nur schlüssig anzunehmen, dass Nikolaus bereits in
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Kurfürst Ludwig III. von der Pfalz (1378‒1436), dass wichtige Handschriften nach seinem Tode der Heidelberger Universität vermacht werden sollen. Diese erhielt 1438 aus dem landesherrlichen Nachlaß 155 Handschriften, die auf den Emporen der Heiliggeistkirche zur Benutzung für die Professoren aller Fakultäten aufgestellt wurden. Auch weiterhin erfuhr die Bibliotheca Palatina nachhaltige Förderung durch die Kurfürsten, insbesondere durch den bibliophilen Regenten Ottheinrich (1502‒1559). Nach der Einnahme Heidelbergs durch die Truppen Tillys 1622 bemächtigte sich die katholische Kirche der Bibliotheca Palatina, um sie in die Bibliotheca Apostolica des Vatikans zu überführen. Bemühungen, die Bibliotheca Palatina in den nachfolgenden Jahrhunderten zurückzugewinnen, blieben erfolglos. Hierzu: Reinhard Düchting: Biblioteca Palatina. Vom europäischen Glanz einer traditionsreichen Institution, in: Heidelberger Jahrbücher 29 (1985), S. 133‒152. Im Registrum librorum librariae universitatis von 1396 (erstellt während des Rektorats Bertholds von Dieburgs) finden sich einige in dieser Hinsicht interessante Schriften: A.U.H. fol. 135 weist Ṯābit ibn Qurras (826‒901) Traktat De motu 8e spere aus, der Nikolaus bei seinen Vorschlägen zur Kalenderreform beeinflusst hatte. Ferner verzeichnet ist die Abhandlung zu Lehre von den Formlatituden (latitudines formarum). Im zweiten Teil der Schrift Über die mathematischen Ergänzungen sollte Nikolaus auf dieses Thema ausführlicher eingehen. Ferner findet sich im Nachlass des Johannes de Noet (Rektorat 21. August bis 20. Dezember 1396) eine Abschrift der Arithmetica Thomas Bradwardines (1295‒1349) (fol. 128v) und eine Exposicio super arysmeticam metrificatam Bragwardin neben einer unvollständigen Fassung der euklidischen Elementa (fol. 129) und eines anonymen Quadraturtraktats (fol. 128v). Auf die mögliche Bedeutung Bradwardines für Nikolaus werde ich im Folgenden noch zu sprechen kommen. Unter fol. 142v ist ferner eine donatio des Wormser Erzbischofs Matthäus von Krakau aus dem Jahre 1410 angegeben, die auch eine Pergament-Ausgabe der Summa de causa dei Bradwardines enthält, von der sich auch eine Abschrift in der Hospitalsbibliothek in Kues befindet (siehe hierzu: S. 31, Anm. 43). = ‚umfangsgleich‘ Das zeigt ein Eintrag in den Heidelberger Universitätsakten: Registrum librorum loyce, qui fuerunt magistri Conradi de Wormacia, in: Acta universitatis Heidelbergensis 12, Jürgen Miethke (Hg.), Heidelberg 1990, fol. 108r (= S. 504). Hier weisen die Universitätsmatrikel ein Exemplar der Geometria speculativa Thomas Bradwardines aus (ediert in: Geometria speculativa (= Boethius. Texte und Abhandlungen zur Geschichte der exakten Wissenschaften 18), lat.-engl., George Molland (Hg.), Stuttgart 1989), das aus dem Nachlass des 1392 verstorbenen Rektors der Heidelberger Universität Konrad von Worms stammte, der identisch ist mit dem in den Akten mehrfach angeführten Conradus Wernheri de Steynsberg. Dieser hatte seine Büchersammlung in libraria collegii artistarum ad usum eorum testamentarisch zur Verfügung gestellt.
2.2. Nikolaus’ universitäre Ausbildung
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Heidelberg mit dem vermeintlichen Schlüsselwerk in Berührung gekommen war. Bradwardines Schrift war allerdings im 15. Jahrhundert weit verbreitet, so dass Nikolaus sie nicht notwendigerweise in Heidelberg kennen gelernt haben muss. Wichtiger ist aber noch, dass es keinen zwingenden Grund gibt, anzunehmen, dass Nikolaus seine Kenntnisse des ganzen Problemkreises überhaupt von Bradwardine hatte – viel der von Hofmann in seinen Mutmaßungen über das früheste mathematische Wissen des Nikolaus von Kues37 angeführten Parallelstellen zur Isoperimetrie und der Behandlung gekrümmter Winkel lassen sich auch auf andere und nicht weniger populäre Lehrbücher der mittelalterlichen Geometrie zurückführen, vor allem auf die euklidischen Elemente in der Fassung nach Campanus, die die bekannteste Euklid-Ausgabe der Zeit war und von der Nikolaus selbst eine eigene Abschrift besaß,38 aber auch auf die (allerdings kaum verbreiteten) Quaestiones super Geometriam Euclidis39 des Mathematikers, Philosophen und Ökonomen Nicole Oresme (1323‒1382), der in Paris unter Johannes Buridanus (auch: Jean Buridan, um 1300‒1358) in der Theologie ausgebildet worden war, oder die relativ weit verbreitete anonyme Isoperimeterabhandlung,40 die nach der Auffassung Mogenets auf Eutokios von Askalon (6. Jhdt.) zurückgeht41 und im 12. oder 13. Jahrhundert aus dem Griechischen ins Lateinische übertragen worden war.42 Nirgends in seinem schriftlichen Nachlass hat Nikolaus Bradwardine ausdrücklich erwähnt, und es ist auch keine Abschrift der Geometria speculativa aus Nikolaus’ Besitz bekannt,43 was dann doch sehr verwundern muss, wenn die Abhandlung tatsächlich einen so nachhaltigen und vorrangigen Einfluss auf ihn gehabt haben soll, wie von Hofmann vermutet. Mit einiger Wahrscheinlichkeit gekannt hat Nikolaus aber Bradwardines Proportionen-Traktat,44 von dem sich in der Londoner British Library unter Cod. Harl. 3243, einer Sammelhandschrift des 14. Jahrhunderts, auf fol. 1r‒8v eine Abschrift findet, die sich nach der Auffassung Fritz Hoffmanns zumindest zeitweise in Nikolaus’ Besitz befunden hat.45 37 38 39
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in: MFCG 5, Rudolf Haubst (Hg.), Mainz 1965, S. 98‒133. Cod. Cus. 205, fol. 134r‒188v. Ediert in: Hubertus L.L. Busard: Quaestiones super geometriam Euclidis (= Janus, Suppléments 3), Leiden 1961. Ediert in: Hubertus L.L. Busard: Der Traktat De isoperimetris, der unmittelbar aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzt worden ist, in: Medieval Studies 42 (1980), S. 61‒88. Joseph Mogenet: L’Introduction à l’Almageste, Brüssel 1956, S. 13‒34. Diese zeitliche Einordnung brachte zuerst: Axel A. Björnbo: Die mittelalterlichen lateinischen Übersetzungen aus dem Griechischen auf dem Gebiet der mathematischen Wissenschaften, in: Archiv für die Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik 1 (1909), S. 385‒394. Eine Übersicht zur Geschichte des Isoperimetrieproblems liefert: Helmuth Gericke: Zur Geschichte des isoperimetrischen Problems, in: Mathematische Semesterberichte 29 (1982), S. 160‒187. In Kues findet sich lediglich eine Handschrift von Bradwardines Opus causa dei: Cod. Cus. 93, 164 Bl., mit einer kurzen autographen Notiz des Kusaners auf fol. 164v. Siehe: S. 29, Anm. 29. Fritz Hoffmann: Kritisches Verzeichnis der Londoner Handschriften aus dem Besitz des Nikolaus von Kues. Zweite Fortsetzung. Cod. harl. 3243, in: MFCG 8, Rudolf Haubst (Hg.), Mainz 1970, S. 203‒217, hier: S. 204.
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Wie fundiert Nikolaus’ mathematische Kenntnisse bei seinem Weggang aus Heidelberg waren, wissen wir also nicht – wahrscheinlich aber nicht besonders. Bereits 1417,46 also nur ein Jahr nach seinem Studienbeginn in Heidelberg, wechselte er an die renommierte Universität Padua über, um sich dort dem Studium des kanonischen Rechts zuzuwenden, das er 1423 als doctor decretorum abschließen sollte.47 Das geistige Klima an der zweitältesten Universität Italiens war grundlegend anders als an den meisten cisalpinen Lehrinstitutionen. Durch ihre unmittelbare Nähe zum Nachbarn Venedig, unter dessen Herrschaft die ehemals freie Gemeinde Padua seit 1405 stand, öffnete sich an der Universität eine porte de l´orient,48 durch die im Zuge der durch die sich in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts rasch verschärfenden osmanischen Bedrohung ausgelösten Gelehrtenmigration aus Byzanz49 auch das griechisch-antike Geisteserbe verstärkt in den akademischen Diskurs im Westen treten konnten. Dabei brachten die Emigranten nicht nur eine Vielzahl von Quellen im griechischen Original, sondern auch die im Westen trotz aller humanistischen Bemühungen um die Gräzistik noch dringend benötigten Sprachkenntnisse mit. Die Auseinandersetzung mit der Fülle an neuen Texten konnte in Padua vergleichsweise ungehemmt stattfinden. Wo andernorts den Studierenden die Lektüre antiker Quellen paganer Autoren durch die Vorbehalte der theologischen Fakultäten erschwert wurde, da ließ man hier weite Freiräume. Ein Hauptgrund dafür war sicher, dass die noch junge theologische Fakultät von Padua50 bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts noch über zwei Lehrstühle verfügte, einen gemäß der via sancti Thomae, durch einen Dominikaner besetzt, und einen der via Scoti entsprechend, den ein Franziskaner innehatte.51 Der Gegensatz zwischen Thomisten und Scotisten schwächte die Autorität der Paduaner 46
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Vansteenberghe: Le cardinal, S. 9, Anm. 1: Nach Sichtung der Paduaner Universitätsmatrikel legt Vansteenberghe den Studienbeginn des Kusaners in Padua auf Oktober 1417 fest, da das Semester in der Regel im Herbst begann. Acta Cusana, Bd. 11, Nr. 18 (= Ausschnitt aus den Acta graduum academicorum Gymnasii Patavini (Padua 1922)), S. 6. Jacques LeGoff: Dépenses universitaires à Padoue, in: Ders: Pour un autre Moyen Age. Temps, travail et culture en Occident. 18 essais, Paris 1977, S. 147‒161, hier: 157‒158. In diesen Zusammenhang gehört auch – wenngleich sein erstes Ziel nicht Padua war – Kardinal Bessarion, von dem noch ausführlicher zu handeln sein wird. Er hatte zwischen 1463 und 1464 den jungen Astronom und Ausnahmemathematiker Johannes Regiomontanus (1436‒1476) an die Paduaner Universität gebracht, wo dieser dann Vorlesungen über den arabischen Astronomen al-Farġānī (latinisiert: Alfraganus) hielt. Der eigentliche Vorlesungstext ist nicht erhalten geblieben. Es liegt aber eine einführende Rede Regiomontans vor, die 1537 durch Johannes Schöner in Nürnberg ediert wurde: Oratio Johannis de Monteregio habita Patavij in praelectione Alfragani, in: Rudimenta astronomica, Johannes Schöner (Hg.), Nürnberg 1537, fol. a4, ß1r‒5r. Der Text findet sich als Faksimile-Druck in: Johannes Regiomontanus: Opera collectanea (= Milliaria X,2), Felix Schmeidler (Hg.), Osnabrück 1972, S. 43‒53. Sie wird erst 1363 eröffnet, also immerhin rund 140 Jahre nach der Gründung der Universität. Hierzu: Lucia Rossetti: Die Universität Padua. Ein geschichtlicher Querschnitt, Triest 2 1985, vor allem: S. 13. Paul Oscar Kristeller: Le thomisme et la Pensée italienne de la renaissance, Montreal u. Paris 1967, S. 46
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Theologenfakultät nachhaltig, so dass sich die Universität Padua bis zum Beginn der konfessionellen Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts durch ein vergleichsweise hohes Maß an religiöser und intellektueller Toleranz auszeichnete.52 Dominierende Fakultät war in Padua die medizinische, und die Universität tat viel, um eine hohe Qualität der naturwissenschaftlichen Ausbildung, sowohl in den propädeutischen artes-Vorlesungen als auch in den weiterführenden Veranstaltungen innerhalb des Medizinstudiums zu gewährleisten. Der Universität war es gelungen, für diese Bereiche einige hochkarätige Lehrkräfte anzuziehen. In Padua lehrten einflussreiche Naturwissenschaftler und Philosophen wie der Mathematiker und Astronom Prosdocimo de´Beldomandi (um 1370‒1428), der als Erster die neu eingerichtete Professur für Musik und Astrologie innehatte, der Mediziner Ugo Benzi (1376‒1439), der Philosoph und Physiker Paolo Niccoletti (1370‒1428) und der Humanist Vittorino da Feltre (1378‒1446).53 Neuplatonische Strömungen, vor allem aber der gemäßigte Averroismus, der sich durch Pietro d´Abano (1250‒1315) im frühen 14. Jahrhundert in Padua etabliert und unter Paolo Veneto (um 1369‒1429) und Gaetano da Thiene (?‒?) fortgeführt wurde, bestimmten die Lehre.54 Es war maßgeblich Edmond Vansteenberghes Cusanus-Biographie, die in der Forschung die Auffassung etablierte, der junge Rechtsstudent Nikolaus müsse während seines Aufenthalts in Oberitalien nicht nur ganz allgemein von der intellektuellen Toleranz der Paduaner Universität, sondern insbesondere auch von deren mathematisch-naturwissenschaftlicher Stärke profitiert haben. Für Vansteenberghe hatte Nikolaus ganz selbstverständlich in Padua nicht nur juristische, sondern auch mathematische Vorlesungen gehört. In dieser auf der Grundlage selbst des heutigen Quellenstandes weder beweisbaren noch widerlegbaren Annahme, aber auch in ihrer zumeist unkritischen Übernahme durch die nachfolgende Forschung, zeigt sich so etwas wie ein Grundschema in der biographischen Auseinandersetzung mit dem Kusaner: Die unbestritten entscheidende Rolle, die das Mathematische in vielen von Nikolaus’ Schriften spielt, drängt die Vermutung, er müsse auf die eine oder andere Weise eine tiefergehende mathematische Ausbildung genossen haben, regelrecht auf. Dabei wird allzu leicht übersehen, dass Nikolaus sowohl bei den geometrischen Anleihen in seinen Spekulationen zu Theologie und Philosophie als auch in seinen mathematischen Schriften häufig im Allgemeinen, im Grundsätzlichen verbleibt und sich zumeist sehr elementarer mathematischer Mittel bedient. In Wahrheit sind die Indizien für ein mathematisches Engagement des Kusaners in Padua sehr dünn. Im Wesentlichen kann sich die zugehörige Argumentation dabei nur um eine Person drehen: Paolo dal Pozzo Toscanelli (auch: Paolo fisico, 1397–1482), der etwa zur gleichen Zeit, in der Nikolaus nach Padua kam, von der Universität Florenz kommend zum Medizin52
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LeGoff: Dépenses universitaires à Padoue, S. 157f. Zur Bedeutung der Universität Padua für die Entwiclung der modernen Wissenschaften siehe auch: John Herman Randall (Jr.), The School of Pauda and the Emergence of Modern Science, Padua 1961. Zum Paduaner Lehrkörper siehe ausführlich: Rossetti, S. 21ff. Ebd., S. 15ff.
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studium nach Padua überwechselte. Wenn in der (leider zumeist immer noch überwiegend lexikalischen) Auseinandersetzung mit Toscanelli immer wieder wie selbstverständlich neben dessen Tätigkeit als Mediziner55 die Attribute vom bedeutenden Mathematiker, Astronomen und Kartographen herangezogen werden, so muss dabei unbedingt darauf hingewiesen werden, wie dünn das quellenkundliche Fundament dieser Zuordnung tatsächlich ist. Von astronomischen Interessen Toscanellis zeugen unmittelbar seine akribischen Beobachtungen der Kometen aus den Jahren 1433, 1449, 1456, 1457 und 1472, die er unter dem Titel Immensi labores et graves vigilie magistri Pauli de Puteo Toscanello super mensura comete niedergeschrieben hatte, und die 1864 in der Florentiner Nationalbibliothek im Codex Magliabechiano classe XI, N° 21 wieder aufgefunden wurden.56 Was seine Leistungen als Kartograph anbelangt, so hat sich zwar eine starke Forschungstradition ausgebildet, die Toscanelli in Verbindung mit Columbus’ Entdeckungsfahrten sehen will, direkte Quellenzeugnisse gibt es hierfür aber nicht.57 Sicher ist nur, dass Toscanelli mit einem Brief vom 25. Juni 1474 auch eine nautische Karte an den Lissabonner Kanoniker Fernando Martins übermittelt hatte, den er aus Italien kannte und der wohl als Mittelsmann zwischen ihm und Alphons V. von Portugal fungieren sollte. Augenscheinlich versuchte Toscanelli, den König von der Möglichkeit einer Westroute nach Fernost zu überzeugen und ihn zugleich als Geldgeber für entsprechende Unternehmungen zu gewinnen. Weder die Seekarte, noch die mögliche spätere Korrespondenz zwischen Toscanelli und Columbus sind erhalten geblieben, so dass keineswegs sicher ist, ob Letzterer seine Westreise tatsächlich mit der Hilfe einer Toscanelli-Karte unternahm. Was schließlich Toscanellis mathematische Expertise anbelangt, so bleiben uns fast nur die Aussagen seiner Zeitgenossen. Sowohl Nikolaus von Kues als auch später Johannes Regiomontanus (1436‒1476) sahen in Toscanelli einen der bedeutendsten Mathematiker ihrer Zeit58 – was auf der Grundlage des gegenwär55
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Toscanelli ist es auch, der dem sterbenden Nikolaus von Kues 1464 in Todi den letzten Dienst als Arzt erweist. Giovanni Celoria hat den Text 1894 als Erster im Rahmen der Raccolta di documenti e studi pubblicati dalla Regia Commissione Colombiana pel IV centenario della scoperta dell’America einer eingehenden Untersuchung unterzogen. Dieser Text wurde 1921 von Luigi Gaba neu aufgelegt. Diese Ausgabe enthält auch den vollständigen Text der ToscanelliHandschrift: Giovanni Celoria: Sulle osservazioni di comete fatte da Paolo dal Pozzo Toscanelli e sui lavori astronomici suoi in generale (= Pubblicazioni del Reale Osservatorio astronomico di Brera in Milano 55), Mailand 1921. Siehe hierzu: Gustavo Uzielli: Bibliografia della polemica concernente Paolo Toscanelli e Chr. Colombo, Neapel 1905; Henri Vignaud: Toscanelli and Colombus, New York 1917; Ders.: Toscanelli and Columbus. The Letter and Chart of Toscanelli, London 1902. Das wird unter anderem in den einleitenden Grußworten zu einem undatierten Schreiben Regiomontans an Toscanelli deutlich. Das Schreiben ist Teil eines in der Nürnberger Ausgabe des J. Petraeus von 1533 gedruckten Quadraturtraktats Regiomontans (ediert als Anhang zu De triangulis libri quinque unter dem Titel Joannis de regio monte Germani, nationis Francicae, Mathematicarum disciplinarum principis, De quadratura circuli, dialogus) [im Folgenden zit. als: RN]. Ein Faksimileabdruck findet sich auch in: Opera collectanea, Felix Schmeidler (Hg.), Nr. 5b, S. 29‒38 (im Faksimile, S. 445‒454 der laufenden Zählung), hier
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tigen Quellenstandes einigermaßen schwer nachvollziehbar ist, wenn man bedenkt, dass von Toscanellis mathematischem Schaffen nur ein kurzer und inhaltlich nicht allzu bedeutsamer Brief an den Kusaner erhalten geblieben ist, in dem der Florentiner seine fachliche Einschätzung zu einem von Nikolaus’ vielen Versuchen zur Kreisrechnung abgibt.59 Dennoch: Toscanellis mathematische Fertigkeiten müssen bemerkenswert gewesen sein, denn nicht nur der mathematiktreibende Laie Nikolaus, sondern auch Regiomontan, selbst eine mathematisch-naturwissenschaftliche Ausnahmeerscheinung, suchte in Fachfragen den Rat des fisicus. Toscanelli ist trotz solcher Referenzen immer noch ein echtes Forschungsdesiderat und es ist erstaunlich, dass ein Großteil der ohnehin knappen Forschungsliteratur zu Leben und Werk dieser wissenschaftsgeschichtlichen Schlüsselfigur vor über hundert Jahren (und vorrangig durch einen Autoren, Gustavo Uzielli) verfasst worden ist,60 auch wenn man zugestehen muss, dass sich die zugehörige Quellenlage seitdem nicht entscheidend verändert hat. Die enge persönliche wie fachliche Bindung zu Toscanelli, die Nikolaus in verschiedenen Schriften erkennen lässt, muss in der gemeinsamen Studienzeit in Padua ihren Ausgang genommen haben. In den Transmutationes geometricae61 spricht Nikolaus von Toscanelli ausdrücklich als seinem Knaben- und Jugendfreund, so dass es als sicher gelten kann, dass beide sich aus Padua kannten. Sicher hatte Toscanelli als Student der Medizin auch Lehrveranstaltungen zu Astrologie und Mathematik bei Prosdocimo de Beldomandi besucht, und es wäre natürlich denkbar, dass Nikolaus, der seinerseits, wie die Vielzahl medizinischer Handschriften aus seinem persönlichen Besitz62 und vor allem seine eigene Schrift zu den Wägeexperimenten (Idiota de staticis experimentis) von 1450 zeigen, neben mathematischen auch an medizinischen Fragestellungen sehr interessiert war, ebenfalls zeitweise Beldomandi gehört hatte und dabei auf den jungen Toscanelli getroffen war. Es gibt darüber hinaus noch weitere quellenkundliche Indizien, die nahe legen, dass Nikolaus in Padua mit Beldomandis Lehre in Berührung kam.
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vor allem: S. 29 (S. 445 der laufenden Zählung): (mit Bezug auf Toscanellis mathematische Expertise) […] habes profecto plenissimam Geometriae cognitionem […]. Siehe: S. 247ff. So etwa die folgenden Abhandlungen: Gustavo Uzielli: Paolo dal Pozzo di Toscanelli. Ricordo del solstizio d'estate del 1892, Florenz 1892; Ders.: La vita e i tempi di Paolo dal Pozzo Toscanelli, Rom 1894; Hermann Wagner: Die Rekonstruktion der Toscanelli-Karte vom J. 1474 und die Pseudo-facsimilia des Behaim-Globus vom J. 1492 (= Nachrichten der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen ‒ Phil--Hist. Klasse), Göttingen 1894. Eine echte Ausnahme stellt der vergleichsweise aktuelle Beitrag von María Luisa Righini Bonelli dar: Paolo dal Pozzo Toscanelli y su importancia en el mundo científico del siglo XV, in: Boletín de la Academia Nacional de Ciencias 48 (1970), S. 599‒602; siehe ferner: S. 34, Anm. 57. Siehe auch zusammenfassend: Marco Böhlandt: Missing Link. Spurensuchen zu Leben und Werk des Paolo Toscanelli, in: Mathematics Celestial and Terrestrial. Festschrift für Menso Folkerts zum 65. Geburtstag (= Acta Historica Leopoldina 54), Joseph W. Dauben/Stefan Kirschner/Andreas Kühne/Paul Kunitzsch/Richard P. Lorch (Hgg.), München 2008, S. 59-80. TG, h 20, n 2, Z. 29‒30, S. 4 = p. 2, fol. 33r = MATH. SCHRIFTEN, S.4. Hierzu: Marx: Verzeichnis, Trier 1905
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Beldomandi war der Verfasser eines zu seiner Zeit weit verbreiteten Kommentars zur Sphaera des Johannes Sacrobosco.63 Sacroboscos astronomische Abhandlung fand auch in der cusanischen Kalenderreformschrift De correctione kalendarii,64 die 1434/35 im Rahmen des Basler Konzils entstand, ausdrückliche Erwähnung.65 Dennoch: Eindeutige Belege dafür, dass Nikolaus in Padua neben seinen zweifellos zeitaufwendigen kanonistischen Studien Gelegenheit zur mathematischen Fortbildung fand, fehlen in den uns bekannten Quellen. Es lässt sich nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, ob er in den Jahren seit seinem Weggang aus Heidelberg überhaupt ständig in Padua ansässig war.66 Immerhin wird er 1425 nach dem Abschluss seiner Studien in Italien an der Universität zu Köln wörtlich als Nycolaus de Cusa doctor in iure canonico Trevirensis dyocesis. Nihil dedit ob reverenciam personae, sed iuravit complete immatrikuliert.67 Der kurze Aktenvermerk, ein Hinweis auf die besondere Förderung (durch Erlass der Studiengebühren), die Nikolaus in Köln genossen hat, zeigt, dass der junge Kleriker und Rechtsgelehrte mit seinen 24 Jahren bereits in beachtlichem Ansehen stand, das er sich wohl kaum erst in der kurzen Zeit zwischen seiner Promotion in Padua und dem Wechsel nach Köln erworben haben kann. Auch die ihm im gleichen Jahr vom Trierer Erzbischof Otto von Ziegenhain (†1430) übertragene Pfründe der Pfarrkirche St. Andreas in Altrich (Mittelmosel, bis 1429) und das ein Jahr später folgende Kanonikat von St. Simeon in Trier (bis 1428) deuten darauf hin, dass Nikolaus in Köln bereits über praktische Erfahrungen in der Kirchenverwaltung und Rechtspflege verfügte. Über Nikolaus’ Kölner Jahre, und insbesondere über seine mögliche Lehrtätigkeit dort, ist wenig bekannt. Förderer und Freund des jungen Kanonikers wird der nur sechs Jahre ältere, aus Nordbrabant stammende Heymericus de Campo (auch: Heimrich van de Velde, 1395‒1460), der in Köln 63
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Prosdocimo de Beldomandi: Comentum sphaerae Prosdocimum de Beldomandis patricium Patavium divinae Mathesos professorem clarissimum, Lucantonio de Junta (Hg.), Venedig 1531. Hier und im Folgenden beziehe ich mich auf die Angaben bei: Hans Gerhard Senger: Die Philosophie des Nikolaus von Kues vor dem Jahre 1440. Untersuchungen zur Entwicklung einer Philosophie in der Frühzeit des Nikolaus (1430‒1440), Münster 1971, S. 151, Anm. 73. Beldomandi ist auch der Verfasser eines Algorismus de integris, der 1540 in Venedig gedruckt wurde: Algorismus de integris magistri Prosdocimi Debeldamandis Pataui simul cum algorismo de de minutijs seu fractionibus magistri Ioannis de Linerij siculi, Federigo Delfino (Hg.), Venedig 1540. Wie die Titelgebung anzeigt, enthält dieser Druck als Anhang einen Algorismus de minutiis, der hier Johannes de Lineriis zugeschrieben wird. Thorndike führt den Text allerdings auf Richard of England zurück: Thorndike: The ‚Sphere‘ of Sacrobosco and its commentators, S. 3. Beldomandi selbst hatte Sacrobosco den Text in dieser (oder ähnlicher) Form Sacrobosco zugeschrieben: Thorndike, S. 3. Hier und im Folgenden beziehe ich mich auf die Ausgabe: Nikolaus von Kues. Die Kalenderverbesserung [De correctione kalendarii] (= NvKdÜ, Heft 3), lat.-dt., Viktor Stegemann u. Bernhard Bischoff (Hgg.), Heidelberg 1955 [im Folgenden zitiert als Corr. kalend.]. Corr. kalend., cap. 3, S. 20, Z. 24‒25. Vgl.: Acta Cusana, Bd. 11, S. 4, Nr.11, Anm. 2. Franz Joseph Bianco: Die alte Universität Köln sowie die zu Köln administrierten StudienStiftungen, Bd. 11 (= Die alte Universität Köln. Kölner Gelehrte des 14.‒18. Jahrhunderts. Verzeichnisse der Rektoren und bedeutender, an der Universität immatrikulierter Personen), Köln 1855 [Nachdruck: Köln 21974], S. 673f.
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zwischen 1428 und 1435 eine Professur für Theologie innehatte, und als Vertreter eines neuplatonisch gedeuteten Aristotelismus in der Nachfolge des Albertus Magnus (um 1193‒1289) stand.68 Unter Anleitung von Heymeric wird Nikolaus mit den Schriften des Neuplatonisten (Pseudo-)Dionysios Areopagita (um 500) näher vertraut.69 Spätestens in Köln, in der intensiven Auseinandersetzung mit dem Neuplatonismus, wird in ihm auch das Interesse für die christliche Mystik geweckt, eingehende Studien der Schriften Meister Eckhards (1260‒1328)70 und des (pseudo-)hermetischen Liber philosophorum XXIV sind die Folge.71 Joseph Hofmann hat die Bedeutung der Begegnungen mit den Schriften Eckhards und des (Pseudo-)Areopagiten für die Entwicklung der der Mystik nahestehenden geometrischen Bildsymbolik in Nikolaus’ philosophisch-theologischen Hauptschriften ausführlich dargestellt.72 Heymeric spielte dabei nicht nur als Vermittler eine Rolle, sondern hat sicher auch über seine eigenen Schriften, von denen sich einige in der Kueser Hospitalsbibliothek finden,73 Nikolaus’ Bildsprache nachhaltig mitgeprägt.74 Nun spielt zwar in der mystisch-neuplatonischen Geistestradition die symboltheologische Auszeichnung von Zahl und geometrischer Figur – insbesondere natürlich durch den Trinitätsdiskurs – eine nicht unerhebliche Rolle. Was dabei aber konkret an mehr oder weniger genuin Mathematischem verhandelt wird, ist allenfalls elementar und geht über das, was jeder Absolvent der Artistenfakultät im Rahmen quadrivialer Studien an mathematischen Fertigkeiten zu erlernen hatte, nicht hinaus. Insgesamt scheint die Kölner Universität nicht gerade ein Brennpunkt naturwissenschaftlich-mathematischer Innovation gewesen zu sein. Jüngst aber hat die Wiederentdeckung zweier ursprünglich aus Köln stammender Handschriften durch Menso Folkerts Anlass zu einer vorsichtigen Neuberwertung der akademischen Schwerpunktsetzung in der Rheinmetropole gegeben. Peter von Jülich (latinisiert: Petrus de Iuliaco, †1447), der mehrfach als 68 69 70
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Meuthen: Skizze, S. 26. Ebd. Die Apologia doctae ignorantiae ist über weite Strecken eine Verteidigungsschrift der Eckhardschen Philosophie. Eine Edition der Schrift liegt vor in: Clemens Baeumker: Das pseudo-hermetische Buch der 24 Meister, Münster 21927. Joseph Ehrenfried Hofmann: Nikolaus von Kues – Der unwissend-Wissende, in: Praxis der Mathematik 6 (1964), S. 169‒183. Klaus Reinhardt: Werke des Heymericus de Campo (+ 1460) im Codex Cusanus 24, in: Traditio 50 (1995), S. 295–310. Zur Symbolsprache bei Heymeric siehe: Christel Meier: Figura ad oculum demonstrativa. Visuelle Symbolik und verbale Diskursivität nach Heymericus de Campo, in: Literatur – Geschichte – Literaturgeschichte. Beiträge zur mediävistischen Literaturwissenschaft. Festschrift für Volker Honemann zum 60. Geburtstag; Nine Miedema u. Rudolf Suntrup u.a. (Hgg.), Frankfurt a.M. 2003, S. 755‒783. Kritische Teilausgabe der Werke Heymerics: Opera selecta, Ruedi Imbach u. Pascal Ladner (Hgg.), Fribourg 2001 (= Spicilegium Friburgense 39), darin enthalten: Epistola ad Papam Martinum V (‚Hussiten-Dialog‘), bearb. von Rolf de Kegel (S. 35); De sigillo eternitatis, bearb. von Ruedi Imbach u. Pascal Ladner (S. 93); Ars demonstrativa, bearb. von Jean-Daniel Cavigioli (S. 129); Tractatus de naturali veritatis catholice analesy, bearb. von Zénon Kaluza (S. 169); Alphabetum doctrinale, bearb. von Jerzy Korolec (S. 205‒221).
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Dekan der Artistischen Fakultät vorstand und auch zweimal das Amt des Universitätsrektors bekleidete, hinterließ neben einem Traktat zur Astronomie75 auch einen Visiertraktat,76 eine Abhandlung zur Fassmessung („Doliometrie“), einem wichtigen Gebiet der angewandten Mathematik des Mittelalters. Damit zeigt sich, dass Visiertraktate nicht nur an den stark naturwissenschaftlich ausgerichteten Universitäten wie Wien oder Erfurt entstanden waren.77 Es ist dabei mehr als naheliegend, anzunehmen, dass ganz allgemein für das Entstehen von Texten zur praktischen Mathematik nicht zwingend die eigentlichen Studienschwerpunkte, sondern vielmehr auch äußere Faktoren auslösend waren. Zwar war die Kölner Universität 1388 formal durch Papst Urban VI. gegründet worden. Auch war in Köln die Verbindung des akademischen Lehrbetriebs an die Kirche relativ stark ausgeprägt, stand man hier doch in der direkten Tradition des studium generale, das der Kirchenlehrer Albertus Magnus (um 1200-1280) 1248 für den Dominikanerorden eingerichtet hatte.78 Dass Köln als eine der kirchnahen Universitäten des Mittelalters gilt, ist also nicht verwunderlich. Die eigentliche Initiative zur Universitätsgründung ging allerdings weder von päpstlich-kirchlicher noch von adelig-weltlicher Seite aus. Vielmehr war der Rat der Reichsstadt Köln hier die treibende Kraft. Auch die Finanzierung der Universität erfolgte aus den städtischen Kassen. Hier offenbart sich der enorme Gesellschaftswandel des späten Mittelalters, im Zuge dessen in den Städten das Bürgertum als neue, einflussreiche soziale Schicht mehr und mehr zu einem starken Machtfaktor wird.79 Das Selbstbewusstsein dieser gesellschaftlichen Gruppe war gerade in der reichen Handelsmetropole Köln sehr groß – mehrfach stellte sich das Stadtbürgertum,
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Heute in: Brüssel, Bibliothèque Royale, 1022-1047, fol. 89v-98v. Heute in: Brüssel, Bibliothèque Royale, 1022-1047, fol. 172v-184r. Zu den dort entstandenen Visiertexten siehe: Menso Folkerts: Die Entwicklung und Bedeutung der Visierkunst als Beispiel der praktischen Mathematik der frühen Neuzeit, in: Humanismus und Technik 18,1 (1974), S. 1-41, hier: S. 15-21. Hierzu: Hannes Möhle: Zum Verhältnis von Theologie und Philosophie bei Albert dem Großen. Wissenschaftstheoretische Reflexionen während der Gründung des Studium generale in Köln, in: Rheinisch-kölnisch-katholisch. Beiträge zur Kirchen- und Landesgeschichte sowie zur Geschichte des Buch- und Bibliothekswesens der Rheinlande, Siegfried Schmidt (Hg.), Köln 2008, S. 147-162. Die Einflussnahme städtischer Führungsschichten auf den universitären Lehrbetrieb in Köln war natürlich kein Einzelfall. So wurde bekanntermaßen der berühmten Rechtsschule von Bologna, im späten 11. Jahrhundert durch Zusammenschluss kleinerer Lehrinstitutionen gegründet und nach allgemeiner Übereinkunft der historischen Forschung die erste Universität des Abendlandes, durch das kaiserliche Scholarenprivileg (authentica habita) Friedrichs I. Barbarossa bereits 1155 eine weitgehende Verwaltungsautonomie verliehen, um die Abhängigkeit der Lehrenden und Lernenden von äußeren Einflussnahmen zurückzuschrauben. Das Autonomieprivileg sollte aber auch ganz allgemein die freie Gerichtswahl von Schülern und Lehrern, die sich zu Korporationen zusammenschlossen, sichern. Natürlich stand bei diesem Eingriff nicht die Unabhängigkeit von Forschung und Lehre als Eigenwert im Vordergrund, sondern die Interessen des Kaisers selbst, mussten doch für die Organisation von Hof und Reich beständig loyale juristische Fachkräfte angeworben werden. Hierzu ausführlich: Friedrich Stelzer: Zum Scholarenprivileg Friedrich Barbarossas (‚authentica habita‘), in: Deutsches Archiv für die Erforschung des Mittelalters, Bd. 37, Köln 1978, S. 123-165.
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teils mit Waffengewalt, gegen Ihren obersten Stadtherrn, den Kölner Erzbischof.80 Der Wohlstand der Bürger speiste sich dabei zu großen Teilen auch durch die günstige Lage Kölns am Rhein, der Hauptschlagader des mittelalterlichen Weinhandels. Dass damit für die Händler am größten und alles beherrschenden Rheinweinmarkt81 die korrekte Fassnormung besonders wichtig war, ist selbstverständlich. Der Visiertrakat des Peter von Jülich ist sicher, wenn auch nicht ausschließlich, als Zugeständnis an seine Finanziers zu verstehen. Allerdings geht der Text, wie viele doliometrische Texte, über rein praktische Näherungsverfahren der Fassmessung hinaus und berührt auch allgemeinere geometrische Fragestellungen. Zwar ging in der Visierkunst die Praxis immer der Theorie voraus, doch sind eine ganze Reihe echter Grundlagenprobleme der Mathematik mit der Fassmessung eng verbunden.82 Interessanterweise nun hatte Peter das Rektorenamt auch auch inne, als Nikolaus an die Universität in Köln überwechselte. Ohne Zweifel müssen beide sich gekannt haben – die moderne Massenuniversität ist noch Jahrhunderte entfernt und selbst eine Metropole wie Köln verzeichete jährlich gerde mal einige wenige Dutzend Immatrikulationen. Zudem scheint Nikolaus, wie der oben angeführte Matrikeleintrag zeigt, ja durchaus zu den ‚prominenteren‘ Neuzugängen der Universität gezählt zu haben. Das Zusammentreffen beider war möglicherweise ein folgenloser Zufall. Dass Peter in irgendeiner Weise Einfluss auf Nikolaus’ späteres mathematisch-naturwissenschaftliches Schaffen genommen haben könnte, ist eine ebenso interessante wie hochspekulative These. Quellenkundliche Anhaltspunkte dafür, dass Nikolaus in Köln sein ‚mathematisch-naturwissenschaftliches Rüstzeug‘ wesentlich aufzustocken vermochte, gibt es nicht. Wenigstens ein gewisses Interesse an Fachmathematischem muss er allerdings bereits in Köln gehabt haben: In die Zeit in der rheinländischen Metropole fallen die frühesten Belege für den Beginn von Nikolaus’ Auseinandersetzung83 mit dem Werk des Mallorciner Tertiars Raimundus Lullus (auch: Ramón Lull, um 1232‒1316), mit dessen der Mystik nahestehenden philosophischen und theologischen Lehren er hier in Köln vielleicht sogar zum ersten Mal − in diesem Falle dann sicher unter 80
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Berühmt wurde vor allem der sogenannte „Große Schied“ von 1258, der, hauptsächlich vermittelt durch Albertus Magnus, der den langwierigen Konflikt zwischen Erzbischof Konrad von Hochstaden (um 1205-1261) und den Kölner Stadtpatriziern um die Verfassung der Stadt (kurzzeitig) beendete. Siehe hierzu: Dieter Strauch: Der große Schied von 1258. Erzbischof und Bürger im Kampf um die Kölner Stadtverfassung, Köln 2008. Folkerts, Visierkunst, S. 8. Zur Geschichte der Fassmessung siehe auch: Menso Folkerts: Die Geschichte der Fassmessung (Visierkunst) von der Antike bis zu Kepler, in: Proceedings of the 14th International Congress of the History of Science, Tokyo/Kyoto 1974, Nr. 2, Tokyo 1974. Hierüber geben vor allem die zahlreichen Glossierungen des Kusaners zu den in der Kueser Sammlung befindlichen Lullschen Traktaten Auskunft. Kein anderer Autor ist in der Hospitalsbibliothek häufiger vertreten als Lull. Hierzu auch: Ulli Roth (Hg.): Die Exzerptensammlung aus Schriften des Raimundus Lullus im Codex Cusanus 83, Heidelberg 1999 und Joseph Ehrenfried Hofmann: Die Quellen der Cusanischen Mathematik I. Ramon Lulls Kreisquadratur (= Cusanus-Studien 7); Heidelberg 1942 (zugl. Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften – Philosophisch-Historische Klasse, Bd. 4).
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Vermittlung durch Heymeric − in Berührung kam.84 Die Lullsche Vernunfttheologie wurde für Nikolaus’ eigene philosophisch-theologischen Beiträge zu einer zentralen Bezugsquelle. Aber auch in Hinblick auf Nikolaus’ mathematisches Schaffen hat Lull wohl eine gewisse Rolle gespielt. Lull ist unter anderem der Verfasser einer relativ umfassenden Abhandlung zum Quadraturproblem De quadratura et triangulatura circuli, die auch in der Kueser Hospitalbibliothek vorliegt.85 Der Schreiber war Nikolaus selbst, der die Kopie mit zahlreichen Glossierungen versehen hat.86 Der Lullsche Traktat war ursprünglich zweigeteilt. Im ersten Teil der Schrift wird ein mehr oder weniger ‚rein‘ mathematisches Verfahren zur Rektifikation des Kreises geliefert. Im zweiten Teil wird das Spezialproblem der Quadratur (und Triangulatur) des Kreises dann in den Kontext einiger geometrico-theologischer87 Ausführungen Lulls zu der von ihm an anderer Stelle entwickelten ars generalis88 überführt. Diesen zweiten, erkenntnisphilosophisch und spekulativ-theologisch orientierten Teil des Lullschen Traktats hat Nikolaus bei seiner Abschrift auffälligerweise übergangen und sich nur dem eigentlichen Quadraturverfahren Lulls zugewandt. Lulls Näherungsversuch ist, wie Hofmanns Analysen deutlich zeigen, methodisch nicht besonders anspruchsvoll, im Ergebnis dann auch entsprechend von bescheidener Qualität.89 Wichtiger als das eigentliche Quadraturverfahren mag für Nikolaus die von Lull angewandte Strategie gewesen sein, aus der Anschaulichkeit eines elementaren geometrischen Grenzproblems die Grundlage für den erkenntnisphilosophischen Diskurs zu gewinnen, die Nikolaus in seiner später so oft dargelegten Überzeugung, der Weg zu den höchsten menschenmöglichen Einsichten führe über die Mathematik,90 bestärkt haben mag (wenngleich Nikolaus den philosophisch-theologischen Ableitungen Lulls hier im Einzelnen augenscheinlich nicht folgen wollte).
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Meuthen: Skizze, S. 27. Raimundus Lullus: De quadratura et triangulatura circuli, Cod. Cus. 83, fol. 173v‒177v. Hofmann: Die Quellen der Cusanischen Mathematik I, darin: Raimundus Lullus: De quadratura et triangulatura circuli, S. 21‒37. Die erwähnten Randnoten des Kusaners sind ediert in: Roth: Exzerptensammlung. Diesen Begriff übernehme ich hier und im Folgenden von Kurt Flasch, der ihn an verschiedener Stelle verwendet in: Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung. Vorlesungen zur Einführung in seine Philosophie, Frankfurt am Main 1998. Der Begriff der ars generalis nimmt in der Lullschen Philosophie etwa den gleichen Raum ein wie der Begriff der ars coniecturalis bei Nikolaus. Vgl. hierzu vor allem die Schriften: Raimundus Lullus: Ars generalis et ultima (= Raimundi Lulli Opera latina 14, Nr. 128), Aloisius Madre (Hg.), Turnhout 1986 (zugl. Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 75) und Nikolaus von Kues: De coniecturis (= Opera omnia 3), Carl Bormann/Josef Koch/Johannes Gerhard Senger (Hgg.), Hamburg 1972 [im Folgenden zitiert als h 3]. Joseph Hofmann hat auf der Berechnungsgrundlage des Lull´schen Entwurfs einen Näherungswert von π = 3 1 als bestmögliches Ergebnis ermittelt. Der Wert liegt klar außerhalb 8 der archimedischen Grenzen für die Kreisquadratur, die Lull bekannt gewesen sein dürften; vgl.: Hofmann: Lulls Kreisquadratur, S. 13. Siehe u.a.: S. 90.
2.3. Erste Pfründen und die Kalenderreformfrage auf dem Basler Konzil
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2.3. ALLE ZEIT DER WELT. ERSTE PFRÜNDEN UND DIE KALENDERREFORMFRAGE AUF DEM BASLER KONZIL Die 1430er Jahre sollten Nikolaus neben den bereits bemerkenswerten Erfolgen als Jurist und Kirchenbeamter breitere intellektuelle Anerkennung und den politischen Aufstieg bringen. Ursprünglich nur als (in der Sache am Ende erfolgloser) Rechtsvertreter des Kölner Domdekans Ulrich von Manderscheid (†1438) im Streit um die Trierer Bischofswürde nach Basel geladen, waren hier rasch einflussreiche Kreise auf den vielseitig begabten Kanonisten aufmerksam geworden. Sicher verdankte Nikolaus dies nicht zuletzt der Fürsprachen einiger mit ihm befreundeter Konzilsteilnehmer, wie Heymericus de Campo, der die Universität Köln auf der Kirchenversammlung vertrat91 und vor allem seines Paduaner Lehrers und Konzilspräsidenten Giuliano Cesarini (1398‒1444, Kardinal 1433),92 der ihn erst zu seinem Sekretär und schließlich zum Mitglied der Deputation über Glaubensfragen machen sollte. Großen Anteil an Nikolaus’ rasch wachsendem Ansehen hatte aber auch die in Basel noch vor dem Hintergrund des (vergleichsweise unbedeutenden) Trierer Kapitelstreits verfasste gesellschafts- und kirchenpolitische Grundsatzschrift De concordantia catholica aus dem Jahre 1433. Inhaltlich von vergleichbarer Brisanz wie Wilhelm von Ockhams (um 1287‒um 1349) De imperatore et pontificum potestate oder der Defensor pacis des Marsilius von Padua (um 1270‒um 1342) fiel die Idee von der hierarchischen Gliederung weltlicher und kirchlicher Autoritäten unter Einbindung der Wahlfreiheit des Einzelnen im konziliaren Umfeld auf fruchtbaren Boden und erleichterte Nikolaus den Zugang zu den höheren Kreisen des Konzils.93 Dort muss man dann aber auch 91
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Allgemein zum Konzil zu Basel: Johannes Helmrath: Das Basler Konzil 1431-1449: Forschungsstand und Probleme, Köln 1987. Zur Teilnahme der Kölner Universität an den Konzilien: Bianco, S. 235‒253, in Hinblick auf das Baseler Konzil besonders: S. 243‒250. In einer päpstlichen Bulle Eugens IV. vom 15. März 1432 wurde der damalige Vizekanzler und spätere Rektor der Kölner Universität Heymeric zum Konzilsgesandten bestimmt. Diese Bulla Eugeni Papae indicentis Concilium generale in civitate Basiliensi, eiusque insinuatione Universitati Coloniensi hat Bianco: Die alte Universität Köln, Bd. 1,2 (= Die alte Universität Köln. Nachtrag: Ausführliche Nachrichten über die Niederlassung und das Wirken der Gesellschaft Jesu in Köln. Anlagen: Akten und Quellen), Köln 21855 [Nachdruck der zweiten Auflage: Köln 1974], Anlage Nr. 30, S. 165‒168. Zu Heymerics konziliaristischen Positionen: Pascal Ladner: Revolutionäre Kirchenkritik am Basler Konzil? Zum Konziliarismus d. Heymericus de Campo (= Vorlesung der Aeneas-Silvius-Stiftung 19 (gehalten am 26. Mai 1982 in d. Univ. Basel), Basel (u.a.) 1985). Vansteenberghe, S. 11; Rossetti, S. 21ff. Man darf allerdings das in der Konkordanzschrift gefasste zentrale Diktum, niemandem dürfe ein Herrscher gegen seinen Willen aufgezwungen werden, keineswegs als protodemokratisch oder auch nur pluralistisch überzeichnen. Dazu erweist sich Nikolaus selbst in seinen späteren diplomatisch-politischen Bestrebungen wahrlich als zu rigide und herrschaftsgläubig. Wenn auch oft um den friedlichen Ausgleich bemüht, kann man Nikolaus ein gewisses Maß an Machtbewusstsein nicht absprechen, das auch die gewalttätige Auseinan-
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2. Die frühen Jahre. Komputistik, Kosmologie, Konjektur
bald auf Nikolaus’ mathematisch-naturwissenschaftliche Begabung aufmerksam geworden sein. Er wird zum Mitglied der Kalenderreformkommission berufen – und damit zu Aufgaben, die an Bedeutung weit über den regionalen Trierer Kapitelsstreit hinausragten. Fundamentale Umwälzungen in Agronomie, Handel und Gewerbe steigerten seit der Mitte des 14. Jahrhundert den Bedarf an verbindlichen und genauen Kalendern. Zugleich war die Kalenderreform auch aus religionspolitischen Gründen ein dringlicher Tagungspunkt der Basler Kirchenversammlung. Seit dem 13. Jahrhundert lieferten die Toletanischen Tafeln die verbindliche astronomische Berechnungsgrundlage der computistae.94 Ihr Gebrauch war nicht nur überaus schwierig und daher nur dem Fachmann möglich; vielmehr ließen sich diese mit den zum Teil stark divergierenden Erkenntnissen der empirischen Astronomie im 15. Jahrhundert auch längst nicht mehr in Einklang bringen.95 Die Diskrepanz zwischen computus und experientia barg nun in Nikolaus’ Augen, der 1436 der Konzilskommission mit seiner ebenso umfang- wie fachkenntnisreichen Abhandlung De correctione kalendarii einen eigenständigen Entwurf zur dringlichen Kalenderreform vorlegte, nicht nur den eigentlichen Grund der insufficientia kalendarii, sondern zugleich einen scandalus in fide.96 Denn wenn die christliche Komputistik, deren primäres Ziel ja in der Berechnung des christlichen Ostertermins lag, offensichtliche Fehler aufwies, so könnten die Feinde des Glaubens [...] darüber frohlocken, da sie auf Grund dieses Irrtums höhnen, dass wir in derselben Weise auch in anderen Dingen irren würden.97 Es sind wohl diese Ausführungen, die Stegemann zu der Auffassung führten, dass auch die Kalenderverbesserung in erster Linie ein Werk des Reformationsidee, d.h. einer von Cusanus in höchstem Sinne verstandenen Kirchenpolitik, und nicht ein solches freier moderner naturwissenschaftlicher Haltung [ist].98 Dass aber die auf Erfahrung (experientia) begründeten Erkenntnisse der Astronomie deutlich voneinander abwichen und damit für die Etablierung einer allgemein verbindlichen Kalenderberechnung ein echtes Hindernis darstellten, war Nikolaus immerhin bewusst. Eine Verbesserung des technischen Instrumentariums allein konnte keine Lösung bringen. Denn auch die in der Zeit zweifellos führende arabische Astronomie hatte es nach Nikolaus’ Auffassung nicht vermocht, selbst vermittels jedwedem noch so gewaltigen Instruments, auf Grund einer untrüglichen wissenschaftlichen Untersuchung die punktgenaue Wahrheit zu erhalten.99 Wie
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dersetzung zur Durchsetzung seiner Ansprüche durchaus nicht scheute. Hierzu: Hermann Josef Hallauer: Nikolaus von Kues als Bischof und Landesfürst in Brixen, Trier 2000. Die Schrift zur katholischen Konkordanz ist insgesamt in einem hochgradig idealistischtheoretischen, wenn nicht sogar utopistischen Ton gehalten, so dass die Trennung von Anspruch und Wirklichkeit hier ganz besonders zu beachten ist. Arno Borst: Computus. Zeit und Zahl in der Geschichte Europas, Berlin 1990, S. 75‒83. Ebd., S. 83. Corr. kalend., cap. 7, S. 61. Ebd., S. 60‒61: [...] quod inimici fidei et de hoc gloriantur, quoniam ex illo errore nos [...] in aliis pariformiter errare subsannant. Einleitung zu: Corr. kalend., S. XIVf. Ebd., S. 14‒15: [...] nec ex quibuscumque maximis etiam instrumentis punctalis veritas experimento infallibili haberi huiusque potuit [...].
2.3. Erste Pfründen und die Kalenderreformfrage auf dem Basler Konzil
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aber, wenn die Unzulänglichkeiten astronomischer Beobachtung letztlich nicht die Folge naturwissenschaftlich-technischer, sondern einer allgemeinen Unzulänglichkeit des menschlichen Erkenntnisvermögens wäre? Dann wären die Schwierigkeiten bei der Berechnung der Himmelsbahnen auf ein epistemologisches Prinzip zurückzuführen. Genau in diesem Sinne hat Nikolaus in der Correctio die Frage aufgeworfen, ob denn zwischen den Bahnen der Himmelskörper und dem menschlichen Geist überhaupt ein gemeinsames Maß zu finden sei, der Mensch also überhaupt die Bahn der Planeten mit letzter Genauigkeit erkennen könne: [...] Quidam compulsi fuerunt dicere omnem motum supercaelestium incommensurabilem esse rationi humanae et in quadam irrationali proportione habente surdam et innominabilem radicem cadere [...].100
Auf wen sich Nikolaus bei seinen Ausführungen zum motus supercaelestium incommensurabilis im Einzelnen berief, ist nur teilweise zu rekonstruieren. Die astronomische Kommensurabilitätslehre fußte im Wesentlichen auf der euklidischen Proportionalitätslehre und war im 12. Jahrhundert durch die Übersetzungen aus dem Arabischen nach Westeuropa gelangt.101 Von hier aus breitete sich die Lehre ausgehend von der Pariser Schule im 13. und 14. Jahrhundert auch in Deutschland und Italien aus. Es waren dabei besonders die Vertreter der via moderna, Pierre d´Ailly (1350‒1420), Johannes Gerson (1363‒1429), Heinrich von Langenstein (1340‒1397) und vor allem Nicolaus Oresme (1313?‒1382), die im 14. Jahrhundert diese Gedanken tradierten und fruchtbar machten.102 Diese nominalistische Tradition aber, mit der er spätestens während seiner Heidelberger Studienjahre bekannt geworden sein dürfte, nennt Nikolaus nicht ausdrücklich. Als Gewährsmann seiner Ausführungen führt er den arabischen Astronomen Ṯābitibn Qurra (826‒901) an.103 Möglicherweise kannte er aber auch die ähnlichen Überlegungen im Euklid-Kommentar des Proklos (410‒485).104 100 101
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Ebd., S. 19. Hans Gerhard Senger: Philosophie des Nikolaus von Kues vor dem Jahre 1440. Untersuchungen zur Entwicklung einer Philosophie in der Frühzeit des Nikolaus (1430‒1440), Köln 1971, S. 52‒53. Ebd. Corr. kalend., S. 9f. Zu Ṯābit liegt mittlerweile eine Anzahl von astronomiegeschichtlichen Abhandlungen vor. Es sei hier nur auf drei von diesen hingewiesen, die mir besonders für einen Überblick über das mathematische und astronomische Schaffen des arabischen Himmelskundlers geeignet erscheinen: Francis J. Carmody: The Astronomical Works of Thabit b. Qurra, Berkeley (Los Angeles) 1960. Ders.: Notes on the astronomical works of Thabit B. Qurra, in: Isis 46 (1955), S. 235‒242; Kristian P. Moesgaard: Thabit ibn Qurra and Arab astronomy in the 9th century, in: Arabic Science and Philosophy 41 (1994), S. 11‒139. Ich beziehe mich hier und im Folgenden auf die deutsche Ausgabe: Proklus Diadochus: Kommentar zum ersten Buch von Euklids Elementen, Max Steck (Hg.), Halle (Saale) 1945 [im Folgenden zitiert als: Proklos-Kommentar, ed. Steck], siehe vor allem: Vorrede, 2. Teil, S. 202f., Z. 34‒37 und 1‒17, vor allem Z. 34‒37 u. 1‒4: Auch der Begriff des Kreises ist zweifach, ebenso der des Dreieckes und überhaupt der Gestalt; der eine bezieht sich auf die intelligible, der andere auf die sichtbare Materie. Vor diesen war schon die Idee im denkenden Geist einerseits, in der Natur andererseits; die eine ist Schöpferin der vorgestellten Kreise und der einen Form in ihnen, die andere der sichtbaren, worunter die K r e i s b o g e n
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2. Die frühen Jahre. Komputistik, Kosmologie, Konjektur
Die komputistischen Einzelheiten der Schrift sind im Begleittext zur deutsch‒lateinischen Edition von Viktor Stegemann detailliert dargestellt, so dass ich mir an dieser Stelle erlaube, nicht weiter auf Nikolaus’ für sich genommen sicher bedeutsamen Ansätze zur Kalenderkorrektur einzugehen. Erwähnenswert aber bleibt, dass in De correctione kalendarii erstmalig in aller Deutlichkeit auf das für Nikolaus’ Erkenntnisphilosophie wie auch seine Auffassungen zu Wesen und Wert des Mathematischen bestimmende Paradigma der Unzulänglichkeit des menschlichen Erkenntnisvermögens eingeführt wird. Dabei gebraucht Nikolaus auch den für die Entwicklung seiner Epistemologie so wichtigen Begriff der incommensurabilitas, der bei ihm einmal im weiteren Sinne als Hinweis auf eine prinzipielle ‚Unvergleichbarkeit‘, so wie dies bei Aristoteles mitunter anklingt, an anderen Stellen aber, insbesondere in den mathematischen Schriften, sehr viel konkreter auch als mathematische Inkommensurabilität verstanden werden kann. In De correctione kalendarii ist ausdrücklich nicht von einer ontischen privatio die Rede, die Unberechenbarkeit der Himmelsbewegungen wird (zumindest hier) nicht mit einem Seinsmangel begründet, etwa derart, dass die Planetenbahnen (bzw. die Bewegung der die Planeten und Sterne tragenden Sphären) selbst beständigem Wandel unterworfen wären. Dass auch die Natur nichts Absolutes hervorbringt, sondern alles Geschaffene immer nur in Relation existiert, wird Nikolaus erst in De docta ignorantia deutlich aussprechen. Erst dort wird er sich eingehender mit der Frage beschäftigen, ob die Unmöglichkeit vollständiger, absolut sicherer Erkenntnis durch die ontologische Grundverfassung der Betrachtungsgegenstände selbst oder durch die Beschränkungen menschlichen Erkenntnisvermögens zu begründen ist, oder aber vielmehr (und das ist es letztlich, worauf Nikolaus’ Unendlichkeitsmetaphysik hinauslaufen wird) Sein und Erkenntnis in dieser Frage gar nicht genau zu trennen sind. Interessant ist dabei, dass in der Correctio aber bereits zwei Hauptmetaphern aus Nikolaus’ späterer Erkenntniskonzeption vorweggenommen werden. Er parallelisiert die kosmischen Inkommensurabilitäten mit den eng verwandten geometrischen Problemen der Kreisquadratur und des Kontingenzwinkels: [...] Dicunt motum superiorem per humanum ingenium comprehensibilem sicut circulus per idem ingenium est quadrabilis et angulus acutus contingentiae105 attingibilis rectilinealem.106
Dass Nikolaus in der Correctio die Inkommensurabilität der Planetenbewegung mit dem Doppelproblem der Kreisquadratur und Kurvenausstreckung in Beziehung setzt, zeigt deutlich, dass er hier auf etwas sehr Konkretes hinaus will: Größtes Hemmnis der Himmelskunde sind, wie Nikolaus zuvor dargelegt hat, nicht technische Unzulänglichkeiten der astronomischen Beobachtung (also auch
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a m H i m m e l fallen und überhaupt die von der Natur erzeugten. Ferner: Ebd., Z. 14‒17: […] dem Kreis in den sichtbaren Dingen aber eignet e i n M a n g e l a n G e n a u i g k e i t , eine Durchsetzung mit der Geraden, und er lässt die Reinheit der immateriellen Substanz vermissen. Zum Problem der Kontingenzwinkel siehe auch: Kap. 3.1.2, S. 93ff. Corr. kalend., S. 18.
2.3. Erste Pfründen und die Kalenderreformfrage auf dem Basler Konzil
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nicht primär etwaige Irrationalitäten der Bahnverhältnisse selbst) sondern die Mängel innerhalb des mathematischen Instrumentariums, das zur Beschreibung der Phänomene zur Verfügung steht. Verbesserungen in Astronomie und Komputistik sind demnach nicht generell ausgeschlossen, bedürfen aber vor allem zunächst einer Verbesserung der mathematischen Grundlagen, und darin vor allem der Auseinandersetzung mit mathematischen Grenzproblemen. Nikolaus steht mit diesen Überlegungen klar in der Nachfolge des Calcidius (um 400), bzw. dessen Exegeten Johannes Scotus Eriugena (810‒877). In seinem Kommentar zum platonischen Timaios hatte Calcidius die sinnliche Wahrnehmbarkeit der Himmelsschalen insgesamt bestritten, und ihnen nur die Erkennbarkeit vermittels der Vernunft eingeräumt.107 Auf dieser Grundlage sind für Eriugena die Formen, mit denen der Geist die Verhältnisse der Himmelskörper abbildet, entscheidender als das sinnlich Wahrnehmbare. Die Verhältnisse der Himmelsbahnen sind mathematisch zu erfassen, nicht durch die reine Beobachtung. Dabei ist die Astronomie für Eriugena ein Beispielfall des allgemeinen Grundsatzes, dass nichts ohne den Verstand (ratio) aufgefunden oder bewiesen werden kann.108 Für Nikolaus ist die ratio, wie die spätere Schrift Über die belehrte Unwissenheit zeigt, der Sitz des logisch-mathematischen Denkens, und so fügt sich schlüssig in die Traditionslinie über Calcidius und Eriugena ein, dass er die Mathematik als den wahren Schlüssel zur Erkenntnis der kosmologischen Ordnung ansieht. Es ist daher auch kaum überraschend, dass der Blick auf die direkten Vorlagen und Referenzschriften, die Nikolaus für seine kalendarischen Korrekturen herangezogen hat, immer auch auf Hinweise auf Nikolaus mathematische Kenntnisse und Interessen offenbaren: De correctione kalendarii enthält viele Hinweise darauf, dass er neben den Hauptschriften Ṯabits auch mit den komputistischen Konzeptionen von Pierre d’Ailly vertraut war.109 Zudem kannte Nikolaus den Traktat De temporibus des Beda Venerabilis (um 673‒735).110 Der heutige Oxforder Codex Lyell 54, in dem sich einige Randnotizen von Nikolaus’ Hand finden, enthält vor allem astronomischkomputistische Abhandlungen, zu denen auch eine Abschrift der ersten 15 Kapitel der Schrift Bedas zählt. Die Sammlung weist den Herkunftsvermerk Ad librarium [Rasur]111 Erffordia auf.112 Wie sich dem von Josef Koch bereitgestellten Itinerar der Legationsreise von 1451/52 entnehmen lässt, hielt sich Nikolaus zwischen dem 29. Mai und dem 7. Juni in Erfurt auf.113 Wahrscheinlich hat Nikolaus bei 107
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Calcidius: Commentarius in Timaeum, Jan Hendrik Waszink (Hg.), London 1962, hier besonders: S. 282, Z. 11‒15. Johannes Scotus Eriugena: De divisione naturae, in: PL Migne 122, Paris 1853 (= Abdruck der Werkausgabe: Joannis Scoti opera quae supersunt omnia, Heinrich Joseph Floss (Hg.), Bonn 1852), Sp. 439‒1022, hier: Sp. 868D. Hierzu auch Viktor Stegemann in seiner Einleitung zu: Corr. kalend., S. XXXI‒XXXIV. Hierzu auch: Alois Krchňák: Neue Handschriften in London und Oxford, in: MFCG 3, Rudolf Haubst (Hg.), Mainz 1963, S. 101‒109, hier: S. 104f. Nach Krchňák (S. 105) ist ausradiert: Collegii porte Celi. Cod. Lyell 54, fol. 29v. Josef Koch: Das Itinerar der Legationsreise 1451/52, Beilage zu: Ders.: Nikolaus von Cues und seine Umwelt, Heidelberg 1948, S. 123f.
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2. Die frühen Jahre. Komputistik, Kosmologie, Konjektur
dieser kurzen Visite (demnach allerdings auch erst lang nach den Arbeiten an der Kalenderreformschrift) den Codex einsehen können. Allerdings zeigen einige Stellen in der Correctio, in denen die Schrift Über die Zeiten ausdrücklich erwähnt wird, dass Nikolaus schon sehr viel früher mit Beda in Berührung gekommen sein muss.114 Im Zusammenhang mit Nikolaus’ komputistischen Arbeiten ist ferner der Codex Lyell 52, eine Sammelhandschrift des 14. Jahrhunderts, von Interesse, die 1934 nach Oxford kam. Die Sammlung enthält auf fol. 50r‒72v die Planetentafeln des Azarchel (eigentlich: al-Zarqālī, um 1029‒1100).115 Darüber hinaus finden sich in der Sammlung eine Reihe mathematisch bedeutsamer Texte, auf die bereits Folkerts hingewiesen hat:116 zwei arithmetische Traktate des 14. oder 15. Jahrhunderts, die Bearbeitungen der Arithmetik des al-Ḫwārizmi darstellen,117 ein Algorismus de integris118 zum Rechnen mit den indisch-arabischen Ziffern, der auf Johannes de Sacrobosco verweist,119 sowie ein algebraischer Text, der auf al-Ḫwārizmi beruht.120 Die Handschriftensammlung wird bereits 1380 in der obersteierischen Benediktinerabtei Admont verzeichnet.121 Nicht zuletzt dank seiner hervorragenden Schreibschule hatte sich Admont seit dem Investiturstreit zu einem spirituellen und kulturellen Zentrum im gesamten süddeutschösterreichischen Raum entwickelt. Wir wissen, dass Nikolaus Beziehungen zu einigen bedeutenden süddeutschen Klöstern unterhielt, allen voran dem Kloster Tegernsee, und es ist nicht ausgeschlossen, dass er den Codex in Admont bei einem (offiziellen oder privaten) Besuch in der Steiermark eingesehen hatte. Krchňák hat es dagegen für möglich gehalten, dass Nikolaus mit dem Codex bereits während seiner Zeit als Rechtsbeistand Ulrich von Manderscheids auf dem Basler Konzil
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So etwa in: Corr. kalend., cap. 1, S. 12, Z. 12f. Hier und im Folgenden: Menso Folkerts: Die Quellen und die Bedeutung der Mathematischen Werke des Nikolaus von Kues, in: MFCG 28 (= Nikolaus von Kues. 1401–2001. Akten des Symposiums in Bernkastel-Kues vom 23. bis 26. Mai 2001), Klaus Kremer u. Klaus Reinhardt (Hgg.), Trier 2003, S. 291‒332, hier: S. 303. Ebd.. Cod. Lyell 52, fol. 1r‒20r und fol. 21r‒34r, vgl.: R.W. Hunt: The Lyell bequest, in: The Bodleian Library Record 3 (1950‒1951), Oxford 1951, S. 68‒82, hier: S. 77. Es handelt sich dabei, wie Folkerts festgestellt hat, bei fol. 1r‒20r um den sogenannten Liber pulveris, ed. in: André Allard: Muhammad ibn Mūsā al-Khwārizmī. Le Calcul Indien (Algorismus). Histoire des texts, edition critique, traduction et commentaire des plus anciennes versions latines remaniées du XIIe siècle, Paris 1992, sowie auf fol. 21r‒34r um den Liber ysagogarum Alchoarismi, Vs. 2, ebenfalls ediert in André Allard: Muhammad ibn Mūsā al-Khwārizmī. Hierzu: Folkerts: Quellen und Bedeutung, S. 303. Cod. Lyell 52, fol. 35r‒41v, vgl.: Bodleian Library Record 3, S. 77. Folkerts: Quellen und Bedeutung, S. 303. Cod. Lyell 52, fol. 42r‒49r, vgl.: Bodleian Library Record 3, S. 77. Der Text ist ediert in: Wolfgang Kaunzer: Die lateinische Algebra in MS Lyell 52 der Bodleian Library, Oxford, früher MS Admont 612, in: Aufsätze zur Geschichte der Naturwissenschaften und Geographie, Günther Hamann (Hg.), Wien 1986, S. 47‒89. Signatur Admont 612, siehe auch: Gerlinde Möser-Mersky: Mittelalterliche Bibliothekskataloge Österreichs 3 (= Steiermark), Graz/Wien/Köln 1961, S. 61; Krchňák: Neue Handschriften, S. 105; Folkerts: Quellen und Bedeutung, S. 303.
2.3. Erste Pfründen und die Kalenderreformfrage auf dem Basler Konzil
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in Berührung gekommen ist.122 Eine eingehendere Untersuchung der Beziehungen des Kusaners zu den Admonter Mönchen könnte hier Klärung bringen. Sollte Nikolaus tatsächlich die in Cod. Lyell 52 gesammelten Schriften so früh kennen gelernt haben, wie von Krchňák vermutet, dann könnte der Codex ein wichtiges Indiz bei der Rekonstruktion der frühesten mathematischen Kenntnisse des Kusaners darstellen. Sicher dagegen stand Nikolaus bei der Erarbeitung der Reformschrift der heutige Kueser Codex 212, eine astronomischen Sammelhandschrift, zur persönlichen Verfügung.123 Die hierin enthaltenen Schriften stammen zumeist aus dem Kreis der arabischen und der an sie anschließenden abendländischen astronomischen Literatur und sind, wie Stegemann vermutet hat, mit Ausnahme einer Abschrift der Alfonsinischen Tafeln und der Canones des Johannes Dank (um 1330) für De correctione kalendarii nicht von Bedeutung gewesen.124 Beachtung verdient aber eine weitere Handschriftensammlung, die Hermann Hallauer in London aufgefunden hat125 und die sich zumindest für kurze Zeit in Nikolaus’ Besitz befunden haben dürfte. Der Codex, heute Bestandteil der Harleian Collection der British Library (Harl. 3631), enthält drei astronomische Abhandlungen des Abū-Maʻšar (latinisiert: Albumasar, †886), De magnis coniunctionibus siderum et annorum revolutionibus in summa de significationibus126, Introductorium maius in scientia astrorum,127 die als Albumasars Hauptwerk neben eigenständigen astronomischen und astrologischen Ausführungen auch Auszüge aus dem Almagest, der auf der arabischen Fassung der Mathematike Syntaxis (später auch Megiste Syntaxis) des Claudius Ptolemäus (auch: Klaudios Ptolemaios, um 100‒178) beruhenden Grundlagenschrift der mittelalterlichen Astronomie, enthält, sowie eine (unvollständige) Fassung der Flores de iudiciis astrorum sive liber de revolutionibus annorum.128 Der Codex ist zwar undatiert und die drei sternkundlichen Texte enthalten selbst leider auch keinerlei indirekte Hinweise darauf, wann und für wie lange er Nikolaus zur Verfügung stand. Es gibt aber sichere Indizien, dass die
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Krchňák: Neue Handschriften, S. 105. Nikolaus scheint die Handschriften, die von der Arbeit mehrerer verschiedener Kopisten zeugen, wohl schon zu seiner Studienzeit in Padua erworben zu haben. Hierzu: Stegemann, Einleitung zu: De corr. kalend., S. LXIf. Ebd., S. LXII. Hermann Hallauer: Cod. Harl. 3631 und 3951 (= Kritisches Verzeichnis der Londoner Handschriften aus dem Besitz des Nikolaus von Kues, 3. Fortsetzung), in: MFCG 3, Rudolf Haubst (Hg), Mainz 1963, S. 94‒104, hier: S. 96f. Cod. Harl. 3631, fol. 58r‒110r, wie im vorangehenden und nachfolgenden Text in der Übersetzung des Johannes von Sevilla. Eine weitere Abschrift des Textes ist auch in der Kueser Bibliothek erhalten: Cod. Cus. 208, fol. 75r‒118v. Hierzu auch: Alois Krchňák: Die Herkunft der astronomischen Handschriften und Instrumente des Nikolaus von Kues, in: MFCG 3, Rudolf Haubst (Hg.), Mainz 1963, S. 109‒180, hier: S. 136ff. Cod. Harl. 3631, fol. 1r‒57r. Es handelt sich hierbei, wie auch auf fol. 1r vermerkt, um die lateinische Übersetzung des Johannes Hispalensis (auch: Johannes von Sevilla, um 1150). Cod. Harl. 3631, fol. 110r‒111v, ebenfalls in der Fassung nach Johannes von Sevilla. Siehe auch die vorangegangene Anmerkung.
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2. Die frühen Jahre. Komputistik, Kosmologie, Konjektur
Schriften schon vor den Arbeiten an der Kalenderreform in seinen Besitz gekommen sind, wie im Folgenden gezeigt werden soll.
2.4. LONDONER SKIZZEN. EIN FRÜHER BEITRAG ZUR SEHNENRECHNUNG IM COD. HARL. 3631 Die Londoner Sammlung Harl. 3631 enthält neben den genannten noch weitere, trotz ihrer Kürze im vorliegenden Zusammenhang bedeutsame Schriftstücke. Ganz am Ende finden sich, auf zwei separate Blätter verteilt, Raitungen des Koblenzer Stiftes zu St. Florin aus den Jahren 1424 und 1431.129 Es ist ein Glücksfall, dass auch diese vergleichsweise unbedeutenden Einträge erhalten geblieben sind, denn die auf ihnen vermerkten Datierungen lassen auch Rückschlüsse auf die übrigen Stücke der Sammlung zu. Der Grund hierfür liegt in einem weiteren Schriftstück, einer geometrischen Notiz von Nikolaus’ Hand, die sich auf fol. 112r, in der (nachträglichen) Reihenfolge der Folianten also auf der Vorderseite der Zehntliste aus dem Jahre 1424, findet. Es gibt kaum einen vernünftigen Grund, anzunehmen, dass die Skizzen mit den knappen Erläuterungen nicht in zeitlicher Nähe zu den beiden anschließenden Abschnitten des Codex angefertigt wurden. Damit sollten erstere aber nicht viel später als 1431 entstanden sein. Wären sie erheblich jünger, also deutlich nach 1431 angefertigt worden, dann wäre nicht ganz einsichtig, warum Nikolaus es noch für notwendig befand, neben Blatt fol. 112r‒v auch noch Blatt fol. 113r‒v, das als Verwaltungsnotiz sicher nur von zeitlich begrenzter Relevanz war, gemeinsam mit den Schriften AbūMaʻšars abzulegen, denn die Autographe Notizen und Skizzen des Nikolaus von Kues im cod. Harl. 3631, fol. 112r
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Cod. Harl. 3631, fol. 112v‒113r. Es handelt sich um Zehntrechnungen für verschiedene kleinere Ortschaften und Gehöfte im Gebiet des Maifelds (Voreifel/Untermosel). Fol. 12v hat die Einträge für das Jahr 1425, fol. 13r die entsprechenden Angaben für das Rechnungsjahr 1431.
2.4. Ein früher Beitrag zur Sehnenrechnung
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eigentliche Verbindung der beiden Blätter 112r‒v und 113r‒v mit diesen Texten bildet natürlich die geometrische Skizze, und nicht die vollkommen sachfremden Raitungen. Die zunächst unscheinbare Notiz erweist sich bei näherer Betrachtung als ein interessantes Bindeglied zwischen Nikolaus’ frühen astronomischen Interessen und seinen späteren Beiträgen auf dem Feld der Kreisquadratur. Die knappen Randbemerkungen neben den geometrischen Figuren beziehen sich alle auf die untere beschriftete Kreisfigur (siehe die obige Abbildung). Verschiedene Sehnen sind eingezeichnet, die jeweils Dreiecke zwischen dem Kreismittelpunkt ·b·, Punkt ·c· auf der Kreisperipherie und verschiedenen ebenfalls der Peripherie liegenden Punkten aufspannen. Beschriftet sind die zu ∢abc (=120°), ∢dbc (=110°) und ∢ebc (=90°) gehörigen Sehnen. Eingezeichnet, aber nicht eigens beschriftet sind ferner die Sehnen zu ∢bcg und ∢bcf, die, wie die zugehörigen Notizen zeigen, um ·b· Winkel von 70° respektive 60° bilden. Vier Grundannahmen hat Nikolaus mit der Skizze verknüpft, die ich hier nach der Übertragung von Hallauer wiedergebe:130 ·ad· tertia ·ae·, ·gf· tertia ·ef·, angulus ·gbc· est minus ⅓ recto plus tertia tertie.
Offensichtlich will Nikolaus hier auf eine zweifache Winkeldrittelung hinaus. Möglicherweise hat er gewusst, dass nur die Drittelung von bestimmten Winkeln, wie dem von 90°, mit elementargeometrischen Mitteln möglich ist, dass aber zugleich bestimmte Winkel nicht konstruierbar sind – obwohl der entsprechende algebraische Unmöglichkeitsbeweis, einen beliebigen Winkel nur mit Hilfe von Zirkel und Lineal zu dritteln, noch rund 400 Jahre auf sich warten lassen sollte. Nikolaus schreibt weiter: ·abc· rectus cum ⅓ quare quadratum ·ac· videlicet duo cum dimidio laterum.
Nach dem Kosinussatz ist: 2
2
2
2
ac = ab + bc − 2 ⋅ ab ⋅ bc ⋅ cos α = ab + r 2 − 2 ⋅ ab ⋅ r ⋅ cos 120° = 2 − 2 ⋅ cos 120° (mit α = ∢abc, r = 1). 2
Demnach ist ac = 3 (da cos120° = ‒0,5), genau so, wie von Nikolaus angegeben. Es folgt: angulus ·dbc· est rectus cum
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Hallauer, S. 96.
1 1 recti minus tertie. 3 3
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2. Die frühen Jahre. Komputistik, Kosmologie, Konjektur
Hier soll augenscheinlich deutlich gemacht werden, dass durch zweifache Drittelung des 90°-Winkels Teilwinkel erreicht werden, aus denen der (in Frage stehende)131 Winkel von 110° zusammengesetzt werden kann, nämlich durch: 90° ) 90° 3 90° + + = 90° + 30° + 10° = 110° . 3 3 (
Nikolaus wusste wohl, dass für die Dreiteilung des 90°-Winkels einfache elementargeometrische Lösungen existieren. Dass durch die weitere Drittelung schließlich mit 30° ein Winkel erreicht wird, dessen Drittel (10°) selbst nicht mehr mit Zirkel und Lineal konstruierbar sind, war ihm vielleicht auch klar, oder doch zumindest, dass bis zu diesem Zeitpunkt keine allgemeine Lösung zur Winkeldrittelung gefunden worden war. Der Zusammenhang dieser elementaren Überlegungen mit der nachfolgenden Berechnung der Kreissehne zum Mittelpunktswinkel ∢ dbc = 110° bleibt aber völlig im Dunkeln. Nikolaus beendet seine Überlegungen nun mit der Feststellung: Quare quadratum ·dc· videlicet quadrata aliorum cum dimidio minus dimidio dimidii. Was Nikolaus sich bei dieser Näherungsregel gedacht hat, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Entscheidend ist vor allem die Frage, welche Größen sich hier hinter dem Begriff aliorum verbergen. Die Bestimmtheit, mit der Hallauer seine eigene Lesart des Verhältnissatzes dargelegt hat, steht in krassem Gegensatz zur Ambivalenz des Vorgebrachten. Er schreibt: […] aliorum bezieht sich auf latera 1 und 2.
dc 2 = das Ganze +
1 1 1 1 1 5 − = 1 + − ⋅ = von 2 = 2,5 .132 2 4 2 2 2 4
Sieht man einmal von der etwas eigentümlichen formalen Darstellung ab, muss man sich schon fragen, woher Hallauer den Bezug auf latera 1 und 2 nimmt, der sich so aus dem Textstück wirklich nur mit viel Fantasie herauslesen lässt. Wie Hallauer selbst anmerkt, beruhen seine eigenen Ausführungen auf einer Deutung von Joseph Hofmann.133 Hallauer hat wohl einige wesentliche interpretative Zwischenschritte ausgelassen, weshalb leider völlig offen bleibt, wie der eigentlich immer besonders sorgfältige Cusanus-Exeget Hofmann zu seiner Auslegung gekommen ist. In jedem Falle gewinnt man aber insgesamt den Eindruck, als hätten Hallauer und Hofmann sich bei ihrer Analyse an dem mit modernen Mitteln zu gewinnenden Referenzwert orientiert und versucht, die cusanische Näherung auf diesen Wert hin auszurichten. Ob der so gewonnene Wert von 2,5, wie Hallauer angibt134 – ein für die Zeit befriedigender Wert gewesen wäre, muss man 131 132 133 134
Das ergibt sich aus dem Nachfolgenden. Hallauer, S. 97. Ebd. Ebd.
2.4. Ein früher Beitrag zur Sehnenrechnung
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bezweifeln, zumindest wenn man die Genauigkeit der ptolemäischen und einiger der bekannteren arabischen Sehnentafeln zum Maßstab nimmt. Prinzipiell ist es angesichts der vagen Vorlage natürlich hilfreich, ausgehend von einem möglichst exakten Vergleichswert zunächst verschiedene mögliche Deutungen des Verhältnissatzes durchzuspielen. Dabei muss aber gerade auf die auffallend umständliche Formulierung geachtet werden: Warum schreibt Nikolaus aliorum c u m d i m i d i o m i n u s d i m i d i o d i m i d i i und nicht einfach, wie es doch naheliegend wäre, aliorum c u m d i m i d i o d i m i d i i ? Man könnte die Syntax des Satzes nämlich auch anders als Hallauer/Hofmann fassen: aliorum steht hier sicher als Verkürzung für aliorum laterum, also die Seiten bd und bc , die gleich dem Radius und damit im Einheitskreis gleich 1 zu setzen sind. Das zweite quadrata, das Hallauer nicht eigens erwähnt, bezieht sich ebenfalls auf diese beiden Strecken. Wichtig ist nun aber die Frage, wie sich der Begriff dimidium hier einfügt. Es spricht nicht dagegen, dass Nikolaus zu b e i d e n quadrier1 ten Seiten (bzw. jeweils die Hälfte der fraglichen Seiten) addiert wissen wollte. 2 Zieht man von der hieraus zu bildenden Summe 2 2 1 1 1 1 bd + bd + bc + = 12 + + 12 + = 3 2 2 2 2
ein dimidium dimidii ab, erhält man 2,75. Die so erreichte Näherung würde gegenüber dem tatsächlichen Wert 2,68 erheblich genauer als der von Hallauer/Hofmann angegebene Wert − und ist zugleich nicht weniger wahrscheinlich. Zugegeben: Nikolaus’ Näherungsregel ist sehr undeutlich formuliert, und nur mit einigem Wohlwollen lässt sie sich überhaupt in eine konkrete Form fassen. Man darf aber nicht übersehen, dass es sich bei dem kurzen Abschnitt im Londoner Codex sicher nur um eine Gedankennotiz handelt, die kaum Rückschlüsse auf Nikolaus’ eigentliche Absicht, geschweige denn seine mathematische Befähigung zulässt. Es bleibt aber zumindest festzustellen, dass der Aufriss keineswegs einen klassischen Versuch zur Winkeldrittelung darstellt, wie Hallauer angibt.135 Es wird ja keineswegs auf geometrisch-konstruktive Verfahren zur Dreiteilung von Winkeln eingegangen. Alles, was Nikolaus zur Drittelung des 30°-Winkels zu sagen hat, ist letztlich, dass die so gewonnen Drittel je 10° betragen müssten – sicher keine revolutionäre Einsicht! Nikolaus wollte auf etwas ganz anderes hinaus: Wir haben es im Cod. Harl. 3631 mit einem Beitrag zur Sehnenrechung und nicht mit einem Beitrag zur Winkelteilung zu tun. Zwar scheint Nikolaus – möglicherweise mit Blick auf Ptolemäus’ iteratives Verfahren zur Sehnenberechnung mittels fortwährender Winkelteilungen136 – auf einen Zusammenhang zwischen dem Problem der Winkeldrittelung und der Berechnung von Sehnen hinauszuwollen. 135 136
Hallauer, S. 97. Zur Frage, wann Nikolaus mit dem ptolemäischen Almagest und den darin enthaltenen trigonometrischen Ansätzen in Berührung gekommen sein könnte, siehe den nachfolgenden Abschnitt.
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2. Die frühen Jahre. Komputistik, Kosmologie, Konjektur
Wie er sich das aber genau vorstellte, kann man auf der Grundlage der Notiz nicht mehr rekonstruieren. Wichtiger als der konkrete Ertrag ist der Kontext, in dem die Berechnungsskizze auftritt.
2.5. DER LAUF DER WELT. BEGEGNUNG MIT PTOLEMAIOS Dass sich die geometrische Notiz in einem aus astronomisch‒astrologischen Schriften kompilierten Codex findet, ist sicher kein Zufall. Für die sphärische Astronomie sind exakte Sehnenberechnungen von zentraler Bedeutung. Nirgends in der der mittelalterlichen Astronomie zu Gebote stehenden Literatur wird dies wohl so deutlich wie im Almagest, und die Schrift lieferte noch zur Zeit des Kusaners, teils durch arabische Mittlerschriften, maßgebliche Verfahren zur Sehnenrechnung. Ein kurzer Passus im Prolog einer Frühfassung der arithmetischen Ergänzungen,137 in dem Nikolaus, für den Archimedes sicher die eigentlich entscheidende Autorität in der Quadraturfrage war, nicht nur den Syrakuser als Bürgen für die prinzipielle Undurchführbarkeit der exakten Angleichung von Geradem und Gekrümmtem anführt, sondern auch die ptolemäische Sehnenrechnung ins Spiel bringt, zeigt, dass Nikolaus zumindest zu diesem Zeitpunkt bereits, wenn auch vielleicht nur mittelbare Kenntnisse der Syntaxis erworben hatte: Nosti autem neminem ante haec tempora istam artem [universali habitudinis date corde arcus ad diametrum] tradidisse, quamvis, ut fertur, Archimenides propinquam habitudinem diametri ad circumferentiam reliquerit, non tamen certam et quantum numero scibilis est, neque Ptholemeus unius aut duorum aut quattuor et sic d e i n c e p s g r a d u u m v e r a m c h o r d a m t r a d i d i t , sed verisimilem.138
Natürlich ist die hier vorgebrachte Kritik an der vermeintlichen Unzulänglichkeit des ptolemäischen Verfahrens aus heutiger Sicht durch nichts zu rechtfertigen und wirft kein besonders günstiges Licht auf Nikolaus’ Einsicht in Gegenstand und Methode der ptolemäischen Trigonometrie: Mit elementaren Mitteln ist eine genaue Berechung der Sehne zum Bogen von 1° nicht möglich. Man muss Nikolaus Einwände aber sicher vor dem Hintergrund der sich in diesen frühen Jahren seines Schaffens erst voll entfaltenden Erkenntnislehre betrachten müssen, in der vor allem der Zahlbegriff eine übergeordnete Rolle spielt ‒ davon wird noch zu handeln sein. Aufschlussreich bleibt immerhin, dass Nikolaus aus der Fülle jener seiner Vorgänger, die in unterschiedlichsten Denkbereichen bereits an die Grenzen der rationalen Mathematik stoßen, gerade den Verfasser des Almagest wählt, um die Bedeutung der Quadraturfrage zu unterstreichen. Ptolemäus’ wirkgewaltige Schrift enthält zwar eine Fülle geometrischer Ansätze und Berechnungen (zum Teil unter Anwendung geschickter Interpolationsverfahren). 137
138
Siehe zu dieser Fassung der Arithmetischen Ergänzungen ausführlich: Kap. 4.2., besonders: S. 212ff. AC, Kapitularbibliothek Toledo 19‒26, fol. 175r.
2.5. Begegnung mit Ptolemaios
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Der kurze Ptolemäus-Verweis bei Nikolaus deutet aber wohl auch auf größere wissenschaftshistorische Zusammenhänge hin: Zum Zeitpunkt von Nikolaus’ arithmetischen Ergänzungen hatte sich die klassische Stellvertreterschaft von Geometrie und Astronomie (mit ihrer respektiven Entsprechung von Musik und Arithmetik) innerhalb der quadrivialen artes liberales längst hin zu einer nahezu hilfswissenschaftlichen Unterordnung der Geometrie unter die Astronomie verschoben. Wie insbesondere die etwas späteren Arbeiten der Hauptvertreter der sogenannten Ersten Wiener mathematischen Schule, Johannes von Gmunden (1384‒1442), Georg Peurbach (1423‒1461) und Johannes Regiomontanus, deutlich zeigen, hingen zugleich Neuerungen in der Geometrie im – vor allem seiner ersten Hälfte – an mathematischen Innovationen insgesamt nicht eben reichen 15. Jahrhundert häufig mit den Bedürfnissen der Astronomen zusammen. Auch Nikolaus, das zeigt der Kontext seiner Ausführungen zum Inkommensurabilitätsproblem in der Kalenderreformschrift ebenso wie der Ptolemäus-Verweis in den arithmetischen Ergänzungen, hat sich geometrischen Fragestellungen wohl zunächst über die Astronomie genähert. Dass Nikolaus’ Versuche zur Sehnenberechnung und Kreisquadratur zumindest Berührungspunkte mit der zeitgenössischen Astronomie hatten, und zugleich Astronomie und Geometrie ganz allgemein bei weitem (und noch für lange Zeit) nicht als getrennte Wissenschaftsbereiche angesehen wurden, zeigt beispielhaft die relativ zeitnahe Kritik des sizilianischen Priesters und Kenners der griechischen Mathematik Francisco Maurolico (1494‒1575), der in einem Schreiben an den Vikar Juan de Vega, datiert auf den 8. August 1556, die temporis calamitas, quando rarissimi sunt literarum cultores beklagt.139 Auf eine kurze Bestandsaufnahme zum Stand der Astronomie (unter ausgiebiger Würdigung der Leistungen des Ptolemäus) folgt hier übergangslos die vernichtende Kritik zu einigen jüngeren Abhandlungen zu Geometrie und Arithmetik, auf die Maurolico nicht näher eingehen will, die er aber trotzdem mit dem Zusatz erwähnt, sie enthielten einige Merkwürdigkeiten (curiositates).140 In diesem Zusammenhang werden auch ausdrücklich Nikolaus’ 139
140
Aufgesetzt in Messina, übertitelt Illustrissimo D(omi)no D. Ioanni Vegae in Scicilia proregi ac caesareo archistratego Franciscvs [Franciscus] Mavrolyc(vs) [Maurolicus] abbas foelicitate(m) perp(etvam) [perpetuam]. Das Schreiben stand im Zusammenhang mit der bevorstehenden Edition zweier Bücher De Sphaera von Maurolico, Paris, Bibliothèque nationale de France (lat. 7473, fol. 1r‒16v). Näheres zu Leben und Werk Maurolicos: Marshall Clagett: The works of Francesco Maurolico, in: Rivista Internazionale di Storia della Scienza 162 (1974), S. 149‒198 sowie Paul Lawrence Rose: The Works of Francesco Maurolico, in: Physics 16 (1974), S. 149‒198. Ich gebe die relevante Textstelle nach dem Autograph aus der Bibliothèque Nationale de France, Paris, unter lat. 7473, fol. 1r‒16v, hier: fol. 6v‒7r, wieder: In astronomicis autem calculis, post Ptolemaei et Albategnii numeros, nihil est alfonsinis tabellis illustrius. Ab hoc enim fonte hauserunt Abraamus Zacutus, qui perpetuum exaravit diarium, et Blanchinus, qui tabulas non contemnendas edidit, nec non Peurbachius qui eclipsium tabulas composuit, et caeteri. Porro in alfonsino abaco apparet tota motuum secundariorum theoria in praxim redacta, sicut in tabu || lis Ioannis Regimontani explanatur primi mobilis calculus. Sed quemadmodum astronomicae tabulae aut corrigi possint aut, si opus sit, in integrum restitui, docet Ioannes memoratus in astronomicis problematibus. Omitto varios recentiorum libellos
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2. Die frühen Jahre. Komputistik, Kosmologie, Konjektur
Versuche zur quadratura circuli genannt, und auch Regiomontans spätere Stellungnahme zu diesen (die wahrscheinlich Nikolaus’ Quadraturschriften überhaupt erst in Maurolicos Bewusstsein brachten).141 Woher nun hätte Nikolaus seine Kenntnisse des Almagest haben können? Prinzipiell stand zwar seit der Mitte des 12. Jahrhunderts die von Gerhard von Cremona (um 1114‒1187) in Toledo aus dem Arabischen übersetzte lateinische Fassung zur Verfügung. Obwohl seither formal der Maßstab mittelalterlicher Astronomen, überforderten gerade die mathematischen Anteile des Textes auch noch viele Fachleute des 15. Jahrhunderts, weshalb nicht selten auf leichter verständliche Derivate der Schrift oder Ersatztexte zurückgegriffen wurde. Neben Sacroboscos Traktat De sphaera, der häufig Gegenstand der universitären Lehre war, bot sich dabei die Isagoge (Εισαγωγή εις τα φαινόµενα)142 des Geminos (um 10 v. Chr.‒um 60 n. Chr)143 an, hauptsächlich eine Exegese der Meteorologika des Poseidonios (135‒50 v. Chr.), die mitunter von mittelalterlichen Autoren mit der ptolemäischen Hauptschrift gleichgesetzt wurde − so auch in Teilen von Nikolaus’ Correctio calendarii. Die Kalenderreformschrift enthält zwar auch einige Anklänge an den ‚echten’ Ptolemäus, allerdings korrelieren diese häufig mit jenen weniger spezifischen Passagen, die sich auch in nur leicht modifizierter Form in einer Reihe astronomischer Nachfolgeschriften griechischer, arabischer und lateinischer Provenienz finden. Immerhin aber, und das ist bei Nikolaus viel mehr die Ausnahme als die Regel, finden sich auch einige explizite Stellenangaben zum
141 142
143
circa arithmeticas geometricasque quaestiones, et earumdem scientiarum praxim. In quibus plerumque plus invenitur obscurae curiositatis, quam iucundae utilitatis. In horum ego numerum non referrem Hieronymum Cardanum, virum certe nulla non in speculatione perspicacem, nisi involucra quaedam quaestionum plus laboris quam voluptatis plena, nimium affectasset. Omitto fratris Lucae grande volumen, qui multo brevius ac melius plura tradere potuisset, nec immerito ab ipso Cardano erroris arguitur. Quanto foelicius egissent recentiores, si priusquam propria immature effunderent, veterum authorum monumenta perpendissent. N e q u e enim Nicolaus Cusa, si oportuna prius fundamenta iecisset, dum falso sibi persuadet circulum quadrare, tot fallacias inculcasset a Regimontano postea c o n f u t a t a s . Neque hac tempestate Orontius Phineus tot ineptias super eadem re temere profudisset: qui postquam nescio quas falsas inducit demonstrationes, ex tabula sinus recti, dum discutit periferiae ad diametrum rationem, pueriliter errat in calculo, et errorem imputat Archimedi. O ridiculum caput, non reprehensione aut contumelia, sed servili scutica dignum. O vere Phineum et Phineo caeciorem. Succurrite viri literati et veritatis amatores, consulat Academia lutetiana tantis ignorantiae tenebris. His ego exemplis monitus prius vetera evolvi quam propria ederem: quo enim pacto, neglectis huius professionis summatibus, exactum quidpiam exhibere potuissem? Aut unde, omissis fontibus, rivulos meos derivarem? Siehe hierzu: Kap. 4.7. (beginnt S. 269). Im Folgenden wurde die folgende gr.-dt. Ausgabe zugrundegelegt: Εỉσαγωγη εỉς τα φαινόµενα (Gemini elementa astronomiae ad codicum fidem interpretatione et commentariis instruxit), gr.-dt., Karl Manitius (Hg.), Leipzig 1898 [im Folgenden zit. als: Geminos, ed. Manitius]. Zu Leben und Werk des Geminos: Stillman Drake: Hipparchus – Geminus – Galileo, in: Stud. Hist. Philos. Sci. 201 (1989), S. 47‒56 und Alan C. Bowen/Bernard R. Goldstein: Geminus and the concept of mean motion in Greco-Latin astronomy, in: Arch. Hist. Exact Sci. 50 (1996), S. 157‒185.
2.5. Begegnung mit Ptolemaios
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Almagest, so beispielsweise in der Frage nach der mittleren Konjunktion bei der Abweichung von Lunation und Sonnenjahr, wo Nikolaus ausdrücklich das vierte Buch des Almagest nennt.144 Allerdings sind die in diesem Zusammenhang angegebenen Werte erheblich exakter als die aus den einschlägigen Almagest‒Bearbeitungen bekannten. Möglicherweise ist also auch diese Angabe nur einer Mittelquelle entnommen worden. Zumeist führt Nikolaus Ptolemäus fälschlich dort an, wo er sich auf die Geminos-Schrift bezieht.145 Das wiederum ist nicht etwa einer Nachlässigkeit seinerseits zuzuschreiben, kursierte doch eine beachtlichen Zahl von lateinischen Redaktionen der Isagoge unter dem Titel Introductio Ptolomaei in Almagestum.146 Eine griechische Geminos-Ausgabe hat Nikolaus sicher nicht gekannt. Nikolaus könnte aber, dass zeigt der Verweis auf Ptolemäus’ wegweisende Ansätze zur Sehnenrechnung in der Vorform De arithmeticis complementis, noch vor 1445 auch mit dem originalen Almagest in Berührung gekommen sein. In der universitären Lehre spielten diese fortgeschrittenen mathematischen Anteile der Schrift kaum eine Rolle, so dass sich die Frage stellt, wie Nikolaus auf sie aufmerksam geworden sein könnte und, was vielleicht noch wichtiger ist, ob und, wenn ja, wie er die anspruchsvollen geometrischen Ausführungen verstanden hat. Dass Nikolaus sich den Almagest im Selbststudium erschlossen hat, ist weniger wahrscheinlich, als dass er unter fachkompetenter Anleitung in das schwierige Werk eingeführt wurde. Ein möglicher Kandidat drängt sich dabei regelrecht auf: Johannes Bessarion (auch fälschlich: Basilius Bessarion, 1395‒1472), der Erzbischof von Nicäa, einflussreiche Kirchendiplomat und spätere Kurienkardinal, des144
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De corr. kalend., cap. 3, S. 28, Z. 12. Nikolaus verweist hier auf den skeptischen Einwand des Ptolemäus bezüglich der Exaktheit der (von Ptolemäus selbst ausgeführten) Beobachtung für eine mittlere Konjunktion von 29 d, 31’, 50’’, 8’’’ und 20iv. Die genauen Stellen in der Syntaxis‒Schrift nach den Ausgaben von Heiberg und Manitius sind: Johan L. Heiberg (Hg.): Syntaxis mathematica, pars 1 (= lib. 1‒6), Leipzig 1898 (= Claudii Ptolemaeii opera quae exstant omnia 1), lib. 4, cap. 2, S. 271, Z. 9 sowie: Karl Manitius (Hg./Übers.): Des Claudius Ptolemäus Handbuch der Astronomie, dt., Bd. 1, Leipzig 1912, S. 197, Z. 1f. Sicher ist dies der Fall in: De corr. kalend., cap. 3, S. 22, Z. 17ff., hier und an der nachfolgenden Stelle mit Bezug auf Geminps (ed. Manitius, vor allem S. 120ff.): Et primo cum octoade, u t P t o l e m a e o i n I n t r o d u c t o r i o p l a c e t , temptarunt putantes ex epacta undecim dierum et quarta diei, quibus dixerant solarem annum lunarem excedere, in octavo concordiam haberi. Ferner ebd., S. 24, Z. 10‒18 (Auszug): [...] 19 anni habeant 6940 dies 235 menses cum septem epactarum mensibus secundum Ptolemaeum in Introductorio. Beide Kommentare stehen im Kontext der Beschreibung des 8- bzw. 19-jährigen Sonnenzyklus bei Ptolemäus und Eusebius. Hierzu u.a.: Friedrich Karl Ginzel: Handbuch der mathematischen und technischen Chronologie, Bd. 2 (von 3 Bänden.), Leipzig 1911, S. 387f. Auf die entsprechenden Stellen bei Nikolaus wird auch in der deutschen Ausgabe der Kalenderreformschrift durch Viktor Stegemann unter Identifizierung der eigentlichen Quelle hingewiesen: De corr. kalend., S. 106, Anm. 7. Karl Manitius: Einleitung zu: Geminos, Elem. Astron., S. XVIII–XXIII, einschließlich einer Auflistung der entsprechenden HSS-Nachweise. Eine Abschrift findet sich auch in Kues unter dem Titel Ptolemei Liber introductorius in almagesti, Cod. Cus. 208, fol. 42v‒53v. Im Cod. Cus. 209 ist auf fol. 1r‒fol. 26r eine Abschrift der pseudo-ptolemäischen, astrologischen Abhandlung Iudicia (10‒12 Jhdt.) erhalten.
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2. Die frühen Jahre. Komputistik, Kosmologie, Konjektur
sen Engagement beim Sammeln und Übersetzen griechischer Handschriften eine maßgebliche Stütze für die Wiedergeburt der klassischen litterae im italienischen Renaissance-Humanismus werden sollte – eindrucksvolles Zeugnis davon ist die Bibliothek von St. Markus in Venedig, deren Kern Bessarion zusammengetragen hat. Als die päpstliche Partei unter Eugen IV. auf dem in Basel tagenden Generalkonzil beschloss, die angesichts der steigenden Bedrohung durch die Türken dringlichen Verhandlungen mit dem Patriarchat von Konstantinopel über die Wiedervereinigung der Ost- und Westkirche nach Ferrara zu verlegen, wurde Nikolaus von Kues zum Mitglied der römischen Delegation berufen, die unter der Führung Kardinal Giuliano Cesarinis (später ein enger Freund des Kusaners)147 Johannes VIII. Palaeologus (1392‒1448) von Konstantinopel zum Konzil in Italien geleiten sollte. Der byzantinischen Gegengesandtschaft gehörte neben dem weit über Byzanz hinaus bekannten Neoplatonisten Georgios Gemistos Plethon (um 1355‒1452) auch Bessarion an, der im Laufe der langwierigen Unionsverhandlungen schließlich zu Nikolaus’ Vertrautem werden sollte. Später sollte Nikolaus vermerken, dass ihm das Konzept der coincidentia oppositorum, das den Kern der Schrift Über die belehrte Unwissenheit bildet, in einer Epiphanie auf der Rückfahrt von Konstantinopel nach Italien eingegeben worden sei148 – ein guter Hinweis darauf, als wie prägend er den intellektuellen Austausch mit den östlichen Gelehrten, die, natürlich besonders im Vergleich zum Jungdiplomaten aus der deutschen Provinz, über so profunde Kenntnisse der antiken griechischen Literatur verfügten, empfunden haben muss. Dass dabei nicht zuletzt Nikolaus’ (wenn auch kurze) Auseinandersetzung mit der hoch entwickelten byzantinischen Mathematik und Naturphilosophie eine Rolle gespielt haben könnte, hat bereits Nikolaus Stuloff vermutet.149 Die Verbindung zwischen Nikolaus und Ptolemäus lässt sich über Bessarion leicht herstellen: In der hitzigen Auseinandersetzung mit dem kretischen Philosophen, Philologen und flammenden Aristoteliker Georgios von Trapezunt (auch:
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Ihm sollte Nikolaus später sein Schlüsselwerk Über die belehrte Unwissenheit widmen: Doct. ign., S. 1, Z. 2‒4: Deo amibili reverendissimo patri domino I u l i a n o s a n c t a e A p o s t o l i c a e S e d i s d i g n i s s i m o c a r d i n a l i , praeceptori suo metuendo. Siehe S. 24, Anm. 12. Die These, Cusanus könnte in Konstantinopel Einsicht in einige der Haupttexte der byzantinischen Mathematik und Zahlenlehre genommen haben, geht mit Nikolaus Stuloff auf einen der Protagonisten in der Erforschung des byzantinischen mathematischen Schriftguts zurück: Nikolaus Stuloff: Mathematische Tradition in Byzanz und ihr Fortleben bei Nikolaus von Kues, in: MFCG 4 (=Die wissenschaftlichen Referate zum Cusanus-Jubiläum in BernkastelKues vom 8. bis 12. August 1964), Rudolf Haubst (Hg.), Mainz 1964, S. 421‒436. Einen guten Überblick zum allgemeinen Stand der Mathematik in Byzanz in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts liefert: Stefan Deschauer: Mathematik vor der Zeitenwende – einige Glanzlichter in einer byzantinischen Handschrift von 1436, in: Mathematik im Fluss der Zeit. Tagung zur Geschichte der Mathematik in Attendorn/Neu-Listernohl (28.05 bis 1.6.2003 (= Algorismus. Studien zur Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften 44)), Wolfgang Hein u. Peter Ullrich (Hg.), Augsburg 2004, S. 57‒70.
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Trebizond, 1395‒1486)150 über Auslegung und Bedeutung der platonischen Schriften151 bot sich dem Platoniker Bessarion, der sich nicht zuletzt durch seine Übersetzungen der aristotelischen Metaphysik152 und Xenophons (um 426‒355 v. Chr.) Memorabilia einen Namen gemacht hatte, mit Georgios’ flüchtiger und entsprechend mangelbehafteter Übersetzung der Syntaxis von 1450153 eine willkommene Möglichkeit, den Gegner durch Offenlegung seiner handwerklichen Schwächen als Übersetzer und Kommentator zu diskreditieren. Das sollte dann um 1460 auch dazu führen, dass Bessarion Georg Peurbach, der seinerseits eng mit Nikolaus von Kues befreundet war, mit einer neuen Ptolemäus-Übersetzung beauftragte. Nach Peurbachs frühem Tod 1461 überzeugte Bessarion dann dessen Schüler Regiomontanus,154 die noch unfertige Bearbeitung Peurbachs zu vollenden.155 Früchte trug Regiomontans Arbeit dann 1462 mit dem Abschluss der Epitome in Ptolemaei almagestum, die schließlich 1496 in Venedig gedruckt wurde.156 Ob Nikolaus, der mit allen Beteiligten enge Kontakte pflegte, in irgendeiner Form direkt in diese editorischen Vorgänge eingebunden war, bleibt offen. Er dürfte aber zu Beginn der 1460er Jahre zumindest mit Bessarion in Verbindung gestanden haben: Um 1459 legte Georgios seine auf Nikolaus’ Bitten hin entstan-
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Ein hervorragendes Hilfsmittel zur Erschließung von Trapezunts Werk ist: John Monfasani: Collectanea Trapezuntiana. Texts, documents, and bibliographies of George of Trebizond (= Medieval and Renaissance texts and studies 25), Bingham (New York) 1984 (zugl.: Renaissance texts series 8). Von dieser teils erbittert geführten Kontroverse zeugt Bessarions direkt gegen Georgios gerichtete Abhandlung In calumniatorem Platonis libri IV, ediert in: Kardinal Bessarion als Theologe, Humanist und Staatsmann. Funde und Forschungen 2 (= Bessarionis In calumniatorem Platonis libri IV textum Graecum addita vetere versione Latina primum edidit Ludwig Mohler) (= Quellen und Forschungen aus dem Gebiete der Geschichte 22), Ludwig Mohler (Hg.), Paderborn 1927 (Nachdruck: Aalen 1967). Hierzu auch: James Hankins: Plato in the Italian Renaissance (= Columbia Studies in the Classical Tradition Series 17), 1994, insbesondere: S. 165‒265. Auch Nikolaus besaß eine Kopie dieser Übersetzung: Cod. Cus. 184 (endet fol. 100v, viele Randbemerkungen von Nikolaus’ Hand). Diese Almagest-Übersetzung ist erhalten in: Nürnberg, Stadtbibliothek, Cent. V. 62 (Autograph Regiomontans, Blatt 21 enthält eine Tafel von seiner Hand). Sicher die immer noch wegweisende Biographie zu Regiomontanus: Ernst Zinner: Leben und Wirken des Johannes Müller von Königsberg genannt Regiomontanus, Osnabrück 21968. Zeugen von Peurbachs und Regiomontans intensiver Auseinandersetzung mit der Syntaxis/Almagest sind die von beiden eigenhändig und wohl voneinander weitgehend unabhängig verfertigten lateinischen Abschriften, die, wie Paul Kunitzsch dargelegt hat, im Wesentlichen auf die Version des Gerhard von Cremona zurückgehen: Der Almagest. Die Syntaxis Mathematica des Claudius Ptolemäus in arabisch-lateinischer Überlieferung, Wiesbaden 1974, S. 89f. Die Handschriften befinden sich heute in: Österreichische Nationalbibliothek Wien, cvp. 4799 (Version nach Peurbach mit Anteilen der G. v. Cremona-Übersetzung in der Revision nach Paris, B.N. lat. 14738 und der fmw-Klasse (Mischform nach den Versionen: Florenz, Laur., 98/45, Madrid, Bibl. Nac. 10113, Wolfenbüttel, Gud. lat 147) und Stadtbibliothek Nürnberg, Stadtbibliothek, Cent II 25 (Version nach Regiomontanus). Epytoma Ioa[n]nis de mo[n]te regio in almagestu[m] ptolomei, Johannes Hamann (Hg.), Venedig 1496.
