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German Pages 350 [352] Year 2011
Eva Buddeberg Verantwortung im Diskurs
Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Jens Halfwassen, Dominik Perler, Michael Quante
Band 102
De Gruyter
Verantwortung im Diskurs Grundlinien einer rekonstruktiv-hermeneutischen Konzeption moralischer Verantwortung im Anschluss an Hans Jonas, Karl-Otto Apel und Emmanuel Le´vinas
von
Eva Buddeberg
De Gruyter
ISBN 978-3-11-025146-3 e-ISBN 978-3-11-025145-6 ISSN 0344-8142 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Buddeberg, Eva. Verantwortung im Diskurs : Grundlinien einer rekonstruktiv-hermeneutischen Konzeption moralischer Verantwortung im Anschluss an Hans Jonas, Karl-Otto Apel und Emmanuel Le´vinas / Eva Buddeberg. p. cm. − (Quellen und Studien zur Philosophie, ISSN 0344-8142 ; Bd. 102) Revision of the author’s thesis − Frankfurt am Main, 2009. Includes bibliographical references (p. ) and index. ISBN 978-3-11-025146-3 (hardcover : alk. paper) 1. Responsibility. 2. Jonas, Hans, 1903−1993. 3. Apel, Karl-Otto. 4. Le´vinas, Emmanuel. I. Title. BJ1451.B83 2011 170−dc22 2011012986
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Danksagung Das vorliegende Buch ist eine berarbeitete Fassung der Arbeit Verantwortung im Diskurs, die ich im Januar 2009 als Dissertation am Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften der Johann Wolfgang GoetheUniversitt, Frankfurt am Main, eingereicht habe. Rainer Forst und Axel Honneth haben meine Dissertation betreut und mich in allen Phasen whrend und nach Abschluss der Promotion vorbehaltlos untersttzt. Dafr mçchte ich Ihnen sehr herzlich danken. Insbesondere Rainer Forst hat immer wieder Teile meiner Arbeit gelesen, ausfhrlich kommentiert und kritisiert und mich ermutigt, meine Thesen weiter zu entwickeln. Sehr dankbar bin ich auch Klaus Gnther, der mich gleich zu Beginn meiner Arbeit an der Dissertation eingeladen hat, an dem von ihm und Barbara Heitzmann geleiteten Arbeitskreis Rechtssoziologie am Institut fr Sozialforschung teilzunehmen, in dem ich einen interessierten und fr meine Fragen offenen Gesprchskreis gefunden habe. Außerdem danke ich Charles Larmore fr seine Einladung an die University of Chicago, wo ich durch den DAAD gefçrdert einen dreimonatigen Studienaufenthalt verbracht habe. Die Gesprche dort mit ihm und Arnold Davidson waren fr mich besonders aufschlussreich. Ausfhrlichen Gesprchen mit Karl-Otto Apel, Jochen Bojanowski, Manfred Buddeberg, Oliver Flgel, Andreas Gelhard, Achim Hecker, Mattias Iser, Matthias Kettner, Karim Lasri, Sophie Loidolt, Martin Saar, Nora Sieverding, Danny Trom, Achim Vesper, Frieder Vogelmann und Christoph von Wolzogen whrend und nach Abschluss meiner Dissertation ber verschiedene Aspekte und Probleme dieser Arbeit verdanke ich wichtige Anregungen. Besonders erwhnen mçchte ich Michele Salonia und Jçrg Schaub, die mir whrend der gemeinsamen Zeit in Frankfurt zu wichtigen Gesprchspartnern und Freunden geworden sind und die mich immer wieder, auch in Phasen grçßeren Zweifels ermutigt haben, diese Arbeit fortzusetzen. Meike Behrmann, Jan von Brevern, Manfred Buddeberg, Illa Drosselmeyer, Annette Fçgen, Bernd Klçckener und Frieder Vogelmann waren mir bei der Korrektur des Textes und der Fertigstellung des Manuskripts von großer Hilfe. Auch hierfr mçchte ich mich noch einmal herzlich bedanken.
VI
Danksagung
Teile meiner Arbeit konnte ich im Kolloquium von Rainer Forst vorstellen und mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern diskutieren, was fr die Klrung und Ausarbeitung vieler meiner Ideen sehr hilfreich war. Meine Teilnahme an diesem Forschungskolloquium ebenso wie die am Kolloquium von Axel Honneth haben mir immer wieder Anregungen und Gelegenheit zu wertvollem Gedankenaustausch gegeben. Außerdem gilt mein Dank der Graduierten Fçrderung der Universitt Frankfurt fr die Untersttzung meiner Arbeit an dieser Dissertation durch ein Promotionsstipendium sowie dem Frankfurter Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“, der die Publikation dieser Arbeit mit einem Satz- und Druckkostenzuschuss gefçrdert hat und dessen intellektuelles Umfeld ein wichtiger Rckhalt fr mich und meine Arbeit war. hnliches gilt fr die anderthalb Jahre, die ich whrend meiner Promotion als Fachlektorin des DAAD an der EHESS und der MSH in Paris arbeiten konnte. Sehr herzlich danken mçchte ich auch dem Verlag Walter de Gruyter, insbesondere den Herausgebern der Reihe „Quellen und Studien zur Philosophie“ sowie Gertrud Grnkorn und Christoph Schirmer fr die gute Zusammenarbeit. Schließlich mçchte ich mich bei Klaus Helmrich, Illa Drosselmeyer, meinen Schwestern, Jenny und Alice, und meinen Eltern, Dorle und Manfred Buddeberg, bedanken, ohne deren Hilfe, Untersttzung und Ermutigung ich diese Arbeit nicht htte schreiben kçnnen. Meinen Eltern mçchte ich diese Arbeit widmen.
Inhalt Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XI 1
Teil I Explikation des Vorverstndnisses I.1. I.1.1. I.1.2. I.1.3. I.1.4. I.1.5.
Relata von Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Subjekt der Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Objekt der Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Instanz der Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Normativer Bezugsrahmen – notwendiges Relatum der Verantwortungsrelation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11 13 23 29 38 40
Teil II Verantwortung bei Hans Jonas, Karl-Otto Apel und Emmanuel Lvinas II.1. II.1.1. II.1.1.1. II.1.1.2. II.1.1.3. II.1.2. II.1.2.1.
Hans Jonas’ Prinzip Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . Verantwortung fr die Zukunft der Menschheit . . . . . . Subjekt der Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Objekt der Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Instanz der Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jonas’ Begrndung(en) von Verantwortung . . . . . . . . . . Objektiver Grund – die menschliche Verpflichtung gegenber der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.1.2.1.1. Zwecke der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.1.2.1.2. Werte in der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.1.2.1.3. Das An-sich-Gute der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.1.2.2. Subjektiver Grund – das menschliche Verantwortungsgefhl gegenber Schwachem . . . . . II.1.3. Wie lsst sich verantwortlich handeln? – Verantwortung fr die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47 47 54 57 58 60 61 63 69 70 72 75
VIII
Inhalt
II.1.3.1. II.1.3.2. II.1.4.
Jonas’ Zukunftsverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verantwortliche Praxis und die Relata von Verantwortung Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
76 78 87
II.2. II.2.1. II.2.1.1. II.2.1.2. II.2.1.3. II.2.1.4.
Karl-Otto Apels Diskursverantwortung . . . . . . . . . . . . . Primordiale Mitverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Subjekt der Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Objekt der Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Instanz der Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskursive Mitverantwortung in der transzendentalpragmatischen Variante . . . . . . . . . . . Verantwortung als nichthintergehbare Voraussetzung allen Argumentierens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Faktum der Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einwnde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verantwortliches Handeln im Sinne der Diskurstheorie . Diskursethik als Verantwortungsethik: Die Notwendigkeit eines Ergnzungsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verantwortliches Handeln – Diskurs oder Strategie? . . . Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Exkurs: Gesinnungsethik versus Verantwortungsethik oder die Mçglichkeit einer Synthese? . . . . . . . . . . . . 2. Exkurs: Verantwortung als Moralstrategie: Eine alternative Antwort auf Habermas? . . . . . . . . . . . . .
89 89 90 91 92
II.2.2. II.2.2.1. II.2.2.2. II.2.3. II.2.3.1. II.2.3.2. II.2.4.
II.3. II.3.1. II.3.1.1. II.3.1.2. II.3.1.3. II.3.2. II.3.2.1. II.3.2.2. II.3.2.3.
Emmanuel Lvinas’ ursprungslose Verantwortung . . . . . Verantwortung als dem anderen Menschen zu gebende Antwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Subjekt der Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Objekt der Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Instanz der Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verantwortung als begrndungslose Beziehung zum Anderen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Reduktion: Von der Sprache auf ihre grundlegende Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die methodische Unmçglichkeit einer Reduktion . . . . . Das Verhltnis von Gesagtem und Sagen: Die Verantwortung fr den anderen Menschen – noch vor jedem Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
99 105 105 108 120 120 124 130 133 135 145 146 156 163 167 172 174 177 180
Inhalt
II.3.3. II.3.3.1. II.3.3.2. II.3.3.3. II.3.4.
Verantwortung und Gerechtigkeit: Wie lsst sich verantwortlich handeln? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verantwortung: Existenzial oder Aufgabe des Menschen? Die Asymmetrie in der Begegnung mit dem anderen Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unbegrenzte Verantwortung fr den Anderen und die Frage der Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IX 186 186 187 190 196
Teil III Grundlinien einer rekonstruktiv-hermeneutischen Konzeption moralischer Verantwortung III.1. III.1.1. III.1.2. III.1.3. III.1.4. III.1.5.
Verantwortlich sein und Verantwortung haben . . . . . . . Handeln und Intentionalitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Handeln und Grnde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Handeln und Handlungskontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . Handeln und der Anspruch auf Rechtfertigbarkeit . . . . Handeln und Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
205 206 213 221 224 234
III.2. III.2.1. III.2.2.
Grundlagen moralischer Verantwortung . . . . . . . . . . . . 240 Sprache – Anspruch – Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . 241 Verantwortung als moralische Pflicht . . . . . . . . . . . . . . . 253
III.3. III.3.1. III.3.2. III.3.3.
Verantwortliches Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verantwortliches Handeln – Gerechtigkeit als Maß . . . . Epoch als konstitutives Element verantwortlichen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verantwortliches Handeln und sprachliche Verstndigung
III.4.
Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
274 277 284 291
Teil IV Schluss IV.1.
Einige – nicht abschließende – Thesen . . . . . . . . . . . . . 313
X
Inhalt
Teil V Anhnge Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335
Siglenverzeichnis DuV EPP EzD
Apel, Karl-Otto Lvinas, Emmanuel Habermas, Jrgen
GMS HM JS
Kant, Immanuel Lvinas, Emmanuel Lvinas, Emmanuel
KpV MS MuK
Kant, Immanuel Kant, Immanuel Habermas, Jrgen
PV Rel
Jonas, Hans Kant, Immanuel
SuZ TkH TU
Heidegger, Martin Habermas, Jrgen Lvinas, Emmanuel
Diskurs und Verantwortung Ethique comme philosophie premire „Erluterungen zur Diskursethik“ in: Erluterungen zur Diskursethik Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Humanismus des anderen Menschen Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht Kritik der praktischen Vernunft Die Metaphysik der Sitten Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln Das Prinzip Verantwortung Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft Sein und Zeit Theorie des kommunikativen Handelns Totalitt und Unendlichkeit
Einleitung In vielen Lebensbereichen besetzt der Begriff „Verantwortung“ eine prominente Stelle – dies zeigt bereits ein Blick in die Tageszeitung, die Lektre von Parteiprogrammen gleich welcher politischer Couleur1 oder von Imagebroschren großer Unternehmen. So nennt etwa die Deutsche Bank eine ganze Abteilung „Corporate Social Responsibility“; die Universitt Freiburg bietet im Rahmen der neuen Bachelor-Studiengnge das Lehrmodul „Verantwortung wahrnehmen“2 an; und in seiner Inaugural Address, die von Kommentatoren als programmatische ußerung zum angekndigten politischen und kulturellen Wandel gewertet wurde, hat Barack Obama, als neu gewhlter Prsident der Vereinigten Staaten, zu einer neuen „ra der Verantwortung“ aufgerufen: What is required of us now is a new era of responsibility – a recognition, on the part of every American, that we have duties to ourselves, our nation and the world, duties that we do not grudgingly accept but rather seize gladly, firm in the knowledge that there is nothing so satisfying to the spirit, so defining of our character than giving our all to a difficult task.3
1
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Beispielsweise fand sich in der Prambel des Programms der Grnen zur Bundestagswahl 2005 neunmal der Begriff Verantwortung, auf 18 von 53 Seiten verzeichnete die FDP im Register ihres programmatischen Papiers „Arbeit hat Vorfahrt. Deutschlandprogramm 2005“ zur selben Bundestagswahl den Begriff der Verantwortung. Im „Wahlmanifest der SPD“ werden 15 Mal der Begriff „Verantwortung“ und mit ihm gebildete Komposita verwendet. Und insgesamt zehn Mal auf 38 Seiten war schließlich im Regierungsprogramm der CDU/CSU Deutschlands Chancen nutzen von „Verantwortung“ bzw. „verantwortlich“ und „verantworten“ die Rede. (Alle Programme finden sich unter http://www.berlinbrandenburg.dgb.de/article/archive/314/ [zuletzt eingesehen am 04. 12. 2010].) http://www.epg.uni-freiburg.de/Verantwortung_Wahrnehmen (zuletzt eingesehen am 22. 01. 2009). http://www.nytimes.com/2009/01/20/us/politics/20text-obama.html?pagewanted=3 (zuletzt eingesehen am 04.12.2010). – Bereits in der ersten çffentlichen Rede nach seinem Wahlsieg hatte Obama hnliche Gedanken formuliert: “So let us summon a new spirit of patriotism, of responsibility, where each of us resolves to pitch in and work harder and look after not only ourselves but each other.” (http://edition.cnn.com/2008/POLITICS/11/04/obama.transcript/ [zuletzt eingesehen am 04.12.2010].)
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Einleitung
In markantem Gegensatz zur Popularitt und derzeitigen Konjunktur dieses Begriffes in nahezu allen lebensweltlichen Kontexten steht seine bis ins 20. Jahrhundert hinein weitgehend periphere Behandlung in der praktischen Philosophie. Seit geraumer Zeit gewinnt Verantwortung zwar auch hier zunehmend an Bedeutung – so mehren sich nicht nur die systematischen Publikationen, auch in berblicksarbeiten zur praktischen Philosophie taucht der Terminus verstrkt auf 4 –, dennoch fristet er im Vergleich zu den klassischen Begriffen der Ethik5 wie Freiheit, Gerechtigkeit oder auch Gleichheit eher eine Randexistenz. Was Verantwortung ist, welche Phnomene mit diesem Begriff beschrieben werden, welches ihre anthropologischen Voraussetzungen sind, wie sie sich moralisch begrnden lsst und schließlich wie daraus abgeleitet eine verantwortliche Praxis auszusehen htte, sind Fragen, die nur selten gestellt und lngst nicht hinreichend beantwortet werden. So fehlt es weitgehend an Arbeiten, in denen Verantwortung als eigenstndiger Begriff im Fokus steht.6 Es empfiehlt sich zunchst eine Klrung der Phnomene, die wir mit dem Begriff der Verantwortung beschreiben. Einige Autoren, z. B. Ludger Heidbrink, vertreten die These, dass Verantwortung ein „Kompensationsphnomen“ ist und als eine Art gesellschaftlicher Krisenbegriff fungiert, der immer da eingesetzt wird, wo in Handlungskontexten Pflichten und Verpflichtungen nicht mehr eindeutig bestimmt und zugeordnet werden kçnnen.7 Ich werde dagegen die These vertreten, dass mit dem Begriff „Verantwortung“ ein wesentlicher Aspekt des menschlichen In-der-WeltSeins bezeichnet wird und dass Verantwortung insofern als moralische Pflicht zu verstehen ist, als sie grundstzlich gegenber allen Menschen als Menschen besteht. Drei Fragen sollen in dieser Arbeit erçrtert werden: 1.) Was ist Verantwortung? 2.) Worin liegen ihre Voraussetzungen, und wie lsst sie sich als moralische Pflicht begrnden? 3.) Wie kçnnte schließlich eine moralisch verantwortungsbewusste Praxis aussehen? Diesen Fragen soll vor allem in der Auseinandersetzung mit den Schriften von Hans Jonas, Karl-Otto Apel und Emmanuel Lvinas nachgegangen werden. Denn alle 4 5 6 7
So trgt beispielsweise ein Kapitel von John L. Mackies Ethik den Titel: „Determinismus, Verantwortlichkeit und freie Wahl“. (John Leslie Mackie, Ethik. Die Erfindung des moralisch Richtigen und Falschen, 257 – 259). Hier ist Ethik im Sinne Kants als eine Theorie der Moral zu verstehen. Siehe zum unterschiedlichen Gebrauch dieses Begriffes Dieter Birnbacher, Analytische Einfhrung in die Ethik, 2. Eine Ausnahme bildet etwa die Arbeit von Ludger Heidbrink, Kritik der Verantwortung. Zu den Grenzen verantwortlichen Handelns in komplexen Kontexten. A. a. O., 44.
Einleitung
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drei Autoren rumen Verantwortung einen zentralen, wenn nicht gar den zentralen Platz in ihren Arbeiten zur Moralphilosophie ein und vertreten, allerdings unter Verwendung ganz unterschiedlicher Begriffe und Argumentationen, die Auffassung, dass Moral selbst bzw. dass moralisches Handeln bedeutet, Verantwortung zu bernehmen, indem Menschen so leben und handeln, dass sie sich vor Anderen dafr rechtfertigen kçnnen. Der Titel der vorliegenden Arbeit „Verantwortung im Diskurs“ bezieht sich dabei mit unterschiedlicher Akzentsetzung auf alle drei Fragen, nmlich (a) zunchst darauf, was mit Verantwortung gemeint ist; darber hinaus (b) auf einen Vorschlag zur Begrndung von Verantwortung; und schließlich (c) auf eine mçgliche Antwort auf die Frage, wie eine verantwortungsbewusste Praxis auszusehen hat. (a) Verantwortung haben oder verantwortlich sein heißt, sich oder sein Handeln verantworten zu mssen. Unter „etwas verantworten“ oder „sich verantworten“ soll verstanden werden, dass man sich oder sein Handeln mit guten Grnden vor Anderen zu rechtfertigen hat. Diese Anderen kçnnen darauf einen berechtigten Anspruch erheben, wenn sie etwa darlegen, inwiefern sie von den zu rechtfertigenden Handlungen betroffen sind. Dafr ist es erforderlich, erst einmal die Frage der Zustndigkeit – wer trgt wofr Verantwortung, und wer hat ein Anrecht auf Rechtfertigung – zu klren, bevor im nchsten Schritt die weitere, hiervon zu trennende Frage der Zurechnung zu diskutieren ist – welche konkreten Handlungen kçnnen einer verantwortlichen Person zugerechnet bzw. vorgeworfen werden.8 Die Fhigkeit, Verantwortung zu bernehmen, bezeichnet dabei zunchst das mit der Sprache erworbene Vermçgen, Grnde fr sein Handeln geben zu kçnnen und ein Bewusstsein davon zu haben, dass man Anderen Rechenschaft schuldet. Dieser Fhigkeit entspricht eine gesellschaftliche Erwartung, dass man das eigene Handeln und Leben rckblickend mit guten Grnden vor Anderen rechtfertigen und auf mçgliche zustzliche Fragen mit noch weiter erklrenden Grnden antworten kann. Verantwortlich sein bezeichnet darber hinaus auch die moralische Pflicht, grundstzlich so zu leben und zu handeln, dass das eigene Handeln je-
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Rainer Forst weist darauf hin, dass die „Zustndigkeitsfrage […] der Zurechnungsfrage vorausgehen“ msse. Denn nur wenn geklrt ist, wer wo Verantwortung zu tragen hat, kann sinnvoll entschieden werden, inwiefern demjenigen auch die Erfllung bzw. Nichterfllung einer Handlung zuzurechnen ist. (Rainer Forst, „Verantwortung und [Un-]Gerechtigkeit: Kommentar zu Stefan Gosepath ,Verantwortung fr die Beseitigung von beln‘“, 410).
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Einleitung
derzeit mit guten Grnden gegenber allen Betroffenen gerechtfertigt werden kann. Verantwortung im Diskurs steht also fr eine Praxis der sprachlichen, der diskursiven Rechtfertigung,9 in der an einer Diskursgemeinschaft verantwortlich Teilnehmende einerseits einander mit berechtigten Ansprchen dazu auffordern, ber das eigene Handeln mit guten Grnden Rechenschaft abzulegen, und andererseits die entsprechenden an sie selbst gerichteten Aufforderungen akzeptieren und ihnen bereitwillig nachkommen. (b) Verantwortung im Diskurs verweist auf die zentrale These dieser Arbeit, dass verantwortlich sein untrennbar mit dem immer auch sprachlich verfassten In-der-Welt-Sein des Menschen verbunden ist: In der Sprache teilen Menschen ihre Erfahrung der Welt mit Anderen, was impliziert – so meine rekonstruktiv-hermeneutische These –, dass sie ihnen antworten und fr ihr Handeln Grnde geben mssen. Denn indem Menschen Andere anerkennen, erkennen sie zugleich, dass sie ihnen solche Grnde schulden. Als sprachfhige und sprechende Wesen stehen Menschen demnach immer in einem Rechtfertigungsverhltnis zu anderen Menschen, welche die eigene Person in ihrer Lebensweise und ihrem Handeln in Frage stellen kçnnen und zu antworten auffordern. Selbst auf eine gestellte Frage nicht zu antworten, wird von demjenigen, der die Frage stellt, immer noch als eine Antwort aufgefasst werden – dass der Andere nicht antworten will. Ob und wie Menschen einander antworten und sich vor Anderen rechtfertigen oder zumindest implizit den an sie gestellten Ansprchen Rechnung tragen, bestimmt maßgeblich die Weise, in der Menschen dann wiederum von diesen Anderen in ihrer Lebenswelt wahrgenommen und integriert werden. (c) Verantwortung im Diskurs beinhaltet schließlich, dass die Diskursivitt einer Person als Maß fr ihre Verantwortlichkeit10 angesehen werden 9 Hufig wird bei der Bestimmung des Verantwortungsbegriffs auf die etymologische Herkunft – „verantworten“ leitet sich von „antworten“ ab – dieses Terminus verwiesen. Dennoch fehlt es bislang an einer historischen Arbeit zum Verantwortungsbegriff. Anstze zur Begriffsgeschichte finden sich etwa bei Kurt Bayertz, „Eine kurze Geschichte der Herkunft der Verantwortung“, 3 f.; Georg Picht, „Philosophische Probleme des zwanzigsten Jahrhunderts“, 318 f.; Wilhelm Weischedel, Das Wesen der Verantwortung, 17; aber auch Heidbrink, Kritik der Verantwortung, 59 – 62. 10 Verantwortung soll in dieser Arbeit als Existenzial im Sinne eines Wesensmerkmals des menschlichen In-der-Welt-Seins bestimmt werden. Daher kçnnte man das Substantiv „Verantwortlichkeit“ als Ableitung vom Adjektiv „verantwortlich“ fr die bessere Bezeichnung des hier zu beschreibenden Phnomens halten. Der Gehalt dieses Existenzials „verantwortlich-sein“ bzw. „Verantwortung haben“ ist jedoch in
Einleitung
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kann: Je mehr sich eine handelnde Person mit anderen von ihrem Handeln Betroffenen ber dieses Handeln, die ihm zugrunde liegenden Motive, Intentionen und Grnde diskursiv verstndigt und diese entsprechend in ihre Handlungsentscheidungen einbezieht, desto verantwortlicher handelt sie. Dies gilt selbst dann, wenn Menschen sich nicht in elaborierter Sprache artikulieren. Eine verantwortungsbewusste Praxis ist eine intersubjektive Praxis, in der gegenber dem konkreten Anderen wie gegenber der potentiell alle Menschen einschließenden Diskursgemeinschaft insgesamt eine Rechenschaftspflicht besteht. Die an der diskursiven Praxis Beteiligten kçnnen allerdings nur dann im vollen moralischen Sinne verantwortungsbewusst genannt werden, wenn sie die Grenzen der Diskursivitt reflektieren und bercksichtigen, dass ideale Diskurssituationen in der Realitt so gut wie nicht vorkommen. Verantwortung im Diskurs muss demnach immer auch heißen, sich der Unzulnglichkeiten diskursiver Interaktion bewusst zu sein und sich zu vergegenwrtigen, dass die argumentative Praxis dem anderen Menschen das Recht zugesteht, selbst entscheiden zu kçnnen, ob und wie er sich am Diskurs beteiligt. Mit der Entscheidung, in dieser Arbeit so divergente Anstze wie das Prinzip Verantwortung von Hans Jonas, den in der transzendentalphilosophischen Tradition stehenden diskurstheoretischen Verantwortungsbegriff von Karl-Otto Apel sowie die von Emmanuel Lvinas entwickelte Konzeption einer ursprungslosen (an-archischen) Verantwortung einander gegenberzustellen und zu diskutieren, verbinde ich die Absicht, die doch sehr unterschiedlichen Akzentsetzungen und Leistungen der einzelnen Konzeptionen herauszuarbeiten und in ein Gesprch zu bringen. Dass die Wahl gerade auf diese drei Verantwortungskonzeptionen fiel, begrndet sich vor allem damit, dass die genannten Autoren eben jenes Phnomen zum Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen machen, das wir im Alltag als Verantwortungspraxis beschreiben, und Verantwortung nicht – wie die
erster Linie verbaler, prozesshafter und nicht statischer Natur – nmlich sich zu verantworten bzw. verantwortlich zu handeln – und findet m. E. deshalb eher eine Entsprechung im direkt vom Verb abgeleiteten Substantiv „Verantwortung“. Hinzu kommt auch, dass der Begriff „Verantwortlichkeit“ nicht eindeutig besetzt ist und hufig austauschbar mit „Verantwortung“ verwendet wird. Will man nicht auf die an Heideggers Wortbildungen erinnernden Umschreibungen des „Verantwortung-Habens“ bzw. des „Verantwortlich-Seins“ ausweichen, so spricht vieles dafr, den in der philosophischen Diskussion viel hufiger verwendeten Begriff der „Verantwortung“ beizubehalten.
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Einleitung
Mehrzahl11 der zeitgençssischen Arbeiten – in erster Linie mit der Frage nach dem Verhltnis zwischen Freiheit und Determinismus verknpfen. Damit heben sie den responsiven Aspekt von Verantwortung hervor, der fr unsere soziale Wirklichkeit von grundlegender Bedeutung ist. Darber hinaus sprach auch die Tatsache, dass alle drei Autoren einen umfassenden Vorschlag fr die im Zentrum dieser Arbeit stehende Frage nach der Begrndung von Verantwortung gemacht haben, dafr, gerade ihre Verantwortungskonzeptionen auszuwhlen: Jonas war mit seinem Prinzip Verantwortung nicht nur besonders einflussreich, weil er die Grenzen und negativen Folgen einer technischen Naturbeherrschung zum Angelpunkt seiner berlegungen gemacht hat.12 Er war auch der erste, der versucht hat, die moralische Verantwortung gegenber zuknftig lebenden Generationen zu begrnden. Wie die detaillierte Analyse im zweiten Teil dieser Arbeit zeigen wird, sind allerdings einige Schwachpunkte in seinem Begrndungsprogramm zu erkennen, so dass sein Ansatz eher eine Art Kontrastfolie bilden wird, vor der ich im dritten Teil meinen eigenen Ansatz entwickeln werde. Apel beansprucht stattdessen, Verantwortung im Rahmen seiner Diskursethik transzendentalphilosophisch zu begrnden. Sein Vorschlag, Verantwortung als eine Grundnorm der immer schon vorauszusetzenden Argumentation zu verstehen, scheint eine attraktive Alternative zu Jonas’ naturteleologischem Programm. Die Frage, inwieweit der argumentative Diskurs das menschliche Zusammenleben hinreichend bestimmt und ob Verantwortung nicht in einem noch umfassenderen Sinn eine Grundnorm darstellen kçnnte, scheint gleichwohl berechtigt. Eine Antwort kçnnte Lvinas’ Grundthese zum Ausgangspunkt nehmen, dass Verantwortung sich bereits aus der nicht-intentionalen Begegnung mit dem anderen Menschen ergibt. So sehr im Folgenden auch ein Dialog zwischen diesen philosophischen Theorien auf der Grundlage gesucht wird, dass alle drei Autoren von einer nicht auf etwas anderes zu reduzierenden Verantwortung des Menschen ausgehen, so wichtig bleibt gleichwohl, sich zu vergegenwrtigen, dass 11 Siehe etwa Peter Bieri, Das Handwerk der Freiheit. ber die Entdeckung des eigenen Willens, aber auch die Sammelbnde: Robert Kane (Hg.), The Oxford Handbook of Free Will und John Martin Fischer und Mark Ravizza (Hg.), Perspectives on Moral Responsibility. 12 Dabei spielte sicher auch eine entscheidende Rolle, dass das Prinzip Verantwortung zu einer Zeit erschien, als die empirischen Befunde des Club of Rome ber die „Grenzen des Wachstums“ erstmals massiv in die çffentliche Diskussion Eingang fanden.
Einleitung
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Verantwortung jeweils aus unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlichen Prmissen behandelt wird: Jonas beruft sich auf Grundannahmen ber Natur und Kosmos, Apel auf normative Voraussetzungen der zwischenmenschlichen Kommunikation und Lvinas auf eine noch elementarere Interpretation von Intersubjektivitt. Fr Jonas geht es dabei wesentlich um eine Kritik des Fortschrittsgedankens, da bei diesem die Gefahr bestehe, den Menschen zu sehr aus der Verantwortung fr die Zukunft des Planeten zu entlassen. Apel dagegen antwortet mit seiner Diskursethik sicher nicht zuletzt auf die Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Diktatur. Diese bilden auch bei Lvinas den Hintergrund seines Denkens, gleichwohl argumentiert er in seinen beiden philosophischen Hauptwerken ohne historischen oder politischen Bezug, gewissermaßen theorie-intern, vor allem im Dialog mit dem Idealismus, der Phnomenologie Edmund Husserls und der Existenzialontologie Heideggers, wobei er an Husserl und Heidegger einerseits thematisch und methodisch anknpft, sich aber andererseits nachdrcklich von diesen philosophischen Strçmungen abgrenzt. Gemeinsam ist Jonas, Apel und Lvinas jedoch trotz aller Differenzen, dass sie Verantwortung fr nicht hintergehbar und damit fr einen zentralen Aspekt der Gesamtheit von Gegebenheiten halten, unter denen wir mit Anderen diese Welt teilen, und alle drei betonen in ihren Arbeiten die responsive Dimension von Verantwortung – Gesichtspunkte, die auch im Fokus der vorliegenden Arbeit stehen werden. Sie gliedert sich in drei Teile: In einem ersten Teil werde ich ausgehend von der Alltagssprache zu klren versuchen, im Kontext welcher Phnomene wir blicherweise von Verantwortung sprechen. Bei der Analyse dieses Vorverstndnisses wird es vor allem um eine Explikation der Relata des Verantwortungsbegriffs gehen (Wer ist vor wem, wofr, aus welchen Grnden verantwortlich?). Erweitert wird die Darstellung unseres alltagssprachlichen Vorverstndnisses durch den Verweis auf aktuelle philosophische Begriffsbestimmungen und Erluterungen zum Thema Verantwortung. Damit soll eine erste Antwort auf die Frage gegeben werden, was berhaupt jenseits populrer Rhetorik unter Verantwortung zu verstehen ist. Auf die Ergebnisse dieses ersten Teils werde ich im zweiten Teil der Arbeit bei der kritischen Auseinandersetzung mit den drei dort vorgestellten Verantwortungskonzeptionen zurckgreifen. Im dritten Teil werde ich anschließend die Grundlinien einer eigenen Verantwortungskonzeption entwickeln und dabei Antworten auf die Fragen nach dem Wesen von Verantwortung, nach ihren anthropologischen Voraussetzungen und ihrem moralischen Grund sowie auf die Frage nach einer moralischen Verantwortungspraxis vorschlagen.
Teil I Explikation des Vorverstndnisses
I.1. Relata von Verantwortung Fr eine kritische Auseinandersetzung mit den im Teil II dieser Arbeit diskutierten Verantwortungstheorien ist es sinnvoll, zunchst zu analysieren, wie wir den Verantwortungsbegriff in alltagssprachlichen Kontexten verwenden, ohne dass dort immer eindeutig umrissen wird, was mit diesem Terminus genau beschrieben werden soll. Dafr will ich an einfachen, konstruierten Beispielen die semantische Struktur des Verantwortungsbegriffs und seine markantesten Eigenschaften herausarbeiten. In sehr unterschiedlichen Kontexten1 – vor allem in der Politik, der konomie, der kologie, der Psychologie, der Pdagogik oder im Vertragsund Rechtswesen – wird von dem Substantiv „Verantwortung“ bzw. dem Verb „verantworten“ und dem Adjektiv „verantwortlich“ zumeist prdikativ Gebrauch gemacht: Man hat oder trgt Verantwortung fr etwas bzw. ist fr etwas verantwortlich; ebenso bernimmt man Verantwortung fr etwas oder lehnt sie ab; man brdet die Verantwortung jemand Anderem auf, nimmt sie jemandem ab oder schiebt sie ihm zu; man zieht jemanden zur Verantwortung und macht ihn verantwortlich; jemand scheut die Verantwortung fr etwas, stiehlt sich aus der Verantwortung, entzieht sich ihr; steht in der Verantwortung fr etwas oder wlzt die Verantwortung auf jemanden ab – die Reihe ließe sich fortsetzen. Die folgende Analyse wird von drei einfach konstruierten Beispielstzen ausgehen, anhand derer bereits wichtige Bedeutungen von Verantwortung erlutert werden kçnnen. Daran anschließend werde ich auch auf Differenzierungen aus wissenschaftlichen – phi1
Stefan Gosepath weist darauf hin, dass der „Vielfalt sozialer Rollen, die Personen in komplexen Gesellschaften ausben, […] eine Vielfalt von Verantwortlichkeiten verschiedenen Charakters und gegenber verschiedenen Adressaten“ entspreche: Obwohl die verschiedenen „Verantwortlichkeiten“ auch „miteinander kollidieren“ und „einander unter- oder bergeordnete sein“ kçnnten, sei die moralische Verantwortung – weil „die Moral die letzte Prfungsinstanz der (in jedem Handlungskontext zu stellenden) Frage darstellt“ – „allen anderen Verantwortlichkeiten vor- und bergeordnet“, und zwar in dem Sinne, „dass sie deren relative (bedingte) Verbindlichkeit zugleich (mit-)begrndet und begrenzt“. (Stefan Gosepath, „Verantwortung fr die Beseitigung von beln“, 390 f.) – Auch ich sehe, wie ich im Teil III dieser Arbeit ausfhrlich zeigen werde, im moralischen Verantwortungsverhltnis den Grund jeder anderen Verantwortungszuschreibung.
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I.1. Relata von Verantwortung
losophischen, soziologischen bzw. juristischen – Debatten ber diesen Begriff eingehen. (1) Der Kapitn trgt vor dem Reeder die Verantwortung dafr, dass er seinen Ersten Offizier entlassen hat. (2) Nicht nur der Kapitn, sondern auch die Mannschaft tragen die Verantwortung fr das Schiff und die Ladung. (3) Schlechte Witterungsbedingungen waren fr das Kentern des Schiffes verantwortlich. Versucht man zunchst, die drei Beispielstze zu paraphrasieren, kann man festhalten: Im ersten Beispielsatz wird die Situation beschrieben, dass der Kapitn eines Schiffes vor einem Reeder, seinem Vorgesetzten, Rechenschaft ber die Grnde abzulegen hat, die ihn dazu bewogen haben, seinen Ersten Offizier zu entlassen. Der zweite Beispielsatz besagt, dass der Kapitn bei der Erfllung seiner Pflichten und bei Aufgaben, die zur Instandhaltung des Schiffes und fr die sichere berfahrt sowie den Transport der Ladung zu bernehmen sind, durch die Mannschaft untersttzt wird. Der dritte Beispielsatz erklrt schließlich schlechte Witterungsverhltnisse zur Ursache fr das Kentern des Schiffes. Vorlufig scheinen also drei sehr verschiedene Phnomene mit „Verantwortung“ beschrieben zu werden: 1.) eine Form des Rechenschaftablegens, 2.) eine Pflichten- und Aufgabenzuschreibung sowie 3.) eine Verursachung. Gemeinsam ist allen dreien gleichwohl, dass der Verantwortungsbegriff eine Relation beschreibt und damit auf mehrere Relata verweist, deren Analyse fr eine genauere Bestimmung der Verantwortungsbeziehung hilfreich sein kann.2 Fragen wir also zunchst: Wer (Subjekt von Verantwortung I.1.1.) trgt wofr (Objekt I.1.2.) Verantwortung, vor wem (Instanz I.1.3.) und warum (normativer Bezugsrahmen I.1.4)?
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hnlich wird auch in Fachpublikationen Verantwortung hufig als eine sprachlich konstituierte und vermittelte Zuschreibungsrelation interpretiert, wobei berwiegend von mindestens drei Relata ausgegangen wird. (Siehe etwa Otto Neumaier, „Wofr sind wir verantwortlich?“, 43 – 54; Riedel, „Freiheit und Verantwortung“, 152 – 170; Weischedel, Das Wesen der Verantwortung, aber auch Heidbrink, Kritik der Verantwortung, 21 f.) Dagegen war Max Weber noch von einer zweistelligen Relation ausgegangen. (Siehe Max Weber, Politik als Beruf, insbesondere 70 ff.) Eine solche Annahme erscheint jedoch unzureichend. Denn, so betont Kurt Bayertz, das „Postulat, daß man fr die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat‘“, blende eine fr die Definition von Verantwortung „essentielle normative Komponente“ aus, nmlich vor wem man dies zu tun hat. (Bayertz, „Geschichte der Herkunft der Verantwortung“, 15).
I.1.1. Subjekt der Verantwortung
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I.1.1. Subjekt der Verantwortung Analysiert man den ersten Beispielsatz und fragt, wer hier als Subjekt von Verantwortung benannt wird, ist die Antwort eindeutig: Der Kapitn trgt Verantwortung / ist verantwortlich. Doch welche nheren Bestimmungen kennzeichnen dieses Subjekt? Eine Antwort darauf ist dem Beispielsatz nicht explizit zu entnehmen. Gleichwohl lsst sich unter Bercksichtigung des ganzen Satzes przisierend ergnzen, dass der Kapitn nicht bloß als Subjekt von Verantwortung fungiert, vielmehr wird mit dem Personalpronomen „er“ ein weiteres Mal auf ihn als Subjekt verwiesen; dabei wird er als derjenige identifiziert, der den Ersten Offizier entlassen hat. Der Kapitn ist also einerseits Handelnder und andererseits Trger von Verantwortung. Genauer besagt der Satz, dass der Kapitn Trger einer Verantwortung gerade und vor allem im Hinblick auf die von ihm vollzogene Handlung ist. Handlungssubjekt und Verantwortungssubjekt korrelieren oder sind identisch: Der Kapitn trgt Verantwortung fr sein Handeln. Subjekt von Verantwortung ist in diesem Beispiel jemand, der gehandelt hat. Doch was an dem Umstand, Urheber einer Handlung zu sein, lsst den Kapitn Verantwortung tragen? Um diese Frage zu beantworten, ist ein Kontextwissen erforderlich, das nicht selbst in dem Beispielsatz enthalten ist und sich nur aus unserer Erfahrung oder Kenntnis von sozialen Normen oder Konventionen hinzudenken lsst. Gleichwohl kçnnen dem Verhltnis von Kapitn und Reeder – einem weiteren in diesem Satz angefhrten Relatum der Verantwortungsbeziehung – zustzliche Ausknfte bezglich der Verantwortung des Kapitns entnommen werden: Wenn „Verantwortung tragen“, wie es in der Einleitung bereits anklang, bedeutet, dass der Kapitn seine Handlung vor dem Reeder mit Grnden zu rechtfertigen hat, muss dem Kapitn erst einmal die Fhigkeit zu sprechen oder sprachlich zu kommunizieren unterstellt werden – selbst wenn in dem Beispielsatz diese Fhigkeit nicht ausdrcklich aufgefhrt wird. Des Weiteren sind die Bezeichnungen „Kapitn“ und „Reeder“ ein Hinweis darauf, dass beide in einer professionellen Beziehung miteinander und in einem Macht- oder Autorittsverhltnis zueinander stehen, welche eine Art generelle Auskunftspflicht des Kapitns vor seinem Vorgesetzten ber die von ihm getroffenen Entscheidungen implizieren. Bercksichtigt man die fr seinen Beruf typische Situation, ist der Kapitn also nicht allein deshalb Subjekt von Verantwortung, weil er Subjekt einer Handlung war, sondern auch, weil er dem Reeder aufgrund ihres professionellen Verhltnisses Rechenschaft ber wichtige, von ihm als Kapitn getroffene Entscheidungen schuldet und weil er als ein der Sprache fhiges Wesen seine Entscheidungen rechtfertigen kann.
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I.1. Relata von Verantwortung
Beim zweiten angefhrten Beispielsatz fllt zunchst auf, dass mit „Kapitn“ und „Mannschaft“ nicht mehr nur eine Person, sondern mehrere Personen als Subjekt benannt werden und demnach Verantwortung geteilt werden kann: Kapitn und Mannschaft sind gemeinsam Trger der Verantwortung fr Schiff und Ladung. Ist der Grund dafr auch hier, dass sie Subjekte einer gemeinsamen (oder mehrerer gemeinsamer) Handlung(en) sind? Der Beispielsatz fhrt keine vollzogenen Handlungen an; Kapitn und Mannschaft werden in ihm lediglich als Subjekte der Verantwortung fr das Schiff und die Ladung genannt. Jedoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass sowohl der Kapitn als auch die Mannschaft (oder die einzelnen Mannschaftsmitglieder) Handelnde sein kçnnen – der Kapitn beispielsweise als Entscheidungstrger an Bord und die Mannschaftsmitglieder als Ausfhrende. Zwar werden sie im Beispielsatz nicht als Urheber konkreter Handlungen benannt, doch kçnnen sie potentiell handeln. Und mit der funktionalen / professionellen Bezeichnung „Kapitn und Mannschaft“ werden ihnen bestimmte Handlungsverpflichtungen und Aufgaben implizit zugeschrieben und abverlangt, nmlich zunchst sehr allgemein, sich um Schiff und Ladung zu kmmern. Somit sind Kapitn und Mannschaft als die Subjekte von Verantwortung zwar nicht mehr als Akteure von bereits vollzogenen Handlungen ausgewiesen, dennoch kann ihnen aufgrund der Bezeichnungen „Kapitn“ bzw. „Mannschaft“ eine professionelle Ausbildung und Position und damit eine besondere Handlungsfhigkeit und -verpflichtung zugeschrieben werden. Dementsprechend wre die Voraussetzung, dass das Subjekt von Verantwortung Agens einer vollzogenen Handlung gewesen sein muss, insofern zu differenzieren, als dass Subjekt von Verantwortung auch nur ein des Handelns fhiges und grundstzlich zum Handeln verpflichtetes Subjekt sein kann, ohne dass es in jedem Fall immer auch schon gehandelt haben muss. Wie steht es darber hinaus mit der Sprachfhigkeit als Bedingung fr die Verantwortlichkeit des Subjekts? Sowohl beim Kapitn als auch bei den einzelnen Mannschaftsmitgliedern kann man voraussetzen, dass es sich um der Sprache fhige Wesen handelt. Doch inwieweit verlangt „Verantwortung haben fr Ladung und Schiff“ vom Subjekt der Verantwortung ber die Handlungsfhigkeit hinaus, dass es sein Handeln sprachlich rechtfertigen kann? Obwohl der Beispielsatz keinen expliziten Hinweis auf einen Akt der Rechtfertigung gibt, ist dieser zumindest potentiell vorausgesetzt,3 denn grundstzlich wird auch hier unterstellt, dass Kapitn und Mannschaft so 3
Hierauf werde ich bei der Analyse der Verantwortungsinstanz noch einmal zurckkommen.
I.1.1. Subjekt der Verantwortung
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handeln sollen, dass sie ihr Handeln als eines, das dem sicheren Transport der Ladung und der Sorge fr das Schiff dient, gegebenenfalls vor Anderen rechtfertigen kçnnen. Damit wre nach der Analyse der ersten beiden Beispielstze festzuhalten: Trger von Verantwortung ist ein potentielles oder aktuelles Handlungssubjekt, das zu handeln fhig und verpflichtet ist. Dabei besteht eine Korrelation zwischen Handlungs- und Verantwortungssubjekt derart, dass die Verantwortung einer Person eingeschrnkt ist, wenn sie nicht im vollen Sinne als handlungsfhig angesehen wird. Jemand gilt als nicht bzw. nur beschrnkt verantwortlich, wenn er nicht bzw. nur eingeschrnkt handeln kann / konnte. Etwa ist fraglich, inwiefern in dem oben angefhrten Beispielsatz auch dann der Kapitn als Subjekt von Verantwortung bezeichnet wrde, wenn bei ihm z. B. eine massive psychische Beeintrchtigung angenommen oder festgestellt wurde. Denn allgemein gilt ein psychisch kranker Mensch (natrlich abhngig vom Grad seiner Erkrankung) als nur bedingt selbstbestimmt und handlungsfhig und folglich auch als nur eingeschrnkt verantwortlich. hnlich wrden sich unsere Annahmen ber die Verantwortung der Mannschaftsmitglieder fr die sichere berfahrt des Schiffes von Mexiko nach Florida ndern, wenn uns bekannt wre, dass die berfahrt whrend eines Hurrikans stattgefunden hat,4 da dieser die Handlungsmçglichkeiten der Mannschaftsmitglieder extrem eingeschrnkt htte. Je mehr Kapitn und Mannschaft in bestimmten Kontexten einfach als passiv Reagierende und nicht mehr als aktiv Handelnde angesehen werden kçnnen, desto weniger werden sie als Subjekte von Verantwortung verstanden, d. h., desto weniger wird man sie nach Rechtfertigungen fr ihr Handeln fragen und desto weniger wird man ihnen die Grnde ihres Handelns anlasten.5 4
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Dies impliziert in Bezug auf den Kapitn die Frage, ob dieser den Hurrikan nicht htte voraussehen und entsprechende Vorkehrungen htte treffen mssen, um die Mannschaft, das Schiff und die Ladung vor Schaden zu bewahren (z. B. den Hafen nicht zu verlassen und die Fahrt zu verschieben). Viele Autoren heben den Handlungsbezug als wesentlich bei der Bestimmung des Verantwortungssubjekts hervor. Siehe etwa Hans Lenk und Matthias Maring, „Verantwortung – Normatives Interpretationskonstrukt und empirische Beschreibung“, 224 f.; aber auch Reinhold Zippelius, „Varianten und Grnde rechtlicher Verantwortlichkeit“, 257. Kurt Bayertz geht so weit, auch den Umkehrschluss zu behaupten, dass nur das als eine menschliche Handlung beschrieben werden kçnne, „wofr Verantwortung bernommen werden kann“. (Bayertz, „Geschichte der Herkunft der Verantwortung“, 21.) Denn das als Handlung Beschriebene sei nicht einfach „ein Vorgang in der sinnlich wahrnehmbaren Welt“, vielmehr setze es immer schon eine „Deutung voraus, durch die wir sie als ußerung
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I.1. Relata von Verantwortung
In manchen Fllen derart eingeschrnkter oder mangelnder Handlungsfhigkeit ist dann die Zuschreibung von Verantwortung auf den ersten Blick nicht mehr direkt oder nicht vollstndig an die Urheberschaft einer Handlung gekoppelt: Der Kapitn kçnnte beispielsweise die Verantwortung fr das Handeln eines seiner Mannschaftsmitglieder zu bernehmen haben, wenn dieses nicht eigenstndig, sondern auf seine Anweisung gehandelt hat. Denn wenn das Mannschaftsmitglied einen Teil seiner Arbeit auf Anweisung des Kapitns oder eines anderen Vorgesetzten verrichtet, ist es mçglich, dass in der Folge auch derjenige, der es mit dieser Arbeit beauftragt hat, zur Verantwortung gezogen wird. Einer solchen bertragung von Verantwortung – in der Literatur findet sich der Begriff der „Stellvertreter-Verantwortung“6 – liegt die Annahme zugrunde, dass jemand, der auf Anweisung handelt, in gewissem Sinne gar nicht selbst handelt, da er seine Handlungsmçglichkeiten radikal eingeschrnkt hat, als er sich der Gehorsamspflicht unterwarf. Handlungssubjekt der Verantwortung wird dann vielmehr der Kapitn, weil er ber den Vollzug bzw. die Unterlassung der Handlung entschieden hat, auch wenn er dann nicht mehr aktiv (oder durch Unterlassung) auf das Objekt seiner Verantwortung einwirkt. Folglich wird auch dort, wo eine direkte Urheberschaft in Frage steht, weiter an dem inhrenten Bezug zwischen Handlung und Verantwortung festgehalten, allerdings nunmehr der Entscheidungstrger als eigentliches Handlungssubjekt identifiziert.
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eines fr sein Verhalten grundstzlich verantwortlichen Subjekts verstehen“. (K. Larenz und C.-W. Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts, 361. Hier zitiert nach Bayertz, „Geschichte der Herkunft der Verantwortung“, 21.) hnlich heißt es bereits bei Kant: „Person ist dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fhig sind. […] Sache ist ein Ding, was keiner Zurechnung fhig ist.“ (Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, in: Gesammelte Schriften, Band VI, 223.) – Bayertz betont auch, dass wir verantwortlich „nicht durch die Natur der Sache [seien], sondern […] in bestimmten sozialen Kontexten ,gemacht‘“ wrden. (Bayertz, „Geschichte der Herkunft der Verantwortung“, 20 f.) Stefan Gosepath weist dagegen darauf hin, dass die „gesellschaftliche[…] Praxis der Zurechnung von Handlungen“ gut begrndet sein msse, d. h., dass die vorausgehende „Festlegung der Zustndigkeit der jeweils verantwortlich gemachten Subjekte“ nicht willkrlich sein drfe. So geht er davon aus, dass „die Zurechnung von Handlungen beziehungsweise das Verantwortlichmachen von Personen“ nicht einfach „beliebig konstruiert sein“ drfe, sondern dass es dafr „gute Grnde geben“ msse. (Gosepath, „Verantwortung fr die Beseitigung von beln“, 390.) Ich vertrete eine hnliche Position, die ich in Kapitel III.1. darlegen werde. Vgl. beispielsweise Neumaier, „Wofr sind wir verantwortlich?“, 46.
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Schließlich ist nicht klar, wer verantwortlich ist, wenn mehrere Personen gleichermaßen in der Lage sind zu handeln, es aber nicht tun, weil sie annehmen, dass Andere schon handeln werden.7 So kçnnte z. B. jedes an Deck sich aufhaltende Mitglied der Mannschaft einen ertrinkenden Passagier retten. Wenn es dennoch alle unterlassen zu handeln, weil sie davon ausgehen, dass Andere etwa besser oder schneller handeln kçnnten – sind dann alle fr den Tod des Passagiers verantwortlich? Offensichtlich wrde doch niemand zur Verantwortung gezogen werden, wenn wenigstens ein Mitglied springen und den Ertrinkenden retten wrde, denn dann wre das „NichtHandeln“ der brigen Mannschaft wohl nicht als „Unterlassung einer Handlung“ aufzufassen. Damit wird erneut deutlich, wie sehr das, was als Handlung bzw. Unterlassung beschrieben wird, vom Kontext abhngt und dass durch diesen auch festgelegt ist, ob und aufgrund welcher Bedingungen jemand verantwortlich gemacht werden kann8 – nicht nur in Fllen kollektiver oder geteilter Handlungsverlufe, sondern generell. Wird Verantwortung so direkt mit der Frage der Urheberschaft verbunden, muss unklar bleiben, wer verantwortlich ist, solange offen ist, wem welche Handlung zuzurechnen ist. Kann oder will man sich zumindest bei der Zurechnung von Verantwortung von der eindeutigen Identifikation eines Akteurs lçsen, stellt sich die Frage, ob nicht als weiteres Kriterium fr das Subjekt von Verantwortung seine Sprachfhigkeit strker in den Vordergrund zu rcken ist, gerade weil das dazu beitragen kçnnte, zugleich das Problem der Urheberschaft zu klren. Denn sprachlich kçnnten sich alle an Deck anwesenden Mannschaftsmitglieder darber verstndigen, ob jemand und wer ins Wasser springen sollte, um den ertrinkenden Passagier zu retten. Die im dritten Beispielsatz angefhrte Verwendung von Verantwortung ist vçllig anderer Art und liegt eigentlich außerhalb dessen, was in dieser Arbeit erçrtert werden soll. In der Abgrenzung zu den beiden vorangegangenen Beispielen wird allerdings deutlich, was hier mit dem Begriff „Verantwortung“ zum Ausdruck gebracht werden soll: Wenn Zustnde oder Gegenstnde als grammatisches Subjekt von Verantwortung fungieren, dann lediglich im metaphorischen Sinne. Denn schlechte Witterungsbedingungen kçnnen zwar das Kentern des Schiffes kausal bewirkt haben, doch identifizieren wir sie deshalb in der Regel noch nicht als Subjekt einer Handlung. Im Kontext der Alltagssprache wird nur selten expliziert, welche 7 8
In der Literatur werden solche Flle unter dem Stichwort „bystander-Situationen“ diskutiert. Vgl. Gertrud Nunner-Winkler, „Kollektive, individuelle und solidarische (frsorgliche) Verantwortung“, 184. Siehe ebd.
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I.1. Relata von Verantwortung
Bedingungen erfllt sein mssen, damit jemandem oder etwas die Fhigkeit zu handeln unterstellt werden kann; gleichwohl wird auch hier zumeist stillschweigend angenommen, dass jemand mindestens zwei Bedingungen erfllen muss, um Subjekt einer Handlung sein zu kçnnen: dass ein Subjekt zum einen so etwas wie die Absicht verfolgt, so und nicht anders zu handeln (Intentionalitt),9 und zum anderen die Freiheit hat, auch anders handeln zu kçnnen (Handlungsfreiheit).10 Beides fehlt aber im Fall der Witterungsbedingungen, die somit nicht Subjekt einer Handlung sein kçnnen. Dass es sich dennoch beim dritten Beispiel ebenfalls um einen grammatisch korrekt gebildeten Satz handelt, muss dieser Diagnose nicht widersprechen, denn auch „mit Quasi-Subjekten“ lassen sich „korrekte Stze bilden“, wie Weyma 9 In diesem Sinne ist bereits Aristoteles in der Nikomachischen Ethik, wenn er nach den Bedingungen fr die Zurechenbarkeit von Handlungen fragt, davon ausgegangen, dass Urheber einer Handlung ist, wer frei, willentlich und bewusst handelt. (Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1110 – 1111.) – Weyma Lbbe weist darauf hin, dass beim Intentionsbegriff „nicht das Wollenselement, sondern das Wissenselement das fr die Vorwerfbarkeit einer Handlung entscheidende Element“ sei. (Weyma Lbbe, Verantwortung in komplexen kulturellen Prozessen, 164.) In diesem Sinne klingt in der Formulierung „so und nicht anders“ an, dass das handelnde Subjekt eine bewusste (wenn auch nicht unbedingt vollstndige und irrtumsfreie) Vorstellung von seinem Handeln hat. 10 Aktuell behandeln zahlreiche Autoren das Problem der Verantwortung im Zusammenhang mit der Frage der Vereinbarkeit von Handlungs- bzw. Willensfreiheit und Determinismus. Dabei wird „Verantwortung haben“ bzw. „verantwortlich sein“ meistens einfach verstanden als die Zurechnung von Handlungen, fr die die Person dann in dem Sinne verantwortlich gemacht wird, dass sie Lob oder Tadel fr ihr Handeln verdient, weil sie als Autor dieser Handlung angesehen wird. Hier wird davon ausgegangen, dass Freiheit die Bedingung der Mçglichkeit von Verantwortung ist; wenn Freiheit und Determinismus aber unvereinbar sind, kçnnten Personen unter der Voraussetzung, dass die These des Determinismus wahr ist, auch nicht mehr verantwortlich gemacht werden. Siehe hierzu etwa Kane (Hg.), The Oxford Handbook of Free Will; Thomas Nagel, „Freedom“; Peter Strawson, „Freedom and Resentment“; Jay R. Wallace, Responsibility and the Moral Sentiment. Dagegen betont etwa Stephen Darwall im Anschluss an Peter Strawson, dass Verantwortung zunchst von unserer Fhigkeit, uns gegenseitig als zweite Personen anzusprechen, und erst in der Folge von der Mçglichkeit abhngt, uns als freie Wesen zu betrachten: „If Strawson is right, it is only because we view one another in the distinctive second-personal ways we do when we relate to each other that the questions of responsibility (as accountability), freedom of the will, and what might undermine these even arise. The issue of free will gets its grip, therefore, because we view and address one another (and ourselves) second-personally. […] It is secondpersonal address (as in reactive attitudes) that commits us to assuming the freedom of addresser and addressee alike.“ (Stephen Darwall, The Second-Person Standpoint. Morality, Respect and Accountability, 69 f.)
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Lbbe nachdrcklich betont; sie hlt fest, dass „nicht jedes grammatische Subjekt […] als solches schon ein Handlungssubjekt“ ist.11 So dient die Verantwortungszuschreibung im dritten Beispielsatz wohl eher einer metaphorischen oder abkrzenden Beschreibung von sehr komplexen Ursache-/ Wirkungsverhltnissen. „Verantwortlich sein“ wre hier gleichzusetzen damit, dass die schlechten Witterungsbedingungen als (Haupt-)Ursache fr das Kentern angesehen werden kçnnen, nicht jedoch, dass sie intentionales und freies Agens, also in diesem Sinne Urheber des Kenterns sind.12 Darber hinaus fehlt den Witterungsverhltnissen die zweite wichtige Voraussetzung dafr, Subjekt von Verantwortung zu sein: Weder sind sie ein der Sprache fhiges Wesen, noch stehen sie in einem verpflichtenden intersubjektiven Verhltnis – beispielsweise aufgrund von professionellen Beziehungen wie denjenigen zwischen Reeder und Kapitn. Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Entwicklungen und technischer Vernderungen wird es allerdings immer unsicherer, inwiefern zunehmend komplexe und offenbar interdependente Prozesse13 und Zustnde, selbst wenn Menschen daran offensichtlich beteiligt sind, berhaupt noch als Handlungen und Handlungsfolgen zu deuten sind.14 Damit ist auch unklar, wem die Verantwortung fr sie zuzuschreiben ist: Wenn das Subjekt von Verantwortung – wie bislang angenommen – mit dem Handlungssubjekt zu identifizieren ist, aber kein Handlungssubjekt eindeutig bestimmt werden kann, scheint auch niemand eindeutig verantwortlich zu sein. Dennoch wird vielerorts nach denjenigen gesucht, die Verantwortung nicht nur fr klar bestimmbare individuelle Handlungen, sondern fr so komplexe Erscheinungen wie Klimavernderung oder globale Armutsphnomene tragen. Denn auch wenn hier offenkundig nicht bestimmt werden kann, welche 11 Lbbe, Verantwortung in komplexen kulturellen Prozessen, 31. – Noch problematischer bzw. geradezu irrefhrend sind jedoch alle diejenigen Flle, in denen wie in unserem dritten Beispielsatz gar keine Menschen als (Mit-)verursacher vorkommen. 12 Siehe hierzu auch Achim Lohmar, Moralische Verantwortlichkeit ohne Willensfreiheit, 45. 13 Dabei mag offen bleiben, inwiefern gesellschaftliche Prozesse tatschlich komplexer geworden sind oder inwiefern sich nur die Sichtweise verndert hat, so dass scheinbar einfache Vorgnge nun als das schwer zu prognostizierende Resultat einer Vielzahl von sich vollziehenden Mikroprozessen erscheinen. 14 So weist bereits Marx immer wieder darauf hin, dass gesellschaftliche und çkonomische Prozesse sich „hinter dem Rcken“ der Beteiligten, also unabhngig von deren bewussten Handlungen, vollziehen. Und Luhmann betont die „Autopoiesis“ von sozialen Systemen, die sich, ohne dass sich ein Verursacher dingfest machen ließe, am Leben erhalten und regulieren.
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I.1. Relata von Verantwortung
Subjekte welche Handlungen vollzogen haben, werden all diese die Menschheit im Ganzen bedrohenden Entwicklungen doch in irgendeiner Weise durch menschliches Handeln (oder Unterlassen) (mit)bewirkt. Dabei wird zugleich sichtbar, wie problematisch und schwierig es ist – selbst in auf den ersten Blick so klaren Fllen wie den in unseren Beispielstzen beschriebenen –, Handlungen und ihre Folgen eindeutig zu identifizieren und zuzuschreiben: Welche Handlung vollzieht der Kapitn, wenn er seinen Ersten Offizier entlsst? Womçglich ist diese Entlassung die rechtlich unvermeidliche Folge davon, dass der Offizier whrend seines Dienstes unter massivem Alkoholeinfluss stand und dadurch die Sicherheit des Schiffes sowie das Leben der Menschen an Bord gefhrdete – dem Kapitn blieb also gar keine Wahl, er musste ihn entlassen; traf er damit noch eine freie Entscheidung? Inwieweit trgt der Kapitn auch Verantwortung fr weitere mçgliche Folgen der Entlassung, etwa dafr, dass sich der Erste Offizier umbringt? Obwohl sich somit die Zuschreibung von Handlungen und Verantwortung generell schwierig darstellt, wird doch der Verantwortungsbegriff – selbst bei sehr komplexen Phnomenen – nur selten fallengelassen. Eher wird der Versuch unternommen, ihn entsprechend anzupassen. Verantwortungstrger sollen nicht nur natrliche Personen, sondern beispielsweise auch Unternehmen, Verbnde, Firmen, Organisationen, Institutionen, schließlich sogar Staaten und Nationen sein.15 Eine solche Ausweitung des Verantwortungsbegriffs ber die individuelle Ebene hinaus ist unmittelbar an vernderte Handlungskonzepte geknpft. Als handlungsfhig werden oft nicht nur Personen betrachtet, sondern auch Kollektive unterschiedlicher Ausprgung.16 15 Auch Weyma Lbbe hlt den Ausdruck „kollektives Handeln“ fr unklar. Nach ihr gehen methodologische Individualisten davon aus, dass damit, dass „im Alltagssprachgebrauch Kollektive an die Subjektrolle gerckt wrden“, „ein klarer Sinn nur zu verbinden [ist], wenn die betreffenden Wendungen als Abkrzungen fr einen Komplex von Aussagen ber die beteiligten Individuen aufgefaßt wrden. Insbesondere die Zuschreibung von Verantwortung an solche Instanzen sei […] allenfalls pragmatisch begrndbar – etwa als Maßnahme infolge von Schwierigkeiten beim Nachweis der wahren, nmlich der individuellen Kausalketten, denen die Zurechnung eigentlich zu folgen habe“. (Lbbe, Verantwortung in komplexen kulturellen Prozessen, 124.) Lbbe teilt demnach „die […] zurechnungspraktische Tendenz des Festhaltens am Prinzip individueller Verantwortlichkeit weitestgehend“. Dennoch widmet sie vor allem Kapitel IV und V ihrer Monographie Fragen der kollektiven Verantwortung in modernen Gesellschaften. 16 Siehe etwa Heidbrink, Kritik der Verantwortung, 37. – hnlich vermerkt Otfried Hçffe, dass Verantwortung nicht nur „natrlichen Subjekten, sondern auch ,juristischen Personen‘“ zugeschrieben werden kçnne. Er sieht in einer solchen
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Damit ist das Problem zwar definitorisch gelçst, inhaltlich jedoch umgangen, denn sicher lsst sich beispielsweise auf die Frage, wer eigentlich verantwortlich fr das Abschmelzen der Polkappen sei, mit einem Verweis auf die „Weltgesellschaft“ als kollektiven Akteur antworten. Aber inwiefern ist damit etwas gewonnen? Wird mit dieser Antwort nicht lediglich versteckt, dass man im Grunde nicht weiß, wer konkret verantwortlich zu machen wre? Denn anders als im zweiten angefhrten Beispielsatz, in dem mit „der Mannschaft“ ebenfalls bereits auf ein Kollektiv als Trger von Verantwortung verwiesen war, handelt es sich hier nicht mehr um eine im voraus definierte Gruppe, die als solche bestimmte Aufgaben und Handlungen zu bernehmen htte und in der (mehr oder weniger) eindeutig festgelegt wre, wer fr welche Aufgaben zustndig ist und entsprechende Handlungen durchzufhren hat. Bei der Identifizierung der „Weltgesellschaft“ als Verantwortlicher handelt es sich eher um eine „Bndelung seitens des Zurechnungstheoretikers oder Zurechnungspraktikers, der den Fall behandelt“17, und eine entsprechende Bndelung der Kausalketten, die von den mçglicherweise beteiligten Individuen ausgehen, wobei diese sich hierzu nicht eigens verabredet haben mssen.18 Kein konkret identifizierbares Subjekt hat in Bezug auf das Abschmelzen der Polkappen im Voraus eine bestimmte Aufgabe, vielmehr ist diese Bedrohung des çkologischen Gleichgewichts die nicht-intendierte Folge nicht-koordinierten Zusammenwirkens einer nichtbestimmbaren Menge von Einzelhandlungen, in Kombination mit von Menschen nur teilweise verursachten natrlichen Prozessen. Doch rekurrieren Verantwortungstheoretiker auch oder gerade da, wo man sich „seines Gegenstandes nicht sicher ist“19, auf den Begriff einer kollektiven Verantwortung20 und versuchen so, weiter an der Verbindung zwischen Verantwortungs- und Handlungssubjekt festzuhalten: Zwar wird konstatiert, dass sich in modernen Kontexten von Industrialisierung – und, so lsst sich ergnzen, fortschreitender Globalisierung – oft „keine direkte und lineare Beziehung mehr zwischen dem Akteur und der von ihm hervorgerufenen
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Ausweitung der Verantwortungszuschreibung nicht nur eine Tatsache, er hlt sie auch fr gut begrndet: „Juristische Personen erfllen nmlich problemlos die doppelte Vorbedingung; sowohl nach innen […] als auch nach außen, gegenber anderen, handeln sie bewußt und freiwillig.“ (Otfried Hçffe, Moral als Preis der Moderne, 24.) Lbbe, Verantwortung in komplexen kulturellen Prozessen, 125. Siehe a. a. O., 126. A. a. O., 123. Siehe hierzu auch Nunner-Winkler, „Kollektive, individuelle und solidarische (frsorgliche) Verantwortung“, 169 – 187.
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Folge“ ausmachen lasse;21 gleichwohl wird angenommen, dass Kollektive handeln kçnnen und auch handeln. Unklar bleibt zumeist, wie dies zu verstehen ist.22 In rechtlich festgelegten Kontexten wurden zahlreiche Regelungen geschaffen, um dieses Problem zumindest teilweise zu lçsen. Ludger Heidbrink etwa verweist auf sechs verschiedene Modelle, wie (in) Korporationen Verantwortung zugewiesen werden kçnne. Whrend das Aggregatsmodell unterschiedliche Formen von Unternehmen „als assoziativen Zusammenschluß einzelner Akteure“ betrachte, unterstelle das Organismusmodell, „daß es in Korporationen reflexive Abstimmungen ber Mittel und Zwecke gibt“, weshalb die Korporation auch eine entsprechende Entscheidungsverantwortung trage. Dagegen bestehe im Vertragsmodell „zwischen der Gesellschaft und der Korporation ein sozialer Kontrakt“, aufgrund dessen die Korporation verantwortlich gemacht werde, den eingegangenen Verpflichtungen auch nachzukommen. Das Rechtsmodell behandele „Korporationen als juristische Personen oder soziale Akteure […], die legalen Sanktionen und Anreizen unterliegen.“ Am weitesten gehe das Personenmodell, und damit steht es nach Heidbrink am nchsten an der Verantwortung natrlicher Personen; es sehe in Korporationen einen „moralischen Akteur, der in vollem Umfang fr sein Handeln verantwortlich ist, ohne daß die korporativen Entscheidungen auf die Ttigkeiten der einzelnen Mitglieder zurckgefhrt werden mssen“. Schließlich beschreibt Heidbrink noch „das Modell sekundrer Verantwortung“, bei dem „die korporativen Handlungen zwar aus den primren Handlungen der Korporationsmitglieder“ abgeleitet werden, aber ein eigenen „moralischen Status“ erhalten, „der nicht aus dem personalistischen, sondern kollektivistischen Charakter von Korporationen resultiert“.23 Grundstzlich ist es schwierig, kollektiven Akteuren Verantwortung zuzuschreiben, da meist unklar bleibt, wie Handlungen und ihnen zugrunde liegende Intentionen Kollektiven als Ganzen zuzuordnen sein kçnnten. Dies ist noch am ehesten mçglich, wo es sich um strukturierte und abgegrenzte 21 Bayertz, „Geschichte der Herkunft der Verantwortung“, 25. 22 Zu prfen wre hier, inwiefern die zunchst angenommene notwendige Handlungsvoraussetzung der Intentionalitt auch von Kollektiven erfllt werden kann. Eine Hypothese kçnnte sein, dass nur dort von „kollektiver Verantwortung“ gesprochen werden kann, wo den entsprechenden Handlungen eine „kollektive Willensbildung“ zugrunde liegt. 23 Heidbrink, Kritik der Verantwortung, 202. Zur Frage kollektiven Handelns und der entsprechenden Verantwortung sei auch noch einmal verwiesen auf die sehr aufschlussreichen Kapitel (IV und V) in Lbbe, Verantwortung in komplexen kulturellen Prozessen, 121 – 200.
I.1.2. Objekt der Verantwortung
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Kollektive handelt. Vollends unklar sind jedoch Flle, bei denen die Bestimmung eines kollektiven Handlungssubjekts schwierig, ja geradezu unmçglich ist, wie etwa im Falle der fortschreitenden Verschmutzung der Erdatmosphre durch Abgase: Zwar tragen die meisten Menschen der Industrienationen durch Autofahren, hohen Energieverbrauch etc. maßgeblich zum sogenannten Treibhauseffekt bei; sie handeln allerdings nicht in einem vorher zusammengeschlossenen Kollektiv, ohne kollektive Willensbildung oder ein artikuliertes Wir-Gefhl. Gleichwohl kann niemand allein, beispielsweise durch den Verzicht aufs Autofahren, die durch das Kollektiv hervorgerufenen Gefahren abwenden. Denn auch wenn jeder einzelne von uns durch sein Verhalten und Handeln an diesem Gesamtprozess mitwirkt, ist es maßgeblich nicht der Umstand, dass er persçnlich Auto fhrt, sondern dass zu viele Menschen zu viel Auto fahren, der die Erdatmosphre und damit die Menschheit im Ganzen ernstlich in Gefahr bringt. Rechtliche Lçsungen mssten erst noch gefunden werden, um in solchen Fllen Handlungs- und in der Folge auch Verantwortungssubjekte zu bestimmen. Ebenso bleibt das Problem der moralischen Verantwortung hier einstweilen ungelçst.
I.1.2. Objekt der Verantwortung Außer nach dem Subjekt ist in den Beispielstzen nach einem Objekt von Verantwortung zu fragen: Wofr trgt jemand Verantwortung? Oder sinngleich: Was hat jemand zu verantworten? Wie bereits in der Analyse des Verantwortungssubjekts angedeutet, lsst sich anhand des ersten Beispiels feststellen: Der Kapitn trgt Verantwortung dafr, dass er seinen Ersten Offizier entlassen hat. Objekt der Kapitnsverantwortung ist damit die von ihm vollzogene Handlung. Doch in welcher Form und in welchem Ausmaß? Wenn, wie angenommen wurde, der Kapitn seine Handlungsweise vor dem Reeder rechtfertigt, wird es dabei nicht allein um die einzelne vollzogene oder unterlassene Handlung und ihr Ergebnis gehen, sondern darber hinaus um Fragen, die den Handlungskontext betreffen: Welchen Anlass und welche Grnde gab es fr eine solche außerordentliche und weitreichende Entscheidung? Welche Motive, welche Ziele und Absichten hatte der Kapitn?… Auch die Implikationen und die Konsequenzen seiner Handlung sind zu prfen: Was waren die sich aus dieser Entscheidung ergebenden Folgen, welche davon hatte der Kapitn vor Augen, welche ließ er – mçglicherweise fahrlssig – unbercksichtigt? Kurz, es geht um einen grçßeren Handlungskomplex und seinen Kontext.
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I.1. Relata von Verantwortung
In Abwandlung des ersten Beispiels kçnnte sich der Kapitn allerdings vor dem Reeder auch dafr verantworten mssen, dass er den Ersten Offizier nicht schon frher entlassen hat, obwohl er beispielsweise von den Alkoholproblemen und anderen Unzulnglichkeiten seines Ersten Offiziers wusste. Hier msste der Kapitn sich dann nicht mehr dafr rechtfertigen, dass er auf eine bestimmte Weise gehandelt hat, sondern gerade dafr, dass er nicht gehandelt hat. Wieder htte er Hintergrundinformationen – Grnde, Motive, Absichten –, diesmal jedoch nicht fr sein Handeln, sondern fr die Unterlassung24 eines Handelns zu geben, die erklren und begrnden, wieso der Kapitn es vorgezogen hat, den Ersten Offizier in seiner Funktion zu belassen. So kçnnte der Kapitn beispielsweise anfhren, dass der Erste Offizier ihm auf eine nachdrckliche Ermahnung hin versprochen habe, nicht mehr zu trinken. Dem habe der Kapitn zugestimmt, weil er z. B. habe verhindern wollen, dass die Familie des Ersten Offiziers durch die Entlassung noch zustzlich belastet wrde. Objekte von Verantwortung sind demnach auf den Handlungskomplex mit all den dazugehçrigen Hintergrnden, Implikationen und Konsequenzen, also auch mçgliche Unterlassungen zu beziehen. Bei der Analyse des zweiten Beispiels ist das Objekt der Verantwortung als „Schiff und Ladung“ erneut eindeutig identifiziert, wenngleich die Antwort nicht mehr direkt zu der oben aufgestellten Hypothese zu passen scheint, denn nun wird Verantwortung nicht mehr fr vollzogene Handlungen bzw. Unterlassungen, sondern fr konkrete Gegenstnde, Schiff und Ladung, getragen. Doch in welchem besonderen Verhltnis stehen diese Objekte zum Trger von Verantwortung? Wenn das Subjekt von Verant24 Siehe zur Unterscheidung von Handlung und Unterlassung hinsichtlich der Frage nach Verantwortung die Diskussion bei Lbbe, Verantwortung in komplexen kulturellen Prozessen, 63 – 120. Lbbe stellt hier die Frage, „ob sich Handeln und Unterlassen berhaupt mit hinreichender Eindeutigkeit unterscheiden lassen“, und weist darauf hin, dass „die Kategorisierung eines Vorgangs als Handlung oder als Unterlassung von der Art des sprachlichen Bezugs auf ihn abzuhngen“ scheint. (76) Dennoch hlt sie die „Wahl zwischen unterschiedlichen Beschreibungen eines Vorgangs“ (77) keineswegs fr beliebig. Dagegen ist fr Gottfried Seebaß die „Trennung zwischen Begehungen und Unterlassungen […] ohne Fundament. Entscheidend ist beidemal nur, ob etwas abhngig vom Wissen und Wollen dessen geschieht, der als Handelnder in Betracht steht. Ob er aktiv interveniert oder passiv bleibt; ob er ein Negativum oder ein Positivum mit seinem Verhalten verwirklicht; und ob es sich bei dieser Verwirklichung um eine nderung handelt oder ein Fortdauern des schon bestehenden Zustands oder Prozesses: all dies ist prinzipiell ohne Belang.“ (Gottfried Seebaß, „Handlungstheoretische Aspekte der Fahrlssigkeit“, 385.) Siehe hierzu auch Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen.