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dene Übersetzung des platonischen Parmenides vor.157 Zum ersten Mal seit der Antike war das Werk damit im Westen wieder allgemein zugänglich. Die handschriftliche Erstfassung der Schrift, die sich im Codex 6201 der Biblioteca Guarnacci in Volterra findet, weist neben Glossierungen von Nikolaus158 auch Einträge von der Hand Bessarions auf. Auf Nikolaus, der sich zuvor nur mittelbar (aber überaus intensiv) durch den Proklos-Kommentar mit der Schrift hatte auseinandersetzen können,159 muss die Trapezunt-Übersetzung, in der er erstmalig Platons Konzeption von ‚Einheit‘ und ‚Vielheit‘ aus dem Parmenides in Reinform kennen lernen konnte, großen Eindruck gemacht habem, und sie hat möglicherweise auch die Differenzierung von platonischer und proklischer Lehre in den Spätschriften De non aliud und De venatione sapientiae überhaupt erst ermöglicht.160 Es ist nun vor dem Hintergrund von Bessarions Einsatz in der Sache nicht unwahrscheinlich, dass sein Interesse an der ptolemäischen Astronomie bis in die Zeit seiner diplomatischen Tätigkeit am Konzil von Ferrara‒Florenz zurückreicht. In diesem Falle wäre es nur natürlich, dass er sein Wissen dem neuen, universal interessierten Freund aus Deutschland mitgeteilt hätte. Nikolaus hatte augenscheinlich nur ein oberflächliches Verständnis der ptolemäischen Sehnenrechnung, was verständlich wird, wenn man annimmt, dass er noch zur Zeit der arithmetischen Ergänzungen über lediglich mittelbare oder zumindest doch nur fragmentarische Kenntnisse des Almagest verfügte. Als Vermittler dieser Kenntnisse käme vor allen anderen Bessarion in Frage.
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Kritisch ediert in: Ilario Ruocco: Il Platone latino. Il ‚Parmenide‘: Giorgio di Trebisonda e il cardinale Cusano (= Studi. Accademia toscana di scienze e lettere La Colombaria 203), Florenz 2003. Ruocco liefert neben der Edition auch einen hervorragenden Überblick zur aristotelisch-platonischen Kontroverse und zur Bedeutung des Platonismus im 15. Jahrhundert. Hierzu: Karl Bormann: Die Randnoten des Nikolaus von Kues zur lateinischen Übersetzung des platonischen „Parmenides" in der Handschrift Volterra, Biblioteca Guarnacci, 6201, in: Studien zum 15. Jahrhundert. Festschrift für Erich Meuthen, Johannes Helmrath/Heribert Müller (hg. in Zusammenarbeit mit Helmut Wolff), in 2 Bdn. (mit durchgängiger Seitenzählung), hier: Bd. 1, München 1994, S. 331‒341. Darauf weisen die zahlreichen Randbemerkungen in einer Abschrift des Kommentars in der Kueser Bibliothek hin: Cod. Cus. 186, fol. 10r‒150r. In diese Richtung hat Matthieu van der Meer von der Rijksuniversiteit Groningen in seinem Vortrag Nicholas of Cusa ad fontes. The Impact of Trebizond’s Translation of Plato’s Parmenides on Nicholas of Cusa’s Later Philosophy bei der Jahrestagung der Renaissance Society of America im April 2005 argumentiert. Eine Druckfassung dieses Vortrags ist mir nicht bekannt, das zugehörige Abstract ist aber als .pdf‒Datei im Internet unter http://www.rsa.org/pdfs/Fri9‒1030.pdf (Stand: 13. September 2005, S. 8) einsehbar. Die Differenzierung der Ansätze von Platon und Proklos (sowie Dionysios Areopagita) wird besonders deutlich im 21. Kapitel De venatione sapientiae: De venatione sapientiae/De apice theoriae, h 12, Raimund Klibansky u. Johann Gerhard Senger, Hamburg 1982, S. 1‒114, hier: n 31‒ 34, S. 31‒34 [im Folgenden zitiert als: Ven. Sap., h 12] [Der zweite Teil des Bandes (S. 115‒136) enthält die Schrift De apice theoriae].
2.6. Eine kosmologische Skizze im Cod. Cus. 211
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2.6. DIE MITTE DER WELT. EINE KOSMOLOGISCHE SKIZZE IM COD. CUS. 211 Nikolaus hatte bis in die 1440er Jahre hinein genug Vertrauen in seine Kentnisse der Astronomie gewonnen, um sich an einem eigenen Beitrag zu versuchen. In einer astronomisch-astrologischen Sammelhandschrift, die er 1444 in Nürnberg zusammen mit einigen astronomischen Instrumenten erworben hatte,161 findet sich auf der letzten Seite ein kurzer kosmologischer Text von seiner Hand.162 Der Text ist zwar deutlich jünger als die Schrift De docta ignorantia, knüpft aber vor allem an die noch ältere Abhandlung zur Kalenderreform an, wenn Nikolaus gleich zu 161
162
Cod. Cus. 211 enthält auf fol. 1r die Angabe: 1 4 4 4 Ego Nicolaus de Cusza prepositus monasterii Treverensis dyocesis orator pape Eugenii in dieta n u r e m b e r g e n s i , qu[a]e erat ibidem de m e n s e S e p t e m b r i s ob ereccionem antipap[a]e felicis ducis Sabaudi[a]e factam Basile[a]e per paucos sub titulo concilii, in qua dieta erat fridericus romanorum rex cum Electoribus, emi s p [ h a ] e r a m solidam magnam, a s t r o l a b i u m e t t u r k e t u m , librum [des Ğābir ibn Aflah (11/12. Jhdt.) (Anm. d. Autors)] super almagesti cum aliis libris 15, pro 38 florenis renensibus. Ausführlich zu den astronomischen Instrumenten im Besitz des Cusanus: Johannes Franz Hartmann: Die astronomischen Instrumente des Kardinals Nikolaus Cusanus (= Abhandlungen der königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen ‒ Mathematisch Historische Klasse 10, Nr. 6), Berlin 1919. Umfangreiche Einzelbeschreibung der Instrumente findet sich dort auf S. 17‒56, mit daran anschließenden Detailabbildungen auf den Tafeln I‒XII. Emil-Heinz Schmitz hat die Vermutung geäußert, Nikolaus habe diese Instrumente aus dem Nachlaß des Nürnberger Astronomen Nikolaus von Heybech erworben; Emil-Heinz Schmitz: Handbuch zur Geschichte der Optik 1: Von der Antike bis Newton, Bonn 1981, S. 119. Eine Verbindung zwischen Nikolaus und de Heybech lässt sich auch über die Handschrift Cod. Cus. 211, fol. 16r‒26r herstellen. Bei dem Text handelt es sich um einen (in Kues unbetitelten) Text Heybechs zu den Konjunktionen und Oppositionen von Mond und Sonne. Auf diesen Text verweist auch der Sternkatalog in: Paul Kunitzsch: Der Almagest. Die Syntaxis Mathematica des Claudius Ptolemäus in arabisch-lateinischer Überlieferung, Wiesbaden 1974, S. 334. Bereits Alexander von Humboldt war auf das Dokument aufmerksam geworden, nachdem die Kueser Handschrift 1843 durch Franz Josef Clemens als Beilage zu dessen Abhandlung Giordano Bruno und Nicolaus von Cusa (Bonn 1847, S. 97ff.) ediert worden war: Alexander von Humboldt: Kosmos. Entwurf einer physikalischen Weltbeschreibung, Stuttgart 21889 (= Gesammelte Werke 2), S. 96 und 317. Eine Neuausgabe der Weltbeschreibung unter Berücksichtigung der späteren Korrekturen und Zusätze seitens des Autors liefert: Alexander von Humboldt: Kosmos. Entwurf einer physikalischen Weltbeschreibung, Ottmar Ette u. Oliver Lubrich (Hgg.), Frankfurt a. Main 2004. Der Wiederentdeckung ist bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts eine vergleichsweise bescheidene, aber doch immerhin kontinuierliche wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem kurzen Traktat gefolgt, die auch mehrere neue Drucklegungen begleiteten. Diese Veröffentlichungen fallen größtenteils in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, aber auch im 20. Jahrhundert wurde die Schrift mehrfach neu aufgelegt, so etwa von Pierre Duhem (Système, S. 313‒315) und Raimund Klibansky (in: Ernst Hofmann: Das Universum des Nikolaus von Kues, Heidelberg 1930 (= CT 1), S. 44f. (versehen mit einer umfangreichen Einleitung von Klibansky, S. 41‒43) [im Folgenden zitiert als ed. Klibansky]. Klibansky hat zugleich eine Übersicht über die Editionsgeschichte des Textes erstellt (Ebd., S. 41f. Anm. 4.).
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2. Die frühen Jahre. Komputistik, Kosmologie, Konjektur
Beginn für die Bewegung der Planeten und Fixsternsphäre feststellt, dass diese unter keinen Umständen exakt kreisförmig sein kann, da es eine genau kreisförmige Bewegung [generell] nicht geben kann.163 Dieser – sicher vorrangig philosophisch motivierte Gedanke – lässt Nikolaus annehmen, dass die Vorstellung eines fixen Himmelspols zurückgewiesen werden muss. Mit diesem Ansatz bringt sich Nikolaus klar in Gegensatz zu den meisten seiner Zeitgenossen, für die die Himmelsachse unveränderlich genau auf der Position von Ursa minor die Sternsphäre durchstoßen sollte. Nikolaus konstatierte demgegenüber – in direkter Nachfolge von Ṯābits Trepidationstheorie – eine kontinuierliche Rotation der Himmelsachse. Zugleich muss für Nikolaus auch die Erde selbst in Bewegung sein, allerdings nicht – und das ist bei der Beurteilung der cusanischen Kosmologie als möglichem Inspirationskeim der copernicanischen Astronomie wichtig – in progressiver Bewegung. Zwei gekoppelte Rotationsvektoren führt Nikolaus ein, um so die veränderlichen Bahnen von Planeten und Sternen zu erklären. Erde und achte Sphäre drehen sich zugleich, aber mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten um eine gemeinsame Äquatorial- und eine gemeinsame Polarachse. Die Sphäre der Sterne dreht sich in zwölf Stunden einmal von Ost nach West, die Erde vollführt die gleiche Bewegung in 24 Stunden – der Effekt für einen erdgebundenen Beobachter ist damit der gleiche, der für eine unbewegte Erde zu erwarten wäre, wenn die Sternensphäre sich mit doppelter Geschwindigkeit über sie hinwegdrehen würde. Nikolaus fasst diesen Grundgedanken auch in eine einfache Skizze ein:
Abbildung und Erläuterung nach Cod. Cus. 211, fol. 55v: Ymaginor enim me esse in medio mundi sub equinocciali. Sit terra ·abcd·; et trahe ·ac·, ·bd· arcus terr[a]e et pone ·e· in puncto seccionis. Dico terram super polis ·ac· fixis in terra moveri, et similiter super polis ·e· et opposito ei, simul et semel. Nam super ·ac· movetur de oriente in occidens, et super ·e· et ei opposito movetur in orisonte de occidente in oriens; ita quod quando ·a· pervenit ad ·b·, tunc ·e· pervenit in ·d·, et ita consequenter. Octava spera eodem modo movetur, sed i n d u p l o v e l o c i u s super polis suis ·ac· quam ·e· et opposito.
163
Cod. Cus. 211, fol. 55v = ed. Klibansky, S. 44, Z. 1ff.: Consideravi, quomodo non est possibile, quod aliquis motus sit precise circularis. Unde nulla stella describit circulum precisum ab ortu ad ortum.
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2.6. Eine kosmologische Skizze im Cod. Cus. 211
Die achte Sphäre dreht sich bei Nikolaus genau soviel langsamer um die Äquatorialachse, dass im Verlauf von hundert Jahren jeder Punkt in ihr um soviel zurückbleibt, wie die Sonne in einem Jahr. Die Sonne – hier nun kommen Nikolaus’ Kenntnisse der ptolemäischen Ekliptik aus dem Almagest oder einer ihrer Nachfolgeschriften ins Spiel – ist von den Äquatorialpolen 23° entfernt, und läuft durch die leicht verzögerte Rotation der sie tragenden Sphäre der Drehung der achten Sphäre etwas hinterher, und zwar um genau
1 364
(≈ 1°) ihrer Bahn im Ver-
lauf von 24 Stunden. Aus dieser Verzögerung heraus soll dann der Tierkreis (Zodiacus) hervorgehen. Dass Nikolaus dabei den Unterschied zwischen siderischer und solarer Zeit übersieht, hat schon Dreyer angemerkt.164 Der hieraus resultierende Fehler – zutreffender wäre eine solare Retardation von
1 365
(= 1°) gewesen –
ist aber nicht allzu schwerwiegend. Nikolaus verfügte zum Zeitpunkt der Abfassung seines kosmologischen Entwurfs mit Torquetum und Astrolab über technisch anspruchsvolle astronomische Instrumente, die es ihm im Prinzip ermöglicht hätten, die eigenen Ideen auch empirisch zu überprüfen. Auch ein hölzerner Präzessionsglobus, an welchem man die Deklinationen und wahrscheinlich auch die Rektaszensionen der Gestirne für beliebige Äquinoktien ablesen konnte,165 ist in Kues erhalten geblieben. Es gibt aber keine schriftlichen Zeugnisse davon, dass Nikolaus diese Instrumente auch tatsächlich eingesetzt hat.166 Ob er überhaupt ausreichende Kenntnisse in der Astronomie mit bewaffnetem Auge hatte, ist ohnehin zweifelhaft. Man darf auch sicher fragen, als wie wichtig Nikolaus den kurzen kosmologischen Text selbst tatsächlich eingeschätzt hat. Das Ganze ist ein Entwurf, eine Skizze ohne mathematische oder empirische Fundierung, wohlmöglich von Nikolaus selbst nicht als vollständig, geschweige denn der Veröffentlichung für würdig erachtet. Es ist nicht einmal sicher, ob Nikolaus seinen kosmologischen Versuch nicht eher im Sinne der Gedankenexperimente Jean Buridans167 und Nicole Oresmes168 zur Erdbewegung 164 165 166
167
168
Dreyer, S. 286. Hartmann, S. 31. Hartmann hat immerhin die Frage aufgeworfen, ob Nikolaus sein Astrolab auf der Grundlage seiner Abschrift der Alfonsinischen Tafeln möglicherweise selbst angefertigt hat: Hartmann, S. 42ff. Cod. Cus. 211, fol. 1r weist aber eindeutig den K a u f eines Astrolabs aus, und es ist kaum wahrscheinlich, dass Nikolaus noch über ein zweites, heute verlorenes Astrolab verfügte. Quaestiones super libris quattuor De caelo et mundo, Ernest A. Moody (Hg.), Cambridge (Mass.) 1942, quaestio 22, S. 227. Hierin wird dargelegt, dass die Vorstellung der Erde in Ruhe nur persuasiv zu untermauern ist, keineswegs aber dadurch eine tatsächliche Erdbewegung nahegelegt. So in: Livre du ciel et du monde (= Publications in Medieval Science), frz.-engl, Albert D. Menut u. Alexander J. Denomy (Hgg.), Madison (Milwaukee) u. London 1968, hier: lib. 2, cap. 25, S. 519‒538 (= fol. 137d ‒ 144c nach der zugrundeliegenden Handschrift des 14. Jhdts., Bibl. Nat., franç. 1082, fol. 1a‒209c). Eine tatsächliche Bewegung der Erde hat Oresme dann später aber in seinen Questiones de spera ausgeschlossen (Handschrift Florenz,
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2. Die frühen Jahre. Komputistik, Kosmologie, Konjektur
unternommen hat, also weniger aus einem echten Reformantrieb heraus als vielmehr zur Exemplifizierung der Möglichkeiten des Geistes, bzw. zur Verunsicherung eines allzu sicheren Buchwissens vor dem Hintergrund des Erkenntnisskeptizimus der docta ignorantia. Interessant sind aber ohnehin weniger die kosmologischen Details, als die Konsequenz, mit der Nikolaus in wenigen Worten die gesamte Welt in Bewegung gesetzt hat. Der eigentliche Grund für diesen radikalen Standpunkt, der die Existenz jeglichen absoluten Punktes im Raum zurückweist, liegt, das wird der Blick auf die Schrift Über die belehrte Unwissenheit zeigen, im theologisch motivierten Vorbehalt des Absoluten an sich als eines göttlichen ‚Attributs’. Die Welt ist (insofern sie der göttlichen Allmacht nachgeordnet ist) von unendlicher und daher mit menschlichem Verstand nie vollständig erfassbarer Komplexität – was dann auch die Existenz eines hervorgehobenen oder gewissermaßen ‚äußeren‘ menschlichen Blickpunkts ausschließt. Diese Stellung ist allein Gott vorbehalten. Das alles wird besonders deutlich, wenn man die mit Correlaria de motu betitelte Passage aus De docta ignorantia betrachtet, wo Nikolaus ausdrücklich sagt, dass das Universum von unendlichem Umfang sein muss und daher keinen Mittelpunkt haben kann, so dass der Glaube der Menschen, dass sich seine vergöttlichte Natur und die damit einhergehende ontische Ausnahmestellung auch in einer kosmologisch-räumlichen Ausnahmestellung wiederspiegeln müsse, reine Illusion ist.169 In dem kurzen kosmologischen Text, der der Schrift Über die belehrte Unwissenheit nachfolgte, wird sehr deutlich, dass Nikolaus’ Idee vom kosmischen Relationsgefüge, das keine absoluten Raumpunkte kennen kann, etwas völlig anderes ist als das Konzept der Heliozentrik bei Copernicus und seinen Nachfolgern. Der Text im Cod. Cus. 211 geht unübersehbar von einer relativen Zentralstellung der Erde gegenüber den übrigen sichtbaren Himmelskörpern aus. Was mit der Bemerkung der Mittelpunktlosigkeit des Alls gemeint ist, und welche Konsequenzen diese hat, wird vielleicht klarer, wenn man die Begrifflichkeiten genauer untersucht: Nikolaus bezieht sich bei seiner vermeintlichen Zurückweisung der Geozentrik in De docta ignorantia auf das All in seiner Gesamtheit und dabei vor dem Hintergrund seiner Unendlichkeitsmetaphysik einmal mehr auf die Inkommensurabilität des begrenzten menschlichen Geistes mit der unendlichen Vielfalt der Schöpfung. Demgegenüber sind Copernicus’ Überlegungen zur Heliozentrik vor allem auf das gerichtet, was wir heute als das Sonnensystem bezeichnen, also in jedem Falle auf etwas Endliches. Gerade auf den beobachtbaren Teil des Kosmos hat Nikolaus aber seine Vorstellung von der Exzentrik der Erde nicht aufrechterhalten. Noch 1463, ein Jahr vor seinem Tod, schreibt er in seinem Traktat De venatione sapientiae:
169
Bibl. Riccard. 117, fol. 130r). Die entscheidende Passage wird wiedergegeben in: Marshall C. Clagett: The science of mechanics in the Middle Ages, Madison 21961, S. 608f., Anm. 23. Siehe auch Kap. 3.1.5 (beginnt: S. 104).
2.6. Eine kosmologische Skizze im Cod. Cus. 211
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Posuit [Sapientia divina (Einfügung des Autors aus dem Zusammenhang]170 terram i n m e d i o , quam gravem esse et a d c e n t r u m m u n d i m o v e r i determinavit, ut sic semper in medio subsisteret et neque sursum neque lateraliter declinaret.171
Also: ‚in medio‘, im Zentrum steht die Erde und sie bewegt sich, allerdings nicht progressiv, nicht auf einer eigenen Bahn, sondern fest verortet a d c e n t r u m , womit Nikolaus aller Wahrscheinlichkeit auch hier auf eine Rotationsbewegung des Erdkörpers hinauswollte – die Anklänge an seinen (sicher früheren) Entwurf zur Kosmologie im Cod. Cus. 211 sind unübersehbar.172 In De venatione sapientiae haben wir in Form der begrifflichen Ausdifferenzierung von universum und mundus eine implizite Unterscheidung des Universums als des unendlichen Raumes, der alles Geschaffene einschließt, von der Sphäre der Planeten und (sichtbaren) Sterne als eines endlichen Teilbereichs ebendieses entgrenzten Raumes. Was für das abstrakte Konzept des unendlichen Raumes gilt – die Mittelpunktlosigkeit – ist nun nicht übertragbar auf die endliche Perspektive eines Teilbereichs des Kosmos. Der Kosmologe Cusanus und der Astronom Copernicus unterscheiden sich also nicht nur deutlich im Grad der mathematischen und empirischen Strenge, mit der sie ihre Modelle vorbringen, sie haben tatsächlich sogar widersprechende Ansichten von der grundlegenden Struktur des Planetensystems. Entsprechend gibt es keinerlei zwingenden Grund anzunehmen, dass Copernicus sich, obwohl er einige der cusanischen Schriften sicher kannte, in irgendeiner Weise auf die cusanischen Entwürfe zur Kosmologie bezogen hätte. Erst sehr viel später sollte der Kusaner im Zusammenhang mit der ‚neuen’ Astronomie ausdrückliche Erwähnung finden: Johannes Kepler nennt ihn, in der Einleitung zu seinem Mysterium cosmographicum von 1596 den göttlichen Cusanus.173 Der Kontext der Anführung ist aber nicht direkt mit der Astronomie verbunden. Dort, wo Kepler auf Nikolaus verweist, geht es ihm noch ganz allgemein um die Einbindung der platonischen Körper in die Kosmologie, also um weitestgehend geometricosymbolische Inhalte, was allein schon eher auf Nikolaus’ neuplatonische beeinflusste figurative Symbolismen verweist, als auf seine Beiträge zu Kosmologie und Komputistik. Was Kepler hervorhebt, ist dann auch Nikolaus’ trini170 171 172
173
Ven. sap., h 12, cap. 28, n. 83, S. 79f., Z. 1. Ebd., Z. 6‒9. Ob Nikolaus neben der unter anderem von Duns Scotus (1265/66‒1308) und Albert von Sachsen (um 1316‒1390) vertretenen Auffassung einer Erddrehung im Ganzen auch das Konzept einer partiellen Erdbewegung, wie es Adelhard (um 1090‒um 1150) in den Questiones naturales entworfen hatte, kannte, ist ungewiss. Dort heißt es (zitiert nach der kommentierten Ausgabe: Die Quaestiones naturales des Adelardus von Bath (= Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters. Texte und Untersuchungen 312), Martin Müller (Hg), Münster (Westf.) 1934, S. 1‒69, hier: S. 49f.: Movetur enim terra p a r t i c u l a r i t e r quidem, non universaliter || continentis effectum. Johannes Kepler: Mysterium cosmographicum de stella nova (= Gesammelte Werke 1), Max Caspar (Hg.), München 1938, cap. 2, S. 23, Z. 13‒18: Hac enim una re d i u i n u s mihi C u s a n u s , alijque videntur: quod Recti, Curuique ad inuicem habitudinem tanti fecerunt, et Curuum Deo, Rectum creaturis ausi sint comparare: ut haud multo vtiliorem operam praestiterint, qui Creatorem creaturis, Deum homini, iudicia diuina humanis: quam qui curuum recto, circulum quadrato aequiparare conati sunt.
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2. Die frühen Jahre. Komputistik, Kosmologie, Konjektur
tätstheologische Auszeichnung der Kreisfigur, wobei sich zugleich offenbart, dass er zumindest von De docta ignorantia – immerhin zweifellos eines der Hauptwerke des Kusaners – keine allzu guten Kenntnisse hatte.174 Es ist insgesamt nicht sehr wahrscheinlich, dass auch nur einer der direkten astronomietreibenden Nachfolger des Copernicus mit Nikolaus’ kosmologischen Vorstellungen vertraut war. Zuspruch fanden diese Ideen eher von philosophisch-theologischer Warte, mit der größten Nachwirkung sicherlich bei Giordano Bruno (1548‒1600). Dafür war aber der kleine kosmologische Entwurf, sofern man überhaupt Kenntnis von ihm hatte, sicher von keinerlei Bedeutung, denn Verbindungen zu den ihn einrahmenden großen Schriften zur Seins- und Erkenntnislehre lassen sich nur mit großer Mühe ausmachen. Von einer verhaltenen Freude, dass auf der Grundlage der 174
Kepler schreibt, im Anschluss an die in Anm. 166 zitierte Stelle: Cumque vel in hoc solo satis constitisset penes Deum quantitatum aptitudo, et curui [curvi] nobilitas: accessit tamen et alterum longe maius: Dei trinuni imago in Sphaerica superficie, Patris scilicet in centro, Filij [filii] in superficie, Spiritus in aequalitate σχέσεως inter punctum et ambitum. N a m q u a e C u s a n u s c i r c u l o , a l i j [ a l i i ] f o r t e g l o b o t r i b u e r u n t . . . Die trinitarische Auslegung der (unendlichen) Kugelfigur, die im Mittelalter unter anderen durch Alanus ab Insulis (Regulae de sacra theologia, in: PL Migne 210, Paris 1853, S. 621‒684, hier vor allem: S. 627 sowie der Sermo de sphaera intelligibili, in: Alain de Lille. Textes inédits (= Études de philosophie médiévale 52), Marie-Thérèse D’Alverny (Hg.), Paris 1965, S. 297‒306), Meister Eckhardt (siehe u.a.: Expositio libri Exodi. Sermones et lectiones super ecclesiastici cap. 24. Expositio libri sapientiae, Konrad Weiß (Hg.), Stuttgart 1954 (= Meister Eckhardt. Die lateinischen Werke 2), n 20, S. 248) und der anonyme Liber XXIV philosophorum (ediert in: Clemens Baeumker: Das pseudo-hermetische Buch der vierundzwanzig Meister (Liber XXIV philosophorum). Ein Beitrag zur Geschichte des Neupythagoreismus und Neuplatonismus im Mittelalter; in: Ders.: Studien und Charakteristiken zur Geschichte der Philosophie, insbesondere des Mittelalters. Gesammelte Aufsätze und Vorträge (= Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters 251‒2), Münster 1927, S. 194‒214, hier insbesondere: S. 208) propagiert wurde, hat demgegenüber auch in die Schrift Über die belehrte Unwissenheit Eingang gefunden, steht also keineswegs der cusanischen Kreismetaphorik entgegen. Sie ist für Nikolaus allerdings nur ein Anschauungsbeispiel unter vielen für die Koinzidenzlehre (Doct. ign., h 1, lib. 1, cap. 12, n. 34, Z. 5‒12): Alii peritissimi Trinitati superbenedictae triangulum trium aequalium et rectorum angulorum compararunt; et quoniam talis triangulus necessario est ex infinitibus lateribus, ut ostendetur, dici poterit triangulus infinitus; et hos etiam sequemur. Alii, qui unitatem infinitam figurare nisi sunt, Deum circulum dixerunt infinitum. Illi vero, qui actualissimam Dei existentiam considerarunt, Deum quasi s p h a e r a m i n f i n i t a m affirmarunt. Nos autem istos omnes simul de maximo recte concepisse et u n a m o m n i u m s e n t e n t i a m o s t e n d e m u s . Es ist natürlich prinzipiell denkbar, dass Kepler diese Stelle bei Cusanus kannte, aber die an späterer Stelle aus der Symbolik der unendlichen Kugel gewonnenen Aussagen zur Unendlichkeit des Raumes zurückweisen musste. Diesen Zusammenhang zwischen sphaera infinita und universum infinitum impliziert Nikolaus unter anderem an der Stelle Doct. ign., h 1, lib. 1, cap. 23, n. 72, Z. 6‒10 durch den indirekten Verweis auf das Koinzidenzprinzip: Videmus nunc clare, cum maximum sit ut sphaera maxima, quomodo totius universi et omnium in universo existentium est unica simplicissima mensura adaequatissima, quoniam in i p s o n o n e s t m a i u s t o t u m q u a m p a r s , sicut non est maior sphaera quam linea infinita. Ausführlich zur Geschichte der Kugelsymbolik in mittelalterlicher Theologie und Kosmologie: Dietrich Mahnke: Unendliche Sphäre und Allmittelpunkt. Beiträge zur Genealogie der mathematischen Mystik, Halle 1937 (unv. Nachdr.: Stuttgart 1966).
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‚vordem unerhörten‘ Lehre des Hauptwerkes [De docta ignorantia (Einfügung. d. Autors)] eine Deutung für die Art der Bewegung der Fixsternsphäre, Sonne und Erde zu gewinnen ist,175 wie sie Klibansky aus dem kurzen Textstück herausgelesen hat, ist in Wahrheit nichts zu spüren. Im Gegenteil: In einer geradezu aristotelischen Beschränkung auf die astronomischen Phänomene selbst fällt der Text sogar hinter die erkenntniskritischen Ansätze aus der Kalenderreformschrift zurück. Das Prinzip der kosmischen Inkommensurabilität wird hier über die Verneinung absoluter Bewegungsvorgänge, im vorliegenden Fall in der Ablehnung präziser Kreisbahnen der Himmelskörper, zwar angeführt. An keiner Stelle geht Nikolaus aber näher auf die sich doch aufdrängende Frage ein, ob diese ‚Ungenauigkeit‘ der Himmelsbewegung nun ontologisch oder epistemologisch oder, wie er es in De docta ignorantia dargelegt hat, s o w o h l von einem kontingenten Seinsmangel, gewissermaßen also von einem Naturphänomen, a l s a u c h vom notwendig eingeschränkten menschlichen Erkenntnisvermögen her zu begründen ist, insofern nämlich, als, wie ich bereits angemerkt habe, eine strikte Trennung von Epistemologie und Ontologie für Nikolaus vor dem Horizont seiner Konzeption der belehrten Unwissenheit gar nicht mehr uneingeschränkt denkbar ist. Es ist natürlich möglich, in dem Text lediglich eine Vorarbeit zu einer breiter angelegten Abhandlung zu sehen. Wenn dem aber so ist, so muss man sich zugleich fragen, mit welcher der cusanischen Schriften sich die kurze astronomische Studie schlüssig in Verbindung bringen lässt. Von den bekannten Arbeiten nach der Correctio kalendarii kommt hierfür wohl keine in Frage. Die verschollene Schrift Über die Gestalt der Welt (De figura mundi), die auf den ersten Blick wohl am ehesten als Anknüpfungspunkt geeignet scheint, ist nachweislich erst in Orvieto und damit mit großer Sicherheit zwischen 1460 und 1464 entstanden.176 Damit gehört De figura mundi zum Spätwerk des Kusaners, was, wie Klibansky zu Recht anmerkt, vermuten lässt, dass der Traktat eher der spekulativen Metaphorik der Schriften Über den Beryll (1458) und Über das Globusspiel (1462/63) folgte, und wohl kaum ein genuin kosmologisches bzw. astronomisches Werk darstellt.177 Dass man dem Text in Cod. Cus. 211, trotz derartiger Unklarheiten bei der quellengeschichtlichen Einordnung (und nicht zuletzt seiner Kürze), beimaß, in consistenter Form das kosmologische Glaubensbekenntnis des Kardinals wiederzuspiegeln,178 offenbart, dass die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts intensivierende Cusanus-Rezeption zunächst die philosophischen und theologischen Beiträge des Kusaners weitgehend ignorierte und sein vergleichsweise dürftig überliefertes mathematisch-naturwissenschaftliches Denken in den 175 176
177 178
Einleitung zu ed. Klibansky, S. 43. In De venatione sapientiae von 1462/63 findet sich der einzige bis heute bekannte Hinweis auf die verlorene Schrift. Dort (Ven. sap., h 12, cap. 22, n 67, S. 65, Z. 17) heißt es: [...] in libello, quem de figura mundi nuperrime i n U r b e V e t e r i compilavi. Auch Faber Stapulensis, der Herausgeber der Pariser Druckausgabe, verweist im Vorwort seiner Edition auf sein vergebliches Bemühen, der Schrift habhaft zu werden. Einleitung zu ed. Klibansky, S. 43. Siegmund Günther, Studien zur Geschichte der mathematischen und physikalischen Geographie, Halle 1879, S. 29, zit. n.: Einleitung zu ed. Klibansky, S. 42.
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Vordergrund der Betrachtung rückte. Damit deckt sich im Übrigen auch der wichtige Befund Nagels, dass sich die Hauptträgergruppe der ‚Cusanusrenaissance‘ im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert vorwiegend aus dem Bereich der Mathematikgeschichte rekrutierte.179 Demgegenüber lässt sich aber zugleich auch feststellen, dass die Rolle der Himmelskunde für die Entwicklung der cusanischen Mathematik in der jüngeren Cusanus-Forschung, wenn überhaupt, dann nicht in gebührendem Maße gewürdigt worden ist. Schon bei Pierre Duhem wurden die kosmologischen Ansätze beim jungen Cusanus nur noch als Vorstufen bei der Entwicklung der erkenntniskritischen Koinzidenzlehre in De docta ignorantia bewertet. Für Duhem liegt in den astronomischen Theorien des 14. Jahrhunderts der Keim (la germe) der cusanischen docta ignorantia und des diese Erkenntniskonzeption bedingenden allgemeinen Skeptizismus.180 Tatsächlich aber ist Nikolaus, wie wir gesehen haben, auch auf dem Feld der Himmelskunde nicht nur Rezipient, sondern auch Ausführender. Bedeutsam ist an dem kosmologischen Textstück in Kues vielmehr vor allem, dass Nikolaus das in der Correctio kalendarii noch vage formulierte Impräzisionsprinzip für die Bewegung der Himmelskörper nicht mehr in den Dienst einer abstrakten, kosmologischen Grundsatzlehre stellt, sondern am konkreten astronomischen Falle, unter Ausblendung expliziter erkenntniskritischer Diskurse verbildlicht. Klibanskys Forderung, man müsse das Textstück aus dem Kueser Codex erst konsequent mit der cusanischen Erkenntnisund Gotteslehre kontextualisieren, um seine tatsächliche Bedeutung innerhalb des cusanischen Gesamtwerkes ermessen zu können, ist damit letztlich nicht zwingend.181 Es wäre natürlich ein Leichtes, in die fragmentarischen Ausführungen aus dem Kueser Codex nur das Diktum von der Mittelpunktlosigkeit des sichtbaren Universums und der unbedingten Relationalität der außergöttlichen Welt hineinzulesen. Der Text selbst gibt dafür aber keine konkreten Anhaltspunkte. Allzu leicht würde man so die so vielseitigen Denkansätze des Kusaners auf jene Formel reduzieren, mit der bereits Günther die mathematischen Bemühungen des Kusaners hinreichend beschrieben zu haben glaubte, nämlich, dass für den Kardinal jedwede Erkenntnis in der Koinzidenz gipfelt.182 Es genügt der Verweis auf die 179
180
181 182
Nagel, S. 166‒172. Bedeutsam sind in diesem Zusammenhang vor allem die folgenden Abhandlungen, die sich alle mehr oder minder ausführlich den fachmathematischen Beiträgen des Kusaners widmen: Abraham Gotthelf Kästner: Geschichte der Mathematik. Seit der Wiederherstellung der Wissenschaften bis an das Ende des achtzehnten Jahrhunderts, Bd. 1, Göttingen 1796 [repr. Nachdr.: Hildesheim 1970], S. 40f.; Georg Simon Klügel: Mathematisches Wörterbuch (oder Erklärung der Begriffe, Lehrsätze, Aufgaben und Methoden der Mathematik mit den nöthigen Beweisen und litterarischen Nachrichten begleitet in alphabetischer Ordnung), Bd. 4, Leipzig 1823, S. 77‒81; Michel Chasles: Geschichte der Geometrie (hauptsächlich mit Bezug auf die neueren Methoden), Brüssel 1837 [unveränd. Nachdr.: Vaduz/Liechtenstein 1988], S. 622f., Paul Schanz: Der Cardinal Nicolaus von Cusa als Mathematiker; Rottweil 1872 [unv. Nachdr.: Wiesbaden 1976]. Pierre Duhem: Nicholas de Cues; in: Histoire des doctrines cosmologiques de Platon à Copernic (= Le système du monde 10), Paris 1950, S. 247‒347, hier: S. 312. Einleitung zu ed. Klibansky, S. 41. Siegmund Günther: Geschichte des mathematischen Unterrichts im deutschen Mittelalter bis zum Jahre 1525, Berlin 1887, S. 281f., Anm. 2.
2.6. Eine kosmologische Skizze im Cod. Cus. 211
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späteren Versuche mit der Waage, um ein Interesse des Kusaners an genuin naturwissenschaftlichen Fragestellungen zu belegen, das die Auseinandersetzung mit physikalischen, chemischen oder biologischen Komplexen nicht ausschließlich zum Vehikel für den Überstieg ins Transzendente deklarierte, sondern auch immer zur Mehrung eines praktischen Fachwissens betrieb.183 Es reicht deshalb nicht aus, Nikolaus’ Bemühungen um Komputistik und Kosmologie nur in Ausrichtung auf die Erkenntnislehre zu betrachten. Gerade seine Beschäftigung mit dem Quadraturproblem – dem sich Nikolaus auch außerhalb seiner theologischphilosophischen Schriften intensiv widmet – hat seinen Ausgang sicher nicht zuletzt von dort genommen, wo der junge Kleriker mit den Unzulänglichkeiten der Astronomie seiner Zeit in Berührung kam. Es ist zudem ja bezeichnend für Nikolaus’ Schriftwerk, dass Mathematisch-Naturwissenschaftliches mehr oder weniger gleichberechtigt neben Philosophisch-Theologischem steht, ja mehr noch, häufig auch in schriftimmanenter Zusammenführung erscheint. Sicher sind konkrete Fragestellungen aus Mathematik und Naturlehre für Nikolaus zumeist willkommene Metaphern oder Beispielfälle in der Darstellung seiner erkenntniskritischen Grundauffassungen gewesen. Wer aber deshalb annimmt, Mathematik, Arithmetik, Astronomie oder Musik seien – gewissermaßen in Übereinstimmung mit der propädeutischen Funktion, die diese Felder in der klassischen artes-Konzeption einnahmen – bei Nikolaus allein der metaphysischen Spekulation untergeordnet, wird der cusanischen Erkenntnislehre nicht gerecht. Stets zeigt Nikolaus in seinen Referenzen über die Grenzen der Wissenschaftssystematik seiner Zeit Verknüpfungspunkte auf und untermauert damit den eigenen Konkordanzanspruch durch die Verbindung komplementärer Denkbereiche. Oft verstörend wirkt es dabei auf den modernen Betrachter, wenn er, in Nikolaus gerade noch den Vorläufer neuzeitlicher Wissenschaftskonzepte, einen ‚Überwinder der Scholastik’ erblickend, ihm unvermittelt auf den vermeintlich abseitigen Pfaden der Apokalyptik und Astrologie begegnet.
2.7. VOM ENDE DER WELT (UND DER MACHT DER STERNE). DIE ASTROLOGISCHEN UND APOKALYPTISCHEN BEITRÄGE DER FRÜHEN JAHRE Schon die beachtliche Menge astrologischer Abhandlungen in Nikolaus’ Privatbibliothek bezeugt sein reges Interesse am ‚verborgenen‘ Wissen um das Universum und seine geheimnisvollen Kräfte.184 Und auch hier hat Nikolaus nicht nur auf die Überlieferung zurückgegriffen, sondern sich an eigenen Beiträgen versucht. Nikolaus ist unter anderem der Autor einer astrologisch ausgedeuteten
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Siehe: Kap. 4.4 (beginnt S. 226). Zu diesen und anderen möglichen astrologischen Quellen des Kusaners, sowie zu dessen eigenen Beiträgen zur Prognostik siehe: Ulli Roth: Das astrologische Wissen des Nikolaus von Kues, in: MFCG 29, S. 65‒80.
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2. Die frühen Jahre. Komputistik, Kosmologie, Konjektur
Weltgeschichte (um 1425)185 und David Juste hat in der Bayerischen Staatsbibliothek München (clm 276, fol. 148r‒156v) kürzlich einen astrologischen Traktat wiederentdeckt, der durch eine Marginalglosse Nikolaus von Kues als Urheber auszeichnet.186 Der Text enthält eine detaillierte Prognose für das Jahr 1433 und nimmt Bezug auf die Stadt Basel, so dass sich der Text gut mit Nikolaus’ Konzilstätigkeit in Einklang bringen lässt. Die astrologische Studie wäre damit aber etwa zur gleichen Zeit entstanden, in der der aufstrebende Jurist seine Reformvorschläge in der Kalenderkommission erarbeitete. Einen Widerspruch zwischen rationalen Methoden und okkulten Praktiken vermag hier aber nur zu erkennen, wer allzu fahrlässig Gegenstandsbereich und Zielsetzung unserer gegenwärtigen Wissenschaftskultur zum Maßstab macht. Dass Astrologie und Astronomie im mittelalterlichen Geistesleben in einem symbiotischen Verhältnis standen, oder vielmehr sogar in Lehre und Forschung eine homogene Einheit bildeten, ist zu einem Allgemeinplatz mediävistischer Wissenschaftsbetrachtung geworden. Zugleich ist unbestritten, dass selbst mit der copernicanischen Wende keine radikale Abkehr von der Astrologie einherging. Über Toscanelli, dessen Bekanntschaft mit Cosimo de’Medici (1389‒1464) wohl nicht zuletzt auch auf ihrem gemeinsamen Interesse an der Astrologie gründete,187 über Regiomontans prognostische Schriften, bis hin zu Keplers Mysterium cosmographicum und dem darin enthaltenen Gegenentwurf zur ‚Primitivastrologie‘ und noch erheblich darüber hinaus bleibt das Studium über den Zusammenhang zwischen Ereignissen auf der Erde und den Positionen und Bewegungen der Himmelskörper relevant. Der Prozess der Rationalisierung und empirischen Untermauerung der Himmelskunde ging also nicht direkt mit einem kontinuierlichen Zurückdrängen der Astrologie einher. Was sich vielmehr zunächst sicher veränderte, waren die Beweggründe für das Betreiben astrologischer Studien. So muss man, gerade in Hinblick auf die wissenschaftsgeschichtlichen Verwerfungen im späten 15. und 16. Jahrhundert, immer fragen, inwieweit kommerzielle Gründe bzw. ökonomische Abhängigkeiten die Beschäftigung von astronomisch Geschulten mit der astrologischen Prognostik beförderten, und in wiefern der (insbesondere höfische) Zeitgeschmack unser Bild von der Wissenschaftlichkeit am Beginn der Neuzeit zu verzerren vermag. Auch bei Nikolaus ist es schwierig, mit Be185
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Ediert in: Ulli Roth: Die astronomisch-astrologische ‚Weltgeschichte‘ im Codex Cusanus 212. Einleitung und Edition, in: MFCG 27, Klaus Kremer u. Klaus Reinhardt (Hgg.), Trier 2000, S. 1‒29. Die Randnote (möglicherweise, aber nicht sicher durch den gleichen Schreiber) auf fol. 148r (rechts oben) lautet: Nycholaus de Causa prepos[itus] Confluentie. Der Text beginnt mit einem Almanach für das Jahr 1433 (fols 148r‒153v), fol. 154r‒156v haben dann den eigentlichen Text (Inc.: Anno domini 1433 in vigi[lia] sancti Gregorii in meridie intravit Sol Arietem...super orizontem Basilee...]. Bereits Karl Felix Halm and Georg Laubmann (Catalogus codicum Latinorum Bibliothecae Regiae Monacensis 11, München, 1892, S. 71) waren auf das Stück aufmerksam geworden und haben dabei auch auf die Urheberschaft des Kusaners verwiesen, es aber nicht eingehender untersucht. Ein herzlicher Dank geht an dieser Stelle an David Juste für seine Unterstützung. Hinweise darauf zeigt auf: Dieter Blume: Regenten des Himmels. Astrologische Bilder in Mittelalter und Renaissance (= Studien aus dem Warburg-Haus 3), Berlin 2000, S. 482.
2.7. Astrologie und Apokalyptik
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stimmtheit zu sagen, wie viel echte Überzeugung sein Interesse an der Astrologie begleitet haben mag, und inwieweit bei seiner Beschäftigung mit dem Gebiet eher der allgemeine Anspruch des Universalisten, keinen Bereich menschlichen Erkenntnisstrebens aus seinen Erwägungen auszuschließen, zum Vorschein kommt. Nikolaus ist längst nicht in allen Bereichen seiner Studien mit der gleichen Strenge zu Werke gegangen ist, was nahe legt, dass nicht jedes von ihm hinterlassene Schriftstück aus echter Überzeugung in der Sache gewachsen ist. Dabei zeigt sich Nikolaus als Prognostiker auf einem anderen und aus moderner Sicht nicht minder der Unwissenschaftlichkeit verdächtigem Feld nicht von allzu großer Sorgfalt beseelt. Während seiner werkgeschichtlichen Frühzeit hat sich Nikolaus mehrfach eschatologischen Berechnungen zugewandt. Im ersten Buch De concordantia catholica verweist Nikolaus auf einen heute verschollenen Libellus inquisitionis veri et boni, in dem er nach eigenem Bekunden das Weltende auf noch verbleibende 600 Jahre festgelegt hat.188 Schon Faber Stapulensis, der die Pariser Ausgabe besorgte, war auf das Werk aufmerksam geworden und hat es, erfolglos, aufzuspüren versucht.189 Auch die konziliare Reformschrift selbst enthält apokalyptisches Gedankengut. Diese Ausführungen zur Eschatologie sind recht kurz gehalten, finden sich aber immerhin innerhalb der einführenden Kapitel des Werkes, was ihnen eine gewisse Exponiertheit verleiht. So wird die gesamte Kirchenreform ausdrücklich mit der Frage nach den ‚letzten Tagen‘ in Verbindung gebracht, wenn Nikolaus anmerkt, [...] quod ecclesia vera est illa, quae est catholica et diffusa, et quod ipsa diffundetur ante d i e m i u d i c i i per universum orbem,190 und ferner, im Angesicht der zähen Reformverhandlungen des Basler Konzils, erbittet: Vellet Deus in sacra synodo Basilensi electos suos esse congregatos et in tanta adversitate et perplexitate in nubibus ibi congregatis ostendere a d v e n t u m m a i e s t a t i s s u a e .191 Die verbleibende Zeit bis zum Jüngsten Gericht ist dabei großzügig bemessen. Eine Frist von 600 Jahren räumt Nikolaus – unter anderem wohl in Anlehnung an Lactantius’ (Lucius Caecilius Firmianus (um 250‒nach 317)) Liber divinarum institutionum, nach dem der Welt vom Schöpfungstag an bis zum Jüngsten Gericht 7000 Jahre beschieden werden192 – der Menschheit ein,
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De concordantia catholica, h 141‒4, Gerhard Kallen u. Anna Berger (Hg.), Hamburg 1986, lib 1, cap. 12, S. 72, Z. 15f. [im Folgenden zit. als: De conc. cath., h 14] Im Verzeichnis der an der Edition Beteiligten am Ende des Widmungsbriefes, p 1, aa IIIv: [...] nusquam hactenus reperire potui. Es folgt eine Aufzählung von sechs verlorenen Cusanus‒Schriften, zu denen neben der Abhandlung über das Wahre und Gute auch der verschollene Libellus de figura mundi zählt. De conc. cath., h 14, lib. 1, cap. 11, S. 71, Z. 1‒3. Ebd., S. 73, Z. 2‒4.. Liber divinarum institutionum, ed. in: PL Migne 6, Paris 1844 (= Lactantii Opera Omnia 1), Sp. 111‒822, hier: Sp. 782f. Ausdrücklich schreibt Nikolaus (De conc. cath., h 141, lib. 1, cap. 12, S. 71, Z. 10f.): […] et an mundus septem milibus annorum curriculis. Auch nach Ezechiel, 4,6 werden für einen Schöpfungstag 1000 Jahre bis zum Ende der Zeit veranschlagt. Auf diese Stelle nimmt auch der stark von Lull beeinflusste spanischen Arzt und Laientheologe Arnaldus de Villanova († 6. Sept. 1311) in seinem Tractatus de tempore ad-
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2. Die frühen Jahre. Komputistik, Kosmologie, Konjektur
einen Zeitraum, den Nikolaus, ganz im Geiste des Konzils, für eine umfassende Erneuerung genutzt wissen will.193 Ausführliche eschachtologische Berechnungen finden sich in der Konkordanzschrift zwar nicht, wohl aber in einigen kleineren Schriften, unter denen besonders die Coniectura de ultimis diebus194 hervorsticht. Die Schrift lässt sich auf der Grundlage der darin angeführten Berechnungen auf das Jahr 1446 zurückdatieren, ist damit in einer Phase großer schriftstellerischer Produktivität des Kusaners entstanden und lässt sich in der direkten Nachfolge von De docta ignorantia und De coniecturis keineswegs mehr als zu vernachlässigendes Frühwerk abtun.195 Schon deshalb ist die Schrift eine eingehendere Betrachtung wert. Ausgangspunkt Nikolaus’ eschatologischer Prognose ist der exegetische Hintergrund des christlichen Jubeljahres, das, wie Nikolaus schreibt, 50 gewöhnlichen Jahren entspricht: Explicant autem annum unum 50 usuales. Unde cum ecclesia sit Christum explicatorie sequens, qui est magister et dominus, annos ipsius domini complicatorie iubilaeos ipsa expli-
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ventus Antichristi Bezug, von dem auch eine Abschrift in der Kueser Hospitalsbibliothek vorliegt: Cod. Cus. 42, hier vor allem: fol. 227v. De conc. cath., h 141, lib.1, cap. 11, S. 72, Z. 17f.: [...] ac hoc tempore ad reformationem mundum disponi debere. Hier und im Folgenden nach der Ausgabe: h 4 (= Opuscula 1: De deo abscondito, De quaerendo deum, De filiatione dei, De dato patris luminum, Coniectura de ultimis diebus, De genesi), Paul Wilpert (Hg.), Hamburg 1959, n. 123‒140, S. 91‒100 [im Folgenden zit. als: Con. ult. die., h 4]. Con. ult. die., h 4, n 127, S. 93‒94, Z. 4‒9: Tali enim ratione conicimus plus quam quinque usque ad ecclesiae resurrectionem restare iubilaeos, et sic nos nunc annum XII iubilaei 28 agere, cum a christi ascensione 1412 anni hoc tempore numeruntur effluxi. Nikolaus wählt also das zwölfte Jahr des 28. Jubeljahres zum Ausgangspunkt seiner Berechnungen. Die Zählungen der Jubeljahre beginnen ab dem Todesjahr Christi, das Nikolaus, wie sich aus dem Folgenden wie auch aus der späteren Gründungsurkunde des Kueser Hospizes ergibt, auf das (nicht vollendete) 34. Jahr festsetzt (siehe hierzu: Jacob Marx: Geschichte des Armenhospitals zu Cues, Trier 22007, S. 55). Lukas, 3,23, das als einziges der Evangelien hier eine Altersangabe macht, merkt allerdings nur an, er sei bei seinem erneuten Auftreten um die 30 Jahre alt gewesen. Nikolaus hat sich hier sicher einer vergleichenden Zeitangabe zwischen Profan- und Heilsgeschichte bedient. Luk. 3, 1 setzt den Zeitpunkt der Taufe Christi wie folgt an: Im fünfzehnten Jahr der Herrschaft des Kaisers Tiberius, als Pontius Pilatus Statthalter in Judäa war und Herodes Landesfürst von Galiläa und sein Bruder Philippus Landesfürst von Ituräa und der Landschaft Trachonitis und Lysanias Landesfürst von Abilene, als Hannas und Kaiphas Hohepriester waren, da geschah das Wort Gottes zu Johannes, dem Sohn des Zacharias, in der Wüste. Demnach wäre Christus zum Zeitpunkt der Taufe 29 Jahre alt gewesen (sieht man einmal davon ab, dass die abendländische Zeitrechnung, deren Nullpunkt das Geburtsjahr Jesu sein sollte, auf einem Rechenfehler beruht). Da Christus nach allen Evangelien am Vortag eines Schabbat an einem Passahfest gekreuzigt wurde, bleiben nur 30 oder 33 n. Chr. als Todesjahr. Nikolaus wählt hier den späteren Zeitpunkt. Da ein iubileum mit 50 Jahren zu veranschlagen ist, ergibt sich aus 34+28·50+12 = 1446 das Entstehungsjahr der Schrift.
2.7. Astrologie und Apokalyptik
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cat per q u i n q u a g i n t a , ut uni solari revolutioni Christi, solis iustitiae, una anni domini revolutio in p e r e g r i n a t i o n e e c c l e s i a e 196 correspondeat.197
Auf der Grundlage dieser biblischen Zeiteinheit führt Nikolaus seine Berechnung der letzten Tage aus: Tali enim ratione conicimus plus quam quinque usque ad ecclesiae resurrectionem restare iubilaeos, et sic nos nunc annum XII iubilaei 28 agere, cum a christi ascensione 1412 anni hoc tempore numeruntur effluxi.198
Die Idee ist also folgende: Ausgehend vom Himmelfahrtsjahr muss für jedes begonnene Lebensjahr Christi ein iubileum, also 50 Jahre, gezählt werden. Die Vollendung des 28. Jubeljahres, bzw. der Beginn des 29. Jubeljahres fällt auf das Jahr: 1446‒12+50 = 1484
Wenn nun Cusanus ad resurrectionem ecclesiae über 5 Jubeljahre, also etwas mehr als 5 ⋅ 50 = 250 Normaljahre veranschlagt, so will er damit den gesuchten Zeitraum für den Tag des Jüngsten Gerichts genau auf das 34. Jubeljahr festlegen. Plus quam bezieht sich dabei auf die verbleibende Zeit bis zum Jahre 1484. Geht man, wie es sich aus den cusanischen Prämissen ergibt, vom Auferstehungsjahr 34 n. Chr. aus, so fällt der Beginn des 50. Jubeljahres auf: 34·50+34(=1484+5·50) = 1734
Die Vollendung des 50. Jubeljahres und oberste Grenze für die Bestimmung des apokalyptischen Datums ist damit vorbestimmt auf: 1734+50=1784
Zwischen 1734 und 1784 soll also der Tag des Jüngsten Gerichts fallen – oder sagen wir besser: dies ist e i n e mögliche Deutung der Textstelle. Denn Nikolaus relativiert seine eigenen Ergebnisse durch den Nachtrag, die g e n a u e Zeit der Rückkehr Christi sei unbekannt.199 Sicher will Nikolaus hier noch einmal auf die universelle Gültigkeit seines Leitgedankens von der Mangelhaftigkeit des menschlichen Erkenntnisvermörgens verweisen, wie er sie erst in Ansätzen innerhalb De correctione calendarii und dann ausführlich in der Schrift zur belehrten Unwissenheit gefasst hatte. Zugleich erkennt man in der Einschränkung natürlich auch eine gewisse (und sehr nachvollziehbare) Vorsicht bei der prognostischen Festlegung, schließlich ist es im wahrsten Sinne des Wortes nur eine Frage der 196
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Gemeint ist hier eine symbolische Übertragung der zweiten Phase des babylonischen Exils zwischen 587 v. Chr. bis zu seiner Beendigung durch den Perserkönig Kyros (II.) (um 600‒529 v. Chr.) im Jahre 537 v. Chr. auf die irdische Existenz der Kirche. Der erste Schub der Deportationen aus Palästina, der bereits 597 v. Chr. einsetzt, bleibt bei dieser Betrachtung von Cusanus unberücksichtigt. Con. ult. die., h 4, n 127, S. 93‒94, Z. 4‒9. Ebd., S. 94, Z. 10‒13. Con. ult. die., h 4, n 133, S. 97, Z. 9‒13: […] adventus eius in mundum fuit in t e m p o r i s praecisione ignotus.
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2. Die frühen Jahre. Komputistik, Kosmologie, Konjektur
Zeit, bis sich die eschatologische Aussage (wenn auch in diesem Falle erst nach Jahrhunderten) der Überprüfung stellen muss – was Nikolaus auch in einem anderen Fall zu Korrekturen und Zusätzen angehalten hat: Die Predigt zur Apokalypse Domine, in lumine vultus tui ambulabunt vom Neujahrstag 1441 (Augsburg), heute als Sermo XXIII in der Heidelberger Edition geführt, hat Nikolaus (wahrscheinlich mehrfach) überarbeitet und dabei auch hier nachträglich den mutmaßenden Charakter seiner Ausführungen unterstrichen: Ista sunt verisimilia, sed non sunt nobis certa.200 Damit eröffnen sich für die Analyse natürlich weite Spielräume. In der Coniectura de ultimis diebus hat Nikolaus diese Spielräume durch eine Vielzahl von Erläuterungen und verallgemeinernden Zusätzen sogar noch erheblich erweitert, so dass eindeutige Interpretationen ausgeschlossen wurden. Verwundern kann es daher nicht, dass Klaus Reinhard, der das apokalyptische Ereignis auf den Zeitraum zwischen 1700 und 1734 festsetzt,201 zu einem völlig anderen Ergebnis kommt als beispielsweise Hans-Gerhard Senger, der, durch die textlichen Ambivalenzen augenscheinlich vorsichtig geworden, lediglich einen Zeitpunkt nach dem Jahre 1734 aus der Coniectura herauslesen will.202 Ebenso wenig kann es verwundern, dass Nikolaus selbst in fast jeder seiner eschatologischen Betrachtungen zu anderen und meistens sehr groben Einschätzungen gelangt. In dem der Coniectura vorangegangenen Sermo XXIII setzt er das Weltende lediglich auf einen Zeitpunkt nach 1600 fest.203 Auch in der viel späteren Predigt Iterum venturus est iudicare vivos et mortuos, cuius regni non erit finis, gehalten zum zweiten Adventssonntag des Jahres 1455, will sich der mittlerweile zum Kardinal Erhobene nicht mehr allzu genau festlegen und belässt es, auf der 200
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Cod. Cus. 220, fol. 10v. Die Bemerkung steht im Zusammenhang mit einer längeren Randnotiz an genannter Stelle (h 161 (= Sermones I‒XXIV), Rudolf Haubst u.a. (Hg.), Hamburg 1970, n 13, S. 366, Z. 13‒22 (geklammert), hier: Z. 21f.). [Im Anschluss an diese Edition der Predigt gibt Reinhardt einen Überblick zu den apokalyptischen Referenzstellen im Werk des Kusaners: h 16, S. 380‒383 (= Conspectus eorum, quae Nicolaus hic et alibi de aetatibus ultimisque diebus humanitatis coniecit)]. Die umfangreichen Korrekturen finden sich als Marginalglossierungen in der Kueser Predigthandschrift Cod. Cus. 220, fol. 9v‒14v. Josef Koch hat diese Randbemerkungen genauer untersucht und entsprechende Korrekturen der älteren Datierung nach Johannes Uebinger (enthalten in: Eine Predigt des Nikolaus von Cues. Sermo habitus a. 1440 in die circumcisionis Augustae. Aus der Originalhandschrift des deutschen Cardinals im Hospital zu Cues mitgeteilt von Uebinger, 1886 (= Pastoralblatt für die Diöcese Ermland 18), S. 94) vorgenommen. Zwar lässt sich aus den Berechnungen im Text selbst herauslesen, dass die Predigt zum Jahreswechsel 1440/1441 gehalten wurde. Koch hat aber die kalendarischen Details aus dem Text zurückgerechnet und dabei den 1. Januar 1441 als Stichtag festgesetzt. Hierzu: CT 1,6 (= Predigten. Die Auslegung des Vaterunsers in vier Predigten), Josef Koch u. Hans Teske (Hg.), Heidelberg 1940, S. 180f. Klaus Reinhardt: Christus – Richter der Lebenden und der Toten, in: MFCG 23 (= Unsterblichkeit und Eschatologie im Denken des Nikolaus von Kues), Trier 1996, S. 89‒119, hier: S. 104. Hans-Gerhard Senger: Das Zeit- und Ewigkeitsverständnis bei Nikolaus von Kues im Hinblick auf die Auferstehung der Toten, in: MFCG 23 (= Unsterblichkeit und Eschatologie im Denken des Nikolaus von Kues), Trier 1996, S. 139‒165, hier: 146. Sermo XXIII, h 161, n 13, S. 366: Postquam centum quinquaginta annis et paucis ultra sic crevit, veniet ultima tribulatio […].
2.7. Astrologie und Apokalyptik
73
Grundlage der Angaben in der Johannes-Apokalypse, bei der Festsetzung einer Gnadenfrist von über 400 Jahren.204 Eine gewisse Beliebigkeit kann man den cusanischen Erwägungen insgesamt nicht absprechen – immerhin schwanken Nikolaus’ Angaben insgesamt zwischen 150 und 600 Jahren.205 Die eschatologischen Beiträge sind dabei insgesamt wenig originell, weder in inhaltlicher noch in formaler Hinsicht lassen sie die an anderer Stelle so deutlich hervortretende intellektuelle Schärfe des Kusaners erkennen. Umso drängender stellt sich die Frage nach den Gründen, die Nikolaus zur Beschäftigung mit dem Problemkreis bewegten. Die Vermutung, dass der Strang, der sich mit dem Jüngsten Gericht beschäftigt, doch vielleicht mehr darauf zielte, Ordnung und Sicherheit in seinem Herrschaftsbereich aufrecht zu erhalten und Nikolaus als Jurist und Landesherr doch gezwungen war, einen gewissen weltlichen Druck auszuüben206 mag, mit Rücksicht auf den Adressatenkreis der Predigten, als hinreichende Erklärung für die apokalyptischen Spekulationen im Predigtwerk dienen. Für die Mutmassungen über die letzten Tage kann sie dagegen nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit Anwendung finden. Zwar ist nicht mit Sicherheit auszumachen, für welchen Rezipientenkreis die Schrift vorrangig bestimmt war. Der These von der machtpolitischen Instrumentalisierung der Eschatologie steht aber schon die einleitende Passage der Schrift entgegen, in der Nikolaus die Coniectura ausdrücklich als Trostschrift apostrophiert.207 Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, aus dem die frühere Schrift über die katholische Konkordanz bestimmenden Gedankenwerk aus representatio und Abbild auf die Begründung der weltlichen Gerichtsbarkeit zu verweisen und ihre Legitimation aus der Abbildlichkeit zur göttlichen Gerichtsbarkeit heraus zu untermauern. Derartige Verbindungen von Eschatologie und Rechtsdenken findet sich aber nicht. Wenn sich überhaupt politische Motive in der cusanischen Eschatologie ausmachen lassen, dann sind diese vor allem auf kirchliche Reformfragen hin ausgerichtet. Zumindest in der Schrift über die katholische Konkordanz sind solche 204
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Sermo CCX, h 19 (= Fasciculus 3: Sermones CCIV‒CCXVI (= Sermones 4 (1455‒1463)), Klaus Reinhardt u. Walter Andreas Euler (Hg.), S. 31‒39, hier: n 22, Z. 1‒5: Dicit Iohannes in Apocalypsi, quo modo bestia regnabit 42 mensibus, diem pro anno erunt anni 1260, et secundum hoc adhuc r e g n a t u r u s e s s e t q u a s i q u a d r i n g e n t i s a n n i s . Reinhardt: Christus – Richter der Lebenden und der Toten, S. 107. Diskussionsbeitrag von Cord Passow zum Vortrag Klaus Reinhardts Christus, Richter der Lebenden und Toten, abgedruckt in: MFCG 23, S. 115. Con. ult. die., h 4, n 123, S. 91, Z. 1‒14: Quamquam universus hic mundus a cunctipotentis voluntate dependeat, ita ut nemo hominum sensum domini noscere queat, cum nec ea quae in hominis sunt conceptu praeter hominis spiritum quisquam sciat, ac sic ad nos minime spectet temporis momenta, quae in patris maiestate posita sunt, diffinire, cum solum ibi omnia nobis futura intemporaliter sint praesentia, debeatque nos sanctimonia vitae et litterarum intelligentia prorsus patrum comparatione carentes maxime a futurorum curiali inquisitione retrahere eo, quod paene omnes, qui hactenus aliquid de temporum ratione scripserunt, fallaci quadam coniectura decepti sunt, tamen semota arrogantia pia atque aedificatoria investigatione ex sanctis litteris futura conicere, inquantum nostrae peregrinationi consolatoriam affert refectionem, non arbitror reprehensibile. Reinhardt: Christus – Richter der Lebenden und der Toten, S. 106.
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2. Die frühen Jahre. Komputistik, Kosmologie, Konjektur
Tendenzen auszumachen, wenn sie auch recht vage sind. Das Bild vom politisch berechnenden Apokalyptiker will aber bei weitem nicht überall und in jeder Hinsicht passen. Im Gegenteil: Mit der Coniectura offenbart sich eher die Nähe des Kusaners zu einem gemäßigten Chiliasmus, denn hier zeigt er sich gänzlich erfüllt von der Hoffnung, dass der Beginn einer neuen Zeitrechnung auch zum Beginn einer Erneuerung der Kirche im gesamten Weltenkreis werden könnte. Auch hierin kann man zwar sicher ein Stück weit politische Berechnung erkennen, genauer gesagt, den Versuch, dem kirchlichen und weltlichen Reformdruck eine theologische Basis zu errichten. Das alles geschieht aber zum einen mit einer deutlich optimistischen Grundhaltung und zum anderen klar mit Bezug auf die weltlichen und kirchlichen Entscheidungsträger. Oft gewinnt man bei Nikolaus’ eschatologisch-apokalyptischen Exkursen allerdings den Eindruck, als seien sie in großer Eile und ohne tiefgreifenden Anspruch unternommen worden, gerade so, als gelte es eher, eine ‚Gattungslücke’ zu schließen als der prognostischen Bibelexegese einen wirklich neuen Impuls zu verleihen. Vielmehr forderte wohl der universale Anspruch der cusanischen Lehrmeinungen ihre Erprobung auch auf (nur) aus heutiger Sicht ‚abseitigen‘ Gebieten der Theologie schlicht heraus. Kein Bereich des menschlichen Denkens kann nach dem cusanischen Allgemeingültigkeitsanspruch ausgeklammert werden. Rudolf Stadelmanns Bemerkung, dass schwärmerische Apokalyptik, Evangelium aeternum, Messiasmysterium, Paradiesbotschaft und ähnliche echt religiöse Ideologien nicht hinauf in die Schichten drangen, die auf eine Berührung mit dem Humanismus hinweisen konnten208 – das war bei Nikolaus zweifelsohne der Fall – kann daher allenfalls eingeschränkte Gültigkeit haben. Ob Nikolaus echtes Vertrauen in seine Vorausberechnungen hatte, ob er sie insgesamt vielleicht sogar eher als eine Art ‚Fingerübung‘ bei der Umsetzung seiner Grundüberzeugung von der mathematischen Ordnung der Welt hatte, wäre die tatsächlich berechtigte Frage. Fakt bleibt aber, dass Nikolaus sich in bemerkenswertem Umfang zur Eschatologie geäußert hat – wenngleich auch mit geringer Überzeugungskraft. Der eschatologische calculus gewinnt durch den Umstand, dass er stets auch einem christologischen Impuls folgt, wie Reinhardt betont, die Berechnungen also vom Christusereignis ausgehen,209 zwar an Bedeutung, keineswegs aber an Plausibilität, überall bleiben rechnerische Unstimmigkeiten, die den Eindruck erwecken, dass sich Nikolaus seiner Sache keineswegs sehr sicher gewesen ist. Man muss dabei bedenken, dass er sich in der Verbindung zur Christologie mit seinen Spekulationen zur Apokalypse ja auch gewissen Gefahren aussetzte: Ein Irrtum in der Sache musste zugleich die Sachkompetenz des Exegeten in Frage stellen, mehr noch, den Prognostiker als einen jener falschen Propheten entlarven, die Matth. 24,5 selbst zu einem Vorzeichen des unmittelbar bevorstehenden Weltgerichts er208
209
Rudolf Stadelmann: Vom Geist des ausgehenden Mittelalters. Studien zur Geschichte der Weltanschauung von Nicolaus Cusanus bis Sebastian Franck, Halle 1929, S. 234. Nikolaus fasst dies in der Predigt Domine, in lumine vultus tui ambulabunt in die programmatische Formel (Sermo XXIII, h 161, n 5, S. 361, Z. 9) Omnia [...] per Christum mensuramus. Vgl. die ähnlich lautende Formulierung in: Sermo XXII, h 161, n. 37, S. 344, Z. 14‒17.
2.7. Astrologie und Apokalyptik
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klärt. Auch die Berechnungen zur Apokalypse sind daher durch Mutmaßungen bestimmt, und gelangen so wieder in die Nähe zur Programmatik der erkenntniskritischen Hauptschriften der 1440er Jahre. Die christologischen Aspekte sind deshalb für das Verständnis der cusanischen Apokalyptik auch nicht allein maßgeblich. Nikolaus liefert in seiner Exegese noch einen anderen interpretativen Schwerpunkt, nämlich den der zahlenmäßigen Struktur, die der menschliche Geist seinen Erkenntnisgegenständen zuweist. Hierauf deutet schon der Umstand hin, dass Nikolaus an keiner Stelle die prinzipielle Berechenbarkeit des Zeitenendes wirklich in Frage stellt. In Hinblick auf sein Verständnis der in De docta ignorantia entworfenen epistemologischen Dichotomie von Endlichem und Unendlichem ist die Selbstverständlichkeit, mit der Nikolaus seine Berechnungen vollzieht, nicht verwunderlich. Wenn im endlichen Erkenntnisbereich die Mathematik ein Höchstmaß an certitudo in Aussicht stellt, so ist zugleich jeder Betrachtungsbereich, der durch seine Endlichkeit attribuiert ist, mehr oder minder deutlich mathematisch fassbar. Nicht nur stellt der Übergang zum Unendlichen die Grenze für den Geltungsbereich des Mathematischen dar. Sondern es gilt auch umgekehrt, dass die mathematische Verfasstheit oder besser: Fassbarkeit eines Betrachtungsgegenstandes auf seine Endlichkeit verweist. Wenn der Zeitenlauf der Welt als begrenzt verstanden wird, das Weltende im Jüngsten Gericht als unausweichliches Faktum angenommen wird, und hieran hegt Nikolaus offensichtlich keinen Zweifel, dann muss dieser Zeitenlauf selbst unter eine mathematische Ordnung subsummierbar sein. Wie die Zahl, die geometrischen Figuren und alle Objekte des mathematischen Denkens ist auch die Zeit als ‚Zeitgefühl‘ und abstrahierendes Erkenntnismittel hinsichtlich der Veränderungen der äußeren Umwelt im menschlichen Inneren verankert. Seit Boëthius und seiner Consolatio philosophiae ist zugleich die Überzeitlichkeit Gottes als Lösung des moralischen wie logischen Problems der Theophanie in die mittelalterliche Theologie eingegangen. Auf der Grundlage dieses Denkens, in der der Mensch qua seiner unbedingten Endlichkeit im Gegensatz zum notwendig unendlichen und absoluten Gott der Zeit unterworfen ist, greift in der cusanischen Apokalyptik die formale Trennung von ‚Einheit‘ und ‚Vielheit‘. Auch in ihrer zeitlichen Bedingtheit ist die ‚Vielheit‘ der Geschöpfe von der göttlichen Einheit geschieden, doch die zahlenmäßige Ordnung der ‚Welt‘ bleibt die Erkenntnisbrücke, in der ‚Einheit‘ und ‚Vielheit‘ vermittelbar sind. Es würde Nikolaus’ Universalismusanspruch nicht gerecht, vor dem Hintergrund des in seinem gesamten Werk unbestreitbaren Vorrangs der geometrischen Symbolik die Idee des mathematischen transitus210 auf das Räumliche zu beschränken. Auch Zeit ist für Nikolaus letztlich vom Standpunkt menschlicher Erkenntnis aus betrachtet wesentlich zahlenmäßige Struktur, die Geschichte folgt einfachen numerischen Verhältnissen. Im mathematischen Durchschreiten der Zeiträume gelangt der Wahrheitssuchende schrittweise zur Voraussicht der apokalyptischen Singularität, einer Zeitengrenze, die der menschliche Geist nicht mehr zu überwinden vermag. Hier also nähert sich der zählende Geist seiner eigenen Grenze an. Die Analogie zum ‚Grenzübertritt‘ in den 210
Siehe vor allem Kap. 3.1.1. (beginnt S. 83).
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2. Die frühen Jahre. Komputistik, Kosmologie, Konjektur
geometrischen Symbolismen aus De docta ignorantia liegt dabei auf der Hand: Wo die geometrischen Figuren mittels Koinzidenzbetrachtungen bis zur Auflösung des ‚Kleiner‘ und ‚Größer‘ gedacht werden können, da liefert das apokalyptische Ereignis die Auflösung des zeitlichen ‚Vorher‘ und ‚Nachher‘ zur Simultanität. Auch hier kann dieser erkenntnisgemäße Vorgang gewissermaßen als ein stetes Voranschreiten oder Aufsteigen begriffen werden, denn der auf die apokalyptische Auflösung hin ausgerichtete Zeitlauf bringt im Herannahen seines Endes Zeichen hervor, so in der Ankunft des Antichristen211 und der Engel als himmlische Sendboten.212 Die Apokalypse kündigt sich also an, und die Gewissheit des kommenden Ereignisses selbst wie auch seine ‚Berechenbarkeit‘ nimmt folglich zu. Das Jüngste Gericht schließlich kennt dann keine zeitliche Abfolge mehr, die einzelnen Teile der Offenbarung müssen bei der Exegese als überzeitlich in eins gesehen werden. Cusanus folgt hier dem Utopismus Alexanders von Bremen (†1271) und der Rekapitulationsregel des Donatisten Tyconius († vor 400), der die chronologisch-utopistische Auslegung des apokalyptischen Ereignisses selbst, also des forensischen Aspektes der Parusie, strikt ablehnt.213 So wendet sich Nikolaus auch nicht vorwiegend den apokalyptischen Ereignissen selbst zu. Vielmehr zeichnen sich die cusanischen Berechnungen zur Apokalypse durch die Verbindung trinitätstheologischer und christologischer Geschichtsdeutungen aus, wie sie bereits der Ordensgründer der Floriazenser Joachim von Fiore (um 1130‒1202)214 vorgegeben hatte. Der Zeitenlauf strebt dabei seiner unausweichlichen Auflösung im apokalyptischen Ereignis zu, das zugleich ein unumschränktes und bedingungsloses ‚Jetzt‘ ist. Wenn etwas Nikolaus’ eschatologischen Nachlass mit den theologischphilosophischen Hauptschriften verbindet, dann sind es die gerade skizzierten Implikationen aus der behaupteten zahlenhaften Ordnung des heilsgeschichtlichen Weltenlaufes. Besonders in der erwähnten Neujahrspredigt von 1441 (Domine, in lumine vultus tui) wird diese Verbindung deutlich. Dort vertritt Nikolaus die Auffassung, dass wenn der Mensch die Weltgeschichte in ihrer zahlenmäßigen Ordnung zu erfassen sucht, er den Blick zugleich auf sich selbst, auf das eigene Unterworfensein unter unumstößliche Ordnungsprinzipien richtet. So spiegelt sich in den verschiedenen Phasen eines Menschenlebens zugleich die gesamte Heils211
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De conc. cath., h 141, lib. 1, cap. 11, S. 71, Z. 5‒8: [...] Licet dies iudicii extremi non veniat nisi prius antichristus [...]. Ebd., S. 72, Z. 14. Augustinus unterrichtet uns ausführlich über den nur noch fragmentarisch erhaltenen Liber regularum im dritten Buch De doctrina christiana, ed. in: CCSL 32, Klaus Detlef Daur (Hg.), Turnhout 1962, cap. 30‒37, S. 102‒116. Dort findet man zur fünften Regel des Tyconius folgende Anmerkung (cap. 35, S. 111, Z. 38): Neque [...] enim numerus iste in Apocalypsi ad tempora pertinet, sed ad homines. Auf dieser Grundlage steht auch die siebte Regel, die der Rekapitulation, nach der innerhalb der Exegese symbolhafte Zahlen repetitiv und nicht in einmaliger Abfolge zu verstehen sind (cap. 36, S. 111‒114). Maßgeblich für diese Entwicklung ist die: Expositio super Apocalypsim, Venedig 1527 [unv. Nachdruck: Frankfurt am Main 1964], bes.: fol. 1r‒26v = Prologus et Expositio introductorius.
2.7. Astrologie und Apokalyptik
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geschichte wider, sind im Menschen die Entwicklungsstufen der gesamten Menschheit bzw. der ganzen Welt formal angelegt, wie Nikolaus in einer nachträglichen Anmerkung zur eigentlichen Predigt bemerkt: Sicut unus homo pergit ab initio vitae suae per aetates suas ad mortem, ita quidem humanitas una aetates suas habet. Et similiter et mundus.215
Mit sensus, ratio und intellectus werden dabei wesentliche begriffliche Grundpfeiler jener hierarchischen Erkenntniskonzeption angeführt, die Nikolaus kurz zuvor in De docta ignorantia entwickelt hatte:216 Ista enim in quolibet homine reperimus, quoniam intellegentia, quae est incorruptibilis et immortalis et substantia animae nostrae, in initio nativitatis pueri non deprehenditur, sed latet in potentia s e n s i b i l i s naturae. Deinde progreditur ad r a t i o n a l e m , deinde ad doctrinalem,217 deinde ad i n t e l l e c t u a l e m .218
Die heilsgeschichtliche Phase der paradiesischen Unschuld Evas und Adams (humana natura erat ut infantilis), entspricht ontogenetisch dem Kindesalter, epistemologisch der sinnlichen Wahrnehmung, dem schwächsten menschlichen Erkenntnisvermögen. Die Zeit der Berufung Abrahams markiert dann den Zeitraum der menschlichen Entwicklungsgeschichte, in dem die Menschheit den Samen des Verstandes empfängt (semen rationis incepit). Mit Mose und der Übergabe der zehn Gebote beginnt das Menschenalter der Unterweisung und Ordnung unter dem göttlichen Gesetz (quando sub doctore et regulis legis ut ‚sub paedagogo‘ constituebatur), epistemologisch die, insbesondere da in dieser Form so in Nikolaus’ übrigen Schriften nicht auffindbare, schwer zu deutende Stufe der doctrina. Es folgt schließlich, markiert durch das Christusereignis, das Zeitalter der menschlichen Vollendung (‚plenitudinem temporis‘ et perfectionis), dem in Hinblick auf die menschlichen Erkenntnisvermögen der intellectus entsprechen soll. Sicher ist damit nicht gemeint, dass nicht schon vor dem Christusereignis dem Menschen alle Erkenntnisweisen prinzipiell zur Verfügung standen, schon deshalb nicht, als das die Vollkommenheit der Menschwerdung im göttlichen Schöpfungsprozess in Frage stellen könnte. Gemeint ist eher, dass das Christusereignis einen wichtigen Schritt im Prozess menschlicher Selbsterkenntnis – man mag hier den Begriff der 215
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Sermo XXIII, h 161, n. 7, S. 362, Z. 4‒7. Die Bedeutung der Heilsgeschichte für die apokalyptische Prognostik wird, in Unterscheidung zur Analogie mit den Entwicklungsphasen innerhalb eines einzelnen Menschenlebens, etwas später dann noch einmal unterstrichen: Legamus igitur ex vita Christi, quid de nostra aetate sentire debeamus. Et tunc reperiemus, quo modo Christus natus, circumcisus, ductus ad Aegyptum, repertus in templo etc.; deinde a duodecimo anno usque ad quasi tricesimum non reperitur nisi quasi dormivisse, quia nihil reperitur de eo, nisi quod fuit in mundo. Post hoc apparuit, et brevi post ‚crucifixus‘ est et ‚ascendit in caelum‘. Consideremus nunc, quando defecit ‚fusio sanguinis‘ in praeputio, quando defecit Christus in templis crescere, quando incepit quasi sub neglectu haberi; et comparemus tempora ad aetatem Christi; et sciemus tempora praedicationis Christi et passionis propinqua. Siehe vor allem Kap. 3.1.1. (beginnt S. 83). Von der doctrina ist bei der Erkenntnisspekulation in De docta ignorantia nicht die Rede. Siehe hierzu: S. 83ff. Sermo XXIII, h 161, n. 8, S. 362, Z. 1‒7.
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postbiotischen Evolution anführen219 – als Bewusstwerdung über das eigentliche Ziel geistigen Vermögens offenbart, der Annäherung an die Erkenntnis des dreieinen Gottes. Bei der von Nikolaus hier vollzogenen heilsgeschichtlichexegetischen Einfassung seiner platonisch gefärbten Erkenntnislehre ist damit auch eine konfessionelle Ausschließlichkeit mit zu denken, die sich derart ausdrücklich in Nikolaus’ großen philosophisch-theologischen Abhandlungen eigentlich nicht feststellen lässt. Die Rolle der Denomination wird darin um der Allgemeingültigkeit der Erkenntnis- und Seinsgrundsätze willen durch abstrakte Konzeptionen wie dem ‚Einen‘ und ‚Vielen‘, dem ‚absolut Größten‘, dem ‚NichtAnderen’ usw. eher umgangen. In der Neujahrspredigt aber unterstreicht Nikolaus scheinbar klar den Primat der Heiligen Schrift, des ‚alleinigen Buchs des Lebens‘: […] Non est nisi unus ‚liber vitae‘, in quo est ipsa omnium sapientia, quae est finis. Alii libri multi finem non habent. ‚Liber‘ autem ‚vitae‘ est spiritualis et intellectualis, cuius libri imaginem gestant omnes alii libri per disciplinam, rationem aut sensum complicati.220
Auch in das Predigtwerk ist demnach Nikolaus’ nahezu in all seinen Werken nachweisbare teils latente, teils vehemente Zurückweisung des scholastischen Schriftgelehrtentums eingegangen, das für Nikolaus das Wesentliche, die ‚Hauptquelle‘ der Glaubenslehre, aus dem Blick verloren zu haben schien.221 Dass sich das auf den ersten Blick nur schwer mit Nikolaus’ vielen, wenn auch selten ausdrücklichen Anleihen bei christlichen wie paganen Autoren in anderen Schriften zur Deckung bringen lässt, ist vor allem dem engen formalen Rahmen des Predigtwerkes zuzuschreiben, das wenige Möglichkeiten für allzu feine Differenzierungen lässt. Immerhin schreibt Nikolaus noch, dass auch die ersten Weisen, wie Pythagoras, Sokrates und selbst Christus, wie Augustinus in der Schrift ‚Über die Einheit des Evangeliums‘ 222 sagt, nichts Schriftliches hinterlassen [haben], da sie nicht glaubten, das Wissen mehren zu können, wenn sie darüber schreiben würden.223 Tatsächlich geht es Nikolaus also nicht um eine Einschränkung der Perspektive auf eine bestimmte Geistes- oder Glaubenshaltung im engeren Sinne. 219
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Programmatisch hat das 6. Bad Honnefer Winterseminar zu Grenzproblemen der kosmischen Evolution diesen Begriff mit Nikolaus in Verbindung gebracht. Die Fachtagung (19.‒21. Januar 2000) stand unter dem Titel Nikolaus von Kues als Naturwissenschaftler. Ein Beispiel der postbiotischen Evolution. Sermo XXIII, h 161, n 14, S. 367, Z. 20‒24. Siehe hierzu auch: Sermo XXIII, h 161, n. 14, S. 366, Z. 8‒11: Si igitur cognitionem nominis eius primo ascendere debemus et ad gradus nos convertere volumus, non videtur necessarium, ut ad libros pergamus […]. Gemeint hat Nikolaus hier sicher vor allem die folgende Stelle aus dem siebten Kapitel in Augustinus’ De consensu evangelistarum (ed. in: PL. Migne 31, Sp. 1042‒1230, hier: cap. 7, n. 11f., Sp. 1047f.): Nam P y t h a g o r a s , quo in illa contemplativa virtute nihil [tunc] habuit Graecia clarius, non tantum de se, sed nec de ulla re aliquid scripsisse perhibetur. S o c r a t e s autem, quem rursus in activa, qua mores informantur, omnibus praetulerunt, ita ut testimonio quoque Dei sui Apollonis omnium sapientissimum pronuntiatum esse non taceant, Æsopi fabulas pauculis versibus persecutus est, verba et numeros suos adhibens rebus alterius, usque adeo nihil scribere voluti, ut hoc se coactum imperio sui daemonis ferisse dixerit, sicut nobilissimus discipulorum Plato commemorat. Sermo XXIII, h 161, n 14, S. 367, Z. 15‒19.
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Vielmehr wird mit der Hervorhebung des biblischen ‚Urtextes‘ metaphorisch eine Lossagung von der verschriftlichten Lehrautorität und damit die Erweiterung der interpretativen Räume ermöglicht: So kann auch die nicht-christliche Literatur als nicht prinzipiell falsch, sondern lediglich ‚fehlgeleitet‘ in Hinblick auf ihre Zielsetzung in den Diskurs eingebracht werden, die Erträge griechischer, römischer und auch arabisch-muslimischer Autoren also in glaubenskonformer Weise umgedeutet werden. Zugleich hebt Nikolaus hierin auch methodische Beschränkungen für den Zugang zur Heiligen Schrift auf: Wenn der Begriff des liber vitae hier zu spiritualis et intellectualis hin von allen anderen Schriften differenziert wird, also die unbedingt metaphorisch deutende Lesart eingefordert wird, dann ist das auch Rechtfertigung für eine auf die zahlenhafte Ordnung der Schöpfung hin ausgerichtete Auslegung der Heiligen Schrift und, im erweiterten Sinne, einer mathematischen Sicht auf alles Geschaffene. Das geschriebene Wort allein ist Nikolaus nicht hinlänglich, die tiefere Ordnung der Offenbarung erschließt sich vor allem in der Zahl. Nikolaus belässt es nicht bei der Gliederung des Weltenlaufs in vier Großepochen. Die letzte Phase menschlicher Vervollkommnung, die durch das Christusereignis eingeläutet wird, will Nikolaus, insofern für ihn Christus alles einschließt, und daher in der heilsgeschichtlichen und erkenntnissymbolischen Deutung nicht auf die intellektuale Vervollkommnung beschränkt werden kann, selbst noch nach christologischen Gesichtspunkten unterteilt wissen: Sic quidem aetas Christi est intellectualis aetas, in qua tamen alias esse etiam Christus ostendit in se ipso […]. Tota igitur aetas intellectualis, quae Christi est, qui est ‚veritas’ et sapientia Patris, in suis gradibus explicetur.224
Christus faltet damit also die Gesamtheit der menschlichen Natur ein, natürlich ohne dass er selbst durch die menschlichen Mängel bestimmt würde – Christus ist von Anbeginn an vollkommen und allwissend: Christus autem omnia complens, quamvis ab initio conceptionis perfectissimus et sapientissimus esset, quasi in ipso ut in principe complicata foret humana natura, infans fuit, deinde circumcisus, deinde ‚auditor legis‘ et observator oboediens, deinde doctor „quasi potestatem habens“.225
Dennoch dienen der achttägige Zeitraum zwischen Geburt und Beschneidung, die Zeit bis zur Kreuzigung, die Spanne zwischen Martyrium und Auferstehung, und schließlich die Zeit bis zur Himmelfahrt Christi, die dann im eschatologischen Übertrag auf das Weltgericht verweist, als metaphorische Entwicklungsmarken in der intellektualen Reifung des Menschen. Nikolaus führt diese Unterteilungen ohne nähere Erläuterungen zu ihrer real- oder heilsgeschichtlichen Bedeutung ein. Wichtig ist ihm vor allem die Feststellung, dass die erste Phase der menschlichen Vollendung noch nicht abgeschlossen ist, sondern der Mensch mit seiner Vervollkommnung erst begonnen hat, d.h., bezogen auf die Erkenntnismetaphorik, der
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Sermo XXIII, h 161, n 9, S. 365, Z. 6‒11. Ebd., n 8, S. 365, Z. 10‒16.
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Mensch erst angefangen hat, die Vernunft, den intellectus als höchste Stufe menschenmöglicher Erkenntnis, zu erschließen: Et videmus, quo modo ab initio in simplicitate et infantili aetate comparatione intellectualis perfectionis incepit Christus in hominibus ‚quando piscatores simplices et gentes non in ‚sublimitate‘ scientiae et ‚sermonum‘ Christum receperunt.‘ […] Deinde venit aetas praeputii et oblationis, in qua martyres Christi fuerunt. Et post hoc tempus advenit, ut homines ‚sub paedagogo‘ essent legis christianae et eam observarent. Appropinquat tempus, ut Christus „quasi potestatem habens“ ad spiritualem intellectum clarissime elevet, quasi Christus ‚transiturus sit de hoc mundo ad Patrem‘ per ‚mortificationem carnis ‚in acerbissima passione sensibili, quia ‚sensus spiritui adversatur‘.226
Die christologische Ordnung der aetas intellectualis hat weitreichende Folgen für die cusanische Erkenntnislehre. In jeder Erkenntnisstufe werden die vorund nachgeordneten Erkenntnisstufen nochmals durchschritten, etwa derart, dass beispielsweise auch die intellektuale Erkenntnis noch Abstufungen gemäß sensus, ratio und doctrina hat. In der Schrift De coniecturis, die Nikolaus etwas später, um 1443, fertig stellen sollte, wird dies so erklärt, dass in jeder Erkenntnisstufe alle übrigen Erkenntnisstufen in actu oder in potentia gleichzeitig mit angelegt sind. Wie das zu genau verstehen ist, wird uns noch ausführlich beschäftigen. Aufschlussreich ist aber, dass im Besonderen die Ausführungen zur figura universalis, einem der zentralen Bildsymbole aus der Mutmaßungsschrift, auf das hier anklingende Konzept der verdoppelten Erkenntnishierarchie verweisen – ein guter Anhaltspunkt dafür, dass Nikolaus schon kurz nach Abschluss der Abhandlung Über die belehrte Unwissenheit an den Erweiterungen und Präzisierungen der hierin gefassten Erkenntnisgrundsätze befasst war. Zugleich zeigt sich, dass das Predigtwerk des Kusaners von den großen philosophisch‒theologischen Schriften nicht streng abzugrenzen ist, sondern vielmehr in ersterem die in letzteren – sehr theoretisch – entwickelten Grundüberlegungen zur episteme gewissermaßen zu einer praktischen Anwendung kommen, und zwar eben nicht im Dienste dogmatischer Glaubenserziehung, sondern mit echtem didaktischen Anspruch, der nicht vor komplexen Inhalten und diskursiver Vermittlung zurückschreckt. Die metaphorische Einbindung der Erkenntnisstufung in einen durchaus traditionellen eschatologischen Kontext bringt aber ein Problem mit sich. Wir haben gesehen, dass Nikolaus v i e r Großepochen mit jeweils v i e r Zeitabschnitten zur Gliederung der Weltgeschichte einführt. Aber steht das nicht im Widerspruch zu Joachim von Fiores t r i n i t a r i s c h e r Geschichtsordnung, die im Wesentlichen das von Paulus aus der jüngeren Talmudüberlieferung übernommene Dreistadiengesetz der Weltgeschichte aufgreift? Auch Nikolaus verweist ausdrücklich auf die Apostelbriefe: Si igitur consideras humanitatem omnium hominum ab initio hominum usque ad finem ad instar ut unius hominis, multa videbis abscondita, quae nobis P a u l u s q u a m b r e 227 viter insinuare inititur in epistola praefata. 226 227
Ebd., n 9, S. 365, Z. 12‒29. Sermo XXIII, h 161, n 7, S. 362, Z. 8‒12.
2.7. Astrologie und Apokalyptik
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Man muss Nikolaus wohl so verstehen: Das letzte Weltzeitalter, das im Anbruch begriffen ist, unterscheidet sich von den vorangegangenen grundlegend. Das wird gerade erst durch die von Nikolaus vorgegebene Erkenntnismetaphorik in der christologisch-heilsgeschichtlichen Ordnung des Geschichtsverlaufs deutlich. Mit dem Erreichen der höchsten Form menschlicher Erkenntnis, dem intellectus, ist in formaler Hinsicht ein Endpunkt erreicht. Keineswegs rückt Nikolaus damit von seinem allgemeinen Erkenntnisskeptizismus ab, denn die (Un-)Möglichkeit absoluter Erkenntnisse wird hier gar nicht verhandelt. Beschränkt ist nicht das zu Erkennende, sondern allein die Zahl der menschlichen Erkenntnisweisen. Unter diesen steht der intellectus am höchsten, er ermöglicht die Vereinigung mit dem Göttlichen, wodurch der menschliche Geist, wie Nikolaus es formuliert, zur Ruhe kommt: Et quia per intellectum unitur Deo, t u n c i n e o q u i e s c i t .228 Überträgt man diese Auffassung nun, wie von Nikolaus vorgegeben, analog auf die Ordnung des Geschichtsverlaufs, so ergibt sich, dass das letzte der von Nikolaus veranschlagten Zeitalter nicht, wie beispielsweise bei Joachim von Fiore, als ein gänzlich weltliches Stadium, sondern als ein Übergang zum rein Spirituellen, Un- oder Überzeitlichen gedacht werden muss, im eigentlichen Sinne also schließlich ‚aus der Zeit fällt‘. Die in De docta ignorantia entwickelten Erkenntnisgrundsätze haben, wie wir gesehen haben, bei der Konzeption der Predigt offensichtlich eine sehr wichtige Rolle gespielt. Dass Nikolaus in der Predigt mit der doctrina eine neue Erkenntnisstufe zwischen ratio und intellectus einschiebt, dafür aber das Vermögen der Vorstellungskraft, das in der Abhandlung Über die belehrte Unwissenheit noch Sinnesvermögen und Verstand verband, aus der Erkenntnishierarchie herausgenommen wurde, ist sicher auf die Adaption der joachimischen Eschatologie zurückzuführen und hier nicht wesentlich. Wichtig ist allein, dass hier zwei Hauptmotive der cusanischen Zahlensymbolik, die (theologisch unumgängliche) Dreizahl für das Uni-Trinum, die Vierzahl in der Nachfolge der platonischen Erkenntnishierarchie aus der Politeia, in einem liturgischen Kontext für die eschatologische Prognostik angeführt werden. Natürlich lässt sich die mittelalterliche Homilie nicht auf die Aspekte von Seelsorge und laikaler Glaubensunterweisung reduzieren, sondern ist bis zu einem gewissen Grad auch immer Plattform für formal-theologische Diskurse gewesen, weshalb Predigttexte häufig – Nikolaus’ eigene Überarbeitungen seiner Predigten weisen deutlich darauf hin – auch zur schriftlichen Weiterverbreitung vorgesehen waren. Nichtsdestoweniger ist bemerkenswert, wie viel Nikolaus seinen Hörern an spekulativer Theologie und anspruchsvollen erkenntnisphilosophischen Gehalten zumutet, ganz abgesehen davon, dass wir es mit einem lateinischen Text zu tun haben, was die Frage nach der allgemeinen Verständlichkeit noch verschärft. Hier schimmert wahrscheinlich, wenn auch schwach, sicher auch das spätere Ideal der Laienbildung durch, dem Nikolaus mit den Idiota-Schriften der frühen 1450er Jahre gleich drei große Abhandlungen widmen sollte.
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Ebd., n 8, S. 363f., Z. 7f.
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2. Die frühen Jahre. Komputistik, Kosmologie, Konjektur
2.8. ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK
Ich habe im Vorangegangenen versucht, Nikolaus’ Verhältnis zu mathematisch-naturwissenschaftlichen Fragen bis in die Zeit der ersten Schriften zum Problem der Kreisquadratur in der Mitte der 1440er Jahre zu rekonstruieren. Das Ergebnis ist ganz in Entsprechung zu den vielen offenen biographischen Fragen, die Nikolaus’ frühe Jahre bestimmen, allenfalls skizzenhaft. Weder lässt sich mit Sicherheit sagen, ob sich Nikolaus in seinen Jahren an den Universitäten von Heidelberg, Padua und Köln über das geforderte Mindestmaß hinaus mit den quadrivialen artes beschäftigt hat, noch ist genau feststellbar, welche Quellen ihm bei seinen frühen komputistischen, kosmologischen und mathematischen Versuchen − von letzteren beiden ist ohnehin nur Fragmentarisches überliefert − bekannt waren. Über die Herkunft einzelner philosophisch-theologischer oder naturwissenschaftlich-mathematischer Elemente lässt sich daher auch im Frühwerk des Kusaner allenfalls mutmaßen, nicht zuletzt deshalb, weil Nikolaus beispielsweise in seinen grundsätzlichen Überlegungen zur Astronomie schon vor den erkenntniskritischen Hauptschriften De docta ignorantia und De coniecturis seinen gegen das aristotelisch dominierte Schulwissen gerichteten Skeptizismus entwickelt hatte, wenngleich er in dieser Zeit noch nicht deutlich als ein epistemologisches Grundprinzip auftritt. Die Überzeugung, dass Maß, Zahl und Proportion zentrale Erkenntniskriterien darstellen, ist gleichwohl auch aus den kleineren, frühen Schriften des Kusaners deutlich herauszulesen. Fachmathematisch Relevantes ist aus der Zeit bis 1440 nicht überliefert, und man kann schon jetzt feststellen, dass man in Nikolaus nicht nur keinen ausgebildeten mathematischen Fachmann sehen darf, sondern dass er in seinen frühen Jahren wohl auch nicht in so umfassendem Maße autodidaktische Fortbildung in der Mathematik betrieben hat, wie mitunter angenommen, zumindest gibt der bisherige Quellenstand darauf keinerlei Hinweise. Bis in die Zeit des Basler Konzils hinein ist Nikolaus vor allem juristisch tätig und vermag so auch seine soziale und ökonomische Stellung zu sichern – sicher eine Grundvoraussetzung für sein Schriftwerk. Es sollten dann auch erst die drei Bücher De concordantia catholica und dann vor allem die bereits mehrfach erwähnten Schriften De docta ignorantia und De coniecturis sein, die Nikolaus größere intellektuelle Anerkennung einbringen. Auf die Inhalte der letztgenannten beiden Schriften habe ich mehrfach vorgegriffen und es ist dringend geboten, jetzt näher auf die besonders für die Rekonstruktion von Nikolaus’ mathematischem Denken zentralen Schriften detaillierter einzugehen.
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3. DIE THEOLOGISCH-PHILOSOPHISCHEN GRUNDLAGEN DER CUSANISCHEN MATHEMATIK
3.1. BEGRENZUNG UND ENTGRENZUNG: DE DOCTA IGNORANTIA. AUFBRUCH INS UNENDLICHE Was nutzt die Wahrheit (oder bescheidener: die Sicherheit) der Mathematik, wenn sie in absolut ungesicherte Analogien eingebaut wird? (Herbert Meschkowski)229
3.1.1. Die Leiter der Erkenntnis: sensus, imaginatio, ratio und intellectus Was im Rahmen der Kalenderkorrektur noch ganz am Rande verhandelt wird, erhebt Nikolaus in De docta ignorantia, seiner ersten großen theologischphilosophischen Schrift, die er 1440 kurz nach Rückkehr von der päpstlichen Gesandtschaft nach Konstantinopel zur Vorbereitung des Unionskonzils von Ferrara fertig stellt,230 zum bestimmenden Motiv: Nicht mehr nur die beobachtenden Wissenschaften wie die Astronomie mit bewaffnetem Auge, sondern die menschliche Erkenntnis in ihrer Gesamtheit gilt ihm nun ausdrücklich prinzipiell durch Ungenauigkeit wesenhaft bestimmt. G e m e i n t hat Nikolaus das wahrscheinlich auch schon in De correctione kalendarii und zwar in etwa so, dass die Unzulänglichkeiten der beobachtenden Himmelskunde als ein pars pro toto das Wirken des Inkommensurabilitätsprinzips im Verhältnis von erkennendem Subjekt und zu erkennendem Objekt exemplifiziert. Erst in der Schrift Über die belehrte Unwissenheit aber wird dieser Gedanke auf das Fundament eines umfassenden Erkenntnismodells gestellt. Kern der Konzeption, die deutlich (man denke an das Höhlen-231 und das Liniengleichnis232 aus der Politeia) platonisch beeinflusst ist, ist die vierfach gestufte Hierarchie233 der
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Problemgeschichte der Mathematik 1, Mannheim/Wien/Zürich 1979, S. 182. Siehe auch: S. 24, Anm. 12. Politeia 506b–521b. Politeia 509d–511e. Dass die vier Erkenntnisvermögen in gestufter Reihenfolge im menschlichen Geist angelegt sind, wird nirgends zusammenhängend ausgesagt, ergibt sich aber aus verschiedenen Stellen innerhalb des ersten Buches. Siehe hierzu vor allem: Doct. ign., h 1, lib. 1, cap. 14–18, S. 27– 37.
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3. Die philosophisch-theologischen Grundlagen
menschlichen Erkenntnisvermögen sensus (sinnliche Erfahrung), imaginatio (Vorstellungsvermögen), ratio (Verstand) und intellectus (Vernunft).234 Bei der ausführlichen Behandlung dieser Viererordnung räumt Nikolaus in De docta ignorantia dem Vorstellungsvermögen mit Abstand den geringsten Raum ein. Als epistemologisches Brückenglied zwischen sinnlicher Erfahrung und rationaler Erkenntnis kann die imaginatio hier deshalb weitgehend zurückgestellt werden. Der Einschub ist wohl mehr ein formales Zugeständnis an die platonische Erkenntnislehre mit ihrer besonderen Auszeichnung der Vierzahl-Stufung der als ein wirklich essentieller Bestandteil der cusanischen Konzeption. Zugleich mögen hier auch die Lullschen Schriften eine Rolle gespielt haben, in denen gerade in Hinblick auf das mathematische Denken Beweisformen cum imaginatione eine Rolle spielen.235 Die tragenden Pfeiler der cusanischen Erkenntniskonstruktion aber sind die geistigen Bereiche von sensus, ratio und intellectus. In dieser Trias nimmt die Verstandeskraft (ratio) in jeder Hinsicht eine Mittlerposition ein. Gegenüber dem unschärferen Sinneseindruck, dem im besten Falle ein analytisches Vermögen in Hinblick auf das Wiedererkennen eigen ist, verbindet Nikolaus die ratio mit der Verortung des mathematischen Denkens. In seiner Dissertation von 1984 schreibt Fritz Nagel, die cusanische Konzeption des Mathematischen folge weder dem aristotelischen Realismus noch der platonischen Lehre, die die konkreten mathemata auf außerhalb des Menschen existierende, vollkommene mathematische Formen zurückführt und den Ursprung des Mathematischen damit im Bereich der Ideenwelt ansiedelt.236 Gegen Nagels Verortung ‚ex negativo’ ist insgesamt zwar nichts einzuwenden. Vielleicht wird man Nikolaus’ Grundauffassungen der mathematischen Objekte in den frühen Schriften aber eher gerecht, wenn man den ganzen Gedanken positiv umformuliert: In seinem Verständnis der Mathematik folgt Nikolaus ein Stück weit s o w o h l Aristoteles als auch Platon, wenngleich sich gerade für die frühen Schriften nicht sicher sagen lässt, inwieweit Nikolaus mit dem originalen Platon und insbesondere dessen Grundverständnis von Mathematik und Zahl im Allgemeinen, seinem Entwurf der Idealzahlen237 im Besonderen vertraut war. 234
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In einigen deutschen Übersetzungen der cusanischen Schriften wird, wohl in Anlehnung an die Kantsche Terminologie, ratio mit ‚Vernunft‘ und intellectus mit ‚Verstand‘ wiedergegeben. So in der Abhandlung De quadratura et triangulatura circuli, von der Nikolaus eine eigene Abschrift besaß. Die Schrift ist vollständig ediert in: Joseph Ehrenfried Hofmann: Die Quellen der Cusanischen Mathematik I. Ramon Lulls Kreisquadratur (= CT 7), Heidelberg 1942, S. 21–37 = Cod. Cus. 83, fol. 173v–177v. In Hinblick auf die Bedeutung der imaginatio innerhalb mathematischer Fragestellungen ist vor allem die einleitende Passage aufschlussreich: ed. Hofmann, S. 22 = Cod. Cus. 83, fol. 173v. Nikolaus Stuloff: Die Herkunft der Elemente der Mathematik bei Nikolaus von Kues im Lichte der neuzeitlichen Wissenschaft, in: MFCG 6, Rudolf Haubst (Hg.), Mainz 1968, S. 55–64, hier: S. 56 unter Bezug auf das 6. Buch der platonischen Politeia. Platon führt die ‚Idealzahl‘ im Politikos (285aff.) und dem Philebos (16 d e) als Mittel einer qualitativen – darin unterscheidet sie sich von rein quantitativ bestimmten mathematischen Zahlen – Unterscheidung der Arten und Ideen ein. Erst in der Epinomis (990cff.), der Alters-
3.1. Begrenzung und Entgrenzung: ‚De docta ignorantia‘
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So hat Hofmann vermutet, dass der Platonismus des Kusaners aus kongenialer Erfassung der Gedankenwelt des großen Vorbildes, jedoch ohne allzu genaue Kenntnis der Einzelheiten hervorgegangen sei.238 Sicher ist die mystisch-
238
vorlesung Über das Gute, wird diese Vorstellung auch auf die natürliche Zahlenreihe übertragen. Die Zahlen gehen dabei jenseits ihrer quantitativen Bestimmung grundsätzlich auf das Wirken von Einheit (ένάς, µονάς) und unbestimmter Zweiheit (άόριστος δυάς) zurück. Darauf geht auch Aristoteles in seiner Metaphysik ausführlich ein (M, 6, 1092bff.). Hierzu ausführlich: Hirschberger: Geschichte der Philosophie 1, S. 111ff. Hofmann: Nikolaus von Kues, S. 269. Interessant sind in diesem Zusammenhang zwei Abschriften der Politeia, eine in der Kueser Hospitalsbibliothek (Cod. Cus. 178, fol. 12r–205r), die andere in der Bibliothek des Priesterseminars Bressanone/Brixen, Cod. Brixinensis A 14, 174Bl). Beide Handschriften befanden sich ursprünglich im Besitz des Kusaners. Die Kueser Fassung hat Nikolaus eigenhändig glossiert und diese Bemerkungen wohl später teilweise auch in die Brixener Fassung übertragen lassen. Die Kueser Glossierungen und die Brixener Varianten wurden ediert in: Giovanni Santinello: Glosse di mano del Cusano alla Repubblica di Platone, in: Rinascimento 20 (1969), S. 117–145, darin: S. 137–145 [im Folgenden zitiert als: ed. Santinello]. Als bedeutsam hat Nikolaus bei der Bearbeitung der Kueser Handschrift offensichtlich die folgende Passage aus dem achten Buch (nach moderner Zählung) empfunden, in der Platon im Anschluss an das Höhlengleichnis die Bedeutung der Arithmetik in der philosophischen Ausbildung unterstreicht. In beiden handschriftlichen Fassungen liest sie sich wie folgt (Cod. Cus., fol. 143v, lib. 7, cap. 5, [= cap. 8, 525 b–c] = ed. Santinello, S. 143, n 36. [die geklammerten Angaben verweisen auf die entsprechende Referenzstelle moderner Ausgaben, bezogen auf die Zählung der Bücher und Abschnitte]): [Socrates ad Glaukon (Anm. d. Autors):] Conveniens igitur [...] erit disciplinam istam lege stabilire illisque persuadere, quos maximis in urbe participare opus est, ad computatoriam se transferre; neque ruditer illam pertractare, sed quousque a d n a t u r e n o t i o n e m p e r n u m e r o r u m i n t e l l e c t u m applicuerit, non emptionis gratia aut venditionis ut mercatores. Gemeint hat Platon nun in Wahrheit aber keineswegs, dass die Zahl vorrangig den Weg zur Erkenntnis des Natürlichen weist, also gewissermaßen als Hilfsmittel der Naturerkenntnis anzusehen ist. Es geht ihm, wie die griechischen Überlieferungen des Textes eindeutig zeigen, vielmehr darum, die Vernunft zur Bestimmung der inhärenten ‚Natur der Zahlen‘, also ihrer ontologischen Bestimmung, heranzuziehen. Das ist Nikolaus entgangen, denn er notiert in der Kueser Abschrift dazu (Cod. Cus., fol. 143v. [Marginalglosse auf der rechten Seite des Blattes]): Nota per numerorum intellectum ad n a t u r [ a ] e n o t i o n e m p e r v e n i r e . Die Kueser und Brixener Version der Politeia gehen auf die lateinischen Übersetzungen des Humanisten Pier Candido Decembrio (1392–1497) zurück, für einige Zeit Sekretär des Mailänder Herzogs Filippo Maria Visconti (1392–1447). Die Nikolaus mit dieser Übersetzung zu Gebote stehende Fassung ist, wie hier, an mitunter entscheidenden Stellen fehlerhaft oder ungenau. Die genannte Glossierung im Kueser Codex dürfte in einer vergleichsweise frühen Schaffensperiode entstanden sein, frühestens aber wohl in zeitlicher Nähe zur Schrift De coniecturis (zwischen 1450 und 1453), denn im autographen Appendix zur Kueser (und Brixener) Platon-Handschrift taucht im Rahmen der analogischen Betrachtung von Lichtund Erkenntnismetaphysik – die Stelle wird noch im Zusammenhang mit der figura paradigmatica diskutiert werden – der Begriff der coniectura, wenn auch in leicht abgewandelter Form, auf (Cod. Cus. 178, fol. 207v = Cod. Brix. 174v ). In die mit Sicherheit später erworbene Brixener Handschrift der Politeia ist die Glossierung zum platonischen Zahlenverständnis dann nicht mehr übertragen worden. Sehr wahrscheinlich hatte Nikolaus die Fehlerhaftigkeit seiner Vorlage in der Zwischenzeit erkannt. Die verfälschende Lesart des gerade für die dort verhandelten Grundsatzfragen so bedeutsamen Abschnitts aus der platonischen Frühschrift mag aber Nikolaus’ Platon-Verständnis lange beeinflusst haben.
86
3. Die philosophisch-theologischen Grundlagen
neuplatonische Tradition über (Pseudo-)Dionysios (auch: Dionysios Areopagita) (um 500), Meister Eckhard (um 1260–1328?), Eriugena oder Lull für Nikolaus von größerer Bedeutung gewesen als der reine Platonismus, fraglos aber auch wichtiger als der Schularistotelismus. Aber die Nähe der cusanischen Einheitsmetaphysik zum Neuplatonismus darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich ein strenges Polaritätsdenken bezüglich aristotelisch-rationaler Philosophie und platonisch-idealistischer Metaphysik bei Nikolaus gar nicht ausmachen lässt. Er ist zumindest in dieser Hinsicht ein Denker der Konkordanz, er entwickelt seine Ansätze nicht kategorisch auf der Grundlage der Schulgegensätze seiner Zeit, sondern in einem fruchtbaren Synkretismus. In seinem Verständnis von Logik ist von einer strengen Trennung platonischer Dialektik und aristotelischer Syllogistik in Wahrheit deshalb wenig zu spüren. Nikolaus ist trotz seiner Vorbehalte gegen die scholastische Methode kein Anti-Aristoteliker. Die aristotelischen Syllogismen und das sie begründende Widerspruchsprinzip haben im Gegenteil ihren festen Platz innerhalb seiner Erkenntnislehre. Nikolaus schränkt lediglich den Geltungsbereich aristotelischer Positionen gegenüber ihrer Dominanz innerhalb des normalscholastischen Kanons radikal ein. Er schreibt, nicht zuletzt bedingt durch seine mannigfaltigen Berührungspunkte mit dem italienischen Humanismus, als ein guter Kenner wenigstens der lateinischen Aristoteles-Übersetzungen, vielleicht sogar einiger griechischer Originalfassungen, dem der himmelweite Unterschied zwischen den Beweisschemata des ‚reinen‘ Aristoteles und der formalistischen und logischen Pedanterie des akademischen Disputs der Spätscholastik stets vor Augen gestanden haben muss. Für seine Konzeption von Logik und Mathematik ist der Aristotelismus aber letztlich genauso konstitutiv wie der Platonismus. Dass Nikolaus sich in den späteren Schriften und in Fortentwicklung seines mathematischen Denkens von den beiden großen schulbildenden Geistesströmungen seiner Zeit distanziert, heißt keineswegs, dass seine Vorstellungen vom Wesen mathematischer Zeichen und Schlussweisen nicht immer auch die geistesgeschichtliche Synthese suchen. Ohne das Vokabular der platonischen Ideen- und Formenlehre und des aristotelischen Akt- und Potenz-Denkens ist Nikolaus’ mathematischer Symbolismus nicht verständlich. In der hierarchischen Gliederung der menschlichen Geistesvermögen hat das mathematische Denken also einen wohl definierten Platz. Es ist in der ratio verortet, in jener Erkenntnissphäre, die vor allem durch die Geltung des aristotelischen Widerspruchsprinzips, des logischen ‚tertium non datur‘, gekennzeichnet ist. Die ratio erkennt damit nur solche verstandesmäßigen Schlüsse an, die sich widerspruchsfrei vollziehen lassen. Sie ist aber zugleich mehr als eine logische Bewertungsinstanz, sie ist vielmehr letztlich selbst auch die Grundvoraussetzung ihrer Betrachtungsgegenstände, der mathematischen Zeichen und Formen. Zahlen und geometrische Figuren sind demnach weder Abstraktionen der Objekte in der Außenwelt, noch entspringen sie einer übergeordneten Seinsebene. Vielmehr bringt sie der menschliche Geist selbsttätig aus dem steten Vergleichen gemäß rationaler Verstandesschlüsse hervor. Deshalb spricht Nikolaus in De docta ignorantia auch von der Zahl [...] qui
3.1. Begrenzung und Entgrenzung: ‚De docta ignorantia‘
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ens rationis est fabricatum per nostram c o m p a r a t i v a m d i s c r e t i o n e m [...].239 Wie ein deus secundus ist der Mensch also schöpferisch tätig, wenngleich es dazu äußerer Voraussetzungen bedarf:240 Die creatio ex nihilo bleibt in jeder Hinsicht der göttlichen Wirkenssphäre vorbehalten. Das Hervorbringen der mathematischen Formen und Gesetze benötigt einen Anstoß: Ein dem menschlichen Geiste beigegebener semen divinus,241 wie Nikolaus später im Idiota de mente schreiben wird, erhebt den Menschen zum lebendigen und geistigen Abbild Gottes (viva et intellectualis Dei imago)242 und ermöglicht ihm durch sein eigenes schöpferisches Wirken die Annäherung an die unumschränkte Schöpfermacht Gottes. Die comparatio endlicher Dinge, wie sie das logisch-mathematische Denken bei Nikolaus kennzeichnet, ist in De docta ignorantia deshalb auch immer von einer superlatio abhängig, einem übergreifenden Absoluten als intuiertem tertium comparationis. Jede Subjekt-Prädikat-Aussage und überhaupt jedes Urteil setzt zum Vergleich von concretum und abstractum dieses Absolute voraus. Für die Erkenntnis der natürlichen Welt und ihrer göttlichen Disposition aber reicht die ratio nicht aus. Der rationalen Verstandeskraft stellt Nikolaus deshalb die sensitive Erfahrung als epistemologisches Bindeglied zwischen Mensch und Natur auf der einen, die intellektuale Schau als epistemologisches Bindeglied zwischen Mensch und Schöpfergott gegenüber.243 Die Bewegung des Geistes vom sensus über den Zwischenschritt der imaginatio in die ratio und von dort bis in die höchste Sphäre menschlicher Erkenntnis, den intellectus, kommt dabei einem Aufstieg in Ablösung von der Stofflichkeit gleich. Ohne das analytische und synthetische Vermögen der ratio ist die sensitive Erkenntnis nichts weiter als ziellose Wahrnehmung, die Vorstellungskraft nicht mehr als ungerichtete Abstraktion. Weder sinnliche Erfahrung noch Vorstellungskraft sind für sich genommen zu Unterscheidung und Verknüpfung fähig. Hierzu bedarf es der Prinzipien der ratio, allen voran jenes vom ausgeschlossenen (endlichen) Dritten, dem Widerspruchsprinzip. Aber auch die ratio ist, trotz ihrer schöpferischen Autonomie, letztlich nur in ihrer Hinordnung auf höhere Denk- und Seinsbereiche erkenntnisstiftend. Höchste Wahrheit liegt im intellectus, dem vernunftgemäßen und allen anderen Geistesvermögen übergeordneten ‚IneinsSchauen‘: In der intellektualen Geistessphäre kommt das unterscheidend urteilende Denken an seine Grenzen. Auch hier hat das Widerspruchsprinzip keine Geltung mehr, allerdings auf eine gänzlich andere Weise als im Bereich von sensus 239 240
241
242 243
Doct. ign., h 1, lib. 1, cap. 5, S. 13, Z. 6–7. Die Formulierung vom zweiten Gott findet sich so (unter Verweis auf den Hermes Trismegistos) allerdings erst in der Spätschrift De beryllo: De beryllo, h 111, cap. 6, S. 7, Z. 6–7. Idiota de mente, Renate Steiger (Hg.), h 5 [ebenfalls in diesem Band: Idiota de sapientia u. Idiota de staticis experimentis (hier: Ludwig Baur (Hg.))], Hamburg 1983 [im Folgenden zit. als: De mente, h 5], cap. 5, n 81, S. 123, Z. 6. De mente, h 5, cap. 7, n 106, S. 159, Z. 9f. Siehe hierzu vor allem das 4. Kapitel des ersten Buches Über die belehrte Unwissenheit: Doct. ign, h 1, lib. 1, cap. 4 (= Maximum absolutum incomprehensibiliter intelligitur; cum quo minimum coincidit), S. 10–11.
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3. Die philosophisch-theologischen Grundlagen
und imaginatio. Denn es mangelt dem Intellekt keineswegs an der F ä h i g k e i t , Widersprüche zu erkennen. Hierzu muss er sich nur die besonderen Schlussprinzipien der ihr nachgeordneten ratio vergegenwärtigen. Die Vernunft ist aber in der Lage, im Überstieg alle Widersprüche, ja sogar das Denken des Widerspruchs an sich, selbsttätig aufzulösen. Der intellectus ist wesenhaft bestimmt durch das Wirken einer neuen Erkenntnismaxime, der coincidentia oppositorum. In diesem ‚Zusammenfall aller Gegensätze‘ liegt für Nikolaus das höchste Ziel menschlicher Erkenntnis, und die Schrift Über die belehrte Unwissenheit will den Leitfaden hierzu liefern. Dabei darf aber nie vergessen werden: Gott, das maximum absolutum, bleibt dem menschlichen Geist immer notwendig entzogen, letztgültige Einsichten bleiben ihm verwehrt. Das Attribut des Absoluten im cusanischen Gottesbegriff der Schrift Über die belehrte Unwissenheit liegt in dieser Unerreichbarkeit des unumschränkt Größten begründet. Die besondere Auszeichnung der ratio als ureigenstes menschliches Vermögen ist eine der wichtigsten Wegmarken in der gesamten cusanischen Erkenntnislehre. Durch sie wird die Mathematik vom Bereich des Natürlichen vollständig in den Bereich des Kreatürlichen überführt. Dupré hat das sehr treffend formuliert: Deutlicher als vieles andere zeigen gerade die philosophisch ausgedeuteten, mathematischen Überlegungen [des Kusaners (Anm. d. Autors)], dass der Sinn des Denkens nichts anderes ist, als die Deutung der Wirklichkeit in ihm selbst.244
Nikolaus lehnt damit die pythagoreische Auffassung von einer Identität zwischen mathematischer Ordnung und Naturordnung ausdrücklich ab,245 distanziert sich aber zugleich auch von der platonischen Rückführung der konkreten mathemata auf außerhalb des Menschen existierende, vollkommene mathematische Formen, also die Annahme einer ‚Ur-Mathematik‘ im Bereich der Ideenwelt.246 Die prinzipielle Geschiedenheit von Geist und Welt ist, ganz analog zur Unterscheidung von Gott und Mensch, sehr eng mit dem Problemfeld des Unendlichen verknüpft. Um das zu erkennen, muss man sich nur die bestimmenden Elemente des mathematischen Denkens gemäß der cusanischen Erkenntnishierarchie vor Augen führen: Der Bereich rationaler Erkenntnis wird durch die Gültigkeit des die aristotelische Syllogistik begründenden Widerspruchsprinzips gekennzeichnet.247 Die ratio erkennt also nur solche verstandesmäßigen Schlüsse an, die sich widerspruchsfrei vollziehen lassen. Dort, wo Widerspruchsfreiheit gelten soll, wird die prinzipielle Unterscheidbarkeit der Betrachtungsgegenstände gemäß den Urteilen ‚wahr oder falsch‘, ‚größer oder kleiner‘, ‚mehr oder weniger‘ zwingend vorausgesetzt. Die Betrachtungsobjekte des mathematischen Denkens sind damit unbedingt endlich, 244
245 246 247
Wilhelm Dupré: Die Idee einer neuen Logik bei Nikolaus von Kues, in: MFCG 4 (= Die wissenschaftlichen Referate des Cusanus-Jubiläums in Bernkastel-Kues vom 8. bis 12. August 1964), Rudolf Haubst (Hg.), Mainz 1964, S. 357–374, hier: S. 373. Nagel, S. 59. Stuloff, S. 56. Hierzu vor allem: Doct. ign., h 1, lib. 1, cap. 1, S. 5–6.
3.1. Begrenzung und Entgrenzung: ‚De docta ignorantia‘
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denn insofern das Hervorbringen der mathemata im menschlichen Geist einer Selbstverähnelung mit der notwendig endlich bestimmten ratio gleichkommt, sind ihr die ‚Objekte’ des Unendlichen entzogen: [...] Ex se manifestum e s t i n f i n i t i a d f i n i t u m p r o p o r t i o n e m n o n e s s e , est et ex hoc clarissimum, quod, ubi est reperire excedens et excessum, non deveniri ad maximum simpliciter, cum excedentia et excessa finita sint.248
Nikolaus denkt hier beim maximum simpliciter wohl an ein vollständig aktuiertes, noch nicht aber explizit an ein ‚Absolut-Unendliches‘. Von unendlichen Betrachtungsgegenständen, gleichwohl, ob sie als verweltlicht (etwa im Sinne einer räumlichen oder zeitlichen Unendlichkeit) oder vergöttlicht (als die Unendlichkeit an sich) vorgestellt werden, muss sich der menschliche Geist aber in jedem Falle grundsätzlich unterscheiden. Zwischen dem menschlichen Geist auf der einen, Gott und Welt auf der anderen Seite hat Nikolaus also eine ‚epistemologische Grenze’ gezogen: Nur zu den von ihm selbst hervorgebrachten, endlichen mathematischen Zeichen und Formen verhält sich der menschliche Geist ‚maßgleich‘. Das Unendliche aber ist ihm inkommensurabel, weil zwischen Endlichem und Unendlichem kein Verhältnis besteht. Diese Aussage verweist zunächst deutlich auf die früheren Ausführungen zum Inkommensurabilitätssatz in der Correctio kalendarii.249 In De docta ignorantia aber ist die Frage nach der Kommensurabilität von Geist und Erkenntnisgegenständen sehr viel weiter gefasst. Die Einsicht, dass das endliche unterscheidende Denken eine verita praecisa nie erreichen kann, wird Nikolaus deshalb auch später als r e g u l a doctae ignorantiae bezeichnen.250 Die regula stellt dabei ein allgemein-logisches Prinzip der cusanischen Philosophie dar und wird im Rahmen des Quadraturproblems schließlich, wie wir noch sehen werden, geradezu axiomatisch verwandt. 251 Wichtig bleibt: Im Versuch der Annäherung an das doch ewig Unerreichbare wird der menschliche Geist auf sich selbst zurückgeworfen und erfährt in sich selbst die eigene Mangelhaftigkeit im Gegensatz zur Allmacht Gottes. Keine Sprache vermag das für Nikolaus so gut zu vermitteln, wie die der Mathematik. Denn einerseits verweist sie, als ureigenste Schöpfung der ratio, auf die innere Schöpferkraft des Menschen. Andererseits bildet sie die sicherste Brücke zur Intuition der göttlichen Immanenz beim Überstieg des Denkens in die Sphäre des intellectus, nämlich dann, wenn die mathematischen Schlussweisen an ihre Grenzen geführt werden, sich dem Unendlichen zuwenden: Die Grenze mathematischer Schlusskraft liegt in der Grenzenlosigkeit. Mathematik kann für Nikolaus deshalb auch nie zu einem geschlossenen Lehrgebäude vervollständigt werden, sondern ist vielmehr eine sich stetig entwickelnde Wissenschaft, und dieser Ent248 249 250
251
Doct. ign., h 1, lib.1, cap. 3, S. 8, Z. 20–21 bis S. 9, Z. 1. Siehe: S. 43. Ven. Sap., h 12, cap. 26, n 79, S. 76, Z. 1–3: Haec est ratio r e g u l a e d o c t a e i g n o r a n t i a e , quod in recipientibus magis et minus numquam devenitur ad maximum simpliciter vel minimum simpliciter, licet bene ad actu maximum et minimum. Nagel, S. 67.
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3. Die philosophisch-theologischen Grundlagen
wicklung sind, wie dem menschlichen Geist überhaupt, prinzipiell keine Grenzen gesetzt, zumindest dann nicht, wenn sich das Denken allein auf endliche Erkenntnisgegenstände richtet. Die Mathematik ist also prototypisch für das potentiell Unendliche und als solches in ‚Verähnelung‘ mit der absoluten Unendlichkeit des Schöpfers. Das ist der zweifache Grund für die Wirkfähigkeit der mathematischen Symbolsprache: [...] cum ad divina non nisi per symbola accedendi nobis via pateat, quod tunc mathematicalibus signis propter ipsorum incorruptibilem certitudinem convenientius uti poterimus.252
Die besondere Eignung der mathematischen Zeichen zur Erkenntnis von Höherem liegt dabei nicht in den Grundsätzen einer bestimmten philosophischen Schulrichtung begründet, denn [...] nemo antiquorum, qui magnus habitus est, res difficiles alia similitudine quam mathematica aggressus est [...].253 Ausdrücklich beruft sich Nikolaus auf Peripatetiker und Pythagoreer, auf Platon und Aristoteles, auf Augustinus (354–430) und Boëthius (480–524).254 Das Ziel dieser Gegenüberstellung ist zugleich programmatisch für die ganze Schrift Über die belehrte Unwissenheit: Richtig eingesetzt vermag die Symboltheologie in Verbindung mit dem Koinzidenzprinzip die unterschiedlichsten Denkrichtungen miteinander gleichsam, gewissermaßen in einer geistesgeschichtlichen coincidentia oppositorum, zu vermitteln. So liegt für Nikolaus in der Mathematik auch die Möglichkeit für den Brückenschlag zwischen paganen und christlichen Quellen – zu letzteren zählte Nikolaus neben den Augustinischen Schriften natürlich auch die des („nominell“ christlichen) Boëthius – begründet. Auch hierin zeigt sich, welch hohen Stellenwert Nikolaus dem Mathematischen beimisst: Wenn die Gewissheit der mathematischen Zeichen und Formen nicht an ein Glaubensbekenntnis gebunden werden kann, zugleich die Mathematik aber den einzigen Zugang zu den höchsten Erkenntnisbereichen ermöglicht, dann wird die scharfe Trennung zwischen den vorchristlichen Denkern und ihren christlichen Nachfolgern zumindest verwischt, und das ist dann auch eine nur logische Konsequenz aus Nikolaus erkenntnisskeptizistischer Grundhaltung: Zwar bleibt für Nikolaus die christliche Offenbarungslehre selbstverständlich die einzig zulässige Basis theologischer Spekulation. Das aber schließt für ihn keineswegs aus, dass auch die antike Philosophie unter falschen Vorzeichen zu richtigen Schlüssen über Sein und Erkenntnis gelangen konnte. Das Risiko, sich dabei durch den Verweis auf die antiqui magni dem durchaus nahe liegenden Vorwurf eines egalitären, mathematisch begründeten Pantheismus verdächtig zu machen, war Nikolaus sehr bewusst. Im Bezug auf die Trinitätsfrage macht er deshalb noch einmal deutlich, dass die Mathematik zwar als das wertvollste Werkzeug menschlichen Erkenntnisstrebens anzusehen ist, keineswegs aber letztgültiges Wissen zu vermitteln vermag. Nicht Gott, nur der Mensch bedarf des Zählens. So 252 253 254
Doct. ign., h 1, lib. 1, cap. 11, S. 24, Z. 7–9. Ebd., cap. 11, S. 23, 3–4. Ebd., Z. 4–7 und 9–21.
3.1. Begrenzung und Entgrenzung: ‚De docta ignorantia‘
91
ist auch das tatsächliche Wesen der Dreifaltigkeit nicht durch die Mathematik fassbar: Dum incipis numerare trinitatem, exis veritatem.255 Später, in seiner Apologie der belehrten Unwissenheit taucht dieser Grundsatz unter Verweis auf Augustinus noch einmal auf: Ex quo in divinis non est numerus, ubi trinitas est unitas – ubi, ut Augustinus ait, si incipis numerare, incipis errare – t u n c p r o p r i e n o n e s t d i f f e r e n t i a i n d i v i n i s .256 Dieser letzte Leitgedanke, dass im Göttlichen selbst nichts Unterscheidbares mehr auszumachen sein kann, findet sich häufig in der theologischen Literatur des Mittelalters, unter anderem bei dem von Nikolaus hoch verehrten257 Thierry von Chartres in dessen Kommentar zu Boëthius’ De trinitate.258 In der göttlichen Trinität hat das mathematische Unterscheiden keine Gültigkeit mehr. Die Dreiursächlichkeit Gottes beantwortet Nikolaus ganz im Sinne des Albertus Magnus: Tres causae coincidunt in unam.259 Nikolaus setzt in De docta ignorantia das Gottesbild vom principium omnium quia centrum, finis omnium quia circumferentia, medium omnium quia diameter.260 In dieser Verbildlichung werden über die Kreissymbolik die göttlichen Attribute von causa formalis, causa efficiens (die connexio) und causa finalis zusammengefasst. Dem Kreismittelpunkt entspricht dabei die Wirkursache (causa efficiens), durch die der Schöpfergott alles Sein verleiht und darin das Prinzip von allem ist. Der Durchmesser des Kreises beschreibt demgegenüber die göttliche Formalursache (causa formalis), durch die der Weltenherrscher (gubernator mundi) die Gesamtheit Schöpfung durchdringt.261 Zuletzt symbolisiert der 255
256
257
258
259
260 261
Ebd., cap. 19, S. 38, Z. 21–22. Parallelstellen bei Augustinus sind: Augustinus: De trinitate, W.J. Mountain u. F. Glorie (Hg.), in 2 Bänden, Turnhout 1968 (=CCSL 50 (Bd. 50 = lib. 1– 12, Bd. 50a = lib. 13–15)), hier: Bd. 1, lib. 6, n 7, S. 237f. insbesondere: Z. 8–18, lib. 6, n 10, S. 241f. insbesondere: Z. 12–23, lib. 8, n 1, S. 268f., insbesondere: Z. 1– 22. Vgl. auch: Apol. doct. ign., h 1, S. 24, Anm. ad 7f. Apol. doct. ign., h 1, S. 24, Z. 7–9. Siehe auch die ähnlichen Ausführungen in: Sermo XXII, h 161, n 16–22, S. 341–346 (der Abschnitt ist übertitelt: De creaturis ad Deum ut ‚Unitatem, Aequalitatem et Conexionem‘ absolutam via ascensus ostenditur et Trinitas in Deo per haec ‚nomina mathematica‘ declaratur). In der Apologia doctae ignorantiae schreibt Nikolaus über den Verfasser des berühmten Boëthius-Kommentars (Apol. doct. ign. h 1, S. 24, Z. 6–7): Vir facile omnium, quos legerim, ingenio c l a r i s s i m u s . Ich beziehe mich auf die Ausgabe: Thierry von Chartres: Commentum super Boethii librum de trinitate, ediert in: Nikolaus M. Häring (Hg.): Commentaries on Boethius by Thierry of Chartres, Toronto 1971 (= Studies and Texts 20), S. 55–116 (Version nach den Handschriften Oxford, Bodleian Library, Lyell 49, fol. 81r–99v; München, Staatsbibliothek clm. 2580, fol. 1r–66v; Erlangen, Universitätsbibliothek 182, fol. 66r–103v; Tours, Bibliothèque munic. 300, fol. 67r–70v), hier vor allem: cap. 3, S. 89–94. Vgl. Albertus Magnus: De causis et processu universitatis a prima causa, Winfried Fauser (Hg.), Aschendorff 1993 (= Alberti Magni Opera omnia 172 [Nr. 20 der laufenden Bandzählung]), lib 1, tract. 1, cap. 8 [= Causa formalis, efficiens et finalis], S. 16: Oportet igitur, quod in genere efficientis aliquid sit eficiens tantum, quod est primum; aliquid effecum tantum, quod est ultimum; aliquid efficiens et effectum, quod est medium. Ausführlich hierzu: Rudolf Haubst: Das Bild des Einen und Dreieinen Gottes bei Nikolaus von Kues, Trier 1952, S. 88. Doct. ign., h 1, lib 1, cap. 21, S. 43, Z. 13f. Doct. ign., h 1, lib. 1, cap. 21, S. 43, Z. 12.
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3. Die philosophisch-theologischen Grundlagen
Kreisumfang die causa finalis.262 Der Erlösergott schließt als Finalursache alles Sein außerhalb des Seins ein und erhält es im Ganzen, so wie der Kreisumfang die Kreisfläche umschließt.263 Dabei darf der Geist aber nicht stehen bleiben. Er muss schließlich, mittels eines Überstiegs in den intellectus, die drei göttlichen Wirkprinzipien koinzidierend denken. Der zunächst noch quantitativ bestimmte Kreis muss als unendlich vergrößert vorgestellt werden, um ein wahreres Verständnis des Göttlichen zu erreichen. Im Unendlichen, so glaubt Nikolaus, sind Mittelpunkt, Umkreis und Radius eines Kreises nicht mehr als getrennt vorstellbar. Er vollzieht zum Beweis eine Betrachtung der sogenannten Kontingenzwinkel, also den gekrümmten Winkeln zwischen der Kreisperipherie und einer anliegenden Tangente.264 Er will zeigen, dass sich mit wachsendem Radius des betrachteten Kreises der Kontingenzwinkel stetig ausstreckt, sich also einem geraden Winkel beständig annähert. Beim Übergang zum Unendlichen schließlich soll der Kreisbogen vollständig ausgestreckt und der zugehörige Kontingenzwinkel auf 0 zusammengeschrumpft sein:265 Si igitur curva linea in sua curvitate recipit minus, quanto circumferentia fuerit maioris circuli, igitur circumferentia maximi circuli [...] est minime curva; q u a r e m a x i m e r e c t a . 266
Damit fallen für Nikolaus im Unendlichen Gerade und Kreis vollständig zusammen. Der bezüglich seines Umfangs größte Kreis ist dabei zugleich der am geringsten gekrümmte.267 Dieser Gedankengang ist in der neueren Forschung zu einer stelle für die Bestimmung des cusanischen griffs geworden und war nicht selten Anlass dafür, in Nikolaus einen Vorläufer infinitesimalmathematischer Ansätze zu erkennen. Schon deshalb lohnt es sich, etwas genauer hinzusehen. Abbildung zur coincidentia oppositorum im Kontingenzwinkel: Doct. ign., h1, cap. 13, S. 26
262 263 264
265
266 267
Ebd., Z. 15–16. Ebd., Z. 11: [...] extra omne esse omnia ambiens [...]. Doct. ign., h 1, lib. 1, cap. 13, S. 26, Z. 3–20. Nach der Auffassung Joseph Hofmanns hat Nikolaus seine Kenntnisse dieser Materie aus der Geometria speculativa Thomas Bradwardines bezogen, wo sie recht breiten Raum einnimmt: Hofmann: Mutmaßungen, S. 117–119. Die nebenstehende Darstellung will beispielhaft veranschaulichen, wie mit wachsendem Radius die Krümmung der Kreisausschnitte abnimmt, bis die Peripherie ganz ausgestreckt ist: Nec hic potest remanere scrupulus dubii, quando in figura hic lateraliter videtur, quomodo arcus ·cd· maioris circuli plus recedit a curvitate quam arcus ·ef· minoris circuli, et ille plus a curvitate recedit quam arcus ·gh· adhuc minoris circuli; quare linea recta ·ab· erit arcus maximi circuli [...]. (Doct. ign., h 1, lib. 1, cap. 13, S. 26, Z. 11–16). Doct. ign., h 1, lib. 1, cap. 13, S. 26, Z. 5–9. Ebd., S. 26, Z. 9–10: Coincidit igitur cum maximo minimum [...] quod maxima linea sit recta maxime et minime curva.
3.1. Begrenzung und Entgrenzung: ‚De docta ignorantia‘
93
3.1.2. Circulus infinitus. Mittelalterliche Approximationsmathematik? Nikolaus’ Überlegungen zum Wesen der Kontingenzwinkel können nur unter bestimmten Voraussetzungen Gültigkeit haben. Es ist zunächst natürlich nichts dagegen einzuwenden, beliebige Geraden als Kurven mit dem Krümmkreisradius268 ρ = ∞ zu d e f i n i e r e n . Die Krümmung k der entsprechenden Raumkurve als der reziproke Wert von ρ ist dann
k=
1 ∞
=0,
der Kreisbogen vollständig
ausgestreckt. Problematisch aber ist Nikolaus’ Vorgabe, Kreis und Gerade in einen durchgängigen funktionalen Zusammenhang zu setzen, also einen Ausgangskreis, für den r stetig a n w ä c h s t , beim Grenzübergang r = ∞ zur Gerade umzudeuten. Nikolaus vollzieht dabei die folgende, einfache Grenzwertüberlegung: Für r→ ∞ soll jeder Punkt des Kreisbogens auf einer Geraden (der Tangente
ab ) zu liegen kommen. Wir würden heute sagen, er nimmt an, dass in diesem Extremfall Kreis- und Geradenfunktion in jedem Punkt i d e n t i s c h sind. Natürlich deckt sich die hier zugrundegelegte formale Darstellung nicht ganz mit der graphischen Darstellung bei Nikolaus. Dieser geht ja nicht von konzentrischen Kreisen aus, sondern legt die Kreisperipherien an den gemeinsamen Tangentenpunkt ·b·, so dass die zu den einzelnen Kreisbögen gehörenden Mittelpunkte sich reziprok zur jeweiligen Krümmung immer weiter von der gemeinsamen Tangente entfernen. Im Endergebnis stellt sich aber in jedem Falle eine wichtige Bedingung ein: Nikolaus muss voraussetzen, dass sich beim Übergang zum Unendlichen tatsächlich alle geometrischen Spezifika seiner Figuren auflösen, und alle beteiligten Größenverhältnisse in eins fallen. Rechnerisch heißt das, dass mit dem Übergang zum unendlichen Kreisradius der positive Segmentwinkel gleich ‚0’ werden muss. Dann aber können die Peripheriepunkte des Kreisbogens nicht der unendlichen Gerade, sondern gewissermaßen nur e i n e m Punkt, dem ins Unendliche projizierten Tangentenpunkt ·b·, zugeordnet werden. Das ließe sich gut mit der Definition vom singulären ‚Punkt im Unendlichen‘ innerhalb der inversen Geometrie in Einklang bringen – Nikolaus derart fortgeschrittene Konzeptionen zuzuschreiben wäre aber natürlich ein unhaltbarer Anachronismus. An der ändert dies genauso wenig am symbolsprachlichen Ein268
Der Krümmungskreis einer Raumkurve in einem Punkt P ist die Grenzlage eines Kreises durch die Kurvenpunkte P1, P, P2 für P1→P und P2→P. Sein Mittelpunkt (Krümmkreismittelpunkt) liegt auf der Hauptnormale. Sein Radius ist der stets positive Krümmkreisradius ρ. Für ρ gilt:
1 ρ
= k(= Krümmung) = lim ∆s →0
∆τ ∆s
=
∂τ ∂s
, wobei ∆τ den Winkel darstellt, um den sich die
Tangente dreht, wenn die Berührungspunkte um ∆s auseinanderliegen. ∂τ ist dann der Kontingenzwinkel.
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3. Die philosophisch-theologischen Grundlagen
drücklichkeit der Überlegung, noch an dem Umstand, dass Nikolaus hier intuitiv in Bereiche vorstößt, die auch heute noch als Grundsatzfragen die ohnehin unscharfen Begrenzungen zwischen Philsophie und höherer Mathematik verschwimmen lassen. Dennoch: Nikolaus’ Bezugspunkt ist ausdrücklich die unendlich ausgedehnte Gerade. Die Koinzidenz von Gerade und Kreisbogen, wie er sie vorschlägt, ist, das sollte hier verdeutlicht werden, keine mathematische Notwendigkeit, sondern ein aus vorrangig spekulativ-philosophischen Erwägungen gewonnenes Diktum. Dabei kann, sofern die Überlegung in kartesische Koordinaten übertragen wird, dann auch von einem attingere, also dem im symbolmathematischen Sinne schrittweisen Annäherungsprozess der ratio, keine Rede mehr sein: Der kennzeichnende Segmentwinkel bleibt für r ≠ ∞ in jedem Falle konstant. Der Übergang zum Unendlichen muss als tatsächlich vollzogen, der als unendlich konnotierte Angleichungsprozess als abgeschlossen gedacht werden. Das entspricht zwar prinzipiell auch dem Vorgehen der infinitesimalen Methode, in der ja gleichsam infinite Iterationen in einem Grenzwert abgeschlossen werden. Insofern aber der limes der cusanischen Überlegung ins Unendliche selbst gelegt wird, sind seine Ausführungen letztlich als rein ‚metaphorisch‘ und nicht im Sinne einer approximationsmathematischen Methode zu verstehen. Man darf allerdings nicht außer Acht lassen, dass sich Nikolaus mit seiner Überlegung, dass mit der Ausstreckung der Kreisperipherie die Kontingenzwinkel schrumpfen, durchaus im Einklang mit weit verbreiteten Lehrmeinungen seiner Zeit befindet. Es ist letztlich müßig zu fragen, auf welche Vorlagen er sich dabei berufen haben könnte. Eine autoritative Quelle lässt sich für die Kontingenzwinkelfrage insgesamt nicht ausmachen. Mit einiger Wahrscheinlichkeit kannte Nikolaus die entsprechenden Passagen aus den Elementa269 und dem zugehörigen Kommentar des Proklos (410–485) zum ersten Buch.270 Ob er mit den Überlegungen Bradwardines aus der Geometria speculativa vertraut war, wie Hofmann vermutet hat,271 lässt sich anhand der bisher bekannten Quellen nicht sagen. Auch die Abhandlung De arte mensurandi des Johannes de Muris (auch: Jean de Muris, 1290–1351) wäre eine denkbare Quelle,272 allerdings lassen sich die hierin eben269
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Elem. 3,16. Der Begriff angulus contingentiae taucht in der Bearbeitung von Campanus in einer Ergänzung zur Euklidstelle (nach arabischer Zählung Elem. 3.15) auf. Siehe hierzu die Edition von Busard: Campanus of Novara and Euclid’s ‚Elements‘, Bd. 1 (= Boethius. Texte und Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften 511), Hubertus L.L. Busard (Hg.), Stuttgart 2005, lib. 3, prop. 15, S. 120–122, hier: Campani additio, S. 121f., darin S. 122, Z. 316. Siehe auch: Hofmann: Mutmaßungen…, S. 115 und Anm. 83. Def. 1.8 = ed. Steck, S. 251 sowie Def. 1.10–12 = ed. Steck, S. 259 und prop. 9, 4. Problem = ed. Steck, S. 354f. Dass Nikolaus mit den Schriften des proklos gut vertraut war zeigt u.a.: Rudolf Haubst: Die Thomas- und Proklos-Exzerpte des ‚Nicolaus Treverensis‘ im Codicillus Straßburg 84, in: MFCG 1, Rudolf Haubst (Hg.), Mainz 1961, S. 17-51. Hofmann: Mutmaßungen, S. 117–120. Johannes de Muris: De arte mensurandi, ediert in: Hubertus L. L. Busard: De arte mensurandi. A Geometrical Handbook of the Fourteenth Century (= Boethius. Texte und Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften 41), Stuttgart 1998 [im Folgenden zitiert als ed. Busard], S. 97–391, hier: cap. 6, prop. 18–20, S. 252–254, siehe vor
3.1. Begrenzung und Entgrenzung: ‚De docta ignorantia‘
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falls enthaltenen Ausführungen zur Geometrie der Möndchen273 nach Hippokrates von Chios (um 470 v. Chr.–um 410 v. Chr.) nicht mit Nikolaus’ späteren Ansätzen zu einer Quadratura circuli per lunulas zur Deckung bringen.274 Interessant ist immerhin, dass Nikolaus die sehr vorsichtigen Ausführungen Oresmes in dessen Abhandlung zu den Formlatituden (latitudines formarum), Tractatus de configurationibus qualitatum et motuum, entweder nicht kannte oder bewusst übergangen hat. Oresme zufolge ist die Krümmung von Kreisen unterschiedlicher Größe nämlich stets gleich: Sed tamen posito [...] quod intensio curvitatis attenditur penes semid[i]ametri parvitatem, sequitur inde quod omnium circumferentiam circularium curvitatis sunt simpliciter equales, quoniam […]275 si aliqua qualitas sit intensior alia et illa alia sit proportionaliter extensior seu magis extensa, ille due sunt simpliciter coequales.276
Oresme führt in diesem Zusammenhang auch die pseudo-archimedische Schrift De curvis superficiebus an:277 Nunc autem ita est quod proportio circumferentiarum in quantitate est sicut proportio semid[i]ametrorum circulorum quorum sunt circumferentie, ut patet per quintam conclusionem A r c h i m e n i d i s d e c u r v i s s u p e r f i c i e b u s . Ergo curvitas duple circumferentie est duplo extensior quam curvitas circumferentie subduple et per positum eadem curvitas duplae circumferentie est duplo remissor. Igitur simpliciter loquendo curvitas duple circumferentie et curvitas sub duple circumferentie sunt equales, et sic de aliis. Ergo omnium circumferentiarum circularium curvitates sunt equales [...].278
Wenn sich also verschiedene Kreise quantitativ unterscheiden (also über Radius bzw. Umfang), so sind sie qualitativ (in Hinblick auf Krümmungsgrad (curvitas)) doch gleich. Diese qualitative Fassung des Krümmungsbegriffs ist entscheidend. Sie zeigt unter anderem deutlich, wie weit die mittelalterliche Mathematik von einer modernen Definition geometrischer Figuren als Punktmengen
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allem prop. 19, S. 254, Z. 336–338: Hic patet manifeste angulum contingenti[a]e posse dividi in infinitum per lineas circulares ipsumque c r e s c e r e i n i n f i n i t u m c i r c u l o diminuto et diminui circulo augmentato. De arte mensurandi, cap. 6, prop. 25–32 = ed. Busard, S. 259–266. Siehe S. 254ff. Es folgt ein Verweis auf das dritte Buch De configurationibus qualitatum et motuum. Nach der Ausgabe : Tractatus de configurationibus qualitatum et motum secundum doctorem et magistrum Nych. Orem, ediert in: Nicole Oresme and the medieval geometry of qualities and motions, Marshall Clagett (Hg.), Madison (Milwaukee)/London 1968, S. 158–437 [im Folgenden zit. als: De config. qual. et mot., ed. Clagett], hier: pars 1, cap. 21, S. 222, Z. 28– 33. Verfasser dieser Schrift, die auch unter dem Titel Liber de curvis superficiebus Archimenidis kursierte, war tatsächlich Johannes de Tinemue (auch: John of London, um 1290–1349(?)), der vor allem durch seine mögliche Autorenschaft der unter Adelard III bekannten Redaktion der Elementa bekannt ist. Hierzu: Wilbur R. Knorr: John of Tynemouth alias John of London. Emerging portrait of a singular medieval mathematician, in: British Journal for the History of Science 23 (1990), S. 293–330, zur Urheberschaft der Euklid-Version Adelard III vor allem: S. 301. De config. qualit. et mot., pars 1, cap. 21 = ed. Clagett, S. 222, Z. 33–41.
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3. Die philosophisch-theologischen Grundlagen
noch entfernt ist. Damit aber wird das Problem der Kontingenzwinkel letztlich zur Glaubensfrage. Nikolaus und Oresme argumentieren mit qualitativen Aussagen, die auf Intuitionen bezüglich einer zahlenmäßig unbestimmten Größe, der Kreiskrümmung, beruhen. Im Zusammenhang mit den cusanischen Quadraturtraktaten wird uns das noch beschäftigen. Dennoch: Nikolaus Grundidee, dass im Unendlichen Gerades und Gekrümmtes zusammenfallen könnten, ist keineswegs trivial und blieb bis weit in die Neuzeit hinein ein zentraler Diskussionsgegenstand, insbesondere im Vorfeld der Entwicklung des Differentialkalküls. Noch Kepler279 verweist in einem Schreiben an den Arzt Johan Georg Brengger 15. April 1608 auf Nikolaus’ Ausführungen zur Angleichung von Kreisbogen und Tangente aus De docta ignorantia.280 Für Kepler lieferte Nikolaus mit seinem Beitrag eine gute Referenzquelle für seine eigenen Überlegungen zur Geometrie der Indivisiblen. Keplers im ersten Theorem der Nova Stereometria doliorum vertretene Meinung, dass man ein (infinitesimal) kurzes Kreissegment (näherungsweise) als gerade Linie annehmen darf, da im Verlaufe der Darlegung der Kreis in kleinste Bogen zerschnitten wird, welche Geraden gleichgesetzt werden,281 war unter seinen Zeitgenossen keineswegs unumstritten, bedeutete sie doch die Aufhebung des von den antiken Geometern für unauflösbar gehaltenen Gegensatzes von gekrümmt und gerade im Unendlichen. So kritisierte der Astronom und Mathematiker Paul Guldin (eigentlich: Habakuk Guldin, 1577–1643) Kepler, da der geometrische Beweis fehle, wonach ein kreisförmiger Bogen, ganz gleich wie klein er auch sei, mit einer geraden Linie gleichgesetzt werden könne.282 Natürlich betrachtet Nikolaus an der fraglichen Stelle unendlich ausgedehnte, nicht infinitesimale Größen – und wäre im Übrigen Keplers Argumentation zu diesem Zeitpunkt so sicher nicht gefolgt.283 Wichtig ist aber die prinzipielle Annahme, dass im Unendlichen geometrische Gegensätze als aufgelöst betrachtet werden können. Man sieht, dass Nikolaus’ Spekulationen über geometrische Unendliche nicht allein auf ein spezifisch mittelalterliches Problemdenken verweisen, sondern eine mathematische Grundlagendiskussion berühren, die von der Antike bis in die Neuzeit mehr oder weniger kontinuierlich geführt wurde.
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Zur Cusanus-Rezeption durch Kepler siehe: Volker Bialas: Zur Cusanus-Rezeption im Werk von Johannes Kepler, in: Nikolaus von Kues: Vordenker moderner Naturwissenschaft? (= Philosophie interdisziplinär 7), H. Schwaetzer u. H. Stahl (Hgg.), Regensburg 2003, S. 45– 53. Gesammelte Werke 16, S. 141: Et Cusanus infinitum circulum dixit esse lineam rectam. Gesammelte Werke 9, S. 14: Licet autem argumentari de EB ut de recta, quia vis demonstrationis secat circulum in arcus minimos qui aequiparuntur rectis. Eric J. Aiton: Infinitesimals and the area law, in: Internationales Kepler-Symposium: Weil der Stadt 1971, Fritz Krafft/Karl Meyer/Berhard Sticker (Hgg.), Hildesheim 1973, S. 284– 305, hier: S. 290. Siehe: S. 205.
3.1. Begrenzung und Entgrenzung: ‚De docta ignorantia‘
97
3.1.3. Flächen und Winkel. Spekulationen über das ‚unendliche Dreieck‘ Erst im 16. Jahrhundert gerät wieder Bewegung in die Kontingenzwinkelfrage, mit Peletier’s Nachweis (1577), dass Winkel zwischen Kurven und anliegenden Tangenten tatsächlich gleich Null und damit nicht teilbar sind.284 Damit wurde zugleich die Grundannahme eines ‚funktionalen‘ Zusammenhangs zwischen Kontingenzwinkel und Kreiskrümmung unhaltbar. Der Kern dieses weit verbreiteten Irrtums innerhalb der mittelalterlichen Mathematik ist die flächenhafte Winkeldefinition, der auch Nikolaus folgte. Das wird an einem anderen geometrischen Gleichnis aus De docta ignorantia besonders deutlich. Nikolaus lenkt seine Betrachtung auf Dreiecksfiguren. Dabei postuliert er den folgenden einfachen Koinzidenzschluss: Constat, quoniam omnia duo latera cuiuslibet trianguli simul iuncta tertio minora esse non possunt, triangului, cuius unum latus est infinitum, alia non esse minora.285
Da also im Dreieck eine Seite nicht länger sein kann als die Summe der beiden übrigen, müssen, da es mehrere Unendliche nicht geben kann, wenn eine Dreieckseite unendlich vergrößert wird, die übrigen beiden mit dieser zusammenfallen.286 Für die beteiligten Winkel leitet Nikolaus daraus ab: Ita de angulis, quoniam non erit nisi a n g u l u s u n u s i n f i n i t u s , et ille est tres anguli et tres anguli unus.287
Die für den neuzeitlichen Mathematiker etwas merkwürdige Formulierung vom angulus infinitus ist sehr aufschlussreich in Hinblick auf Nikolaus’ Winkelverständnis. Natürlich ist hier eigentlich nichts anderes gemeint, als dass mit Übergang zur Betrachtung unendlicher Dreiecke auch die Winkel koinzidierend vorgestellt werden müssen, im angulus unus infinitus also die konstitutive Winkelsumme von 180 ganz enthalten ist. Ganz offensichtlich schlägt sich hier die flächenhafte Winkeldefinition nieder. Dabei wird der fragliche Winkel nicht nur über den Richtungsunterschied der beteiligten Schenkel, sondern auch über die von diesen eingeschlossene Fläche bestimmt, wenn sie zum Dreieck vervollständigt werden. Die Frage nach der richtigen Bestimmung ebener Winkel ist keineswegs ein mittelalterliches Problemfeld. Schon Proklos gibt im zehnten Kapitel seines Kommentars zu den euklidischen Elementa mit Bezug auf die 8. Definition im 1. Buch eine systematische Aufstellung der unterschiedlichen Deutungsschemata seiner Zeit und erwähnt dabei auch den Ansatz, Winkelbestimmungen über das Flächenmaß auszuführen, das er schließlich als nicht hinlänglich einschränkt.288 284 285 286 287 288
MATH. SCHRIFTEN, S. 202, Anm. 6 (Hofmann). Doct. ign., h 1, lib. 1, cap. 14, S. 27f., Z. 26–29. Ebd., S. 28, Z. 3: [...] Plura infinita esse non possunt. Ebd, Z. 8–10. Proklos will sich insgesamt keiner der von ihm vorgestellten Auffassungen anschließen, sondern sieht die Notwendigkeit, alle Winkeldefinitionen gemeinsam zur Anwendung zu brin-
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3. Die philosophisch-theologischen Grundlagen
Nikolaus berührt mit seinen Deduktionen aus dem Dreiecksproblem also einen jahrhundertealten und für die gesamte Geometrie überaus bedeutsamen Richtungsstreit – und bezieht eindeutig Stellung zugunsten der flächenhaften Winkeldefinition. Auf welche Vorlagen sich Nikolaus dabei gestützt haben könnte, ist schwer zu rekonstruieren. Die Geometria des Gerbert d’Aurillac (um 945–1003), Papst Sylvester II. 999), die eindeutig die Vorstellung flächenhafter Winkel favorisiert,289 könnte ihm bekannt gewesen sein. Darüber hinaus hat Hofmann auf eine kurze anonyme Abhandlung über den Winkel hingewiesen, die sich in Kues befindet290 und in der die flächenhafte Winkeldefinition zwar nicht ausdrücklich a u s g e s p r o c h e n , aber unzweifelhaft g e m e i n t ist (Hervorhebung im Original).291 Unwahrscheinlich ist, dass Nikolaus die entsprechenden Passagen aus den Quaestiones super Geometriam Euclidis Oresmes kannte, der sich dort eindeutig und, wie Hofmann es sehr zutreffend formuliert hat, mit schlagenden Argumenten292 gegen die flächenhafte Winkeldefinition ausspricht.293 Nikolaus’ Positionierung in der Winkelfrage hat schon in De docta ignorantia weitreichende Konsequenzen, und zwar auch im Bereich des Terminologischen: Wird der kennzeichnende Winkel, wie Nikolaus es vorschlägt, im größten Dreieck auf 180 gesetzt, dann ist die Dreiecksfläche – hier kommt die coincidentia oppositorum ins Spiel – zugleich unendlich groß und unendlich klein. Dann muss aber zugleich der ‚dreieine Winkel‘, sofern er flächenhaft bestimmt wird, als angulus infinitus aufgefasst werden. Nikolaus reflektiert deshalb über die Eigenschaften des unendlichen Dreiecks auch mittels einer Hilfsbetrachtung, die er als eine ascensio ad non-quantum bezeichnet,294 um zu zeigen, dass die unendliche Linie und der unendliche Winkel ein und dasselbe sind.295
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292 293 294 295
gen. Proklos, Buch 2, zu Elem. 1,8 (= 8 Definition des ersten Buches) = ed. Steck, S. 250– 256, hier vor allem S. 254, Z. 7–14: Angesichts dieser vorhandenen Schwierigkeiten und der Tatsache, daß Euklid den Winkel eine Neigung nennt, Apollonios aber die Zusammenziehung einer Fläche oder eines Körpers in einem Punkte, in den Bereich einer gebrochenen Linie oder Fläche […] müssen wir im Anschluß an unseren Meister die Meinung vertreten, der Winkel sei nichts von dem Genannten an und für sich; er verdanke vielmehr sein Sein der Vereinigung all dieser Kategorien. Mit dem Verweis auf unseren Meister will Proklos sicher auf Platon anspielen, als dessen Schüler er sich verstand. Gerbert d’Aurillac: De Geometria, ediert in: Gerberti postea Silvestri II. Papae Opera mathematica (972–1003), Nikolaj M. Bubnov (Hg.), Berlin 1899 [unv. Nachdruck: Hildesheim 1963], lib. 4, cap. 3, S. 66, Z. 1f.: Angulus est spatium, quod sub duabus lineis se invicem tangentibus continetur. Cod. Cus. 190, fol. 1v–3r. Hofmann: Mutmaßungen, S. 103. Das Textstück ist ediert in: Joseph Ehrenfried Hofmann: Zum Winkelstreit der rheinischen Scholastiker in der ersten Hälfte des 11. Jh. (= Abhandlungen der Preussischen Akademie der Wissenschaften, Jahrgang 1942 – MathematischNaturwissenschaftliche Klasse 8), Berlin 1942, S. 14–17. Hofmann: Mutmaßungen, S. 103. ed. Busard, S. 62f. (= Quaestio 20: Quae res sit angulus). Doct. ign., h 1, lib. 1, cap. 14, S. 29, Z. 32f. Ebd., S. 28, Z. 11.
3.1. Begrenzung und Entgrenzung: ‚De docta ignorantia‘
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Dabei vergrößert er ein gleichschenkliges Dreieck ∆ abc durch stetige Vergrößerung des Winkels ∠ bac bis zum Grenzfall ∠ bac = 90. Dabei denkt er sich das gesamte Dreieck dann als koinzidierend mit der Seitenlinie bc . Nikolaus macht nirgends deutlich, wie er die eingeschobene Koinzidenzbetrachtung, die ja letztlich auf eine infinitesimalmathematische Überlegung hinausläuft, auf das unendlich vergrößerte Dreieck angewandt wissen will. Für ihn besteht hier ganz offensichtlich kein wesenhafter Unterschied zwischen ‚Größtem‘ und ‚Kleinstem‘. Was im Unendlich-Kleinen statt hat, muss auch im UnendlichGroßen Geltung haben. Dieser Analogieschluss zum unendlichen Dreieck ist aber nicht unproblematisch. Denn Nikolaus impliziert damit letztlich einen generellen funktionalen Zusammenhang zwischen dem Anwachsen der Dreiecksseiten und den beteiligten Winkelverhältnissen. Das ist auf der Grundlage einer flächenhaften Winkeldefinition für den triangulus maximus vollkommen nachvollziehbar, mit der Vergrößerung der Dreiecksseiten wächst ja fraglos die von ihnen eingeschlossene Fläche. Werden die beteiligten Winkel dagegen wie in der modernen Mathematik über den Zur KoinzidenzbetrachRichtungsunterschied bestimmt, dann kann die Koinzitung am gleichschenkligen Dreieck nach: denzüberlegung nicht mehr uneingeschränkt für eine geisDoct. ign., h 1, lib. 1, tige ascensio fruchtbar gemacht werden. Denn es ist ja cap. 14, n 38-39, S. 28 dabei durchaus möglich, die Seiten eines beliebigen Dreiecks stetig zu vergrößern, ohne dass die Größe der beteiligten Winkel verändert werden müsste. Beim Übergang zum unendlichen Dreieck muss dann die Koinzidenz der Winkel unvermittelt eintreten, gewissermaßen also in den angulus infinitus von 180 ‚gesprungen‘ werden. Im Unendlichen wird der Satz über die Winkelsumme, der für das euklidische Dreieck konstitutiv ist, zugunsten der flächenhaften Definition von Nikolaus schlicht außer Kraft gesetzt. Man muss sich immer wieder ins Gedächtnis rufen: Für Nikolaus bleiben Mathematik und Unendlichkeitsspekulation grundsätzlich streng geschiedene Bereiche. Eine Konsequenz daraus ist die deutlich philosophisch konnotierte unitarische Einschränkung des Unendlichkeitsbegriffs. In der euklidischen Geometrie, beispielsweise im Parallelenpostulat, wird die Vorstellung mehrerer unendlicher Größen dagegen nicht prinzipiell ausgeschlossen. Die Ablehnung von plura infinita geschieht bei Nikolaus zwar aus dem Blickwinkel auf das absolut Unendliche, so dass die Vorstellung eingeschränkt unendlicher Größen, also im Sinne von Betrachtungsgegenständen, die in einer bestimmten Hinsicht (Ausdehnung, Dauer etc.) als unendlich bestimmt sind. Aber auch diese ‚privativen Unendlichen‘ sind von den Objekten des mathematischen Denkens nicht nur graduell, sondern grundlegend zu unterscheiden. So wie Gott als maximum absolu-
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3. Die philosophisch-theologischen Grundlagen
tum der Ursprung alles Geschaffenen ist, so ist für Nikolaus die unendliche Linie der unteilbare Ursprung, der Maßstab aller Linien: [...] Sicut linea infinita est indivisibilis, quae est ratio lineae finitae, et per consequens immutabilis et perpetua, ita et ratio omnium rerum, quae est deus benedictus, sempiterna et immutabilis est.296
Die unendliche Linie und, wie wir noch sehen werden, überhaupt alle unendlichen Figuren sind nicht Gegenstand, sondern Voraussetzung ihrer endlichen Abbilder. Diese Urbilder der mathematischen Zeichen und Formen können nur erreicht werden, wenn das mathematische Denken sich selbst ad absurdum führt und so der Überstieg in höhere Erkenntnisbereiche durch die Annahme gezielter Paradoxien provoziert wird. Die Voraussetzungen mathematischer Schlussweisen, wie die Axiome der euklidischen Geometrie, müssen deshalb zwangsläufig bei der Hinordnung auf die Urbilder zugunsten der Koinzidenzerfahrung zurückgestellt werden. Noch ist nun aber von unendlichen Kreisen, Dreiecken und Linien die Rede, also verschiedenen ‚Ausprägungen‘ des Unendlichen. Es fehlt noch der entscheidende Schritt, die unendlichen geometrischen Figuren insgesamt zusammenzuführen, die Koinzidenzidee vollständig auszuschöpfen.
3.1.4. Drehen und Ziehen. Von der Linie zur Kugel Mit der je gesonderten Rückführung von Kreis und Dreieck auf die unendliche Linie ist das Koinzidenzprinzip für Nikolaus noch nicht hinlänglich verbildlicht. Er will zeigen, dass der Zusammenfall seiner geometrischen Grundfiguren (Linie, Dreieck, Kreis) in einem durchgängigen Konstruktionsprozess zu erreichen ist, deren Endpunkt schließlich der Kugelkörper ist. Er liefert dazu die folgende Konstruktionsvorschrift: [...] Si linea ·ab·, remanente puncto ·a· immobili, circumduceretur, quousque ·b· veniret in ·c·, ortus est triangulus; si perficitur circumductio, quousque ·b· redeat ad initium ubi incepit, fit circulus. Si iterum, ·a· remanente immobili, ·b· circumducitur, quousque perveniat ad locum oppositum ubi incepit, qui sit ·d·, est ex linea ·ab· et ·ad· effecta una continua linea et semicirculus descriptus. Et si, remanente ·bd· diametro immobili, circumducatur semicirculus, exoritur sphaera [...].297
Zunächst also lässt Nikolaus aus der vollständigen Drehung einer nicht näher bestimmten Strecke ab um Punkt ·a· einen Kreis hervorgehen. Beim Überstreichen der Kreisfläche soll dann durch Hinzunahme von Punkt ·c· ein Dreieck ∆ cab am Kreissektor abgeschlossen werden. Zugleich markiert Punkt ·d· auf der Kreisperipherie dann den halben Kreisumfang beim Umlauf von ab , so dass die Strecke bad = 2 ab dem Kreisdurchmesser entspricht. In der Drehbewegung ist bei Punkt ·d· also ein Halbkreis beschrieben. 296 297
Doct. ign., h 1, lib. 1, cap. 17, S. 33, Z. 13–15. Doct. ign., h 1, lib. 1, cap. 13, S. 26, Z. 28 – S. 27, Z. 9.
3.1. Begrenzung und Entgrenzung: ‚De docta ignorantia‘
101
Dreiecks- und Kreiskonstruktion durch Drehung der Strecke ab um ·a· nach: Doct. ign., h 1, lib. 1, cap. 13, n 40, S. 29
Den so konstruierten Durchmesser deklariert Nikolaus nun als eine Rotationsachse, um die die Peripherie des Halbkreises vollständig, d.h. um 360 gedreht wird. Die Halbkreislinie beschreibt dabei einen vollständigen Kugelkörper. Diese konstruktive Herleitung ist keine originäre Schöpfung des Kusaners. Sie findet sich bereits bei Euklid, der im elften Buch der Elemente mit Definition 14 (nach moderner Zählung)298 (die streng genommen eher Konstruktionsvorschriften als Definitionen darstellen) die nämliche Anweisung zur Erzeugung des Kugelkörpers anführt. Ob Nikolaus sich hier aber direkt auf den euklidischen Text bezogen hat, ist schwer zu sagen, denn die Konstruktionsvorschrift findet sich auch bei einer Vielzahl anderer Autoren, bei Boëthius299 etwa oder im Traktat De sphaera des Johannes de Sacrobosco (in dem allerdings explizit auf Euklid als Urheber verwiesen wird).300 298
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In der Übersetzung des Campanus ist dies die achte Definition (ed. Busard, S. 5, lib. 11, Def. 8): Sp(ha)era est transitus arcus circumferenti[a]e dimidii circuli, quotiens su(p)premo semicirculo lineaque diametri fixa, donec ad locum suum redeat, arcus ipse circumducitur. Super quamlibet lineam semicirculo descripto si linea illa fixa semicirculus tota revolutione circumdatur, corpus quod describitur sp[ha]era nominatur. Cuius centrum constat esse centrum semicirculi circumducti. Vgl. ed. Heath, S. 261, sowie die zugehörigen Erläuterungen auf S. 269. ed. Guillaumin, lib. 2, cap. 30, n 3, S. 124, Z. 5–7 (im Abschnitt): Sph[a]era uero [= vero] est semicirculi manente diametro circumductio et ad eundem locum reuersio [= reversio] unde prius coeperat ferri. Hofmann hat diesen Überlieferungsweg für den wahrscheinlichsten gehalten: Hofmann: Mutmaßungen, S. 102 Johannes de Sacrobosco: Tractatus de spera, ed. in: Lynn Thorndyke: The ‚Sphere‘ of Sacrobosco and its commentators, Chicago 1949, S. 76-117, hier: cap. 1, S. 76-77: S p h a e r a i g i t u r a b E u c l i d e s i c d e s c r i b i t u r : Sphaera est transitus circumferentiae dimidii circuli: quotiens fixa diametro quousque ad locum redeat circumducitur. Id est,
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3. Die philosophisch-theologischen Grundlagen
Die Vorstellung, Nikolaus könnte sich hier gerade auf diese letztgenannte Quelle gestützt haben, ist natürlich für all jene besonders reizvoll, die ihn wegen seiner Paduaner Studienjahre mit Prosdocimo de Beldomandi in Verbindung bringen wollen, der durch seinen Kommentar zu Sacroboscos Abhandlung Über die Kugel Verbreitung und Rezeption des Werkes zumindest in Italien maßgeblich bestimmt hat.301 Sollte Nikolaus tatsächlich regelmäßiger Gast in den Lehrveranstaltungen Prosdocimos gewesen sein, dann wäre er wohl dort auch mit dieser Schrift in Berührung gekommen. Es ist durchaus denkbar, dass Nikolaus vor seinem Studienbeginn in Italien mit dem Text noch nicht oder zumindest noch nicht allzu gut vertraut war. Zwar zählten Lektüre und Disputation der Sphaera auch zum mathematischen curriculum an deutschen Universitäten. In Heidelberg aber war dies nur für Studenten des Licentiats verbindlich vorgeschrieben, nicht aber für Anwärter auf den Titel des baccalaureus,302 den Nikolaus bei seinen Weggang wahrscheinlich innehatte. Die kurze Passage über die Kugelkonstruktion in De docta ignorantia reicht nun für ein definitives Urteil bezüglich etwaiger Referenzquellen natürlich nicht aus, so dass von der Textkonkordanz zum SacroboscoKommentar nicht zwingend auf eine direkte Verbindung zwischen Beldomandi und Nikolaus geschlossen werden darf. Etwas aber ist bemerkenswert: Der Kommentar zu De sphaera enthält signifikante Querverweise auf Albert von Sachsen und Thomas Bradwardine.303 Will man der Argumentation Hofmanns bezüglich der herausragenden Stellung dieser beiden Autoren für Nikolaus’ mathematisches Schaffen folgen,304 dann lässt sich die Parallelstelle im Beldomandi-Kommentar in diesen Zusammenhang hervorragend eingliedern. Allerdings ist die quellenkundliche Indizienkette sehr schwach. Wie bei der Frage nach den Kontingenzwinkeln muss man sich auch hier vor Augen führen, dass man es bei der cusanischen Kugelkonstruktion mit einem sehr elementaren
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sphaera est tale corpus rotundum et solidum quod describitur ab arcu semicirculi circumducto. Sphaera vero a Theodosio sic describitur: sphaera est corpus solidum quoddam una superficiae contentu[m] in cuius medio punctus est a quo omnes lineae ductae ad circumferentiam sunt aequales. Et ille punctus dicitur centrum sphaerae. Unter dem Titel Comentum sphaerae [per] Prosdocimum de Beldomandis patricium Patavium divinae Mathesos professorem clarissimum ediert in: Sphaerae tractatus Iohannis de Sacro Busto viri clarissimi, Gerardi Cremonensis Theoricae planetarum veteres, Georgii Peurbachi Theoricae planetarum Novae, Lucantonio de Junta (Hg.), Venedig 1531, S. 1–57. Siehe hierzu auch: Lynn Thorndike: The ‚Sphere‘ of Sacrobosco and its commentators, Chicago 1949, zum Beldomandi-Kommentar: S. 3, 40, 42 und 100 (Anm. 11). Moritz Cantor: Vorlesungen über die Geschichte der Mathematik 2 (= 1200–1668), Leipzig 1913, S. 140ff. Diese Beschränkung galt allerdings nicht überall. Die Statuten der Universität Wien weisen im 15. Jahrhundert verpflichtende Vorlesungen zur Sphaera bereits für das Bakkalaureat aus. Beldomandi: Comentum, zit. n.: Senger, S. 152, Anm. 75: Dicunt enim omnes, qui de proportionibus scripserunt sicut albertutius [Albert von Sachsen], Thomas Buerduerdinus [Thomas Bradwardine], Nicolas Ornem [Nikolaus Oresme] et reliqui omnes [...]. Mit Thomas Bradwardine scheint Beldomandi in diesem Zusammenhang auf dessen Traktat De proportionibus anzuspielen, nicht also auf die Geometria speculativa, die Hofmann (zu Recht oder zu Unrecht) für die weitaus wichtigere Referenzquelle gehalten hat. u.a. in: Hofmann: Mutmaßungen, S. 117–120.
3.1. Begrenzung und Entgrenzung: ‚De docta ignorantia‘
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Gedankengang zu tun hat, der durchaus auch ohne Rückgriff auf eine spezifischen Quelle in De docta ignorantia übernommen worden sein könnte. Die ‚kinetische Herleitung‘ der Kugelform dürfte, nicht zuletzt aufgrund ihrer Erwähnung in den Elementa, geistiges Gemeingut der Zeit gewesen sein. Die Besonderheit der cusanischen Kugelsymbolik beginnt erst im Überstieg zur Betrachtung der unendlichen Figuren. Werden die Bestimmungsgrößen ins Grenzenlose ausgedehnt, dann bedarf es bei der Ableitung von Fläche und Körper aus der Linie keiner konstruktiven Zwischenschritte mehr, denn das unendliche Dreieck ist wie die unendliche Kugel nicht nur potentiell in der Linie enthalten, sondern in ihr bereits zugleich verwirklicht. Zwischen endlichen Figuren kann nur durch proportionalen Bezug vermittelt werden. Im Überstieg zum Unendlichen aber verlieren die mathematischen Figuren ihre geometrische ‚Identität‘, denn in der Verhältnislosigkeit der coincidentia oppositorum lösen sich die ihnen innewohnenden spezifischen geometrischen Proportionen genauso auf, wie die sie bestimmenden äußeren mathematischen Gesetzmäßigkeiten. Jede Figur verliert im Unendlichen ihre quantitative Bestimmung. In der transsumptio ad infinitum fallen die vollkommenen Figuren von Dreieck, Kreis und Kugel mit der unendlichen Linie so zusammen, wie die veritas maxima, die nur in Gott selbst gedacht werden kann, frei von allen Gegensätzen und Unterscheidungen ist.305 Im Symbol der unendlichen Kugel sieht er, in der Nachfolge der neuplatonischen Tradition und vor allem sicher der Mystica theologia des (Pseudo)Dionysius306 und der Schriften Meister Eckhards,307 Gott als das schlechthin Größte in der Form der Formen ausgedrückt.308 Gegenüber der unendlichen Kugel kann keine größere Figur gedacht werden, so wie in Hinsicht auf das göttliche maximum absolutum nichts Größeres gedacht werden kann, nur dieses ist, wie Nikolaus schreibt, negativ unendlich.309 Hierin liegt dann auch der entscheidende Unterschied zur Gesamtheit des Universums.
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Doct. ign., h 1, lib. 1, cap. 13, S. 25, Z. 17–18. Anscheinend waren die Schriften des (Pseudo-)Areopagiten auch Diskussionsgegenstand zwischen Nikolaus und Toscanelli: Letzterer überstellt 1443 eine Abschrift der Mystischen Theologie an Nikolaus. Die Handschrift liegt heute in der Vaticana unter cod. Palat. 149 vor. Sie trägt auf fol. 243v die Anmerkung: Magister Paulus magister domici, physicus florentinus, magistro Nicolao de Cusza hos libros sic translatos 1443 transmisit. Siehe hierzu auch: Vansteenberghe S. 11–12. Grell, S. 38. Doct. ign., h 1, lib. 1, cap. 23, S. 46, Z. 20. Ebd., lib. 2, cap. 1, S. 64, Z. 14: Solum igitur absolute maximum est negative infinitum.
104
3. Die philosophisch-theologischen Grundlagen
3.1.5. Paradoxien über das Universum. Die endliche Grenzenlosigkeit des Alls Das Universum ist für Nikolaus zwar grenzenlos, insofern es alles umfasst, was nicht Gott ist,310 nicht aber unendlich im Sinne einer unendlichen Wirklichkeit. Die Gesamtheit der Schöpfung kann als stets größer gedacht werden, nicht aber tatsächlich mehr vergrößert werden, denn sie ist durch Mangel bestimmt: Die Möglichkeit, d.h. die Materie erstreckt sich nicht weiter. Deshalb ist das Universum nur privativ unendlich: Quare licet in respectu infinitae dei potentiae, quae est interminabilis, universum posset esse maius, tamen resistente possibilitate essendi aut materia, quae in infinitum non est actu extendibilis, universum maius esse nequit. Et ita interminatum, cum actu maius eo dabile non sit, ad quod terminetur. Et sic privative infinitum.311
Man kann diesen Gedanken auch so fassen, dass die Welt gegenüber Gott einen niedrigeren Grad an Unendlichkeit besitzt, nämlich keine metaphysischabsolute, sondern eine indefinit-transfinite Unendlichkeit, ein Ansatz, den in der neuzeitlichen Mathematik auch Georg Cantor (1845–1918) vertreten hat.312 Nikolaus gehört also keineswegs zu den ausgesprochenen Infinitisten313 des späten Mittelalters, wie Johannes Bassolis (†um 1347), Robert Holkot (um 1290– 1349) oder Gregor von Rimini (um 1300–1358). Das infinitum in actu tritt bei Nikolaus zudem an keiner Stelle losgelöst vom infinitum in potentia auf. So ist der Raum nur vor den Entscheidungsinstanzen der potentiell unendlichen menschlichen Erkenntnis aktuierte Unendlichkeit. Und auch in Gott, in dem Potenz und Akt eine untrennbare Einheit bilden, ist das Aktual-Unendliche keine Entität, und daher nur unter Inkaufnahme von Einschränkungen des Omnipotenzbegriffs aus der unitas absoluta herauszulösen. Das infinitum in actu ist lediglich ein behelfsmäßiges Konstrukt in der schrittweisen Annäherung an die innergöttlichen Relationen. Mit dieser Vorstellung bewegt sich Nikolaus bereits im Gegensatz zu scholastischen Positionen, denn die Unmöglichkeit des ‚infinitum in actu‘ hat für die scholastische Philosophie ja nicht in irgendeiner Beschränkung der Allmacht Gottes ihren Grund, sondern lediglich in den Antinomien, die im Begriff des Unendlichen als solchen liegen.314 Im cusanischen Gottesbegriff aber soll die klassische Unterscheidung von Akt und Potenz letztlich keine Rolle mehr spielen. So wird die gezielte Antinomie bei Nikolaus zum verlässlichen Helfer beim transitus ad infinitum: Wer vermutet, Gott könne nur hervorbringen, was in sich widerspruchslos ist, geht schon von falschen Prämissen aus. Denn die Prinzipien einer zweiwertigen Logik verlieren im Hinblick auf das maximum absolutum insofern ihre Gültigkeit, als in der coin310 311 312 313
314
Ebd., Z. 16f.: […] omnia complectatur, quae Deus non sunt […]. Ebd., S. 65, Z. 1–6. Grell, S. 38. Anneliese Maier: Diskussionen über das aktuell Unendliche in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, in: Ausgehendes Mittelalter. Gesammelte Aufsatze zur Geistesgeschichte des 14. Jahrhunderts, Bd. 1, Rom 1964, S. 41–85, hier: S. 43. Maier: Ausgehendes Mittelalter 1, S. 42.
3.1. Begrenzung und Entgrenzung: ‚De docta ignorantia‘
105
cidentia oppositorum, zumindest so, wie sie in De docta ignorantia begriffen wird, ein unbedingtes ‚sowohl-als-auch‘ angelegt ist. Antinomien sind ein Produkt der unterscheidenden ratio, außerhalb dieser existieren sie nicht.
3.1.6. Fazit. Drei Formen der Unendlichkeit in einer Einheit Wir können in De docta ignorantia also drei Formen des Unendlichen unterscheiden, die man, wie Eduard Dijksterhuis vorgeschlagen hat, mit der Terminologie Gerolamo Cardanos (1501–1576) als privative (das infinite Universum, die Unbegrenztheit des Geistes) und absolute (a priorische) Unendlichkeit (Gott als Transfinitum) fassen kann.315 Im Universum, dem Seinsbereich der entia realia, besteht ein u n e n d l i c h e s R e l a t i o n s g e f ü g e zwischen den Einzeldingen. In der außerhumanen Natur ist sich nichts so ähnlich, dass es nicht noch viel ähnlicher sein könnte.316 Der unendliche Weisungszusammenhang ist dabei der ontologische Grundcharakter der Geschöpfe.317 Dieser fundamentale Gedanke kann bereits bei Nikolaus auf eine lange Geistestradition zurückblicken. Man wird von den kosmologischen Einschüben in De docta ignorantia an den paradigmatischen Anfangssatz aus Anaximanders (um 610–545 v. Chr.) Περὶ Φύσεως, dem Buch über die Natur der Dinge, erinnert, demzufolge die Ordnung der Welt, der Kosmos, harmonisch aus UnbegrenztUnbestimmten (άπειρον) und Begrenzt-Bestimmten (πέρας)318 zusammengesetzt ist, und zwar der gesamte Kosmos an sich wie auch die in ihm existierenden Einzeldinge.319 So macht der Vorsokratiker, genau wie Nikolaus,320 eine unendliche Vielzahl von Welten im Kosmos aus, die alle aus einem Ur-Einen, in dem vor Be315
Eduard Jan Dijksterhuis: Die Mechanisierung des Weltbildes, New York/Heidelberg/Berlin 1983, S. 254. Doct. ign., h 1, lib. 1, cap. 11, S. 22, Z. 14 – 16: [...] Non est imago adeo similis aut aequalis exemplari, qui per infinitum similior et aequalior esse possit. Nagel, S. 12. Für Anaximander scheint die Trennung von (begriffslogischer) Bestimmtheit und (ontischer) Begrenztheit keine wesentliche Rolle gespielt zu haben. Hirschberger hat deshalb angemerkt, dass bei dem Milesier letztlich logische und ontologische Sphäre verwechselt werden, da das indefinitum nicht schon ein infinitum ist (Hirschberger, S. 20). Nikolaus ist demgegenüber differenzierter vorgegangen. Hirschberger, S. 21. Dabei spricht Nikolaus sogar die Möglichkeit von Leben auf anderen Himmelskörpern an: Doct. ign., h 1, lib. 2, cap. 12, S. 108, Z. 21–27: […] opinamur […] de aliis stellarum regionibus suspicantes nullam inhabitatoribus carere, quasi tot sint partes particulares mundiales unius universi, quot sunt stellae, quarum non est numerus; ut unus mundus universalis sit contractus triniter progressione sua quaternaria descensiva in tot particularibus, quod eorum nullus est numerus nisi apud eum, qui omnia in numero creavit. Die eigentümliche Formulierung vom vierfachen absteigenden Hervorgehen der universalen Welt in dreifacher Weise wird erst durch den Blick auf De coniecturis verständlich. Siehe hierzu: Kap. 3.2.4 (beginnt S. 130). 3
316
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106
3. Die philosophisch-theologischen Grundlagen
ginn der Welt alle Gegensätzlichkeiten aufgelöst waren, hervorgegangen sein sollen. Dieses Hervorgehen der Dinge aus der unumschränkten Einheit trennt dann, so führt Nikolaus den Gedanken fort, nicht nur Gott und Welt, sondern auch Geist und Welt. Die Bestimmung des privativ-Unendlichen ist deshalb eine zweifache: Der unendlichen Verschiedenheit der entia realia steht das unendliche Entwicklungspotential des menschlichen Geistes gegenüber, der sich einerseits auf die Objekte in der Welt, andererseits auf ihren Urgrund, die göttliche Allmacht richtet. Gott selbst wird dabei als das maximum absolutum, letztlich meint dies die u n e n d l i c h e E i n h e i t , gefasst, in der alle Gegensätze in einer schlechthinigen coincidentia oppositorum aufgelöst werden. Das maximum absolutum ist also gewissermaßen die Koinzidenz selbst, gleichsam Potenz und Akt oder maximum und minimum.321 Das Göttliche ist als absolutum aber nicht nur in einem quantitativen Sinne unendlich, sondern grenzenlos im Sinne einer ausschließlichen Qualität. Gott begrenzt als absolute Unendlichkeit die Schöpfung, die so begrenzte und eingeschränkte Unendlichkeit (infinitas finita) wird, und zwar nicht nur in ihrer Gesamtheit, sondern auch derart, dass jedes Geschöpf gleichsam eine endliche Unendlichkeit oder ein geschaffener Gott ist.322 Jeglicher Versuch der damit als aktual endlich definierten mens humana aber, vermittels sensus, ratio oder intellectus auf das Unendliche selbst zu schließen, kann lediglich in einer docta ignorantia (belehrten Unwissenheit) münden, der Annäherung an Gott ist durch Stufung des Unendlichkeitsbegriffs eine Grenze gesetzt, die zwar − Paradoxie des Unendlichen − beständig verschoben, nie aber überwunden werden kann.323 Man kann dabei kaum genug betonen, dass dieser im Konzept der docta ignorantia gründende Erkenntnisskeptizismus unter keinen Umständen als epistemologischer Egalitarismus zu verstehen ist. Die Erfahrung der notwendigen Unzulänglichkeit menschlicher Erkenntnisbegabung ist nicht direkt vermittelbar, sondern setzt eine individuelle Geistesanstrengung, oder genauer: das Erleben individuellen Scheiterns an einem (falschen) anthropozentrischen Genauigkeits- und Wahrheitsanspruch voraus. Das geeignetste Werkzeug dieser Apologetik ist dabei (ausdrücklich) die Mathematik. Sie allein vermag durch ihre Unzulänglichkeit bei der Erfassung des Unendlichen – wenn also das menschliche Denken die mathematischen Schlussweisen gewissermaßen an ihre Grenzen führt – den Erkenntnissuchenden über die unendliche Größe der Schöpfung und die Maßlosigkeit des Schöpfergottes in Form der belehrten Unwissenheit zu unterrichten. 321
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Hierzu: Doct. ign., h 1, lib. 1, cap. 4 (= Maximum absolutum incomprehensibiliter intelligitur; cum quo minimum coincidit), S. 10–11. Doct. ign., h 1, lib. 2, cap. 2, S. 68, Z. 17–19: Quoniam ipsa forma infinita non est nisi finite recepta, ut omnis creatura sit quasi i n f i n i t a s f i n i t a aut Deus creatus, ut sit eo modo, quo hoc melius esse possit. Ebd., lib. 1, cap. 1 (= Quomodo scire est ignorare), S. 5f.
3.1. Begrenzung und Entgrenzung: ‚De docta ignorantia‘
107
Dass Nikolaus’ mathematisierende Symbol-Theologie dabei nicht als eine Gegenentwicklung zu scholastischen Positionen, sondern in vielerlei Hinsicht als deren konsequente Weiterentwicklung zu begreifen ist, ist bereits angeklungen. Fritz Hoffmann hat dies nachdrücklich herausgestellt. Zwischen dem frühmittelalterlichen, anschaulichen Symbolismus [...] und dem durch die mathematischen Zeichen sublimierten Symbolismus des Nikolaus Cusanus liegt die geschichtliche Wende der mittelalterlichen Theologie zur Abstraktion – durch die Logik – und zur Naturerfahrung – durch die scholastische Physik und die in ihrem Dienste stehende Mathematik.324
Nikolaus überführt mit De docta ignorantia den mathematischen Symbolismus innerhalb seiner Gottes- und Seinslehre in eine zuvor selten erreichte Dimension. Kaum ein Exponent des mittelalterlichen Geisteslebens hat vor ihm mit einem einzigen Werk geometrische Symbolik so konsequent in den Dienst der Gottes- und Erkenntnislehre gestellt. Aber die Mehrdeutigkeit der Bildsprache birgt, umso mehr wenn sie auf derartig komplexe Inhalte angewandt wird wie in De docta ignorantia, immer auch das Risiko von Fehldeutungen. Schon bald nach Abschluss der Schrift Über die belehrte Unwissenheit entstand massiver Klärungsbedarf. Und Nikolaus reagierte.
3.2. KUNST DER MUTMASSUNG. ERKENNTNISBEGRIFF, ZAHLENLEHRE UND KOSMOLOGIE IN DE CONIECTURIS I think that numbers and the functions of Analysis exist outside of us, with the same character of necessity as the things of objective reality, and we meet them or discover them, and study them, as do the physicists, the chemists and the zoologists. (Charles Hermite)
325
3.2.1. Blick zurück in Zweifel. Die Logik der Mutmaßung Seit dem ersten Versuch einer großen philosophischen Grundsatzschrift in De docta ignorantia bis zum Abschluss von De coniecturis 1442 waren immerhin noch etwa 3 Jahre vergangen, obwohl Nikolaus mit ersten Entwürfen zur neueren Abhandlung schon während den Arbeiten an der älteren begonnen haben muss.326 324
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Fritz Hoffmann: Nominalistische Vorläufer für die Erkenntnisproblematik bei Nikolaus von Kues, in: MFCG 11 (= Nikolaus von Kues in der Geschichte des Erkenntnisproblems), Rudolf Haubst (Hg.), Mainz 1975, S. 125–168, hier: S. 148. Charles Hermite: Correspondances, Bd. 2, Paris 1905, S. 398, zit. n.: Nicolas Bourbaki: Elements of the history of mathematics, Berlin u. Heidelberg 1994, S. 18. Siehe S. 162
108
3. Die philosophisch-theologischen Grundlagen
Dieser Zeitraum markiert einen echten werkgeschichtlichen Bruch. Die Nachfolgejahre des philosophisch-theologischen Erstlingswerks scheinen, vielleicht auch aufgrund von Einwänden und skeptischen Nachfragen, die von außen an die Schrift herangetragen wurden, vor allem durch zweiflerische Auseinandersetzung und kritische Nachlese geprägt gewesen zu sein. Es ist der gesamten Konzeption des späteren Werkes anzumerken, wie sehr Nikolaus bemüht war, die fundamentalen Einsichten aus De docta ignorantia gegenüber Fehldeutungen zu präzisieren, wenn nicht mitunter sogar vollständig zu revidieren. Das Vertrauen des Kusaners in die unverbrüchliche Sicherheit (certitudo incorrupta)327 der mathematischen Zeichen ist dabei in De coniecturis merklich erschüttert. Die ganze Schrift zielt darauf ab, zu einer neuen, gesicherten und eindeutigen Terminologie für die Einheitsmetaphysik zu finden. Dies gilt vor allem für den Bereich der Erkenntnislehre, der bei Nikolaus untrennbar mit der Konzeption des ‚Einen‘ und ‚Vielen‘ verbunden wird. Dabei steht die Frage nach Möglichkeit und Verfassung einer adäquaten epistemologischen Terminologie der Gotteserkenntnis zunächst im Zentrum der Betrachtung und ist, wie man noch sehen wird, auch von großer Bedeutung für die in De coniecturis zahlreichen Ausführungen zu Wesen und Herkunft der Zahl. Es ist erstaunlich, dass gerade die ältere Cusanus-Forschung die frühere Schrift zur belehrten Unwissenheit so sehr in den Vordergrund gerückt und auf der Grundlage der dort formulierten Geometrico-Theologie den Versuch unternommen hat, die doch mitunter so unterschiedlichen Ansätze in Nikolaus’ philosophisch-theologischem Schaffen zu einer hermetischen, genuin ‚cusanischen Lehre‘ zu vereinheitlichen – wogegen schon Kurt Flasch mit seiner Formulierung vom Unsinn der Parallelstellen polemisiert hat.328 Die auf Homogenität bedachte Rezeption der cusanischen Werke erstaunt umso mehr, als Nikolaus selbst ganz bewusst seine Bedenken gegenüber der Argumentationsweise aus der Schrift Über die belehrte Unwissenheit an den Anfang des neuen Entwurfs setzt: [...] In ante expositis ‚De docta ignorantia’ memor sum de deo me intellectualiter saepe locutum p e r c o n t r a d i c t o r i o r u m c o p u l a t i o n e m in unitate simplici. [...] Improportionabiliter simplicior est n e g a t i o o p p o s i t o r u m d i s i u n c t i v e a c c o p u l a t i v e q u a m e o r u m c o p u l a t i o . Aliter autem divine secundum primae absolutae unitatis conceptum de deo, aliter secundum hanc intellectualem unitatem dicendum multoque adhuc bassius secundum rationem.329
Mit den begrifflichen Mitteln des intellectus glaubte Nikolaus in De docta ignorantia also in unzulässiger Weise auf Gott als absolutum rekurriert zu haben. Damit stellt er das in De docta ignorantia entwickelte Konzept der vierfachen Gliederung der Erkenntnis keineswegs grundsätzlich in Frage. Wir haben es eher mit einem Einwand methodischer Art zu tun: Die Idee des Überstiegs von den unendlich vergrößerten geometrischen Figuren zum maximum absolutum ist nicht nur in mathematischer, sondern auch in symboltheologischer Hinsicht fragwürdig. 327 328 329
Doct. ign., h 1, lib. 1, cap. 11, S. 24, Z. 8f. Flasch: Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung, S. 306. De coni., h 3, lib. 1, cap. 6, n 24, S. 30 – 31, Z. 1–9.
3.2. Erkenntnisbegriff, Zahlenlehre und Kosmologie in ‚De coniecturis‘
109
Mit dem absolutissimum ab omni figura330 konnte Nikolaus sein eigentliches Ziel nicht erreichen, denn durch die Auflösung der geometrischen Bestimmung seiner Betrachtungsobjekte, also einer eidetische Reduktion oder, wie es in der Phänomenologie Edmund Husserls (1859–1938) heißt, durch die Epoché,331 der Ausschaltung aller Setzungen zur Erkenntnis der Welt in ihren tatsächlichen Strukturen, wird ein hinter dem einzelnen Koinzidenze r e i g n i s stehendes Koinzidenzp r i n z i p erschlossen, nichtsdestoweniger aber bleibt die Koinzidenzerfahrung nicht das letzte Wort in Hinblick auf die Gotteserkenntnis: Zwar vermag in der Abstraktion vom Einzelobjekt im Überstieg zum Unendlichen die Universalität und Unwandelbarkeit der coincidentia oppositorum nachvollziehbar werden. Das Koinzidenzereignis ist aber ausdrücklich das kennzeichnende epistemologische Phänomen der intelligiblen Sphäre und als solches gänzlich auf sie beschränkt, selbst dann noch, wenn es auf ein allgemeines epistemisches Prinzip abgebildet wird.332 Es fehlt in De docta ignorantia aber noch an der klaren Trennung des Erkenntnisbereichs des intellectus von der praecisio absoluta, der allein der göttlichen Allmacht vorbehaltenen höchsten Sphäre des unumschränkten ‚Einen‘, der absoluten Wahrheit. Die unendlichen geometrischen Figuren vermögen, ob sie nun aus ihrer Figürlichkeit gelöst werden oder nicht, allein das gegenüber dem absoluten ‚Einen‘ k o n t r a k t e Unendliche abzubilden. Das unum absolutum ist diesem Denken aber entzogen. Es kann nun nicht verwundern, dass der geometrische Symbolismus in der zweiten philosophischen Grundsatzschrift De coniecturis deutlich in den Hintergrund tritt. Was zu Beginn der Schrift Über die Mutmaßung verklausuliert zutage tritt, lässt sich m. E. mit den begrifflichen Mitteln der modernen, nicht-klassischen Logik fassen. Indem Nikolaus die Anwendbarkeit dialektischer Schlussweisen strikt auf den Bereich der ratio beschränkt wissen will, begrenzt er zugleich die Gültigkeit eines formal-logischen Zweiwertigkeitsprinzips.333 Genau das ist es dann auch, was Kurt Flasch mit seiner Formulierung von der cusanischen Koinzidenztheorie im starken Sinne des Wortes gemeint hat.334 Die Grundfrage ist dabei, ob die (logische) Aussage ‚nicht wahr‘ in jedem Falle als gleichbedeutend mit dem Wahrheitswert ‚falsch‘ verstanden werden muss, oder ob ‚nicht wahr‘ im logischen Urteil eine Mittelposition, eine Wahrheitswertlücke zwischen ‚wahr‘ und ‚falsch‘ 330 331
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Doct. ign., h 1, lib. 1, cap. 12, S. 24, Z. 22. Siehe vor allem: Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, Tübingen 61993. In De coniecturis wird Nikolaus insgesamt zu dem Ergebnis kommen, dass zwar auch Koinzidenzien in den Bereichen des Sinnlichen und des Rationalen, also gewissermaßen Koinzidenzien niederer Ordnung, ausgemacht werden können, jedoch nur dann, wenn der intellectus als Entscheidungsinstanz in den Wahrnehmungsprozess eingeschaltet wird. Die Terminologie nicht-klassischer Logik wird hier und im Folgenden entnommen aus: Lothar Kreiser u. Sigfried Gottwald u. Werner Stelzner: Nichtklassische Logik, Berlin 1988, S. 2ff. Flasch: Nicolaus Cusanus, S. 24.
110
3. Die philosophisch-theologischen Grundlagen
einnehmen kann. Die gleiche Frage kann natürlich auf beliebige logische Urteile, auf antithetische Begriffspaare wie ‚endlich‘ – ‚unendlich‘, ‚Größtes‘ – ‚Kleinstes‘ usw. angewandt werden. Hält man nun logische Mittelglieder als Wahrheitswertlücken für möglich, und das ist im cusanischen Koinzidenzprinzip sicher der Fall, dann bleibt weiterhin zu klären, ob in deren Unbestimmtheit ein dritter gleichberechtigter oder sogar übergeordneter Wahrheitswert, also eine echte Antinomie angelegt ist, oder ob es sich aber vielmehr lediglich um eine ‚Ungenauigkeit‘ in den Prämissen der logischen Aussage handelt, die Wahrheitswertlücke also in der Regel durch Präzisierungen aufgehoben werden kann.335 Nikolaus bezieht in dieser Frage eindeutig Position. Im Bereich des intellectus gilt die Wahrheitswertlücke als lediglich ‚unbestimmt‘, ihre logische Verfasstheit ist das ‚sowohl als auch‘, der einfache logische Widerspruch vor dem Beurteilungshorizont der ratio. Ihre Unbestimmtheit kann aber stetig verringert werden, wenngleich der Vorgang der steten Präzisierung dabei zu keinem echten Abschluss kommen kann. Die coincidentia oppositorum erklärt den logischen Widerspruch zum Prinzip der hervorragendsten menschlichen Erkenntnis, so dass für zwei Aussagen A und B aus intellektualer Perspektive gilt: A → B und z u g l e i c h A → nicht B, ohne dass im Zuge eines endlichen diskursiven Prozesses der Schluss A → B, A → nicht B ├ nicht A gezogen werden könnte. Demgegenüber ist die Unbestimmtheit des Gottesbegriffs ein eigenständiger Wahrheitswert, dessen Indeterminiertheit aus menschlicher Perspektive nicht durch sprachliche oder formale Präzisierungen vermindert werden kann, die also nicht intelligibel wird: Non poterit [...] infinitius responderi ‚an deus sit‘ quam quod ipse nec est nec non est, atque quod ipse nec est et non est.336 Die reductio ad absurdum, die in der intellektualen Koinzidenz das höchste Ziel hat, kann für den Bereich der göttlichen Vollkommenheit nicht zum maßgeblichen Instrument der Erkenntnis werden. In der Gottesschau muss das Koinzidenzprinzip selbst verneint werden, allerdings nicht derart, dass aus dieser Negation heraus absolute, eindeutige Aussagen möglich, also durch die Verneinung des Koinzidenzprinzips die in ihm angelegten Unbestimmtheiten aufgelöst würden. Vielmehr geht Nikolaus beim Überstieg zum ‚Unendlich-Einen‘ im Grunde von einer doppelten Negation der folgenden Art aus: Die zweifache Verneinung wird dichotomisch gefasst, indem sie einerseits als Affirmation (non non A = A), andererseits als Bekräftigung der Verneinung (ne ne A = ├A) verstanden wird.337 In der Koinzidenz gelten beide logische Prinzipien, allerdings abhängig vom jeweiligen Betrachtungswinkel. Man kann man sich diese Voraussetzung formal wie folgt vorstellen: Durch Klammerung können beide Formen der doppel335 336 337
Kreiser/Gottwald/Stelzner: Nichtklassische Logik, S. 2. De coni., h 3, lib. 1, cap. 5, n 21, S. 27f., Z. 10–12. Diese Art der Formalisierung, die für den vorliegenden Zusammenhang überaus nützlich, da leicht verständlich, ist, wählt Ludwig Wittgenstein in seinen Nachlassschriften, die in elektronischer Form (6 CD Roms) als Text- und Faksimileversion vorliegen: Wittgenstein’s Nachlass. The Bergen electronic edition. Oxford [u.a.]: 2000, darin vor allem: Item 115, Part 2, n 59–60.
3.2. Erkenntnisbegriff, Zahlenlehre und Kosmologie in ‚De coniecturis‘
111
ten Verneinung in der Vernunft widerspruchsfrei miteinander in Bezug gesetzt werden, und zwar durch (ne ne) A = ne A und zugleich ne (ne A) = A. Der intellectus sieht nie beide Bestimmungsmöglichkeiten vollständig ineins, das unendliche Dreieck aus De docta ignorantia kann mittels der intelligiblen Schau zwar als jeweils größtes oder kleinstes aufgefasst werden, allerdings nie so, dass der intellectus auf die Unterscheidung von ‚Größtem‘ und ‚Kleinsten‘ vollständig verzichten kann. Um den Geltungsbereich der Koinzidenz hin auf die Gottesschau zu transzendieren, muss sich die Vernunft schließlich von allen Voraussetzungen und Unterscheidungen lösen. Die gleichzeitige Gültigkeit beider Formen der doppelten Verneinung, die für das Koinzidenzprinzip konstitutiv ist, muss ihrerseits verneint werden. Gott geht dann schließlich, wie es Nikolaus sehr viel später in der kleinen Schrift De principio von 1459 formuliert, jeder Begrifflichkeit voraus: [...] Vides contradictoria negari ab ipso, ut neque sit neque non sit neque sit et non sit neque sit vel non sit; sed omnes istae locutiones ipsum non attingunt, qui o m n i a d i c i b i l i a a n t e c e d i t .338
Allzu leicht ist man versucht, aus der signifikanten Passage nominalistische Positionen herauszulesen. So wird ja auch bei Johannes Buridanus (1300–1358), vor allem in den für den Nominalismus so einflussreichen Sophismata, ausführlich auf die Frage eingegangen, ob und in welcher Weise überhaupt ein angemessener Gottesbegriff gefunden werden könne. Buridans (letztlich überwiegend sprachtheoretische) Argumentation und der negative Bescheid für eine schlüssige Terminologie der Gotteserkenntnis aber fußt im Gegensatz zu Nikolaus’ Ansatz im Wesentlichen auf dem nominalistischen Allgemeinplatz, dass die Annahme einer realen Entsprechung zur Universalie, und das ist in diesem Sachzusammenhang natürlich besonders bedeutsam, zu a priorisch falschen Urteilen führen muss.339
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De princ., h 10 (Fasc. 2b), n 19, S. 27, Z. 14–16. Aufschlussreich sind dabei vor allem die folgenden Textpassagen: Johannes Buridanus: Sophismata (= Grammatica speculativa – Sprachtheorie und Logik des Mittelalters 1), T. K. Scott (Hg.), Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, cap. 1 (ad tertium sophismatum), S. 32 = ed. Antoine Denidel/Nicolaus de La Barre, Paris 1496/1500, fol. 6r: Ad tertium (tertium sophisma: Deus non est (Anm. des Autors)) dico quod est falsum, et etiam dico quod ista oratio ‚Deus non est‘ nihil significat quod non sit vel quod non possit esse, scilicet quod non sic correspondet in mente quantum ad ea quae signif(f)icat apud mentem et quod non sit ad extra vel posset esse quantum ad ea quae significat ad extra. Sed nec hoc sufficit ad veritatem propositionis, sicut communiter dicetur. Ferner (ed. Scott, S. 33): Revertor ergo ad solutionem sophismatis et dico quod licet plus significetur apud mentem per hanc orationem ‚Deus est Deus‘ quam per hoc nomen ‚Deus‘, tamen ad extra nihil plus significatur, sed idem omnino tamen aliter. Letztlich argumentiert Buridan hier aus der terministischen Position heraus, dass die Wahrheit keine Funktion der ‚Significatio‘ allein sein kann, da jede ‚propositio‘, egal ob wahr oder falsch, sowohl auf eine geistige Proposition als auch auf ein konkretes Partikular verweist.
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3. Die philosophisch-theologischen Grundlagen
Nikolaus’ Annahme, dass über Gott weder in affirmativer, noch negativer Weise, noch mit den Mitteln der Koinzidenz (absolut) wahre Aussagen getroffen werden können, bedeutet im Gegensatz zu dieser ‚normalscholastischen‘ Position allerdings nicht, dass sich der Mensch der Gotteserkenntnis mit begrifflichen Mitteln in keiner Weise a n n ä h e r n kann. Im Gegenteil: Die Einsicht, dass die unendliche Einheit nicht nur frei von begrifflichen Attributen, sondern überhaupt ohne jegliche einschränkende Bestimmung ist, wird zum Leitfaden der theologischen Spekulation. Diese Erkenntnis kann aber nur vermittelt, und das heißt, im bewussten Überstieg über das Begriffliche erreicht werden. Es spricht also bei Nikolaus prinzipiell nichts dagegen, von Gott intellectualiter zu sprechen, sofern die Unzulänglichkeit dieser Terminologie stets mitgedacht wird. Das neue Programm in der Schrift Über die Mutmaßung rückt deshalb das erkennende Subjekt noch deutlicher ins Zentrum der Betrachtung. Nicht mehr das Erkenntnisziel, die docta ignorantia, steht im Vordergrund, sondern der Erkenntnisweg, der sich über coniecturae, Mutmaßungen vollzieht. Auch mit der begrifflichen Wendung von der docta ignorantia zur coniectura scheint Nikolaus Fehldeutungen der früheren Schrift vorbeugen zu wollen. Ganz bewusst spielt er mit dem neuen Begriff der Konjektur auf die eleatische Schule an, und darin vor allem auf das Konzept der δόξα, den Weg der Meinung,340 den bereits Parmenides (um 540–470) im 6. Fragment Über die Natur, wenn auch zögernd, beschritten hatte. Das mutmaßende Erkennen will Nikolaus nun aber, anders als der Vorsokratiker, nicht nur auf die sinnliche Erfahrung beschränkt wissen. Sie ist ganz allgemein die einzig mögliche Erkenntnisweise. Konjekturen sind der alleinige Weg zur Erkenntnis der Koinzidenz selbst, wie auch ihres Weisungscharakters auf das, was über sie hinausgeht: die absolute Einheit Gottes. Die Einsicht in den mutmaßenden Charakter allen menschlichen Wissens und Schließens wird dabei zur indirekten Schau der kontrakten Unendlichkeit der Welt und der absoluten Unendlichkeit ihres Schöpfers. Dies ist dann auch die positive Wendung, die Nikolaus der Kritik an seinem allzu optimistischen und schließlich als unzulänglich erkanntem Vorgehen aus De docta ignorantia abgewinnt. Sehr viel später, im Trialogus de possest von 1460, wird er dann diese neuen Überlegungen zur Terminologie der Gotteserkenntnis in die Grundüberzeugung fassen, Gott müsse in jeder Hinsicht der Negation vorausgehen.341 340
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Hirschberger, S. 35f.; Tomás Calvo Martínez: Thruth and Doxa in Parmenides, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 59 (1977), S. 245–260; Hans Schwabel: Sein und Doxa bei Parmenides, in: Wiener Studien 66 (1953), S. 50–75; Patricia Curd: The Legacy of Parmenides. Eleatic Monism and Later Presocratic Thought, Las Vegas 2004, vor allem Kapitel 3 (= Doxa and Deception) und darin S. 100–108. Trialogus de possest, h 112, Renate Steiger (Hg.), Hamburg 1973 [im Folgenden zit. als De poss., h 112], siehe vor allem: n 67, S. 79, Z. 6–15: […] Verius video deum quam mundum. Nam non video mundum nisi cum non-esse et negative, ac si diverem: Mundum video non esse deum. D e u m a u t e m v i d e o a n t e n o n - e s s e ; i d e o n u l l u m e s s e d e i p s o n e g a t u r . Esse igitur ipsius est omne esse omnium quae sunt aut esse quoquomodo possunt. Hoc nulla alia via absque phantasmate simplicius et verius videri potest.
3.2. Erkenntnisbegriff, Zahlenlehre und Kosmologie in ‚De coniecturis‘
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3.2.2. Paradigmenwechsel. Zahlenmystik vs. geometrische Analogie Die selbstkritischen Ausführungen zum eigenen Vorgehen in De docta ignorantia sind für Nikolaus also zum Keim einer Einheits- und Erkenntnismetaphysik unter neuen Vorzeichen und, das ist im vorliegenden Zusammenhang besonders wichtig, mit anderen symbolsprachlichen Mitteln geworden: An die Stelle der geometrico-theologischen Spekulationen rückt die epistemologische Auszeichnung der natürlichen Zahlenreihe. Die symboltheologische Instrumentalisierung der Zahl hat gegenüber den geometrischen Symbolen aus De docta ignorantia einen entscheidenden Vorteil: Die Zahl hat keine unmittelbare ‚gestalthafte‘ Ähnlichkeit mit Objekten der sinnlichen Erfahrung. Während sich in der belebten und unbelebten Natur annähernd Kreisförmiges, Rechtwinkliges usw. ja durchaus ausmachen lässt, birgt der ‚numerus‘ zumindest keine direkten morphologischen Verweise auf die sinnliche Außenwelt. Zwar gelten die geometrischen Figuren Nikolaus weiterhin als genuin geistige Schöpfungen und als solche werden sie auch in De coniecturis angeführt. Sie bringen aber in didaktischer Hinsicht, und dies scheint eines der wichtigsten Ergebnisse der kritischen ‚Nachlese‘ des Kusaners gewesen zu sein, stets die Gefahr mit sich, dass der Betrachter über das ‚Figürliche‘, also den Bereich der reinen Anschauung nicht hinauskommt, da der Weisungscharakter der geometrischen Formen ambivalent ist. Anders gesagt: Die idealisierten Kreise und Dreiecke aus der Schrift über die belehrte Unwissenheit sind schlicht weniger deutlich von der sinnlichen Anschauung abzugrenzen als die wesentlich abstraktere Zahl, die in De coniecturis als allmächtig342 und das Urbild der Dinge,343 in dem der menschliche Geist gleichsam wie in einem natürlichen und ihm eigentümlichen Gleichnis, seine eigene Einheit, die seine Seinsheit ist zu erkennen vermag,344 überhöht wird. Entscheidend ist dabei – das vermerkt Nikolaus ausdrücklich – die Eindeutigkeit und Unwandelbarkeit der z a h l e n h a f t e n Symbole: Ea etenim, quae dici possent, numeri quidem sunt inexplicabilis unitatis n u m e r a l e s v e f i g u r a e i n v a r i a b i l i s v e r i t a t i s , quae tanto clarius intuebitur, quanto absolutius atque unitius concipitur.345
Die allgemeinere Fassung von den signa mathematica und ihrer certitudo incorrupta, wie sie in der Schrift Über die belehrte Unwissenheit auftaucht, ist verschwunden, es geht Nikolaus jetzt vorrangig um den numerus. Diese Einschränkung des symbolischen Zeichensatzes, die weite Teile des ersten Buchs De coniecturis bestimmt, hat insgesamt auch für den cusanischen Unendlichkeitsbegriff Konsequenzen gehabt. Die unendlichen geometrischen Figuren in De doc-
342 343 344 345
Per negativam enim praesuppositum ipsum, quod non-esse antecedit, entitatem omnis esse in aeternitate simplici intuitu vides, a quo omne quod non-esse sequitur negas. De coni., h 3, lib. 1, cap. 5, n 18, S. 24 , Z. 6. Ebd., cap. 2, n 9, S. 14, Z. 7f.: [...] primum rerum exemplar […]. Ebd., lib. 2, cap. 2, n 83, S. 81, Z. 14ff. Ebd., lib. 1, cap. 5, n 18, S. 24, Z. 7–10.
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3. Die philosophisch-theologischen Grundlagen
ta ignorantia implizierten ja zumindest bis zu einem gewissen Grad noch die Existenzannahme für das Aktual-Unendliche im Sinne eines extensiven Extremums. Die natürliche Zahlenreihe, die in De coniecturis zur zentralen Metapher der Erkenntnis- und Seinslehre wird, führt Nikolaus demgegenüber zunächst klar in Einklang mit Aristoteles als Potenz, die niemals vollständig in Akt überführt werden kann ein.346 Dass es sich bei diesem Abfall vom Aktual-Unendlichen für Nikolaus um eine starke ontische privatio handelt, zeigt sich schon daran, dass er zur Kennzeichnung der Andersheit alles Geschaffenen von Unendlichkeiten, also in der Mehrzahl spricht. Infinitates finitae nennt er jene Erkenntnisinhalte,347 die, insofern sie sich über die ‚Vielheit‘ und nicht über die absolute ‚Einheit‘, das Unendliche ‚an sich‘ erschließen, nur als potentiell unendlich gedacht werden können. Die mathematischen Unendlichkeiten sind damit niemals unendliches Sein, sondern immer nur unendliches Werden. Darin liegt der wesentliche Unterschied zu den geometrischen Symbolen aus der Schrift Über die belehrte Unwissenheit: Gott soll nicht mehr im direkten Überstieg zu einem maximum absolutum sondern nur im Gegensatz der ‚Vielheit‘ zum unumschränkten ‚Einen‘ gedacht werden. Diese Überlegungen werden in De coniecturis zur Grundlage der neuen dichothomischen Ontologie von unitas und alteritas, ‚Einheit‘ und ‚Andersheit‘ als höchsten Seinsprinzipien jeder substanziellen oder geistigen Entität. ‚Andersheit‘ ist dabei zu verstehen als jener Abfall vom ‚Einen‘, der in der Endlichkeit alles Geschaffenen immer mit angelegt ist. Dieses Zurückstehen der Dinge, die durch die sie auszeichnende ‚Andersheit‘ nie ganz für und nie ganz bei sich sind, hinter ihrem Urgrund, spiegelt sich auch in den verschiedenen Ebenen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit wieder. Die Ausfaltung der vier Erkenntnisvermögen von Vernunft (intellectus), Verstand (ratio), Vorstellungsvermögen (virtus phantastica) und sinnlicher Erfahrung kommt einem steten Sich-Entfernen von der unitas absoluta, einem unausweichlichen Rückgang der certitudo gleich. Das ist soweit, abgesehen von der begrifflichen Variante virtus phantastica statt imaginatio, weitgehend identisch mit den gnoseologischen Modellen aus der Vorgängerschrift. Neu ist aber, dass Nikolaus sich nun jeden Erkenntnisprozess in zwei simultane aber zugleich reziproke geistige Bewegungen fasst. Dabei bestimmt er zunächst in vier paradigmatischen Sätzen die grundsätzlichen Beziehungen der Erkenntnisvermögen zueinander mit seinem neuen ontologischen Vokabular von unitas und alteritas: 1. Intellectus [...] alteritas est infinitae unitatis.348 2. Ratio alteritas intellectualis unitatis est.349 346
347 348
Anneliese Maier: Die Vorläufer Galileis im 14. Jahrhundert. Studien zur Naturphilosophie der Spätscholastik, Rom 1949, S. 197. Siehe Kap. 3.1.5. und 3.1.6. (beginnen S. 104 u. 105). De coni., h 3, lib. 2, cap. 16, n 167, S. 168, Z. 5f.
3.2. Erkenntnisbegriff, Zahlenlehre und Kosmologie in ‚De coniecturis‘
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3. Unit enim alteritates sensatorum in phantasia, varietatem alteritatum phantasmatum unit in ratione [...].350 4. [...] Unit alteritas sensatorum in phantasia [...].351 Jedes Erkenntnisvermögen steht also in einem spezifischen Verhältnis zur jeweils vor- und nachgeordneten Stufe, und zwar derart, dass die jeweils niedrigere geistige ‚Einheit‘ die ‚Andersheit‘ der jeweils höheren darstellt. Das in De docta ignorantia formulierte Erkenntnisziel des Überstiegs zur Schau des maximum absolutum, das nun unitas infinita oder unitas absoluta heißt, ist und bleibt natürlich das vorrangige Erkenntnisziel. Dieses höchste Ziel, die Annäherung an die göttliche Einheit, ist aber, daran hat sich seit De docta ignorantia nichts geändert, für Nikolaus nur mittelbar zu erreichen, ist also nur im Aufstieg des Denkens durch die verschiedenen Erkenntnisstufen möglich. Dabei ergeben sich aber vor dem Hintergrund der unitas-alteritas-Konzeption Schwierigkeiten, die zuvor durch die indirekte Schlussweise der negativen Theologie verdeckt wurden. Nun, da Nikolaus die Möglichkeiten des transitus genauer ausleuchten, den Erkenntnisprozess selbst also einer noch intensiveren Analyse unterziehen und seine innersten Mechanismen erforschen will, muss er sich auch den Bedingungen, oder besser, den Auslösern menschlicher Erkenntnisprozesse zuwenden, ohne dabei den Anspruch einer prinzipiell unendlichen Entwicklungsfähigkeit des Geistes aufgeben zu müssen. Wie aber kann Kausalität mit der menschlichen Willensfreiheit, die in der unendlichen Entwicklungsfähigkeit des Geistes ganz zwangsläufig mitgedacht werden muss, in Einklang gebracht werden? Die analogischen Betrachtungen aus De docta ignorantia konnten dieses unbegrenzte Entwicklungspotential letztlich nur in Aussicht stellen, ohne aber den Erkenntnisvorgang selbst intelligibel zu machen. In De coniecturis geht es Nikolaus nun aber um genau dieses epistemologische ‚Wie?‘. Er entwirft dabei ein neues erkenntnistheoretisches Begründungsmodell, in dem ‚Einheit‘ und ‚Andersheit‘ als die zwei hauptsächlichen Prinzipien in einen unweigerlichen Zirkelschluss münden. Unbedingte Voraussetzung für die Einsicht in höhere Wahrheiten ist nämlich – hier argumentiert Nikolaus ganz im Sinne der docta ignorantia – die Selbsterkenntnis des wahrheitssuchenden Geistes. Insofern dieser aber gleichsam durch ‚Einheit‘ und ‚Andersheit‘ bestimmt ist, unterliegt seine Möglichkeit zur Reflexion gewissen Einschränkungen. Es gilt nämlich: Unitas per se est inattingiblis. [...] Non igitur attingitur unitas nisi mediante alteritate.352 Das ist in Hinblick auf die grundsätzliche Geschiedenheit von Gott und Welt, die für Nikolaus außer Frage steht, eigentlich klar. Alle Dinge in der Welt sind dem ‚Einen‘ lediglich ähnlich, es muss also ein Unterscheidendes, die ‚Andersheit‘ zu ihrer Wesensbestimmung hinzutreten. Da von der Warte des Geschaffenen aus nichts, also auch nicht die ‚Andersheit‘, absolut, d.h. ‚für sich‘ genommen 349 350 351 352
Ebd., n 165, S. 166, Z. 11. Ebd., n 159, S. 159, Z. 7. Ebd., Z. 6. De coni., h 3, lib. 2, cap. 16, n 162, S. 168, Z. 1ff.