I.1.2. Objekt der Verantwortung
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wortung auch hier ein zu Handlungen fhiges Wesen sein soll, dann lsst sich vermuten, dass das Objekt der Verantwortung ebenfalls eng mit jener Handlungsfhigkeit zusammenhngt. Der Kapitn wie die Mannschaft, so wurde bereits oben angedeutet, verfgen in Bezug auf Schiff und Ladung aufgrund ihrer Ausbildung und ihres professionellen Status ber eine besondere Fhigkeit und haben damit auch eine besondere Pflicht zu handeln – Schiff und Ladung sind nicht irgendwelche Gegenstnde, sondern die, fr die Sorge zu tragen Kapitn und Mannschaft verpflichtet sind.25 Es geht dabei gleichwohl nie um alle denkbaren Eigenschaften der beiden Objektbereiche. Etwa ist der Kapitn nicht fr die Qualitt des Weizens verantwortlich, den er verschifft (allenfalls dafr, dass sie durch den Transport, d. h. durch Handlung oder Unterlassung der an Bord Ttigen, nicht leidet). Mit der Pauschalbezeichnung „Schiff und Ladung“ verbindet sich in diesem Kontext ausschließlich der besondere Handlungs- bzw. Aufgabenbereich des Kapitns und der Mannschaft – wobei dieser lediglich summarisch festgelegt ist: Generell kçnnen Aufgaben und Zustndigkeitsbereiche fixiert werden, ihre konkrete Ausgestaltung lsst sich jedoch nur intersubjektiv zwischen externen Instanzen und dem Subjekt selbst bestimmen. Damit unterscheidet sich das Objekt des zweiten Beispiels von dem ersten auch durch einen hçheren Grad an Komplexitt. Whrend im ersten Beispiel zunchst nur eine bereits vollzogene, also zeitlich abgeschlossene Handlung zu verantworten ist, geht es hier um eine vorerst unbestimmte Zahl noch zu bernehmender Aufgaben, deren Lçsungen, wie auch Franz-Xaver Kaufmann betont, „typischerweise nicht im voraus feststehen, sondern ein charakteristisches Moment der Eigenttigkeit, des Handlungsspielsraums auf seiten des Verantwortungstrgers voraussetzen, den er durch spezifische Qualitten seiner eigenen Person ,ausfllen‘ muß“26. Kurt Bayertz konstatiert deshalb fr die mit Beispiel eins und Beispiel zwei vorgestellten Verwendungsweisen auch eine andere Gewichtung: Mit der im zweiten Beispiel vorgenommenen Fokussierung auf die Zukunft wrden zugleich „in der normativen Dimension des Verantwortungsbegriffs […] die Vorzeichen vertauscht: man ist nicht mehr fr negative Folgen verantwortlich, sondern fr positive Zu25 In diesem Fall resultiert die Pflicht aus einem vorher geschlossenen Vertrag. Dieser beschreibt eine Art in sich geschlossenes System: Kapitn und Mannschaft sind Personen, die sich um Schiff und Ladung zu kmmern haben; Schiff und Ladung sind in diesem Kontext nur als Objekt der professionellen Verantwortung von Kapitn und Mannschaft relevant. Offen bleibt auf der Metaebene, warum Personen berhaupt die Pflicht haben, Vertrge einzuhalten. 26 Franz-Xaver Kaufmann, „ber die soziale Funktion von Verantwortung und Verantwortlichkeit“, 210.
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I.1. Relata von Verantwortung
stnde“27. Denn sicherlich sei auch hier „die Vermeidung von Schden“ eingeschlossen, vor allem gehe es aber „um die Erhaltung oder Herstellung bestimmter als positiv eingeschtzter Zustnde“.28 Kapitn und Mannschaft haben sich hier eben nicht dafr zu rechtfertigen, dass Schiff und Ladung Schaden genommen haben, vielmehr sollen sie dafr sorgen, dass das Schiff mitsamt der Ladung wohlbehalten im Zielhafen ankommt, und falls dies gelingt, mssen sie gerade nicht Rede und Antwort fr die (in diesem Fall als negativ bewerteten) Handlungsfolgen stehen. Objekt von Verantwortung, so ließe sich die Analyse beider Beispiele vorerst zusammenfassen, kçnnen zum einen bereits vollzogene Handlungen sowie Unterlassungen sein – wobei es hier auch um die Rechtfertigung und Erklrung des Handlungskontextes und aus ihm resultierender Implikationen geht –, zum anderen aber auch gesamte noch zu bernehmende, in Bezug auf das Ergebnis noch offene Handlungs- und Aufgabenbereiche.29 Dabei wird antizipiert, dass der Handelnde sich in der Zukunft fr dann vollzogene oder unterlassene Handlungen und ihre Folgen wird verantworten mssen. So wird der Kapitn sich etwa dafr rechtfertigen mssen, die Schiffsladung nicht unbeschadet ber den Atlantik gebracht zu haben, oder auch dafr, nicht weniger Ladung an Bord genommen zu haben, obwohl er wusste, dass mit Sturmbçen zu rechnen war. Whrend im ersten Beispiel die Perspektive rckblickend ist, so dass hier auch von einer retrospektiven Verantwortung gesprochen wird, bezieht sich das zweite Beispiel auf in der Zukunft liegende Handlungen und Aufgaben als dem Objekt der Verantwortung, die dementsprechend als prospektive Verantwortung bezeichnet wird.30 In beiden Fllen lsst sich innerhalb des Objekts von Ver27 Bayertz, „Geschichte der Herkunft der Verantwortung“, 32. 28 Ebd. 29 Weil auf die Frage „Wofr?“ ganz verschiedene Antworten gegeben werden kçnnen, schlgt Otto Neumaier eine etwas andere Unterscheidung vor, nmlich das Wofr zunchst als den „Bereich“ der Verantwortung zu bestimmen, um dann innerhalb dieses Bereichs noch einmal zwischen Objekt und Inhalt zu differenzieren: Whrend mit Objekt jene Gegenstnde bezeichnet wren, „die durch das Tun“ der verantwortlichen Person berhrt sind – die Ladung, um auf das Schiffsbeispiel zurckzugreifen –, wre der Inhalt die Handlungen, „durch welche die Gegenstnde […] betroffen“ sind. (Neumaier, „Wofr sind wir verantwortlich?“, 44.) In diesem Sinne wre dann festzuhalten: „Eine Person x ist verantwortlich fr eine Person oder Sache y in Hinblick auf einen Zustand p, wobei p ein Zustand von y sein kann, aber nicht muß.“ (48). 30 Siehe zur Unterscheidung von prospektiver und retrospektiver Verantwortung etwa Bayertz, „Geschichte der Herkunft der Verantwortung“, hier insbesondere 45 ff.
I.1.2. Objekt der Verantwortung
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antwortung noch weiter abstufen: Der Kapitn ist zunchst fr das Vollziehen bzw. Unterlassen von Handlungen und Aufgaben verantwortlich – von ihm intendierte Handlungsfolgen sind ihm dabei strker anzulasten als Handlungsfolgen, die er nur „in Kauf genommen“31 bzw. nicht vorausgesehen hat. Inwieweit er sich berhaupt noch fr die Folgen zu verantworten hat, die generell nicht voraussehbar waren, bleibt zweifelhaft oder strittig.32 Die hierfr relevanten Unterscheidungen – welche Konsequenzen vom Kapitn intendiert waren, welche er htte voraussehen mssen und welche unvorhersehbar waren – werden allerdings selbst erst abschließend in dem Rechtfertigungsdiskurs unter anderem aus den Aussagen des Kapitns gewonnen.33 Dementsprechend klrt sich hufig erst im Verantwortungsdiskurs selbst, welche Konsequenzen dem Kapitn in welchem Maße zuzuschreiben und anzulasten sind. hnlich wie in den hier beschriebenen Beispielen wird auch in der Literatur zum Verantwortungsbegriff die Frage gestellt, wofr Verantwortung zu bernehmen oder zu tragen ist, und meist ebenfalls als Frage nach dem Objekt von Verantwortung verstanden. (Diese Bezeichnung trifft insofern, als es sich, nach grammatischen Kategorien analysiert, meist um die Ergnzung durch ein Akkusativ-Objekt handelt.) Dabei wird inhaltlich differenziert. Otfried Hçffe etwa unterscheidet zwischen „Aufgaben-“ und „Rechenschaftsverantwortung“. Auf die Frage, wofr man verantwortlich ist, wird Hçffe zufolge mit Zweierlei geantwortet: zum einen mit der Zustndigkeit fr bestimmte Aufgaben, zum anderen mit der Pflicht, auf gestellte Fragen zu antworten und sich Vorhaltungen mit Rede und Antwort zu stellen. Offenkundig haben die beiden Antworten, auch wenn die Ergnzungen jeweils grammatisch an derselben Stelle stehen und auf dieselbe 31 Damit wird bei den zu verantwortenden Folgen unterschieden, ob der Kapitn sie „aktiv“ bewirkt oder nur „passiv“ zugelassen hat. Auch diese Unterscheidung zwischen Aktivitt und Passivitt hinsichtlich der Verantwortung wird von einigen Autoren als unerheblich erachtet. Siehe etwa Lbbe, Verantwortung in komplexen kulturellen Prozessen, 75. 32 Siehe zur Folgenunterscheidung auch Birnbacher, Analytische Einfhrung in die Ethik, 177 – 186. 33 Es gibt den Sonderfall, dass der Kapitn gewissermaßen nur hypothetisch zur Rechenschaft gezogen wird, wenn er etwa infolge schwerer Verletzungen oder gar, weil er inzwischen gestorben ist, keine Aussagen machen kann. hnlich sieht das Justizwesen vor, dass Anwlte stellvertretend oder ergnzend die Rechtfertigung bernehmen, um damit die – aus welchen Grnden auch immer (Mngel der Rhetorik oder der Rechtskenntnis) – eingeschrnkte Fhigkeit der unmittelbaren Akteure zur Rechtfertigung zu kompensieren. Ebenso kann auch ein Vorgesetzter sich stellvertretend fr einen Mitarbeiter verantworten oder verantworten mssen.
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I.1. Relata von Verantwortung
Prposition folgen, inhaltlich nur wenig gemeinsam. Dennoch behauptet Hçffe – der diese beiden Objekte von Verantwortung auch als zwei Grundbedeutungen von „Verantwortung“ analytisch voneinander unterscheidet – ebenfalls einen inneren Zusammenhang: Mit der „bernahme von Aufgaben“ verpflichte man sich eben nicht allein zur sorgfltigen Ausfhrung dieser Aufgaben, sondern auch dazu, „bei Verdacht auf Versumnisse oder Fehler sich zur Rechenschaft und gegebenenfalls sich zur Haftung ziehen zu lassen“.34 Die beiden auf die Frage „Wofr?“ angefhrten Ergnzungen implizieren einander jedoch notwendig – deshalb wrde ich weniger von zwei Typen der Verantwortung als von zwei im Verantwortungsbegriff enthaltenen, nicht immer gleich gewichteten Aspekten sprechen, die wechselseitig aufeinander verweisen: Verantwortung kann rckwirkend nur eingeklagt werden, wenn vorher, mehr oder weniger explizit, eine Verantwortung fr eine Aufgabe formuliert wurde. Umgekehrt stellt die Verantwortung als Zustndigkeit fr einen Aufgabenbereich eigentlich nur eine gedanklich vorweggenommene Rechenschaftsverantwortung dar, nmlich diese Aufgaben so zu erfllen, dass man spter ohne Schwierigkeit sein Handeln als begrndet rechtfertigen kann.35 Auch nach diesen vorgenommenen Differenzierungen korrespondiert im Großen und Ganzen das Objekt der Verantwortung mit dem Handlungsbereich einer Person. Worin genau dieser besteht, ist fr jeden Einzelfall allerdings erst zu interpretieren und festzulegen.36 Damit wird erneut die 34 Hçffe, Moral als Preis der Moderne, 30. 35 Klaus Gnther unterscheidet hnlich zwischen „Aufgaben- und Zurechnungsverantwortung“, wobei auch er auf die wechselseitige Verschrnkung dieser beiden aufmerksam macht. (Klaus Gnther, „Aufgaben- und Zurechnungsverantwortung“, hier besonders 316 ff.) Er geht dabei auch auf Flle ein, wo Aufgaben- bzw. Zurechnungsverantwortung von der jeweils anderen abgekoppelt werden (323 ff.). Die enge Korrelation zwischen diesen beiden Aspekten der Verantwortung sieht auch Stefan Gosepath („Verantwortung fr die Beseitigung von beln“, 389 f.). 36 M. E. impliziert der Begriff Verantwortung den der Verpflichtung bzw. den der Pflicht: Wir sind verpflichtet, so zu handeln, dass wir Anderen, davon Betroffenen gute Grnde fr unser Handeln geben kçnnen bzw. uns, wenn wir dazu aufgefordert sind, mit guten Grnden fr unser Handeln zu rechtfertigen. Verantwortung beschreibt also eine Antwort- und Rechtfertigungspflicht. Diese unterscheidet sich jedoch von anderen Verpflichtungen und Pflichten insofern, als mit ihr zunchst keine konkrete, klar umrissene Handlungsaufforderung formuliert wird, sondern eine Grundregel, an der wir all unser Handeln ausrichten sollen, nmlich so zu handeln, dass wir es mit guten Grnden Anderen gegenber verantworten kçnnen. Damit unterscheidet sich der Begriff der Verantwortung zwar von dem der Verpflichtung bzw. Pflicht, bleibt jedoch auf diesen Begriff angewiesen. (Zur inhrenten Verbindung zwischen beiden Termini siehe auch Darwall,
I.1.3. Instanz der Verantwortung
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sprachliche Dimension der Verantwortungsrelation offensichtlich: Etwas zu verantworten heißt immer, vor jemandem sein Handeln bzw. Unterlassen mit Grnden zu rechtfertigen, indem man ber die Handlungssituation, wie sie sich zum Zeitpunkt der Handlung dargestellt hat, informiert sowie seine handlungsleitenden Intentionen und Motive erlutert. Auch hier ist im Diskurs ber eine gltige Darstellung der Situation, eine zutreffende Interpretation mçglicher Randbedingungen und Begleitumstnde sowie der Motive zu verhandeln. Nur selten werden Rechtfertigungen fr positive Leistungen verlangt. Auch wird niemand wegen erfllter Aufgaben zur Rede gestellt, es sei denn mit der Frage: „Warum nicht schneller, besser, noch umfangreicher oder einfach anders?“ Fast immer geht es in Rechtfertigungsdiskursen um Mngel, Schden, Beeintrchtigungen oder zumindest um entsprechende Risiken, die mçglicherweise zeitweilig bestanden haben, manchmal auch einfach um enttuschte Erwartungen, wie eine bestimmte Handlung auszufhren gewesen wre. Den dritten angefhrte Beispielsatz hinsichtlich des Verantwortungsobjekts abschließend genauer zu untersuchen, scheint nach dieser Bestimmung und der fehlgeschlagenen Subjektanalyse fast mßig – dennoch benennt auch dieses Beispiel mit „Kentern des Schiffes“ zunchst ein Objekt der Verantwortung. Allerdings: Da die schlechten Witterungsbedingungen nicht als Urheber, sondern nur als Ursache des Kenterns zu verstehen waren, erscheint auch das Kentern des Schiffes nicht mehr als Handlung, sondern als die notwendige Folge eines Ereignisses, dessen Ursache mit den schlechten Witterungsbedingungen mehr oder weniger eindeutig bestimmt werden kann. Nach Motiven, Grnden und Absichten eines Subjekts zu fragen, die es sprachlich explizieren msste, ist in diesem Kontext nicht mçglich. Auch im Hinblick auf das Objekt kann hier daher allenfalls in einem metaphorischen Sinn von Verantwortung gesprochen werden.
I.1.3. Instanz der Verantwortung Mit der Analyse von Subjekt und Objekt sind noch nicht alle Relata des Verantwortungsbegriffs bestimmt. Ungeklrt blieb zunchst, vor wem sich das Verantwortungssubjekt berhaupt zu rechtfertigen hat. Im ersten Beispielsatz – der Kapitn muss sich vor dem Reeder dafr verantworten, dass er seinen Ersten Offizier entlassen hat – wird als drittes Relatum von VerantThe Second-Person Standpoint. Morality, Respect and Accountability, Kapitel 5: „Moral Obligation and Accountability“, 91 – 118, besonders 92.)
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I.1. Relata von Verantwortung
wortung der Reeder benannt. Ihm gegenber trgt der Kapitn Verantwortung. Wie zum Antworten immer ein Gesprchspartner gehçrt, an den sich jemand mit seiner Antwort richtet, muss es auch immer jemanden – eine Person oder eine Instanz – geben, vor dem man sich fr etwas verantwortet.37 Zwar benennt lediglich der erste der Beispielstze explizit eine solche Person, vor der es sich zu verantworten gilt, doch lsst sich diese beim zweiten Beispiel leicht aus dem sachlichen Kontext extrapolieren und ist darin implizit angenommen: Der Kapitn wie die Mannschaft tragen Verantwortung nicht nur, weil sie aktuelles oder potentielles Subjekt von Handlung(en) sind, sondern auch, weil bzw. indem sie mit der bernahme von Aufgaben die Verpflichtung eingegangen sind, jemandem Auskunft ber das eigene Handeln zu geben. Etwas spezifischer bedeutet „Auskunft ber das eigene Handeln zu geben“, jemandem sein Handeln zu erklren, indem man ihm zustzliche Informationen, Grnde, persçnliche Motive und Erwartungen darlegt, ihn ber bestimmte Umstnde, unter denen man gehandelt hat, informiert und damit idealiter sein Handeln als verstndlich und begrndet ausweisen kann. Ein solcher Akt der Rechtfertigung vor einer Instanz, die sich die Begleitumstnde und die Grnde fr das Handeln des Subjekts berichten lsst und diese prft, gehçrt notwendig zur Verantwortungsrelation. „Verantwortung haben“ heißt damit entweder, vollzogene Handlungen vor jemandem zu rechtfertigen oder bestimmte Aufgaben-/Handlungsbereiche zu haben, fr die man sich unter Umstnden vor jemandem rechtfertigen muss. Dabei kann der Rechtfertigungsakt weiter differenziert werden. Maria Maier unterscheidet drei verschiedene zu vollziehende Handlungen, die auch von jeweils anderen Instanzen bernommen werden kçnnten38 : Eine erste Instanz (in unserem Beispiel der Reeder) habe zunchst die Aufgabe, einer Person x (hier dem Kapitn) „mit Hilfe der Norm N1“
37 Diese kann in manchen Fllen auch mit dem Objekt der Verantwortung identisch sein. So kçnnte auch die Mannschaft den Kapitn zur Verantwortung ziehen. 38 Dabei kann es natrlich Flle geben, bei denen zwei Instanzen mehr oder weniger mit demselben Anspruch, aber auch mit konkurrierenden oder konfligierenden Ansprchen auftreten; hier antwortet das Subjekt, statt einer Instanz Rede und Antwort zu stehen, mehreren gleichermaßen. Es kann aber auch Flle geben, in denen von verschiedenen Instanzen verschiedene Ansprche geltend gemacht werden, bzw. Flle, in denen eine Instanz der anderen insofern bergeordnet wird, als dass sie als zweite Instanz dazu dient, die erste zur Rede zu stellen und ihre Legitimation und die Angemessenheit ihrer Entscheidung(en) zu prfen.
I.1.3. Instanz der Verantwortung
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(etwa dem Arbeitsvertrag) „Verantwortung fr den Zustand p“39 (die Entlassung des Ersten Offiziers) berhaupt zuzuschreiben. Die Aufgabe der zweiten Instanz (i2) (in unserem Beispiel entweder ebenfalls der Reeder oder auch ein Gericht) ist es dann, den Kapitn „hinsichtlich des Zustands p zur Verantwortung“40 zu ziehen. Jemanden zur Verantwortung ziehen beinhaltet nach Maier, dass „x von i2 aufgefordert wird, Rede und Antwort zu stehen, wenn x die ihr zugewiesene Verantwortung […] nicht erfllt hat“ – so wrden der Reeder oder der Richter den Kapitn auffordern, Rechenschaft darber abzulegen, warum beispielsweise das Schiff und die Ladung nicht unversehrt im Zielhafen eingetroffen sind. Da aber hufig zunchst unklar ist, ob etwa dem Kapitn „die Nicht-Erfllung der ih[m] zugewiesenen Verantwortung zuzurechnen ist“41 oder ob er gegebenenfalls Grnde vorbringen kann, die ihn aus der Verantwortungsbeziehung entlassen kçnnten (vielleicht hatte er zu dem fraglichen Zeitpunkt Urlaub, und seine Vertretung war fr das Schiff und seine berfahrt zustndig), ist es nach Maier zunchst Aufgabe der Instanz, „die Zurechenbarkeit […] durch die Rechenschaftsablegung“42 zu prfen. Auch das Zur-Verantwortung-Ziehen – Maier zufolge neben der Zuschreibung der zweite Aspekt von Verantwortung – lsst sich demnach als zwei voneinander verschiedene Handlungen einer Instanz beschreiben: die Aufforderung zum Rechenschaftsablegen und „das Auferlegen von Sanktionen“43. Die von Maier gemachte Unterscheidung von verschiedenen Instanzen beruht im Wesentlichen auf der von Handlungen, die von einer (aber, wie gesagt, auch von mehreren) Instanz(en) ausgefhrt werden kçnnen und zusammengenommen die Rechtfertigungsakte von Verantwortungsrelationen charakterisieren. Nach Maier ist allen drei Handlungen gemeinsam, dass jede von ihnen „einer Instanz dazu dient, eine Norm zu erlassen“44. Ich halte es allerdings fr fraglich, ob jede Handlung einer Instanz als Normerlass gedeutet werden kann. Plausibler wre es, davon zu sprechen, dass jede Instanz der Verantwortung, ob sie nun einem Subjekt Verantwortung zuschreibt oder es zur Verantwortung zieht, auf eine Norm rekurriert, diese dadurch besttigt, aber auch modifizieren kann. Ohne einen solchen Bezug auf eine Norm wre nicht mehr nachvollziehbar, warum eine Instanz 39 Maria Maier, „Wodurch und wovor sind wir verantwortlich? Die Instanzen der Verantwortung“, 55. 40 A. a. O., 56; Hervorhebung E. B. 41 Ebd. 42 Ebd. 43 Ebd. 44 A. a. O., 57.
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I.1. Relata von Verantwortung
berhaupt Verantwortung zuschreibt oder zur Verantwortung zieht: Der Begriff „Verantwortung“ bzw. das mit ihm bezeichnete Sprachspiel verweist immer auf eine normative Bewertung von Handlungen, nur deshalb werden Rechtfertigungen gefordert, gegeben, geprft und beurteilt. Darber hinaus kçnnen, wie Maier betont, Instanzen nur durch den Bezug auf bereits bestehende Normen eingesetzt werden, da sonst die Autoritt ihres Urteils ungeklrt bliebe.45 Damit kann zunchst festgehalten werden, dass zumindest potentiell jede Verantwortungsrelation auch eine Instanz impliziert, vor der sich das Verantwortungssubjekt zu rechtfertigen hat, und weiter wurde differenziert, worin die Rechenschaftsakte bestehen. Weitgehend ungeklrt jedoch ist bislang die Frage geblieben, vor wem man sich im Einzelfall zu verantworten, wem man zu antworten hat. Da „sich verantworten“ wie „antworten“ eine reaktive Handlung ist, antwortet jemand dort, wo ihm eine Frage gestellt wurde, und verantwortet sich jemand da, wo er – oder zumindest einige seiner Handlungen – mit einem gewissen berechtigten Anspruch (dessen Natur noch weiter zu bestimmen ist) in Frage gestellt wurde. Im Falle von Reeder und Kapitn resultiert die Berechtigung wohl vor allem aus ihrem professionellen Verhltnis: Der Reeder hat allein schon aufgrund seiner Position als Vorgesetzter des Kapitns einen berechtigten Anspruch, ber dessen Handeln informiert zu werden – auch dann, wenn er vielleicht gar nicht danach gefragt hat. So kann grundstzlich die Tatsache – direkt oder indirekt –, vom Handeln des Subjekts betroffen zu sein, einen Anspruch auf Rechtfertigung begrnden. Dieser muss nicht im Voraus feststehen; deshalb lsst sich auch nicht immer ausdrcklich und vorab identifizieren, welche Instanz diesen Anspruch zu Recht erheben kann. In vielen Fllen – so im zweiten Beispielsatz – werden solche Instanzen zunchst einfach nur implizit angenommen.46 45 Vgl. Maier, „Wodurch und wovor sind wir verantwortlich?“, 59. (Ich werde im nchsten Abschnitt noch ausfhrlicher auf die Frage des normativen Bezugsrahmens eingehen.) – Neben dieser notwendigen Bindung der Instanz an Normen ist an Maiers analytischer Unterscheidung noch ein weiterer Aspekt interessant: Indem Maier bereits das Zuschreiben von Verantwortung als eine Aufgabe der Instanz kennzeichnet, tritt ein passiver Aspekt am Subjekt von Verantwortung besonders deutlich hervor: Das Subjekt von Verantwortung sucht sich nicht selbst aus, ob und wofr es Verantwortung trgt, vielmehr wird es von einer Instanz in deren Akt der Zuschreibung verantwortlich gemacht und durch deren Fragen zum Antworten und damit zur Rechenschaft gençtigt. 46 Ausgenommen sind natrlich alle Verwendungsweisen wie die im dritten Beispiel, bei denen aber ohnehin die Rede von „Verantwortung“ fragwrdig ist.
I.1.3. Instanz der Verantwortung
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Hierin liegt vielleicht ein weiteres Charakteristikum der Verantwortungszuschreibung. Denn grundstzlich geht es bei der Verantwortungsrelation nicht so sehr darum, vor wem konkret man sich und sein Handeln zu verantworten hat; vielmehr besteht prinzipiell die Mçglichkeit, dass jemand Anspruch auf Rechenschaft hat oder zumindest eine Forderung, sich zu rechtfertigen, an ein handelndes oder handlungsfhiges Subjekt gestellt wird, das dadurch zu einem antwortenden Subjekt wird – zu einer Person, die ihr Handeln zu verantworten hat. Damit tritt nun eindeutig das diskursive Moment von Verantwortung in den Vordergrund: Auch die Instanz, vor der Verantwortung zu bernehmen ist, muss, wie oben bereits angedeutet, insofern ber Sprache verfgen, als sie nur so Antworten zu fordern, zu verstehen und zu bewerten weiß. Wird lediglich Sprachkompetenz47 als Voraussetzung dafr, Verantwortungsinstanz zu werden, angenommen, kommt zumindest potentiell fr jedes Beispiel eine nicht exakt bestimmbare Zahl weiterer Instanzen in Frage – nicht allein der Reeder kçnnte, weil er der Sprache mchtig ist, gegenber dem Kapitn ein Anrecht auf Rechtfertigung geltend machen. Auch fr das zweite Beispiel ließen sich zahlreiche Kandidaten anfhren: Außer dem auftraggebenden Kunden, Verwandten der Mannschaftsmitglieder, dem Gewissen des Kapitns kçnnten auch der einem Gericht vorstehende Richter oder allgemein „die ffentlichkeit“ vom Kapitn Rechtfertigung fr sein Handeln verlangen, und damit ist die Liste der mçglichen Verantwortungsinstanzen keineswegs abgeschlossen. Denn analog zum – allerdings kontrovers diskutierten – kollektiven Verantwortungssubjekt erscheint es (gerade in komplexen gesellschaftlichen Zusammenhngen) ebenfalls sinnvoll, eine nicht mehr als Addition einer feststehenden Anzahl von Individuen zu begreifende kollektive Instanz anzunehmen. Dies geschieht etwa, wenn von „der ffentlichkeit“ oder „den kommenden Generationen“ die Rede ist, denen gegenber sich Akteure zu verantworten haben. Gleichwohl ist die Liste mçglicher Instanzen in realen Kontexten nicht (vollkommen) beliebig: Sowohl der auftraggebende Kunde als auch die Verwandten der Mannschaftsmitglieder und das Gericht stehen in einem besonderen Verhltnis zum Kapitn und dessen Handeln sptestens dann, wenn er sich vor ihnen rechtfertigt. 47 Sofern die meisten Beitrge zum Verantwortungsbegriff auf den Gesichtspunkt des Rechenschaft-Ablegens rekurrieren, gehçrt auch zur Verantwortungsrelation fr fast alle Autoren eine Instanz, vor der es sich zu verantworten gilt und als deren wichtigste Voraussetzung W. Weischedel die Fhigkeit zu sprechen nennt; sie erlaube es der Instanz, mit dem Verantwortungssubjekt in einem „dialogischen Verhltnisse[…]“ zu stehen. (Weischedel, Das Wesen der Verantwortung, 26.)
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I.1. Relata von Verantwortung
Auch wenn die Liste der mçglichen Verantwortungsinstanzen (wenn es nicht eine Regel fr die „letzte Instanz“ gibt) grundstzlich offen und unabschließbar sein kann, bedeutet das nicht, dass jeder gleichermaßen prdestiniert, d. h. fhig und berechtigt ist, das Subjekt nach seinem Handeln und seinen Handlungsgrnden zu befragen: Alle oben angefhrten mçglichen Instanzen mssen zum einen der Sprache fhig sein, zum andern setzen sie einen direkten oder indirekten Bezug zum Verantwortungsobjekt, der vollzogenen bzw. noch zu vollziehenden Handlung voraus – mehr oder weniger direkt sind sie vom Handeln des Subjekts betroffen. Etwas differenzierter lassen sich drei Typen / Arten von Instanzen sinnvoll unterscheiden: Zunchst kçnnen alle direkt von den zu verantwortenden Handlungen Betroffenen als solche einen berechtigten Anspruch auf Rechtfertigung erheben.48 Daneben kann das Verantwortungssubjekt selbst bzw. sein Gewissen49 eine mçgliche Instanz sein, vor der es sich zu verantworten hat. Hier stellt sich die Frage des berechtigten Anspruchs nicht – wer, wenn nicht das Subjekt selbst, sollte vom eigenen Handeln betroffen sein? Schließlich kçnnen aber auch die vordergrndig mit den Handlungen des Subjekts nicht in Zusammenhang stehenden Instanzen dann berechtigt nach Rechtfertigungen fragen, wenn sie etwa andere vom Handeln des Subjekts betroffene
48 Dabei ist klrungsbedrftig, wer berhaupt von einer Handlung betroffen ist. Dies wird hufig selbst in Diskursen geklrt. Grundstzlich besteht, wie ich in Kapitel III.2. ausfhrlich darlegen werde, die Pflicht zu rechtfertigen, warum man eine bestimmte Handlung eben vor jemandem nicht weiter rechtfertigt. 49 Viel hngt hier davon ab, was unter Gewissen verstanden wird. Fr Manfred Riedel etwa ist klar, dass man „[v]or sich selbst […] nur in bertragener Bedeutung verantwortlich sein [kçnne], da die Verantwortung wie das Reden darauf beruht, daß man sich selbst wie einen Anderen zur Rede stellt“. (Riedel, „Freiheit und Verantwortung“, 166.) Geht man dagegen etwa mit Kant davon aus, dass das Gewissen eine „sich selbst richtende moralische Urteilskraft“ und somit der Ort in uns ist, an dem uns unsere praktische Vernunft unsere „Pflicht zum Lossprechen oder Verurteilen“ einer Handlung vorhlt, kommt dem Gewissen eine Objektivitt und Unabhngigkeit zu, die auch hier die Vorstellung eines dialogischen Selbstverhltnisses einsichtig werden lsst. (Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: Gesammelte Schriften, Band VI, 186.) Auch K. Bayertz hebt hervor, dass sich der Mensch vor seinem eigenen Gewissen gerade auch dann noch zu rechtfertigen habe, „wenn er sich allen ußeren menschlichen Richtern zu entziehen vermocht hat“. (Bayertz, „Geschichte der Herkunft der Verantwortung“, 18.)
I.1.3. Instanz der Verantwortung
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Personen oder – im Falle des Richters – die von einer Handlung betroffene Institution des Rechts50 vertreten. Noch einmal zusammengefasst: Wer vom Handeln eines Subjekts direkt oder indirekt betroffen ist und damit aktual zur Instanz wird, vor der sich jemand zu verantworten hat, lsst sich nicht generell entscheiden, sondern ist wesentlich kontextabhngig und im Hinblick auf die zugrunde gelegten Normen auslegungsbedrftig.51 berdies kçnnen unter vernderten Bedingungen immer wieder neue oder andere Instanzen Rechenschaft einfordern. Whrend der Kapitn wohl whrend seiner Arbeit fortlaufend vor sich selbst Rechenschaft ber das eigene Handeln ablegt, kann dieses in der Folge auch die ffentlichkeit beschftigen – wenn beispielsweise nach einem Schiffsunglck ein Nachrichtenmagazin den Kapitn befragt, welche Grnde ihn bewogen haben, seinen Ersten Offizier zu entlassen, und ob diese Entscheidung mit dazu beigetragen habe, dass das Schiff gekentert sei –, und schließlich kann dieselbe Angelegenheit zu einem vor Gericht zu klrenden Fall werden, und der Kapitn muss dem Richter Grnde fr seine Entscheidung nennen, seinen Ersten Offizier zu entlassen. Grundstzlich gilt fr die Rechtfertigung unabhngig vor welcher Instanz, dass man sich auch dann noch verantwortet, wenn man den gestellten Anspruch auf Rechtfertigung – im Idealfall wiederum mit triftigen Grnden – als unberechtigt bestreitet oder zurckweist. So kçnnte der Kapitn den Reeder, wie gesagt, darauf hinweisen, dass nicht er es war, der den Ersten Offizier entlassen hat, sondern sein Vertreter, der daher statt seiner nach den Grnden fr eine solche Entscheidung zu befragen sei. Beharrt der Reeder trotzdem auf seinem zuvor erhobenen Rechtfertigungsanspruch, muss er seinerseits die Grnde dafr benennen. In einem anderen Fall, wenn beispielsweise eine dem Kapitn gnzlich unbekannte Person ihn auffordert, Rechenschaft abzulegen, ist denkbar, dass diese von Anfang an selbst ihren Rechtfertigungsanspruch begrnden muss: Ihrerseits unter Rechtfertigungszwang gestellt, hat sie darzulegen, auf welche Grnde sie sich mit ihrem Anspruch auf Ausknfte beruft.52 50 Die „Betroffenheit“ des Rechts unterscheidet sich insofern von der Betroffenheit realer Personen, als das Rechtswesen nicht materiell, sondern ideell Schaden nimmt, wenn jemand gegen ein Gesetz oder eine Norm verstçßt. 51 Zur Frage der Normanwendung und ihrer Angemessenheit in bestimmten Situationen siehe Klaus Gnther, Der Sinn fr Angemessenheit. Anwendungsdiskurse in Moral und Recht. 52 Offengelassen ist hier, vor wem sich die erste Verantwortungsinstanz mit Grnden ausweisen muss: In Frage kommen neben dem Verantwortungssubjekt selbst immer auch bergeordnete Instanzen, so dass theoretisch auch das Rechtferti-
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I.1. Relata von Verantwortung
Weitere Runden, in denen Rechtfertigung eingefordert und entsprechend darauf geantwortet wird, sind also denkbar. Der Idee nach sind Verantwortungsbeziehungen und Verantwortungsprozesse unabschließbar.53 Meistens spielt dies jedoch nur dann eine Rolle, wenn jemand die Berechtigung der Verantwortungsinstanz oder ihres Anspruchs anzweifelt oder wenn die an die Rechtfertigung anschließende Prfung und Bewertung einer Handlung durch die Instanz vom Subjekt der Verantwortung als falsch, unverhltnismßig oder berzogen – und somit als unberechtigt – zurckgewiesen wird. Auch hier mssen Einwnde begrndet werden. Verantwortung bernehmen, tragen oder haben lsst sich daher als eine auf Handlungen bezogene Praxis des Grndeforderns und -gebens beschreiben, fr die neben dem Subjekt und dem Objekt eine Rechtfertigungsinstanz wesentlich ist. Darin ist impliziert, dass es intersubjektiv geltende Kriterien gibt, anhand derer die Instanz die Aussagekraft und Legitimitt der vom Subjekt der Verantwortung vorgebrachten Grnde und sonstige Rechtfertigungen prft. Wenn die Instanz, vor der sich der Kapitn zu verantworten hat, beispielsweise die Verwandte eines Mannschaftsmitgliedes ist, fehlt es in Fllen wie diesen allerdings hufig an klar kodifizierten Kriterien. Dennoch wird auch hier der Kapitn aufgefordert sein, sein Handeln mit guten Grnden zu rechtfertigen, wobei sich die Verwandte bei der Beurteilung der Handlungsgrnde an ausgesprochenen oder stillschweigend vorausgesetzten intersubjektiv geltenden Normen orientieren kann, ja orientieren muss, soll nicht die ganze Praxis des Grndeforderns und -gebens hinfllig werden. Etwas einfacher ist die Situation, wenn sich der Kapitn etwa vor einem Richter verantworten muss: Dieser wird Rechtfertigungen weder nach Gutdnken noch nach einem geheimen oder nur individuell einsehbaren Regelkatalog beurteilen.54 Vielmehr wird der Richter Handlungen oder gungsverhltnis in ein Mnchhausen-Trilemma mnden kann: Entweder kommt es zu einem infiniten Regress, einem willkrlichen Abbruch oder einem Zirkel. 53 Sicherlich setzen das Kapitnsbeispiel und die daraus abgeleiteten Aussagen ber Verantwortung implizit einen hohen Grad an gesellschaftlicher und kultureller Differenzierung voraus. Ob die Explikationen zum Verantwortungsbegriff unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen auch gltig wren, kann und muss in diesem Zusammenhang nicht geklrt werden. Es liegt allerdings nahe anzunehmen, dass unter der Geltung eines geschlossenen Weltbildes, bei dem das Recht von Gott stammt und der Kçnig, wenn er nicht selbst Gott ist, alleinige Autoritt der Rechtsauslegung ist, mit allen Verantwortungsansprchen kurzer Prozess gemacht wrde. Auch fr Kain gab es kein Revisionsverfahren oder eine zweite Instanz. 54 Da die meisten Autoren das Recht fr den Ursprungsort der Verantwortungspraxis halten, sehen sie auch im Gericht / dem Richter so etwas wie den Prototyp der
I.1.3. Instanz der Verantwortung
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Unterlassungen in einem ebenfalls normativ geregelten Verfahren anhand der im Gesetz festgeschriebenen gltigen Normen prfen und auf der Grundlage dieses Bewertungskatalogs zu einem dem Anspruch nach fr alle Seiten nachvollziehbaren und damit (nach heutigen Vorstellungen) gerechten Urteil kommen. Gleichwohl stellt sich hier, wie in jedem konkreten Rechtsfall, die in der Praxis oft sehr heikle Frage, wie die gesetzlichen und vertraglichen Normen auszulegen und gltig anzuwenden sind und worin diese eigentlich begrndet liegen. Es gibt also einerseits die Metanorm einer gltigen Rechtsauslegung und andererseits die Metanorm, dass die bestehenden Rechtsnormen verbindlich sind. Die sehr allgemein gefasste Bedingung, dass sowohl Subjekt wie auch Instanz der Verantwortung der Sprache fhige Wesen sein mssen, lsst sich demnach weiter przisieren, und es ist festzuhalten, dass beide ber die Fhigkeit verfgen mssen, sich mit Anderen ber Tatbestnde, Sachverhalte und Grnde zu verstndigen, was die Mçglichkeit eines Konsenses55 mit einschließt. Andernfalls wre nicht mehr einzusehen, weshalb der Reeder den Kapitn berhaupt noch zum Rechtfertigen seines Handelns auffordert und nicht ohne Anhçrung ber ihn urteilt. Selbst wenn die hufig als Maß in Anspruch genommenen Standards wie Sitte und Anstand, Familientraditionen, handwerkliche Zunftbruche oder die Standesehre im Einzelnen so vage und unsicher sind, dass Zweifel an ihrer Legitimitt den Grund fr Rechtfertigungen in zweiter Instanz bilden, ist der Verweis auf intersubjektiv einsehbare Grnde und kommunizierbare Kriterien eine notwendige Voraussetzung fr die Sinnhaftigkeit der Rechtfertigungspraxis – mag auch ihr Anspruch auf Geltung keineswegs immer so unumstritten sein wie der des positiven Rechts: Verantwortung als Grndefordern und -geben ist angewiesen zumindest auf die Idee einer gelingenden Verstndigung ber diese Grnde – nur so kann die Berechtigung und Angemessenheit von Handlungen und gegebenen Grnden geprft und beurteilt werden.
Verantwortungsinstanz. (So etwa Bayertz, „Geschichte der Herkunft der Verantwortung“, 17.) Diese Position, die zumindest implizit davon ausgeht, dass auch die gçttliche Gerichtsbarkeit eine Projektion irdischen Rechtswesens sei, entspricht natrlich nicht der theologischen Sichtweise. Diese argumentiert umgekehrt, wenn sie irdisches Recht und menschliche Rechtsprechung aus gçttlichen Geboten ableitet und begrndet. Siehe zum rechtlichen und theologischen Ursprung von Verantwortung etwa Picht, „Philosophische Probleme des zwanzigsten Jahrhunderts“, 318 – 320. 55 Eventuell auch eines einvernehmlichen Dissenses.
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I.1. Relata von Verantwortung
I.1.4. Normativer Bezugsrahmen – notwendiges Relatum der Verantwortungsrelation? Lassen sich nach der Analyse der Schiffsbeispiele drei Relata identifizieren, ist es sicher mçglich und – wie im Unterkapitel zur Instanz von Verantwortung schon herausgearbeitet wurde – sinnvoll, ergnzend weiter zu fragen, etwa, anhand welcher Kriterien der Reeder, vor dem sich der Kapitn fr die Entlassung seines Ersten Offiziers zu rechtfertigen hat, die vom Kapitn fr seine getroffene Entscheidung vorgebrachten Grnde bewertet oder an was sich der Kapitn, der Grnde fr sein Handeln gibt, bei der Auswahl seiner Grnde orientiert: Bei den Schiffsbeispielen scheint klar, dass es sich zunchst um Konventionen in der Seefahrt, um arbeitsrechtliche Regeln, ethische und vielleicht moralische Normen handeln kann. Sie liefern im Verantwortungsdiskurs eine Art Kriterienkatalog oder normativen Bezugsrahmen56, anhand dessen Handlungen von der Instanz bewertet werden. Zwar kçnnen die Regeln in vielen Fllen nicht explizit bestimmt sein, dennoch mssen sie zumindest implizit vorausgesetzt werden, damit eine Instanz berhaupt zu einem Urteil ber die Verantwortlichkeit eines Subjekts in Bezug auf eine Handlung oder Unterlassung kommen kann – und zwar zu einem Urteil, das als gerecht akzeptiert werden kann.57 Gleichwohl kann es sich – wie im vorangehenden Abschnitt ber die Verantwortungsinstanz bereits erlutert – ergeben, dass ber die Gltigkeit von Normen ein weiterer Rechtfertigungsdiskurs gefhrt wird. Obwohl also der Rekurs auf einen normativen Bezugsrahmen fr die Verantwortungsrelation notwendig ist, beschrnken sich zahlreiche Autoren 56 In diesem Sinne ließe sich Stefan Gosepath verstehen, wenn er als viertes Relatum benennt, dass jemand fr etwas, gegenber jemandem „in Bezug auf ein normatives Kriterium im Rahmen eines Verantwortungs- und Handlungsbereiches verantwortlich“ sei. (Vgl. Gosepath, „Verantwortung fr die Beseitigung von beln“, 389; Hervorhebung E. B.) Durch die Formulierungen „in Bezug“ und „im Rahmen“ wird der Horizontcharakter deutlich: Nur vor einem solchen Hintergrund kann es sinnvoll sein, dass sich berhaupt jemand verantwortet. Zwar kann es Flle geben, in denen sich jemand verantworten muss, ohne dass dieser Horizont konkret bestimmt ist, die ganze Rechtfertigungspraxis wrde jedoch ins Leere laufen, falls man sich nicht mindestens in der Folge ber solche den Rahmen gebende Kriterien noch verstndigen kann. Ich werde hierauf in Kapitel III.3. noch einmal zurckkommen, wenn ich auf die Kontextualitt von Handlungen nher eingehe. (Siehe hierzu insbesondere unten, Abschnitte III.1.3. und III.1.4.) 57 Sogar in Kafkas Prozeß, bei dem zwar vçllige Ungewissheit darber besteht, was eigentlich die Gesetze sind, gilt die Metanorm: „Das Gericht hat ber Recht und Unrecht zu urteilen.“
I.1.4. Normativer Bezugsrahmen
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auf die Identifizierung dreier Relata.58 Einer der Grnde dafr kçnnte sein, dass bereits die begriffliche Bestimmung des vierten Elements schwierig ist: Weder handelt es sich dabei allein um die Bestimmung von Normen, noch eindeutig um Kriterien; whrend bei Normen an sich unklar bleibt, welche Relevanz sie fr den konkreten Einzelfall haben und in welchem Maße sie erfllt bzw. nicht erfllt wurden, mssen Kriterien sich immer schon auf so etwas wie Normen, d. h. allgemeine Sollensstze, beziehen. Gegen berlegungen, diesen normativen Bezugsrahmen als ein viertes notwendiges Relatum der Verantwortungsbeziehung anzufhren, spricht jedoch m. E. nicht zuletzt der Ort, den der Bezugsrahmen in dieser Relation einnimmt: Whrend Subjekt, Objekt und Instanz die Elemente sind, zwischen denen sich durch Interaktion und sprachliche Kommunikation die Verantwortungsrelation konstituiert, bilden die Regeln und Kriterien als normativer Bezugsrahmen eine Art Hintergrund, auf den Subjekt und Instanz rekurrieren mssen – der also auch außerhalb der konkreten Verantwortungsrelation bestehen muss –, um berhaupt Verantwortung festlegen, zuschreiben und evaluieren zu kçnnen. In vielen Fllen bleibt die Bezugnahme aber unthematisch. Der Bezugsrahmen scheint dann selbst weniger Bestandteil der Verantwortungsrelation als vielmehr – vergleichbar der Lebenswelt – eine notwendige Hintergrundvoraussetzung zu sein, die erst in Zweifelsfllen zur Sprache kommt. Dass er gleichwohl gegeben sein muss, kçnnte der Grund dafr sein, dass einige Autoren – etwa Stefan Gosepath und Rainer Forst59 – ihn als ein viertes Relatum bei der Verantwortungsbeziehung ansehen. Grundlegend fr alle Kontexte, in denen Rechenschaft verlangt wird,60 sei immer die moralische Pflicht, den „Anderen als Wesen“ anzuerkennen, dem man „Rechfertigungen fr die Handlungen schulde, die ihn in relevanter Weise betreffen“.61 Damit beschreibt Forst aber diese grundlegende moralische Pflicht selbst bereits als eine sehr basale Verantwortungsbeziehung, nmlich sich fr sich und sein Handeln vor denjenigen, die davon betroffen sind, zu rechtfertigen. Diesen moralischen Grund, Anderen immer schon Rechtfertigungen zu schulden – also sich verantworten zu mssen –, in jeder Verantwortungsrelation als viertes notwendiges Relatum anzufhren, kann 58 W. Weischedel und M. Riedel etwa bestimmen nur drei Instanzen. (Riedel, „Freiheit und Verantwortung“, 166 f.; Weischedel, Das Wesen der Verantwortung). Kurt Bayertz identifiziert mindestens drei Instanzen. (Vgl. Bayertz, „Geschichte der Herkunft der Verantwortung“, insbesondere 16 ff.) 59 Vgl. Forst, „Verantwortung und (Un-)Gerechtigkeit“, 409. 60 Forst unterscheidet verschiedene Kontexte: die Moral, das Recht, die Politik, den Beruf und das Privatleben. (A. a. O., 410.) 61 A. a. O., 410 f.
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I.1. Relata von Verantwortung
leicht zu zirkulren Formulierungen fhren: Jemand ist fr etwas gegenber jemandem verantwortlich, weil er ihm Rechtfertigungen schuldet, d. h., ihm gegenber verantwortlich ist. Verantwortlich ist er ihm gegenber jedoch fr sein Handeln, weil er ihm gegenber verantwortlich ist … Die hier implizit zu Recht angesprochene Frage, warum Menschen berhaupt in einem solchen Rechtfertigungsverhltnis stehen und damit die Pflicht haben, anderen von ihrem Handeln betroffenen Menschen ber sich und ihr Handeln Rechenschaft abzulegen, lsst sich im Rahmen der Interpretation der alltagssprachlichen Beschreibung einer konkreten Situation nicht mehr ermitteln. Sie bedarf einer moralphilosophischen Klrung, die im weiteren Verlauf dieser Arbeit in der Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Jonas, Apel und Lvinas unternommen werden soll. Einige Interpretationsversuche von Verantwortung – wie der von Hans Lenk und Matthias Maring – halten noch weitere Relata fr unerlsslich.62 Offen bleibt bei diesen Autoren allerdings, ob und inwiefern solche Ergnzungen oder erweiterten Bestimmungen der Verantwortungsbeziehung wirklich als notwendige Relata anzusehen sind: Es mag zwar im Einzelfall mçglich sein, solche Differenzierungen hinsichtlich der Verantwortungsrelation vorzunehmen, keinesfalls mssen sie aber bei allen Verantwortungsrelationen zwingend mitgedacht werden. Sinnvoll kçnnte deshalb eine Unterscheidung sein zwischen den Elementen, die die Verantwortungsrelation wesentlich konstituieren, einerseits und fakultativ anzufhrende Ergnzungen andererseits.
I.1.5. Zwischenbetrachtung Zusammenfassend lsst sich nach der Analyse der eingangs angefhrten Beispiele und den der Fachliteratur entnommenen ergnzenden Differenzierungen Folgendes fr den Verantwortungsbegriff festhalten: Verantwortung beschreibt eine mindestens dreistellige Relation zwischen einem Sub62 Sie halten die Verantwortungsrelation fr sechsstellig, wenn jemand (i) fr etwas (ii) gegenber einem Adressaten (iii) vor einer Instanz (iv) in Bezug auf ein prskriptives Kriterium (v) im Rahmen eines Verantwortungs- und Handlungsbereichs (vi) verantwortlich ist. (Lenk und Maring, „Verantwortung – Normatives Interpretationskonstrukt“, 229.) Außerdem fgen sie als „sekundre Unterscheidungen, die nicht in den Beziehungsbegriff selbst (als Stelligkeit) gehçren“, hinzu: „verantwortlich hinsichtlich eines Zeitpunktes: ex ante, ex post; sanktionsbedroht: formell, informell; mit unterschiedlichem Grad der Verbindlichkeit, entsprechend etwa Muß-, Soll-, Kann-Normen“.
I.1.5. Zwischenbetrachtung
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jekt, einem Objekt und einer Instanz. ber das Subjekt von Verantwortung wurde gesagt, dass es eine des Handelns und der Sprache fhige Person sein muss, die potentiell oder aktuell von einer Instanz nach einem Grund fr ihr Handeln befragt wird. Eine wesentliche Voraussetzung fr die Verantwortungsfhigkeit eines Subjekts ist also seine Sprachfhigkeit: Nur weil ein Subjekt ber Sprache verfgt, kann es sein Handeln explizieren und mit Grnden rechtfertigen. Potentiell sind so alle Menschen Subjekt von Verantwortung, whrend aktuell jemand dann verantwortlich ist, wenn er in einem realen diskursiven Beziehungs- und Interaktionsgeflecht fr sein Handeln konkret Rede und Antwort stehen muss oder wenn (wie im zweiten Beispiel) antizipiert wird, dass er spter danach befragt werden kann.63 Als Objekt von Verantwortung wurden tatschliche oder mçgliche Handlungen bzw. Unterlassungen, d. h. der gesamte sprachlich zu explizierende und mit Grnden zu rechtfertigende Handlungsbereich des Subjekts bestimmt. Whrend retrospektiv (nicht-)vollzogene Handlungen bzw. (nicht-)erfllte Aufgaben zu verantworten sind, kçnnen prospektiv noch zu erfllende Aufgaben und Handlungen antizipiert werden, fr die in der Zukunft wiederum retrospektiv Rechtfertigungen gegeben werden mssen. Jeder Versuch, eine vollstndige Liste jener Aufgaben anzulegen, muss scheitern: Was alles zum Bereich der Verantwortung eines Subjekts zu zhlen ist, lsst sich im Einzelnen vorab nur der Tendenz nach, jedoch nicht umfassend bestimmen, sondern wird einerseits extern in der Formulierung von Forderungen, Ansprchen und Wnschen umrissen, die an das Subjekt herangetragen werden, andererseits durch das Subjekt und seine Interpretation der ußeren Anforderungen festgelegt. Analog zum Subjekt von 63 Inwieweit die hier angefhrten Bedingungen auch von Institutionen oder anderen Kollektiven erfllt werden kçnnen und somit auch sie als Verantwortungssubjekte in Frage kommen, scheint im Wesentlichen von der zugrunde gelegten Handlungstheorie und den Annahmen, inwiefern solche Institutionen der Sprache fhig sind, abzuhngen. Sicherlich kann es neben der persçnlichen direkten Verantwortung auch verschiedene Formen der Verantwortungsbertragung geben, etwa – vorwiegend im professionellen Kontext – die Stellvertreter-Verantwortung, wenn nicht mehr das handelnde Subjekt selbst, sondern diejenigen, die hierfr relevante Entscheidungen getroffen haben, verantwortlich gemacht werden. Daneben wird im Zusammenhang mit kollektiven Handlungssubjekten die Frage erçrtert, inwiefern auch Verantwortung kollektiv getragen werden kann – allerdings werden dabei eher Problemstellungen als Lçsungsvorschlge formuliert. Ausgeschlossen ist durch diese Bestimmung jene Verwendungsweise von Verantwortung, die als Subjekte von Verantwortung Gegenstnde oder Sachverhalte bestimmt, da hier keine der beiden oben angefhrten Bedingungen auch nur in einem bertragenen Sinne erfllt wird.
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I.1. Relata von Verantwortung
Verantwortung ließen sich als Objekt von Verantwortung potentiell alle mçglichen Handlungen und Unterlassungen eines Subjekts verstehen, fr die dieses sich sprachlich zu rechtfertigen hat, wenn es durch eine Instanz, die von seinem Handeln direkt oder indirekt betroffen ist, nach Grnden befragt wird. Die Beziehung zwischen „Subjekt“ und „Objekt“ von Verantwortung grndet also auf dem Verhltnis von Handlungssubjekt und den von ihm vollzogenen und unterlassenen bzw. zu vollziehenden oder zu unterlassenden Handlungen. Da jedoch nur mit Hilfe von Sprache ausgemacht werden kann, was Handlungen des Subjekts sind, ist bereits diese Beziehung zwischen Subjekt und Objekt von Verantwortung eine sprachlich vermittelte. Das Verhltnis zwischen Subjekt und Instanz der Verantwortung vollzieht sich in noch strkerem Maße auf der reflexiven und sprachlich-kommunikativen Ebene, auch wenn hier Bezug auf Handlungen genommen wird und Urteile gefllt werden, die, sofern sie faktische Konsequenzen haben, weit ber die sprachliche Ebene hinausgehen. So wird in der Verantwortungsrelation eine Interdependenz zwischen verschiedenen Ebenen sprachlicher und nicht-sprachlicher Praxis deutlich, die in den folgenden Teilen dieser Arbeit weiter zu bestimmen sein wird.64 Als klassische Verantwortungsinstanzen gelten neben der eigenen Person (bzw. dem Gewissen) und (un)mittelbar Betroffenen auch Rechtspersonen. Sie haben drei Aufgaben zu erfllen: Verantwortung zuzuschreiben, zur Rechenschaft aufzufordern und Sanktionen aufzuerlegen. Dafr mssen drei Fragen beantwortet werden: Ist der Beschuldigte der Akteur? Kann er sich durch bestimmte Umstnde und Grnde entschuldigen? Und lsst sich die Tat berhaupt unter Normen subsumieren? Somit wird erneut deutlich, wie sehr Verantwortung eine sprachlich vermittelte Relation ist – wobei Sprache eine doppelte Funktion erfllt: zum einen die der Verstndigung ber Handlungen und Sachverhalte, zum anderen die der Verstndigung ber Normen. Dabei sind „Rechtsgrnde“ bzw. „Rechtfertigungsgrnde“ von kausallogischen Grnden zu unterscheiden. Unklar blieb bislang – und es konnte auch anhand einer Analyse der alltagssprachlichen Verwendungsweise von Verantwortung nicht geklrt werden –, was eigentlich der moralische Grund fr Verantwortung ist. Gerade im Hinblick darauf, aber auch, um einer weitere Bestimmung der Verantwortungsrelation selbst vorzunehmen zu kçnnen, sollen im nchsten Teil dieser Arbeit exemplarisch die Verantwortungstheorien von Hans Jonas, Karl-Otto Apel und Emmanuel Lvinas ausfhrlich vorgestellt und diskutiert werden. 64 Siehe hierzu auch unten, Kapitel III.1.
Teil II Verantwortung bei Hans Jonas, Karl-Otto Apel und Emmanuel Lvinas
II. Verantwortung bei Hans Jonas, Karl-Otto Apel und Emmanuel Lvinas
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Drei Theorien und die darin entwickelten Verantwortungskonzeptionen, die in neuerer Zeit besonders einflussreich waren, sollen im Folgenden ausfhrlich dargestellt und erçrtert werden: Hans Jonas’ Zukunftsethik, wie er sie in seiner Schrift Das Prinzip Verantwortung 1 entwickelt hat, sodann Karl-Otto Apels Diskursethik – umfassend exponiert in seinem zweiten Hauptwerk Diskurs und Verantwortung 2 – und schließlich Emmanuel Lvinas’ Ethik der Begegnung mit dem anderen Menschen, die er bereits in Totalitt und Unendlichkeit 3 entfaltet und in Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht 4 radikalisiert hat. So unterschiedlich die Anstze der genannten Autoren auch sein mçgen, ist ihnen doch gemeinsam, dass sie alle drei den Verantwortungsbegriff nicht nur ins Zentrum ihrer moralphilosophischen berlegungen stellen, sondern in ihm auch – und hierin liegt der entscheidende Punkt und der Grund, warum sich die vorliegende Untersuchung gerade mit ihren Theorien befasst –, das normative Fundament ihrer Ethik erkennen. Hans Jonas, mit dessen Prinzip Verantwortung ich mich im ersten Kapitel dieses zweiten Teils detailliert auseinandersetzen werde, gilt als Klassiker einer moralphilosophischen Verantwortungstheorie. In seinem Buch, das auch außerhalb der philosophischen Fachçffentlichkeit eine enorme Resonanz fand, hat Jonas zu zeigen versucht, warum der Mensch Verantwortung – nicht allein fr sich selbst, sondern fr die ganze Menschheit und darber hinaus sogar fr die Zukunft des Planeten – trgt. Denn indem der Mensch, so ließe sich Jonas’ Argumentation sehr verkrzt wiedergeben, durch sein Handeln Macht ber die Natur gewonnen hat, trgt er auch fr deren Fortbestehen Verantwortung. Jonas begrndet diese Verantwortung teleologisch: Der Natur komme ein inhrenter Zweck und damit auch Wert an sich zu, der den Menschen verpflichte, die Natur nicht zu schdigen und fr ihren Fortbestand zu sorgen. Weil Jonas diesem Ziel absoluten Vorrang einrumt, geht er bei der Frage, wie dieser Verantwortung praktisch nachgekommen werden kann, so weit, im Zweifelsfall auch nicht-demokratische Strategien fr legitim, ja in manchen Fllen sogar fr unabdingbar zu erklren. 1 2 3 4
Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Karl-Otto Apel, Diskurs und Verantwortung. Emmanuel Lvinas, Totalit et Infini. Essai sur l’Extriorit (Totalitt und Unendlichkeit. Versuch ber die Exterioritt). Emmanuel Lvinas, Autrement qu’Þtre ou au-del de l’essence (Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht).
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II. Verantwortung bei Hans Jonas, Karl-Otto Apel und Emmanuel Lvinas
Die zweite Verantwortungskonzeption, die ich vorstellen und kritisch diskutieren werde, ist die von Karl-Otto Apel, wie er sie seiner Diskursethik zugrunde legt: Apel, der sich vor allem in Diskurs und Verantwortung explizit mit Jonas’ Prinzip Verantwortung auseinandergesetzt hat, sieht in der Verantwortung eine der drei Grundnormen des menschlichen Zusammenlebens und stellt sie deshalb ebenfalls ins Zentrum seiner Philosophie. Doch die von Jonas entwickelte Argumentation zur Begrndung von Verantwortung lehnt er kategorisch ab. Stattdessen versucht er, diese transzendentalpragmatisch zu begrnden, indem er auf die Prsuppositionen reflektiert, die wir, sobald wir ernsthaft argumentieren, immer schon in Anspruch genommen haben. Emmanuel Lvinas schließlich, dessen gesamte Philosophie sich als die Explikation einer unermesslichen, nie endenden Verantwortung fr den anderen Menschen verstehen lsst, rumt diesem Begriff ebenfalls einen besonderen, wenn nicht den zentralen Platz ein. Die Begegnung mit dem Gesicht des anderen Menschen beschreibt er als wesentlich nicht-intentionalen Weltbezug, in dem sich das Subjekt als immer schon fr den und vor dem Anderen verantwortlich erfhrt.
II.1. Hans Jonas’ Prinzip Verantwortung Im Folgenden werde ich Jonas’ Verantwortungskonzeption entlang der drei in der Einleitung dieser Arbeit formulierten Leitfragen meiner Untersuchung rekonstruieren: In einem ersten Schritt werde ich mit Jonas der Frage nachgehen, was Verantwortung ist. Dabei sollen analog zur Begriffsbestimmung im Einleitungsteil auch die mçglichen Relata von Verantwortung genauer bestimmt werden (II.1.1.). In einem zweiten Schritt werde ich im Hinblick auf die Frage, wie sich Verantwortung begrnden lsst, Jonas’ metaphysische und damit spekulative Begrndungsstrategie detailliert erçrtern (II.1.2.). Schließlich werde ich – im Sinne der dritten Frage, wie sich verantwortlich handeln lsst – Jonas’ Vorschlge, wie eine verantwortungsbewusste Praxis aussehen kçnnte, diskutieren (II.1.3.).
II.1.1. Verantwortung fr die Zukunft der Menschheit Jonas, der sich in seinen frhen Schriften vorwiegend mit Fragen der antiken Gnosis und der Wissenschaftstheorie auseinandergesetzt hat, wandte sich erst spt, vor allem mit seinem erstmals 1979 publizierten Prinzip Verantwortung, der praktischen Philosophie zu. Hauptmotiv fr diese Wende ist sicherlich gewesen, dass nach Jonas traditionelle Ethiken fr die praktischen Probleme unserer Gegenwart keine hinreichenden Lçsungsstrategien mehr bereithalten – zu sehr habe sich in der Gegenwart das „Wesen menschlichen Handelns“1 aufgrund technologischer Errungenschaften gendert. Gerade angesichts der drohenden Gefahr einer Vernichtung des Planeten hielt Jonas Strategien, die dem entgegenwirken, fr so dringend erforderlich wie nie zuvor. Whrend sich die Welt des Menschen in der Antike durch eine Art von Gleichgewicht zwischen Bleibendem und Wechselndem ausgezeichnet habe2 – „das Bleibende war 1 2
Jonas, PV, 15. Siehe A. a. O., 20. Etwas berraschend ist hier, dass Jonas von der Antike gleich in die Gegenwart springt. Offenbar geht er davon aus, dass das Gleichgewicht zwischen Natur und Mensch, das kennzeichnend fr die Antike gewesen sei, die Welt bis in die jngste Vergangenheit bestimmt hat. Bereits an dieser Stelle wird sichtbar,
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II.1. Hans Jonas’ Prinzip Verantwortung
die Natur, das Wechselnde seine [d. h. des Menschen] eigenen Werke“3 –, sei die gegenwrtige Situation in drei Punkten maßgeblich von der Vergangenheit unterschieden: 1.) durch einen „wachsenden Bereich kollektiven Tuns“4, 2.) durch einen zunehmenden Machtgewinn des Menschen ber die Natur5 und schließlich 3.) dadurch, dass der Mensch nur ein mangelndes Wissen ber die Folgen seines Tuns6 besitze. Vor allem ist es fr Jonas aber die aus diesen Vernderungen resultierende, immer grçßer werdende Diskrepanz zwischen der „Macht des Tuns und Kraft des Vorherwissens“7, in der er die Gefahr einer vollstndigen Vernichtung unseres Planeten sieht8 : Sicherlich sei es dem Menschen ganz im Sinne des Ba-
3 4 5 6 7 8
dass Jonas – entgegen seinem eigenen im Vorwort bekundeten Anspruch (10) – kein einer strengen Systematik verpflichteter Denker ist, sondern mit der Drastik seiner Sprache und Bilder berzeugen will. Hierin kçnnte ein Grund dafr liegen, dass sein Werk gerade außerhalb der Philosophie so viel Widerhall gefunden hat, whrend die aktuelle philosophische Diskussion, trotz der Aktualitt seiner Thesen, sich nur noch selten detailliert mit seinen Schriften auseinandersetzt. Dennoch haben sich natrlich zahlreiche Autoren mit Jonas befasst. (Siehe etwa Bayertz, „Geschichte der Herkunft der Verantwortung“, 48 – 68; Dietrich Bçhler, „In dubio contra projectum. Mensch und Natur im Spannungsfeld von Verstehen, Konstruieren, Verantworten“, 244 – 276; David und Rçpcke, „Zweierlei Verantwortungsethik. Gnther Anders und Hans Jonas und die Antinomien der heutigen politischen kologie“, 250 – 273; Heidbrink, Kritik der Verantwortung, 122 – 128; Vittorio Hçsle, „Ontologie und Ethik bei Hans Jonas“, 105 – 125; Matthias Kettner, „Verantwortung als Moralprinzip?“, 418 – 439; Wolfgang Kuhlmann, „,Prinzip Verantwortung‘ versus Diskursethik“, 277 – 302; Hans Lenk, „Macht und Verantwortung“, 213 – 223; Bernd Wille, Ontologie und Ethik bei Hans Jonas). Die meisten Autoren setzen dabei einfach Jonas’ Begriff der „Verantwortung fr die Zukunft“ voraus und befassen sich kritisch vor allem mit Jonas’ Begrndungsprogramm und seinen Vorschlgen einer verantwortungsethischen Praxis. Jonas, PV, 20. A. a. O., 26. A. a. O., 27. A. a. O., 28. Ebd. In dieser Analyse gibt es viele Parallelen zu Thesen, die Gnther Anders 1956 – unter dem Eindruck von Auschwitz und Hiroshima – in seinem Buch Die Antiquiertheit des Menschen formuliert hat. Siehe hierzu auch Christophe David und Dirk Rçpcke, „Zweierlei Verantwortungsethik. Gnther Anders und Hans Jonas und die Antinomien der heutigen politischen kologie“, 250. Es wre interessant, detaillierter zu untersuchen, warum Jonas derjenige dieser beiden Außenseiter der Philosophie war, der die grçßere Resonanz erfahren hat. Ein Grund kçnnte darin liegen, dass Jonas (zumindest seinem eigenen Anspruch nach) im Unterschied zu Anders ein neues System – das Prinzip Verantwortung – entwickelt hat. Darber hinaus ist aber sicherlich von großer Bedeutung, dass das Prinzip Verantwortung in
II.1.1. Verantwortung fr die Zukunft der Menschheit
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con’schen Ideals gelungen, Macht ber die Natur zu gewinnen, doch habe er nicht gleichzeitig dasselbe Maß an Mehrwissen erlangt, das es ihm erlauben wrde, die Folgen seines Handelns in ausreichendem Maße zu kennen und in seinem Handeln zu bercksichtigen. Die neu gewonnene Macht ber die Natur verkehre sich in eine Situation der Ohnmacht. Der Mensch unterliege zwar nicht mehr der Macht der Natur, dafr aber nun seiner eigenen Macht, da diese „selbstmchtig geworden“9 sei – seine Macht sei es, die den Menschen habe ohnmchtig werden lassen: Mag es denn sein, daß wir unsere eigene Evolution in die Hand nehmen, so wird sie dieser Hand doch eben dadurch entgleiten, dass sie ihren Anstoß in sich aufgenommen hat, und mehr als irgendwo sonst gilt hier, daß whrend der erste Schritt uns freisteht, wir beim zweiten und allen nachfolgenden Knechte sind. So kommt zu der Feststellung, daß die Beschleunigung technologisch gespeister Entwicklung sich zu Selbstkorrekturen nicht mehr die Zeit lßt, die weitere hinzu, daß in der dennoch gelassenen Zeit die Korrekturen immer schwieriger, die Freiheit dazu immer geringer werden.10
Sicherlich spricht fr Jonas’ Beschreibung der Gegenwart zunchst, dass sich die moderne Welt durch zunehmend komplexe Handlungsablufe auszeichnet:11 An ihnen wirken immer hufiger eine Vielzahl von Akteuren mit, so dass es zunehmend schwierig scheint, einen einzelnen Menschen als Urheber einer Handlung zu identifizieren bzw. zu bestimmen, in welchem Bezug dessen Handlung, die fr sich genommen vielleicht noch zugeordnet werden kann, zum Gesamtgeschehen steht. Richtig an der Jonas’schen Analyse ist auch, dass Menschen durch ihre technischen Erfindungen und Entwicklungen im Laufe der Geschichte immer mehr Mçglichkeiten gefunden haben, nicht nur von der Natur zu lernen, sondern auch sich von ihr unabhngig zu machen. Zutreffend ist schließlich, und das entspricht Jonas’ drittem Befund, dass dieser technische Fortschritt mit einem Unvermçgen einhergeht, die Folgen menschlichen Handelns realistisch einzuschtzen – so weitreichend und so komplex sind die menschlichen Handlungsmçglichkeiten inzwischen geworden, dass die Konsequenzen vielfach grundstzlich nicht mehr vorhersagbar sind (zumal wenn mçgliche Wechselwirkungen vorab nicht bekannt sind oder nicht bercksichtigt einer Zeit geschrieben und verçffentlicht wurde, in der die çkologische Bewegung gesamtgesellschaftlich relevant wurde. 9 Jonas, PV, 253. 10 A. a. O., 72. 11 Siehe hierzu auch Bayertz, „Geschichte der Herkunft der Verantwortung“, insbesondere 24 – 52; Heidbrink, Kritik der Verantwortung, insbesondere das Kapitel V.4; aber auch Lbbe, Verantwortung in komplexen kulturellen Prozessen.
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II.1. Hans Jonas’ Prinzip Verantwortung
werden). Darber hinaus ist Jonas darin zuzustimmen, dass gegenwrtig ber praktische Probleme nachgedacht werden muss, die in der philosophischen Tradition bis dato allenfalls einen marginalen Stellenwert eingenommen haben, beispielsweise Fragen der massiven Umweltbelastung und -zerstçrung. Das heißt aber nicht ohne weiteres, dass traditionelle Ethiken auf solche Fragen keine Antwort geben kçnnen. In diesem Zusammenhang hat Jonas jedoch kritisch angemerkt, Kants kategorischer Imperativ in seiner ersten Formulierung schließe nicht aus, dass durch menschliches Handeln die Zukunft des Planeten aufs Spiel gesetzt werde. Dagegen ließe sich geltend machen, dass zumindest mit der Zweck-Formel des kategorischen Imperativs12 oder mit der Bestimmung des Menschen als Endzweck auch fr Kant eine Vernichtung der Menschheit und damit des Planeten moralisch nicht zulssig sein kann.13 Jonas unternimmt nun den Versuch, eine neue Ethik zu entwickeln, um so den oben beschriebenen Vernderungen und der daraus resultierenden Gefahr einer vollstndigen Vernichtung der Handlungswelt zu begegnen. Er benennt zusammenfassend vier Grnde, warum traditionelle
12 Siehe Kants Formulierung in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchtest.“ (Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Gesammelte Schriften, Band IV, 429.) 13 Jonas kritisiert noch einen weiteren Aspekt an Kants Ethik, nmlich dass sie sich mit ihrem Imperativ nur an das einzelne Individuum wende, whrend „der neue Imperativ sich viel mehr an çffentliche Politik als an privates Verhalten richtet, welches letztere nicht die kausale Dimension ist, auf die er anwendbar ist.“ (Jonas, PV, 37.) Dies mag insofern berraschen, als (wie wir sehen werden) eben auch Jonas’ Imperativ sich seiner Form nach zunchst einmal an eine Einzelperson zu richten scheint, wenn er den Singular des Imperativs „handle“ von Kant bernimmt. Dass der Adressat dieses „handle“ nicht ein einzelner Mensch bleibt, sondern çffentliche Politik sei, geht - abgesehen von der hier zitierten Stelle - aus Jonas’ Imperativ sonst nicht hervor. Darber hinaus ist umstritten, inwiefern Jonas Kant hier zu Recht kritisiert: Otfried Hçffe etwa macht geltend, dass der „zweite Teil der Kantischen Rechtslehre – ,Das çffentliche Recht‘ – […[ sich […] an einen kollektiven Willen, an Staaten“ richte. Zwar sei es richtig, dass „Kant auf çkologische Frage allenfalls nebenbei eingeht; mit der Grundidee seiner Rechtslehre, den kategorischen Rechtsimperativen […] bzw. der Gerechtigkeitsidee, ließen sich die neuen Fragen aber erfolgversprechend beantworten“. So befindet Hçffe, „statt eines neuen kategorischen Imperativs braucht es in Wahrheit die Anwendung des bekannten Imperativs auf neuartige Sachbereiche.“ (Hçffe, Moral als Preis der Moderne, 96; zu Jonas’ Kant-Kritik siehe auch Lenk, „Macht und Verantwortung“, 213 – 223.)
II.1.1. Verantwortung fr die Zukunft der Menschheit
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Ethiken14 keine angemessene Grundlage bieten, um auf die aus dieser Ohnmacht resultierende Gefahr einer Vernichtung der Menschheit zu reagieren: 1.) liege ihnen ein ethisch neutrales Technik-Verstndnis 15 zugrunde; 2.) seien sie anthropozentrisch, insofern sie sich allein auf den zwischenmenschlichen Umgang beziehen; 3.) unterstellten sie ein konstantes Menschenbild; und 4.) beschrnkten sie sich sowohl zeitlich als auch rumlich auf den Nahbereich menschlichen Handelns.16 Besonders die Beschrnkung auf das „Hier und Jetzt“17 und der Anthropozentrismus machen es bisherigen Ethiken Jonas zufolge unmçglich zu erkennen, dass „die Biosphre als Ganzes und in ihren Teilen, die jetzt unserer Macht unterworfen ist, […] so etwas wie einen moralischen Anspruch an uns hat – nicht nur um unsretwillen, sondern auch um ihrer selbst willen und aus eigenem Recht“18. Seine neue Ethik unterscheidet sich fr Jonas darin von traditionellen Ethiken, dass sie zum einen der Natur ein Eigenrecht zuerkennt und sich zum anderen auf den Fortbestand des gesamten Planeten richtet. Ihr Fundament ist die menschliche Verantwortung, die Jonas vorerst definiert als „die ganz formale Auflage auf alles kausale Handeln unter Menschen, dass dafr Rechenschaft verlangt werden kann“19. Damit lehnt er sich an bliche Verwendungsweisen dieses Begriffes20 an. In Ergnzung bzw. in Abgrenzung zu einer solchen retrospektiven Verantwortung21 postuliert 14 Richtet sich Jonas zwar allgemein gegen alle bisher geschriebenen Ethiken, bezieht er sich mit seiner Kritik doch vor allem auf Kant und dessen deontologischen Ansatz, der in Jonas’ Augen die Folgen menschlichen Handelns nicht gengend mitbercksichtigt. 15 Es ließe sich jedoch gegen Jonas einwenden, dass eine Ethik, gerade um den Anforderungen und Problemen der Gegenwart Rechnung tragen zu kçnnen, gar nicht anders kann, als ein ethisch neutrales Verstndnis von Technik vorauszusetzen: Nur so kçnnen einerseits die positiven Errungenschaften fruchtbar bercksichtigt, andererseits die Gefahren angemessen bedacht werden. 16 Jonas, PV, 22. 17 A. a. O., 23. 18 A. a. O., 29; Hervorhebung E. B. 19 Jonas, PV, 174. 20 Siehe auch die Analysen im Teil I dieser Arbeit. 21 Mit „retrospektiver Verantwortung“ ist die Pflicht gemeint, fr bereits vollzogene Handlungen Rechenschaft ablegen zu mssen. (Siehe hierzu auch oben, Abschnitt I.1.2., insbesondere 26 ff.) Es ist vielfach darauf hingewiesen worden, dass es sich bei der Unterscheidung zwischen retrospektiver und prospektiver Verantwortung keinesfalls um distinkte Verantwortungsmodelle handelt, vielmehr beide eng miteinander korrelieren. Siehe hierzu etwa Hçffe, Moral als Preis der Moderne, 16; Hans Lenk, Zur Sozialphilosophie der Technik, 222 f.; Micha H. Werner, „Di-
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Jonas einen zweiten, wie er sagt, „ganz anderen Begriff von Verantwortung“ – nmlich eine Verantwortlichkeit „fr die Sache, die auf mein Handeln Anspruch erhebt“.22 Paradigmatisch realisiert sieht Jonas diesen Verantwortungsbegriff, der sich auf noch zu vollziehende Handlungen und Aufgaben bezieht und so weitgehend der als prospektiv bezeichneten Verantwortung entspricht, in der Beziehung von Eltern zu ihren Kindern23 und der „des Staatsmannes“ zu dem von ihm regierten Staat.24 An dem von Jonas ausfhrlich erçrterten Beispiel der elterlichen Verantwortung sei diese Argumentation verdeutlicht: Als Eltern tragen nach Jonas Menschen allgemein Verantwortung fr das „Sein“25 ihrer Kinder, da diese (zumindest in den ersten Lebensjahren) ohne die elterliche Vor- und Frsorge nicht berleben kçnnen. Es liege 1.) in der Macht der Eltern und damit auch in ihrer Verantwortung, mit ihrem Handeln das Leben ihres Kindes „als ganzes und in allen seinen Mçglichkeiten“26 zu gewhrleisten. Hinsichtlich ihres zeitlichen Rahmens und auch in ihrem Inhalt beschreibt Jonas diese Verantwortung 2.) als offen: Weder lsst sich eindeutig bestimmen, fr welchen Zeitraum Eltern verantwortlich sind, noch wie sie ihrer Verantwortung fr das Leben ihres Kindes im Einzelnen nachzukommen haben. Da Kinder nach Jonas nicht in vergleichbarer Weise Verantwortung fr das Leben ihrer Eltern tragen – mag es auch sein, dass sie in besonderen Fllen durchaus eine verantwortliche Rolle bernehmen –, basiert das Verantwortungsverhltnis 3.) auf einer Asymmetrie, die wesentlich aus einer ungleichen Machtverteilung resultiert. Gleichwohl sind Eltern in ihrer Verantwortung auch an ihre Kinder gebunden. Denn Eltern fhlen sich nach Jonas aufgrund des Bewusstseins „der eigenen totalen Urheberschaft“ sowie einer unmittelbaren Erfahrung „der anrufenden totalen Hegebedrftigkeit des Kindes“ und schließlich eines spontanen Gefhls der Liebe fr ihr Kind verantwortlich. Whrend Kinder also auf die Hilfe und Untersttzung ihrer Eltern angewiesen sind, sind diese durch ein Verantwortungsgefhl an ihr Kind gebunden. Diese doppelte Gebundenheit fhrt Jonas auf die wesentliche „Nicht-Autarkie des Men-
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mension der Verantwortung: Ein Werkstattbericht zur Zukunftsethik von Hans Jonas“, 306 f. Jonas, PV, 174. Siehe insbesondere a. a. O., 184 – 198 u. 234 – 240. Siehe a. a. O., 180 ff., aber auch a. a. O., Abschnitte 4.III. („Theorie der Verantwortung: Eltern und Staatsmann als eminente Paradigmen“) und 4.V. („Wie weit reicht politische Verantwortung in die Zukunft?“). A. a. O., 189. Ebd.