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3. Die philosophisch-theologischen Grundlagen
betrachtet werden kann, gilt nun aber zugleich: [...] Neque alteritas attingitur per se [...]. Unde non attingitur alteritas nisi mediante unitate.353 Der Wahrheitssuchende steckt also auf den ersten Blick in einem unüberwindbaren Dilemma. Die wechselseitige Bedingtheit von ‚Einheit‘ und ‚Andersheit‘ macht es ihm auf den ersten Blick unmöglich, überhaupt Erkenntnisinhalte zu extrapolieren und so den gewünschten Überstieg zur Schau seiner selbst und damit der ihm gegenüberstehenden unendlichen Einheit zu leisten. Nikolaus aber gibt auch hier der düsteren erkenntniskritischen Prognose eine optimistische Wendung. Er durchbricht den ‚circulus vitiosus‘, indem er die beiden gegenläufigen Begründungsprozesse als simultan und k o i n z i d i e r e n d denkt. Dabei weicht er von ‚Einheit‘ und ‚Andersheit‘ zugleich auf eine andere Terminologie aus, auf die von ‚Akt‘ und ‚Potenz‘. Die ‚Einheit‘ jedes Erkenntnisvermögens liegt in ihrer Möglichkeit (potentia), so dass der intellectus in der Potenz der ratio, die ratio in der Potenz der virtus phantastica usw. liegen. Umgekehrt ‚aktuieren‘, d.h. ‚verwirklichen‘ sich in jeder dieser Stufen die ihr je übergeordneten Einheiten. Hierzu bedarf es aber eines Anstoßes, einer Initialzündung für den Vorgang der Aktuierung. Dieser Erkenntnisimpuls wird vordergründig durch einen wahrhaft paradox anmutenden geistigen Vorgang geliefert: Nikolaus geht zunächst von den folgenden Prämissen aus: Anders als Verstand, Vorstellung und Wahrnehmung, die von der Vernunft aus dieser selbst heraus als in ihr vollständig eingefaltet erkannt werden können, kann sich der intellectus seiner selbst nie vollständig vergewissern. Denn nur im unerreichbaren Unendlich-Einen, der ihm übergeordneten, letzten Erkenntnisinstanz, Gott selbst, könnte sich der Intellekt so sehen, wie er ist: Non potest intellectus seipsum, qui alteritas est, [...] nisi in ipsa divinissima unitate uti est intueri.354 So sucht die Vernunft sich selbst zu bestimmen, indem sie über Verstand und Vorstellungskraft wie der Funke eines geistigen Feuers355 in die Sinne hinabsteigt. Nur so vermag die Vernunft sich ihrer ‚Wirklichkeit‘ zu vergewissern. Nur im Abstieg hört sie auf, nur der Möglichkeit nach zu sein, also sich als Potenz von ratio, virtus phantastica und sensus zu begreifen, sondern sich in actu als Einfaltendes der übrigen Erkenntnisvermögen zu erkennen – ein Gedanke, den Nikolaus übrigens so auch bei Lull hätte finden konnte.356 Während sich der Intellekt im Abstieg über Verstand und Vorstellungskraft bis zu den Sinnesvermögen aktuiert, kann sich aber zugleich die niederste und ungenauste Form des Erkennens, die sinnliche Wahrnehmung, durch den aktuierten Intellekt angestoßen gewissermaßen zu der ihr innewohnenden Möglichkeit erheben, also über Verstand und Vorstellungskraft bis in die Sphäre der Vernunft aufsteigen. Dort, das macht die schwer begreifbare Simultanität des Vorgangs aus, 353 354 355 356
Ebd., Z. 5ff. De coni., h 3, lib. 2, cap. 16, n 167, S. 168, Z. 9–12. Ebd., n 161, S. 163, Z. 17: [...] quasi semen ignis intellectualis [...]. Nikolaus besaß eine Abschrift von Lulls Liber de ascensu et descensu intellectus: Cod. Cus. 83, fol. 229r–fol. 273v (in Kues ohne Überschrift).
3.2. Erkenntnisbegriff, Zahlenlehre und Kosmologie in ‚De coniecturis‘
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regt das Sinnesvermögen ‚in potentia‘ die Vernunft an, sich ‚in actu‘ in den Abstieg durch die Erkenntnissphären zu begeben. Aufstieg und Abstieg sind also nicht als isolierte, autarke Prozesse zu denken, sondern als ein einziger geschlossener (überzeitlicher, oder besser, unzeitlicher) Prozess, der sich selbst ohne erkennbaren ‚äußeren‘ Anlass spontan auslöst und als ein epistemologisches ‚perpetuum mobile‘ beständig selbst begründet: Intellectus autem iste in nostra anima eapropter in sensum descendit, ut sensibile ascendat in ipsum. Ascendit ad intellectum sensibile, ut intelligentia ad ipsum descendat.357
Diesen beständigen Rückbezug des menschlichen Geistes hat Nikolaus in den folgenden bemerkenswerten Satz aus dem ersten Buch De coniecturis gefasst: Mens ipsa omnia se ambire omniaque lustrare comprehendereque supponens, se in omnibus atque omnia in se esse taliter concludit, ut extra ipsam ac quod eius obtutum aufugiat n i h i l e s s e p o s s e affirmet. 358
Wenn aber der Geist, wie es hier anklingt, a u s s i c h s e l b s t seine konjekturale Welt entfaltet,359 wo bleibt dann noch Raum für die Gottesschau, dem eigentlichen Ziel jeder geistigen Tätigkeit? Wie soll der menschliche Geist seine Verähnelung mit Gott nachvollziehen, wenn er aus seiner Erfahrungswelt keine direkten Anhaltspunkte für das Wirken des Schöpfergottes ableiten kann? Ist der Vorwurf des Pantheismus, den Johannes Wenck bereits in seiner Fundamentalkritik an De docta ignorantia vorgebracht hatte,360 also doch gerechtfertigt, zumal Nikolaus schließlich ausdrücklich vom humanus Deus spricht?361 Es gilt zu bedenken: Die schöpferische Kraft des menschlichen Geistes bezieht sich nur auf ‚Denkbares‘. Was undenkbar ist, also sich nicht mit den Denkprinzipien der einzelnen Erkenntnisbereiche fassen lässt, ist dem Menschen entzogen. Die mens humana erschöpft schon in der Schau der intellektualen Koinzidenz ihr Potential, obgleich in dieser natürlich ein unendliches Voranschreiten auf dem Weg der Erkenntnis angelegt ist. Dieser unendliche Prozess ist aber gegenüber der absoluten Unendlichkeit kontrakt, eingeschränkt, eine Welt im Kleinen: Est igitur homo m i c r o c o s m o s aut humanus quidem mundus.362 Dass der menschliche Geist die Aussage, es gäbe außerhalb seiner nichts, was denkbar wäre, affirmativ treffen kann, sich selbst also als geschlossen begreifen kann, weist schon auf seine Unzulänglichkeit und Abhängigkeit von einer übergeordneten geistigen Instanz hin. Dazu gehört ja, davon war schon die Rede, auch die Bejahung der Koinzidenz. Es sei noch einmal in aller Ausdrücklichkeit gesagt: Über Gott will Nikolaus weder in affirmativer noch negativer Weise Aussagen treffen. Da der menschliche Geist in der Betrachtung seiner selbst aber ohne 357 358 359
360 361 362
De coni., h 3, lib.2, cap. 16, n 157, S. 156f. , Z. 10–13. Ebd., lib. 1, cap. 4, n 12, S. 18, Z. 1–6. Satoshi Oide: Über die Grundlagen der cusanischen Konjekturlehre, in: MFCG 8, Rudolf Haubst (Hg.), Mainz 1970, S. 147–178, hier: S. 154. Siehe: S. 22 und Anm. 7. De coni., h 3, lib. 2, cap. 14, n 143, S. 143, Z. 12: Potest igitur homo esse humanus deus […]. Ebd., Z. 9f.
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3. Die philosophisch-theologischen Grundlagen
Bejahung und Verneinung nicht auskommt, auch nicht im Kontext der Koinzidenz, erkennt er zugleich, dass die Möglichkeit zu dieser Reflexion durch ein unendlich größeres Vermögen, Gott selbst, überhaupt erst gewährleistet werden muss. Man sieht nun auch sofort, dass actus und potentia nur vorrübergehend und gewissermaßen als Hilfsbegriffe bei der Etablierung einer gänzlich neuen terminologischen Konzeption eingeführt wurden. In der grundsätzlichen Bestimmung, die sie bei den Aristotelikern haben, sind sie am Ende auf die Konjektur-Lehre nicht mehr anwendbar, denn im Akt-PotenzDenken bleibt doch stets ein gewisses Maß an Ungleichzeitigkeit bestehen. Die Selbstbetrachtung der Erkenntnisvermögen und die mit ihr verbundenen Einsichten kennt kein ‚Vorher‘ und ‚Nachher‘, sondern ist ein unbedingtes ‚Zugleich‘. Im Zusammenhang mit der konjekturalen Zahlenlehre ist das, davon wird noch die Rede sein, besonders evident. Das Akt-Potenz-Denken muss, das ist entscheidend, in De coniecturis zugunsten der Einheitsmetaphysik schließlich zurückgestellt werden. Der ganze Gedankengang ist überaus schwer verständlich. Die Transparenz und Pointiertheit der Darstellung in De docta ignorantia ist zugunsten einer präziseren Terminologie, aber auch auf Kosten der Verbindlichkeit und Anschaulichkeit gewichen. Nikolaus ist sich dessen wohl bewusst. Zum besseren Verständnis greift er auf die figurative Symbolik zurück, allerdings ist das Repertoire der Verbildlichung in De coniecturis ungleich breiter als in den rein geometrico-theologischen Gleichnissen der Vorgängerschrift. Die Symbolsprache der Mutmaßungs-Philosophie lässt dabei stets eine Vielzahl von Lesarten zu. Die Mehrdeutigkeit des Vorgebrachten ist in diesem Falle aber sicher nicht, oder zumindest sicher nicht überwiegend, Ausdruck eines unsicheren, mit der Vermittlung komplexer Inhalte hadernden Geistes, sie ist vielmehr Programm. An der fehlenden Deutungshoheit nämlich kann Nikolaus die Konjektur-Lehre selbst exemplifizieren, die Pluralität des Denkbaren en passant versinnbildlichen: Da, wo das Erkenntnisziel letztlich unbestimmbar bleibt und nur in Annäherung gedacht werden kann, da lässt sich auch kein allgemeinverbindlicher Erkenntnisweg vorzeichnen. Auch hier muss der Betrachter Nikolaus’ stets erkenntnisoptimistische Grundhaltung mitdenken: dass kein Erkenntnisweg, kein philosophisches, theologisches oder wissenschaftliches Denkgerüst absolute Erkenntnisse zu garantieren vermag, kann nämlich durchaus auch so verstanden werden, dass letztlich a l l e Erkenntniswege, sofern sie in der rechten Absicht, d.h. in der Hinordnung auf die Annäherung an die Einheit, beschritten werden, zulässig sein können. Bild an Bild reiht Nikolaus in De coniecturis und vermischt dabei unterschiedlichste geistesgeschichtliche Stränge aus Theologie, Naturphilosophie und Mathematik. Von diesem Bilderreigen wird im Folgenden zu handeln sein.
3.2. Erkenntnisbegriff, Zahlenlehre und Kosmologie in ‚De coniecturis‘
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3.2.3. Figura paradigmatica. Das Licht der Welt(en) Vor allem in den ersten Kapiteln der Konjekturabhandlung zielt Nikolaus auf die bildliche Einfassung seiner Konzeption von unitas und alteritas ab. ‚Einheit‘ und ‚Andersheit‘ werden dabei lichtmetaphysisch konnotiert, die Welt in Bereiche der Finsternis (umbra) und des Lichts (lux) geordnet. Zunächst fasst Nikolaus Licht und Schatten metaphorisch in zwei sich durchdringende Pyramiden ein, die pyramis lucis, deren Basis die unitas absoluta, Gott als Quelle (und unerreichbares Ziel) der Erleuchtung, ist, und die pyramis tenebrarum, mit der alteritas (absoluta) als Fundament. Zwischen diesen beiden Polen erstreckt sich die Welt in gestuften Mischungen von Einheit und Andersheit: Aliter quidem in uno [mundo (Einfügung des Autors)] absorpta est unitas in alteritate aut e converso, aliter in alio secundum plus atque minus.363 Figura paradigmatica nennt nun Nikolaus dieses, sein neues Weltenmodell.
Die figura paradigmatica nach: De coni., h 3, lib. 1, cap. 9, n 41, S. 46
Die symbolische Darstellung weist neben den Basen der beiden Pyramiden weitere strukturierende Elemente auf. Die Welt ist gegliedert in eine höchste (mundus supremus), mittlere (mundus medius) und unterste Welt (mundus infimus), bzw. in einen respektiven ersten, zweiten und dritten Himmel (coelum tertium, secundum und primum), ganz allein abhängig davon, ob der Betrachter die pyramis lucis oder die pyramis tenebrarum zum Ausgangspunkt der Betrachtung wählt. Im ersten Fall leuchtet das göttliche Licht der Einheit in die Welten, im zweiten steigt die Dunkelheit in die höchsten Himmel auf. Damit steht Nikolaus in direkter Nachfolge der Emanationslehre des bedeutendsten neuplatonischen Wortführers Plotin (um 205–270),364 die auch die Vorstellung vom Abfall und Aufstieg (epistrophe) der menschlichen Seele durch die in das absolute Eine, den Geist, die Seele, die Körperwelt und die Materie fünffach gestufte Welt enthält. Dass die beiden ‚Pyramiden‘ (pyramis ist hier, wie noch zu sehen sein wird, ei363 364
De coni., h 3, lib. 1, cap. 10, n 46, S. 50, Z. 9f. Ausführlich zur Emanationslehre und dem Stufenmodell bei Plotin siehe: Jens Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen, Stuttgart 1990.
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3. Die philosophisch-theologischen Grundlagen
gentlich wohl eher mit ‚Kegel‘ zu übersetzen) auch den Prozess von Auf- und Abstieg (ascensus und descensus) der sich selbst begründenden Erkenntnisvermögen formal darstellen will, wird natürlich durch die horizontale Drehung der figura paradigmatica, die sowohl die Renaissancedrucke als auch die modernen Editionen aufweisen, nicht mehr direkt deutlich. Wahrscheinlich wurde bei den Handschriften allein aus Gründen der Platzersparnis durchgängig auf die naheliegende vertikale Ausrichtung der ‚Pyramiden‘ verzichtet. Von dort haben dann die Drucke die etwas widersinnige Darstellung übernommen. Der reziproke Begründungsprozess zwischen ‚Einheit‘ (unitas) und ‚Andersheit‘ (alteritas), der auch die menschlichen Erkenntnisvermögen bestimmt, ist es nun für Nikolaus auch, der die ganze Welt mutmaßend hervorbringt – einmal mehr zeigt sich dabei, wie die Grenzen zwischen Sein und Erkenntnis bei Nikolaus verschwimmen: Ganz im Schatten liegt die unsichere sinnliche Wahrnehmung, die unterste Welt ist der Erkenntnisbereich der schwachen Vorstellungskraft, die mittlere wird durch die ratio durchdrungen, die höchste schließlich, die an die absolute Einheit grenzt, ist die Heimat der intellektualen Erkenntnis. Das göttliche Licht, das aus der absoluten Einheit hervorgeht, durchdringt die gesamte Schöpfung und macht diese erst erkennbar, genau so, wie in der menschlichen mens der intellectus das geistige Feuer der Erkenntnis überhaupt erst zu entzünden vermag. Dieser Gedankengang hat – vor allem in der symbolsprachlichen Auszeichnung von Licht und Feuer bei der Vermittlung der Formen der Einzeldinge – Berührungspunkte mit der Lichtmetaphysik im Kommentar zum Calculus victorii des platonisch beeinflussten, astronomisch und mathematisch interessierten Benediktinermönches und Kirchenpolitikers Abbo von Fleury (um 945–1004). Nikolaus besaß eine Abschrift von Teilen des Traktats,365 vollzieht aber viel stärker als Abbo die Introspektive, betont die weitgehende Autonomie der dem Menschen eigenen Geistesvermögen im Prozess des Erkennens. Wo bei Abbo das Licht dem Geist die Formen durch ein Feuer einprägt, das sich durch die Luft bis zur Pupille verbreitet,366 da bedarf es bei Nikolaus zunächst des inneren Feuers, um die menschliche mens auf die Erkenntnisgegenstände hin auszurichten. Die Formen und Zeichen der Welt müssen also gewissermaßen auf einen vorbereiteten Geist treffen. Absolute Erkenntnisse können aber in keiner der drei metaphorischen Welten in Aussicht gestellt werden. Das unum absolutum als Erkenntnisziel ist nicht selbst Teil der Welt, alles Geschaffene ist daher wesentlich ‚Verhältnis‘, nämlich das von Einheit und Andersheit. Die weitreichenden Folgen dieses Gedankens
365
366
Cod. Cus. 206, fol. 1v–42r; Marx erwähnt den Text nur anonym: Handschriftenverzeichnis, S. 192f.. Es handelt sich bei dem Text aber unzweifelhaft um Exzerpte aus der Schrift Abbos. Hier nach der Handschrift Staatsbibliothek Berlin (Cod. Phillippicus 1833, fol. 9vb–10ra), zit. n.: Eva-Maria Engelen: Zeit Zahl und Bild. Studien zur Verbindung von Philosophie und Wissenschaft bei Abbo von Fleury, Berlin/New York 1993, S. 33 und Anm. 47: Quod tenebris circumseptis non ignorat quotiens sibi lucis claritas irradiat, per quam obiectas rerum formas anime mandat. […], ut dictum est pro sua qualitate inserviunt, licet visui a corde pupilla tenus madefacto operetur ignis per aeram lumine suo.
3.2. Erkenntnisbegriff, Zahlenlehre und Kosmologie in ‚De coniecturis‘
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sind schon in De docta ignorantia formuliert: Propter quod ad maximum aut minimum simpliciter non devenietur.367 Diese Einschränkung gilt für die Gesamtheit der episteme, allerdings auf je unterschiedliche Weise für intellectus, ratio, virtus phantastica und sensus. Jeder Erkenntnisbereich ist so durch eine ihm spezifische Ausprägung eines allgemeinen Ungenauigkeitsprinzips der episteme bestimmt. Dieses einschränkende Element ist innerhalb des logisch-mathematischen Denkens die unbedingte Gültigkeit des Widerspruchsprinzips. Die coincidentia oppositorum muss von der ratio ausgeschlossen werden. Nikolaus greift zur Verdeutlichung auf jene allegorische Wendung zurück, mit der er bereits in De correctione kalendarii die Unzulänglichkeit der menschlichen Erkenntnis zu verdeutlichen versucht hat: Hinc etiam diameter circuli ad circumferentiam improportionalis, quia ita differentium coincidentiam ratio non attingit.368 Gemeint ist: Wie die ratio in der progressio naturalis die Zahlen nur als ‚gerade‘ o d e r ‚ungerade‘ erfasst, kann sie in der Geometrie ‚Gerades‘ und ‚Gekrümmtes‘ nicht als koinzidierend denken. Diese Fähigkeit bleibt dem intellectus vorbehalten. Die privatio des mathematischen Denkens liegt also im Ausschluss der Koinzidenz, der Unfähigkeit zur Zusammenführung inkommensurabler Größen. Dieser spezifische ‚Mangel‘ zeichnet die ratio zugleich essentiell gegenüber allen übrigen Erkenntnisformen aus. Die figura paradigmatica ist eines der eindringlichsten Symbole der cusanischen Lichtmetaphysik. In ihr laufen eine Vielzahl symbolgeschichtlicher Entwicklungslinien zusammen, nicht zuletzt auch eine, die auf Nikolaus’ früheres Schaffen zurückweist. Mit der großen Konzilsschrift De concordantia catholica von 1433, in der Nikolaus als junger Gesandter in Basel die Grundsätze seiner Konkordanzlehre an der drängenden Frage nach der Reform von Reich und Kirche exemplifiziert hatte, war bereits das Konzept eines pyramidalen ordo hierarchicus weltlicher und kirchlicher Mächte vorweggenommen worden.369 Und auch dort, in der pragmatischen, doch eigentlich sehr diesseitigen Reformabhandlung ist die lichtmetaphysische Ummantelung des ordo-Gedankens angelegt: Quia Deus est lux infinita, tun[c] omnis lux extra deum creata finita co[m]parati[v]e a[d] deu[m] umbra est infinitae lucis [et] tanto plus umbrae habet quanto plus a deo distat.370
Auch die Stufenteilung der figura paradigmatica wird hier bereits antizipiert: […] in tota hierarchia est supremu[m], medium [et] infimum.371 Bei oberflächlicher Betrachtung wird der Blick natürlich auch auf die Begriffspyramide gelenkt, die in Platons Sophistes372 und später bei Porphyrios von 367 368 369
370
371
De coni., h 3, lib. 1, cap. 10, n 46, S. 50, Z. 11. De coni., h 3, lib. 2, cap. 1, n 76, S. 75, Z. 14–18. Diese Modellvorstellung ergibt sich aus dem in den ersten sieben Kapiteln des ersten Buches der Konkordanzschrift Dargelegten: De conc. cath., h 141, lib. 1, cap. 1–7, S. 29–61. De conc. cath., h 141, lib. 1, cap. 7, n 41, S. 61, Z. 26–29 (die Randbemerkung an der entsprechenden Stelle im Pariser Druck (p 3, lib. 1, cap. 7, fol. 10v ) lautet Ordines religionis). De conc. cath., h 141, lib. 1, cap. 7, n 40, S. 60, Z. 3f.
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3. Die philosophisch-theologischen Grundlagen
Tyros (um 233–um 301), auf den das mittelalterliche Konzept der arbor porphyrii373 zurückgeht, ein eigenständiges erkenntnisphilosophisches Modell begründet, in der dem aufsteigenden syllogistischen Denken innerhalb der Begriffspyramide ein rückläufiger Erkenntnisprozess entgegengesetzt wird. Das syllogistische Fortschreiten hat platonisch gesprochen zwar die Erkenntnis der höchsten Idee, die an der Spitze der Begriffspyramide steht, zum Ziel. Zugleich liefert die Begriffspyramide aber eine logische Strukturierung aller nachgeordneten Ideen und Begriffe. Wie in einem Stammbaum kann das Denken also von den höchsten Ideen über die Allgemeinbegriffe bis zur unendlichen Vielzahl der Individuen gelangen. Diese Vorstellung deckt sich gut mit der zweifachen Denkbewegung in der figura paradigmatica. Platon exemplifiziert das logische Modell anhand der Klassifikationen von Tieren (im sogenannten ‚Anglergleichnis‘),374 worauf Nikolaus im 12. Kapitel des zweiten Buches der Konjekturschrift vielleicht anspielen wollte.375 Auch die lichtmetaphysische Begründung der Pyramiden innerhalb der figura hat einige Berührungspunkte mit der platonischen Lehre. In einer autographen Appendix zur Abschrift der platonischen Politeia im Kueser Codex liefert Nikolaus auf der Grundlage des sechsten Buches ein eigenes Schema der platonischen Erkenntnislehre: Imago que a Platone sexto libro proponitur de visibilis atque intelligibilis distinccione traducta est.
obscurum
Visibile clarum
Intelligible obscurum Quod ex supposicionibus principiis non ad principia sed ad finem procedit per imagines visibiles scilicet mathematicas
372
373
374 375
clarum Quod ex supposicionibus principiis non ad principium cuius non est supposicio sine imaginibus per species ipsas procedit quam scienciam dialecticam vocat metaphysicam
In den Sophistes zeigt Platon einerseits die Möglichkeit auf, den allgemeinen Gattungsbegriff so zu zerlegen, dass man schließlich zu den Arten und von dort weiter bis zum unteilbaren Individuum gelangt (Diairesis) (so im Anglergleichnis in Sophistes 219aff.). Hierzu: Peter Kolb: Die Dihairesen in Platons ‚Sophistes‘, in Praktische Philosophie 18 (1992), 329–346. Umgekehrt kann im Aufstieg von der Betrachtung des Individuellen bis zur allerallgemeinsten Idee (Hirschberger, S. 107) fortgeschritten werden (Dialektik). Auf der Grundlage von Porphyrios’ berühmter Einführung (Isagogé) zu Aristoteles' logischer Schrift Die Kategorien, zuerst durch Marius Victorinus (um 280–365), später dann von Boëthius ins Lateinische übersetzt (ediert in: Anicius Manlius Severinus Boëthius: In Isagogem Porphyrii Commentorum editio prima (= Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum (CSEL) 48), Samuel Brandt (Hg.), Wien/Leipzig 1906). Eine griechisch-deutsche Edition liegt vor in: Aristoteles: Kategorien (= Philosophische Bibliothek 493), gr.-dt., Hans Günter Zeckl (Hg./Übers.), Hamburg 1998 [Beigegeben ist Porphyrios: Einführung in die Kategorien des Aristoteles (Isagoge)]. Sophistes 219aff. Siehe hierzu vor allem die Stelle: De coni., h 3, lib. 1, cap. 10, n 47, S. 50, Z. 1–5: Forma animalis unior est quam vegetabilis; quare forma unius animalis non sequitur sectionem animalis, sicut aliquas sectiones vegetabilis concomitatur et plus mineralis et maxime elementorum.
3.2. Erkenntnisbegriff, Zahlenlehre und Kosmologie in ‚De coniecturis‘
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Nicht nur die hier angedeutete grundsätzliche Analogisierung von Licht und Erkenntnis findet sich in De coniecturis wieder. Auch die licht-symbolische Trennung von Mathematik und Metaphysik lässt sich mit den cusanischen Ausführungen an der figura paradigmatica. gut in Einklang bringen, denn auch dort gelangt ja die mathematische Erkenntnis nicht bis in die höchsten Regionen der Erkenntnis, ist gegenüber der vernunftgemäßen Erkenntnis mehr ‚im Dunkeln‘. In die figura paradigmatica ist sicher viel von der cusanischen Platon-Rezeption eingeflossen. Aber: Mit dem reinen ordo-Aspekt, also durch eine auf eine statisch-logische Ordnung des Kosmos abzielende Lesart wird man dem ambivalenten Gehalt der Darstellung nur unzulänglich gerecht. Die figura paradigmatica liefert, anders als die platonisch-porphyrische Begriffspyramide, keine Lagebeziehung von Begriffen. Sie ist auch nicht als abgeschlossen zu verstehen. Die figura gründet auf einer sehr viel breiteren ideengeschichtlichen Basis. So verweist uns die Metapher von Licht- und Finsternispyramide nicht zuletzt auch auf eine der Hauptquellen der mittelalterlichen Optik, die Perspectiva communis des Franziskaners und Erzbischofs von Canterbury Johannes Peckham (auch: Peccam, †1292), der unter anderem auch als Lehrer in Oxford, Paris und Rom tätig war.376 Diese Grundlagenschrift, entstanden um 1279, gehörte in Nikolaus’ Studienzeit noch fest zum universitären curriculum der quadrivialen artes.377 Möglicher376
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Nikolaus verfügte über ein eigenes, mit einer Vielzahl geometrischer Figuren versehenes Exemplar der Schrift. Es befindet sich heute in der Kueser Hospitalsbibliothek unter: Cod. Cus. 215, fol. 1r – 24r. Eine weitere (unvollständige) Fassung findet sich in Kues unter der Überschrift Pisani Perspectiva communis: Cod. Cus. 212, fol. 239r – 250v. Die erste dieser beiden, die sogar im Titel den korrekten Hinweis auf Peckhams Urheberschaft trägt, ist bei Lindberg (David C. Lindberg: John Pecham and the Science of Optics. Perspectiva communis, Madison (Milwaukee)/London 1970, S. 60–243) nicht erwähnt, wohl aber die zweite Abschrift mit dem etwas irreführenden Titel Pisani Perspectiva communis hat Lindberg zumindest aus der Übersicht bei Marx (Handschriftenverzeichnis, S. 206) gekannt. Interessant an der Handschrift Cod. Cus. 215 ist ihre Abhängigkeit von der (älteren?) Basler Version (Öffentliche Bibliothek der Universität Basel, F.IV.30, fol. 122r–153v), die sich an einigen markanten Textabweichungen festmachen lässt. Die jüngere (?) (‚Pisaner‘) Version der Perspectiva, die bei Marx noch anonym angeführt wird, endet interessanterweise schon mit pars 3, propositio 19, von welcher lediglich die Überschrift des Paragraphen am unteren Ende des Blattes angegeben wird: Causam rotunditatis yridis principaliter consistere in nube. Die Stelle im Kueser Codex ist: Cod. Cus. 211, fol. 250v (= ed. Lindberg, S. 232, Z. 234f.). Im Anschluss folgt eine, bei Marx ebenfalls als solche nicht identifizierte Abschrift des Liber imbrium, das Hermann von Kärnten († 1181) 1140/41 mehrheitlich aus arabischen Vorlagen übersetzt und kompiliert hatte. Inhaltlich schließt die Abhandlung ziemlich flüssig an das Ende der Peckham-Abschrift an. Die beiden HSS zeugen aber nicht vom gleichen Kopisten. Möglicherweise hat erst der Kompilator des Codexes hier eingegriffen und die abschließenden Ausführungen der Peckham-Abschrift durch die verwandten Anmerkungen des Liber imbrium ersetzt. Häufig war die Lektüre der Perspectiva allerdings nur im Licentiat, also zur Erlangung des Magisteriums vorgeschrieben. Dies gilt auch für Heidelberg, wo Nikolaus ja wahrscheinlich nur den Grad eines Bakkalauren der Freien Künste erreicht hat, weshalb er sich wohl erst später, vielleicht sogar erst nach Beendigung seiner universitären Studien, ausführlicher mit Peckham beschäftigt haben dürfte. Siehe hierzu: Urkundenbuch der Universität Heidelberg 1
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3. Die philosophisch-theologischen Grundlagen
weise war es unter anderen diese Abhandlung, aus der Nikolaus das Bild seiner pyramis lucis gewonnen hat.378 Bei Peckham ist sie nicht philosophisch ausgezeichnet, sondern eine Modellvorstellung zur optischen Wahrnehmung. Man darf den Begriff der ‚Pyramide‘ dabei allerdings nicht zu genau nehmen. Das Konzept der pyramis lucis soll bei Peckham lediglich verdeutlichen, dass die von den einzelnen Punkten eines Leuchtkörpers, bzw. die von den illuminierten Punkten eines Mediums ausgehenden Lichtstrahlen im Auge des Betrachters zusammenlaufen: Hoc patet: quoniam si quilibet punctus luminosi illustrat quemlibet punctum medii: ergo totum illuminosum illuminat quemlibet punctum. Quod esse non posset, nisi luce pyramidaliter in quemlibet punctum cadente, per quam pyramidem videri potest.379
Die Emissionstheorie geht nicht ursprünglich auf Peckham zurück. Überhaupt ist die Perspectiva communis ein weitgehend kompilatives Werk, das seinen hohen Stellenwert innerhalb der akademischen Lehre vor allem dem Umstand verdankte, dass es den aktuellen Stand der Optik in der Zeit ihrer Abfassung mehr oder minder vollständig erfasste und in wesentlichen Punkten zu präzisieren vermochte. Peckhams eigene Vorlagen waren vor allem die Schriften des arabischen Mediziners und Naturphilosophen Alhazen (eigentlich: ibn al-Hayṯam, *965 † um 1039).380 In seinem Schatz der Optik (Kitāb al-Manāzir)381 stellte sich Alhazen gegen die von Aristoteles und Euklid beherrschte Lehrtradition eines vorrangig vom aktiven Betrachter bedingten Sehprozesses: Beide waren noch davon ausgegangen, dass der Vorgang des Sehens nicht im Wahrnehmungsobjekt, sondern im Auge beginnt. Danach sollten geradlinige, diskrete Sehstrahlen konisch vom Auge ausgehend den betrachteten Gegenstand einfassen und so sichtbar machen. Eine der hervorragendsten Leistungen Alhazens bestand nun in der Korrektur dieser Auffassung,382 gewissermaßen durch die Umkehrung des Wahrnehmungsprozes-
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(= Urkunden), Eduard Winkelmann (Hg.), Heidelberg 1886, S. 38 und S. 41f. Allgemein zur Behandlung der Optik im mittelalterlichen quadrivium: Jürgen Sarnowsky: Die artes im Lehrplan der Universitäten, in: Artes im Mittelalter, Ursula Schaefer (Hg.), Berlin 1999, S. 68–82, hier vor allem: S. 76ff.; vgl. ferner: John North: Das Quadrivium, in: Geschichte der Universität in Europa, Bd. 1, Walter Rüegg (Hg.), München 1993, S. 303–330. Das Pyramiden- bzw. Kegelmodell wird an folgender Stelle eingeführt: prop. 1.4 (= Totum luminosum vel illuminatum pyramidem sui luminis in quolibet puncto medii terminare), ed. Lindberg, S. 64, Z. 24ff. Ebd. Einleitung zu ed. Lindberg, S. 20. Zur Aufnahme der Alhazenschen Optik im Westen siehe u.a.: Graziella F. Vescovini: Studi sulla prospettiva medievale, Turin 1965; David C. Lindberg: Alhazen’s theory of vision and ist reception in the west, in: Isis 58 (1968), S. 321–341. Alhazen: Opticae thesaurus Alhazeni Arabis libri septem, nunc primum editi a Federico Rismero, Basel 1572 [im Folgenden zititiert als: Opticae thesaurus]. Eine lateinisch-englische Ausgabe der ersten drei Bücher liegt vor in: Alhacen's theory of visual perception : a critical edition, with English translation and commentary, of the first three books of Alhacen's ‚De aspectibus‘, the medieval Latin version of Ibn al-Haytham's Kitāb al-Manāzir (=Transactions of the American Philosophical Society 37), lat.-engl., A. Mark Smith (Hg./Übers.), Philadelphia 2001. Wie schonungslos Alhazen dabei vorging, zeigt der programmatische Satz in Opticae thesaurus, S. 15, sec. 23: Exitus ergo radiorum est superfluus et otiosus.
3.2. Erkenntnisbegriff, Zahlenlehre und Kosmologie in ‚De coniecturis‘
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ses. Bedingung des Sehens sind demnach zunächst die Leuchtkraft bzw. die Reflektionseigenschaften der wahrgenommenen Objekte. Jeder (Licht-)Punkt des betrachteten Gegenstandes vermittelt sich dem Auge durch Lichtkegel, die im Auge zusammenlaufen – eine Konzeption, die Alhazen schließlich im fünften Buch der Optik unter Einbeziehung der Erkenntnisse Galens auch durch anatomische Studien am Auge zu untermauern versuchte. Die Einzelheiten der Alhazenschen Optik sind hier, obwohl wissenschaftsgeschichtlich bedeutsam, nicht von Belang. Es ist nicht wahrscheinlich, dass sich Nikolaus allzu eingehend mit den anatomischen und physikalischen Details des Ansatzes beschäftigt hat‚ zumindest lieferten seine eigenen Abschriften der Peckhamschen Kompilation dafür keine Anzeichen. Wesentlicher ist wohl die grundsätzliche Differenzierung zwischen empirischnaturwissenschaftlicher und abstrakt mathematischer Sichtweise – ganz im doppelten Wortsinne. Der Übergang von der antiken Sende- zur Empfangstheorie ist kein abrupter. Weder Alhazen383 noch sein der Sendetheorie gleichsam skeptisch gegenüberstehender Zeitgenosse Avicenna (eigentlich: Abū 'Alī al-Ḥusayn ibn Abdallāh ibn Sīnā, 980–1037) noch die diesen beiden nachfolgenden Exponenten der (proto)physikalischen Optik384, Roger Bacon (um 1220–1292), Robert Grosseteste (um 1170–1253) und Peckham, vollziehen die radikale Abkehr von den euklidischen Sehstrahlen.385 Aber die Anteilnahme des Betrachters am Sichtbarwerden, oder besser Sichtbarm a c h e n der Objekte in der natürlichen Umwelt ist nun kein unumstößliches Diktum mehr. Als mathematische Hilfslinien der Klärung des Sehvorgangs zwar dienlich, sind die imaginären Sehstrahlen in der Alhazenschen Optik doch streng von der wahren Natur des Sehens und der Lichtausbreitung zu unterscheiden. Dieser deutliche Schnitt zwischen der mathematischen Autorität Euklids und den mittelalterlichen Vertretern der beobachtenden Naturbetrachtung muss auch 383
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Opticae thesaurus, S. 15, sec. 23: Visio videtur fieri per συναύγειαν, id est receptos simul et emissos radios. Alhazens Ausführungen bezüglich einer Bewahrung der mathematischen Sendetheorie sind aber nach der Auffassung Sabras hier durch den Übersetzer fehlgedeutet und fälschlich mit der platonischen συναύγεια-Theorie, also der Verbindung von Sende- und Empfangstheorie bei Platon, in Verbindung gebracht worden. Hierzu: Abdelhamid I. Sabra: Ibn Al-Haytham, in: Dictionary of Scientific Biography 6, New York 1972, S. 189–210, hier: 193. Siehe hierzu Alistair C. Crombie: Science, Optics and Music in Medieval and Early Modern Thought, London 1990, S. 77–80. Crombie: Science, Optics and Music, S. 105. Siehe hierzu auch: Robert Grosseteste: De lineis, angulis et figuris, De iride (= Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters 9), Ludwig Baur (Hg.), Münster 1912, S. 59f.; Roger Bacon: Opus maius, Bd. 2 (von 3 Bänden), John Henry Bridges (Hg.), Oxford 1900 (Bd. 1: Oxford 1877, Bd. 3 (= Supplement): Oxford 1900) [unv. Nachdr.: Frankfurt am Main 1964], pars. 5, cap. 2–4, S. 49–53; Avicenna: Liber de anima, ediert in: Avicenne perhypatetici philosophi, ac medicorum facile primi Opera, in lucem redacta, ac nuper quantum ars niti potuit per canonicos emendata. Logyca, Sufficientia, De celo & mundo, De anima, De animalibus, De intelligentiis, Alpharabius de intelligentiis, Philosophia prima, Venedig 1508 [unv. Nachdr.: Frankfurt a. M. 1961], lib 1, cap. 5, fol. 5r–v sowie lib. 3, cap. 1, fol.10r .
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3. Die philosophisch-theologischen Grundlagen
noch für den Konkordanzdenker Nikolaus eine große Herausforderung gewesen sein. Wo die Vereinbarkeit von Mathematik und Optik an Selbstverständlichkeit verlor, da stand auch die Integrität seines Weltbildes, mit der in ihm kontingent angelegten Überordnung des Mathematischen, auf dem Spiel. So gelesen findet in der figura paradigmatica nicht nur eine erkenntnismetaphysische Verbildlichung, sondern zugleich auch der konkrete Versuch einer Synthese konkurrierender Wahrnehmungsmodelle statt. Er verstand es, beide Modelle in seinem Sinne, der Metaphysik von ‚Einheit‘ und ‚Andersheit‘ zu modifizieren. Der Emanation des Lichts stellt er, und das ist das Neuartige in seiner lichtmetaphysischen Konzeption, einen Ausbreitungsprozess der Finsternis, der epistemologisch gesehen im Betrachter, dem Erkenntnissucher ihren Ursprung hat, gegenüber. Stark vereinfachend ließe sich der Gedankengang dann mit der figura paradigmatica wie in nebenstehender Grafik zur Deckung bringen.386 Im Dualismus des Erkenntnisprozesses steckt bei dieser Interpretation ein klares Zugeständnis an die euklidisch-aristotelische Optik. Immerhin fällt dem erkennenden Subjekt, da es dort ja Voraussetzung nicht nur der Wahrnehmung, sondern auch der ‚Sichtbarkeit‘ der Dinge ist, letztlich eine bedeutendere Rolle zu, in etwa so, dass in der pyramis lucis zwar die Vorstellung des Leuchtkegels der Lichtemanation, ein ‚Erkennenkönnen‘, in der pyramis umbrae aber andererseits – in Analogie zu den biokularen Sehstrahlen der euklidischen Konzeption – das aktive ‚Erkennenwollen’ des Betrachters angelegt ist. Das deckt sich insofern mit den cusanischen coniecturae, als die mens, zu der ja letztlich auch die sinnliche Wahrnehmung gehört, aktiv alle Erkenntnisgegenstände Die figura paradigmutmaßend selbst hervorbringt. Diese Subjektivität des matica als Mittlerin Erkennens wird bei Nikolaus durch die Einbindung der zwischen optischer ‚Andersheit‘ in alle Erkenntnisprozesse gesichert. Sende- und EmpDie dichotomische Bestimmung der Lichtmetaphysik fangstheorie hat dann aber auch naturphilosophische und ontologische Konsequenzen. Denn einerseits wird mit ihr deutlich gesagt, dass auch natürliche Prozesse, wie die Lichtausbreitung, stets nur als ‚Mischformen‘ von ‚Einheit‘ und ‚Andersheit‘ in ihren verschiedenen Abstufungen zu begreifen sind. Auf der ontologischen Ebene wird dadurch in der figura paradigmatica zwischen Gott, als dem ‚Licht selbst‘, und der Dunkelheit, dem ontischen ‚Nichts‘, interpoliert. Erst im Trialogus de possest wird Nikolaus auch diese Einschränkung aufgeben und auch das ‚Nichts‘ nicht mehr aus seinem Gottesbegriff ausklammern.387 386
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Man kann sich das auch anhand der expliziten Euklid-Verweise bei Peckham gut vor Augen führen, so in: Persp. comm., prop. 1.5 (= Incidentias radiosas per angularia foramina transeuntes mediocris magnitudinis in obiectis corporalibus rotundari semperque fieri eo maiores quo remotiores) = ed. Lindberg, S. 66, mit Verweisen auf Elem. 1,4, 1,15 und 1,21. De poss., h 112, n 27, S. 33, Z. 24: Mirabilis Deus, in quo non-esse est essendi necessitate.
3.2. Erkenntnisbegriff, Zahlenlehre und Kosmologie in ‚De coniecturis‘
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Ich habe im Vorangegangenen vorausgesetzt, dass Nikolaus sowohl die älteren Vorstellungen Euklids als auch die neuere Schule nach Alhazen kannte. Tatsächlich ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass Nikolaus nicht wenigstens ansatzweise mit dem Problemkreis der widerstreitenden Sende- und Empfangstheorie vertraut war, denn er wurde nachweislich in seinem näheren persönlichen Umfeld fachmännisch diskutiert: Der italienische Architekt, Kunsttheoretiker, Mathematiker und humanistische Schriftsteller Leon Battista Alberti (1404–1472) hatte sich in verschiedenen Schriften ausführlich mit den Mechanismen visueller Wahrnehmung auseinandergesetzt. Es ist schwer vorstellbar, dass Nikolaus und Alberti sich nicht auch persönlich kannten.388 Alberti war bis zu seinem Wechsel nach Bologna im Jahre 1421 Student in Padua, allerdings nicht an der Universität sondern am örtlichen Gymnasium. Prinzipiell aber hätten Nikolaus und Alberti sich schon aus Padua kennen können, insbesondere als auch Alberti gute Beziehungen zu Paolo Toscanelli,389 der ja seinerseits zu Nikolaus’ engen Studienfreunden zählte, unterhielt. Als recht gesichert kann ein Zusammentreffen der beiden dann spätestens im Rahmen des Doppelkonzils von Ferrara–Florenz gelten, an dem Alberti als Mitglied der Delegation Papst Eugens IV., auf dessen Seite sich Nikolaus schon auf der Basler Kirchenversammlung gestellt hatte, teilnahm. Auch Eugens Nachfolger auf dem apostolischen Stuhl Tommaso Parentucelli (1397–1455, Papst Nikolaus V. 1447–1455) waren beide gleichermaßen (zumindest „dienstlich“) eng verbunden, Nikolaus vorrangig als Diplomat und Kirchenpolitiker (seit 1450 dann ja im Rang eines Kardinals), Alberti vor allem durch seine Tätigkeiten für den Umbau von St. Peter. Die lange Zeit, die Nikolaus nach dem politischen Desaster in Brixen390 vorwiegend in Rom verbrachte (September 1458 bis Juli 1464), hätte ihn fast unweigerlich mit Alberti zusammenführen müssen. Flasch hat überdies aufgrund einiger bemerkenswerter Parallelen in Albertis’ Ludi mathematici (auch: Ludi rerum mathematicarum)391 und Nikolaus’ Idiota de staticis experimentis – beide Schriften sind um 1450 entstanden – sogar eine direkte Zusammenarbeit oder zumindest doch eine relativ intensive Korrespondenz beider Autoren vermutet.392 Ziemlich sicher kannte Nikolaus wohl wenigstens einige von Albertis kunsttheoretischen Arbeiten. Alberti hatte eine Abschrift seiner Abhandlung De statua 388
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Zu Leben und Werk Albertis siehe: Anthony Grafton: Leon Battista Alberti. Baumeister der Renaissance, Berlin 2002 sowie Martin B. Katz: Leon Battista Alberti and the humanist theory of arts, Washington D.C. 1978. Zum Verhältnis von Nikolaus und Alberti siehe insbesondere: Giovanni Santinello: Nicolò Cusano e Leon Battista Alberti: pensieri sul bello e sull’arte, in: Nicolò da Cusa, Paul Wilpert (Hg.), Florenz 1962, S. 147–183, insbesondere: S. 177f. So widmete Alberti seine Abhandlung Intercoenales (um 1440(?)) dem Florentiner Arzt: Leon Battista Alberti: Opera inedita et pauca separatim impressa, H. Mancini (Hg.), Florenz 1890, S. 122: Ad Paulum Toscanellum florentinum. Siehe hierzu: S. 253f. Ediert in: Leon Battista Alberti: Ludi rerum mathematicarum, Cecil Grayson (Hg.), in: L.B. Alberti. Opere volgari 3, Bari 1973, S. 133–173. Flasch: Geschichte einer Entwicklung, S. 326.
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3. Die philosophisch-theologischen Grundlagen
an Giovanni Andrea dei Bussi, Nikolaus’ Privatsekretär, übersandt, begleitet von einem Schreiben, das anzeigt, dass dei Bussi bereits im Besitz der Schriften Elementa picturae (1435/46) und De pictura (1436) war.393 Allerdings ist die in Kues erhalten gebliebene (lateinische) Fassung der Elementa picturae wahrscheinlich erst zwischen 1450 und 1455 entstanden, entsprechend hätte sie Nikolaus nicht für seine Konjekturen zur Verfügung gestanden.394 De pictura allerdings, die Vorbild und Leitfaden der älteren volgare-Fassung der Elementa picturae abgab, hätte Nikolaus zur Abfassungszeit der Mutmaßungsschrift bereits gekannt haben können. In jedem Falle standen sich Nikolaus und Alberti nicht nur in ihren allgemeinen Auffassungen zum Verhältnis von Kunst und Natur,395 sondern steht im Besonderen Nikolaus’ Modell zu pyramis lucis und pyramis tenebrae Albertis Ausführungen zur Zentralperspektive nahe, einem der Kernelemente in dessen Sehtheorie, deren Voraussetzung die Vorstellung ist, dass jedes wahrgenommene Bild ein Schnitt durch eine auf das Auge treffende Pyramide von Sehstrahlen ist.396 Die Sehpyramide enthält dabei drei Arten unterschiedlicher Strahlen, von denen die äußeren Ausdehnung und Form der Betrachtungsgegenstände vermitteln, während die Strahlen im Inneren der Sehpyramide die Farben der Gegenstände im Sehfeld annehmen. Vom Mittelpunkt geht der Zentrumstrahl aus – il principe, den ‚Fürsten‘ nennt Alberti diesen –, dem weniger eine im weitesten Sinne konkrete physikalische Bedeutung wie den übrigen Sehstrahlen beigemessen wird, als vielmehr die Aufgabe zufällt, ganz allgemein
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Die Handschrift findet sich heute in Kues: Cod. Cus. 112, 67r–73r. Das Begleitschreiben Albertis ist ediert in: Leon Battista Alberti: Opera inedita et pauca separatim impressa, H. Mancini (Hg.), Florenz 1890, S. 293. Dort heisst es: Mea tibi placuisse opuscula, id quod d e p i c t u r a et id quod d e e l e m e n t i s p i c t u r a e inscribitur, vehementur gaudeo […]. Tertium hoc item opusculum, quod non magis ad pictorum quam ex multa parte ad architecti ingenium pertineat, spero futurum ut legas cum voluptate. Hierzu wie allgemein zu den Berührungspunkten der Bildtheorien von Alberti und Nikolaus siehe: Gianluca Cuozzo: Bild, visio und Perspektive, in: Spiegel und Porträt. Zur Bedeutung zweier zentraler Bilder im Denken des Nicolaus Cusanus (= Veröffentlichungen des Cusanus Studien Centrums 4), Inigo Bocken u. Harald Schwaetzer (Hg.), Maastricht 2005 (zugl.: Festschrift für Klaus Reinhardt zum 70. Geburtstag), S. 177–196, hier vor allem: S. 178f., Anml 7. Eine deutsche (kommentierte) Ausgabe der drei genannten Schriften liefert: Leon Battista Alberti: Das Standbild, Die Malkunst, Grundlagen der Malerei, O. Bätschmann u. Christoph Schäublin (Hgg.), Darmstadt 2000. Tom Müller: Möndchenquadratur und duale Mathematik bei Leon Alberti und Nikolaus von Kues, in: MFCG 29 (= Das Mathematikverständnis des Nikolaus von Kues. Mathematische, naturwissenschaftliche und philosophisch-theologische Dimensionen. Akten der Tagung im Schwäbischen Tagungs- und Bildungszentrum Kloster Irsee vom 8.–10. Dezember 2003), Friedrich Pukelsheim u. Harald Schwaetzer (Hg.), Trier 2005, S. 41–64, hier: S. 42f. (unter Verweis auf Bätschmann/Schäublin (Hgg.): Das Standbild, Die Malkunst, Grundlagen der Malerei, S. 356f. (siehe die vorangegangene Anmerkung)). Graziella Federici Vescovini: Nicholas of Cusa, Alberti and the Architectonics of the Mind, in: Nexus II. Architecture and Mathematics, Kim Williams (Hg.), Pisa 1998, S. 159–171. In den nachfolgenden Ausführungen zu Albertis Theorie der Zentralperspektive beziehe ich mich vorrangig auf: Gianluca Cuozzo: Bild, visio und Perspektive, insbesondere: S. 178–181.
3.2. Erkenntnisbegriff, Zahlenlehre und Kosmologie in ‚De coniecturis‘
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Erkenntnis zu vermitteln, also Träger der prinzipiellen ‚Erkennbarkeit‘ der Betrachtungsgegenstände zu sein. Die Abtrennung der Erkenntnismöglichkeit und damit, ontologisch formuliert, der ‚Seinsgewissheit‘ von den akzidentellen Bestimmungen der Erkenntnisobjekte ermöglicht im perspektivischen Extremfall dann auch den Brückenschlag zur Theologie: mit zunehmender Entfernung vom Betrachter schrumpft die wahrgenommene Ausdehnung der Sichtobjekte am Betrachtungshorizont schließlich bis auf Punktgröße. Allein der Zentrumsstrahl bleibt dabei als Übermittler erhalten und weist dann (metaphysisch gesehen) auf die absolute Einheit, auf das von allen äußeren Bestimmungen gelöste Sein selbst hin. Dass sich das hervorragend im Sinne der Theophanie auslegen lässt, liegt auf der Hand. Der Zentrumsstrahl, in dem aus der Perspektive des Unendlichen alle Bestimmungen des zu Erkennenden zusammenfallen, wird dabei zum Analogon der ungeteilten Allmacht Gottes. Sicher war diese Lesart der visuellen Empfangstheorie für den Einheitsmetaphysiker Cusanus genauso attraktiv wie der anthropozentrische Entwurf der Sendetheorie es für den Erkenntnistheoretiker war. Umso wahrscheinlicher ist es, dass er in seiner figura paradigmatica beide Vorstellungen in Anwendung der eigenen Koinzidenztheorie zusammenfallen lassen wollte. Diese Verbindung war im Übrigen für das Mittelalter keineswegs neu. So hatte schon der englische Dominikaner Robert Kilwardby (1215(?)–1279), Erzbischof von Canterbury (1272–1278) und 1278 von Nikolaus III. zum Kardinalbischof von Porto und Santa Rufina ernannt, in seiner Schrift De ortu scientiarum eine Zusammenführung von Sendeund Empfangstheorie entworfen:397 Quod enim visibile per lumen sibi inditum irradiet et moveat visum sic vel sic, et quod visus ab eo patitur sic vel sic, naturalis actio vel passio est, causata ex actione et passione primarum qualitatum a c t i v a r u m e t p a s s i v a r u m , et ipsa posterior.398
Ob Nikolaus Kilwardbys Text kannte, ist ungewiss. Die Passage aber zeigt immerhin, dass er mit seinen Referenzen an den Theorienstreit zur optischen Wahrnehmung und seiner synthetischen Lösung durch die Verbindung von Sende- und Empfangstheorie (wissend oder unwissend) auch an ältere Konzepte anknüpfte. Mit einiger Sicherheit war die figura paradigmatica neben theologischphilosophischen auch durch naturwissenschaftlich-mathematische bzw. (auf das engste damit verknüpft) kunsttheoretische Vorlagen wesentlich beeinflusst. Damit ist aber der Gehalt dieses innerhalb der Konjekturabhandlung so wichtigen Bildes längst nicht ausgeschöpft. Denn wenn Nikolaus seiner figura das Attribut paradigmatica verleiht, dann stellt sich fast von selbst die Frage, wie es mit der konkreten Anwendbarkeit dieses Erkenntnisschemas steht. Zur Demonstration holt Nikolaus weit aus und bringt zunächst die elementare Zahlenlehre ins Spiel. 397
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Zu Leben und Werk Kilwardbys siehe den Artikel von Klaus Kienzler in: BiographischBibliographisches Kirchenlexikon 3, Friedrich-Wilhelm Bautz u. Traugott Bautz (Hg.), Herzberg 1992, Spalten 1479–1482. Robert Kilwardby: De ortu scientiarum (= Auctores Britannici Medii Aevi 4), Albert G. Judy (Hg.), Oxford 1976, n 119, S. 49.
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3. Die philosophisch-theologischen Grundlagen
3.2.4. Progressio naturalis. Der (mutmaßliche) Ursprung der Zahlenreihe Die Ausfaltung der Dinge aus dem göttlichen Ur-Einen und die damit einhergehende Durchmischung von ‚Einheit‘ und ‚Andersheit‘ bestimmt nicht nur die geistigen Vermögen der mens, sie spiegelt sich auch in ihr selbst wieder. Die progressio naturalis, die durch die ratio vollzogene Entwicklung der natürlichen Zahlenreihe aus der mathematischen Einheit der ‚1‘, ist dieses Spiegelbild. Nikolaus greift damit auf einen der zentralen Gedanken aus De docta ignorantia zurück, wo die Ausfaltung der mathemata, also der Zahlen und geometrischen Figuren aus dem schöpferischen Vermögen der ratio, bereits verhandelt wird. Diesmal aber beschränkt er sich (zumindest zunächst) allein auf die reine Zahl: Symbolice [...] de rationalibus numeris nostrae mentis ad reales ineffabiles divinae mentes coniecturantes, dicimus ‚ i n a n i m o c o n d i t o r i s p r i m u m r e r u m e x e m p l a r ‘ ipsum numerum, uti similitudinarii mundi numerus a nostra ratione exurgens.399
Deutlich lässt die Formulierung von der Zahl als erstes Urbild der Dinge im Geiste des Schöpfers Anklänge an das Konzept der Idealzahl aus dem platonischen Politikos400 erkennen. Die Ausfaltung der natürlichen Reihe aus dem unum commune, als das die mathematische ‚Eins‘ in De docta ignorantia eingeführt wird,401 vollzieht sich in der Schrift Über die Mutmaßungen in der Tetraktys, der Vierzahl. Nikolaus macht sich dabei eine elementare arithmetische Eigenschaft der ersten vier Glieder der Zahlenreihe zunutze: Multiplicatio enim binarii quaternarium efficit, sicut additio unitatis ad ternarium; quaternarius igitur ordinatissime ex his procedit, et in quibuscumque quattuor aliis numeris talis reperiri nequit.402
Die ‚4‘ fasst also durch ihre zweifache Ableitung, einerseits aus dem theologisch bestimmten Uni-Trinum, der Dreieinheit (1 + 3 = 4), andererseits der elementaren Zweiheit (2 + 2 = 2 · 2 = 4), ‚Einheit‘ und ‚Andersheit‘, den gesamten symbolischen Gehalt des Tetraktys und der ihn konstituierenden Zahlen zusammen. Diese grundlegenden rechnerischen Zusammenhänge will Nikolaus allerdings nicht als abschließendes Diktum, sondern lediglich als Hinweis auf die tatsächliche Ordnung der progressio naturalis durch die Dichotomie von unitas und alteritas verstanden wissen. Denn die Zahl ist nicht wesentlich Größe (quantitas). Es gilt erst in zweiter Linie (als quantitative, nicht wesenhafte Bestimmung), dass 4 = 2 + 2 = 2 · 2. Die Möglichkeit der Konstruktion gerader Zahlen aus zwei gleichen 399 400 401 402
De coni., h 3, lib. 1, cap. 2, n 9, S. 14, Z. 5–9. Siehe: S. 84f., Anm. 237 u. 238. Doct. ign., h 1, lib. 2, cap. 3, S. 71, Z. 2. De coni., h 3, lib. 1, cap. 13, n 66, S. 65, Z. 8–11.
3.2. Erkenntnisbegriff, Zahlenlehre und Kosmologie in ‚De coniecturis‘
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Größen ist für Nikolaus dabei eine lediglich ‚scheinbare‘.403 Denn in erster Linie ist jede Zahl als aus der Koinzidenz von ‚Geradem‘ und ‚Ungeradem‘, den mathematischen Modi von ‚Einheit‘ und ‚Andersheit‘, zu begreifen. Für die ‚4‘ bedeutet das: Quaternarius ex ternario impari et quaternario pari compositus est.404 Es wird später noch zu klären sein, wie dieser auf den ersten Blick recht merkwürdige Gedanke zu verstehen ist. Als Ergebnis kann man aber schon jetzt festhalten: Zur Erkenntnis der alteritas, die in jeder Zahl angelegt ist und sie überhaupt erst per rationem fassbar macht, bedarf es zwingend der Betrachtung bzw. Vorstellung v e r s c h i e d e n e r Dinge. Dies ist natürlich bei der Vorstellung der ‚4‘ als aus zwei ‚Zweiern‘ zusammengesetzter Zahl nicht der Fall. Die Zahl kann also nicht aus Gleichem zusammengesetzt sein: Omnis igitur numerus, c o m p o s i t u s e x o p p o s i t i s d i f f e r e n t i b u s atque ad invicem proportionabiliter se habentibus, taliter exsistit, quo illa sunt ipse.405
Das ist nun geradezu schulmäßig argumentiert. Die Vorstellung der heterogenen Zusammensetzung der Zahl stammt wohl (direkt oder vermittelt) aus den Boëthianischen Institutiones arithmeticae. Dort heißt es: Constat [...], quoniam coniunctus est numerus, neque ex similibus esse coniunctum neque ex his, quae ad se invicem nulla ratione proportionis haerent.406
De coniecturis steht noch ganz im Zeichen jenes Drangs nach Originalitätssicherung, der auch die Quellenfrage für De docta ignorantia so schwierig macht. So wird die Boëthianische Provenienz des numerus compositus ex oppositis differentibus nicht expressis verbis verdeutlicht. Zu Beginn der 1460er Jahre, in der Schrift über das Globusspiel (De ludo globi), wird Nikolaus den ganzen Gedankengang aber noch einmal in verallgemeinerter Form vorbringen407 und es dabei nicht versäumen, seine prominente Quelle auch zu benennen.408 Wahrscheinlich ist bei der Entwicklung des dichotomischen Zahlbegriffs für Nikolaus auch die jüngere neuplatonisch-mystische Schule maßgeblich gewesen. Es ist Heymericus de Campo, Nikolaus’ Kölner Mentor, der den entscheidenden Hinweis liefert. In dessen Prinzipiensammlung, von der Nikolaus eine Abschrift besaß, finden wir die folgende kongeniale Anmerkung:
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404 405 406 407
408
De coni., h 3, cap. 2, n 8, S. 14, Z. 20–22: Quod autem ex duobus binariis combinatus v i d e t u r , non ad quaternarii essentiam, sed quantitatem referri debet. De coni., h 3, lib. 1, cap. 2 , n 8, S. 14, 19f. Ebd., S. 13, Z. 15–17. Inst. arith., ed. Guillaumin, lib. 1, cap. 2, n 2, Z. 4–7 (im Abschnitt). De ludo globi, h 9, lib. 2, n 108, S. 134, Z. 3–6: Omne autem, quod componitur ex inaequalibus componitur. Impossibile est enim plures partes componibiles praecise aequales esse. Non enim essent aut plures aut partes. Neque aequalitas est plurificabilis. Ebd., n. 109, S. 135, Z. 9f.: Ob hoc recte B o e t h i u s a i e b a t ex paribus nihil componi.
132
3. Die philosophisch-theologischen Grundlagen
Unita quinaria est actus formalis quaternarii resultans e x v i c t o r i a p r o p o r c i o n i s i n e q u a l i s s u p r a e q u a l e m propter dominium p o t e n t i e s u p e r a c 409 t u m quod relucet.
Auch Heymeric versteht also die Zahl als aus ‚Gleichem‘ und ‚Ungleichem‘, respektive ‚Einheit‘ und ‚Andersheit‘ zusammengesetzt. Was aber ihre formale Disposition durch actus und potentia betrifft, so geht die cusanische Konzeption andere Wege. Es geht Nikolaus auch hier wieder nicht um eine Unterscheidung von Akt und Potenz in der Wesenheit der Zahl. Im Gegenteil: Alle Zahlen sind für ihn stets z u g l e i c h verwirklicht (compositum simul).410 Nikolaus verbleibt deshalb in seiner eigenen, differenzierteren Terminologie von explicatio, implicatio, unitas und alteritas, die gegenüber dem auf das Sein ausgerichteten AktPotenz-Denken die Erkenntnisvorgänge in den Vordergrund rückt. Auch hier ist die Wirkung Platons spürbar. In der Politeia sind die entscheidenden Elemente des Gedankengangs aus De coniecturis über die Bestimmung der Zahl als einer kontrakten Gegensätzlichkeit bereits in Grundzügen versammelt. Auch Platon sieht in der ‚Eins‘, insofern sie unmittelbar im Geiste, also losgelöst von den Erkenntnisobjekten der sinnlichen Erfahrung betrachtet wird, zugleich auch immer ihr Gegenteil, das (unbestimmte) ‚Viele‘ (πολλά) angelegt. Und auch bei ihm wird, genau wie bei Nikolaus, das diskursive Denken erst durch ein Koinzidenzereignis angestoßen: Wenn die Einheit durch das Gesicht oder durch irgend einen anderen Sinn in voller Reinheit aufgefasst wird, so würde ihr keine Zugkraft nach dem Sein hin beiwohnen […], wenn aber die Sinnesanschauung immer auch etwas ihr (der Einheit) Gegenteiliges zeigt, so dass sie sich ebenso sehr als Nicht-Eines wie als Eines darstellt, dann müsste die Seele doch nach einem Richter ausschauen, denn es würden sich ihr dann unabweisbare Zweifel aufdrängen und sie nötigen unter Aufbietung ihrer eigenen Überlegungskraft nachzuforschen und zu fragen, was denn eigentlich die Eins an und für sich ist; und so würde denn die auf die Eins bezügliche Wissenschaft zu dem gehören, was die Seele hinleitet und umwendet zu der Betrachtung des Seienden.411
Grundbedingung dieser Überlegung ist, dass die ‚Eins‘ die Gesamtheit der Zahlen bereits zumindest der Möglichkeit nach einfaltet, also genau das, was auch Nikolaus zur Essenz der ‚Eins‘ erklärt. Dass die epistemologische Dichotomie zwischen ‚Einheit‘ und ‚Vielheit‘ Platon zur Ideenlehre, Nikolaus aber in eine ganz andere Richtung, nämlich zur Einheitsmetaphysik führt, ist hier zunächst nicht von Belang. Entscheidend ist, dass sich Nikolaus in seinen Ausführungen zu den epistemologischen Implikationen der zahlenmäßigen ‚Eins‘ voll im Einklang mit der platonischen Lehrtradition befindet.
409
410 411
Unter dem Titel: Collegit principiorum iuris naturalis divini et humani philosophice doctrinalium, Cod. Cus. 106, fol. 234r [im Folgenden zit. als: Coll. princ.]. De coni, h 3, lib. 1, cap. 2, n 8, S. 13, Z. 12. Polit. 524c–525a. Hier zitiert nach der Übersetzung: Plato: Der Staat (= Platons Sämtliche Dialoge 5), Otto Apelt (Übers.), Hamburg 31988 (zugl. Philosophische Bibliothek 80), S. 284f.
3.2. Erkenntnisbegriff, Zahlenlehre und Kosmologie in ‚De coniecturis‘
133
Die ‚4‘ stellt nun für Nikolaus zugleich auch einen gewissen Abschluss dar, denn in der Tetraktys ist für ihn die Keimzelle der gesamten Zahlenreihe bereits angelegt, denn aus der einmaligen Addition je verschiedener Elemente des Quaternars lassen sich, wie leicht zu sehen ist, alle nachfolgenden Zahlen bis zur ‚10‘ gewinnen: 3+2=5 4+2=6 4+3=7 4+3+1=8 4+3+2=9 4 + 3 + 2 + 1 = 10
So schreitet die ratio über die vier ersten Zahlen der progressio naturalis von der ‚1‘, die schon in De docta ignorantia nicht selbst Zahl, sondern die erste mathematische Einheit ist,412 über den Tetraktys durch Addition zur nächst niedrigeren Einheitsstufe des Zahlenkörpers herab, der ‚10‘. Die ‚10‘ wird nun ihrerseits zur Einheit eines neuen Ausfaltungsprozesses: 10 + 20 + 30 + 40 = 100
Die vierte und letzte Einheit der progressio naturalis wird nun analog gewonnen durch: 100 + 200 + 300 +400 = 1000
Als Elemente (elementa) bezeichnet Nikolaus die so gewonnenen Einheiten, denn jede beliebige Zahl soll auf sie rückführbar sein. Die treibende Kraft ist das schöpferische Vermögen der ratio. So steht dem dreieinigen Gott als Schöpfer der Welt in De coniecturis die ‚viereinige‘ ratio als Entwicklungskeim der natürlichen Zahlenreihe gegenüber. Dabei ist das logisch-mathematische Denken allerdings selbst ein vermitteltes, dem Menschen beigegebenes Vermögen, so dass die kreativen Prozesse innerhalb des rationalen Denkens lediglich Nachahmungen des eigentlichen göttlichen Schöpfungsaktes sind. Mit der dreifachen Wiederholung des Viererfortschritts sind für Nikolaus nun die für die natürliche Zahlenreihe konstitutiven Einheiten bereits gefunden: 413
[…] nec ultra solidum denariae radices, millenarium fit repetitionis variatio. Cum hic progressione quaternaria, triniter reperita, denario exsurgat ordine […].414
Wie ist das zu verstehen? In rein quantitativer Hinsicht kann die natürliche Zahlenreihe ja nicht als abgeschlossen gedacht werden und das wird von Nikolaus auch gar nicht bestritten: [...] Cum itaque omni dabili numero per unitatis virtutem maior absque statu haberi possit, per solius unius potentiam inexhauribilem constat omnipotentem eam esse.415 412 413 414 415
Doct. ign., lib. 1, cap. 5, S. 12, Z. 22: Non potest autem unitas numerus esse […]. Vor allem im Abschnitt: De coni., h 3, lib. 2, cap. 4 u. 5, n 90–97, S. 87–94. De coni., h 3, lib. 1, cap. 3, n 11, S. 16, Z. 2–4. . Ebd., cap. 5, n 18, S. 23f., Z. 3–6.
134
3. Die philosophisch-theologischen Grundlagen
Dass der Zählende zu einem schlechthin ‚Größten‘ nicht gelangen kann, muss gemäß den bereits früher in De docta ignorantia bestimmten Anschauungsmodi der ratio, also aufgrund der eingeschränkten Perspektive des rein quantisierend unterscheidenden Denkens, auch für die natürliche Zahlenreihe gelten. Solange die Zahl allein als ‚vervielfachte Einheit‘ begriffen wird, können die verschiedenen Zahlen zudem nichts weiter als reine Größenunterschiede indizieren. Damit ist aber für die Einheitsmetaphysik, auf die Nikolaus abzielt, nichts gewonnen. Damit sich die mens ihrer schöpferischen Kraft und damit ihrer selbst vergewissern kann, muss die in der Verhältnislosigkeit des Unendlichen begründete wesenhafte Unbestimmtheit ihrer ureigentlichen Schöpfung, der Zahl, aufgehoben werden. Nur wenn die Zahlenreihe in irgendeiner Weise eingeschränkt wird, kann die endliche mens sie überhaupt für den Aufstieg in höhere Erkenntnisbereiche urbar machen. Die mathemata müssen deshalb auf die ihr zugrundliegenden Ordnungsprinzipien, und das heißt im Hinblick auf die Zahl bei Nikolaus, auf die progressive Relation auf der Grundlage des Tetraktys zurückgeführt werden, damit auch ihre q u a l i t a t i v e Bestimmung erkennbar werden kann: Quod autem ex duobus binariis combinatus videtur, non ad quaternarii essentiam, sed quantitatem referri debet. 416 Im Überstieg zu den höheren Einheiten der Vier- und der aus ihr abgeleiteten Zehnzahl, die ihrerseits die zwei untergeordneten Einheiten von 100 und 1000 hervorbringt, liegt dann zugleich ein höheres Maß an Wahrheit. Die Notwendigkeit zur qualitativen Beschränkung der Zahlenreihe ist nun evident. Warum genau aber führt für Nikolaus über den Tausender hinaus der Prozess des Zählens zu keinen wesentlich neuen Gehalten mehr? Die Antwort erschließt sich über das geometrische Analogon. Die einzelnen Einheitsstufen der Zahlengenese werden geometrisch gedeutet: Prima sit unitas simplicissimi puncti, secunda simplicis lineae, tertia simplicis superficiei, quarta simplicis corporis.417 Jetzt erst, im geometrischen Übertrag wird klar, warum Nikolaus die vier Einheiten 1, 10, 100 und 1000 als elementa bezeichnet: Es ist sicherlich als ein Verweis auf die euklidischen στοιχεία (Elemente) zu verstehen. Die den vier zahlenhaften Einheiten entsprechenden Figuren sind selbst elementar und sie sind es dann auch, die die gesamte Geometrie begründen: Duo igitur puncta linea continuantur in invicem, tria autem puncta superficie simpliciori, quae tribus clauditur lineis, quattuor vero puncta corpore in invicem mutua constrictione firmantur. Nec potest in quinario haec haberi conexio, ut quilibet in quolibet innectatur, ut in omnibus poteris figuris experiri.418
In der Gesamtkonzeption der mathematischen Einheiten lassen sich also Geometrie und progressio naturalis einfach schematisieren:
416 417 418
Ebd., cap. 2, n 8, S. 14, Z. 20–22. De coni., h 3, lib. 1, cap. 8, n 30, S. 37, Z. 9f. De coni., h 3, lib. 2, cap. 4, n 92, S. 90, Z. 16–21.
3.2. Erkenntnisbegriff, Zahlenlehre und Kosmologie in ‚De coniecturis‘
135
Der 3x3-fache Ausfaltungsprozess der natürlichen Zahlenreihe nach De coniecturis
Was also über die Vierzahl hinausgeht, ist zusammengesetzt. Dabei ist das Tetraeder, der erste unter den platonischen Körpern, die Basis aller weiteren räumlichen Formen. Er kann durch seine vier kennzeichnenden Dreiecksflächen, bzw. die vier kennzeichnenden Ecken, vollständig beschrieben werden. Man erkennt sogleich den Rückverweis auf die pyramides der figura paradigmatica. Im Tetraeder wirkt die Vierzahl also auf ganz ähnliche Weise, wie in der Tetraktys der natürlichen Zahlenreihe – er ist der erste unter allen Körpern: Omne enim quaternarium punctorum egrediens non p r i m u m c o r p u s s o l i d u m , sed ex primis compositus esse constat [...].419 Die Tetraktys markiert also auch einen formalen Abschluss in der Entwicklung der geometrischen Figuren. Mit der ‚fünf’ aber wird der Bereich des Endlichen und Bestimmten in jeder Hinsicht überschritten. Auch hier spielt De coniecturis wohl auf konkrete mathematische Problemstellungen an. Denn mit der Fünfzahl ist in der Geometrie auch die Irrationalitätsfrage verknüpft, und das spätestens seit dem Pythagoreer Hippasos von Metapont (5 Jhdt. v. Chr.).420 In seinen Untersuchungen am regelmäßigen Fünfeck taucht bereits das Verfahren der Wechselwegnahme auf,421 das als Euklidischer Algorithmus in die Mathematikgeschichte eingegangen ist.422 419 420
421 422
Ebd., Z. 25ff. Diese weitverbreitete Auffassung geht ursprünglich zurück auf: Kurt von Fritz: Die Entdeckung der Inkommensurabilität durch Hippasos von Metapont, in: Zur Geschichte der griechischen Mathematik, Oskar Becker (Hg.), Darmstadt 1965 (unv. Nachdruck aus: Annals of mathematics 46 (1945)), S. 242–264. Siehe ferner: Árpád Szabó: Entfaltung der griechischen Mathematik (= Lehrbücher und Monographien zur Didaktik der Mathematik 26), Mannheim u.a. 1994, S. 264–274. Der Begriff der ‚Wechselwegnahme‘ selbst geht wohl auf Aristoteles zurück. Der Euklidische Algorithmus ist ein Verfahren zur Bestimmung des größten gemeinsamen Teilers zweier beliebiger natürlicher Zahlen a und b ( 18 (= sesquidecimamsepta) 16
17
Der gesuchte Wert muss demnach irgendwo zwischen 1 und
17
17 16
= (1, 0625)
angesiedelt werden.
Grundlage der ganzen Überlegung ist modern gesprochen die Erkenntnis, dass das geometrische Mittel hier kleiner ist als das arithmetische, also dem allgemeinen Fall n
514
x1 + x 2 + .... + x n ≤
x1 + x 2 + .... + x n
2
entsprechend gilt:
x1 + x 2
0 (bzw. f(a) > 0 und f(b) < 0) dann existiert ein p ∈ [a,b] mit f(p) = 0, nach: Otto Forster: Analysis 1. Differential- und Integralrechnung einer Veränderlichen, Braunschweig 41992, S. 65 (dort findet sich auch ein ausführlicher Beweis des Stetigkeitssatzes). „isoperimetrisch“ = umfangsgleich.
4.1. Verwandlungskünste. ‚De geometricis transmutationibus‘
193
nämlich aufgrund einer (letztlich unzulässigen) Zwischenwertbetrachtung, glaubt er dann den gesuchten Durchmesser des isoperimetrischen Kreises im 1,25-fachen der Strecke ae zu erkennen.581 Nikolaus stellt dabei zur Begründung eine Proportionalitätsbehauptung auf, ohne aber einen schlüssigen Beweis führen zu können. Er nimmt an, dass sich die Strecken ae und eh zueinander genau so verhalten, wie die Strecke ef zu bc . Dann greift er auf eine Modellvorstellung zurück, die direkt mit der praktischen Verwendung von Zirkel und Lineal korrespondiert. Er stellt sich den zwischen ae und af aufgespannten Winkel als beweglich vor, und verschiebt die um ·a· drehbar gelagerte Strecke ae so, dass ·e· auf verschiedenen Punkten der Dreiecksseite zu liegen kommt. Dann versucht er anschaulich zu zeigen, dass die oben genannte Proportionalitätsbehauptung ( eh : ae = ef : bc ) für den Fall einer Verschiebung des Punktes ·e· auf den Punkt ·i· falsche Ergebnisse liefert. Aus der Strecke ae würde sich, wie leicht einzusehen ist, ein deutlich zu kleiner Halbmesser des zu bestimmenden Kreises ergeben. In umgekehrter Richtung allerdings, also der Überlagerung von ·e· und ·l·, wird ae deutlich zu groß. Hieraus nun folgert Nikolaus, dass die richtige Position des Punktes ·e· genau in der Mitte zwischen ·l· und ·i· liegen muss. Nur bei den so konstruierten Streckenverhältnissen lässt sich, wie er glaubt, der gesuchte Kreisradius aus den Strecken ae , eh , ef und bc näherungsweise bestimmen. Schließlich formuliert er noch den richtigen, allerdings sehr allgemein gehaltenen funktionalen Zusammenhang, dass für alle regelmäßigen Vielecke der Quotient eh mit Erhöhung der Eckenzahl n ae
abnehmen müsse, also: eh um ae
1
(mit n ≥ 3).
n
Wie sieht nun die rechnerische Seite des Verfahrens aus? Man kann den Ansatz ohne größere Schwierigkeiten in Gleichungen ausformulieren, und so einen Näherungswert für die Kreiszahl ermitteln. Setzen wir den Kreisumfang zur Vereinfachung des Rechenweges gleich 1, so ergibt sich für Strecke ae :
ae =
21 ≈ 0,1272... 36
Jetzt können wir auch den Halbmesser des isoperimetrischen Kreises leicht bestimmen: ah =
581
5 5 21 ⋅ ae = ≈ 0,1591 ... 4 144
TG, h 20, n 9, Z. 1–3, S. 8 = p 2, fol. 36r. = MATH. SCHRIFTEN, S. 8: Semidiameter circuli isoperimetri trigono inscripto se habere ad lineam a centro circuli cui trigonum inscribit ac quartam lateris ductam proportione sesquiquarta.
194
4. Die Quadraturschriften
Mit Kreisumfang U = 2πr gilt nun für die Kreiszahl: U 1 72 =π= = = 3,142337... 2r 2r 5 21
Der Wert ist mit lediglich zwei korrekten Nachkommastellen zwar aus heutiger Perspektive von bescheidener Güte, liegt aber immerhin innerhalb der archimedischen Grenzen für die Kreiszahl 3
1 7
(≈ 3,14084...) und
3
10 71
(≈
3,14285... ).582 Schon dass sich Nikolaus überhaupt in der richtigen Größenordnung für die Kreiszahl bewegt, ist bei den gravierenden methodischen Mängeln seines Verfahrens erstaunlich und lässt ahnen, auf welch bemerkenswerte intuitiven Fähigkeiten er sich stützen konnte. Man muss sich aber fragen, ob sich der mathematische Novize seines Ansatzes vollständig, das heißt auch in Hinblick auf die konkreten Ergebnisse für die Bestimmung des Verhältnisses von Kreisradius und Umfang, sofort bewusst war. Denn erst rund fünf Jahre später, in der Quadraturschrift De circuli quadratura583 liefert Nikolaus die numerischen Ergebnisse zum Quadraturverfahren aus der ersten Prämisse der Geometrischen Verwandlungen nach. Dort gibt er, in Übereinstimmung mit obigen Berechnungen, die Kreiszahl wie folgt an: 584 U 6 2700 (= π ) = (≈ 3,142337...) 2r 2,5 1575
Warum fehlt diese doch qualitätssichernde mathematische Konkretisierung in der älteren Abhandlung? Es ist denkbar, dass Nikolaus in dieser frühen Phase seiner mathematischen Versuche tatsächlich noch gar nicht über die mathematische Expertise verfügte, sich über die Qualität seiner Konstruktion vollständig bewusst zu werden.585 Es lässt sich nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, ob er zu diesem 582
Hier und im Folgenden nach der Ausgabe: Archimedes: Kreismessung, in: Werke des Archimedes; Arthur Czwalina (Hg.), Darmstadt 1972, S. 370–377, hier: prop. 3, S. 377. Darin führt Archimedes aus, der Kreisumfang sei dreimal so groß wie der Durchmesser und noch um etwas größer, nämlich um weniger als
1 7
583 584
585
aber um mehr als
10
desselben. Siehe hierzu auch:
71
S. 213f. Nicht zu verwechseln mit der Quadratura circuli von 1453(?). Die recht komplizierten Zahlenwerte, die Nikolaus hier verwendet, resultieren, wie bereits Hofmann bemerkt hat, aus der zeitbedingten Konvention, geometrische Berechnungen am Kreis auf der Maßgrundlage der Bogenminute auszuführen. Hierzu: MATH. SCHRIFTEN, S. 206–207, Anm. 23. Siehe hierzu aber: S. 218ff.
4.1. Verwandlungskünste. ‚De geometricis transmutationibus‘
195
Zeitpunkt schon mit der archimedischen Dimensio circuli und den darin enthaltenen Referenzwerten für die Kreiszahl vertraut war. Möglicherweise hat nicht Nikolaus selbst, sondern ein Anderer, der über die notwendigen Fertigkeiten und Kenntnisse verfügte, den Ansatz abschließend durchgerechnet. Hierfür kommt vor allem eine Person in Frage: Paolo Toscanelli, der Florentiner Arzt, Astronom und Mathematiker, der Nikolaus seit gemeinsamen Studienjahren in Padua in inniger Freundschaft verbunden war. Nikolaus hat zeitlebens die fachmathematische Kompetenz des Freundes anerkannt und ihn sicher über all jene Ansätze, die er selbst für diskussionswürdig hielt, in Kenntnis gesetzt. Ihm, dem in mathematischen Fragen erfahrenen Richter (arbiter peritissimus) und Eiferer für die Wahrheit (zelator veritatis)586 hatte Nikolaus auch die Transmutationes zukommen lassen und ihn zugleich angewiesen, die Schrift nur nach eingehender Prüfung zu vervielfältigen und an Andere zu übermitteln, was man wohl weniger als Ausdruck von Bescheidenheit, als vielmehr als indirekte Aufforderung zu fachlicher Kritik verstehen sollte. Toscanelli wäre bei einer kritischen Prüfung sicher nicht entgangen, dass die Nikolaus’ Überlegungen in Hinblick auf die Einhaltung der archimedischen Grenzen durchaus Beachtung verdienten. Es ist also denkbar, dass Toscanelli die rechnerischen Nacharbeiten besorgte und Nikolaus später, vielleicht verbunden mit einem positiven Bescheid über die Qualität des Ansatzes, hierüber in Kenntnis setzte. Später, im Rahmen der ganz ähnlich gelagerten Überlegungen aus De circuli quadratura, hätte Nikolaus diese Ergebnisse dann zur Bekräftigung seines grundsätzlichen Vorgehens anführen können. Es gibt nun aber noch einen weiteren, vielleicht gewichtigeren Grund, der Nikolaus bei seinen Geometrischen Verwandlungen von allzu konkreten Aussagen hat Abstand nehmen lassen. Einfach (formula facile) sollte die neue Kunst (ars nova) der Geometrischen Verwandlungen sein und zugleich den Zugang zu höheren Wissenszweigen (introductio ad altiora ascendendi) ermöglichen – damit stellte Nikolaus den gleichen Anspruch an seine Quadraturen wie an die geometrico-theologischen Symbole aus Docta ignorantia.587 Allzu komplizierte Berechnungen hätten wohl unter diesen Vorzeichen nicht nur die Übersichtlichkeit des Vorgebrachten beeinträchtigt, sondern den Blick zugleich dort allzu sehr auf das mathematisch Spezifische verengt, und so, insofern die Zahl bei Nikolaus immer auch Beschränkung bedeutet (nämlich, wie es in De coniecturis formuliert wird, eine Einschränkung der Einheit), den menschlichen Geist vom Überstieg in höhere Erkenntnissphären abhalten könnte. Das mag zumindest teilweise erklären, warum Nikolaus in den Transmutationes auf konkrete Rechenbeispiele verzichtet (diese Zurückhaltung gegenüber dem rechnenden Nachvollzug ist allerdings, wie wir noch sehen werden, in den nachfolgenden Quadraturtraktaten nicht immer anzutreffen). Gegenüber dem so anschaulichen Vorgehen zur Kreistriangulatur ist die zweite Prämisse Über die geometrischen Verwandlungen schon erheblich schwerer 586 587
TG, MATH. SCHRIFTEN, S. 4 = h 20, n 2, Z. 25–26, S. 4 = p 2, fol. 33r. TG, MATH. SCHRIFTEN, S. 4 = h 20, n 2, Z. 23, S. 4 = p 2, fol. 33r.
196
4. Die Quadraturschriften
verständlich. Der Entwurf ist sogar insgesamt eines der schwierigsten Stücke im mathematischen Werk des Kusaners.588 Nikolaus Ziel ist es hier, charakteristische Proportionen an geradlinigen Dreiecken auf Dreiecke mit gekrümmten Teilabschnitten zu übertragen, also auf solche Figuren, an denen gerade und gekrümmte Strecken gemeinsam auftreten: ∩ Aus einem Viertelkreisbogen bc und dem zu diesem zugehörigen Halbmesser cm ∩ soll durch Einfügen des (gesuchten (!)) Bogens bm mit dem nämlichen Halbmes∩ ser ein Dreieck abgeschlossen werden. bc ist dabei gegenüber dem Dreiecksinne∩ ren konkav, bm dagegen konvex gekrümmt.589 Dabei soll als Grundbedingung der Konstruktion der Abstand fl für die Mitten der gekrümmten Seiten zugleich dem halben Radius des Ausgangskreises entsprechen, also: fl =
Konstruktionsskizze zur zweiten Prämisse De geometricis transmutationibus nach: TG, h 20, n 20, S. 15. Die Darstellung bei Omnisanctus im Pariser Druck (TG, p 2, fol. 40v–42v) ist, wahrscheinlich aufgrund einer Fehlinterpretation der handschriftlichen Vorlage(n), fehlerhaft. 588
589
1 cm 2
=
1 2
r.
Die algebraische Umsetzung dieser Vorschrift hätte nicht nur Nikolaus, sondern selbst führende Mathematiker seiner Zeit überfordert, läuft das Verfahren doch auf eine Gleichung 4. Grades hinaus. Die früheste dieser Gleichungen stammt erst von Ludovico Ferrari (1522– 1569), Schüler des bedeutenden italienischen Mathematikers Gerolamo (auch: Geronimo oder Girolamo) Cardano (latinisiert: Hieronymus Cardanus, 1501–1576), aus der Mitte des 16. Jahrhunderts. Nikolaus versucht sich also verständlicherweise nur an einem rein konstruktiven Verfahren. Er zieht um
Es ist daher auch nicht ganz unverständlich, dass keiner der Renaissance-Drucke die schwer verständliche handschriftliche Vorlage korrekt wiedergibt. Hier und im Folgenden werden deshalb die Handschriften und die deutsche Ausgabe nach Hofmann zur Analyse herangezogen. TG, h 20, n 19, Z. 5–10, S. 13 = p 2, fol. 39r = MATH. SCHRIFTEN, S. 13.
197
4.1. Verwandlungskünste. ‚De geometricis transmutationibus‘ ∩
·c· den Halbkreisbogen ae mit r = ac und konstruiert so einen Schnittpunkt ·d· ∩ ∩ mit dem Ausgangsbogen bc . Von dort aus trägt er mit dem Zirkel über dm den Abstand zwischen ·d· und ·f· ab. Um ·d· wird also ein Hilfskreis mit dem Radius ∩ df konstruiert, der den Halbkreis ae in zwei Punkten schneidet, wobei der rechte der beiden dem gesuchten Punkt ·m· entsprechen soll. Jetzt kann auch die abschließende Seite bm problemlos konstruiert werden. Mit dem Zirkel kann von ·b· und ·m· jeweils der Halbmesser abgetragen werden. ∩ Der Schnittpunkt ·k· ist dann zugleich der Mittelpunkt des Bogens bm . Punkt ·l· markiert dabei die zugehörige Bogenmitte. Die Strecken lf , nach Voraussetzung gleich
1 2
r, und cm verlängert Nikolaus schließlich bis zum Schnittpunkt ·o·.
Nun folgt der eigentlich interessante Teil der Vorschrift: Alle Strahlen pq ∩
durch ·o·, mit ·p· auf bc , sollen nach Nikolaus’ Auffassung den Viertelkreisbogen ∩ ∩ so teilen, dass gilt: bp : bc = pq : cm (= r ). Das eigentliche Ziel der ganzen Überlegung wird nun evident: Es geht Nikolaus um eine allgemeine Methode, Verhältnisse zwischen gekrümmten Abschnitten auf gerade Strecken konstruktiv zu übertragen: Ut [...] habitudinem curvae ad curva[m] detur recta ad rectam.590 Die Proportionalitätsbehauptung stimmt dabei allerdings nur für die Ausgangslage ·q· =· f·,591 sowie die Extremlagen ·p· = ·b· und ·p· = ·c·.592 Für alle weiteren Lagen von ·q· stimmt sie nur n ä h e r u n g s w e i s e . Diese Approximationen sind dann allerdings von recht hoher Güte. Im algebraischen Nachvollzug besteht nun die hauptsächliche Schwierigkeit in der genauen Bestimmung von k. Hofmann hat diese recht langwierigen Berechnungen durchgeführt und den notwendigen Existenzbeweis ausführlich dokumentiert. Was an Einzelrechnungen auf dem Weg liegt, kann an dieser Stelle übergangen werden. Hofmanns prinzipielles Vorgehens lässt sich schnell umreißen:593
590 591
592
TG, h 20, n 6, Z. 2–3, S. 6 = fol. 35v = MATH. SCHRIFTEN, S. 6. Als ‚Beweiszusatz‘ lässt Nikolaus Punkt ·q· den Bogen ·hk· um ·f· beschreiben und folgert aus der reinen Anschauung richtig, dass für die äußeren Lagen ·g· und ·k· die Vorschrift nicht erfüllt wird, die richtige Lage also irgendwo intermediär gesucht werden muss. Dabei glaubt er neben dem Punkt ·p· auch Punkt ·h· als statthaft angeben zu können, ohne allerdings eine schlüssige Begründung zu liefern. Auch hier ist Nikolaus wohl rein intuitiv vorgegangen. Lässt man ·q· über ·bc· nach ·c· wandern, so ist einerseits
pq = cm = r
1
und bq = bc (= π r). 4
593
Andererseits fallen, wenn ·q· nach ·b· verschoben wird, pq und bq im gemeinsamen Grenzwert 0 zusammen, weshalb man Hofmann zustimmen kann, dass die Proportionalitätsbehauptung hier im Infinitesimalen m. E. als statthaft angesehen werden darf: Hofmann: Nikolaus von Cues. Der Unwissend-Wissende, S. 255. Siehe hier und im Folgenden die nebenstehede Abbildung aus: Hofmann: Nikolaus von Cues – Der Unwissend-Wissende, S. 255.
198
4. Die Quadraturschriften
Zunächst werden zwei Einheitssektoren OAMa und OAMb mit den Mittelpunktswinkeln 4α und 4β konstruiert, wobei α < β. Ma entspricht dabei dem Mittelpunkt ·k· im cusanischen Zeichensatz. Die Sehnen OA = 2 sin 2α und OB = 2 sin 2 β werden durch die Strecke AB = 2 x zum Dreieck geschlossen. A’ und B’ repräsentieren die jeweiligen Bogen-, Ax und Bx die zugehörigen Sehnenmittelpunkte. Dabei gilt A’OB’ = φ und damit AxOBx = φ – (β – α). Wenn nun nach Voraussetzung gelten soll A x B x = x =
1 AB , 2
dann muss zugleich auch A x B x = A' B' erfüllt sein. Hilfsskizze zur Näherung aus der zweiten Prämisse De geometDiese Bedingung ricis transmutationibus: Dass nach der Abbildung φ = 45° wird, hängt nun zunächst ist hinsichtlich der Vorgaben M b B = 1 und AB = 2 x = 1 nicht wesentlich von φ ab. richtig, für die algebraischen Ableitungen aber eine zunächst Mittels einiger komplinotwendige Hypothese. Im Endergebnis weist Hofmann dann zierter Zwischenrechfür φ den etwas kleineren und korrekten Winkel 43°40’44’’ aus. nungen und Substitutionen, die hier nicht in Ausführlichkeit dargestellt werden müssen, hat Hofmann die notwendigen Bestimmungsgleichungen aufgestellt. Es ist ihm so gelungen, die kennzeichnenden Winkel φ und α für die Konstruktionsvorschrift mittels der leicht zu bestätigenden Formel 594 1−
cos 4α 1 − 2 ⋅ sin 2α ⋅ cos ϕ = x 2 = 2 4
zu bestimmen.
594
Hofmann: Nikolaus von Cues – Der Unwissend-Wissende, S. 256.
4.1. Verwandlungskünste. ‚De geometricis transmutationibus‘
199
Demnach liefert die cusanische Näherungsregel, unter den Bedingungen 4β = 90° und x = ½, für α = 17°56’6’’, für φ = 43°40’44’’ und MaOMb = 36°54’4’’ die oben skizzierten Verhältnisse. Derartig fortgeschrittene Algebra, wie Hofmann sie zur Anwendung bringt, lag natürlich nicht im Rahmen von Nikolaus’ fachlichen Möglichkeiten. Wichtig 1 2
ist aber allein, dass der Punkt ·p· unter den Vorgaben ∢cab = 90° und pq = r , tatsächlich mit Zirkel und Lineal näherungsweise konstruierbar ist. Die Richtigkeit dieser Abschätzung durch Nikolaus ist vor dem doch erheblichen rechnerischen Hintergrund wirklich bemerkenswert. Hofmann hat die Näherungsbetrachtung mit viel Wohlwollen und den Mitteln der modernen Trigonometrie zu einem brauchbaren Ansatz weiterentwickelt. Sein daraus abgeleiteter positiver Bescheid zur Hinlänglichkeit der cusanischen Vorlage darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die zweite Prämisse der Transmutationes letztlich doch alleinig auf einem, wenn auch geschickten konstruktiven ‚Durchprobieren‘ gründet. Damit vollzieht Nikolaus hier genau das, was er später der archimedischen Abhandlung zur Kreisquadratur vermittels der Spirale vorwerfen wird:595 Er setzt voraus, was doch eigentlich gesucht ist. Auf den ersten Blick hat der zweite Entwurf aus den Transmutationes mit der vergleichsweise einfachen Konstruktion aus dem ersten Teil der Schrift nicht viel gemeinsam. So hat ihn Hofmann als eigenständigen und, dies ist besonders wichtig, bezüglich dem ansonsten so stark von (vor allem impliziten) Verweisen auf eigene Schriften geprägten Corpus der mathematischen Schriften weitgehend isolierten Beitrag behandelt. Und tatsächlich hat Nikolaus auch später aus dem konkreten Ansatz nichts Weiterführendes entwickelt. Während sich der erste Teil der Transmutationes, wenn auch unter deutlich veränderten formalen Vorgaben, selbst mit den späten Quadraturtraktaten in eine methodische Beziehung setzen lässt,596 scheint der zweite Ansatz Über die geometrischen Verwandlungen als erratischer Block im mathematischen Opus des Kusaners zu stehen. Die konkrete Konstruktionsvorschrift allein ist aber nicht das Entscheidende. Wichtig für die werkgeschichtliche Einordnung ist vor allem die grundlegende Deckungsgleichheit mit dem ersten Teil der Transmutationes bezüglich der unbedingten Voraussetzung der Gültigkeit von Zwischenwertbetrachtungen und der (fachmathematisch letztlich unzulänglichen) tentativen Herleitung. Zur grundsätzlichen Herangehensweise, des funktionalen In-Bezugsetzens von Geradem und Gekrümmtem an einer geschlossenen Figur wird Nikolaus auch später, in den Traktaten Über die mathematischen Ergänzungen, Über die mathematische Vollendung und dem Goldenen Satz in der Mathematik, wieder zurück595
596
Unter anderem in der Schrift Quadratura circuli von 1453 (?): QC, h 20, n 2, Z. 11–15, S. 72 = MATH. SCHRIFTEN, S. 59 = n, S. 5 = b, S. 1091. Joseph Ehrenfried Hofmann: Über eine bisher unbekannte Vorform der Schrift ‚De mathematica perfectione‘ des Nikolaus von Kues, in: MFCG 10, Rudolf Haubst (Hg.), Mainz 1973, S. 13–58, hier: S. 26–29 und MATH. SCHRIFTEN, S. xxxixf.
200
4. Die Quadraturschriften
kehren. Auch dort wird er, vorwiegend über Sätze am Kreissegment, mit geometrischen ‚Hybridkonstruktionen‘, also Flächenfiguren, die sowohl gerad- als auch krummlinig begrenzt werden, arbeiten und schließlich einige seiner besten Beiträge zum Quadraturproblem entwickeln. Die Marginalisierung und Isolierung des zweiten Abschnitts Über die geometrischen Verwandlungen innerhalb der Mathematikgeschichte ist sicher nicht nur aus der letztlichen Unzulänglichkeit des mathematischen Verfahrens zu verstehen, sondern zu einem nicht unerheblichen Teil auch auf das ältere rezeptionsgeschichtliche Erbe der Transmutationes zurückzuführen. Dass besonders die zweite Prämisse zu den geometrischen Verwandlungen weder von Seiten der Zeitgenossen noch dann später in der einschlägigen mathematikhistorischen Fachliteratur besondere Berücksichtigung gefunden hat, gründet vorrangig auf dem unglücklichen Umstand, dass schon die grundlegenden Konstruktionsvorschriften nicht leicht verständlich sind, ganz zu schweigen von den großen Schwierigkeiten, die ein strenges Durchrechnen des Ansatzes mit sich bringt. Schon Omnisanctus Vasarius, der den Pariser Druck der mathematischen Opera zu Beginn des 16. Jahrhunderts um eine Fülle von Kommentaren und Erläuterungen ergänzte, hatte offensichtlich erhebliche Schwierigkeiten mit dem Stück und beim Versuch, korrigierend in den vermeintlich falschen Gedankengang einzugreifen, die eigentliche Vorschrift bis zur Unkenntlichkeit verfälscht.597 Ob die sinnentstellende Revision des Omnisanctus daZur Ermittlung zweier mittlerer Proportiobei auch, wie Hofmann vermutet hat, nalen nach: TG, h 20, n 22, S. 17 (= p 2, fol. auf eine verderbte handschriftliche Vor42v) lage zurückzuführen ist,598 lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Sicher aber ist, dass mit dem Pariser Druck die nehmung der Transmutationes in der Folgezeit maßgeblich durch eine fehlerhafte Ausgabe bestimmt worden sein musste. So komplex sich die zweite Prämisse der Geometrischen Verwandlungen auch ausnimmt, der Duktus der Schrift bleibt insgesamt von mehr oder minder grundsätzlichen Erwägungen bestimmt. Der sich anschließende dritte Abschnitt unter folgender Zielsetzung: Tertium […] est quomodo inter datas lineas duae proportionales statuantur.599 bringt dann auch lediglich mehr oder minder Selbstverständliches. Es geht dabei um die kons597
598 599
Die zugehörigen Annotationes Omnisancti finden sich in: TG, p 2, fol. 40v– 42v; Incipit: Sciebam ia[m] arte praemitti oportere qua via habitudo attingetur. Hofmann: Nicolaus von Kues – Der Unwissend-Wissende, S. 254, Anm. 28. TG, h 2, n 22, Z. 1–2, S. 16 = p 2, fol. 42v = MATH. SCHRIFTEN, S. 15.
4.1. Verwandlungskünste. ‚De geometricis transmutationibus‘
201
truktive Herleitung zweier sogenannter mittlerer Proportionalen: Zwischen zwei vorgegebenen Strecken sollen zwei weitere so eingefügt werden, dass alle vier Strecken in fortlaufender Proportion zueinander stehen. Nikolaus räumt selbst ein, dass das Verfahren schon lange wohl bekannt sei, wenngleich er es auch in geringfügig erweiterter Fassung bringt.600 Nikolaus geht dabei von zwei sich im Punkt ·e· schneidenden Strecken cd und bg aus. Zunächst trägt er auf cd um den Punkt ·k· zwischen ·c· und ·d· den Thaleskreis mit r = kf ab.601 el ist dann die mittlere tionale zwischen if und ef . Soweit geht das Vorgebrachte nicht über Euklid hinaus, der das nämliche Verfahren am Thaleskreis in den Elementa602 ausführlich darstellt. Ob Nikolaus sich hier auf den ursprünglichen Text oder eine der vielen Referenzstellen der Zur sogenannten Platonischen Konstruktion mittels des Gnomon, nach: antiken und mittelalterlichen Fachliteratur TG, h 20, n 23, S. 18 (= p 2, fol. 42v). gestützt hat, kann nicht mit Bestimmtheit geWird der Gnomon gemäß der Abbilsagt werden.603 Der Proportionalitätssatz am dung zum Rechteck vervollständigt, Thaleskreis gehörte in jedem Falle zu den dann liegt über dem (hier der urs‚Allgemeinplätzen’ der mittelalterlichen Maprünglichen Darstellung beigefügten) thematik und dürfte jedem mathematisch eiSchnittpunkt ·m· der zugefügten Längsseite und ab die vierte Propornigermaßen Vorgebildeten bekannt gewesen tionale em . Damit sind dann el und sein. Interessant ist hier lediglich die konsif als mittlere Proportionalen betruktive Herleitung der zweiten Proportionastimmt. len. Analog zum Vorangegangenen trägt Nikolaus auf Strecke gb den Thaleskreis um ·h· mit r = hl ab und folgert nun richtig, dass, wenn ·h· nur passend gewählt wird,604 gilt: ef · x = el , el · x = ei und ei · x = ea , wobei ‚x‘ der konstante Proportionalitätsfaktor, bzw. die fortlau600
601
602 603
604
MATH. SCHRIFTEN, S. 15 = h 2, n 22, Z. 3, S. 16 = p 2, fol. 42v: Iamdudum notissimum fuit [...]. Die Abbildung legt nun die folgenden Einschränkungen nahe: ck > kf und df > kf , damit die Konstruktion auf einen Streckenabschnitt zwischen ·c· und ·d· beschränkt bleibt. Prinzipiell können die Ausgangsstrecken aber natürlich auch als Geraden vorgestellt werden. Warum Nikolaus die Orthogonalen als Strecken definiert wissen will, bleibt unklar. Elem. 6,13. Unter anderem wird das Verfahren von Bradwardine erwähnt: Geom. spec., lib. 3, cap. 4, concl. 4 = ed. Molland, n 3.44, S. 104. Bradwardine verweist dort auch ausdrücklich auf die Elementa, allerdings auf Prop. VI,9. Dieser Verweis stimmt nicht mit den antiken griechischen Vorlagen überein. Die Vorlage verfügte, wie alle Euklidversionen die direkt oder indirekt auf arabische Vorlagen zurückgehen über eine abweichende Zählung (hier wahrscheinlich nach Campanus oder in Anlehnung an die Fassung Robert of Chesters, die sogenannte Version II). Es kann aber kein Zweifel daran bestehen, dass Bradwardine sich hier eigentlich auf die 13. propositio des Originaltextes beziehen wollte. Es muss dabei zwingend gelten: hl = hi und damit hl = ei − el .
202
4. Die Quadraturschriften
fende Proportion ist.605 Eine zugehörige allgemeine Gleichung oder konstruktive Lösung zur Bestimmung von ·h· bieten die cusanischen Ausführungen allerdings nicht. Die gewünschte Konstruktion ist hier nur durch stetes ‚Durchprobieren‘ zu erreichen. In dieser Hinsicht unterscheidet sich das Verfahren nicht wesentlich von jener Methode, die gemeinhin als Platonische Konstruktion bezeichnet wird.606 Im Kommentar des Eutokios (latinisiert: Eutocius) von Askalon (*480 n. Chr.) zur archimedischen Schrift De sphaera et cylindro, der seit 1269 im Zuge der Archimedesübersetzung des Wilhelm von Moerbeke (1215–1286) im lateinischen Abendland bekannt war, wird diese Konstruktionsform ausführlich behandelt. Im Kommentar zur ersten compositio des zweiten Buches De sphaera et cylindro werden die zwei mittleren Proportionalen mit Hilfe eines Gnomon, eines beweglichen rechten Winkels, konstruiert.607 Auch Nikolaus war dieses Verfahren bekannt, denn im Anschluss an seinen eigenen Versuch zur Bestimmung der mittleren Proportionalen weist er in den Transmutationes ausdrücklich auf die Möglichkeit der Konstruktion mittels Gnomon hin, ohne allerdings seine Quellen zu benennen.608 Verschiedene Möglichkeiten sind denkbar: Heiberg hat die Vermutung geäußert, dass Paolo Toscanelli im Besitz der Moerbeke-Übersetzung war, und es ist nicht ausgeschlossen, dass Nikolaus auf diesem Wege das Verfahren der Platonischen Konstruktion kennenlernte.609 Denkbar wäre auch, dass Nikolaus die entsprechenden Ausführungen aus De arte mensurandi des Johannes de Muris610 oder aus den Verba filiorum der Banū Mūsā ibn Shākir (dreier arabischer Mathematiker (und Brüder) des 9. Jahrhunderts)611 in der Übersetzung des Gerhard von Cremona kannte. Da Nikolaus in
605
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TG, MATH. SCHRIFTEN, S. 17 = h 2, n 24, Z. 1–2, S. 18 = p 2, fol. 42v: […] linea continuae proportionis[…]. Es ist in Forschung stark umstritten, ob Platon als der tatsächliche Urheber des Verfahrens angesehen werden kann. Denkbar wäre beispielsweise auch, dass Erastosthenes von Kyrene (276–197 v. Chr.) der eigentliche Urheber war. Eutokios: Eutocii Ascalonite rememoracio in libros Archimedis de spera et chylindro, in: Archimedes in the Middle Ages 2. The translations from the Greek by William of Moerbeke, Marshall Clagett (Hg.), S. 221–285, hier: S. 238 = Vatikan, Cod. Ottobonianus latinus 1850, fol. 36v. TG, MATH. SCHRIFTEN, S. 16–17 = h 20, n 23, Z. 1–15 = p 2, fol. 42v. Heiberg (Archimedis Opera 3, S. LXXI) argumentiert dabei mit einer Notiz Regiomontans in seiner Abschrift der Übersetzung des Jacobus Cremonensis (Nürnberg, Stadtbibl. Cent. V.15, S. 139): male stat. Vide exemplar utrumque Domini Niceni grecum et latinum. V i d e e t i a m e x e m p l a r v e t u s a p u d m a g i s t r u m p a u l u m . Dass Nikolaus, sollte Toscanelli tatsächlich im Besitz des Moerbeke-Codex gewesen sein, diesen schon 1445 eingesehen haben könnte, hält Clagett dagegen für unwahrscheinlich. Hierzu: Clagett: Archimedes in the Middle Ages 33, S. 301, Anm. 7. De arte mensurandi, cap. 7, prop. 16 = ed. Busard, S. 281–284. Unter dem Titel Verba Filiorum Moysi Filii Sekir, i.e. Maumeti, Hameti, Hasen ediert in: Clagett: Archimedes in the Middle Ages 1, S. 238–367 [im Folgenden zit. als Verba Filiorum, ed. Clagett], die Ausführungen zum Gnomon finden sich auf: S. 340f.
4.1. Verwandlungskünste. ‚De geometricis transmutationibus‘
203
den Transmutationes von alii modi der Gnomon-Konstruktion spricht,612 ist auch denkbar, dass er mehrere der genannten Quellen kannte. Das Mittlungsverfahren mit Hilfe des Gnomon basiert auf einer mechanischen Bewegung, nämlich der Verschiebung eines rechten Winkels, und liegt damit vor dem cusanischen Denkhorizont eigentlich außerhalb des Bereichs der unveränderlichen mathematischen Gegenstände, ist doch jede Bewegung eine Veränderung im Erkenntnisbereich der sensitiven Erfahrung und nicht rein rational. Zirkel und Lineal sind für Nikolaus implizit die einzigen zulässigen Hilfsmittel bei der Lösung geometrischer Probleme. Natürlich sind auch diese ebenen Konstruktionsmittel letztendlich mechanische Hilfsmittel, nehmen aber gleichzeitig eine gewisse Sonderstellung ein. Im Bereich des Sinnlichen kommen Zirkel und Lineal unter allen Konstruktionsmitteln den idealen Formen von Kreis und Linie am nächsten, da in ihnen Kreis und Linie zumindest als Möglichkeit enthalten sind. Was nun die Vorbehalte der cusanischen Erkenntnislehre gegenüber mechanischen Konstruktionshilfen anbelangt, so entsprechen sie zwar sicher einem platonisch beeinflussten Anti-Empirismus,613 der sich klar von der aristotelischen Schultradition abhebt. Wo Platon aber durch die Auszeichnung von Zirkel und Lineal das Verwischen der Grenzen zwischen ‚Idee‘ und ‚Materie‘ im Bereich der mathemata verhindern wollte,614 da geht es Nikolaus um die Wahrung der epistemologischen Grenzen zwischen physikalisch-sinnlicher und rational-mathematischer Erkenntnis. Schon Euklid hatte in seinen Elementa die Anwendung der Strahlensätze zur Bestimmung der vierBeschränkung der geometen Proportionalen, nach: TG, h 20, n 25, S. 19 (=p 2, trischen Hilfsmittel stillfol. 43v) 615 schweigend vorausgesetzt. In der vierte und letzten Prämisse Ut secundum habitudinem duarum dataru[m] sciatur ad tertia[m] data[m] dari quarta616 knüpft Nikolaus nahtlos an die vorangegangenen Überlegungen zur Bestimmung mittlerer Proportionalen an. Gesucht ist ein Verfahren zur Ermittlung der vierten Proportionalen zu drei gegebenen Strecken ab , cd und ef .617 612 613
614 615 616 617
TG, h 20, n 23, Z. 12–13, S. 18 = p 2, fol. 42v = MATH. SCHRIFTEN, S. 17. Ausführlich zu den unterschiedlichen Aspekten der anti-empirischen Ausrichtung der platonischen Geometrie: Arpad Szabó: Anfänge der griechischen Mathematik, Münster u. Wien 1969, S. 338ff. Mainzer: Geschichte der Geometrie, S. 41. Drinfel‘d, S. 26. TG, h 20, n 25, Z. 1–3, S. 19 = p 2, fol. 43v = MATH. SCHRIFTEN, S. 17. kl stellt hier lediglich die unbestimmte Strecke dar, auf der die gesuchte Proportionale abgetragen werden soll. Punkt ·k· ist aber eigentlich verzichtbar.
204
4. Die Quadraturschriften
Um das Gewünschte zu erreichen, greift Nikolaus auf einige Sätze aus dem vierten Buch der Elementa zurück, die uns heute als Strahlensätze bekannt sind. Demnach stehen in ähnlichen Dreiecken entsprechende Abschnitte stets im selben Verhältnis.618 Indem Nikolaus die vorgegebenen Strecken als Teilabschnitte zweier ähnlicher Dreiecke ( ab um gh , ef um gd , cd um hd ) definiert, schließt er mit Hilfe dieser Ähnlichkeitssätze auf die gesuchte vierte Proportionale. Eine vierte Strecke km wird nun so angefügt, dass gilt: cd = km .619 Fast alab
ef
620
len bekannt sei dieses Verfahren, bemerkt Nikolaus (und will damit wahrscheinlich vor allem auf die erwähnte Stelle in den Elementa verweisen, wenngleich die Strahlensätze in einer Vielzahl geometrischer Schriften des Mittelalters zur Anwendung kommen). Nikolaus’ Geometrische Verwandlungen zeigen bei genauerer Analyse das Bild eines noch recht unerfahrenen Neulings in mathematischen Fachfragen. Echte Beweise für seine Vermutungen kann Nikolaus nicht vorbringen. Auch scheint ihm bei der Entwicklung seiner Entwürfe außer den euklidischen Elementa, die er hier allerdings an keiner Stelle ausdrücklich erwähnt, noch kaum relevante Fachliteratur zur Verfügung gestanden zu haben. Auch der gute Näherungswert aus der ersten Prämisse De geometricis transmutationibus kann über die lückenhaften mathematischen Kenntnisse ihres Urhebers nicht hinwegtäuschen. Er basiert gänzlich auf einem heuristischen Versuch mit einer noch dürftigen methodischen Grundlage und ist mehr oder minder ein Zufallstreffer, dem nur durch die wirklich verblüffende Qualität im rechnerischen Endergebnis Bedeutung zukommt. Dennoch bleiben die Transmutationes geometricae eine wichtige Wegmarke im mathematischen Schaffen des Kusaners. Was die Schrift nämlich wirklich bedeutsam macht, ist das, was Nikolaus über die prinzipielle Quadrierbarkeit des Kreises zu sagen hat. Er hat den eigentlichen Quadraturansätzen eine umfangreiche methodische Exposition vorangestellt, die in aller Deutlichkeit die philosophisch-theologische Dimension des Rektifikationsproblems offenbart. Er beginnt seine Ausführungen dabei mit einer interessanten begrifflichen Variante: Der coincidentia oppositorum aus De docta ignorantia und De coniecturis stellt er eine coincidentia extremorum gegenüber.621 Die terminologische Abweichung speist sich dabei aus der bereits in De docta ignorantia formulierten Grundüberzeugung, dass es in der Mathematik des Endlichen keine absoluten Gegensätze, sondern nur relative Extreme geben kann. In der endlichen Geometrie der regelmäßigen, isoperimetrischen Figuren werden 618 619 620
621
Elem. 6, 9–12. MATH. SCHRIFTEN, S. 17 = h 20, n 25, Z. 8–10, S. 19 = p 2, fol. 43r. MATH. SCHRIFTEN, S. 17 = h 20, n 25, Z. 2 = p 2, fol. 43r: [...] omnibus paene est manifestum in praxi […]. TG, h 20, n 4, Z. 6, S. 5 = p 2, fol 33v = MATH. SCHRIFTEN, S. 5.
4.1. Verwandlungskünste. ‚De geometricis transmutationibus‘
205
diese Extrema von Dreieck und Kreis gebildet, denn unter den umfangsgleichen Figuren hat das Dreieck notwendig die kleinste (ist also Minimum), der Kreis dagegen die größte Fläche (ist also Maximum), da eine isoperimetrische Figur um so mehr Fläche einschließt, je mehr Winkel sie hat [...].622 Diese Überlegung findet sich neben der weit verbreiteten anonymen Isoperimetrieabhandlung623 auch in der Geometria speculativa des Thomas Bradwardine,624 ohne dass eindeutig festzustellen wäre, ob Nikolaus die entsprechende Stelle (bzw., darauf wurde bereits verwiesen, die Geometria speculativa überhaupt) gekannt hat. Gegen einen Bezug auf die letztgenannte Schrift spricht, dass Bradwardine in seinen Schlussfolgerungen viel weiter geht, als Nikolaus: Zunächst stellt Bradwardine, genau wie Nikolaus, fest, dass der Kreis unter allen isoperimetrischen Figuren die größte Fläche einschließen muss.625 Bis hierher könnte der Text, wie Hofmann vermutet hat,626 Nikolaus noch als Vorlage seiner eigenen Überlegungen gedient haben, wenngleich man sich fragen darf, ob es für eine derartig elementare Einsicht überhaupt einer besonderen Vorlage bedurft hätte. Aus dem Verhältnis von Winkelzahl und Fläche schließt Bradwardine dann aber: [...] Circulus autem p e r t o t u m e s t a n g u l u s .627 Diese d i r e k t e Schlussweise, die sich interessanterweise in ganz ähnlicher Form auch an zwei Stellen im ersten Teil der Nikolaus bekannten Lullschen Quadraturschrift findet,628 lässt Nikolaus für den endlichen Kreis nicht zu. Der Kreis ist nach seinem Verständnis jene Figur, ad quam per angulorum multiplicationem d e v e n i r i n e q u i t , sicut nec in numero ad maximum.629
622
623
624
625 626 627 628
629
TG, MATH. SCHRIFTEN, S. 5 = h 20, n 4, Z. 4–5, S. 5 = p 2, fol 33v: [...] Cum tanto quaelibet isoperimetra sit capacitor, quanto plures angulos haberuit [...]. Nach der Edition von Busard (Der Traktat ‚De isoperimetris‘, S. 69): Ysoperimetrum isopleurum rectilineorum et circulis contentorum quod plurium est angulorum maius est. In der fünften conclusio des zweiten Kapitels äußert sich Bradwardine unter Verweis auf das dritte Buch De coelo et mundo des Aristoteles über regelmäßige, isoperimetrische Polygone wie folgt (Geometria speculativa, lib. 2, cap.5, concl. 2 = ed. Molland, S. 87): Omnium polygoniorum isoperimetrorum quod plurimum est angulorum, maius est. Die Stelle gibt auch Hofmann wieder in: Mutmaßungen, S. 129). Ebd., concl. 5: Omnium figurarum ysoperimetrarum sibi circulus est maior. Hofmann: Mutmaßungen, S. 130f. Ebd. Cod. Cus, 83, fol. 175r = ed. Hofmann, S. 27. An dieser Stelle heißt es: Item cognosci potest, quomodo pars circuli subalternata existens in circulo magis generalis quam ·a· tantum potest multiplicari, quod aequalis cum circulo fieri potest. [...] Fieret unus circulus, qui tot puncta haberet, quod totus circulus plenus esset punctis. ‚·a·‘ indiziert hier das eingeschriebene gleichseitige Dreieck, während die pars circuli allgemein die von eingeschriebenen Polygonen aus der Kreisfläche ausgeschnittenen lunulae (‚Möndchen‘) bezeichnen. Zwar ist also ein Polygon unendlicher Eckenzahl in allen Punkten dem Kreis gleichzusetzen, zugleich aber sind diese Punkte dann mit dem Zirkel nicht mehr erfassbar: [...] compassus illa puncta ita minuta attingere non posset. Analog die Stelle auf fol. 176r (= ed. Hofmann, S. 31). Hierzu auch: Hofmann: Ramon Lulls Kreisquadratur, S. 11. TG, h 20, n 4, Z. 6–7, S. 5 = p 2, fol. 33v = MATH. SCHRIFTEN, S. 5.
206
4. Die Quadraturschriften
Diese Überlegung deckt sich mit einem zentralen Vergleich aus De docta ignorantia. Auch dort geht es um die die Auseckung des Kreises bzw. Ausrundung des Vielecks durch stetige Erhöhung der Eckenzahl am regelmäßigen Polygon: Intellectus igitur, qui non est veritas, numquam veritate adeo praecise comprehendit, quin per infinitum praecisius comprehendi possit, habens se ad veritatem sicut polygonia ad circulum, quae q u a n t o i n s c r i p t a p l u r i u m a n g u l o r u m f u e r i t , t a n t o s i m i l i o r c i r c u l o , numquam tamen efficitur aequalis, etiam si angulos in infinitum multiplicaverit, nisi in identitatem cum circulo se resolvat.630
Der geometrische Iterationsvorgang steht in De docta ignorantia paradigmatisch für einen unendlichen epistemologischen Näherungsprozess, in dem sich die Vernunft mit der Wahrheit selbst, die in Gott ist, ‚verähnelt‘. Das geht über das, was Nikolaus in dem ganz ähnlichen Weisungszusammenhang innerhalb der Kalenderkorrekturschrift vorzubringen hatte, weit hinaus. Während in De correctione kalendarii das Doppelproblem der Kreisquadratur und Kurvenausstreckung lediglich einer Illustration der Inkommensurabilität von Geist und Welt diente, da gestaltet Nikolaus nun durch das Prinzip der belehrten Unwissenheit die Inkongruenz von Subjekt und Objekt zum eigentlichen Erkenntnisziel um. Es wird hier noch nicht sehr deutlich, aber der Abschnitt hat, trotz seiner klar erkenntnismetaphysischen Ausrichtung, zugleich einen konkret mathematischen Impetus, denn an der Gültigkeit dieses Satzes hängt zugleich die Durchführbarkeit der exakten Kreisquadratur. In der Annäherung von Polygon und Kreis wird im Bereich des Endlichen, in dem das schlechthin Größte unerreichbar ist, die regula doctae ignorantiae als Inkommensurabilitässatz für das Verhältnis von Geradem und Gekrümmtem wirksam. Diesen Grundsatz hat Nikolaus auch noch mit einer anderen Überlegung verdeutlicht. Für die Um- und Inkreise regelmäßiger Polygone gilt, dass ihre Differenz (also die Differenz ihrer Radien) mit steigender Eckenzahl kontinuierlich abnimmt. Beim isoperimetrischen Kreis schließlich ist jener Übergangspunkt erreicht, in dem Inkreis, Umkreis und Kreis selbst zusammenfallen, zugleich aber der Bereich der regelmäßigen Polygone überschritten wird.631 Die Koinzidenz besteht dabei zugleich im Zusammenfall des größten Inkreisradius aller isoperimetrischen regelmäßigen Figuren mit dem kleinstmöglichen Umkreisradius. Dieser Koinzidenz will sich Nikolaus mit den Mitteln der reinen Mathematik annähern, um so einen kontinuierlichen Übergang vom Bereich der rationalen Erkenntnis zu jenem der visio intellectualis zu schaffen. Den Kreis, als das flächenmäßige Maximum, bezeichnet Nikolaus als unbekannt.632 Aus der Kenntnis seines Umfangs kann, aufgrund der in der ratio angenommenen Inkommensurabilität von Geradem und Gekrümmtem, nicht auf seinen Radius geschlossen werden. Damit sind zugleich auch seine In- und Umkreisradien unbekannt. In der geradlinigen Figur des Dreiecks dagegen, dem flä630 631
632
Doct. ign., h 1, lib 1, cap. 3, S. 9, Z. 14–20. TG, h 20, n 5, Z. 7–8, S. 6 = MATH. SCHRIFTEN, S. 6 = p 2, fol. 33v: In circulo vero isoperimetro coincidentes, cum ibi inscriptus circumscriptus et peripheria coincidant. TG, h 20, n 3, Z. 8, S. 5 = MATH. SCHRIFTEN, S. 6 = p 2, fol. 33v.
4.1. Verwandlungskünste. ‚De geometricis transmutationibus‘
207
chenmäßigen Minimum, sind die In- und Umkreisradien aus dem Umfang der Figur einfach und exakt bestimmbar. Als Kleinstes bildet das Dreieck aus der Sicht des intellectus aber keinen Gegensatz zum Größten, dem isoperimetrischen Kreis, als Extreme schließen sie gemeinsam alle zwischen ihnen liegenden isoperimetrischen Figuren ein.633 Deshalb glaubt Nikolaus, von den Eigenschaften des Minimums indirekt auf die Eigenschaften des Maximums schließen zu können. In fast allen späteren Versuchen zur Kreisquadratur hat er das gleichmäßige Dreieck zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen gewählt. Die häufig gebrauchte Bezeichnung Kreisq u a d r a t u r (statt Kreist r i a n g u l a t u r ) ist dabei recht verwirrend. Nikolaus aber sieht sowohl in der Quadratur als auch in der Triangulatur des Kreises letztlich spezielle Ableitungen aus dem allgemeiner gefassten Problem, Gerades und Gekrümmtes ins Verhältnis zu setzen, weshalb der Begriff der Quadratur pars pro toto geführt wird. Das eigentliche Grundthema der Transmutationes geometricae hat der Kusaner entsprechend wie folgt formuliert: Exigit autem ars, quam inquiro [...] versionem curvi in rectum ac recti in curvum.634 Die vier Prämissen sollen die hinreichenden Voraussetzungen liefern, um im zweiten Teil der Schrift, der in fachmathematischer Hinsicht nichts wesentlich Neues beinhaltet, zunächst die Umwandlung von Linien ineinander, dann jene von Flächen (wozu dann auch die Kreisquadratur im eigentlichen Sinne gehört) und schließlich jene von Körpern zu betrachten.635 In diesem Vorgehen wird die enge gedankliche Verwandtschaft mit dem Explikationsvorgang von Linie, Fläche und Körper aus De docta ignorantia deutlich.
4.2. NACHRECHNEN. DE ARITHMETICIS COMPLEMENTIS Eine Vielzahl von Fragen hatten die Geometrischen Verwandlungen offengelassen, Fragen, die möglicherweise auch von außen an die Schrift herangetragen worden waren. So hat mit einiger Wahrscheinlichkeit zumindest Toscanelli, ausdrücklich von Nikolaus zum Prüfer der Transmutationes bestellt, die vielen methodischen Unstimmigkeiten erkannt und vielleicht sogar Nachbesserungen und nähere Erläuterungen eingefordert. Nikolaus lieferte diese in Form einer neuen Schrift De arithmeticis complementis. Sie ist unmittelbar nach den Geometrischen Verwandlungen, wahrscheinlich im Spätherbst 1445 in Koblenz,636 entstanden und war ebenfalls Toscanelli zugedacht, was es umso wahrscheinlicher macht, dass dieser skeptische Einwände gegen die vorangegangenen Quadraturansätze des Freundes vorgebracht hatte. Die Arithmetischen Ergänzungen sind untrennbar mit den Transmutationes verbunden, ja, ohne Kenntnisse der Vorläuferschrift schwer verständlich. 633 634 635 636
TG, h 20, n 5, Z. 1–8, S. 5–6 = p 2, fol. 33v = MATH. SCHRIFTEN, S. 6. TG, h 20, n 3, Z. 3–5, S. 5 = p 2, fol. 33v = MATH. SCHRIFTEN, S. 5. TG, h 20, n 6, S. 6 = p 2, fol. 35v = MATH. SCHRIFTEN, S. 6. Diese Datierung findet sich bei Hofmann: MATH. SCHRIFTEN, S. 198, Anm. 1.
208
4. Die Quadraturschriften
Immer wieder kommt Nikolaus auf die Quadraturverfahren aus der älteren Abhandlung zu sprechen, und entsprechend enthält der jüngere Traktat keine grundsätzlich neuen Ansätze. Betrachtet werden ein gleichseitiges Dreieck und ein umfangsgleiches Sechseck mit ihren jeweiligen In- und Umkreisen – übrigens der gleiche Ausgangspunkt, den auch Lull in seinem Quadraturversuch wählt. Durch die geometrischen Beziehungen zwischen beiden Polygonen soll auch auf die Beziehungen zwischen ihren In- und Umkreisen und deren Halbmessern geschlossen werden. Die so erworbenen Verhältnisse sollen dann zur Konstruktion eines zu den gegebenen Vielecken isoperimetrischen Kreises herangezogen werden. Die Grundkonstruktion des gleichseitigen Dreiecks mit seinem In- und Umkreis basiert dabei unverkennbar (und ausdrücklich) auf den Überlegungen aus der ersten Prämisse in den Transmutationes geometricae, weshalb ich sie hier (vorerst) nicht gesondert wiedergebe und auch die zugehörigen Quadraturvorschriften übergehe.637 In De arithmeticis complementis sind es weniger die konkreten Einzelergebnisse, die prinzipiell alle schon in De geometricis transmutationibus formuliert wurden, als die allgemeinen Ausführungen zur Durchführbarkeit der Quadratur, die die Schrift bedeutsam machen. Besondere Beachtung verdient darin ein Abschnitt, in dem Nikolaus das Quadraturproblem mit einer anderen (man könnte sagen: klassischen) Streitfrage, die spätestens seit dem 5. vorchristlichen Jahrhundert die mathematischen Gemüter erhitzte, verknüpft: der Berechenbarkeit der Wurzel aus 2: Nam etsi non possit numerari costa numerato diametro quadrati, pertingitur tamen ad numerum, cuius radicem si numerari posset scimus i n n u m e r a b i l e m c o s t a m .638
Diese Formulierung ist interessant: Dass Nikolaus hier nicht mit dem Begriff der Inkommensurabilität im Sinne einer ‚Maßungleichheit‘ zwischen Größen arbeitet, sondern ‚innumerabilis‘ zur Kennzeichnung der Unmöglichkeit einer exakten, zahlenmäßigen Diagonalenbestimmung heranzieht, wirft die Frage auf, woher er seine Kenntnisse des Diagonalenproblems hatte. Im 10. Buch der euklidischen Elemente, einer der Hauptreferenzquellen für die Inkommensurabilitätsfrage der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Mathematik, wird es ausführlich behandelt, aber in den wichtigsten lateinischen Fassungen taucht der Begriff der innumerabilitas in diesem Zusammenhang nur selten auf.639 Nikolaus will 637
638 639
CA, MATH. SCHRIFTEN, S. 29 = p 2, fol. 54r: Dico autem, quod coincidentia anguli et lineae in diversis polygoniis isoperimetris nos ducit ad circulum isoperimetrum, ut ostendimus in primo geometricarum transmutationum supposito. CA, h 20, n 2, Z. 6–8, S. 43 = p 2, fol. 54r = MATH. SCHRIFTEN, S. 30. In der Übersetzung der Elemente durch Gerhard von Cremona (1114–1187) wird mit den Begriffen surdus und lineae irrationales bzw. incommunicantes zur Kennzeichnung des irrationalen Streckenverhältnisses operiert (hier und im Folgenden geben die Seitenzahlen den jeweiligen Umfang des 10. Buches der Elemente an): The Latin Translation of the Arabic Version of Euclid’s ‚Elements‘ commonly ascribed to Gerhard of Cremona (= Asfār. Publikaties van het Documentatiebureau Islam-Christendom van de Rijksuniversiteit te Leiden 2), Hubertus L.L. Busard (Hg.), Leiden 1983, S. 236–335. In der Robert of Chester zugeschriebenen Fassung (der sogenannten Version Adelhard II, im 12. und 13. Jahrhundert im lateini-
4.2. Nachrechnen. ‚De arithmeticis complementis‘
209
anscheinend besonders betonen, dass die Diagonale nicht nur (allgemeiner formuliert) maßungleich zu den Quadratseiten ist, sondern (spezifischer) durch keine Zahl darstellbar ist. Hofmanns Ausgabe der Arithmetischen Ergänzungen führt die Interpretation sogar noch weiter. Dort lautet die Stelle wie folgt: […] wenn sich auch die Quadratseite aus der zahlenmäßig gegebenen Diagonale nicht in [rationalen] Zahlen berechnen lässt, so gelangt man trotzdem zu einer Zahl. Wenn man deren Wurzel [genau] berechnen könnte, würden wir die zahlenmäßig nicht angebbare Seite kennen.640
Insbesondere mit seinen Einschüben von den r a t i o n a l e n Zahlen und der g e n a u berechenbaren Wurzel setzt sich Hofmann dem Verdacht aus,641 dass hier, wie Meschkowski es ausgedrückt hat, Nikolaus eine Denkweise unterstellt wird, die erst bei den Begründern der Infinitesimalrechnung üblich wurde.642 Sicher: Man kann Hofmann stellenweise so (miss-)verstehen.643 Insgesamt aber sind seine Interpretationen der Quadraturschriften tatsächlich in hohem Maße von dem Bestreben bestimmt, die Sinnerschließung zeitnah und emphatisch zu vollziehen, wozu dann auch die Rekonstruktion von Nikolaus’ mathematischen Quellen genauso gehört wie die Einbindung von dessen philosophischtheologischen Grundüberzeugungen. Dabei hat es Hofmann auch immer vermieden, Nikolaus’ teils so vieldeutigen Aussagen und weitreichenden Analogieschlüssen im Bereich des Mathematischen mit großen Generalismen zu begegnen, und die Interpretationsbreite zur Überhöhung der Bedeutung seines Betrachtungsgegenstandes zu nutzen, Nikolaus gewissermaßen zu ‚modernisieren‘.
640 641
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schen Westen sicher die wichtigste Euklid-Übersetzung), wie auch in einer von Busard edierten Adaption letzterer aus dem 13. Jahrhundert und ebenfalls in der Bearbeitung durch Johannes de Tinemue (auch: John of Tynemouth, *um 1290) (der sogenannten Version III) wird ebenfalls der Begriff lineae irrationales/incommunicantes verwandt: Robert of Chester’s (?) Redaction of Euclid’s ‚Elements‘, the so called Adelhard II Version (= Science Networks. Historical Studies 8), hier: Bd. 1, Hubertus L.L. Busard u. Menso Folkerts (Hgg.), Basel/Boston/Berlin 1992, S. 223–263; A Thirteenth-Century Adaption of Robert of Chester’s Version of Euclid’s ‚Elements‘, Bd. 1 (= Algorismus. Studien zur Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften, Heft 171), Hubertus L.L. Busard (Hg.), München 1996, S. 267–320; Johannes de Tinemue’s redaction of Euclid’s Elements, the so-called Adelard III version, Bd. 1 (= Boethius. Texte und Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften 451), Hubertus L.L. Busard (Hg.), Stuttgart 2001, S. 236–297; Campanus von Navarra (ca. 1220 – ca. 1296) (von dessen Bearbeitung Nikolaus eine Abschrift besaß (Cod. Cus. 205, fol. 134r–188v)) setzt noch häufig den Begriff der incommensurabilitas: Campanus of Novara and Euclid’s ‚Elements‘, Bd. 1 (= Boethius. Texte und Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften 511), Hubertus L.L. Busard (Hg.), Stuttgart 2005, S. 306–387; die Übersetzung von Adelhard von Bath (um 1090–um 1150) dagegen bringt auch den Begriff der innumerabilitas: The first latin translation of Euclid’s ‚Elements‘ commonly ascribed to Adelhard of Bath, Hubertus L.L. Busard (Hg.), Toronto 1983, S. 250–298, hier: Elem. 10.107, S. 297, Z. 1377f. MATH. SCHRIFTEN, S. 30. Die Übersetzung stammt eigentlich von Josepha Hofmann, die dabei verwandte Terminologie geht aber sicher auf die Analysen von Joseph Hofmann zurück. Problemgeschichte 1, S. 173. Siehe hierzu besonders: MATH. SCHRIFTEN, S. xxxvii–xxxix.
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4. Die Quadraturschriften
Richtig und wichtig bleibt aber, dass Begriff und Vorstellung des Infinitesimalen, insbesondere auf der Basis der Analysis seit Augustin Louis Cauchy (1789–1857), bei Nikolaus nicht zur Anwendung kommen kann. Meschkowski legt – und soweit kann man ihm auch sicher folgen – den Schwerpunkt seiner Einordnung der cusanischen Quadraturversuche deshalb auf Nikolaus’ Verbundenheit mit der philosophischen, vor allem der aristotelischen Tradition in der Beurteilung des Quadraturproblems. Er übergeht dabei aber die gesamte cusanische Erkenntniskonzeption, die in diesem Zusammenhang so wichtig ist. Meschkowski schreibt: Unser Kardinal ist wirklich überzeugt, dass er eine Strecke konstruieren kann, die nicht kleiner und nicht größer ist als der Kreisumfang. Er wagt nur nicht, das Wort ‚gleich‘ zu gebrauchen, weil er dadurch das Andersartige des Kreises gegenüber der Geraden verwischen würde. Der Kreis ist nicht einfach ein Vieleck mit ‚sehr‘ vielen Ecken, und deshalb sind Kreisumfang und Strecke einfach ‚inkommensurabel‘.644
So einfach aber ist der ganze Sachverhalt dann aber doch nicht. Denn hinter der Inkommensurabilitätsfrage steht bei Nikolaus ein ganzes Erkenntnismodell, in dem er den mathematischen Gleichheitsbegriff der ratio im intellectus durch den der Koinzidenz ersetzt. Deshalb ist er häufig so vorsichtig bei der Formulierung eines Gleichheitsanspruchs innerhalb seiner Quadraturen. Nikolaus zweifelt nicht an der prinzipiellen Durchführbarkeit der exakten Quadratur bis zum Unterschreiten jedweder rationaler Grenzen − aber nur sofern rational hier als ‚mit dem Vermögen der ratio fassbar’ verstanden wird. Das aber ist natürlich etwas ganz anderes als der moderne Begriff der Irrationalzahl. Systematische Versuche, zu einer Begrifflichkeit irrationaler Zahlen zu kommen, finden wir erst in der Mitte des 16. Jahrhunderts, so in der Arithmetica integra des Michael Stifel (1487–1567).645 Das zweite Buch seiner Abhandlung verschreibt sich ganz der Behandlung der numeri irrationales.646 Ausführlich geht Stifel dabei auch auf das zehnte Buch der euklidischen Elementa647 mit seinen Ausführungen zur Behandlung inkommensurabler Strecken ein. Dazu schreibt er: Plane negat Euclides, propositione quinta sui decimi, numeros irrationales esse numeros. Omnium, inquit, duarum quantitatum communicantium est proportio tanqua[m] numeri ad numerum. Sequitur certe, proportione[m] duarum quantitatum no[n] communicantium, non esse tanquam numeri ad numerum.648
Stifels Bemerkung, Euklid habe bestritten, dass Irrationalzahlen [überhaupt (Einfügung d. Aut.)] Zahlen seien, geht letztlich am Kern der Sache etwas vorbei. Denn streng genommen müsste man eher sagen, dass Euklid im Grunde kein Konzept der ‚irrationalen Zahlen‘ hatte – und es gewissermaßen auch gar nicht 644 645
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Meschkowski: Problemgeschichte 1, S. 173f. Arithmetica integra (cum praefatione Phillippi Melanchthonis), Johannes Petrinus (Hg.), Nürnberg 1544. Im Nürnberger Druck (fol. 103r) überschrieben: Liber secundus de numeris irrationalibus. Und zwar ausdrücklich in der Fassung nach Campanus. Stifel: Arithmetica integra, lib. 2, cap. 2 (= Quid Euclides senserit de numeris irrationalibus), fol. 104v.
4.2. Nachrechnen. ‚De arithmeticis complementis‘
211
benötigte. Das Problem, inkommensurable Größen in einen geometrischen Bezug zu setzen, war zu Euklids Lebenszeit bereits durch die Proportionslehre nach Eudoxos (408–355 v. Chr.), die für die Griechen das Rechnen mit reellen Zahlen ersetzte, gelöst worden,649 wobei die Größenverhältnisse nicht selbst als eine Art von Zahlen angesehen [wurden].650 Euklid selbst unterrichtet uns ausführlich über den (eudoxischen) Ansatz im 5. Buch der Elemente. Das heißt aber auch, dass sich die Frage nach dem Charakter von irrationalen Z a h l e n verhältnissen in der euklidischen Mathematik nicht wirklich stellte. Die griechische Geometrie vergleicht Strecken bzw. Größen, nicht Zahlen. Wenn Stifel anmerkt, Euklid habe Strecken, Körper und Flächen nicht mit den Begriff der Quantität erfasst (non comprehendi sub qua[n]titatis vocabulo),651 dann muss quantitas hier unbedingt als n u m e r i s c h e Quantität, als zahlenmäßige Repräsentation von Größen und ihren Verhältnissen verstanden werden. Man muss nun zugleich anmerken, dass Stifel zwar im weiteren Verlauf des zweiten Buches ausführlich auf irrationale Wurzelausdrücke eingeht und sogar versucht, diese zu klassifizieren und in Rechenregeln zu fassen. Aber auch Stifel hat noch Schwierigkeiten damit, in den numeri irrationales ‚vollwertige‘ Zahlen zu erkennen. Gleich zu Beginn des zweiten Buches wirft er die Frage auf, inwieweit die numeri irrationales nicht eigentlich numeri ficti seien (und lässt dabei zugleich erkennen, dass der ganze Problemkreis Gegenstand einer breiteren Diskussion gewesen sein muss).652 Schon bei der Einschätzung r a t i o n a l e r gebrochener Zahlausdrücke ist Stifel sehr vorsichtig. Im ersten Buch der Arithmetica integra spricht er von Brüchen als numeri abstracti.653 Wir sehen also: Noch hundert Jahre nach den Arithmetischen Ergänzungen ist die Behandlung und Einordnung von Verhältnissen bzw. Größen, die sich nicht als Quotient zweier ganzer Zahlen darstellen lassen, ein zentraler Diskussionsgegenstand der Mathematik. Die antike Definition der Zahl als Vervielfachung der ‚Einheit‘ hat dabei lange nachgewirkt und ist auch bei Nikolaus – der Blick auf De docta ignorantia genügt da schon654 – noch sehr präsent. Nikolaus hat schlicht noch keinen Begriff der irrationalen Zahlen. Er denkt sich das Diagonalenproblem eher wie folgt: Zwar lässt sich aus der Diagonale im Quadrat die Seitenlänge nicht direkt in Zahlen fassen. Das heißt allerdings keineswegs, dass das Verhältnis insgesamt nicht als geometrischer Verhältnissatz, also über die Konstruktionsvorschrift exakt angebbar ist. Das hieße dann, dass sich das Problem der Inkommensurabilität eigentlich nur der Arithmetik, nicht aber der elementaren Geometrie stellt. Die Arithmetik, so stellt es sich dann in Nikolaus’ 649
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Hierzu: Tropfke: Elementarmathematik, S. 133. Zur Bedeutung der eudoxischen Proportionalitätslehre für die Entwicklung der Philosophie hat sich Bertrand Russell geäußert: Bertrand Russel: A history of western philosophy, London 51985, S. 219f. Tropfke: Elementarmathematik, S. 133. Stifel: Arithmetica integra, lib. 2, cap. 2. Stifel: Arithmetica integra, lib. 2, cap. 1: Merito disputatur de numeris irrationalibus, an veri sunt numeri, an ficti. Stifel: Arithmetica integra, lib. 1, cap. 2 (= De natura & speciebus numer[orum] abstractoru[m]), S. 7. Doct. ign., h 1, lib. 2, cap. 3, S. 70, Z. 17f.: Numerus est explicatio unitatis.
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4. Die Quadraturschriften
Ergänzungen auch tatsächlich dar, kann im Hinblick auf inkommensurable Verhältnisse immer nur Näherungen liefern, die aber letztlich auf exakten Proportionsaussagen beruhen. Rein g e o m e t r i s c h ist die exakte Quadratur also durchaus zu leisten, ihre a r i t h m e t i s c h e Fassung aber übersteigt die Möglichkeiten der Zahlendarstellung. Die Arithmetik benötigt deshalb Behelfskonstrukte. Der Begriff radix, den Nikolaus in seiner Formulierung vom numerus cuius radice[m] si numerari posset scimus i n n u m e r a b i l e m c o s t a m verwendet, muss hier nicht zwingend im engeren Sinne als ‚Wurzel‘, sondern kann auch − das entspricht durchaus dem mittelalterlichen Verständnis des Begriffs − allgemeiner als ‚Rechenvorschrift‘ verstanden werden. ‚ 2 ‘ ist also letztlich nur eine Umschreibung, die von einer Zahl Gebrauch macht und auf eine andere hinweist, selbst aber nicht als solche behandelt werden kann. Nikolaus’ Überlegung kann man nun so verstehen: Tatsächlich kommt man beim Diagonalenproblem zu einer Zahl, der ‚2‘, aber diese muss, hier durch die Radizierung, noch auf bestimmte Art und Weise ‚behandelt‘ werden − und dabei wird der Bereich der Zahlen dann insofern verlassen, als eine exakte numerische Darstellung des Ergebnisses nicht mehr möglich ist. Auch hier darf man Nikolaus kein modernes Verständnis der Irrationalität unterstellen, etwa in der Art, dass sich für ihn diese Ungenauigkeit in einer unendlichen Zahl von Nachkommastellen (bzw. deren Entsprechung im Sexagesimalsystem, das Nikolaus verwendet) ausdrücken würde. Vielmehr entwirft Nikolaus, das zeigen seine Auffassungen zum Sekundproblem, ein Exaktheitskriterium, das die Ununterscheidbarkeit von Zahlenwerten durchaus im Bereich des Rationalen verortet, in etwa so, dass, wenn wir wie Nikolaus das Sexagesimalsystem zur Grundlage wählen, alle Berechnungen, die über den Genauigkeitsbereich von Sekunden oder Terzen hinausführen, bereits den Gleichheitsbegriff rechtfertigen, da sich hier die Mittel der unterscheidenden ratio erschöpfen. Für Nikolaus wäre die Kreisquadratur so also als Anähnelung von ‚Geradem’ und ‚Gekrümmtem‘, aber nicht gemäß der präzisen mathematischen Gleichung möglich.655 Das geometrische Problem der prinzipiellen Inkommensurabilität von geraden und gekrümmten Strecken musste die ‚rationale‘ arithmetische Methode an eine natürliche Grenze führen, denn da die Arithmetik nach pythagoreischer Auffassung nur die Theorie ganzer Zahlen umfasst, reicht sie zu einer mathematischen Beschreibung der Welt nicht aus.656 Die Doppeldeutigkeit der Formulierung Complementa arithmetica ist in diesem Zusammenhang kaum zu übersehen. Mit der Schrift von den Arithmetischen Ergänzungen hat Nikolaus nicht bloß das arithmetische Fundament zu den Transmutationes geometricae nachreichen wollen. Vielmehr dient ihm das Problem der Kreisquadratur zu einer allgemeinen 655
656
Johannes Hirschberger: Das Prinzip der Kommensurabilität bei Nikolaus von Kues, in: MFCG 11 (= Nikolaus von Kues in der Geschichte des Erkenntnisproblems), Rudolf Haubst (Hg.), Mainz 1975, S. 39–61 (S. 54–61 = Anhang mit Diskussionsbeiträgen), hier: S. 55 (Diskussionsbeitrag Wyller). Mainzer: Geschichte der Geometrie, S. 30.
4.2. Nachrechnen. ‚De arithmeticis complementis‘
213
Reflexion über die Hinlänglichkeiten des arithmetischen Instrumentariums der Mathematik. Mit dieser differenzierten Sicht steht Nikolaus durchaus in der Nachfolge des Aristoteles, der zwar in der Physica die Inkommensurabilität von Kreisumfang und -durchmesser anführt, dann aber in den Categoriae relativierend anmerkt, dass das Verhältnis vielleicht doch wissbar (έπιστητόν), aber eben schlicht noch nicht aufgefunden sei.657 ‚Wissbar’ wird das gesuchte Verhältnis für Nikolaus aber nur im Überstieg über das rationale Denken. Das Gesuchte ist für ihn das, was die Zahl [modern gesagt: als rationale Zahl] nicht erreichen kann, damit der Geist erkenne, wie unwissend und mangelhaft der rechnende Verstand ist.658 Im Rahmen dieser eher grundsätzlichen Erwägungen führt Nikolaus nun auch die Grenzen für die Kreisrechnung aus der dritten propositio der archimedischen Kreismessung (in den lateinischen Übersetzungen Dimensio circuli oder auch De mensura circuli) an: Fuerunt viri diligentissimi, quorum princeps videtur Archimedes, qui ostenderunt circumferentiam circuli triplam in habitudine ad diametrum, additis plus decem septuagesimis primis ipsius diametri, et minus decem septuagesimis […].659
Der sehr vage Hinweis auf die viri diligentissimi lässt es ziemlich unwahrscheinlich erscheinen, dass Nikolaus den Originaltext der Kreismessung zu dieser Zeit bereits kannte, obwohl neben den griechischen Fassungen auch bereits eine Vielzahl von lateinischen Versionen kursierte.660 Vielleicht war er sich nicht ein-
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Kateg. 7b30ff. CA, MATH. SCHRIFTEN, S. 31 = h 20, n 4, Z. 8–10, S. 45 = p 2, fol. 54v: […] ut scias, quid sit id quod quaeris, quod numerus non attingit, ut ignorantiam ac defectus rationis numerantis videat intellectus. CA, MATH. SCHRIFTEN, S. 31 = h 20, n 2, Z. 1–4, S. 43 = p 2, fol. 54v. Ausführlich hierzu: Marshall C. Clagett: Archimedes in the Middle Ages 3 (= The fate of medieval Archimedes 1300 to 1565), Philadelphia 1978, S. 306f. Clagett nennt hier die folgenden Versionen der Schrift als Nikolaus’ mögliche Quellen: Die Plato von Tivoli zugeschriebene Übersetzung (entstanden um 1140, ediert in: Marshall C. Clagett: Archimedes in the Middle Ages 1 (= The arabo-latin tradition), Madison 1964, S. 20–27, siehe auch den zugehörigen Kommentar auf S. 28f.), die Fassung nach Gerhard von Cremona (ediert in: Clagett: Archimedes in the Middle Ages 1, S. 40–55, Kommentar auf S. 56ff.) die Florentiner Handschrift Biblioteca Nazionale, Conr. Soppr. J.V. 30, fol. 9v–12v. (ediert in Clagett: Archimedes in the Middle Ages 1, S. 100–115, Kommentar: S. 116–119. Von der Florentiner Handschrift sind nach Clagett (Ebd., S. 91–93) zwei weitere Fassungen abhängig: Paris, Bibliothèque Nationale lat. 11247, 51r–66r und Vatikan, Ottobon. lat. 1870, 151v–157v), verschiedene verstreute Versionen der dritten propositio aus De mensura circuli (Clagett: Archimedes in the Middle Ages 1, S. 96f., Anm. 6), die sechste propositio der Verba filiorum (Verba Filiorum, ed. Clagett, S. 96, n 6) und schließlich das achte Kapitel aus Jean de Muris’ De arte mensurandi ((= Boethius. Texte und Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften 41), Hubertus L.L. Busard (Hg.), Stuttgart 1998, S. 291–297). Allerdings fehlt bei de Muris der Hinweis auf Archimedes, auch stimmen die dort angegebenen Werte nicht genau mit denen aus den Arithmetischen Ergänzungen überein (De arte mensurandi, cap. 8, prop. 1 = ed. Busard, S. 243): Proportionem circumferenti[a]e circuli ad diametrum minorem esse tripla sesquiseptima et maiorem tripla s e s q u i o c t a v a [=
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4. Die Quadraturschriften
mal im Klaren darüber, aus welcher Schrift die Näherung ursprünglich stammte. Erst für die Zeit nach 1453 lässt sich mit Bestimmtheit sagen, dass er die archimedische Dimensio circuli, und zwar in der neuen Übersetzung nach Jakob von Cremona (latinisiert: Jacobus Cremonensis, genauere Lebensdaten sind nicht bekannt),661 eingesehen haben muss. Interessant ist nun, dass Nikolaus die operativen Grenzen der archimedischen Kreisrechnung zwar uneingeschränkt anerkennt, aber gesondert und in aller Ausdrücklichkeit auf scheinbar Selbstverständliches hinweist, nämlich den approximativen Charakter der Berechnung: Non tamen tradiderunt ubi numero inattingibilis praecisio latitaret. 662 Nikolaus’ Insistieren wird erst im Kontext der zeitgenössischen ArchimedesRezeption wirklich verständlich. Im 15. Jahrhundert wurde die Obergrenze der archimedischen Approximation nicht selten noch als exakt angesehen.663 Von derartigen unzulässigen Vereinfachungen will Nikolaus sich in aller Deutlichkeit distanzieren. Wenn er sich also, was nicht unwahrscheinlich ist, über eine Sekundärquelle zur archimedischen Kreisrechnung informiert hat, dann muss diese zumindest, was die archimedischen Grenzen anbelangt, recht genau an die Vorgaben des ursprünglichen Textes angelehnt gewesen sein. Dass selbst der princeps Archimedes in der Quadraturfrage Definitives schuldig bleiben muss, macht für Nikolaus natürlich die Richtigkeit seiner mathematischen Erkenntniskonzeption besonders anschaulich: Selbst der besten Methode sind Grenzen gesetzt, wenn das Denken sich dem Unendlichen zuwendet. Zugleich mag sich Nikolaus durch die archimedischen Eingrenzungen in seinem eigenen methodischen Vorgehen bestätigt gesehen haben, durch Einschalten von Zwischenwertbetrachtungen den Wertebereich für die Kreiszahl immer weiter einzuengen. Die wegweisende methodische Raffinesse der archimedischen Quadratur ist ihm dabei zu diesem frühen Zeitpunkt aber noch nicht bewusst. Dass Nikolaus der Arithmetik in seinen Quadraturschriften aus den genannten Gründen einen so geringen Raum gibt, heißt nun nicht, dass er nicht in der Lage gewesen wäre, seine geometrischen Konstruktionen auch arithmetisch zu fassen. Das zeigt eine kürzlich wiederentdeckte Vorfassung der Arithmetischen Ergänzungen besonders deutlich. 9
(!) (Anmerkung des Autors)] convenit demonstrare. Allerdings nennt die erste propositio
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im sechsten Kapitel De arte mensurandi Archimedes ausdrücklich und zwar mit Verweis auf dessen Abhandlung zur Spirale, auf die auch Nikolaus später mehrfach anspielt (siehe S. 236f.). Nikolaus hätte möglicherweise von dieser Nennung des Archimedes auch auf dessen Urheberschaft der im 8. Kapitel genannten Grenzen schließen können (Clagett: Archimedes in the Middle Ages 3, S. 307). Wann Jacobus seine Übersetzung der archimedischen Werke abschloss, ist unklar, es gibt aber Anzeichen dafür, dass Nikolaus Teile des Corpus bereits zur Abfassungszeit der Schrift Quadratura circuli hatte einsehen können. Siehe hierzu: S. 236f. CA, h 20, n 2, 5–6, S. 43 = p 2, fol. 54r = MATH. SCHRIFTEN, S. 30 (gemeint sind hier die Anhänger des Archimedes). Hierzu: David M. Burton: The history of mathematics. An introduction, Dubuque 31991, S. 212.
4.2. Nachrechnen. ‚De arithmeticis complementis‘
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Klaus Reinhardt hatte vor einigen Jahren im Codex 19-26 der Biblioteca Capitular in Toledo664 einige Schriften des Kusaners entdeckt, unter anderem eine bis dahin unbekannte Vorform der Schrift De mathematica perfectione.665 Menso Folkerts hat später eine in diesem Codex ebenfalls enthaltene Abschrift der Arithmetischen Ergänzungen666 als eine bisher unbekannte Fassung identifiziert, die sich teils erheblich von der Version in den Frühdrucken unterscheidet. Dieser Quellenfund ist allein schon deshalb bedeutsam, als der Toletaner Text die erste bekannte handschriftliche Fassung der Arithmetischen Ergänzungen darstellt. Die Abhandlung war zunächst nur aus dem Pariser und dem von diesem abhängigen Basler Druck bekannt. Entscheidend ist nun, dass die Toletaner Fassung von diesen späteren Werkausgaben so deutlich abweicht, dass man es auf den ersten Blick mit einer eigenständigen Schrift zu tun haben glaubt. Reinhardt hatte, wohl bei der Sichtung des Codex vollauf mit der Auswertung seiner Entdeckung der Vorform De mathematica perfectione beschäftigt, die Toletaner Version der Arithmetischen Ergänzungen wohl nur flüchtig eingesehen, denn er das Schriftstück für die Vorlage der Druckfassungen gehalten. Das herausragendste und schon bei einer ersten groben Durchsicht erkennbare Merkmal der Handschrift sind aber die gegenüber den Drucken deutlich detaillierteren Beweisansätze und Rechnungen. Man kann sogar sagen, dass die Titelgebung der Arithmetischen Ergänzungen erst durch die Toletaner Fassung wirkliche Berechtigung erhält, denn in den Versionen der Druckausgaben dominiert klar der Anschauungsbeweis mittels geometrischer Konstruktion, was weder der Verständlichkeit noch dem fachlichen Ertrag der Schrift zuträglich gewesen ist, liefert sie in dieser Form doch gegenüber den Transmutationes nichts Neues. Dass hier erst bei der Drucklegung in den Text eingegriffen wurde, also erst die Editoren die arithmetischen Passagen herauskürzten, ist sehr unwahrscheinlich, zu deutlich weichen Handschrift und Druck voneinander ab. Zudem stand beim Pariser Druck mit Omnisanctus Vasarius ein zwar nicht unfehlbarer, aber doch mathematisch kompetenter Kommentator zur Verfügung, so dass der noch wahrscheinlichste Fall, dass sich in den textlichen Deviationen mangelnde mathematische Kenntnisse der Pariser Setzer abzeichnen, ausgeschlossen werden kann. De arithmeticis complementis hat mit großer Sicherheit tatsächlich in mindestens zwei handschriftlichen Redaktionen vorgelegen. Neben der arithmetischen Detailarbeit fällt an der Toletaner Fassung auf, dass sie, genau wie die Abschrift der Mathematischen Vollendung im gleichen Codex, von einem in der Mathematik wenig bis gar nicht ausgebildeten Kopisten angefertigt wurde. Wo in De mathematica perfectione die für das einigermaßen leichte Verständnis der Schrift fast unentbehrlichen Hilfszeichnungen der übrigen Handschriften fehlen, da weisen die Arithematischen Ergänzungen aus der Kapitelsbibliothek noch erheblich gravierendere Mängel auf. So wurden beim Kopie664 665 666
Im Folgenden zit. als: Cod. To. 19–26. Siehe hierzu ausführlich: S. 272ff. Cod. To. 19–26, fol. 175r–176r , im Folgenden zitiert als CA (forma prior), nach der modernen Edition von Menso Folkerts.
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4. Die Quadraturschriften
ren mitunter ganz offensichtlich die Zahlzeichen ‚2‘ und ‚5‘ vertauscht und Stellen, an denen, wie der einschließende Text anzeigt, ursprünglich Brüche gesetzt waren, durch schlichte Auslassungen ausgezeichnet. Es ist natürlich unklar, ob sich der Schreiber des Toletaner Codex auf eine bereits vorher verderbte oder ihrerseits vereinfachte Vorlage bezog. Einem mathematisch geschulten Schreiber wäre es aber sicher möglich gewesen, die Zahlenwerte zumindest teilweise anhand der Konstruktionsvorschriften zu rekonstruieren. Dass der Schreiber die Absicht hatte, die fehlenden Brüche später nachzutragen, kann unter Verweis auf die formale Anlage des Textes, also vor allem der ungenügend großen Leerstellen, sicher ausgeschlossen werden. Ebenso ausgeschlossen ist es wohl, dass eine von Nikolaus selbst besorgte Fassung mit den nämlichen Aussparungen im Umlauf war – zwar wissen wir nicht genug über seine Arbeitsweise im Einzelnen, um sicher ausschließen zu können, dass er nicht selbst konkrete Zahlenwerte erst nachträglich in seine Entwürfe einarbeitete, dabei vielleicht die Detailarbeit teilweise sogar Anderen überließ. Sicher aber – das machen die einleitenden Bemerkungen zu den Geometrischen Verwandlungen deutlich667 – hätte Nikolaus eine Vervielfältigung einer solchen Rohfassung nicht zugelassen. Am wahrscheinlichsten ist also, dass neben der handschriftlichen Fassung, die zur Grundlage der Renaissancedrucke wurde, noch mindestens eine der Toletaner Version vorangegangene handschriftliche Fassung der Arithmetischen Ergänzungen existierte, die in bemerkenswertem Umfang – mehr als bei jeder anderen der bekannten Quadraturschriften des Kusaners – konkrete Berechnungen beinhaltete. Für sich genommen lässt sich zumindest für die Toletaner Handschrift der Mathematischen Vollendung mit großer Sicherheit sagen, dass sie eine von Nikolaus selbst später verworfene Vorform zur uns aus den Drucken bekannten Version der Schrift darstellt.668 Die Einordnung der wiederentdeckten Fassung De arithmeticis complementis ist dagegen ungleich schwieriger. Sollte Nikolaus von seinem ursprünglichen Anliegen, ‚echt arithmetische’ Nachträge zu den Geometrischen Verwandlungen zu liefern, Abstand genommen haben – anders könnte man die Druckfassungen, sofern sie die endgültige handschriftliche Redaktion wiederspiegeln, wohl nicht deuten –, dann müsste man die radikalen Streichungen aus der vermeintlichen Vorform wohl am wahrscheinlichsten auf Einwände von zweiter Seite zurückzuführen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die doch gerade durch die arithmetische Ausdrücklichkeit offensichtlichen Mängel einem von Nikolaus’ mathematisch gut ausgebildeten Fachkorrespondenten aufgefallen wären – Toscanelli wäre hier sicher ein Kandidat, denn er hat mit Sicherheit Abschriften einer Fassung sowohl der Transmutationes als auch der Complementa arithmetica erhalten. In diesem Falle fachlicher Einwände von aussen, hätte Nikolaus dann wohl an der a r i t h m e t i s c h e n Hinlänglichkeit seiner Ausführungen, aber nicht zwingend an der prinzipiellen Richtigkeit des Ansatzes im Allgemeinen gezweifelt,
667 668
Siehe: S. 195. Siehe hierzu ausführlich: S. 290ff.
4.2. Nachrechnen. ‚De arithmeticis complementis‘
217
denn die grundständige Konstruktionsvorschrift stimmt in beiden bekannten Fassungen der Ergänzungen überein. Es bleibt aber festzuhalten: Trotz aller Indizien lässt sich nicht ausschließen, dass die Toletaner Version der Ergänzungen nicht eine V o r f o r m , sondern die E n d f a s s u n g darstellt. In diesem Falle wären es die Druckfassungen der Werkausgaben, die sich auf eine vorläufige Redaktion der Schrift stützten. Letztlich hängt die genaue Einordnung des Toletaner Codex auf der Grundlage der bisherigen Quellenfunde vor allem von einer Person ab: Paolo Toscanelli. Er ist der ausdrückliche Adressat in b e i d e n Fassungen De arithmeticis complementis. Zumindest eine der beiden dürfte er einer eingehenderen Revision unterzogen und dadurch die erheblichen Veränderungen an der zweiten mitbedingt haben. Nikolaus’ Arbeiten an der Schrift muss zudem eine Stellungnahme Toscanellis zu De geometricis transmutationibus vorausgegangen sein – in der Einleitung der älteren Schrift hatte Nikolaus um kritische Auseinandersetzung und nötigenfalls Korrekturen gebeten. Nur die Toletaner Abschrift der Arithmetischen Ergänzungen aber birgt einen Hinweis darauf, dass Toscanelli sich im Vorfeld tatsächlich ausführlich mit den Ansätzen über die Geometrischen Verwandlungen beschäftigt hatte: Postquam, mi Paule optime atque amatissime, ad consequentiam eorum, quae de geometricis transmutationibus sunt, cepisti habitudines hactenus ignotas, quantum numero attingibiles [sunt] sciri conceduntur, complementa arithmetica, prout ingenium mihi natura ministravit, adieci.669
Die umständliche (und sprachlich, vorsichtig gesagt: ungewöhnliche) Formulierung ist ein – wenn auch schwaches – Indiz dafür, dass eine endgültige Bewertung der Geometrischen Verwandlungen seitens Toscanellis noch ausstand, was Nikolaus in seinem Versuch, sich an einer arithmetischen Ausformulierung zu versuchen, zunächst bestärkt haben mag. Auch wenn wir über Toscanellis mathematische Expertise insgesamt nur unzureichend informiert sind, genügt doch schon der Blick auf die spärliche Überlieferung, um sicher sein zu können, dass Toscanelli die Unzulänglichkeiten der Geometrischen Verwandlungen hätten aufgehen müssen, und er entsprechend auch die konkreten Berechnungen des arithmetischen Nachtrags zurückweisen musste. In diesem Falle hätte der Florentiner spätestens nach der Überstellung der Complementa Arithmetica seine Einwände vorgebracht und Nikolaus damit möglicherweise dazu veranlasst, die Schrift zumindest bis ins arithmetisch Unverfängliche zu verschlanken und das Hauptaugenmerk auf die grundsätzliche Gültigkeit der Zwischenwertbetrachtungen und des rein konstruktiven Interpolierens aus den Geometrischen Verwandlungen zu richten. Insgesamt scheint diese Abfolge der Ereignisse – damit also auch die Einordnung der Toletaner Handschrift als Vorform der später in die Drucke eingegangenen Fassung – die naheliegendste zu sein.
669
CA (forma prior), h 20, n 1, Z. 1–6, S. 37 = Cod. To. 19–26, fol. 175r.
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4. Die Quadraturschriften
Wenden wir uns den eigentlichen Berechnungen in der Vorform zu.670 Auf der Grundlage der Konstruktionsvorschrift aus der ersten Prämisse De geometricis complementis671 gibt Nikolaus zunächst die Strecke ae zu ae =
7 d 64
(mit d = Durchmesser des dem Dreieck umbeschriebenen Kreises) an.
Sicher hat er auf der Grundlage des pythagoreischen Lehrsatzes wie folgt gerechnet: 2
2
2
ae = af + ef =
1 2 3 2 7 2 d + d = d 16 64 64
Hieraus lässt sich folgern:
ri =
5 5 7 5 7 3 5 7 3 ae = d und ri : u 3 = d : 3d = :3 4 4 64 4 64 4 4 64 4
(mit ri = Radius des isoperimetrischen Kreises, u 3 dem Umfang des Dreiecks)
Dieses Verhältnis wird von Nikolaus genannt.672 Auf der Grundlage des Sexagesimalsystem und unter Bezug auf die ptholemäischen Sehnentafeln gibt Nikolaus dann für d = 120° den Wert ri = 49°36'34' ' an und bemerkt zu Recht, das die 34’’ nur einen genäherten Wert darstellen können: Palam [est (Einfügung Folkerts)] quod si ponitur diameter 120 graduum iuxta positionem magni Ptholmei quod tunc semidiameter circuli issoperimetri trigono inscripto est 49 graduum 36 minutorum et prope 34 secundarum. P r o p e d i c o p r o p t e r i n a t 673 tingibilem praecisionem surdae radicis.
Es folgt nun der eigentlich interessante Abschnitt der Schrift. Vom Verhältnis von einem dem Kreis eingeschriebenen Dreieck zum eingeschriebenen Sechseck will Nikolaus Aussagen für beliebige eingeschriebene (regelmäßige) Polygone ableiten. Nikolaus stellt, um zu einem allgemeinen Verfahren zur Bestimmung der Verhältnisse zwischen Sehnen und Durchmesser (des zu einem Polygon isoperimetrischen Kreises) zu gelangen, die folgende Überlegung an (alle geklammerten Angaben nach Folkerts): 670
671 672
673
Menso Folkerts hat die in der Toletaner Fassung fehlenden Brüche rekonstruiert und auf dieser Grundlage Nikolaus’ arithmetische Nachträge analysiert. Ich danke Ihm an dieser Stelle herzlich dafür, seine Erkenntnisse mit mir geteilt zu haben. Siehe: S. 190. CA (forma prior), h 20, n 1, Z. 20–22, S. 37–38 = Cod. To. 19–26, fol. 175r: Sua est igitur habitudo [semi]diametri ad circumferentiam, quae est radicis [7/64 (Einfügung Folkerts)] iuncta sibi quarta sui ad tres radices de [3/4 (Einfügung Folkerts)], uti haec nota sunt ex supposito allegato. CA (forma prior), h 20, n 1, Z. 22–26, S. 38 = Cod. To. 19–26, fol. 175r.
4.2. Nachrechnen. ‚De arithmeticis complementis‘
219
Scimus autem semidiametrum inscripti trigono fore medietatem circumscripti, scilicet grad[us] [30], si circumscripti ponitur prout cordae gra[dus] 60. Unde differentia nota erit inscripti semidiametri ad semidiametrum issoperimetri, qui erit 19 gra[dus] 36 minuta et prope 34 secunda. Scimus enim lineam de centro ad quartam partem lateris ductam radicem [7/64], cuius radix est 39 gra[dus] et prope 41 min[uta]. Sic differentia erit 9 gra[dus] et quasi 56 minuta. Et sic utriusque simul 29 gra[duum] et quasi 33 minutorum. S c i m u s etiam hanc differentiam esse maximam, ita quod in omnibus poligoniis issoperimetris in consimilibus tanto differ e n t i a i l l a m i n o r e r i t , q u a n t o p o l i g o n i a c a p a c i o r . 674
Ausgehend vom Dreieck mit Umkreisradius R 3 und Inkreisradius r3 mit r3 =
1 R und R 3 = 60° , r3 = 30° gilt demnach (stets nur näherungsweise, wie Niko2 3
laus ausdrücklich anmerkt): ri − r3 = 49°36'34' '−30° = 19°36'34' ' und ae =
7 4 ⋅120° = ⋅ 49°36'34'' = 39°41' 64 5
Ferner gilt nun für die Differenz zwischen dem Radius des isoperimetrischen Kreises und dem kennzeichnenden Dreiecksabschnitt ae : ri − ae = 49°36'34''− 39°41' = 9°56'
sowie (ri − r3 ) + (ri − ae) = 19°36'34''+ 9°56' = 29°33'
Der letzte Rechenschritt hat keine weitere Bedeutung. Wichtig ist hier aber insgesamt Nikolaus’ Annahme eines funktionalen Zusammenhangs zwischen der Differenz ri − ae und der Winkel- bzw. Eckenzahl isoperimetrischer Vielecke (wobei Punkt ·e· immer bestimmt wird durch die Viertelung einer Seite des Polygons, wie in der ersten Prämisse De geometricis transmutationibus beschrieben). Diese ist, genau wie Nikolaus anmerkt, tatsächlich beim Dreieck am größten und nimmt mit wachsendem Inhalt der isoperimetrischen Polygone ab.675 674 675
CA (forma prior), h 20, n 2, Z. 2–11, S. 38 = Cod. To. 19–26, fol. 175r–v. CA (forma prior), h 20, n 3, Z. 2–12, S. 39 = Cod. To. 19–26, fol. 175v: […] quod sicut in capacioribus poligoniis semidiameter inscripti necessario plus accedit ad aequalitatem semidiametri circuli issoperimetri, quam secundum habitudinem potentiae lateris eius ad potentiam lateris trigoni accedere deberet, ita pariformiter linea illa ad quartam partem lateris ducta necessaryo plus accedit ad equalitatem illius semidiametri inscripti que coincidit cum semidiametro [circuli (Einfügung Folkerts)] issoperimetri. Et hoc necessarium vides, si at-
220
4. Die Quadraturschriften
Dies führt Nikolaus nun zu einer interessanten Proportionalitätsbehauptung, die ich in der modernen Form nach Folkerts wiedergebe. Demzufolge gilt für regelmäßige n-Ecke: s2n d i − (rn + aen ) = s3n di − (r3 + ae3 ) (mit sn = Seitenlänge des n-Ecks, rn = Radius des Inkreises, ae = Strecke von Kreismittelpunkt zum Punkt auf
s n , der
1 4
s n vom Endpunkt der Seite entfernt ist,
di = Durchmesser
des isoperimetrischen Kreises)
Ich übergehe die nachfolgenden Abschnitte, in denen Nikolaus diesen Verhältnissatz zur Anwendung bringt, um den Radius des zum Sechseck isoperimetrischen Kreises zu ermitteln (und die ihn von der Qualität seiner Näherung aus der ersten Prämisse De geometricis transmutationibus überzeugt haben dürften). Wichtig ist, dass Nikolaus aus seiner Proportionalitätsbehauptung über die Polygonseiten und die zugehörigen Werte für ae und di nun auch zur eigentlichen Sehnenrechnung ansetzt. Nikolaus glaubt dabei, aus der quadrierten Polygonseite s2n auch den Wert rn − aen berechnen zu können, und zwar aus dem Zusammenhang 2 s aen = rn2 + ( n ) . 4
2
Direkt berechenbar ist aus s n aber nur die Differenz rn2 − aen . Zum ‚Beweis‘ seiner Behauptung verwendet Nikolaus den zu Anfang ermittelten Wert 676 di = 99°13' , zieht von diesem 7°23’ ab und erhält d i = 91°50' . Er weiß, dass für 1 4
das Sechseck gilt: s6 = 2R 3 = 30 3 . Damit ist nun: 1 2
s6 1 = 7 ⋅ 3 . Daraus ergibt 4 2 2
sich (7 ⋅ 3)2 ≈ 169 . Es muss nun erfüllt werden, dass ae6 − 169 = r62 . Nikolaus findet hierzu die beiden Werte 2025 und 2194,677 und damit r6 = 45° und ae6 = 46°50' , was zum ursprünglichen Wert di = 91°50' (= 45° + 46°50') zurückführt. Die ganze Überlegung steht und fällt natürlich mit der Güte der einfachen Verhältnisbehauptung aus der ersten Prämisse der Geometrischen Verwandlungen,
676
677
tendis illa duo simul, scilicet secundum minorem potentiam lateris magis augeri semidiametrum inscripti et super ipsam minus addere lineam ad quartam [partem (Einfügung Folkerts)] lateris ductam. Unde evenit necessario, quando ille coniunguntur, habitudinem differentiarum sequi habitudines laterum. Diesen Wert erhält Nikolaus (CA (forma prior), h 20, n 4, Z. 8–12, S. 39 = Cod. To. 19–26, fol. 176r) aus ( ri 6 + ae 6 − ri 3 + ae3 ) : 3 (mit dem Inkreisradius des Dreieck ri 3 = 30° ). CA (forma prior), h 20, n 4, Z. 16, S. 40 = Cod. To. 19–26, fol. 176r.
4.2. Nachrechnen. ‚De arithmeticis complementis‘
221
die ja aber, wie wir gesehen haben, recht hoch ist. Nikolaus wird entsprechend von seiner Schlussweise sehr überzeugt gewesen sein. Entsprechend glaubt er nun, zu j e d e m Winkel und zu j e d e m Bogen die zugehörige Sehne angeben zu können und geht selbstbewusst ein zentrales trigonometrisches Problem an, die Bestimmung der Sehne zum Winkel von 1°. Unter Umgehung aller Zwischenrechnungen gibt er zunächst die Seite des 45Eck an, zu dem der Mittelpunktwinkel 8° gehört und dessen Sehne nach Nikolaus 48 beträgt. Er weiß, dass sich durch fortwährende Teilung und einfache Rechnungen (die er dem Leser überlässt) hieraus u. a. auch die Sehne zu 1° bestimmen lässt. Dass eine genaue Bestimmung dieser Sehne aber mit Zirkel und Lineal nicht zu erreichen ist, hat er offenbar nicht gewusst. Nikolaus’ nachgetragene arithmetische Beweisversuche zur ersten Prämisse De geometricis transmutationibus sind nicht sehr stringent geführt und zum Teil schwer bis unmöglich zu verstehen. Das ganze Begründungsschema beruht auf einem Zirkelschluss, auf schlichtem Vergleichen von über unterschiedliche Rechenwege (die aber auf den gleichen, den letztlich zu beweisenden Grundannahmen beruhen) gewonnenen Werten, woraus dann die Gültigkeit der Prämissen behauptet wird. Dennoch: Die Toletaner Vorform ist in zweierlei Hinsicht bedeutend. Zum einen zeigt Nikolaus, dass er durchaus fähig war, seine Konstruktionsvorschriften auch mit den Mitteln der Arithmetik zu beschreiben. Zum anderen stellt die Proportionalitätsregel
s2n d i − (rn + aen ) = einen direkten s3n di − (r3 + ae3 )
Vorläufer des späteren Flächenproportionalitätssatzes aus dem ersten Buch De mathematicis complementis dar678 und zeigt damit, dass Nikolaus Quadraturschriften durchaus methodische Kontinuitäten aufweisen.679 Ganz offenbar glaubte Nikolaus in der Toletaner Fassung der Arithmetischen Ergänzungen, das Verhältnis von Sehnen und Bögen g e n a u angeben zu können – im Gegensatz zu seinen zurückhaltenderen Äußerungen in der mutmaßlich späteren Version der Schrift und, das zeigt, wie überzeugt Nikolaus von seinem Ansatz war, auch im Gegensatz zu den mathematischen Autoritäten Archimedes und Ptolemaios: Nosti autem neminem ante haec tempora istam artem tradidisse, quamvis, ut fertur, Archimedes propinquam habitudinem diametri ad circumferentiam reliquerit, n o n t a m e n c e r t a m et quantum numero scibilis est, neque Ptolemaeus unius aut duorum aut quattuor et sic deinceps graduum veram chordam tradidit, s e d v e r i s i m i l e m . Sed nunc […] e s t n o b i s o m n i s s c i b i l i s h a b i t u d o d i a m e t r i a d c i r c u m f e r e n t i a m p a t e f a c t a .680
Zwar gibt Nikolaus überall in der Toletaner Version der Ergänzungen zu erkennen, dass seine Zwischenrechnungen nur genäherte Werte liefern. Schlussendlich aber glaubt er, dass in der Quadraturregel in der ersten Prämisse der 678 679 680
Siehe: S. 242ff. Siehe hierzu auch: S. 285. CA (forma prior), h 20, n 1, Z. 8–16, S. 37 = Cod. To. 19–26, fol. 175r.
222
4. Die Quadraturschriften
Geometrischen Verwandlungen tatsächlich die exakte Lösung des Quadraturproblems steckt, wenn sie auch zahlenmäßig nicht genau nachzuzeichnen ist. Man kann hier fast von einer Grundkonstante in den mathematischen Schriften des Kusaners sprechen: Die Vorsicht gegenüber der Formulierung eines mathematischen Genauigkeitsanspruchs nimmt mit dem Vertrauen in die eigenen Ansätze ab. Nikolaus erkenntniskritische Grundhaltung, das ist für das Verhältnis der mathematischen Schriften zu den philosophisch-theologischen Hauptwerken wichtig, ist aus seinen Quadraturversuchen nicht immer gleich deutlich herauszulesen. Was in Nikolaus’ Erkenntnist h e o r i e durchgängig einen unumstößlichen Eckpfeiler darstellt, die Annahme des mutmaßenden Charakters jeglicher Form von Erkenntnis, hat sich in der mathematischen P r a x i s nicht immer mit der gleichen Konsequenz niedergeschlagen.
4.3. GRENZGÄNGE. DE CIRCULI QUADRATURA Fünf Jahre dauert es, bis Nikolaus sich mit De circuli quadratura erneut nachweisbar dem Rektifikationsproblem zuwendet. Für wen die Schrift ursprünglich bestimmt war, ist nicht bekannt. Sicher ist nur, dass ihr Adressat sowohl in theologischen Fragen bewandert als auch mit dem mathematischen Spezialproblem der Kreisquadratur vertraut gewesen sein muss. Hierüber geben Nikolaus’ einleitende Grußworte an den unbekannten Empfänger der Schrift Auskunft.681 Unter den bekannten Freunden des Kusaners kommen vor allem Bessarion und Kardinal Giuliano Cesarini († 1444) als Empfänger der Schrift in Frage. Aber auch der Spanier Antonius de la Cerda (†1459), seit 1448 Kurienkardinal in Rom, könnte Adressat des Schreibens Über die Quadratur des Kreises gewesen sein. Immerhin hat Nikolaus de la Cerda auf dessen ausdrückliches Anbitten hin später die Abhandlung De mathematica perfectione übersandt.682 Der Traktat De circuli quadratura, den Nikolaus 1450 in Rieti (in der italienischen Provinz Latium) fertig stellte, ist in keinen der Renaissance-Drucke eingegangen, was vielleicht daran liegen mag, dass die Abhandlung in methodischer Hinsicht nicht über das in den Geometrischen Verwandlungen und den Arithmetischen Ergänzungen Verhandelte hinausgeht. In der Hauptsache liefert sie lediglich einige ausführliche Erläuterungen zum Kreistriangulaturverfahren aus der ersten Prämisse der Transmutationes geometricae.683 Das eröffnet auch einen interessanten Einblick in die Einschätzung, die Nikolaus selbst in der Zwischenzeit von dem bisher Geleisteten gewonnen hatte. Ganz offensichtlich hatte nur die erste Prämisse aus den Transmutationes einer kritischen Revision einigermaßen 681 682
683
DQ, h 20, n 1, Z. 5–7, S. 52 = clm 18711, fol. 242v = MATH. SCHRIFTEN, S. 36. Das geht hervor aus: PM, h 20, n 1, Z. 5–6, S. 204 = MATH. SCHRIFTEN, S. 160 = p 2, fol. 101r. DQ, h 20, n 11–28, Z. 2–12, S. 54–61 = clm 18711, fol. 244r–247r = MATH. SCHRIFTEN, S. 42–50.
4.3. Grenzgänge. ‚De circuli quadratura‘
223
Stand gehalten. Mehr ist von den Geometrischen Verwandlungen fünf Jahre nach ihrer Fertigstellung nicht geblieben. Die Schrift ist, weit stärker noch als die Druckfassungen De arithmeticis complementis, ein Kompendium methodologischer Vorüberlegungen zu und philosophischer Implikationen aus der Kreisquadratur. Dabei geht Nikolaus in bis dato unbekannter Ausführlichkeit auch systematisch auf wissenschaftshistorische Zusammenhänge ein. Hierzu stellte er in De circuli quadratura die zwei konträren Grundpositionen seiner Zeitgenossen hinsichtlich der Quadrierbarkeit des Kreises gegenüber. Die formale Anlage wird in diesem Zusammenhang bestimmt durch eine geradezu dialektische Fassung des Rektifikationsproblems. Befürworter und Gegner der Quadrierbarkeit des Kreises lässt Nikolaus gesondert zu Wort kommen, wie so häufig allerdings ohne dem Leser seine konkreten Bezugsquellen zu offenbaren. Zunächst behandelt er die Argumente der Befürworter einer exakten Quadratura. Hofmann hat in diesem Zusammenhang jene, die laut Nikolaus die Kreisquadratur und Kurvenausstreckung für möglich halten, als Anhänger des Bryson von Herakleia684 identifiziert.685 Dessen Quadraturerwägungen behandelt unter anderen Aristoteles in der Zweiten Analytik (Analytica posteriora).686 Sein Kommentator Johannes Philoponos (6. Jahrhundert n. Chr.)687 hat den AusführunZur Brysonschen Näherung der Kreisgen des Aristoteles einige eingehendere quadratur,nach: Hofmann: MutmaßunErläuterungen zum Brysonschen Verfahgen, S. 203 ren anfügt. Demnach beruht es auf der folgenden Grundkonstruktion: 684
685 686 687
Über Person und Wirken Brysons ist bisher nur äußerst wenig bekannt. Zu seinem mathematischen Schaffen liegen keine Primärquellen vor. Gesicherte biographische Daten liegen nicht vor. Als relativ gesichert kann gelten, dass er entweder ein Schüler des Sokrates (469–399 v. Chr.) oder des Euklid war. Siehe hierzu: Paulys Real-Encyklopädie der classischen Alterumswissenschaft, Georg Wissowa (Hg.), Stuttgart 21897, Bd. 31 (= Fünfter Halbband, enthält die Einträge Barbarus–Campanus), Eintrag Bryson 2), Sp. 927ff. Ausführlicher zu den mathematischen Leistungen Brysons: Moritz Cantor: Vorlesungen über die Geschichte der Mathematik 1, Leipzig 21913, S. 203–204. Hofmann: Mutmaßungen, S. 112. Zweite Analytik A9. 75b–76a. Johannes Philoponos: Johannes Grammatici Philoponi in Aristotelis posteriora analytica commentarii, Paris 1543. Die einschlägigen Stellen sind zitiert in: Hofmann: Mutmaßungen, S. 113–114; Oskar Becker: Die Grundlagen der Mathematik in geschichtlicher Entwicklung; Freiburg im Breisgau/München 21964, S. 43–46. Für die nachfolgenden Erläuterungen wurde ausschließlich auf die Textauszüge bei Hofmann zurückgegriffen, da Becker den Text lediglich in deutscher Übersetzung angibt.
224
4. Die Quadraturschriften
Zu einem beliebigen Kreis werden das umschreibende und das einbeschriebene Quadrat konstruiert. Es ist leicht einzusehen, dass das Umquadrat (Seitenlänge 2r) einen größeren, das Inquadrat (Seitenlänge 2r 2 ) einen kleineren Umfang als der gegebene Kreis haben.688 Bryson hat daraus mutmaßlich geschlossen, dass das gesuchte zum Grundkreis isoperimetrische Quadrat zwischen (intermedium) Inund Umquadrat liegen müsse.689 Diese grundlegende Erkenntnis ergibt sich aus der reinen Anschauung und ist an sich kaum bemerkenswert, zumal Bryson seine Ausführungen nicht weiter präzisiert hat.690 Das Ganze ist natürlich kein Quadraturverfahren im eigentlichen Sinne, sondern eine methodische Prämisse, die, wie Oskar Becker gezeigt hat, schlicht auf einen Zwischenwertsatz hinausläuft, wie er auch in der modernen Analysis Anwendung findet.691 Der Brysonsche Satz über die Kreisquadratur formuliert (vereinfachend gesprochen) den allgemeinen Grundsatz, dass dort, wo sich zu einem gegebenen quantitativen Wert ein ‚größer‘ und ein ‚kleiner‘ finden lassen, stets auch das Vorhandensein einer dem gegebenen Wert gleichen Größe postuliert werden kann. Nikolaus fasst diese Bedingung in den folgenden Existenzsatz: Ubi est dabile magis et minus est et dabile equale.692 Nur wenn diese Zwischenüberlegung als gültig angesehen wird, kann für Nikolaus die exakte Quadratur des Kreises überhaupt statthaben. Zur Veranschaulichung gibt er, genau wie Bryson, eine elementare Näherungskonstruktion aus Kreis und zugehörigen In- und Umquadraten, um dann aber sogleich die Unzulänglichkeit der ganzen Überlegung zu unterstreichen:693 Insofern nämlich die 688
689 690
691
692 693
Die nebenstehende Abbildung steht auf der Grundlage von: Philoponos, comm. 39, fol. 26v = Hofmann: Mutmaßungen, S. 112. Philoponos, comm. 39., fol. 26v, zit. n.: Hofmann: Mutmaßungen, S. 112. Ebd.: [...] in quo autem loco signorum intermediorum aequale cadat quadratum, non demonstravit. Wie leicht zu berechnen ist, lässt der Ansatz Brysons lediglich eine grobe Eingrenzung der Kreiszahl zu. Demnach gilt: ¶8 < π < 4. Oskar Becker: Die Grundlagen der Mathematik in geschichtlicher Entwicklung, Freiburg u. Münster 21964, S. 43–46. DQ, h 20, n 4, Z. 1–2, S. 52 = clm 18711, fol. 242v = MATH. SCHRIFTEN, S. 37. Auf welchem Wege Nikolaus mit dem Brysonschen Ansatz in Berührung gekommen sein könnte, ist unklar. Neben Philoponos nennen auch noch andere Kommentatoren den griechichen Mathematiker. Möglicherweise hat Cusanus in Padua den Kommentar des Averroës zu den Analytica posteriora kennengelernt, in dem unter comment. 67 ebenfalls ausdrücklich auf Bryson hingewiesen wird: Averroës: Aristotelis Stagiritae omnia quae extant cum commentariis Averrois Cordubensis; Venedig 1550–1552, zit. n.: Hofmann: Mutmaßungen, S. 113: [...] Propositio autem, qua usus est Bryso, est propositio dicens, quod ea, quae sunt maiora uno in disposicione ipsius et minora uno, sunt aequalia [...]. Sed haec propositio est amplior quam ut eam faciant geometrae, et est etiam non vera, quoniam non est appropriata magnitudinibus, et maius et minus in magnitudinibus sphaericis et rectis non dicuntur secundum dispositionem unam, hoc est, quoniam non dicitur, quod circulus est maior superficie, immo non est proportionabilitas secundum veritatem inter lineam rectam et circularem [...]. Die Bemerkungen des Aristoteles zu Bryson sind aber auch in die Kommentare des Theomistios und des Thomas von Aquin übergegangen: Hofmann: Mutmaßungen, S. 113–114 und (unter Wiedergabe der relevanten Textstellen) Marshall C. Clagett: Archimedes in the Middle Ages 1, S. 428f.
4.3. Grenzgänge. ‚De circuli quadratura‘
225
Kreisfläche im Vergleich zu den Vieleckflächen, die ein Größer und Kleiner zulassen und die Kreisfläche daher nicht erreichen, das schlechthin Größte ist,694 greift beim Zwischenwertsatz die regula doctae ignorantiae: In recipientibus maius et minus non devenitur ad maximum simpliciter in esse et posse.695 Aus dem gleichen Grund hatte Nikolaus bereits in De transmutationibus geometricis die vollständige Ausrundung von Vielecken durch stete Erhöhung der Eckenzahl als unzulänglich abgelehnt. In De circuli quadratura wird dieser Diskurs aber differenzierter geführt, denn er steht hier offensichtlich in einem sehr konkreten Sachzusammenhang: Nikolaus’ Abwägungen laufen auf das Problem der Kontingenzwinkel hinaus.696 Dass Nikolaus dabei seine Argumentation hauptsächlich auf die Betrachtung von Kreis- und Polygonflächen stützt, steht dem insofern nicht entgegen, als die cusanische Winkeldefinition sich ja durchgängig an der Fläche orientiert.697 Mit großer Sicherheit hat Nikolaus dabei die CampanusBearbeitung der Elementa, von der er eigene Abschrift besaß, als Grundlage gedient. Dort findet sich im Zusammenhang mit dem Problem der Teilbarkeit von Kontingenzwinkeln mittels geradliniger Winkel, die Campanus in einem Zusatz zu Elem. 3,15 (arabischer Zählung)698 ausdrücklich für undurchführbar hält, die folgende signifikante Konklusion: Ex hac nota, quod n o n v a l e t i s t a a r g u m e n t a t i o . Hoc transit a minore ad maius et per omnia media, ergo per [a]equale. Nec ista. Contingit reperire maius hoc et minus eodem, ergo contingit reperire [a]equale.699
Dem stimmt Nikolaus zunächst auch eindeutig zu. Das hält ihn nun aber keineswegs davon ab, in De circuli quadratura, genau wie in den ersten beiden Prämissen der Transmutationes, wie selbstverständlich Zwischenwertbetrachtungen anzustellen. Nikolaus stellt sich mit seiner Ablehnung des Zwischenwertprinzips also nur scheinbar auf die Seite der strengen Skeptiker. Fasst man den Begriff der Gleichheit nämlich so, dass einem anderen gleich ist, was um keinen rationalen – auch nicht den allerkleinsten – Bruchteil das andere übertrifft oder von ihm übertroffen wird,700 dann sind nach Nikolaus’ Vorstellung Zwischenwertbetrachtungen durchaus zulässig und die Kreisquadratur in bis auf mathematisch nicht mehr unterscheidbare Bruchteile möglich. Nur ein a b s o l u t gefasster Gleichheitsbegriff verbietet die Angleichung von Kreis und Vieleck. Befürworter und Gegner der Kreisquadratur unterscheiden sich bei Nikolaus also vor allem in ihren Grundauffassungen bezüglich des Begriffs der mathematischen Gleichheit. Er vermittelt nun zwischen beiden Positionen mit den Werkzeugen der eigenen Erkenntnislehre. Im Bereich der sinnlichen Welt lassen sich mittels Zirkel und Lineal Kreis und Vieleck tatsächlich, wie die 694 695 696 697 698 699 700
DQ, h 20, n 10, Z. 5–9, S. 54 = MATH. SCHRIFTEN, S. 40–41 = clm 18711, fol. 243v. DQ, h 20, n 10, Z. 4–9, S. 54 = MATH. SCHRIFTEN, S. 40–41 = clm 18711, fol. 243v. Hofmann: Mutmaßungen, S. 115ff. Siehe hierzu ausführlich: S. 97ff. Nach moderner Zählung ist dies Elem. 3.16. ed. Busard, S. 121, Z. 292f. Die Stelle hat auch: Hofmann: Mutmaßungen, S. 116. DQ, MATH. SCHRIFTEN, S. 41 = h 20, n 11, Z. 6–8 = clm 18711, fol. 244r.
226
4. Die Quadraturschriften
Befürworter der Kreisquadratur annehmen, so ineinander umwandeln, dass die menschliche ratio als übergeordnete Entscheidungsinstanz keinerlei Abweichungen zwischen den Figuren mehr feststellen kann. Da es in der Welt des Sinnlichen die letzte Genauigkeit nicht geben kann, muss dort an die Stelle der absoluten Gleichheit die näherungsweise, ‚rationale‘ Gleichheit als treten.701 In De circuli quadratura erscheint damit die grundsätzliche Geschiedenheit von ‚Geradem‘ und ‚Gekrümmtem‘ gegenüber den früheren Schriften in deutlich relativierter Form. Was Nikolaus nun an konkreten Vorschriften folgen lässt, ist schnell zusammengefasst. Noch einmal wird das Triangulaturverfahren aus De geometricis transmutationibus ausführlich dargestellt, diesmal aber mit spürbar größerer Selbstsicherheit. Aus seinen sorgfältigen Abwägungen zur grundsätzlichen Durchführbarkeit der Quadratur schöpft Nikolaus nun sogar soviel Vertrauen in die eigene Methode, dass er sie mit dem Nachreichen des tatsächlich sehr guten numerischen Ergebnisses für die Triangulatur untermauert. Dieses hält er dann selbstbewusst nicht nur für annähernd, sondern im Sinne seiner Ausführungen zum mathematischen Gleichheitsbegriff für nicht verbesserungsfähig. Die Ungenauigkeit der Näherung beginnt dagegen in Wirklichkeit schon im Bereich von Terzen.702 De circuli quadratura ist nicht als eigenständiger mathematischer Beitrag gedacht gewesen, sondern diente Nikolaus vorrangig dazu, eine formale Rechtfertigung für seine Methodik zu finden. Wirklich neue Ansätze für die Quadratur sollten länger auf sich warten lassen.
4.4. NEUE EINFACHHEIT, NEUE VORBILDER. DREI BÜCHER ÜBER DEN LAIEN Die Zeit zwischen der Abfassung der Geometrischen Verwandlungen mit ihren Arithmetischen Ergänzungen und dem Beginn der 1450er Jahre sind, sieht man einmal von der kurzen Apologia doctae ignorantiae, die Nikolaus 1449 als (späte) Reaktion auf den Pantheismusvorwurf des Heidelberger Theologen Johannes Wenck verfasst, ab, weit weniger von der schriftlichen Fortentwicklung der eigenen philosophisch-theologischen Ideen, als von intensiver kirchenpolitischer Tätigkeit geprägt gewesen. 1450 erntet Nikolaus schließlich die Früchte dieser unermüdlichen Arbeit für die Sache des Papsttums, die 1448 im Wiener Konkordat, an dessen Zustandekommen Nikolaus maßgeblich beteiligt war, ihren vorläufigen Höhepunkt gefun701 702
Hierzu auch: MATH. SCHRIFTEN, S. xiv–xv. MATH. SCHRIFTEN, S. 207, Anm. 23: Wird also die Bogensekunde zur Grundlage der Berechnung gemacht, dann weicht der cusanische Wert schon in der Größenordnung k vom 60
3
‚tatsächlichen‘ Wert der Kreiszahl ab. In Bogenminuten lautet zugehörige Proberechnung : 25 1 ( 4 ⋅1575) 175 . ≈ = π 36.2700 1728
4.4. Drei Bücher über den Laien
227
den hatte: Papst Nikolaus V. weiht ihn zum Bischof von Brixen in Südtirol, einem Nadelöhr des transalpinen Handels – ein Karrieresprung, der dem loyalen Diplomaten zwar materielle Unabhängigkeit und Gelegenheit zur konsequenten Umsetzung seiner reformerischen Ideen gewissermaßen ‚auf eigenem Boden‘ in Aussicht stellte, schließlich aber in jene politische Katastrophe münden sollte, die das letzte Lebensjahrzehnt des realpolitisch glücklosen Kirchenfürsten überschattete.703 An die Bischofsweihe sind auch neue diplomatische Aufgaben für die Kurie geknüpft. Nikolaus V. ernennt Nikolaus zum päpstlichen Gesandten für die deutschen Lande, als welcher er auf seiner großen Legation 1451/52 mit reformerischem Feuereifer das Reich bereist, Klöster visitiert, Synoden abhält und den vom Papst initiierten ‚Jubiläumsablass‘ verkündet – eine dringend notwendige finanzielle Maßnahme angesichts der ambitionierten Pläne des Papstes zur inneren und äußeren Stabilisierung von Papsttum und Kirche.704 Es scheint zunächst erstaunlich, dass Nikolaus trotz der sicherlich zeitraubenden Vorbereitungen von Episkopatantritt und Gesandtschaft noch 1450 Gelegenheit für die Abfassung von nicht weniger als drei umfangreichen Schriften gefunden hat, die die weitgehende schriftstellerische Untätigkeit der vorangegangenen Jahre beendet – die Trilogie Über den Laien in drei Büchern Idiota de mente, Idiota de sapientia und Idiota de staticis experimentis. Der umfangreiche Laien-Corpus ist Zeugnis jener Aufbruchseuphorie, die in der Ausrufung des „Jubeljahres“ 1450 ihren formalen Ausdruck findet, und entsprechend für Nikolaus eine dringende Herzensangelegenheit. Man scheint in Rom nach der Überwindung des Kirchenschismas und des Abschlusses des Wiener Konkordats zuversichtlich, die innere und äußere Konsolidierung der Kirche weiter erfolgreich vorantreiben zu können. Dass Nikolaus am Beginn des Idiota de mente ausdrücklich den Jubiläumsablass aufgreift, steht in diesem Zusammenhang. Zugleich zeigen die drei Schriften Über den Laien aber auch deutlich, wie inspirierend das geistig-kulturelle im Umfeld der Kurie auf Nikolaus gewirkt haben muss. Erstmals ‚verortet‘ Nikolaus seine philosophischen Überlegungen: Es ist ausdrücklich das Forum Romanum, auf dem Nikolaus den Dialog De sapientia ansiedelt, wobei hier Flasch angemerkt hat, dass sicher nicht das antike Forum, sondern der Marktplatz der mittelalterlichen Stadt, der Campo dei Fiori gemeint ist.705 Hier spiegelt sich nichts weniger wider, als die sich rasch vollziehende kulturgeographische Verschiebung,706 durch die Rom zu den oberitalienischen Kommunen als ein Zentrum progressiven humanistischen Geisteslebens aufschließen konnte. Großen Anteil am Wiedererstarken Roms als Stadt der Kunst und der Wissenschaften hatte Nikolaus V.,707 der 703 704 705 706
707
Siehe: S. 253f. Hier und im Folgenden: Flasch, Geschichte einer Entwicklung, S. 237–240. Flasch, Geschichte einer Entwicklung, S. 252–253. Rose, S. 39f. Hierzu auch ausführlich: Charles Stinger: The Renaissance in Rome, Bloomington 1998 und John F. D'Amico: Renaissance Humanism in Papal Rome, Baltimore/London 1983. Die Literatur zu Leben und Wirken Nikolaus V. ist umfangreich, ich will hier nur zwei empfehlenswerte Schriften anführen: Stefano Borsi: Niccolò V (1447-1455), in: La papauté à la
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4. Die Quadraturschriften
schon in jungen Jahren in Bologna und Florenz Zugang zur Welt des Humanismus gefunden hatte. Als Kunstmäzen und Förderer der Wissenschaften hat dieser Papst wie wohl kein zweiter das Ansehen von Stadt und Kurie zu mehren verstanden, wenngleich die Öffnung für die Einflüsse des Renaissance-Humanismus auch die Tendenzen zur Verweltlichung der Institution Kirche verstärkten. Im Umfeld Nikolaus V. finden wir eine ganze Reihe überaus prominenter Humanisten, wie etwa den Historiker und Übersetzer Pier Candido Decembrio, den großen Kenner der antiken Literatur Gianfrancesco Poggio Bracciolini (1380–1459), den Historiker, Übersetzer und späteren Biographen Nikolaus’ V. Gianozzo Manetti (1396– 1459), Lorenzo Valla (1405/07–1457) und natürlich Leon Battista Alberti, der für den Papst neue Entwürfe für den Umbau von Vatikan, Peterskirche und Leostadt anfertigte.708 Neben Alberti standen mit Piero della Francesca (um 1420–1492) und Frau Angelico (†1455) zwei weitere Ausnahmekünstler in päpstlichen Diensten. Nikolaus V. zeigte sich dabei auch bemüht, seiner ‚Kreativabteilung‘ ein passendes Arbeitsumfeld zu schaffen, gilt doch der Humanistenpapst als der eigentliche Gründer der Vatikanischen Bibliothek. Die vielfältigen Umtriebe Nikolaus V. zur Förderung von Kunst und Wissenschaften entsprang dabei allerdings weder allein einem rein repräsentativen Kalkül noch einem oberflächlichen humanistischem Bildungsideal, zumal das humanistische Selbstverständnis für die Idee des Papsttums durchaus zweischneidig war (wie sich Nikolaus V. allzu deutlich in der Verschwörung des Porcaro zeigte, einer durch humanistisches Freiheitsstreben gestärkte Erhebung vornehmer Stadtrömer).709 Vielmehr scheint der Papst auch aus der Überzeugung gehandelt zu haben, dass die Anerkennung der Autorität von Papst und Kirche eine geistigwissenschaftliche Anstrengung voraussetzt, dass mithin für die Rechtfertigung des „römischen Primats“ Glaube und Vernunft eine untrennbare Einheit bilden müssen.710 In diesem Punkt hatte der Papst mit Nikolaus von Kues einen wahrhaft kongenialen Denker an seiner Seite. Und noch in einem weiteren, bedeutsamen Punkt, stimmten der Oberhirte und sein neuer Reformbeauftragter überein: dass nämlich der gerade genannte elitär-intellektuelle Anspruch der Vernunftreligion nicht auf die Gesamtheit der Gläubigen übertragen werden konnte. Eine eigene
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Renaissance (= Travaux du Centre d'Études Supérieures de la Renaissance de Tours, Bd. 12), Florence Alazard/Frank La Brasca (Hgg.), Paris 2007, S. 401–438; Cesare Vasoli: Profilo di un papa umanista: Tommaso Parentucelli, in: Ders., Studi sulla cultura del Rinascimento, Manduria 1968, S. 69–121. Siehe hierzu unter anderem: Carroll W. Westfall: In the Most Perfect Paradise. Alberti, Nicolas and the Invention of Conscious Urban Planning in Rome, 1447-1455, University Park (Pennsylvania) 1974. Flasch, Geschichte einer Entwicklung, S. 237-238. Siehe auch: Massimo Miglio: Viva la libertà et populo de Roma, oratoria e politica: Stefano Porcari, in: Paleographica, diplomatica et archivistica: studi in onore di Giulio Battelli, Rom 1979, S. 381–428 Hierüber unterrichtet uns Manetti in seiner Papstbiographie von 1455, ed. in: Gianozzo Manetti: Vita Nicolai V. summi pontificis ex manuscripto Florentino, in: RIS III/2, S. 908-60. Siehe hierzu auch: Laura Onofri: Sacralità, immaginazione e proposte politiche. La vita de Niccolò V di Gianozzo Manetti, in: Humanistica Lovaniensia. Journal of Neo-Latin studies 28 (1979), S. 27–77.
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Stimme und eigene Sprache muss dem ‚Ungebildeten‘ gegeben werden. Für den Papst ist diese Sprache eine direkte, sinnliche. In der augenfälligen Prachtentfaltung und Repräsentation von Stärke soll dem Laien die Macht des Apostolischen Stuhles buchstäblich vor Augen geführt werden. Cusanus dagegen zielt, ungleich subtiler, auf etwas anderes ab: er sieht im ‚Laien‘ – formbar und unvoreingenommen – einen neuen Idealtypus. Die fiktiven Dialoge zwischen ‚Gelehrten‘ und ‚Laien‘ entstehen in nur drei Monaten zwischen dem 15. Juli und dem 13. September 1450. Die Eile, in der Nikolaus sein Laien-Corpus verfasst, steht vollkommen im Gegensatz zum werkgeschichtlichen Einschnitt, den die Idiota-Schriften markieren. Nach den inhaltlich wie formal komplexen, bisweilen kryptischen und im Kern von hochgradig intellektuellem Anspruch durchzogenen Beiträgen Über die belehrte Unwissenheit und die Kunst der Mutmassung wird hier der ‚Laie‘ zur Metapher eines neuen, gemäßigten Anti-Intellektualismus, der sich akademischer Bildungshoheit und Erkenntnisexklusivität entgegenstellt. Das Buchwissen der Literati kommentiert Nikolaus zu Beginn der Schrift Über die Weisheit (Idiota de sapientia) in einem Ausruf seines ‚Laien‘ mit der programmatischen Formel, die Wahrheit rufe in den Straßen: Ego autem tibi dico, quod ‚sapientia foris‘ clamat ‚in plateis‘, et est clamor eius, quoniam ipsa habitat ‚in altissimis‘.711 Natürlich steht Nikolaus hiermit nicht für Dilettantismus und Wissenschaftsfeindlichkeit ein. Der ‚Laie‘ ist hier vor allem als personifizierter Gegenentwurf zum autoritätstreuen Schularistoteliker zu verstehen. Das Laientum ist nicht bestimmt durch einen Mangel an Erkenntnisfähigkeit, sondern steht für die idealisierte Geisteshaltung der belehrten Unwissenheit, bzw. der coniecturae. Die Möglichkeit zum mutmaßenden Wissen ist in allen sozialen Schichten gegeben. Sie ist auch weder an einen bestimmten Erkenntnisgegenstand gebunden noch an eine streng festgesetzte Methodik. In der gesamten Schöpfung ist das göttliche Wirken nachzuvollziehen, es geht nur darum, die jeweils adäquaten Mittel (sowohl in Hinblick auf das zu Erkennende als auch in Hinblick auf den Erkennenden) zu dieser Erkenntnis aufzufinden. Im Universum, dem Seinsbereich der entia realia, besteht das hatte Nikolaus bereits in De docta ignorantia formuliert, ein u n e n d l i c h e s R e l a t i o n s g e f ü g e zwischen den Einzeldingen. In der außerhumanen Natur ist sich nichts so ähnlich, dass es nicht noch viel ähnlicher sein könnte.712 Die geistige Auseinandersetzung mit der (in ihrer Gesamtheit also nie vollkommen intelligiblen) belebten und unbelebten Natur ist dabei immer auch ein Stück humaner Selbstbestimmung, eine ontologische Positionierungsarbeit. Zugleich ist die relationale Unendlichkeit der Welt Hinweis auf die unbegrenzte Wirkkraft des Schöpfergottes. Denn zwischen Mensch und Natur, das war der Befund aus De docta ignorantia, liegt ebenso eine epistemologische Grenze wie zwischen Mensch und Gott. Man muss noch einmal betonen, was bereits im 711 712
De sap., h 5, lib. 1, n 3, S. 5, Z. 10 bis S. 6, Z. 2. Doct. ign., h 1, lib. 1, cap. 11, S. 22, Z. 14–16: [...] Non est imago adeo similis aut aequalis exemplari, quin per infinitum similior et aequalior esse possit.
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4. Die Quadraturschriften
Zusammenhang mit den frühen philosophisch-theologischen Werken angemerkt wurde:713 Dies ist in keinem Falle gleichzusetzen mit einem epistemologischen Egalitarismus oder einer Indifferenz gegenüber den Objekten von Wahrnehmung und Denken – konjekturale Erkenntnis setzt eine Anstrengung voraus. Die Einsicht in das Nicht-Wissbare wird durch das Streben nach Wissen bedingt. Besonders das Buch zum Laien über die Experimente mit der Waage markiert eine Rückkehr zu den Phänomenen selbst, ist eine Aufforderung, den Ballast unkritisch aufgenommenen Buchwissens abzulegen: Der cusanische Idiota ist nicht im eigentlichen Sinne ungebildet – sein Wissen ermöglicht, insofern er den unverfälschten Blick zunächst auf seine direkte Umwelt richtet, ein höheres Maß an Objektivität, eine bessere Überprüfbarkeit seiner Vermutungen über das Erfasste. Man kann diesen Gedanken auch ganz konkret fassen: Die Straßburger Drucklegung des Idiota de staticis experimentis ersetzt, sicher nicht ganz zu Unrecht, den Begriff Orator mit Philosophus und Idiota mit Mechanicus. So verstanden ist es nicht der theoretisch Geschulte, sondern der praktischhandwerkliche Schaffende, der in seiner Rolle als technischer Künstler (artifex), mit seinen Bedürfnissen die eigentlich relevanten Fragen an die Wissenschaft stellt.714 Es ist in dieser Deutung auch denkbar, dass die drei Schriften Über den Laien Folge eines Gefühls ständischer Inferiorität bei Nikolaus selbst gewesen sind. Nikolaus’ familiärer Hintergrund war, wie Michael Seidlmayer angemerkt hat, der eines bürgerlichen Laientums, das gerade erst anfing an die Sonne eines in der Totalität aller seiner Lebensbezüge bewusst kultivierten und hochgesteigerten Daseins empor zu drängen.715 In dieser Hinsicht kann man die Idiota-Traktate wohl auch als Schriftzeugnisse eines neuen sozialen Selbstbewusstseins des spätmittelalterlichen (Proto-)Bürgertums lesen. Es kann dann auch nicht verwundern, dass Nikolaus seinen Laien in einer Lebensphase großer persönlicher Erfolge ins Wort setzt: Mit der Figur des Idiota betritt ein neuer gesellschaftlicher Typus die Szenerie, der auch durch die Nutzanwendung seiner ihm eigenen ethischen Grundsätze im technischhandwerklichen, kaufmännischen und administrativen Bereich längst nicht nur materiell erfolgreich ist. Seine autarke, aus einer unvermittelten Lebenswirklichkeit des Produzierens, Verwaltens und Handelns gewachsene Weltsicht geht über einen rein kommerziellen Pragmatismus weit hinaus – dem akademischen Wissen ist die Erfahrungswelt des ‚Laien‘, insofern auch dieser (im Idealfalle) nach steter Verbesserung seiner Kenntnisse und Fähigkeiten strebt, in keiner Weise mehr nachgeordnet.
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Siehe: S. 106. De stat. exp., h 5, n 176, S. 229, Z. 18. Michael Seidlmayer: Nikolaus von Cues und der Humanismus, in: Humanismus, Mystik und Kunst des Mittelalters. Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters, Josef Koch (Hg.), Köln u. Leiden 1953, S. 1–38, hier: S.5.
4.4. Drei Bücher über den Laien
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Im Mittelpunkt der drei Idiota-Schriften, steht, ganz in Augustinischer bzw. Albertinischer Tradition, die Auslegung des alttestamentarischen Bibelwortes in den Weisheiten des Salomon (Weish. 11,21): Du aber hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet. Dabei distanziert sich Nikolaus deutlich von einer pythagoreisch gefassten Interpretation im Sinne einer Gleichsetzung von Natur und Zahl. Zugleich wird aber auch ein a priorischer, ideenhafter Charakter der mathematischen Formen verneint – mathematisches Denken ist, davon war schon im Kontext der belehrten Unwissenheit die Rede, eine menschliche Schöpfungsleistung und als solche auch auf den Bereich des menschlichen Geistes beschränkt, damit aber auch von begrenzter Geltung und Gewissheit beim Erschließen von Gott und Welt. Im Idiota de mente schreibt Nikolaus: Nam sola mens [humana] numerat; sublata mente numerus discretus non est.716 Mathematik und Zahl sind und bleiben geistige Schöpfungen, durch die der Mensch die Dinge der Außenwelt ‚wahrer‘ zu sehen vermag, als sie sich in ihrer reinen Substantialität den Sinnen darstellen. Nur im Geist kommt es zu einer Verähnelung mit den Formen der Betrachtungsgegenstände: [...] Mens nostra [...] facit assimilationes formarum non ut sunt immersae materiae, sed ut sunt in se et per se.717 Die vorsichtigen Vorbehalte gegenüber einem allzu weit reichenden mathematischen Erkenntnisoptimismus korrespondieren klar mit der bereits erwähnten Stellen aus De docta ignorantia und werden auch weiterhin, so etwa in der Spätschrift Über den Beryll (De beryllo), in der Nikolaus die Gegenstände der Mathematik, Zahlen gleichwohl wie geometrische Figuren, ausschließlich als Schöpfungen der menschlichen mens, quae mathematicalia fabricat verstanden wissen will, fortwirken.718 Nikolaus verfällt also nicht einem Mathematizismus der Neuzeit,719 der sich im Philosophieren more geometrico bei Baruch Spinoza (1632–1677), René Descartes (1596–1650) oder Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) manifestiert hat. Mathematik erzeugt für Nikolaus lediglich, wie Joachim Gauss treffend formuliert hat, eine mimetisch verfasste Wirklichkeit und wird damit der Natur genauso stets nur annähernd gerecht wie auf der anderen Seite die Gotteserkenntnis eine immer nur angenäherte sein kann.720
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Nikolaus von Kues, Idiota de mente, Renata Steiger (Hg.), [nach der Ausgabe von Ludwig Bauer, Leipzig 1937] Hamburg 1983, cap. 6, n 93, S. 138, Z. 3–5 [im Folgenden zit. als: De mente, h 5]. De mente, h 5, cap. 9, n 116, S. 171, Z. 10 – 12 De beryllo, h 111, S. 42, Z. 10. Vgl.: Doct. ign., h 1, lib. 1, cap. 5, S. 13, Z. 6–7: Numerus, q u i e n s r a t i o n i s e s t fabricatum per nostram comparativem discretionem. Wilhelm Dupré: Die Idee einer neuen Logik bei Nikolaus von Kues, in: MFCG 4 (=Die wissenschaftlichen Referate des Cusanus-Jubiläums in Bernkastel-Kues vom 8. bis 12. August 1964), Rudolf Haubst (Hg.), Mainz 1964, S. 357–374, hier: S. 373. Joachim Gauss: Circulus mensurat omnia, in: Mensura – Maß, Zahl und Zahlensymbolik im Mittelalter 2 (= Miscellanea Medievalia 162), Albert Zimmermann (Hg.), New York 1984, S. 435–455, hier: S. 445.
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4. Die Quadraturschriften
Mit viel Bedacht lässt Nikolaus seinen Laien auch die Frage nach Wert und Funktion des Mathematischen behandeln. Interessanterweise aber wird dieser Diskurs im dritten Teil des Laien-Corpus Idiota de staticis experimentis, der Schrift Über die Experimente mit der Waage, nicht fortgeführt. Die Wägeexperimente setzen sich deutlich von der mittelalterlichen Tradition der Scientia de ponderibus ab. Weder zeigen sie deutliche Anklänge an die archimedischen Schriften zur Statik, für die die streng geometrische Beweisführung (ganz in der Nachfolge Euklids über Postulate bzw. Axiome) charakteristisch ist,721 noch den eher dynamischen Zugang aristotelischer Prägung, bei dem stärker auf die Bewegungsprozesse beim Wiegevorgang abgehoben wird.722 Beide Ansätze haben die Scientia de ponderibus, wie sie neben vielen anderen Ṯābit ibn Qurra, al-Ḫwārizmi, Jordanus de Nemore und Thomas Bradwardine vertreten haben, nachhaltig geprägt.723 Sicher kannte Nikolaus diese Tradition der Scientia de ponderibus. Die direkte Abhängigkeit der Statica experimenta von diesem Überlieferungsstrang, die Flasch postuliert hat,724 ist aber eben in hohem Maße fragwürdig. Der Weg, den 721
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Etwa bei Archimedes’ Ansatz, Flächenproportionen über die Gleichgewichtsverhältnisse beim Wiegevorgang zu bestimmen: Archimedes: Die Quadratur der Parabel und Über das Gleichgewicht ebener Flächen oder Über den Schwerpunkt ebener Flächen, Arthur Czwalina (Hg./Übers.), Leipzig 1923. In der lateinisch-griechischen Fassung nach Heiberg: De planorum aequilibris, gr.-lat., in: Opera omnia 2, J. L. Heiberg (Hg.), Leipzig 1912, S. 364–319. Der zugehörige Kommentar (= Eutocii commentarius in libros de planorum aequilibriis) des Eutokios findet sich im dritten Band der Heiberg-Ausgabe (S.264–319). Ein gutes Beispiel für diesen Grundansatz ist der Liber karastonis Tābits, ediert in: Scientia de ponderibus. The Medieval Science of Weights (Scientia de Ponderibus): Treatises ascribed to Euclid, Archimedes, Thabit ibn Qurra, Jordanus de Nemore and Blasius of Parma, lat.-engl., Ernest A. Moody u. Marshall Clagett (Hg.), Madison (Wisconsin) 1952 [im Folgenden zit. als: Scientia de ponderibus], S. 79–117, siehe unter anderem die erste propositio (S. 90, Z. 37–40): Dico ergo quod omnium duorum spaciorum que duo mota secant in tempore uno, proportio unius ad alterum est sicut proportio virtutis motus eius quod secat spacium unum ad virtutem motus illius secantis spacium alterum. Der Sammelband von Moody und Clagett enthält unter anderem Editionen der folgenden Schriften: Liber Euclidis de ponderoso et levi et comparatione corporum ad invicem (S. 1–21), Liber Archimedis de insidentibus in humidum (Liber Archimenidis de ponderibus) (S. 22 – 33), Liber karastonis (Ṯābit ibn Qurra zugeschrieben) (S. 78–119), Liber Jordani de Ponderibus sowie die zu letzterer Stellung nehmende Abhandlung Thomas Bradwardines (S. 285–293). Der Einfluss der archimedischen Schriften auf die mittelalterliche Scientia de ponderibus ist zunächst allerdings ein eher indirekter gewesen. So weisen die Schriften des Jordanus de Nemore, die sicher zu den wichtigsten mittelalterlichen Abhandlungen zu diesem Problemkreis gehören, keine direkte Verwandtschaft mit den Schriften des Archimedes auf. Die Jordanus zugeschriebenen Traktate de ponderibus entstehen noch vor der Übersetzung der archimedischen Schriften durch Wilhelm von Moerbeke 1268. Archimedes hat aber sicher indirekt, über eine Vielzahl von anonymen und pseudonymen Abhandlungen, die in das Corpus der mittelalterlichen Schriften zur Gewichtslehre eingegangen sind, Einfluss auf Jordanus gehabt. Hierzu: Ernest A. Moody u. Marshall C. Clagett, Einleitung zu: Scientia de ponderibus, S. ii. Flasch: Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung, S. 327. Flasch zählt auch den verschollenen Traktat De motibus des Leon Battista Alberti zu den möglichen Grundlagen der
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Nikolaus beschreitet, ist ein anderer. Nikolaus sieht in seinen Wägeexperimenten die Waage vor allem als ein Instrument empirischer Studien an. Seine experimenta weisen vor allem auf einen Interessenbereich hin, der in der Forschung zu Cusanus bisher vergleichsweise geringe Beachtung gefunden725 hat: Medizin und Alchemie.726 Urin und Blut von kranken und gesunden ‚Probanden‘ werden in der Wägeschrift genauso ausführlich untersucht wie die Gewichtsverhältnisse von Wassern aus verschiedenen Quellen, Gewichte von Salzen und Ölen oder Ableitungen aus Gewichtsveränderungen nach Oxidationsprozessen. Das Ausmaß von Nikolaus’ generellem Interesse am medizinischalchemistischen Themenspektrum wird schon überdeutlich, wenn man sich nur jene große Zahl an alchemistischen Rezeptblättern, Traktaten zu Heilkunst und Arzneikunde vor Augen zu führt, die sich in seinem persönlichen Besitz befanden. Sicherlich hatte der gemäßigte Avёrroismus und die Strahlkraft der medizinischen Fakultät der Paduaner Schule seine Wirkung auf den jungen Rechtsstudenten gehabt. Dass zudem Toscanelli bei all seiner mathematischen Expertise in erster Linie als Arzt gewirkt hat, passt gut in diesen Zusammenhang und mag die geistige Verbindung zwischen ihm und Nikolaus noch enger gemacht und sich vielleicht sogar direkt oder indirekt in den cusanischen Wägeexperimenten niedergeschlagen haben. In De staticis experimentis blickt Nikolaus also nicht vorrangig auf die allgemeinen Gesetze mechanischer Veränderung beim Wiegen, sondern auf die in ihm ermittelten individuellen Verhältnisse des Gewogenen selbst, d.h. auf die Gewichtsverhältnisse verschiedener Substanzen. In gewisser Hinsicht ist De staticis experimentis, insofern, als das Stoffliche, die verglichenen Substanzen und nicht das strukturelle Prinzip des Wiegevorgangs im Vordergrund stehen, durchaus als ein Schritt in Richtung echter empirischer Methodik anzusehen − auch wenn die meisten der cusanischen ‚Versuchsanordnungen‘ mehr oder minder klar als Gedankenexperimente zu erkennen sind. Das kann man schon daran ermessen, dass die Versuchsvorschriften in De staticis experimentis sämtlich konditional formuliert werden. Zugleich verzichtet Nikolaus durchweg auf Angaben zu verwandten Maßsystemen und Eichverfahren, seine Wägungen sind also ‚Nullmessungen‘.