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schen“27 zurck: Menschen sind immer schon mit Anderen verbunden – als selbst Sorge Tragende und als auf die Sorge Anderer Angewiesene.28 Am Beispiel einer solchen in Jonas’ Augen paradigmatischen Verantwortungsbeziehung29 entwirft Jonas den seiner Zukunftsethik zugrunde liegenden Begriff der Verantwortung fr den Erhalt des Menschen und darber hinaus auch fr die außermenschliche Natur. 30 Dieses Verantwortungsverhltnis zeichnet sich demnach ebenfalls durch die drei angefhrten Charakteristika aus: Weil die Menschheit und der Planet Erde existieren sollen,31 sind 1.) diejenigen, die mit ihrer Macht die Mçglichkeit haben, sie in ihrer Existenz zu gefhrden, aufgerufen, fr ihren Fortbestand zu sorgen.32 Da ferner der Fortbestand der Natur weder ein fr alle Mal gesichert werden kann noch sich genau umreißen lsst, wie die Natur fortbestehen soll und auf welche Weise Menschen in ihrer Verantwortung dazu beitragen kçnnen, ist Verantwortung 2.) durch eine grundstzliche Offenheit gekennzeichnet: Die Sache der Welt aber, um deretwillen der Zustand sein soll, steht […] in der angezeigten Undeutlichkeit […]. Vor allem aber ist der Zustand etwas allgemeines: die bestimmten, jetzt noch nicht existierenden Individuen, aus denen er bestehen wird, sind in keiner Weise antizipierbar, die Frage eines „Seinsollens“ hat hier im voraus keinen Sinn, und die Existenz keines von ihnen […] ist in irgendeine erdenkliche Zukunftsverantwortung eingeschlossen. Ja, die Planung eines […] Zustandes, zum Beispiel ,der Gesellschaft‘, ist berhaupt nur unter der Bedingung mçglich, dass er von der einmaligen Identitt seiner Konstituenten unabhngig ist. So hat es denn zwar 27 A. a. O., 184. 28 Vgl. a. a. O., 184 f. 29 Jonas geht dabei nicht allein auf die parentale Verantwortungsrelation, sondern auch auf die zwischen Politikern und den von ihnen vertretenen Brgen bzw. dem Staat ein. Dass er diese Verantwortung etwas altmodisch als „staatsmnnisch“ bezeichnet, lsst die Vermutung aufkommen, dass sein Politik-Verstndnis entsprechend paternalistisch ist. Da er auch diese Verantwortungsrelation durch die drei bereits angefhrten Merkmale charakterisiert sieht, ist es hier ausreichend, dass ich mich auf eines der beiden Paradigmata beschrnke. 30 Jonas spricht hier von der „Biosphre als Ganze[r] und in ihren Teilen“. (Jonas, PV, 29.) 31 Auf Jonas’ metaphysische Begrndung, warum die Natur und der Planet nicht nur sind, sondern auch sein sollen, werde ich im nchsten Abschnitt detaillierter eingehen. 32 Jonas’ Formulierung ist um einiges blumiger: „Das Heischen der Sache einerseits der Unverbrgtheit ihrer Existenz, und das Gewissen der Macht ander[er]seits, in der Schuldigkeit ihrer Kausalitt, vereinigen sich im bejahenden Verantwortungsgefhl des aktiven, immer schon in das Sein der Dinge bergreifenden Selbst.“ (Jonas, PV, 175.)
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Sinn zu sagen, dass knftig Menschen sein sollen, nachdem es „den Menschen“ schon gibt, aber „wer“ die jeweiligen Menschen sein werden, muß zum Glck offen bleiben […].33
Und 3.) schließlich ist das Verhltnis zwischen Subjekt und Objekt fr Jonas auch in der Beziehung zwischen Mensch und Natur asymmetrisch: Whrend Menschen aufgrund ihrer technologischen Errungenschaften Macht und damit Verantwortung besitzen, die Natur und damit auch die Menschheit zu erhalten, ist die Natur in Bezug auf diese Errungenschaften durch Ohnmacht gekennzeichnet und ohne jede Verantwortung. II.1.1.1. Subjekt der Verantwortung Nach dieser kurzen Einfhrung in Jonas’ Problemstellung und einer ersten Beschreibung seines Begriffs von Verantwortung ließe sich auf die Frage, wer verantwortlich ist, mit Jonas antworten: jeder dazu fhige Mensch. Und Jonas betont, dass es Menschen nicht nur mçglich sei, Verantwortung zu tragen, vielmehr gehçre Verantwortung zu den Merkmalen, die den Menschen wesentlich auszeichnen: […] die Auszeichnung des Menschen, daß nur er allein Verantwortung haben kann, bedeutet zugleich, daß er sie […] auch haben muß und im einen oder anderen Verhltnis immer schon hat: die Fhigkeit dazu ist die zureichende Bedingung ihrer Tatschlichkeit. Fr irgendwen irgendwann irgendwelche Verantwortung de facto zu haben (nicht darum auch, sie zu erfllen, selbst nur zu fhlen) gehçrt so untrennbar zum Sein des Menschen, wie daß er der Verantwortung generell fhig ist – so untrennbar in der Tat, wie daß er ein sprechendes Wesen ist, und ist daher in seine Definitionen aufzunehmen, wenn einem um dies zweifelhafte Geschft zu tun ist. In diesem Sinne ist ein Sollen ganz konkret im Sein des existierenden Menschen enthalten; seine kausalfhige Subjektqualitt als solche fhrt objektive Verbindlichkeit in der Form ußerer Verantwortung mit sich.34
Doch welche Eigenschaften bzw. Fhigkeiten des Menschen sind es, die ihn verantwortlich machen? Nach Jonas’ bereits zitierter Definition35 der retrospektiven Verantwortung lsst sich festhalten: Er muss 1.) gehandelt haben und 2.) Rechenschaft ablegen kçnnen. Damit stimmt Jonas’ Be33 A. a. O., 238 f. 34 A. a. O., 185. 35 Wie bereits zitiert, bestimmt Jonas Verantwortung zunchst als „die ganz formale Auflage auf alles kausale Handeln unter Menschen, dass dafr Rechenschaft verlangt werden kann“. (A. a. O., 174.)
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stimmung auch hier weitgehend mit der im I. Teil dieser Arbeit gegebenen Bestimmung des Subjekts berein. Entsprechend hat Jonas als erste notwendige Bedingung fr Verantwortung „kausale Macht“36 angefhrt, wobei er offen lsst, worin diese besteht. Fr ihn scheint ausreichend, dass das Subjekt „in enger kausaler Verbindung mit der Tat“ steht, „so daß die Zuschreibung eindeutig“ ist „und die Folge sich nicht im Unvorhersehbaren“37 verliert. Demnach wren jemandem eine Handlung und deren Folgen dann zuzuschreiben, wenn er Urheber dieser Handlung war. Somit sieht auch Jonas Verantwortung direkt an die Handlungsfhigkeit des Subjekts gebunden: Weil ein Subjekt handeln kann, ist es verantwortlich. Darber hinaus macht Jonas fr den moralischen Verantwortungsbegriff geltend, dass dabei eine qualitative Beurteilung ins Spiel komme, da auch zu untersuchen sei, ob „die Tat verbrecherisch ,in sich‘ [war]“38. Dafr gelte es die Handlung in ihrer Vorstzlichkeit, ihren Kalklen und Motiven zu prfen.39 In dem Zusammenhang wird dann doch das zweite der im I. Teil dieser Arbeit benannten Kriterien fr die Bestimmung des Verantwortungssubjekts relevant, wie sie bereits in Jonas’ Definition von Verantwortung angedeutet war und aus der berhaupt erst verstndlich wird, inwiefern Verantwortung auch fr Jonas ber den Zuschreibungsbegriff hinausgeht – um ber die Vorstzlichkeit, die Motive und Absichten einer Handlung Auskunft geben zu kçnnen, muss das verantwortlich gemachte Subjekt in der Lage sein, sich sprachlich zu ußern. Anderenfalls kçnnte Jonas Verantwortung nicht als „Rechenschaftspflicht“ definieren: Verantwortung fr etwas tragen heißt auch bei Jonas eben nicht nur, dass einem Subjekt bestimmte Handlungen aufgrund kausaler Urheberschaft zugeschrieben werden kçnnen, sondern schließt die Pflicht (die „formale Auflage“) ein, fr das eigene Handeln (unter Umstnden) Rechenschaft abzulegen. Das Verantwortungssubjekt muss daher auch ein der Sprache fhiges und mit Anderen kommunizierendes Wesen sein.40 36 37 38 39
A. a. O., 172. Ebd. A. a. O., 173. Jonas ignoriert hier merkwrdigerweise, dass bereits auf juristischer Ebene sehr wohl differenziert wird, ob Handlungen etwa vorstzlich oder aus niedrigen Beweggrnden begangen werden, so dass beispielsweise Mord und Totschlag begrifflich unterschieden und rechtlich verschieden bewertet werden. 40 An einer Stelle verweist Jonas in Prinzip Verantwortung auf eine solche Rechenschaftspflicht auch fr seinen neuen Verantwortungsbegriff, wenn er in Bezug auf die zeitliche Asymmetrie zwischen heute handelnden Menschen und den mçglicherweise zuknftig von diesem Handeln betroffenen Generationen betont, „[d]as
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Soweit decken sich die Bedingungen, die das Subjekt von Verantwortung erfllen muss, mit denen der im ersten Teil vorgenommenen Begriffsanalyse. Allerdings tritt bei Jonas noch ein weiteres Kriterium fr das Subjekt hinzu: Es ist verantwortlich „fr die Sache, die auf [s]ein Handeln Anspruch erhebt“41. Sicherlich resultiert die Verantwortlichkeit des Subjekts direkt aus seiner Handlungsmacht,42 gleichzeitig sieht Jonas jedoch das Subjekt affektiv dem Verantwortungsobjekt unterworfen, das machtlos „in seinem Eigenrecht […] zum Gebietenden“43 werde und darin „das Tunsollen des zur Sachwaltung berufenen Subjekts“44 evoziert, oder etwas einfacher formuliert: die Aufforderung, der Bedrftigkeit des Verantwortungsobjektes gemß zu handeln.45 Und diese Aufforderung geht nicht nur von Menschen, sondern ebenso von „Sachen“ aus. Fr das Subjekt von Verantwortung lassen sich demnach mit Jonas drei Voraussetzungen bestimmen: Es muss 1.) Handlungsfhigkeit besitzen, 2.) Adressat eines nicht immer explizit formulierten Anspruchs sein – wobei bei Jonas offen bleibt, inwiefern diese Bedingung auch fr den retrospektiven Verantwortungstyp gilt –, und schließlich 3.) ber die Fhigkeit verfgen, Rechenschaft ber sein Handeln abzulegen. Retrospektiver und prospektiver Verantwortungsbegriff unterscheiden sich dabei vor allem hinsichtlich der aktuell auszufhrenden Aufgaben: Whrend in der retrospektiven Verantwortung das Subjekt Rechenschaft ber sein Handeln ablegen muss, hat das Subjekt der prospektiven Verantwortung mit seinem Handeln zunchst einem Handlungsanspruch des Verantwortungsobjekts zu antworten. Damit unterscheidet Jonas, was die vom Subjekt auszu-
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Nichtexistente“ habe „keine Lobby“ und „die Ungeborenen“ seien „machtlos“. „Somit hat die ihnen geschuldete Rechenschaft vorerst noch keine politische Realitt im gegenwrtigen Entscheidungsprozeß hinter sich, und wenn sie sie einfordern kçnnen, sind wir, die Schuldigen, nicht mehr da.“ (Jonas, PV, 55; Hervorhebung E. B.) Mag auch Jonas davon ausgehen, dass in diesem Fall gerade keine Rechenschaft abgelegt werden kann, unterstellt er dennoch, dass eine Pflicht dazu besteht. A. a. O., 174; Hervorhebung gendert E. B. So sieht Jonas, wie gesagt, in der Macht der Eltern einen der Hauptgrnde, warum sie fr ihre Kinder verantwortlich sind. Jonas, PV, 175. Ebd. „Das Wohlergehen, das Interesse, das Schicksal anderer ist, durch Umstnde oder Vereinbarung, in meine Hut gekommen, was heißt, daß meine Kontrolle darber zugleich meine Verpflichtung dafr einschließt.“ (A. a. O., 176.) Hier wird die von Jonas unterstellte Asymmetrie zwischen Subjekt und Objekt der Verantwortung erneut betont.
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fhrenden Aufgaben angeht, zu Recht analytisch zwischen beiden Verantwortungsbegriffen. Unzureichend thematisiert findet sich bei ihm hingegen die reale berschneidung und Verflechtung der beiden Aspekte: Auch wenn Jonas beteuert, jene Verantwortungsbegriffe seien strikt voneinander geschieden, bezeichnen sie doch eher unterschiedliche Perspektiven als einen Unterschied fundamentaler Art. Denn verantwortlich sein fr das „Seinsollen eines Gegenstandes“ heißt im Grunde, dass im Sinne dieser „Sache“ zu handeln ist, und das muss unter Umstnden spter ausgewiesen bzw. gerechtfertigt werden. Wenngleich in diesem Fall der Verantwortungstrger nicht fr bereits vollzogene Handlungen verantwortlich gemacht wird, so trgt er doch Verantwortung fr das Vollziehen von Handlungen, welche die Existenz der Sache oder der sich in seiner Obhut befindenden Person ermçglichen. So, wie jede retrospektive Verantwortung einmal eine prospektive Verantwortung war – Menschen haben sich dann nachtrglich fr ihr Handeln zu rechtfertigen, wenn zuvor bestimmte Erwartungen an ihr Verhalten formuliert oder stillschweigend vorausgesetzt wurden –, wird jede prospektive Verantwortung zu einer retrospektiven Verantwortung, wenn nach Ablauf einer bestimmten Zeit rckblickend Rechenschaft abgelegt werden muss. II.1.1.2. Objekt der Verantwortung In Jonas’ erster Definition von Verantwortung als „formale Auflage auf alles kausale Handeln unter Menschen, dass dafr Rechenschaft verlangt werden kann“, wird als Objekt von Verantwortung kausales Handeln bestimmt, ber dessen Motive, Absichten, Folgen etc. Rechenschaft abgelegt werden soll.46 Fr den zweiten, „ganz anderen“ (prospektiven) Verantwortungsbegriff dagegen bestimmt Jonas das Objekt, wie gesagt, als eine „Sache“, die Anspruch auf das Handeln des Subjekts erhebt,47 in dem Sinne, dass das Subjekt durch diese Sache aufgefordert wird, ihren Bedrfnissen gemß zu handeln. Dieser Anspruch korreliert nach Jonas mit einer Unselbstndig46 A. a. O., 174. – Hierin sieht Jonas seltsamerweise impliziert, dass man umso weniger verantworten muss, je weniger man getan hat, wobei er bersieht, dass wir uns sowohl im rechtlichen als auch moralischen Kontext durchaus fr das verantworten mssen, was wir nicht getan haben – auf rechtlicher Ebene beispielsweise fr unterlassene Hilfeleistung; auf moralischer Ebene etwa fr mangelnden Beistand in der Freundschaft. (Siehe hierzu oben, Abschnitt I.1.2., 24.) 47 Jonas, PV, 174.
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keit bzw. Ohnmacht des Objekts. So sind in exemplarischer Weise48 Eltern fr das „Sein“ ihrer Kinder verantwortlich, da diese in ihrer Unselbstndigkeit Anspruch auf elterliche Vor- und Frsorge erheben. Einen solchen Anspruch mssen sie nicht verbal artikulieren (das kçnnten sie auch in den meisten Fllen nicht), er resultiert vielmehr aus der ihnen eigenen Unselbstndigkeit und drckt sich darin aus. Ohne dass dieser Anspruch also sprachlich formuliert sein muss, ist klar, dass das Wohl des Kindes oder eines anderen unselbstndigen Wesens handlungsleitendes Motiv und Ziel sein sollte, an dem sich das Handeln der Eltern bemessen lassen muss – wobei weitgehend offen ist, wie und durch was das Wohl des Kindes realisiert werden soll. Doch nicht nur seinem Inhalt, auch seiner zeitlichen Dimension nach ist das Objekt der prospektiven Verantwortung offener als das der retrospektiven Verantwortung: Da sich nicht genau bestimmen lsst, wie „der Sache“ entsprochen werden kann, lsst sich auch nicht exakt angeben, wann diese Verantwortung endet.49 Hier geht es nicht mehr um die Rechenschaft fr einzelne Handlungen, sondern um einen Aufgabenoder Handlungsbereich, der inhaltlich und zeitlich offen ist.50 So vage dieser Aufgaben- und Handlungsbereich auch ist, entscheidend ist fr Jonas, dass er aufgrund seiner eigenen Unselbstndigkeit zum Objekt von Verantwortung wird: Weil es dem Objekt selbst an Handlungsmacht fehlt, es aber gleichzeitig dem Kçnnen des Subjekts ausgeliefert ist, wird es zum Objekt von dessen Verantwortung. II.1.1.3. Instanz der Verantwortung Rechenschaft wird nicht nur ber etwas, sondern immer auch vor jemandem abgelegt. Gleichwohl bestimmt Jonas dieses dritte Relatum nicht nher – weder in seiner Definition von Verantwortung (wo er zwar sagt, fr was, nicht aber, vor wem Rechenschaft gegeben werden muss) noch bei der 48 Zumindest in diesem Beispiel geht es nicht um Ansprche von „Sachen“, sondern von realen Menschen, die allerdings oft ihre Ansprche nicht oder nicht verbal oder auch nicht vçllig unmissverstndlich artikulieren. 49 Das Eltern-Kind-Verhltnis in dieser Weise als offen zu charakterisieren ist eine spezifisch moderne Version: Zu Zeiten, als die Tçchter ihrerseits Mtter zu werden und die Sçhne das Handwerk des Vaters zu erlernen hatten, war die Verantwortung fr die Kinder sowohl inhaltlich als auch zeitlich viel eindeutiger bestimmt: Es endete im (erfolgreichen) Regelfall damit, dass „der Sohn auf eigenen Fßen stand“ und die Tochter „versorgt war“. 50 Siehe hierzu auch oben, Abschnitt I.1.2., insbesondere 25.
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Darstellung seiner paradigmatischen Beispiele prospektiver Verantwortung. Im Hinblick auf die Instanz der Verantwortung unterscheiden sich die beiden Verantwortungsbegriffe allerdings insofern voneinander, als retrospektiv eine Instanz faktisch Rechenschaft fordert und damit das Subjekt zur Verantwortung zieht, whrend beim prospektiven Verantwortungsbegriff die Vorstellung einer solchen Instanz ausreicht, vor der das Subjekt sein Handeln potentiell verantworten, d. h. rechtfertigen muss. Beim prospektiven Verantwortungsbegriff geht es, wie bereits oben betont, zunchst um die Handlungsaufforderung und erst im Weiteren um eine Aufforderung zur Rechenschaft. Mçglich ist dabei, dass beide Aufforderungen auf dieselbe Instanz zurckgehen und einander implizieren; dass, wer uns zu handeln auffordert, auch beansprucht, dass wir ihm gegenber rechtfertigen, ob und wie wir seinem Anspruch nachgekommen sind. Festzuhalten bleibt zunchst, dass Jonas selbst keine Instanz fr seinen neuen, prospektiven Verantwortungsbegriff bestimmt, vor der sich das Subjekt zu verantworten hat. Gleichwohl lsst sich berall dort, wo Objekt der Verantwortung ein Mensch ist, dieser als mçgliche Instanz identifizieren, vor der das Subjekt zumindest potentiell Rechenschaft ablegen muss. Diese mçgliche Identitt zwischen Objekt und Instanz von Verantwortung mag einer der Grnde dafr sein, dass Jonas, auch wenn er an der Rechenschaftspflicht und damit an einem dreistelligen Verantwortungsbegriff festhlt, keine Instanz, vor der Rechenschaft abzulegen wre, konkret benennt. Noch entscheidender ist aber vielleicht, dass dies fr Jonas im Hinblick auf seine Verantwortungskonzeption nur von untergeordnetem Interesse ist: Da das Subjekt bereits durch den Anspruch des Objekts in seinem Handeln bestimmt ist (mag daraus auch die Mçglichkeit erwachsen, dass es irgendwann einmal aufgefordert werden wird, sich dafr zu rechtfertigen – wozu es dann allerdings eine Instanz geben msste, die das tut), kann Jonas zumindest in den Fllen, in denen eine solche Handlungsaufforderung durch den Anspruch des Objekts anzunehmen ist, zunchst offen lassen, vor wem das Subjekt sich zu verantworten hat. Ob und wodurch sich diese Instanz legitimieren muss, wird von Jonas selbst nicht przisiert und lsst sich auch nicht einfach ergnzen. Naheliegend scheint, dass Jonas ebenfalls eine direkte oder indirekte Betroffenheit der Instanz durch das Handeln des Verantwortungssubjekts als Grund annimmt – so kçnnte beispielsweise das Jugendamt Eltern zur Rechenschaft auffordern, weil es die Institution ist, die sich um das Wohl der Kinder in einer Gemeinde zu sorgen hat. Die Brger eines Staates kçnnten Politiker zur Rede stellen und deren Rcktritt fordern, wenn diese beispielsweise Steuergelder veruntreut haben. Whrend im ersten Fall eher eine indirekte
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Betroffenheit vorliegt, da die Instanz hier nicht selbst im Objektbereich der Verantwortung liegt, konvergieren im zweiten Fall Objekt und Instanz. Die Tatsache, dass Jonas weder fr die parentale Verantwortung noch fr die der Politiker die Instanz von Verantwortung an irgendeiner Stelle explizit bestimmt, lsst sich auch als ein weiteres Spezifikum seines „neuen“ Verantwortungsbegriffs deuten: Jonas scheint es nicht darum zu gehen, dass das Subjekt der prospektiven Verantwortung seine Handlungen wirklich einmal rechtfertigt. Entscheidend fr ihn ist, dass Menschen so handeln, dass sie ihr Handeln potentiell jederzeit vor jeder denkbaren Instanz als gerechtfertigt verantworten kçnnten. Dass Jonas berhaupt nicht ausdrcklich auf eine Instanz verweist, lsst vermuten, dass zumindest in dieser Hinsicht der Unterschied zwischen den Handlungen, deren Folgen im Nahbereich liegen, und denen, die in ihren Folgen weit ber das Leben des Subjekts hinausreichen, fr ihn weniger relevant ist: Vor einer fiktiven Instanz sind bereits eingetretene Folgen einer Handlung ebenso zu rechtfertigen wie noch weit in der Zukunft liegende Konsequenzen einer Handlung. Um noch einmal den Kerngehalt der prospektiven Verantwortungskonzeption, wie Jonas sie seiner Zukunftsethik zugrunde legt, zusammenzufassen: Ein sprach- und handlungsfhiges Subjekt ist fr das Sein einer Sache, die aufgrund ihrer eigenen Ohnmacht einen Anspruch an das Subjekt stellt, verantwortlich. Aufgrund seiner eigenen Handlungsmacht hat es nicht nur die Mçglichkeit, sondern auch die Pflicht, sich um das Objekt, dessen Existenz sich wesentlich durch Unselbstndigkeit und Angewiesenheit auszeichnet, zu sorgen. Offenheit besteht sowohl hinsichtlich der zeitlichen Dimension als auch in Bezug darauf, welchen Aufgaben positiv nachzukommen ist. Wie Jonas’ Zukunftsethik aussieht, die maßgeblich auf einem solchen prospektiven Verantwortungsbegriff fußt, soll im dritten Abschnitt dieses Kapitels noch detaillierter dargelegt werden.
II.1.2. Jonas’ Begrndung(en) von Verantwortung In den nun folgenden Abschnitten soll es um Jonas’ Begrndung seiner Verantwortungsethik gehen. Dabei ist wichtig zu bercksichtigen, dass Jonas selbst nach zwei Begrndungen sucht: Zum einen will er eine objektive Begrndung geben, die zeigt, warum der Mensch berhaupt verpflichtet ist, die Natur zu erhalten; zum anderen sieht er in der Tatsache,
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dass jeder Mensch ber ein Verantwortungsgefhl verfgt, einen subjektiven Grund der menschlichen Verpflichtung. II.1.2.1. Objektiver Grund – die menschliche Verpflichtung gegenber der Natur Jonas’ Zukunftsethik unterscheidet sich seinem eigenen Anspruch nach von traditionellen Ethiken: Aufgrund der technologischen, fundamental in natrliche Prozesse eingreifenden Errungenschaften des Menschen gehe es heute nicht nur um den Fortbestand der Menschheit, sondern den der gesamten Natur. Jonas postuliert dabei ein Eigenrecht der Natur, das dem Menschen, und zwar unabhngig von seinem eigenen Wohl, eine Verantwortung fr diese auftrgt. Zwar fordert Jonas selbst in seinem Imperativ der Zukunftsverantwortung zunchst, die Zukunft der Menschheit nicht zu gefhrden, und scheint damit gar nicht auf ein solches Eigenrecht der Natur abzuzielen. Dennoch ist Jonas in der Folge darum bemht zu begrnden, warum es die Natur als solche geben soll und warum sie daher zu bewahren sei – eine Aufgabe, die zu lçsen ihm ohne Zuhilfenahme von „Metaphysik als einer Lehre vom Sein“51 unmçglich erscheint. Jonas geht also davon aus, dass er fr die Begrndung seiner Zukunftsethik nicht auf metaphysische Annahmen verzichten kann. Damit widerspricht er „den befestigtesten Dogmen unserer Zeit“ – zum einem dem Dogma, dass metaphysische Wahrheit unmçglich sei, zum anderem dem, dass sich ein Sollen unmçglich aus dem Sein ableiten lasse.52 Um dennoch einen gewissen Geltungsanspruch mit seinem Begrndungsprogramm erheben zu kçnnen, versucht Jonas zunchst die Validitt dieser beiden Dogmen zu desavouieren. Er beginnt mit dem zweiten Dogma, dass sich aus dem Sein kein Sollen ableiten lasse. Es setze, wie Jonas kritisiert, einen wertfreien Begriff von Sein voraus, fr den „die Unableitbarkeit eines Sollens dann aber eine tautologische Folge“53 sei. Zwar spreche, so rumt Jonas selbst ein, fr die Annahme eines wertfreien Seins zunchst das Occam’sche Sparsamkeitsprinzip: dass man in Hypothesen nicht mehr Annahmen einfhren sollte, als tatschlich bençtigt werden, um einen bestimmten Sachverhalt zu beschreiben und empirisch nachprfbare Voraussagen zu treffen. Problematisch ist fr Jonas die Annahme eines 51 Jonas, PV, 92. 52 Siehe ebd. 53 Ebd.
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wertfreien Seins jedoch, weil dieser Satz „gemß seiner ontologischen Voraussetzung“ selbst nicht ohne Metaphysik auskomme und so „unter das Interdikt des ersten und fundamentaleren Dogmas“ falle, „dass es keine metaphysische Wahrheit gibt“,54 denn die negative Aussage, dass dem Sein kein Wert zukomme, sei weder tautologisch, noch lasse sie sich empirisch begrnden und falle somit in den Bereich der Metaphysik (wie brigens bereits der Satz, es gebe keine metaphysische Wahrheit). Mit einer fr das 20. Jahrhundert außergewçhnlichen Entschiedenheit hlt Jonas an der Notwendigkeit metaphysischer Annahmen fest. Die Feststellung, dass die Gegenseite seiner Argumentation – wider alle Beteuerungen – selbst nicht ohne Metaphysik auskomme, bestrkt ihn in seiner berzeugung. So mçchte Jonas der metaphysischen Minimalannahme, dass Sein und Sollen strikt getrennt seien, wenn „nicht einen Beweis, [so] doch wenigstens ein vernnftiges ontologisches Argument fr seine anspruchsvollere Annahme“ entgegenstellen, dass den Menschen der Schutz des Planeten um seiner selbst willen auferlegt sei. Weil Leben ist, so versucht Jonas zu zeigen, soll Leben sein – und beantwortet damit die von ihm in Anschluss an Leibniz formulierte grundlegende Frage, „ob berhaupt etwas – anstatt nichts – sein soll“55. Entgegen dem Hume’schen Gesetz, das von einer radikalen Trennung zwischen Sein und Sollen ausgeht, argumentiert Jonas, es kçnne „Nichtsein statt aller Alternativen des Seins gewhlt werden, wenn nicht ein absoluter Vorrang des Seins vor dem Nichts anerkannt ist“56. Jonas’ Postulat vom absoluten Vorrang des Seins vor dem Nichts lsst sich in drei Schritten rekonstruieren: Als erstes versucht Jonas, einen indirekten Beweis dafr zu liefern, dass auch die Natur Zwecke verfolgt (II.1.2.1.1). In einem weiteren Schritt beansprucht er, aus diesem Befund Werte in der Natur zu deduzieren (II.1.2.1.2.), aus denen er schließlich in einem dritten und letzten Schritt ein Gutes an sich der Natur ableitet, das den Menschen zur Erhaltung der Natur als solcher verpflichte (II.1.2.1.3.).57 54 A. a. O., 92 f. 55 A. a. O., 96. 56 A. a. O., 96 f. – Es ist fraglich, ob nicht schon ein solcher Vergleich unsere Denkmçglichkeiten bersteigt. 57 Wegen dieser Argumentation ist Jonas in der philosophischen Diskussion vielfach kritisiert worden. Siehe beispielsweise Annemarie Gethmann-Siefert, „Ethos und metaphysisches Erbe. Zu den Grundlagen von Hans Jonas’ Ethik der Verantwortung“, 171 ff., insbesondere 176 ff.; Horst Gronke, „Epoch der Utopie“, 416 ff.; Kettner, „Verantwortung als Moralprinzip?“, insbesondere 432 ff.; Ralf-
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II.1.2.1.1. Zwecke der Natur Zunchst sollte geklrt werden, was berhaupt unter einem Zweck zu verstehen ist. Nach Jonas antworten Zwecke „auf die Frage ,Wozu?‘“ – sie sind also dasjenige, „um dessentwillen eine Sache existiert und zu dessen Herbeifhrung oder Erhaltung ein Vorgang stattfindet oder eine Handlung unternommen wird“.58 Als Beispiele fhrt Jonas 1.) das Hmmern des Hammers, 2.) das Verdauen eines Verdauungskanals, 3.) das Ziel eines Weges und 4.) die Rechtsprechung eines Gerichtshofes an.59 Er betont, dass „die Zwecke oder Ziele, von denen wir in diesen Fllen sagen, daß sie die betreffenden Dinge oder Handlungen definieren, dies unabhngig von ihrem Status als Werte tun“60. Denn auch wenn sich alle „jene Zwecke fr wertlos in sich erklren“ lassen, gelte es doch, die in den genannten Beispielen implizierten Zwecke „als die Zwecke der betreffenden Dinge fr sich selbst genommen“ anzuerkennen.61 Nach dieser Formulierung kçnnte man zunchst vermuten, Jonas halte Zwecke fr etwas Objektives, den Dingen selbst Zukommendes. Doch nur wenig spter rumt Jonas ein, dass im ersten und vierten Beispiel der Zweck gerade nicht in den Dingen liege, sondern vielmehr in beiden Fllen der Mensch es sei, der diese Zwecke setze und verfolge: Menschen sind es, die den Hammer erfunden haben und ihn benutzen, um zu hmmern; und Menschen sind es auch, die den Gerichtshof als gesellschaftliche Institution eingerichtet haben, um Recht zu sprechen.62 Soweit teilt also Jonas die „moderne[…] berzeugung, dass ,Zweck‘ berhaupt ein gnzlich menschlicher Begriff ist und nur von ihm anderen Dingen durch Herstellung mitgeteilt oder durch Interpretation imputiert
58 59 60 61 62
Peter Koschut, Strukturen der Verantwortung, 24 ff., 334 ff., dort insbesondere 337 ff.; Kuhlmann, „,Prinzip Verantwortung‘ versus Diskursethik“, insbesondere 282. Eine Arbeit, die Jonas’ Begrndungsansatz positiv nachzeichnet und bei Jonas’ bergang vom Ist zum Soll (wie ich meine: zu Unrecht) einen synthetischen Schluss erkennt, ist die Dissertationsschrift von Bernd Wille (Ontologie und Ethik bei Hans Jonas). Jonas, PV, 105. A. a. O., 105. Ebd. Ebd. Vgl. A. a. O., 113. – Auch fr den „Weg“ gilt, dass dieser entweder zum Zweck der Zielerreichung von Menschen angelegt ist oder (wie im Fall von natrlichen Wasserwegen) so genutzt wird, als sei er eigens zur Zielerreichung geschaffen. Die Redeweise vom „Verdauungskanal“ ist eine Analogiebildung, die unterstellt, was Jonas beweisen mçchte, nmlich dass die „Natur“ wie der Mensch zur Befçrderung von Gtern Kanle angelegt hat.
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wird“63. Anders sei es jedoch bei den verbleibenden Beispielen, dem Ziel eines Weges und dem Verdauen eines Verdauungskanals; hier handle es sich um „natrliche Dinge und Funktionen“: Weder wrden sie vom Menschen hergestellt, noch sei es allein der Mensch, dem sie zukommen, denn der Verdauungskanal eines Tieres sei unabhngig vom Menschen da, um zu verdauen, und auch ein Tier gehe von a nach b, um dorthin zu gelangen. Trotzdem, so gibt auch Jonas zu, unterscheiden sich diese Vorgnge, je nachdem, ob sie vom Menschen oder vom Tier vollzogen werden. So eindeutig wir nmlich beim Menschen sagen wrden, dass er luft, um zu …, so eindeutig ist, „daß [wir] eine derartig artikulierte Zweck-MittelKette in tierischem Handeln“, wenn es auch „zielgerichtet“ sei, nicht unterstellen kçnnen.64 Denn der Mensch sei der einzige, den man fragen kçnne, „warum er geht, und [darauf ] eine ganze Serie von Antworten erhalten“, in der die Nennung des Wohin nur die erste ist und immer ein „,Um-zu‘ in ein weiteres bergeht“65. Im tierischen Verhalten und in der Entwicklung von Pflanzen dagegen kçnnen wir, wie Jonas nachdrcklich betont, nicht mehr erkennen als „bloße Glieder in der Notwendigkeitskette von Reiz und Antwort“66. Auf den ersten Blick hnlich hat bereits Kant in der Kritik der Urteilskraft geltend gemacht, dass wahrnehmende Subjekte Dinge berhaupt „nur unter der Idee der Zwecke in ihrer Causalverbindung verfolgen und diese nach ihrer Gesetzmßigkeit erkennen kçnnen“, was sie berechtige, „eben dieses auch fr jedes denkende und erkennende Wesen als nothwendige, mithin dem Objecte und nicht bloß unserm Subjecte anhngende Bedingung vorauszusetzen“.67 Weil Subjekte gar nicht anders kçnnen, als Objekte ihrer Erfahrung in Zweckbeziehungen wahrzunehmen, glauben sie, die attribuierten Zweckbeziehungen nicht als nur subjektiv, sondern als objektiv, also den Gegenstnden ihrer Wahrnehmung selbst inhrent auffassen zu drfen. Diesen Schluss allerdings hlt Kant, wie er im nchsten Satz erlutert, fr unzulssig: da wir die Zwecke in der Natur als absichtliche eigentlich nicht b e o b a c h t e n , sondern nur in der Reflexion ber ihre Producte diesen Begriff als einen Leitfaden der Urtheilskraft hinzu d e n k e n : so sind sie uns nicht durch das Object gegeben. A priori ist es sogar fr uns unmçglich, einen solchen Begriff seiner objectiven Realitt nach als annehmungsfhig zu rechtfertigen.68 63 64 65 66 67 68
A. a. O., 114; Hervorhebung E. B. A. a. O., 119. A. a. O., 118; Hervorhebung E. B. A. a. O., 120. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Gesammelte Schriften, Band V, 399. Ebd.
II.1.2. Jonas’ Begrndung(en) von Verantwortung
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Fr Kant lassen sich Zwecksetzungen also gerade nicht objektiv bestimmen. Ungeachtet des von ihm selbst formulierten Einwandes, dass wir vom Tier keine Antwort auf die Frage „Wozu?“ erhalten, gibt Jonas den Plan nicht auf, auch bei Tieren und Pflanzen, ja in der Natur als solcher Zwecke zu entdecken, die mehr sein sollen als die „Behebung einer Spannung“69. Er vertritt die Auffassung, dass es „,Handeln‘ in der Natur gibt“70 und „dass die Wirksamkeit von Zwecken nicht an Rationalitt, berlegung und freie Wahl“71 gebunden ist. Zwar rumt Jonas ein, dafr keineswegs dieselbe Sicherheit beanspruchen zu kçnnen wie bei der Behauptung, dass Menschen Zwecke verfolgen.72 Gleichwohl sieht er seine These, dass auch Organismen, die ber kein Bewusstsein verfgen, Zwecke haben oder haben kçnnen, dadurch hinreichend gerechtfertigt, dass die gegenteilige Annahme uns „mit einer seltsamen Teilung lassen“73 wrde – mit einem zwar nicht grundstzlich unmçglichen, aber „radikale[n]“, fr Jonas nicht akzeptablen „Unterschied“74 zwischen dem, was diesem „Prinzip unterliegt […], und dem viel breiteren Teil ihres Seins, das ihm nicht unterliegt“75. Jonas’ Argument fr die Annahme von Zwecken auch in der unbewussten Natur ist folglich ein indirektes: Er hlt beide Modelle, mit denen traditionell die Trennung in der Natur zwischen einem schmalen Bereich subjektiver Zwecke und einem breiteren Bereich objektiver Kausalketten erklrt wird, fr wenig plausibel. Daraus schließt er auf die Gltigkeit seiner eigenen Annahme einer „Zweckkausalitt auch in der vorbewußten Natur“76 – weil a und b zurckgewiesen werden, msse c gelten. Doch was sind die von Jonas als unplausibel zurckgewiesenen Thesen, worin scheitern sie nach Jonas? Und lsst sich aus diesem Scheitern notwendigerweise c folgern? Jonas unterscheidet zwei traditionelle Vorstellungen, Subjektivitt innerhalb der „Objektivitt purer Kausalaktion“77 als
69 Jonas, PV, 124. Darunter versteht Jonas die These, dass „aller tierische Aktionsablauf […] dem Gesetz des Ausgleichs“ folge, „das heißt der Mechanik der Entropie“. Auch dies ist natrlich wieder eine menschliche Interpretation. 70 A. a. O., 128. 71 Ebd. 72 A. a. O., 129. 73 A. a. O., 131. 74 Ebd. 75 A. a. O., 132. 76 A. a. O., 136. 77 A. a. O., 131.
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heterogenes Prinzip der Aktion in der Natur zu denken, a) den Dualismus von Leib und Seele und b) die monistische Emergenz-Theorie: a) Der Dualismus behauptet, dass Physis und Psyche zwei zunchst voneinander vollkommen getrennte und unabhngige Sphren darstellen und die Seele erst „bei gegebener Gelegenheit in die Natur eintritt“78 (die von Jonas so genannte Ingressionstheorie) – d. h., erst beim Menschen (oder frhestens bei sehr entwickelten Sugetieren) tritt zum Kçrper so etwas wie eine Seele quasi aus dem Nichts hinzu. Dagegen macht Jonas geltend, dass der Dualismus dem, wie er findet, „strkste[n] Argument des Materialismus“79 widerspreche: Wenn die Ingressionstheorie des Dualismus ein „Reich wirksamer, immaterieller Transzendenz“80 unterstelle, also etwas, das unabhngig vom Kçrper schon existiert und erst bei gegebener Gelegenheit in diesen eintritt, sei das zwar „logisch einwandfrei“81, dafr aber „die unbelegbarste und dazu ontologisch gewaltsamste aller denkbaren Hypothesen“82, weil es fr einen solchen kçrperlosen Geist oder eine immaterielle Seele keinerlei empirische Hinweise gebe. Alternative a) scheidet fr Jonas also aufgrund mangelnder empirischer Belege als zu spekulativ aus. Deswegen bleibe vorerst nur die zweite Option: b) Die monistische Emergenz-Theorie vertritt gegen den Dualismus die These, dass der Geist nicht vollkommen unabhngig von der physischen Natur zu denken sei, vielmehr gehe er „mit der ,Gelegenheit‘ aus der soweit gelangten Natur hervor[…]“83 : Der Geist tritt nicht zum – bis dahin vçllig seelenlosen – Kçrper hinzu, sondern entwickelt sich erst aus diesem, allerdings zu etwas von ihm vçllig Distinkten. Damit ist die Seele zwar immer noch ein vom Physischen klar Getrenntes, allerdings nicht mehr ein unabhngig von ihm Entstandenes, vielmehr ein „beim unabhngigen […] Eintreten der passenden stofflichen Bedingungen“84 aus ihm Hervorgegangenes. Die Seele oder auch der Geist bleibt zwar ein vollkommen vom Physischen Verschiedenes und daher Transzendentes, soll aber gleichzeitig seiner Herkunft nach als ein ihm strikt Immanentes gedacht werden. Damit wird nach Jonas eine Art „evolutionre[r] Sprung“ vorausgesetzt, bei dem „die Auffassung der vorangehenden, [der Subjektivitt] unterliegenden 78 79 80 81 82 83 84
A. a. O., 132. Ebd. A. a. O., 133. Ebd. Ebd. A. a. O., 132. A. a. O., 133.
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Stufe nicht kontaminiert zu werden braucht durch die Imputierung von ,Zweck‘, der eben erst der neuen Stufe“ zuzurechnen sei.85 Hier sieht Jonas zu Recht ein logisches Problem, da die Annahme eines derartigen Sprunges das Kausalprinzip als solches in Frage stellt:86 In diesem Falle wrde „nichts das ihm vçllig Fremde, seinem Eigengesetz Zuwiderlaufende aus sich hervorbringen und damit sich selbst Gewalt antun“87. Dies wrde jedoch positiv heißen, dass etwas ein von ihm absolut Verschiedenes, ohne Beteiligung irgendeines Dritten, msste hervorbringen kçnnen. Dazu msste die Emergenz-Theorie jedoch erneut auf den bereits zurckgewiesenen Dualismus und dessen Annahme eines „psychophysischen Parallelismus oder Epiphnomenalismus“88 zurckgreifen, oder aber sie msste eingestehen, dass das sprunghaft Aussehende „in Wahrheit eine Fortsetzung“ ist – also nichts wesentlich Neues, sondern „unsichtbar schon in dem dahinfhrenden Wachstum vorhanden“.89 Mit der Zurckweisung von a als ontologisch unhaltbar und b als logisch widersprchlich meint Jonas nun auf die Gltigkeit von c schließen zu kçnnen, da sich die Behauptung, es gebe zweckfreie Natur, nur dann aufrecht erhalten lasse, wenn man davon ausgeht, dass die Subjektivitt entweder ein vçllig transzendentes Prinzip ist oder auf einem absoluten Sprung basiert – fr Jonas beides widerlegte Annahmen. Als Alternative sieht er nur die These c, dass bereits in der Natur Zwecke anzunehmen sind. Ich halte diesen Schluss jedoch nicht fr zwingend: Weder hat Jonas gezeigt, dass c die einzig mçgliche Alternative zu a und b ist, noch dass c nicht genauso falsch oder spekulativ ist wie a und b. Nur weil a und b (so, wie Jonas diese Annahmen formuliert) nicht ohne Weiteres einsichtig sind, heißt das noch nicht, dass c zutreffen muss. Es kçnnte ebenso gut sein, dass wir hier vor einer Frage stehen, bei der nicht nur a und b als mçgliche Antworten nicht einleuchten, sondern auch c nicht wirklich plausibel ist, und wir uns deshalb, ganz im Sinne der phnomenologischen Epoch, bis auf weiteres eines abschließenden Urteils enthalten mssen. Was uns beim Menschen, anders als beim Tier und auch anders als bei der Natur im Ganzen, erlaubt, von Zwecken zu reden, ist die Tatsache, dass ein Mensch prinzipiell in der Lage ist, uns auf die Frage zu antworten, wozu er etwas tut. 85 Ebd. 86 Fr die neueren Naturwissenschaften (z. B. die Quantenphysik) ist es allerdings kein Problem, dass es Ausnahmen vom Prinzip unilinearer Kausalitt zu geben scheint. 87 Jonas, PV, 134. 88 Jonas, PV, 135. 89 Ebd.
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Damit ist keineswegs gesagt, dass er nur dann, wenn er auf die Frage „Wozu?“ antwortet, Zwecke verfolgt – es reicht aus, dass er antworten kçnnte. Auch ist nicht auszuschließen, dass der Mensch sich oder Andere ber die Zwecke seines Tuns tuscht; doch selbst dann bekundet er mit seiner Antwort eine Absicht oder Intentionalitt, die kein Tier und keine Pflanze jemals ußert oder ußern kann. Nur diese Antwort macht es mçglich, dass wir uns im Fall des Menschen aus der Epoch begeben und davon sprechen, dass Menschen Zwecke verfolgen. Jonas scheitert also daran, dass er eine wesentliche Bedingung dafr, Zwecke unterstellen zu kçnnen, im entscheidenden Moment außer Acht90 lsst, nmlich die Fhigkeit oder Mçglichkeit in einem Akt der (Selbst-) Interpretation ber die eigenen Intentionen Auskunft zu geben. Ein Zweck gibt – wie Jonas selbst festgestellt hat – Antwort auf die Frage „Wozu?“. Doch der einzige, der auf diese Frage (oder irgend eine andere Frage) antwortet und antworten kann, ist der Mensch: Whrend Menschen uns stndig ber die Zwecke ihres Tuns aufklren, werden wir nie vom Tier oder der Natur erfahren, wozu sie etwas getan haben, tun oder tun werden. Zwar meinen Menschen oft, im Handeln eines Tieres irgendwelche Zwecke erkennen zu kçnnen, es gibt jedoch keinerlei Beleg fr die Richtigkeit dieser Annahme. Nicht in dem Argument, dass die (außermenschliche) Natur keine Zwecke verfolgt, sondern in ihrem offensichtlichen Unvermçgen, sich hierzu sprachlich zu ußern, scheint mir der fundamentale qualitative Unterschied zwischen Mensch und Natur begrndet zu sein, der uns veranlassen sollte, uns bei der Frage nach den Zwecken der Natur eines Urteils zu enthalten.91 90 Wie das oben (63 f.) angefhrte Zitat zeigt, ist Jonas diese Prmisse vom Grundsatz her nicht fremd. 91 Sicherlich waren auch Jonas selbst die hier vorgebrachten Einwnde bekannt; trotzdem hielt er bis zuletzt an der oben dargelegten Position fest. So betonte er noch 1992, dass das Leben „Selbstzweck“ sei, „d. h. aktiv sich wollender und verfolgender Zweck; und die Zweckhaftigkeit als solche, die dem gleichgltig Zwecklosen durch das eifrige Ja zu sich selbst so unendlich berlegen ist, kann sehr wohl ihrerseits als Zweck, als heimlich ersehntes Ziel des ganzen, sonst so leeren Weltunternehmens angesehen werden. […] Materie ist Subjektivitt von Anfang an in der Latenz, selbst wenn onen und dazu noch seltenstes Glck fr die Aktualisierung dieses Potentials nçtig sind. […] Da Finalitt – Zielstreben – in gewissen Naturwesen, nmlich lebenden, subjektiv-manifest auftritt und von da auch objektiv-kausal wirksam wird, kann sie der Natur, die eben solches hervorbrachte, nicht gnzlich fremd sein; sie muss selber ,natrlich‘ sein, und zwar naturgemß, naturbedingt und autonom naturerzeugt.“ (Hans Jonas, Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, 221.)
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So berzeugend Jonas auch Inkongruenzen in naturwissenschaftlichen Diskussionen zu diesem Thema aufdeckt,92 so sehr drngt sich doch der Verdacht auf, dass es sich bei seinem Gegenvorschlag um eine Argumentation handelt, die vor allem dazu dienen soll, in einem zweiten Schritt zu zeigen, dass es auch in der Natur Werte gibt. Dagegen halte ich eine alternative Begrndung, die nicht auf die Idee einer Zwecksetzung in der Natur rekurriert, aber zu einem hnlichen Ergebnis fhren kçnnte, fr weit weniger problematisch und deshalb berzeugender: Jonas htte in einem ersten Schritt zeigen kçnnen, dass der Mensch selbst Teil der Natur ist und nur als solcher einen Wert hat.93 In einem zweiten Schritt wre dann auszufhren, dass den Wert des Menschen zu erhalten folglich heißt, die Natur als ganze, als das immer schon zu ihm gehçrende, nicht von ihm zu trennende Umfeld zu bewahren. Denn weil es sich bei der Natur um ein hochkomplexes, interdependentes System handelt, lsst sich nicht entscheiden, mit welchen Teilen der Natur der Mensch nicht verbunden ist und auf die deshalb zu verzichten mçglich oder denkbar wre. Um sich gegen den (naheliegenden) Vorwurf des Instrumentalismus abzusichern, wre zu betonen, dass Selbsterhaltung des Menschen die Erhaltung der Natur nicht als bloßes Mittel impliziert. Vielmehr ist die Natur deshalb zu erhalten, weil sich der Mensch gar nicht unabhngig von der Natur, zu der er selbst gehçrt und in der er lebt, denken lsst. Der Wert des Menschen lsst sich nicht unabhngig von einem Wert der Natur verstehen. II.1.2.1.2. Werte in der Natur Jonas’ zweiter Schritt besteht nun darin, aus seiner These, dass die Natur Zwecke verfolgt, zu folgern, dass es in ihr auch Werte gebe. Daher sei die Natur – Jonas’ dritter Schritt – als ein Gutes an sich zu verstehen. Etwas, das einen Zweck verfolgt, verfgt nach Jonas auch ber einen Wert. Plausibel scheint zunchst, dass das Verfolgen von Zwecken immer mit einer Wertsetzung durch denjenigen (oder mit Jonas auch: durch dasjenige) verbunden ist, der (das) diesen Zweck verfolgt. Denn einen Zweck zu verfolgen impliziert, dass diesem ein hçherer Wert zugesprochen wird als etwa dem Ausgangszustand oder einem mçglichen alternativen Folgezustand. Wenn also die Natur als ihren Zweck – wie Jonas meint 92 Siehe hierzu besonders die ursprnglich als Teil vom Prinzip Verantwortung, dann doch gesondert erschienene Schrift von Hans Jonas, Macht oder Ohnmacht der Subjektivitt. Das Leib-Seele-Problem im Vorfeld der Verantwortung. 93 Vorausgesetzt wrde auch hier, dass menschliches Sein Wert hat und deshalb schtzenswert ist.
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gezeigt zu haben – die eigene Selbsterhaltung verfolgt, nimmt sie auch eine Wertsetzung oder die implizite Anerkennung eines Wertes vor: Dass sie besteht, ist (fr sie) mehr wert als ihre Nicht-Existenz. Dieser hçhere Wert ist jedoch zunchst nur relativ zur Nicht-Existenz zu bestimmen, denn die von der Natur verfolgten Zwecke, so rumt Jonas selbst ein, erlauben lediglich innerhalb der vorentschiedenen Zielorientierung dem verfolgten Zweck – Selbsterhaltung – einen hçheren Wert zuzuerkennen als der Nicht-Existenz als mçglicher Alternative. Wir kçnnen, so Jonas, nur festhalten, „dass es in ihrem Banne ein besser und schlechter gibt, nicht aber, dass hierin ein Gutes an sich unsere Zustimmung“94 verlange. Der Zweck der Selbsterhaltung, den die Natur sich setzt, stellt also vorerst nur einen Wert fr diese selbst dar. Die Frage, ob der Fortbestand ihrer Existenz auch an sich ein Wert ist, d. h., ob sich der Wert ihrer Existenz unabhngig von der Tatsache begrnden lsst, dass die Natur angeblich den Zweck verfolgt, ihre Existenz zu sichern, hat Jonas damit allerdings noch nicht beantwortet. Nur wenn es ihm jedoch gelingt zu zeigen, dass die Natur objektiv oder zumindest fr die Menschen einen Wert hat, kann er auch schließen, dass es die Pflicht des Menschen ist, sich um ihren Fortbestand zu kmmern – was ja eigentliches Ziel seiner ganzen Beweisfhrung ist. II.1.2.1.3. Das An-sich-Gute der Natur Ein An-sich-Gutes (in) der Natur und nicht allein deren relativen Wert ausfindig zu machen ist der dritte Schritt und das Ziel der Jonas’schen Argumentation: Einzig ein solches Gut kçnnte begrnden, warum aus dem Sein der Natur ein an uns gerichtetes Sollen, die Natur zu schtzen, folgt. Denn, so argumentiert Jonas, relative Werte, die in den verfolgten Zwecken liegen, bedrfen gerade keines Sollens mehr, da sie in ihrer Eigenschaft, Zwecke von jemandem zu sein, bereits von diesem verfolgt werden und ein Sollen unnçtig machen: Selbsterhaltung braucht nicht geboten zu werden und bedarf keiner berredung außer der Lust, die ihr mitgegeben ist; ihr Wollen, mit seinem Ja und Nein, ist als das erste immer schon da und besorgt sein Geschft – […] Selbst also wenn ,wollen Sollen‘ ein sinnvoller Begriff wre, so wre er doch hier berflssig und damit auch der (wirklich sinnvolle) Begriff des ,tun Sollens‘, da das schon vorhandene Wollen sein Tun automatisch mit sich fhrt.95 94 Jonas, PV, 154; Hervorhebung E. B. 95 A. a. O., 158. – Es ist dieser Schritt von der Existenz der Natur als eines Guten an sich zu einem Sollen, fr den man Jonas den Vorwurf eines Sein-Sollen-Fehlschlusses gemacht hat: Weil die Existenz (das Sein) der Natur an sich gut ist, soll sie
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Auf der Suche nach einem Guten-an-sich geht Jonas nun von der Tatsache einzelner Zwecke ber zu der Frage, wie es sich mit der „,Zweckhaftigkeit‘ selber als ontologische[m] Charakter eines Seins“96 verhalte. Er vertritt die These, in „der Fhigkeit, berhaupt Zwecke zu haben“, kçnne ein Gut-ansich gesehen werden, „von dem intuitiv gewiß ist, dass es aller Zwecklosigkeit des Seins unendlich berlegen ist“:97 Zwar kçnne ber den Wert an sich eines bestimmten Zweckes nicht unabhngig von der Person oder Sache, die diesen verfolgt, eine definitive Aussage getroffen werden. Abstrahiere man aber von dem Konkret-Bestimmten eines Zweckes und betrachte die Tatsache, dass berhaupt ein Zweck verfolgt werde, sei eindeutig, dass diesem mehr Wert zukomme als „aller Zwecklosigkeit des Seins“98. Jonas meint infolgedessen, aus der Tatsache, dass in der Natur berhaupt ein Zweck verfolgt werde, auf ein Gutes an sich in ihr schließen zu kçnnen. Was zunchst unmittelbar einleuchtet, nmlich dass etwas mehr ist als nichts und damit „etwas wert“ auch mehr wert als „nichts wert“, erweist sich auf den zweiten Blick als problematisch: Sicher ist aus der Perspektive der Tatschlichkeit von Zwecken Zweckhaftigkeit in ihrem Wert der Zwecklosigkeit unendlich berlegen, da Zweckhaftigkeit mit den ihr, wenn auch relativ, zukommenden Werten immer schon einen wertenden Kontext impliziert, und in ihm ist jeder Zweck mehr wert ist als die Abwesenheit von Zwecken. Die Annahme vollstndiger Zwecklosigkeit des Seins hingegen kann gar keinen wertenden Kontext mehr voraussetzen, folglich auch kein Gutes-an-sich, denn im Begriff des Guten-an-sich ist, sofern es noch nicht ist, analytisch die Forderung enthalten, dass es realisiert werden soll – und damit stellt es einen Zweck dar. Dieser Zweck kann aber in einer Sphre vollstndiger Zwecklosigkeit gar nicht mehr sinnvoll gedacht und seine Realisierung dem Menschen nicht sinnvoll als Sollen aufgetragen werden. weiter bestehen und muss, falls ihre Existenz in Gefahr gert, geschtzt werden (wobei vorlufig unbercksichtigt bleiben kann, inwiefern sich dieses Sollen an den Menschen richtet). Verkannt wird hier m. E., dass Jonas bei der Existenz der Natur eben gar nicht von einem wertneutralen Sein ausgeht, sondern ihr schon den Wert eines An-sich-Guten im Sinne Platons zuspricht. Damit ist es aber durchaus legitim, ja geradezu zwingend, auf sein Sein-Sollen zu schließen. Dass ein An-sichGutes auch sein soll, scheint mir analytisch in diesem Begriff enthalten. Nicht darin liegt also der problematische Schritt in Jonas’ Argumentation, vielmehr darin, dass er und wie er meint, zeigen zu kçnnen, dass die Natur ein An-sich-Gutes sei. 96 A. a. O., 154. 97 Ebd. 98 Ebd.
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Damit scheint Jonas’ Argument – so sehr man unmittelbar einzurumen bereit sein mag, dass die Natur einen Wert an sich hat – erneut weniger schlssig, als erforderlich wre, um daraus ein kategorisches Sollen fr den Menschen abzuleiten. Es stellt sich wiederum die Frage, ob Jonas – hlt man an der Richtigkeit seiner Intuition fest, dass wir fr die Zukunft der Menschheit und damit auch fr die des Planeten verantwortlich sind – nicht einen anderen, weniger umstndlichen Weg der Begrndung htte einschlagen kçnnen, der mçglichst gar keine zweifelhaften Prmissen enthlt. So schiene mir eine Argumentation berzeugender, die, konsequenter als Jonas das tut, auf eine Trennung zwischen Natur und Mensch verzichtet und herausarbeitet, dass Menschen fr die Erhaltung der Natur verantwortlich sind, weil sie selbst deren Teil sind. Darber hinaus scheint aber insgesamt fragwrdig, inwiefern Jonas in seinen Schriften wirklich eine Begrndung von Verantwortung geliefert hat – ließe sich sein Argument doch einfach als die Begrndung unserer Pflicht verstehen, die Zukunft des Planeten zu schtzen. Bezeichnenderweise verwendet Jonas selbst hufig das Wort „Pflicht“ bei seiner Begrndung und klrt an keiner Stelle, in welchem Verhltnis Pflicht und Verantwortung99 zueinander stehen. II.1.2.2. Subjektiver Grund – das menschliche Verantwortungsgefhl gegenber Schwachem Vermutlich wre Jonas von der Stichhaltigkeit seiner objektiven Begrndung auch nach den oben vorgebrachten Einwnden berzeugt, dennoch hlt er sie offenbar fr nicht ausreichend. Seines Erachtens bedarf es neben dem objektiven Grund unserer Verpflichtung noch eines subjektiven Grundes, der es den Menschen allererst ermçgliche, verantwortlich. Denn nichts wrde uns der objektiv bestehenden Pflicht gemß handeln lassen, wenn es nicht auf der subjektiven Seite etwas gbe, was uns zu handeln motiviert.100 Dennoch, so sollte deutlich geworden sein, kann dieser subjektive Grund keinesfalls an die Stelle einer objektiven Begrndung treten, vielmehr ist das Verhltnis zwischen subjektivem und objektivem Grund 99 Siehe hierzu oben, 28, Anm. 36. 100 „Wren wir nicht mindestens nach Anlage empfnglich fr den Ruf der Pflicht durch ein antwortendes Gefhl, so wre selbst der zwingendste Beweis seines Rechtes […] doch machtlos, das Erwiesene auch zu einer motivierenden Kraft zu machen.“ (Jonas, PV, 163.)
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fr Jonas komplementr: Wren wir zwar durch ein Gefhl subjektiv angetrieben, htten aber keine „objektive Beglaubigung“ fr diesen Antrieb, wre, wie Jonas es ausdrckt, „unsere faktische Empfnglichkeit […] ein Spielball zuflliger Prdilektionen“.101 Wir htten keine Gewissheit, dass wir wirklich dem Guten folgen und nicht einfach irgendeiner Illusion. Das subjektive Gefhl soll also keinesfalls an die Stelle des objektiven Grundes treten, sondern diesen vielmehr ergnzen. Fr Jonas ist jedoch eindeutig, mag er auch die Notwendigkeit und gegenseitige Bedingtheit der subjektiven und objektiven Seite von Moralbegrndung betonen, dass es jenes „faktische Gegebensein des Fhlens“ ist, in dem das „kardinale datum der Moral“ liege.102 Denn obwohl dieses nicht deren Gltigkeit bestimme, werde erst mit dem Gefhl das sittliche Gebot wirksam. Dass es ein solches Gefhl gibt, betrachtet Jonas als Tatsache, „als Faktum unserer Existenz“103 – als solches msse sein Vorhandensein nicht eigens bewiesen werden. Mit dieser Annahme, dass es eines moralischen Gefhls bedarf, damit Menschen berhaupt moralisch handeln kçnnen, steht Jonas nicht allein: Nicht nur Platon, Aristoteles, Spinoza, Shaftesbury oder spter Kierkegard und Nietzsche, selbst Kant hat mit einem (allerdings „vernunftgewirkten“) Gefhl der Achtung fr die Notwendigkeit eines subjektiven Momentes der Moral argumentiert. Jonas nimmt jedoch fr sich in Anspruch, der erste zu sein, der das moralische Gefhl als eines der Verantwortlichkeit bestimmt.104 Dieses Gefhl der Verantwortlichkeit zeichnet sich Jonas zufolge dadurch aus, dass es auf „das Vergngliche qua Vergngliches“105 gerichtet sei und nicht (wie die moralischen Gefhle in der philosophischen Tradition) auf etwas Zeitloses, „das unsere Sterblichkeit mit der Lockung der Ewigkeit anspricht“106. Entscheidend scheint fr Jonas also zu sein, dass das Verantwortungsgefhl gerade aus der Vergnglichkeit und der darin liegenden Bedrftigkeit eines Anderen entspringt. Allein durch seine Existenz habe dieses Andere, „wahrgenommen gerade in seiner Vergnglichkeit, 101 102 103 104 105 106
Ebd. A. a. O., 164. Ebd. A. a. O., 163. A. a. O., 166. Ebd. – Jonas geht davon aus, dass die in der Tradition beschriebenen moralischen Gefhle der Liebe, des Wohlwollens etc. insofern auf die Ewigkeit gerichtet sind, als Menschen nach ihnen streben, um durch sie am summum bonum teilhaben und so ihre eigene Vergnglichkeit transzendieren zu kçnnen.
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Bedrftigkeit und Unsicherheit“107, die Kraft, das Subjekt so anzusprechen, dass es bereit ist, sich des Anderen vollkommen „frei von jedem Aneignungsbegehren“ anzunehmen: Gerade die Schwche des Anderen affiziert das Subjekt derart, dass es fortan aus dem Gefhl der Verantwortung, „welches dieses Subjekt an dieses Objekt bindet“108, handeln wird. Doch inwiefern handelt es sich beim Verantwortungsgefhl um ein Faktum, und mit welcher Berechtigung kann Jonas ein solches Gefhl zum subjektiven Grund einer universell gltigen Ethik erklren? Ein Faktum oder, wie Jonas an anderer Stelle selbst sagt, „eine Tatsache der Erfahrung“109 weist etwas aus, dessen Existenz sich nicht bestreiten lsst, weil wir es immer schon erfahren.110 Wenn Jonas das (Verantwortungs-)Gefhl als ein Faktum unserer Existenz verstanden wissen will, ist es Teil unseres Lebens; gleichzeitig gilt aber auch, dass sich in diesem Verantwortungsgefhl die menschliche Existenz erst zeigt. Diese zweite, anspruchsvollere Lesart besagt, dass jemand ohne Verantwortungsgefhl gar kein menschliches Leben fhrt.111 Mag man auch mit Jonas davon ausgehen, dass ein Verantwortungsgefhl unabdingbar zur menschlichen Existenz gehçrt, scheint es doch schwierig, eindeutig festzulegen, wie es sich artikuliert und durch was es 107 108 109 110
Ebd. A. a. O., 170. A. a. O., 166. Auch hier findet sich erneut eine Analogie zu Kant, der im Moralgesetz ein Faktum sieht, allerdings ein Faktum der Vernunft. Dabei ist eine doppelte Lesart mçglich: Zum einen bestimmt Kant die Vernunft – da diese allein aus sich heraus das Moralgesetz geschaffen habe – zum alleinigen Urheber des Moralgesetzes, das wir als vernnftige Menschen immer schon in uns vorfinden. Zum anderen offenbart sich gerade im Moralgesetz die Vernnftigkeit des Menschen. 111 Hierfr spricht die bereits weiter oben zitierte Stelle, in der Jonas unterstreicht, „die Auszeichnung des Menschen, daß nur er allein Verantwortung haben kann“, bedeute zugleich, „daß er sie […] auch haben muß und im einen oder anderen Verhltnis immer schon hat: die Fhigkeit dazu ist die zureichende Bedingung ihrer Tatschlichkeit. Fr irgendwen irgendwann irgendwelche Verantwortung de facto zu haben (nicht darum auch, sie zu erfllen, selbst nur zu fhlen), gehçrt so untrennbar zum Sein des Menschen, wie daß er der Verantwortung generell fhig ist – so untrennbar in der Tat, wie daß er ein sprechendes Wesen ist, und ist daher in seine Definitionen aufzunehmen, wenn einem um dies zweifelhafte Geschft zu tun ist. In diesem Sinne ist ein Sollen ganz konkret im Sein des existierenden Menschen enthalten; seine kausalfhige Subjektqualitt als solche fhrt objektive Verbindlichkeit in der Form ußerer Verantwortung mit sich.“ (Jonas, PV, 185; Hervorhebung teilweise E. B.)
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hervorgerufen wird. Denn wie bei anderen Gefhlen scheinen sowohl das Objekt, auf das sich das Verantwortungsgefhl richtet, als auch die Art und Weise dieses Fhlens von Mensch zu Mensch stark zu variieren. Daher ist zweifelhaft, ob sich das Verantwortungsgefhl auf die „richtigen“ Objekte richtet. Es kann sein, dass Menschen sich zwar durch die Hilflosigkeit ihrer eigenen Kinder, nicht aber durch die von Kindern aus den Slums von Kalkutta in ihrem Verantwortungsgefhl angesprochen fhlen, deren Hilfsbedrftigkeit, objektiv betrachtet, viel grçßer sein drfte als die eines deutschen Teenagers, der nur um seine Versetzung bangt. Hier zeigt sich, dass sich das menschliche Verantwortungsgefhl nicht zuerst und allein durch die Hilflosigkeit, sondern ebenso durch die Nhe zum Objekt bestimmt. Damit scheint aber Jonas’ Anspruch, in diesem Gefhl das Fundament einer Ethik fr die Zukunft entdeckt zu haben, fragwrdig. Denn unklar ist, ob und inwiefern Menschen wirklich gegenber Objekten, zu denen sie kein persçnliches Verhltnis haben, stets so etwas wie ein Verantwortungsgefhl entwickeln kçnnen, noch dazu, wenn es gerade nicht allein in ihrer Macht liegt, sie durch ihr Handeln vor Schaden zu bewahren.
II.1.3. Wie lsst sich verantwortlich handeln? – Verantwortung fr die Zukunft Im nun folgenden Abschnitt werde ich Jonas’ Zukunftsethik detaillierter vorstellen und der Frage nachgehen, wie seine Vorschlge fr eine verantwortliche Praxis aussehen und zu bewerten sind. Dabei besteht die Schwierigkeit, dass Jonas sich bei der Darlegung seiner Zukunftsethik eng an die zwei von ihm als paradigmatisch erachteten Verantwortungsrelationen (die „des Staatsmannes“ und die der Eltern) anlehnt,112 so dass sich an einigen Stellen schwer entscheiden lsst, ob es ihm noch um die Darstellung der beiden Paradigmata oder bereits um Ausfhrungen zu seiner Ethik der Zukunftsverantwortung geht. Ein Grund hierfr ist sicherlich, dass Jonas in der von ihm intendierten Zukunftsverantwortung nur eine Weiterentwicklung und bertragung der an den paradigmatischen Verantwortungsverhltnissen hervorgehobenen Merkmale auf eine andere Ebene sieht – was aber, wie ich zeigen mçchte, zu einigen unlçsbaren Problemen fhrt. Im Folgenden werde ich in komprimierter Weise Jonas’ Zukunftsverantwortung vorstellen (3.1). Im Anschluss soll genauer skiz112 Siehe oben, Abschnitt II.1.1.2., 57 f.
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ziert werden, wer hier in welcher Weise fr was verantwortlich handeln soll (3.2), wobei auf einige, fundamentale Unzulnglichkeiten der Jonas’schen Ethik hinzuweisen ist. II.1.3.1. Jonas’ Zukunftsverantwortung Um der aus dem Machtgewinn des Menschen und dem Eigenwert der Natur und der Menschheit resultierenden Verantwortung fr den Fortbestand des Planeten Rechnung tragen zu kçnnen, beansprucht Jonas, eine neue Ethik zu entwickeln. Auf Kants kategorischen Imperativ anspielend, formuliert Jonas als obersten, seines Erachtens ebenso kategorisch geltenden Imperativ seiner Ethik: „,Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung vertrglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden‘; oder negativ ausgedrckt: ,Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung nicht zerstçrerisch sind fr die knftige Mçglichkeit solchen Lebens‘ […].“113 Auch Jonas’ Zukunftsethik soll also kategorisch und universell gelten. Einziges Kriterium dieser Ethik, an dem sich alle Handlungen bemessen lassen mssen, ist ihr Ziel, dass auch in Zukunft „echtes menschliches Leben“ mçglich ist. Damit handelt es sich um eine konsequentialistische Ethik: Eine Handlung ist dann gut, wenn die voraussagbaren Handlungsfolgen (Jonas scheint davon auszugehen, dass sich diese objektiv angeben lassen) die Zukunft des Planeten und der Menschheit nicht gefhrden.114 Fragt man, wie sich prfen lsst, ob Handlungen dieses Kriterium erfllen, wird man auf zwei zu erfllende Pflichten verwiesen:115 zum einen die Pflicht, sich eine Vorstellung vom mçglichen „malum“116 zu machen, und – damit diese Vorstellung handlungswirksam wird – zum 113 Jonas, PV, 36. 114 Mindestens zwei Schwierigkeiten scheinen darin impliziert: 1.) lassen sich Folgen nur selten mit absoluter Sicherheit bestimmen, sondern nur als mehr oder weniger wahrscheinlich; 2.) kçnnen Folgen nicht vollstndig berblickt werden. 115 In Technik, Medizin und Ethik fordert Jonas eine neue Wissenschaft, die „Futurologie“, die „uns die Fernwirkungen sehen lßt“ und dazu dienen soll, unsere Macht „zu berwachen und vor sich selbst zu schtzen“. Dies kçnne sie allein, „wenn das von ihr gewusste, d. h. als mçglich oder wahrscheinlich Gezeigte, in der Anschauung erlebt wird, so daß es das ihm angemessene Gefhl in uns erzeugt, das zum Handeln bewegt.“ (Hans Jonas, Technik, Medizin und Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwortung, 65.) 116 Jonas, PV, 64.
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anderen die Pflicht, dafr zu sorgen, dass man sich „vom erst gedachten Heil und Unheil kommender Geschlechter affizieren“117 lasse. Denn neben dem objektiven Grund, dass Menschen die Pflicht haben, fr den Fortbestand der Menschheit und darber hinaus den der Natur zu sorgen, ist fr Jonas, wie bereits hervorgehoben, deren affektive Wirkung von großer Bedeutung: Menschen sollen sich von der Natur ebenso angesprochen und zu frsorglichem Handeln aufgerufen fhlen wie von der Hilflosigkeit oder Angewiesenheit anderer Menschen. Vçllig unklar bleibt allerdings, was Menschen tun sollten, um sich von der Hilfsbedrftigkeit der Natur affizieren zu lassen. Weiter fordert Jonas eine „imaginative[…] Kasuistik […], die nicht wie Kasuistik sonst in Recht und Moral der Erprobung schon bekannter Prinzipien dient, sondern der Aufsprung und Entdeckung noch unbekannter“118. Jonas selbst gibt als einzige Richtschnur hierfr, „daß der Unheilsprophezeiung mehr Gehçr zu geben ist als der Heilsprophezeiung“119 und man, „streng genommen, um nichts wetten darf, was einem nicht gehçrt“, wobei er selbst darauf hinweist, dass es in Anbetracht komplexer Situationen und schwer absehbarer Nebenfolgen unserer Handlungen fast unmçglich sein kçnnte, „das Schicksal Anderer“ nicht „in Mitleidenschaft“ zu ziehen.120 Im Hinblick auf die von ihm als zentral erachtete Frage der konkreten Anwendung bleibt Jonas’ Projekt einer Zukunftsethik somit lckenhaft und unprzise. Zahlreiche Textpassagen klingen eher wie dringliche Appelle. Jonas selbst ist sich der Vagheit seines Unternehmens sehr wohl bewusst – in seinem anwendungsorientierten Buch Technik, Medizin und Ethik rumt er ein, dass „das Problem, wie der gewaltigen Verantwortung entsprochen werden kann, die der schier unwiderstehliche wissenschaftlich-technische Fortschritt sowohl auf seine Trger wie auf die ihn genießende oder erleidende Allgemeinheit legt, noch gnzlich ungelçst ist, und die Wege zu seiner Lçsung […] im Dunkeln“121 liegen. Nach meinem Dafrhalten besteht die Hauptschwierigkeit bereits auf einer darunter liegenden Ebene. Ohne die genauere Bestimmung, wer eigentlich fr was und vor wem Verantwortung tragen soll, bleibt notwendig offen, wie dieser Verantwortung entsprochen werden kann. 117 118 119 120 121
Ebd. A. a. O., 67. A. a. O., 70. A. a. O., 77. Jonas, Technik, Medizin und Ethik, 108.
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Ein anderes von Jonas selbst berhaupt nicht thematisiertes Problem liegt m. E. darin, dass er mit seiner Zukunftsethik zwar allgemein eine Verantwortungsethik entwickeln mçchte, jedoch ausschließlich Verantwortung im globalen Sinne, nmlich die fr die Zukunft des Planeten und der Menschheit vor Augen hat. Demnach kann Jonas’ Ethik keine befriedigende Antwort auf die weiter gefasste Frage geben, wie grundstzlich (also nicht nur im Hinblick auf drohende çkologische Katastrophenszenarien) verantwortlich zu handeln ist. Das bedeutet aber zugleich – wenn auch Jonas selbst das nicht ausdrcklich hervorhebt –, dass seine Ethik, sofern sie als Handlungsziel in erster Linie den Fortbestand des Planeten und der Menschheit verfolgt, wesentlicher Ergnzungen bedrfte, um mehr sein zu kçnnen als eine Ethik fr einen „Ausnahmezustand“122. II.1.3.2. Verantwortliche Praxis und die Relata von Verantwortung Auch Jonas geht fr seine Zukunftsethik, wie im ersten Abschnitt dieses Kapitels herausgearbeitet wurde, von einem dreistelligen Verantwortungsbegriff aus: Menschen (Subjekt) sind fr die bedrohte Zukunft der Welt (Objekt) vor einer sie in Frage stellenden Instanz verantwortlich. Doch sind die Verantwortungsrelata bei Jonas nur sehr vage, keineswegs ausreichend bestimmt, und darin liegt ein Teil der Schwierigkeiten begrndet, eine verantwortliche Praxis zu konzipieren. Was zunchst das Subjekt von Verantwortung in Jonas’ Zukunftsethik angeht, so wurde es im ersten Abschnitt dieses Kapitels allgemein als der Mensch identifiziert, da dieser die fr Jonas entscheidenden drei Kriterien erfllt: handeln zu kçnnen, ein der Sprache fhiges Wesen zu sein und schließlich ein Gefhl der Verantwortung zu haben. Dennoch ist offen, was genau Jonas unter „der Mensch“ versteht; seine Aussagen oszillieren zwischen zwei Alternativen, wobei die eine wiederum zwei Lesarten zulsst: Es 122 Jonas kann offensichtlich nicht beanspruchen, mit seinem kategorischen Imperativ ein hinreichendes Moralprinzip entwickelt zu haben – schließt dieser doch beispielsweise nicht aus, andere Menschen zu foltern, einzusperren, ja sogar zu tçten, solange damit nicht die menschliche Existenz als ganze gefhrdet wird. In seiner Ethik geht es Jonas ausschließlich um die Frage, wie die Zukunft des Planeten und der Menschheit gesichert werden kçnnen. Diese hat oberste Prioritt, denn sollte unsere Welt wirklich untergehen, bedrfte es auch keiner anderen Ethik mehr. Sobald die Gefahr gebannt ist, wrde aber sicherlich auch Jonas mehr fordern als allein den Erhalt des Planeten, auch wenn er sich dazu in der Formulierung seines Imperativs nicht explizit ußert.
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kann entweder (I) der Mensch bzw. die Menschheit verantwortlich sein, wobei nicht klar ist, ob (a) jeder Menschen allein Verantwortung trgt oder (b) alle Menschen gemeinsam. Es ist aber auch mçglich, dass (II) der Mensch im Sinne von: „diejenigen Teile der Menschheit, die in der Lage sind, die richtigen Entscheidungen zu treffen und Handlungen zu vollziehen“ gemeint ist, dass also nur eine kleine Elite von Menschen fr die Zukunft verantwortlich ist. (I) Fr die erste Alternative – ohne hier schon zwischen den beiden mçglichen Lesarten unterscheiden zu wollen – sprechen zunchst die Textstellen, in denen Jonas Verantwortung aktuell aus der Macht, die „der Mensch“ ber die Natur gewonnen hat, ableitet. So lautet ein Passus in Technik, Medizin und Ethik: Indem die Technik seine Wirkungsgewalt bis zu dem Punkte vergrçßert, wo sie fhlbar gefhrlich wird fr den Gesamthaushalt der Dinge, dehnt sie des Menschen Verantwortung auf die Zukunft des Lebens auf Erden aus, das nunmehr wehrlos dem Mißbrauch dieser Gewalt ausgesetzt ist. Die menschliche Verantwortung wird damit zum erstenmal kosmisch […].123
Weil „der Mensch“ durch die Errungenschaften moderner Technologie Macht ber die Natur gewonnen hat, ist er auch fr sie verantwortlich. Doch ist es in den meisten Fllen nicht der einzelne Mensch, der an Macht gewonnen hat. Dieser ist nach Jonas viel ohnmchtiger als je zuvor124 : Da die moderne Welt wesentlich auf Arbeitsteilung beruht und Kausalittsbeziehungen immer unentwirrbarer werden, lassen sich immer seltener Vorgnge als Handlungen einzelner Subjekte beschreiben, die als deren Verursacher dann auch verantwortlich gemacht werden kçnnten. Vielmehr scheinen in vielen Fllen verschiedene Ursachen und Handlungssubjekte zusammenzuwirken – wer trgt dort Verantwortung? Jonas bleibt eine eindeutige Antwort auf diese Frage schuldig. Manche Textstellen legen nahe – und das wre die Lesart (I) (b) –, dass es eben nicht einzelne Menschen jeweils fr sich sind, die Verantwortung tragen, sondern die Menschen gemeinsam: Was kçnnen „wir“ dazu tun, „wir“, nmlich dieses ganze große, als Ganzes handelnde Super-Subjekt, die heutige technisch-zivilisierte Menschheit – was kçnnen wir dazu tun, dass sie sich nicht so verhlt, dass die zuknftigen Mçglichkeiten von Menschen, wie wir es sind, oder wie sie sein sollten in einer annehmbaren Welt, im voraus in Frage gestellt werden? Dass es also diese Existenzmçglichkeiten weiterhin gibt, im doppelten Sinne der Ermçglichung 123 Jonas, Technik, Medizin und Ethik, 47; Hervorhebung E. B. 124 Siehe hierzu Jonas, PV, 253 f.
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des berlebens als solchen und eines menschlich wrdigen, unverdorbenen Daseins?125
Doch hierin liegt ebenfalls eine Schwierigkeit, und Jonas lsst nicht erkennen, welche konkreten Schlussfolgerungen aus seinen Abstraktionen zu ziehen wren: Wie kann ein „Wir“ oder „die Menschheit“ Trger von Verantwortung sein, ohne dass hinreichend klar ist, wie sie berhaupt Agens sein kann? Denn die Formulierung, dass „wir“ ein „als Ganzes handelndes Super-Subjekt“ sind, ist nicht mehr als eine Metapher; und wie die Menschheit handelt, wird nicht przisiert. Jonas versumt es, dem klassischen Handlungsbegriff (fr den die Existenz eines Subjektes vorauszusetzen ist, das ber so etwas wie „Intentionalitt, Vorausschau, Entscheidungsfhigkeit und Handlungsfreiheit“126 verfgt) einen an seine Gegenwartsbeschreibung angepassten Handlungsbegriff zur Seite zu stellen, der verstndlich machen kçnnte, wie ein „Wir“ als „Super-Subjekt“ „handelt“ und damit Verantwortung hat. Die Menschheit ist, wie Kurt Bayertz treffend kommentiert, eben kein Individuum und auch keine strukturierte Einheit von Individuen, sondern ein bloßes Konglomerat von Menschen, die jeweils ihre eigenen Ziele verfolgen, ihre eigenen Voraussagen machen und ihre eigenen Entscheidungen treffen. Die Tatsache, dass alle diese individuellen Handlungen sich zu einem Gesamtresultat addieren oder multiplizieren, konstituiert noch kein distinktes Subjekt, dem dieses Resultat zugeschrieben werden kçnnte. „Die Menschheit“ kann grammatisch als Subjekt fungieren, nicht aber praktisch.127
Wenn Jonas trotzdem die „Menschheit“ fr verantwortlich hlt, msste geklrt werden, wie diese entweder als Kollektiv handeln kann oder ob sie, auch ohne Handlungssubjekt zu sein, trotzdem verantwortlich ist. Eine Mçglichkeit, die Jonas selbst andeutet und auf die bereits im Teil I dieser Arbeit eingegangen wurde,128 bestnde darin, politische Institutionen verantwortlich zu machen – wobei hier u. a. die Schwierigkeit zu lçsen wre, dass Institutionen zu dem Zeitpunkt, an dem sie verantwortlich gemacht werden kçnnten, hufig gar nicht mehr (oder nicht mehr in ihrer ursprnglichen Gestalt) bestehen.129 Schwierig ist darber hinaus die 125 126 127 128 129
Jonas, Technik, Medizin und Ethik, 275. Bayertz, „Geschichte der Herkunft der Verantwortung“, 55. Ebd. Siehe hierzu oben, Abschnitt I.1.1., insbesondere 19 ff. Auf diese Schwierigkeiten weist G. Jakobs in einem mit Hans Jonas gefhrten Gesprch hin. (Jonas, Technik, Medizin und Ethik, 290.) – Dass Institutionen zu einem spteren Zeitpunkt des Rechenschaft-Ablegens nicht mehr existieren, ist insofern relevant, als ja gerade die Antizipation einer geschuldeten Rechtfertigung
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Frage, wie ein solches abstraktes Kollektiv das in Jonas’ Augen so notwendige Verantwortungsgefhl entwickeln soll: Dieses „Wir“, von dem schon nicht gesagt werden konnte, wie es berhaupt handeln kann, drfte noch weniger dazu in der Lage sein, Subjekt eines Gefhls zu werden.130 Sicherlich, jeder einzelne Mensch kçnnte sich als Teil einer Idee der Menschheit stellvertretend fr diese verantwortlich fhlen und dieses Gefhl zu seinem subjektiven Handlungsgrund machen. Doch reicht das individuelle Gefhl, wenn der Fortbestand der Natur und damit auch des Menschen gerade nicht durch das Handeln von Einzelpersonen allein bedroht ist? Jonas’ Ausfhrungen helfen nicht wirklich weiter, diese Fragen zufriedenstellend zu beantworten. (II) Alternativ dazu formuliert Jonas die Auffassung, dass „nur eine Elite ethisch und intellektuell die von uns angezeigte Zukunftsverantwortung bernehmen kann“131. Nicht ohne Grund hat man ihm aufgrund solcher ußerungen zumindest eine demokratiekritische, wenn nicht gar eine anti-demokratische132 Haltung vorgeworfen, wenn er etwa mit der ihm eigenen Provokanz fordert, dass die Umverteilung zwischen industriell hoch entwickelten und weniger entwickelten Regionen der Welt „freiwillig wenn mçglich, erzwungen, wenn nçtig“133, erreicht werden msse. Sicher gibt es viele gute Argumente fr eine solche Umverteilung, doch wer kann diese durchsetzen? Statt eine befriedigende Antwort zu geben, insistiert Jonas in einer Passage aus den Philosophischen Untersuchungen und metaphysischen Vermutungen auf seiner Prognose,134 „daß dem steigenden Druck
130
131 132 133 134
handlungsleitend sein soll. Wissen Handelnde, dass sie gar nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden kçnnen (auch hier kçnnen wir gar nicht anders, als die Vorstellung eines kollektiven Handelns stillschweigend durch das Handeln und Wissen von Einzelpersonen zu ersetzen), handeln sie u. U. einfach nach dem Grundsatz der eigenen Nutzenmaximierung. In dem kanadischen Dokumentarfilm The Corporation (2003) wird genau diese Schwierigkeit herausgestellt, wenn hier als Hauptunterschied zwischen einer natrlichen Person und einer „Corporation“ benannt wird, dass diese ber kein „Gewissen“, also ber kein Verantwortungsgefhl verfge. Jonas, PV, 263. – Matthias Kettner hat diese Aussage treffend als „ethische[s] Virtuosentum“ gekennzeichnet. (Vgl. Kettner, „Verantwortung als Moralprinzip?“, 422.) Vgl. exemplarisch Karl-Otto Apel, „Die çkologische Krise als Herausforderung fr die Diskursethik“, in: Ethik fr die Zukunft. Im Diskurs mit Hans Jonas, 389. Jonas, PV, 323. Dies ist nur der Form nach eine Prognose. Totalkatastrophen wie die Idee des „Untergangs der Menschheit oder des Planeten“ kçnnen Menschen genauso wenig prognostizieren, wie sie das Nichts beschreiben kçnnen. Um dennoch damit umgehen zu kçnnen, werden Beobachtungen der realen Krisen des 20. Jahrhun-
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einer weltweiten çkologischen Krise nicht nur materielle Lebensstandards, sondern auch demokratische Freiheiten zum Opfer fallen wrden, bis am Ende nur noch eine zu retten suchende Tyrannei brigbliebe“135. Nach Jonas wre diese zu billigen, wenn sie die einzige Alternative zum Untergang darstellen sollte.136 Zwar stellt auch er noch die rhetorische Frage, ob „wir mit der Zulassung der Tyrannei als Alternative zur physischen Vernichtung nicht den von uns aufgestellten Grundsatz, daß das Wie der Existenz nicht ihr Warum aufheben darf“137, verletzten. Doch ist fr ihn gewiss, „daß die ontologische Befhigung zur Freiheit, unabtrennbar wie sie ist vom Wesen des Menschen, sich nicht wirklich auslçschen, nur zeitweilig sich aus dem çffentlichen Raum verbannen lßt“138. So meint er, „mit Grund hoffen“ zu drfen, „daß – solange es Menschen sind, die berleben – mit ihnen auch das Ebenbild Gottes weiterlebt und im Verborgenen auf seine neue Stunde wartet. Mit dieser Hoffnung – die hier einmal vor der Furcht den Vorrang hat – drfen wir um der physischen Rettung willen, wenn es denn sein muß, selbst eine Pause der Freiheit in den ußeren Affren der Menschheit hinnehmen.“139 Was kann und will Jonas mit diesem zweifelhaften Gedankenspiel wirklich leisten? Damit eine solche Elite legitimerweise Verantwortung bernehmen und dementsprechend handeln kçnnte, msste Jonas Antwort geben kçnnen auf die Fragen, wie wer oder wie was eine solche Elite legitimieren kçnnte und inwiefern sie ber das nçtige Wissen zur Verhinderung des Untergangs verfgt, von dem Jonas selbst einrumen wrde, dass es nie vollstndig sein kann. Desgleichen msste die Frage beantwortet werden, wie sichergestellt werden kann, dass diese Elite in der Tat verantwortlich handelt und nicht eigenen Macht-Interessen folgt. Jonas bleibt auch hier eine zufriedenstellende Antwort schuldig, wobei er allerdings in
135 136 137 138 139
derts extrapoliert. Die historische Erfahrung, dass der deutsche Faschismus offensichtlich nicht mit demokratischen Mitteln, sondern nur mit militrischer Gewalt (einschließlich eines Bndnisses mit der Stalin’schen Tyrannei) zu berwinden war, suggeriert, dass auch eine dramatisch eskalierende çkologische Krise nur noch mit außergewçhnlichen Mitteln zu bewltigen wre. Jonas, Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, 145. Vgl. ebd. Ebd. Ebd. A. a. O., 145 f.
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einem anderen Zusammenhang140 das Legitimationsproblem von Autoritten selbst benennt: Wer soll das entscheiden und aufgrund welchen Wissens? Die Behauptung eines solchen Wissens sollte Grund genug sein, den Behaupter zu disqualifizieren. Und auf welche Standards der Auslese man sich mit was fr Grnden auch immer einigen mçge – ist Standardisierung als solche erwnscht?141
Schließlich besteht die Gefahr, dass der einzelne Mensch, indem er Macht an eine Elite bertrgt oder sie ihr berlsst, sich seiner Verantwortung gerade entledigt. Wer aber garantiert, dass die Elite oder gar eine Tyrannis die ihr bertragene oder von ihr eingesetzte Macht verantwortlich im Sinne der Zukunft des Planeten nutzt? Womit kçnnte eine tyrannische Herrschaft, die ja ebenfalls immer nur von Menschen ausgebt wird, ihre Verantwortungsbereitschaft als hçher oder besser legitimieren? Darber hinaus scheint keineswegs gewiss oder auch nur wahrscheinlich, dass eine solche Tyrannei lediglich vorbergehend die Macht bernhme, bleibt doch ebenso dunkel, wann sie wieder beendet werden kçnnte und durch wen. Dass Jonas’ Vorschlag mehr sein soll als eine sehr dramatische, nachdrckliche Warnung, scheint mir bei derart vielen offen gelassenen Fragen kaum denkbar. Andererseits wirkt diese Warnung angesichts der von Jonas als so akut drohend beschriebenen Gefahren in ihren Handlungskonsequenzen drftig: Seine Antwort auf die Frage, wer Trger der von ihm herausgearbeiteten Zukunftsverantwortung ist oder sein soll, bleibt mehr als unbefriedigend.142 Auch bei der Bestimmung des Objekts der Zukunftsethik schwanken Jonas’ Ausfhrungen zwischen verschiedenen Besetzungen. So wurde bereits darauf hingewiesen, dass Jonas zwar einerseits eine Verantwortung fr die Zukunft des Planeten einklagt – darauf zielt auch sein Begrndungsversuch, wonach der Natur ein Wert an sich zukommt –, andererseits aber (unter anderem) in seinem eigenen Imperativ allein eine Verantwortung fr die Zukunft der Menschheit formuliert. In welchem Verhltnis stehen aber diese beiden Verantwortungsobjekte zueinander und, wenn sie nicht 140 Hier geht es Jonas um die Frage, wer zu entscheiden hat, welche Form von Eugenik legitim sein kçnnte. 141 Jonas, Technik, Medizin und Ethik, 177. 142 Auch wenn man Jonas zugute halten mag, dass er sich mit dieser Denkfigur in der Gesellschaft wohl renommierter, in dieser Hinsicht aber ihrerseits zweifelhafter Befrworter einer Erziehungsdiktatur wie Platon, Lenin oder Herbert Marcuse befindet.
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identisch sind – wovon Jonas in seinem umstndlichen metaphysischen Begrndungsversuch ausgeht –, wem ist im Zweifelsfall der Vorrang einzurumen? Fr Jonas scheint die Antwort eindeutig: Die Zukunft der Menschheit ist die erste Pflicht menschlichen Kollektivverhaltens im Zeitalter der modo negativo „allmchtig“ gewordenen technischen Zivilisation. Hierin ist die Zukunft der Natur als sine-qua-non offenkundig mitenthalten, ist aber auch unabhngig davon eine metaphysische Verantwortung an und fr sich, nachdem der Mensch nicht nur sich selbst, sondern der ganzen Biosphre gefhrlich geworden ist.143
Diese Passage fokussiert zunchst die Verantwortung auf die Zukunft der Menschheit – der Mensch muss sich erst einmal selbst erhalten. Die Verantwortung fr die Zukunft der Natur scheint dieser Maxime in gewisser Weise untergeordnet. Da der Mensch aber, um zu berleben, immer schon auf die Natur angewiesen ist, muss er auch die Zukunft der Natur sichern. Das klingt wie eine Mittel-Zweck-Argumentation: Die Zukunft der Natur ist notwendige Voraussetzung fr die Zukunft der Menschheit, deshalb gilt es, jene ebenfalls zu sichern. Erst der zweite Halbsatz („ist aber auch unabhngig davon […]“) geht in dieselbe Richtung wie Jonas’ objektiver Begrndungsversuch, in der Natur ein Gutes-an-sich auszumachen: Die Natur als solche, an und fr sich, hat einen Wert; deshalb ist der Mensch verpflichtet, sie zu schtzen, weil er sie mit seiner Technik gefhrdet. Inwieweit lassen sich jedoch diese beiden Aussagen miteinander vereinbaren? Wenn Jonas als erste Pflicht die Zukunft der Menschheit bestimmt, kçnnte es so aussehen, als ob er eine Art Hierarchie der Verantwortungsobjekte aufstelle: erst die Menschheit, dann die Natur als notwendiger Lebensraum des Menschen. Einer solchen Hierarchie stnde aber Jonas’ Begrndung eines Guten-an-sich in der Natur entgegen. Denn ein Gutes-an-sich ist gerade kein komparativer, sondern ein absoluter Wert: Entweder die Natur verlangt um ihrer selbst willen geschtzt zu werden, dann gilt dies allerdings in jedem Fall; oder sie ist unter der Voraussetzung zu schtzen, dass sie eine notwendige Bedingung fr das menschliche Leben darstellt. Beides zugleich scheint nicht mçglich. Da die Begrndung eines „Guten-an-sich“ der Natur hochgradig spekulativ und somit problematisch ist, scheint einiges fr eine Lesart zu sprechen, in der die Zukunft der Natur als notwendige Bedingung fr die Zukunft der Menschheit angesehen wird und als solche zu schtzen ist. Um dem mçglichen Einwand einer Instrumentalisierung der Natur zu entgehen, 143 Jonas, PV, 245; Hervorhebung E. B.
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sollte dabei aber, wie ich im Abschnitt ber die Begrndung von Verantwortung bereits angedeutet habe, die dichotomische Trennung von Mensch und Natur fallengelassen und der Mensch als Teil der Natur verstanden werden, woraus folgt, dass die Erhaltung des Menschen die der Natur impliziert oder umgekehrt. Bestehen bliebe auch dann noch die Schwierigkeit, ob und wie berhaupt die Menschheit oder die Natur als abstrakte Grçßen ein Verantwortungsgefhl auslçsen kçnnen, fehlt hier doch das fr Jonas so entscheidende Moment der sinnlichen Affektion. Zu erwgen wre immerhin, ob es sich bei Jonas’ Formulierungen um eine Art metaphorische Sprachfigur handelt, die nicht praktisch zu konkretisieren ist, sondern nur mit großer Emphase darauf hinweisen soll, dass kein Mensch und kein Aspekt oder Bestandteil der Natur aus der Verantwortung ausgeschlossen werden darf. Mit Blick auf die Instanz der Zukunftsethik schließlich ist zu fragen, vor wem Jonas den Menschen bzw. die Menschheit (oder vielleicht doch eine – wie immer legitimierte – politische Elite) eigentlich verantwortlich sieht. In dieser Hinsicht scheint mir Jonas’ Theorie am problematischsten, auch weil Jonas selbst fast gar nichts dazu sagt. Bercksichtigt man allein seine Schrift Prinzip Verantwortung, wird man vergeblich nach einer Bestimmung der Instanz fr die Zukunftsverantwortung suchen, so dass man zu dem Schluss verleitet sein kçnnte, Jonas selbst gehe in seiner neu entwickelten Zukunftsethik – entgegen der im 1. Abschnitt dieses Kapitels herausgestellten Notwendigkeit einer solchen Instanz – nur von einem zweistelligen Verantwortungsbegriff aus: Jemand ist fr etwas oder jemanden verantwortlich. Gegen diese Vermutung spricht allerdings eindeutig eine Passage aus Jonas’ letzter Schriftensammlung Philosophische Untersuchungen und Metaphysische Vermutungen, in der er Verantwortung noch einmal explizit (und mit bemerkenswerter Klarheit) als Rechenschaftspflicht beschreibt: Ich bin verantwortlich mit meiner Tat als solcher (ebenso wie mit ihrer Unterlassung), und das gleichviel, ob jemand da ist, der mich – jetzt oder spter – zur Verantwortung zieht. Verantwortung besteht also mit oder ohne Gott, und natrlich erst recht mit oder ohne einen irdischen Gerichtshof. Dennoch ist sie, außer fr etwas, die Verantwortung vor etwas – einer verpflichtenden Instanz, der Rechenschaft zu geben ist. Diese Instanz, so sagt man wohl, wenn man an keine gçttliche mehr glaubt, ist das Gewissen. Aber damit verschiebt man nur die Frage auf die nchste, woher denn das Gewissen seine Kriterien
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hat, durch welche Quelle seine Entscheide autorisiert sind. Vor wem oder was sind wir dann in unserm Gewissen verantwortlich?144
Einige Abstze weiter antwortet Jonas berraschend eindeutig: Wenn nun (und wann immer) die Voraussetzung – wiederum eine ontologische –, dass Seiendes werthaltig ist, vorliegt, dann wird dessen Sein mit einem Anspruch an mich begabt; und da durch dies Besondere die Werthaltigkeit des Seins im Ganzen mich anspricht, so erscheint letztlich dies Ganze als dasjenige nicht nur, fr das ich jeweils partikulr mit meinem Tun verantwortlich werde, sondern auch als das, wovor ich immer schon mit all meinem Tunkçnnen verantwortlich bin – weil sein Wert ein Recht auf mich hat. Damit ist gesagt, dass vom Sein der Dinge selbst – nicht erst vom Willen eines persçnlichen Schçpfergottes ihretwegen – ein Gebot ergehen und mich meinen kann. […] Das Sein von dem oder jenem ist es, wofr die einzelne Tat eine Verantwortung eingeht; das Sein des Ganzen in seiner Integritt ist die Instanz, wovor sie diese Verantwortung trgt.145
Zwar grenzt Jonas sich hier gegen eine traditionelle Bestimmung von Verantwortung ab, die den irdischen Gerichtshof oder Gott selbst als Instanz bestimmt, vor der man Verantwortung zu tragen hat.146 Gleichwohl hlt er weiter an der Notwendigkeit einer Instanz fest. Doch wer ist „dies Ganze“ oder noch nebulçser „das Sein des Ganzen in seiner Integritt“, vor dem es sich zu verantworten gilt? Offensichtlich sieht Jonas eine Verbindung zwischen Instanz und Objekt der Verantwortung, wenn er przisiert, „dies Ganze“ sei auch dasjenige, wofr „partikulr“ Verantwortung bernommen werde. Dieses hat Jonas an anderer Stelle auch als die Zukunft des Planeten oder aber als Zukunft der Menschheit bestimmt. Anders formuliert, ließe sich Jonas dann so verstehen: Verantwortung fr die Zukunft des Planeten oder der Menschheit zu tragen heißt, sich beispielsweise bei der Lçsung konkreter Umweltprobleme von einer Idee des Menschen bzw. des Planeten leiten zu lassen, „vor“ der man sein Handeln ausweisen muss, in dem Sinne, dass der Handelnde selbst sein Tun immer an dieser Idee von Menschheit und Planet bemisst. Inwiefern ist dann die Instanz nicht doch einfach das von einer bestimmten Idee geprgte Gewissen? Fr Jonas scheint aber gerade diese „objektiv“ geltende gehaltvolle Idee vom Sein und nicht etwa persçnliche Prferenzen das Entscheidende, an dem sich das Handeln beurteilen lassen muss. Verantwortung fr die Zukunft des Planeten oder der Menschheit hieße dann, unter der Vorstellung einer 144 Jonas, Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, 130. 145 A. a. O., 131 f. 146 Siehe zum Ursprung von Verantwortung etwa Bayertz, „Geschichte der Herkunft der Verantwortung“, 3 – 19; Heidbrink, Kritik der Verantwortung, 60.
II.1.4. Zwischenfazit
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Rechenschaftspflicht so zu handeln, dass sich dieses Handeln auch im Hinblick auf die Idee einer menschenwrdig lebenden Menschheit und eines die Menschheit beherbergenden Planeten vor dem eigenen Gewissen rechtfertigen ließe.
II.1.4. Zwischenfazit Hans Jonas’ Prinzip Verantwortung kann als der erste wirkungsmchtige (deutschsprachige) Versuch gelten, eine moralphilosophische Theorie der Verantwortung zu entwickeln. Dabei sucht Jonas mit seiner Theorie Antworten auf drngende Probleme der heutigen Zeit zu geben, die sich zum einen durch fortschreitende Globalisierung und Industrialisierung sowie die zunehmende Technisierung der Lebenswelt auszeichnet, zum anderen durch einen Mangel an universell anerkannten Normen und durch das Fehlen einer Ethik, die sich nicht allein auf den Menschen konzentriert. Neben der philosophischen Frage, wie eine solche Verantwortung zu begrnden wre, steht deshalb die strker anwendungsorientierte Frage, wie sich angesichts dieser Probleme verantwortlich handeln lsst, im Zentrum von Jonas’ Interesse. Verantwortung tragen zu kçnnen ist nach Jonas ein Wesensmerkmal des Menschen. Denn Menschen zeichnen sich nicht allein dadurch aus, dass sie handeln und sprechen kçnnen – fr Jonas notwendige Bedingungen von Verantwortung; sie verfgen auch ber ein Verantwortungsgefhl, das durch die Unselbstndigkeit und Ohnmacht von Anderen angesprochen wird. Das bewegt sie, im Bewusstsein der eigenen Macht so zu handeln, dass sie sich jederzeit fr dieses Handeln rechtfertigen kçnnten. Auch Jonas geht somit von einem dreistelligen Verantwortungsbegriff aus: Menschen (als Subjekt) sind aufgrund ihrer Macht und eines Gefhls fr das Wohl von Hilfsbedrftigen wie auch fr die von der menschlichen Handlungsmacht betroffenen Natur (als Objekte der Verantwortung) vor einer im eigenen Gewissen reprsentierten Idee vom „Sein des Ganzen in seiner Integritt“ (als Instanz) verantwortlich: Die Unselbstndigkeit und Hilfsbedrftigkeit des Objekts lçst im Subjekt ein Gefhl der Verantwortung aus, welches das Subjekt dazu motiviert, sich um den weniger mchtigen Anderen handelnd zu sorgen. Mehr oder weniger konkret bestimmt Jonas in seiner Zukunftsethik ein solches Verantwortungsverhltnis fr die Zukunft der Menschheit und des Planeten: In Anbetracht der Gefahren, die dem Planeten und der Menschheit drohen, und der ande-
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rerseits gewachsenen Handlungsmacht sieht Jonas Menschen fr den Fortbestand von Planet und Menschheit verantwortlich. Zwar vertritt Jonas zunchst die These, dass Verantwortung eine Art Wesensmerkmal des Menschen darstellt und ihm damit immer schon zukommt; Jonas unternimmt darber hinaus jedoch auch den Versuch zu begrnden, warum Menschen die von ihm geforderte Zukunftsverantwortung tragen mssen. Unbefriedigend an dieser Begrndung ist vor allem, dass sie nicht ohne die problematisch bleibende Annahme einer Zwecksetzung der Natur auskommt. Fragwrdig ist weiterhin, inwiefern Jonas davon ausgehen kann, dass das von ihm als Faktum behauptete und gleichzeitig fr seine Zukunftsethik als notwendig erachtete Verantwortungsgefhl wirklich durch solch abstrakte Grçßen wie die Zukunft der Menschheit oder des Planeten ausgelçst werden kann. Denn schließlich scheint Jonas weniger eine allgemeine Begrndung fr Verantwortung als vielmehr eine Begrndung fr eine bestimmte, allerdings sehr umfassende Pflicht geliefert zu haben: nmlich dass Menschen, weil sie den Fortbestand der Menschheit und des Planeten gefhrden kçnnen, die Pflicht haben, diese Gefahren abzuwenden. Eine der Strken der Jonas’schen Philosophie liegt in der Tatsache, dass sie neben der Frage nach einer Begrndung die nach der Anwendung seiner Ethik, d. h. die nach einer verantwortlichen Praxis stellt. Gleichwohl bleiben die Vorschlge fr eine Antwort auch auf diese Frage unbefriedigend. Denn bereits die Identifikation der zu besetzenden Relata ist nach der Prfung der Jonas’schen Texte problematisch: Weder kann wirklich klar bestimmt werden, wer hier verantwortlich ist, noch wofr und vor wem Verantwortung zu bernehmen ist. Ohne eine klare Benennung dieser drei Relata bleibt aber fraglich, wie berhaupt eine verantwortliche Praxis entwickelt werden kann.
II.2. Karl-Otto Apels Diskursverantwortung Karl-Otto Apel bezieht sich in seinen Schriften direkt auf Jonas’ Prinzip Verantwortung. 1 So greift er auch dessen Konzept einer Zukunftsverantwortung in seiner Diskursethik auf, wandelt es aber in entscheidenden Punkten ab und entwickelt es weiter. Entlang meiner drei Leitfragen werde ich nun in einem ersten Schritt zunchst auf Apels Konzept einer MitVerantwortung eingehen (II.2.1.). In einem zweiten Schritt werde ich mich im Hinblick auf seine Verantwortungskonzeption ausfhrlich mit seinem Vorschlag einer Letztbegrndung befassen (II.2.2.). Vor diesem Hintergrund soll schließlich in einem dritten Schritt die Frage diskutiert werden, wie verantwortlich gehandelt werden kann (II.2.3.).
II.2.1. Primordiale Mitverantwortung Auch wenn Apel in seinen Hauptschriften nirgendwo den Versuch unternimmt, den Begriff „Verantwortung“ allgemein oder speziell in Bezug auf die eigene Verwendungsweise detailliert zu bestimmen,2 zhlt dieser Begriff – sptestens seit Diskurs und Verantwortung – zu einem der zentralen Begriffe seiner Ethik. Denn nicht nur hlt Apel Verantwortung fr eine der drei Grundnormen, die er im „Apriori der Kommunikationsgemein-
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Siehe hierzu vor allem den Aufsatz „Verantwortung heute – nur noch Prinzip der Bewahrung und Selbstbeschrnkung oder immer noch der Befreiung und Verwirklichung von Humanitt“; in: Apel, DuV, 179 – 216, aber auch ders., „Die çkologische Krise als Herausforderung fr die Diskursethik“, 369 – 404; ders., „First Things First. Der Begriff primordialer Mit-Verantwortung. Zur Begrndung einer Makroethik“, 21 – 50; ders., „Diskursethik als Ethik der Mit-Verantwortung vor den Sachzwngen der Politik, des Rechts und der Marktwirtschaft“, 69 – 95. Etwas detaillierter ußert sich Apel erst in spteren Texten: Siehe „First Things First“, 21 – 50 sowie „Diskursethik als Ethik der Mit-Verantwortung“, 69 – 95, aber auch das im selben Band erschienene Gesprch „Primordiale Mitverantwortung. Zur transzendentalpragmatischen Begrndung der Diskursethik als Verantwortungsethik. Ein Gesprch mit Karl-Otto Apel“, 97 – 121, insbesondere 102 ff. Hier finden sich manche Unklarheiten der frheren Texte beseitigt.
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II.2. Karl-Otto Apels Diskursverantwortung
schaft“3 mitbegrndet sieht, auch der Anwendungsteil seiner Ethik befasst sich vor allem mit der Frage, wie verantwortlich gehandelt werden kann. Insbesondere in spteren Aufstzen verwendet Apel den Begriff einer primordialen Mit-Verantwortung. 4 Um zu erlutern, was er darunter versteht, bezieht er sich an zahlreichen Stellen auf Jonas’ Zukunftsverantwortung, wie sie im vorangegangenen Kapitel vorgestellt und diskutiert wurde. Dabei kritisiert Apel Jonas’ Verantwortungskonzeption in einigen zentralen Punkten fundamental, so dass hier bei der Beantwortung der Frage nach den Relata von Verantwortung – wer ist nach Apel wofr und vor wem verantwortlich? – auch auf wesentliche Unterschiede und Gemeinsamkeiten beider Konzeptionen eingegangen werden soll. II.2.1.1. Subjekt der Verantwortung Mit Jonas teilt Apel zunchst die Einschtzung, dass wir gegenwrtig in einer Krisenepoche der Menschheit leben.5 Heute habe der Mensch aufgrund seiner wissenschaftlichen und technologischen Errungenschaften so viel Macht ber die Natur gewonnen, dass es ihm mçglich sei, sie in ihrer Existenz – beispielsweise durch einen Atomkrieg, die „çkologische Krise“6 und in letzter Zeit verstrkt durch die Wirkungen des internationalen Terrorismus7 – zu gefhrden. Auf diese eminenten Bedrohungen sollte eine moderne Ethik antworten. Apel untersttzt angesichts solcher uns alle betreffenden Gefahren generell Jonas’ Forderung nach einer Makroethik, die es mçglich machen soll, „die Verantwortung der Menschheit fr die
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Unter dem Apriori der Kommunikationsgemeinschaft versteht Apel die Idee einer Ethik der Kommunikation, die jeder, der ernsthaft denkt und argumentiert, „immer schon“ anerkannt hat. Im Sinne dieses „immer schon“ erweist sich der Diskurs wie auch die in ihm vorausgesetzten Grundnormen als unhintergehbar. Siehe Apels Aufsatz „Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft“ in: ders., Transformation der Philosophie. Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Band 2, 415 ff. Dies belegt bereits der Untertitel seines 2000 erschienenen Aufsatzes „First Things First. Der Begriff primordialer Mitverantwortung. Zur Begrndung einer planetaren Makroethik“. Apel, DuV, 42. Ebd. Vgl. Karl-Otto Apel, La rponse de l’thique de la discussion. Au dfi moral de la situation humaine comme telle et spcialement aujourd’hui, 25.
II.2.1. Primordiale Mitverantwortung
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Folgen (und Nebenfolgen) ihrer kollektiven Handlungen im planetaren Maßstab zu organisieren“8. Fragt man nach dem Subjekt der Apel’schen Verantwortung, wird man diesen Aussagen gemß, wie schon bei Jonas, auf „den Menschen bzw. die Menschheit“ verwiesen. Erster Grund dieser Verantwortung sind die ausgeweiteten Handlungsmçglichkeiten: Weil die Menschen mit ihrem Handeln die Zukunft des Planeten bzw. der Menschen gefhrden kçnnen, tragen sie dafr auch Verantwortung. Auch nach Apel ist Verantwortung zunchst an die Handlungsfhigkeit des Menschen gebunden – Menschen sind aufgrund ihrer wissenschaftlichen und technischen Mçglichkeiten heute in der Lage, mit ihrem Handeln die Zukunft des Planeten zu gefhrden, deshalb sind sie auch verantwortlich. Wenn Apel fortfhrt, dass die Menschheit die Verantwortung fr Folgen und Nebenfolgen organisieren soll, erschließt sich ein weiteres Merkmal des Apel’schen Verantwortungssubjektes, denn damit sich die Menschheit organisieren kann, bedarf es einer durch sprachliche Interaktion bewirkten Koordination. Demgemß wre fr das Subjekt der Apel’schen Verantwortung zunchst festzuhalten, dass es neben der Handlungsfhigkeit auch das Vermçgen besitzen muss, sein Handeln durch Sprache zu koordinieren (eine Voraussetzung, die fr Jonas’ Begriff einer Zukunftsverantwortung nur eine untergeordnete Rolle spielt). In diesem Sinne betont auch Apel, dass das Subjekt einer solchen Mit-Verantwortung gerade nicht mit einer konkreten Person aufgrund einer bestimmten Profession oder Position in der Gesellschaft zu identifizieren sei, sondern mit allen Menschen als den Mitgliedern der unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft,9 d. h. als mit Anderen argumentierenden Wesen. II.2.1.2. Objekt der Verantwortung Die Frage nach dem Objekt der Verantwortung – wofr trgt die Menschheit bzw. tragen die Menschen Verantwortung? – beantwortet Apel ebenfalls im Anschluss an Jonas, wenn er von einer Verantwortung fr „die Folgen (und Nebenfolgen) ihrer kollektiven Handlungen im planetaren Maßstab“ spricht. Als Objekt der Verantwortung lassen sich also zunchst die Handlungen und Unterlassungen bestimmen bzw., wenn es vor allem um Folgen und Nebenfolgen geht, bestimmte, allerdings hufig nicht ganz 8 9
Apel, DuV, 42. Apel, „Primordiale Mitverantwortung“, 108.
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II.2. Karl-Otto Apels Diskursverantwortung
eindeutig abgrenzbare Handlungsbereiche. Dabei betont Apel, wie gesagt, dass diese Verantwortung fr Folgen (und Nebenfolgen) zu organisieren sei, dass nmlich das Verantwortungssubjekt eine Koordination von darauf bezogenen Handlungen leisten muss, die unter Menschen wesentlich auf sprachlichem Austausch basiert. Noch bevor Menschen, wie Apel selbst przisiert, fr „irgendwelche besonderen Aufgaben“ Verantwortung htten, trgen sie bereits Verantwortung „dafr, dass [diese Aufgaben] zugeteilt“ werden:10 Fr Apel sind alle Mitglieder der Kommunikationsgemeinschaft als solche verantwortlich fr das „Freilegen, Entdecken aller diskursfhigen Probleme in der Lebenswelt, und fr das Diskutieren selbst, damit auch fr das Zustandekommen des Diskurses und fr das Lçsen der Probleme“11, und diese Art der Verantwortung gehe jeder individuellen Verantwortung voraus. Eindeutig ist hier das Objekt von Verantwortung zwar immer noch der Handlungsbereich des Subjekts (als „Probleme der Lebenswelt“) – dieser zeichnet sich jedoch nach Apel gerade dadurch aus, dass er diskursiv vermittelt ist. II.2.1.3. Instanz der Verantwortung Sucht man schließlich eine Antwort auf die Frage, vor wem die Menschheit fr ihre kollektiven Handlungen verantwortlich ist, lsst sich zumindest den oben angefhrten Textstellen keine befriedigende Antwort entnehmen: Auch nach Apel scheint es zwar ein Subjekt und auch ein Objekt der Verantwortung zu geben, aber explizit keine Instanz, vor der jenes sich zu verantworten htte. Erst in dem bereits zitierten Interview bestimmt Apel dann doch die Instanz dieser primordialen Mitverantwortung, und zwar als all diejenigen, „mit denen […] zu diskutieren ist“12, und damit prinzipiell alle Mitglieder einer Kommunikationsgemeinschaft. Soweit ließe sich Mit-Verantwortung13 also nach Apel als die „Identifikation und Lçsung aller diskursfhigen Probleme“14 durch die allge10 11 12 13
A. a. O., 109. A. a. O., 107 f. A. a. O., 109. Und diese ist fr Apel eine „transzendentale“ Verantwortung, weil sie „schon in den unhintergehbaren Voraussetzungen der Argumentation verankert ist“. (A. a. O., 103.) Ich werde hierauf im Begrndungskapitel zurckkommen. 14 A. a. O., 105. – So tragen die Mitglieder der Kommunikationsgemeinschaft etwa auch dafr Verantwortung, „dass besondere Aufgaben im Rahmen von Institutionen zugleich mit den Institutionen selbst etabliert werden. Und es ist auch die Verantwortung fr die Kritik und Vernderung oder die Neuetablierung von In-
II.2.1. Primordiale Mitverantwortung
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meine (sprachliche) Organisation von (Kollektiv-)Handlungen verstehen. Die daran beteiligten handlungs- und sprachfhigen Subjekte sind wie bei Jonas dem Ziel verpflichtet, die Zukunft der Menschheit bzw. des Planeten zu garantieren bzw. nicht zu gefhrden. Doch auch wenn Apel sich nicht nur in seiner Einschtzung der Gegenwart, sondern auch mit seinem Begriff von Verantwortung, wie er bislang bestimmt wurde, eng an Jonas’ Forderung einer Zukunftsverantwortung anlehnt, distanziert er sich in (mindestens) fnf wichtigen Aspekten von Jonas’ Konzeption. Aus diesen Abgrenzungen gewinnt der Apel’sche Verantwortungsbegriff weitere Konturen – wobei zugleich verstndlich wird, warum Apel (anders als Jonas) in seiner Diskursethik Verantwortung zunchst und vor allem als primordiale Mit-Verantwortung verstanden wissen will. Apel betont 1.), dass die gegenwrtige Handlungssituation zwar neu, aber dennoch reprsentativ fr alle menschlichen Handlungssituationen sei; dass es sich 2.) bei Verantwortung um eine Forderung der Vernunft handele, die 3.) wesentlich an die Idee des Fortschritts gebunden und 4.) als eine gegenseitige Beziehung zu verstehen sei, und schließlich, dass 5.) Verantwortung immer auf Mit-Verantwortung beruhe, individuelle Verantwortung somit auf kollektiver Verantwortung basiere.15 1.) Auch wenn Apel generell einrumt, dass unsere Gegenwart sich von vergangenen Zeiten darin unterscheidet, dass es heute viel hufiger als frher darum gehe, die Verantwortung fr kollektive Handlungen auf globaler Ebene zu organisieren, sieht er hierin kein wesentlich neues Problem, sondern erkennt es „als reprsentativ fr die Situation des Menschen berhaupt seit der Menschwerdung“16 : Der Mensch habe bereits mit „der Erfindung von Werkzeugen und Waffen […] die organisch bedingte Entsprechung zwischen der ,Merkwelt‘ seiner Sinneserfahrung und der ,Wirkwelt‘ seiner mçglichen Handlungseffekte aufgehoben“, und stitutionen, ja sogar von sozialen Systemen globaler Art“. (Apel, „Primordiale Mitverantwortung“, 104; siehe auch hierzu 105.) 15 Fr Apel sind Menschen als Mitglieder der idealen Kommunikationsgemeinschaft – und hier noch vçllig ununterscheidbar von anderen Mitgliedern – immer schon mitverantwortlich fr alle diskursfhigen Probleme der Lebenswelt; jedoch gesteht er zu, dass „in dem Moment, in dem man anfngt zu diskutieren, sozusagen bei der je besonderen Realisierung eines Diskurses“, sich bei „jedem Teilnehmer eine individuelle Rollenverantwortung“ herausbilde. (Apel, „Primordiale Mitverantwortung“, 107.) Apel sieht also die Zuschreibung individueller Verantwortung letzten Endes in der primordialen Mitverantwortung jedes Mitglieds der Kommunikationsgemeinschaft verankert. 16 Apel, DuV, 63; Hervorhebung E. B.
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seitdem bertreffe die „mçgliche Wirkung seiner Handlungen grundstzlich die mçgliche Verhaltenskontrolle durch spezifische sinnlichemotionale Verhaltensauslçser“.17 Whrend fr Jonas die Ausweitung der menschlichen Handlungsmacht eine vçllig „neuartige Natur unseres Handelns“ hat entstehen lassen, die „eine neue Ethik weittragender Verantwortlichkeit“ verlange,18 geht Apel davon aus, dass die Gegenwart nicht einer grundstzlich anderen Ethik bedarf, sondern vielmehr einer Ausweitung oder vernderten Fokussierung von Prinzipien, die fr alle Epochen der menschlichen Entwicklung gltig sind. 2.) Jonas hatte in seinem Prinzip Verantwortung zwar konstatiert, dass Verantwortung nicht allein dem Gefhl berlassen bleiben drfe, sondern „sich aus einem einsichtigen Prinzip theoretisch rechtfertigen“ lassen msse, zugleich aber hatte er betont, fr wie bedeutsam er das Gefhl der Verantwortlichkeit erachtet; es kçnne „eine Willigkeit in uns erzeugen […], den Anspruch des Objektes auf Existenz durch unser Tun zu untersttzen“.19 Dagegen zweifelt Apel grundstzlich daran, dass es dem Menschen „angesichts der rumlichen und zeitlichen Reichweite insbesondere der kollektiven Handlungen der Menschen […] noch mçglich [ist], unmittelbar von den Folgen seiner Handlungen sinnlich-emotional betroffen zu sein“20. Apel sieht unsere Gegenwart gerade durch ein „verbreitete[s] Gefhl der Verantwortungsohnmacht“21 bedroht, das es dem Menschen erschwere, sich einfach verantwortlich zu fhlen. Deshalb msse „an die Stelle eines gewissermaßen instinkt-residualen Sndenbewußtseins […] definitiv die Verantwortung der Vernunft treten“22. 3.) Außerdem kritisiert Apel an Jonas’ Prinzip Verantwortung, dass es von der Unvereinbarkeit von Verantwortung und Fortschritt ausgehe. Whrend Jonas seine Verantwortungsethik als „eine Ethik der Erhaltung, der Bewahrung, der Verhtung“23 gegen den Glauben an Fortschritt oder Vervollkommnung setzt, hlt Apel es fr notwendig, am Fortschrittsge17 18 19 20 21 22
A. a. O., 43. Jonas, PV, 55. A. a. O., 170 f. Apel, DuV, 44. Apel, „First Things First“, 23. Apel, DuV, 44. – Darin, dass Gefhle wie Lebensformen wandelbar sind, liegt wohl auch der Hauptgrund dafr, dass Apel vehement an einer transzendentalphilosophischen Begrndung der Diskursethik festhlt. (Vgl. hierzu ders., „Primordiale Mitverantwortung“, 112.) Ich werde im nchsten Kapitel ausfhrlich auf die Frage der Notwendigkeit einer Letztbegrndung eingehen. 23 Apel, DuV, 184.
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danken festzuhalten, da nur so berhaupt der Forderung nachzukommen sei, die Zukunft des Planeten zu sichern: Bewahrung und Fortschritt stehen sich in seinen Augen gerade nicht – wie zumindest manche von Jonas’ Formulierungen vermuten lassen – unvereinbar gegenber, sondern bedingen einander, da die Natur des Menschen selbst und die „seiner, lngst schon technisch und soziokulturell umgeformten Umwelt nicht so beschaffen [ist], daß sie ohne eine regulative Idee des technologischen und des sozialen Fortschritts […] bewahrt“24 werden kann. Fr eine Gegenwart, die sich durch fortschreitende Technisierung auszeichnet, scheint damit auch eine Ethik, die allein auf dem Prinzip der Erhaltung beruht, unzulnglich – zu fortgeschritten sind die menschlichen Eingriffe in die Natur, als dass die Zukunft des Planeten ohne technischen Fortschritt berhaupt noch zu sichern wre. Und nicht nur in unserer gegenwrtigen Lage ist Fortschritt fr Apel unabdingbar: Auch wenn dem Gedanken des Fortschritts hnlich dem der Utopie eine Ambivalenz innewohne, sei doch „die Mçglichkeit einer ethischen Bewahrung der Wrde des Menschen […] a priori an die Bedingung geknpft, daß sie auch immer noch erst realisiert werden muß“25. Nicht erst die gegenwrtige Lage zwinge dazu, am Fortschrittsdenken festzuhalten; vielmehr enthalte jede „kontrafaktische Antizipation der idealen Kommunikationsverhltnisse“ immer schon eine notwendige „Verknpfung des Imperativs der Bewahrung des Daseins und der Wrde des Menschen mit dem sozialemanzipativen Imperativ des uns aufgegebenen Fortschritts in der Verwirklichung der Humanitt“. 26 Fr Apel sind Fortschritt und Bewahrung, weil sie sich gegenseitig bedingen, auch miteinander zu verbinden. Daraus folgt fr ihn zugleich, dass das Vorhandene oder bereits Erreichte nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden darf. Konsequenterweise erteilt Apel revolutionren Bestrebungen eine ebenso klare Absage wie Jonas dem Utopie-Gedanken Ernst Blochs. 4.) berdies kritisiert Apel, dass Jonas die einseitige und „nicht-reziproke“27 gelebte Verantwortung der Eltern fr ihre Kinder als Paradigma der prospektiven Verantwortung versteht. Dagegen sieht er seine Diskursethik auf dem „Prinzip der verallgemeinerten Gegenseitigkeit aller Menschen als Vernunftwesen“ gegrndet, ein Prinzip, das nach Apel selbst auf der „Ebene der Verantwortung“ nicht preisgegeben werden sollte.28 24 25 26 27 28
Ebd. Ebd. A. a. O., 213. Siehe hierzu auch Apel, „Primordiale Mitverantwortung“, 101 f. Jonas, PV, 85. Apel, DuV, 196.
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Sicherlich will auch Jonas keinesfalls zulassen, dass die aktuelle Generation der Menschheit oder auch nur ein einzelner Mensch fr die Zukunft der Menschheit geopfert wird; Apel wirft ihm dennoch vor, mit seiner Formulierung des Imperativs eine solch radikale Lçsung nicht explizit ausgeschlossen zu haben.29 Doch da Jonas an anderer Stelle selbst einrumt, dass er unter Verantwortung zwar eine einseitige Beziehung „in jedem Einzelfall“ verstehe, diese aber „umkehrbar“ sei und stets eine „mçgliche Reziprozitt“ einschließe,30 unterscheiden sich Apel und Jonas hier allenfalls graduell voneinander.31 Denn nicht immer handeln Person A und Person B zeitgleich in wechselseitiger Verantwortung, vielmehr achtet Person A, sofern sie in Verantwortung fr B handelt, fr diesen Zeitraum bzw. Bereich nicht auf Reziprozitt. Und dasselbe gilt fr das Verhltnis zwischen B und A. Die Reziprozitt stellt sich erst in einer Abfolge von Handlungen her und gilt durch das Erwachsenwerden der Kinder auch noch fr Jonas’ Eltern-Kind-Paradigma. 5.) Der wohl bedeutsamste Unterschied zwischen Apels primordialer Mit-Verantwortung und Jonas’ Konzeption einer prospektiven Verantwortung betrifft die Frage des Subjekts von Verantwortung. Wie sich im vorigen Kapitel gezeigt hat, erweist sich Jonas’ Ansatz in diesem Punkt als hçchst zweideutig und unbefriedigend. Seine Aussagen oszillieren zwischen zwei verschiedenen Modellen: Entweder ist es der Mensch bzw. die Menschheit, der / die verantwortlich ist. Oder es ist doch nur eine kleine Elite von Menschen. Auch bei Apel finden sich Stellen – wie der oben analysierte Passus deutlich belegt –, in denen er die Menschheit als das Subjekt von Verantwortung annimmt. Dennoch scheint sein Begriff der Verantwortung nicht vor die gleichen Schwierigkeiten gestellt wie die Jonas’sche Verantwortungskonzeption: Auch nach Apel gibt es zwar verschiedene Formen von individuell zurechenbarer Verantwortung,32 ihr voraus geht aber die „mobilisierbare Mit-Verantwortung“, die gerade dann zum Tragen kommt, wenn es um die „heute so brisanten Folgen und Nebenfolgen kollektiver Ttigkeiten“ geht.33 Nicht der einzelne Mensch muss nach Apel die „Verantwortung […] fr die unabsehbaren Folgen der politischen, tech29 Vgl. ebd. 30 Jonas, PV, 184. 31 Zumal Jonas betont, generisch sei „die Reziprozitt immer da […], insofern ich, der fr jemanden Verantwortliche, unter Menschen lebend allemal auch jemandes Verantwortung bin“. (Ebd.) 32 Vgl. Apel, „First Things First“, 22 ff. 33 A. a. O., 26 f.
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nischen und wirtschaftlichen Aktivitten der modernen Industriegesellschaft“34 bernehmen, vielmehr gilt es, Verantwortung im Sinne einer „Beteiligung des einzelnen an çffentlichen (konsensual-kommunikativen) Prozessen der Organisation solidarischer Verantwortung fr Institutionen und dadurch vermittelt auch fr die Folgen kollektiver Handlungen“35 zu verstehen. Dennoch, so betont Apel, schließt sein „Begriff der immer schon vorausgesetzten Mit-Verantwortung aller Menschen den traditionellen Begriff individuell zurechenbarer Verantwortung keineswegs aus“, vielmehr bildet die Mit-Verantwortung eine Art Basis „fr die immer wieder fllige Neuzuteilung von individuell zurechenbarer Verantwortung im Rahmen von Institutionen“. 36 Wie diese Zitate ebenfalls belegen, grndet Apels Verantwortungsbegriff keineswegs allein auf der Handlungsfhigkeit von Menschen. Auf Apels Forderung, die Verantwortung fr Folgen und Nebenfolgen zu organisieren, und zwar unter „Beteiligung des einzelnen an çffentlichen (konsensual-kommunikativen) Prozessen der Organisation“37, wurde bereits hingewiesen.38 Damit weist Apel Verantwortung als Teil eines Prozesses aus, bei dem Menschen durch Kommunikation mit Anderen die Folgen und Nebenfolgen von Handlungen unter Bercksichtigung der Interessen aller Betroffenen39 abwgen. Weil Subjekte handeln, tragen sie Verantwortung, der sie nachkommen, indem sich das einzelne Subjekt mit Anderen ber sein Handeln und das der Anderen verstndigt. Dabei handelt es aber nicht mehr losgelçst von Anderen, vielmehr koordinieren sich die einzelnen Handlungssubjekte in der Kommunikation mit Anderen nicht nur hinsichtlich ihres eigenen Tuns, sondern auch hinsichtlich der mçglichen, teilweise weitreichenden Konsequenzen dieses Tuns, so dass negative Folgen, die speziell aus dem ungnstigen Zusammenwirken verschiedener Einzelhandlungen resultieren, leichter vermieden werden kçnnen. Primordial ist eine solche Mit-Verantwortung nach Apel, weil der Mensch als Mitglied einer idealen Kommunikationsgemeinschaft immer schon in diesem Verhltnis steht und damit die Mçglichkeit und Pflicht hat, sich mit Anderen ber sein Tun diskursiv zu verstndigen.
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Apel, DuV, 58. A. a. O., 59. Apel, „First Things First“, 27. Apel, DuV, 58. Siehe 90 f. in diesem Kapitel. So verstehe ich hier „konsensual“.
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Grundstzlich lsst sich also festhalten: Verantwortung ist auch bei Apel eine mehrstellige Relation. Als Subjekt von Verantwortung identifiziert Apel hnlich wie Jonas die Menschheit bzw. die Menschen. Anders als Jonas geht Apel jedoch davon aus, dass sich Menschen immer schon in einer Kommunikationsgemeinschaft befinden und mit allen Anderen Verantwortung gemeinsam tragen, weil sie als Mitglieder der idealen Diskursgemeinschaft neben der Grundnorm der Gleichberechtigung aller denkbaren Argumentationspartner auch die Grundnorm der „Mitverantwortungspflicht hinsichtlich der Identifizierung und Lçsung aller diskussionsfhigen Probleme“40 anerkannt haben. So wie generell jeder Mensch als einer Diskursgemeinschaft zugehçrig Subjekt dieser primordialen Mit-Verantwortung ist, wird auch das Objekt einer solchen Verantwortung sehr weit gefasst: Die Mit-Verantwortung trgt man nach Apel nicht allein fr die „Aufdeckung bzw. Identifizierung“ aller moralisch relevanten Probleme der Lebenswelt, sondern auch dafr, diese „im argumentativen Diskurs“ zu lçsen.41 Damit ist neben dem Objekt der Verantwortung (Aufdeckung, Identifizierung und Lçsung aller moralisch relevanten Probleme der Lebenswelt) auch die Art und Weise benannt, wie dieser Forderung nachzukommen ist: im argumentativen Diskurs. Erst aus dieser Bestimmung wird ersichtlich, warum fr Apel der Begriff der Verantwortung nicht durch andere moralische Prinzipien zu ersetzen ist. Dadurch, dass alle Probleme der Lebenswelt im argumentativen Diskurs gemeinsam gelçst werden sollen, fordern, prfen und beurteilen potentiell immer zugleich alle betroffenen Mitglieder der Diskursgemeinschaft die Grnde fr eine Handlung – letztlich wird erst durch diesen Prozess des Grndeforderns, -prfens und -beurteilens gemeinsam Verantwortung getragen. Damit wird auch verstndlich, warum Apel selbst dort, wo er ein einziges Mal explizit eine Instanz der Verantwortung ins Spiel bringt,42 diese wiederum mit den Mitgliedern der Diskursgemeinschaft identifiziert: Die von ihm postulierte ideale Diskursgemeinschaft ist derart egalitr und herrschaftsfrei, dass es keiner „letzten Instanz“ oder 40 Vgl. als eine von zahlreichen Stellen, an denen Apel die primordiale Mit-Verantwortung als eine der in jeder Kommunikation immer schon vorausgesetzte Grundnorm expliziert, die wir als Mitglieder einer idealen Kommunikationsgemeinschaft immer schon anerkannt haben mssen: Karl-Otto Apel, „Normative Begrndung der ,Kritischen Theorie‘ durch Rekurs auf lebensweltliche Sittlichkeit? Ein transzendentalpragmatisch orientierter Versuch, mit Habermas gegen Habermas zu denken“, 671. 41 Apel, „First Things First“, 37. 42 Vgl. Apel, „Primordiale Mitverantwortung“, 109.
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Autoritt bedarf, die allein darber zu entscheiden htte, ob Handeln berechtigt, d. h. gut begrndet ist. So kennt der Apel’sche Verantwortungsbegriff keine Instanz als feststehende Institution, vielmehr ist er wesentlich durch das Prozedere des Diskurses, durch Grndefordern, -geben und -beurteilen gekennzeichnet, bei dem potentiell jedes Mitglied der Kommunikationsgemeinschaft – allein oder gemeinsam mit Anderen – die Rolle der Verantwortungsinstanz bernehmen kann. II.2.1.4. Diskursive Mitverantwortung in der transzendentalpragmatischen Variante Anders als Jrgen Habermas, der in seinen Schriften so gut wie nie auf den Begriff der Verantwortung43 rekurriert und allenfalls Solidaritt neben Gerechtigkeit als weiteres Moralprinzip44 nennt, bezeichnet Apel den Begriff der Mit-Verantwortung als eine der moralischen Grundnormen,45 auf die wir uns, sobald wir sprechen, immer schon eingelassen haben. In diesem Sinne und auch, wie noch gezeigt werden soll, im Rekurs auf Max Webers Begriff der Verantwortung, ist die Apel’sche Variante der Diskursethik eine Verantwortungsethik.46 Gleichwohl steht Apels Transzendentalpragmatik als Prinzipienethik in der Nachfolge Kants.47 Whrend Kant jedoch bei der Formulierung seines kategorischen Imperativs noch von einem singulr reflektierenden Subjekt ausgegangen war, formuliert Apel als diskursethisches Grundprinzip ein auf „konsensual-kommunikative Implementierung angelegtes Prinzip der verallgemeinerten Gegenseitig43 Eine Ausnahme bildet etwa der 2006 erschienene Artikel zur Frage von Verantwortung und Willensfreiheit: Jrgen Habermas, „Das Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft und das Problem der Willensfreiheit: Wie lsst sich der epistemische Dualismus mit einem ontologischen Monismus versçhnen?“, 669 – 707; wobei dennoch gilt, dass Habermas den Begriff der Verantwortung in seinen Ausfhrungen zur Diskursethik kaum explizit verwendet. 44 Vgl. Jrgen Habermas, „Erluterungen zur Diskursethik“, 155 u. 175; ders., „Treffen Hegels Einwnde gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?“, 16. 45 Vgl. beispielsweise Karl-Otto Apel, „Das Problem der Gerechtigkeit in einer multikulturellen Gesellschaft“, 108; 125; 128 f. 46 Apel, „Primordiale Mitverantwortung“, 100. Siehe auch unten den Exkurs zu Max Webers Unterscheidung in Verantwortungs- und Gesinnungsethik, 133 – 135. 47 So geht es Apel explizit darum, mit seiner Diskursethik Kants „Gesinnungsethik in Richtung auf eine echte Folgenverantwortungsethik zu berschreiten und ,aufzuheben‘.“ (Apel, „Primordiale Mitverantwortung“, 100.)
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keit“48. Statt dass jeder Einzelne prfen muss, ob die Maxime seines Handelns auch als universal-gltiges Gesetz gelten kann, indem er die „mçglichen Interessen der Betroffenen und der situationsbedingten Wirkungen der allgemeinen Befolgung von Normen“49 antizipiert, ist nach Apel diese Frage im Diskurs zu beantworten. Dennoch – und darin stimmt Apel wieder mit Kant berein – soll es sich bei diesem Grundprinzip keinesfalls nur um ein „Generationsprinzip inhaltlicher Normen“ handeln, sondern um ein „Verfahrensprinzip fr die […] praktischen Diskurse, in denen inhaltliche Normen situationsbezogen zu begrnden sind“.50 Als formale Ethik kann und will die Diskursethik selbst keine inhaltlichen Normen bestimmen, da damit ihr universeller Geltungsanspruch fraglich oder hinfllig wrde. Vielmehr ist ihr Grundprinzip wie der kategorische Imperativ Kants, der ja auch keine Maximen generiert, ein formales und universelles Prinzip, das die praktischen Diskurse der inhaltlichen Normenbegrndung anleiten soll: Es bestimmt nicht, was wir wollen sollen, sondern gibt lediglich die Kriterien an, die eine Norm erfllen muss, damit wir nach ihr handeln wollen kçnnen. Erst in praktischen, nach dem universal-gltigen Verfahrensprinzip gefhrten Diskursen kann dann auch „die Begrndung situationsbezogener inhaltlicher Normen“51 geleistet werden. Apel geht deshalb in seiner Ethik von zwei Stufen aus, die sich fundamental in ihrem Geltungsanspruch unterscheiden: Nur auf der ersten Stufe des Verfahrensprinzips, „der Stufe der reflexiven Letztbegrndung des Diskursprinzips unterstellt [die Diskursethik] die intersubjektive Konsensfhigkeit als a priori gewiß“52. Dagegen sollen die auf der zweiten Stufe gefhrten praktischen Diskurse inhaltliche Normen, die notwendig fallibel sind, rekonstruieren, begrnden und situationsgerecht zur Anwendung bringen. Mit der Einfhrung dieser zweiten Stufe mçchte Apel auch dem Vorwurf der Neo-Aristoteliker begegnen, er vernachlssige mit seiner dem Anspruch nach universal-gltigen Ethik die Frage der individuellen Glckseligkeit bzw. lasse diese gnzlich außer Acht: Durch die Annahme der Fallibilitt kann hier, auf der zweiten Stufe, der Wandelbarkeit menschlicher Bedrfnisse wie „dem Pluralismus der Wertungen im 48 49 50 51 52
Apel, DuV, 121. Ebd. A. a. O., 119 f. A. a. O., 120. Ebd.
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Sinne der verschiedenen menschlichen Lebensformen“53 Rechnung getragen werden, sofern sie nur mit „dem prozeduralen Diskursprinzip als vermittelnder und einschrnkender Bedingung vereinbar“54 bleiben. Weil aber diese material gehaltvollen Normen im Diskurs idealiter von allen kompetenten Betroffenen gemeinsam55 geprft werden, bleibt auch die Realisierung der individuellen Glckseligkeit fr Apel immer noch an die Bedingung gebunden, dass sie – gemß dem Grundprinzip – mit den Interessen aller anderen am Diskurs Beteiligten in Einklang zu bringen ist. Bei der Formulierung seines Grundprinzips greift Apel auf Habermas’ Universalisierungsgrundsatz (U) zurck, der lediglich das „ideale Kriterium der Beurteilung der im praktischen Diskurs zu berprfenden Normen“56 abgebe: (U) Jede gltige Norm muß der Bedingung gengen, daß die Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus ihrer allgemeinen Befolgung fr die Befriedigung der Interessen jedes einzelnen voraussichtlich ergeben, von allen Betroffenen zwanglos akzeptiert werden kçnnen.57
Diesen „Universalisierungsgrundsatz (U)“58 – das Prinzip der Gltigkeit einer „strittigen“ Moralnorm – unterscheidet Habermas vom Diskursprinzip: Der Universalisierungsgrundsatz (nach Habermas „eine Rekonstruktion derjenigen Alltagsintuitionen […], die der unparteilichen Beurteilung moralischer Handlungskonflikte zugrunde liegen“59) ist als Grundsatz der Verallgemeinerung einziges Moralprinzip. Der diskursethische Grundsatz (D), „[n]ur die Normen drfen Geltung beanspruchen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden (oder finden kçnnten)“60, setzt dagegen bereits voraus, „daß die Wahl von Normen begrndet werden kann“61. Mit ihm hat die Ha-
53 Ebd. 54 Ebd. 55 Apel rumt ein, dass de facto nie „alle [Mitglieder] zu der Beratung ber dieses oder jenes Thema kommen“ kçnnen; er unterstreicht jedoch, dass es „besonderer Grnde fr den Ausschluss von Personen“ bedrfe, whrend es dafr, „dass alle gleichberechtigt sind, […] keiner besonderen Begrndung“ bedrfe.“ (Apel, „Primordiale Mitverantwortung“, 109.) 56 Apel, DuV, 122. 57 Ebd. 58 Jrgen Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, 127. 59 Ebd. 60 A. a. O., 103. 61 A. a. O., 76.
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II.2. Karl-Otto Apels Diskursverantwortung
bermas’sche Diskurstheorie – als eine unter mehreren mçglichen Moraltheorien – den Universalisierungsgrundsatz in ihre Theorie integriert. Apel hingegen leitet aus dem Universalisierungsprinzip ein Handlungsprinzip (Uh) ab, das „an die Stelle des kategorischen Imperativs“ tritt und die gleiche universale Gltigkeit auf der Ebene von Handlungsbegrndungen62 fordert: (Uh) Handle nur nach einer Maxime, von der du, aufgrund realer Verstndigung mit den Betroffenen bzw. ihren Anwlten oder – ersatzweise – aufgrund eines entsprechenden Gedankenexperiments, unterstellen kannst, daß die Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus ihrer allgemeinen Befolgung fr die Befriedigung der Interessen jedes einzelnen Betroffenen voraussichtlich ergeben, in einem realen Diskurs von allen Betroffenen zwanglos akzeptiert werden kçnnen.63
Zwar akzeptiert Apel grundstzlich Habermas’ Universalisierungsprinzip, doch mçchte er aus ihm anders als Habermas nicht nur ein Verfahrensprinzip zur Prfung von Normen in „handlungsentlasteten Diskursen“64 gewinnen, sondern ein Prinzip, das in allen Situationen der Lebenswelt gleichermaßen Anwendung findet.65 Apel fordert also, wir sollten nicht nur in handlungsentlasteten Diskursen der Normenprfung nach ihm verfahren, 62 Dabei vernachlssigt Apel offenbar, dass es sich beim Kategorischen Imperativ Kants gerade um ein Prinzip zur berprfung von Handlungsnormen handelt. 63 Apel, DuV, 123. 64 Unter handlungsentlasteten praktischen Diskursen versteht Habermas „Verstndigungsprozesse, die so geregelt sind, dass Proponenten und Opponenten in hypothetischer Einstellung und von Handlungs- und Erfahrungsdruck entlastet, problematisch gewordene Geltungsansprche prfen kçnnen.“ (Habermas, MuK, 97 f.) Praktische Diskurse bestimmt Habermas auch als „ein Verfahren nicht zur Erzeugung gerechtfertigter Normen, sondern zur Prfung der Gltigkeit hypothetisch erwogener Normen.“ (132) Diese verlangen nach Habermas einen „Einstellungswechsel“, der eine „hypothetische Einstellung zu kontroversen Geltungsansprchen erlaubt“. (136) Jede der hier geprften Normen bleibt (und deshalb handelt es sich auch nie um moralische Prinzipien) von der fortlaufenden Prfung in Diskursen abhngig, denn der „diskursethische Grundsatz verbietet, bestimmte normative Inhalte […] im Namen einer philosophischen Autoritt ein fr allemal festzuschreiben“. (133) Theoretisch muss jede Norm jederzeit in ebensolchen handlungsentlasteten Diskursen erneut geprft werden. Das einzig immer Gltige ist also das Verfahren, mit dem wir die hypothetisch als gltig vorausgesetzten Normen prfen mssen: der als Argumentationsregel verstandene Universalisierungsgrundsatz (U). 65 Vgl. Apel, „First Things First“, 39. – Damit hat Apel aber eine ungleich hçhere Beweislast als Habermas. Ich werde auf diesen Punkt sowohl bei der Frage nach einer Begrndung als auch beim Anwendungsproblem zurckkommen.
II.2.1. Primordiale Mitverantwortung
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sondern vielmehr „die im Sinne des soeben skizzierten Verfahrens ermittelten Normen auf die Probleme der Lebenswelt“66 anwenden, also sie im Sinne der idealen Diskursmoral in allen Fllen der Interaktion mit Anderen […] befolgen, in denen die Befolgung zumutbar bzw. „reziprok verantwortbar“ (M. Niquet) ist, sofern man erwarten kann, daß die anderen fhig bzw. bereit sind, ebenfalls an der diskursiven Ermittlung konsensfhiger Normen mitzuwirken und nach idealiter konsensfhigen Normen zu handeln.67
Apels und Habermas’ Wege trennen sich hier. Der Geltungsbereich des Habermas’schen Diskursprinzips beschrnkt sich eindeutig auf handlungsentlastete Diskurse,68 bei denen in einer Form der Epoch – d. h. in „eigentmlicher Weise vom geschichtlich-irreversiblen Handeln des Menschen entlastet“69 – die Gltigkeit von Normen diskutiert und geprft wird, nach denen dann in der Lebenswelt gehandelt werden soll. Apel hingegen mçchte, dass wir in allen Fllen der Interaktion, berhaupt in der Lebenswelt, diesem Prinzip folgen. Dabei schrnkt er jedoch ein, dass die Befolgung zumutbar und reziprok verantwortbar sein muss. Denn auch er sieht, dass wir in der realen Lebenswelt keine idealen Diskursbedingungen vorfinden. Trotzdem stehen alle realen Diskurse fr Apel unter einem – zumindest impliziten – moralischen Anspruch. hnlich wie Jonas betrachtet Apel Verantwortung als ein, wenn nicht das Grundprinzip bzw. eine oder die Grundnorm der Moral.70 Und wie Jonas geht er davon aus, dass der Mensch nicht erst Verantwortung bernimmt, sondern immer schon Verantwortung trgt. Doch anders als Jonas meint Apel, dass Menschen Verantwortung zukommt, weil sie Diskursteilnehmer sind und daher dieser Grundnorm immer schon unterworfen sind, und zwar unabhngig davon, was sie konkret getan haben.71 Diese primordiale 66 A. a. O., 37. 67 Ebd. 68 Apel weist zu Recht darauf hin, dass „reale Diskurse, die in der Wirklichkeit durchgefhrt werden, niemals vçllig handlungsentlastet“ seien. (Apel, „Primordiale Mitverantwortung“, 114.) 69 Apel, DuV, 127. 70 So sieht Apel die Frage „warum berhaupt moralisch sein?“ auf derselben Ebene angesiedelt wie die Fragen „,warum berhaupt mitverantwortlich sein?‘“ oder „,warum berhaupt gerecht sein in dem Sinne, dass ich allen anderen prinzipiell gleiche Rechte zuordne?‘“, die er fr die „wichtigste und eigentliche Frage bei der Begrndung der Ethik“ hlt. (Apel, „Primordiale Mitverantwortung“, 110.) Vgl. auch Apel, „Das Problem der Gerechtigkeit“, 108. 71 Unklar ist bislang, inwiefern Menschen nur im Diskurs und nicht eventuell auch außerhalb von ihm leben. Ich werde im 3. Abschnitt dieses Kapitels, in dem es um die Anwendungsfrage geht, noch einmal darauf zurckkommen.
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II.2. Karl-Otto Apels Diskursverantwortung
Grundverantwortung, die alle Menschen aufgrund ihres Menschseins immer schon haben, ist fr Apel wesentlich eine Mit-Verantwortung, der niemand alleine nachzukommen hat, sondern die er als einer Diskursgemeinschaft zugehçrig mit allen Anderen teilt. Daraus ergibt sich fr Apel auch die Lçsung fr das Problem, wie selbst in einer immer komplexer werdenden Welt, in der niemand allein mehr in der Lage zu sein scheint, die Folgen und Nebenfolgen von Handlungen in vollem Umfang zu berblicken, dennoch jeder Einzelne gemeinsam mit allen Anderen verantwortlich handeln kann: indem sie sich diskursiv verstndigen. Damit ist fr Apel die Wahrnehmung von Verantwortung strker als fr Jonas als gemeinsamer Prozess der Verstndigung ber Grnde, Absichten und Folgen von Handlungen zu verstehen. Subjekte der Verantwortung sind nicht nur zum Dialog ber ihr eigenes Handeln verpflichtet, sie sind in gleichem Maße auch gehalten, als Dialogpartner das Handeln Anderer zu diskutieren. Verantwortung heißt bei Apel, dass alle Menschen als Teilnehmer einer Diskursgemeinschaft sich verantworten mssen, indem sie auch ihr interessegeleitetes Handeln im Rahmen dieser Diskursgemeinschaft koordinieren, vor Anderen mit guten Grnden rechtfertigen und zu einem Einverstndnis gelangen. Im Idealfall, dass Handlungen ganz im Einklang mit gemeinsam gefhrten Diskursen stehen, verschwindet der interessengeleitete Antagonismus mehr und mehr: In diesem Fall erbrigt sich dann auch eine Unterscheidung von Subjekt und Instanz der Verantwortung – der ideale Diskurs lsst jeden Teilnehmer des Diskurses sowohl die Subjektrolle als auch die Rolle einer Instanz bernehmen. Fraglich ist allerdings, inwieweit die Idee der Diskursgemeinschaft wirklich fr die Lebenswelt trgt: Handelt es sich dabei um mehr als eine kontrafaktische Annahme? Welche Rolle spielt die primordiale Mitverantwortung in den Situationen der Lebenswelt, in denen sich die intersubjektive Beziehung gerade nicht als Diskursgemeinschaft, sondern als Antagonismus divergierender oder gar feindlicher Positionen beschreiben lsst? Welche Verantwortung besteht hier, sind wir dann noch mit-verantwortlich oder nur noch individuell verantwortlich fr die Handlungen, die aus unseren eigenen Interessen folgen?