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cusanischen Wägeexperimente. Aber schon der überlieferte Titel von Albertis Wägeschrift weist eher auf den archimedischen, mechanisch-geometrischen Ansatz und damit in eine Richtung, die Nikolaus in seinem eigenen Beitrag kaum berührt. Heribert M. Nobis: Die Bedeutung der Cusanus-Schrift ‚Idiota de staticis experimentis‘ für die Entwicklung einer empirisch-rationalen Naturerkenntnis – insbesondere in der Medizin – und ihre wissenschafts-historischen Hintergründe, in: Miscellanea Kepleriana. Festschrift für Volker Bialas zum 65. Geburtstag (= Algorismus. Studien zur Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften, Heft 47), Friederike Boockmann/Daniel A. Di Liscia/Hella Kothmann (Hgg.), Augsburg 2005, S. 27–44; Robert Rompe und Hans Jürgen Treder: Nikolaus von Kues als Naturforscher; in: Nikolaus von Kues. Wissenschaftliche Konferenz des Plenums der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin anlässlich der 500. Wiederkehr seines Todesjahres (= Vorträge und Schriften der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 97), Berlin 1965, S. 15–22, hier: S. 21. Der medizinisch-alchemistische Hintergrund der statica experimenta wird ausführlicher behandelt in: Karl Bormann: Nikolaus von Kues über Maße und Gewichte, St. Katherinen 1986.
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Den entscheidenden Schritt zu einem Prototyp der exakten, mathematisch fundierten und zugleich experimentell überprüfenden Wissenschaft geht er nicht: Die methodischen Gräben zwischen ars und scientia sind bei Nikolaus an manchen Stellen zwar merklich verflacht, aber gänzlich überwunden werden sie nicht. Immerhin aber schlägt Nikolaus vor, die durch seine Wägeversuche prinzipiell ermittelbaren Daten systematisch schriftlich zu erfassen, um so einen grenzübergreifenden Wissenstransfer zu ermöglichen.727 Die Idee eines solchen ‚Datenbanksystems‘ ist dabei tatsächlich an forschungsökonomische Erwägungen geknüpft. Damit tragen die Experimente mit der Waage zumindest ein Stück weit auch die Züge eines mehr praktisch-technisch orientierten Denkens – im Einklang mit der großen einfassenden Klammer der cusanischen Laienphilosophie. Dabei konkretisieren sich in den Wägeexperimenten an der Figur des Laien – stärker als in den beiden Schwesterschriften – deutlich auch Züge des Gewerbetreibenden. Nicht nur ist der Schauplatz der Unterredung zwischen Laien und Scholar ein belebter Marktplatz, sondern wird mit der Waage wird auch ein ausgewiesenes Standessymbol der mittelalterlichen Kaufmannschaften eingeführt. Die kaufmännische Rationalität und die zunehmende Fiskalisierung des Finanzwesens wurden im 15. Jahrhundert in Form der Coss auch in Deutschland zum Motor des systematischen Ausbaus der einfachen Handelsmathematik, die die hochmittelalterliche Universität mit dem Einströmen des geistigen Erbes der Antike seit dem 12. Jahrhundert zunehmend in die Profanität abgedrängt hatte.728 Der praktisch geschulte Laie wurde nun zunehmend gleichsam Urheber als auch Adressat der neuen Rechenhaftigkeit, wie beispielsweise bei der langsamen Umstellung auf das dezimale System der indisch-arabischen Ziffern oder (im weiteren Sinne) bei der Einführung der doppelten Buchführung.729 In dem Maße, in dem Handel und Gewerbe von der Monetär- und Fiskalwirtschaft erfasst wurden und der überregionale Handel zunahm, wuchs auch die Notwendigkeit, möglichst genaue und verbindliche Volumen- und Gewichtsnormen zu etablieren.730 Die Stereometria (pars pro toto auch als ‚Fassrechnung‘ bezeichnet) wurde dabei zu einem wichtigen Zweig der praktischen Geometrie. So wie die seit dem 13. Jahrhundert kursierenden abbaco-Abhandlungen das praktische Recheninstrumentarium der Kaufmannschaften bereit stellten,731 lieferten die spätmittelalterlichen
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De stat. exp., h 5, n 195, S. 240 (Z. 24ff.)–S. 241 (Z. 1f.): Indeque videtur librum illium [de staticis experimentis (Einf. d. Aut.)] utilissimum futurum ac apud magnos sollicitandum esse, ut in diversis provinciis consignetur et comportentur in unum, ut ad multa nobis abscondita facilius perducamur. Ausführlich hierzu: Erich Meuthen: Das 15. Jahrhundert, S. 17–20 sowie Alistair C. Crombie: Von Augustinus bis Galileo. Die Emanzipation der Naturwissenschaften, Köln u. Berlin 2 1965, S. 240ff. Siehe hierzu auch S. 137ff. Harald Witthöft: Maßgebrauch und Meßpraxis in Handel und Gewerbe: in: Mensura – Mass, Zahl, Zahlensymbolik im Mittelalter (= Miscellanea Mediaevalia 161), Albert Zimmermann (Hg), Berlin u. New York 1983, S. 234–260, hier: S. 256–260. Alistair C. Crombie: Von Augustinus bis Galileo, S. 240.
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Visierbücher die geometrisch-technischen Anweisungen für die Konstruktion von Maßgefäßen. Man mag es fast unausweichlich nennen, dass Nikolaus sich mit seinem kaufmännischen Hintergrund und seinen Interessen in geometrischen Fragestellungen auch diesem Problemfeld zuwendet − und dabei einen wirklich ungewöhnlichen Beitrag zur Kreisquadratur liefert. Zur Bestimmung des Maßes zwischen kreisförmig und geradlinig begrenzten Körpern soll dabei diesmal nicht die rein geometrische Konstruktion, sondern ein dem Laien-Praktiker besser vertrautes Instrument verwandt werden – die gleicharmige Hebelwaage. Es lässt sich nicht feststellen, ob Nikolaus die archimedische Abhandlung zur Methodenlehre kannte. Wahrscheinlich ist es aber nicht. Bemerkenswert bleibt aber doch, dass er an dieser Stelle, der einzigen innerhalb De staticis experimentis, in der ausdrücklich auf den Bereich der Geometrie ausgegriffen wird, Archimedes durchaus nahe ist, wenn er auch dessen mathematische Strenge vermissen lässt. Nikolaus schlägt vor, durch den Vergleich von Gefäßen gleichen Durchmessers sowie gleicher Höhe aber unterschiedlicher Formgebung allgemeine Bezugskonstanten für die Rektifikation aufzufinden. Er will dabei unter anderem kubische und zylindrische Gefäße gemäß ihrem Gewicht ins Verhältnis setzen, um so über das ‚physikalische‘ Experiment Näherungswerte für die Kreiszahl zu erhalten. Die ermittelten Gewichtsproportionen werden dabei einfach auf die Flächenproportionen der Gefäßquerschnitte, aus welchen dann das gesuchte Verhältnis von Kreisradius und Kreisumfang leicht abgeleitet werden kann, übertragen: [Nam] si feceris vas columnare notae diametri et altitudinis et aliud cubicum eiusdem diametri et altitudinis et utrumque aqua impleveris et pondaveris, nota tibi erit ex diversitate ponderum inscripti quadrati ad circulum, cui inscribitur proportio, et per hoc proquinqua coniectura circuli quadratura, et quidquid circa hoc scire cupis.732
Die Versuchsbeschreibung ist derart allgemein gehalten, dass es unwahrscheinlich erscheint, dass Nikolaus derartige Messungen selbst durchgeführt hat. Seine Quadratur mit den Mitteln der Statik hatte dann auch nur episodischen Charakter, sie ist wohl einerseits Ausdruck des methodischen Universalitätsanspruchs, mit dem Nikolaus nahezu jede neue Idee umfasste, andererseits wohl auch ein Stück weit ein Produkt seiner kaufmännischen Sozialisation. Entscheidend ist hier vor allem die bestechende Einfachheit des Verfahrens, das natürlich auch zurückverweist auf den bereits in den Transmutationes formulierten Anspruch, die Quadratur mit einfachsten Mitteln leisten zu können. Der ungewöhnliche Grundansatz der Quadratur per staticam zeigt zugleich noch einmal Nikolaus’ Überzeugung, dass es einen einzigen Königsweg in die höchsten Bereiche des menschlichen Denkens nicht gibt, wohl aber viele Arten von Gründen für Erkenntniszuversicht. Die statica experimenta tragen deshalb auch, bei allem der cusanischen Erkenntnisphilosophie beigesetzten Skeptizimus, eine positive Botschaft: Kann der Mensch über die unendlich verschiedenen Einzel732
Ebd.
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dinge zwar auch nicht mit letzter Genauigkeit urteilen, so steht ihm mit der Waage doch ein Instrument zur Verfügung, sich dieser Genauigkeit p r a k t i s c h anzunähern, damit der menschliche Geist auf verschiedenste Art und Weise erkenne, dass Gott alles nach Maß Zahl und Gewicht geordnet habe.733 Die ‚empirische‘ Kreisquadratur in den Wägeexperimenten ist selbstverständlich etwas völlig anderes als die mehr oder minder rein mathematischen Herleitungen aus den Quadraturtraktaten. In diesem Sinne hat auch Kurt Flasch die Annahme Blumenbergs entkräftet, dass die Geometrie in Nikolaus’ (philosophischem) Spätwerk im Vergleich zu ihrer deutlich exponierten Stellung in De docta ignorantia und De coniecturis gegenüber der Syllogistik und Arithmetik stark abfällt.734 Die Abwertung des Geometrischen kann sich, wie Flasch bemerkt hat, ausschließlich auf den die Mathematik a n w e n d e n d e n , ‚praktischen‘ Geometer − wie ihn der Laie in De staticis experimentis versinnbildlicht − beziehen, der, wie Nikolaus in De venatione sapientiae schreibt, die Natur nachahmt, ganz sicher aber nicht auf den Geometer der ‚reinen‘ Formen.735 Die Quadraturfrage scheint insgesamt zu Beginn der 1450er Jahre für Nikolaus wieder dringlicher geworden zu sein. Er unternimmt in direkter Nachfolge zu seiner Trilogie Über den Laien einen neuen Anlauf zur Lösung des Problems. Der Schritt vom Diktum über die Wahrheit in den Straßen zu den direkt nachfolgenden, schwer verständlichen neuen Ansätzen in der Quadraturfrage könnte allerdings größer kaum sein. In ihnen wendet sich Nikolaus wieder unübersehbar an den mathematischen Fachmann – man muss sich also hüten, in der Laienphilosophie der Idiota-Schriften eine verabsolutierte Konzeption zu sehen.
4.5. DUNKLE BÜCHER. DIE QUADRATURTRAKTATE DER 1450ER JAHRE Mit den großen mathematischen Abhandlungen der 1450er Jahre, Quadratura circuli und De mathematicis complementis, ging ein für die gesamte Genese der cusanischen Mathematik überaus bedeutsames Ereignis einher. Nikolaus lernte zwischen 1450 und 1453 das neue lateinische Archimedes-Corpus nach Jakob von Cremona kennen, das dem frisch ernannten Kardinal durch keinen Geringeren als Papst Nikolaus V. übermittelt wurde.736 733
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De stat. exp., h 5, n 162, S. 222, Z. 3f.: Nam propheta [Weish. D. Salomon 11,21 (Anm d. Aut.)] ait pondus et stateram iudicium Domini illius esse, qui omnia creavit in numero, pondere et mensura [...]. Hans Blumenberg: Aspekte der Epochenschwelle. Kusaner und Nolaner, Frankfurt am Main 2 1976, S. 96–97. Ven. sap., h 12, cap. 5, n 11, S. 13, Z. 3: Videtur autem naturam imitari geometer, dum circulum figurat. CM, MATH. SCHRIFTEN, S. 68 = h 20, n 2, Z. 1–3, S. 84 = p 2, fol. 59r: Tradidisti enim mihi proximi diebus magni archimedis geometrica gr[a]ece tibi presentata, et tuo studio in latinum conversa, que mihi tam admiranda visa sunt [...]. Diese Ansprache war dem päpstlichen Gönner des Kusaners zugedacht, dem die Schrift zugleich gewidmet war.
4.5. Die Quadraturtraktate der 1450er Jahre
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Der lombardische Graezist Jacobus war 1449 von dem humanistisch gesinnten Pontifex als Übersetzer an den päpstlichen Hof in Rom berufen worden und dort, wo er sich zeitweilig in der Gesellschaft solch illustrer Intellektueller wie Paolo Toscanelli, Leon Battista Alberti und Kardinal Bessarion befand, wohl vom Papst selbst mit einer Neuübersetzung der archimedischen Schriften beauftragt worden.737 Dass der mathematisch interessierte Nikolaus, selbst häufiger Gast in Rom und mit einigen der wichtigsten Köpfe des italienischen Humanismus gut bekannt, an dieser Wiederentdeckung des Archimedes teilhaben sollte, war selbstverständlich. Er hat das neue Corpus nicht nur einsehen dürfen, sondern offensichtlich sogar eine eigene Abschrift erhalten. Der Verbleib dieser Kopie ist ungewiss. Sie ist erstaunlicherweise nicht in die Kueser Hospitalsbibliothek überstellt worden, was annehmen lässt, dass sie zum festen Reiseinventar des Kardinals gehörte. Ebenso unklar ist, wann genau Nikolaus mit der neuen Übersetzung in Berührung kam. Der Zeitpunkt ante quem hängt wesentlich von der Datierung der Schrift Quadratura circuli, für die Nikolaus das Corpus mit Sicherheit zur Verfügung stand, ab. Nikolaus erwähnt die neue Archimedes-Übersetzung zwar erst in der Widmungsepistel zu den Complementa mathematica. Die vorangegangene Quadratura circuli steht dieser Schrift aber methodisch sehr nah, was es mehr als wahrscheinlich macht, dass beide sich aus der gleichen Quelle speisten. Besonders deutlich wird das an einer kurzen Passage, die sich einleitend in fast identischer Form in beiden Traktaten findet und sich dem archimedischen Quadraturverfahren vermittels der Spirale widmet.738 Archimedes zeigt in seiner Abhandlung Über die Spirale die Möglichkeit auf, aus der mechanischen Kurve einer Spiralbewegung die Kreisquadratur approximativ zu ermitteln, ein Ansatz, der auch in der mittelalterlichen Literatur häufig aufgegriffen wurde.739 Dem cusanischen Verständnis einer ‚reinen‘ Geometrie mit Zirkel und Lineal musste eine solche physikalisch-empirische Herleitung der Kreisquadratur als mathematisch unzureichend gelten. Zwar zieht Nikolaus durchaus in Erwägung, die Spirale auf rein rechnerischem Wege zu ermitteln, glaubt aber (fälschlicherweise),740 diese Berechnung nur unter der Voraussetzung 737
738
739
740
Clagett: Archimedes in the Middle Ages 3, S. 321–342; Ernst Zinner: Leben und Wirken des Johannes Müller von Königsberg genannt Regiomontanus, Osnabrück 19682, S. 91 und Tafel 26. QC, MATH. SCHRIFTEN, S. 59 = h 20, n 2, Z. 11–18 = n, S. 5 = b, S. 1091 und CM, MATH. SCHRIFTEN, S. 69 = h 20, n 3, Z. 8–11, S. 85 = p 2, fol. 59r. Unter den Nikolaus vielleicht bekannten Abhandlungen wäre hier de Muris’ De arte mensurandi zu nennen, wobei bei ihm im Zusammenhang mit der Quadratur vermittels der Spirale der ausdrückliche (aber sicher gültige) Verweis auf Archimedes fehlt: De arte mensurandi, Anhang zu cap. 8, prop. 1–13 = ed. Busard, S. 298–308 (es folgen auf S. 308–314 die zugehörigen Beweise nach de Muris). Die Spirale lässt sich, entgegen der Auffassung des Kusaners sehr wohl auch anders rechnerisch herleiten. Entsprechendes findet sich wenig später schon bei Galileo Galilei im Zusammenhang mit der Parabelbestimmung: Mainzer: Geschichte der Geometrie, S. 89; siehe auch: MATH. SCHRIFTEN, S. 210, Anm. 6.
238
4. Die Quadraturtraktate
leisten zu können, dass das Verhältnis von Kreisradius und Kreisumfang bereits bekannt ist: [Archimedes (Einfügung d. Aut.)] supponit igitur id, quod quaerit. Citius enim recta dari potest circulari lineae aequalis, quam helica vera figurari. 741
In Hinblick auf das Rektifikationsproblem wird die Spirale als Konstruktionsmittel für Nikolaus damit völlig unbrauchbar. Diese Einschätzung wiederholt er nun in zwei direkt aufeinanderfolgenden Schriften. Es ist schwer vorstellbar, dass die beiden Passagen aus Quadratura circuli und De mathematicis complementis nicht im Zusammenhang mit der Sichtung des neuen Archimedes-Corpus stehen. In den älteren Schriften bis zu und einschließlich De circuli quadratura finden sich nur Hinweise auf die Dimensio circuli und De sphaera et cylindro. Daraus lässt sich schließen, dass Nikolaus wahrscheinlich erst nach der Abfassung von De circuli quadratura, aber noch vor der Quadratura circuli tiefergehende Kenntnisse der archimedischen Spiralenabhandlung erlangt hat. Wenn Nikolaus den Cremona-Corpus aber schon für die Quadratura circuli zur Verfügung stand, dann lassen sich hieraus einige wichtige Ableitungen für die Datierung der Quadraturschrift ziehen. In der älteren Literatur, so bei Edmond Vansteenberghe und Joseph Hofmann, wird die Schrift zumeist auf den Jahreswechsel 1450/51 und damit auf einen Zeitpunkt kurz vor der deutschen Legationsreise datiert. Nikolaus spricht nun zwar in der Vorrede zu De complementis mathematicis davon, die neuen Übersetzungen erst einige Tage zuvor (proximis diebus) empfangen zu haben.742 Es ist aber keinesfalls ausgeschlossen, dass er im Umfeld der Vorbereitungen der Legation durch die deutschen Lande743 noch in Rom, also im Winter 1450, eine erste Einsicht in die neue Übersetzung nehmen konnte. Nicht weniger wahrscheinlich ist aber auch, dass Nikolaus sie erst nach seiner Rückkehr von der über ein Jahr währenden Gesandtschaft kennen lernte. Im Frühjahr 1453 weilte er erneut nachweislich in Rom und hätte in den zwei Monaten seines Aufenthaltes sicherlich genug Zeit für einige eingehendere Quellenstudien gehabt.744 Sollte er das archimedische Corpus aber tatsächlich erst 1453 kennen gelernt haben, so kann dieses nur dann für die Ausführungen in der Quadratura circuli bestimmend gewesen sein, wenn die Arbeiten an dieser Schrift sehr viel später begannen, als Hofmann und Vansteenberghe vermutet haben. Fritz Nagel hat entsprechend überzeugend argumentiert, Nikolaus sei im Winter 1450 bereits zu sehr
741
742 743 744
QC, h 20, n 2, Z. 15–17, S. 72 = n, S. 5 = b, S. 1091 = MATH. SCHRIFTEN, S. 59. Analog heisst es in De mathematicis complementis (CM, h 20, n 3, Z. 7–8, S. 85 = p 2, fol. 59r = MATH. SCHRIFTEN, S. 69), unter impliziten Verweis auf Archimedes: […] sine qua helica describi nequit se habet ut semidiameter ad circumferentiam, quae non est scita sed quaeritur hinc videtur ipsum defecisse. CM, MATH. SCHRIFTEN, S. 68 = h 20, n 2, Z. 1, S. 84 = p 2, fol. 59r. Ausführlich hierzu: Meuthen: Skizze, S. 84ff. MATH. SCHRIFTEN, S. 214, Anm. 1.
4.5. Die Quadraturtraktate der 1450er Jahre
239
mit den Vorbereitungen der bevorstehenden Legationsreise beschäftigt gewesen, um sich in ausreichender Gründlichkeit mathematischen Studien zu widmen.745 Schwerer wiegt aber noch ein zweites Argument, das der Einleitung zur Quadratura circuli selbst zu entnehmen ist. Der Kardinal gibt hier an, dass ihn eine höhere Betrachtung und das allgemeine Beste schon lange von geometrischen Studien abgehalten hätten.746 Die (soweit wir wissen) direkt vorangegangene Schrift De circuli quadratura wäre nach den älteren Datierungen aber nur etwa fünf Monate vor der Quadratura circuli verfasst worden. Nagel hat die Entstehungszeit der Quadratura circuli deshalb erst auf die Zeit nach der großen Legationsreise des Kardinals, und zwar genauer gesagt auf den Sommer des Jahres 1453 verlegt.747 Vor dem Hintergrund der mannigfaltigen inhaltlichen Bezüge zwischen der Quadratura circuli und den Complementa mathematica erscheint eine zeitliche Nähe der beiden Abhandlungen insgesamt sehr wahrscheinlich. Die Quadratura circuli steht der nachfolgenden Quadraturschrift über die Mathematischen Ergänzungen methodisch sehr viel näher als allen vorangegangenen Quadraturversuchen. Nikolaus hat diese textübergreifende Korrelation auch selbst herausgestellt. Die Mathematischen Ergänzungen sollten das Grundsatzverfahren der Quadratura circuli für all jene in Ausführlichkeit verständlich machen, die auf das Studium der Mathematik keine Mühe verwendet haben.748 Es scheint vor allem die Schrift über die Kreismessung (Dimensio circuli) gewesen zu sein, die Nikolaus’ Aufmerksamkeit bei seiner Sichtung des Cremona-Corpus auf sich gezogen hat. Zu diesem Zeitpunkt muss ihm der Inhalt der Schrift zumindest in groben Zügen schon längere Zeit bekannt gewesen sein, war er doch mit den dort aufgefundenen Grenzen für die Kreisrechnung vertraut. Dass aber erst die Quadratura circuli konkrete methodische Bezüge zum archimedischen Quadraturverfahren aufweist, macht es wahrscheinlich, dass Nikolaus die Dimensio zuvor nur über Sekundärquellen oder aber in einer weniger verlässlichen Version kannte. Das archimedische Verfahren basiert weitgehend auf dem von Euklid im zehnten Buch der Elementa bei der Berechnung der Pyramide angewandten, erstmalig bei Eudoxos nachweisbaren Exhaustionsverfahren.749 Mittels eingeschriebener Polygone wird der Kreis über stete Verdopplung der Eckenzahl approximiert. Archimedes selbst hatte seine Berechnungen bis zum eingeschrie745 746
747 748
749
Nagel, S. 70–73. QC, MATH. SCHRIFTEN, S. 58 = h 20, n 1, Z. 4–5, S. 71 = n, S. 5 = b, S. 1091: Quamvis iamdudum a studio geometrico n o s a l t i o r s p e c u l a t i o a c p u b l i c a r e t r a x e r i t [...] . Nagel, S. 72. CM, MATH. SCHRIFTEN, S. 72–73 = h 20, n 8, Z. 7–8, S. 88 = p 2, fol. 60r: Volo [...] illa etiam illis, qui mathematicis operam non impenderunt, clarissima facere. Elem. 10,1. Auf eine ausführliche Darstellung des Exhaustionsverfahrens kann an dieser Stelle verzichtet werden. Es genügt, sich zu vergegenwärtigen, dass die Grundlage des Verfahrens, modern gesprochen, in kontinuierlichen Erörterungen im Sinne der Grenzwertbetrachtung, indem der zu bestimmenden Fläche Vielecke ein- und umbeschrieben werden, besteht. Ausführlicher hierzu: Mainzer: Geschichte der Geometrie, S. 48–52.
240
4. Die Quadraturtraktate
benen 96-Eck ausgeführt und dabei die erwähnten Grenzen für das Verhältnis von Kreismesser und Umfang aufgefunden.750 Durch die erneute intensive Auseinandersetzung mit dem archimedischen Traktat wurde Nikolaus zweifellos auf die eigenen, ähnlichen, aber noch recht vagen Erwägungen zur Approximation des Kreises mittels ein- und umbeschriebener Polygone aus den Transmutationes geometricae, De arithmeticis complementis und De circuli quadratura zurückverwiesen. In ihnen erkannte Nikolaus nun die Möglichkeit zu einer vollständig neuen Methode, die nicht mehr, wie die frühen Quadraturversuche, mit den Mitteln der Heuristik, sondern auf deduktivem Wege abgeleitet werden sollte. Der Dimensio circuli, nicht der Schrift über die Spirale, gilt auch daher die Bemerkung in der Quadratura circuli, dass niemand diesem Sachverhalt [der Kreisquadratur (Einfügung d. Aut.)] näher gekommen sei als Archimedes.751 Die Quadratura circuli beginnt mit einer Grundsatzüberlegung, die Nikolaus bereits in ganz ähnlicher Form schon bei seinen Geometrischen Verwandlungen zwar nicht direkt zur Anwendung gebracht, aber als methodische Prämisse eingeführt hatte: Nos autem considerantes trigonum et circulum in capacitate extrema loca tenere, in trigono semidiametros circulorum et inscripti et circumscripti contrario modo se habere, cum semidiametro circuli, in quo circuli inscriptus et circumscriptus coincidunt, qui differunt in trigono maxime […].752
In der Quadratura circuli geht Nikolaus von hier aus fast unmittelbar zum eigentlichen Quadraturansatz über und überlässt es weitgehend dem Leser, die methodischen Zwischenschritte und Vorbedingungen aus dem programmatischen Satz über die Flächenextrema abzuleiten. In der ausführlicheren Fassung der Complementa mathematica aber wird das Notwendige Schritt für Schritt deduziert. Noch einmal führt Nikolaus dort aus, dass ein Polygon seinem Um- bzw. Inkreis durch stetige Erhöhung der Eckenzahl stetig angenähert werden kann, da mit der Erhöhung der Eckenzahl zugleich auch die Differenz zwischen In- und Umkreismesser beständig abnehmen muss, so dass mit wachsender Eckenzahl n die Summe der In- und Umkreisradien gegen den Kreisradius r selbst konvergiert. Es gilt dabei allgemein, dass der Inkreismesser (die Prim) bei allen e n d l i c h e n Vielecken stets kleiner als der Umkreismesser (die Sekund) sein muss.753 Das alles geht über die grundsätzlichen Erwägungen aus den älteren Quadraturversuchen noch nicht hinaus. In Quadratura circuli/De mathematicis complementis aber
750
751
752 753
Siehe: Archimedes: Kreismessung = ed. Czwalina, S. 370–377 und Dimensio circuli = ed. Heiberg, n 3, S. 236f. QC, MATH. SCHRIFTEN, S. 58 = h 20, n 2, Z. 1–2, S. 71 = b, S. 1091: Non legimus quemquam propinquius accessisse ad huius noticiam quam Archimedem [...]. QC, h 20, n 3, Z. 1–4, S. 72 = b, S. 1091= MATH. SCHRIFTEN, S. 59. CM, h 20, n 21, Z. 2–3, S. 96 = p 2, fol. 62r = MATH. SCHRIFTEN, S. 59: In capaciori polygonia necesse est primam lineam esse longiorem et secundam breviorem.
4.5. Die Quadraturtraktate der 1450er Jahre
241
kommt Nikolaus zumindest in die Nähe einer echt funktionalen Fassung des Gedankens: Nos autem considerantes trigonum et circulum in capacitate extrema loca tenere: in trigono semidiametros circulorum, et inscripti et circumscripti, c o n t r a r i o m o d o s e habere cum semidiametro circuli, in quo circuli inscriptus et circumsriptus coincidunt, qui differunt in trigono maxime, esseque ibi semidiametrum circumscripti maximam et inscripti minimam et simul iunctas brevissimas; contractio modo in circulo, ubi s i m u l i u n c t a e s u n t d i a m e t e r c i r c u l i m a x i m a e 754
Nikolaus kommt hier also zu der (richtigen) Grenzwertannahme lim rn + ∂ n = 2r , wobei rn dem jeweiligen Umkreis-, ∂n dem Inkreishalbmesser n →∞ und r dem Radius des isoperimetrischen Kreises zum jeweiligen Polygonen entspricht. Die Summen rn (Umkreishalbmesser) + ∂ n (Inkreishalbmesser)755 regelmäßiger und umfangsgleicher Vielecke bilden demnach zwischen n = 3 (dem Dreieck) und n = ∞ (dem approximierten Kreis) eine monoton steigende Folge aus, deren Grenzwert der doppelte Radius 2r des isoperimetrischen Kreises ist.756 Hiermit hat Nikolaus nun, sicherlich inspiriert durch Archimedes, zugleich eine Möglichkeit gefunden, seine früher formulierten, allgemeinen Bedingungen für die Kreisquadratur konsequent in einen (proto-)funktionalen Zusammenhang zu stellen und für die Quadratur selbst direkt nutzbar zu machen. Tatsächlich offenbart sich hier, wie Nagel dargelegt hat, ein erster, wenn auch vorsichtiger Versuch, aus der Kenntnis funktionaler Beziehungen unter den Gliedern einer mathematischen Folge auf die mathematischen Eigenschaften des Grenzwerts dieser Folge zu schließen.757 In der Quadratura circuli und den Complementa mathematica gelten Nikolaus gerade und gekrümmte Strecken, und damit auch Kreis und Vieleck, immer noch als maßungleich.758 Durch die vorangegangenen grundsätzlichen methodischen Überlegungen zum Gleichheitsbegriff in De circuli quadratura hat diese Trennung in mathematischer Hinsicht aber deutlich an Schärfe verloren. Deshalb kann Nikolaus nun auch jenen Ansatz aus der Vorrede der Transmutationes mathematisch konsequent weiterführen, den er dort noch auf der Grundlage der regula doctae ignorantiae als dem Bereich der reinen Mathematik enthoben glaubte. Nun nämlich ist ihm der Kreis tatsächlich, wie er in De mathematicis complementis ausdrücklich anmerkt, ganz entgegen seiner früheren Auffassung gänzlich Winkel ( u n d i q u e a n g u l u s ) .759
754 755 756 757 758
759
QC, h 20, n 3, Z. 1–6, S. 72 = n, 5 = b, S. 1091 = MATH. SCHRIFTEN, S. 59. Mit n = Ecken- bzw. Winkelzahl. MATH. SCHRIFTEN, S. 210, Anm. 7. Nagel, S. 69. Noch einmal führt Nikolaus die Analogie zwischen dem Quadraturproblem und dem Diagonalenproblem an: QC, MATH. SCHRIFTEN, S. 66 = h 20, n 9, Z. 9, S. 79 = n, S. 9 = b, S. 1095 (Abschnitt De sinibus et chordis): [...] tamen numero non attingitur sicut nec medietas duplae [...]. CM, MATH. SCHRIFTEN, S. 70–71 = h 20, n 5, Z. 4, S. 86 = p 2, fol. 59v.
242
4. Die Quadraturtraktate
Was sich hier fast wie ein Zugeständnis an das Lager der mittelalterlichen ‚Infinitisten‘ liest, lässt Nikolaus in seinem Verständnis des mathematischen Unendlichen zu einigen der herausragendesten Theoretikern der Neuzeit aufrücken.760 Denn genau wie später für Viète761 und Leibniz762 ist für Nikolaus die Möglichkeit der Auseckung des Kreises zu einer innermathematischen Notwendigkeit geworden, zu ‚Induktionsanfang‘ und methodischer Prämisse, bei dem mögliche philosophisch-theologische Einsprüche durch die gewonnenen Einzelergebnisse, den Fortschritt in der Sache, aufgewogen werden können. Um seine grundlegend neue Auffassung vom Wesen des ‚Geraden‘ und ‚Gekrümmten‘ für die geometrische Konstruktion nutzbar zu machen, postuliert Nikolaus nun, ohne allerdings stichhaltige Argumente vorbringen zu können, die folgende, einfache Flächenproportionalität: […] Tunc omnis polygonia media secundum suam capacitatem in excessu semidiametri sibi inscripti super semidiametrum inscripti trigono et diminutione semidiametri sibi circumscripti a semidiametro circumscripti trigono p r o p o r t i o n a l i t e r s e h a b e b i t .763
Gemeint ist hier also zunächst, dass die Differenz zwischen den Kreismessern an einem beliebigem Dreieck (n = 3) und jenen am zugehörigen umfangsgleichen Vieleck (n = k +1 (mit k = 1,2,3,4...)) direkt proportional mit dem Flächenüberschuss dieses Vielecks über die Fläche des Dreiecks korrespondiert, also:
∂n − ∂3 =λ r3 − rn (λ bezeichnet den konstanten Proportionalitätsfaktor)
Zugleich ließe sich nun der Kreis über die folgende Extremwertbestimmung annähern. Für n→∞ ist demnach die zugehörige Fläche 760
761
762
763
Hierzu auch: Nikolaus Stuloff: Die Herkunft der Elemente der Mathematik bei Nikolaus von Kues im Lichte der neuzeitlichen Wissenschaft; in: MFCG 6, Rudolf Haubst (Hg.), Mainz 1967, S. 55–64. François Viète: Variorum de rebus mathematicis responsorum liber VII, in: Opera, Fr. Schooten (Hg.), Leiden 1646 [unv. Nachdr.: Hildesheim u. New York 1970], S. 398–491 u. 436–446, hier: lib. 8, S. 386. Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Methoden der Maxima, Minima sowie der Tangenten, die sich weder an gebrochenen, noch an irrationalen Grössen stösst, und eine eigentümliche darauf bezügliche Rechnungsart, ed. in: Leibniz über die Analysis des Unendlichen (= Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften 162), dt., Gerhard Kowaleski (Hg./Übers), Leipzig 1908 [Übersetzung nach der lat. Ausgabe Nova Methodus pro Maximis et Minimis, itemque Tangentibus, que nec fractas, nec irrationales quantitates moratur, et singulare pro illis calculi genus, Acta Eruditorum, in: Acta Eruditorum (1684), S. 466–473] , S. 3–11, hier S. 7: Man muss ein für allemal festhalten, dass eine Tangente finden so viel ist wie eine Gerade zeichnen, die zwei Kurvenpunkte mit unendlich kleiner Entfernung verbindet, oder eine verlängerte Seite d e s u n e n d l i c h e c k i g e n P o l y g o n s , w e l c h e s f ü r uns mit der Kurve gleichbedeutend ist. QC, h 20, n 3, Z. 12–15, S. 73 = n, S. 5 = b, S. 1091 = MATH. SCHRIFTEN, S. 60.
4.5. Die Quadraturtraktate der 1450er Jahre
243
1 1 S n = δ n u = ru = πr 2 2 2 (für n→∞ mit u = Umfang)
Entscheidend ist nun die Vorstellung, die Proportionalitätsbehauptung könne auf beliebige intermediäre Polygone ausgedehnt werden, 764 so dass allgemein gelten soll:
∂ n+k − ∂ n =λ rn − rn + k
765
(mit k = 1, 2, 3, 4...)
Nikolaus glaubt also an eine d i r e k t e Proportionalität zwischen den wachsenden Polygonflächen und den Differenzen der beteiligten Halbmesser. Er versucht sich auch an einem entsprechenden konstruktiven Nachweis:
Zur Flächenproportionalität nach: QC, h 20, n 4, S. 73 (= b, S. 1092)
Im Quadrat □hsrf sollen über der Strecke fr die In- und Umkreismesser isoperimetrischer Vielecke aufgetragen werden. Ausgehend von der Dreiecksfigur (∂3 = fg , r3 = fh ) soll dabei die Strecke hq die mit zunehmender Ecken- bzw. Winkelzahl (linear) abnehmenden Umkreis-, die Strecke sq die (ebenfalls linear) zunehmenden Inkreismesser repräsentieren. In · q· liegt schließlich ein Schnittpunkt beider Strecken. Dort fallen für Nikolaus In- und Umkreismesser zusammen, so dass die Strecke rq sowohl den Kreisradius des isoperimetrischen Kreises, als
764 765
QC, h 20, n 7, Z. 20–21, S. 76 = n, S. 7 = b, S. 1093 = MATH. SCHRIFTEN, S. 64. Nagel, S. 77ff.; siehe auch: MATH. SCHRIFTEN, S. 210f., Anm. 7–10.
244
4. Die Quadraturtraktate
auch den Radius des zugehörigen In- und Umkreises repräsentiert ( rn→∞ = ∂ n→∞ = r ).766 Mit dieser Darstellung ist nun natürlich nichts bewiesen. Tatsächlich ist die Proportionalitätsbehauptung nicht nur in Hinblick auf die Entwicklung der regelmäßigen Polygone falsch, sondern selbst als Näherungsverfahren für die Kreiszahl ist das Ergebnis von geringer Qualität. Nikolaus selbst aber ist von seiner Idee so überzeugt, dass er in einem der Quadratura circuli nachträglich angehängten Abschnitt De sinibus et chordis zur Proberechnung ansetzt. Dabei wählt er das gleichschenklige Dreieck mit r3 = 14 (also ∂3 = 7) und berechnet mit Hilfe des pythagoreischen Satzes die In- und Umkreise des isoperimetrischen Quadrats zu ∂ 4 = 82
11 6 und r4 = 165 . 16 16
Setzt man die so gewonnenen Werte gemäß der Proportionalitätsannahme für die Kreisberechnung ein, dann kann die Kreiszahl rekursiv ermittelt werden zu π=
U 72,7461 ≈ = 3,15417... . Der Wert liegt klar außerhalb der archimedischen 2r 2 ⋅11,5317
Grenzen, was Nikolaus so wohl nicht ganz deutlich geworden ist, denn in De mathematicis complementis wiederholt er den gesamten Rechenvorgang für die Inund Umkreise am Drei- und Viereck, auch dort allerdings ohne ihn direkt auf die Kreisrechnung anzuwenden. Dass die Flächenproportionalität überhaupt nur eine sehr grobe Näherung für die Verhältnisse isoperimetrischer Polygone liefert, zeigt sich auch, wenn man die Polygonfläche mit den Mitteln der modernen Trigonometrie in direkten Bezug zu den beteiligten In- und Umkreisradien setzt. Dabei gilt dann: Sn =
1 1 α 1 2 α 2 na∂ n = n∂ n tan = nrn sin α = nα 2 cot 2 2 2 4 2 360° als Zentriwinkel und n als Index der Seitenn zahl)
(mit a für die Seitenlänge, na = U = konst., α =
Es bedarf keines großen Rechenaufwandes, um einzusehen, dass sich die Proportionalitätsbehauptung der Quadratura circuli und der Complementa mathematica hiermit nicht vereinbaren lässt. Wie so häufig hat Nikolaus sich hier wohl von der schlagenden Einfachheit des eigenen Ansatzes verleiten lassen. Dass die tatsächlichen Verhältnisse zwischen In- und Umkreisen und den zugehörigen Polygonflächen weitaus komplizierter sind, als es Nikolaus annimmt, steht seinem Anspruch, die Quadratur mit einfachsten Mitteln leisten zu können, klar entgegen. Es zeigt sich hier in aller Deutlichkeit, dass die Zielsetzung der einfachen Formel aus den Transmutationes geometricae mehr ist als ein didaktisches Anliegen. Insofern das Quadraturproblem innerhalb der cusanischen Erkenntnis766
QC, h 20, n 4, Z. 1–13 S. 73–74 = n, S. 6 = b, S. 1092, Analog die Darstellung in De mathematicis complementis unter abweichender Beschriftung: CM, h 20, n 31, S. 102 = p 2, fol. 67r.
245
4.5. Die Quadraturtraktate der 1450er Jahre
metaphysik in mannigfaltiger Hinsicht als Musterbeispiel des Koinzidenzdenkens angeführt wird, muss eine gültige Lösung geradezu zwingend dem Anspruch methodischer Stringenz und Transparenz genügen. Wenn im intellectus ‚Gerades‘ und ‚Gekrümmtes‘ koinzidierend ‚in-eins-geschaut‘ werden können, dann muss es in der hierarchischen Ordnung der Erkenntnisvermögen neben dem spekulativphilosophischen Weg der Quadratur, wie ihn Nikolaus bei seinen Umwandlungen von Dreiecken zu Kreisen in De docta ignorantia beschreitet, auch einen entsprechenden mathematischen Zugang zum Vollzug der Rektifikation geben. Ein derartiges Verfahren muss dann, im Sinne der coincidentia oppositorum, zugleich zur ‚Einfachheit‘ führen, das stets relationale Element mathematischer Bestimmungen muss im Überstieg zur Wesensschau gänzlich aufgelöst werden. Nicht umsonst gipfelt auch das dritte Buch Über den Laien, das in enger zeitlicher Nähe zu den Complementa entstand, in der Formulierung eines besonders leicht zu leistenden, ‚technischen‘ Quadraturverfahrens. Im Kontext der Laienphilosophie, die in dieser Schaffensphase des Kusaners bestimmend ist, soll die Quadratura als ein zentrales aenigma für die Hinordnung des Denkens zur unitas dienen. Dass die Quadraturtraktate der 1450er Jahre mitunter so schwer verständlich, ja, in manchen Einzelheiten sogar völlig unverständlich sind, bedeutet keinesfalls, dass die Abhandlungen im Kern, in den eigentlichen Quadraturvorschriften, nicht durchaus ‚einfacher‘ Natur sind. Das zeigt sich vor allem dann, wenn mittels des trigonometrischen und infinitesimalmathematischen Instrumentariums die algebraische Ausdeutung vollzogen wird. Gerade an diesen im engeren Sinne mathematischen Elementen entzündete sich dann allerdings auch die Kritik der Fachwelt.767 Dabei ist das Fundament des neuen Quadraturansatzes, wenn es konsequent infinitesimalmathematisch gesetzt wird, durchaus tragfähig. Aus den Verhältnissen der In- und Umkreismesser isoperimetrischer Polygone lassen sich ohne größere Schwierigkeiten zwei gekoppelte Folgen zur Näherung der Kreiszahl gewinnen. Bei stetiger Verdopplung der Eckenzahl n eines beliebigen regelmäßigen Polygons mit dem Peripheriewinkel α n =
α 360° gilt notwendig: α 2n = n . n 2
Damit nun die Isoperimetrievoraussetzung erfüllt wird, muss dann der Inkreismesser des Polygons doppelter Eckenzahl zu ∂ 2n =
rn + ∂ n bestimmt werden. 2
Ausgehend vom gleichseitigen Dreieck kann nun mit Hilfe des Kathetensatzes 2
leicht
festgestellt
werden,
dass
an 2 2 2 + ∂ n = rn
und
zugleich
2
2 2 an 2 + ( ∂ n + rn ) = ( 2r2n ) . Die erste der beiden Gleichungen kann nun nach Um
p
2
formung zu n = rn 2 − ∂ n 2 2 767
Siehe nachfolgende S. 246ff.
in die zweite Gleichung eingesetzt werden:
246
4. Die Quadraturtraktate
rn 2 − δn 2 + ( δn + rn ) = ( 2r2n ) . Nach Ausmultiplizieren und Kürzen erhält man dann: 2
r2n 2 = rn
2
( rn + ∂n ) . Da ja andererseits 2
∂ 2n =
rn + ∂ n 2 ist nun rn ∂ n = r2n . 2
Damit lässt sich der Umkreisradius für das verdoppelte Polygon auf zwei Wegen errechnen, einerseits über r2 n = rn ∂ 2 n und andererseits über
rn + ∂ n . 2 r + ∂n r + ∂n r + ∂n gilt dann nach Einsetzen ∂ 2 n = n ⋅ r2 n = rn n . Da δ 2 n = n 2 2 2 Ausgehend vom gleichseitigen Dreieck lassen sich nun leicht zwei gekoppelte r2 n = rn
Folgen berechnen, deren Grenzwert bei
1 = 0,159115... liegt. Wie schnell dabei 2π
Ergebnisse für die Kreiszahl erreicht werden, die innerhalb der archimedischen Grenzen liegen, lässt sich anhand der rekursiven Folgen für die In- und Umkreismesser leicht zeigen.768 Von derartigen Grenzwertüberlegungen ist Nikolaus allerdings noch weit entfernt. Bedeutsam ist aber dennoch die methodische Vorüberlegung, dass im Diffeδ −δ renzenquotient n m beim Übergang zum Kreis ein Grenzwert angelegt ist, der rm − rn Kreis also durch die stete Erhöhung der Eckenzahl s c h r i t t w e i s e ausgerundet werden kann. Mit der grundsätzlich richtigen Annahme eines funktionalen Zusammenhangs zwischen den In- und Umkreismessern und dem Grad der Ausrundung isoperimetrischer Polygone hat Nikolaus zugleich auch ein taugliches Mittel für den tatsächlichen Vollzug der Quadratur, natürlich nur unter Voraussetzung einer prinzipiell infiniten Entwicklung, gefunden. Mit der Quadratura circuli legt er seinen Hang zu einfachen Zwischenwertbetrachtungen noch nicht ab. Er glaubt ja nach wie vor, den infiniten Rechenprozess bei der Ausrundung des Polygons durch das Postulat einer gemittelten Größe, die sich im Flächenproportionalitätsfaktor λ manifestiert, gewissermaßen umgehen zu können. Gegenüber den einfachen Mittelwertkonstruktionen aus den Transmutationes geometricae und De circuli quadratura ist der Proportionalitätssatz aber, wenn auch im konkreten Ergebnis für die Kreiszahl von deutlich geringerer Güte, das Ergebnis einer sehr viel anspruchsvolleren und fundierteren methodischen Reflexion. Umso schwerer müssen Nikolaus die kritischen Einsprüche seiner Mathematikerfreunde getroffen haben, die sich schon kurz nach der Fertigstellung einer ersten Version von De mathematicis complementis zu Wort meldeten.
768
Hierzu auch: Nagel, 81ff.
4.5. Die Quadraturtraktate der 1450er Jahre
247
Zum Flächenproportionalitätssatz nach: CM, h 20, n 31, S. 102 (= p 2, fol. 66v)
Nikolaus hatte seine Überlegungen an wenigstens zwei der mit ihm befreundeten Fachleute weitergeleitet. Neben Paolo Toscanelli erhielt auch der Astronom und Mathematiker Georg Peurbach, der zu dieser Zeit Johannes Regiomontanus als Lehrer betreute, eine Abschrift des Traktats.769 Wie sich Peurbach zu Nikolaus’ Ausführungen in den Mathematischen Ergänzungen geäußert hat, ist nicht näher bekannt. Es ist aber wahrscheinlich, dass er dem Vorgebrachten ablehnend gegenüberstand. Hierauf weist ein Schreiben von Nikolaus an Peurbach aus der Folgezeit der Complementa hin, in dem dieser versucht, einen Plausibilitätsnachweis des dort formulierten Quadraturansatzes nachzureichen. Dieses Schreiben wurde später unter dem Titel Declaratio rectilineationis curvae in die Druckausgaben von Nürnberg und Basel übernommen.770 Die kurze Appendix zur Proportionalitätsregel aus den Complementa vermittelt insgesamt den Eindruck, dass 769 770
MATH. SCHRIFTEN, S. 214, Anm. 1. DR, h 20, S. 147–149 = n, S. 14–15 = b, S. 1100–1101.
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4. Die Quadraturtraktate
Peurbach Nikolaus keine allzu detaillierte Bewertung seines Quadraturansatzes hat zukommen lassen. Vielmehr scheint er lediglich ein vages Unverständnis zum Ausdruck gebracht zu haben, was Nikolaus dann veranlasste, seine Mathematischen Ergänzungen mit der Abhandlung Über die Kurvenausstreckung noch einmal beispielhaft zu erläutern. Was Toscanelli von dem neuen Quadraturansatz hielt, ist dagegen gut dokumentiert. Von ihm ist ein kurzes Schriftstück erhalten geblieben, das den zentralen Fehler der cusanischen Methode klar herausstellt.771 Um die Kritik Toscanellis richtig zu verstehen, muss man sich die Darstellung der Flächenproportionalität vor Augen führen, wie sie in den Complementa enthalten ist. Die Konstruktion ist mit jener aus der Quadratura circuli inhaltlich identisch, lediglich die Bestimmungspunkte sind etwas abweichend deklariert. Nikolaus’ Behauptung, dass sich diminutio zu diminutio stets genauso verhalten müsse wie excessus zu excessus, kann, wie direkt einsichtig ist, nur dann Gültigkeit haben, wenn hq und gq gerade Strecken sind, In- und Umkreismesser also linear vom Flächenzuwachs der Polygone abhängen. Ein hinlänglicher Beweis für die Linearität dieser Größen ist aber weder in der Quadratura circuli noch in De mathematicis complementis zu finden, und Toscanelli hat diesen Mangel klar erkannt: [...] Non video cur duae lineae ·hb· et ·bd·, concludentes omnes illos excessus primarum et secundarum, non possent esse curvi omni genere curvitatis […].772
Tatsächlich können die benannten Strecken als gekrümmt vorgestellt werden, ohne den Prämissen der cusanischen Quadratur zu widersprechen. Nikolaus hatte lediglich vorausgesetzt, dass die Primen der endlichen Vielecke stets kleiner sein müssen als die zugehörigen Sekunden, und sich daher gemäß der Abbildung aus der Quadratura circuli hq und gq nur in ·q·, also beim Übergang zum Kreis, schneiden dürfen. Dem entspricht nun in den Complementa die gleiche konstruktive Einschränkung für den Schnittpunkt von ch und bh in ·h·. Diese Einschränkung ist aber, wie Toscanelli richtig einwendet, kein hinreichender Anlass für die Annahme, dass beide Strecken nicht auch krummlinig verlaufen könnten, also unter Umständen n i c h t direkt linear vom funktionalen Argument des Flächenzuwachses abhängen. Denn auch dann könnte noch gelten, was Nikolaus in der zehnten conclusio der Mathematischen Ergänzungen fordert und was er selbst zu 771
772
Das Schreiben ist sowohl im Nürnberger Druck (n, S. 13–14) als auch im Nachdruck dieser Ausgabe in der Basiliensis ediert. Johannes Schöner, Herausgeber der Nürnberger Edition, hatte die Schrift der Quadratura circuli zugeordnet und als Autograph des Kusaners fehlgedeutet. Diese falsche Zuordnung wurde von Henricus Petri in den Basler Druck übernommen: b, S. 1099–1100. Es gibt keinen direkten Hinweis auf den Urheber der Schrift. Auch erscheint sie in den alten Drucken ohne Überschrift. Handschriftliche Fassungen des Textes sind bisher nicht bekannt. Bei der Ausgabe der Mathematischen Schriften hat Hofmann allerdings Toscanelli als Urheber der Schrift bestimmen können und den Text nachträglich mit Magister Paulum ad Nicolaum Cusanum Cardinalem übertitelt [im Folgenden zitiert als PN]. Folkerts hat das Schreiben unter dem gleichen Titel in den Appendix seiner Sammeledition aufgenommen: h 20, 229–232. PN, h 20, n 6, Z. 9–11, S. 232 = n, S. 14 = b, S. 1100 = MATH. SCHRIFTEN, S. 131.
4.5. Die Quadraturtraktate der 1450er Jahre
249
einer seiner wichtigsten argumentativen Stützen macht:773 In capaciori polygonia necesse est prima[m] linea[m] esse longiorem et secunda[m] breviorem.774 Tatsächlich wachsen zwar die Inkreismesser linear mit wachsender Eckenzahl n an. Damit ist in der graphischen Repräsentation gq , wie von Nikolaus behauptet, zwingend als Gerade bestimmt. Dies gilt aber nun nicht zugleich für die Umkreismesser. Für die Entwicklung von rn bildet hq mit wachsendem n eine wendepunktfreie Kurve aus und damit hängt nun die Entwicklung von rn eindeutig nicht linear von n ab.775 Der Eindruck, den der berechtigte Einspruch Toscanellis auf den Kardinal gemacht hat, kann nicht groß genug eingeschätzt werden. Mit einer wahren Fülle von nachgetragenen Schriften versucht er in der Folgezeit, den in den Mathematischen Ergänzungen so hart erarbeiteten Ansatz zu rechtfertigen. Neben der Declaratio rectilineationis curvae stehen ein umfangreiches zweites Buch De mathematicis complementis, die Nikolaus V. gewidmete Schrift Über die theologischen Ergänzungen (De theologicis complementis)776 sowie ein kurzer Traktat De una recti curvique mensura777 in direktem Zusammenhang mit den kritischen Einwänden der Fachwelt zum Quadraturentwurf der Complementa. Nikolaus reagierte mit diesen Versuchen zur Nachbesserung und Erläuterung in zwei Richtungen zugleich. Einerseits hoffte er, den konkreten Quadraturansatz zumindest hinsichtlich seiner methodischen Prämissen doch noch beweisen zu können. Die Kritik Toscanellis war in dieser Frage ja keinesfalls eindeutig. Mit seinem abschlägigen Bescheid zu den Complementa stellte dieser weniger die Richtigkeit des Ansatzes als vielmehr die Hinlänglichkeit des Begründungsverfahrens ‚ad oculos‘ in Frage. Einen stichhaltigen Gegenbeweis zur cusanischen Proportionalitätsbehauptung lieferte er nicht, obwohl ihm im rechnerischen Vollzug die kaum hinnehmbare Grobheit der Kreisnäherung sicher nicht entgangen sein konnte. Nikolaus blieb damit wohl zumindest für einige Zeit die Hoffnung, durch strenge Revision doch noch eine fachliche Anerkennung für sein neues Rektifikationsverfahren zu erhalten. Spätestens im Dialogus de circuli quadratura von
773 774
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777
PN, h 20, n 6, Z. 11–13, S. 232 = n, S. 14 = b, S. 1100 = MATH. SCHRIFTEN, S. 131. CM, h 20, n 21, Z. 1–2, S. 96 = p 2, fol. 62r = MATH. SCHRIFTEN, S. 78f. Im Pariser Druck der Mathematischen Ergänzungen auf die 11. (!) conclusio De mathematicis complementis verwiesen, anders als bei der Zählung der jüngeren Ausgabe des Basler Drucks. Wahrscheinlich handelt es sich dabei um einen Übertragungsfehler aus der handschriftlichen Vorlage (decima statt undecima). Hofmann hat bei seiner Übersetzung der Mathematischen Schriften offenbar versucht, die abweichenden Angaben anzugleichen, indem er die erste conclusio aus der Version des Pariser Drucks nicht gezählt hat. Der Verweis aus dem Basler Druck stimmt damit mit der deutschen Übersetzung der Complementa, nicht aber mit dem Druck der Parisina selbst überein. MATH. SCHRIFTEN, S. 234, Anm. 5. De theologicis complementis, h 10 (= Opuscula II. Fasciculus 2a), Adelheid Dorothea Rieman u. Karl Bormann (Hgg.), Hamburg 1994 [im Folgenden zitiert als theol. compl., h 10], S. 1–86. DM, h 20, S. 153–159 = n, S. 16–21 = b, S. 1101–1106.
250
4. Die Quadraturtraktate
1457 distanzierte sich Nikolaus dann aber endgültig von den dunklen und unsicheren Büchern über die Mathematischen Ergänzungen.778 Diese Abkehr von den Complementa musste Nikolaus nicht nur aus rein fachinhärenten Gründen vollziehen. Denn die methodischen Mängel der in den libri obscuri entwickelten Quadratur drohten nicht nur Nikolaus’ Ansehen als Mathematiktreibender zu beschädigen, sondern auch die gesamte Grundsatzlehre von der Koinzidenz der Gegensätze in Frage zu stellen. Die immer wieder mit so viel Nachdruck formulierte symbolische Ausnahmestellung des Quadraturproblems erwies sich nun, in der Nachfolge der gescheiterten Versuche aus der Quadratura circuli und den Complementa mathematica, als echtes Problem. Wenn die Koinzidenzlehre, das stets mitzudenkende Fundament der cusanischen Mathematik, im Rektifikationsproblem keineswegs zu jener Erkenntnisgewissheit führen konnte, die für Nikolaus die mathematischen Zeichen und Formen auszeichnen sollte, war sie dann nicht selbst in ihrer Gesamtheit in Gefahr geraten? Nikolaus hat dies ganz augenscheinlich so empfunden. Die Schrift Über die Theologischen Ergänzungen, die er dem zweiten Buch De mathematicis complementis in kurzem Abstand folgen ließ, ist ein groß angelegter apologetischer Gegenentwurf zu dem allzu optimistischen Vorgehen in den vorangegangenen Quadraturabhandlungen. Dies ist die zweite Stoßrichtung innerhalb der Nachtragsschriften zu den Mathematischen Ergänzungen: Mit den sprachlichen Mitteln der Symbolgeometrie, die deutlich auf De docta ignorantia verweisen, versucht Nikolaus in den Theologischen Ergänzungen noch einmal auf der Ebene der spekulativen Philosophie das zu leisten, was ihm vermittels der reinen Geometrie allein nicht gelungen war − nämlich einen überzeugenden Nachweis zu erbringen, dass die Mathematik den Weg zu den höchsten Formen der Erkenntnis weist.779 Dabei spricht Nikolaus nun nicht mehr von der visio intellectualis sondern allgemeiner von einer visio mentalis.780 Hier macht sich begrifflich das werkübergreifende Wirken der cusanischen mens-Metaphysik aus dem Idiota de mente bemerkbar, was noch einmal ganz deutlich werden lässt, dass die Complementa vor allem in ihrer Wechselwirkung mit den drei Idiota-Schriften gelesen werden muss. Der Frage nach der Durchführbarkeit einer ‚Auseckung‘ des Kreises, wie sie in den Mathematischen Ergänzungen unternommen wird, räumt Nikolaus in den Theologischen Ergänzungen breiten Raum ein. Dabei kommt nun noch einmal die ältere Terminologie von Ein- und Ausfaltung der geometrischen Figuren zum Einsatz:
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DQ [Dialogus inter Cardinalem sancti Petri Episcopum Brixinensem et Paulum physicum Florentinum de circuli quadratura], MATH. SCHRIFTEN, S. 143 = h 20, n 1, Z. 7, S. 163 = n, S. 10 = b, S. 1095–1098: [...] Libellos Mathematicis complementis obscuros atque incertos [...]. theolog. compl., h 10, n 1, S. 4, Z. 8–10: [...] in speculo mathematico verum illud, quod per omne scibile quaeritur, relucat non modo remota similitudine, sed fulgida quadam propinquitate. theolog. compl., h 10, n 1, S. 4, Z. 7.
4.5. Die Quadraturtraktate der 1450er Jahre
251
Quanto autem polygonia aequalium laterum plurium fuerit angulorum, tanto similior circulo; circulus enim, si ad polygonias attendas, est infinitorum angulorum. Et si ad ipsum circulum tantum respicis nullum angulum in eo reperies, et est interminatus, inangularis: et ita circulus inangularis et interminatus in se complicat omnes anulare (?) terminationes, polygonias datas et dabiles.781
Merklich verunsichert durch die skeptische Resonanz der Fachwelt betont Nikolaus nun allerdings nachdrücklich, dass der Ursprung der ganzen Überlegung im Prinzip der Koinzidenz liege und deshalb über den Bereich des Mathematischen deutlich hinausweise. Dabei bleibt die Vorstellung einer Kontinuität zwischen metaphysischer Wahrheit und mathematischer Wahrheit782 durchweg erhalten. Im Theologischen liegt aber stets der höhere Wahrheitsgehalt gegenüber den mathematischen Wissenschaften, die Theologie ist die übergeordnete Bewertungsinstanz. So stellt Nikolaus zunächst fest, dass ein beliebiger Kreis in Hinblick auf Umfang und Radius mit seinem zugehörigen In- und Umkreis zusammenfallen muss.783 Diese Überlegung nun überträgt er auf die göttliche Trinität − und betont gesondert, dass er dieses Vorgehen für statthaft hält, da gelten muss: Si sic est in mathematicis [sic est] v e r i u s in theologicis.784 In ganz ungewohnter Manier zieht Nikolaus hier eine strenge Trennlinie zwischen Mathematik und Theologie. Wo in De docta ignorantia zwischen theologischen und mathematischen Symbolen nicht differenziert wurde, spricht er nun ausdrücklich von den theologicalia als den höchsten Erkenntnisinhalten der mens.785 781 782
783 784 785
theol. compl., n 5, S. 25f., Z. 6–12. Jean-Marie Nicolle: Innovation in mathematics and proclusean tradition in Cusanus’ thought, S. 85–88, hier: S. 85. theol. compl., h 10, n . 3, S. 13f., Z. 4–12. theol. compl., h 10, n . 3, S. 14, Z. 19f. theol. compl., h 10, n 1, S. 5, Z. 14f.: T h e o l o g i c a l i a ista oculo mentis melius videbuntur, quam verbis exprimi queant. Diese Anweisung des Kusaners hat sich außer in den frühen Drucklegungen auch in auffälliger Weise in der Brüssler handschriftlichen Fassung des ersten Buches De mathematicis complementis in Cod. Brux. lat. 11479–84, fol. 59r–78v, die sich ursprünglich im Besitz der Park-Abtei (Parcus cominorum) in Löwen befunden hatte, niedergeschlagen. Der Codex enthält im direkten Anschluss auch die Theologischen Ergänzungen. Diese Version De mathematicis complementis/De theologicis complementis stammt von der Hand des Petrus Erkelenz und war für Heymericus de Campo bestimmt. Auffälligerweise sind beide Handschriften nicht in einem nahtlosen Durchgang verfasst worden. De mathematicis complementis endet auf fol. 65v, De theologicis complementis beginnt erst auf fol. 68r. Zudem weist das Papier des ersten Doppelblattes der zweiten Lage eine weit niedrigere Qualität als der Rest des gesamten Codex. Es ist daher anzunehmen, dass die Abschrift der Mathematischen Ergänzungen noch kurz vor der Abfassung der Theologischen Ergänzungen entstanden ist. Der Titel zu den Theologischen Ergänzungen wurde nachgetragen, und zwar als Randglossierung von zweiter Hand des 15. Jahrhunderts. Offensichtlich hatte Petrus Erkelenz auch bei der Aussparung der Titulatur die Weisung des Kusaners im Blick, die Theologischen Ergänzungen nicht als eigenständige Schrift in Umlauf zu bringen. In Brüssel findet sich unter Cod. Brux. lat. 2962–78, fol. 45r–77v auch noch eine zweite Version beider Bücher De mathematicis complementis, die Vansteenberghe fälschlich als unvollständig bezeichnet hat. Diese Version enthält zwischen der 13. und 14. propositio ein leeres Blatt und einige Anmerkungen zum Text, deren Herkunft unklar ist. Im Brüssler Codex folgt eine Abschrift De mathematica perfectione. Hierzu auch: Emil van de Vyver: Die Brüsseler Handschriften
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4. Die Quadraturtraktate
Wie groß seine Sorge war, ein mit den Feinheiten der Koinzidenzlehre Unvertrauter könnte anhand der Quadraturschriften in unzulässiger Weise rein mathematische Erkenntnisse mit intellektualen Einsichten verwechseln, offenbart sich in der nachdrücklichen Bitte, die Mathematischen und Theologischen Ergänzungen nur gemeinsam zu kopieren, sie also unter keinen Umständen als Einzelstücke in Umlauf zu bringen.786 Dahinter steht die schon in De docta ignorantia formulierte Ansicht, dass ratio und intellectus zwei wohl zu unterscheidende Geistesvermögen, zugleich aber nie gänzlich unabhängig voneinander zu denken sind. Dabei soll das Koinzidenzdenken von den Unwägbarkeiten und Irrtümern des diskursiven mathematischen Denkens unberührt bleiben. Wenngleich die kritischen Reflexionen der Theologischen Ergänzungen damit einmal mehr in aller Deutlichkeit die engen Grenzen der rationalen Erkenntnis nachzeichnen, sind sie dennoch nicht das Produkt eines im konkreten Anliegen resignierenden Geistes, sondern im Gegenteil für die nachfolgenden mathematischen Beiträge des Kusaners von hohem Wert gewesen. Man darf die vergleichsweise scharf gefasste Trennung der mathematisch-rationalen und theologisch-intellektualen Koinzidenz in Hinblick auf die konkrete Fragestellung nach der Quadratur auch ein Stück weit als Befreiung von letztlich sachfremden Zwängen verstehen. So wie die Complementa theologica einerseits die Einzigartigkeit vernunftgeleiteter Erkenntnis hervorheben, so haben sie umgekehrt auch zu einer gewissen Emanzipation der verstandesgemäßen Methoden im Bereich der mathematicalia geführt. Der Drang zu tragfähigen, ‚innermathematischen‘ Beweisverfahren, die weitgehend ohne den Rekurs auf philosophische Allgemeinplätze auskommen, ist in den späteren Quadraturschriften dann auch sehr deutlich erkennbar. Die einzelnen gedanklichen Ansatzpunkte und Entwicklungsstränge der Schrift sind sicher interessant, für die weitere Entwicklung der cusanischen Mathematik aber von untergeordneter Bedeutung.787 Wichtiger hierfür ist der auf das Quadraturproblem gerichtete Nachtrag in einem umfangreichen zweiten Buch über die Complementa mathematica. Dieser zweite Teil ist ein wahres Sammelsurium unterschiedlichster Quadraturansätze, die in ihrer Qualität teils erheblich voneinander abweichen, allesamt allerdings strenge mathematische Beweisverfahren vermissen lassen. Offensichtlich war Nikolaus der Auffassung, dass seine Kritiker sich zu sehr auf das konkrete Quadraturverfahren über die In- und Umkreise konzentrierten, anstatt die allgemeine Bedeutung der Methodik zu erkennen. Im seinem zweiten Buch Über die Mathematischen Ergänzungen, dass wohl im Winter
786
787
aus dem Besitz des Nikolaus von Kues, in: MFCG 4, Rudolf Haubst (Hg.), Mainz 1964, S. 323–339, hier: S. 325ff. und S. 333 sowie Vansteenberghe: Le cardinal, S. 474. theol. compl., h 10, n 1, Z. 10–12, S. 4f.,: Oportet autem, ut iste libellus a n n e x u s s i t illi, si quae dixero intelligi debent, cum istud complementum est mathematicis eliciatur. Den Theologischen Ergänzungen widmet sich detailliert die hervorragende Dissertationsschrift von Bormann-Kranz: Diana Bormann-Kranz: Untersuchungen zu Nikolaus von Kues ‚De theologicis complementis‘ (= Beiträge zur Altertumskunde 56), Stuttgart u. Leipzig 1994.
4.5. Die Quadraturtraktate der 1450er Jahre
253
1454/55 entstanden ist,788 liefert er deshalb auch lediglich Impulse und Anregungen, ohne sich allzu sehr mit Detailfragen zu belasten. Sein Ziel ist es, die Koinzidenzlehre so im Mathematischen zu verorten, dass ihr die gleiche Allgemeingültigkeit zukommt, die sie auch für die geometrico-theologischen Symbole der Frühschriften hatte. Letztlich deutete Nikolaus damit das im ersten Teil der Complementa Vorgebrachte nachträglich zu einer reinen methodischen Grundsatzüberlegung um. Die Universalität des Koinzidenzprinzips ist ihm im zweiten Buch der Ergänzungen wichtiger als die konkreten Einzelergebnisse, die Flächenproportionalität des ersten Buches der Complementa nur eine in einer unbegrenzten Zahl möglicher Emanationen aus dem Grundsatz vom Zusammenfall der Gegensätze. In der Vielzahl neuer Ansätze aus dem neuen Buch Über die Mathematischen Ergänzungen versucht Nikolaus nun gewissermaßen induktiv zu zeigen, dass das Konzept vom Ausgleich des ‚Geraden‘ und ‚Gekrümmten‘ beim Übergang ins Unendliche prinzipielle Gültigkeit haben muss. Dass er dabei über bloße Denkanstöße kaum hinausgeht, hat nun seinen Grund allerdings nicht nur in solchen konzeptionellen, werkimmanenten Erwägungen, sondern ist auch noch von einer ganz anderen Seite bedingt worden. Den zweiten Teil der Complementa verfasst Nikolaus in einer Zeit höchster politischer Beanspruchung, die aus dem Jahre währenden Streit um die ihm von Papst Nikolaus V. bei der offiziellen Kardinalserhebung 1450 mitverliehenen Brixener Bischofwürde resultierte. Wie sehr Nikolaus’ mathematischnaturwissenschaftliche Arbeiten von biographischen Umständen beeinflusst waren, habe ich bereits an einigen Beispielen – der Begegnung mit byzantinischen Gelehrten, den Freundschaften zu Fachmathematikern, den Zugang zu den archimedischen Schriften etc. – zu zeigen versucht. Zu keinem Zeitpunkt aber spiegeln sich Nikolaus’ Lebensumstände so deutlich in den mathematischen Werken wider, wie in der Zeit des Brixener Bischofsstreits, und nirgendwo kann die Aufforderung von Paul Rose, historische mathematische Quellen immer auch als Psychogramme zu lesen, Anwendung finden.789 Die Einzelheiten des Konflikts sind an anderer Stelle ausführlich dokumentiert,790 weshalb es hier genügen soll, nur die wesentlichen Zusammenhänge zu skizzieren. Nikolaus ist mit der Kardinalswürde auf dem Zenit seiner kirchenpolitischen Laufbahn angekommen. Der neue Kardinal war, ganz von umfassendem Reformeifer beseelt, zunehmend in Opposition zu den ansässigen Klöstern und Geistlichen geraten, allen voran der streitbaren Äbtissin des Klosters Sonneburg, Verena von Stuben, die sich frühzeitig die Unterstützung Herzog Sigismunds von Österreich gesichert hatte. Nicht zuletzt der Umstand, dass mit dem neuen Bischof ein fremdstämmiger Oberhirte, der mit den regional-kulturellen Besonderheiten nicht im Mindesten vertraut war, territorialherrschaftliche Ansprüche im Bistum 788 789
790
MATH. SCHRIFTEN, S. 214, Anm. 1. Paul Lawrence Rose: The Italian Renaissance of mathematics. Studies on humanists and mathematicians from Petrarch to Galileo (= Travaux d´Humanisme et Renaissance 145), Genf 1975, S. 1. Ausführlich zum Brixener Reformstreit u.a.: Meuthen: Skizze, S. 95–102.
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4. Die Quadraturtraktate
erhob, rief den Widerstand der landsässigen politischen Eliten hervor. Kompromisslosigkeit und mangelndes diplomatisches Geschick auf beiden Seiten sollte den Konflikt schließlich zur bewaffneten Auseinandersetzung anschwellen lassen. Das zweite Buch über die Mathematischen Ergänzungen spiegelt einerseits die innere Unruhe und Rastlosigkeit des Kusaners angesichts des sich zuspitzenden äußeren Konflikts wieder. Auf der anderen Seite steht die Schrift auch im Zeichen geistiger Erschöpfung und innerer Unsicherheit angesichts des Wissens um die Mängel der bisherigen Bemühungen um die Quadraturfrage. Die Schrift ist das Produkt eines sprunghaften und unsteten Denkens, so dass die vorgestellten Verfahren, ohnehin überwiegend methodische Rudimente, zumeist Kreissegment als ‚Möndchen‘ nach: CM, h 20, S. 129 (= schwer verständlich und unp 2, fol. 80v) durchsichtig bleiben. Dies gilt unter anderem für ein nichtsdestoweniger interessantes Stück im hinteren Teil der Abhandlung, in dem Nikolaus sich an einer Quadratura per lunulas versucht. Im Unterschied zur ursprünglichen Definition der Möndchen bei Hippokrates von Chios (um 440 v. Chr.)791 betrachtet Nikolaus hier nicht die Überschüsse von Kreisflächen über eingeschriebene Polygone, sondern jene Sektoren am Kreissegment, die durch den jeweiligen Kreisbogen und die zugehörigen Sehnen und Tangenten gebildet werden. Diese sehr freie Fassung des Möndchen-Begriffs ist umso erstaunlicher, als der Quadraturtraktat des Raimundus Lullus, der Nikolaus ja gut bekannt war, den Terminus ganz in Übereinstimmung mit der griechischen Lehrtradition verwendet.792 Die meisten analogen Verweise in den Nikolaus prinzipiell zugänglichen Quellen sind allerdings bei der Beschreibung des hippokratischen Verfahrens wenig genau. Dies gilt unter anderem für die sehr allgemein gehaltenen Ausführungen in der kurzen Quadraturabhandlung Thomas Bradwardines. Dort wird in der Frage nach der quadratura per lunulas lediglich auf die entsprechenden Ausfüh-
791 792
Hierzu: Thomas Heath: A history of Greek mathematics 1, Oxford 1921, S. 173 und 183ff. ed. Hofmann, S. 33 = Cod. Cus. 83, fol. 177r.
4.5. Die Quadraturtraktate der 1450er Jahre
255
rungen bei Aristoteles verwiesen und eine kurze Begründung für die insgesamt geringe Rezeption der hippokratischen Überlegung versucht: Aliam probationem minoris tangit Aristoteles per portiones lunulares, quam tamen reputat in aliis locis philosophiae insufficientem, et ideo de ea non curo ad praesens.793
Gemeint ist hier wohl die aristotelische Schrift De sophisticis Elenchis in der Übersetzung des Boëthius, wo die Möndchenquadratur ausdrücklich auf Hippokrates von Chios zurückgeführt wird.794 Dort wird das Verfahren interessanterweise zugleich gegenüber dem Brysonschen Quadraturansatz als zulässig angesehen: Ut quadratura quae est quidem per lunulas non litigios a , Brissonis autem litigiosa; et hunc quidem non est transferre nisi ad geometriam tantum, eo quod ex propriis sit principiis, illum autem ad plures, quicumque non sciunt quid possibile est in unoquoque et quid impossibile; aptabitur enim.795
Auffälligerweise hatte Nikolaus, im Gegensatz zu den Complementa, in der vorangegangenen Quadratura circuli den Begriff des Möndchens ganz übereinstimmend mit der ursprünglichen Bedeutung als ein Kreissegment, das den Halbkreis nicht übertrifft, eingeführt.796 An der hippokratischen Möndchenquadratur interessierte Nikolaus, ohne dass sich genau feststellen ließe, woher er seine Kenntnisse des Verfahrens gewonnen hatte,797 offensichtlich nur die Grundthese, dass der pythagoreische Lehrsatz nicht nur auf gerade Strecken anwendbar ist, sondern auch auf Bögen übertragen werden kann.798 In den Complementa gelingt es Nikolaus allerdings noch nicht, aus den diesbezüglichen Ableitungen ein eige793 794
795 796 797
798
De quadratura circuli, cap. 3.6, concl. 5. De sophisticis Elenchis, nach der Übersetzung des Boëthius ed. in: Aristoteles Latinus VI 1– 3, G. Verbeke (Hg.), Leiden u. Brüssel 1975, vor allem: 117b13–17 – 172b17. Dort heißt es: [...] ut Y p o c r a t i s aut quadratura per lunulas. De soph. elen. 172a3–172a8. MATH. SCHRIFTEN, S. 202, Anm. 8. Tom Müller hat auf die interessante Möglichkeit hingewiesen, dass Nikolaus über Alberti mit dem nämlichen Verfahren in Berührung kam. Müller bezieht sich dabei auf eine Abschrift der Ludi mathematici von Alberti (Florenz, Bibl. Naz., Magl. VI 243), die einen in keiner anderen Version der Spiele nachweisbaren Abschnitt De lunularum quadratura enthält: Tom Müller: Möndchenquadratur und duale Mathematik bei Leon Alberti und Nikolaus von Kues, in: Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 29 (Das Mathematikverständnis des Nikolaus von Kues. Mathematische, naturwissenschaftliche und philosophischtheologische Dimensionen. Akte der Tagung im schwäbischen Tagungs- und Bildungszentrum Kloster Irsee vom 8.–10. Dezember 2003), Friedrich Pukelsheim u. Harald Schwaetzer (Hgg), Trier 2005, S. 41–64. Besonderes Augenmerk richtet Müller (S. 44) dabei auf die auffällige Parallele in Albertis Formulierung […] che quadratura circuli est scibilis sed non scita (zit. n. Müller, S. 44, dort unter Verweis auf die Werkausgabe von Girolamo Mancini, S. 305). Dem entspricht die Stelle in Nikolaus’ Quadratura circuli: […] de quadratura circuli scibili et non scita (QC, b, 1091 = MATH. SCHRIFTEN, S. 58). Wenn für die geraden Dreiecksseiten gilt, dass die Summe der Quadrate über den Katheten gleich dem Quadrat über der Hypotenuse ist, so gilt nach Hippokrates das gleiche für die die Dreiecksseiten vollständig einschließenden Bögen. Eine ausführliche Darstellung des Verfahrens findet sich bei: Mainzer: Geschichte der Geometrie, S. 33f.
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4. Die Quadraturtraktate
nes, tragfähiges Quadraturverfahren zu entwickeln. Erst in den späten Traktaten De mathematica perfectione und Aurea propositio in mathematicis setzt Nikolaus die in seiner Möndchenquadratur gewonnenen Einsichten überaus fruchtbar zu Entwicklung der Rektifikation von Bögen am Kreissektor um. Dass er die Quadratura per lunulas in den Complementa trotz der wohl recht ungenauen Vorstellungen, die er von der ursprünglichen Fassung des Verfahrens hatte, überhaupt erwähnt, ist wohl Ausdruck seines allgegenwärtigen Bestrebens, die umfassende Anwendbarkeit seiner Koinzidenzlehre lückenlos zu beweisen und dabei auch die Quadraturversuche der Alten799 nicht außer Acht zu lassen. Zu diesem geradezu enzyklopädischen Anspruch der Mathematischen Ergänzungen passen auch die bewegungstheoretischen Überlegungen im zweiten Teil der Complementa mathematica.800 An keiner anderen Stelle seiner mathematischen Abhandlungen hat sich Nikolaus mit derartigen Implikationen des Problemkreises der Quadratur beschäftigt. Der ganze Gedankengang geht von der folgenden Konstruktion aus: Nikolaus lässt eine Kreisfläche aus der Rotationsbewegung einer Strecke ab um einen Mittelpunkt ·a· entstehen, so dass ab den Radius des zugehörigen Kreises repräsentiert. Nikolaus definiert nun den Bewegungsvorgang in seiner Gesamtheit als ungleichförmig (inaequaliter), da die jeweiligen Bahngeschwindigkeiten aller Punkte auf der rotierenden Linie notwendig verschieden sind. ‚Ungleichförmig‘ ist hier also keinesfalls im Sinne von ‚beschleunigt‘ zu verstehen, wie es in der kinematischen Beschreibung kreisförmiger Bewegungen in Hinblick auf die Wirkung der beteiligten Zentripetalkräfte seit der Newtonschen Mechanik üblich ist. Nikolaus greift hier vielmehr auf die Lehre von den Bewegungsqualitäten zurück, die vor allem von Oresme und den Oxforder Mertonisten mit dem Konzept der Formlatituden (latitudines formarum) entwickelt wurde. Vorrangiges Ziel der calculatores war es dabei, die aristotelischen Qualitäten über die Ausdifferenzierung von Intensitätsänderungen in eine graphische Darstellung zu bringen.801 Man kann hierin nur mit großen Einschränkungen eine Vorstufe der neuzeitlichen Analytischen Geometrie erkennen,802 denn trotz der terministischen Perspektive ging man mit den latitudines formarum zunächst nicht darüber hinaus, Qualitäten unter voller Wahrung ihrer selbständigen Bedeutung quantitativ zu behandeln.803 Es kann daher nicht verwundern, dass unter anderem 799
800 801
802 803
MATH. SCHRIFTEN, S. 110 = CM, h 20, n 71, Z. 1–2, S. 127 = p 2, fol. 80r: Volo nunc invesitgare, quomodo per lunulas quadratura circuli investigetur, quam viam veteres attemptarunt. CM, MATH. SCHRIFTEN, S. 92–99 = h 20, n 41–53, S. 111–117 = p 2, fol. 70v–72r. Hierzu: Heinrich Wieleitner: Der ‚Tractatus de latitudinibus formarum‘ des Oresme, Leipzig 1912/13 in: Bibliotheca Mathematica 313, S. 115–145, besonders: S. 122. Ferner: Ders., Über den Funktionsbegriff und die graphische Darstellung bei Oresme, Leipzig 1913/14 (= Bibliotheca Mathematica, Folge 3, Bd. 14), S. 193–243. Siehe auch die Einleitung zur OresmeEdition Clagetts: Clagett: Nicole Oresme and the Geometry of Quality and Motion, S. 1–155, vor allem Abschitt 2 (= The Configuration Doctrine in Historical Perspective), S. 50–121. Adolf P. Juschkewitsch: Geschichte der Mathematik im Mittelalter, Leipzig 1964, S. 405f. Dijksterhuis, S. 212.
4.5. Die Quadraturtraktate der 1450er Jahre
257
daran gedacht wurde, arithmetische und algebraische Argumentationen nicht nur bei naturwissenschaftlichen, sondern auch bei philosophischen und theologischen Problemen anzuwenden.804 Vor diesem geistesgeschichtlichen Hintergrund wird leicht verständlich, warum die Lehre von den Formlatituden für Nikolaus ein überaus lohnender Betrachtungsgegenstand sein musste. Die ungleichförmigen Bewegungen der rotierenden Punkte überträgt der Nikolaus zunächst auf ein rechtwinkliges Dreieck ∆abc, in dem die einzelnen Bahngeschwindigkeiten gemäß ihrer Intensität aufgetragen werden: Lineam figuram motus puncti concipio. Quae si recta fuerit, tunc si uno eius termino fixo manente movetur, hic motus recte per triangulum orthogonium figuratur. Ut si ·ab· linea movetur ·a· stante, motus figuratur per triangulum ·abc·. Si enim motus ·b· est ut latus ·bc·, tunc sic proportionabiliter omnia puncta dabilia. [...] Si vero ·ab· recta movetur equaliter in ·a· sicut in ·b·, motus configuratur per duplicem ortogonium sive quadrangulum ·abcd·; omnia enim puncta dabilia equaliter moventur.805
Zur geometrischen Ausdeutung ungleichförmiger Bewegungen nach: CM, h 20, n 44/45, S. 112 (= p 2, fol. 71r)
Diese Konstruktionsvorschrift geht unzweifelhaft (direkt oder indirekt) auf die folgende Passage aus dem Tractatus de configurationibus qualitatum et motuum des Nicole Oresme zurück: Sit [...] una qualitas ymaginabilis per triangulum ·abc· qu[a]e est uniformiter difformis terminata ad non gradum in puncto ·b·; et sit ·d· punctus medius line[a]e subiectiv[a]e, cuius quidem puncti gradus vel intensio ymaginatur per lineam ·de·. Igitur qualitas qu[a]e esset
804 805
Ebd. h 20, n 43, Z. 1–15, S. 111 = p 2, fol. 70v = CM, MATH. SCHRIFTEN, S. 92–93.
258
4. Die Quadraturtraktate
uniformis per totum subiectum secundum gradum de ymaginabilis est per quadrangulum ·afgb· [...].806
Nikolaus nimmt nun an, dass sich die Umfänge der Kreisbahnen zueinander genau so verhalten, wie die sie repräsentierenden Strecken innerhalb des rechtwinkligen Dreiecks. So soll beispielsweise Strecke de zu bc in der gleichen Proportion stehen wie die zugehörigen Radien der Kreisbahnen der Punkte ·d· und ·b·. Dreiecks- und Kreisfläche werden hier also gemäß ihren Bewegungsproportionen miteinander vermittelt. Die so ins Verhältnis gesetzten Flächen zieht Nikolaus im Anschluss zur Konstruktion verschiedener Körper heran, indem er Kreis- und Dreiecksflächen in kombinierte Bewegungsfolgen einbezieht.807 So lässt er beispielsweise ein Dreieck senkrecht zu einer gegebenen Kreisfläche rotieren, so dass nach vollständiger Drehung ein Kegelmantel beschrieben wird, dessen Basis durch den Radius des Grundkreises bestimmt ist. Wie Nikolaus sich nun aber genau vorstellt, solche bewegungstheoretischen Erwägungen für die Kreisquadratur einzusetzen, bleibt unausgesprochen, nur der Kontext der Mathematischen Ergänzungen weist darauf hin, dass er auch hier letztlich auf die Rektifikation hinauswill. Mit der strengen Kritik an der archimedischen Abhandlung Über die Spirale ist der Exkurs zu den Bewegungsintensitäten auf den ersten Blick allerdings schwer vereinbar, scheint er doch im klaren Widerspruch zur Beschränkung der zulässigen Konstruktionsmittel auf Zirkel und Lineal zu stehen. Joseph Hofmann hat allerdings den wichtigen Einwand formuliert, dass Nikolaus an dieser Stelle nicht etwa der fließende Bewegungsvorgang, sondern vielmehr der geometrische Zusammenhang n a c h v o l l z o g e n e r B e w e g u n g interessierte.808 Kinetische Qualitäten stellt sich Nikolaus, und darin stimmt er mit der Fassung der Formlatituden bei Oresme überein, in der quantitativen Analyse als g e o m e t r i s c h e Strecke vor. Innerhalb der Oxforder Merton-Schule809 unter Thomas Bradwardine und Richard Swineshead wird Quantität noch weitgehend als ein a r i t h m e t i s c h e r Mittelwert verstanden.810 Sollten die Formlatituden bei den calculatores noch die räumlichen und zeitlichen Änderungen von Intensitäten der aristotelischen Qualitäten (Wärme, Dichte, Geschwindigkeit etc.) vor allem in ihrer D y n a m i k repräsentieren,811 überführen sie Oresme (und Nikolaus) in eine rein s t a t i s c h - g e o m e t r i s c h e Ausdeutung. Hier zeigt sich auch wieder die
806
807 808 809
810 811
Nicolaus Oresme: Tractatus de configurationibus qualitatum et motuum secundum doctorem et magistrum Nych. Orem, nach der Edition in: Nicole Oresme and the medieval geometry of qualities and motions, Marshall Clagett (Hg.), Madison (Milwaukee)/ London 1968, S. 158– 437, hier: lib. 3, cap. 7, S. 409. CM, h 20, n 45, S. 112 = MATH. SCHRIFTEN, S. 94 = p 2, fol. 71r. MATH. SCHRIFTEN, S. 21, Anm. 41. Ausführlich zur Lehre der Formlatituden im Kreis der Oxforder calculatores: Edith D. Sylla: The Oxford Calculators and the Mathematics of Motion. Physics and Measurement by Latitudes, New York u. London 1991 (zugl. Diss. Univ. Harvard 1990). Boas, S. 241. Ebd.
4.5. Die Quadraturtraktate der 1450er Jahre
259
allgegenwärtige Tendenz des Kusaners, die Geometrie gegenüber der Arithmetik höher anzusetzen. Auf welche Vorlage sich Nikolaus bei seinen Ausführungen zur Kinetik bezog, ist unklar. Schon während der Heidelberger Studienzeit könnte er sowohl mit dem Originaltext Oresmes als auch mit den ähnlich gehaltenen Ausführungen im Liber de motu des Gerhard von Brüssel (erste Hälfte des 13. Jahrhunderts) in Berührung gekommen sein.812 Möglicherweise aber hat erst Paolo Toscanelli Nikolaus, dem in der Festung Andratz nach eigener Aussage der Zugang zur Fachliteratur gänzlich verwehrt war, den entscheidenden Impuls zu seinen Überlegungen geliefert. Dieser hatte im genannten Schreiben zu den Complementa mathematica angekündigt, Nikolaus im Zusammenhang mit dessen Koinzidenzüberlegungen einige Ausführungen zur Lehre von den Formlatituden zukommen zu lassen, um darin den Zusammenhang zwischen der Lehre von den Formlatituden und den Koinzidenzien im Rahmen des Quadraturproblems näher zu erläutern.813 Das Nikolaus sich im Rahmen seiner mathematischen Ergänzungen auch mit Problemen der Bewegungslehre auseinandersetzt, steht beispielhaft für die insgesamt bemerkenswerte thematische Breite des zweiten Buchs über die Complementa: (Mehr oder minder) vollständige Quadraturverfahren stehen neben Grundsätzlichem zur Durchführbarkeit der Rektifikation und erweiterten geometrischen Anwendungen (so zum Beispiel der Berechnung von Kegelmänteln), ausführliche Detailbeschreibungen neben vagen Allgemeinplätzen. Aus diesem überwiegend schwer verständlichen Gemenge verschiedener, teils rudimentärer Ansätze hat Nikolaus in der Nachfolge nur einen einzigen der vertiefenden Weiterverfolgung für würdig erachtet. Der zugehörige Abschnitt beginnt im Pariser Druck der Mathematischen Ergänzungen auf fol. 76v, und damit etwa in der Mitte des zweiten Buches, und endet mit dem Versuch, die zunächst entwickelte neue Quadraturregel zur Berechnung von Möndchen heranzuziehen, auf fol. 81r. Es ist diese Quadraturmethode, die später zum Gegenstand eines längeren, von Nikolaus selbst verfassten Briefes wurde, der wahrscheinlich zunächst an Georg Peurbach, dem Nikolaus auch die schriftlichen Einwände Toscanellis zum Kernsatz der Mathematischen Ergänzungen übermittelt hatte, gegangen ist.814 Das Schreiben wurde sehr viel später in die Nürnberger Werkausgabe von Johannes Schöner aus dem Jahre
812
813
814
Ediert in: Marshall C. Clagett: The science of mechanics in the middle ages, Madison 21961, S. 185–195. PN, h 20, n 7, Z. 1–4, S. 232 = b, S. 1100 = MATH. SCHRIFTEN, S. 131: Multa habeo, quae me movent, quod istae coincidentiae sive i n t e n c i o n e s e t r e m i s s i o n e s f o r m a r u m non per lineas rectas signari debeant, ut moderni ponunt, sed in aliud tempus reservo. Ob noch weitere Personen von Nikolaus Abschriften dieses Schreibens erhielten, lässt sich auf der Grundlage der bisherigen Quellenfunde nicht sagen. Zumindest Regiomontanus kannte den Text, denn bei der Drucklegung für die Nürnberger Werkausgabe wurde auf eine Kopie des Textes von seiner Hand zurückgegriffen.
260
4. Die Quadraturtraktate
1533,815 sowie in den späteren Basler Druck, den Henricus Petri 1556 auf der Grundlage der Norimbergensis besorgte,816 aufgenommen. In beiden Drucken firmiert der Quadraturansatz unter dem Titel Declaratio rectilineationis curvae.817 Eine handschriftliche Fassung des Textes konnte bisher nicht aufgefunden werden. Wann genau Nikolaus die Declaratio geschrieben hat, ist unklar. Sie muss aber relativ kurz nach dem zweiten Buch der Complementa fertig gestellt und, das legt die Titelgebung nahe, als Antwort auf eine vorangegangene Anfrage, die wohl von Peurbach ausging, verfasst worden sein. Terminus ante quem ist in diesem Falle das Jahr 1457, in dem Nikolaus sich im Dialogus de quadratura circuli klar von den Mathematischen Ergänzungen in ihrer Gesamtheit distanzierte. Ich gebe hier zunächst die fragliche Konstruktionsvorschrift und -skizze, wie sie im zweiten Buch der Complementa erscheint, wieder: Descripta quarta circuli et linea prima a centro ad principium arcus tracta, et secunda linea de contactu primae cum arcu orthogonaliter eiusdem quantitatis cum prima, et tertia a centro per finem, quae sit ut latus trigoni inscripti circulo, et quarta de fine secundae ad finem tertie. Si tunc de princiKonstruktionsskizze nach: CM, h 20, n 62, S. 122 (= p 2, pio quadrantis lineam fol. 76v) quintam duxeris ad quartam taliter, quod chorda, quae a contactu illius quintae, ubi curvam secaverit, ad finem totius quadrantis ducta, quae sit sexta linea, quintae fuerit aequalis, erit quinta minor quadrante quanta est medietas portionis eius cadentis inter curvam et quartam. Sit super ·a· centro quadrans ·be· descriptus et linea prima ·ab·, et secunda ·bc· angulum rectum cum ·ab· faciens aequalis eidem, et tertia linea, ·aed· ut latus trianguli inscripti, et quarta linea ·cd·. Trahe de ·b· lineam ad ·cd·, quae sit ·bg·, et ubi secaverit quadrantem ·be·, pone ·f·, et sit quinta linea. De ·f· trahe sextam, quae sit chorda ·fe·. Dico si ·fe· est ut ·bg·, tunc ·bg·
815
816 817
Dort: S. 14f. Der Nürnberger Druck ist maßgeblich für all jene mathematischen Stücke des Kusaners, die nicht in die Parisina aufgenommen wurden. Im Folgenden habe ich mich entsprechend auf diese Ausgabe gestützt. Dort: S. 1100f. Hofmann hat den Text auf der Grundlage der Nürnberger Edition übersetzt: MATH. SCHRIFTEN, S. 132–135.
261
4.5. Die Quadraturtraktate der 1450er Jahre est minor quadrante ·be· mediante ·fg·. Adde igitur mediatatem ·fg· super ·bg·, et sit ·gh· medietas ·fg·. Dico, ·bh· aequari curvae ·be·.818 ∩
Gemeint ist hier also Folgendes: Es sei ein Viertelkreis be um ·a· beschrieben, sowie die zugehörigen Radien ab und ae und eine (gleich lange) Strecke bc , die als halbe Seite des Umquadrats senkrecht auf ab angelegt ist. Der Radius ae wird zu Punkt ·d· hin verlängert, so dass ad genau der Seitenlänge des eingeschriebenen gleichseitigen Dreiecks entspricht. Schließlich werden die Punkte ·c· und ·d· miteinander verbunden. Ein Punkt ∩ ·f· wird nun auf dem Bogensegment be soweit verschoben, bis die Sehne ·fe· genau so groß wird wie die Sekante bg . In diesem Falle sollen dann die folgenden 1 2
∩
1 2
Verhältnisse gelten: bg + fg = bh = be(= πr) , mit dem bestimmenden Punkt ·g· auf cd . Dass Punkt ·f· (und damit natürlich auch ·g·) dabei elementar, also unter Beschränkung auf Zirkel und Lineal konstruierbar ist, hat bereits Hofmann gezeigt und sich dabei auf eine Beweisführung gestützt, die dem möglichen Kenntnisstand des Kusaners Rechnung trägt.819 Nach Elem. 3,32, dem euklidischen Satz über Sehnentangentenwinkel, muss nach Voraussetzung gelten: ∢ cbg = ∢ bef . Verlängert man bc nun bis zu einem Hilfspunkt ·x·, so dass bx = be , dann gilt (näherungsweise!) die Gleichheit der Dreiecke ∆bgx und ∆efb. Nach dem euklidischen Peripheriewinkelsatz in Elem. 3,20 lässt sich Punkt ·g· mit elementaren ∩ ∩ Hilfsmitteln auf xgb , dem zu bfe kongruenten Bogen, abtragen. Dass Nikolaus tatsächlich so vorgegangen ist, legt eine im Anschluss an die Kueser Handschrift der Complementa Mathematica im Cod. Cus. 219 auf fol. 66v angefügte geometrische Skizze,820 die mehr als die halbe Seite einnimmt, aber nicht in direktem Zusammenhang mit den vorausgehenden und nachfolgenden Textpassagen steht, nahe. Sie korreliert allerdings eindeutig mit dem erwähnten Ansatz aus den Mathematischen Ergänzungen und der Declaratio. Die Abbildung enthält, abgesehen von den Benennungen der wichtigsten Punkte an der Figur, keinerlei Beschriftungen oder Erläuterungen. Es ist deshalb sehr wahrscheinlich, dass die Skizze nicht zum Zwecke der Illustration angefertigt wurde. Es scheint sich vielmehr um eine Hilfszeichnung zu handeln, die einen interessanten Einblick in das Vorgehen des Kusaners bei der Entwicklung bzw. Überprüfung seiner Quadraturvorschriften eröffnet.
818 819 820
Cm, h 2, n 62, Z. 1–15, S. 121–122 = p 2, fol. 76v = MATH. SCHRIFTEN, S. 104f. MATH. SCHRIFTEN, S. 225, Anm. 60. Siehe nachfolgende S 262.
262
4. Die Quadraturtraktate
Schon die Größe der Abbildung und die Vielzahl von Hilfslinien machen es wahrscheinlich, dass der Kardinal seine Quadraturvorschrift aus dem zweiten Buch De mathematicis complementis an der Zeichnung durch Nachmessen zu verifizieren versuchte, oder aber den ganzen Ansatz vielleicht sogar durch reines Probieren zur leicht abgeänderten Fassung für die Declaratio hin modifizierte. Dabei scheint er für die Lagebestimmung von ·f· – wie von Hofmann vermutet – auf Elem. 3.32 zurückgegriffen haben, indem er bc zu einem (in der Skizze nicht ausdrücklich bezeichneten) Punkt ·x· erweitert hat, so dass bx = be . Man muss allerdings darauf hinweisen, dass das Nachmessen an der Figur zu sehr groben Hilfskonstruktion aus der Handschrift: CM, Cod. Cus. 219, Werten führt, so dass andefol. 66v re Deutungen der Abbildung nicht auszuschließen sind. In jedem Falle hätte Nikolaus aufgrund der Geringfügigkeit der Ungenauigkeit der mit seiner Regel zu ermittelnden Werte beim rein messenden Prüfen nicht aufgehen können, dass die Quadraturvorschrift die archimedischen Grenzen verletzt. Die Grundfrage hinter dem ganzen Ansatz ist nun, ob ·g· zur Bestimmung der Kreiszahl tatsächlich auf cd zu liegen kommen kann. Das wiederum lässt sich re∩
∩
lativ leicht überprüfen: Wenn man die Radien der zu xgb und bfe gehörigen Vollkreise mit Variable r kennzeichnet, dann ist nach Hofmann bg = ef = 1,1580r und zugleich fg = 0,8237r und bh = 1,5699r . Setzen wir den gerundeten Wert der ∩
Kreiszahl ein zu be ≅ 1,5708r dann offenbart sich die Grobheit der cusanischen Konstruktion, die noch außerhalb der archimedischen Grenzen liegt. Tatsächlich müsste demnach Punkt ·g· deutlich rechts von cd angesetzt werden.
4.5. Die Quadraturtraktate der 1450er Jahre
263
Nikolaus muss von der Qualität des Ansatzes sehr überzeugt gewesen sein. Noch in den mathematischen Ergänzungen verändert er die Grundkonstruktion hin zu einigen Näherungsvarianten, die zum Teil sogar zu sehr befriedigenden (sprich: innerhalb der archimedischen Grenzen liegenden) Ergebnissen führen.821 Schließlich wird er dann den ursprünglichen Ansatz als Exzerpt in den Hauptsatz der Declaratio einfließen lassen. Was allerdings die Beweisführung anbelangt, bleiben die entscheidenden Fragen offen: Nikolaus konzentriert sich in seinen Überlegungen zunächst auf die Ermittlung funktionaler Zusammenhänge zwischen den beteiligten Bögen und Strecken, offensichtlich in der Hoffnung, damit bereits den notwendigen Plausibilitätsbeweis erreichen zu können. Zunächst setzt er dabei voraus, dass fg + ef − bg = ef − bf 822 um schließlich eine Relation medium bg + ef + fg ef − bf = bg + zu bestimmen, die er in Beziehung zur Sehnendiffe2 2 renz ef − bf setzen will. Dabei soll zwischen dem medium und dem Sehnenunter-
mit
schied eine direkte Proportionalität herrschen, was im fraglichen Abschnitt der Konstruktion tatsächlich zutreffend ist (wenngleich Nikolaus bei der Bestimmung des Funktionsminimums schlussendlich erhebliche Ungenauigkeiten unterlaufen). Die nachfolgenden Überlegungen dienen ausschließlich dazu, diese funktionale Abhängigkeit grundsätzlich zu beweisen und näher zu bestimmen. Auf die entscheidende Frage aber wird zunächst nicht eingegangen, nämlich ob, und, wenn ja, warum Punkt ·g· auf der Strecke ce liegen muss (was unter den gegebenen Bedingungen ja nicht zutrifft). Wieder ist es eine elementare, hier in einer anschließenden Variante des Ansatzes angeführte Zwischenwertbetrachtung, die die notwendige Begründung indirekt liefern soll, aber, wie Hofmann dargestellt hat, ziemlich naiv geführt wird.823 Trotz der Grobheit der Näherung und der sehr fragmentarischen Beweisführung: Bemerkenswert ist der ganze Ansatz doch, denn er zeigt, dass Nikolaus spätestens mit der Schrift Über die mathematischen Ergänzungen zunehmend bemüht war, seine heuristisch aufgefundenen Ansätze nachträglich ‚funktional‘ zu fassen. Dabei kann er zwar auf fragwürdige Konzepte wie den Zwischenwertsatz nicht vollständig verzichten. Er beweist aber insgesamt ein sehr gutes Gespür für funktionale Zusammenhänge und die Notwendigkeit, in der Quadraturfrage von statischen Verhältnis- zur Bestimmung von Entwicklungssätzen zu kommen. Dieses Bestreben sollte sich dann auch in den nachfolgenden Quadraturversuchen fortsetzen.
821 822
823
MATH. SCHRIFTEN, S. 226f., Anm. 64 u. 71. Die Strecke fg zwischen dem Bogen und Strecke cd bezeichnet Nikolaus dabei durchgängig als ‚Abschnitt‘. MATH. SCHRIFTEN, S. 226, Anm. 62–65.
264
4. Die Quadraturschriften
4.6. NEUE EINFACHHEIT. DIALOGUS DE CIRCULI QUADRATURA Erst 1457 trennt sich Nikolaus endgültig von den in den Mathematischen Ergänzungen entwickelten Ansätzen, denen er nun mit einem Dialogus de circuli quadratura einen ganz neuen und einfachen Ansatz hofft entgegensetzen zu können. Nach den Rückschlägen, die er mit De mathematicis complementis und den mit dieser Abhandlung verbundenen Nachfolge- und Ergänzungsschriften erlitten hatte, scheint er sich auf die eigene Programmatik, die Forderung nach struktureller Klarheit und Verständlichkeit besonnen zu haben. Die Rückkehr zum Primat, die Kreisquadratur formula facili zu erreichen, hat er dabei auch formal untermauert. Kein anderer der uns bekannten mathematischen Traktate des Kusaners ist in Dialogform verfasst worden. Hierin erschließt sich aber das neue Programm des in der Folgezeit der Mathematischen Ergänzungen: Die Rückwendung zum Prinzip der Einfachheit trägt einer neuen Konzeption des Rezipienten auch in didaktischer Hinsicht Rechnung: Der ‚Laie‘ ist spätestens seit den drei IdiotaSchriften das neue Erkenntnisideal. Es erscheint nur konsequent, wenn Nikolaus diese neue Ausrichtung seiner Lehre auch in seinen mathematischen Versuchen berücksichtigt. Natürlich schreibt Nikolaus dabei nach wie vor in erster Linie für den Fachmann. Der Entwurf des Laien in den Abhandlungen zum Idiota ist in hohem Maße ideell und bezieht sich vor allem auf eine geistige Grundhaltung, in der das menschliche Denken, befreit von jeglichem dogmatischem Vorwissen und so gewissermaßen auf die Bedingungslosigkeit von ratio und intellectus zurückgeworfen, für Vernunftargumente besonders zugänglich ist. Das grundlegende Verfahren des Dialogus verweist in der Einfachheit der Konstruktionsvorschrift entsprechend nicht mehr auf die in ihrem universalen Anspruch so ehrgeizigen Quadraturversuche der Zeit nach 1450, sondern zurück auf die frühen Quadraturversuche in den Geometrischen Verwandlungen und ihren Arithmetischen Ergänzungen, die ja, und das wird Nikolaus sicher nicht entgangen sein, im Ergebnis sogar deutlich besser ausgefallen waren, als seine späteren Abhandlungen. Der zentrale Gedankengang des Dialogus ist entsprechend schnell dargelegt: Zu einem gegebenen Ausgangskreis, der das Sehnenquadrat mit Seitenlänge bc = r1 2 einschließt, soll das gleichseitige isoperimetrische Dreieck gefunden werden. Si chorda quadrantis dati circuli fuerit addita semidiametro eiusdem, oritur diameter circuli circumscripti trigono isoperimetro circumferentiae 824 dati circuli.
824
DQ, h 20, n 3, Z. 2–4, S. 163 = n, S. 10 = MATH. SCHRIFTEN, S. 143.
4.6. Neue Einfachheit. ‚Dialogus de circuli quadratura‘
265
Nikolaus vermutet nun, allerdings ohne reichende Begründung, der Umkreisdurchmesser des gesuchten Dreiecks müsse in der Summe der Seite des Sehnenquadrats und dem Radius des Ausgangskreises mit r1 =
bc zu finden sein. 2
Der Durchmesser des Umkreises d2 zum isoperimetrischen Dreieck mit 1 3
der Seitenlänge 1 bc soll also bestimmt werden zu: d 2 (= 2r2 ) = r1 (1 + 2) .
Abbildung zum Quadraturverfahren nach: DQ, h 20, n 3, S. 164 (= b, S. 1096)1
Hieraus nun lässt sich die Seitenlänge des zum Ausgangskreis isoperimetrischen Dreiecks bestimmen mit ik = d 2 3 . Nach Einsetzen ergibt sich damit der Umfang des Sehnendreiecks zu: 1+ 2 1+ 2 27 + 54 = 9 3r1 ⋅ = r1 ⋅ = 2π⋅ r1 2 2 2 1 Das Ergebnis ist mit π = ( 27 + 54) = 3,13615... sogar noch erheblich 4 U = 3d 2 3 = 3 3r1 ⋅
schlechter, als das der vorangegangenen Complementa. Was Nikolaus an ‚Beweisen‘ vorzubringen hat, ist überaus dürftig. An keiner Stelle der Schrift wird die Richtigkeit der Behauptung d 2 (= 2r2 ) = r1 (1 + 2) ernsthaft in Frage gestellt. Wie so oft greift Nikolaus auf eine Zwischenwertbetrachtung zurück, um die Richtigkeit seines Ansatzes zu untermauern. Er konstruiert (auf der Grundlage der Abbildung oben rechts) zwei Grenzlagen von ·b· gegen am . Für die Strecke bn = x1 gilt nun x1 (1 + 2) < d2, für Strecke bo = x2 dagegen x1 (1 + 2) > d2. Dies nun genügt Nikolaus schon für die Begründung eines Existenzsatzes ∨ x → x(1 +
1 ) = d 2 . Nun gilt es natürlich, 2
zu zeigen, dass es für diese Gleichung nur die folgende Lösung geben kann: x = r 2 . Allein durch den Abgleich mit den archimedischen Grenzen hätte Nikolaus auffallen können, dass dieser Wert unmöglich richtig sein kann.825 Immerhin 825
Hierzu: MATH. SCHRIFTEN, S. 241, Anm. 10 u. 11.
266
4. Die Quadraturschriften
aber entwirft er zur Stützung seiner Vermutung ein recht interessantes indirektes Verfahren.826 Nikolaus’ Ausführungen sind hier sehr umständlich formuliert. Hofmann hat sie daher in eine überschaubare Form gebracht. Im Kern läuft der ganze Ansatz auf eine Grenzwertbetrachtung der folgenden Art hinaus:827 Lässt man die Annahme gelten, dass für x 0 (1 + keine
Gültigkeit
hat,
so
sollen
die
1 ) = d 2 die Lösung x 0 = r 2 2
Lösungen
für
die
Gleichung
k +1 xk + x k = d 2 + kr1 mit k = 0,1,2,3... ausgehend von x0 stetig dem folgenden 2
Grenzwert zustreben:
limx k →∞
k
=r 2
Nikolaus schließt nun in unzulässiger Weise von der so postulierten Eigenschaft des Grenzwertes auf die gesamte arithmetische Folge und glaubt, x k = r 2 induktiv für alle x hinreichend bestimmt zu haben. Die ganze Beweisführung ist ein logischer Zirkelschluss, in dem beständig vorausgesetzt wird, ja werden m u s s , was doch eigentlich Gegenstand des Beweises sein sollte. Der im Dialogus durch Toscanelli vorgebrachte Einwand, man könne sagen, dass der Punkt ·p· zwischen ·n· und ·c· liegt, und dass die Strecke bp zusammen mit der ihr entsprechenden Quadratseite gleich dem Durchmesser des besagten Umkreises wird, weist dabei in die richtige Richtung, wenngleich der gesuchte Punkt in Wahrheit auf der Grundlage der cusanischen Vorgaben außerhalb des Kreises, also oberhalb von ·c· (in der Abbildung rechts oben) liegen muss.828 Zwar hat Nikolaus Recht, wenn er annimmt, dass vor dem Punkt ·c· (d.h. für __ __ ) die der Quadratseite entsprechende Strecke immer__ kleiner ist als ap < ab alle __ 829 . Dass dann aber zwangsläufig für die richtige Strecke bq gelten muss ab __ __ bq⋅ 2 = ab wird nirgends begründet und ist tatsächlich falsch. Damit ist zugleich der Versuch, mittels des direkten Grenzübergangs die Richtigkeit des Ansatzes zu beweisen, gescheitert. Wohlgemerkt: An der Grundüberlegung ist nichts auszusetzen. Tatsächlich gibt es eine Strecke ausgehend von · b· gegen am , für die gilt: Wenn man ihr eine Strecke anfügt, die sich zur Ausgangsstrecke verhält wie die Quadratseite zur Diagonale, dann ist die neue Strecke gleich dem Durchmesser des Umkreises an dem zum gegebenen Kreis isoperimetrischen Dreieck.830 826 827 828
829
830
MATH. SCHRIFTEN, S. 241, Anm. 11. Ebd. DQ, MATH. SCHRIFTEN, S. 147 = h 20, n 7, Z. 4–5, S. 166 = n, S. 11: […] quod punctus cadat inter ·n· et ·c·, qui ponatur esse ·p·, et quod linea ·bp· cum costa aequetur diametro dicti circuli circumscripti. DQ, MATH. SCHRIFTEN, S. 148 = h 20, n 8, Z. 18, S. 167 = n, S. 11: […] cum ante ·c· punctum costa semper sit minor ·ab·. DQ, MATH. SCHRIFTEN, S. 144 = h 20, n 4, Z. 2–5, S. 164 = n, S. 10f.: Dico non dubium de ·b· ad ·am·lineam aliquam posse lineam duci, quae sic se habet, quod si ei additur alia linea, quae se habeat ad ipsam sicut costa ad diametrum quadrati, exsurgat linea aequalis diametro circuli circumscripti trigono isoperimetri || dati circuli.