II.2.2. Verantwortung als nichthintergehbare Voraussetzung allen Argumentierens?
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II.2.2. Verantwortung als nichthintergehbare Voraussetzung allen Argumentierens? Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern und auf welche Weise Apel eine Begrndung fr diesen Verantwortungsbegriff gibt. Dabei ist auch auf sein in der philosophischen Fachdiskussion ausgiebig gewrdigtes Programm einer Letztbegrndung der Moral einzugehen. Zunchst werde ich Apels Begrndungsfigur im Ganzen darstellen, sodann kurz die zwei wesentlichen von seinen Kritikern vorgebrachten Einwnde wiedergeben, um daran anschließend meine Kritik speziell an der Begrndung von Verantwortung zu entwickeln. II.2.2.1. Das Faktum der Argumentation Auch wenn Apel selbst es fr unmçglich erachtet, einen nicht mehr weiter begrndbaren und begrndungsbedrftigen Grund mit Hilfe von logischen Schlussverfahren gleich welcher Art zu ermitteln, hlt er – allen Einwnden zum Trotz – an der Mçglichkeit und Notwendigkeit einer Letztbegrndung der Moral fest und behauptet, eine solche leisten zu kçnnen, wenn man „zwei Vorurteile der philosophischen Tradition als ungerechtfertigt durchschaut und berwindet“72 : Zum einen msse an die Stelle der Deduktion eine „transzendentalreflexive Besinnung auf das im Denken nicht Hintergehbare“73 treten. Zugleich gelte es den methodischen Solipsismus der klassischen Transzendentalphilosophie zu berwinden,74 denn diesem fehle es an der in jeder Ethik notwendigerweise vorauszusetzenden Intersubjektivitt.75 Die transzendentalphilosophische Methode erlaube eine Letztbegrndung, indem sie, statt die Kette der Deduktionen fortzusetzen, zeige, dass es etwas gibt, dessen wir uns immer schon bedienen, wenn wir eine Frage ernsthaft stellen76 – den argumentativen Diskurs.77 Diese unhintergehbare Prmisse 72 Apel, DuV, 444. 73 Ebd. 74 Dies ist allerdings eher durch die Natur des Begrndungsobjekts (der Moral) als durch die Mçglichkeit einer Letztbegrndung bedingt. 75 Zum Verhltnis von kantischer Transzendentalphilosophie und Transzendentalpragmatik siehe Wolfgang Kuhlmann, Reflexive Letztbegrndung. Untersuchungen zur Transzendentalpragmatik; ders., Kant und die Transzendentalpragmatik, 100 – 146. 76 Beispielsweise die Frage, ob „es eine fr die transzendentale Vernunftreflexion nichthintergehbare Situation“ gibt. (Apel, „First Things First“, 34.)
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II.2. Karl-Otto Apels Diskursverantwortung
sei insofern ein Faktum im Sinne eines „apriorischen Perfekts“, als sie auch dann noch unterstellt werden msse, „wenn jemand in empirischer Einsamkeit, aber – wie sich versteht – mit intersubjektivem Geltungsanspruch denkt“.78 Anders als das kantische Faktum der Vernunft, das Apel schon deswegen kritisiert, weil er es eben nicht fr transzendentalphilosophisch begrndet hlt, sondern darin eine metaphysische Setzung sieht,79 erfllt der Diskurs damit auch noch die zweite von Apel geforderte ergnzende Bedingung, nmlich nicht mehr vom einzelnen Subjekt auszugehen. Um den Anspruch der Letztbegrndetheit dieser Voraussetzung des argumentativen Diskurses und der darin enthaltenen drei moralischen Grundnormen zu rechtfertigen, verweist Apel darauf, dass jeder, der meint, daran zweifeln zu kçnnen, in einen „performativen Selbstwiderspruch“ gerate, denn um berhaupt einen solchen Zweifel ußern oder denken zu kçnnen, hat er diese Voraussetzung bereits in Anspruch genommen.80 Der argumentative Diskurs sei folglich fr jeden auch noch so fundamental ansetzenden Zweifel unhintergehbar. Fr eine Begrndung der Moral hlt Apel seinen Beweis insofern, als der „Wille zum ernsthaften Diskurs“81 immer schon die Anerkennung der ethischen Grundnorm(en) impliziere, nach der „alle Sinn- und Wahrheitsansprche von Menschen im Prinzip in einer unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft durch Argumente – und nur durch Argumente – einlçsbar sein mssen“82. Apel geht also davon aus, 77 Wichtig ist dabei, dass wir Sprache nicht erst im Dialog mit Anderen voraussetzen, sondern bereits das Denken jedes Einzelnen wesentlich sprachlich ist. Denn, so betont Apel, „Denken ist Denken mit Gltigkeitsanspruch, sonst ist es kein ernsthaftes Denken. Und das hat dieselben Strukturen wie die Argumentation. Wenn ich ernsthaft denke, argumentiere ich schon. Dann teile ich schon diese Strukturen und muß sie auch respektieren.“ (Sic et Non, Dialog mit Karl-Otto Apel; zugnglich ber http://www.sicetnon.org/modules.php?op=modload&name =PagEd&file=index&topic_id=81&page_id=157 [zuletzt eingesehen am 05. 12. 2010].) 78 Apel, „First Things First“, 34. 79 Nach Apel kann „Kant […] die Freiheit und Autonomie der Subjekte des moralischen Handelns nicht etwa aus der transzendentalen Einsicht gewinnen, daß diese Freiheit auch schon zu den nicht widerspruchsfrei bestreitbaren Sinnbedingungen des Denkens als des Argumentierens gehçrt. Er muß vielmehr eine […] metaphysische Freiheit intelligibler, reiner Vernunftwesen voraussetzen, um die sittliche Autonomie des Menschen verstndlich machen zu kçnnen“. (Karl-Otto Apel, „Diskursethik als Verantwortungsethik – eine postmetaphysische Transformation der Ethik Kants“, 14.) 80 Vgl. hierzu Kuhlmann, Kant und die Transzendentalpragmatik, 28. 81 Sic et Non, Dialog mit Karl-Otto Apel. 82 Apel, DuV, 46.
II.2.2. Verantwortung als nichthintergehbare Voraussetzung allen Argumentierens?
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dass jeder Mensch, allein dadurch, dass er sich durch ernsthaftes Fragen am Diskurs beteiligt, auch Mit-Verantwortung fr die Lçsung aller Probleme der Lebenswelt trgt. Sofern wir diskutieren, sind wir mit-verantwortlich. Statt etwa deduktiv eine Begrndung im Sinne einer Antwort auf die Frage zu geben, warum Menschen verantwortlich sind, versucht Apel vielmehr aufzuweisen, dass, sobald eine Frage wie die nach der Begrndung von Verantwortung gestellt wird, bereits „die Verpflichtung zur Mitverantwortung fr die argumentative […] Auflçsung der in der Lebenswelt auftretenden moralisch relevanten Probleme“83 besteht. Denn nur wenn jeder am Diskurs Beteiligte sich bemht, so weit wie mçglich die Diskursregeln einzuhalten, bzw. sich verpflichtet, fr ihre Etablierung und Realisierung zu sorgen, genau, wie er es auch fr Andere unterstellt, lsst sich die argumentative Praxis aufrechterhalten und dann auch zur Konfliktlçsung einsetzen. Unter dieser Voraussetzung ist fr Apel die Diskursethik „von vornherein keine Spezialethik fr argumentative Diskurse, sondern eine Ethik der solidarischen Verantwortung derer, die argumentieren kçnnen, fr alle diskursfhigen Probleme der Lebenswelt“84. Apels Beweis basiert auf drei Schritten, mit denen er sich eine hohe Beweislast aufldt: 1.) glaubt Apel mit dem Verweis auf den performativen Selbstwiderspruch ex negativo zeigen zu kçnnen, dass der argumentative Diskurs nicht hintergehbar ist; 2.) meint er, damit auch bewiesen zu haben, dass drei moralische Grundnormen immer schon in Anspruch genommen werden;85 3.) geht er davon aus, dass diese drei im Diskurs enthaltenen Grundnormen nicht allein fr einzelne faktische Diskurssituationen, sondern fr alle lebensweltlichen Zusammenhnge Geltung haben.86
83 A. a. O., 116. 84 Ebd. 85 Hier verluft Apels Begrndungsfigur m. E. ganz analog zum kantischen Freiheitsbeweis, den Apel wegen seiner metaphysischen und eben nicht transzendentalen Annahmen entschieden zurckweist. Kant vertrat die Auffassung, dass sich ohne die Annahme von Freiheit kein Moralgesetz denken lsst, das wir als Faktum der Vernunft immer schon haben. Anders als Kant versumt Apel zu zeigen, weshalb der argumentative Diskurs notwendig Verantwortung, Gerechtigkeit und Solidaritt impliziert. Dieses Versumnis resultiert m. E. daraus, dass Apel außerhalb dieser Begrndungsfigur viel zu wenig darber sagt, was er eigentlich unter diesen Grundnormen versteht. 86 Vor allem auf diesen dritten, in der Apel’schen Argumentation m. E. sehr anfechtbaren Schritt werde ich sowohl bei der Kritik an Apels Begrndung als auch bei der Frage nach der Mçglichkeit, verantwortlich zu handeln, zurckkommen.
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II.2. Karl-Otto Apels Diskursverantwortung
II.2.2.2. Einwnde Apel ist fr seinen Begrndungsversuch vielfach kritisiert worden. Die Mehrzahl der zeitgençssischen Philosophen hlt ein fundamentum inconcussum, wie es fr eine Letztbegrndung nçtig wre, fr unmçglich. Ihrer Ansicht nach fhrt jede Letztbegrndung in ein „unlçsbares Trilemma“87 – sie mnde entweder in einen infiniten Regress, gerate in einen logischen Zirkel oder werde willkrlich abgebrochen. Apel hat sich deswegen fr eine transzendentalphilosophische Begrndung stark gemacht. Doch auch hieran ist, nicht zuletzt von Habermas, Kritik gebt worden. Ein zweiter gewichtiger Einwand gegen das Apel’sche Begrndungsprogramm richtet sich auf das Begrndungsziel. So bezweifelt etwa Rainer Forst, ob und inwiefern es Apel wirklich gelingt, mit seiner transzendentalpragmatischen Begrndung eine zureichende Antwort auf die Frage „warum moralisch sein?“ zu geben.88 Ich werde beide Einwnde kurz referieren, um daran anschließend meine eigenen Bedenken bezglich seiner Verantwortungsbegrndung darzulegen. 1.) Gegen Apels Letztbegrndungsanspruch hat vor allem Habermas wiederholt Einwnde erhoben:89 Der Hinweis auf das Faktum, dass wir, sobald wir eine Frage ernsthaft stellen, immer schon Sprache und damit die intersubjektive Gltigkeit bestimmter moralisch gehaltvoller Prsuppositionen voraussetzen, sei fr eine Letztbegrndung der Ethik nicht hinreichend. Zwar sei „das intuitive Regelwissen“, ohne das wir am Diskurs nicht teilnehmen kçnnen, „in gewisser Weise nicht fallibel – wohl aber unsere Rekonstruktion dieses vortheoretischen Wissens und der Universalittsanspruch, den wir damit verbinden“.90 Es lasse sich aus der Tatsache, dass wir als argumentative Wesen moralisch gehaltvolle Normen unterstellen, nicht schließen, dass diese in ihrer Gltigkeit auch wahr sein mssen. Habermas 87 Bereits bei den antiken Skeptikern findet sich die These formuliert, dass dieses Trilemma unlçsbar sei, wenn Sextus Empiricus als zweiten, vierten und fnften Tropus bei den jngeren Skeptikern den des unendlichen Regresses, den der unbegrndeten Voraussetzung und den der Diallele ausmacht, aus denen wir im Begrndungsverfahren nie heraustreten kçnnen. Vgl. Sextus Empiricus, Grundriß der empirischen Skepsis, 130 – 133. Zur Kritik an einer Letztbegrndung siehe auch Hans Albert, Traktat ber Kritische Vernunft, Kap. I. 88 Siehe hierzu Rainer Forst, „Praktische Vernunft und rechtfertigende Grnde. Zur Begrndung der Moral“, insbesondere „§ 5. Der Grund der Moral“ und hier Anm. 88; aber auch ders., „Moralische Autonomie und Autonomie der Moral“, insbesondere „§ XV“, 191 ff. 89 Ich werde mich hier vor allem auf die entsprechenden Passagen in Habermas, MuK, 90 – 107, und ders., „EzD“, 184 – 199, konzentrieren. 90 Habermas, MuK, 107.
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unterscheidet also die Gewissheit, „mit der wir unser Regelwissen praktizieren“ von der „Wahrheit von Rekonstruktionsvorschlgen fr allgemeine Prsuppositionen“.91 Diese Wahrheit lsst sich aufgrund ihres per se hypothetischen Charakters nicht nur nicht beweisen – es mangelt ihr auch an empirischer berprfbarkeit. Fr Habermas fllt Apel damit zurck in die Bewusstseinsphilosophie, die dieser seinem eigenen Anspruch nach berwunden zu haben glaubt: Apel sttze „den Letztbegrndungsanspruch der Transzendentalpragmatik genau auf jene Identifikation von Aussagenwahrheit und Gewissheitserlebnis, die nur im reflexiven Nachvollzug einer vorgngig intuitiv vollzogenen Leistung, d. h. nur unter Bedingungen der Bewusstseinsphilosophie vorgenommen werden kann“92. Denn, so wird hier von Habermas vorausgesetzt, um die Wahrheit dieser Gleichsetzung zu beweisen, msste sie sich empirisch berprfen lassen – was bei Aussagen mit dem Anspruch eben transzendentaler und nicht empirischer Geltung unmçglich ist.93 Habermas kçnnte der Vorwurf gemacht werden, dass er sich, indem er die von Apel in Anspruch genommene Infallibilitt philosophischer Aussagen in Frage stellt, seinerseits in einen performativen Selbstwiderspruch verwickle. Er betont, „daß wir nicht apriori ausschließen kçnnen, daß [unsere soziokulturelle Lebensform] sich ndert“.94 Doch welchen Geltungsanspruch kann Habermas selbst mit dieser Aussage erheben? Gegenber einer apriorischen Erkenntnis meldet er Bedenken an, fr die er indes selbst keine apriorische, d. h. unbedingte Gewissheit mehr verlangen kann. Dass der Philosophie bzw. den von ihr gefllten Urteilen ber die Gltigkeit von Stzen nach Ansicht von Habermas kein gesonderter Status mehr zukommt, impliziert gleichzeitig, dass Habermas selbst mit seinem Einwand auch nichts Letztgewisses95 gegen Apel sagt, so dass er dessen Anspruch auf Letztbegrndung nichts entgegensetzen kann. Denn die Alternative, dass Habermas nur meint, wir kçnnten wahrscheinlich nicht a priori ausschließen, dass unsere Lebensform sich ndert, ergibt hier keinen Sinn – eine hnliche Position hat Habermas bereits in der Theorie des kommunikativen Handelns bezogen. Wolfgang Kuhlmann rekonstruiert diese folgendermaßen: 91 Ebd. 92 A. a. O., 106. 93 Habermas’ Einwand gegen Apels Begrndungsfigur beruht allerdings auf einem Wahrheits- und Theorieverstndnis, das er selbst – zumindest an dieser Stelle – nicht weiter hinterfragt. 94 Habermas, „EzD“, 194. 95 Natrlich beansprucht Habermas das auch nicht, doch ohne einen solchen Geltungsanspruch ist fragwrdig, ob Habermas’ Einwand gegen Apel weit genug trgt.
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Habermas behauptet hier zum einen, […] transzendentale Argumente seien allenfalls in einer schwachen Version durchfhrbar […]. Habermas erklrt zum anderen, mehr sei auch gar nicht nçtig, ja eigentlich auch gar nicht wnschenswert. Denn wenn die Ansprche ermßigt wrden, wenn der Impuls der Philosophie im Rahmen der Wissenschaften selbst zur Geltung gebracht werden kçnnte […][,] dann verliere man in Wahrheit nichts Wertvolles, sei zugleich aber das leidige Problem der Sonderstellung einer sich den Titel einer Fundamentaldisziplin bloß anmaßenden, nur formalen, leeren, gegenber den tatschlich voranschreitenden Wissenschaften ohnmchtigen und daher eigentlich obsoleten Philosophie los.96
Gegen Habermas’ Aussage, rationale Rekonstruktion habe bloß einen hypothetischen, provisorischen Status, versucht Kuhlmann zu zeigen, dass auch Habermas, um eine solche Aussage berhaupt sinnvoll machen zu kçnnen, einen zweiten Typ von Aussagen unterstellen msse, der nicht „sinnvoll selbst als fallibel oder als von bloß hypothetischer Geltung verstanden werden“97 kçnne, denn, wie oben gezeigt wurde, „wenn sich tatschlich herausstellen sollte, daß alle Aussagen als fallibel anzusehen sind, dann wrde das unmittelbar zur Zerstçrung des fr alle kognitiven Unternehmen absolut zentralen, unverzichtbaren Sprechaktes der Behauptung fhren“98. Als einzige Mçglichkeit berhaupt noch Aussagen mit Geltungsanspruch machen zu kçnnen, sieht Kuhlmann: Wer einen vernnftigen Fallibilismus vertreten wolle (und das wollen sowohl Habermas als auch Apel), „der muß Ausnahmen vom Fallibilismusprinzip vorsehen, d. h. der muß gerade die Mçglichkeit der zweiten Typen von Aussagen zugeben, ber die wir hier handeln: solche mit Vorbehalt und solche ohne diesen und ohne hypothetischen Status“99 ; ohne solche wesentlich nicht-falliblen Aussagen zuzulassen, kçnne man gar nicht mehr wissen, „was fallibel eigentlich bedeutet, man kann dann den Ausdruck fallibel nicht mehr verstehen“100, denn dieser setze immer schon ein Wissen ber Kriterien, Maßstbe, Methoden voraus, mit denen wir etwas als wahr oder falsch bestimmen kçnnen; wenn wir dieses 96 Kuhlmann, Kant und die Transzendentalpragmatik, 190. 97 A. a. O., 192. 98 A. a. O., 191. – Nach Kuhlmann msste dann, weil „jede Aussage einen Fallibilismusvorbehalt verdiente, […] auch jede durch Einfgung eines solchen Vorbehalts entstehende neue Aussage wieder mit einem Fallibilismusvorbehalt versehen werden. Dann aber kçnnte man mit der Aussage: ,X verhlt sich so und so‘ in Wirklichkeit nur noch meinen: ,Es ist unsicher, daß es unsicher ist … (Periode) …, daß sich x so und so verhlt.“ Das fhre dazu, dass schließlich „nichts mehr mit Geltungsanspruch vorgebracht werden“ kçnne. 99 A. a. O., 192. 100 Ebd.
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„Fallibel“ ebenfalls fr fallibel halten mssen, wissen wir schließlich nicht einmal mehr, was „fallibel“ selbst heißt. „Zu vermeiden“, so meint Kuhlmann nach meinem Dafrhalten zu Recht, seien „diese unerfreulichen Konsequenzen nur durch Selbsteinschrnkung des radikalen Fallibilismus: Es kçnnen nicht alle Aussagen als fallibel angesehen werden. Zumindest die Aussagen, die der Fallibilist selbst in Anspruch nehmen muß, um seine Position zu behaupten, zu erlutern oder zu begrnden bzw. zu verteidigen, mssen vom Fallibilismusvorbehalt ausgenommen werden.“101 Zuzustimmen ist Kuhlmann außerdem darin, dass fr jede Theorie auf einer bergeordneten Ebene Aussagen unverzichtbar sind, die selbst nicht mehr fallibel sind, die deshalb aber auch nicht mehr empirisch berprft werden kçnnen. Dennoch hlt Habermas aufgrund der oben vorgestellten Bedenken die Idee einer Letztbegrndung auch gegen Kuhlmanns kritische Einwnde fr entbehrlich: Freilich entsteht auch gar kein Schaden, wenn wir der transzendentalpragmatischen Begrndung den Charakter einer Letztbegrndung absprechen. Vielmehr fgt sich dann die Diskursethik ein in den Kreis jener rekonstruktiven Wissenschaften, die es mit den rationalen Grundlagen von Erkennen, Sprechen und Handeln zu tun haben. Wenn wir den Fundamentalismus der berlieferten Transzendentalphilosophie gar nicht mehr anstreben, gewinnen wir fr die Diskursethik neue Mçglichkeiten der berprfung. Sie kann, in Konkurrenz mit anderen Ethiken, fr die Beschreibung empirisch vorgefundener Moral- und Rechtsvorstellungen eingesetzt […] und auf diese Weise einer indirekten berprfung zugnglich gemacht werden.102
Trotz dieser eindeutigen Absage an Apels Letztbegrndungsprogramm scheint fragwrdig, inwiefern Habermas sich de facto wirklich davon dis101 A. a. O., 193. – Vgl. zu diesem Punkt auch Apel, „Normative Begrndung“, insbesondere 655 f., Anmerkung 7: „Zu beantworten bleibt noch die von Kuhlmann und mir aufgeworfene Frage, ob man auch von den philosophischen Aussagen, welche den Fallibilismus-Vorbehalt, und demzufolge das Postulat der immer erneuten Falsifikationsversuche, beinhalten, sinnvollerweise erwarten kann, daß sie sich eines Tages als fallibel erweisen. Das entscheidende, sinnkritische Argument gegen diese Mçglichkeit lautet: Wenn – bzw. in dem Maße, in dem – dies eintreten wrde, kçnnte man nicht mehr verstehen, was ,fallibel‘ bzw. ,Falsifikation‘ berhaupt bedeutet; denn es geht ja jetzt um Aussagen, die das Fallibilismus-Prinzip bzw. die darin notwendigerweise implizierten Prsuppositionen explizieren (es handelt sich genau um die notwendigen Prsuppositionen der Argumentation, die Habermas selbst im Diskurs- und Konsenspostulat expliziert hat). Diese Aussagen kçnnen allenfalls als Sinn-Explikation unter der Voraussetzung ihrer eigenen Wahrheit korrigiert werden, aber sie sind genau insofern infallibel, als sie notwendige Prsuppositionen des Fallibilismusprinzips aussagen.“ 102 Habermas, MuK, 107 f.
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II.2. Karl-Otto Apels Diskursverantwortung
tanziert, ja distanzieren kann, will er doch ebenso wie Apel am universellen Geltungsanspruch der Diskurstheorie festhalten. Muss nicht auch Habermas, um seinen universellen Geltungsanspruch aufrecht erhalten zu kçnnen, die Unhintergehbarkeit des Diskurses voraussetzen? Entgegen der von ihm selbst geforderten Bescheidenheit scheint Habermas, wenn er auch nur an einer „schwachen transzendentalen Nçtigung festhlt“, doch substantiell nicht weniger in Anspruch zu nehmen als Apel mit seinem transzendentalen Nachweis ohne die Einschrnkung „schwach“103 : Der im schwachen Sinne transzendentale Nachweis […] gengt freilich, um den universalistischen […] verbindlichen Geltungsanspruch eines prozedural gefaßten Moralprinzips zu begrnden. Wenn dieses Moralprinzip aus dem normativen Gehalt faktisch nicht verwerfbarer Prsuppositionen begrndet werden kann, ist gezeigt, daß es sinnvollerweise nicht als solches in Frage gestellt werden kann, sondern nur in diesen oder jenen Interpretationen. Dafr brauchen wir keine Letztbegrndung.104
Worin, so ist zu fragen, unterscheiden sich Apel und Habermas hinsichtlich ihres Begrndungsanspruches faktisch, wenn es nicht allein um einen Unterschied im Namen geht? Die Frage, ob Apel wirklich zu Recht beansprucht, eine Letztbegrndung der Moral zu liefern, kann und soll hier nicht abschließend geklrt werden – viel scheint daran zu hngen, was berhaupt unter einer Letztbegrndung zu verstehen ist und was eine solche schließlich zu leisten beansprucht.105 Sicherlich liefert Apel im Sinne der klassischen, deduktiven Beweisfhrung keine Letztbegrndung. In meinen Augen wrde die 103 Apel selbst hlt das fr „ein vçllig anderes Denken, das da [bei Habermas] hereinkommt, […] ein soziologisches Denken“. Apel, „Primordiale Mitverantwortung“, 112. 104 Habermas, „EzD“, 194 f. 105 Zur Frage der Mçglichkeit einer Letztbegrndung von Ethik ist in der einschlgigen Forschungsliteratur bereits umfassend Stellung bezogen worden. Unter den zeitgençssischen Philosophen teilen – soweit ich sehe – nur Vittorio Hçsle und der Apel-Schler Wolfgang Kuhlmann Apels Position. Whrend Kuhlmann vor allem in Auseinandersetzung mit dem kantischen transzendentalphilosophischen Versuch einer Letztbegrndung das transzendentalpragmatische Begrndungsprogramm stark macht, ist Hçsle der transzendentalpragmatische Begrndungsanspruch noch nicht radikal genug, und er stellt dagegen seinen eigenen Letztbegrndungsversuch eines objektiven Idealismus. (Siehe Vittorio Hçsle, „Begrndungsfragen des objektiven Idealismus“, 212 – 267; Wolfgang Kuhlmann, „Bemerkungen zum Problem der Letztbegrndung“, 212 – 238; ders., Kant und die Transzendentalpragmatik; Vittorio Hçsle, Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie, hier vor allem das 3. Kapitel: Kritik der Transzendentalpragmatik.)
II.2.2. Verantwortung als nichthintergehbare Voraussetzung allen Argumentierens?
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Transzendentalphilosophie bei ihrer eigenen Beweisfhrung deshalb besser als von einem letzten Grund von einer hinreichenden Begrndung sprechen, da sie doch, statt den Grund von etwas zu liefern, (nur) auf dessen notwendig in Anspruch genommene Voraussetzungen rekurriert. Um diesen Unterschied zwischen Begrndung durch den Verweis auf notwendige Voraussetzungen und dem Aufweis des Grundes zu verdeutlichen, ließe sich Apels Argument, sehr verkrzt, wie folgt wiedergeben: Nicht weil wir sprachlich argumentierende Wesen sind, sind wir moralisch, sondern da wir sprachlich argumentierende Wesen sind, sind wir moralisch. Whrend mit „weil“ auf den Grund106 der Moral verwiesen wre, wird mit „da“ lediglich expliziert, was im Begriff der argumentativen Sprache, die wir faktisch voraussetzen, sobald wir ernsthaft fragen, immer schon enthalten ist: Mit dem Verweis darauf, dass wir sprechen, und der Explikation, dass Sprache immer schon moralische Grundnormen voraussetzt, damit die sprachliche Praxis berhaupt funktionieren kann, sind wir als sprachliche Wesen immer auch moralisch.107 Relevant ist diese Differenz zwischen Begrndung und Grund von Moral nicht zuletzt hinsichtlich des Geltungsbereichs der Moral: Sieht man in der argumentativen Sprache den Grund der Moral, wre Moral zunchst auf diejenigen Bereiche der Lebenswelt beschrnkt, die sich diskursiv einholen lassen. Zu zeigen wre folglich in einem weiteren Schritt, dass die Lebenswelt allgemein diskursiv eingeholt werden kann. Zeugt dagegen der argumentative Diskurs nur von einer moralischen Verpflichtung, kçnnen Menschen auch außerhalb der diskursiven Sprache noch moralisch verpflichtet sein. Fr die hier enger gefasste Frage nach einer hinreichenden Begrndung von Verantwortung mag an dieser Stelle jedoch zunchst die Feststellung gengen, dass Apel meint, mit dem Verweis auf die nichthintergehbaren Voraussetzungen jedes ernsthaften Denk- und Sprechaktes auch Verantwortung hinreichend begrndet zu haben. Diesen Anspruch gilt es vor allem fr die Unterscheidung zwischen Anwendungs- und Begrndungsdiskursen bzw. zwischen Gltigkeit und Befolgungsgltigkeit von moralischen Normen im Auge zu behalten. 2.) Entscheidender als die Stimmen, die den Anspruch, eine Letztbegrndung der Moral liefern zu kçnnen, als unerfllbar zurckweisen, 106 Es wre erst zu zeigen, dass diese wirklich keinen weiteren Grund hat und deswegen selbst ein letzter Grund ist. 107 hnlich geht Kant in seinem Freiheitsbeweis vor (den Kant selbst nicht als Beweis, sondern als Aufweis versteht), nur dass Apels Begrndung von Verantwortung natrlich intersubjektiv gewendet sein soll.
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II.2. Karl-Otto Apels Diskursverantwortung
scheint mir – zumindest was die Frage der Begrndung von Verantwortung angeht – ein zweiter, ebenfalls gegen Apel vorgebrachter Einwand: dass er nmlich von einem falschen Verstndnis davon ausgehe, was eine Moralbegrndung leisten kann und sollte. Nach Habermas gilt es drei Ebenen der Begrndung zu unterscheiden: a.) die Rekonstruktion des moralischen Standpunkts – vielleicht am besten zu verstehen als eine Art Explikation der Moral; b.) die Begrndung seiner universalen Verbindlichkeit – die Bestimmung seines Geltungsbereichs; c.) die Begrndung von Moralitt – eine Art Fundierung.108 Nach Habermas kann eine Moraltheorie nur die Aufgaben erfllen, die sich auf den ersten beiden Ebenen stellen: Sie kçnne die „Klrung des moralischen Gesichtspunktes“ und die „Begrndung seiner Universalitt“ leisten. Keine Antwort kçnne sie geben auf die Frage „warum berhaupt moralisch sein?“.109 So antwortet also auch die Diskursethik mit dem Argument der Nichthintergehbarkeit von argumentierendem Sprechen allein auf die ersten beiden Fragen, wenn sie nachweist, „(a) daß Gerechtigkeitsfragen berhaupt rational beantwortet und (b) wie, eben mit Hilfe welcher Argumentationsregel oder welchen Moralprinzips, sie beantwortet werden kçnnen“110. Auch wenn Apel, so Habermas, dieser Einschrnkung grundstzlich zustimme, versuche er dennoch eine philosophische Antwort auf die Frage „nach dem letzten rationalen Grund des ,Moralischseins‘“111 zu geben. Fr Habermas wurzelt dieser seines Erachtens verfehlte Anspruch in einer Verwechslung bzw. Gleichsetzung von kommunikativer und praktischer Vernunft: Der Begriff der kommunikativen Vernunft lasse sich „mit argumentationstheoretischen Mitteln auf dem Wege einer Analyse von Geltungsansprchen und von Bedingungen ihrer diskursiven Einlçsung entwickeln“, was auch „die Analyse allgemeiner Argumentationsvoraussetzungen“ impliziere.112 In diesem Zusammenhang kçnne sie dann außerdem begrnden und klren, „was es heißt, etwas unter dem moralischen Gesichtspunkt zu betrachten“113. Doch sei damit nur „ein Moment der umfassenden kommunikativen Vernunft“114 gemeint. Auch wenn Habermas einrumt, dass jeder, sobald er argumentiert, unter „dem ,Muß‘ 108 109 110 111 112 113 114
Vgl. Habermas, „EzD“, 185. Ebd. A. a. O., 186. A. a. O., 185. A. a. O., 191. Ebd. Ebd.; Hervorhebung E. B.
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einer schwachen transzendentalen Nçtigung“115 stehe, ergebe sich daraus keineswegs ein „prskriptives[s] ,Muß‘ einer Handlungsregel“, da die „kommunikative Vernunft […] nicht wie die praktische Vernunft per se eine Quelle fr Normen des richtigen Handelns“ sei.116 Habermas betont, dass praktische und kommunikative Vernunft keine deckungsgleichen Begriffe seien, vielmehr beinhalte der Begriff der praktischen Vernunft nur einen Teilbereich, „einen speziellen Typus von Fragestellungen, einen speziellen Aspekt von Geltung berhaupt – eben ein Moment der umfassenden kommunikativen Vernunft“117. Whrend Apel davon ausgeht, dass kommunikative Vernunft – ebenso wie praktische Vernunft – moralisch verpflichtet, hebt Habermas hervor, dass jene sich „auf das ganze Spektrum von Geltungsansprchen“ erstrecke und „insofern ber den Bereich moralisch-praktischer“ Fragen hinausreiche.118 Normativen Gehalt habe sie allein „im weiteren Sinne […] insofern, als sich der kommunikativ Handelnde auf pragmatische Voraussetzungen kontrafaktischer Art einlassen muß“119. Fr Apel hingegen begrndet der Aufweis der Nichthintergehbarkeit von Argumentation die moralischen Grundnormen der Verantwortung, Solidaritt und Gerechtigkeit, weil sie „als solche nicht nur Normen der kognitiven Beurteilung praktischer Problemlagen oder Handlungen darstellen“; vielmehr seien ihre „propositionalen Gehalte Gehalte von Handlungsanweisungen […], [die] also dazu anhalten, gerecht bzw. solidarisch zu sein und Mitverantwortung fr diskursive Problemlçsungen praktischer Art zu bernehmen“. 120 In diesem Sinne hat kommunikative Vernunft fr Apel immer auch moralisch-verpflichtenden Charakter und lsst sich nicht mehr eindeutig von praktischer Vernunft trennen.121 115 116 117 118 119 120
Was immer das sein mag. Habermas, „EzD“, 191. Ebd. Ebd. Ebd. Marcel Niquet, Moralitt und Befolgungsgltigkeit. Prolegomena zu einer realistischen Diskurstheorie der Moral, 79. 121 A. Wellmer bezweifelt zwar nicht, „daß moralische Verpflichtungen gleichsam die Praxis des Argumentierens durchdringen“, er hlt jedoch fr fraglich, „ob diejenigen Argumentationsnormen, die wir nicht ohne performativen Widerspruch bestreiten kçnnen, Verpflichtungen moralischer Art bezeichnen“. Auch wenn er Habermas und Apel zugesteht, dass „Rationalittsforderungen und moralische Verpflichtungen vielfach und auf komplexe Weise miteinander verschrnkt sind“, betont er, dass „Rationalitts-Verpflichtungen […] sich auf Argumente ohne Ansehen der Person; moralische Verpflichtungen […] sich auf Personen ohne
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II.2. Karl-Otto Apels Diskursverantwortung
Habermas ist insofern zuzustimmen ist, als praktische und kommunikative Vernunft keineswegs deckungsgleich sind – auch ist keine von beiden einfach eine Teilmenge der anderen.122 Gleichwohl wrde ich davon ausgehen, dass Sprache als Verbindung und Austausch zwischen Menschen und ebenso das Diskursprinzip moralisch imprgniert sind, ohne dass man deshalb von einer Moralbegrndung durch die kommunikative Vernunft sprechen kçnnte, auch wenn in jedem Akt des Argumentierens auf moralische Grundnormen immer schon verwiesen ist. Kommunikative Vernunft ist dann weniger als Quelle fr Normen des richtigen Handelns zu verstehen, sondern vielmehr als ein – vielleicht besonders adquates – Medium, in dem sich eine Form moralischer Verpflichtung immer schon zeigt oder ausdrckt. Unbeantwortet geblieben ist indessen bisher die Frage, inwiefern eine Moraltheorie wirklich eine Antwort auch auf der 3. Ebene der Moralbegrndung geben sollte. Sicherlich bezweifelt Habermas zu Recht, dass wir durch die Philosophie zu guten, d. h. moralisch handelnden Menschen werden kçnnen. Wenn Apel also bloß ein pdagogisches Ziel verfolgen wrde – den Menschen und mit ihm die Welt zu verbessern –, wre er sicher gut beraten, dazu ein anderes Mittel zu whlen als das der PhiloAnsehen ihrer Argumente“ beziehen. (Albrecht Wellmer, Ethik und Dialog. Elemente des moralischen Urteils bei Kant und in der Diskursethik, 107 ff.) Ich denke dagegen, wie ich unten, in Kapitel III.2., weiter ausfhren werde, dass wir als rationale Wesen zwar Argumente prfen sollten unabhngig davon, welche Person sie vortrgt, jedoch nicht unabhngig davon, dass berhaupt eine Person sie vortrgt. Und ebenso meine ich, dass wir Menschen zwar zunchst als Personen moralisch verpflichtet sind, dass dabei aber durchaus zu prfen ist, auf welchen (argumentativ vorzubringenden) Grnden ihre an uns gestellten Ansprche basieren. 122 Zur Unterscheidung von kommunikativer Vernunft und praktischer Vernunft siehe insbesondere die Seiten 18 f., 24 ff. in: Jrgen Habermas, Faktizitt und Geltung. hnlich auch ders., „EzD“, 191 f. – Bei R. Forst heißt es zur Unterscheidung bzw. Gleichsetzung von praktischer und kommunikativer Vernunft: „Bestimmte Bedingungen des ,çffentlichen Vernunftgebrauchs‘ – in der Form reziproker und allgemeiner Begrndung – sind normativer Geltung implizit und lassen sich ,rekursiv‘ anhand der Geltungsgrnde rekonstruieren, die praktischen Normen zugrunde liegen.“ (Rainer Forst, Kontexte der Gerechtigkeit. Politische Philosophie jenseits von Liberalismus und Kommunitarismus, 292 f.) Im Anschluss an Habermas’ Faktizitt und Geltung identifiziert Forst kommunikative Vernunft als „begrndende Vernunft“, „die sich an Geltungsansprchen berhaupt orientiert“, whrend praktische Vernunft „in Anbetracht der Unterscheidung praktischer Kontexte als Vermçgen begriffen werden“ kçnne, „in den angemessenen Kontexten die jeweils ,richtigen‘ Grnde zu geben“. A. a. O., 299.
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sophie.123 Doch geht es, wie etwa Forst betont, bei einer Begrndung der Moral auf der dritten Ebene gar „nicht darum, den Amoralisten von der Moral zu berzeugen“124, auch nicht primr darum zu zeigen, „in welchem Sinne dieses Prinzip [das Rechtfertigungsprinzip] Teil der moralischen Identitt einer Person ist“125, sondern um die Berechtigung und die Geltung philosophischer Aussagen:126 Der Mensch wsste somit zwar, wie (1. Ebene) moralisches Handeln aussieht und in welchem Rahmen und Umfang (2. Ebene) es zu praktizieren wre – aber warum bzw. dass er moralisch zu handeln hat, bleibt ohne eine Antwort auf der 3. Ebene ungeklrt. Denn nur wenn auch gezeigt wird, dass wir immer schon verantwortlich sind, lsst sich verstehen, warum Moral zu befolgen oder verantwortlich zu handeln ist. hnlich sieht das auch Apel, wenn er seinerseits auf Habermas’ Einwnde mit Unverstndnis reagiert: Es msse doch auch Habermas klar sein, dass es Apel keinesfalls um „existentielle“ Fragen gehen kçnne, da sich diese ja gerade nicht auf Gerechtigkeit, sondern auf die „Problematik der ,Ethik‘ des guten Lebens bzw. der – individuellen und kollektiven – Selbstwahl bzw. Selbstverwirklichung“127 richteten, um die es Apel (der sich ebenso als Kognitivist versteht wie Habermas) natrlich nicht geht. Ebenso msse Habermas wissen, dass es ihm auch nicht um die „Frage nach dem guten Willen zur Umsetzung von moralischen Einsichten in moralische Handlungen“128 zu tun sei, da diese Frage von dem Begrndungsproblem der Ethik gar nicht tangiert wrde. Sein Motiv fr die Frage nach dem Grund auf der 3. Ebene der Moral sei vielmehr die Tatsache, dass es historisch immer wieder zur „Infragestellung moralischer und rechtlicher Normen berhaupt“129 gekommen sei, die es nçtig werden ließe, auch „schon das Sicheinlassen auf moralische Verpflichtungen berhaupt“130 zu begrnden (und zwar nicht allein fr Phi-
123 124 125 126 127
128 129 130
Siehe Habermas, „EzD“, 189 f. Forst, „Praktische Vernunft“, 192. A. a. O., 191. Forst argumentiert hnlich, wenn er geltend macht, dass sonst das auf der 1. Ebene gegebene Rechtfertigungsprinzip „in der Luft“ hngen bliebe. (A. a. O., 199.) Karl-Otto Apel, „Auflçsung der Diskursethik? Zur Architektonik der Diskursdifferenzierung in Habermas’ Faktizitt und Geltung. Dritter, transzendentalpragmatisch orientierter Versuch, mit Habermas gegen Habermas zu denken“, 767. A. a. O., 768. A. a. O., 769 f. A. a. O., 770.
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II.2. Karl-Otto Apels Diskursverantwortung
losophen, sondern in der „nach-Nietzscheschen ra“ fr viele Jugendliche in der „Adoleszenzkrise“)131. Mit Forst und Habermas (die zumindest, was die 3. Ebene angeht, die gleiche Unterscheidung treffen) halte ich es allerdings fr fragwrdig, eine solche Begrndung fr das „dass“ der Moral wirklich mit dem Argument der Nichthintergehbarkeit des Diskursapriori leisten zu wollen. Plausibler scheint mir im Sinne von Lvinas – auf dessen Verantwortungskonzeption ich im nchsten Kapitel ausfhrlich eingehen werde – oder mit Forst die Idee einer Einsicht, dass wir verantwortlich sind.132 Apels Formulierungen lassen leicht den Eindruck entstehen, die moralischen Grundnormen (zu denen fr ihn die primordiale Verantwortung zhlt) seien nicht nur im argumentativen Diskurs vorausgesetzt, vielmehr sei damit auch ihr Geltungsbereich auf entsprechende Diskurse beschrnkt. Man muss allerdings den transzendentalphilosophischen Status des Apel’schen Arguments bercksichtigen: Apel fordert, durch strikte Reflexion133 herauszufinden, „was wir immer schon so anerkannt haben, dass wir es ohne performativen Selbstwiderspruch nicht bestreiten kçnnen“.134 Die hier verankerte Verantwortung ist damit selbst noch eine transzendentale, d. h. „keine individuell zurechenbare Verantwortung“, sondern eine, die alle Menschen als Mitglieder der Diskursgemeinschaft „fr die Identifizierung aller diskursfhigen Probleme und deren Lçsung“ haben.135 Apel geht es also in diesem Zusammenhang gar nicht um reale Diskurse, sondern um die Freilegung der Prsuppositionen, die wir idealiter immer schon voraussetzen. Unklar bleibt jedoch weiterhin fr mich, ob die moralische Grundnorm bzw. Moral allgemein dann nicht allein auf eine Form der Interaktion (nmlich die des argumentativen Diskurses) beschrnkt ist136 – der Vorwurf des Logozentrismus liegt nahe.137 131 Vgl. Apels Replik auf Habermas in diesem Punkt: A. a. O., 767 ff. Man mag auch hier berechtigte Zweifel haben, ob Apels Begrndung Jugendliche, die sich diese Frage stellen, berhaupt erreicht. 132 Vgl. Forst, „Praktische Vernunft“, 199. 133 Als solche versteht Apel eine Reflexion, „die im Diskurs und sozusagen çffentlich durchzufhren ist“. (Apel, „Primordiale Mitverantwortung“, 102.) 134 A. a. O., 103. 135 A. a. O., 105. 136 Hier wird besonders deutlich, dass an der Unterscheidung zwischen moralischer und kommunikativer Vernunft festzuhalten ist. 137 hnlich hat A. Honneth gegen die Diskursethik geltend gemacht, dass sie „den Vorteil einer universalpragmatischen Erschließung moralischer Geltung aufgrund der genannten Unklarheiten mit dem Preis einer Einschrnkung des moralischen Phnomenbereichs im ganzen“ erkaufe. Dagegen betont er, dass wir „als Teil-
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In diesem Sinne ließe sich gegen Apel einwenden, dass aus seiner Begrndungsfigur, die wesentlich auf dem Aufweis des performativen Selbstwiderspruchs basiert, nicht oder nur unzureichend ersichtlich werden kann, dass wir ber die aktuelle Situation138 des Argumentierens hinaus moralische Wesen sind und damit den (die) Anderen als solche(n) anerkennen mssen. Nur sofern sich in Apels Argumentation ein Zwischenschritt einfhren lsst, der den argumentativen Diskurs als Beleg einer Verantwortung ausweist, die ber den argumentativen Diskurs hinaus Gltigkeit beansprucht, scheint mir Apels Ansatz plausibel: Kommunikative Vernunft verfgt zwar ber einen normativen Gehalt und gibt uns bestimmte Regeln vor, wie wir mit unseren Gesprchspartnern zu verfahren haben. Moralitt bzw. Verantwortung lsst sich aber nicht auf die Tatsache reduzieren, dass wir uns im argumentativen Diskurs mit Anderen befinden. Verantwortlich sind wir nicht, weil wir diskutieren, sondern weil wir mit anderen Menschen leben, die uns so ansprechen, dass wir uns zu antworten aufgefordert und ihnen gegenber als verantwortlich wahrnehmen.139 In der Argumentation, im Austausch von Argumenten, bei dem immer (mindestens) zwei Personen vorausgesetzt sind, die sich begegnen und auseinandersetzen, die sich dabei aufeinander einlassen und doch von einander getrennt bleiben, wird diese Verantwortung besonders offensichtlich und gewinnt einen spezifischen Gehalt. Apel selbst scheint mit einer solchen Interpretation bereinzustimmen, wenn er in einem seiner zuletzt erschienenen Aufstze mit Blick auf Lvinas bemerkt, „daß hier [in der Begegnung mit dem Anderen] in letzter Instanz der tiefste phnomenologische Orientierungspunkt der moralischen Verpflichtung [– und vielleicht auch der Argumentation? –] gegeben ist“140.
nehmer in kommunikativen Zusammenhngen der sozialen Lebenswelt von unseren Interaktionspartnern moralisch mehr [erwarten], als sich anhand jener normativen Idealisierungen zeigen lßt, die wir in diskursiven Argumentationen wechselseitig unterstellen mçgen.“ (Axel Honneth, „Anerkennungsbeziehungen und Moral. Eine Diskussionsbemerkung zur anthropologischen Erweiterung der Diskursethik“, 102 f. 138 Apel identifiziert Verantwortung auch als eine der „Prsuppositionen des aktuellen Argumentierens“. (So etwa Apel, „Primordiale Mitverantwortung“, 103.) Prsuppositionen sind die impliziten Voraussetzungen einer Aussage: Argumentation setzt also implizit voraus, dass eine Mitverantwortung fr die Lçsung von diskursfhigen Problemen besteht. 139 Hierauf werde ich im Kapitel ber Lvinas und im Kapitel III.2. zurckkommen. 140 Apel, „First Things First“, 45.
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II.2. Karl-Otto Apels Diskursverantwortung
II.2.3. Verantwortliches Handeln im Sinne der Diskurstheorie II.2.3.1. Diskursethik als Verantwortungsethik: Die Notwendigkeit eines Ergnzungsprinzips Auch wenn Apel fordert, wir sollten – idealiter – alle Konflikte der Lebenswelt diskursethisch, im Sinne seines Handlungsprinzips (Uh) lçsen, rumt er ein, dass dieses in der Lebenswelt nicht immer ohne weiteres anwendbar ist. Anders als Kant, der aus dem kategorischen Imperativ ausnahmslos gltige Pflichten herleitet – z. B. das absolute Verbot zu lgen – und nicht zwischen realen und idealen Bedingungen unterscheidet,141 meint Apel, dass er mit dem Universalisierungsprinzip (Uh) ein hinreichendes Verfahrensprinzip nur dann geliefert htte, „wenn wir (schon) unter den Bedingungen der im argumentativen Diskurs kontrafaktisch antizipierten idealen Diskursbedingungen lebten“142. Doch auch Apel gibt zu, dass wir in einer Welt leben, in der Argumentation nur eine Weise der Konfliktlçsung darstellt, ja, ideale Kommunikation gar keine gegenwrtig (und jemals) anzutreffende Weise der Konfliktlçsung ist. Stattdessen werden in der realen Welt immer auch andere Mittel eingesetzt, um Interessen zu verwirklichen. Reale Gesprche shen keineswegs wie praktische Diskurse „im Sinne der diskursethisch begrndbaren institutionellen Fiktion“143 aus – „… wer argumentiert denn schon ordentlich?“144 Min141 Klaus Gnther betont, dass „universalistische Ethiken in der Tradition Kants“ dazu tendierten, „das Problem einer genaueren Bestimmung der Urteilskraft zugunsten einer Suche nach den Bedingungen der richtigen Begrndung moralischer Normen zu vernachlssigen“. Damit verbunden sei die Gefahr, das „Moralprinzip der Universalisierung wie eine konkrete Handlungsmaxime“ zu behandeln. „Die Verwechslung reiner praktischer mit praktischer Urteilskraft […] hat zur Folge, daß die verallgemeinerbare Norm ohne Prfung der Situation, so allgemein, wie sie ist, angewendet wird. Wren Kants Beispiele nur als Erluterungen fr die Anwendung des Kategorischen Imperativs auf Maximen gemeint, wren sie harmlos. Das Lgen-Beispiel lßt sich ganz undramatisch verstehen, wenn man es lediglich als Test fr die Verallgemeinerbarkeit der Maxime, niemals zu lgen, versteht, obwohl es schon schwerfllt, sich bloß vorzustellen, diese Maxime auch dann zu befolgen, wenn ich dadurch ohne Not einen unschuldig Verfolgten dem Tod ausliefere. Kant argumentiert jedoch so, als ob es berhaupt keine Anwendungssituation geben kçnne, in der dieses Verbot gegenber anderen zurcktreten sollte. Damit identifiziert er die Maxime, niemals zu lgen, mit der Funktionsweise des Moralprinzips.“ (Gnther, Sinn fr Angemessenheit, 17 f.) 142 Apel, DuV, 128. 143 Apel, „First Things First“, 40. 144 Sic et Non, Dialog mit Karl-Otto Apel.
II.2.3. Verantwortliches Handeln im Sinne der Diskurstheorie
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destens ebenso sehr und ebenso hufig htten sie „den Charakter von Verhandlungen – also strategischer Kommunikation“145 –, in denen zwar vordergrndig mitunter auch Argumente ausgetauscht werden, jedoch nicht im Sinne einer idealen Diskurssituation, so dass Apel von einer „konsensuell-strategischen […] Zweideutigkeit aller wirklichen Gesprche“146 spricht. Reale Kommunikation zeichnet sich durch eine prinzipielle Dialektik aus: Zwar mssen wir, sobald wir sprechen, immer schon ideale Diskursbedingungen unterstellen, da sonst jeder Verstndigungsakt seine Berechtigung verlçre, gleichzeitig wissen wir aber in der realen Lebenswelt, dass sie (noch) nicht erfllt sind und wohl auf lange Sicht auch nicht erfllt sein werden. Selbst durch einen radikalen Neuanfang kçnnte diese Differenz nicht aufgehoben werden, da sich alle Menschen gleichzeitig entscheiden mssten, nur noch diskursiv zu argumentieren, was faktisch unmçglich ist. Denn dazu bedrfte es einer Absprache, also funktionierender Verstndigung, die bereits eine ideale Diskurssituation voraussetzen wrde: Nur in ihr kann garantiert werden, dass sich alle Diskurspartner an das Abgesprochene – gemeinsam neu anzufangen – halten werden. In einer Situation hingegen, in der wir eben dessen nicht sicher sein kçnnen, wren schon die Voraussetzungen dafr, eine solche Absprache verlsslich treffen zu kçnnen, nicht gegeben. Aber auch die Variante, dass sich einer allein fr vorbehaltloses Argumentieren entscheidet, entfllt fr Apel, da er sie fr unverantwortlich hlt: Denn ein solcher Einzelner gefhrde damit unter Umstnden sein eigenes Leben oder das derjenigen, die er im Diskurs vertritt. Fr Apel liegt hier der bereits angedeutete Verantwortungskonflikt: Nur unter der Voraussetzung, dass wir sprechend unterstellen, uns in einer idealen Diskurssituation zu befinden, ist unser Argumentieren sinnvoll zu nennen. In diesem Sinne tragen wir Verantwortung dafr, alle Probleme der Lebenswelt diskursethisch zu lçsen – und damit auch fr die Bewahrung idealer Diskursbedingungen selbst. Gleichzeitig sind wir jedoch verantwortlich fr das von uns vertretene „Selbstbehauptungssystem“147. 145 Apel, „First Things First“, 40. 146 A. a. O., 41. 147 Unter Selbstbehauptungssystem fasst Apel neben der eigenen Person all diejenigen, fr deren Wohl jemand Sorge zu tragen hat – ohne allerdings an irgendeiner Stelle nher darauf einzugehen, woraus sich diese Sorgepflicht, die Apel auch als eine Verantwortung expliziert, ergibt bzw. ableitet. Es bleibt unklar, inwiefern es sich hier um die im Diskurs ausgewiesene primordiale Mit-Verantwortung handelt oder um einen anderen Typus von Verantwortung; unklar bleibt auch, wie sich eine
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II.2. Karl-Otto Apels Diskursverantwortung
Unter idealen Diskursbedingungen lassen sich diese beiden Aspekte von Verantwortung miteinander gleichsetzen: Wir kommen der Verantwortung (ich wrde hier eher von Sorgepflicht sprechen) fr uns selbst wie auch der Verantwortung fr das von uns vertretene Selbstbehauptungssystem – auf lange Sicht und bei Bercksichtigung aller unserer wohl verstandenen Interessen – gerade dann nach, wenn wir im Sinne des Prinzips (Uh) der Diskursethik handeln. In der realen Lebenswelt treten diese beiden Verantwortungsaspekte nach Apel jedoch auseinander. Die strikte Befolgung diskursethischer Rationalitt kçnnte gerade in der politischen Realitt als verantwortungslos gelten: Hier werden Konflikte zwischen Interessengruppen oder Staaten nicht nur durch Argumentation, sondern mindestens ebenso hufig, wenn nicht sogar hufiger durch strategische Verhandlungen oder strategisches Handeln geregelt – wobei es vor allem darum geht, eigene Interessen zu realisieren, und unter Umstnden sogar darum, dem anderen zu schaden, z. B. durch militrische Interventionen. In solchen Situationen darf man nach Apel aus Verantwortungsgrnden gerade nicht rein diskursethisch handeln, und auf instrumentell-strategische Rationalitt nicht gnzlich verzichten. Damit schrnkt aber Apel selbst die Geltung seines Handlungsprinzips ein: Zwar mçchte er grundstzlich alle Probleme der Lebenswelt auf dessen Grundlage lçsen, doch rumt er ein, dass es uns „moralisch nicht zuzumuten“ sei, „ohne verantwortliche Abwgung der voraussichtlichen Handlungsergebnisse und Nebenfolgen nach einem unbedingt gltigen moralischen Prinzip“ zu handeln.148 Deshalb sucht Apel eine Mçglichkeit, auch im Rahmen der Diskursethik und unter Voraussetzung ihres Handlungsprinzips (Uh) der Verantwortung fr das Selbstbehauptungssystem gerecht zu werden, ohne deswegen die Forderung nach universaler Gltigkeit aufzugeben – da sich in seinen Augen nur so eine „Regression der Ethik hinter den idealen Beurteilungsmaßstab, der in dem Prinzip (U) der Diskursethik formuliert ist“149, vermeiden lasse. Zu diesem Zweck unterscheidet Apel zwei Teile seiner Ethik: Whrend Teil A das Handlungsprinzip fr die ideale Diskurssituation liefere, trage Teil B gerade dem kontrafaktischen Charakter dieser Prmisse Rechnung: solche Verantwortung begrnden ließe. Eindeutig ist eine solche Verantwortung auch fr Apel nicht in derselben Weise an den Diskurs gebunden, weist er doch explizit darauf hin, dass gerade diese Verantwortung strategisch rationales Handeln nçtig werden lsst. Siehe beispielsweise Apel, DuV, 62, 128 f., 208 f., 215, 267. 148 Apel, „Diskursethik als Verantwortungsethik“, 27. 149 Apel, DuV, 131.
II.2.3. Verantwortliches Handeln im Sinne der Diskurstheorie
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Whrend in Teil A der Ethik – gemß der Intention einer transzendentalpragmatischen Letztbegrndung – das Prinzip der Ethik in dem, vom Argumentierenden unbestreitbar vorausgesetzten und kontrafaktisch antizipierten Ideal einer idealen Kommunikationsgemeinschaft festgemacht sein muß, stellt sich im Teil B die Aufgabe, den kontrafaktischen Charakter der gleichwohl notwendigen Antizipation des Ideals als Problem einer geschichtsbezogenen Verantwortungsethik eigens zu bercksichtigen.150
Apel betont, dass man im Sinne des Teils A seiner Ethik „die Mçglichkeit einer idealen Kommunikationsgemeinschaft“ nicht nur voraussetzen, sondern – indem man argumentiert – „deren Existenz sogar kontrafaktisch antizipieren“ 151 msse. Er nennt diese kontrafaktische Antizipation des Ideals ganz im Sinne Kants eine „regulative Idee“152 – ein normatives Prinzip der praktischen Vernunft, das fr „das Handeln im Sinne einer Verpflichtung und Anleitung zur langfristigen, approximativen Realisierung eines Ideals verbindlich“153 ist. Dieses vermittle zugleich die Einsicht, „daß nichts in der Zeit Erfahrbares jemals dem Ideal vçllig entsprechen kann“154. Dem „kontrafaktischen Charakter[…] der Antizipation des Diskursideals“155 gelte es dann im Teil B Rechnung zu tragen, wobei wir – auch, wie Apel przisiert, in der realen Diskursgemeinschaft – „ein hinreichendes Einverstndnis schon erzielt haben mssen, um einen argumentativen Diskurs faktisch berhaupt fhren zu kçnnen“156. Denn ohne gemeinsame Grundannahmen – wie einer gemeinsamen Sprache der Diskurspartner, einem gemeinsamen Interesse an einer argumentativen Lçsung des Problems – ist jede Argumentation sinnlos. Fr den Teil B seiner Diskursethik vervollstndigt Apel das Handlungsprinzip durch ein „moralisch-strategisches Ergnzungsprinzip (E)“157, das gerade diese „prinzipielle Differenz“ zwischen einer real gegebenen und der als Ideal unterstellten und zugleich angestrebten Kommunikationsgemeinschaft bercksichtige. Es erlaube uns einen historischen bergang zur Anwendung der Diskursethik. Mit seiner Hilfe sei die Spannung zwischen realer und idealer Kommunikationsgemeinschaft aufzuheben, damit „das Wort ,kontrafaktisch‘ […] seine ethisch-praktische Relevanz in 150 151 152 153 154 155 156 157
A. a. O., 134. A. a. O., 53. A. a. O., 53 u. 204; Hervorhebung E. B. A. a. O., 204. Ebd. A. a. O., 140. A. a. O., 141. A. a. O., 142.
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II.2. Karl-Otto Apels Diskursverantwortung
immer mehr Bereichen des Lebens verlieren kann“158. Das Ergnzungsprinzip erlaubt also, ja verlangt, dass wir in Teil B zwar immer auch strategisch handeln – doch nur so weit, dass auf lange Sicht ein rein diskursethisch rationales Handeln mçglich wird. Diese Einschrnkung ist von fundamentaler Bedeutung, wenn auch schwer berprfbar und darin problematisch. Offensichtlich und sehr verstndlich mçchte Apel vermeiden, dass jemand unter dem Vorwand, in einer realen und nicht-idealen Kommunikationsgemeinschaft zu leben, ausschließlich oder in erster Linie strategisch rational handelt, um so seine privaten Interessen besser durchsetzen zu kçnnen. Auch unter realen Diskursbedingungen sei also immer auf die Anwendung des Universalisierungsprinzips zu achten, denn auch das durch das Ergnzungsprinzip moralisch legitimierte strategische Handeln msse – zumindest der regulativen Idee nach – „in Zielsetzung und Durchfhrung konsensfhig sein fr die mit-verantwortlichen Mitglieder der primordialen Kommunikationsgemeinschaft“159. Auch im Teil B der Diskursethik darf nicht rein strategisches Verhandeln zur Realisierung der eigenen Interessen eingesetzt werden, vielmehr muß es gewissermaßen als Kompensation fr die erzwungene Abweichung vom Prinzip der idealen Diskursmoral dem regulativen Prinzip einer langfristigen moralischen Strategie folgen: einer Strategie, deren Ziel jederzeit die nderung der Verhltnisse im Sinne der besseren Ermçglichung rein diskursiv-konsensualer Problemlçsungen sein muß.160
So muss sich das Ergnzungsprinzip (E) in letzter Instanz, auf der hçchsten Stufe der moralischen Urteilskraft, mit dem Prinzip (Uh) „zu einem einzigen Prinzip der diskursbezogenen Verantwortungsethik“161 verbinden; kommunikative und strategische Rationalitt, Gesinnungs- und Verantwortungsethik konvergieren im Sinne einer regulativen Idee. II.2.3.2. Verantwortliches Handeln – Diskurs oder Strategie? Apels Einfhrung eines Teil B hlt Habermas fr eine „reflexive Selbstberbietung“162 : Damit glaube Apel eine Lçsung gefunden zu haben, wie auch ein verantwortungsethisch handelnder Politiker – ein „einsame[r] 158 159 160 161 162
A. a. O., 145. Apel, „First Things First“, 44. Ebd. Apel, DuV, 150. Habermas, „EzD“, 195.
II.2.3. Verantwortliches Handeln im Sinne der Diskurstheorie
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Reprsentant“ der Interessen des Gemeinwesens – „nicht in die naturwchsige Sphre bloßer Machtpolitik zurckfallen muß“, sondern stattdessen „die Wahl von Gegenstrategien“ verantwortungsethisch rechtfertigen kçnne.163 Das Modell des verantwortungsethisch handelnden Politikers hat Tradition – bereits Weber und Jonas haben es zum Paradigma der Verantwortung erklrt. Doch anders als Jonas, der seine Ethik als Antwort auf den aktuellen Stand der technologischen Entwicklung versteht, betont Apel, dass er von der „Aktualitt des angedeuteten Gegenwartsproblems Abstand“ gewinnen wolle und das Beispiel des verantwortungsbewussten Politikers „als reprsentativ fr die Situation des Menschen berhaupt seit der Menschwerdung“ begreife.164 Die Frage des verantwortlichen Handelns, dem Apel mit dem Teil B seiner Diskursethik Rechnung tragen will, stelle sich nicht nur fr den Politiker, sondern fr jeden Menschen in vielen Situationen der Lebenswelt.165 Habermas’ Kritik an der Zweiteilung der Apel’schen Ethik richtet sich des Weiteren gegen Apels Versuch, Prinzipien- und Verantwortungsethik zu verbinden. In die Prinzipienethik ein Fernziel – „die Verwirklichung der Moral selbst“166 – einzufhren, sprenge den „konzeptuellen Rahmen einer deontologischen Theorie“167 und verwickle Apels Diskursethik in Ungereimtheiten, die vermieden werden kçnnten, wenn derartige eventuell sinnvolle oder notwendige Ergnzungen in anderen begrifflichen Zusammenhngen verhandelt wrden.168 Daher stellt Habermas die be163 Ebd. 164 Apel, DuV, 63; Hervorhebung E. B. 165 So betont Apel auch in seinem „[D]ritte[n] transzendentalpragmatisch orientierte[n] Versuch, mit Habermas gegen Habermas zu denken“, das „im weitesten Sinne ,politische‘ Handeln jedes Menschen, der fr andere einstehen muß und im Sinne dieser ihm persçnlich zurechenbaren Verantwortung die Befolgung einer U-gltigen Norm wegen faktisch nicht unterstellbarer allgemeiner Befolgung nicht verantworten kann.“ Apel geht also davon aus, dass etwa ein Familienvater „in einer gesellschaftlichen Situation durchgngiger Korruption nicht verantworten“ kçnne, „auf Kosten seiner notleidenden Familie allein (im Sinne einer einsamen moralischen Vorleistung) auf Bestechung, Behçrdenbetrug, Schmiergelder und dergleichen zu verzichten“. (Apel, „Auflçsung der Diskursethik“, 802.) 166 Habermas, „EzD“, 196. – Apel hingegen sieht in der „teleologische[n] Dimension“ seiner Ethik eine Konsequenz des „der Sprache innewohnenden ,Telos der Verstndigung‘“. (Apel, „Auflçsung der Diskursethik“, 806.) 167 Habermas, „EzD“, 196. 168 Auch Apel nimmt an, „daß im Bereich der menschlichen Geschichte die ideale Diskursmoral im Sinne von (U) prinzipiell – im Interesse ihrer empirischen Zumutbarkeit und im Interesse ihrer Ergnzung bei Nichtzumutbarkeit – auf die Existenz von Institutionen angewiesen ist“. (Apel, „Auflçsung der Diskursethik“,
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II.2. Karl-Otto Apels Diskursverantwortung
rechtigte Frage, „auf welcher Ebene das Ergnzungsprinzip begrndet werden“169 solle. Er visiert zwei Mçglichkeiten und deren Konsequenzen an: (a) wenn das Ergnzungsprinzip auf derselben Ebene wie das Diskursprinzip stehe, msse es ebenfalls aus nicht-falliblen Diskursprsuppositionen abgeleitet werden; (b) stehe es dagegen auf einer anderen Ebene und stelle es nur eine spezielle Pflicht dar – sofern es, wie Habermas meint, „als eine an bestimmte Positionsinhaber adressierte besondere Pflicht formuliert wird“170 –, msse es, „wie alle brigen Normen auf einer anderen Ebene behandelt, nmlich in den Begrndungsdiskursen der Beteiligten und Betroffenen selbst einem Verallgemeinerungstest ausgesetzt werden“171. Betrachten wir zunchst die Alternative (b): Stnde das Ergnzungsprinzip (E) auf einer anderen Ebene als das Prinzip (U), msste seine Gltigkeit selbst durch das Prinzip (U) berprft werden. Wenn es nach Apel angesichts der unvollkommenen Diskursbedingungen unverantwortlich ist, gemß Prinzip (U) zu handeln, kann dieses auch nicht mehr zuverlssig als Kriterium zur berprfung von Prinzip (E) angewendet werden, denn das wrde bedeuten, „daß das Prinzip unter genau den Argumentationsvoraussetzungen geprft wird, deren Nicht-Erfllung es doch explizit behauptet“172 und die den Teil B der Diskursethik berhaupt erst hatten notwendig erscheinen lassen. Es sei unmçglich, dass ein Universalisierungsprinzip auch die Ausnahme von eben diesem Prinzip regelt. Eine solche Argumentation wre logisch nicht haltbar und wird, wie die oben zitierten Stellen zeigen, von Apel auch nicht vertreten. Stattdessen betont dieser, „das Prinzip (E)“ schließe sich „mit dem Prinzip (Uh) auf der hçchsten Stufe der moralischen Urteilskompetenz zu einem einzigen Prinzip der diskursbezogenen Verantwortungsethik zusammen“, das „selbst, einschließlich [!] des Ergnzungsprinzips (E), a priori fr den argumentationsreflexiven Letztbegrndungsdiskurs der Philosophen konsensfhig ist“.173 Doch aus Habermas’ Sicht ist auch die Alternative (a), beide Prinzipien auf derselben Ebene zu begrnden, nicht mçglich, denn in diesem Fall msse man „fr die Analyse des Gehalts allgemeiner Argumentations-
169 170 171 172 173
811.) Zur Frage, inwieweit verantwortliche Praxis auf Institutionen angewiesen ist siehe auch unten den Ausblick am Ende von Kapitel III.3. Habermas, „EzD“, 196. Ebd. Ebd. A. a. O., 196 f. Apel, DuV, 150; Hervorhebung E. B.
II.2.3. Verantwortliches Handeln im Sinne der Diskurstheorie
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voraussetzungen irgendein quivalent angeben“174 kçnnen, was von Habermas ausgeschlossen wird. Wie bereits gezeigt, versteht er die Diskursethik als rein kognitive Moraltheorie, deren Universalisierungsgrundsatz nur erlaube, strittige Normen zu berprfen, nicht aber substantielle Normen selbst zu generieren. Stnde das Ergnzungsprinzip auf derselben Ebene wie das Universalisierungsprinzip, msste auch dieses ein hnliches Verfahren wie das der berprfung von Normen angeben. Stattdessen formuliere es jedoch mit seinem Ziel, langfristig an der Realisierung der idealen Diskursbedingungen mitzuwirken, eine konkrete Pflicht. Damit stnden sich – der Form nach inkommensurabel, wie Habermas konstatiert – ein allgemeines Verfahren zur Normberprfung und eine bestimmte, wenn auch sehr abstrakte Pflicht mit dem Ziel, eine ideale Diskursgemeinschaft zu realisieren, auf einer Ebene gegenber. Als Alternative bliebe, auch das Universalisierungsprinzip als konkrete Pflicht und nicht mehr als Verfahrensprinzip zu fassen, was Habermas ebenfalls fr unzulssig hlt: Das Universalisierungsprinzip als konkrete Pflicht kçnne nur auf die redundante Forderung „Handle moralisch“ hinauslaufen. Anders als Habermas scheint Apel das, wie erçrtert, fr weit weniger problematisch zu erachten, denn fr ihn sind ja auf der Ebene des Handlungsprinzips bereits drei substantielle Grundnormen – die der Gerechtigkeit, die der Verantwortung und die der Solidaritt – mitbegrndet. So stehen sich bei ihm nicht ein Normenbegrndungsverfahren und eine konkrete Pflicht gegenber, vielmehr formuliert Apel auf der obersten Begrndungsebene ein allgemein-gltiges Handlungsprinzip, das die zustzliche Klausel enthlt, was zu tun ist, wenn die faktischen Bedingungen seiner Realisierung abtrglich sind. Gegen die Einfhrung eines Ergnzungsprinzips macht Habermas darber hinaus jedoch geltend, dass es von uns ein paradoxes Handeln fordere – „etwas soll zugleich moralisch geboten sein und zweckrational angestrebt werden“175. Ein Handeln, das uns moralisch geboten sei, msse sich an gltigen Maximen orientieren und richte sich gerade nicht auf die Folgen unseres Handelns, whrend zweckrationales Handeln ein Abwgen von Zwecken, Mitteln und Nebenfolgen in Ausrichtung auf ein Ziel verlange, also strategisches Handeln nicht nur zulasse, sondern sogar gebiete. Bereits bei Max Weber ist, wie ich in einem an dieses Kapitel anschließenden Exkurs zeigen werde, eine Verbindung beider Handlungstypen per se ausgeschlossen. Trotzdem vertritt Apel den Standpunkt, dass es nicht nur 174 Habermas, „EzD“, 196. 175 A. a. O., 197.
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II.2. Karl-Otto Apels Diskursverantwortung
mçglich, sondern notwendig sei, sie in einer postkonventionellen Prinzipienethik zu verbinden. Um die prinzipielle Differenz zwischen idealer und realer Kommunikationsgemeinschaft langfristig aufheben zu kçnnen, mçchte er in die Diskursethik eine „zweckrationale[…] Langzeitstrategie“ einfhren, da wir aufgrund der Hindernisse, die wir in der realen Lebenswelt vorfinden, nicht umhin kçnnen – durchaus auch „in ethischer Absicht“ – „strategisch zu handeln“.176 Dabei gesteht Apel selbst zu, „daß die Trennung […] zwischen teleologischer Ethik und deontologischer Ethik nicht mehr aufrechtzuerhalten ist“177. Wie aber kann eine solche Verbindung zweier klassisch als antagonistisch verstandener Moraltheorien aussehen? Inwiefern ist es dann berhaupt noch sinnvoll, von dieser Unterscheidung Gebrauch zu machen? Wie dargelegt, schlgt Apel eine Teilung der Diskursethik in Teil A und Teil B vor: Teil A verlangt – unter der hypothetischen Annahme, dass wir unter idealen Diskursbedingungen leben –, ein prinzipiengeleitetes Handeln nach (Uh), demnach ein rein moralisch-rationales Handeln. Teil B dagegen soll dem „kontrafaktischen Charakter der gleichwohl notwendigen Antizipation des Ideals“178 Rechnung tragen: Wir leben nicht in einer idealen Kommunikationsgemeinschaft, und Handeln nach Uh sei deshalb unter den realen Bedingungen der Lebenswelt moralisch nicht (immer) verantwortbar, wenn wir nicht zugleich auch strategisch handeln. Dabei versteht Apel das Verhltnis beider Prinzipien in besonderer Weise, nmlich zugleich subsidir und ergnzend: subsidir, insofern sein „oberstes Prinzip“ (Teil A und Teil B zusammen) gebietet, immer dann, wenn das Prinzip (Uh) in Ermangelung notwendiger Voraussetzungen nicht befolgt werden kann, auch strategisch zu handeln. Ergnzend, insofern dieses strategische Handeln mit Prinzip (Uh) vereinbar bleiben muss und Teil B keineswegs erlaubt, ausschließlich oder uneingeschrnkt zweckrational – 176 Apel, DuV, 146. 177 Ebd. – Allerdings betont Apel an anderer Stelle, dass diese teleologische Dimension „eine Konsequenz des […] der Sprache innewohnenden ,Telos der Verstndigung‘“ sei. Denn, so begrndet Apel, „in allen Fllen, in denen das Prinzip der idealen Diskursmoral im Sinne von (U) nicht verantwortbar angewendet werden kann“, kçnne auch das Ziel der Verstndigung in der realen Welt nicht erreicht werden, so dass sich die „notwendige Teleologie einer auf Vernderung der Verhltnisse bezogenen Verantwortungsethik“ ergebe. (Apel, „Auflçsung der Diskursethik“, 806 f.) Wenn Habermas, so Apels Gegenvorwurf, nun selbst „die Ergnzung des Teils A der Diskursethik […] durch einen geschichtsbezogenen und insofern manifest teleologischen Teil B ablehnt“, verleugne er selbst „ein intrinsisches Moment seiner emphatischen Konzeption der ,Verstndigung‘“ (807). 178 Apel, DuV, 134; Hervorhebung E. B.
II.2.3. Verantwortliches Handeln im Sinne der Diskurstheorie
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beispielsweise um fr sich selbst das substantielle Telos eines guten Lebens zu erreichen179 – zu handeln, sondern nur dann, wenn das strategische Handeln langfristig zur Realisierung der idealen Diskursgemeinschaft beitrgt. Dennoch ist natrlich Handeln nach Prinzip (E) kein Handeln nach (Uh) im eigentlichen Sinne, da es verlangt, statt rein moralisch rational (bzw. fr Apel: diskursrational) zu handeln, Strategien anzuwenden, die zwar durch ihr Ziel (nmlich ideale Diskursbedingungen zu realisieren) der Diskursethik verbunden bleiben, aber selbst nicht mehr diskursiv-argumentativ verfahren. Habermas hlt dagegen die Frage des verantwortlichen Handelns durch sein Prinzip (U) fr ausreichend bedacht, da bereits „nach Maßgabe des Universalisierungsgrundsatzes“ bei der Begrndung von Normen die „Abwgung von Handlungsfolgen nçtig“ sei.180 Fr einen Teil B sieht er deshalb keine Notwendigkeit: „Schon mit dem ersten Zug der Unterscheidung zwischen ,Teil A‘ und ,Teil B‘ seiner Ethik“, so fasst Habermas seine Kritik zusammen, stelle „Apel die Weichen falsch, wenn er die eine als folgenneutrale Gesinnungsethik der anderen als folgensensibler Verantwortungsethik“181 gegenberstelle. Auch wenn Habermas insofern zuzustimmen ist, als er auf der Ebene der Norm-Begrndung hinreichend jeder Folgenverantwortung gerecht wird, stellt sich gleichwohl die Frage, ob nicht doch mehr geleistet werden muss. Wie, so bleibt zu berlegen, sollen wir handeln, wenn wir nicht davon ausgehen kçnnen, dass sich alle an eine moralisch gerechtfertigte Norm halten? Habermas selbst rumt ein, dass es Flle gibt, in denen uns die Befolgung einer gltigen Norm nicht zuzumuten ist – dass „in einem existentiellen Konflikt die einzig angemessene Norm eine Handlung fordern [kann], die die derart verpflichtete Person durchaus als moralisch gebotene Handlung anerkennt, aber nicht ausfhren kçnnte, ohne sich als die Person, die sie ist und sein mçchte, aufzugeben“182. Fr diesen Fall, auf den hin Apel Teil B seiner Ethik konstruiert hat, sieht Habermas die Zustndigkeit der Moraltheorie aufgehoben: „Im Lichte des Moralprinzips [kçnnen] Normen nur unter der (in ,U‘ explizit genannten) Voraussetzung einer Praxis allgemeiner Normbefolgung als gltig ausgezeichnet [werden]. Wenn diese Bedingung nicht erfllt ist, sind Normen unangesehen ihrer Gltigkeit nicht zu179 180 181 182
A. a. O., 147. Habermas, „EzD“, 198. Ebd. Ebd.
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II.2. Karl-Otto Apels Diskursverantwortung
mutbar.“183 Doch wre dann nicht die Befolgung jeder Norm als unzumutbar zurckzuweisen, weil wir immer annehmen mssen, dass sie irgendeiner Person aus den besagten Grnden nicht zugemutet werden kann? Auf Habermas’ eigene Variante komplementr zur Diskurstheorie der Moral eine Diskurstheorie des Rechts zu entwickeln, um die Anwendbarkeit einer moralisch-gltigen Norm zu sichern, kann ich hier nicht nher eingehen. Zwei Bedenken sollen jedoch benannt werden: 1.) Lassen sich wirklich alle moralisch relevanten Bereiche unseres Lebens, in denen wir handeln, durch eine rechtliche Institutionalisierung sichern? 2.) Inwiefern vertagt oder verschiebt Habermas mit seinem Verweis auf das Recht nicht bloß die Frage, wie wir moralisch angemessen handeln kçnnen?184
II.2.4. Zwischenfazit Unter den zeitgençssischen Philosophen ist Karl-Otto Apel wohl einer der wenigen, der nicht nur eine wissenschaftlich stringente Begrndung von Verantwortung fr mçglich hlt, sondern der uns mit seiner transzendentalpragmatischen Variante der Diskursethik auch ein Verfahren an die Hand geben will, wie wir der von ihm postulierten primordialen MitVerantwortung in allen Situationen der Lebenswelt gerecht werden kçnnen. In meiner Rekonstruktion und kritischen Analyse der Apel’schen Verantwortungskonzeption ging es mir vor allem darum, Apels Antworten auf die drei von mir im ersten Teil gestellten Fragen – Was ist Verantwortung?, Wie lsst sich Verantwortung begrnden? und Wie kann verantwortungsbewusst gehandelt werden? – nachzuzeichnen. Apel bestimmt seinen Verantwortungsbegriff als eine moralische Grundnorm, nach der smtliche Konflikte der Lebenswelt diskursiv zu 183 A. a. O., 199. 184 Siehe Apel, „Auflçsung der Diskursethik“, 727 – 837. Apel befasst sich hier ausfhrlich mit Habermas’ Vorschlag einer Diskurstheorie des Rechts als institutionelle Ergnzung zur Diskurstheorie der Moral. Zwar gibt er Habermas Recht darin, „daß die Vernunftmoral hinsichtlich der Handlungsmotivation […] auf ,entgegenkommende Sozialisationsprozesse‘ angewiesen“ (788) sei und das Recht hier einen wichtigen Platz einnehme, doch kritisiert er an Habermas, dass dieser „den Spielraum der postkonventionellen Vernunftmoral mit dem einer personalen bzw. interpersonalen Privatmoral der Verstndigung zwischen anwesenden Interaktions- und Kommunikationspartnern unterhalb der Ebene der Institutionen“ (791) identifiziere.
II.2.4. Zwischenfazit
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lçsen sind. Sein Begriff einer primordialen Mit-Verantwortung ist zweistellig: Alle an der Diskursgemeinschaft Teilhabenden (Subjekt der Verantwortung) sind gemeinsam verantwortlich dafr, alle Probleme der Lebenswelt im argumentativen Diskurs zu lçsen (Objekt der Verantwortung). Da argumentativer Diskurs jedoch wesentlich darauf basiert, Grnde zu fordern, zu geben, zu prfen und zu beurteilen, ist damit zwar nicht auf eine Instanz im Sinne einer feststehenden Institution verwiesen; gleichwohl scheint auch die Apel’sche Verantwortungskonzeption implizit einen solchen Aspekt in dem Sinn zu enthalten, dass potentiell jedes Mitglied der Diskursgemeinschaft im Wechsel mit anderen die Aufgaben einer solchen Prfinstanz der vorgebrachten Grnde bernimmt. Ohne dass Apel eine Verantwortungsinstanz benennt, setzt also sein Verantwortungsbegriff als wesentlich diskursiver – anders als beispielsweise der Jonas’sche – nicht allein die Handlungsfhigkeit des Subjekts, sondern ebenso seine Sprachfhigkeit voraus. Verantwortung als moralische Grundnorm trgt jedem am Diskurs Beteiligten gemeinsam mit allen anderen auf, smtliche Probleme, die in der Lebenswelt auftreten, ber den argumentativen Diskurs gemeinsam zu lçsen, indem sie sich ber die Grnde, Alternativen, Konsequenzen etc. des Handelns diskursiv auseinandersetzen und verstndigen. In diesem Sinne ist nach Apel eben nicht mehr nur das fr sich allein handelnde Subjekt verantwortlich, sondern alle Mitglieder der Diskursgemeinschaft sind gemeinsam verantwortlich, indem sie durch ihre Prfung von Grnden zur Handlungsentscheidung jedes Einzelnen beitragen. Bis hierher scheint Apel den Paradigmenwechsel in der Philosophie konsequent vollzogen zu haben: Das isoliert handelnde Subjekt wird durch die Diskursgemeinschaft als Handlungs- und damit auch als Verantwortungssubjekt teils ersetzt, teils ergnzt. Begrndet sieht Apel diese Verantwortung im Faktum des argumentativen Diskurses. Apel argumentiert, dieser sei erstens ein apriorisches Perfekt, dessen normativer Gehalt zweitens als Verantwortung zu dechiffrieren sei. Drittens sei der Geltungsbereich von Verantwortung universell und transzendiere die faktischen Diskurse. Es scheint jedoch fraglich, ob es Apel wirklich gelingt, diesem selbst gestellten Anspruch vollstndig gerecht zu werden. Zwar kann er in einem ersten Schritt durch den Verweis auf den performativen Selbstwiderspruch zeigen, dass es sich beim Diskurs um ein apriorisches Perfekt in dem Sinne handelt, dass jeder daran Zweifelnde bereits daran teilhat. Unklar bleibt m. E. aber, inwiefern im Diskurs immer schon die drei moralischen Grundnormen der Gerechtigkeit, der Solidaritt und der Verantwortung impliziert sind: hnlich wie Kant Freiheit als unabdingbare Voraussetzung dafr sieht, berhaupt so etwas wie das
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II.2. Karl-Otto Apels Diskursverantwortung
Moralgesetz denken zu kçnnen, scheint Apel sagen zu wollen, dass wir, um so etwas wie argumentativen Diskurs berhaupt sinnvoll praktizieren zu kçnnen, immer schon Verantwortung bernommen haben. Darber hinaus msste Apel zeigen, dass die hier vorausgesetzte Grundnorm der Verantwortung wirklich fr alle Situationen der Lebenswelt gilt. Apel behauptet dies zwar, widerspricht sich aber mit seinem Vorschlag zur Lçsung des Anwendungsproblems selbst, wenn er einrumt, dass wir eben nicht in einer idealen, sondern in einer realen Kommunikationsgemeinschaft leben, in der die Diskursbedingungen stets nur partiell realisiert sind; dann nmlich mssen wir gerade nicht ausschließlich im Sinne des argumentativen Diskurses handeln, sondern immer auch strategisch-rational, um zugleich unserer Verantwortung fr das Selbstbehauptungssystem nachkommen zu kçnnen. Mit diesem Eingestndnis fllt Apel hinter seine Annahmen eines wesentlich diskursiv verfassten Verantwortungsbegriffs zurck. Stattdessen nhert er sich einem Verantwortungsbegriff la Max Weber, der jedoch dem Begriff einer primordialen Verantwortung widerspricht, da er gerade nicht mehr auf dem argumentativen Diskurs basiert. Daher kann auch Apels Antwort auf die dritte Frage – Wie lsst sich verantwortungsbewusst handeln? – nicht gnzlich berzeugen: Angesichts der Tatsache, dass wir nicht in einer idealen, sondern in einer realen Diskursgemeinschaft leben, hat Apel die Diskursethik durch einen Teil B ergnzt. Whrend Teil A das Handlungsprinzip fr eine ideale Kommunikationssituation liefere, trage der Teil B in Form eines Ergnzungsprinzips gerade dem kontrafaktischen Charakter dieser Antizipation Rechnung. Damit fordert Apel, nicht allein diskurs-ethisch, sondern immer auch strategisch zu handeln, allerdings nur, sofern diese Strategie langfristig zur Realisierung idealer Diskursbedingungen beitrage. So versucht Apel Prinzipien- und Verantwortungsethik miteinander zu verbinden. Meines Erachtens gelingt es ihm jedoch nicht zu erklren, wie sich strategisch-rationales und moralisch-rationales (diskursethisches) Handeln als verantwortungsbewusste Praxis vereinbaren lassen. Apels Position erscheint zweideutig: Einerseits geht er zwar davon aus, dass an die Stelle eines isoliert handelnden Subjekts eine im Diskurs sich verstndigende Diskursgemeinschaft tritt, deren Angehçrige sich untereinander diskursiv verstndigen und die eben dadurch Verantwortung trgt; andererseits meint er aber trotzdem, jedem Einzelnen die Verantwortung fr das von ihm vertretene Selbstbehauptungssystem aufladen zu kçnnen.
1. Exkurs
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1. Exkurs: Gesinnungsethik versus Verantwortungsethik oder die Mçglichkeit einer Synthese? Um die Probleme, die sich fr Apel gerade in Bezug auf die Frage einer verantwortlichen Praxis ergeben, angemessen zu verstehen, ist es wichtig, sich eine von Max Weber in seinem Text Politik als Beruf 185 getroffene Unterscheidung zu vergegenwrtigen. Dieser Hintergrund kann erhellen, wie Apel beides fordern kann: zum einen im Sinne seiner Konzeption einer primordialen Mit-Verantwortung die diskursive Praxis in allen Situationen der Lebenswelt, zum anderen, und zwar ebenfalls aus Verantwortung, gerade die Einschrnkung dieser Praxis in lebensweltlichen Situationen, in denen die idealen Diskursbedingungen noch nicht ausreichend realisiert sind. Die hieraus sich ergebende Ambivalenz ist es, die Apel dazu fhrt, in seiner Transzendentalpragmatik nicht nur zwei Stufen, sondern außerdem zwei Teile zu unterscheiden. Offensichtlich unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges und der ihm folgenden Revolutionen reflektiert Max Weber 1919 in seinem Aufsatz Politik als Beruf das Verhltnis von Politik und Ethik186 und fragt, ob die beiden kontradiktorische Sphren çffentlichen Handelns sind, (ob es also ausgeschlossen ist, dass wir da, wo wir politisch handeln, gleichzeitig auch moralisch handeln) oder ob sie zumindest teilweise kongruieren. In seiner Antwort unterscheidet Weber zwischen einer „absoluten“187 Ethik und der Politik und konstatiert: Whrend die Politik Handeln allein an den Folgen bemesse, frage die „absolute Ethik“ gerade nicht nach Folgen.188 In diesem Sinne kann nach Weber „ethisch orientiertes Handeln unter zwei voneinander grundverschiedenen, unaustragbar gegenstzlichen Maximen stehen […]: es kann ,gesinnungsethisch‘ oder ,verantwortungsethisch‘ orientiert sein“189. Der Gegensatz zwischen beiden Typen stellt sich also zunchst als kontradiktorisch dar: Entweder ist Handeln gesinnungsethisch, dann aber nicht gleichzeitig auch verantwortungsethisch, oder aber es ist verantwortungsethisch, dann aber nicht gesinnungsethisch. Gleichwohl, so betont Weber etwas berraschend, sei Gesinnungsethik keinesfalls mit Verantwortungslosigkeit und Verantwortungsethik nicht mit Gesin185 Vgl. Weber, Politik als Beruf, 67 – 75. 186 Max Weber unterscheidet hier offensichtlich nicht zwischen Moral und Ethik. 187 Damit ist zunchst die christliche Ethik gemeint, trifft aber generell auf jede Prinzipienethik wie etwa die kantische zu. 188 Vgl. Weber, Politik als Beruf, 68 f. 189 A. a. O., 70.
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II.2. Karl-Otto Apels Diskursverantwortung
nungslosigkeit gleichzusetzen. Zwar kçnne eine Handlung nicht zugleich gesinnungsethisch und verantwortungsethisch sein, da wir als Handlungsgrund entweder gesinnungsethische Prinzipien angeben oder aber die Bercksichtigung der voraussichtlichen Folgen zum Maßstab unseres Handelns machen kçnnen; doch heißt das fr die lebensweltliche Praxis nicht, dass wir immer dann, wenn wir uns in unserem Handeln nach Prinzipien richten, bereits verantwortungslos handeln. Tatschlich kçnnen wir mit unserem Handeln unserer Verantwortung auch dann gerecht geworden sein, wenn es nicht durch sie motiviert wurde. Whrend der Gesinnungsethiker also eine Handlung allein aufgrund der Motive, d. h. der Absichten, die jemanden bei seinem Handeln geleitet haben, bewertet wissen will und die Folgen der Handlung nicht einbezieht, geht der Verantwortungsethiker von der menschlichen Fehlbarkeit aus und beurteilt deshalb moralisches Handeln aufgrund der voraussehbaren Folgen. Fr die Politik fordert Weber eindeutig ein verantwortungsethisches Handeln: „Keine Ethik der Welt kommt um die Tatsache herum, daß die Erreichung ,guter Zwecke‘ in zahlreichen Fllen daran gebunden ist, daß man sittlich bedenkliche oder mindestens gefhrliche Mittel und die Mçglichkeit oder auch die Wahrscheinlichkeit bler Nebenerfolge mit in den Kauf nimmt“190. Es sei das Resultat und nicht das Motiv, das die Mittel heilige. Dagegen msse die Gesinnungsethik „jedes Handeln, welches sittlich gefhrliche Mittel anwendet, […] verwerfen“191. Fr Weber ist es unmçglich, „Gesinnungsethik und Verantwortungsethik unter einen Hut zu bringen oder ethisch zu dekretieren“192. Auch wenn Verantwortungsethik keine Gesinnungslosigkeit und umgekehrt Gesinnungsethik keine Verantwortungslosigkeit bedeuten, kçnne man nie gleichzeitig verantwortungsethisch und gesinnungsethisch handeln. Gelten beide Ethik-Typen in der philosophischen Tradition – sptestens seit Max Weber – als wesentlich inkompatibel, so versucht Karl-Otto Apel mit seiner Transzendentalpragmatik eine Verbindung, ohne dabei die grundstzliche Spannung zwischen beiden aufheben zu wollen. Fr notwendig hlt Apel eine solche Verbindung aus zwei Grnden: Einerseits seien „angesichts der internationalen Herausforderung der çkologischen Krise und angesichts der erstmals unausweichlichen Notwendigkeit des Zusammenlebens verschiedener soziokultureller Traditionen bzw. Le190 A. a. O., 71. 191 A. a. O., 72 f. 192 A. a. O., 73.
2. Exkurs
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bensformen“193 universell gltige Prinzipien zu entwickeln; andererseits zwinge uns die Ausweitung der menschlichen Handlungsmacht, in bis dahin nicht gekanntem Ausmaße nicht nur individuell zurechenbare Verantwortung zu bernehmen, sondern auch der Mit-Verantwortung fr „die vielleicht irreversiblen Folgen und Nebenfolgen unserer kollektiven Aktivitten“194 nachzukommen.
2. Exkurs: Verantwortung als Moralstrategie: Eine alternative Antwort auf Habermas? Neben Apel hlt auch Marcel Niquet in seinen berlegungen „Verantwortung und Moralstrategie“ gegen Habermas an der Notwendigkeit einer mehrstufigen Diskursethik fest und geht dabei auf die von Habermas gemachten Einwnde ein. Niquet beharrt wie Apel auf der Frage, wie wir in der Lebenswelt, in der die idealen Diskursbedingungen hçchstens teilweise erfllt sind, trotzdem verantwortlich handeln kçnnen. Er mçchte zeigen, „daß eine Diskurstheorie der Moral von Anfang an […] als Theorie verantwortbaren moralischen Handelns durchgefhrt werden muß“195, und schlgt zu diesem Zweck Differenzierungen und Ergnzungen vor, die Apels Unterteilung der Diskursethik in Teil A und B przisieren und argumentativ untersttzen sollen. Dabei geht es ihm 1.) um eine Explikation der Bedingungen, unter denen Teil-A-Normen gltig sind, und um die Unterscheidung zwischen Akzeptanz- und Befolgungsuniversalisierung; 2.) um eine Differenzierung zwischen Gltigkeit und Befolgungsgltigkeit – Habermas verwechsle die subjunktive und die faktizitre Lesart dieser Bedingungen – und 3.) um die Einfhrung und Bestimmung einer Folgenorm. Ich werde dies zunchst kurz erlutern: 1.) Niquet bestimmt drei logische Elemente oder Bedingungen, die erfllt sein mssen, damit die Prinzipien U bzw. D hinreichende deontologische Gltigkeit beanspruchen kçnnen: (a) Akzeptanzuniversalisierung, (b) Befolgungsuniversalisierung und (c) kausale Handlungsfolgenverantwortung: Akzeptanzuniversalisierung (a) sei erfllt, wenn alle (Betroffenen) einer in einem praktischen Diskurs zur Prfung stehenden 193 Karl-Otto Apel, „Diskursethik vor der Problematik von Recht und Politik“, 33. 194 Apel, „First Things First“, 23, vgl. auch 26 f. 195 Marcel Niquet, „Verantwortung und Moralstrategie: berlegungen zu einem Typus praktisch-moralischer Vernunft“, 43.
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II.2. Karl-Otto Apels Diskursverantwortung
Norm nach rationalen berlegungen zwanglos zustimmen kçnnen.196 Befolgungsuniversalisierung (b) hingegen setze voraus, dass auch die allgemeine Befolgung einer Norm unterstellt werden kann. Nur dann lasse sich rechtfertigen, dass eine Norm N als „,Richtschnur‘ moralischen Handelns“197 gilt, wenn sowohl alle von ihr Betroffenen sie akzeptieren kçnnen (also von Akzeptanzuniversalisierung zu sprechen ist), als auch unterstellt werden darf, dass alle von ihr Betroffenen diese Norm befolgen. Fr den Teil A der Diskursethik, d. h. unter idealen Diskursbedingungen, ist eine Norm nach Niquet dann gltig, wenn sie die Bedingungen der Akzeptanz- und Befolgungs-Universalisierung erfllt und die Verantwortung fr Folgen und Nebenfolgen unseres Handelns mit einschließt. Darber hinaus impliziere die Habermas’sche Diskursethik schließlich (c) mit dem Prinzip U „kausale Handlungsfolgenverantwortung“. So seien Akteure „fr die ihnen rational zurechenbaren (kausalen) Konsequenzen ihrer Handlungen gegenber davon Betroffenen in bestimmten Hinsichten verantwortlich“198. 2.) Auch wenn Niquet bisher nur die Bedingungen untersucht hat, unter denen Teil-A-Normen gltig sind, d. h. Normen unter idealen Diskursbedingungen, hlt er diesen Begriff „gltig“ fr weiter differenzierungsbedrftig: Kognitiv gltige Normen sind fr ihn nicht gleichzusetzen mit befolgungsgltigen Normen. In seinen Augen begeht Habermas mit seinem Prinzip (U) den Fehler anzunehmen, dass wir nach einer kognitiv fr gltig erachteten Norm N immer auch handeln sollen.199 Darin, „in dem ,harmlosen‘ logischen bergang von der kognitiven Gltigkeit von N gemß U zur Zumutung eines pflichtartigen Sollens der Befolgung“ liegt jedoch fr Niquet „ein non sequitur“.200 Habermas unterscheide in seinem Universalisierungsgrundsatz nicht hinreichend zwischen subjunktiver und faktizitrer Lesart der Befolgungsuniversalisierung. Niquet paraphrasiert und erweitert deshalb die Habermas’sche Formulierung von U folgendermaßen: (U’) Eine Moralnorm N ist gltig, wenn die Folgen und Nebenfolgen, die sich fr die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen voraussichtlich ergeben wrden, wenn N allgemein befolgt wrde, von allen zwanglos akzeptiert werden kçnnen.201 196 197 198 199 200 201
A. a. O., 44 f. A. a. O., 45. Ebd. Vgl. ebd. A. a. O., 46. Ebd. – Das Habermas’sche Prinzip dagegen lautet: „(U) Jede gltige Norm muß der Bedingung gengen, daß die Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus ihrer
2. Exkurs
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Indem Niquet die Prdikate des Konditionalsatzes in den Konjunktiv setzt, betont er den hypothetischen Charakter der hier angegebenen Bedingung einer allgemeinen Befolgung. In der Lebenswelt sei jedoch keineswegs sicher, dass die geprfte Norm auch allgemein befolgt wrde. Von einem Befolgungssollen sei aber nur zu sprechen, wenn vorausgesetzt werden kçnne, daß „N allgemein befolgt wrde“. In „der faktischen Handlungswelt“ sei niemand verpflichtet, „in den (relevanten) realen Kontexten faktischen Handelns“ eine Norm zu befolgen, wenn er „die allgemeine Befolgung von N faktisch“ nicht unterstellen kann.202 Erst wenn die subjunktive Unterstellung zu einer faktischen werde, seien wir dazu verpflichtet, gemß U’ zu handeln. Gltigkeit und Befolgungsgltigkeit einer Norm unterscheiden sich also hinsichtlich ihrer praktischen Verbindlichkeit: Die Gltigkeit einer Norm N setzt nur voraus, dass alle diese Norm rational akzeptieren kçnnen, sagt aber noch nicht, dass wir in der Lebenswelt auch nach ihr handeln sollen. Befolgungsgltigkeit hingegen verlangt, sofern „die subjunktiv unterstellte allgemeine Befolgung von N’ in der realen, faktischen Handlungswelt aller voraussichtlich Betroffenen empirisch wahr ist“203, auch nach ihr zu handeln. Habermas, so kritisiert Niquet, bersehe diese Unterscheidung oder bercksichtige sie zumindest nicht hinreichend: In der realen Lebenswelt kçnne nicht davon ausgegangen werden, dass eine U-gltige Norm auch allgemein befolgt werde, so dass eine reale Handlung nicht allein, weil sie dem Universalisierungsprinzip gengt, als moralisch gelten drfe (Niquet bringt hierfr das Beispiel „Vermeide Grausamkeiten“204) – „dieser Welt“ sei keine „Befolgungsuniversalitt von N […] rational einkonstruiert“.205 Damit besttigt Niquet Apels Einschtzung, dass in einer „sozialen Welt […] mit einer bereits erfolgten geschichtlichen Realisierung der normalen Anwendungs-Bedingungen der Diskursethik […] berhaupt nicht gerechnet werden darf“206. Und so deckt sich offensichtlich auch Niquets weiterer Vorwurf, Habermas unterscheide nicht zwischen subjunktiver und faktizitrer Lesart der Befolgungsuniversalisierung, mit dem von Apel, Habermas abstrahiere „unter stillschweigender Voraussetzung idealer An-
202 203 204 205 206
allgemeinen Befolgung fr die Befriedigung der Interessen jedes einzelnen voraussichtlich ergeben, von allen Betroffenen zwanglos akzeptiert werden kçnnen.“ Ebd. A. a. O., 47; Hervorhebung E. B. Ebd. Ebd. Apel, DuV, 139.
138
II.2. Karl-Otto Apels Diskursverantwortung
wendungsbedingungen des Prinzips praktischer Diskurse in der sozialen Welt […] von dem soziohistorischen Problem der Realisierung der Anwendungsbedingungen der postkonventionellen Diskursethik“207. Aus der Unterscheidung zwischen realer und idealer Diskursgemeinschaft, zwischen faktisch und subjunktiv unterstellter Befolgungsuniversalisierung resultiert fr Niquet eine „neue Dimension von Verantwortbarkeit“208 : Befolgungsuniversalisierung einer Norm sei gleichzusetzen mit der „Bedingung allgemeiner Reziprozitt des Handelns eines jeden […] gemß einer Moralnorm“209. Bei der Unterscheidung zwischen Gltigkeit und Befolgungsgltigkeit komme es dann letztlich darauf an, ob wir im Sinne der „Reziprozittsverantwortung“ die „Unterstellung allgemeiner Reziprozitt der Befolgung von N in der realen Handlungswelt“ verantworten kçnnen.210 In diesem Sinne fhrt Niquet zum Begriff der Befolgungsgltigkeit aus: Eine Moralnorm N’ ist befolgungsgltig, wenn N’ U- (bzw. U’) gltig ist und die subjunktiv unterstellte allgemeine Befolgung von N’ in der realen Handlungswelt W von allen faktischen und virtuellen Teilnehmern eines praktischen Diskurses gegenber jedem einzelnen voraussichtlich Betroffenen verantwortet werden kann.211
Deutlicher als bei Apel wird hier benannt, unter welchen Voraussetzungen wir wirklich nach einer gltigen Norm handeln sollen. Befolgungsgltige Normen haben zwei Bedingungen zu erfllen: Zum einen mssen sie, um berhaupt gltig zu sein, dem Universalisierungsgrundsatz entsprechen. Zum anderen muss ihre subjunktiv unterstellte allgemeine Befolgung in der Wirklichkeit fr alle Beteiligten verantwortbar sein, d. h., man muss annehmen kçnnen, dass sich auch faktisch alle an diese Norm halten bzw. Abweichungen von ihr irrelevant fr das eigene Handeln sind. Erst wenn die zweite Bedingung erfllt wird, ist eine Norm nach Niquet auch befolgungsgltig: Nur so ist unser Handeln sowohl im Sinne der kausalen Handlungsverantwortung als auch im Sinne der Reziprozittsverantwortung verantwortlich zu nennen. Auch Niquet betont in seiner Darstellung des Anwendungsproblems den kontrafaktischen Charakter der idealen Diskursbedingungen: Selbst wenn eine Norm fr alle rational akzeptabel ist, kçnnen wir nie davon 207 208 209 210 211
A. a. O., 138. Niquet, „Verantwortung und Moralstrategie“, 47. Ebd. A. a. O., 48. Ebd.
2. Exkurs
139
ausgehen, dass alle anderen nach ihr handeln und somit auch die zweite Bedingung der Befolgungsuniversalisierung, die Niquet als Reziprozittsverantwortung bezeichnet, erfllt ist.212 Es bleibt allerdings fraglich, was Niquet mit seiner Differenzierung zwischen Gltigkeit und Befolgungsgltigkeit einer Norm wirklich zur Lçsung der inneren Widersprche beitragen kann, die sich fr Habermas aus Apels Abstufung der Diskursethik ergeben.213 3.) Niquet mçchte – und zwar innerhalb der Moraltheorie – die Frage beantworten, wie wir handeln sollen, wenn Normen als U-gltig erkannt, jedoch nicht befolgungsgltig sind; denn dass sie die Reziprozittsforderung nicht erfllen, ndere nichts daran, dass sie als U-gltige Normen „moralischer Natur“ seien. Niquet schlgt deshalb die Einfhrung einer Folgenorm vor und erlutert: Eine solche Folgenorm N’ heißt befolgungsgltig, wenn die voraussichtlichen Konsequenzen und Nebenfolgen einer nicht-allgemeinen Befolgung von N’ fr die Befriedigung der Interessen und Prferenzen jedes einzelnen Betroffenen von allen faktischen N-Befolgern und von allen faktisch von der nichtallgemeinen Befolgung von N Betroffenen rational akzeptiert werden kçnnten.214
Nach einer Folgenorm (N’) soll also gehandelt werden, wenn die ihr zugrunde liegende Norm (N) zwar gltig, aber nicht befolgungsgltig ist, und wenn die explizit nicht-allgemeine Befolgung von N’ von allen, die sich trotz der Befolgungsungltigkeit der Norm N an diese halten, und allen, die von 212 An diesem Punkt wird zwar ersichtlich, weshalb Habermas in Niquets Augen keine ausreichenden verantwortungstheoretischen Konsequenzen zieht. Nicht geklrt bleibt allerdings die Frage, inwiefern Niquet Habermas wirklich zu Recht vorwirft, unerlaubterweise von der kognitiven Gltigkeit einer Norm auf ihre Befolgungsgltigkeit zu schließen. Denn Habermas rumt ja durchaus ein, dass es Bedingungen gebe, unter denen einer Person die Befolgung einer als moralischgltig anerkannten Norm nicht zuzumuten sei (vgl. Habermas, „EzD“, 198); hier sei zwar nach wie vor von „universeller Akzeptanz“ einer Norm zu sprechen, praktisch sei aber aufgrund mangelnder Zumutbarkeit nicht nach ihr zu handeln. Anders als Niquet behauptet, scheint Habermas also sehr wohl zwischen Gltigkeit und Befolgungsgltigkeit einer Norm zu unterscheiden – wenn auch nicht unter Verwendung dieser Termini. Stattdessen spricht Habermas von ,universeller Akzeptanz‘ und ,Zumutbarkeit ihrer Anwendung‘. Worin er sich wirklich von Niquet und auch von Apel unterscheidet, ist die Art und Weise, wie er das Problem lçsen will: nmlich nicht mehr allein auf der Ebene der Moral, sondern durch die Institutionalisierung des Rechts. 213 Siehe auch oben, Abschnitt II.2.3.2. 214 Niquet, „Verantwortung und Moralstrategie“, 51.
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II.2. Karl-Otto Apels Diskursverantwortung
der nicht-allgemeinen Befolgung von (N) mçglicherweise betroffen sind, akzeptiert werden kann. Zur Veranschaulichung konstruiert Niquet den Fall eines Internierungslagers, in dem die Gefangenen gefoltert werden. Die Frage lautet: Wie das Leben der Gefangenen retten? Eine Norm N, die beispielsweise fordert, „lçse Konflikte auf argumentative Weise“, sei zwar gltig, doch drfe ihr nicht mehr nachgekommen werden, „da schon allein in der erforderlichen Zeitspanne der Initiierung solcher Maßnahmen Menschen weiterhin sterben, und die Bewacher keinerlei Reziprozittsverpflichtung eingehen“ wrden.215 Wir leben nicht unter idealen Diskursbedingungen, und deshalb, so schließt Niquet, mssten die „entsprechenden moralischen Handlungsnormen NI … Nn […] offensichtlich befolgungsungltig“216 sein. Kann stattdessen, fragt Niquet, eine Folgenorm N’, die beispielsweise fr den Fall des Internierungslagers die Befreiung der Inhaftierten fordert und dabei auch Gewalt in Kauf nehmen wrde, als befolgungsgltige Norm moralischen Handelns angesehen werden? Wie wre das zu begrnden? Eindeutig ist sie selbst nicht mehr U-gltig: Gewaltanwendung kann rational nicht von allen akzeptiert werden. Um diese Normen dennoch als befolgungsgltig zu legitimieren, fhrt Niquet noch ein Verhltnismßigkeitsprinzip ein: Es gelte dafr zu sorgen, dass zum einen „die Interessen aller aktual Betroffenen bercksichtigt“ wrden, zum anderen aber „so zu handeln, daß die Interessen jedes einzelnen aktual Betroffenen im voraussichtlich geringstmçglichen Umfang beschdigt oder verletzt werden“.217 Hieraus ergibt sich dann als weitere Differenzierung der Befolgungsgltigkeit einer Folgenorm: Eine Folgenorm N’ (zu einer U-gltigen Moralnorm N) heißt befolgungsgltig, wenn die voraussichtlichen Konsequenzen und Nebenwirkungen einer nichtallgemeinen Befolgung von N’ fr die Befriedigung der Interessen und Prferenzen jedes einzelnen von allen faktischen N-Befolgern, von allen faktisch von der nicht-allgemeinen Befolgung von N-Betroffenen und von allen advokatorisch vertretenen Betroffenen der Befolgung von N’ rational akzeptiert werden kçnnen.218
215 Ebd. 216 Ebd. 217 Niquet, „Verantwortung und Moralstrategie“, 53. – Aus demselben Grund fordert Apel mit seinem Ergnzungsprinzip, jede Emanzipationsstrategie an ein „einschrnkendes Bewahrungsprinzip“ zu binden: Erhaltungsprinzip und Vernderungsprinzip sollen sich zu einem einzigen Prinzip zusammenschließen. 218 A. a. O., 52 f.; letzte Hervorhebung E. B.
2. Exkurs
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Zusammengefasst ergibt sich aus Niquets Unterscheidung von Normen und Folgenormen folgendes Gedankengebude fr moralisch-praktische Vernunft: Auf einer ersten Ebene (a) stehen U-gltige Moralnormen, die Niquet als „Gerechtigkeitsvernunft“219 definiert. U-gltige Normen, die „in einem realen Handlungskontext befolgungsgltige Moralnormen“ seien, stehen auf der zweiten Ebene (b) – hier liege der Bereich der „real verantwortbaren Gerechtigkeitsvernunft“.220 Und schließlich gebe es auf einer dritten Ebene den Bereich der Normen, die U-ungltig seien, aber „befolgungsgltige[…] Moralnormen“ – dies sei der Bereich der „real verantwortbare[n], moralstrategische[n] Vernunft in intrinsischem Verweisungszusammenhang zu Normen der Gerechtigkeitsvernunft“.221 Wie Apel pldiert auch Niquet fr eine innere Abstufung der Diskursethik. Anhand von Niquets Differenzierung zwischen gltigen und befolgungsgltigen Normen ist vielleicht deutlicher als durch Apels Unterteilung in Teil A und Teil B nachvollziehbar, dass wir in realen Handlungssituationen immer auch das Verhalten der anderen mit bercksichtigen mssen, dabei aber nie unterstellen kçnnen, dass die anderen sich alle an moralische Normen halten. Doch lçst Niquet damit wirklich das Problem? Inwiefern kçnnen Normen befolgungsgltig sein und dabei ihren moralischen Status bewahren, wenn sie U-ungltig sind? Kann von einer moralisch-verantwortbaren Norm gesprochen werden, die gerade nicht mehr die allgemeine Befolgung, sondern ein Ausnahmeverhalten regeln soll? Niquet ist sich der Schwierigkeiten seiner Unterscheidung durchaus bewusst und betont deshalb nachdrcklich den relationalen Charakter von „Folgenormen“. Auch wenn diese „gemß des Universalisierungsprinzips U bzw. U’ ungltige Normen“222 seien, blieben sie „in eigentmlicher Weise [!] auf die ihnen entsprechende U-gltige Norm“223 bezogen. Diese sei zwar nicht befolgungsgltig, die in ihr ausgedrckte Handlungsverpflichtung jedoch „nicht aufgehoben, sondern nur suspendiert“224. Das heißt, wir unterliegen „ihr weiterhin, freilich jetzt im Modus einer Einschrnkung der Art ihres folgenorm-konformen, befolgungsgltigen Handelns, die zu den bereits erluterten Restriktionen hinzutritt“225. 219 220 221 222 223 224 225
A. a. O., 56. Ebd. Ebd. A. a. O., 53. Ebd. Ebd. Ebd.
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II.2. Karl-Otto Apels Diskursverantwortung
Trotzdem wird auch bei Niquet nicht klar, wie diese „eigentmliche Bezogenheit“, d. h. das Verhltnis zwischen Norm und Folgenorm, zu verstehen ist und welchen Sinn dieser Gedankengang haben soll. Niquet selbst kann das „intrinsische Verweisungsverhltnis von Folgennormen auf Ugltige Normen“226 nur durch ein Beispiel erlutern: Wie jemand, der der Norm folge, nicht zu lgen, an der „Herstellung eines Zustands mitarbeitet“, in dem nicht gelogen wird, so arbeite „einer, der moralisch verantwortbar lgt, an der Herstellung eines Zustands mit, in dem derartiges Lgen berflssig ist“.227 Dieses Beispiel offenbart zwei Schwchen – eine inhaltliche und eine methodische: 1.) Wie kçnnen wir in der Lebenswelt verlsslich zwischen moralisch-verantwortbarem Lgen und nicht-verantwortbarem unterscheiden? Oder, um das Beispiel des Internierungslagers ein weiteres Mal zu bemhen, wie kçnnen wir in der Lebenswelt wissen, wann es zu spt fr die Einleitung von Diskursen und strategischen Verhandlungen ist? In konstruierten Beispielen mag eindeutig entscheidbar sein, dass nur noch eine gewaltsame Befreiung mçglich ist, aber in der Praxis scheint das allerhçchstens retrospektiv mçglich. So wurde nach dem Zweiten Weltkrieg den Alliierten vorgeworfen, dass sie die Konzentrationslager, deren Existenz ihnen durchaus bekannt war, nicht durch Bombardierung zerstçrt htten; das htte zwar akut weitere Todesopfer unter den Insassen bedeutet, aber die Vernichtung von weiteren, mçglicherweise Millionen Menschen verhindern kçnnen. Doch prospektiv zu argumentieren, dass gewaltfreies Handeln nicht mehr mçglich ist, bleibt immer riskant und anfechtbar, wie die Argumentation der amerikanischen Regierung illustrieren kann, die, um ihre militrische Intervention gegen den Irak moralisch zu rechtfertigen, darauf verwies, das Leben der Iraker und die Welt vor der Atommacht Irak nur noch durch eine gewaltsame Beseitigung von Saddam Husseins Regime schtzen zu kçnnen. In konstruierten Beispielen mag es mçglich sein, klar zu entscheiden, wann es als moralisch-verantwortbar gelten kann zu lgen und wann nicht. Doch wie kçnnen wir das in der Realitt – hat der stellvertretende Verteidigungsminister der USA moralisch-verantwortbar gelogen? 2.) Die Tatsache, dass Niquet selbst auf ein Beispiel ausweicht, um das Verhltnis von Norm und Folgenorm zu klren, zeigt in meinen Augen, dass der Text weniger exakt ist, als er zu sein beansprucht: Wenn Niquet wirklich weiterhin an einer Prinzipienethik festhalten will, msste das 226 Ebd. 227 A. a. O., 54.
2. Exkurs
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Verhltnis zwischen zwei Arten von Normen auch unabhngig von Beispielen plausibel werden. Niquets Formulierungen von der „eigentmliche[n] Bezogenheit“ und vom „intrinsischen Verhltnis“ steht in merkwrdigem Kontrast zu seiner sonstigen Bemhung um begriffliche Schrfe und wirkt so, als ob damit logische Ungenauigkeiten oder Ungereimtheiten berspielt werden sollen: Norm und Folgenorm sollen sich in ihrer Gltigkeit ergnzen. Whrend die Norm N gltig, aber nicht befolgungsgltig ist, soll der an sie gebundenen Folgenorm selbst keine Gltigkeit zukommen, und dennoch soll sie befolgungsgltig sein. Damit widerspricht Niquet implizit den von ihm postulierten Bedingungen fr die Gltigkeit von moralischen Normen: Folgenormen erfllen nicht die fr Normen notwendige Bedingung der Akzeptanz-Universalisierung – eine Norm wie „wende Gewalt (gegen die Aufseher eines Internierungslagers) an“ kann rational nicht die zwanglose Zustimmung aller bekommen. Inwiefern kann aber dann noch von moralischen Normen gesprochen werden, die sich doch gerade durch ihre universale Gltigkeit auszeichnen? Darf bzw. kann man von einer moralischen Norm sprechen, die die Ausnahme von einer anderen Norm regeln soll? Ist das dann noch moralisch zu nennen, kann Lgen dann wirklich noch eine Ausnahme, eben eine u. U. vertretbare Ausnahme von einer Norm sein? Einem moralischen Normensystem, das sowohl die Regel als auch die Ausnahme normativ regelt, droht nach meinem Verstndnis die Beliebigkeit oder die infinite Kasuistik in einer unbegrenzbaren Zahl von Ausnahmefllen. Deutlich geworden sind an Niquets Position nicht nur die Fragwrdigkeit und die Problematik des Anspruchs, Prinzipienethik und Verantwortungsethik verbinden zu wollen, sondern einmal mehr die Schwchen jedes einzelnen der beiden Idealtypen: Prinzipienethiken scheinen in der Lebenswelt damit berfordert, das Verhalten der anderen in ausreichendem Maße zu bercksichtigen. Vor allem vor dem Hintergrund kollektiver, immer strker vernetzter Handlungen ist klar, dass verantwortliches Handeln die Kommunikation, die Abstimmung mit anderen erfordert. In lebensweltlichen Kontexten scheint das jedoch oft nicht realisierbar: In den meisten Konfliktsituationen kçnnen keine handlungsentlasteten Diskurse gefhrt werden. Apel hat fr solche Situationen die Form eines fiktiven Diskurses vorgeschlagen. Doch lsst sich ein Diskurs wirklich fiktiv mit der eigenen Person fhren? Habermas schließt das aus, wenn er betont, dass Diskurse nicht „monologisch, in der Form einer im Geiste hypothetisch durchgespielten Argumentation“228 gefhrt werden kçnnen. 228 Habermas, MuK, 78.
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II.2. Karl-Otto Apels Diskursverantwortung
Die Verantwortungsethik auf der anderen Seite muss dagegen ankmpfen, dass sie ein Wissen voraussetzt, das sie nicht hat: In einer Handlungssituation verfgen wir weder ber ein Erfahrungswissen bzw. eine begrndbare Intuition darber, wann es etwa zu spt ist fr friedliche Verhandlungen, noch ber ein Wissen darber, was die anderen an der Interaktion Beteiligten wirklich wollen. Es stellt sich also erneut die Frage, wie verantwortlich gehandelt werden kann.
II.3. Emmanuel Lvinas’ ursprungslose Verantwortung Wie im vorangegangenen Kapitel dargelegt, ist es Karl-Otto Apels großes Verdienst, nicht allein nach einer transzendentalpragmatischen Begrndung von Verantwortung zu suchen, die ohne teleologische Voraussetzungen auszukommen verspricht, sondern darber hinaus auch die Frage zu stellen, wie wir in der realen Welt verantwortlich handeln kçnnen. Gleichwohl konnte sein Versuch, strategisch-rationales und moralischrationales (diskursethisches) Handeln als verantwortungsbewusste Praxis miteinander zu vereinbaren, nur bedingt berzeugen. Emmanuel Lvinas’ Schriften, wenngleich auch in ihnen Verantwortung im Mittelpunkt steht, fokussieren ein etwas anderes Problem. Die Frage, wie Menschen angesichts technischer Vernderungen und zunehmender Globalisierung verantwortlich handeln kçnnen, bleibt bei ihm unbeantwortet. Whrend sein Denken insgesamt sicherlich maßgeblich durch die Erfahrung des Holocaust geprgt ist, prsentieren sich seine philosophischen Schriften in erster Linie als eine Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition. Diese habe, so lautet sein Vorwurf, die Tendenz, die ganze Welt und damit auch den anderen Menschen mit dem ihr eigenen totalisierenden Denken zu vereinnahmen, und sei auf diese Weise blind fr das von Grund auf Ethische in der Beziehung zum anderen Menschen. Dagegen beschreibt Lvinas Verantwortung als einen alternativen, nicht-intentionalen Weltbezug, in dem wir durch den unendlichen Anspruch des Anderen, dem nicht zu antworten uns ebenso unmçglich ist wie ihm vollstndig zu antworten, erst in unserer Subjektivitt konstituiert werden. Um im Folgenden Lvinas’ Auffassung von Verantwortung zu rekonstruieren, werde ich entlang meiner drei in der Einleitung dieser Arbeit aufgeworfenen Leitfragen in einem ersten Schritt zunchst auf Lvinas’ spezifischen Begriff von Verantwortung eingehen (II.3.1.). In einem zweiten Schritt geht es – bezugnehmend auf die Frage nach einer Begrndung einer solchen Verantwortung – um Lvinas’ Versuche, Verantwortung gerade nicht zu begrnden, sondern als vor-ursprnglich,1 als „an1
Lvinas verwendet den hier leicht irrefhrenden Begriff der „Vor-Ursprnglichkeit“, der nahelegen kçnnte, es gebe noch einen Zeitraum „vor dem Ursprung“; fr
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II.3. Emmanuel Lvinas’ ursprungslose Verantwortung
archisch“ zu explizieren (II.3.2.). In einem dritten Schritt werde ich schließlich das Verhltnis von Verantwortung und Gerechtigkeit, wie Lvinas es vor allem in seinem Sptwerk angedeutet hat, przisieren und so zu erçrtern versuchen, wie im Sinne des Lvinas’schen Verstndnisses verantwortungsbewusst zu handeln wre (II.3.3.).
II.3.1. Verantwortung als dem anderen Menschen zu gebende Antwort Auf das Werk weniger Philosophen passt wohl der Satz, es enthalte im Grunde nicht mehr als einen einzigen Gedanken, so gut wie auf das von Lvinas – zumindest auf den ersten Blick –, ist doch beinahe sein gesamtes Werk dem ethischen Verhltnis gewidmet, in dem wir als Menschen dem Andern gegenber immer schon stehen und das Lvinas sptestens seit Totalitt und Unendlichkeit als Verantwortung beschreibt. Dabei hat Lvinas sein Denken und die darin entwickelte Verantwortungskonzeption sowohl sprachlich als auch thematisch immer weiter radikalisiert2 : Whrend der Begriff „Verantwortung“ in den Frhschriften wie Ausweg aus dem Sein 3 nur eine untergeordnete Rolle spielt, nimmt er bereits in Lvinas’ erstem Hauptwerk einen bedeutenden, wenn auch noch nicht den zentralen Platz ein, den er im weiteren erhalten wird. Zum Schlsselthema
2
3
Lvinas besagt jedoch „pr-originalit“, dass Verantwortung keinen weiteren Grund hat, sondern bereits jenseits des begrndenden und begrifflichen Denkens den Menschen auszeichnet. So kçnnte man sein Werk grob in vier Phasen einteilen: 1.) von seinem ersten Essay De l’vasion (1935) (Ausweg aus dem Sein) bis zu den Texten der unmittelbaren Nachkriegszeit (beispielsweise Le Temps de l’autre [1947] [Die Zeit und der Andere]); 2.) die Periode bis zum ersten Hauptwerk Totalit et Infini (1961) (Totalitt und Unendlichkeit); 3.) die Zeit um Autrement qu’Þtre ou au-del de l’essence (1974) (Jenseits von Sein oder anders als Sein geschieht), das als sein zweites großes Hauptwerk gilt und mit dem er auf die von J. Derrida in seinem Aufsatz „Violence et Mtaphysique“ (1963) („Gewalt und Metaphysik“) formulierten Einwnde antwortet, und schließlich eine 4.) Periode, die Ende der 70er Jahre beginnt und zu der Texte wie thique comme philosophie premire (1982) (Ethik als erste Philosophie – noch nicht ins Deutsche bersetzt) zhlen. Damit folge ich hier weitgehend der von J. Rolland vorgeschlagenen Einteilung von Lvinas’ Werk. Siehe dessen Vorwort zu thique comme philosophie premire, 12 f. Emmanuel Lvinas, Ausweg aus dem Sein (De l’vasion). – In der Folge zitiere ich bei allen Texten von Lvinas die deutsche bersetzung, sofern es eine solche gibt, und verweise in eckigen Klammern auf die Stelle im franzçsischen Original.
II.3.1. Verantwortung als dem anderen Menschen zu gebende Antwort
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wird Verantwortung in Humanismus des anderen Menschen 4 und Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Von zentraler Bedeutung fr Lvinas’ Verantwortungskonzeption ist seine Kritik an der phnomenologischen Konzeption der Subjektivitt. Der Phnomenologie, insbesondere in ihrer auf Husserl zurckgehenden Grundprgung, wirft er vor, dass sie das Verhltnis von Subjekt und Welt zu einseitig denkt, wenn sie die Welt mit dem Gedankeninhalt des intentionalen Subjekts identifiziert und so als eine Totalitt fasst, die ein Außerhalb des Gedachten nicht zulsst.5 Als Alternativen zu einem solchen Weltbezug beschreibt Lvinas in Totalitt und Unendlichkeit zwei ganz andere Weisen, wie sich das Subjekt zur Welt verhlt. Zum einen spricht er von der „Intentionalitt des Genusses“6, in der die Welt Nahrung ist, mit der das Subjekt seine materiellen Bedrfnisse deckt7 – auch diesen alternativen Weltbezug bezeichnet Lvinas gleichwohl als „Intentionalitt“. Gegen Husserl, der in der transzendentalen Reduktion das transzendentale Subjekt als sinnstiftendes und weltkonstituierendes zum nicht hintergehbaren Ausgang aller Erfahrung gemacht hatte, schlgt Lvinas eine Inversion des Bedingungsverhltnisses vor8 : Das Ich kann berhaupt erst sinnstiftend sein, wenn es sich durch die Welt ernhrt. Die „Intentionalitt der Vorstellung“ wre dann durch die „Intentionalitt des Genusses“ bedingt.9 4 5
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Emmanuel Lvinas, Humanismus des anderen Menschen (Humanisme de l’autre homme). Sicherlich htte Husserl bestritten, dass es sich bei Intentum und intendierendem Akt des Subjekts um eine Identitt handelt, vielmehr nimmt er eine Art Korrelation an, die ein Außerhalb des Subjekts impliziert. Dennoch luft Husserl (insbesondere seit seinen Ideen) Gefahr, hinter seinen eigenen Anspruch zurckzufallen und faktisch beide gleichzusetzen. Lvinas, TU, 179 [100]. – Siehe zu diesem Begriff auch den zweiten Teil („Innerlichkeit und konomie“) von Totalitt und Unendlichkeit. Bereits in diesem Weltbezug findet sich ein zentraler Begriff der Lvinas’schen Philosophie angezeigt – die „Nicht-Indifferenz“. Damit beschreibt Lvinas die der Intentionalitt des Bewusstseins – bei der alles Differente im Bewusstsein identifiziert wird und somit indifferent wird – entgegengesetzte Erfahrung, dass etwas gerade nicht indifferent ist: Es ist sowohl nicht identisch als auch nicht gleichgltig, da es dem Ego und dessen intentionaler Verstandesleistung – zumindest teilweise – entzogen bleibt und damit einen Wert an sich besitzt. Siehe hierzu vor allem die in Totalitt und Unendlichkeit enthaltenen Studien ber „die Trennung als Leben“ und zu „Genuß und Vorstellung“ (Lvinas, TU, 150 – 203 [81 – 115]). So berzeugend dieser Gedanke auch auf der empirischen Ebene sein mag, bleibt doch fraglich, ob Lvinas damit wirklich Husserls Postulat trifft, da es sich hierbei gerade nicht um ein kçrperliches und damit auch kçrperlich bedingtes, sondern
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II.3. Emmanuel Lvinas’ ursprungslose Verantwortung
Den zweiten alternativen Weltbezug – in Abgrenzung zu einer Intentionalitt der Reprsentation10 –, ber den Menschen als Welt habende Wesen immer schon verfgen, beschreibt Lvinas als Begegnung mit dem Gesicht des anderen Menschen: Es erschçpfe sich nicht in seiner sinnlich wahrnehmbaren Gestalt, sondern unterscheide sich, so betont Lvinas explizit, „von jedem vorgestellten Inhalt“11 und sein Wesen bestehe gerade nicht darin, „vor meinem Blick als Thema aufzutreten, sich als ein Ganzes von Qualitten, in denen sich ein Bild gestaltet, auszubreiten“12. Doch was ist es dann? Offenbar steht „Gesicht“13 hier fr etwas, das Lvinas, auch
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(zumindest beim spteren Husserl ab den Ideen) um das transzendentale Ich handelt. Die Ursprnglichkeit unserer Leiberfahrung ist zuerst von Maurice Merleau-Ponty und in der deutschen Phnomenologie vor allem von B. Waldenfels untersucht worden. Siehe Bernhard Waldenfels, Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phnomenologie des Leibes. Lvinas przisiert Husserls Intentionalittsbegriff als Intentionalitt der Reprsentation, um diese Form des Bewusstseins von etwas als etwas abzugrenzen von der Weise des In-der-Welt-Seins, in der sich das Subjekt die Welt allein durch seine Sinne und eben nicht mehr in Form begrifflicher Vorstellungen (Reprsentationen) aneignet (Intentionalitt des Genusses), durch die es sich gleichzeitig selbst konstituiert. Lvinas, TU, 258 [152]. – So przisiert Lvinas in einem (in Zwischen uns wieder abgedruckten) Interview mit der Zeitschrift „Autrement“: „Man muß auch sagen, daß in meiner Art mich auszudrcken das Wort Antlitz nicht in engem Sinn verstanden werden sollte. Diese Fhigkeit des Menschen, in seiner Einzigkeit, in der Demut seiner Entblçßung und Sterblichkeit, die Herrschaft seines Rufes, seiner mahnenden Erinnerung – Wort Gottes – meiner Verantwortlichkeit zu bedeuten, kann die Nacktheit eines von Rodin geformten Arms haben. […] das Antlitz kann Bedeutung ausdrcken auf dem ,Gegenteil‘ des Gesichtes! Das Antlitz ist also nicht Augenfarbe, Form der Nase, frische Wangenfarbe etc.“ (Emmanuel Lvinas, Zwischen uns. Versuche ber das Denken an den Anderen, 275 f. [262]; bersetzung leicht gendert.) Dennoch mçchte ich – abweichend von der deutschen bersetzung von Totalit et Infini – nicht von Antlitz, sondern von Gesicht sprechen, wie es auch T. Wiemer in der von ihm besorgten bersetzung von Autrement qu’Þtre vorschlgt. Hierfr spricht, dass auch das von Lvinas im Franzçsischen verwendete Wort „visage“ ein in der Alltagssprache gebruchliches Wort ist. Die im deutschen „Antlitz“ mitklingenden altertmlichen oder sakralen Assoziationen haben im Franzçsischen „visage“ keine Entsprechung und scheinen mir der Lvinas’schen Sprache unnçtigerweise zustzliches Pathos zu verleihen. Allerdings klingen fr den in der (christlichen) Tradition Lebenden natrlich auch bei ,Gesicht‘ massive altertmliche und sakrale Assoziationen mit, steht dieser Ausdruck ja z. B. in der Bibel oft fr Traum, Vision, Offenbarung etc. Lvinas, TU, 63 [21]. „Gesicht“ scheint insofern eine passende Chiffre fr das spezifisch Menschliche, als dieses immer schon, so sehr wie kein anderer Teil des menschlichen Kçrpers, gerade
II.3.1. Verantwortung als dem anderen Menschen zu gebende Antwort
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wenn er es als solches benennt, streng genommen begrifflich nicht bestimmen kann, soll doch gerade kein intentional fassbarer Gehalt beschrieben werden. Dennoch ist die Begegnung mit dem Gesicht nicht losgelçst von seiner sinnlichen Erfahrung und scheint den Menschen zudem als Objekt der sinnlichen Wahrnehmung von allen anderen Objekten zu unterscheiden.14 Ohne es also positiv zu fassen, ohne einen Inhalt oder konkreten Gehalt zu benennen, den es ausdrckt, umschreibt Lvinas das Gesicht als etwas, „das durch sich selbst bedeutet“ bzw. als „Ausdruck“, „sprechend“ und „schon Rede“ ist.15 Es geht Lvinas also nicht um eine Identifikation des Gesichts als etwas,16 vielmehr um die Beschreibung der Art und Weise, in der das Gesicht dem Subjekt „sich selbst bedeutend“, als „Ausdruck“, als „Bedeutung“ begegnet. Auch hier ist Lvinas’ Kritik an der phnomenologischen Konzeption eines transzendentalen Subjekts als des Sinnstifters der Welt mitzudenken. Denn indem Lvinas betont, dass das Gesicht des Anderen sich selbst ausdrcke, sich selbst bedeute, bestreitet er erneut die Exklusivitt des transzendentalen Subjekts als eines Sinnstifters: Das Gesicht des Anderen als Ausdruck seiner selbst, so ließe sich Lvinas interpretieren, ist nicht auf die Sinnstiftung durch das es wahrnehmende Subjekt angewiesen, sondern ist aus sich heraus bedeutsam. Das Subjekt, das sich bisher als einzigen Sinnstifter verstanden hat, „erfhrt“ also – und zwar auf eine (zunchst) nicht-reprsentierende, nicht-propositional fassbare Art und Weise – in der Begegnung mit dem Gesicht des Anderen, dass es etwas, eine Bedeutung, einen Sinn gibt, der nicht von ihm gestiftet, nicht
mit spezifisch menschlichen Ausdrucksformen – wie der Freude, Trauer oder Wut – verbunden wird. Außerdem lsst sich Gesicht auch als das verstehen, was ansieht. 14 Siehe hierzu Thomas Bedorf, Dimensionen des Dritten. Sozialphilosophische Modelle zwischen Ethischem und Politischem, 75 f. – Offen bleibt bei Lvinas, inwiefern allein der Mensch und nicht etwa auch Tiere ein Gesicht haben, dem wir begegnen kçnnen. Mir scheint, dass sich dies zumindest nicht ausschließen lsst. Lvinas selbst soll auf diese Frage mit einer Gegenfrage, ob Schlangen ein Gesicht htten, geantwortet haben. 15 Lvinas, TU, 87 [37]. – In Jenseits des Seins benutzt Lvinas den in der heutigen Alltagssprache nicht mehr gebruchlichen Ausdruck „signifiance“ – „Bedeutsamkeit“ –, um das Verhltnis zum Anderen zu charakterisieren. Damit betont Lvinas noch einmal, dass der Andere als wesentlich bedeutend (das Partizip unterstreicht den prozessualen Charakter) zu verstehen ist, ohne jedoch deswegen auch etwas zu bedeuten. 16 Man kçnnte auch sagen: Lvinas unternimmt hier die Phnomenologie eines „Nicht-Phnomens“.
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II.3. Emmanuel Lvinas’ ursprungslose Verantwortung
durch eigene kognitive oder mentale Leistung hergestellt, sondern nur empfangen werden kann. Gleichwohl, trotz aller Vorbehalte gegen eine begriffliche Vereinnahmung des Anderen, kommt Lvinas nicht umhin, die Begegnung mit dem Gesicht des Anderen zu beschreiben, und dabei sind die mit dieser Erfahrung angesprochenen Assoziationen keineswegs vage: Als Spur seiner selbst, meiner Verantwortung anbefohlen und von mir selbst verfehlt, schuldhaft, so als sei ich verantwortlich fr seine Sterblichkeit und schuldig dadurch, daß ich berlebe – in solcher Weise ist das Gesicht eine anachronistische Unmittelbarkeit, direkter als die des Bildes, das sich der Direktheit der Anschauungsintention darbietet. In der Nhe habe ich den absolut Anderen, den Fremden, „den ich weder in meinem Schoß getragen noch zur Welt gebracht habe“, schon auf dem Hals, trage ich ihn schon, wie es in der Bibel heißt, „an meinem Busen, wie die Amme den Sugling trgt“. Er hat keinen anderen Ort, der Nicht-Eingeborene, Entwurzelte, Heimatlose, Nichtseßhafte, der Klte und der Hitze des Jahres Ausgesetzte. Gezwungen sein, auf mich zurckzukommen, genau das ist die Heimatlosigkeit oder die Fremdheit des Nchsten. Ich habe fr sie aufzukommen.17
Man mag solche Aussagen trotz ihres stark bildhaften und hyperbolischen Duktus noch mit persçnlichen Erfahrungen in Einklang oder zumindest in Verbindung bringen. Andere Passagen hingegen, in denen Lvinas aus der Begegnung mit dem Gesicht des Anderen die Unmçglichkeit des Mordes ableitet, indem er dem Gesicht als erste Worte das Gebot „Du wirst keinen Mord begehen“18 zuschreibt, wirken eher kryptisch. Eindeutig ist damit keine verbal artikulierte ußerung gemeint – dagegen spricht sowohl unsere Erfahrung als auch, dass es fr Lvinas bei der Begegnung mit dem Gesicht des Anderen gerade nicht mehr um den intentional fassbaren Weltbezug geht. Lvinas muss also, wenn er als „Ausdruck des Gesichts“ auf das 5. Gebot des Dekalogs verweist, etwas anderes intendieren – wobei seine Aussagen zunchst unklar und widersprchlich scheinen: Einerseits betont Lvinas, dass der Wille zu morden sich nur auf den anderen 17 Lvinas, JS, 204 f.; Hervorhebungen teilweise E. B [115 f.]. – Fr M. Brumlik schlgt sptestens an dieser Stelle Lvinas’ Denken des anderen Menschen in Theologie um. (Vgl. Micha Brumlik, „Lvinas’ Ethik des Antlitzes“, 110, Anm. 105.) 18 Lvinas, TU, 285 [173]. Aber auch: Emmanuel Lvinas, En dcouvrant l’existance avec Husserl et Heidegger, 173. Wolfgang Krewani bersetzt in Totalitt und Unendlichkeit Lvinas wçrtlich aus dem Franzçsischen; er greift nicht auf die in deutschen Bibelbersetzungen blicherweise verwendete Formulierung „Du sollst nicht tçten!“ zurck und bercksichtigt damit die besondere grammatische Verwendung des Indikativ Futur I als Imperativ.
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Menschen richten kçnne,19 andererseits, dass dies unmçglich sei.20 Plausibel miteinander in Einklang bringen lassen sich diese Aussagen nur, indem Lvinas, von der ethischen21 Perspektive abstrahierend, feststellt: Tçten bedeutet, ontologisch betrachtet, „nicht Beherrschen, sondern Vernichten“ und damit den „absolute[n] Verzicht auf das Verstehen“,22 da der Mord physisch vergewaltigt, was sich der begrifflichen Gewalt entzieht. In diesem Sinne kann auch nur der andere Mensch getçtet werden – er allein entzieht sich in seiner absoluten Alteritt der Macht des begreifenden Subjekts, und Vernichtung bleibt als einzige Mçglichkeit, sich dennoch seiner zu bemchtigen.23 Wenn Lvinas dessen ungeachtet gerade die Unmçglichkeit betont, den anderen Menschen zu tçten, ist dies auf der ethischen Ebene im Sinne eines vollkommenen Verbotes 24 zu verstehen: Das 5. Gebot des Dekalogs „tu ne commettras pas de meurtre“, wie es in der franzçsischen bersetzung25 lautet, verbietet kategorisch zu tçten. Bercksichtigt man jedoch die grammatische Form dieses Verbots, die neben dem Imperativ auch als Negation des Indikativ Futur I zu lesen ist – „Du wirst keinen Mord be19 „Der Andere ist das einzige Seiende, das ich kann tçten wollen.“ (Lvinas, TU, 284 [173].) – Die Frage, ob auch Selbstmord nur insofern mçglich ist, als sich der Mord gegen das Andere im Selbst richtet, wird von Lvinas direkt nicht beantwortet. Zur Widersprchlichkeit des Selbstmordes finden sich allerdings Passagen in Emmanuel Lvinas, Die Zeit und der Andere, insbesondere die Seiten 44 ff. 20 Vgl. Lvinas, TU, 57, 247 f., 284, 340 [18, 145 f., 173, 209]. 21 Wenn Lvinas von Ethik spricht, geht es ihm nie um eine normative Theorie des guten Lebens, vielmehr um die Unbedingtheit des Ethischen als „ethos“. (Den Hinweis, die fr den mit Lvinas’ Texten weniger vertrauten Leser unbliche Verwendungsweise von „Ethik“ noch einmal hervorzuheben, verdanke ich Christoph von Wolzogen.) So werden auch in der Folge die Bezeichnungen „Ethik“ bzw. „ethisch“ in Bezug auf Lvinas’ eigenes Denken gebraucht. Zur Unterscheidung von Ethik und Moral bei Lvinas siehe auch Simone Plourde und Ren Simon, „ thique et morale chez Emmanuel Lvinas“, 123 – 150. 22 Lvinas, TU, 284 [172]. 23 Auch nach Lvinas wrde es keinen Sinn ergeben, ein Buch oder einen Tisch tçten zu wollen, da sie sich nicht mit solch radikaler Alteritt der sich aneignenden Macht des Subjekts entziehen. „Tçten wollen kann ich nur ein absolut unabhngiges Seiendes, dasjenige, das unendlich meine Vermçgen berschreitet und das sich dadurch ihnen nicht entgegensetzt, sondern das eigentliche Kçnnen des Vermçgens paralysiert. Der Andere ist das einzige Seiende, das ich kann tçten wollen.“ (A. a. O., 284 [173].) Unklar ist, wie gesagt, wie es sich mit anderen Lebewesen – Tieren oder Pflanzen – verhlt oder aber mit der eigenen Person. 24 Vgl. a. a. O., 340 [209]. – Damit wrde auch Lvinas’ Moralbegriff eindeutig eine normative Ordnung implizieren. 25 Diese entspricht grammatisch der hebrischen Form.
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gehen“ –, handelt es sich nicht allein um ein Verbot, sondern um den Ausschluss jeder Mçglichkeit fr alle Zukunft. Sicherlich, so rumt auch Lvinas ein,26 ist damit nicht gemeint, dass es faktisch (auf der ontologischen Ebene) unmçglich ist, den Anderen umzubringen – nicht erst die Greueltaten des 20. Jahrhunderts verbieten eine solche Argumentation.27 Auszuschließen ist, wie Lvinas selbst an einigen Stellen przisiert, diese Mçglichkeit des Mordens aber auf der ethischen Ebene:28 Die Begegnung mit dem anderen Menschen ist fr das Subjekt eine ethische, wesentlich nicht-intentionale Form des Weltbezugs, in der es „erfhrt“, dass es nicht die einzige Sinnquelle ist, sondern der Andere aus sich heraus bedeutet. Daher wre die Ermordung des anderen Menschen als Verlust eben dieser anderen Sinnquelle und zugleich als Verlust der ethischen Dimension des Ich zu verstehen, die – nicht nur fr Lvinas – ebenso zum Menschen gehçrt wie der intentionale Weltbezug.29 Denn fr Lvinas heißt Moralitt oder Ethik zunchst einmal nichts anderes als diese nicht-intentionale Erfahrung des anderen Menschen, der in seiner Bedeutsamkeit nicht vom erkennenden Subjekt abhngig ist, sondern von diesem als Quelle einer wesentlich von ihm selbst unterschiedenen und von ihm unabhngigen Sinnstiftung „erfahren“ wird. Bedeutsamkeit heißt – im Unterschied zu Bedeutung –, dass es sich dabei nicht um eine durch das erkennende Subjekt 26 „Dieses Verbot bedeutet natrlich nicht dasselbe wie die schlichte und einfache Unmçglichkeit, es setzt sogar die Mçglichkeit voraus, die es gerade untersagt […]“. (Lvinas, TU, 340 [209].) 27 Deutlich weniger kryptisch umschreibt M. Brumlik diese sich im Tçtungsverbot kristallisierende Ethik als „Ethik der Verschonung“ und vergleicht deren Geltung mit den Grundannahmen der Diskursethik: Diese „meldet sich gerade durch ihren schwachen appellativen Charakter hindurch; nicht anders als der sogenannte zwanglose Zwang des besseren Arguments, gegen den sich ja auch jederzeit verstoßen lßt. Im Unterschied zu diskurstheoretischen Begrndungsversuchen gesteht Lvinas jedoch den moralischen Zwang, der hinter dem Anspruch auf Verschonung steht, grundbegrifflich ein. Indem wir den Anderen verschonen bzw. ihm zu helfen gehalten sind, sind wir tatschlich in unserer Freiheit eingeschrnkt, lsst sich die kantianische Fiktion eines Zusammenfallens von formaler Rationalitt, Freiheit und Moralitt nicht aufrechterhalten. Die ethische Grundsituation, die moralische Urerfahrung ist durch angesonnene Unfreiheit, durch das Verbot, den anderen anzutasten gekennzeichnet.“ (Brumlik, „Lvinas’ Ethik des Antlitzes“, 113.) 28 So betont Lvinas, das Gesicht des Anderen drcke „die moralische Unmçglichkeit“ aus, den anderen Menschen „zu vernichten“. (Lvinas, TU, 340 [209].) 29 hnlich hat Kant es fr unmçglich erachtet, dass fr Menschen das Moralgesetz nicht verbindlich ist, wrden sie damit doch ihre Vernnftigkeit und Freiheit verlieren, die sie ebenso auszeichnen wie ihre Sinnlichkeit.
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proportional fassbare Sinneinheit handelt: Der Andere wird vielmehr als jemand „erfahren“, der aus sich heraus Stifter und Trger von Sinn ist und dabei das Subjekt – eben als ethisches Subjekt – mit konstituiert.30 (Unmçglich scheint die Ermordung des anderen Menschen – allerdings in einem anderen Sinne – auch auf der ontologischen Ebene: Das Subjekt, das im Mord versucht, Macht ber die Bedeutsamkeit des anderen Menschen auszuben, scheitert, da es ihm auch mit der Ermordung des anderen Menschen nicht gelingt, sich den Anderen und dessen Bedeutsamkeit so anzueignen, dass es seinerseits Stifter oder Trger dieser Bedeutsamkeit wrde. Denn selbst wenn es ihm gelingt, den Anderen zu vernichten, existiert dieser zwar selbst nicht mehr; gleichwohl bleibt seine Bedeutsamkeit weiterhin der begreifenden Macht des Subjekts entzogen.31) Offensichtlich setzt Lvinas mit dieser These voraus, dass die Begegnung mit dem Gesicht des anderen Menschen, in der sich das Subjekt als ethisches Wesen erfhrt, keine abgeleitete intentionale Welterfahrung ist. Sie erçffnet dem Subjekt vielmehr einen dieser Begegnung eigenen Weltbezug, der es mit konstituiert. Doch nur indem Lvinas voraussetzt, dass die ethische Dimension zum Menschen gehçrt, kann er folgern, dass die Ermordung des anderen Menschen insofern „unmçglich“ ist, als sie eine unabdingbare Dimension des Mensch-Seins außer Acht lassen oder verfehlen wrde. Es ließe sich allerdings – logisch genauso zulssig – argumentieren: Da der Mensch den Anderen faktisch umbringen kann, gehçrt es offenbar zu seinem Wesen, dass seine physische wie seine ethische Dimension nicht unantastbar sind. Lvinas’ Aussage, dass Mord unmçglich sei, ist ein Postulat, das er nicht erklren kann oder will. Selbst wenn man Lvinas’ Interpretation des Gesichts – wie vorgeschlagen – als Ausdruck einer zweiten Sinnquelle (die wesentlich nicht mehr das wahrnehmende Subjekt ist, ihm aber erst einen ethischen Sinn verleiht) noch zustimmen mag, scheint der nchste Schritt nicht unmittelbar berzeugend: Wieso ist das Subjekt, wenn es das Gesicht des An30 So soll Lvinas einmal auf die Frage, worin denn eigentlich das Wesen der Ethik liege, mit der scheinbar banal klingenden Hçflichkeitsfloskel „apr s vous“ geantwortet haben. Hierin steckt aber wirklich der Kerngedanke des Lvinas’schen Verstndnisses von Ethik, nmlich den anderen Menschen als der eigenen Person vorausgehend und vorrangig zu erfahren. 31 Lvinas selbst hat diesen Gedanken in folgender, zunchst paradox klingenden Formulierung zum Ausdruck gebracht: „Der Mord bt Macht aus ber das, was der Macht entkommt.“ (Lvinas, TU, 284 [172].) Siehe hierzu auch Andreas Gelhard, Das Denken des Unmçglichen. Sprache, Tod und Inspiration in den Schriften Maurice Blanchots, 249 ff.
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deren als sprechend erfhrt, auch immer schon angesprochen?32 Kann nicht jemand einfach als sprechend, sich artikulierend, sich ausdrckend erfahren werden, ohne dass er sich mit seinen ußerungen an das Subjekt dieser Erfahrung richtet und ohne dass sich dieses immer schon angesprochen fhlt? Auch hier findet sich eine Antwort bei Lvinas nur implizit. Dass der Andere „spricht“, „sich ausdrckt“, bleibt eine Erfahrung – wenn auch keine intentionale – des Subjekts. Erfhrt dieses den Anderen als sprechend, auch ohne dass er jemanden explizit anspricht, so gehçrt es doch zu jedem Sprechakt, (zumindest potentiell) dass es einen Adressaten gibt. Ist dieser aber nicht explizit bestimmt, wird potentiell jeder, der den Anderen als sprechend erfhrt, auch angesprochen. Hier ist zu bercksichtigen, dass Sprache dabei nicht als ein durch Zeichen vermittelter Informationsaustausch verstanden werden darf. Vielmehr ist sie allgemein als grundlegende Verbindung zwischen dem Subjekt und dem anderen Menschen zu interpretieren, in der Menschen immer schon voneinander getrennt und doch aufeinander bezogen sind; eine Struktur, die berhaupt erst erlaubt, mit anderen Menschen Worte und Informationen auszutauschen.33 Wir sprechen mit jemandem, gerade weil er nicht mit uns identisch ist, sondern außerhalb von uns steht, so dass wir, um „in Kontakt“ zu sein, einer Vermittlung bedrfen. Entsprechend bestimmt Lvinas Sprache als „Beziehung“ „zwischen Termini, die die Einheit der Gattung aufbrechen. Die Termini, die Gesprchspartner, lçsen sich aus der Beziehung ab oder bleiben in der Beziehung absolut. Vielleicht definiert sich die Sprache als das eigentliche Vermçgen, die Kontinuitt des Seins oder der Geschichte zu durchbrechen.“34 Als angesprochen bzw. angerufen hat das Subjekt aber auch zu antworten35, denn dadurch, dass der Andere grundstzlich als sprechend er32 In einem ganz anderen Theoriekontext und damit auch von ganz anderen methodischen Annahmen geleitet wird diese Frage von Steven Darwall in seinem Buch ber die Beziehung von erster und zweiter Person thematisiert. Siehe Darwall, The Second-Person Standpoint. Morality, Respect and Accountability, 75 ff. 33 Ich werde auf Lvinas’ Sprachvorstellung genauer eingehen, wenn ich im nchsten Abschnitt das Verhltnis von „Sagen“ und „Gesagtem“ nher bestimme. 34 Lvinas, TU, 278 [169]. – In Jenseits des Seins spricht Lvinas, wie ich weiter unten ausfhren werde, dann von einem Dire, einem Sagen, um diese aller Sprache zugrunde liegende Struktur zu beschreiben, die immer schon unterstellt werden msse, um berhaupt so etwas wie Sprache annehmen zu kçnnen. 35 Auch hier darf „antworten“ nicht allein als verbal artikulierte Antwort verstanden werden. Denn als solche wre sie Teil des intentionalen Weltverhltnisses, dessen Prponderanz Lvinas mit seinen Ausfhrungen zum anderen Menschen gerade in Frage stellt.
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fahren wird und sich das Subjekt allgemein (nicht in einer bestimmten Weise durch eine bestimmte Aussage) angesprochen erfhrt, sobald es dem Gesicht des Anderen begegnet, kann all sein Verhalten, ja seine gesamte Existenz insofern als Antwort36 bzw. Reaktion auf dieses Angesprochensein durch den Anderen interpretiert werden, als es damit auf diesen „Anruf“ durch den anderen Menschen „antwortet“. Diese Notwendigkeit einer Antwort, die zunchst alles Verhalten umfasst, mit dem Menschen auf das Angesprochensein durch den Anderen reagieren, scheint auch den Kern von Lvinas’ Verantwortungskonzeption auszumachen.37 Denn die These, dass Menschen mit all ihrem Handeln, ihrem Leben antworten, sobald sie sich als vom Anderen angesprochen erfahren, impliziert, dass sie sich mit ihren Antworten – zumindest mittelbar – an diesen Anderen richten. Er steht dem Subjekt damit aber nicht mehr neutral gegenber, sondern als derjenige, vor dem sich das eigene Leben und Handeln als eben diesem Anderen gegebene Antwort auszuweisen und in dieser Weise zu verantworten hat: Als dem Anderen gegebene Antwort wird das Verhalten des Subjekts auch von jenem aufgenommen, verstanden und potentiell in seiner Berechtigung in Frage gestellt. Und das lsst das Subjekt erneut antworten. Dem Gesicht des anderen Menschen zu begegnen heißt also nach Lvinas, sich fortan durch eben jenen Menschen angesprochen zu fhlen, ihm zu antworten und damit verantwortlich zu sein. Da die Begegnung mit dem Anderen aber nicht nur eine zufllige Form der Welterfahrung ist, sondern, wie gesagt, fr Lvinas ebenso zum Menschen gehçrt wie die beiden anderen Formen intentionaler Welterfahrung, ist auch Verantwortung eine den Menschen auszeichnende Beziehung, in der dieser immer schon steht, sobald er dem anderen Menschen begegnet und von ihm angesprochen wird. 36 Der franzçsische Terminus rponse meint nicht nur verbal artikulierte Aussagen, sondern kann auch allgemein jede Form von menschlicher Reaktion bedeuten. 37 Siehe hierzu Andreas Gelhard, der betont, dass die „wahrhaft elementare Verpflichtung der Verantwortung fr den Anderen […] nicht in einer emotionalen Bindung zu suchen“ sei, sondern vielmehr „im Sagen“ liege. „Sie besteht“, so Gelhard, „darin, dass der Andere mich angeht, dass er mich trifft, bevor ich ihm antworten kann, und dass ich folglich schon fr ihn verantwortlich bin, indem ich ihm antworte. Levinas’ Begriff der Verantwortung ist ganz aus diesem Geschehen des Antwortens gedacht, das rpondre de (verantwortlich sein fr) aus dem rpondre (antworten auf ). Meine Verpflichtung gegenber dem Anderen – die Unmçglichkeit, angesichts seines Leidens gleichgltig zu bleiben – bekundet sich nicht in einem Gefhl, sondern in der ,Antwort der Verantwortung (rponse de la responsabiliti‘.“ (Andreas Gelhard, Levinas, 98.)