4.6. Neue Einfachheit. ‚Dialogus de circuli quadratura‘
Die der Strecke ab = r1 anzufügende Strecke beträgt aber, wenn bx · (1 +
267 1 )= 2
2r3 gelten soll, 0,417r1 + 1, 417 : 2r1 ≈ 1, 4189r1 > 2r1 ≈ 1, 41421r1 . Der gesuchte Punkt ·c· liegt also entgegen der von Nikolaus so nachdrücklich vertretenen Auffassung nicht auf der Kreisperipherie, sondern tatsächlich etwas darüber, denn es ist ac ≈ 1,006616r . Damit gilt natürlich zugleich, dass, will man auf der Ergänzungsstrecke r 2 beharren, ab über die Kreisperipherie hinaus verlängert werden muss, so dass gilt: ab ≈ 1,00469r . Dann wiederum liegt Punkt ac ≈ 0,99528r zugleich deutlich unterhalb der Kreisperipherie. Ist es denkbar, dass Toscanelli die geringe Qualität des ganzen Ansatzes übersehen und dem Verfahren, wie es der cusanische Dialogus vorgibt, zustimmend gegenüber gestanden haben könnte? Das ist nicht sehr wahrscheinlich. Genauso unwahrscheinlich ist es, dass Nikolaus, der in Toscanelli stets die in mathematischen Fragen übergeordnete Kompetenz sah, das Ganze gegen etwaige Einwände Toscanellis, die, würde der Dialogus auf einer tatsächlichen Unterredung beruhen, wohl kaum hätten ausbleiben können, noch zu Papier gebracht haben könnte. Der Dialog ist, entgegen der früheren Einschätzung Hofmanns,831 mit großer Sicherheit reine Fiktion. Wichtiger aber ist, dass die Schrift im Vergleich zu den vorangegangenen Schriften Quadratura circuli und De mathematicis complementis, trotz der diesen anhaftenden methodischen Mängel, in Bezug auf die Güte des dargebotenen Quadraturverfahrens deutlich abfällt. Dass der ganze Ansatz von der Gültigkeit des Grenzwertes
lim x k →∞
k
=r 2
und der Zulässigkeit des indirekten Schlusses abhängt, ist Nikolaus aber immerhin bewusst gewesen. Er hat sich deshalb diesem Fragenkomplex in seiner kritischen Revision des Dialogus noch einmal gewidmet. Dabei fügte der Kardinal dem Text einige über die konkrete Problemstellung der Quadraturansatzes hinausweisende Überlegungen an, die leider in den späteren lateinischen Drucklegungen fehlen. Den in mathematikphilosophischer Hinsicht so aufschlussreichen Epilog zum Dialog über die Kreisquadratur hat Nikolaus selbst geschrieben. Er findet sich in der Fassung des Dialogs in der Vaticana (Ottob. lat. 1870, fol. 166r–v).832 Die Toletaner Handschrift des Dialogs hat 831
832
MATH. SCHRIFTEN, S. 240, Anm. 1. In späteren Abhandlungen deutet Hofmann allerdings an, der Dialog könne wohl doch nicht auf einer tatsächlichen Zusammenkunft der beiden Gesprächspartner beruhen: Joseph Ehrenfried Hofmann: Nikolaus von Kues – Der Unwissend-Wissende, S. 262. Der umfangreiche Text befindet sich, auf zwei Randbemerkungen verteilt, auf fol. 166v des Vatikanischen Codex. Der bedeutend längere Teil dieser nachträglichen Ausführungen ist auf dem genannten Blatt unterhalb des Textes und der geometrischen Figuren angefügt. Hierzu: Reinhardt, Unbekannte Handschrift, S. 128.
268
4. Die Quadraturschriften
diese nachträglich eingefügten Überlegungen berücksichtigt und in den eigentlichen Text eingebunden.833 Nikolaus beginnt seine Reflektionen mit einigen Erläuterungen zu seinem indirekten Schlussverfahren aus dem Dialogus. Zum ersten Mal innerhalb der bekannten Quadraturschriften macht er dabei die prinzipielle Annahme einer unendlichen Approximation zur Grundbedingung seines Vorgehens, ohne auf den Begriff der Koinzidenz auszuweichen: Punctus stat in hoc, scilicet in p r o c e s s u i n i n f i n i t u m ; nam si est punctus ille, ad quem linea de ·b· ducta cum costa sic se habet, quod si costas infinitas addideris, non secus feceris, quam si ·ba· infinities ad diametrum circumscripti trigono isperimetri addideris. Clarum est tunc lineam cum costa equari diametro circumscripti et costam equari ·ba·, et erit ·c· punctus.834
In inhaltlicher Hinsicht bieten diese Ausführungen gegenüber der ursprünglichen Fassung des Dialogus nichts wesentlich Neues. Die Einbindung der Formel vom infiniten Prozess aber ist einmalig im mathematischen Schaffen des Kusaners. Wo Nikolaus zuvor aus dem erkenntnisphilosophischen Impräzisionsprinzip die Inkommensurabilität der für die Kreismessung maßgeblichen Größen ableitete, da bezieht er nun den Unendlichkeitsbegriff stärker in einen konkret mathematischen Kontext ein. Nikolaus nimmt in diesem Zusammenhang auch Bezug auf De mathematicis complementis: […] inter capacissimam et incapacissimam cadere possint infinitae poligoniae.835 Hierauf folgt nun die aufschlussreiche Wendung: Quantitas autem, qu[a]e non potest esse minor, non est quantitas, sed punctus.836 Gemeint ist, dass die vollständige Ausrundung des Polygons voraussetzt, dass der Überschuss des Umkreises über die Polygonseite nicht mehr verkleinert werden kann, also punktförmig wird. Hierbei bleibt Nikolaus aber nicht stehen. Der ‚Punkt‘, auf den er Bezug nimmt, ist nicht allein eine abstrakte Grenzlage des Größenbegriffs. Ihm soll vielmehr ausdrücklich dem im Dialogus zur Bestimmung der Kreiszahl herangezogene Punkt c ‚in concreto‘ entsprechen: Sic linea ·bc· non est aliqua quantitate maior quam illa, quae quaeritur.837 Wie unbegründet dieses zuversichtliche Fazit war, sollte sich schon bald zeigen.
833
834
835
836
837
Cod. To. 19–26, fol. 192v. Eine vollständige Transkription der Textstelle findet sich bei: Reinhardt, S. 127 sowie in DQ, h 20, n 12–15, S. 169. DQ, Cod. Vat. Ottob. lat. 1870, fol. 166v = h 20, n 12, Z. 1–6, S. 169 = Cod. To. 19–26, fol. 192v = ed. Reinhardt, S. 127. DQ, Cod. Vat. Ottob. lat. 1870, fol. 166v = h 20, n 14, Z. 6–7, S. 169 = Cod. To. 19–26, fol. 192v = ed. Reinhardt, S. 127. DQ, Cod. Vat. Ottob. lat. 1870, fol. 166v = h 20, n 12, Z. 10–11, S. 169 = Cod. To. 19–26, fol. 192v = ed. Reinhardt, S. 127. DQ, Cod. Vat. Ottob. lat. 1870, fol. 166v = h 20, n 12, Z. 11–12, S. 169 = Cod. To. 19–26, fol. 192v = ed. Reinhardt, S. 127.
4.7. Regiomontans Stellungnahmen
269
4.7. DER ‚LÄCHERLICHE GEOMETER‘. REGIOMONTANS STELLUNGNAHMEN UND EIN UNBEKANNTER TRAKTAT Johannes Regiomontanus, der Nikolaus’ Quadraturtraktate nach dessen Tod 1464 eingehend gesichtet hatte, widmete dem Dialog über die Quadratur des Kreises eine eigenständige Schrift. Regiomontanus ist in dieser kritischen Studie den nächstliegenden Weg gegangen: Er hat den Ansatz anhand der archimedischen Grenzen überprüft und so die Mangelhaftigkeit der Quadratur-, bzw. Triangulaturregel feststellen können. Die mathematischen Einzelheiten des Gegenbeweises sind nicht weiter von Belang. Bemerkenswert aber ist, dass Regiomontan bei der schriftlichen Ausarbeitung seiner Überprüfung die dialogische Struktur als formale Vorgabe übernommen hat. Der kritische Editor lässt den mathematischen Diskurs in parodierender Absicht durch Aristophilus und Critias838 führen. Diese Form der Satire ist im Vergleich zum späteren, geradezu vernichtenden Urteil, Nikolaus sei
838
Die Absicht, die hinter dieser Wahl der Dialogpartner steht, ist nicht ganz eindeutig auszumachen. Critias (um 460–403 v. Chr.), Athenischer Staatsmann und ranghohes Mitglied der pro-Spartanischen ‚30‘, die in den Jahren 404/403 v. Chr. in Athen ein oligarchisches Regime installierten, war ein Vetter zweiten Grades Platons und neben seinem politischen Engagement auch als Philosoph und Rhetoriker tätig. Keine seiner Schriften ist vollständig erhalten geblieben. Es ist allerdings denkbar, dass Platon die Dialogform als didaktisches Vehikel direkt von Critias übernommen hat. Möglicherweise hat Regiomontanus durch Einführung des Critias-Charakters schlicht auf die für einen mathematischen Traktat recht ungewöhnliche Dialogform verweisen wollen. Wahrscheinlich war aber ein anderes, textimmnentes Kriterium ausschlaggebend: Platon selbst lässt den Vetter in vier Dialogen auftreten, in der Lysis, dem Charmides, dem Timaios und im Critias-Fragment. Im Timaios (20A) nun nennt Platon Critias einen „Laien unter den Philosophen“ und „Philosophen unter den Laien“. Da wir annehmen können, dass der Skeptiker Critias als ‚Alter ego‘ von Regiomontanus eingeführt wird, hätten wir es hier wohl mit einem Stück formaler Selbstbescheidung zu tun. Die zweite Figur des Dialogs ist ungleich schwieriger auszudeuten. Bekannt ist, dass sich Bartolomeo Manfredi, zwischen 1481 und 1485 Bibliothekar der Vatikanischen Bibliothek, den humanistischen Beinamen Aristophilus („bester Freund“) gab. Der bekannte Humanist unterhielt Kontakte zu Antonius Gratia Dei (†um 1492), dem in seiner amtlichen Legitimation nicht unumstrittenen Abt der Benediktinerabtei Admont. Aus Admont stammt auch die Oxforder Handschriftensammlung Cod. Lyell. 52, die sich einige Zeit im Besitz des Kusaners befand und einige bedeutende mathematisch-naturwissenschaftliche Abhandlungen enthält. Offensichtlich unterhielt auch Cusanus gute Beziehungen zu den Admonter Mönchen. Es ist denkbar, dass Aristophilus über dieses Beziehungsgeflecht selbst mit den cusanischen Quadraturtraktaten in Berührung kam. Immerhin ist der Dialogus auch in einer vatikanischen Handschrift erhalten: Cod. Vat. Lat. Ottob. 1870, fol. 166r–v. Die von Nikolaus selbst angefertigte Handschrift stammt allerdings ursprünglich aus der Bibliothek des Arztes Pier Leoni. Sollte Regiomontanus in seinem Dialog tatsächlich auf den Manfredi Bezug nehmen, so muss man annehmen, dass die Schrift ursprünglich für diesen, und erst in zweiter Linie für Toscanelli bestimmt war.
270
4. Die Quadraturschriften
ein geometer ridiculus gewesen, der die Wissenschaft mit seinen Exkursen in die konkrete Mathematik kein Stück vorangebracht habe,839 weitaus feinsinniger. Regiomontanus ist, und dies zeigt sich in seiner Bearbeitung des Dialogus überaus deutlich, bei seiner Sichtung der cusanischen Quadraturtraktate mit bemerkenswerter Ausdauer und Sorgfalt zu Werke gegangen, obwohl seine fachliche Einschätzung der cusanische Beiträge zur exakten Mathematik insgesamt geradezu niederschmetternd ausgefallen sind. Der junge Mathematiker verfasst seine Einsprüche allerdings zu einem Zeitpunkt, in der die cusanische Schriften insgesamt noch gut bekannt sind und sogar auf wachsendes Interesse vor allem seitens humanistischer Kreise stoßen, was nicht zuletzt auch zur vierfachen Drucklegung seiner Werke zwischen 1502 und 1565 führen sollte. Von der späteren ‚damnatio memoriae‘840 der cusanischen Opera ist hier noch wenig zu spüren. Dem hervorragenden Ruf, den sich Nikolaus als Theologe und Philosoph erworben hatte, galt es daher Rechnung zu tragen. Zudem fanden die mathematischen Schriften des Kusaners in Toscanelli und Peurbach, dem langjährigen Lehrer Regiomontans, zwei prominente Rezipienten innerhalb der mathematischen Zunft. Vor allem Nikolaus’ enge Freundschaft mit Toscanelli, dessen Autorität Regiomontanus seinerseits nicht weniger Respekt entgegengebracht hat als Nikolaus, und dem er seine Bearbeitungen der cusanischen Kreisrechnung übermittelte, dürften für das mitunter recht vorsichtige Vorgehen des jungen Mathematikers ausschlaggebend gewesen sein. Bezeichnenderweise finden sich die schärfsten Anwürfe Regiomontans gegen Nikolaus daher auch nicht in den ausführlichen Analysen, die in den Nürnberger Druck der Werke Regiomontans übergegangen sind, sondern in der Privatkorrespondenz des Mathematikers: Die Formel vom lächerlichen Geometer, zu der Regiomontanus in seiner Verärgerung über die Unzulänglichkeiten der cusanischen Verfahren gelangt, entstammt einem Brief an Christian Roder vom Juli 1471. Zwar hatte Regiomontanus beim Verfassen des Schreibens sicherlich, im Geiste der offenen humanistischen Briefform, die Verbreitung seiner recht harschen Kritik an einen breiteren Adressatenkreis von Fachleuten im Auge. In den vorangegangenen, den späteren Drucken zugrundeliegenden Stellungnahmen zur cusanischen Kreisquadratur, die in Form und Umfang einen weitaus ‚offizielleren‘ Anspruch erhoben, hat er ein derart scharfes Urteil aber nicht gewagt. Auch hat er das eigentliche Ansinnen des Kusaners, in seinen Quadraturversuchen die Koinzidenzlehre mathematisch fruchtbar zu machen, keineswegs übersehen. In seinem Brief an Roder bringt Regiomontanus Ni-
839
840
Brief des Johannes Regiomonte an Christian Roder (datiert 4. Juli 1471), ediert in: Maximilian Curtze: Der Briefwechsel des Regiomontan mit Giovanni Bianchini, Jacob von Speier und Christian Roder (= Abhandlungen zur Geschichte der exakten Wissenschaften 12), Leipzig 1902, S. 329: Nicolaus autem Cusensis cardinalis, geometra ridiculus Archimedisque aemulus, quantas ostendabundus nostra tempestate invexit nugas? Eine detaillierte Darstellung der Rezeptionsgeschichte liefert die Dissertationsschrift von: Stephan Meier-Oeser: Die Präsenz des Vergessenen. Zur Rezeption der Philosophie des Nicolaus Cusanus vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, Münster 1989 (= Buchreihe der CusanusGesellschaft 10).
4.7. Regiomontans Stellungnahmen
271
kolaus mit Lull in Verbindung,841 was deutlich zeigt, dass er auch den philosophisch-theologischen Kontext der cusanischen Quadraturen kannte. Regiomontans Analysen bieten nicht nur einen wertvollen Ausgangspunkt für den Nachvollzug der cusanischen Quadraturen. Wir verdanken ihm auch die Kenntnis eines heute verlorenen Quadraturtraktats des Kusaners, die er im Juni 1464 eingehender studiert hatte.842 Die dem Text zugrundeliegende Rechenvorschrift lässt sich nicht eindeutig auf eine der bekannten Quadraturregeln des Kusaners zurückführen, so dass es sich wohl weder um eine textliche Variante noch um einen bisher unbekannten Abschnitt der dem Kardinal zuzuschreibenden mathematischen Traktate handelt. Wie schon bei seiner Analyse des Dialogus gibt Regiomontanus den Urtext leider nicht vollständig wieder, sondern beschränkt sich auf die Zusammenfassung des in seinem Urteil mathematisch Essentiellen. Zumindest der folgende Abschnitt der Abhandlung, der offensichtlich die eigentliche Quadraturregel beinhaltet, dürfte direkt und mehr oder minder unverändert aus dem cusanischen Urtext übernommen worden sein: Esto circulus propositus ·abc· super centro ·d· descriptus, a cuius diametro ·am· aeque velociter moveri intelligantur duae semidiametri ·db· et ·dc·, haec quidem versus dextram, illa autem versus sinistram. Iamque sint transmotae ad eum situm, ubi ·b· et ·c· puncta aequaliter ab ·a· puncto distent. Ductaque corda ·ac· et linea ·ae· ei aequali, super puncto ·e· facto centro secundum quantitatem ·ea· describatur circulus, cuius circumferentia secet semidiametrum quidem ·db· in puncto ·f·, de autem continuatam in ·g·, ita ut ·df· sit subdupla ad ·dg·. Dicitur, quod triangulus aequilaterus inscriptus circulo habenti semidiametrum ·dg· aequicircummensuretur circulo ·abc· (videlicet habeat ambitum aequalem circumferentiae circuli ·abmc·).843
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843
Brief an Christian Roder, S. 329: Quippe qui plurimos quadrabilis circuli modos edidit frivolos penitus et non nisi Lullianis quibusdam suas iunculis initentes. RN, (im angehängten Abschitt De quadratura circuli D. Nicolai de Cusa, Cardinalis, Legati, Episcopi Brixinensis) S. 60–82 = ed. Schmeidler, S. 476–498. Der Hinweis auf die Urheberschaft des Kusaners findet sich in griechischer Sprache in der Überschrift auf S. 67 = ed. Schmeidler, S. 483. Der Text besteht zum großen Teil aus detaillierten Berechnungen von Regiomontanus zur Probe des Quadraturverfahrens (beginnend auf S. 67). Bereits Paul Schanz hat auf das nämliche Stück verwiesen, sich aber nicht näher mit den Einzelheiten auseinandergesetzt: Schanz, S. 22. RN, S. 61 = ed. Schmeidler, S. 477. Die entsprechende Textstelle wird auch wiedergegeben in: Joseph Ehrenfried Hofmann: Über Regiomontans und Buteons Stellungnahme zu Kreisnäherungen des Nikolaus von Kues, in: MFCG 6, Rudolf Haubst (Hg.), Mainz 1967, S. 124– 154, hier: S. 138. Regiomontanus hat diese Ausführungen bei seinen Berechnungen im zweiten Teil des Textes, wahrscheinlich um die Verständlichkeit des Gedankens zu verbessern, etwas umformuliert: RN, S. 67 = ed. Schmeidler, S. 483 = Hofmann: Stellungnahme, S. 139. Diese veränderte Fassung lautet wie folgt: Dispositio: Sit circulus abmc super d descriptus, cuius diameter am. Duae autem semidiametri eius ·db· et ·dc· incoeperint simul moveri ab ·a· puncto recedendo, haec quidem versus dextram, illa vero versus sinistram; motus earum sit aeque velox. Iamque traductae sint ad talem situm, ut ducta corda ·ac· et linea ·ae· sibi aequali, super ·e· facto centro secundum quantitatem ·ea· describatur circulus, cuius circumferentia secet semidiametrum quidem ·db· in puncto ·f·, ·dc· autem continuatam in ·g·, ita ut ·df· sit subdupla ad ·dg·. Dicitur, quod triangulus aequilaterus inscriptus circulo, cuius semidiameter ·dg·, sit isoperimeter circulo ·abmc·.
272
4. Die Quadraturschriften
Die detaillierten Berechnungen Regiomontans können an dieser le vorläufig übergangen werden. Es genügt, sich die Unzulänglichkeit des Verfahrens anhand einer von Hofmann ausgeführten Hilfs-betrachtung vor Augen zu führen. Diese entspricht zwar nicht in allen Einzelheiten der cusanischen Vorgabe, läuft aber im Ergebnis auf das gleiche Verfahren hinaus. Zunächst setzt Hofmann ∢eac = ∢adc = 2ϕ . Damit gilt: ac = ae = ef = sin ϕ . 1 Mit de = cos 2ϕ − lässt sich nun 2 auch Strecke df bestimmen. Diesen Zur Näherungskonstruktion für ∢acd ≈ 20°32’48’’ nach: RN, S. 61
Rechenschritt, der einige trigonometrische Umformungen verlangt, übergeht Hofmann. Der Vollständigkeit und Verständlichkeit wegen sei er hier zusammenfassend dargestellt: Um die gesuchte Strecke zu bestimmen, kann ein weiterer Winkel im Dreieck ∆ eaf angegeben werden: sin γ =
cos 2ϕ⋅ sin 4ϕ cos 2ϕ⋅ sin 4ϕ , also γ = arcsin( ). sin ϕ sin ϕ
Nun können wir durch Einsetzen den dritten Winkel formal bestimmen zu: cos 2ϕ⋅ sin 4ϕ . sin ϕ
α = 180° − 4ϕ −
Hieraus ergibt sich:
cos 2ϕ ⋅ sin 4ϕ sin ϕ ⋅ sin 180° − 4ϕ − sin ϕ df = sin 4ϕ
.
Wird der Halbmesser des Ursprungskreises gleich da =
1 gesetzt, so sind so2
wohl die Seitenlänge des isoperimetrischen Dreiecks wie auch hinsichtlich der 1 2
Vorbedingungen des Kusaners die Strecke dg = cos 2ϕ + sin ϕ + =
π . Diese 3 3
Bedingung wird aber, wie Hofmann zeigt, nur für einen Winkel hinsichtlich der regula sinnvoll erfüllt, und dies ist ∢acd ≈ 20°32’48’’.
273
4.7. Regiomontans Stellungnahmen
Wir erhalten nach Einsetzen von 2ϕ = 40°64’96’’: und zugleich df ≈ 0, 27928 1 π df < dg = ≈ 0, 60460 . Die 2 3 3 Konsequenz ist klar: Die regula ist unter den genannten Bedingungen nicht erfüllt, die Grundbedingun1 2
gen df = dg und dg =
π sind 3 3
nicht vereinbar. Auch Regiomontanus kommt zum nämlichen Schluss, hat aber mit der Vorlage zunächst offensichtlich erhebliche Schwierigkeiten, wie die sich an den Haupttext anschließenden Hilfsrechnungen zeigen. Der kritische Analytiker beweist bei seiner Wahl von geeigneten Variablen für den Hinlänglichkeitsbeweis nicht immer eine glückliche Hand.844 So beginnt er seine Proben am Kreissegment mit einem Öffnungswinkel ∢adc von 36°.845 Es ist aber leicht einzusehen, dass die Dreiecke ∆edf und ∆ace kongruent sind, da für 2ϕ = 36° in de = cos 2φ − und
ef = ac = ae = sin ϕ
cos36° −
1 846 = sin18°(≈ 0,30901...) . 2
1 2
846
1 dg 2
gilt:
einzusehen, dass df < dg , da ja, auf-
845
RN, S. 67. Hier gilt nun: df
dg 2
Hier und im Folgenden: Hofmann: Stellungnahme, S. 139. RN, S. 67 = ed. Schmeidler, S. 483. Die Kongruenz der genannten Dreiecke wird von Hofmann bereits vermerkt. Die zugehörigen Rechnungen hat er allerdings übergangen: Hofmann: Stellungnahme, S. 139.
274
4. Die Quadraturschriften
grund
unseres
ce < sin ϕ
Kongruenznachweises,
und
damit
wegen
1 847 dg = cos36° − + sin18° = 2sin18° und eg > ec notwendig 2 ce < dg ist. Regiomon2 __
__
__
__
tanus führt schließlich seine Berechnungen auf der Grundlage 2ϕ = 54 ° fort und gelangt erneut nur mit einigem Aufwand zum richtigen Ergebnis, dass in diesem __
1 2
__
Fall für den Winkel ∢adc = 54° notwendig df > dg ist. Dies ist unter Einbeziehung der vorangegangenen Berechnungen klar, da für 2 ϕ = 54° gilt: cos54° −
1 = sin 27° ≈ 0, 453990... 2
__
__
Damit ist zugleich ce = r − de ≈ 1 − 0, 452990 = 0,54601 bestimmt. Da nun nach __
__
__
1 2
__
Voraussetzung gelten soll df = ce , ist df > dg . Leider geben uns die zusammenfassenden Ausführungen Regiomontans keinen klaren Aufschluss darüber, wann genau die ursprüngliche Schrift entstanden ist. Methodisch fühlt man sich an die frühen Quadraturtraktate erinnert, im Besonderen an die Schrift über die Geometrischen Verwandlungen. So wie dort wird auch hier im unbekannten Traktat ein Verfahren mittels (in diesem Fall sogar recht umständlichen) ‚Durchprobierens‘ entwickelt. Die Darstellung bei Hofmann weist darüber hinaus auch in konstruktiver Hinsicht deutliche Parallelen zum zweiten Ansatz der Transmutationes von 1445. Auch dort wird ja an zwei voneinander abhängigen Kurven die gesuchte Kreiszahl induktiv ermittelt. Es spricht aber einiges dafür, die Entstehungszeit unseres ‚Tractatus incognitus‘ trotz dieser grundsätzlichen methodischen Übereinstimmung auf einen Zeitpunkt deutlich nach 1445 festzulegen. Schon, dass Nikolaus die Quadraturvorschrift aus dem unbekannten Traktat am Kreissegment formuliert hat, weist eher auf eine methodische Verwandtschaft mit dem späteren Quadraturversuch aus der Caesarea circuli quadratura und De mathematica perfectione hin.848 In diesen Traktaten ist Nikolaus endgültig von der Betrachtung vollständiger Kreise und isoperimetrischer Polygone zu Segmentsätzen übergegangen und hat damit auch seine letztlich besten Ergebnisse erzielt. Es ist aber auch möglich, den unbekannten Traktat aufgrund seiner inhaltlichen Nähe zu diesen späteren Abhandlungen in der zeitlichen Umgebung der Quadratura circuli zu verorten: Regiomontanus geht in seinen Ausführungen zu dem verlorenen Quadraturtraktat mehrfach auf Archimedes und insbesondere auf dessen Spiralenabhandlung ein, ein Themenkomplex, den auch Nikolaus wiederholt aufgreift.849 Es ist also denkbar, dass der von Regiomontanus bearbeitete Urtext entsprechende Ausführungen zur archimedischen Spirale 847
848 849
Regiomontanus hat im Laufe seiner Berechnungen schließlich selbst erkannt, dass dieses Ergebnis wie hier dargestellt auch auf direktem Wege ermittelt werden kann: RN, S. 68 = ed. Schmeidler, S. 484 (linke Spalte). Siehe hierzu: Kap. 4.8 (beginnt S. 274) und Kap. 4.9. (beginnt S. 279). Siehe hierzu Seite: 235f.
4.7. Regiomontans Stellungnahmen
275
enthielt. Dass wiederum würde es wahrscheinlich machen, dass die verlorene Schrift ein erstes Resultat von Nikolaus Exegese des neuen Archimedes-Corpus von Jacobus Cremoniensis war, also sicher nach 1450 entstanden ist. Dass bisher keine Originale des von Regiomontanus revidierten Textes bekannt sind, könnte daran liegen, dass Nikolaus selbst der Schrift keine große Bedeutung beigemessen und ihre weitere Verbreitung verhindert hat. Wie Regiomontanus in den Besitz des Textes gekommen ist, ist unsicher. Es ist aber anzunehmen, dass er ihn im Nachlass seines Lehrers Peurbachs auffand, der selbst einmal mehr als Korrektor dieses Quadraturversuchs fungiert haben könnte. Immerhin dürfte es sich bei dem den Untersuchungen Regiomontans zugrundeliegenden Urtext um eine eigenständige und geschlossene Schrift handeln, sonst hätte sich der junge Mathematiker kaum die Mühe gemacht, seine bisweilen sehr ausführlichen und schwierigen Rechnungen anzustellen. Er wäre ausserdem wohl nicht einmal in den Besitz des Stücks geraten – ‚Halbfertiges‘ verfrüht in Umlauf zu bringen, entspricht nicht dem sonstigen Vorgehen des Kusaners. Auch das, was er Toscanelli oder Peurbach zu Korrekturzwecken überließ, dürfte in formaler Hinsicht stets abgeschlossen gewesen sein, wenngleich Nikolaus die Schriftstücke, wie es die teilweise erheblich von einander abweichenden Versionen der späteren Perfectio mathematica zeigen,850 offensichtlich häufiger revidiert hat. So könnte das fragmentarisch überlieferte Stück, sofern man in ihm mehr erkennen will als eine unvollendete Skizze, zumindest ein Beleg dafür sein, dass die bisher edierten Quadraturtraktate nicht das gesamte fachmathematische Schaffen des Kusaners seit 1445 darstellen. Warum aber hat Regiomontanus sich so ausführlich mit einem Ansatz beschäftigt, dem er schließlich in einiger Verärgerung einen zu vernachlässigenden Wert attestierte?851 Vielleicht liegt ein Teil der Antwort hierin: Die Quadraturvorschrift ist trotz ihrer Mangelhaftigkeit im Ergebnis zumindest eine mathematische Herausforderung! Ein Gegenbeweis zu dem im unbekannten Traktat dargebotenen Quadraturverfahren ist durchaus nicht so leicht zu erbringen, wie in einigen anderen Versuchen von der Hand des Kusaners. Mit einem einfachen Hinweis auf die archimedischen Grenzen war eine echte Falsifikation des Verfahrens nicht zu erreichen. Die notwendigen Zwischenrechnungen erstrecken sich über mehrere Seiten,852 denn Regiomontanus musste die Näherungsregel buchstäblich ‚durchprobieren‘, bis er sie endlich als unzulänglich erfassen konnte. Die mühsamen Berechnungen sind in einem separaten Text der eigentlichen mathematischen Analyse angefügt. Diese langwierigen Proben sind für Regiomontanus allerdings entscheidend, sie allein rechtfertigen überhaupt die Auseinandersetzung mit dem vergleichsweise minderwertigen Ansatz:
850 851 852
Siehe: S. 279ff. RN, S. 66 = ed. Schmeidler, S. 482. Siehe Anm. 842.
276
4. Die Quadraturschriften
Solent enim nonnumq[uam] opiniones erroneae gravius nocere q[uam] verae ac firmae sententiae prodesse possint. Hunc igitur scrupulum diuturna meditatione ac magno tandem labore eripuimus.853
Bedeutung kann die mangelhafte Methode nur ‚ex negativo‘ gewinnen, nur im dezidierten mathematischen Nachweis ihrer Unzulänglichkeit kann aus der Fehlerhaftigkeit des Verfahrens Nutzen geschlagen werden. Diese Überlegung bringt Regiomontanus zu einer bedeutsamen Abgrenzung, die zugleich programmatisch das Selbstverständnis eines neuen Mathematikertyps spiegelt: Zu unterscheiden seien nämlich ‚Mathematiker‘ und ‚Lullianer‘, denen er, wenn er dies auch hier nicht explizit ausspricht, auch den Kusaner zurechnet: Rationes autem, quae movere potuerunt inventorum, nullas invenio scriptas, quibus, si quae essent, non iniuria obviandum esset in calce huius orationis, quas nequaquam mathematicas, s e d L u l l i a n a s p o t i u s f u i s s e a r b i t r o r : qualescu[m]que tamen fuerit, efficaciam habere non potuerunt, n i s i d u o c o n t r a r i a s i m u l s t a r e p o s s e a l i q u i s c o n f i t e a t u r .854
Der wissenschaftsphilosophische Antagonismus zwischen Lullianismus und einer neuen, strenger problemorientierten Mathematik ist letztlich eine Grundsatzkritik an der jahrhundertealten Diskussion um die prinzipielle Vergleichbarkeit ungleichartiger Größen, die aber Regiomontanus letztlich nur noch ein sachfremdes Hemmnis ist. In einer kurzen unbetitelten und undatierten Proportionen-Abhandlungen, die er an Toscanelli übermittelt hatte,855 geht Regiomontanus in knappen und nüchternen Ausführungen auf die Inkommensurabilitätsfrage ein: Nunc ad primordia exercitii nostri propius veniendo certissimum pronuntiamus circumferentiam circuli esse eiusdem generis cum qualibet linea recta, im[m]o omnes lineas, sive rectae fuerint curvae qualicu[m]que curvitate, non differe specifice.856
Wie wenig sich der junge Mathematiker für den philosophischen Hintergrund des Rektifikationsproblems noch interessierte, zeigt sich auch daran, dass er sich nicht mehr klar [war (Einfügung d. Autors)] über den wahren Ursprung des Inkommensurabilitätssatzes.857 Er vermutet einen entscheidenden Entwicklungskeim der ganzen Diskussion in einem Abschnitt aus den aristotelischen Praedicamenta,858 der, vor allem vermittelt durch den zugehörigen Boёthius853 854
855
856 857 858
RN, S. 66 = ed. Schmeidler, S. 482. Ebd. In dem bereits erwähnten Schreiben Regiomontans an Christian Roder wird die Grundlegung des cusanischen Inkommensurabilitätsprinzips im Lullianismus deutlicher. Siehe Anm. 841. Interessant ist, dass Regiomontanus, genau wie Nikolaus in seinen Transmutationes, Toscanelli ausdrücklich bittet, den Text nur korrigiert in Umlauf zu bringen – ein weiteres Anzeichen dafür, als wie hoch Regiomontanus die mathematische Kompetenz Toscanellis erachtet hat: RN, S. 29 = ed. Schmeidler, S. 445: […] nolim equidem in publicum prodeat, nisi primo tibi perfectum fuerit atque iudicatum. RN, prop. 12, S. 37 = ed. Schmeidler, S. 453. Hofmann: Lulls Kreisquadratur, S. 18. RN, S. 29–38, hier: S. 37 = ed. Schmeidler, S. 445–454, hier: S. 453: Die entsprechende Textstelle lautet vollständig: Quo vehementius admirandi sunt, qui nescio quibus territi somniis curvi ad rectum inquiunt non esse proportionem, rogatique curnam id fieri opporteat,
4.7. Regiomontans Stellungnahmen
277
Kommentar,859 in diesem Zusammenhang tatsächlich in mittelalterlichen Quellen immer wieder anzutreffen, für die Inkommensurabilitätsfrage aber nicht wirklich maßgeblich ist. Es ist kaum zu übersehen: Regiomontanus ist bei seiner Sichtung der cusanischen Beiträge zum Quadraturproblem letztlich allein an der rein mathematischen Methode interessiert. Theologische und philosophische Implikationen sind für ihn von sekundärer Natur. Die erkenntnisphilosophischen Verweise der cusanischen Kreisrechnung sind für den neuen Typus des in der Sache pragmatischen Berufsmathematikers860 auch insgesamt zunehmend nebensächlich. Hofmann hat übrigens angenommen, Regiomontanus habe den Lullschen Quadraturtraktat nur dem Hörensagen nach gekannt.861 Die entscheidenden Ausführungen zum Inkommensurabilitätssatz von Geradem und Gekrümmtem, die Dreh- und Angelpunkt der Kritik Regiomontans sind, finden sich aber nirgendwo sonst in der gleichen Eindringlichkeit im Lullschen Werk wie im Traktat Über die Quadratur und Triangulatur des Kreises. Auch stehen die Lullschen Überlegungen zum Grenzübergang aus der Quadratura et triangulatura in bemerkenswertem Einklang mit den entsprechenden Ausführungen des Kusaners im Dialogus. Es ist daher wahrscheinlich, dass Regiomontanus wenigstens einen flüchtigen Einblick in die Abhandlung genommen hat. Durch die fachliche Abwertung der Lullschen Wissenschaftsmethode, die bis ins 20. Jahrhundert hinein die Rezeption des Katalanen entscheidend mitbestimmt hat,862 sind, auch durch das Wirken Regiomontans, nicht zuletzt sicher auch die mathematischen Versuche des Kusaners in unverhältnismäßiger Weise marginalisiert worden. Hätte Regiomontanus seinen Blickwinkel auf die letzten, in Hinblick auf methodische Stringenz und Einzelergebnisse besten mathematischen Traktate des Kusaners ausgedehnt, sein Urteil wäre womöglich etwas wohlwollender ausgefallen.
859 860
861 862
respondent curvum et rectum non esse de eodem genere quantitatis, quae res quam temeraria sit, facile quisque senserit: curvum revera et rectum passionem quidem quantitatibus inferunt, genus autem non diversificant. Hunc rumorem ortum esse arbitror e x v e r b i s A r i s t o t e l i s i n P r a e d i c a m e n t i s , ubi ad tempus usque suum neminem circuli quadraturam testatur invenisse. Circuli autem quadratura non videtur possibilis nisi doceatur, quonam pacto circumferentiae circuli aequalis recta describatur. Difficultatem igitur, quam nonnulli impossibilitatem dicunt quadrandi circulum, ex difficultate aut si vis dicere ex impossibilitate circumferentiam rectificandi consurgit. Hanc autem impossibilitatem rectificandi circumferentiam circuli sive aequalem ei rectam describendi clamitant inde evenire, quod non sit eiusdem generis. Die Textpassage findet sich auch transkribiert in: Hofmann: Lulls Kreisquadratur, S. 18. Die Bezugsstelle bei Aristoteles ist Kateg. 7b30ff., wo Aristoteles die Unmöglichkeit der Kreisquadratur in Frage stellt. In categorias, ediert in: PL 64, Paris 1860, Sp. 159–264, hier: Sp. 230A–231C. Ausführlicher zur Entwicklung des Mathematikers als ‚Berufsstand‘ im 15. Jahrhundert: Kaunzner, S. 137f. Hofmann: Lulls Kreisquadratur, S. 19, Anm. 73. Ebd., S. 3.
278
4. Die Quadraturschriften
4.8. BAR ALLER BÜCHER. DE CAESAREA CIRCULI QUADRATURA Obwohl Nikolaus im Sommer 1457 immer mehr durch die heftigen politischen Auseinandersetzungen in seiner Diözese Brixen aufgerieben wird, findet er Gelegenheit zu einem neuen Quadraturversuch, De caesarea circuli quadratura.863 Zweifellos aus politischem Kalkül widmete Nikolaus die Schrift als etwas g a n z E i n z i g a r t i g e s , nur durch den höchsten Aufwand von Geist und ebensoviel glühende Hingabe Auffindbares864 Kaiser Friedrich III. (1415–1493).865 Aus eigener Kraft war der Brixener Konflikt nicht mehr zu lösen. Nikolaus musste sich eingestehen, beim Versuch, seine Reformvorstellungen im eigenen Bistum umzusetzen, gescheitert zu sein.866 Politisch mehr und mehr in die Handlungsunfähigkeit gedrängt, zog sich der Kusaner, nach einer unerwarteten Verfolgung,867 wie er selbst schreibt, auf der Feste Andratz in die räumliche und geistige Isolation zurück.868 In dieser aussichtslosen Situation hoffte er nun auf die Fürsprache und Unterstützung seitens des kaiserlichen Hofes. Die Widmung der Caesarea circuli quadratura sollte dabei das Hilfegesuch wohl begünstigen. Es muss Nikolaus allerdings bald klar geworden ein, dass selbst Friedrich dem Brixener Streit machtlos gegenüberstand. Hofmann
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866 867
868
Die Schrift ist in keinen der Renaissancedrucke aufgenommen worden, und es ist bisher nur eine einzige Handschrift bekannt: Mailand, Cod. Ambros. G74 inf., fol. 3r–4r. Einige Teile der Handschrift hat Nikolaus eigenhändig geschrieben, was vermuten lässt, dass die Mailänder Fassung die direkte Vorlage für das Schreiben an Friedrich war, oder sogar den eigentlichen Brief darstellt, der dann, womöglich, weil Nikolaus auf der Feste Andratz zum Zeitpunkt der Verfertigung von der Außenwelt weitgehend abgeschnitten war, gar nicht mehr an den Kaiser gegangen, oder aber ein Eingreifen desselben ohnehin nicht mehr zu erwarten war. Neben der Edition bei Folkerts (h 20, S. 173–179) ist der Text auch ediert in: Daniela Mazzuconi: Il ‚De cesarea circuli quadratura‘ e l' ‚Aurea propositio in mathematicis‘ di Niccolò Cusano, in: Italia Medioevale e Umanistica 13 (1980), S. 49–76, hier: S. 67–72 [im Folgenden zietiert als CC, ed. Mazzuconi], ferner als Vordruck zur lateinischen Edition der Mathematischen Schriften durch Prof. Menso Folkerts, Münchner Zentrum für Wissenschaftsgeschichte zur Verfügung gestellt CC, MATH. SCHRIFTEN, S. 151 = h 20, n 2, Z. 7–9, S. 173 = Bibl. Ambros. G74 inf., fol. 3r = ed. Mazzuconi, S. 67, Z. 9ff.: Hoc enim, quod hactenus aestimatum est, posse inveniri, licet non nisi altissimo ingenio et tanto fervore, tamquam singularissimum aliquid quaesitum [...]. CC, MATH. SCHRIFTEN, S. 151 = h 20, n 2, Z. 5–7, S. 173 = Bibl. Ambros. G74 inf., fol. 3r = ed. Mazzuconi, S. 67, Z. 7ff.: [...] post plures alios in aliis meis de hac re conscriptis libellis, clarior et mi(c)hi gracior in mentem venit, quem t u [ a ] e m a i e s t a t i t a m q u a m donum tu[a]e celsitudine dignum transmitto. Meuthen: Skizze, S. 95. CC, MATH. SCHRIFTEN, S. 151 = h 20, n 2, Z. 1–2, S. 174 = Cod. Bibl. Ambros. Mailand G74 inf., fol. 3r = ed. Mazzuconi, S. 67, Z. 1f.: Compulit me pridie quedam inopinata persecucio munitionem Andracii, qu[a]e Alemmanice Buchenstein appelatur, inhabitare. Meuthen: Skizze, S. 100f.
4.8. Bar aller Bücher. ‚De caesarea circuli quadratura‘
279
hat deshalb vermutet, dass der Kardinal die Schrift schließlich nicht einmal mehr an ihren kaiserlichen Adressaten überstellt hat.869 Die Schrift Über die Kaiserliche Quadratur des Kreises selbst ist geradezu ein Spiegelbild der schwierigen äußeren Bedingungen ihrer Entstehung. In inhaltlicher wie formaler Hinsicht hat Nikolaus keine allzu große Sorgfalt walten lassen. Der Text steckt, schon angefangen bei der einleitenden propositio, voller offensichtlicher Widersprüche. Das langwierige und mitunter schwer verständliche Beweisverfahren enthält logische Zirkelschlüsse, gedankliche Sprünge und mitunter sehr bedenkliche Vereinfachungen. Man kann deutlich spüren, dass hier ein unruhiger Geist am Werk ist. Es genügt, nur die elementarsten Gedankengänge der Schrift zu skizzieren, um feststellen zu können, dass De caesarea circuli quadratura ganz sicher nicht zu den besten mathematischen Arbeiten des Kusaners gehört. Kernstück der Abhandlung ist die einleitende propositio: Si de ·a·, centro dati circuli, ad duo puncta circumferentiae, ·g· e ·f·, per duodecimam circumferentiae partem tantia lineas traxeris et de uno puncto ag lineae, puta ·d·, orthogonalem in infinitum per af sic duxeris, quod portio, quam abscindit a ·c· contactu ad circumferentiam, sit tas ad , signaverisque punctum ·x· in orthogonali, ita quod linea de ·a· centro ad sum ducta sit ad lineam ad dupla, e r i t dx u t s e x ta pars circumferenti[a]e dati circ u l i .870 Konstruktionszeichnung nach CC, h 20, n 4, S. 174 (= MATH. SCHRIFTEN, S. 153 (Abb. 77))
Gemeint ist also zunächst Folgendes: Es sei bei ∢fag = 30° und dx ⊥ af , mit dx = 2 ⋅ ad , dann ist
dx =
1 1 2πr = π⋅ ag . Nikolaus behauptet also indirekt, dass 6 3
sich ein Winkel ∢gax angeben lässt, für den diese Bedingung erfüllt ist. Nachdem nun nach Voraussetzung zwingend gilt ∢adc = 60° und unter Annahme von r = 1
869 870
MATH. SCHRIFTEN, S. 242, Anm. 1. CC, Mailand, h 20, n 4, Z. 2–5, S. 174 = Bibl. Ambros., G 74 inf., fol. 3r = ed. Mazzuconi, S. 67, Z. 9ff. = MATH. SCHRIFTEN, S. 152,
280
4. Die Quadraturschriften
2
2
kann nach dem Kosinussatz zu ax = π + π − 2 ⋅ π⋅ π⋅ cos 60° = π2 der 6 3 12 6 4 gesuchte Winkel zu ∢gax = 90° bestimmt werden. Es ist dann zugleich: 2
1
1
1
1
1
1 2 1 π = π . In der propositio will Nikolaus nun aber auch 12 12 1 1 cf = ad = r − ac erfüllt wissen. Das diese Annahme keine Gültigkeit haben kann, 2 2 1 lässt sich leicht rechnerisch zeigen. Ist nämlich dx = πr mit r =1 und zugleich 6 1 für ∢fag = 30°, dann lässt sich cf bestimmen zu: ad = dx 2 1 cf = af − ac = r − ac = 1 − π⋅ sin 60° . Nach trignometrischer Substitution gilt also: 3 1 3 cf = af − ac = r − ac = 1 − π⋅ . Zugleich war aber gefordert, dass die Strecke cf 3 2 1 genau halb so groß wie ad sein soll, also: cf = π . Um die Vorgaben der proposi12 1 1 3 (!). Das tio zu erfüllen, müsste also angenommen werden, dass π = 1 − π⋅ 12 3 2 11 3 3 ⋅ 6 871 aber muss wegen ≠ abgelehnt werden. (= ) 12 2 12
ax =
Es lässt sich unter Voraussetzung der obigen Bedingungen also kein Proportionalitätsfaktor k angeben, so dass gilt:
ad dx = = k . Vielmehr gilt notwendig: cf ad
ad dx > . Für die Berechnung der Kreiszahl ergibt sich daraus eine wirklich erhebcf ad
liche Abweichung, die sogar außerhalb der archimedischen Grenzen liegt. Das langwierige Beweisverfahren, dass Nikolaus zur Stützung seiner Vermutung anbringt, hat Daniela Mazzuconi ausführlich dargestellt,872 dabei aber nicht vermerkt, dass die ganze Konstruktionsvorschrift auf einem unzulässigen Existenzsatz beruht. Der rechnerische Nachvollzug lässt dabei seinerseits Mängel offensichtlich werden, die Nikolaus bei einem sorgfältigeren Vorgehen hätte bemerken können. Wie so oft geht er tentativ vor: Zunächst stellt er sich Punkt ·d· als feststehend vor, um dann Rückschlüsse auf die Beschaffenheit des kennzeichnenden Winkels ∢fag zu ziehen. Dazu lässt er ·f· entlang der Kreisperipherie wandern, so dass der Winkel einmal größer und einmal kleiner als 30° wird. Er zeigt dann, dass für ∢fag < 1 2
1 2
30° notwendig fc > ad , für ∢fag > 30° aber fc < ad . Gegen diese Zwischenwertbetrachtung ist formal nichts einzuwenden, sie wäre aber, selbst wenn die propositio erfüllt wäre, keineswegs ausreichend, die Richtigkeit der gesamten Proportionalitätsbehauptung stichhaltig zu beweisen. Das Vorgehen des Kusaners ist 871 872
3 ⋅ 6 ≈ 10,392... . Mazzuconi, S. 63–67.
281
4.8. Bar aller Bücher. ‚De caesarea circuli quadratura‘
also in hohem Maße suggestiv und hält zudem einer strengen Überprüfung nicht stand. Ganz im Gegensatz zu diesem Befund sieht Nikolaus, von der hohen Qualität seines Ansatzes überzeugt, die eigene Näherung schließlich sogar in Übereinstimmung mit den archimedischen Grenzen. Seine diesbezüglichen Ausführungen basieren auf der folgenden Prämisse: Ratio huius873 est quod ·ad· erit semidiameter circuli inscripti trigono issoperimetro dato circulo et ·ax· semidiameter circuli circumscripti dicto trigono et ·dx· medietas lateris dicti trigono.874
Nikolaus d e f i n i e r t also ad als den Radius des dem zum Ausgangskreis isoperimetrischen Dreieck einbeschriebenen Kreises. Zugleich glaubt er, dass ax der Radius des zugehörigen Umkreises, dx die Halbseite des isoperimetrischen Dreiecks ist. Das nun setzt aber zwingend voraus, dass ax > dx , was nach der aus der propositio abzuleitenden Bedingung ∢gax = 90° nicht statthaft sein kann. Zur weiteren Voraussetzung macht Nikolaus nun die folgende, richtige Feststellung: Patet: nam potentia semilateris trigoni ad potentiam semidiametri875 se habet ut 3 ad 4.
876
dx
Per Definition muss nun gelten:
ax dx = 3dc und ax = 2ad sein sollen, ist demzufolge
9dc 4ad
2
2
2 2
= 2
2 2
=
3 877 . Da ja zugleich 4
3 . 4
Die Umformung ergibt: 12ad = 36dc , bzw. ad = 3dc ad = dc 3 . Nikolaus führt nun weiter aus:
2
und schließlich
Palam diametrum dati circuli valet semidiametrum circuli inscripti trigono issoperimetro et
2
lateris trigoni issoperimetri.878
3
Es soll also für den Kreisdurchmesser gelten: 2 4 879 ad + ⋅ 2dx = ad + dx = ad + 4dc = 1,73dc + 4dc = 5,73dc . 3 3
Nikolaus führt nun die archimedischen Grenzen an und fordert den Leser auf, das ganze auch in Zahlen nachzuprüfen. Kommen wir der Aufforderung nach: 873 874
875 876
877 878
879
Gemeint ist der oben genannte Auszug aus der propositio. CC, h 20, n 4, Z. 15–18, S. 174 = Bibl. Ambros. G74 inf., fol. 3r = ed. Mazzuconi, S. 68, Z. 25–28 = MATH. SCHRIFTEN, S. 151 Hier bezieht sich Nikolaus natürlich auf den Umkreis des isoperimetrischen Dreiecks. CC, h 20, n 10, Z. 6–7, S. 176 = Bibl. Ambros. G74 inf., fol. 3r = ed. Mazzuconi, S. 70, Z. 77–79 = MATH. SCHRIFTEN, S. 155. Hier und im Folgenden nach: Mazzuconi, S. 66f. CC, h 20, n 17, Z. 1–2, S. 178 = Cod. Bibl. Ambros. Mailand G74 inf., fol. 4r= ed. Mazzuconi, S. 71, Z. 127f. = MATH. SCHRIFTEN, S. 158. Mazzuconi, S. 66f.
282
4. Die Quadraturschriften
Wenn wir die archimedische Ober- und Untergrenze heranziehen, um aus dem oben bestimmten Kreisdurchmesser den zugehörige Umfang zu bestimmen, so er10 10 ) = 18,008571…und 5,73dc(3 + ) = 17,997041…. 70 71 Der Umfang des isoperimetrischen Dreiecks wäre nun 2dx ⋅ 3 = 6dx und, da dx = 3dc sein soll: 2 ⋅ 3dc ⋅ 3 = 18dc . Dieser Wert läge dann innerhalb der archime-
halten wir: 5,73dc(3 +
dischen Grenzen. Tatsächlich aber kann der gesuchte Wert für den Dreiecksumfang nicht kleiner als 18,003 dc sein. In der dritten Nachkommastelle also wird die cusanische Näherung ungenau, ein, bedenkt man die insgesamt methodisch fragwürdige Vorgehensweise, noch erstaunlich gutes Ergebnis. Bar aller Bücher aufgrund einer gewissen Verfolgung hat Nikolaus nach eigenem Bekunden zum neuerlichen Quadraturversuch angesetzt.880 Der Rückzug nach Andratz muss in großer Eile erfolgt sein, und es besteht kein Grund zu der Annahme, dass Nikolaus hier, etwa um der Schrift eine Sonderrezeption zu sichern, die Unwahrheit sagt. Ohne die Möglichkeit, auf mathematische Fachliteratur zurückzugreifen, gelingt dem Kardinal dann ein bescheidener Beitrag, der weit hinter die mitunter gleichsam verworrenen, aber umso vielschichtigeren Complementa zurückfällt. Dennoch ist die Kaiserliche Quadratur ein wichtiges Bindeglied zu den letzten beiden von Nikolaus’ Quadraturabhandlungen, De mathematica perfectione und Aurea propositio in mathematicis. Die Kaiserliche Quadratur steht am Anfang einer methodologischen Wende im mathematischen Schaffen des Kusaners.
4.9. VOLLENDUNG UND VOLLKOMMENHEIT. DE MATHEMATICA PERFECTIONE Seit der Schrift De caesarea circuli quadratura richtet Nikolaus das Hauptaugenmerk bei seinen Quadraturen nicht mehr auf vollständige Kreis- und Polygonflächen, sondern auf Kreissegmente. In De mathematica perfectione versucht er zu zeigen, dass sich jedes Kreissegment durch ein ihm einbeschriebenes rechtwinkliges Dreieck ∆abc eindeutig darstellen lässt. Grundlage seiner Überlegungen sind die folgenden Bestimmungsgrößen am Kreissegment. Dabei stellt die Strecke ac den Kreisradius, bc eine Kreissehne und bh den Pfeil (sagitta), also den Überschuss des Bogens über die Sehne dar. Unter Einbeziehung dieser Größen basiert die cusanische Quadratur nun auf der folgenden Proportionalitätsannahme:
880
CC, MATH. SCHRIFTEN, S. 151 = h 20, n 2, Z. 1–3 = Cod. Bibl. Ambros. Mailand G74 inf., fol. 3r = ed. Mazzuconi, S. 67, Z. 4f.
4.9. Vollendung und Vollkommenheit. ‚De mathematica perfectione‘
283
Si orthogonii latus, quo non est maius, ponatur linea prima et semidiameter circuli, et latus, quo non est minus ponatur secunda linea et semichorda, et reliquus latus tertia linea: quae erit semiarcus ad semichordam habitude, illa erit lineae aequalis tribus primis lineis ad lineam aequalem duabus primis cum tertia.881
Diese Annahme lässt sich leicht in eine für die mathematische Analyse geeignetere Form bringen. Gemeint ist das Folgende: ch Halbbogen 3ac 3r (= )= (= ) Halbsehne bc 2ac + ab 2ac + ab (mit r = Kreisradius)
Den Geltungsbereich dieser Gleichung schränkt Nikolaus ausdrücklich auf rechtwinklige Dreiecke ein, indem er nur Mittelpunktwinkel (d.i. der Winkel zwischen Strecke ah und ac ) von 0°– 45° zulässt. Die beiden Grenzfiguren, das kleinste Dreieck882 mit 0 Kathete bc = nungswinkel 0°) und das gleichschenklige größte 883 ( ab = bc ) Dreieck nungswinkel 45°) nutzt NiZur Näherungsregel De mathematica perfectione, nach: kolaus zur VerallPM, h 20, n 6, S. 207 (= p 2, fol. 101v) gemeinerung des Proportionalitätssatzes mittels einer Koinzidenzüberlegung. Aus der Gültigkeit des Satzes für die beiden Sonderfälle von 0° und 45° schließt er, dass der Verhältnissatz folglich für alle dazwischenliegenden [rechtwinkligen] Dreiecke Bestand hat.884 Die Vorstellung, dass eine im Grenzwert festgestellte Ei881 882
883
884
PM, h 20, n 5, Z. 2–10, S. 206 = p 2, fol. 101r = MATH. SCHRIFTEN, S. 162f. PM, MATH. SCHRIFTEN, S. 163 = h 20, n 6, Z. 2–4, S. 207 = p 2, fol. 101v: Orthogonius est tanto minor, quanto prima linea tertiam minus excedit. Si igitur posset dari minimus orthogonius, prima tertiam non excederet […]. PM, MATH. SCHRIFTEN, S. 163 = h 20, n 6, Z. 6–8, S. 207 = p 2, fol. 101v: Maximus autem orthogonius est, quando prima tertiam excedit maxime. Et hoc erit, quando tertia erit ut secunda, qua non est minor, et tunc secunda est semichorda quadrantis. PM, MATH. SCHRIFTEN, S. 164 = h 20, n 7, Z. 6, S. 208 = p 2, fol. 101v: [...] igitur in omnibus intermediis orthogoniis eade[m] remanebit. Ferner: PM, MATH. SCHRIFTEN, S. 169 = h 20, n 7, Z. 6, S. 208 = p 2, fol. 102v: […] Quoniam vides quomodo id, quod verificatur de
284
4. Die Quadraturschriften
genschaft zur Kennzeichnung des Bildungsgesetzes der Zahlenfolge hinreichen könne,885 ist vom Standpunkt der neuzeitlichen infinitesimalen Methode natürlich so nicht zulässig und als Grundlage eines streng mathematischen Beweisverfahrens untauglich. Auch der sich im Text anschließende Beweisgang ist, auch wenn nicht der strenge (und zweifellos nicht ganz gerechte) Maßstab moderner Beweisverfahren angelegt wird, schwer bis gar nicht verständlich. Zunächst führt Nikolaus eine Zwischenwertbetrachtung am größten Dreieck (∢bac = 45°) durch. ∩ Demnach soll für das Verhältnis von Bogen hc und Sehne bc gelten: ac + 3ac hc(= Kreisbogen) ac + ac < < ab + 3ac bc(= Kreissehne) ab + ac
Die Richtigkeit des Verhältnissatzes bedarf keines detaillierten Beweises. Nach einfacher arithmetischer Umformung und geometrischer Substitution entspricht er der folgenden Ungleichung: 4ac 3ac 2ac < < 4ac − bh 3ac − bh 2ac − bh
Um die Qualität seines neuen Verfahrens an der maßgeblichen Autorität in der Quadraturfrage Archimedes messen zu können, wählt Nikolaus seine Beispielwerte in Übereinstimmung mit den archimedischen Grenzen. Im betrachteten Kreisquadranten setzt er zunächst den Radius ac gleich 7, um dann Strecke ab näherungsweise (!) mit 5 zu bestimmen.886 Im gegebenen gleichschenkligen Dreieck muss nun beim vorgegebenen Öffnungswinkel natürlich auch die Strecke bc notwendig 5 betragen. Nikolaus setzt nun die Obergrenze aus der archimedi22 ) zur angenäherten Berechnung des Halbmesserum7 hc 11 fangs (nach π ⋅ r ) ein und erhält = (mit Strecke bh ≈ 2 ). Im vorgegebenen bc 10 4ac Fall nun zeigt sich, dass die von Nikolaus aufgestellte Untergrenze nach ( 4ac − bh 14 2ac 28 = ) deutlich kleiner, die Obergrenze nach (= ) deutlich größer ist, als 12 2ac − bh 26
schen Kreisquadratur ( π =
885
886
maximo et minimo, verificatur de mediis, et quod ille, qui videt maximum coincidere cum minimo, quoniam maximum pariter et minimum, ille in ipso videt omnia. Joseph Ehrenfried Hofmann: Über eine bisher unbekannte Vorform der Schrift ‚De mathematica perfectione‘ des Nikolaus von Kues, in: MFCG 10, Rudolf Haubst (Hg.), Mainz 1973, S. 13–58 S. 54. PM, MATH. SCHRIFTEN, S. 168–169 = h 20, n 14, Z. 1–3, S. 211 = p 2, fol. 102v.
4.9. Vollendung und Vollkommenheit. ‚De mathematica perfectione‘
285
dies die entsprechenden durch die archimedische Näherung bestimmten Grenzen für das Verhältnis von Kreisbogen und Sehne liefern. Die Schlüsse, die Nikolaus aus diesem Ergebnis ziehen zu können glaubt, basieren, vorsichtig gesagt, auf einer recht exotischen Logik: An der Richtigkeit der archimedischen Grenzbestimmung hat er keinen Zweifel. Da nun die von ihm aufgestellten Grenzen für die Kreiszahl
4ac 2ac und die archimedischen 4ac − bh 2ac − bh
Grenzen selbst einschließen, sieht er sich in seinem prinzipiellen Vorgehen bestätigt: Ideo linea cuius ·ac· debet esse pars aliquota debet esse maior dupla et minor quadrupla.887 Soweit kann man Nikolaus zustimmen. Völlig unvermittelt aber schließt Nikolaus nun seinen Beweisgang, indem er den zuvor mehr oder minder 3ac als verbindlich ansieht und des3ac − bh hc halb glaubt, dass das korrekte Verhältnis im Dreifachen der Strecke ac aufgebc
willkürlich festgesetzten Zwischenwert
sucht werden müsse, was natürlich seine eigentlich Ausgangsnäherung zwangsläufig stützen würde. Warum er aber überhaupt annimmt,
hc müsse über bc
g a n z z a h l i g e Vielfache von ac (dabei kommt nach den vorangegangenen Grenzziehungen natürlich nur 3 ac in Frage) aufgesucht werden, bleibt völlig rätselhaft. Die knappe Begründung innerhalb der Schrift liefert keine wirklichen Anhaltspunkte.888 Im Grunde genommen ist die gesamte Schlussweise das Produkt heuristischer Intuition. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Perfectio in keiner Weise von den frühesten Quadraturversuchen in De geometricis transmutationibus oder De circuli quadratura. Dass die in diesen Schriften vorgebrachten Quadraturansätze im Endergebnis von der gleichen Qualität sind wie die immerhin mehr als 15 Jahre später entstandene Perfectio, ist deshalb auch kaum verwunderlich. Wie nahe sich die zeitlich so weit entfernten Schriften auch in den methodischen Einzelheiten sind, hat bereits Joseph Hofmann herausgestellt.889 Es hat allerdings nicht den Anschein, als sei sich Nikolaus selbst der engen Verwandtschaft dieser Schriften bewusst gewesen. Wenn auch, wie Fritz Nagel zurecht bemerkt hat, in den objektiven Aussagen kein Fortschritt festzustellen ist, 890 so glaubte Nikolaus mit der Perfectio doch einen genuin neuen Beitrag zum Quadraturproblem geleistet zu haben. Man muss ausdrücklich anmerken, dass letztlich nur moderne Rechenverfahren die Kohärenz der cusanischen Quadraturbeiträge in aller Deutlichkeit zuta887 888
889
890
PM, h 20, n 14, Z. 10–11, S. 211 = p 2, fol. 102v = MATH. SCHRIFTEN, S. 168–169. Siehe: PM, MATH. SCHRIFTEN, S. 168–169 = h 20, n 15, Z. 1–4, S. 211 = p 2, fol. 102v: Causa autem, cur procedit argumentation, quod linea, quae quaeritur, debet esse pars aliquota ⋅ac⋅, est ista: Quia cum debeat esse una in omnibus orthogoniis, tunc necesse est, quod respiciat ⋅ac⋅ quae etiam est una in omnibus, et non ⋅ab⋅ vel ⋅bc⋅, quae semper variantur. MATH. SCHRIFTEN, S. xxxixf. Nagel, S. 172.
286
4. Die Quadraturschriften
ge treten lassen. Dabei aber wird leicht das Wesentliche übersehen: Tatsächlich steht die Perfectio bei aller werkimmanenten Kontinuität doch im Zeichen fachlicher Innovation. Es hat den Anschein, als sei Nikolaus’ Vertrauen in die Hinlänglichkeit seiner mathematischen Schlüsse in den späten Jahren noch einmal merklich gewachsen. Im ganzen Begründungsschema ist ein deutlicher Wandel von den stark philosophisch begründeten Ableitungen der frühsten mathematischen Traktate hin zu stärker ‚innermathematischen‘ Verfahren der späten Jahre zu verzeichnen.891 Dass damit allerdings nicht auch stets eine größere Transparenz des Vorgebrachten einherging, zeigt die Vollendung der Mathematik. Will man aber in den mitunter umständlichen und schwer verständlichen Herleitungen letztlich nur fachliche Beschränkungen der Zeit erkennen, dann tut man der Mathematik des 15. Jahrhunderts Unrecht. Es genügt, den Blick auf den für die neuzeitliche Mathematik so einflussreichen Regiomontanus zu richten, um sich zu vergewissern, dass die Mathematik auch zu dieser Zeit zu exakteren und stringenteren Beweisverfahren und klareren mathematischen Formalismen durchaus fähig war, und es sind nicht die bisweilen ja sehr guten Einzelergebnisse der cusanischen Quadraturen, sondern die häufig kryptischen und sprunghaften Gedankengänge, die sie begleiten, die Regiomontanus am Ende zu seiner Allgemeinkritik an den mathematischen Exkursen des Kusaners bewogen haben. Wie schwer verständlich dabei Nikolaus’ Ausführungen schon für die unmittelbare Nachwelt waren, zeigt die Drucklegung der Perfectio in der Straßburger Edition der Opera Omnia von 1488. Sie zeugt an entscheidender Stelle von völligem Unverständnis für das eigentliche Anliegen der Schrift.892 Dort, im ältesten der drei Frühdrucke, wird der fragliche Verhältnissatz über die Verhältnisse am Kreissektor (fehlerhaft) wie folgt wiedergegeben: Ualitudo893 trium diametrorum circuli ad suam circumferentiam est ut 14 cum radice de 36 et ¾ ad 12.894 Es handelt es sich hierbei zwar wohl um einen reinen Übertragungsfehler. Allerdings ist nicht eindeutig auszumachen, ob die fehlerhafte Angabe von ‚12‘ statt der korrekten ‚21‘ direkt, etwa durch eine Nachlässigkeit des Editors oder Drucksetzers, oder aber möglicherweise indirekt, durch eine fehlerhafte oder verderbte handschriftliche Vorlage in den Druck eingegangen ist. Es hat den Anschein, dass die Druckvorlage der Perfectio bei der Vorbereitung der Straßburger Edition keiner eingehenden fachlichen Revision unterzogen wurde. Denn mit den dort gegebenen Zahlenwerten würde die Kreiszahl bestimmt zu ( π =)
891 892
893 894
36 = 1,794421... . 14 + 36,75
Siehe auch: MATH. SCHRIFTEN, S. xxxviii. Opera omnia, ed. Martin Flach. Straßburg 1488, hier zit. n. der Neuausgabe des lateinischen Inkunabeldrucks: Werke des Nikolaus von Kues, Bd. 2, Paul Wilpert (Hg.), Berlin 1976 [im Folgenden zit. als: PM, a 2], S. 698–709. = ‚valetudo‘, hier zu übersetzen als: ‚Verhältnis‘. PM, a 2, S. 497 = ed. Wilpert, S. 708 u. Anm. 3.
4.9. Vollendung und Vollkommenheit. ‚De mathematica perfectione‘
287
Selbst dem mathematisch Ungeübten und mit den elementaren archimedischen Grundsätzen der Kreisquadratur nicht näher Vertrauten hätte die grobe Fehlerhaftigkeit des Ergebnisses selbst nach nur oberflächlicher Prüfung aufgehen müssen – vorausgesetzt, der Revisor war sich überhaupt vollständig über die Zielsetzung und methodischen Prämissen des cusanischen Versuchs im Klaren. Immerhin scheint der zentrale Gedankengang im Entwurf des Kusaners selbst für ausgemachte Fachleute nicht in jeder Hinsicht evident geworden zu sein. So gibt auch Omnisanctus Vasarius, der Kommentator und mathematische Sachverständige der späteren Pariser Edition nach Faber Stapulensis, die Verhältnisgleichung in deutlicher Abweichung von den bekannten handschriftlichen Versionen an. Dort lautet die entsprechende Passage: Valor trium diametrorum circulia ad suam circumferentiam est ut radix de 4 cum radice de 36 [et] de 12 ad 12.895 Offensichtlich hat sich der Revisor hier vorrangig am älteren Straßburger Druck orientiert, dabei aber richtig erkannt, dass die dort angegebenen Zahlenwerte falsch sein mussten. Interessanterweise hat er hieraus nicht die einfache Konsequenz gezogen, die Richtigkeit des letztgenannten Wertes ‚12‘ anzuzweifeln, sondern diesen vielmehr als verbindlich angesehen und versucht, die übrigen Zahlenwerte hin zur kontinuierlichen Proportion 4 ⇒ 12 ⇒ 36 ( 4 ⋅ 3 = 12, 12 ⋅ 3 = 36 ) zu korrigieren. Im Ergebnis stimmen die Angaben im Pariser Druck dann zwar mit denen der Handschriften überein.896 Der umfangreiche Kommentarteil, zu dem sich Omnisanctus veranlasst sah, offenbart allerdings, dass auch der mathematische Fachmann weite Teile der Schrift für erklärungsbedürftig hielt. Das stärkste Argument für die hohe Güte der cusanischen Quadratur in der Perfectio liefert dann auch nicht das eher verwirrende als klärende Beweisfragment, sondern die konkrete Probe des Verfahrens, die Nikolaus selbst vorgenommen hat. Solche konkreten Zahlenbeispiele finden sich, wie wir gesehen haben, äußerst selten in den genuin mathematischen Schriften des Kusaners, und zumeist nur in jenen Abhandlungen, die durch die Begutachtung seiner mathematiktreibenden Freunde abgesichert waren. Im Falle der Perfectio aber scheint Nikolaus ganz ohne äußeren Zuspruch von der Qualität seines eigenen Ansatzes so überzeugt gewesen zu sein, dass er sogar den Vergleich mit Archimedes wagt, indem er, wie bereits in der Schrift Aurea propositio in mathematicis, die archimedischen Grenzwerte als Ausgangsgrößen in die eigene Proberechnung einbezieht: Dadurch muss die cusanische Näherung im Endergebnis trotz aller Unstimmigkeiten in der Herleitung im Abschluss sehr gut werden.897 Nikolaus liefert, neben an-
895 896
897
PM, p 2, fol. 107r. Das kann man sich wie folgt leicht klar machen: Dividiert man den cusanischen Referenzwert für den Kreisumfang durch 12, den Wert, den die Drucke verwenden, erhalten wir: 21:12 = 1,75. Nun lassen sich beide Verhältnisgleichungen leicht ineinander überführen: 4 + 36 + 12 = 2 + 6 + 12 ≈ 36 │ ⋅1, 75 ⇔ 14 + 12 ⋅ 1, 75 = 14 + 36, 75 ≈ 63 Behält man die vorgegebenen Zahlenwerte (ac = 7, ab = 5 und bc = 5) bei, so ergibt die cusahc 21 nische Approximation: = = 1,1111... Nach Archimedes ergibt sich im gleichen Fall: bc 19
288
4. Die Quadraturschriften
deren Anwendungsbeispielen, auf der Grundlage der von ihm aufgestellten Ausgangsproportion unter Einbeziehung der archimedischen Grenzwerte mit Kreisumfang (= π) = Kreisradius
63 3 14 + 36 4
(≈ 3,140237...) dann
auch ein sehr beachtliches Ergeb-
nis.898 Nikolaus selbst hat angesichts der hohen Güte des ermittelten Wertes De mathematica perfectione später als seine beste Quadraturabhandlung bezeichnet und die Schrift, als einzige seiner fachmathematischen Abhandlungen neben den zwei Büchern De mathematicis complementis, in die Kueser Handschriftensammlung aufnehmen lassen.899 Erstaunlicher als das gute Einzelergebnis ist aber vielleicht, wie gut sich die regula aus der Perfectio für einen simplen, aber effektiven Näherungsalgorithmus zur Bestimmung der Kreiszahl verwenden lässt: Durch trigonometrische Substitution lässt sich die ganze Überlegung in die folgende Form bringen (wobei δ den Öffnungswinkel ∢bac kennzeichnet): ch 3ac 3r 3sin δ = (= ) → arcδ ≈ 2 + cos δ bc 2ac + ab 2ac + ab
In dieser Fassung nun lässt sich der Ansatz ohne größere Schwierigkeiten durch Anwendung der Taylorentwicklung analysieren.900 Zunächst wird hierzu die gesamte Gleichung mit (2 + cosδ) erweitert: arcδ ≈
3sin δ | ⋅(2 + cos δ) (1) 2 + cos δ
Nach Kürzen und Ausmultiplizieren gilt dann: 2δ + cos δ⋅δ ≈ 3sin δ (2)
Nun gilt für die Potenzreihenentwicklung der beteiligten trigonometrischen Funktionen:
hc 11 = = 1,108.... Dabei läge der daraus gewonnene Wert für die Kreiszahl zugleich innerhalb bc 10 898 899
900
der archimedischen Grenzen. PM, MATH. SCHRIFTEN, S. 175 = h 20, n 26, Z. 12–13, S. 218 = p 2, fol. 107r. Hierüber gibt eine Glossierung in der Kueser Handschrift De mathematicis complementis Auskunft: CM, Cod. Cus. 219, fol. 51r: Post mortem pape Nicolai et Calixti in principio papatus Pii scripsi libellum de mathematica perfectione qui ponitur infra et prevalet omnibus. Im Folgenden siehe: Peter Beckmann: A history of Pi, Boulder 41977, S. 84ff.
4.9. Vollendung und Vollkommenheit. ‚De mathematica perfectione‘
sin x = x −
289
x3 x5 x7 x2 x4 x6 + − + ... (3) und cos x = 1 − + − + ... . (4) 3! 5! 7! 2! 4! 6!
Beide Umformungen können nun zur Vereinfachung von Gleichung (2) herangezogen werden. Man kann hierzu die cos-Funktion auf der linken Seite der Gleichung wie aufgelöst werden:
cos δ⋅δ = δ ⋅ 1 −
δ 2 δ 4 δ6 δ3 δ5 δ7 + + = δ − + − ... (5) 2! 4! 6! 2! 4! 6!
Diese Umformung kann nun in den linken Teil der Gleichung (2) eingesetzt werden: 2δ + cos δ⋅δ = 3δ −
δ3 δ5 δ7 + − ... (6) 2! 4! 6!
Für die rechte Seite der Gleichung ist unter Einbeziehung von (3) das Folgende direkt einsichtig: 3sin δ = 3δ −
δ3 3δ5 3δ7 + − ... (7) 2! 5! 7!
Nach der Substitution können nun beide Seiten der Ausgangsgleichung komponentenweise verglichen werden:
3δ −
δ3 δ5 δ7 δ3 3δ5 3δ7 + − ... ≈ 3δ − + − ... (8) 2! 4! 6! 2! 5! 7!
Die ersten beiden Glieder der Potenzreihen stimmen überein, im dritten Glied ist die Abweichung mit (
δ5 3δ5 3 : =) noch vergleichsweise gering. Zugleich wird 4! 5! 5
schnell deutlich, dass die absolute Abweichung umso mehr abnimmt, je kleiner der Öffnungswinkel δ gewählt wird. Mit anderen Worten: Das Ergebnis der Näherung wird immer besser, wenn die Eckenzahl des eingeschriebenen Vielecks erhöht wird. Betrachtet man beispielsweise das regelmäßige 96-Eck, das auch dem archimedischen Ausrundungsverfahren der Dimensio circuli zugrunde liegt, erhält man bereits verblüffend gute Ergebnisse. Hierzu setzt man zunächst die Näherungsgleichung (1) ins Bogenmaß:
290
4. Die Quadraturschriften
πδ 3sin δ (9) = 180° 2 + cos δ
Damit ist π=
180° 3sin δ (10) ⋅ δ 2 + cos δ
Für das 96-Eck gilt nun: δ=
180° = 1°52'30'' (11) 96
und damit, nach Einsetzen in (9): π = 96 ⋅
3sin1°52'30 '' = 3,1415926272 …(12) 2 + cos1°52'30''
Gegenüber den 2 korrekten Stellen des archimedischen Verfahrens ergibt das cusanische Verfahren beim Übergang zum 96-Eck also bereits 7 Stellen genau! Nach Verdopplung der Eckenzahl auf 192 gewinnt man, obwohl die Größenunterschiede der Winkel bei steter Verdopplung der Eckenzahl rasch abnehmen, bereits eine weitere korrekte Nachkommastelle: π = 192 ⋅
3sin 0°93'75'' = 3,141592652338… (13) 2 + cos 0°93'75''
Die Mathematische Vollendung ist in Methodik und Ergebnis einer von Nikolaus’ besten Quadraturtraktaten. Bemerkenswert ist nun, dass die Schrift ursprünglich eine viel stärker philosophisch-theologische Ausrichtung hatte, als dies die Druckfassungen nahe legen. Die Version der Perfectio, wie sie in die humanistischen Drucke eingegangen ist, ist nur das Derivat einer deutlich weiter gefassten älteren Version der Schrift. Die bekannte kürzere Fassung des Traktats aus den Frühdrucken und der Kueser Handschriftensammlung geht auf ein Schreiben des Kusaners aus dem Herbst 1458 an den Bischof von Lerida und Kurienkardinal Antonio de la Cerda (†1459) zurück. De la Cerda hatte in einer nicht erhaltenen vorangegangenen schriftlichen Anfrage um etwas Neues (aliquid novi) aus der Hand des Kusaners gebeten und unter anderem die Schrift Über die mathematische Vollendung als Antwort erhalten.901 Dieser endgültigen Fassung der Perfectio sind nun wenigstens zwei Ent901
PM, MATH. SCHRIFTEN, S. 160 = h 20, n 1, Z. 5–6, S. 203 = p 2, fol. 101r.
4.9. Vollendung und Vollkommenheit. ‚De mathematica perfectione‘
291
würfe vorausgegangen. Bereits im 1905 erschienenen Handschriftenverzeichnis der Kueser Hospitalsbibliothek verzeichnete Jacob Marx unter Cod. Cus. 218 einen bis dahin unbekannten radierten Text902 mutmaßlich mathematischen oder astronomischen Inhalts von der Hand des Kusaners.903 Erst 1968 konnte der ausradierte Text mit Hilfe einer Rhodan-Wasserstoff-Verdampfung teilweise wieder lesbar gemacht werden.904 Joseph Hofmann und Rudolf Haubst haben das rekonstruierte Fragment eindeutig als eine Vorform der Schrift Über die mathematische Vollendung identifiziert.905 Die restaurierte Fassung zeigt, dass De mathematica perfectione ursprünglich über ein umfangreiches Einleitungs- und ein Schlusskapitel verfügte, die nur in stark gekürzter Fassung in die endgültige Version unter Cod. Cus. 219 fol. 194r–198v und den bekannten Drucken zugrunde liegt, eingeflossen sind.906 Leider blieb die Transkription des wiederentdeckten Textes lückenhaft. Insbesondere das Schlusskapitel, das, wie Rudolf Haubst bemerkt hat, sowohl vom mathematischen wie vom philosophischen Standpunkt aus höchstes Interesse verdient,907 konnte nur bruchstückhaft entziffert werden. Erst 1983 konnte Klarheit über den genauen Inhalt der fehlenden Textstellen geschaffen werden. Das Textfragment unter Cod. Cus. 219 entspricht weitgehend dem von Klaus Reinhardt 1983 in der Kapitelsbibliothek von Toledo aufgefundenen Manuskript, das dort zusammen mit neun weiteren Abhandlungen des Cusanus − unter anderem der bereits erwähnten, von Menso Folkerts als solcher identifizierten Vorform De arithmeticis complementis908 − in einer Sammelhandschrift vorliegt.909 Da die Kopie einige der von Nikolaus nachträglich in die Kueser Handschrift eingefügten Korrekturen übernommen hat, scheint sie von der Version Cod. Cus. 219 zumindest indirekt abhängig zu sein.910 902
903
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905 906 907 908 909
910
Cod. Cus. 219, fol. 138r–141v: In einer Randnote auf fol. 138r findet sich die Notiz ‚vacat‘, die der Kusaner wahrscheinlich selbst eingefügt hat. Jacob Marx: Handschriftenverzeichnis, S. 214; zu den weiteren bekannten Handschriften dieser Fassung De mathematica perfectione siehe: MATH. SCHRIFTEN, S. XLVIII–XLIX. Joseph Ehrenfried Hofmann: Über eine bisher unbekannte Vorform der Schrift De mathematica perfectione des Nikolaus von Kues, in: MFCG 10, Rudolf Haubst (Hg.), Mainz 1973, S. 13–58, hier: S. 13. Ebd. Die entsprechende Textkonkordanz bei: Hofmann: Vorform, S. 29–51. Hofmann: Vorform, S. 51. Siehe S. 212ff. Codex Toletanus bibliothecae capitularis (= To) 19–26, fol. 188r–191r; Die Toletaner Version der Perfectio mathematica ist ediert in: Klaus Reinhardt: Eine bisher unbekannte Handschrift mit Werken des Nikolaus von Kues in der Kapitelsbibliothek von Toledo (mit Transkriptionen der Vorform von De mathematica perfectione), in: MFCG 17, Rudolf Haubst (Hg.), Mainz 1986, S. 96–142 [im Folgenden zit. als: PM, Cod. To. 19–26, ed. Reinhardt] sowie in der Sammeledition Folkerts unter dem Titel De mathematica perfectione (forma prior), im Folgenden zitiert als: PM (forma prior). Klaus Reinhardt hat den Weg dieser Schriftensammlung unter Cod. To. 19–26 nach Toledo zurückverfolgt. Demnach stammt der Codex ursprünglich aus dem Privatbesitz des spanischen Kurienkardinals Francisco Xavier Zelada (1717–1801). Zelada überstellte seine Handschriftensammlung um 1798 nach Toledo. Dabei ging das Wissen um den Urheber des Cod.
292
4. Die Quadraturschriften
Zwei zentrale Fragen knüpfen sich an die Toletaner Handschrift: Wer war der Auftraggeber dieser Abschrift? Und wann wurde sie verfertigt? Die Sammlung, dessen Schriftbild von einem humanistischen Schreiber zeugt, trägt ein sehr auffälliges Wappen, auf das bereits Klaus Reinhardt hingewiesen hat.911 Es handelt sich um einen Nager (wahrscheinlich eine Ratte), der an einer Ähre nagt. Trotz einiger Bemühungen ist es bisher nicht gelungen, die Herkunft des Wappens eindeutig zu klären. Sollte der Auftraggeber der Abschrift, wie Klaus Reinhardt vermutet hat, im näheren geographischen Umfeld Roms zu suchen sein, so lassen sich aber immerhin zwei einflussreiche Patrizierfamilien mit dem Wappen auf dem Toletaner Codex in Verbindung bringen, zum einen die umbrischen da Empolis, zum anderen die römischen Giglios. Es können aber auf der Grundlage der bisher bekannten Quellen keinerlei Beziehungen zwischen diesen und dem Kusaner ausgemacht werden. Sicher ist nur, dass die Handschriften sich für einige Zeit im Besitz des Arztes Pier Leoni di Spoleto befand. Dieser war aber zweifellos nicht Auftraggeber der Schrift. Nur die Klärung der heraldischen Frage am Beginn der Toletaner Perfectio wird über die Entstehungsumstände des Manuskripts wohl Aufschluss geben können. Wenigstens aber lässt sich ungefähr abschätzen, wann die Toletaner Sammlung kompiliert wurde. Nach den Befunden Klaus Reinhardts ist der Codex kurz nach Abfassung von De non aliud und damit um 1461 entstanden.912 Wenn man diesen Zeitpunkt als terminus post quem für die Abfassung der gesamten Sammlung annimmt, dann hat das auch weitreichende Konsequenzen für die Textgrundlage der darin enthaltenen Abschrift der mathematischen Vollendung. Um das zu verstehen, muss man den Blick auf jene Schriften des Kusaners zu lenken, die in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Perfectio entstanden sind. In der Widmungsepistel der endgültigen Version De mathematica perfectione verweist Nikolaus explizit auf die Schrift Über den Beryll (1458).913 Der Textstelle ist zu entnehmen, dass Nikolaus Kardinal de la Cerda neben De mathematica perfectione noch eine kleine Schrift enthaltend eine Betrachtung über Spiegel und Gleichnis (speculum et aenigma) übersandt hat.914 Hierbei handelte es sich zweifelsfrei um De beryllo.915 Im Gegenzug findet sich in De beryllo ein ausdrücklicher Verweis auf die Schrift über die Mathematische Vollendung.916 Betrachtet man nur die endgültige Version De mathematica perfectione, so ist dieses vom Kusaner angezeigte Abhängigkeitsverhältnis der beiden Schriften nur
911 912 913
914 915
916
To. 19–26 offenbar verloren. Die Beschreibung der Handschriften im Toletaner Bestandsverzeichnis von 1808 enthält keinerlei Vermerke zur Autorschaft des Kusaners. Hierzu: Reinhardt: Unbekannte Handschrift, S. 98–100. Reinhardt: Unbekannte Handschrift, S. 96f. Ebd., S. 130. Hier und im Folgenden zitiert nach der Ausgabe: De beryllo, h 111, Karl Bormann u. Johannes Gerhard Senger (Hg.), Hamburg 1988. PM, MATH. SCHRIFTEN, S. 160–161 = h 20, n 1, Z. 14–15, S. 203 = p 2, fol. 101r. MATH. SCHRIFTEN, S. 246, Anm. 3: Der Bezug zu De beryllo ergibt sich deutlich aus dem Begriffspaar speculum et aenigma, das der Kusaner bereits im ersten Kapitel der Schrift anführt: De beryllo, h 111, cap. 1, S. 3, Z. 7–8. De beryllo, h 111, cap. 25, S. 32, Z. 6–7: [...] quemamodum in libellis de mathematica perfectione de minimo arcu et minima chorda quomodo coincidant dixi.
4.9. Vollendung und Vollkommenheit. ‚De mathematica perfectione‘
293
schwer nachzuvollziehen. Erst der Blick auf die genannten Vorformen des Quadraturtraktats und die Entstehungsumstände der Schrift Über den Beryll offenbart ihre mannigfaltigen Bezüge: De beryllo entstand auf Anfrage der Mönche des Klosters Tegernsee, die häufig als Kopisten für den Kusaner tätig waren und sich von ihm eine leichter verständliche Schrift erhofften über das, was vielen dunkel erscheint, insbesondere über den Zusammenfall der Gegensätze, den unendlichen Kreis und derartiges.917 Dabei ging es den Tegernseer Mönchen nicht allein um ein besseres Verständnis der cusanischen Philosophie und Theologie. Vielmehr erhofften sie sich von Nikolaus einen klärenden Beitrag zu einer Kontroverse um die mystische Theologie, die zur Jahrhundertmitte zwischen einigen süddeutschen Klöstern entbrannt war.918 Protagonisten des Streits waren die Benediktinerklöster von Melk und Tegernsee auf der einen, das Kartäuserkloster von Aggsbach, das der mystischen Theologie weitgehend ablehnend gegenüber stand, auf der anderen Seite. Die Tegernseer wandten sich an Nikolaus als einen bekannten Exegeten und Fürsprecher der Mystik. Dass neben Platon und Aristoteles (Pseudo-)Dionysius Areopagita zur prägenden Referenzquelle für die Schrift Über den Beryll geworden ist, kann vor diesem Hintergrund kaum verwundern.919 Die Toletaner Vorform von De mathematica perfectione entstand mit großer Sicherheit zur gleichen Zeit, in der Nikolaus seinen Beryll verfasste, also noch in der Veste Buchenstein, in der er sich nach den Misserfolgen bei der Durchsetzung seiner Machtansprüche in der Diözese Brixen bis zu seiner endgültigen Übersiedlung nach Rom im September 1458 aufhielt.920 Wahrscheinlich ist auch diese Schrift zusammen mit De beryllo an die Mönche von Tegernsee gegangen.921 Auch in ihr findet sich, zum einzigen Mal innerhalb der mathematischen Abhandlungen des Kusaners, der Name des Pseudo-Areopagiten. Im Schlusskapitel der Toletaner Version nennt Cusanus ihn gleich zweimal. Die entsprechenden Textpassagen sind in der Version Cod. Cus. 219 nicht mehr vollständig zu entziffern. Rudolf Haubst hat aber bereits im Zuge der Rekonstruktion der Kueser Handschrift die Formulierung ante omnem positionem et ablationem mit der Mystischen Theologie des (Pseudo-)Areopagiten in Verbindung gebracht und gleichzeitig auf entsprechende Parallelstellen in De docta ignorantia, De coniecturis, Idiota de sapientia und De non aliud hingewie-
917
918 919 920
921
Der Abfassung von De beryllo ging ein zweijähriger Briefwechsel zwischen dem Kusaner und den Tegernseer Mönchen voraus, in dem die Ordensbrüder immer wieder mit Nachdruck auf die Übersendung der Schrift über den Beryll drängten. Die Korrespondenz ist, soweit erhalten, von Vansteenberghe ediert worden: Edmond Vansteenberghe, Autour de la docte ignorance, S. 120–123/133/134/139/140/144/150/158ff., hier: Brief 8, S. 120. Nagel: Entstehung der exakten Wissenschaften, S. 75. Vgl. hierzu auch den Index nominum in der Heidelberger Werkausgabe: h 111, S. 54. De beryllo wird am 18. August 1458 und noch in Buchenstein vollendet. Demnach muss Cusanus mit einer ersten Abfassung von De mathematica perfectione schon in Buchenstein und noch vor dem Spätsommer 1458 begonnen haben. Reinhardt: Unbekannte Handschrift, S. 14.
294
4. Die Quadraturschriften
sen.922 In der Toletaner Version nun zeigt sich, dass Nikolaus diese Referenz sogar explizit benannt hat: [...] Magnus D i o n y s i u s deum oppositionem oppositorum nominat, quod non est nisi coincidentia seu equalitas. Nam equalitas illa innominabilis est forma essendi et sciendi et vivendi medio coincidentie oppositorum a n t e o m n e m p o s i t i o n e m e t a b l a t i o n e m .923
Unter erneutem Bezug auf (Pseudo-)Dionysius verweist Nikolaus schließlich noch einmal im weiteren Verlauf der Schrift auf die Bedeutung der visio intellectualis in den Grenzbereichen des rationalen Denkens. Die visio, bemerkt der Kusaner, ermögliche dem menschlichen Geist den Übergang zum Bereich des Göttlichen.924 Nikolaus führt hier das erste Axiom der euklidischen Elementa an: Das gleiche geistige Vermögen, welches jedes vernunftbegabte Wesen erkennen lasse, dass der Punkt keine Teile hat, wie Euklid festschreibt,925 ermögliche es ihm auch, Einsicht in die Einfaltung aller Dinge in der göttlichen Weisheit zu erlangen: Sicut, qui videt verbum hoc Euclidis, scilicet, „Punctus est cuius pars non est”, visione intellectuali perfecta, ille videt complicite omnem quam scripsit geometriam et transit in scientiam eius, sic transit in sapientiam patris creatoris ille, qui videt verbum, per quod fecit et saecula, quoniam in verbo illo videt et omnia complicite quae sunt creata et creari possunt, et hec visio est transito in sapientiam, quae deus est. 926
Das euklidische verbum vom unteilbaren Punkt, aus dem alle geometrischen Figuren ausgefaltet werden, wird also in Analogie zum schöpferischen verbum927 gesetzt. Die direkte Gegenüberstellung des ‚Fachmathematikers‘ Euklid und der theologischen Autorität des (Pseudo-)Areopagiten kommt dabei einer personalen Allegorie gleich, die die erkenntnistheoretische Universalität der visio intellectualis eindringlich versinnbildlicht. In De beryllo findet sich ein entsprechender Entwurf, wenngleich Nikolaus hier Dionysius-Areopagita nicht ausdrücklich nennt.928 Weitere Übereinstimmungen der beiden Schriften finden sich auch in 922 923
924
925
926
927
928
Hofmann: Unbekannte Vorform, S. 51 und Anm. 70f. PM (forma prior), h 20, n 25, Z. 15–18, S. 197–198 = Cod. To. 19–26, fol. 191r = ed. Reinhardt, S. 141, Z. 293f. PM (forma prior) = h 20, n 29, Z. 1–2, S. 199 = ed. Reinhardt, S. 141, Z. 303: Visio autem intellectualis nominatur per magnum D i o n y s i u m transitio in deum. In der berühmten ersten Definition des ersten Buches der Elemente. In der bereits erwähnten Abschrift der Elementa in der Kueser Hospitalsbibliothek lautet diese: Cod. Cus. 20515, fol. 134r–188v, hier: 134r: Punctus est cuius pars non est linea. PM (forma prior), h 20, n 29, Z. 1–7, S. 199 = Cod. To. 19–26, fol. 191r = ed. Reinhardt, S. 141, Z. 303–306. Nikolaus bezieht sich auf Joh. 20, 23: In principio erat verbum; vgl. hierzu auch: De beryl., h 111, cap. 25, S. 33, Z. 1–2. De beryl., h 111, cap. 37, Z. 12–20, S. 51: Et ita evangelica doctrina manifestior fit, quae finem creationis ponit, ut videatur deus deorum in Sion in maiestate gloriae suae, quae est ostensio Patris, in quo est sufficientia omnis. Et promittit ille noster Salvator, per quem Deus fecit et saecula, ipsum scilicet Verbum Dei, quomodo in illa die se ostendet et quod tunc illi vivent vita aeterna. Haec enim ostensio est cocipienda, ac si quis unico contuitu videret intel-
4.9. Vollendung und Vollkommenheit. ‚De mathematica perfectione‘
295
Hinblick auf die cusanische Lichtmetaphorik. Im Schlusskapitel von De mathematica perfectione schreibt Nikolaus: Visio igitur illa est l u x r a t i o n i s , sine qua omnis discursus est incertus et omnis motus ambiguus; nescit enim ratio sine ea, quorsum pertingat [...].929 Dem entspricht in De beryllo die reflexive Formulierung: Quare Isaac dicebat quod ratio oritur i n u m b r a i n t e l l i g e n t i a e et sensus in umbra rationis, ubi occumbit cognitio.930
So wie also das sinnfällige Erkennen im rationalen Erkenntnisvermögen sein Urbild hat, so ist das Vermögen der rationalen Erkenntnis selbst im intellectus begründet. Die visio intellectualis, also das Erkenntnisvermögen des intellectus als höchste Stufe der Betrachtung, ist dann zugleich, wie Nikolaus in De mathematica perfectione anmerkt, das ‚Werkzeug‘ der theologia vera.931 Mit der epistemologischen Bestimmung der wahren Theologie wird nun zwangsläufig eine grundsätzliche Frage aufgeworfen: Welche Rolle kommt dem Glauben in dem nahezu hermetischen epistemologischen System des Kusaners noch zu? Die Antwort des Kusaners steht ganz im Zeichen seines geistigen Konkordanzanspruchs und ist zugleich eine der bemerkenswertesten Stellen im gesamten Text: Nec [...] aliud videtur [intellectualiter (Einfügung d. Aut.)] quam credebatur. Ideo fides dirigit non in incertum, sed in certum, quod visione apprehenditur […].932
Der Glaube wird in der cusanischen Erkenntnislehre insgesamt, also auch im Bereich der Mathematik, keineswegs obsolet, sondern ist unbedingte Voraussetzung jeder wahren Erkenntnissuche. So ist er für Nikolaus auch Bedingung und Auslöser der intellektualen Erkenntnisstrebens: Hinc vera Christi theologia fide initiatur.933 In De beryllo formuliert dies Nikolaus so: Dico ego illa omnia sic esse addens quod cum hoc sit f i d e l i s atque deo devotus, a quo i l l u m i n a r i crebris et importunis obtineat precibus. Dat enim s a p i e n t i a m f i r m a f i d e , quantum saluti sufficit, petentibus.934
Was uns hier an noch recht allgemeinen erkenntnistheoretischen Überlegungen entgegentritt, wird in der umfangreichen Einleitung zur Vorform der Mathematischen Vollendungen auf bekannte Weise, nämlich ex libellis doctae ignorantiae,935 in den Kontext der cusanischen Grundauffassungen des Mathema-
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lectum Euclidis et quod haec visio esset apprehension eiusdem artis, q u a m e x p l i c a t Euclides in suis Elementis. PM (forma prior), h 20, n 27, Z. 1–2, S. 198 = Cod. To. 19–26, fol. 191r. De beryl., h 111, cap. 20, S. 25, Z. 1–2. Siehe die nachfolgende Anm. 932. PM (forma prior), h 20, n 28, Z. 3–5, S. 198 = Cod. To. 19–26, fol. 191r = ed. Reinhardt, S. 141. PM (forma prior), h 20, n 28, Z. 1, S. 198 = Cod. To. 19–26, fol. 191r = ed. Reinhardt, S. 141. De beryl., h 111, cap. 38, S. 53, Z. 4–6. PM (forma prior), h 20, n 3, Z. 1, S. 184 = ed. Reinhardt, S. 134, Z. 14 = Cod. To. 19–26, fol. 188r.
296
4. Die Quadraturschriften
tischen und des Problems der Kreisquadratur gerückt. Dabei bedient sich Nikolaus entsprechend einer Vielzahl jener geometrico-theologischen Symbole, die auch das erste Buch De docta ignorantia kennzeichnen. Der Begriff des circulus absolutus, die Überlegungen zur coincidentia oppositorum am angulus contingentiae und am orthogonius maximus sind hier die bestimmenden Motive. In die endgültige Fassung der Perfectio ist nur ein Bruchteil dieser Ausführungen übergegangen. Es handelt sich dabei um jene Passage in Cod. To. 19–26, in der der Kusaner die Koinzidenz von Bogen und Sehne im Kleinsten (in minimo) behauptet: Adhuc considera, quod quanto arcus fuerit minor, tanto chorda ei aequalior. Et ideo si arcus fuerit simpliciter minimus, erit chorda ei aequalis.936
In der endgültigen Fassung drückt Nikolaus dies so aus: Necesse erit igitur, me recurre ad visum intellectualem, qui videt minimam, sed non assignabilem chordam cum minimo arcu coincidere.937
Auf der Grundlage der prägnanten textlichen Übereinstimmungen lässt sich vermuten, dass die später an De mathematica perfectione vorgenommenen Kürzungen direkt mit der Abfassung der Schrift Über den Beryll zusammenhingen. Mit ihr hatte Nikolaus ein kompaktes und vergleichsweise leicht verständliches Kompendium seiner philosophisch-theologischen Konzeptionen geschaffen, auf das er, wie im Falle der späteren Fassung von De mathematica perfectione für Kardinal de la Cerda, jederzeit verweisen konnte. Durch De beryllo wurden nach der Fertigstellung der Schrift über die Mathematische Vollendung die hierin ursprünglich angelegten Ausführungen zur Erkenntnislehre mehr oder weniger überflüssig, weshalb Nikolaus sie in der endgültigen Fassung aussparen konnte. Gleichzeitig wurde so die fachmathematische Tragfähigkeit der Schrift über die Mathematische Vollendung nicht durch weitschweifende philosophische und theologische Diskurse in Frage gestellt. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch eine begriffliche Variante im Pariser Druck der Schrift. Dort findet sich der Satz: [...] Mathematicam perfectionem […] conscripsi, quatenus virtutem coincidentia r u [ m ] experimento ignotorum hactenus in theologicis inquisitionibus commendare.938
Hier wird ausdrücklich nicht von einem Koinzidenzprinzip, sondern von Koinzidenzi e n , gesprochen, also (in diesem Zusammenhang erstmalig) die Form des Plurals verwendet. Die coincidentia oppositorum, als Prinzip der vernunftgemäßen Schau, wird zu den mathematischen Koinzidenzien, als Emanationen des Koinzidenzprinzips in den Grenzbereichen des rationalen Denkens, in ein reziprokes Verhältnis gerückt. Das Koinzidenzprinzip der Theologie wird den mathematischen Koinzidenzien also gewissermaßen gegenübergestellt, die so eine gewisse prinzipielle Eigenständigkeit erhalten, die man schon fast axiomatisch nennen möchte.
936 937 938
PM (forma prior), h 20, n 9, Z. 1–5 = ed. Reinhardt, S. 136 = Cod. To. 19–26, fol. 188v. PM, h 20, n 3, Z. 1–4, S. 204 = p 2, fol. 101r = MATH. SCHRIFTEN, S. 161–162. PM, h 20, n 1, Z. 7–9, S. 203 = p 2, fol. 101r = MATH. SCHRIFTEN, S. 161.
4.9. Vollendung und Vollkommenheit. ‚De mathematica perfectione‘
297
Im rein Mathematischen bietet die Toletaner Handschrift gegenüber den späteren Fassungen nichts prinzipiell Neues. In der Kueser Handschrift der revidierten Fassung wie auch in den Drucken von Paris, Basel und Straßburg findet sich allerdings am Ende der Perfectio mathematica die folgende merkwürdige Ausführung zur Berechnung der Kugeloberfläche: Abscisionum sphaerae habitudo curvae superficei ad rectam basis est ut linea de cenit ad centrum basis cum semidiametro basis ad ipsam semidiametrum.939
Nach Archimedes De sphaera et cylindro ist das hier behauptete Verhältnis Kugelhaube h + r = falsch.940 Nikolaus muss aus dem Archimedes-Corpus Jakob Grundkreis r von Cremona eigentlich recht gut mit der Archimedischen Schrift Über Kugel und Zylinder vertraut gewesen sein. Die fehlerhaften Ausführungen in der Kueser Handschrift, die unverändert in die nachfolgenden Drucke eingeflossen sind, könnten natürlich auf die Flüchtigkeit der Ausarbeitung zurückgeführt werden. Nikolaus hatte die für de la Cerda bestimmte Fassung innerhalb weniger Tage, in denen ihn ein krankes Bein ans Haus fesselte, zusammengeschrieben.941 Andererseits hat Nikolaus zumindest die Abschriften für die Kueser Sammlung stets überprüft und bei Bedarf nachträglich kommentiert. Es ist also durchaus nicht ausgeschlossen, dass er sich auf eine verderbte oder fehlerhafte Vorlage bezogen, oder den Inhalt der archimedischen Abhandlung falsch aus dem Gedächtnis rekonstruiert hatte, sich seines Fehlers also zu keinem Zeitpunkt bewusst war. Die Toletaner Handschrift, in der der Satz über die Kugelhaube korrekt wiedergegeben wird, steht dem keineswegs entgegen. Es wäre ja durchaus denkbar, dass die fehlerhaften Ausführungen durch einen späteren Kopisten verbessert wurden. Es lässt sich nämlich nicht mit Sicherheit sagen, ob die Kueser Vorform der Perfectio, die Nikolaus persönlich revidiert hat, den Satz über die Kugelhaube korrekt wiedergegeben hat, auch wenn sich einige schwache Indizien hierfür ausmachen lassen. In jedem Falle aber wäre ein zweiter, späterer Korrektor nicht mit dem Verfasser der Toletaner Abschrift identisch. Denn dieser, oder wahrscheinlich eher sein Auftraggeber, scheint vorrangig am philosophisch-theologischen Gehalt der Schrift interessiert gewesen zu sein. Dafür spricht vor allem der Umstand, dass keine der hilfreichen Abbildungen, die sich in der Kueser Fassung finden, in die Toletaner Version übernommen wurden. Dies nun könnte zumindest ein erster Hinweis auf eine intermediäre Referenzquelle, eine dritte Kopie der Vorform De mathematica perfectione sein, die den falschen Satz über die Kugelhaube korrigiert widergegeben hat und dem Toletaner Schreiber als Vorlage diente. Für eine solche dritte Frühfassung der Perfectio spricht noch ein weiteres wichtiges Indiz: 939 940
Hier nach: PM, h 20, n 30, Z. 1–3, S. 220 = p 2, fol. 112r . Wenn sich nämlich nach Archimedes die Oberfläche einer Kugelhaube nach (h2+ r2) ⋅ ⋅π be2 2 rechnet, dann gilt die Verhältnisgleichung: Kugelhaube = h + r , nach: Archimedes: Kugel 2
Grundkreis
941
r
und Zylinder, Buch 1, § 42f. = ed. Czwalina, S. 73–151, hier: S. 126–128. PM, MATH. SCHRIFTEN, S. 160 = h 20, n 1, Z. 6–7, S. 203 = p 2, fol. 101r.
298
4. Die Quadraturschriften
Wenn ein enger Zusammenhang zwischen der Abfassung von De beryllo und den massiven Kürzungen an De mathematica perfectione bestand, so wäre einem Kopisten der ursprünglichen Fassung nur ein sehr enges Zeitfenster für seine Abschrift geblieben. Schon im Herbst 1458 entsteht ja die gekürzte Version für Kardinal de la Cerda – also gut drei Jahre vor der wahrscheinlichen Abfassungszeit des Toletaner Codex. Die Radierung in der Kueser Handschrift dürfte aber spätestens kurz nach der Übersendung der neuen Fassung vorgenommen worden sein. Wenn sich also klären lässt, wer den Auftrag für die Toletaner Version De mathematica perfectione gab, werden sich mit einiger Wahrscheinlichkeit auch Hinweise auf weitere Frühfassungen der Schrift finden. In jedem Falle hat die Perfectio in Nikolaus’ Gesamtwerk eine weit wichtigere Rolle gespielt, als die endgültige Fassung der Schrift nahe legt. Neben De beryllo steht ausserdem wenigstens eine weitere große philosophisch-theologische Schrift in enger Verbindung zur mathematischen Vollendung: 1463, ein Jahr vor seinem Tode, findet Nikolaus in De venatione sapientiae noch einmal zur elementaren Geometrico-Theologie der frühen Jahre zurück. Die Schrift Über die Jagd nach Weisheit fällt in eine überaus produktive Zeit für den Kardinal, ist aber zugleich über weite Strecken Retrospektive. In ihr findet sich eine markante geometrische Analogieüberlegung zum Wesen der Trinität: [...] Quia omnis triangulus habet tres angulos aequales duobus rectis, et quilibet angulus ex dictis aequatur duobus rectis, aequatur igitur quilibet angulus omnibus tribus. Sic quilibet est aequalis alteri et aequalis aliis duobus et aequalis omnibus tribus; esset [hic triangulus] omnium figurarum figurabilium complicatio, ut principium, et resolutio, ut finis atque mensura praecisissima. [...] Clarius dicit sanctus Thomas in libello „De aeternitate mundi“ sic aiens: „Cum enim ad omnipotentiam dei pertineat, ut omnem intellectum et virtutem excedat, expresse omnipotentiae derogat, qui dicit aliquid posse intellegi in creaturis, quod ad deo fieri non possit.“ Igitur in ipso possest actu aeterno video triangulum maximum sic se habere, ut preaemittitur.942
Abbildung nach: Ven. sap., h 12, S. 73
942
Ven. sap., h 12, n 76 – n 77, S. 74 (Z. 13 – 15) – S. 75 (Z. 6–11).
4.9. Vollendung und Vollkommenheit. ‚De mathematica perfectione‘
299
Ungewöhnlich ist hier die Detailliertheit, mit der Nikolaus sein Gleichnis einführt. Das ganze basiert auf einer Koinzidenzbetrachtung am eingeschriebenen Quadrat, allerdings vorgeführt am Kreissegment mit einem Öffnungswinkel von 45°. Es bedarf keiner langwierigen Suche, um die Quelle der ganzen Überlegung auszumachen. Sie ist eine Variation der Konzeptionen zur iterativen Ausstreckung des Kreisbogens am Kreissektor aus De mathematica perfectione, was schon der Blick auf die Konstruktionsskizze und die zugehörigen Konstruktionsvorschrift offenbart: Sit ·ab· recta. Et super uno eius puncto, puta ·c·, describe quartam circuli, cuius semidiameter, sit ·cb·. Et trahe aliam semidiametrum ·cd·. Et ·db· arcus sit quarta, cuius medium sit ·f·; et trahe chordam ·db·. Deinde continua ·cd· et ·cb· in infinitum. Et super ·c· describe quartam circuli maioris, quae sit ·gh·, cuius medium ·i·. Et trahe ut prius chordam ·gh· et trahe rectam circumscriptam arcui ·gh·, quae sit ·kil·.943
Die Einzelheiten der Vorschrift sind hier nicht von Interesse. Wichtig ist allein, wie Nikolaus die Figur gelesen wissen will: Certum est, ·cdfb· figuram triangularum habere circa centrum angulum rectum et circa arcum duos angulos, quorum quisque maior semirecto, quantum cadit supra chordam et infra arcum de angulis. Et quia in maiori circulo, scilicet ·cgih·, anguli circa arcum sunt maiores quam in minori circulo (m a i o r e n i m e s t a n g u l u s i n c i d e n t i a e s u p e r ·gh· c h o r d a m c a d e n s q u a m s u p e r c h o r d a m ·db·), – quare certum est, angulos illos ex semidiametro et arcu continue posse fieri maiores, quando arcus est maioris circuli [...].944
Nikolaus glaubt also, dass die Inzidenzwinkel zwischen Bogen und Sehne proportional zum Radius stetig zunehmen. Die symbolgeometrische Absicht, die hinter der Überlegung steht, ist klar: Nikolaus will auf die Koinzidenz von Kreisbogen, Sehne und Tangente hinaus. Wie aber steht es mit den mathematischen Implikationen? Joseph Hofmann hat vermutet, dass die ganze Überlegung auf die flächenhafte Winkeldefinition zurückzuführen ist, die Nikolaus als zulässig ansieht. Er ist dabei überzeugt, den Inzidenzwinkel über die Fläche des Kreisabschnitts bestimmen zu können. Dabei ist nun der Flächeninhalt des Abschnitts: S =
r 2 πα 1 − sin α) = [lr − a(r − h)] ( 2 180 2
(mit α = Zentriwinkel, l = Bogenlänge des Abschnitts, a = Abschnittssehne)
Tatsächlich wächst, da in der Darstellung α = const. = 90°, der Flächeninhalt des Kreisabschnitts mit wachsendem Radius exponentiell an. Damit ist S1 (= Fläche ·dbf·) zwar in der Tat kleiner als S2 (= Fläche ·ghi·). Die Flächendifferenz steht aber nicht in funktionaler Abhängigkeit zum beteiligten Inzidenzwinkel, der
943
944
Ebd., S. 73, n 76, Z. 1–6. Die Textstelle wird in vollständigem Wortlaut ebenfalls wiedergegeben in: Hofmann: Mutmaßungen, S. 120. Ebd., S. 73, n 76, Z. 7 – 14.