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Zur weiteren Erçrterung des Verantwortungsbegriffes bei Lvinas werde ich – analog zu den Kapiteln ber Jonas und Apel – erneut nach den Relata fragen: nach Subjekt, Objektbereich und Instanz der Verantwortung. II.3.1.1. Subjekt der Verantwortung Nach dieser bewusst stark verkrzten Darstellung von Lvinas’ Gedankengang, bei der ich mich weitgehend auf seine Ausfhrungen in Totalitt und Unendlichkeit gesttzt habe, kçnnte man bezglich der Frage, wer nach Lvinas verantwortlich ist, festhalten: das menschliche Individuum als Subjekt, auch wenn Lvinas selbst in seinem ersten Hauptwerk diesen Begriff nicht verwendet.38 Mit dieser auf den ersten Blick eindeutigen Aussage luft man jedoch Gefahr, gerade den originellen Gehalt des Lvinas’schen Verantwortungsdenkens zu verdecken. Denn selbst wenn auch Lvinas das menschliche Subjekt weiterhin als Trger der Verantwortung betrachtet und damit scheinbar an der traditionellen Terminologie festhlt, ist es doch gerade nicht das autonome, ich-sagende Subjekt der philosophischen Tradition, das Lvinas fr verantwortlich hlt.39 Descartes als der Begrnder der modernen Subjektphilosophie hatte das Subjekt als Trger eines denkenden Bewusstseins (res cogitans) identifiziert, das die materielle Welt (res extensa) in Form von Gedankeninhalten (cogitationes) erkennt. In seiner Folge verstand Kant das Subjekt als aktive 38 Auch Bedorf weist darauf hin, dass Lvinas erst in Jenseits des Seins wieder vom Subjekt spricht, nachdem er in „Totalitt und Unendlichkeit auf den Terminus aus inhaltlichen Grnde[n] weitgehend verzichtet“ habe. (Bedorf, Dimensionen des Dritten, 30.) Dabei betont Bedorf, „dass die ,andere‘ Subjekttheorie oder die Theorie des Anderen im Subjekt, die Levinas vorlegt, sich einerseits von klassischen Konzeptionen unterscheidet […], und andererseits keine Rede vom ,Tod des Subjekts‘ sein“ kçnne. (A. a. O., 32.) – Fr die Darstellung von Lvinas’ Verantwortungsbegriff in dieser Arbeit habe ich nicht streng zwischen dem frhen Lvinas und dem spten unterschieden, vielmehr wende ich mich vom Frhwerk ausgehend dem Sptwerk zu, weil ich zwar einerseits der Ansicht bin, dass der spte Lvinas in der Radikalisierung seines Denkens besser beschreibt, um was es ihm eigentlich geht, andererseits finden sich beim frhen Lvinas Formulierungen, die helfen kçnnen, den spten Lvinas berhaupt zu verstehen. Siehe hierzu auch Gelhard, Levinas, 86 f. 39 Das kçnnte auch der Grund sein, warum Lvinas den Begriff „Subjekt“ in seinem ersten Hauptwerk so gut wie gar nicht verwendet und statt dessen immer vom „Ich (Moi)“ spricht; erst in seinem Sptwerk fhrt er ihn wieder ein, nun sehr wçrtlich verstanden: als subjectum.
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Instanz, die auf der theoretischen Ebene durch die Synthese von Sinneseindrcken und Verstandesleistungen Urheberin aller Erkenntnis ist und die auf praktischer Ebene frei, d. h. allein unter dem von ihr selbst gegebenen Moralgesetz stehend, unabhngig von ihren Neigungen, handelt. Und auch fr Fichte, um nur einige prominente Vertreter dieser Tradition zu erwhnen, ist das Subjekt wesentlich durch Aktivitt charakterisiert, nmlich als die Instanz, die jeder Ttigkeit des menschlichen Bewusstseins zugrunde liegt und diese ermçglicht. Husserl schließlich – Lvinas’ persçnlicher Lehrer, dessen Philosophie ihn sicherlich maßgeblich beeinflusst, von dessen Denken er sich aber immer auch abgegrenzt hat – identifiziert das transzendentale Subjekt als Urstifter von Sinn und Welt. Im Unterschied zu dieser Tradition charakterisiert Lvinas das Subjekt als durch den anderen Menschen angerufen. Damit verwendet zwar auch er – jedenfalls seit Jenseits des Seins – den Subjektbegriff, allerdings hat er offensichtlich nicht mehr den aktiven, ich-sagenden Ursprung aller (Welt)Erfahrung und des Handelns im Blick, sondern ein Subjekt, das sich zunchst wesentlich durch Passivitt auszeichnet. Und auch diesen Begriff versteht Lvinas anders als die Tradition: Passivitt diesseits aller Passivitt; sie definiert sich in einer ganz anderen Begrifflichkeit als der intentionalen, fr die das Erleiden immer noch auch ein bernehmen ist, das heißt eine Erfahrung, in die man im vorhinein immer schon eingewilligt hat, die bereits Ursprung und !qw¶ ist. Gewiß bezeichnet die Intentionalitt des Bewusstseins nicht einzig und allein die willentliche Intention. Doch behlt sie deren Anfang setzende oder inchoative Struktur. Das Gegebene wird durch ein Denken aufgenommen, das im Gegebenen seinen Entwurf erkennt oder es in seinen Entwurf einsetzt und so seine Herrschaft ber das Gegebene ausbt.40
Stattdessen versucht Lvinas, eine Passivitt als eine Form der Sinnlichkeit zu beschreiben ohne jegliche Verstandesleistung, wie wir sie beispielsweise im lterwerden erfahren41: Zwar kçnnen Menschen sich ihrer Jugend erinnern oder ihr Altern antizipieren; sie kçnnen ihr Leben in ihren Erinnerungen nachleben. Trotzdem geht beim lterwerden etwas verloren, das sich nicht zurckgewinnen lsst, weil es außerhalb der Macht des Menschen liegt. So kann er nicht verhindern, dass seine Haut Falten bekommt, dass er Haare verliert und seine Krfte nachlassen – und diese Form der Passivitt ohne jede Verstandesleistung ist keineswegs auf kçrperlich-sinnliche Prozesse
40 Lvinas, JS, 225 [128 f ]. 41 Vgl. A. a. O., 125 [67].
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beschrnkt, sondern schließt z. B. auch den Verlust anderer, vertrauter Menschen mit ein. Um eine solche Form der Passivitt handelt es sich nach Lvinas auch, wenn das Subjekt durch den anderen Menschen angerufen, von ihm betroffen ist – eine Betroffenheit durch den Anruf des Anderen, die Lvinas mit so dramatischen Ausdrcken wie „Verwundbarkeit“ (vulnrabilit)42, „Verletzung“ bzw. „Trauma“ (traumatisme)43 und „Verfolgung“ (perscution)44 beschreibt. Denn auch wenn das Subjekt eine Verletzung, ein Trauma bzw. eine Verfolgung nur erfhrt, wenn es sich der Tatsache bewusst geworden ist, dass es verletzt wurde, traumatisiert ist oder verfolgt wird, bleibt es doch unabhngig von einer solchen Bewusstwerdung verletzt, traumatisiert oder verfolgt: Es leidet, ist der Verletzung, dem Trauma oder der Verfolgung einfach ausgeliefert: exponiert. „Exposition“45 scheint insofern die passende Bezeichnung, als sie ein radikales Ausgesetztsein des Subjekts beschreibt, das Lvinas auch in der immer wiederkehrenden Formulierung „des-Einen-fr-den-Anderen“ (l’un-pour-l’autre)46, als der Subjektivitt und Verantwortung zugrunde liegenden Struktur, im Sinn zu haben scheint; jede Idee von Subjekt als Individuum ist damit fundamental in Frage gestellt: Der Eine-fr-den-Anderen ist nicht unteilbar, sondern 42 Vgl. etwa a. a. O., 118 – 121, 131, 147 f., 156, 162, 164, 167, … [62 – 64, 70, 80 f., 86, 89, 91, 93, …]. 43 Vgl. etwa a. a. O., 118, 245, 317, … [62, 141, 184, …]. 44 Vgl. etwa a. a. O., 136, 196, 225, 227, 232, 245, 248, 261, 269 f., 276, 284, … [73, 110, 128, 130, 133, 141, 143, 150, 155 f., 159, 164, …]. Weitere von Lvinas in Jenseits des Seins verwendete Metaphern fr diese Extremform der Passivitt sind neben der „Besessenheit“ (obsession) (etwa a. a. O., 132, 170, 175, 187, … [70, 95, 98, 105, …]) und der „Vorladung“ (assignation) (etwa a. a. O., 119, 194, … [63, 109, …]), die „Mutterschaft“ (etwa a. a. O., 156, 162, 170 ff., … [86, 89, 95 ff., …]) und die „Geiselschaft“ bzw. „Geisel“ (otage) (etwa a. a. O., 30, 50 f., 248, 260 f., … [6, 18 f., 142, 150 f., …]) an. Denn weder trgt eine Mutter „aktiv“ ein Kind im Bauch, noch entscheiden wir uns dafr, jemandes Geisel zu sein. Zu einer Interpretation der Mutterschaft wie auch der Verfolgung und des Traumas bei Lvinas (gerade vor dem Hintergrund, dass Lvinas Jenseits des Seins den Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung gewidmet hat) siehe Gelhard, Levinas, 103 ff. 45 Vgl. u. a. Lvinas, JS, 50 ff., insbesondere 116 ff., 168 f., 176, … [18 f., insbesondere 61 ff., 93 f., 98, …]. 46 Wenn Lvinas immer wieder vom „l’un-pour-l’autre“ (etwa a. a. O., 174 ff., … [97 ff., …]) spricht, greift er damit auf den Einen in Platons Parmenides zurck: „Einer, auf sich zurckgedrngt und gleichsam zusammengezogen, wie in sich aus dem Sein vertrieben.“ (Lvinas, JS, 234 [134].) Diesem Einen, der / das wesentlich nicht-teilbar ist, kçnnen keine Eigenschaften und auch kein Sein zugesprochen werden, und ohne Sein kann er auch keine Position haben, allenfalls exponiert sein.
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immer schon eine in sich komplexe Struktur, die den Anderen als Bestandteil der eigenen Subjektivitt impliziert. Dabei oszilliert Lvinas in der Beschreibung dieser Beziehung zwischen „fr“ (pour) und „durch“ (par) und sieht beide Varianten ineinander bergehen: „Das Fr-den-Anderen […] geht bis zum Durch-den-Anderen.“47 Wir sind nicht nur fr den Anderen, sondern auch nur durch den Anderen; der eine steht nie fr sich alleine, sondern eben immer schon fr den Anderen: Whrend in dem „fr“ der ethische Aspekt der Verbundenheit strker zum Ausdruck kommt (fr den Anderen hat die menschliche Existenz berhaupt nur Sinn), betont das „durch“ die ontologische Dimension (das Subjekt konstituiert sich erst durch den Anderen in seiner Existenz).48 Aus diesem Grund charakterisiert Lvinas Subjektivitt selbst als „Stellvertretung“ (substitution)49 und radikalisiert diesen Gedanken noch weiter, indem er diesen Begriff ebenfalls hyperbolisch berformt: Stellvertretung als die eigentliche Subjektivitt des Subjekts, Unterbrechung der unumkehrbaren Identitt, die dem sein zugehçrt, Unterbrechung dieser Identitt in der bernahme der Verantwortung, die mir aufgebrdet wird, unausweichlich, und in der die Einzigkeit des Ich erst einen Sinn annimmt: in der nicht mehr von dem Ich die Rede ist, sondern von mir.50
Lvinas versteht Stellvertretung demnach nicht mehr in dem Sinne, dass ein unabhngiges Subjekt den Platz des anderen einnimmt, vielmehr besteht fr ihn menschliche Subjektivitt gerade darin, immer schon – noch vor jeder bewussten, aktiven Subjektivitt – an die Stelle des Anderen getreten zu sein. Die Subjektivitt des Subjekts selbst besteht berhaupt nur in dieser Art von Stellvertretung. Dies erklrt auch, warum Lvinas zunchst vom „Ich“ im Akkusativ spricht, das dem Ich im Nominativ vorausgehe.51 Im Akkusativ ist das Subjekt vom Anderen betroffen (beschuldigt / accus), noch bevor es berhaupt „Ich“ gesagt hat. Das Ich ist nicht mehr Stifter von Sinn und Welt, vielmehr findet es sich immer schon durch den Anderen angerufen, einem Anderen, der sich in seiner Unverfgbarkeit einer Aneignung durch das Subjekt entzieht. Erst in diesem Anruf des 47 Lvinas, JS, 122 [64]. 48 Fr diesen Hinweis danke ich Jçrg Schaub. 49 Vgl. etwa Lvinas, JS, 47 f. [16 f.] und besonders das Kapitel IV „Die Stellvertretung“ (219 – 288) [125 – 166]. Erhellend zu diesem Begriff ist auch Gelhards Kapitel „Verantwortung als Stellvertretung“, in Gelhard, Levinas, 96 – 106. 50 Lvinas, JS, 47 f. [16]. 51 In der Grammatik findet das von Lvinas hier Beschriebene insofern eine Entsprechung, als sowohl im Deutschen als auch im Lateinischen der Patiens einer Handlung normalerweise als Akkusativobjekt eines Aktivsatzes erscheinen kann.
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anderen Menschen, auf den das Subjekt antwortet, indem es sich vor dem Anderen verantwortet,52 erlangt es seine Subjektivitt: „Die Subjektivitt ist strukturiert als der-Andere-im-Selben, aber nach einem anderen Modus als dem des Bewußtseins. […] Der Andere-im-Selben der Subjektivitt ist die Beunruhigung des Selben durch den Anderen.“53 So ist es auch nicht mehr die Gewissheit eines sich selbst bewussten cogito, die nach Lvinas das Subjekt auszeichnet, sondern gerade die Ungewissheit, die Verunsicherung oder „Beunruhigung“ – l’inquitude – durch den Anderen als ein Wesen, das das Bewusstsein des Subjektes bersteigt. Der Andere in seiner Andersheit, der das Subjekt wesentlich bestimmt, transzendiert jedes noch so umfassende Wissen von ihm, und das Subjekt ist ihm unterworfen, sujet, weil es ihn nicht oder nicht vollstndig erfassen kann und dennoch immer schon durch ihn bestimmt ist. Wie zu erwarten argumentiert Lvinas auch im Hinblick auf das Verhltnis von Freiheit und Verantwortung anders als ein bedeutender Teil der abendlndischen Philosophie, der in der menschlichen Freiheit die Bedingung dafr sieht, dass Menschen berhaupt verantwortlich sein kçnnen, insofern nmlich Verantwortung (im Sinne der Zurechnung einer Handlung oder ihrer Unterlassung) voraussetzt, dass das Subjekt Urheber einer Handlung war, fr die er die Verantwortung trgt. Um aber Urheber einer Handlung zu sein, muss das Subjekt diese Handlung absichtsvoll und frei bewirkt haben. Freiheit ließe sich dabei etwa mit Kant als das „Vermçgen der reinen Vernunft, fr sich selbst praktisch zu sein“, definieren. In diesem Sinne setzt Verantwortung zunchst die Freiheit, ein Geschehen durch seinen Willen kausal verursachen zu kçnnen (Handlungsfreiheit), voraus. Damit dieser Wille wirklich als frei zu bezeichnen ist, d. h. nicht nur als kausal wirksam, sondern auch als selbst urschlich (Willensfreiheit) verstanden werden kann, muss er im Sinne dieser Tradition darber hinaus als spontan begriffen werden kçnnen. Gleichzeitig wird aber angenommen, dass wir in einer von Naturgesetzen bestimmten Welt leben. Diese Bestimmung durch Naturgesetze lsst sich aber nicht anders als vollstndig denken, da Naturgesetze keine Lcken oder Sprnge in der Kausalkette zulassen – demnach ist entweder die Natur als Ganze im Sinne der Na52 Siehe hierzu oben, Abschnitt II.3.1.3. 53 Lvinas, JS, 69 [32]; Hervorhebung E. B. – Andreas Gelhard betont zu Recht, das „,im‘ in der Formel ,der-Andere-im-Selben‘“ besage nicht, dass sich „der Andere ,in‘ meinem Bewusstsein konstituiert, sondern dass sein Anspruch mich in einer Vorzeitigkeit trifft, die niemals Gegenwart war, und dass er folglich erst ,in meiner Antwort‘ vernehmbar“ wird. (Gelhard, Levinas, 92; siehe hierzu Lvinas, JS, 330 [192].)
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turgesetze determiniert, oder es gibt so etwas wie Ersturschlichkeit im Sinne der Willensfreiheit, dann allerdings wren die Naturgesetze außer Kraft gesetzt. Fr diesen Teil der Tradition lassen sich freie, verantwortliche Handlungen somit nicht widerspruchsfrei denken, ohne das naturalistische Weltbild in Frage zu stellen54 : Menschen kçnnen als Teil der kausal determinierten Welt nicht gleichzeitig selbsturschlich sein. Sind sie aber nicht selbsturschlich, sind sie auch nicht frei und deshalb auch nicht verantwortlich. Dennoch werden Menschen faktisch fr verantwortlich erklrt. Erachtet man die bestehende Praxis der Verantwortungszuschreibung weiterhin als legitim, hlt gleichzeitig aber an der Idee von Willensfreiheit als subjektiver Bedingung verantwortlichen Handelns und der Idee des Determinismus fest, ist man auch bei der Frage der Verantwortung vor das Problem gestellt, klren zu mssen, wie Freiheit und Determinismus zu vereinbaren sind55 : Solange ein Subjekt nicht mit Sicherheit frei gehandelt hat – und das htte es dieser Position gemß im vollen Sinne nur, wenn ihm auch ein freier Wille unterstellt werden kçnnte –, ist es mçglicherweise nicht oder zumindest nicht uneingeschrnkt verantwortlich. Doch gab und gibt es zweifellos auch Ausnahmen – nicht nur Heidegger, der das Phnomen der Freiheit als „geworfenen Entwurf“56 beschrieb und Sartre, der davon sprach, der Mensch sei „dazu verurteilt, frei zu sein“57, stellen Alternativentwrfe einer bedingten Freiheit dar; auch im angelschsischen Theorie-Kontext betont etwa Steven Darwall: it is only because we view one another in the distinctive second-personal ways we do when we relate to each other that the questions of responsibility (as accountability), freedom of the will, and what might undermine these even arise. The issue of free will gets its grip, therefore, because we view and address one another (and ourselves) second-personally. 58 54 Genau dies tut etwa John McDowell in seinen Vorlesungen ber das Verhltnis von Geist und Welt, wenn er fr den Menschen auf den Begriff der „zweiten Natur“ zurckgreift. Vgl. besonders John McDowell, Geist und Welt, 109 ff. 55 Ich werde in Kapitel III.1. die Position vertreten, dass Handeln zwar Intentionalitt voraussetzt, dass dabei aber offengelassen werden kann, ob Menschen dafr notwendig frei sein mssen und wenn ja, welche Form von Freiheit sie bençtigen. Siehe hierzu ausfhrlicher unten, Abschnitt III.1.1. 56 Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, §31. 57 Jean-Paul Sartre, Der Existenzialismus ist ein Humanismus und andere philosophische Essays, 155. 58 Darwall, The Second-Person Standpoint. Morality, Respect and Accountability, 70. Siehe auch Strawson, „Freedom and Resentment“, 54 ff., dessen Argumentation Darwall folgt.
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II.3. Emmanuel Lvinas’ ursprungslose Verantwortung
hnlich sieht auch Lvinas nicht in der Freiheit die Bedingung der Verantwortung, sondern geht davon aus, dass die Freiheit des Subjekts gerade darin besteht, seiner Verantwortung nachzukommen, in die es durch den Anruf des Anderen immer schon gerufen ist. Das Subjekt ist nicht mehr verantwortlich, weil es frei ist, vielmehr ist es primr verantwortlich und frei allein darin, wie es dieser Verantwortung nachkommt: Der Wille ist frei, diese Verantwortung zu bernehmen, wie es ihm gefllt; er ist nicht frei, diese Verantwortung selbst abzulehnen, er hat nicht die Freiheit, die vernnftige Welt, in die ihn das [Gesicht] des Anderen eingefhrt hat, nicht zu kennen.59
Freiheit kann hier offensichtlich keine Ersturschlichkeit mehr meinen, sondern ist im Sinne einer gestifteten Freiheit zu verstehen: Die Tatsache, dass ein Mensch in dieser Welt immer schon mit dem Anderen lebt, der ihn anruft und in Frage stellt, zwingt ihn dazu zu antworten und lsst ihn verantwortlich sein. Verantwortung impliziert dann weniger eine Freiheit im Sinne von Spontaneitt, als vielmehr die Mçglichkeit, angesprochen zu werden und entsprechend darauf zu reagieren, denn htte das Subjekt diese Mçglichkeit nicht, wrde der Andere es berhaupt nicht anrufen.60 Frei ist das Subjekt dann nicht mehr, weil es am Anfang einer Kausalkette steht, sondern indem es, angesprochen durch den Anderen, sein Verhalten als Reaktion auf den Anderen, diesem gegenber als sein eigenes Handeln, seinen eigenen Lebensentwurf zu bernehmen hat. In der Unbestimmtheit, wie es dem Anderen zu antworten hat, erfhrt es seine Freiheit – eine Freiheit, deren unverfgbarer Stiftungsgrund im Angesprochensein durch den Anderen liegt und fr die sich das Subjekt, als immer schon durch den Anderen in Frage gestellt, erneut verantworten muss.61 Fr Lvinas ist, indem er Subjektivitt gleichsetzt mit der Struktur des Fr-den-Anderen, die gleichzeitig die Verantwortung fr den Anderen 59 Lvinas, TU, 317 [194]. 60 Wie bereits am Anfang dieses Kapitels ausgefhrt wurde, ist auch der „Ruf“ bei Lvinas nicht als verbal artikulierter zu verstehen. In diesem Sinne betont Gelhard, dass ein „,Schlag‘, der mich in einer uneinholbaren Vor-vergangenheit trifft, […] noch nicht der Appell einer fremden Stimme“ sei, dieser treffe mich vielmehr „zunchst in der Anonymitt eines bloßen Widerfahrnisses. Von dieser Anonymitt des Widerfahrnisses muss aber auch der Anspruch des Anderen noch gezeichnet bleiben, wenn dieser nicht als bloßer Gesprchspartner gedacht werden soll, sondern in seiner ,absoluten Fremdheit‘.“ (Gelhard, Levinas, 93.) 61 Auch hier lassen sich Parallelen zu Heideggers Freiheitsverstndnis als „geworfenem Entwurf“ und Sartres Idee einer Freiheit, die das Subjekt zu bernehmen gezwungen ist, ziehen.
II.3.1. Verantwortung als dem anderen Menschen zu gebende Antwort
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beschreibt,62 vorerst eindeutig der einzelne Mensch verantwortlich. Zwar kçnnen auch nach Lvinas Subjekte mçglicherweise gemeinsam handeln und gemeinsam Verantwortung bernehmen, der Lvinas’sche Verantwortungsbegriff setzt aber auf einer darunter liegenden Ebene voraus, dass gerade die Subjektivitt des Menschen darin besteht, vom Anderen angesprochen und in seiner Antwort verantwortlich zu sein. II.3.1.2. Objekt der Verantwortung Die erste Frage, wer nach Lvinas verantwortlich ist, konnte eindeutig beantwortet werden: der Mensch ist das Subjekt, ein Begriff, den Lvinas zumindest in seinem Sptwerk auch selbst verwendet. Doch deutet er diesen Begriff, wie wir gesehen haben, gnzlich um: „Subjekt“ bedeutet fr Lvinas nicht in erster Linie aktive Ursache von Erkenntnis oder Handlung, sondern wesentlich durch den Anderen und fr den Anderen verantwortlich zu sein. Damit ist bereits ein erster Hinweis fr die Beantwortung der zweiten Frage gegeben, wofr der Mensch verantwortlich ist: nmlich fr den Anderen. Zwar bezeichnet Lvinas diesen nie als Objekt, aber grammatikalisch fungiert der Andere als Objekt. Gleichwohl melden sich Zweifel: Keineswegs scheint selbstverstndlich, wieso das Subjekt, indem es dem Anderen antwortet, auch fr diesen Verantwortung trgt. Nachvollziehbar wre, dass es vor dem Anderen (bzw. ihm gegenber) Verantwortung hat, da es ihm auf dessen Anruf, dessen Infragestellung antwortet.63 Das sieht zunchst nach mangelnder logischer Kohrenz aus. Es ließe sich jedoch auch eine andere, freilich spekulative Interpretation in Erwgung ziehen, die an Lvinas’ radikale Umdeutung der klassischen Terminologie anknpft: Das Subjekt ist fr all das, womit es dem Anderen antwortet und das damit durch den Anderen in Frage gestellt werden kann, verantwortlich. Eindeutig lsst sich dabei das Objekt der Verantwortung nicht auf das Thema einer Aussage begrenzen: Der Andere stellt, indem er das Subjekt einen nicht von diesem gestifteten Sinn erfahren lsst, nicht etwas, sondern das Subjekt selbst (in seiner Rolle als alleiniger Sinnstifter von Welt) in Frage. Und so hat das Subjekt dem Anderen auch nicht nur etwas zu antworten oder sich fr etwas zu verantworten, vielmehr antwortet es dem 62 Vgl. beispielsweise Lvinas, JS, 246 [142]. 63 Siehe hierzu den folgenden Abschnitt. Diesen Einwand formuliert auch Forst. (Vgl. Forst, „Moralische Autonomie“, 194.)
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II.3. Emmanuel Lvinas’ ursprungslose Verantwortung
Anderen, von ihm angesprochen, mit seiner eigenen Existenz in der Weise, dass es sich in seiner gesamten Existenz immer auf den Anderen richtet und in diesem Sinn fr den Anderen ist. Seine Verantwortung besteht darin, diesen nicht mehr von ihm selbst gestifteten Sinn zu bernehmen, den es in der Begegnung mit dem Anderen erfhrt und durch welchen es erst zum Subjekt wird. Indem das Subjekt also wesentlich fr-den-Anderen64 ist, hat es sich fr-den-Anderen zu verantworten. Als Subjekt, dessen Subjektivitt wesentlich in der Struktur des Fr-den-Anderen besteht, hat es in oder mit seiner Existenz fr-den-Anderen 65 zu sorgen und zu brgen66 – mit seiner Existenz trgt es dem Anderen Rechnung, und durch den Anderen rechtfertigt sich seine Existenz. Dabei kann es – diesseits bzw. jenseits des Logos67 – zunchst noch nicht um eine sich auf rationale Argumente sttzende Rechtfertigung68 gehen, vielmehr um eine Rechtfertigung im Sinne einer Selbstlegitimation: Es ist die Verantwortung fr den Anderen, die der eigenen Existenz Sinn verleiht und sie damit legitimiert. In diesem Sinne sind wohl die unzhligen Stellen, vor allem in Jenseits des Seins, zu 64 Im Franzçsischen kann da, wo Lvinas von pour-l’autre und nicht von pour autrui (eindeutig fr den anderen Menschen) spricht, immer auch fr-das-andere gemeint sein: Damit wird der Andere entpersonalisiert als Alteritt verstanden. 65 Hier sei erneut darauf hingewiesen, dass Lvinas immer wieder auch vom l’un-parl’autre spricht, also vom Einen-durch-den-Anderen, was den konstitutiven Aspekt des Anderen betont: Das Subjekt ist nicht nur fr den Anderen, es ist auch durch ihn, in dem Sinne, dass es ihm seine Subjektivitt verdankt. – Siehe zur These des Subjekt konstituierenden Anderen auch das 2008 auf Deutsch erschienene Buch von Simon Critchley, Unendlich fordernd. Ethik der Verpflichtung, Politik des Widerstands. 66 tre responsable de kann im Franzçsischen sowohl heißen „fr jemanden brgen“ wie auch „fr etwas Rechenschaft ablegen“. So heißt es in der deutschen bersetzung von Jenseits des Seins: „Wer behauptet, daß die Beziehung mit dem Nchsten, die sich unbestreitbar im Sagen vollzieht, eine Verantwortung fr diesen Nchsten bedeutet, daß Sagen fr den anderen Brgen heißt, der behauptet damit zugleich, dass fr eine solche Verantwortung weder Grenze noch Maß angebbar sind, ist sie doch ,seit Menschengedenken‘ niemals vertraglich eingegangen worden und ist sie doch der Freiheit und dem Schicksal des anderen Menschen ausgeliefert, auf die ich keinen Einfluß habe.“ (Lvinas, JS, 115 [60 f ].) 67 Lvinas unterscheidet hufig nicht zwischen diesen beiden Begriffen: Ob diesseits oder jenseits spielt fr ihn wohl insofern keine Rolle, als sich diesseits und jenseits von Sein und Bewusstsein als transzendent nicht mehr unterscheiden lassen. Dennoch kann man natrlich im Rahmen der Immanenz zwischen diesseits und jenseits unterscheiden. 68 Lvinas spricht selbst nicht von Rechtfertigung, allerdings an einigen Stellen von „avoir rpondre de son droit d’Þtre“ („fr sein Recht zu sein einstehen mssen“). Vgl. Emmanuel Lvinas, Ethique comme philosophie premire, 93.
II.3.1. Verantwortung als dem anderen Menschen zu gebende Antwort
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verstehen, an denen Lvinas prononciert von einer „responsabilit pour“, einer Verantwortung fr den Anderen, fr die Anderen69, fr alle70, fr die Freiheit des Anderen71, ja sogar fr die Verantwortung des Anderen72 spricht. Ersichtlich wird dabei erneut, wie wenig Lvinas’ Verantwortungsbegriff noch mit dem der Traditionslinie in Einklang zu bringen ist, in der Freiheit als notwendige Bedingung von Verantwortung gilt, mag er auch scheinbar in dieselbe grammatische Struktur eingebettet sein. Denn so, wie bei Lvinas bereits die Subjektivitt des verantwortlichen Subjekts als durch- und fr-den-Anderen und weniger als selbst gesetzgebend zu verstehen ist, unterscheidet sich notwendigerweise auch seine Bestimmung des Objekts: Trgt in jener Theorie-Tradition das Subjekt Verantwortung fr alle von ihm verursachten Handlungen (und Unterlassungen), ist das Subjekt nach Lvinas gerade fr den Anderen (das Andere) und durch (bzw. aufgrund von) dessen Andersheit verantwortlich. Subjekt und Objekt der Verantwortung – wenn man gegen Lvinas an der traditionellen Begrifflichkeit festhlt – stehen in einer kaum auflçsbaren Verbindung, und darin scheint er auf den ersten Blick der philosophischen Tradition zu folgen. Denn diese macht das Subjekt fr die von ihm verursachten (d. h. die dem Subjekt zugeschriebenen) Handlungen verantwortlich; Lvinas erklrt das Subjekt, das selbst fr-den-Anderen ist, auch fr den Anderen verantwortlich. Dabei unterscheiden sich beide Verantwortungskonzeptionen jedoch ebenso fundamental: Betont die Tradition, vom Subjekt ausgehend, den Aspekt der Zusammengehçrigkeit dadurch, dass das Objekt als Wirkung des Subjekts identifiziert wird – das Subjekt ist fr seine Handlungen verantwortlich –, akzentuiert Lvinas den Aspekt der Alteritt sowohl im Hinblick auf das Subjekt als auch auf das Objekt: Nicht nur hat jenes bereits wesentlich die Struktur des Fr-denAnderen, vielmehr ist es auch fr-den-Anderen gerade durch diese Andersheit verantwortlich (und allenfalls in abgeleiteter Form fr sich selbst73).74 69 70 71 72
Lvinas, JS, 253 [145]. Vgl. beispielsweise a. a. O., 248 [142]. A. a. O., 303 [176]. A. a. O., 260 [150]. – Aus der zugrunde gelegten Struktur des Subjekts als pourl’autre kçnnte sich auch erklren, dass Lvinas (anders als im Franzçsischen gebruchlich) beim Terminus „Verantwortung“ hufig die Prposition pour statt de verwendet. 73 Indem das Subjekt immer bereits fr-den-Anderen ist, ist es auch, wenn es fr-sichselbst verantwortlich ist, noch fr den Anderen verantwortlich.
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II.3. Emmanuel Lvinas’ ursprungslose Verantwortung
Whrend die Tradition das autonome Subjekt als notwendige Voraussetzung fr Verantwortung betrachtet – nur einem autonomen Subjekt kçnnen Handlungen zugeschrieben werden, fr die es in der Folge verantwortlich gemacht werden kann –, geht Lvinas davon aus, dass erst die Struktur des Fr-den-Anderen, also Heteronomie, ein frei handelndes Subjekt konstituiert. Anders als die Tradition denkt Lvinas die Struktur der Verantwortung als ihrem Subjekt-Relatum vorgngig; dieses wird erst aus der Struktur der Verantwortung generiert. Darin zeigt sich erneut der Bruch mit der klassischen Subjektphilosophie: Statt das Subjekt als Ursprung allen Denkens und Handelns, ja sogar von Welt, zu verstehen, ist es fr Lvinas eben die Struktur des Fr-den-Anderen, aus der das Subjekt, immer schon verantwortlich, erst hervorgeht. In der Begegnung mit dem Gesicht des Anderen erfhrt das Subjekt also auf nicht-intentionale Weise, dass der Andere, in sich selbst bedeutsam, es immer schon anspricht, wodurch es selbst in seiner Rolle als einziger Sinnstifter in Frage gestellt ist, zu antworten hat und damit – hier scheint es am schwierigsten, Lvinas zu folgen –, ein Subjekt fr-den-Anderen ist und damit auch fr-den-anderen verantwortlich: Auch wenn Lvinas weitgehend nicht umfassend und im Einzelnen erklrt, wie diese Subjektivitt genauer zu verstehen ist, lsst sich so viel sagen, dass fr ihn Subjektivitt immer schon den anderen Menschen mit einschließt, weil sich das Subjekt berhaupt erst in und aus der Beziehung zum anderen Menschen konstituiert. Dementsprechend erschçpft sich Verantwortung nicht in einem verbalen Rechenschaftablegen fr die Handlungen, deren Urheber man ist; auch handelt es sich beim Objekt nicht in erster Linie um ein dem Subjekt gegenberstehenden, sondern um einen die Subjektivitt des Subjektes selbst konstituierenden Anderen. „Levinas’ Konzeption“ lsst, wie Thomas Bedorf hervorhebt, „den Anderen nicht zu einem bereits konstituierten Subjekt hinzutreten […], sondern den Anderen bereits im Erkennen, Handeln und Sprechen des Ichs beginnen.“75 Bezeichnenderweise habe auch ich im vorangegangenen Absatz das Objekt der Lvinas’schen Verantwortung zunchst wieder ber das Subjekt 74 Natrlich ist das Subjekt auch im Sinne der Tradition fr seine Handlungen gerade deshalb verantwortlich, weil sie Andere betreffen. In diesem Sinne zeichnen sich also beide Verantwortungsverhltnisse durch eine Bezogenheit auf Andere aus. Doch whrend in der Tradition Verantwortung bloß ein (aus dem grundlegenderen Handlungsvermçgen) abgeleitetes Verhltnis ist, erkennt Lvinas in der Verantwortung fr den Anderen das jede konkrete Handlung erst ermçglichende Grundverhltnis zum Anderen. 75 Bedorf, Dimensionen des Dritten, 36.
II.3.1. Verantwortung als dem anderen Menschen zu gebende Antwort
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der Verantwortung charakterisiert, was damit zusammenhngen kçnnte, dass auch bei Lvinas der Andere als der, fr den ich verantwortlich bin, im Subjekt zu verschwinden scheint. Whrend das Subjekt einerseits ohne den Anderen gar nicht vorhanden ist, erscheint umgekehrt das Objekt vor allem als Attribut der Subjektstruktur des „fr den Anderen“ beschrieben. So fhrt gerade Lvinas’ Versuch, den Anderen als fr das Subjekt nicht verfgbar zu beschreiben, wieder zum Subjekt zurck. II.3.1.3. Instanz der Verantwortung Aus den Ausfhrungen zum Subjekt und zum Objekt der Verantwortung ergibt sich, vor wem sich das Subjekt zu verantworten hat – vor dem anderen Menschen.76 Dabei geht es Lvinas, wie erlutert wurde, mit der als Verantwortung bezeichneten subjektiven Bezogenheit auf den Anderen jedoch nicht in erster Linie darum, dass der andere Mensch sich mit einer konkreten Frage an das Subjekt richtet und von diesem eine sprachlich artikulierte Antwort bzw. Rechtfertigung fordert, ber die er dann, wie auch ber das Subjekt selbst, ein propositional artikuliertes Urteil fllt. Das Subjekt hat dem Anderen vielmehr in dem Sinne zu antworten, dass fr Lvinas das Subjekt in seiner Subjektivitt selbst – die er als Stellvertretung und Fr-den-Anderen expliziert – immer schon durch den Anderen und auf ihn bezogen ist. Damit ließe sich sagen: Der andere Mensch in seiner Andersheit stellt eine Instanz dar, der das Subjekt mit seiner Existenz antwortet; diese Instanz transzendiert die Weltkonstitution und Sinnstiftung des Subjekts und erçffnet dem Subjekt einen nicht von ihm selbst geschaffenen Sinn, dem es seine ethische Dimension verdankt. Gleichzeitig findet alle Welt- und Sinnstiftung des Subjekts aber auch vor diesem Anderen statt. Hier wird eine Distanz sichtbar, die auf den ersten Blick zur Unmittelbarkeit der nicht-intentionalen, passiven Begegnung mit dem Anderen im Widerspruch zu stehen scheint. Doch ist die von Lvinas vor allem im Frhwerk als „Begegnung mit dem Anderen“ beschriebene Art des Weltbezugs keineswegs die einzige Form, wie wir nach 76 Lvinas selbst fhrt nur selten ein solches „vor“ dem anderen Menschen aus. Siehe etwa Lvinas, TU, 425 [270] (wo er sogar explizit von der „Rechtfertigungsrede vor dem Anderen“ spricht), und Lvinas, JS, 352 [206] (wo es heißt, „den Nchsten, der mich verfolgt bis zur Besessenheit, fr den ich und vor dem ich verantwortlich bin“).
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II.3. Emmanuel Lvinas’ ursprungslose Verantwortung
Lvinas mit dem Anderen verbunden sind:77 Wir stehen vielmehr immer auch in einer intentionalen Beziehung zu ihm, und diese wird offenkundig, wenn das Subjekt sich vor dem Anderen, das heißt auch: in der Distanz zu ihm zu verantworten hat. Betont wird die inhrente Verflechtung beider Weltbezge von Lvinas selbst, wenn er darauf insistiert, dass der Andere nie nur ein einziger Anderer ist, mit dem wir im „,Ich-Du‘, das sich gengt und das Universum vergißt“78, stehen. Wir begreifen vielmehr den Anderen immer auch als einen unter vielen, als Anderen des Anderen, der dann auch als ein „Dritter“ erscheint: In den Augen des Anderen sieht mich der Dritte an – die Sprache ist Gerechtigkeit. Nicht, als ob zuerst das Antlitz da wre und sich anschließend das Seiende, das sich in ihm manifestiert oder ausdrckt, um Gerechtigkeit kmmerte. Die Epiphanie des Antlitzes als eines Antlitzes erschließt die Menschheit. Das Antlitz in seiner Nacktheit als Antlitz prsentiert mir die Blçße des Armen und des Fremden; aber diese Armut und dieses Exil, die meine Vermçgen aufrufen, mich meinen, liefern sich diesen Vermçgen nicht wie Gegebenheiten aus; sie bleiben Ausdruck des Antlitzes. Der Arme, der Fremde prsentiert sich als Gleicher. Angesichts dieser wesentlichen Armut besteht seine Gleichheit darin, sich auf den Dritten zu beziehen; auf diese Weise ist in der Begegnung der Dritte gegenwrtig, und schon mitten in seiner Not dient ihm der Andere. […] Die Gegenwart des Antlitzes – die Unendlichkeit des Anderen – ist Blçße, Gegenwart des Dritten (d. h. der ganzen Menschheit, die uns ansieht) und Befehl, der zu befehlen befiehlt. Aus diesem Grunde ist die Beziehung mit dem Anderen oder die Rede nicht nur eine Infragestellung meiner Freiheit; sie ist nicht nur der vom Anderen ausgehende Anruf, um mich zur Verantwortung zu rufen; sie ist nicht nur das Wort, durch das ich mich von dem einengenden Besitz befreie, indem ich eine objektive und gemeinsame Welt ausspreche – sondern auch die Predigt, die Mahnung, das prophetische Wort.[79] Das prophetische Wort antwortet wesentlich auf die Epiphanie des Antlitzes; es begleitet jede Rede, aber nicht als eine Rede ber moralische Themata, sondern als irreduzibles Moment der Rede; es wird wesentlich hervorgerufen durch die Epiphanie des Antlitzes, sofern das Antlitz in den Augen, die mich ansehen, die Gegenwart des Dritten, ja der gesamten Menschheit, bezeugt.80
77 Siehe hierzu die Passage ber die verschiedenen subjektiven Weltbezge am Anfang dieses Kapitels, 147 ff. 78 Lvinas, TU, 307 [188]. 79 Siehe hierzu auch den Abschnitt „6. La signifcation prophtique“ in Emmanuel Lvinas, „Dieu et la philosophie“, in: De Dieu qui vient l’ide, 123 – 127 (auf Deutsch: „Gott und die Philosophie“, in: Gott Nennen. Phnomenologische Zugnge, 81 – 123). 80 Lvinas, TU, 307 f. [188 f.].
II.3.1. Verantwortung als dem anderen Menschen zu gebende Antwort
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Der von Lvinas als immer schon im Anderen aufscheinend beschriebene und als Indikator der Pluralitt von Menschen begriffene Dritte durchbricht die Unmittelbarkeit der nicht-intentionalen Begegnung und stellt das Subjekt in Distanz zu sich und den Anderen und zu bewusster Reflexion aufgefordert vor die Frage, was es gerechterweise zu tun hat.81 Indem dieser Dritte bereits im Anderen erscheint, gibt es keine nicht-intentionale Begegnung ohne intentionale Bezogenheit auf den Anderen, wie es umgekehrt keine intentionale Bezogenheit auf-den-Anderen gibt ohne die nicht-intentionale Begegnung. Beide sind nicht von einander ableitbare, sondern stets miteinander verwobene, gleichzeitige Weltbezge.82 Der nicht-intentionalen Verantwortung fr-den-Anderen und dem Dem-Anderen-antworten korrespondiert eine distanziertere intentionale Verantwortung vor-dem-Anderen und ein Sich-vor-dem-Anderen-verantworten, was es uns berhaupt erst ermçglicht, entsprechend der vor-intentionalen Bezogenheit handelnd und sprachlich artikuliert zu antworten. So eindeutig Lvinas das Subjekt also auch vor den Anderen gestellt sieht, dem es zu antworten und vor dem es sich zu verantworten hat, so eindeutig ist der Andere dann auch – im Sinne der Tradition – als Recht sprechende Urteilsinstanz zu verstehen. Das impliziert die Verpflichtung, Grnde in Form von propositional artikulierten Rechtfertigungen zu geben. Dabei wird auf ein Wissen von Welt rekurriert, das nicht jenseits des Logos liegt, sondern gerade Teil des Logos ist, auch wenn es damit die ethische Beziehung, als nicht-intentionale Begegnung, zumindest teilweise transzendiert.83 Weil es Lvinas jedoch bei dem, was er als Verantwortung fr den Anderen beschreibt, nicht in erster Linie um Rechtfertigungen durch propositional artikulierte Grnde zu tun ist bzw. weil diese nicht den Kern der ethischen Erfahrung ausmachen, hat sich das Subjekt zwar dem Urteil des Anderen zu stellen, dieses geht aber ber ein Urteil im traditionellen Sinne hinaus. Das Subjekt hat, wie Lvinas betont, „sein Recht zu sein zu verantworten“; insofern hat man sich den Anderen viel umfassender 81 Siehe hierzu unten, Abschnitt II.3.3. 82 Siehe hierzu auch die wenigen weiteren Passagen in Totalitt und Unendlichkeit, in denen Lvinas auf den Dritten eingeht (Lvinas, TU, 435, 443 [276, 282]), ferner: Gelhard, Levinas, 108 f., und den Abschnitt „1.2 Der Dritte und die Frage der Gerechtigkeit“ in: Bedorf, Dimensionen des Dritten, 63 – 92 (hier insbesondere den Unterabschnitt: „1.2.2.1 Die unendliche Verantwortung verlangt nach Gerechtigkeit – Der Dritte im Anderen“). Siehe auch hierzu unten, Abschnitt II.3.3. 83 Dennoch scheint in der Sprache vielleicht die Mçglichkeit zu liegen, dem Anderen, wenn schon nicht vollstndig gerecht, so doch so gerecht wie mçglich zu werden. Siehe hierzu auch unten, Abschnitt III.3.1.
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II.3. Emmanuel Lvinas’ ursprungslose Verantwortung
als denjenigen vorzustellen, angesichts dessen und durch den das eigene Sein sich berhaupt als sinnvoll zu erweisen hat: Sein Recht zu sein verantworten mssen, nicht durch den Bezug auf die Abstraktion irgendwelcher anonymer Gesetze, irgendwelcher juridischer Instanzen, sondern sich um den anderen Menschen frchtend. Mein In-derWelt-Sein oder mein „Platz an der Sonne“, mein Zuhause, ist das nicht die widerrechtliche Aneignung der Orte gewesen, die dem anderen Menschen gehçren, der durch mich schon unterdrckt oder ausgehungert, in eine dritte Welt vertrieben wurde: ein Verstoßen, ein Ausschließen, ein Verbannen, ein Berauben, ein Tçten. „Mein Platz an der Sonne“ – sagte Pascal, das ist der Anfang und das Bild der gewaltsamen Aneignung der ganzen Erde.84
Auch hier deutet Lvinas die traditionelle Terminologie des Verantwortungsbegriffs offensichtlich um. Fr ihn ist es bereits die Begegnung mit dem Anderen an sich, die das Subjekt in Frage stellt und die es von nun an zwingt, nicht einzelne Handlungen zu rechfertigen, sondern sein Recht zu sein vor dem Anderen zu bezeugen85 – wobei Lvinas weiterhin unbestimmt lsst, wie das Subjekt dies auf verantwortliche Weise tun kann oder soll.86 Diese Konstellation, dem Anderen unausweichlich ausgeliefert zu sein, ist Lvinas zufolge konstitutiv fr die eigene Subjektivitt; nur dadurch bildet das Subjekt Bewusstsein aus und kann dementsprechend handeln. Mit der Tradition teilt Lvinas jedoch die Auffassung, dass Verantwortung wesentlich relational strukturiert ist. Allerdings betont er strker die Idee einer Abhngigkeit des Subjekts: Verantwortlich ist der Mensch, weil er nicht allein ist, sondern vor Anderen und fr Andere sich selbst und seine Handlungen, ja seine Welt, die immer mit Anderen zu teilen ist, legitimieren muss. Erst als fr den und vor dem Anderen verantwortlich 84 Lvinas, EPP, 93 f.; bersetzung E. B. („Avoir rpondre de son droit d’Þtre, non pas par rfrence l’abstraction de quelque loi anonyme, de quelque entit juridique, mais dans la crainte pour autrui. Mon Þtre-au-monde ou ma ,place au soleil‘, mon chez-moi, n’ont-ils pas t usurpation des lieux qui sont l’autre homme dj par moi opprim ou affam, expuls dans un tiers monde: un repousser, un exclure, un exiler, un dpouiller, un tuer. ,Ma place au soleil‘ – disait Pascal –, le commencement et l’image de l’usurpation de toute la terre.“) 85 Siehe hierzu eine Passage, in der Bedorf im Anschluss an Jean-FranÅois Lyotard den Begriff des Zeugnisses erlutert: „Das Zeugnis besteht nun gerade darin, auf dieses Unhçrbare zu antworten und ihm so erst Stimme zu verleihen. Dabei bedeutet Antworten hier nicht, dass etwas Erfragtes oder Verlangtes gegeben wrde, sondern dass etwas zu erfinden ist, was als Antwort auf etwas taugt, das erst in dieser bezeugenden Antwort zum Vorschein kommt. Anruf und Zeugnis passen sich also nicht wie zwei komplementre Formen einander an, sondern stehen in einem diachronen Verhltnis.“ (Bedorf, Dimensionen des Dritten, 62.) 86 Ich werde im dritten Abschnitt dieses Kapitels auf diesen Punkt nher eingehen.
II.3.1. Verantwortung als dem anderen Menschen zu gebende Antwort
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konstituiert sich das Subjekt, das damit nicht mehr als autonomes, vielmehr als heteronomes zu verstehen ist. Die Subjektivitt des einzelnen Menschen besteht gerade darin, dass sie auf den anderen Menschen bezogen und diesem verantwortlich ist. Das Objekt dieser Verantwortung fasst Lvinas ebenfalls extrem weit: Verantwortung trage man nicht allein fr alles, was vom anderen Menschen in Frage gestellt werden kann, sondern gerade auch fr diesen anderen Menschen selbst. Dadurch, dass der Mensch erst in der Begegnung mit dem anderen Menschen seine „letztgltige Wirklichkeit“87 realisiert, da er durch ihn einen nicht mehr selbst gestifteten Sinn erfhrt, erlebt er sich als wesentlich vom Anderen abhngig und fr ihn existierend. Obwohl Lvinas diese Verantwortung als fundamental, umfassend und unausweichlich beschreibt, lsst er vçllig offen, wie ihr nachzukommen ist. Zunchst bemisst sich responsives menschliches Handeln nur an der eigenen Freiheit, wenngleich diese sich darin als eingeschrnkt erweist, dass man sich auch fr seine Antwort vor dem Anderen zu verantworten hat: Jeder Mensch kann demnach tun und lassen, was er will bzw. was ihm im Rahmen seiner Freiheit mçglich ist; da er aber in einer Welt lebt, die er mit dem Anderen teilt, wird er immer durch den Anderen in Frage gestellt werden kçnnen.88 Als Instanz, vor der sich das Subjekt zu rechtfertigen hat, ist mithin wiederum der andere Mensch zu identifizieren. Allein mit seiner Anwesenheit stellt er nicht erst das Handeln, sondern bereits die Existenz und das ganze Selbst- und Weltverstndnis des Subjekts in Frage. Vor ihm, in der Distanz zu sich und den Anderen, hat das Subjekt sich auch mit Grnden zu verantworten. Damit wird die Gleichzeitigkeit des intentionalen und nicht-intentionalen Weltbezugs offenbar. Der Andere ist nicht nur derjenige, fr den das Subjekt Verantwortung trgt, indem es ihm antwortet, sondern auch derjenige, vor dem es sich (mit Grnden) zu verantworten hat. Die Autoritt des Anderen als in Frage stellende und urteilende Instanz scheint insofern unermesslich, als sie zwar durch das handelnde Subjekt bezweifelt oder ihrerseits in Frage gestellt, aber nicht außer Kraft gesetzt werden kann.89 Denn auch in seiner Eigenschaft als Instanz bleibt der Andere fr das Subjekt letzten Endes unverfgbar. 87 Vgl. beispielsweise Lvinas, TU, 259 [153]. 88 Darber hinaus findet sie aber auch in der Gerechtigkeit, die das Subjekt dem Dritten, einem anderen Anderen schuldet, ein Maß. Auch darauf werde ich im dritten Abschnitt dieses Kapitels noch nher eingehen, 89 Da es sich dabei nicht um einen intentional erfahrbaren Akt, vielmehr um die gerade nicht mehr intentional zu fassende Begegnung mit dem Gesicht des An-
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II.3. Emmanuel Lvinas’ ursprungslose Verantwortung
Verantwortung wird von Lvinas primr als grundlegende, nicht-intentionale Struktur gedacht, in der Menschen als Menschen immer schon stehen, die allerdings nicht losgelçst zu begreifen ist von der intentionalen Bezogenheit auf die Anderen und die Welt, die es dem Subjekt berhaupt ermçglicht zu handeln. Erst diese grundlegende Struktur ermçglicht Subjektivitt und konkrete Verantwortungsverhltnisse.90 Doch wie lsst sich eine solche Verantwortung begrnden, inwiefern ist in diesem Kontext berhaupt noch sinnvoll von Begrndung zu sprechen? Diesen Fragen soll nun im folgenden Abschnitt weiter nachgegangen werden.
II.3.2. Verantwortung als begrndungslose Beziehung zum Anderen? Bei der fr die vorliegende Arbeit zentralen Frage, inwiefern und auf welche Weise Lvinas eine solche Verantwortung begrnden kann, steht man vor der methodischen Schwierigkeit, dass Lvinas mit seinem Verantwortungskonzept gerade etwas zu zeigen intendiert, das keine weitere Begrndung zulsst, da es, Lvinas zufolge, als außerhalb oder vor jedem Begrndungszusammenhang stehend zu denken ist. In Totalitt und Unendlichkeit hat Lvinas, wie wir gesehen haben, seinen Verantwortungsbegriff aus der Analyse dessen entwickelt, was er als die Begegnung mit dem Gesicht des anderen Menschen beschrieben hat: Indem das Subjekt dem in sich selbst bedeutsamen Gesicht des anderen Menschen begegnet, macht es eine nicht-intentionale Welterfahrung, die immer schon der Erkenntnis des begreifenden Subjekts und damit auch der begrifflichen Sprache nicht oder nicht umfassend zugnglich ist. Verantwortung kennt hier insofern keine Begrndung, als sie sonst doch wieder eine abgeleitete Form des Weltbezugs darstellen wrde und ihren originren Charakter bereits verraten htte. Statt einen außerhalb ihrer selbst liegenden Grund zu haben, stellt Verantwortung vielmehr selbst den Grund dafr dar, dass das Subjekt dem anderen Menschen berhaupt so etwas wie Grnde liefern kann. So liegt in der Verantwortungsbeziehung zum anderen Menschen fr Lvinas allererst die Mçglichkeit, nach Grnden zu fragen, sie stellt damit so etwas wie den selbst nicht mehr zu begrndenden Grund aller Begrndungen dar. deren handelt, sind Kriterien, ob und warum der andere Mensch das Subjekt „zu Recht“ in Frage stellt, nicht zu erçrtern. 90 hnlich Bedorf, Dimensionen des Dritten, 36.
II.3.2. Verantwortung als begrndungslose Beziehung zum Anderen?
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Scheint Lvinas also bereits in Totalitt und Unendlichkeit die Ursprungslosigkeit der Verantwortungsbeziehung deutlich vor Augen zu haben, so unternimmt er in seinem Sptwerk erneut den Versuch, diese Grundlosigkeit der ethischen Verantwortungsbeziehung darzulegen. Damit antwortet er maßgeblich auf die Kritik Derridas, der in seinem dem Werk von Lvinas gewidmeten Aufsatz „Gewalt und Metaphysik“ gegen Totalitt und Unendlichkeit den berechtigten Einwand erhoben hatte, Lvinas versuche hier, „in der Sprache der Totalitt den berstieg des Unendlichen ber die Totalitt aus[zu]sprechen, [und] den anderen in der Sprache des Selbst [zu] bezeichnen“91. Um diesem Vorwurf zu begegnen, unternimmt Lvinas in Jenseits des Seins den ambitionierten Versuch, den in seinen Augen umfassendsten Begriff des Gesagten auf ein diesem noch vorausgesetztes Sagen zu reduzieren. So sollen die „VorUrsprnglichkeit“ und „An-Archie“ (als Negation jeder Herrschaft, jeder begrifflichen Ordnung, aber auch jeder Begrndung) erkennbar werden, die nach Lvinas das Verantwortungsverhltnis charakterisieren. Damit meint Lvinas zeigen zu kçnnen, warum Verantwortung eben keiner weiteren Begrndung bedarf, vielmehr erst aus der Verantwortungsstruktur die Mçglichkeit von Begrndung hervorgeht.92 In einem ersten Schritt werde ich nun Lvinas’ Reduktion des „Gesagten“ auf ein „Sagen“, wie er sie in Jenseits des Seins vorschlgt, nachzeichnen, um in einem zweiten Schritt auf die methodischen Schwierigkeiten einer solcher Reduktion nher einzugehen. Schließlich werde ich in einem dritten Schritt einen Vorschlag unterbreiten, wie das Verhltnis von Gesagtem und Sagen gedacht werden kçnnte und welche Folgerungen sich fr sein Verstndnis von Verantwortung daraus ergeben.
91 Jacques Derrida, „Gewalt und Metaphysik“, 171 [165]. 92 Auch wenn es Lvinas in Jenseits des Seins darum geht, die ontologische Sprache zu berwinden, muss er zugestehen, dass auch diese „Ausfhrungen, die wir in diesem Augenblick ber die Bedeutung, ber die Dia-chronie und ber die Transzendenz der Annherung jenseits des Seins machen […] Thematisierung, Synchronisierung von Begriffen, Rckgriff auf die systematische Sprache, bestndiger Gebrauch des Verbs sein [sind,] das alle angeblich jenseits des Seins oder ber das Sein hinaus gedachte Bedeutung in den Schoß des Seins zurckfhrt.“ (Lvinas, JS, 339 [198].) – Zur Kritik von Derrida an Lvinas siehe auch Sean Hand, „The other Voice: Ethics and Expression in Emmanuel Lvinas“, 59.
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II.3. Emmanuel Lvinas’ ursprungslose Verantwortung
II.3.2.1. Die Reduktion: Von der Sprache auf ihre grundlegende Struktur Wenn Lvinas das zweite Kapitel von Jenseits des Seins „Von der Intentionalitt zum Empfinden“ berschreibt, kndigt er erneut eine Distanzierung von der phnomenologischen Denkrichtung an: Alternativ zur Intentionalitt beschreibt Lvinas als eine wesentlich andere Welterfahrung das Empfinden (sentir). Whrend fr Lvinas der Begriff der Intentionalitt das solipsistische Subjekt als Zentrum aller Erfahrung voraussetzt, verweist „sentir“ gerade darauf, dass das Subjekt auf etwas, das außerhalb von ihm liegt, gerichtet ist, von dem es immer schon berhrt, betroffen ist. Empfinden zeichnet sich fr Lvinas wesentlich durch seine Passivitt aus, whrend Intentionalitt stets auf ein aktives Subjekt als Ausgangspunkt aller Bewegung rekurriert. hnlich wie bereits in Totalitt und Unendlichkeit distanziert Lvinas sich also auch hier, indem er Intentionalitt nicht mehr als einzigen Weltbezug beschreibt, von seinem Lehrer Husserl und dessen Phnomenologie der Erfahrung, methodisch bleibt er diesem allerdings insofern verbunden, als er auf die phnomenologische Reduktion zurckgreift. Husserl hatte versucht, im Rckgang auf das transzendentale Ich das nichthintergehbare Fundament jeder Erfahrung aufzudecken, da wir nur so, im Rckgang auf die „letztlich fungierend-leistende[…] Subjektivitt“, eine Letztbegrndung gewinnen kçnnten, aus der „alle objektive Begrndung ihre wahre Kraft“ schçpfe.93 Ebenso geht es auch Heidegger, der Husserls phnomenologisches Programm in vielerlei Hinsicht fortsetzt, in seiner Fundamentalontologie um ein bersteigen, ein transcendere des Seienden, um zu dem allem Seienden zugrunde liegenden Sein zu gelangen.94 Lvinas bernimmt die Reduktion als Methode, mçchte jedoch in Jenseits des Seins noch weiter zurckgehen: Er mçchte die Sprache im Sinne des „Gesagten“, das er mit allem Sein und allem Seienden gleichsetzt, auf ein „Sagen“ reduzieren, das jenseits von Sein liege.95 Auf diese Weise meint er zeigen zu kçnnen, dass der fr die Ontologie 93 Edmund Husserl, Die Krisis der europischen Wissenschaften und die transzendentale Phnomenologie, 149. 94 Vgl. Martin Heidegger, Grundprobleme der Phnomenologie, 27. 95 Thomas Wiemer umschreibt in seiner unter dem Titel Die Passion des Sagens publizierten Dissertation das Dit als „vollzogene[…], objektivierende[…] und objektivierbare[…] Rede“ und das Dire als „alle Thematisierung und Kommunikation erst ermçglichende[s] Sich-Bedeuten und Mir-Bedeuten des Gesichts“. (Thomas Wiemer, Die Passion des Sagens, 77.)
II.3.2. Verantwortung als begrndungslose Beziehung zum Anderen?
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allumfassende Begriff des Seins96 selbst noch transzendiert werden kann, dass es davor bzw. daneben eine ethische Beziehung97 gebe, die Lvinas als die allem Sein vorausgesetzte Verantwortung des „Einen-fr-den-Anderen“ bestimmt. Doch gelingt es Lvinas, ein solches Jenseits von Sein berzeugend darzustellen? Dafr beginnt Lvinas in seiner gleichnamigen Schrift mit der fr Heidegger fundamentalen Frage der Philosophie – der nach der Unterscheidung zwischen Sein und Seiendem. Anders als fr Heidegger, fr den Sein der allgemeinste Begriff 98 ist, hinter den man nicht weiter zurckgehen kçnne und der alles Seiende umfasse, sieht Lvinas gerade in der „Amphibologie“, der Doppelsinnigkeit99 von Sein und Seiendem einen Hinweis darauf, dass es noch etwas ihnen bergeordnetes geben muss, das ihre Unterscheidung mçglich macht – die Sprache, die Lvinas hier als Gesagtes100 bezeichnet. Denn alles Sein – ob Sein oder Seiendes, ob Verb oder Substantiv – zeige sich „in den Worten“101. 96 Damit steht nun nicht mehr Husserls Phnomenologie im Mittelpunkt der Lvinas’schen Kritik, sondern vielmehr Heideggers Ontologie. Kern dieser Kritik bleibt aber nach wie vor, dass die Philosophie in ihrem totalisierenden Denken die Andersheit des anderen Menschen verkenne. 97 Die hier postulierte Vorgngigkeit der ethischen Beziehung vor jeder Ontologie im Sinne einer allem Sein vorgngigen Verantwortung fr den Anderen hat ihre Entsprechung darin, dass Lvinas die Ethik als prima philosophia bezeichnet. Dabei ist diese Bezeichnung insofern irrefhrend, als sie mit prima gerade einen Anfang suggeriert, den Lvinas mit Begriffen wie „Vor-ursprnglichkeit“ und „An-archie“ bestreitet. Vgl. hierzu das Vorwort von Jacques Rolland zu EPP, 44. 98 Siehe hierzu vor allem das erste Kapitel von Sein und Zeit. (Heidegger, SuZ, 2 – 25.) 99 Unter der „Doppeldeutigkeit“ von Sein und Seiendem versteht Lvinas, dass beide immer als Nomina wie auch als Verben verstanden werden kçnnen, als Bezeichnungen wie auch als Seinsweisen: In „Das Rot rotet.“ kann „Rot“ ebenso wie „roten“ sowohl als Identifikation wie auch als Seinsweise verstanden werden. Ihre Unterscheidung gelingt erst durch die Sprache: „Die Apophansis – das Rot rotet oder A ist A – verdoppelt nicht das Wirkliche. Erst in der Prdikation ist das Sein des Rot zu verstehen oder das Roten als sein. Erst in der Prdikation wird das nominalisierte Adjektiv verstehbar als sein und als Zeitigung im eigentlichen Sinne. Das sein bringt sich im Gesagten nicht nur zum ,Ausdruck‘, vielmehr erklingt es in ihm ursprnglich – wenngleich doppeldeutig – als sein. Es gibt weder sein noch Seiendes hinter dem Gesagten, hinter dem Logos.“ (Lvinas, JS, 98 [50 f.].) 100 A. a. O., 65 [29]. 101 Ebd. – Whrend Lvinas in Totalitt und Unendlichkeit bezglich der Sprache immer nur allgemein von discours und langage gesprochen hat, fhrt er in Jenseits des Seins mit den beiden nun von ihm verwendeten Ausdrcken Gesagtes und Sagen eine zugespitztere Unterscheidung ein: Das Gesagte ist zu verstehen wie Sprache allgemein und insofern selbst Teil der Ontologie, als sie dazu diene, „die Streuung
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II.3. Emmanuel Lvinas’ ursprungslose Verantwortung
Doch auch wenn also bereits das „Gesagte“ in Lvinas’ Augen noch umfassender ist als das Sein, mçchte er mit Hilfe der phnomenologischen Reduktion102 noch weiter gehen und es auf eine Weise reduzieren, die seine „vor-ursprngliche Bedeutung“103 erfahren lsst oder lassen kçnnte. Im Rckgang auf ein Sagen werde eine Bedeutung bzw. Bedeutsamkeit „sichtbar“, die noch jenseits der Thematisierung des Gesagten liege104 und in der die „Verantwortung des Einen-fr-den-Anderen“ erkennbar werde. Dabei bestimmt Lvinas das Sagen aber als diesem Gesagten auf eine Weise vorgngig, dass es eben nicht mehr ist, vielmehr immer schon vergangen (ist) und so weder zeitlich noch rumlich prsent bzw. berhaupt existent sein kann, und das sich allenfalls in der Reduktion zeigen lasse.105
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der Dauer in Namen und Stzen hinein[zu]versammel[n]“. (Lvinas, JS, 72 [33].) „Gesagtes“ scheint als Bezeichnung insofern fr das von Lvinas Gemeinte treffend, als sich auch hier im „gesagten“ Partizip-Perfekt von „sagen“ zeigt, dass es sich um ein bereits Geschehenes handelt: Da es perfekt, abgeschlossen ist, kann es auch unter einen Begriff gebracht werden. Das „Sagen“ als (substantivierter) Infinitiv hingegen verfgt ber keine Zeit – es hat noch nicht mal angefangen und bleibt damit auch inhaltlich unbestimmt (infinit). Dadurch ist es auch schwierig, ja unmçglich, positiv zu bestimmen, was Lvinas eigentlich mit Sagen meint. Lvinas, JS, 129 [69]. Diese von Lvinas gesuchte Bedeutung muss deshalb vor-ursprnglich sein, weil er ja gerade zurckgehen will auf ein Jenseits von Sein und damit auch hinter das transzendentale Ego als Ursprung allen Sinns. Mit der Verdoppelung der Prfixe – „vor-“ und „ur-“ – kann Lvinas natrlich die ontologische Sprache nicht berwinden, sondern sie allenfalls in ihrer Logik in Frage stellen – denn logisch scheint etwas vor allem Ursprung Liegendes nicht mçglich. – Die vor-ursprngliche Bedeutung wird von Lvinas auch immer wieder mit „signifiance“ („Bedeutsamkeit“) bezeichnet. Thomas Wiemer schreibt zur Unterscheidung von „signification“ und „signifiance“ in der neueren Linguistik: „,Signification‘ wird […] vielfach zum terminus technicus fr die lexikalisch festgelegte […] Wortbedeutung, identisch mit dem Signifizierten oder Denotierten, unabhngig von der jeweiligen Verwendung eines Wortes in einer bestimmten ußerung, in einem bestimmten Kontext. ,Signifiance‘ bleibt dagegen ein sehr viel offenerer und weiterer Terminus. […] Das Wort ,signifiance‘ zeichnet sich von seiner Bildung mit dem Suffix -ance her […] dadurch aus, daß es eine grçßere Nhe zum Verb durchscheinen lßt. Es ist dazu prdestiniert, im Unterschied zu ,signification‘ strker das verbale Moment, den Vollzugs- oder Geschehenscharakter von ,Bedeutung‘ zu betonen.“ (Wiemer, Die Passion des Sagens, 196 f.) So bersetzt Wiemer „signifiance“ ins Deutsche treffend mit „Bedeutsamkeit“, „signification“ hingegen mit „Bedeutung“. Lvinas, JS, 106 [55]. Thomas Bedorf interpretiert im Anschluss an Waldenfels und Benveniste das Gesagte als „Aussagegehalt“ im Sinne eines „nonc“ und das Sagen als performativen Aussagevorgang, als „nonciation“. (Vgl. Bedorf, Dimensionen des Dritten,
II.3.2. Verantwortung als begrndungslose Beziehung zum Anderen?
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Bereits in dieser groben Skizze sollte deutlich geworden sein, wie fragwrdig die Realisierbarkeit des Lvinas’schen Projekts ist – denn inwiefern ist eine Reduktion auf ein „Jenseits vom Gesagten“ und damit auf ein Jenseits von Logos und Sein noch mçglich bzw. berhaupt vorstellbar: Wie lsst sich sprachlich bzw. gedanklich auf ein Jenseits von Gesagtem zurckgehen? II.3.2.2. Die methodische Unmçglichkeit einer Reduktion Lvinas ist sich bewusst, dass eine solche Reduktion vom Gesagten auf die „eigene[…] Bedeutung des Sagens, die diesseits der Thematisierung liegt“106, nicht umhin kann, auch das reduzierte Gesagte wieder als ein Gesagtes, also in der Sprache zu fassen107: „Ein Anders-als-sein darstellen – das ergibt immer noch ein ontologisches Gesagtes, insoweit alles Zeigen ein sein darstellt.“108 Gleichwohl betont er, dass das „Diesseits- oder das Jenseits-des-Seins“ gerade nie „ein Seiendes diesseits oder jenseits des Seins“ sein drfe,109 da sich jedes Seiende selbst wieder in einem Gesagten und damit im Sein finde, das es doch zu reduzieren galt, so dass hier keine wirkliche Reduktion geleistet wre. Die damit beschriebene Schwierigkeit ist fundamental und der infinite Regress unausweichlich: Reduktiv gelangt man nicht zu einem „Sagen“, da jede Reduktion immer einen neuen Rest erzeugt, der als Rest eines „Gesagten“ eben nicht diesseits vom Gesagten bzw. vom Sein, sondern als Gesagtes doch wieder Sein selbst ist: Das reduzierte Gesagte bleibt ein Gesagtes, das – wiederum reduziert – erneut ein Gesagtes wird. Grundstzlich scheint also fraglich, ob Lvinas mit der Wahl seiner Methode wirklich das zeigen kann, was er zeigen mçchte – nmlich ein
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55; Bernhard Waldenfels, Antwortregister, 218 – 222.) Dagegen spricht aber bei Lvinas m. E. die radikale Vorgngigkeit bzw. Diachronie des Sagens, mit der dieses jedes Sein transzendieren soll, bzw. der Umstand, dass es bei Lvinas gar nicht um einzelne Aussagen geht, sondern um eine die Sprache allgemein transzendierende Ebene. Lvinas, JS, 106 [55]. Hier sieht Bedorf eine methodische Nhe zum frhen Wittgenstein, „der gleichfalls der Auffassung ist, die logische Form von Stzen lasse sich nicht sagen, sondern zeige sich lediglich an ihnen“. (Bedorf, Dimensionen des Dritten, 57, Anmerkung 93.) Siehe Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Tagebcher 1914 – 1916. Philosophische Untersuchungen, 4.121 (33). Lvinas, JS, 108 [56]. A. a. O., 109 [57].
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II.3. Emmanuel Lvinas’ ursprungslose Verantwortung
Diesseits bzw. Jenseits nicht allein von Sein, sondern auch von Logos. Reduktion110, die ganz im Sinne einer Ableitung das reduzierte Gesagte doch gerade in einer logischen Beziehung zum Gesagten denken lsst, scheint insofern ungeeignet, als sie eben am Logos festhlt. Diese Schwierigkeit besteht jedoch allgemein fr jede Methode, denn jegliche „Methode“ selbst ist als ein auf einem Regelsystem aufbauendes Verfahren immer schon Teil des Logos und damit per se ungeeignet, ein Diesseits bzw. Jenseits desselben zu denken. Ja, da Denken berhaupt Logos ist111, msste Lvinas hier ein Denken whlen oder erfinden, das so unmethodisch ist, dass es grundstzlich jedes Denken bersteigt – die Paradoxie ist offenkundig. Zu berlegen wre deshalb, ob Lvinas nicht besser daran getan htte, jede Methode hinter sich zu lassen und stattdessen etwa zu springen, um auf diese Weise Sein und Logos zu transzendieren.112 Denn versteht man „springen“113 als eine Bewegung, bei der sich der Springende zunchst vollstndig vom Boden ablçst, um dann woanders – ohne genau wissen zu kçnnen, wo und wie – wieder aufzukommen, findet dabei eine Zsur, ein Bruch statt, der womçglich besser zur Idee, das Sein und den Logos transzendieren zu wollen, passt, als Lvinas’ zumindest partielles Festhalten an der phnomenologischen Reduktion als Methode. Bei einem solchen Vorgehen wre es freilich schwierig zu zeigen, was etwa Gesagtes und Sagen dann noch verbindet und ob sie berhaupt etwas verbindet bzw. verbinden kann. (Darber hinaus scheint niemand diesen Sprngen folgen oder selbst springen zu kçnnen, um ein ihm Transzendentes zu erreichen. Denn indem jemand mit einem intentional-strukturierten Bewusstsein in dieses Diesseits bzw. Jenseits springt, wre gerade dessen Transzendenz aufgehoben.) 110 Urs Schllibaum befasst sich in seinem interessanten Aufsatz „Reduktion und Ambivalenz. Zur Reflexionsstruktur von Emmanuel Lvinas’ „Autrement qu’Þtre“ ausgiebig mit der Schwierigkeit einer Reduktion, die auf ein Diesseits des Dit zurckgehen will. (Urs Schllibaum, „Reduktion und Ambivalenz. Zur Reflexionsstruktur von E. Lvinas’ Autrement qu’Þtre“, 335 – 349.) Verwiesen sei außerdem auf Robert D. Walsh, „Language and Responsability in the Ethical Philosophy of Emmanuel Levinas“, 95 – 105. 111 Vgl. hierzu das Gesprch zwischen Emmanuel Lvinas und C. v. Wolzogen, in Lvinas, HM, 144. 112 In seinem Aufsatz Ethik als erste Philosophie whlt Lvinas dann auch wirklich eine Folge von Sprngen, um die Linearitt des philosophischen Schreibens zu durchbrechen. 113 Siehe hierzu auch die Idee Kierkegaards, dass es eines Sprunges in den Glauben bedrfe.