300
4. Die Quadraturschriften
im vorliegenden Fall, mit α = 90°, für a l l e Kreisabschnitte 45° beträgt.945 Bei allen Schwierigkeiten, die sich der spätmittelalterliche Mathematik noch beim Problem der Kontingenz- und Inzidenzwinkel stellten, hätte Nikolaus die Unzulänglichkeit seiner Annahme aufgehen können. Aus dem dritten Buch der Elemente lässt sich klar entnehmen, dass die zugehörigen Abschnittswinkel für konstante Öffnungswinkel α gleich sein müssen. Dabei spielt Frage nach Wesen und Größe der hornförmigen Winkel für Euklid zunächst keine Rolle. Es geht ihm nicht um eine irgendwie geartete zahlenmäßige Erfassung, sondern allein um die prinzipielle Vergleichbarkeit von Inzidenzwinkeln Zusammenhang. Wahrlich kühn, wie es Hofmann genannt hat,946 setzt sich Nikolaus mit seinen Überlegungen also über die maßgebliche Autorität Euklids hinweg – und gelangt prompt zu unzureichenden Schlussfolgerungen. Das Verhältnis von Kreisbogen und -sehne bleibt, unabhängig vom jeweiligen Radius des zum Segment gehörigen Grundkreises, unverändert, wie leicht einzusehen ist: Die Länge von Kreisbogen und -sehne 2πrα α und a = 2r sin . Die Relation beider 2 360 α 2πrα Größen bleibt für konstante Öffnungswinkel α gleich, denn aus 2r sin ⋅ x = 2 360 α πα folgt nach Kürzen sin ⋅ x = (= 0,008726 ⋅α) und damit nach Umformung 2 360 0,008726 ⋅α ! x = const. = α sin 2
lassen sich leicht bestimmen zu l =
Zwar wächst die a b s o l u t e Differenz zwischen Kreisbogen und Sehne mit wachsendem Radius des Ausgangskreises an. R e l a t i v betrachtet aber ändert sich am Verhältnis beider Größen nichts. Es hat den Anschein, als habe sich Nikolaus bei seinen Überlegungen von der (richtigen) Annahme verleiten lassen, dass mit wachsendem Radius die Höhe h, in der cusanischen Terminologie der ‚Pfeil‘ α 2
(sagitta),947 stetig wächst. Es gilt ja für die Höhe des Abschnitts h = r(1 − cos ) . Die Höhe ist also direkt proportional zum beteiligten Radius. Die (wohl aus der reinen Anschauung gewonnene) Folgerung, dass sich das Verhältnis von Bogen und Sehne entsprechend entwickelt, ist aber schlicht falsch. Bemerkenswert bleibt dennoch die methodische Verwandtschaft der Passage zum zentralen Ansatz aus der Schrift Über die mathematische Vollendung. Neben De beryllo entsteht also eine weitere große philosophische Abhandlung noch vier Jahre nach Abschluss des Quadraturtraktats unter dem Eindruck des methodischen Durchbruchs, der Nikolaus mit der Perfectio mathematica zweifellos gelungen war. Dass er in De venatione sapientiae den in der Quadraturschrift gefassten Konstruktionsansatz in geradezu fahrlässiger Weise modifiziert, ist für die herausragende Stellung, die De 945
946 947
Man könnte hier auch zur Vermeidung des Begriffs ‚Inzidenzwinkel‘ mit dem ‚Innenwinkel‘ operieren, der für einen Öffnungswinkel von 90° ebenfalls 90° beträgt. Hofmann: Mutmaßungen, S. 121. Die Bezeichnung findet sich u.a. an verschiedenen Stellen im Quadraturtraktat De mathematica perfectione.
4.9. Vollendung und Vollkommenheit. ‚De mathematica perfectione‘
301
mathematica perfectione im Gesamtwerk einnimmt, letztlich ohne Bedeutung. Mit neuem Selbstbewusstsein, das selbst den Widerspruch zur fachlichen Autorität Euklids nicht scheut, widmet sich Nikolaus ein Jahr vor seinem Tode noch einmal mit den Mitteln der Geometrico-Theologie den drängendsten Fragen seiner Einheits- und Unendlichkeitsmetaphysik. Jetzt, im Angesicht höchster Schaffenskraft, die in den vier vorangegangenen Jahren nicht weniger als fünf große Werke befördert hat, glaubt er zugleich den Rückblick wagen zu können. Die Quadraturfrage ist dabei noch einmal zum zentralen aenigma der Erkenntnissuche geworden. An der Lösung des Quadraturproblems, so glaubt Nikolaus in seiner Perfectio, hängt dabei eine ganze Fülle von Grundlagenproblemen der mathematischen Wissenschaften, unter anderem auch das der halbtönigen Proportion, das Nikolaus schon in De coniecturis und in De mente erwähnt hatte:948 Posse innumera correlaria elici etiam prius incognita, certum relinquo. Nam nec in sinibus et chordis helicis lineis describendis curvis et conicis superficiebus, cylindris et sphaeris atque etiam m u s i c i s p r o p o r t i o n i b u s e t s e m i t o n i i s a u t a l i i s q u i b u s q u e m a t h e m a t i c a e a r t i s i n g e n i i s scibile latere potest praxim huius medii habenti.949
Noch einmal wird hier deutlich, als wie grundlegend Nikolaus das Quadraturproblem angesehen hat. Am Gelingen der Kreisrektifikation hängt für ihn in De mathematica perfectione zugleich die Lösung einer ganze Kette ähnlich gearteter mathematischer Probleme. Nikolaus ist ganz offenbar überzeugt, dass die Quadraturfrage kein reines Spezialproblem darstellt, sondern der Ausgangspunkt zur Begründung einer gänzlich neuen mathematisch-naturwissenschaftlichen Methode werden könnte. Wenn er selbstbewusst im Titel seines späten Quadraturtraktats die Vollendung der Mathematik ausruft, so meint er das im umfassendsten Sinne: Das prinzipielle Verfahren seines neuen Ansatzes zur Kreisquadratur glaubt er auf a l l e anderen noch strittige Probleme der Mathematik ausdehnen zu können.
4.10. GOLDENE REGELN. AUREA PROPOSITIO IN MATHEMATICIS De mathematica perfectione bleibt Nikolaus’ letzter eigenständiger Beitrag zum Quadraturproblem.950 Die Schrift Über den goldenen Satz in der Mathematik,951 die er am 8. August 1459 in Rom beendet und die seine letzte mathemati948 949
950
951
Siehe hierzu: S. 169f. PM (forma prior), h 20, n 22, Z. 1–5, S. 195 = Cod. To. 19–26, fol. 190v = ed. Reinhardt, S. 140, Z. 239–242. Nach der Auffassung Hofmanns ließen Nikolaus seine Verpflichtungen in der kurialen Politik nach der Schrift Über den Goldenen Satz keine Zeit mehr für weitere mathematische Studien: MATH. SCHRIFTEN, S. 251, Anm. 1. Auch diese Schrift ist nicht in die Renaissance-Drucke eingegangen, findet sich aber, wie De caesare circuli quadratura in Mailand, Bibl. Ambros. G 74 inf., hier: fol. 1v–2r. Mazzuconi hat auch diesen Text ediert: Mazzuconi, S. 73–75 [im Folgenden zitiert als: AP, ed. Mazzuconi], in der Ausgabe von Hofmann: MATH. SCHRIFTEN, S. 178–179.
302
4. Die Quadraturschriften
sche Abhandlung werden sollte, stellt lediglich einen Sonderfall der allgemeinen Regel aus De mathematica perfectione dar. Neben den fachmathematischen Aspekten der Vorgängerschrift fasst sie aber auch noch einmal die philosophischtheologischen Implikationen der mathematischen Vollendung zusammen, und es ist schon deshalb lohnenswert, noch in aller Kürze auf die wesentlichen Punkte der Schrift einzugehen. In mathematischer Hinsicht bietet die Abhandlung, wie erwähnt, nicht viel Neues.
Abbildung zum Streckenausgleichsverfahren nach: AP, h 20, n 1, S. 223 (= MATH. SCHRIFTEN, S. 178)
Den Kern der Abhandlung bildet die folgende Variation der Quadraturregel aus De mathematica perfectione: Sive tres lineae a centro egresse angulos aequales semirectos aut minores constituentes per arcum seu chordam terminentur, eandem ad terminantem tenent habitudinem. Uti si de ·a·, centro ·bdc·, indefinitae quantitatis lineae egrediantur, duos equals circa ·a· angulos semirectos seu minores constituents, per alicuius circuli arcum, puta ·bdc·, aut eius chordam, scilicet ·bhc·, sive contingentem, puta ·edg·, terminentur: eandem teneant tres lineas ·ab·, ·ad· et ·ac· ad arcum terminantem habitudinem quam ·ab·, ·ah· et ·ac· ad ·bhc· terminantem, sive ·ae·, ·ad· et ·ag· ad ·edg· terminantem. Quod idem est ac si diceretur: Sicut ·bdc· arcus et quadrans et tres lineae ·ab·, ·ad· et ·ac· sunt tres semidiametri eius, sic ·edg· est aequalis alicui quadranti et ·ae·, ·ad·, et ·ag· aequantur tribus semidiametris circuli eius.952 952
AP, h 20, n 1, Z. 3–14, S. 223–224 = Bibl. Ambros., G 74 inf., fol. 1v = ed. Mazzuconi, S. 73, Z. 2–13 = MATH. SCHRIFTEN, S. 178–179.
303
4.10. Goldene Regeln. ‚Aurea propositio in mathematicis‘
Gemeint ist also (unter Zugrundelegung obiger Hilfsskizze) ein Streckenausgleichsverfahren der folgenden Art: ab + ad + ac ∩
bdc
ab + ah + ac ad + ae + ag 6 = = = = π bhc edg
(2r +
r 4r )⋅ 2 r + 2 2 = 2r 2r
∩
mit bdc = Kreisbogen, bhc = Kreissehne, edg = Tangente
Da ∆abc und ∆aeg ähnliche Dreiecke sind, ist von der Proportionalitätsbehauptung zumindest ab + ah + ac = ad + ae + ag ≈ 1,9142135623... sicher erfüllt. Davon bhc
weicht
nun
allerdings
edg
ab + ad + ac ∩
bdc ab + ah + ac ad + ae + ag 6 = = π bhc edg
=
6 ≈ 1,9098... π
deutlich
ab.
Aus
ließe sich π bestimmen zu 3,134464…, ein Ergebnis,
das sogar außerhalb der archimedischen Grenzen liegen würde, und also in dieser Hinsicht auch einen gewissen Rückschritt gegenüber De mathematica perfectione darstellt. Ähnlich wie in der endgültigen Fassung der Vorgängerschrift aber wird die Näherungsregel vom Goldenen Satz in der Mathematik, wie Hofmann richtig bemerkt, durch reine Vernunftschlüsse plausibel gemacht wird,953 und das ist, gemeinsam mit der Einfachheit des Verhältnissatzes, das, was diese Abhandlung von vielen Nikolaus’ übriger Quadraturschriften abhebt. Nur ganz am Ende der Schrift kommt Nikolaus noch einmal indirekt auf die coincidentia oppositorum zu sprechen. Dort deutet Nikolaus sein Konstruktionsverfahren wie folgt: Während die Flächen, die von den drei von Punkt ·a· ausgehenden Strahlen mit den unterschiedlichen Begrenzungsstrecken (also mit den verschiedenen Bögen oder Strecken) gebildet werden, variabel sind, bleiben die inneren Streckenverhältnisse stets konstant. Damit entspricht die Dreiheit der Strahlen (trinitas linearum), wie Nikolaus darlegt, eigentlich einer einfachen Größe (longitudo simplex).954 Auch hier, im Goldenen Satz in der Mathematik, bleibt die prinzipielle Unterordnung des speziellen mathematischen Problems unter das eigentliche Ziel menschlichen Erkenntnisstrebens trotz aller Bemühungen um mathematische Fragestellungen und Fortschritte in der Sache das bestimmende Motiv des Kusaners. So beschließt er sein langes Ringen um das Quadraturproblem ganz als Theologe, wenn er resümierend vermerkt, dass um den drei-einigen Urgrund [...] und um das Ausströmen der Dinge aus ihm die höchste Spekulation des Weisen verweilen wird.955 Blickt man von hier zurück auf die Perfectio mathematica, 953 954
955
Hofmann: Einleitung zu MATH. SCHRIFTEN, S. xxxvii. AP, MATH. SCHRIFTEN, S. 178–179 = h 20, n 7, Z. 8–10, S. 226 = Bibl. Ambros., G 74 inf., fol. 2r = ed. Mazzuconi, S. 75, Z. 56. Nikolaus wählt hier nicht den naheliegenden Begriff der coincidentia oppositorum hier sondern die etwas umständliche Formulierung transitus de contrario ad contrarium AP, MATH. SCHRIFTEN, S. 182 = h 20, n 7, Z. 10–11, S. 226 = Bibl. Ambros., G 74 inf., fol. 2r = ed. Mazzuconi, S. 75, Z. 64f.: Circa unitrinum igitur principium et rerum ab eo effluxum versabitur altissima sapientis speculatio.
304
4. Die Quadraturschriften
dann steht dem Betrachter wohl weniger die ‚Vervollkommnung‘ als vielmehr die ‚Vollkommenheit‘ der Mathematik als Mittel der höchsten Einsicht vor Augen. Diese Übersetzungsvariante wird dem bei allem Drang nach Originalitätssicherung doch stets selbstkritischen Denker Nikolaus von Kues zumindest gerechter.
305
5. SCHLUSSBETRACHTUNG
Nach Meinung der Naturwissenschaft geht dem Verlangen eine Art beklemmenden Gefühls im Mageneingang voraus, eine Einrichtung, durch die die Natur um der Selbsterhaltung willen sich selbst zur Erneuerung antreibt. Es scheint mir daher sinnvoll, dass das Staunen, das zum Philosophieren hinführt, dem Drang nach Wissen vorausgeht, damit der Geist, dessen Sein im Erkennen liegt, sich im Studium der Wahrheit vollende. (Nikolaus von Kues)
956
Kein Zweifel: Nikolaus von Kues war ein herausragender Philosoph und Theologe, der als solcher gerade in der jüngeren Vergangenheit glücklicherweise auch zunehmend ins öffentliche Interesse gerückt ist. War er aber auch, oder war er nicht ein ‚bedeutender Mathematiker‘? Im Vorwort zur Pariser Werkausgabe hat Faber Stapulensis (auch: Jacques Lefèvre d´Etaples, 1455(?)–1536), der als Haupteditor auch einige von Nikolaus’ wichtigsten mathematischen Schriften in die Sammlung aufnehmen ließ, den Kardinal ein halbes Jahrhundert nach dessen Tod als den Exponenten der Mathematik s e i n e r Z e i t gewürdigt: In disciplinis mathematicis e o t e m p o r e [nemo] doctior fuit.957 In fast gleichen Worten beurteilte auch Giovanni Andrea dei Bussi (1417–1475) die mathematischen Leistungen seines vormaligen Dienstherrn: In disciplinis mathematicis suo tempore Nicolao doctior fuit nemo, quod quidem viri illius plurimae testantur scriptiones.958 In beiden Würdigungen schwingt, trotz aller Emphase, schon das Empfinden einer neuen Zeit mit, deren Selbstverständnis sich hier beispielhaft in der Abgrenzung gegenüber dem vir mediae tempestatis959 wiederspiegelt. Es sollte vor allem 956
957 958
959
Die belehrte Unwissenheit (De docta ignorantia) (= Schriften des Nikolaus von Kues in deutscher Übersetzung 2151), lat.-dt., Paul Wilpert (Hg./Übers.), Hamburg 1964, Buch 1, n 1 (= Widmungsepistel), S. 3-5, (zugl. Philosophische Bibliothek 264a). Einleitung zu: p 2, fol. aaii. Lobrede (des Giovanni Andrea dei Bussi), ediert in: Martin Honecker: Nikolaus von Kues und die griechische Sprache (= CT 2), Heidelberg 1938 (zugl. Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse 28 (1937/38)), S. 70-73, hier: S. 72. Honecker, S. 71; ferner bei: Uwe Neddermeyer: Das Mittelalter in der deutschen Historiographie vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. Geschichtsgliederung und Epochenverständnis in der frühen Neuzeit, Köln u. Wien 1988, S. 103 und Anm. 1.13, dort zit. n. der Edition: Gio-
306
5. Schlussbetrachtung
die Historiographie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts sein, in der Ernst Cassirer ganz allgemein die Tendenz ausmachte, dass der Gegensatz zwischen dem ‚mittelalterlichen Menschen‘ und dem ‚Menschen der Renaissance‘ um so flüssiger und flüchtiger zu werden drohte, je mehr man ihn in concreto durchzuführen versuchte, je mehr die biographische Einzelforschung [...] fortschritt,960 die den gerade wiederentdeckten Nikolaus von Kues besonders auf der Grundlage seiner mathematisch-naturwissenschaftlichen Ideen aus dieser ‚Mittelalterlichkeit‘ herauszuschreiben versuchte961 und dabei auch den späteren (und, wie Eusebio Colomer es richtig fasst: wenig hilfreichen) Topos vom Denker zwischen den Zeiten bedingte.962 Die bis in die neuere Forschung spürbare Hilflosigkeit im Versuch, Nikolaus zwischen der anti-metaphysischen Konzeption von Naturwissenschaft und Mathematik im Begriff der Kopernikanischen Revolution bei Thomas Kuhn einerseits,963 dem mentalitätsgeschichtlichen Entwurf, die abendländisch-mittelalterliche Mathematik als einen Dialekt der allumfassenden Sprache der christlichen Kultur964 zu verstehen, andererseits, irgendwie zu verorten, verweist auch auf die soziologischen und psychologischen Hintergründe der Wissenschaften im 20. Jahrhundert. Erich Meuthen hat das auf den Punkt gebracht: Stärker als vielleicht je bei einer Geistesgröße ist die Aktualität des Cusanus ursächlich mit den Problemen der Zeit verbunden […], die ihn befragt.965 Wenn in der Geschichtswissenschaft im Zusammenhang mit dem 15. Jahrhundert schon von Diskontinuitäten966 und Disperspektivitäten967 die Rede war, es sogar als die Inkubationszeit der Moderne begriffen wurde,968 dann liegt darin sicher auch ein Stück weit der Versuch, in einer nicht zuletzt durch die Explosion der naturwissenschaftlich-technischen Möglichkeiten bis in Fragen der Ethik und Moral hinein zutiefst verunsicherten Zeit den Schulterschluss mit der Geschichte zu finden.
960
961
962
963
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966 967 968
vanni Andrea dei Bussi: Prefazione alle edizioni di Sweynheym e Pannartz prototipografi Romani, M. Miglio (Hg.), Mailand 1978: Vir ipse, quod rarum est in Germanis, supra opinionem eloquens et latinus. Historia idem omnes non priscas modo, sed m e d i a e t e m p e s t a t i s tum veteres tum recentiores usque ad nostra tempora retinebat. Ernst Cassirer: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Berlin u. Leipzig 1927, S. 5. Wenn auch einige Vertreter der frühen Mathematikgeschichte Nikolaus’ Beiträge zur Mathematik durchweg banalisierten. Siehe hierzu: Nagel, S. 166-172. Eusebio Colomer: Das Menschenbild des Nikolaus von Kues in der Geschichte des christlichen Humanismus, in: MFCG 13, Heidelberg 1978, S. 117-148, hier: S. 126. Hierzu: Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt am Main 9 1988. Aaron J. Gurjewitsch: Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen, München 21982, S. 15. Erich Meuthen: Nikolaus von Kues. Freiheit und Schicksal des Christenmenschen damals und heute, Trier 1962, S. 5f. Seibt, S. 14. Ebd. Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krise der europäischen Seele von der schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg, München 21969, S. 153.
5. Schlussbetrachtung
307
Nikolaus von Kues, der in den geistigen Umbrüchen und Diversifizierungen seiner Zeit immer das Verbindende gesucht und in seiner Philosophie die Ohnmacht des Einzelnen gegenüber einer unüberschaubaren Erkenntnisfülle positiv umgedeutet hat, musste dabei fast zwangsläufig zu einer Integrationsfigur werden: Es gibt eine gewisse Ähnlichkeit zwischen unserer Situation jetzt und der zur Zeit des Cusanus und des Ficino und des Pico: Auch der Mensch der ersten Renaissance hat den Zusammenbruch einer Welt erlebt. [...] Unsere Welt ist zersplittert, und es kommt ein neues Weltbild, zu dem nicht immer das passt, was wir bisher als Mensch und als Gott verstanden haben.969
Bei ihm stehen die Lösungen!970 − mit dieser treffenden Zuspitzung hat Meuthen derartige Vereinnahmungen des Kusaners parodiert. Die bedenkliche ‚Modernisierung‘ der cusanischen Ideen macht auch vor seinen Beiträgen zu Mathematik und Naturwissenschaft nicht halt, wie man leicht an den (vorsichtig gesagt: gewagten) Versuchen erkennt, die cusanischen Schriften durch eine vermeintliche Antizipation der kopernikanischen Himmelsmechanik und Heliozentrik971 oder sogar, wie bei Paul Wilpert,972 der Einsteinschen Relativitätstheorie auszuzeichnen. Nur durch den Abgleich mit zeitnahen mathematischnaturwissenschaftlichen Quellen und die Berücksichtigung des wissenschaftsgeschichtlichen Kontextes kann verhindert werden, dass man Nikolaus’ mathematisch-naturwissenschaftliche Beiträge als Antizipation neuzeitlicher Wissensformationen überschätzt. Wenn im Vorangegangenen − scheinbar im Gegensatz zum gerade Dargestellten − bei den Analysen der cusanischen Quadraturversuche das Instrumentarium der modernen mathematischen Formelsprache zum Einsatz gekommen ist, dann mag auch das leicht als ein unzulässiger Anachronismus erscheinen, der an Nikolaus einen Maßstab anlegt, der weit jenseits der Möglichkeiten seiner Zeit lag. Tatsächlich sollte dabei aber gerade deutlich werden, dass Nikolaus’ unbestreitbar innovative Ideen im Bereich der Mathematik nicht leichtfertig in die Vorläufer969
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972
Diese Äußerung Colomers fiel im Zusammenhang der Diskussion seines Vortrags Das Menschenbild des Nikolaus von Kues in der Geschichte des christlichen Humanismus (ediert in: MFCG 13 (= Das Menschenbild des Nikolaus von Kues und der christliche Humanismus), Martin Bodewig/Josef Schmitz/Reinhold Weier (Hgg.), Mainz 1978, S. 117-147) anlässlich des Cusanus-Symposions zu Trier 1977. Eine Transkription der Diskussionsbeiträge ist ediert in: MFCG 14, Rudolf Haubst (Hg.), Mainz 1980, S. 80-86 (die zitierte Stelle auf S. 81). Erich Meuthen: Nikolaus von Kues. Freiheit und Schicksal des Christenmenschen damals und heute, Trier 1962, S. 5. In einer kurzen und stichhaltigen Kritik hat Rudolf Haubst in seinen Anmerkungen zu Josef Meurers Abhandlung zur cusanischen Astronomie (Nikolaus von Kues und die Entwicklung des astronomischen Weltbildes, in: MFCG 4, Rudolf Haubst (Hg.), Mainz 1964, S. 395-418) auf die weitverbreitete Fehlanalyse des Kusaners als Verfechter eines kopernikanisch heliozentrischen Weltbildes hingewiesen (Ebd., S. 419). Nikolaus betone lediglich die Relativität der Himmelsmechanik. Nirgendwo in den bekannten Schriften des Kusaners finden sich Hinweise auf heliozentrische Ansätze. Siehe hierzu auch: Kap. 2.6. (beginnt S. 59) Paul Wilpert: Die philosophiegeschichtliche Stellung des Nikolaus von Kues, in: Schweizer Rundschau 63 (1964), S. 387-397, hier: S. 392.
308
5. Schlussbetrachtung
schaft moderner mathematischer Verfahren wie der Infinitesimalmathematik gestellt werden dürfen. Wo Nikolaus’ grundsätzliche Auffassungen zur Bedeutung des Mathematischen, seine kosmologische Entwürfe oder seine Spekulationen zum Wesen des Unendlichen Züge neuzeitlicher Wissenschaftlichkeit aufweisen mögen, da zeigen sich im Detail oft die entscheidenden methodischen Schwächen und Wissenslücken eines lange Zeit tentativ vorgehenden mathematisch-naturwissenschaftlichen Laien. Ihm deshalb aber, wie Karl Jaspers das getan hat, keinen Ort in der Geschichte irgendeiner Wissenschaft zusprechen zu wollen, ist sicherlich verfehlt.973 Wenn Nikolaus auch mitunter − gerade in der Quadraturfrage − hinter seinen eigenen Ansprüchen zurückblieb, so verfügte er doch über ein hohes Maß an intuitivem Gespür für mathematische Zusammenhänge. Dass er dabei oft genug weniger deutlich machte, wie er genau verstanden werden wollte als vielmehr, wie er gerade nicht verstanden werden wollte und es damit dem Leser überlässt, weite interpretative Freiräume zu füllen, ist vor allem dem Umstand zuzuschreiben, dass wir es bei Nikolaus von Kues eben nicht mit einem in Mathematik und Naturwissenschaften formal ausgebildeten Fachmann zu tun haben. Die vielen (häufiger impliziten als expliziten) Verweise auf wichtige mathematische und naturwissenschaftliche Quellen weisen Nikolaus aber zumindest als sehr engagierten (und mathematisch talentierten) Autodidakten aus, der in der Auseinandersetzung mit dem Quadraturproblem, das ihn über weite Strecken seines Lebens beschäftigte, mehr und mehr zum Fachwissenschaftler herangereift ist.974 Vor diesem Hintergrund wird verständlicher, dass sich mit Toscanelli, Peurbach und Regiomontanus echte mathematische ‚Spitzenkräfte‘ mit Nikolaus’ Quadraturen auseinandersetzten, wenngleich es sicher zu großen Teilen die am Ende vernichtende Kritik des Letztgenannten war, durch die Nikolaus’ mathematische Schriften dann den gleichen Weg der langwährenden rezeptionsgeschichtlichen Marginalisierung einschlugen,975 den auch, aus anderen Gründen, seine theologisch-philosophischen Hauptschriften nehmen sollten.976 Vielleicht ist die enge Verzahnung problemorientierter und daher leicht überprüfbarer fachmathematischer Einzelforschung mit dem weiten Feld der spekulativen Philosophie sogar selbst ein entscheidendes Kriterium in der nach Nikolaus’ Tod ziemlich rasch einsetzenden damnatio memoriae gewesen: Wenn der Universalist sich nicht nur an seinem philosophisch-theologischen Leistungen, sondern auch an deren fruchtbare Einsatz im Feld der exakten Wissenschaften gemessen wissen wollte, dann konnte jede Unzulänglichkeit im Bereich der mathemata auch
973 974 975
976
Karl Jaspers: Nicolaus Cusanus, München 1964, S. 131. MATH. SCHRIFTEN, S. xxxviii. Siehe hierzu vor allem den zweiten Teil von Nagels Abhandlung: Nagel: Entstehung der exakten Wissenschaften, S. 86-165. Die bisher umfangreichste rezeptionsgeschichtliche Abhandlung zu Nikolaus von Kues liefert: Stephan Meier-Oeser: Die Präsenz des Vergessenen. Zur Rezeption der Philosophie des Nicolaus Cusanus vom 15. bis zum 18. Jahrhundert (= Buchreihe der Cusanus-Gesellschaft 10), Münster 1989.
5. Schlussbetrachtung
309
Konsequenzen für das Ansehen und die Tragfähigkeit des gesamten Lehrgebäudes haben. Der engen Verzahnung mathematischer und philosophisch-theologischer Erwägungen bei Nikolaus ist es dann auch ein Stück weit zuzuschreiben, dass sein Denken nicht überall zu den letzten Folgerungen vordrang.977 Es besteht aber eben, wie Max Bense es der Mathematikgeschichte nachdrücklich eingeschrieben hat, ein gewichtiger Unterschied zwischen der Mathematisierung des Gegenstandes und der Mathematisierung der Wissenschaft: Die Mathematisierung des Gegenstandes behauptet, dass Gegenstand ist, was messbar ist. Die Mathematisierung der Wissenschaft behauptet die Möglichkeit einer Interpretation einer Theorie in einer mathematischen Präzisionssprache, in der ein Folgerungsbegriff mathematisch definiert ist.978
So müssen bei der Beurteilung der cusanischen Mathematik stets zwei Blickwinkel bedacht und gegeneinander abgewogen werden: Auf der einen Seite haben wir Nikolaus’ durch mathematico-theologische Symbolismen gestützte erkenntniskritische Grundpositionen, die er lange vor seinen ersten uns überlieferten Versuchen zur Kreisquadratur formuliert, und in denen die Mathematik die vorrangigen Bewertungskriterien der Erkenntnis liefert. Auf der anderen Seite stehen die unübersehbaren Beschränkungen seiner fachmathematischen Kenntnisse. In Nikolaus’ Postulat der Mangelhaftigkeit jeden menschlichen Erkenntnisvermögens steckt dabei immer auch ein apologetischer Ansatz, so dass mitunter der Verdacht aufkommen muss, dass Nikolaus (bewusst oder unbewusst) die eigenen handwerklichen Schwächen durch den Verweis auf allgemeine Erkenntnisprinzipien zu überdecken suchte. Verstärkt wird dieser Eindruck immer dann, wenn Nikolaus seine epistemologischen Vorbehalte erst nachträglich, nicht selten aufgrund von fachmännischen Einsprüchen seitens mathematisch besser geschulter Korrespondenten, in seine Quadraturversuche einfließen ließ. Andererseits muss man aber unbedingt anerkennen, mit welch unermüdlicher Energie Nikolaus sich dem ganzen Problemkreis gewidmet hat, seine Quadraturvorschriften immer wieder modifizierte, der Fachkritik öffnete und, wie im Falle der Mathematischen Ergänzungen, dort, wo ein Verfahren sich als unrettbar falsifiziert erwies, dieses bereitwillig aufgeben und mit viel Kreativität und bemerkenswerter Intuition für mathematische Zusammenhänge mit neuen Ideen ansetzen konnte. Wenn Nikolaus immer wieder formuliert, dass das Quadraturproblem insgesamt nicht exakt lösbar und durch eine unüberwindbare Grenze dem menschlichen Denken überhaupt entzogen ist, so muss man das auch als einen empirischen Befund werten. Eine im engeren Sinne mathematische Begründung für die Unmöglichkeit der exakten Quadratur liefert Nikolaus nicht, seine Argumentation ist in dieser Hinsicht immer die philosophische. Es wäre eine fahrlässige Vereinfachung, Nikolaus 977
978
Willy Andreas: Deutschland vor der Reformation. Eine Zeitenwende, Stuttgart 21948, S. 5051. Max Bense: Konturen einer Geistesgeschichte der Mathematik. Die Mathematik und die Wissenschaften, Hamburg 1946, S. 82.
310
5. Schlussbetrachtung
in die Rolle eines Vordenkers des Infinitesimalkalküls zu zwängen. Von einer strengen Formulierung mathematischer Irrationalitäten ist er schon deshalb noch weit entfernt, als er das Problem nie mit letzter Konsequenz auf einen mathematischen Unendlichkeitsbegriff zurückführt, sondern ganz im Gegenteil das Unendliche zur Grenzmarkierung des mathematisch-rationalen Denkens überhaupt erklärt. Der unbedingte Wille zur Neuerung, zur Loslösung von überkommenen Buchwissen und unbedingter Autoritätshörigkeit, und auch die überall erkennbare Bereitschaft, den Widerspruch, das Paradoxe nicht aus dem Denken auszuschließen, sondern sogar vielmehr programmatisch als Kernstück in die Erkenntnisphilosophie einzubinden, ist für eine Beurteilung von Nikolaus’ geistesgeschichtlicher Bedeutung sicher wichtiger als die mathematischen Einzelbeiträge, die er, bei aller mathematisch-naturwissenschaftlichen Begabung, letztlich doch als reiner Laie verfasst hat, der eigentlich und hauptsächlich auf anderen Feldern Maßgebliches hat. Wenn auch, das liegt in der Natur der Sache, sein schriftlicher Nachlass den vorrangigen Maßstab seiner historischen Beurteilung liefern muss, darf nicht vergessen werden, dass Nikolaus einen Großteil seiner Zeit den alltäglichen Pflichten eines Diplomaten, Seelsorgers und schließlich sogar Kirchenfürsten widmen musste. Dass seine geistigen Erträge dennoch bis in unsere Zeit nachwirken und dabei auch lange Zeiträume überdauern konnte, in denen ein Großteil seiner Leistungen fast vollständig in Vergessenheit geriet, wirft die Frage auf, um wie viel größer sein Einfluss hätte sein können, hätte er sein Leben ausschließlich dem Schreiben widmen können. Man muss sich aber dann auch fragen, ob die Besonderheit seines Denkens gerade seine Nähe zur Welt, die ihm als Kirchenpolitiker so viele und teils intensive Kontakte zu den geistigen Exponenten seiner Zeit und nicht zuletzt auch das Erleben neuer Kulturräume ermöglichte, zur Voraussetzung hatte. Nikolaus von Kues war keineswegs ein isolierter Denker, kein unverstandener Neuerer, der an kirchlichen Restriktionen oder scholastischem Wissenschaftskonservatismus gescheitert wäre. Im Gegenteil: Nikolaus war Teil eines weitgespannten Netzwerks universal interessierter Mediziner, Mathematiker, Astronomen, Künstler, Theologen und Philosophen, das sich, zuerst in Padua geknüpft, im Laufe seines Lebens stetig erweiterte und verfestigte. Dass Nikolaus sich dabei als Kleriker in einem Umfeld bewegte, in dem paganes Schriftgut, progressive humanistische Ideen und von theologischen Zugeständnissen zum Teil weitgehend befreite neue naturwissenschaftlichmathematische Ideen kursierten, ist ebenfalls nicht so erstaunlich, wie es sich vor dem Beurteilungshorizont populärhistorischer Bewertungen mitunter ausnimmt. Vielmehr sieht das 15. Jahrhundert auch das Ende der alle Denkbereiche beherrschenden scholastischen Methode, und, aufs engste damit verwoben, auch den langsamen Niedergang der universitären, zumeist theologisch dominierten Lehrpriorität. Nikolaus wirkt in einer Zeit, in der sich Päpste für die Erschließung des philosophischen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Erbes der Antike einsetzen (wie Nikolaus V. oder Pius II.), in der Kardinäle zu Förderern von Naturwissen-
5. Schlussbetrachtung
311
schaftlern und Mathematikern werden (wie Bessarion) und ein deutscher Kleriker niederer Herkunft (wie Nikolaus von Kues) den Weg bis in die Spitzen der römischen Kurie antreten kann, ohne dass ihm sein Hang zur Mystik oder seine teils hart an den Grenzen des „traditionellen“ Theismus operierende mathematisierende Theologie und Unendlichkeitsspekulation zum Hemmnis werden. Nikolaus und viele der ihm verbundenen Wissenschaftler, Philosophen und Theologen suchen in einem schmalen Zeitkorridor vergleichsweise weitgehender geistiger Freiheiten noch einmal die große Synthese, die Zusammenführung unterschiedlichster geistesgeschichtlicher Entwicklungslinien mit wissenschaftlichen, technischen und künstlerischen Innovationen unter sich rasant verändernden ökonomischen, politischen und sozialen Bedingungen – auch hierauf lässt sich im übertragenen Sinne Nikolaus’ Diktum von der Koinzidenz der Gegensätze anwenden. Sein Versuch, in einer Art Universalmathematik979 alle Denkbereiche entgegen ihrer sich teils erst abzeichnenden, teils schon weitgehend vollzogenen Auflösung in wissenschaftliche Einzeldisziplinen, philosophische Schulen usw. zusammenzubringen, ist deshalb gerade ein Ausdruck für seine Verwurzelung in der Zeit, und gerade nicht ein Anzeichen für die Vorzeitigkeit seiner Ideen. Also: War Nikolaus von Kues ein bedeutender Mathematiker? Nikolaus von Kues war vor allem dies: ein leidenschaftlicher Mathematiker, dessen mathematikhistorische Bedeutung vorrangig in seiner so oft formulierten Grundüberzeugung liegt, dass die Mathematik das hervorragendste Instrument jeglichen menschlichen Erkenntnisstrebens ist – und das ist, ganz gewiss, nicht wenig.
979
Franz Borkenau: Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild, Darmstadt 1971, S. 75.
312
Literaturverzeichnis
1. QUELLEN 1.1. SCHRIFTEN DES NIKOLAUS VON KUES 1.1.1. SAMMLUNGEN UND REIHEN
NICOLAI DE CUSA OPERA OMNIA Iussu et auctoritate Academiae Litterarum Heidelbergensis ad codicum fidem edita), Leipzig/ Hamburg 1932ff.: (darin u.a. ediert, in der chronologischen Ordnung ihrer Abfassung) De concordantia catholica [1433] Opera omnia 141–4 (Bd. 144 = Indices), Gerhard Kallen/Anna Berger (Hgg.), Hamburg 1959– 1968 De docta ignorantia (libri tres) [abgeschlossen 1440] Opera omnia 1, Ernst Hoffmann/Raimund Klibansky (Hgg.), Leipzig 1932 De coniecturis [~1440] Opera omnia 3, Karl Bormann/Josef Koch/Hans Gerhard Senger (Hgg.), Hamburg 1972 Apologia doctae ignorantiae [1449] Opera omnia 2, Raimund Klibansky (Hg.), Leipzig 1932 Idiota [De sapientia (libri duo)/De mente/ De staticis experimentis] [1450] Opera omnia 5, Renate Steiger/Ludwig Bauer (Hgg.), Hamburg 1983 De theologicis complementis [~1453] Opera omnia 10/2a (= Opuscula II, Fasc. 2a), A. D. Riemann (Hg.), Hamburg 1993 De beryllo [1458] Opera omnia 111, Karl Bormann/Hans Gerhard Senger (Hgg.), Hamburg 1988 De venatione sapientiae/De apice theoriae [1462] Opera omnia 12, Raimund Klibansky/Hans Gerhard Senger (Hgg.), Hamburg 1982 De non aliud (Directio speculantis seu de non aliud) [1461/62] Opera omnia 13, Ludwig Bauer/Paul Wilpert (Hgg.), Leipzig 1944 Dialogus de ludo globi [1462/63] Opera omnia 9, Hans Gerhard Senger (Hg.), Hamburg 1998 Scripta Mathematica Opera omnia 20, Menso Folkerts (Hg.), Hamburg 2009*
*
Erscheint im vierten Quartal 2009, der Vorabdruck wurde mir freundlicherweise von Menso Folkerts zur Verfügung gestellt.
Literaturverzeichnis
313
(kleinere Schriften:) Opera Omnia 4 = Opuscula I (De Deo abscondito, De quaerendo Deum, De filiatione Dei, De dato Patris luminum, Coniectura de ultimis diebus, De genesi), Paul Wilpert (Hg.), Hamburg 1959 Opera omnia 161–4–171–2 (Predigten/Sermones), Rudolf Haubst/Martin Bodewig u.a. (Hgg.), Hamburg 1970–1991 NICOLAI CUSAE CARDINALIS OPERA* In 3 Bdn., Jacques Faber d´Etaples (Iacobus Faber Stapulensis) (u.a.) (Hg.), Paris 1514 (Nachdruck: Kurt Flasch (Hg.), Frankfurt 1962): (in Band 2 enthalten:) De geometricis transmutationibus [1445] (fol. 33r–48v) De arithmeticis complementis [1445] (fol. 54r–55r) De mathematicis complementis (libri duo) [1453] (fol. 59r–89r) De mathematica perfectione [1458] (fol. 101r–107r)
D. NICOLAI DE CUSAE CARDINALIS OPERA* (teilweise Nachdruck der Ausgaben Paris 1514) Basel 1565: (darin enthalten:) Quadratura circuli [1450?], S. 1091–1095, darin der Abschnitt: De sinibus et chordis [im Druck als Anhang zur Quadratura gekennzeichnet, wahrscheinlich ebenfalls 1450], S. 1095 Magister Paulus ad Nicolaum Cusanum Cardinalem [im Druck als vermeintliches Autograph des Kusaners der Quadratura circuli angehängt, um 1453], S. 1095–1100 Declaratio declarationis curvae [nach 1453], S. 1100–1101 De una recti curvique mensura [nach 1453], S. 1101–1106
*
Einige der hierin enthaltenen mathematischen Schriften finden sich auch in der seltenen Nürnberger Druckausgabe der cusanischen Opera von 1533 nach Johannes Schöner und dem Mailänder Druck von 1502 nach Roland Pallavicini.
314
Literaturverzeichnis
WERKE (DES NIKOLAUS VON KUES) (nach dem lateinischen Inkunabeldruck von Martin Flach, Straßburg 1488) in 2 Bänden, Paul Wilpert (Hg.), Berlin 1976: (in Band 2 u.a. enthalten:) De mathematicis complementis, S. 388–430 De mathematica perfectione, S. 698–709
SCHRIFTEN DES NIKOLAUS VON KUES in deutscher Übersetzung (Im Auftrage der Heidelberger Akademie der Wissenschaften), Karl Bormann/Ernst Hoffmann/Paul Wilpert (Hg.), Hamburg/Leipzig 1936ff.: Heft 3: Die Kalenderverbesserung (De correctione kalendarii) [1434/35] lat./dt., übersetzt und bearbeitet von Viktor Stegemann und Bernhard Bischoff, Ernst Hoffmann (Hg.), Heidelberg 1955 Heft 11: Die mathematischen Schriften, Sammlung, dt., Joseph Ehrenfried Hofmann (Hg.), Hamburg 2 1980 (= Philosophische Bibliothek 231:) (Hierin die folgenden Texte in deutscher Übersetzung:) De geometricis transmutationibus (Von den geometrischen Verwandlungen) [1445] De arithmeticis complementis (Von den arithmetischen Ergänzungen) [1445] De circuli quadratura (Von der Quadratur des Kreises) [1450] Quadratura circuli (Die Kreisquadratur) [1453?] De mathematicis complementis (libri duo) (Von den mathematischen Ergänzungen) [1453] Magister Paulus ad Nicolaum Cusanum Cardinalem (Magister Paulus an den Kardinal Nikolaus von Kues [1453/54] Declaratio rectilineationis curvae (Erklärung der Kurvenausstreckung) [nach 1453] De una recti curvique mensura (Über das eine Maß des Geraden und des Gekrümmten) [nach 1453] Dialogus de circuli quadratura (Der Dialog über die Quadratur des Kreises) [1457] De caesarea circuli quadratura (Die Kaiserliche Quadratur des Kreises) [1457] De mathematica perfectione (Über die mathematische Vollendung) [1458] Aurea propositio in mathematicis (Der Goldene Satz in der Mathematik) [1459]
Literaturverzeichnis
315
Heft 13: Vom Globusspiel (De ludo globi (libri duo)) [1462/63], dt. von Gerda von Bredow, Ernst Hoffmann (Hg.), Hamburg 21952 (= Philosophische Bibliothek 233)
CUSANUS-TEXTE (Schriften der Philosophisch-Historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften), Heidelberg 1929ff. (in dieser Reihe enthalten:) Cusanus-Texte 3: Marginalien, Heidelberg 1941ff.: 1. Nicolaus Cusanus und Ps. Dyonysius im Lichte der Zitate und Randbemerkungen des Cusanus, Ludwig Bauer (Hg.), Heidelberg 1941 4. Raimundus Lullus. Die Exzerptensammlung aus den Schriften des Raimundus Lullus im Codex Cusanus 83, Ulli Roth (Hg.), Heidelberg 1999
1.1.2. HERANGEZOGENE HANDSCHRIFTEN Autographe Notizen und Skizzen des Nikolaus von Kues zur Sehnenrechnung (aus den Beständen der Harleian Collection des British Museum, London), Cod. Harl. 3631, fol. 112r De circuli quadratura [aus den Handschriftenbeständen der Bayerischen Staatsbibliothek München] clm 18711, fol. 242v–249v De mathematicis complementis [aus den Beständen der Handschriftensammlung der Hospitalsbibliothek Bernkastel-Kues], Cod. Cus. 219, fol. 51r–66r De mathematica perfectione [aus den Beständen der Handschriftensammlung der Hospitalsbibliothek Bernkastel-Kues], Cod. Cus. 219, fol. 194r–198v
1.1.3. EINZELDRUCKE Aurea propositio in mathematicis [ediert in: Daniela Mazzuconi: Il ‚De cesarea circuli quadratura’ e l' ‚Aurea propositio in mathematicis’ di Niccolò Cusano, in: Italia Medioevale e Umanistica 13 (1980), S. 49–76, hier: S. 73–75, ferner als Vordruck zur lateinischen Edition der Mathematischen Schriften durch Prof. Menso Folkerts, Münchner Zentrum für Wissenschaftsgeschichte zur Verfügung gestellt]
316
Literaturverzeichnis
De arithmeticis complementis [aus den Beständen der Kapitelsbibliothek von Toledo] Codex Toletanus bibliothecae capitularis (= Cod. To.) 19–26, fol. 175r–176r, eine vorläufige Druckfassung wurde mir dankenswerterweise von Menso Folkerts, der die Schrift als Vorform der in den Renaissancedrucken enthaltenen Fassung identifiziert und transkribiert hat, zur Verfügung gestellt. Diese Edition wird Teil einer von Folkerts geplanten Veröffentlichung unter dem Arbeitstitel Eine neue Schrift des Nikolaus von Kues
De caesarea circuli quadratura [1457] Cod. Bibl. Ambros. Mailand G74 inf., fol. 3r–4r [ediert in: Daniela Mazzuconi: Il ‚De cesarea circuli quadratura’ e l' ‚Aurea propositio in mathematicis’ di Niccolò Cusano, in: Italia Medioevale e Umanistica 13 (1980), S. 49–76, hier: S. 67–72, ferner als Vordruck zur lateinischen Edition der Mathematischen Schriften durch Prof. Menso Folkerts, Münchner Zentrum für Wissenschaftsgeschichte zur Verfügung gestellt]
De mathematica perfectione [aus den Beständen der Kapitelsbibliothek von Toledo, die Handschrift entstand vermutlich kurz vor der Kueser Version] Codex Toletanus bibliothecae capitularis (= Cod. To.) 19–26, fol. 188r–191r, abgedruckt bei: Klaus Reinhardt: Eine bisher unbekannte Handschrift mit Werken des Nikolaus von Kues in der Kapitelsbibliothek von Toledo (mit Transkriptionen der Vorform von De mathematica perfectione), in: MFCG 17, Rudolf Haubst (Hg.), Mainz 1986, S. 96–142
Historia reverendissimi illustrissimi domini cardinalis Nicolai de Cusa ediert in: Johannes Uebinger: Zur Lebensgeschichte des Nikolaus Cusanus, in: Historisches Jahrbuch 14 (1893), S. 549–550 [kurze autobiographische Skizze des Nikolaus von Kues, Schreiber war sein Sekretär Peter von Erkelenz] Kurzes Textstück zur Kosmologie in der Kueser Hospitalsbibliothek (Cod. Cus. Cus. 211, fol. 55v)
(ediert in:)
Pierre Duhem: Le Systeme du monde, S. 313–315
Ernst Hofmann: Das Universum des Nikolaus von Kues, Heidelberg 1930 (= Cusanus-Texte 1), S. 44f. [versehen mit einer umfangreichen Einleitung von Raimund Klibansky, S. 41–43). Klibansky hat zugleich eine Übersicht über die Editionsgeschichte des Textes erstellt (Ebd., S. 41f., Anm. 4)]
317
Literaturverzeichnis
1.2. SCHRIFTEN ANDERER AUTOREN 1.2.1. DRUCKE ADELHARD(US) von Bath (siehe auch EUKLID) Quaestiones naturales, ediert in: Martin Müller: Die Quaestiones naturales des Adelardus von Bath, Münster (Westf.) 1934 (= Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters. Texte und Untersuchungen 312), S. 1–69
ALHAZEN (eigentlich: Abū 'Alī al-Ḥasan ibn al-Ḥasan ibn al-Haytham) Opticae thesaurus Alhazeni Arabis libri septem, nunc primum editi a Federico Rismero, Basel 1572 [kritische lat.-engl. Ausgabe der ersten drei Bücher über den Schatz der Optik: Alhacen's theory of visual perception: a critical edition, with English translation and commentary, of the first three books of Alhacen's ‘De aspectibus’, the medieval Latin version of Ibn al-Haytham's Kitāb al-Manāzir , lat.-engl., A. Mark Smith (Hg./Übers.), Philadelphia 2001 (=Transactions of the American Philosophical Society 37)]
AVICENNA (eigentlich: Abū 'Alī al-Ḥusayn ibn Abdallāh ibn Sīnā) Liber de anima, ediert in: Avicenne perhypatetici philosophi, ac medicorum facile primi Opera, in lucem redacta, ac nuper quantum ars niti potuit per canonicos emendata. Logyca, Sufficientia, De celo & mundo, De anima, De animalibus, De intelligentiis, Alpharabius de intelligentiis, Philosophia prima, Venedig 1508 [unv. Nachdr. d. Ausg.: Frankfurt a. M. 1961]
Leon Battista ALBERTI Das Standbild, Die Malkunst, Grundlagen der Malerei, dt, O. Bätschmann u. Christoph Schäublin (Hgg.), Darmstadt 2000 Ludi rerum mathematicarum, Cecil Grayson (Hg.), in: L.B. Alberti. Opere volgari 3, Bari 1973, S. 133–173 Opera inedita et pauca separatim impressa, H. Mancini (Hg.), Florenz 1890
ALBERTUS MAGNUS De causis et processu universitatis a prima causa, Winfried Fauser (Hg.), Aschendorff 1993 (= Opera omnia172 (Nr. 20 der laufenden Bandzählung))
Muḥammad ibn Mūsā AL-ḪAWĀRAZMĪ (auch: al-Ḫwārizmi) Liber pulveris, ed. in: André Allard: Muhammad ibn Mūsā al-Khwārizmī. Le Calcul Indien (Algorismus). Histoire des textes, édition critique, traduction et commentaire des plus anciennes versions latines remaniées du XIIe siècle, Paris 1992
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Liber ysagogarum Alchoarismi, ed. in: André Allard: Muhammad ibn Mūsā al-Khwārizmī. Le Calcul Indien (Algorismus). Histoire des textes, édition critique, traduction et commentaire des plus anciennes versions latines remaniées du XIIe siècle, Paris 1992
(ANONYM) Anonyme Isoperimeterabhandlung (12./13. Jhdt.), ediert in: Hubertus L.L. Busard: Der Traktat De isoperimetris, der unmittelbar aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzt worden ist, in: Medieval Studies 42 (1980), S. 61–88
ARCHIMEDES Archimedis Opera omnia (cum commentariis Eutocii), Johan L. Heiberg (Hg.), gr.-lat., in 3 Bänden, Leipzig 1910–1915 (in Bd. 1 enthalten:) Dimensio circuli, S. 230–243 De sphaera et cylindro, S. 2–229 (in Bd. 2 enthalten:) De lineis spiralibus, S. 2–121 De planorum aequilibris, S. 124–213 (in Bd. 3 enthalten:) Eutocii commentarii in libros de sphaera et chylindro, S. 2–225 Eutocii commentarii in dimensionem circuli, S. 2–261
Werke, dt., Arthur Czwalina (Hg./Übers.), Darmstadt 1963 (darin enthalten:) Des Archimedes Methodenlehre von den mechanischen Lehrsätzen [an Eratosthenes], S. 382–402 Kreismessung (Dimensio circuli), S. 370–377 Kugel und Zylinder (De sphaera et cylindro), S. 77–150 Über das Gleichgewicht ebener Flächen, S.179–210
ARISTOTELES Lehre vom Schluss oder erste Analytik (Analytica priora), dt. von Eugen Rolfes, Hamburg 19753 (= Philosophische Bibliothek 10)
AUGUSTINUS De consensu evangelistarum, F. Weihrich (Hg.), Wien 1904 (= CSEL 43) De doctrina christiana, Klaus Detlef Daur (Hg.), Turnhout 1962 (=CCSL 32)
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Roger BACON Opus maius, Bd. 2 (von 3 Bänden)], John Henry Bridges (Hg.), in 3 Bänden (Bd. 3 = Supplement), Oxford 1877–1900, [unv. Nachdr. d. Ausg.: Frankfurt am Main 1964]
Prosdocimo de BELDOMANDIS Algorismus de integris magistri Prosdocimi Debeldamandis Pataui simul cum algorismo de de minutijs seu fractionibus magistri Ioannis de Linerij siculi, Federigo Delfino (Hg.), Venedig 1540 Comentum sphaerae Prosdocimum de Beldomandi patricium Patavium divinae Mathesos professorem clarissimum, Lucantonio de Junta (Hg.), Venedig 1531 Libellus monochordi, ediert in: Scriptorum de Musica medii aevi, Nova Series 3, E. Coussemaker (Hg.), S. 248–258
Johannes BESSARION In calumniatorem Platonis libri IV, ediert in: Kardinal Bessarion als Theologe, Humanist und Staatsmann. Funde und Forschungen 2 (= Bessarionis In calumniatorem Platonis libri IV textum Graecum addita vetere versione Latina primum edidit Ludwig Mohler), Ludwig Mohler (Hg.), Aalen 1967 (Neudruck der Ausgabe Paderborn 1927) (= Quellen und Forschungen aus dem Gebiete der Geschichte 22) [Streitschrift Bessarions gegen Georg von Trapezunt]
Anicius Manlius Torquatus BOËTHIUS (Editionen der Institutiones arithmeticae in chronologischer Ordnung:) De institutione arithmetica libri duo, in: De institutione arithmeticae libri duo/De institutione musicae libri quinque accedit Geometria quae fertur Boëtii, Gotfried Friedlein (Hg.), Frankfurt am Main 21966 Institution arithmétique, lat.-frz., Jean-Yves Guillaumin (Hg./Übers.), Paris 1995 De arithmetica, Heinrich Oosthout und Johannes Schilling (Hg.), Turnhout 1999 (= Anicii Manlii Severini Boëthii Opera 2) (= Corpus Christianorum Serias Latina 94) Institutio arithmetica. Fundamentos de Aritmética, lat. (Faks.)/span., María Asunción Sánchez Manzano (Hg./Übers.), Leon 2002 De institutione muscia, Giovanni Marzi (Hg./Übers.), lat.-ital., Rom 1990 In Isagogen Porphyrii Commentorum editio prima, Samuel Brandt (Hg.), Wien u. Leipzig 1906 (= Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum (CSEL) 48) [Übersetzung des Porphyrios-Kommentars zu den aristotelischen Kategorien]
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Thomas BRADWARDINE Geometria speculativa, lat.-engl., George Molland (Hg.), Stuttgart 1989 (= Boethius. Texte und Abhandlungen zur Geschichte der exakten Wissenschaften 18) Tractatus de proportionibus, ediert in: Henry Lamar Crosby: Tractatus de Proportionibus. Its Significance for the Development of Mathematical Physics, lat/engl, Madison 1955, S. 64– 140
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Gerhard von BRÜSSEL Liber de motu, ediert in: Marshall C. Clagett: The science of mechanics in the Middle Ages, Madison 21961, S. 185–195
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Giovanni Andrea dei BUSSI Lobrede (des Giovanni Andrea dei Bussi), ediert in: Martin Honecker: Nikolaus von Kues und die griechische Sprache, Heidelberg 1938, (= Cusanus-Texte 2) (= Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse 28 (Jg. 1937/38)), S. 70–73
Johannes BUTEO De quadratura circuli libri duo, ubi multorum quadraturae confutantur, et ab omnium impugnatione defenditur Archimedes, Lyon 1559
CALCIDIUS Commentarius in Timaeum, Jan Hendrik Waszink (Hg.), London 1962
CAMPANUS von Novara (siehe EUKLID)
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Aurelius CASSIODORUS De artibus ac disciplinis liberalium litterarum, in: PL Migne 70, Paris 1864, Sp. 1106–1220.
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(ediert in:) Christoph Falkenroth: Die Musica speculativa des Johannes de Muris: Kommentar zur Überlieferung und kritische Edition (nach der Handschrift MS 1927 BB XXV 14 (~1444), fol. 201r–205r, der Universitätsbibliothek Krakau), Stuttgart 1992 (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 34) Susan Fast (Hg.), Ottawa 1994 (= Musicological Studies 61)
(Pseudo-)DIONYSIOS Areopagita Über die himmlische Hierarchie. Über die kirchliche Hierarchie, Günther Heil (Hg./Übers.), Stuttgart 1986 (= Bibliothek der griechischen Literatur 22) Περί τής ουρανίας ίεραρχίας (Über die Himmlischen Hierarchien), Jacques-Paul Migne (Hg.), Paris 1857 (= Patrologiae Cursus Completus, Series Graeca 3), Sp. 119–339
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EUKLID (Moderne Ausgaben der euklidischen Elemente:) Die Elemente: Bücher I–XIII, dt., Clemens Thaer (Übers./Hg.), Frankfurt am Main 42003 (Leipzig 1933) (= Oswalds Klassiker der exakten Wissenschaften 235) [übersetzt auf der Grundlage der Ausgabe von Heiberg (siehe nachfolgenden Eintrag)] Euclidis Elementa, gr.-lat., in 5 Bänden, Johann Ludwig Heiberg (Hg.), Leipzig 1883–1888 The thirteen books of Euclid’s Elements, engl, in 3 Bänden, Thomas L. Heath (Hg.), New York 21956 [übersetzt auf der Grundlage der Heiberg-Ausgabe mit vielen Kommentaren] (Ausgaben mittelalterlicher Übersetzungen der Elemente:) Die Adelhard von Bath zugeschriebene Fassung (= Version Adelahard I), ediert in: The first latin translation of Euclid’s ‚Elements’ commonly acribed to Adelhard of Bath, Hubertus L.L. Busard (Hg.), Toronto 1983 Anonyme Euklid-Übersetzung des 12. Jhdts. aus Sizilien oder Süditalien, ediert in: The medieval latin translation of Euklid´s Elements. Made directly from the Greek, H.L.L. Busard (Hg.), Stuttgart 1987 (= Boethius. Texte und Abhandlungen zur Geschichte der exakten Wissenschaften 15), S. 28–411 Version nach Gerhard von Cremona, ediert in: The Latin Translation of the Arabic Version of Euclid’s ‚Elements’ commonly ascribed to Gerhard of Cremona, Hubertus L.L. Busard (Hg.), Leiden 1983 (= Asfār. Publikaties van het Documentatiebureau Islam–Christendom van de Rijksuniversiteit te Leiden 2) Die sogenannte Version Adelhard II (Robert of Chester?), ediert in: Robert of Chester’s (?) Redaction of Euclid’s ‚Elements’, the so called Adelhard II Version, in 2 Bänden, Hubertus L.L. Busard u. Menso Folkerts (Hgg.), Basel/Boston/Berlin 1992 (= Science Networks 8–9) [im 12. und 13. Jahrhundert im lateinischen Westen sicher die wichtigste EuklidÜbersetzung] Anonyme Adaption der Adelhard II-Version aus dem 13. Jhdt., ediert in: A ThirteenthCentury Adaption of Robert of Chester’s Version of Euclid’s ‘Elements’, in 2 Bänden, Hubertus L.L. Busard (Hg.), München 1996 (= Algorismus. Studien zur Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften, Heft 171–2) Version nach Johannes de Tinemue (auch: John of Tynemouth) (= Version Adelhard III), ediert in: Johannes de Tinemue’s redaction of Euclid’s Elements, the so-called Adelard III version, in 2 Bänden, Hubertus L.L. Busard (Hg.), Stuttgart 2001 (= Boethius. Texte und Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften 451–2) Version nach Campanus von Novara, ediert in: Campanus of Novara and Euclid’s ‚Elements’, in 2 Bänden, Hubertus L.L. Busard (Hg.), Stuttgart 2005 (= Boethius. Texte und Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften 511–2) [Zur Geschichte mittelalterlicher Euklid-Übersetzungen siehe: Menso Folkerts: Euclid in Medieval Europe, Winnipeg 1989]
EUTOCIUS Eutokii Ascalonite rememoracio in libros Archimedis de spera et chylindro, ediert in: Archimedes in the Middle Ages 2 (= The translations from the Greek by William of Moerbeke), Marshall Clagett (Hg.), Philadelphia 1976, S. 221–285 (siehe auch: ARCHIMEDES)
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Robert FLUDD Utriusque cosmi maioris scilicet et minoris metaphysica, physica atque technica historia in duo volumina secundum cosmi differentiam divisa, Theodore de Bry (Hg.), Oppenheim 1617ff.
GEMINOS von Rhodos Εισαγωγή εις τα φαινόµενα (Gemini elementa astronomiae ad codicum fidem interpretatione et commentariis instruxit), gr.-dt., Karl Manitius (Hg.), Stuttgart 1974 [Nachruck der Ausgabe: Leipzig 1898] [mit einer Einleitung in lateinischer Sprache]
Robert GROSSETESTE De lineis, angulis et figuris, De iride, Ludwig Baur (Hg.), Münster 1912 (= Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters 9)
HEYMERIC(US) De Campo Opera selecta, Ruedi Imbach/Pascal Ladner (Hgg.), Fribourg 2001 (= Spicilegium Friburgense 39) [Kritische Teilausgabe der Werke Heymerics] (darin enthalten:) Epistola ad Papam Martinum V (‘Hussiten-Dialog’), bearb. von Rolf de Kegel (S. 35) De sigillo eternitatis, bearb. von Ruedi Imbach u. Pascal Ladner (S. 93–128) Ars demonstrativa, bearb. von Jean-Daniel Cavigioli (S. 129–168) Tractatus de naturali veritatis catholice analesy, bearb. von Zénon Kaluza (S. 169–204) Alphabetum doctrinale, bearb. von Jerzy Korolec (S. 205–221)
HIPPOKRATES von Chios De sophisticis Elenchis, nach der Übersetzung des Boëthius ediert in: Translatio Boethii, Fragmenta Translationis Iacobi et Recensio Guillelmi de Moerbeke, G. Dod (Hg.), Leiden/Brüssel 1975 (= Aristoteles Latinus VI 1–3)
Christiaan HUYGENS De circuli magnitudine inventa, Den Haag 1910 [nach dem Erstdruck: Leiden 1654] (= Œuvres 12), S. 113–215
JOACHIM de Fiore Expositio super Apocalypsim, Venedig 1527 [unv. Nachdruck: Frankfurt am Main 1964]
Johannes DE TINEMUE (John of Tynemouth) (siehe EUKLID)
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Johannes KEPLER Gesammelte Werke (Im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Bayerischen Akademie der Wissenschaften), Max Caspar/Franz Hammer (Hg.), München 1937ff. (Einzelbände:) Gesammelte Werke 1: Mysterium cosmographicum de stella nova, Max Caspar (Hg.), München 1938 Gesammelte Werke 9: Mathematische Schriften (Stereometria doliorum/Messekunst Archimedis/Chilias logarithmorum), Franz Hammer (Hg.), München 1960 Gesammelte Werke 19: Briefe 1607–1611, Kepler-Kommission (Hg.), bearb. von Peter Michael Schenkel, München 2005
Athanasius KIRCHER Musurgia Universalis, Ulf Scharlau (Bearb.), Hildesheim (u.a.) 1970 (= Nachdruck der Ausgabe Rom 1650)
LACTANTIUS (Lucius Caecilius Firmianus) Liber divinarum institutionum, ediert in: PL Migne 6, Paris 1844 (= Lactantii Opera Omnia 1), Sp. 111–822
Raimundus LULLUS (auch: Ramon Lull) De quadratura et triangulatura circuli, in: Joseph Ehrenfried Hofmann: Die Quellen der Cusanischen Mathematik I. Ramon Lulls Kreisquadratur, Heidelberg 1942 (= Cusanus-Studien 7), S. 21–37 Ars generalis et ultima, Aloisius Madre (Hg.), Turnhout 1986 (= Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 75) (= Opera latina 14, Nr. 128)
Robert OF CHESTER (siehe EUKLID)
Nicole ORESME Algorismus proportionum, ediert in: Maximilian Curtze: Der algorismus proportionum des Nicolaus Oresme. Zum ersten Male nach der Lesart der Handschrift R.4o.2. der Königlichen Gymnasial-Bibliothek zu Thorn herausgegeben, Berlin 1868, S. 13–30
Quaestiones super geometriam Euclidis, Hubertus L.L. Busard (Hg.), Leiden 1961 (= Janus. Revue Internationale de l’Histoire des Sciences, de la Médicine, de la Pharmacie et de la Technique, Suppléments 3) Tractatus de configurationibus qualitatum et motum secundum doctorem et magistrum Nych. Orem, ediert in: Nicole Oresme and the medieval geometry of qualities and motions, Marshall Clagett (Hg.), Madison (Milwaukee)/London 1968, S. 158–437
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Luca PACIOLI De divina proportione, C. Winterberg (Hg.), Wien 1889 (Erstdruck: Venedig 1509) Summa de arithmetica, geometria, proportioni et proportionalità, Enrico Giusti (Hg.), Rom 1994 (Faksimiledruck der Erstausgabe: Venedig 1494)
Johannes PECKHAM Perspectiva communis, kritisch ediert in: David C. Lindbergh: John Pecham and the Science of Optics. Perspectiva communis, Madison (Milwaukee)/London 1970, S. 60–243
Georg PEURBACH De quadrato geometrico, gedruckt als Anhang zu: Scripta clarissimi mathematici M. Ioannis Regiomontani de torqueto, astrolabio armillari, regula magna Ptolemaica baculoque astronomico et observationibus cometarum/ Observationes motuum solis ac stellarum tam fixarum quam erraticarum, Johannes Schöner (Hg.) Nürnberg 1544 [Faks.-Nachdruck: Frankfurt am Main 1976] Elementa arithmetices, algorithmus de numeris integris, fractis, regulis communibus, de proportionibus, Johannes Voegelin (Hg.), Wittenberg 1536 (Einleitung von Philip Melanchton)
Johannes PHILOPONOS Johannes Grammatici Philoponi in Aristotelis posteriora analytica commentarii, Paris 1543
PLATON Platons sämtliche Dialoge, Otto Apelt (Hg.), Leipzig 1922ff. (Nachdruck: Hamburg 31988): (Einzelbände:) Der Staat (Politeia) (= Platons sämtliche Dialoge 5) (= Philosophische Bibliothek 80) Lysis (= Platons sämtliche Dialoge 3, S. 67–122) (= Philosophische Bibliothek 176)
PROKLOS Diadochus (auch: Proklus) Kommentar zum ersten Buch von Euklids Elementen, Max Steck (Hg.), Halle (Saale) 1945
Michal PSELLOS (latinisiert: PSELLUS) De daemonum operatione, in: Patrologia Graeca 122, Jacques Paul Migne (Hg.), Paris 1853, S. 853–854
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Claudius PTOLEMÄUS (Klaudios Ptolemaios) Almagest
(Ausgaben der Syntaxis mathematica (auch: Megiste Syntaxis und, in der für die mittelalterliche Rezeption maßgeblichen arabischen Übersetzung: Almagest), in absteigender chronologischer Ordnung der Editionen:) Ptolemy’s Almagest, engl., Gerald J. Toomer (Übers./Hg.), Princeton (New Jersey) 1998 Des Claudius Ptolemäus Handbuch der Astronomie, deutsch, Karl Manitius (Hg./Übers.), in 2 Bänden, Leipzig 1912 [Almagest-Ausgabe in deutscher Übersetzung] Syntaxis mathematica, Johann L. Heiberg (Hg.): Leipzig 1898 (= Claudii Ptolemaeii opera quae exstant omnia 1)
Johannes REGIOMONTANUS Der Briefwechsel des Regiomontan mit Giovanni Bianchini, Jacob von Speier und Christian Roder, Leipzig 1902 (= Abhandlungen zur Geschichte der exakten Wissenschaften 12)
De triangulis omnimodis libris quinque, Johannes Schoner (Hg.), Nürnberg 1533 [enthält als Anhang unter anderem die Stellungnahmen Regiomontans zu einigen Quadraturschriften des Nikolaus von Kues (93 Seiten mit eigener Paginierung)] (darin u.a. als Anhang enthalten:) Nikolaus von Kues: De quadratura circuli, S. 13–21 [einschließlich De una recti curvique mensura, auch ediert in der Faksimile-Sammelausgabe: Joannis Regiomontani Opera collectanea, Felix Schmeidler (Hg.), Osnabrück 1972 (= Milliaria X,2), S. 421–425] Nikolaus von Kues: Dialogus de quadratura circuli, S. 22–28 [auch ediert in: Opera collectanea, S. 426–428] De quadratura circuli secundum Nicolau[m] Cusensem Dialogus Ioann[is] de Monteregio, S.22–28 [Regiomontans kritische Replik auf Nikolaus Dialogus de quadratura circuli] [auch ediert in: Opera collectanea, S. 438–444] In editionem domini Nicolai de Cusa Cardinalis S. Petri ad Vincula De quadratura circuli, S. 39–94[enthält unter anderem ausführliche Berechnungen Regiomontans zu einem heute verschollenen Quadraturtraktat des Kusaners] [auch ediert in: Opera collectanea, S. 455–510] Ioannes Germanus Paulo Florentino artium & medicinae doctori celebratissimo, ac Mathematicorum praestantissimo, Begleitschreiben zu Joannis de regio monte Germani, nationis Francicae, Mathematicarum disciplinarum principis, De quadratura circuli, dialogus, S. 29– 38 [Ein Faksimileabdruck findet sich in: Opera collectanea, Felix Schmeidler (Hg.), Nr. 5b, S. 29–38 (im Faksimlie, S. 445–454 der laufenden Zählung), hier vor allem: S. 29 (S. 445 der laufenden Zählung)] [Schreiben Regiomontans an Toscanelli] Epytoma Ioa[n]nis de mo[n]te regio in almagestu[m] ptolomei, Johannes Hamann (Hg.), Venedig 1496 [Regiomontans, von Bessarion angeregte und durch Peurbach vorbereitete Einführung in den ptolemäischen Almagest]
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Oratio Johannis de Monteregio habita Patavij in praelectione Alfragani, in: Rudimenta astronomica, Johannes Schöner (Hg.), Nürnberg 1537, fol. a4, ß1r–5r. [als Faksimile-Druck neu ediert in: Joannis Regiomontani Opera collectanea, Felix Schmeidler (Hg.), Osnabrück 1972 (= Milliaria X,2), S. 43–53] Scripta clarissimi mathematici M. Ioannis Regiomontani de torqueto, astrolabio armillari, regula magna Ptolemaica baculoque astronomico et observationibus cometarum/Observationes motuum solis ac stellarum tam fixarum quam erraticarum, Johannes Schöner (Hg.), Nürnberg 1544 (darin im Anhang: Georg Peurbach: De quadrato geometrico) (Faks.-Nachdr.: Frankfurt 1971) [Sammlung kürzerer astronomischer und mathematischer Schriften Regiomontans]
THEODULF Carmina, Ernst Dümmler (Hg.), S. 437-581 (= MGH Poetae Latini aevi Carolini 1)
THIERRY von Chartres Comentum super Boethii librum de trinitate, ediert in: Nikolaus M. Häring (Hg.): Commentaries on Boethius by Thierry of Chartres, Toronto 1971 (= Studies and Texts 20), S. 55–116 [Version nach den Handschriften Oxford, Bodleian Library, Cod. Lyell 49, fol. 81r–99v; München, Bayerische Staatsbibliothek clm. 2580, fol. 1r und 66v; Erlangen, Universitätsbibliothek 182, fol. 66r–103v; Tours, Bibliothèque munic. 300, fol. 67r–70v]
Paolo [dal Pozzo] TOSCANELLI Della prospettiva, Alessandro Parronchi (Hg.), Mailand 1991 (= Testi e documenti 5)
Albert VON SACHSEN (auch: Albertus Saxoniae) Datis duabus lineis inaequalibus, inter eas duas medias proportionales invenire, Heinrich Suter (Hg.), in: Zeitschrift für Mathematik und Physik 32 (Jg. 1887), S. 52–54
Gerhard VON CREMONA (siehe EUKLID)
Johannes WENCK De ignota litteratura, ediert in: Edmond Vansteenberghe: Le "De ignota Litteratura" de Jean Wenck de Herrenberg contre Nicolas de Cuse. Texte inédit et étude, Münster (Westfalen) 1910 (= Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters, Bd. 8 H. 6)
Gioseffo ZARLINO Istitutioni harmoniche, New York 1966 [nach der Ausgabe: Venedig 31573]
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1.2.2) EINZELNE HANDSCHRIFTEN DER HOSPITALSBIBLIOTHEK ZU BERNKASTELKUES
ABBO von Fleury Kommentar zum Calculus victorii, Cod. Cus. 206, fol. 1v–42r [Marx erwähnt den Text nur anonym: Handschriftenverzeichnis, S. 192f.]
ALBUMASAR (eigentlich: Abū Ma’Šār) De magnis coniunctionibus siderum et annorum revolutionibus in summa de significationibus, Cod. Cus. 208, fol. 75r–118v
Thomas BRADWARDINE Opus causa Dei, Cod. Cus. 93, 164 Bl., mit einer kurzen autographen Notiz des Nikolaus auf fol. 164v
Heymeric(us) DE CAMPO Collectio posicionum iuris naturalis divini et humani philosophice doctrinalium, Cod. Cus. 106, fol. 195r–273v
EUKLID Elementa (übertitelt: Geometria cum commento), in Auszügen nach der Ausgabe des Johannes Campanus [Erstdruck: Venedig 1482], Cod. Cus. 205, fol. 134r–188v
Raimundus LULLUS (Ramón Lull) De quadratura et triangulatura circuli, Cod. Cus. 83, fol. 173v–177v Liber de ascensu et descensu intellectus, Cod. Cus. 83, fol. 229r–fol. 273v [in Kues ohne Überschrift]
PLATON Parmenides, Cod. Cus. 186, fol. 10r–150r [mit einer Vielzahl von Randbemerkungen von Nikolaus‘ Hand] Parmenides (Lat. Übers. des Georg von Trapezunt), ediert in: Ilario Ruocco: Il Platone latino. Il ‘Parmenide’: Giorgio di Trebisonda e il cardinale Cusano, Florenz 2003 (= Studi. Accademia toscana di scienze e lettere La Colombaria 203)
Ṯābit ibn Qurra (auch: Thebit) De motu accessionis et recessionis, Cod. Cus. 215, fol. 96r–98v
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329
1.2.3.) HANDSCHRIFTEN ANDERER BIBLIOTHEKEN Brüssel, Bibliothèque Royale, 1022-1047, fol. 89v-98v und 1022-1047, fol. 172v-184r (eine astronomische Abhandlung und ein Traktat zur Fassmessung von Petrus de Iuliaco)
London, British Museum, Harleian Collection, Cod. Harl. 3631 (darin u.a. enthalten:) Drei astronomische Abhandlungen des Abū Ma’Šār (latinisiert: Albumasar): Introductorium maius in scientia astrorum (fol. 1r–57r) [wie auch auf fol. 1r vermerkt, handelt es sich um die lateinische Übersetzung des Johannes Hispalensis (auch: Johannes von Sevilla)] De magnis coniunctionibus siderum et annorum revolutionibus in summa de significationibus (fol. 58r–110r) Flores de iudiciis astrorum sive liber de revolutionibus annorum fol. 110r–111v)
Nürnberg, Stadtbibliothek, Cent. V. 62 (= Trapezunt-Übersetzung der ptolemäischen Syntaxis (arabisch: Almagest)), 263 Bl. [Autograph des Johannes Regiomontanus]
Oxford, Bodleian Library, Cod. Lyell 52 (darin u.a. enthalten:) Johannes Sacrobosco (?): Algorismus de integris (fol. 35r–41v) Algebraischer Text nach al-Ḫwārizmi (fol. 42r–49r) [ediert in: Wolfgang Kaunzer: Die lateinische Algebra in MS Lyell 52 der Bodleian Library, Oxford, früher MS Admont 612, in: Aufsätze zur Geschichte der Naturwissenschaften und Geographie, Günther Hamann (Hg.), Wien 1986, S. 47–89 Planetentafeln des Azarchel (az-Zarqālu) (fol. 50r–72v) Zwei Bearbeitungen des 14./15. Jhdt. zur Arithmetik des al-Ḫwārizmi (fol. 1r–20r und fol. 21r–34r) [siehe hierzu: Menso Folkerts: Die Quellen und die Bedeutung der Mathematischen Werke des Nikolaus von Kues, in: MFCG 28 (= Nikolaus von Kues. 1401–2001. Akten des Symposiums in Bernkastel-Kues vom 23. bis 26. Mai 2001), Klaus Kremer/Klaus Reinhardt (Hgg.), Trier 2003, S. 291–332, hier: S. 303]
Paris, Bibliothèque Nationale, F.L. 7473, fol. 1r–16v (übertitelt: Illustrissimo D(omi)no D. Ioanni Vegae in Scicilia proregi ac caesareo archistratego Franciscvs [Franciscus] Mavrolyc(vs) [Maurolicus] abbas foelicitate(m) perp(etvam) [perpetuam]) [es handelt sich bei diesem Stück um ein Schreiben Francisco Maurolicos an den Vikar Juan de Vega, datiert auf den 8. August 1556, mit Verweisen auf die mathematischen Beiträge des Kusaners]
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1.3.) AKTEN LIBRI ACTORUM UNIVERSITATIS HEIDELBERGENSIS Series A: Acta universitatis Heidelbergensis, in 2 Bänden, Jürgen Miethke (Hg.), Heidelberg 1990 ACTA CUSANA. Quellen zur Lebensgeschichte des Nikolaus von Kues (Im Auftrage der Heidelberger Akademie der Wissenschaften), Erich Meuthen und Hermann Hallauer (Hg.), in bisher fünf Lieferungen (1,1/1,2/1,3a/1,3b/1,4), Hamburg 1976–2000 URKUNDENBUCH DER UNIVERSITÄT HEIDELBERG in 2 Bänden, Eduard Winkelmann (Hg.), Heidelberg 1886
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2. SEKUNDÄRLITERATUR 2.1. GEDRUCKTE ABHANDLUNGEN Eric J. AITON Infinitesimals and the area law, in: Internationales Kepler-Symposium: Weil der Stadt 1971. Fritz Krafft/Karl Meyer/Berhard Sticker (Hgg.), Hildesheim 1973, S. 284–305 John F. d‘AMICO Renaissance Humanism in Papal Rome, Baltimore/London 1983. Willy ANDREAS Deutschland vor der Reformation. Eine Zeitenwende, Stuttgart 21948 Andrew Barker Greek Musical Writings 2. Harmonic and Acoustic Theory, Cambridge 1989 Oskar BECKER Beiträge zur phänomenologischen Begründung der Geometrie und ihrer physikalischen Anwendung, in 2 Bänden., 2Tübingen 1973 Die Grundlagen der Mathematik in geschichtlicher Entwicklung, Freiburg im Breisgau/München 21964 Geschichte der Mathematik*, Bonn 1951 Peter BECKMANN A history of Pi, Boulder 41977 Max BENSE Geist der Mathematik. Abschnitte aus der Philosophie der Arithmetik und Geometrie, München u. Berlin 1939 Volker BIALAS Zur Cusanus-Rezeption im Werk von Johannes Kepler, in: Nikolaus von Kues: Vordenker moderner Naturwissenschaft?, H. Schwaetzer u. H. Stahl (Hgg.), Regensburg 2003 (= Philosophie interdisziplinär 7), S. 45–53 Franz Joseph BIANCO Die alte Universität Köln sowie die zu Köln administrierten Studien-Stiftungen, Bd. 11 (= Die alte Universität Köln. Kölner Gelehrte des 14.–18. Jahrhunderts. Verzeichnisse der Rektoren und bedeutender, an der Universität immatrikulierter Personen), Köln 21974 [Neudruck der zweiten Auflage 1855] Die alte Universität Köln, Bd. 1,2 (= Die alte Universität Köln. Nachtrag: Ausführliche Nachrichten über die Niederlassung und das Wirken der Gesellschaft Jesu in Köln. Anlagen: Akten und Quellen), Köln 21974 [Neudruck der zweiten Auflage 1855. *
gemeinsam mit Joseph Ehrenfried Hofmann.
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Ernst BINDEL Die Zahlengrundlagen der Musik im Wandel der Zeiten, Stuttgart 1950 Axel A. BJÖRNBO Die mittelalterlichen lateinischen Übersetzungen aus dem Griechischen auf dem Gebiet der mathematischen Wissenschaften, in: Archiv für die Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik 1 (1909), S. 385–394 Dieter BLUME Regenten des Himmels. Astrologische Bilder in Mittelalter und Renaissance, Berlin 2000 (= Studien aus dem Warburg-Haus 3) Hans BLUMENBERG Aspekte der Epochenschwelle. Cusaner und Nolaner, Frankfurt am Main 1976 (= Die Legitimität der Neuzeit 4) Die kopernikanische Wende, Frankfurt am Main 1965 Marco BÖHLANDT Figurae paradigmaticae: die Bildsprache der konjekturalen Logik an der Schnittstelle von Mathematik, Optik und Lichtmetaphysik, in: Spiegel und Porträt. Zur Bedeutung zweier zentraler Bilder im Denken des Nicolaus Cusanus, Inigo Bocken u. Harald Schwaetzer (Hgg.), Maastricht 2005, S. 287–322 (= Festschrift Klaus Reinhardt) Missing Link. Spurensuchen zu Leben und Werk des Paolo Toscanelli, in: Mathematics Celestial and Terrestrial. Festschrift für Menso Folkerts zum 65. Geburtstag, Joseph W. Dauben/Stefan Kirschner/Andreas Kühne/Paul Kunitzsch/Richard P. Lorch (Hgg.), München 2008 (= Acta Historica Leopoldina 54) Vollendung und Anfang. Zur Genese der Schrift 'De mathematica perfectione', in: MFCG 29 (= Sammelband zur Tagung Das Mathematikverständnis des Nikolaus von Kues, mathematische, naturwissenschaftliche und philosophisch-theologische Dimensionen. 8–10. Dezember 2003, Kloster Irsee), Friedrich Pukelsheim u. Harald Schwaetzer (Hgg), Trier 2005, S. 3–40 Wege ins Unendliche. Die Quadratur des Kreises bei Nikolaus von Kues, Augsburg 2003 [= Algorismus, Heft 40] María Luisa Righini BONELLI Paolo dal Pozzo Toscanelli y su importancia en el mundo científico del siglo XV, in: Boletín de la Academia Nacional de Ciencias 48 (1970), S. 599–602 Franz BORKENAU Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild, Darmstadt 1971 Karl BORMANN Die Randnoten des Nikolaus von Kues zur lateinischen Übersetzung des platonischen "Parmenides" in der Handschrift Volterra, Biblioteca Guarnacci, 6201, in: Studien zum 15. Jahrhundert., Johannes Helmrath und Heribert Müller (hg. in Zusammenarbeit mit Helmut Wolff), 2 Bde. (mit durchgängiger Seitenzählung), Bd. 1, München 1994 (= Festschrift für Erich Meuthen) S. 331 – 341
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Nikolaus von Kues über Maße und Gewichte, St. Katherinen 1986. Diana BORMANN-KRANZ Untersuchungen zu Nikolaus von Kues De theologicis complementis, Stuttgart u. Leipzig 1994 (= Beiträge zur Altertumskunde 56) Tilman BORSCHE Was etwas ist? Fragen nach der Wahrheit der Bedeutung bei Platon, Augustin, Nikolaus von Kues und Nietzsche, München 1992 Stefano BORSI Niccolò V (1447-1455), in: La papauté à la Renaissance (= Travaux du Centre d'Études Supérieures de la Renaissance de Tours, Bd. 12), Florence Alazard/Frank La Brasca (Hgg.), Paris 2007, S. 401–438 Arno BORST Computus. Zeit und Zahl in der Geschichte Europas, Berlin 1990 Nicolas BOURBAKI Elements of the history of mathematics, Berlin u. Heidelberg 1994 Alan C. BOWEN und Bernard R. GOLDSTEIN Geminus and the concept of mean motion in Greco-Latin astronomy, in: Archive for the History of the Exact Sciences 502 (1996), S. 157–185 Wolfgang BREIDERT Mathematik und symbolische Erkenntnis bei Nikolaus von Kues, in: MFCG 12, Rudolf Haubst (Hg.), Mainz 1977, S. 116–126 David M. BURTON The history of mathematics: An introduction, Dubuque 31991 Florian CAJORI A history of mathematics, New York 31980 Moritz CANTOR Vorlesungen über die Geschichte der Mathematik, in 3 Bänden, Leipzig 21913 Francis J. CARMODY The Astronomical Works of Thabit b. Qurra, Berkley (Los Angeles) 1960. Notes on the astronomical works of Thabit B. Qurra, in: Isis 46 (1955), S. 235–242
Ernst CASSIRER Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, in 2 Bänden, Berlin 21911 Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Berlin u. Leipzig 1927
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Giovanni CELORIA Sulle osservazioni di comete fatte da Paolo dal Pozzo Toscanelli e sui lavori astronomici suoi in generale, Mailand 1921 (= Pubblicazioni del Reale Osservatorio astronomico di Brera in Milano 55) Michel CHASLES Geschichte der Geometrie (hauptsächlich mit Bezug auf die neueren Methoden), Vaduz (Liechtenstein) 1988 [unveränderter Nachdruck der Ausgabe: Brüssel 1837] Marshall C. CLAGETT Archimedes in the Middle Ages, in 10 Bänden und 5 Teilen, Madison*/Philadelphia 1964– 1980 The science of mechanics in the Middle Ages, Madison 21961 The works of Francesco Maurolico, in: Rivista Internazionale di Storia della Scienza 162 (1974), S. 149–198 John J. CLEARY Aristotle and mathematics: Aporetic method in cosmology and metaphysics, Leiden/New York/Köln 1995 (= Philosophia antique. A series of studies on ancient philosophy 67) Eusebio COLOMER Das Menschenbild des Nikolaus von Kues in der Geschichte des christlichen Humanismus, in: MFCG 13, Martin Bodewig/Josef Schmitz/Reinhold Weier (Hgg.), Heidelberg 1978, S. 117– 148 Alistair C. CROMBIE Science, art and nature in medieval and modern thought, London 1996 Science, Optics and Music in Medieval and Early Modern Thought, London 1990 Von Augustinus bis Galilei. Die Emanzipation der Naturwissenschaft, Köln/Berlin 1964 Gianluca CUOZZO Bild, visio und Perspektive, in: Spiegel und Porträt. Zur Bedeutung zweier zentraler Bilder im Denken des Nicolaus Cusanus, Inigo Bocken u. Harald Schwaetzer (Hg.), Maastricht 2005 (= Veröffentlichungen des Cusanus Studien Centrums 4) (zugl.: Festschrift für Klaus Reinhardt zum 70. Geburtstag), S. 177–196 Patricia CURD The Legacy of Parmenides. Eleatic Monism and Later Presocratic Thought, Las Vegas 2004
*
Editionsort der nachfolgenden Bände ist Philadelphia.
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∗
gemeinsam mit Frank Henschel.
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2.2. ELEKTRONISCHE QUELLEN Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL) Online-Version der Druckfassung in 14 Bänden und 7 Ergänzungsbänden, Bd. 1/2 herausgegeben von Friedrich-Wilhelm Bautz, ab Bd. 3 herausgegeben von Friedrich-Wilhelm Bautz†, fortgeführt von Traugott Bautz, Hamm u.a. 1990ff, URL: http://www.bautz.de/bbkl/ [Stand: 15. Januar 2006]
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Elektronische Ausgabe der Werke des Nikolaus von Kues (ohne die mathematischen Schriften) in englischer Übersetzung von Jasper Hopkins, URL: http://cla.umn.edu/sites/jhopkins/. [Stand: 22. Februar 2009]
Jordanus. Ein internationaler Katalog naturwissenschaftlicher Handschriften des Mittelalters URL: http://jordanus.ign.uni–muenchen.de (Gemeinschaftsprojekt des Lehrstuhls für Geschichte der Naturwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München und des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte Berlin zur Erfassung mathematischnaturwissenschaftlicher Handschriften des Mittelalters)
Wittgenstein’s Nachlass. The Bergen electronic edition 6 CD-Roms Oxford [u.a.]: 2000 [= Elektronische Ausgabe des Nachlasses von Ludwig Wittgenstein]
352
Register
Personenregister
A
B
Abbo von Fleury (um 945 – 1004) 120 Abū ʿAlī al-Ḥasan ibn al-Hayṯam (lat.: Alhazen, † um 1039) 124f., 127 Abū-Maʻšar Ǧaʻfar ibn-Muḥammad (lat.: Albumasar, †886) 47 Adelhard von Bath (um 1090–um 1150) 63, 209, 209 Albert von Sachsen (um 1316–1390) 63, 102 Alberti, Leon Battista (1404–1472) 91, 127, 128, 228, 232f., 237, 256 Albertus Magnus (um 1193–1289) 37, 91, 183 Alexander von Bremen (†1271) 76 Al-Farghānī, Abū al-ʿAbbās Aḥmad ibn Muḥammad ibn Kathīr (lat.: Alfraganus, 9. Jahrhundert) 32 Al-Khwarizmī (Muḥammad ibn Mūsā, Abū Ǧaʿfar al-Ḫawārazmī, auch: al-Ḫwārizmi, um 780–zwischen 835 und 850) 29, 46, 232 Alphons V. von Portugal (1432–1481) 34 Al-Zarqālī, Abū Isḥāq Ibrāhīm ibn Yaḥyā alNaqqāsh (lat.: Azarchel, um 1029‒1100) 46 Anaximander (um 610–545 v. Chr.) 105 Antonio de la Cerda (†1459) 222, 224, 292, 296–298 Antonio de’Mazzinghi 190 Antonius Gratia Dei (†um 1492) 269 Archimedes 52, 189, 194, 202, 214, 233, 235f., 237f., 241f., 274f., 284, 287, 297 Aristoteles 20, 29, 44, 84, 85, 90, 114, 122, 124, 135, 150–152, 157, 165, 205, 213, 223f., 255, 282, 293 Arnaldus de Villanova († 6. Sept. 1311) 69 Augustinus (354–430) 76, 78, 90, 91 Averroës (eigentlich: Abū l-Walīd Muḥammad ibn Aḥmad ibn Muḥammad ibn Rušd (1126–1198)) 150, 224 Avicenna (eigentlich: Abū 'Alī al-Husayn ibn Abdallāh ibn Sīnā, 980–1037) 125
Bacon, Roger (um 1220–1292) 125 Bassolis, Johannes (†um 1347) 104 Beldomandi, Prosdocimo de (um 1370– 1428) 33, 35, 36, 102, 174 Benzi, Ugo (1376–1439) 33 Bessarion, Johannes (1395–1472) 32, 55, 56, 57, 58, 222, 237, 311 Bianchini, Giovanni (lat.: Johannes Blanchinus, †1466 (?)) 191 Boëthius, Anicius Manlius Torquatus Severinus (480–524) 75, 90, 91, 101, 122, 138, 156–159, 160–163, 165, 169, 172–174, 189, 255 Bradwardine, Thomas (um 1290–1349) 30, 102, 201, 205, 232, 258 Bruno, Giordano (1548–1600) 28, 59, 64 Bryson von Herakleia (um 450–um 390 v. Chr.) 223f., 255 Buridanus, Johannes (auch: Jean Buridan, um 1300–1358) 31, 111, 152 C Calcidius (um 400) 45 Campanus, Johannes von Novara (1. Viertel 13. Jh. –1296) 31, 94, 101, 201, 209, 225 Cantor, Georg (1845–1918) 104 Cardano, Gerolamo (auch: Geronimo oder Girolamo, lat.: Hieronymus Cardanus, 1501 – 1576) 105 Cassiodorus, Magnus Aurelius (490–585?) 189 Cassirer, Ernst (1874–1945 ) 16, 306 Cauchy, Augustin Louis (1789–1857) 210 Cesarini, Giuliano (1398–1444, Kardinal 1433) 24, 41, 157, 222 Columbus, Christoph (ital.: Cristoforo Colombo, span.: Cristóbal Colón , 1451 (?)–1506) 34 Conradus Wernheri de Steynsberg 30 Copernicus, Nicolaus (1473–1543) 28, 62, 63 Cryffts, Johan 24 Cryffts, Katharina 24
353
Register
D Dank, Johannes (um 1330) 47 Dardi von Pisa 190 Decembrio, Pier Candido (1392–1497) 85 Descartes, René (1596–1650) 28, 231 (Pseudo-)Dionysios Areopagita 37, 86, 148, 151 Duns Scotus, Johannes (1265/66‒1308) 63, 165, 186 E (Meister) Eckhardt (eigentlich: Eckhard von Hochheim, um 1260–1328?) 22, 64 Eriugena, Johannes Scotus (810–877) 45, 86 Eudoxos (408–355 v. Chr.) 211, 239 Eugen IV. (eigentlich: Gabriele Condulmaro 1383–1447, Papst 1431) 56 Euklid (um 360–um 280 v. Chr.) 31, 43, 95, 98, 101, 124, 126, 133, 125, 188, 201, 203f., 208, 210f., 223, 232, 239, 261, 294, 300f. Eutokios von Askalon (6. Jhdt.) 31, 202 F Faber Stapulensis, Jacobus (eigentlich: Jacques Lefèvre d’Étaples, um 1455– 1536) 65, 69, 144, 178, 180, 287, 305 Ferrari, Ludovico (1522–1569) 196 Friedrich III. (1415–1493, Ks. 1452) 278 G Gaetano da Thiene (?‒?) 33 Galileo Galilei (1564-1642) 161 Galilei, Vincenzo 161 Geminos von Rhodos (lat.: Geminus, um 10 v. Chr.– um 60 n. Chr) 54, 55 Georgios von Trapezunt (auch: Trebizond, 1395–1486) 56, 57 Gerardi, Paolo 190 Gerbert d’Aurillac (um 945–1003, Papst (Sylvester II.) 999) 98, 138 Gerhard von Cremona (um 1114‒1187) 54, 57, 202, 208, 214 Gerson, Johannes (1363–1429) 43 Giovanni Andrea dei Bussi (1417–1475) 128, 305 Gregor von Rimini (um 1300–1358) 104 Grosseteste, Robert (um 1170–1253) 125
Grote, Gerrit (auch: Gerhardus Magnus, 1340–1384) 25 Guldin, Paul (eigentlich: Habakuk Guldin, 1577–1643) 96 H Heinrich von Langenstein (1340‒1397) 43 Heymericus de Campo (eigentlich: Heinrich van de Velde, 1395–1460) 36, 37, 40, 41, 131f., 172, 251 Hippasos von Metapont (5 Jh. v. Chr.) 135 Hippokrates von Chios (um 440 v. Chr.) 254f. Holkot, Robert (um 1290–1349) 104 Humboldt, Alexander von (1769–1859) 59 J Jakob von Cremona (lat.: Jacobus Cremonensis, genauere Lebensdaten sind nicht bekannt) 214, 236, 239, 297 Joachim von Fiore (um 1130‒1202) 76, 80, 81 Johannes de Lineriis (1. Hälfte des 14. Jahrhunderts) 36 Johannes de Muris (auch: Jean de Muris, 1290–1351) 94, 158f., 173f., 202, 213, 237 Johannes Hispalensis (auch: Johannes von Sevilla, um 1150) 47 Johannes VIII. Palaeologus (1392–1448) 56 Johannes von Gmunden (1384‒1442) 53 Johannes de Tinemue (auch: John of Tynemouth, *um 1290) 95, 209 Jordanus de Nemore (frühes 13. Jahrhundert) 232 K Kepler, Johannes (1571–1630) 15, 28, 63, 64, 96 Kilwardby, Robert (1215(?)–1279) 129 Konrad von Worms (†1392) 30 Kyros (II.) (um 600–529 v. Chr.) 71 L Lactantius (eigentlich: Lucius Caecilius Firmianus, um 250–nach 317) 69 Leibniz, Gottfried Wilhelm (1646–1716) 28, 231, 242 Leonardo da Vinci (1452–1519) 28 Leonardo von Pisa (auch: Fibonacci, um 1170–um 1240) 138, 190
354
Register
Ludwig III. von der Pfalz (1378‒1436, Kurfürst von der Pfalz 1410) 15 Lullus, Raimundus (auch: Ramón Lull, um 1232–1316) 39, 40, 84, 86, 116, 150, 152, 205, 208, 254, 271, 277 M Manfredi, Bartolomeo 269 Marsilius von Padua (um 1270‒um 1342) 41 Martines, Fernão (auch: Fernam Martins, lat.: Fernandus Martinus) 34 Matthäus von Krakau (um 1335/1340–1410) 30 Maurolico, Francisco (1494–1575) 53, 54 Medici, Cosimo de’ (1389‒1464) 68 N Niccoletti, Paolo (1370–1428) 33 O Omnisanctus (Toussaint) Vasarius von Livry 196, 200, 215, 287 Oresme, Nicole (lat.: Nicolaus Oresmius, vor 1330–1382) 29, 31, 43, 61, 95, 96, 102, 256–258 Otto von Ziegenhain (†1430) 36 P Pacioli, Luca (1445–1517) 190 Paolo Veneto (um 1369–1429) 33 Parentucelli, Tommaso (1397–1455, Papst (Nikolaus V.) 1447–1455) 127, 227, 228, 236, 249, 253, 310 Pascal, Blaise (1623–1662) 28, 37, 41 Peckham, Johannes (auch: John Peccam, †1292) 123, 124, 125, 126 Peletier, Jacques (1517–1582) 97 Peter Wimar (auch: Petrus von Erkelenz, † nach 1464) 24, 251 Petri, Henricus 260 Peurbach, Georg (1423–1461) 53, 57, 247f., 260, 275, 308 Philoponos, Johannes (6. Jahrhundert n. Chr.) 223f. Pier Leoni di Spoleto 292 Pierre d´Ailly (1350‒1420) 43 Pietro d´Abano (1250‒1315) 33 Platon (428/427–348/347) 20, 58, 66, 84, 85, 90, 98, 121, 122, 123, 125, 132, 155,
166, 167, 171, 183, 185, 189, 202f., 269, 293 Plethon, Georgios Gemistos (um 1355– 1452) 56 Plotin (um 205–270) 119 Plutarch (46–120 v. Chr.) 189 Poseidonos (135–50 v. Chr.) 54 Proklos (410–485) 43, 58, 94, 97, 149, 150, 152, 185 Ptolemaios, Klaudios (latinisiert: Claudius Ptolem(a)eus, um 100–178) 47, 51, 52, 53–57, 59, 155 Pythagoras (um 570–nach 510 v. Chr.) 78 R Regiomontanus, Johannes (1436–1476) 32, 34, 53, 57, 190, 191, 237, 247, 259, 269, 270–278, 286, 308 Roder, Christian 270f., 276 S Sacrobosco, Johannes de (†1256?) 29, 36, 46, 101, 102 Schöner, Johannes (1477–1547) 32, 191, 248, 259 Sokrates (469–399 v. Chr.) 78, 165, 223 Spinoza, Baruch (1632–1677) 28, 231 Stifel, Michael (1487–1567) 210f. T Ṯābit ibn Qurra (Abu l-Ḥasan Ṯābit b. Qurra b. Marwān aṣ-Ṣābiʾ al-Ḥarrānī, lat.: Thebit, 826–901) 43, 60 Theodulf (750/760-821, Bischof von Orléans 800) 156 Thierry von Chartres (um 1085–um 1155) 91 Toscanelli, Paolo (auch: Paolo fisico, 1397 – 1482) 33, 34, 35, 68, 103, 127, 195, 202, 207, 216f., 233, 237, 246–248, 258, 266f., 270, 271, 275, 276, 307 Tyconius († vor 400) 76 U Ulrich von Manderscheid (†1438) 41 V Vansteenberghe, Edmond 22, 25, 32, 33, 41, 103, 238, 251, 293
Register
Visconti, Filippo Maria (Herzog, 1392– 1447) 85 Vittorino da Feltre (1378‒1446) 33 W Wenck, Johannes (1396–1459) 117 Wilhelm von Moerbeke (1215–1286) 149, 202, 232 X Xenophon (um 426–355 v. Chr.) 57 Z Zelada, Francisco Xavier (1717–1801) 291
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Sachregister A Abakus→Rechenbrett Abbakustexte 139 Abstieg (durch die Erkenntnisvermögen) 116, 119, 145, 154, 182 Alchemie 233 Algebra 46, 139, 189–192, 196f., 199, 256 Algorismus 29, 46 Algorithmus, euklidischer 135 Andersheit 114, 115f., 118, 119f., 126, 130– 132, 137, 141, 144, 147, 149, 156, 164, 183f. Anglergleichnis, 122 Antichrist 76 Apokalypse 72, 74, 76 Apotome 170f. Aristotelismus 37, 86, 149, 150 Ars nova 168f., 174, 195 Ars vetus 168 Artes liberales→(Sieben) Freie Künste Artes mechanicae 26, 165 Artifex 230 Ascensio→Aufstieg (durch die Erkenntnisvermögen) Astrolabium 59, 61 Astrologie 33, 35, 67, 68, 69 Attingere 94, 115 Aufstieg (durch die Erkenntnisvermögen) 76, 98f., 115, 117, 119, 122, 134, 154, 183, 185 Ausfaltung 114, 119, 126, 130, 133, 137, 140–142, 146f., 150–153, 176, 181, 187, 192, 250, 253, 296 Averroismus 33 B Beweger, Erster 184 Bibliothek, Bernkastel-Kues (Hospitalsbiblio thek) 24, 30, 37, 39, 70, 85, 123, 176, 237, 291 Bibliothek, Vatikanische 269 C Certitudo 75, 108, 113, 114 Chiliasmus 74
Coincidentia oppositorum→Zusammenfall der Gegensätze Kontrapunkt 169, 173 Creatio ex nihilo 87 D De figura mundi (verschollener Traktat des Nikolaus von Kues) 65 Denar 137, 146, 150–152, 163f., 176, 181, 183 Descensio→Abstieg (durch die Erkenntnis vermögen) Deus secundus 87 Devotio moderna 25 Diagonalenproblem 171f., 206, 207, 209, 239, 263 Diapason 159f., 163, 168, 172 Diapente 159f., 163, 168, 172 Diatesseron 159f., 163, 168, 172 Docta ignorantia→Unwissenheit, belehrte Doctrina 77 Dreieck, unendliches 97–100 Dreiursächlichkeit (Gottes) 91 E Einheit, ontologische 59, 75, 86, 105f., 112116, 118-122, 126, 143, 176, 180f., 184, 211, 301 Einheit, mathematisch-erkenntistheoretische 125–152 Ekliptik 61 Emanation→Ausfaltung Empfangstheorie, optische 125–127, 129 Epiphanie 24, 56, 179 Episteme 80, 120 Erdrotation 60-62 Erste Wiener Mathematische Schule 53 Eschatologie 69, 72–74, 81 Explicatio→Ausfaltung F Fassrechnung 38, 39, 234 Figura paradigmatica 119-142 Figura universi 142-164 Fixsternsphäre 60, 65 Formlatituden 30, 95, 256–259
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Register
Formursache 91 (Sieben) Freie Künste 27, 28, 33, 53, 67, 123, 165–167, 178
Kugel, unendliche 100–103 Kugelberechnung 297 L
G Geozentrik 62 Globusspiel 175–187 Gnomon 200 Grenzen, archimedische 194f., 214, 240, 262f., 265, 280f., 285, 289 H Heliozentrik 62, 308 Höhlengleichnis, platonisches 83 I Idealzahlen 84 Idiota→Laie Imaginatio→Vorstellungsvermögen Infinitesimalmathematik 197, 209f., 245, 284, 308, 310 Inkommensurabilität 44, 53, 62, 65, 83, 89, 135f., 170, 173, 206, 208, 210–213, 268, 276f. Intellectus→Vernunft Inzidenzwinkel 30 Irrationalzahlen 210 K Kalenderrechnung 20, 41–48, 63, 67 Kegel 119, 258f. Koinzidenz →Zusammenfall der Gegensätze Koinzidenzien 296 Komputistik→Kalenderrechnung Konjektur 73, 85, 107–187, 234 Konkordanz 67, 73, 86, 121, 126, 156, 166f., 295 Konsonanz 164–175 Konstruktion, platonische 201 Kontingenzwinkel 44, 93 Konzil zu Basel 41, 42, 46, 56, 68, 69, 70, 82, 121 Konzil zu Ferrara–Florenz 56, 58, 83, 127 Körper, platonische 63, 135 Kosmologie (passim) siehe vor allem Kap. 2.5-2.7 (52–81), 3.1.5 (104f.), und 3.2.5-3.2.6. (142–164) Kreis, unendlicher 92–97 Kreisquadratur (passim) siehe vor allem Kap. 4 (188-304) Kreiszahl (passim)
Laie 140, 175, 177, 226-245, 264 Latitudines formarum→Formlatituden Limma 170f. Liniengleichnis, platonisches 83 M Marionettengleichnis 184 Maximum absolutum 88, 99, 103f., 106, 108, 115 Medizin (als Interessengebiet des Nikolaus) 35f. Medizin (als Universitätsfach) 27, 33 Mens 106, 117, 120, 130, 134, 164, 183f., 231, 250f. Möndchenquadratur 205, 254, 259 Musik 10, 27, 33, 53, 67, 155-157, 163, 165171, 178 Mutmaßung→Konjektur N Neuplatonismus 37, 65, 86, 103, 119, 131, 140, 149f., 152f. Nicht-Anderes 78 Non-aliud→Nicht-Anderes Numeri abstracti 207 Numeri ficti 207 P Phantasia 114 Platonismus 85-87 Progressio naturalis→Zahlenreihe, natürliche Proportionalen, Berechnung von 197–201 Pyramide (der Finsternis, des Lichts) 115– 129, 143, 154 Pyramis lucis/tenebrae→Pyramide (der Finsternis, des Lichts) R Ratio→Verstand Rechenbrett 137f. Regula doctae ignorantiae 89, 166, 225, 241 Rhitmomachie 179 S Scholarenprivileg (authentica habita) 38
358
Register
Scientia de ponderibus 232 Scuole d’abbaco 26 Sehnenrechnung 48–52 Sendetheorie, optische 125, 129 Sensus→Wahrnehmung, sinnliche Spirale, archimedische 199, 214, 237f., 240, 258, 274f. Strahlensätze 203f. T Techné 164 Tetraktys 130, 133, 135, 138, 141, 146f., 151, 160, 167, 176, 180 Theophanie 129, 143, 181, 183, 185 Tierkreis 61 Torquetum 61 Toscanelli-Karte 34 Trepidation 60 Trinität 64, 76, 90, 133, 148, 152, 176, 182, 184, 251, 298, 303 U Unendlichkeit, absolute 100–107 Unendlichkeit, privative 100–107 Unendlichkeit, transfinite 103 Universität Heidelberg 27–32 Universität Köln 32–36 Universität Padua 36-40 Unwissenheit, belehrte (passim) siehe vor allem Kap. 3.1. (83-106) V Valor→Wert Vernunft 45, 77, 83–93, 106, 108–111, 114, 116, 121f., 141f., 163, 165, 167, 177, 206– 208, 213, 245, 252, 264, 295
Verstand 45, 62, 77, 83–93, 94, 108–111, 114, 116, 120f., 131, 133f., 140, 143f., 148, 152, 154, 163, 167, 176, 182f., 206, 210, 212f., 226, 252, 264, 295 Vorstellungsvermögen 84, 88 Visio intellectualis 206, 250, 294f. W Wahrnehmung, sinnliche 42, 80, 83–93, 106, 116, 121, 142, 144, 150, 295 Wechselwegnahme→Algorithmus, euklidischer Wert 187, 287 Widerspruch, Satz vom 151 Winkel, unendlicher 97, 98, 99 Winkeldefinition, flächenmäßige 97, 98, 99, 225, 295 Wirkursache 91 Z Zahlenreihe, natürliche 121, 130, 133f., 136f., 140-142, 146f., 160, 164, 184 Zielursache 91, 92 Ziffern, indisch-arabische 46, 136f., 140, 234 (Beschränkung auf) Zirkel und Lineal 189, 193, 199, 203, 221, 225, 237, 258, 261 Zusammenfall der Gegensätze 56, 66, 88, 90, 94, 98, 99, 103, 104, 106, 109, 110, 111, 112, 117, 121, 129, 131f., 157, 172, 204, 206, 208, 210, 245, 250f., 255, 259, 268, 270, 283, 294, 296 Zwischenwertsatz 192f., 199, 214, 217, 224f., 246, 263, 265, 280, 284f.