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Fr Lvinas, der sich der methodischen Unmçglichkeit seines Anliegens durchaus bewusst ist, kann es also keinesfalls darum gehen, eine Art Hinterwelt diesseits von Sein und Logos zu behaupten, vielmehr darum, deren Totalitt114 in Frage zu stellen und so auf einen „Rest“ zu verweisen, der nicht begrifflich gedacht, sondern – wie Lvinas vielleicht gesagt htte – nur „empfunden“115 werden kann und der sich allenfalls in hyperbolischen Figuren und Metaphern andeuten lsst. Dennoch ließe sich gegen Lvinas hier einwenden, dass eine Reduktion, die auf ein Sagen noch diesseits alles Gesagten zielt, notwendigerweise in einen infiniten Regress gerate und ihr Ziel tatschlich nie erreichen kçnne, so dass Lvinas, halte er dennoch an ihr fest, die Regeln der Logik in unzulssiger Weise berschreite. Diesen Einwand antizipierend fhrt Lvinas eine in meinen Augen teilweise berzeugende Analogie an: Dem Skeptizismus hnlich, der immer wieder aufs Neue erwacht, auch wenn wir ihn in seiner radikalen Form als selbstwidersprchlich kritisieren, lasse sich auch sein eigenes Denken nie so vollstndig zurckweisen, dass es als ungedacht bzw. als vollkommen negiert betrachtet werden kçnne.116 Denn selbst eine Negation hinterlasse Spuren, deren Tilgung wieder Spuren hinterlsst, so dass auch Lvinas, mag er selbstwidersprchlich sein, sicherlich Spuren hinterlassen hat und hinterlassen wird, die auch in der Philosophie zur Kenntnis genommen werden. Gleichwohl bleibt zu fragen, welchen Geltungsanspruch Lvinas mit solchen Spuren erheben kann und ob bzw. inwieweit die von ihm hinterlassenen Spuren noch mit Lvinas’ eigenem Denken zu identifizieren sind. Um das Problem mit einem Vergleich aus der Mathematik zu umschreiben: So wenig man einer 4. Ableitung die dazu gehçrige Stammfunktion ansehen kann, so wenig lsst sich die Spur einer weggewischten Spur noch mit dem Denken selbst identifizieren, das die ursprngliche Spur hinterlassen haben mag. Es besteht die Gefahr, dass die Spur nicht mehr Auskunft geben kann, ob dasjenige, dessen Spur ist, berhaupt Sinn hatte.117 Damit bleibt fraglich, ob Lvinas’ Verantwortungsdenken innerhalb der Philosophie mehr als eine Spur einer weggewischten Spur hinterlassen kann, und fr das Lvinas’sche Denken 114 Die thematische Verwandtschaft zu Totalitt und Unendlichkeit ist offenbar. 115 Vgl. hierzu den Titel des zweiten Kapitels von Jenseits des Seins: „Von der Intentionalitt zum Empfinden“; Hervorhebung E. B. 116 Vgl. Lvinas, JS, 363 ff. [213 ff.], sowie auch Bedorf, Dimensionen des Dritten, 60 f. 117 Erinnert sei an Experimente, in denen ein absichtsvoll zusammengebastelter Nonsens-Text zu gelehrten Kommentaren Anlass gegeben hat und sich niemand zu sagen traute: „Der Kaiser ist ja nackt!“
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II.3. Emmanuel Lvinas’ ursprungslose Verantwortung
bliebe der Anspruch, sich innerhalb der Philosophie nicht nur in falsifizierter Form Geltung zu verschaffen, uneingelçst. II.3.2.3. Das Verhltnis von Gesagtem und Sagen: Die Verantwortung fr den anderen Menschen – noch vor jedem Bewusstsein Versucht man ungeachtet aller methodischen Schwierigkeiten einer solchen Reduktion dennoch, das Verhltnis von Gesagtem und Sagen nher zu charakterisieren, ließe es sich vielleicht am ehesten im Sinne eines transzendentalen Bedingungsverhltnisses verstehen: Dann wre Sagen eine Art Bedingung der Mçglichkeit des Gesagten, sofern Gesagtes nach Lvinas nur vor dem Hintergrund eines ihm immer schon vorausgehenden, nie selbst seienden Sagens zu denken ist. Insofern das Gesagte als Sprache bzw. Logos wesentlich die Struktur von Bedingungsverhltnissen hat, kçnnte die Frage nach seiner eigenen Bedingung der Mçglichkeit in der Tat berechtigt sein.118 Dennoch, und das sollte aus der bisherigen Rekonstruktion des Lvinas’schen Denkens deutlich geworden sein, kann ein Sagen, das diesseits von Sein und Sprache liegen soll, gerade nicht mehr im Sinne einer Bedingung der Mçglichkeit, schon gar nicht von Erkenntnis, gedacht werden. Denn so, wie dieses Sagen Sein und Logos transzendieren soll, muss es auch ein Bedingungsverhltnis im Sinne der Transzendentalphilosophie transzendieren, weil dieses doch immer noch den Logos voraussetzt. Doch was soll dann berhaupt mit diesem Sagen zum Ausdruck gebracht werden? Auch wenn Sagen keine Bedingung der Mçglichkeit im Sinne der Erkenntnistheorie ist – liegt es doch gerade außerhalb jeder Kognition –, kçnnte man die im Sagen gefasste Struktur einer gleichzeitigen Verbindung und Trennung zwischen Menschen, die Struktur des „Einen-fr-den-Anderen der Verantwortung“, vielleicht als einen nicht mehr begrifflich einholbaren Sinnhorizont bezeichnen: Nur weil das Subjekt vom Anderen zwar radikal getrennt ist, aber dennoch immer schon eine Nhe119 zwischen beiden besteht, kann das Subjekt 118 Damit ist die Frage, was hier eigentlich was bedingt, noch nicht gelçst. Denn sicherlich lsst sich behaupten, das Sagen bedinge das Gesagte, doch damit ist nicht mehr gesagt, als dass irgendetwas (nicht nher Bestimmbares) Bedingung fr das Gesagte ist. 119 In Totalitt und Unendlichkeit hatte Lvinas die ethische Beziehung zum anderen Menschen als Begegnung charakterisiert, die gerade nicht im Sinne einer logischen
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durch den Anderen einen Sinn erfahren, der allem Gesagten (im Sinne von Sprache und Logos) berhaupt Bedeutsamkeit verleiht. Hat Lvinas in Jenseits des Seins Verantwortung als „der-Eine-fr-denAnderen“ expliziert, als eine aller Sprache und damit allem Sein immer schon vorgngige Struktur, bestimmt er analog dazu in Ethique comme philosophie premire, einem seiner zuletzt publizierten Texte, Verantwortung als das jedem Bewusstsein (conscience) vorausgehende „schlechte Gewissen“ (mauvaise conscience)120. Whrend es Lvinas in Jenseits des Seins darum ging, die Sprache, in der sich Sein und Seiendes unterscheiden lassen, zu reduzieren, mçchte er hier die Frage beantworten, „ob das als Wissen verstandene Denken […] die Mçglichkeiten der Bedeutsamkeit des Denkens ausschçpft und ob nicht, hinter dem Wissen und seinem Zugriff auf das Sein, eine dringlichere Weisheit auftaucht“121. Seiner Argumentation in Jenseits des Seins entsprechend unternimmt Lvinas nun also den Versuch, das Bewusstsein als nicht mehr weiter zu begrndendes fundamentum inconcussum der Philosophie seit Descartes zu hinterfragen, indem er wiederum auf ein Diesseits bzw. Jenseits hinaus will, da er – wie die oben zitierte Frage deutlich macht – bezweifelt, dass sich die Bedeutsamkeit des Denkens allein auf immanentes Wissen beschrnken lsst. Er versucht deshalb einem vor-reflexiven, d. h. noch unbewussten Grund des Bewusstseins nachzuspren. Beziehung gedacht werden darf. In Jenseits des Seins whlt er hufig die Begriffe „Nhe“ bzw. „Annherung“, um diese Begegnung zu beschreiben. Damit fasst er die subjektive Bezogenheit auf den anderen Menschen vielleicht noch deutlicher als in seinem frhen Hauptwerk als Form einer Distanz bzw. einer nicht zu berwindenden Differenz, die aber gleichzeitig wesentlich als gering, als dicht erfahren wird. Denn Nhe bzw. Annherung rckt zwar etwas zusammen, kann es aber dabei niemals in eins setzen. Um sich berhaupt nah sein zu kçnnen, kann man nicht identisch sein. Gleichwohl sind zwei durch Nhe aneinander gebundene Menschen auch nicht vçllig unabhngig, sondern aufeinander bezogen. Annherung ist dabei keine statische Beziehung, sondern eine Bewegung, die den Abstand zwischen dem Subjekt und dem Anderen immer kleiner werden lsst. Vgl. hierzu Lvinas, JS, 182 ff. [102 ff.]. 120 Da das Franzçsische begrifflich nicht streng zwischen dem Bewusstsein – conscience – und dem Gewissen – conscience oder conscience morale – unterscheidet, lsst der Ausdruck „mauvaise conscience“ neben der gngigen bersetzung eines „schlechten Gewissens“ auch immer die bersetzung eines „schlechten, ungengenden Bewusstseins“ zu – selbst wenn diese nicht gebruchlich ist. 121 „Si la pense entendue comme savoir […] puise les possibles de la signifiance de la pense et si, derri re le savoir et son emprise sur l’Þtre, ne surgit pas une sagesse plus urgente.“ (Lvinas, EPP, 77.)
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Um was aber soll es sich bei einem derartigen vor-bewussten Bewusstsein handeln? Aus der Perspektive des Subjekts lsst sich diese Frage zunchst nicht beantworten, fehlt ihm doch jede kognitive Erfahrung von diesem vor-bewussten Bewusstsein. Gleichwohl lsst sich in transzendentalphilosophischer Manier natrlich fragen, worin denn die Bedingungen der Mçglichkeit von Bewusstsein liegen – und im Sinne einer solchen Bedingung kçnnte man einrumen, dass jeder bewussten Erfahrung immer schon etwas zugrunde liegen muss, das jedoch als vorbewusst bzw. vor-intentional vom erfahrenden Subjekt selbst nicht mehr begrifflich zu fassen ist. So steht auch fr Lvinas fest, dass dieses „unwissende Bewusstsein“ als Grund allen Wissens kein intentionales Bewusstsein mehr sein kann.122 Stattdessen charakterisiert er es als „ein nicht vergegenstndlichendes Wissen“123, das aber alle „intentionalen Prozesse“ begleitet. Er geht davon aus, dass wir, noch bevor wir die Welt im Sinne einer noematischen Struktur begreifen, immer schon, ohne allerdings davon ein „bewusstes“ Bewusstsein zu haben, von dieser Welt betroffen sein mssen: Es ist eine solche Form des Betroffenseins, die er als vor-reflexives Bewusstsein bezeichnet, das nicht mehr Wissen von etwas (und damit ein intentionaler Akt) sei, sondern „reine Passivitt“124 im Sinne einer Affiziertheit ganz ohne intentionale Subjektleistung. Statt jedoch, wie Lvinas der Philosophie vorwirft, dieses unbewusste, implizite Wissen,125 das jeder Intention vorausgeht, vorschnell als eine „noch verworrene Vorstellung“126, die es zu erhellen gelte, abzutun, mçchte er zeigen, dass diese „angebliche Verwirrung“127 auf positive Weise, und damit meint er nicht allein in ihrer Potentialitt als ein noch nicht-aktualisiertes, aber in jedem Augenblick aktualisierbares Wissen, bedeutsam sein kann. Darber hinausgehend definiert Lvinas – und springt hier nun tatschlich eher, als dass er sich konsequent an die 122 A. a. O., 80. 123 „Un savoir non objectivant“. Ebd. 124 A. a. O., 85. – Siehe hierzu auch oben die Ausfhrungen im Abschnitt II.3.1.1., 157 ff., zur Passivitt. 125 Interessant wre hier, auf die hnlichkeiten zu der von Stanley Cavell gemachten Unterscheidung zwischen knowledge und acknowledgement einzugehen. Siehe seinen gleichnamigen Aufsatz, in dem Cavell sich mit dem Skeptizismus auseinandersetzt: Stanley Cavell, „Wissen und Anerkennen“, 39 – 73. Ich werde unten, in Abschnitt III.2.2., auf diese Thematik zurckkommen. 126 „Reprsentation encore confuse“, Lvinas, EPP, 81. 127 A. a. O., 83.
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Methode der Reduktion hlt – dieses unbewusste oder vor-reflexive Bewusstsein, wie gesagt, als schlechtes Gewissen (oder auch unzureichendes Bewusstsein). Abermals im Gegensatz zur philosophischen Tradition interpretiert Lvinas das Gewissen jedoch nicht mehr im Sinne einer moralisch urteilenden Instanz (wie etwa Kant, der es als eine „sich selbst richtende moralische Urteilskraft“128 bezeichnete. Vielmehr ist das schlechte Gewissen fr Lvinas – und auch diese Interpretation folgt keineswegs zwingend aus dem vorher Gesagten, sondern erscheint im besten Falle nicht ausgeschlossen – die nicht-intentionale Erfahrung, durch den Anderen in Frage gestellt und ihm eine Antwort schuldig zu sein: Im Gegenzug wird in der Passivitt des Nicht-Intentionalen […] die Berechtigung selbst der Position im Sein fraglich, die sich mit dem intentionalen Denken festigt […]; in dieser Infragestellung ist also das Sein unzureichendes Bewusstsein / schlechtes Gewissen, in Frage stehend, aber auch als Frage anstehend und verpflichtet zu antworten – Geburt der Sprache in der Verantwortung […].129
Versucht man, Lvinas’ Sprnge zurck in eine philosophische Sprache zu bersetzen, ließe sich – wohlwollend interpretierend und im Einklang mit der Interpretation seiner beiden Hauptwerke – folgender Deutungsvorschlag machen: Jeder Mensch ist in seiner Ich-sagenden Subjektivitt und bereits vor deren Ausbildung, auch ohne dass es ihm selbst bewusst ist, durch den Anderen affiziert und bestimmt. Zu ihm hat er sich nicht bloß als Subjekt zu verhalten, indem er sich in dieser Welt positioniert, vielmehr hat er in seinem In-der-Welt-sein bereits den Anderen als Teil seiner selbst in sich aufgenommen und ist durch ihn konstituiert. In dieser passiven bernahme des Anderen liegt der dem Subjekt selbst nicht bewusste Grund von Bewusstsein, den Lvinas auch als schlechtes Gewissen bzw. unzureichendes Bewusstsein bezeichnet.130 Denn zum einen ist es als vor-bewusstes eben noch kein Bewusstsein und deshalb „unzureichend“, „schlecht“; daneben ist es aber auch die Erfahrung der Abhngigkeit vom Anderen, eben nicht autonom, sondern auf den An128 Kant, Rel, 186. 129 „Par contre, dans la passivit du non-intentionnel […] se met en question la justice mÞme de la position dans l’Þtre, qui s’affirme avec la pense intentionnelle, […] voil l’Þtre comme mauvaise conscience dans cette mise en question; Þtre en question, mais aussi la question, avoir rpondre – naissance du langage dans la responsabilit; […].“ (Lvinas, EPP, 90.) 130 Siehe zur ursprnglichen Bedeutung von Gewissen als Bewusstsein Hannah Arendt, ber das Bçse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, 49.
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II.3. Emmanuel Lvinas’ ursprungslose Verantwortung
deren angewiesen zu sein, ihm vielleicht etwas – die eigene Subjektivitt – zu schulden,131 eine Erfahrung, die sich im weitesten Sinne als „schlechtes Gewissen“ bezeichnen ließe. Das schlechte Gewissen ist also eine vorbewusste Antwort – noch unwillentlich und passiv – auf die Infragestellung durch den Anderen.132 Hier lsst sich also (formal hnlich wie bei Heidegger, aber doch mit einer grundlegend anderen Akzentsetzung) die Verantwortung auf das Gewissen zurckfhren: Vor jedem Bewusstsein ist das Subjekt durch den Anderen angesprochen, der ihm in dem Sinne ein schlechtes Gewissen macht oder ein anderes Bewusstsein gibt, dass es vor ihm immer schon sein Recht zu sein erweisen muss.133 Und diese Antwort, die das Subjekt ihm schuldet und der es nicht entgehen kann, lsst es verantwortlich sein, weil es gar nicht anders kann, als mit diesem Anderen, fr und sogar durch ihn zu sein. Unsere Frage, wie Verantwortung zu begrnden ist, konnte damit in Bezug auf Lvinas allenfalls negativ beantwortet werden. Der spezifische Gehalt seines Denkens – von Totalitt und Unendlichkeit bis zu seinen Sptschriften – besteht darin, menschliche Verantwortung nicht zu begrnden und zu zeigen, dass sich Verantwortung nicht weiter begrnden lsst. Dieser Intention folgend hat Lvinas in Totalitt und Unendlichkeit, wie bereits aus dem ersten Abschnitt dieses Kapitels deutlich geworden sein sollte, die Verantwortung des Menschen als alternativen Weltbezug zur erkennenden Intentionalitt interpretiert. In Jenseits des Seins, aber auch in Ethique comme philosophie premire, so wurde weiter gezeigt, stellt Lvinas die menschliche Verantwortung als vor-ursprngliche, vor-bewusste Struktur dar, die als ein Sein und Seiendes umfassender Begriff außerhalb des Gesagten vor jedem Bewusstsein liegt. Damit fehlt Verantwortung nach den Gesetzen der Logik streng genommen nicht nur 131 Das klingt insofern paradox, als Lvinas in diesem Werk gerade explizit den Menschen als nicht schuldig bezeichnet. (Vgl. Lvinas, EPP, 97 u. 98.) So ist dieses schlechte Gewissen auch keineswegs an eine Schuld, die das Subjekt durch sein Tun auf sich geladen htte, gebunden: Um durch eigenes Handeln schuldig zu sein, msste das Subjekt bereits ber Selbstbewusstsein verfgen. 132 Auf einen weiteren Aspekt des schlechten Gewissens weist M. Brumlik hin: „Angesichts der wahrgenommenen Zeitlichkeit der anderen Menschen in den Zeichen, den Spuren ihres Gesichts, in dem sich Verletzlichkeit, Sterblichkeit, Alter und Preisgabe kundtun, machen wir in reflektierter Weise eine weitere ethisch bedeutsame Erfahrung: die eigene mçgliche Bereitschaft, dem Anspruch der Anderen zu gengen, kommt immer zu spt!“ (Brumlik, „Lvinas’ Ethik des Antlitzes“, 109 f.) 133 Lvinas, EPP, 92.
II.3.2. Verantwortung als begrndungslose Beziehung zum Anderen?
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jeder Ort und jede Zeitlichkeit, sondern Sein berhaupt: Eine Verantwortung, die vor-bewusst und diesseits / jenseits von Gesagtem liegt, ist nicht. Warum sich also mit einer solch unbegrndeten und unbegrndbaren Verantwortungskonzeption weiter befassen, zumal sie in ihrer unermesslichen, nie endenden Forderung an das Subjekt geradezu untragbar und unertrglich scheint? So berechtigt diese fundamentalen Einwnde gegen Lvinas auch sein mçgen, verfehlen sie doch einen m. E. wichtigen Kern seines Denkens, denn es geht ihm zunchst einmal darum, im Widerspruch zur philosophischen Tradition zu zeigen und zu erklren, dass wir gar nicht anders kçnnen, als diese Forderung, die ihren alleinigen Grund in der Bedeutsamkeit des anderen Menschen hat, anzuerkennen – und dass wir dies faktisch immer schon tun, selbst wenn wir nicht begrifflich fassen kçnnen, worin genau jene Forderung besteht. Lvinas sucht also nicht nach einer Begrndung von Verantwortung, vielmehr will er zeigen, dass Menschen immer nur durch, vor, fr und mit andere(n) leben (was er als die Verantwortung fr-den-Anderen bezeichnet), und dass erst unter Bercksichtigung dieser grundlegenden Struktur die Frage nach Grnden und konkreten Verantwortungsverhltnissen sinnvoll gestellt werden kann. Lvinas kehrt also das traditionelle Begrndungsverhltnis um: Statt die Moral im Eigeninteresse, in der Vernunft, der Sprache oder in sich selbst zu begrnden, insistiert er darauf, dass die Verantwortung fr den Anderen nicht durch den Logos bzw. eine rationale Begrndung in die Welt kommt, sondern wir nur deshalb berhaupt nach so etwas wie Grnden fragen und Grnde geben kçnnen, weil wir mit Anderen in einer moralischen Verantwortungsbeziehung stehen. Wir kçnnen gar nicht anders – darin liegt der spezifische Gehalt des Lvinas’schen Denkens von Totalitt und Unendlichkeit bis zu seinen Sptschriften –, als diese Forderung, dem Anderen zu antworten, anzuerkennen; und das tun wir faktisch auch immer schon, selbst dann, wenn wir ihr nicht entsprechen. Damit hat Lvinas keine Begrndung fr unsere Verantwortung gegenber Anderen geliefert, vielmehr zu zeigen versucht, dass in dieser unbedingten und demnach nicht zu begrndenden Verantwortung so etwas wie der Grund allen Begrndens liegt. Dennoch, und darauf mçchte ich im nun folgenden Abschnitt nher eingehen, stellt sich selbstverstndlich die Frage, wie sich im Sinne dieser Forderung verantwortlich handeln lsst.
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II.3. Emmanuel Lvinas’ ursprungslose Verantwortung
II.3.3. Verantwortung und Gerechtigkeit: Wie lsst sich verantwortlich handeln? In den vorangegangenen beiden Abschnitten wurde Lvinas’ Verstndnis einer Verantwortung, die selbst nicht weiter zu begrnden ist, sondern berhaupt erst den „Grund“ fr jedes Begrndungsverhltnis liefert, beschrieben und diskutiert. Als problematisch erwies sich dabei, wie in einer philosophischen Sprache berhaupt ber eine solche Verantwortung, die jedes begriffliche Denken zumindest teilweise berschreitet, nachgedacht werden kann. Im Folgenden wird es nun noch einmal um die dritte Frage gehen, nmlich wie vor dem Hintergrund eines solchen Verantwortungsverstndnisses verantwortliches Handeln auszusehen hat. Lvinas beantwortet diese Frage selbst nirgendwo direkt und will das wohl auch nicht.134 Auf die Grnde, die ihn bewogen haben kçnnten, diese Frage weitgehend zu ignorieren, werde ich in einem ersten Schritt eingehen (II.3.3.1.); sodann werde ich die gerade im deutschen Kontext hufig kritisierte Vorstellung der Asymmetrie in der Beziehung zum anderen Menschen nher erçrtern (II.3.3.2.), um schließlich einige berlegungen zum Verhltnis von Verantwortung und Gerechtigkeit vorzustellen (II.3.3.3.). II.3.3.1. Verantwortung: Existenzial oder Aufgabe des Menschen? Lvinas’ Hauptkritikpunkt an der philosophischen Tradition besteht, wie gesagt, darin, dass diese den Menschen in seinem Weltverhltnis zu einseitig als erkennendes Subjekt verstanden und damit die wesentlich ethische Beziehung zum anderen Menschen ignoriert habe: In der Begegnung mit dem Anderen sei das Subjekt nicht intentional wahrnehmend, sondern durch das Gesicht des anderen Menschen aufgefordert, ihm auf seinen Ruf zu antworten. Diese Verantwortungsbeziehung zum anderen Menschen stellt fr Lvinas keine abgeleitete Form des intentionalen Weltverhltnisses dar, sondern wird von Lvinas als ein unab134 So betont Hans-Dieter Gondek, dass Lvinas’ Werk keine „,Ethik‘, auf jeden Fall keine im herkçmmlichen Sinne ,normative Ethik‘“ sei. Vielmehr weise Lvinas „die Anmaßung des Theoretischen zurck, Prinzipien des Ethischen auf der Grundlage eines kognitiven Wissens formulieren zu wollen“. (Hans-Dieter Gondek, „Gesetz, Gerechtigkeit und Verantwortung bei Levinas“, 315.)
II.3.3. Verantwortung und Gerechtigkeit
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hngiger135 Weltbezug beschrieben, der zwischenmenschliche Beziehungen so wesentlich und ursprnglich bestimmt, dass er als „Existenzial“ zu verstehen ist. Da es Lvinas also vor allem darum geht, Verantwortung als ethisches Verhltnis zum anderen Menschen zu beschreiben, in dem jeder Mensch als Mensch immer schon steht, ergibt sich die Frage, wie diesem Verhltnis (am besten) entsprochen werden kann bzw. wie der Mensch im Alltag verantwortlich handeln kann, nur in abgeleiteter Form. Denn zunchst kann der Mensch nach Lvinas gar nicht anders als verantwortlich handeln, ist er doch immer schon – noch bevor er Subjektivitt erlangt – verantwortlich, weil er durch den Anderen zur Antwort aufgerufen ist. Dennoch, wenn auch deutlich weniger prominent und eher andeutungsweise taucht ebenfalls bei Lvinas die Frage auf, wie das Subjekt seiner Verantwortung dem Anderen gegenber entsprechen kann. Es sieht sich nicht nur mit dem Anspruch des einen Anderen, sondern auch mit dem des anderen Anderen konfrontiert, den Lvinas als Dritten bezeichnet, und daraus ergibt sich fr das Subjekt die Frage, wie es diesen multiplizierten, mçglicherweise konkurrierenden Verantwortungsbeziehungen gerecht werden kann. II.3.3.2. Die Asymmetrie in der Begegnung mit dem anderen Menschen Bislang wurde in diesem Kapitel Verantwortung als ethischer, nicht-intentionaler Weltbezug des Subjekts beschrieben, in dem dieses vom Anderen aufgerufen wird zu antworten bzw. sich vor ihm fr sein Recht zu sein zu verantworten. Dabei habe ich einen Aspekt der Lvinas’schen Verantwortungskonzeption allenfalls implizit angesprochen, nmlich dass Verantwortung fr Lvinas ein wesentlich asymmetrisches Verhltnis beschreibt: Der Andere ist (zunchst) nicht in derselben Weise fr das Subjekt verantwortlich wie dieses fr ihn, vielmehr spricht Lvinas an 135 Thomas Bedorf weist zurecht darauf hin, dass dies nicht heiße, dass „Auge und Blick, (ontisches) Gesicht und (ethisches) Angesicht) […] nichts miteinander zu tun [htten]. Denn das Angesicht kann auch zu einem Gesicht unter anderen werden, indem es nach sthetischen, expressiven oder biologischen Kriterien verglichen wird; es kann schlicht sein Gesicht verlieren. Insoweit der Andere sichtbar wird, wodurch er in die Welt der Ontologie hineingezogen wird, lßt er sich vorstellen, reprsentieren, abbilden und einordnen. Das Angesicht hingegen ist nicht im eigentlichen Sinne sichtbar, sondern Ort einer Bedeutung, die im Angeblickt-Werden sich als Gebot ußert.“ (Bedorf, Dimensionen des Dritten, 75.)
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II.3. Emmanuel Lvinas’ ursprungslose Verantwortung
zahlreichen Stellen von der (unendlichen) Verantwortung des Subjekts fr den Anderen, die selbst noch dessen Verantwortung fr das Subjekt mit einschließt.136 Diese These der Asymmetrie in der Verantwortung wurde gerade von Seiten zeitgençssischer deutscher Philosophen kritisch kommentiert.137 Fr sie verkennt Lvinas damit fundamental das wesentlich reziproke Verhltnis zwischen Menschen, auf dem jede Moraltheorie aufbauen sollte. Es stellt sich jedoch die Frage, ob Lvinas’ Beschreibung der Begegnung mit dem Anderen als asymmetrischer Beziehung die Forderung nach Reziprozitt wirklich ausschließt. Hierfr gilt es erst genauer zu verstehen, wie und warum Lvinas berhaupt die Begegnung mit dem Anderen als asymmetrisch beschreibt. Wenn Lvinas eines der Ziele von Totalitt und Unendlichkeit darin sieht, den „Primat des Ethischen, also [die] Beziehung von Mensch zu Mensch […] herauszustellen, den Vorrang einer irreduziblen Struktur zu erweisen, auf die sich alle anderen sttzen“138, ist darin zweierlei impliziert: Erstens versteht Lvinas das Ethische als die Beziehung zwischen zwei Menschen, bei der das Gesicht des (einen) anderen Menschen dem (einen) Subjekt begegnet bzw. dieses sich in seiner Subjektivitt selbst als fr den Anderen verantwortlich konstituiert; zweitens betont Lvinas, dass es sich hierbei um eine originre, nicht weiter ableitbare Beziehung handelt, die sich als „irreduzibel“ auch nicht einfach auf eine intentionale Erfahrung zurckfhren oder in sie bersetzen lsst. Im Unterschied zu anderen universalistisch argumentierenden Theorien der Moral besteht fr Lvinas die ethische Beziehung also zunchst nicht zu allen Menschen im Sinne der Menschheit als ganzer, sondern beschreibt ein dyadisches Verhltnis – zwischen dem Subjekt und dem Anderen –, das Lvinas aber ausschließlich aus der Perspektive des verantwortlichen Subjekts beschreibt. Und diese Perspektive, die durch die unmittelbare Betroffenheit durch den Anderen gekennzeichnet ist, gestattet nach Lvinas zunchst nicht, auch die ethischen Erfahrung des Anderen zu bercksichtigen, in der dieser sich nun seinerseits als fr das Subjekt und vor ihm verantwortlich wahrnimmt. Hierfr wre ein Wechsel im Weltbezug erforderlich, der es dem Subjekt erlauben wrde, auch die Beziehung des 136 Vgl. etwa Lvinas, JS, 260 [150]. 137 Vgl. hierzu beispielsweise Forst, „Praktische Vernunft“, 198; ders., „Moralische Autonomie“, 194 f., aber auch Apel, „First Things First“, 45, und ders., „Rponse de l’thique de la discussion“, 45, wobei Apel Lvinas nur vor das Problem gestellt sieht, die Frage der Gerechtigkeit mit seiner Herangehensweise nicht lçsen zu kçnnen. 138 Lvinas, TU, 108 [51].
II.3.3. Verantwortung und Gerechtigkeit
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Anderen zu ihm zu reflektieren. Reflexion aber setzt kognitive Leistungen und Intentionalitt voraus, die die Unmittelbarkeit der ethischen Erfahrung (zumindest teilweise) transzendieren. Die Verantwortung des Subjekts fr den anderen Menschen ist also asymmetrisch, nicht weil das Subjekt wirklich mehr Verantwortung fr den Anderen hat als der Andere fr das Subjekt, sondern weil es aus der ethischen Perspektive die Verantwortung des anderen Menschen fr sich selbst nicht erfahren kann. Denn diese sieht Lvinas durch „die radikale Unmçglichkeit“ gekennzeichnet, „sich von Außen zu sehen und von sich und den Anderen in derselben Weise zu reden“.139 Die von Lvinas konstatierte „metaphysische[…] Asymmetrie“ ist also, wie er betont, nicht auf „Unterschiede zwischen dem Anderen und mir“ und auch nicht auf „unterschiedliche[…] ,Eigenschaften‘“ oder auf „unterschiedliche[…] psychologische[…] Dispositionen“ zurckzufhren, sondern liegt allein in der besonderen „Verbindung Ich-Anderer, an der unvermeidlichen Orientierung des Seins ,von-sich-aus‘ hin zum ,Anderen‘“ begrndet.140 Sofern das Subjekt aber in Wirklichkeit diese Perspektive nie ausschließlich einnimmt, sondern ebenso in einem intentionalen Weltbezug steht, kann es sich auch nach Lvinas durchaus die Frage stellen, inwieweit der Andere mçglicherweise ebenfalls Verantwortung fr das (von ihm seinerseits als ein Anderer erkannte) Subjekt selbst trgt. So schließt auch Lvinas nicht aus, dass „diese Beziehung […] den Charakter eines symmetrischen Verhltnisses annehmen“141 kçnne. Der hierfr notwendige Wechsel von der vor-intentionalen ethischen Erfahrung zum intentionalen Weltbezug wird nach Lvinas sptestens aufgrund der Tatsache vollzogen, dass Menschen sich in der Welt nicht nur durch einen Anderen zu antworten aufgerufen fhlen, sondern immer gleich durch mehrere andere Menschen, was sie vor die Frage stellt, wie welchen Ansprchen
139 A. a. O., 67 [24]. – M. Brumlik ergnzt: „Hier wird deutlich, warum die Ethiken der Symmetrie und Reziprozitt den eigenen Ansprchen entgegen letztlich monologisch strukturiert sind: Verstçße gegen funktional ausgewiesene Lebensgrundlagen bzw. Widersprche gegen konstitutionstheoretische Grundlagen vernnftigen Selbstverstndnisses denken immer noch vom Subjekt, und nicht von der Erfahrung des Anderen her, haben also die […] Ablçsung vom subjektivittstheoretischen Paradigma nicht wirklich vollzogen.“ (Brumlik, „Lvinas’ Ethik des Antlitzes“, 113 f.) 140 Lvinas, TU, 311 [190]. 141 A. a. O., 328 [201].
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II.3. Emmanuel Lvinas’ ursprungslose Verantwortung
mçglichst gerecht nachgekommen werden kann. Hierauf will ich im Folgenden nher eingehen. II.3.3.3. Unbegrenzte Verantwortung fr den Anderen und die Frage der Gerechtigkeit Zweifellos geht es Lvinas in seinem gesamten Denken vor allem darum, die ethische Beziehung richtig zu beschreiben. Dennoch formuliert er besonders in seinem Sptwerk, wie beispielsweise auf den letzten Seiten von Jenseits des Seins, auch die Frage des Dritten,142 indem er selbst zugesteht, dass die Beziehung zum anderen Menschen immer auch eine Beziehung zum Anderen des Anderen143 impliziert – eben zu einem Dritten, dessen Auftritt in der bislang dyadisch beschriebenen ethischen Erfahrung von Lvinas in einem seiner spten, strker politisch orientierten Aufstze folgendermaßen beschrieben wird: Der Dritte ist anders als der Nchste, aber auch ein anderer nchster und auch ein Nchster des anderen und nicht einfach seinesgleichen. Was habe ich zu tun? Was haben sie bereits einander getan? Welcher hat Vortritt vor dem anderen in meiner Verantwortung? Was sind sie denn, der andere und der Dritte, in bezug aufeinander? Geburt der Frage. Die erste Frage im Zwischen-Menschlichen ist die Frage der Gerechtigkeit.144
Lvinas lsst keinen Zweifel: Auch er geht nicht davon aus, dass Menschen allein dem einen Anderen begegnen. Denn diese Begegnung wird immer schon durch die Prsenz anderer Anderer beeinflusst, mit gestaltet oder gestçrt, die ebenfalls Antworten fordern, womit die zunchst unermessliche, unendliche und wesentlich asymmetrisch gedachte Verantwortung im Anderen des Anderen eine Grenze erfhrt, die gleichzeitig als eine ihrer Ermçglichungsbedingungen verstanden werden muss: „Meine 142 Ich werde mich hier allein auf den Dritten als dritten Menschen konzentrieren und den Dritten im Sinne einer Gottheit außer Acht lassen, auch wenn Lvinas sowohl vom dritten Menschen als auch vom Dritten, der Illeitt, spricht, da dieser fr meine Fragestellung nach der Verantwortlichkeit in Lvinas’ Denken von untergeordneter Relevanz ist. Siehe zum Begriff der Illeitt: Angel E. Garrido-Maturano, „,Illeitt‘ im Denken von E. Lvinas. Zum Vorbeigehen der Illeitt bis zum Zeugnis der Liebe Gottes“, 62 – 75. 143 Siehe hierzu auch oben, in Abschnitt II.3.1.3., 167 ff., die Hinweise zum „Anderen im Anderen“. 144 Emmanuel Lvinas, „Frieden und Nhe“, in: Verletzlichkeit und Frieden, 147.
II.3.3. Verantwortung und Gerechtigkeit
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Verantwortung fr alle kann und muß sich auch darin erweisen, daß sie sich beschrnkt[…]. Dadurch daß der Andere, mein Nchster, auch Dritter ist in Bezug auf einen weiteren Anderen, der seinerseits Nchster ist, entsteht das Denken, das Bewußtsein, die Gerechtigkeit und die Philosophie.“145 Betont Lvinas auch immer wieder die Unendlichkeit unserer Verantwortung, so rumt er hier doch ein, dass das Subjekt im Gewahrwerden einer weiteren Verantwortung, eben fr den Anderen des Anderen, sich mit der Frage konfrontiert sieht, wer mehr Recht auf Antwort und Untersttzung hat. Denn um berhaupt antworten zu kçnnen, hat es zwischen dem Anderen und anderen Anderen zu vergleichen, abzuwgen und zu berlegen, wem es zuerst und in welcher Weise und in welchem Umfang antwortet. Um einen solchen Vergleich anstellen zu kçnnen, muss das Subjekt ber Bewusstsein verfgen, denn nur ein bewusster Mensch kann berhaupt vergleichen und zwischen den Ansprchen des einen Anderen und dem des Dritten eine Entscheidung treffen. Die Tatsache, dass das Subjekt nie in dem reinen Verantwortungsverhltnis allein zu dem einen Anderen steht, sondern immer schon mit einem Dritten oder auch weiteren Anderen konfrontiert ist, verdeutlicht noch einmal, dass es gleichzeitig zur nicht-intentionalen ethischen Erfahrung immer schon ber intentionale Erfahrungen und damit bereits ber Bewusstsein verfgt, das ihm berhaupt erlaubt, Gerechtigkeitskalkle146 anzustellen. Die Fhigkeit zum intentionalen Weltbezug ist aber noch in anderen Hinsichten bedeutsam: Erstens ist sie es, die erlaubt, einen Menschen (und vielleicht auch Tiere und andere Lebewesen), sogar in physischer Abwesenheit, als Wesen zu erkennen, dem das Subjekt auch auf nichtintentionale Weise begegnen kann. Diese Erkenntnis ist in einer Welt, in der das Subjekt immer schon mit vielen Anderen lebt und viele Andere vom Handeln des Subjekts betroffen sind, insofern von fundamentaler Bedeutung, als nicht davon auszugehen ist, dass das Subjekt jedem anderen Menschen selbst konkret begegnet und so dessen fundamentale Alteritt erfahren kann, die es dem Anderen gegenber verpflichtet. 145 Lvinas, JS, 285 [165]; Hervorhebung E. B. 146 So lsst sich zwar der Vorwurf, Lvinas habe in seiner Philosophie die kognitive Dimension der ethischen Beziehung zu wenig bedacht, mit dem Verweis auf den Dritten und die von ihm eingestandene Notwendigkeit des Denkens abschwchen, gleichwohl bleibt bei Lvinas – und darauf macht besonderes Bedorf aufmerksam – viel zu unbestimmt, wie etwa eine politische Ordnung, die seiner Interpretation der ethischen Beziehung gerecht werden kçnnte, auszusehen htte. Siehe Bedorf, Dimensionen des Dritten, 89 ff.
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II.3. Emmanuel Lvinas’ ursprungslose Verantwortung
Hierfr ist es unumgnglich, dass das Subjekt – ber die konkrete ethische Erfahrung hinaus – Menschen generell als Wesen erkennen kann, fr die es verantwortlich ist. Dies gelingt ihm aber nur aufgrund seiner intentionalen und kognitiven Leistungen, die ihn als Menschen ebenso auszeichnen wie die nicht-intentionale Erfahrung seiner Verantwortung fr den Anderen. Sicherlich ist auch hier dann wieder zwischen verschiedenen Verpflichtungsgraden zu unterscheiden; grundstzlich besteht aber insofern eine Verantwortung gegenber jedem Menschen, als das Subjekt kognitiv jeden als Menschen zu begreifen in der Lage ist, dem es begegnen kann. Zweitens kann auf dieser intentionalen Ebene auch das Subjekt selbst Rechte geltend machen, denn um seiner Verantwortung fr die Anderen (am besten) nachkommen zu kçnnen, darf es nicht gnzlich von seinem eigenen Wohlergehen absehen: „Das Ich kann im Namen dieser grenzenlosen Verantwortung aufgerufen sein, sich auch um sich selbst zu sorgen.“147 Eindeutig bleibt diese Selbstsorge, genau wie die Frage der Gerechtigkeit gegenber dem Dritten, fr Lvinas jedoch immer an die Verantwortung gebunden, die das Subjekt fr den Anderen hat. Diese steht weiterhin an erster Stelle. Eine Sorge allein um das eigene Selbst scheint mit Lvinas also nicht denkbar. Und schließlich ist es auch die Einbeziehung des Dritten, die es erlaubt, die im letzten Abschnitt thematisierte Asymmetrie der Verantwortung aufzuheben in eine messbare, gerechte und in diesem Sinne auch symmetrische Beziehung zwischen mehreren Menschen: Die Beziehung mit dem Dritten ist eine unablssige Korrektur dieser Asymmetrie der Nhe, in der das Gesicht […] sein Gesicht verliert. Es entsteht Abwgen, Denken, Objektivieren und dadurch ein Stillstand, in dem meine an-archische Beziehung zur Illeitt verraten wird, in dem sie jedoch fr uns zum Ausdruck kommt.148
Denn auf der Ebene des Bewusstseins kann das Subjekt zumindest teilweise einen Perspektivenwechsel vornehmen und so darber nachdenken, inwiefern der ihm begegnende Andere selbst ein Subjekt ist, das sich seinerseits als dem Anderen verpflichtet erfhrt; ein jedes der beiden Subjekte wre dann auch fr Lvinas zugleich der Andere des Anderen. Zusammengefasst ist die Beziehung zum Dritten also fr Lvinas das Moment, durch das ein Vergleich und die Beschrnkung verschiedener, unter Umstnden miteinander konkurrierender unendlicher Verant147 Emmanuel Lvinas, Vier Talmud-Lesungen, 94 (Quatre lecture talmudiques, 108). 148 Lvinas, JS, 345 [201]; Hervorhebung E. B.
II.3.3. Verantwortung und Gerechtigkeit
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wortungen am Maßstab der Gerechtigkeit notwendig und mçglich wird. Indem wir den Dritten einbeziehen, tritt die kognitive Ebene der Beziehung zum Anderen in den Vordergrund. Das macht es mçglich, eigene Interessen zu bercksichtigen und die ursprnglich erfahrene Verantwortung gegenber einem konkreten Anderen zu universalisieren als Pflicht allen Menschen gegenber, weil sie Menschen sind. Darber hinaus ist das Subjekt auf der kognitiven Ebene auch in der Lage, ber die Verantwortung des Anderen fr es selbst nachzudenken, die die ursprnglich asymmetrische Erfahrung in ein reziprokes Verhltnis verwandeln kann. Und schließlich kann das verantwortliche Subjekt berhaupt nur auf der Ebene der Kognition, die immer schon und durchweg gleichzeitig zur nicht-intentionalen Beziehung zur Verfgung steht, intentional handeln und damit der wahrgenommenen Verantwortung entsprechen. Die Mçglichkeit, dass die ursprnglich nicht-intentionale Erfahrung der Verantwortung kognitiv eingeholt und relativiert werden kann, impliziert indes nicht, wie Lvinas immer wieder ausdrcklich betont, dass die Unendlichkeit der Verantwortung dadurch suspendiert wre: hnlich wie Kant zwischen intelligibler und empirischer Welt unterscheidet (worunter ja auch nicht zwei Welten, vielmehr zwei verschiedene Perspektiven auf ein und dieselbe Welt zu verstehen sind), unterstellt Lvinas, dass Menschen immer ber beide Weltbezge verfgen – den intentional-kognitiven und den ethischen: Eindeutig stellt bei Lvinas die moralische Verantwortung fr den Anderen eine Art Grundorientierung dar, die selbst dann weiter besteht, wenn das Subjekt neben dem Anderen noch einem Dritten zu antworten hat und sich dabei von der Begegnung mit dem Anderen distanziert, um im Vergleich zwischen den verschiedenen Anderen die Frage der Gerechtigkeit zu stellen. Denn dass berhaupt verglichen und die Frage nach der Gerechtigkeit gestellt wird, hat seinen Grund nur in dieser Begegnung mit dem Anderen, der das Subjekt aufruft, ihm zu antworten.149 Verantwortung und Gerechtigkeit kçnnen 149 So betont Lvinas: „Die Gerechtigkeit, die unumgnglich ist, bedarf einer anderen ,Autoritt‘ als derjenigen der Proportionen, die zwischen Willen entstehen, die von vornherein entgegengesetzt sind und einander entgegengehalten werden kçnnen. […] Sich, in der Gerechtigkeit, an der Norm des reinen Maßes – oder des Maßhaltens – zwischen Termini halten, die sich ausschließen, liefe noch darauf hinaus, die Verhltnisse zwischen den Mitgliedern der menschlichen Gattung mit dem Verhltnis zwischen Individuen einer logischen Ausdehnung gleichzusetzen, die, vom einen zum anderen, nur Negation, Addition oder Gleichgltigkeit bedeuten.“ (Emmanuel Lvinas, „Die Menschenrechte und die Rechte des jeweils
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II.3. Emmanuel Lvinas’ ursprungslose Verantwortung
also nicht unabhngig voneinander existieren: Einerseits ist „Gerechtigkeit […] unmçglich, ohne dass derjenige, der sie gewhrt, sich selbst in der Nhe [in der das Subjekt fr den anderen verantwortlich ist] befindet“150. Andererseits bietet nur die Gerechtigkeit ein Maß fr die ansonsten unendliche und damit nicht mehr tragbare Verantwortung. Doch auch mit dem Verweis auf die gegenseitige Abhngigkeit bleibt fraglich, wie sich die unermessliche Verantwortung fr den einen Anderen, die Gerechtigkeit fr die vielen Anderen und die notwendige Sorge des Subjekts fr sich selbst miteinander vermitteln lassen. Denn indem Gerechtigkeit vergleicht, schafft sie zunchst Distanz und stellt damit die Nhe, die in der Begegnung mit dem Anderen erfahren wird, in Frage. Diese ist dann nicht mehr ethische Welterfahrung, sondern wird zu einer kalkulierbaren Grçße. Lvinas selbst beschreibt eine hnliche Gefahr in seinem Aufsatz ber „Die Menschenrechte und die Rechte des jeweils Anderen“151: Zwar liege der Grund und Gehalt der Menschenrechte in der ethischen Erfahrung des Anderen, denn dabei handle „es sich […] um Rechte, die legitimer als alle Gesetzgebung, gerechter als alle Rechtfertigung sind“152, weil sie „die Einzigkeit oder das Absolute der Person, trotz ihrer Zugehçrigkeit zur menschlichen Gattung oder wegen dieser Zugehçrigkeit, manifestieren“153 ; gleichwohl kçnne es vorkommen, dass diese Menschenrechte (die nach Lvinas a priori und unbedingt bestehen) „durch die Rechte des anderen Menschen“ zu begrenzen sind, denn sie mssen einer „Pluralitt der freien Willen“154 gerecht werden, und das ist nur im Rckgriff auf den Maßstab der Gerechtigkeit mçglich.155 In dieser „Begrenzung des Rechts durch die Gerechtigkeit“ liegt nach Lvinas die bereits fr die ethische Erfahrung allgemein bestehende Gefahr, eine „Person wie ein Objekt zu behandeln, indem man sie – sie, die einzige und die unvergleichbare – dem Vergleich, dem Denken – dem Gang auf die berhmte Waage der Gerechtigkeit – und so dem Kalkl unterzieht“.156
150 151 152 153 154 155 156
anderen“, 106 [168].) Diese Autoritt, um derentwillen Menschen berhaupt so etwas wie Gerechtigkeit suchen sollten, ist nach Lvinas die Verantwortung fr den Anderen. Lvinas, JS, 347 [202]. Lvinas, „Menschenrechte und die Rechte des jeweils anderen“, 97 – 123 [157 – 181]. A. a. O., 97 [159]. A. a. O., 99 [160 f ]. A. a. O., 104 [166]. Vgl. ebd. Ebd.
II.3.3. Verantwortung und Gerechtigkeit
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Lvinas insistiert auf der Mçglichkeit, „daß die Universalitt der Handlungsmaxime, die der der praktischen Vernunft gleichgesetzte Wille wollen wrde, nicht dem ganzen guten Willen entspricht“157. Aus der hier beschriebenen Gefahr ergibt sich fr Lvinas die Frage, ob nicht „das derart durch die Gerechtigkeit begrenzte Menschenrecht ein verdrngtes Recht [bleibt], und […] der Friede, den es zwischen den Menschen errichtet, ein noch unsicherer und stets prekrer Frieden“ ist.158 Seine Antwort ist zunchst eindeutig: Es handle sich zwar um einen „schlechte[n] Frieden“, doch der sei „gewiß besser als ein guter Krieg!“159 Allerdings weist Lvinas sogleich auf die negative Tendenzen eines solchen Friedens hin; es handle sich nmlich um einen abstrakte[n] Frieden, der nach Bestndigkeit in den Gewalten des Staates sucht, in der Politik, die durch Gewalt den Gehorsam gegenber dem Gesetz sichert. Folglich ein Rckgriff der Gerechtigkeit auf die Politik, auf ihre Kunstgriffe und Listen: rationale Ordnung, die um den Preis der eigenen Notwendigkeiten des Staates erlangt wird, die in ihr impliziert sind. Diese bilden einen Determinismus, der so streng wie derjenige der gegen den Menschen gleichgltigen Natur ist, auch wenn anfnglich die Gerechtigkeit – das Recht des freien Willens des Menschen und seine bereinstimmung mit dem freien Willen des jeweils anderen – als Zweck oder als Vorwand fr die politischen Notwendigkeiten gedient hat.160
Lvinas gibt keine Antwort darauf, wie die hier am Beispiel der Menschenrechte beschriebene Spannung zwischen Politik und Moral (bzw. die ihr zugrunde liegende Spannung zwischen Gerechtigkeit und Verantwortung) aufzulçsen wre. Und es scheint auch hier, dass Lvinas gar keine Auflçsung dieser Spannung sucht, vielmehr zeigen mçchte, dass wir als Menschen immer schon dem Anderen wie auch dem Anderen des Anderen verpflichtet sind, ohne dass damit bereits gesagt werden kçnnte, in welcher Weise wir dieser unendlichen Verpflichtung auf gerechte Weise nachkommen kçnnen. Eine solche Antwort mag enttuschen, gerade weil sich die beschriebene Grundspannung mit alltglichen Erfahrungen zu decken scheint, wenn wir uns, konfrontiert mit den Ansprchen Anderer, fragen, wie wir ihnen – auch dann, wenn sie miteinander oder mit den eigenen Interessen und Bedrfnissen konkurrieren – gerecht werden kçnnen. Daher bleibt weiter zu berlegen, welche bereits bestehenden oder noch zu entwickelnden Anstze dazu beitragen kçnnten, dass 157 158 159 160
Vgl. a. a. O., 105 [166]. Ebd. Ebd. Ebd.
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II.3. Emmanuel Lvinas’ ursprungslose Verantwortung
Menschen sich innerhalb dieser wohl nie aufzulçsenden Spannung so verantwortlich und gerecht wie mçglich verhalten kçnnen.161
II.3.4. Zwischenfazit Verantwortung beschreibt fr Lvinas die ethische Beziehung, in der das Subjekt immer schon steht, wenn es sich in der Begegnung mit dem Gesicht des anderen Menschen als von diesem aufgerufen erfhrt zu antworten. Auch wenn Lvinas die traditionelle Terminologie nicht verwendet, begreift er Verantwortung als dreistellige Beziehung: Der Mensch (traditionell: Subjekt der Verantwortung) ist fr den Anderen und abgeleitet auch fr sich selbst (traditionell: Objekte der Verantwortung) vor dem Anderen (Instanz der Verantwortung) verantwortlich. Dabei sind jedoch die Grenzen zwischen Subjekt, Objekt und Instanz hufig kaum klar zu bestimmen, so dass folglich die Explikation der drei Relata sich immer wieder diesem begrifflichen Rahmen entzieht. Gleichwohl bleibt zu betonen, dass sich auch fr Lvinas Verantwortung durch eine relationale Struktur auszeichnet, ja, dass es diese Relationalitt ist, die Verantwortung wesentlich charakterisiert. Deutlich wurde in der Analyse der Relata des Lvinas’schen Verantwortungsbegriffes, worin sich diese Relationalitt der Verantwortung von den anderen Anstzen unterscheidet: Fr Lvinas ist die Relationalitt der Verantwortung keine, in die das Subjekt erst aufgrund einer eigenen, freiwillig getroffenen Entscheidung eintritt, vielmehr geht die Verantwortungsrelation der Konstitution des Subjektes voraus und bestimmt es so erst eigentlich in seiner Subjektivitt. Denn fr Lvinas bedeutet Verantwortung zunchst nicht ein Rechenschaft-Ablegen fr Handlungen oder Unterlassungen; Verantwortung beinhaltet vielmehr, dass Menschen immer schon durch und fr andere sowie mit und vor anderen Menschen leben, vor denen sie ihre Existenz als berechtigt ausweisen mssen – durch die sie aber auch einen Sinn erfahren, der nicht durch die eigene Subjektivitt gestiftet wird und durch den sie berhaupt zu (moralischen) Subjekten werden. 161 Auch Bedorf fragt und kommentiert kritisch: „Welche Art von Gemeinschaft kann Levinas vor Augen haben, die bei aller Identifizierung der Bedeutungen Differenzen im Blick behalten soll? Eine Erluterung dessen wrde eine entwickelte Theorie der Institutionen und der Macht erfordern, von der bei Levinas nirgendwo die Rede ist.“ (Bedorf, Dimensionen des Dritten, 94.)
II.3.4. Zwischenfazit
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Damit lsst sich der Lvinas’sche Verantwortungsbegriff als eine Art Existenzial, als eine Grundstruktur des menschlichen Daseins bezeichnen, die Menschen nicht frei whlen, sondern in der sie immer schon leben. Dennoch bleiben Menschen Lvinas zufolge frei darin, wie sie dieser Verantwortung nachkommen: Das Subjekt muss zwar dem Anderen antworten, da auch noch jede Nicht-Antwort als Antwort aufgefasst werden kann, doch wie es dem Anderen auf seinen Ruf antwortet, ist damit nicht eindeutig festgelegt. Da Lvinas Verantwortung als die ethische Grundstruktur unserer Beziehung zu anderen Menschen deutet, ist sie fr ihn auch nicht weiter zu begrnden: Alternativ und vorgngig zum intentionalen Weltbezug stellt sie selbst vielmehr den Grund dar, dass Menschen berhaupt nach Grnden fragen. Verantwortung beschreibt also bei Lvinas die soziale Struktur, durch die Menschen – voneinander getrennt und gleichzeitig miteinander in Verbindung – Sprache haben und die damit die Voraussetzung fr begrndendes Sprechen ist. Als schwierig an dieser Konzeption einer aller Sprache vorgngigen Struktur der Verantwortung erweist sich allerdings, dass sie sich (als auch die Sprache transzendierend gedachte) nicht mehr sprachlich fassen lassen wrde: Lvinas muss, wenn er in Jenseits des Seins versucht, die Sprache als Gesagtes auf ein Sagen zu reduzieren, notwendig scheitern, denn jedes reduzierte Gesagte bleibt weiter ein Gesagtes und kann nie ein diesem vorgngiges Sagen ausdrcken. Da es Lvinas in seinen Schriften wesentlich darum geht, die Begegnung mit dem anderen Menschen als ethische Beziehung zu beschreiben, in der Menschen immer schon leben, scheint es vergeblich, bei ihm nach einer Antwort auf die dritte Frage – Wie lsst sich verantwortungsbewusst handeln? – zu suchen: Da jeder Mensch durch den Anruf des Anderen immer schon verantwortlich ist, kann er mit keiner von ihm gegebenen Antwort diesem Anspruch jemals gengen. Denn dieser Anspruch des Anderen stellt sich immerfort neu, und jede vom Subjekt gegebene Antwort wird erneut durch den anderen Menschen in Frage gestellt. Doch rumt Lvinas, wenn er auf die Beziehung zum Dritten – dem Anderen des Anderen – zu sprechen kommt, zumindest die Notwendigkeit ein, die Frage nach der verantwortlichen Praxis zu stellen und eine Antwort zu suchen: In einer Welt, in der das Subjekt nicht allein einem Anderen begegnet, sondern immer zugleich dem Anderen des Anderen, sieht auch Lvinas das Subjekt vor die Frage gestellt, wer mehr oder vorrangig Recht auf eine Antwort hat. Als ethische Subjekte sind wir zwar nach Lvinas immer schon unendlich und unermesslich fr den
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II.3. Emmanuel Lvinas’ ursprungslose Verantwortung
Anderen verantwortlich; so, wie wir uns real erleben, sind wir jedoch aufgerufen, zwischen verschiedenen Ansprchen zu vergleichen und abzuwgen – ein Vergleich, der auch dem Subjekt ein Recht einrumt. In diesem Spannungsverhltnis zwischen der unendlichen Verantwortung fr den Anderen und der Notwendigkeit, sowohl dem Anspruch des einen Anderen als auch denen der anderen Anderen gerecht zu werden, mssen Menschen ihr Handeln abwgen. Mag Lvinas dieses Verhltnis von Verantwortung und Gerechtigkeit auch zu Recht als eine nicht aufzulçsende Spannung beschreiben, bleibt doch die Frage, ob eine Ethik nicht mehr sagen kann, als dass Menschen unendlich verantwortlich sind und zwischen den verschiedenen an sie gestellten Ansprchen vermitteln mssen.
Teil III Grundlinien einer rekonstruktiv-hermeneutischen Konzeption moralischer Verantwortung
III. Grundlinien einer rekonstruktiv-hermeneutischen Konzeption
201
Im ersten Teil dieser Arbeit wurde dargestellt, wie wir allgemein den Begriff „Verantwortung“ in alltagssprachlichen Kontexten voraussetzen und verwenden. Sichtbar wurde dabei, dass Verantwortung eine Zurechnungsrelation beschreibt, die durch ein Subjekt, ein Objekt, eine Instanz sowie durch einen normativen Rahmen konstituiert ist. Als subjektive Bedingungen fr die Zuschreibung von Verantwortung wurden die Handlungsund die Sprachfhigkeit des Subjekts identifiziert. Im Hinblick auf das Objekt von Verantwortung sind entlang der Unterscheidung zwischen Aufgaben- und Rechenschaftsverantwortung zwei Objektfelder zu unterscheiden: zum einen die Verantwortung fr zuknftige Handlungen und Aufgaben, beispielsweise im Zusammenhang mit bestimmten Rollen, Funktionen und mtern; zum anderen fr bereits vollzogene Handlungen, fr die das Subjekt sich vor einer Instanz zu rechtfertigen hat. Beide Objektbereiche, so wurde festgehalten, korrelieren dabei eng miteinander – potentiell muss man sich dafr verantworten, ob oder inwiefern man die von einem erwarteten Handlungen vollzogen bzw. die einem bertragenen Aufgaben erfllt hat,1 indem man auf die diesbezglichen Fragen der Instanz begrndete Antworten gibt. Den Fragen und den Rechtfertigungsansprchen der Instanz, auf die das Subjekt zu antworten hat, liegt eine Verpflichtung des Subjekts zugrunde, bestimmte Aufgaben, Rollen oder Erwartungen durch Handlungen zu erfllen. In Bezug auf die Instanz blieb schließlich festzuhalten, dass diese in direktem oder indirektem Bezug zum Verantwortungsobjekt steht und daher vom Subjekt Grnde fordern, diese prfen und beurteilen kann. Fr die erste der drei diese Arbeit leitenden Fragen, was Verantwortung ist, konnten somit wichtige Anhaltspunkte bereits durch die Analyse der alltagssprachlichen Verwendungsweise gefunden werden. Dagegen blieben die zweite und dritte Leitfrage noch weitgehend unbeantwortet, nmlich ob und gegebenenfalls wie Verantwortung als moralische Pflicht zu begrnden ist und welche Kriterien Handeln erfllen sollte, damit es als moralisch verantwortlich gelten kann. Um auch diese Fragen weiter zu klren, war der zweite Teil dieser Arbeit der Rekonstruktion von und der kritischen Auseinandersetzung mit den philosophischen Verantwortungskonzeptionen von Hans Jonas, Karl-Otto Apel und Emmanuel Lvinas gewidmet. Die fr die vorliegende Untersuchung wichtigste Verbindung zwischen deren Theorien besteht darin, dass sie Verantwortung als Schlsselbegriff der Moralphilosophie verstehen. Anders als die meisten der 1
Siehe hierzu vor allem oben, Abschnitt I.1.2.
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III. Grundlinien einer rekonstruktiv-hermeneutischen Konzeption
zeitgençssischen Arbeiten zur moralischen Verantwortung betrachten sie diese unabhngig von dem Problem, wie menschliche Freiheit in einer determinierten Welt mçglich ist bzw. ob Freiheit etwa gerade eine solche determinierte Welt voraussetzt. Fr sie ist Verantwortung der Begriff, der zwischenmenschliche Beziehungen – „das Dasein als Mitsein“, wenn man hier einen Terminus Heideggers verwenden mag – und damit jede Moralphilosophie fundamental bestimmt: als Prinzip bei Jonas, als Grundnorm bei Apel und als vor-ursprngliche Beziehung bei Lvinas. Alle drei Autoren verbindet ferner die Frage nach dem Grund von Moral. Diese beschftigt die Philosophie sptestens seit Platons Politeia und stellte sich im 20. Jahrhundert mit besonderer Dringlichkeit: Die Erfahrungen des im Dritten Reichs begangenen Genozids2, der totalitren, Menschenrechte verachtenden und Menschen vernichtenden Diktaturen3 sowie der Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen und durch die daraus abgeleiteten Technologien haben der nie abgeschlossenen Kontroverse um den Grund der Moral4 einen zustzlichen, dramatischen Akzent gegeben. Vor
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Zwar unterlsst es Lvinas in seinem philosophischen Werk fast gnzlich, die historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zu thematisieren, aber es ist doch maßgeblich von den Erfahrungen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und des Holocausts bestimmt. Zum Ausdruck kommt dies nur an wenigen Stellen seiner explizit philosophischen Schriften, etwa in der Widmung seines zweiten Hauptwerks: „Dem Gedenken der nchsten Angehçrigen unter den sechs Millionen der von den Nationalsozialisten Ermordeten, neben den Millionen und Abermillionen von Menschen aller Konfessionen und aller Nationen, Opfer desselben Hasses auf den anderen Menschen, desselben Antisemitismus.“ (Lvinas, JS, 7 [V].) Auch Apel verweist nur selten auf eigene Erfahrungen, dennoch ist sein Denken ebenfalls maßgeblich durch diese bestimmt. Siehe etwa seinen Aufsatz: „Zurck zur Normalitt? – Oder kçnnten wir aus der nationalen Katastrophe etwas Besonderes gelernt haben? Das Problem des (welt-)geschichtlichen bergangs zur post-konventionellen Moral in spezifisch deutscher Sicht“ in: Apel, DuV, sowie auch Habermas’ 1990 gehaltene Rede anlsslich Apels Emeritierung, in: Walter Reese-Schfer, Karl-Otto Apel zur Einfhrung, 137 – 149. Denn auch wenn von ihrer Beantwortung sicher keine Bekehrung des amoralischen Menschen zur Moral erhofft werden kann, stellt sich diese Frage, um den unbedingten Geltungsanspruch der Moral begrnden zu kçnnen. Eine der Schwierigkeiten liegt dann darin, dass Moral – soll sie gerade nicht dem Eigennutz dienen, sondern wesentlich die Interessen und Bedrfnisse Anderer in unserem Handeln mit bercksichtigen – sich nicht einfach durch ein zweckrationales Argument begrnden lsst, sondern einer besonderen Begrndung bedarf. Siehe etwa die Beitrge im von Kurt Bayertz herausgegebenen Sammelband Warum moralisch sein?; Bayertz’ fast gleichnamiges Buch Warum berhaupt moralisch sein?; aber auch
III. Grundlinien einer rekonstruktiv-hermeneutischen Konzeption
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diesem historischen Hintergrund entwickeln die drei Autoren nicht nur jeweils eine Theorie der Verantwortung, vielmehr versuchen sie, in ihren Texten auch eine Begrndung fr ihre Vorstellung von Verantwortung als fundamentaler moralischer Pflicht zu formulieren. Verantwortung steht fr sie im Zentrum der Moral, ja, bildet deren Ausgangspunkt. Dessen ungeachtet divergieren die Theorien der drei Autoren sowohl methodisch als auch inhaltlich betrchtlich und scheinen in wesentlichen Punkten geradezu inkompatibel: Weder lsst sich etwa Jonas’ verantwortlicher Staatsmann ohne weiteres als Praktiker der Diskursethik interpretieren, noch ist Apels Grundnorm der primordialen Mitverantwortung einfach in Lvinas’ Begriff einer unendlichen Verantwortung fr den anderen Menschen bersetzbar; und erst recht nicht ist Lvinas’ Suche nach einem Jenseits des Seins in Einklang zu bringen mit Apels Beharren auf der Nichthintergehbarkeit des Logos. Gewiss verbinden vor allem Lvinas und Apel Verantwortung eng mit einer wesentlich sprachlich verfassten Intersubjektivitt, doch ist das jeweilige Verstndnis von Sprache wiederum so different, dass auch hier der Versuch, die Gedankengnge der Autoren einander anzunhern, Gefahr laufen kçnnte, dass ihre spezifischen Leistungen zu wenig zu Geltung kommen. Daher werde ich nun im abschließenden Teil meiner Untersuchung keine Synthese von Jonas, Apel und Lvinas als Antwort auf die drei gestellten Fragen vorschlagen. Zwar sollen die Grundlinien einer Theorie moralischer Verantwortung, die es nun zu zeichnen gilt, innerhalb des durch die im zweiten Teil diskutierten Verantwortungstheorien vorgegebenen Koordinatensystems entwickelt werden, doch kçnnen dabei keineswegs alle Elemente dieser Theorien aufgenommen werden. Es sind vor allem die Grundgedanken von Emmanuel Lvinas und Karl-Otto Apel, deren Theorien durch die Gegenberstellung eine Art Gegengewicht oder Korrektur erfahren sollen: Wie Apel sehe ich Verantwortung eng mit der Idee einer argumentativen Praxis verbunden, als deren Grundlage ich jedoch die Beziehung zum anderen Menschen erachte, die – wie Lvinas betont – nicht in argumentativer Rede aufgeht, sondern die ber eine solche Praxis hinaus eine nicht-intentionale Offenheit dem Anderen gegenber impliziert, die Menschen als Menschen konstituiert. Doch pldiert Lvinas dabei keineswegs dafr, auf den Logos gnzlich zu verzichten. So betont er in seinen Schriften immer wieder die Notwendigkeit rationalen Denkens, das, wenn erforderlich, çkonomisches Kalkl einschließt, damit Verantwortung auch einem Dritten und einen der hier diskutierten Philosophen: Apel, „Primordiale Mitverantwortung“, 110; und die Kritik von Habermas, „EzD“, 184 ff.
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III. Grundlinien einer rekonstruktiv-hermeneutischen Konzeption
schließlich auch der eigenen Person gegenber wahrgenommen werden kann. Da Lvinas diesen auf die alltgliche Lebenspraxis bezogenen Gedanken in seinen Schriften jedoch kaum entwickelt, werde ich – hier der Diskursethik folgend – in Kapitel III.3. argumentieren, dass diskursive Verstndigung zumindest dort unerlsslich ist, wo es darum geht, zwischen verschiedenen, zum Teil auch gegenstzlichen und miteinander konkurrierenden Interessen zu vermitteln und den Ansprchen mçglichst vieler gerecht zu werden. Im Folgenden werde ich nher auf das Verhltnis von Verantwortung und Handeln eingehen. Dabei werde ich in einem ersten Schritt die allgemeine These erçrtern, nach der „Verantwortung haben“ bedeutet, dass Andere von uns als Handelnden generell eine Rechtfertigung unseres Handelns verlangen kçnnen, weil wir mit jedem Handeln immer schon den Anspruch verbinden, dass es sich rechtfertigen lsst. Menschen verhalten sich nach dieser These also dann verantwortlich, wenn sie so handeln, dass sie sich vor Anderen dafr rechtfertigen kçnnen, und dies immer da tun, wo es Andere von ihnen berechtigterweise verlangen, oder aber, wenn sie den an sie gestellten Anspruch, sich zu rechtfertigen, mit guten Grnden zurckweisen (III.1.). Dass Verantwortung ein unabdingbarer Aspekt des menschlichen Inder-Welt-Seins ist, soll im Kapitel III.2. weiter erlutert werden: Menschen sind nicht allein auf der Welt, sondern immer mit anderen Menschen in sprachlich vermittelter Interaktion. Und zu dieser gehçrt es, dass sich Menschen fr etwas vor Anderen verantworten (III.2.1.). Anschließend soll die fr diese Arbeit zentrale These ausgefhrt werden, dass es sich bei der die menschliche Seinsweise wesentlich mitkonstituierenden Antwort- und Rechenschaftspflicht um eine generelle Pflicht gegenber allen Menschen handelt, eine Pflicht, die Menschen in der Begegnung mit anderen Menschen einsehen. Demzufolge ist sie nicht nur als wesentlich fr die Weise zu beschreiben, wie Menschen gemeinsam in der Welt sind, sondern auch als moralische Pflicht (III.2.2.). In einem dritten Schritt wird es schließlich darum gehen darzulegen, inwiefern eine an der Idee der Gerechtigkeit sich orientierende diskursive Verstndigung auch dazu beitragen kann, im Sinne dieser moralischen Verantwortung zu handeln (III.3.).
III.1. Verantwortlich sein und Verantwortung haben Die im Teil I dieser Arbeit referierten theoretischen Beitrge zum Begriff der Verantwortung betonten durchweg dessen relationale Struktur: Ein sprach- und handlungsfhiges Subjekt hat sich fr bereits vollzogene Handlungen bzw. ganze Handlungskontexte und Aufgabenbereiche vor einer Instanz mit Grnden zu rechtfertigen. Doch in welchem Verhltnis steht diese bisher als allgemeingltig angenommene Pflicht, Handlungen durch Grnde zu rechtfertigen, zum Handeln selbst? Oder anders gefragt: Kçnnte es nicht auch Handlungen geben, die grundstzlich keiner Rechtfertigungen bedrfen? Diese Fragen stellten sich bereits im ersten Teil dieser Arbeit, konnten aber dort noch nicht ausfhrlich beantwortet werden. Ihnen soll nun weiter nachgegangen werden, um damit das mit „Verantwortung“ beschriebene Phnomen noch klarer zu fassen.1 Meine Ausgangsthese besagt: Verantwortung ist als Antwort- und Rechtfertigungspflicht zu verstehen. Sofern Subjekte mit ihren Handlungen grundstzlich den Anspruch erheben, dass diese gerechtfertigt werden kçnnen, haben sie einen solchen Anspruch diskursiv einzulçsen. Speziellere Formen von Verantwortung lassen sich aus dieser Grundverpflichtung ableiten und basieren auf ihr. Diese Gedanken zur Klrung des begrifflichen Umfelds von Verantwortung werde ich im Folgenden in fnf Schritten, die nicht deduktiv aufeinander aufbauen, sondern aufeinander verweisen, weiter explizieren: Handeln zeichnet sich wesentlich durch Intentionalitt aus (III.1.1.). Die im intentionalen Handeln angenommene Kausalitt ist nicht in gleicher Weise notwendig wie die, die wir Naturereignissen unterstellen; dennoch sind Handlungen nicht kontingent, sondern basieren auf Grnden (III.1.2.). Die Welt, in der Subjekte handeln, ist intersubjektiv geteilt: Handlungen bedrfen der sprachlichen Explikation und erhalten ihre Bedeutung in der Bezogenheit auf andere Subjekte – ob diese Explikationen den Sachverhalt treffen bzw. ob sie als zutreffend und ausreichend gelten 1
Darber hinaus dienen diese Erçrterungen als Ausgangspunkt fr die am Anfang des nchsten Kapitels vorgeschlagene Explikation der anthropologischen Prmissen von Verantwortung. Meine Antwort auf die Frage nach einer Begrndung von Verantwortung als moralischer Pflicht baut darauf auf.
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III.1. Verantwortlich sein und Verantwortung haben
oder akzeptiert werden, ist in bedeutendem Umfang abhngig von ihrem Kontext (III.1.3.). Mit Handlungen verbindet das Subjekt den Anspruch, dass sie sich rechtfertigen lassen; diesen Anspruch hat es gegebenenfalls diskursiv einzulçsen (III.1.4.). Hierin sehe ich die Bedeutung von Verantwortung: Handeln in einer intersubjektiv geteilten Welt ist dann gerechtfertigt und damit verantwortbar, wenn die von einer Handlung potentiell Betroffenen dieses Handeln als hinreichend begrndet anerkennen kçnnen. Voraussetzung dafr ist die Fhigkeit zu handeln und dass die Beteiligten sich ber Handlungsabsichten und -grnde verstndigen kçnnen. (III.1.5.) Verantwortung ist demnach handelnden Menschen nicht erst nachtrglich von außen auferlegt, sondern konstituiert das Handeln und das soziale Leben von Subjekten. Verantwortung in Frage zu stellen wrde implizieren, konstitutive Aspekte einer sozialen Wirklichkeit zu bestreiten.
III.1.1. Handeln und Intentionalitt In einem ersten Schritt soll der in dieser Arbeit bisher nur vage bestimmte Begriff des Handelns nher erlutert werden.2 Sehr allgemein werden in Handlungstheorien drei Charakteristika angenommen: Handeln ist a) ein subjektives3 Verhalten, dem b) eine Handlungsabsicht zugrunde liegt, die c) dem Handelnden bei der Durchfhrung der Handlung als Orientierung dient.4 Das nach dieser Definition entscheidende Merkmal einer Handlung ist die Absicht 5 (In2
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5
Keineswegs wird damit der Anspruch erhoben, eine eigene Handlungstheorie zu begrnden oder auch nur eine umfassende Wrdigung bestehender Anstze und der damit verbundenen Diskurse und Kontroversen zu leisten. Es soll nur deutlich gemacht werden, in welchem Verhltnis die Begriffe Handeln, Sprechen, Intentionalitt und Verantwortung von mir gesehen werden. Es kçnnen damit auch mehrere gemeinsam handelnde Subjekte gemeint sein. Dennoch bleibt die Frage, wie Handlungen genau zu beschreiben sind, mindestens seit Aristoteles umstritten. So herrscht in der philosophischen Fachdiskussion Uneinigkeit beispielsweise darber, wie Absichten kausal wirken kçnnen. In der vorliegenden Untersuchung werde ich nur am Rande auf dieses Problem eingehen. Siehe hierzu unten, Abschnitt III.1.2. – Zur Kritik an einem intentionalistischen Handlungsbegriff siehe z. B. Rdiger Bubner, Handlung, Sprache und Vernunft. Grundbegriffe praktischer Philosophie. Dessen Position wird diskutiert und kritisiert von Georg Kohler, Handeln und Rechtfertigen, 193 ff. Im Interesse einer sprachlichen und gedanklichen Vereinfachung gehe ich hier von der Absicht im Singular aus. In der Realitt wird es sich dabei zumeist um ein
III.1.1. Handeln und Intentionalitt
207
tention), die das Subjekt handeln lsst: Ich habe die Absicht, Tee einzuschenken, und handle dementsprechend. Wie ausschlaggebend die Unterstellung einer Absicht fr den Handlungsbegriff ist, lsst sich daran erkennen, dass wir eine solche auch dann voraussetzen und von einer Handlung sprechen, wenn das agierende Subjekt selbst sich keiner Absicht bewusst ist.6 So kçnnte ich mehr oder weniger gedankenlos und gewohnheitsmßig nach der Kanne greifen und einem Freund und mir einschenken und erst beim ersten Schluck aus meiner Tasse erkennen, dass ich Tee trinke, den ich, ohne es berhaupt zu bemerken, eingeschenkt habe. Htte ich nicht – auch wenn es mir zum betreffenden Zeitpunkt nicht bewusst war – die Absicht gehabt, etwas oder sogar Tee einzuschenken, htte ich Arm und Hand gar nicht in Bewegung gesetzt. Nur weil ich (retrospektiv) mit den Bewegungen eine Absicht verbinden kann, lsst sich hier von einer, zum Zeitpunkt des Vollzugs zwar unbewussten, dennoch nicht unbeabsichtigten Handlung sprechen. Dies gilt sogar noch fr die Flle, bei denen die Absicht, die zu einer Handlung fhrt, nicht deckungsgleich ist mit dem, was dann tatschlich passiert. Auch dort liegt eine Handlung nur vor, weil irgendeine Absicht das Verhalten gesteuert hat: Wenn ich beabsichtige, meinem Freund Tee einzuschenken (Absicht „TeeEinschenken“) und tatschlich Kaffee einschenke (Handlung „KaffeeEinschenken“), habe ich gleichwohl gehandelt, weil mein Verhalten auch hier von einer Absicht gesteuert war, selbst wenn das Ergebnis meiner Handlung nicht das beabsichtigte ist.7
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Bndel oder Geflecht von Absichten handeln. (Siehe auch hierzu unten, Abschnitt III.1.2.) Eine solche Absicht muss nicht immer vor Beginn der Handlung geußert werden. Es reicht, dass sie implizit angenommen und mindestens retrospektiv expliziert werden kann: Selbstverstndlich kann ich Tee einschenken, ohne Anderen oder mir selbst gegenber eine solche Absicht zu ußern. – Ich gehe davon aus, dass wir Absichten prospektiv, gegenwartsbezogen und retrospektiv haben kçnnen. Wir kçnnen etwa die Absicht haben, Tee einzuschenken, whrend wir darauf warten, dass unser Gast sich an den Tisch setzt; dieselbe Absicht begleitet auch unsere Handlung des Teeeinschenkens selbst; und auch retrospektiv lsst sich zumindest von einer erfllten (oder auch abschließend unerfllten) Absicht sprechen, etwa wenn wir die letzte gefllte Tasse wieder auf dem Tisch abgestellt haben. Siehe hierzu Donald Davidson, Handlung und Ereignis, 75 f. – Davidson betont, „einen Fehler zu machen“ msse immer heißen, „etwas anderes absichtlich zu tun“. Eine Handlung zeichnet sich fr ihn dadurch aus, dass „jemand […] der Urheber einer Handlung [ist], sofern sich, was er tut, unter einem Aspekt beschreiben lßt, durch den sein Tun zu einem absichtlichen wird“. (77) Wichtig ist auch hier, dass die Absichtlichkeit einer Handlung nicht immer explizit sein muss, dass sich das Verhalten einer Person aber als absichtliches beschreiben lsst. Ein im Hinblick auf
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III.1. Verantwortlich sein und Verantwortung haben
Wie wesentlich Absichten fr Handlungen sind, zeigt sich umgekehrt auch darin, dass oft erst die Kenntnis der Absicht erlaubt, eine Handlung als Handlung zu beschreiben: Die Bewegung eines Armes etwa kann, so lange mit ihr keine Absicht verbunden wird, als kçrperlicher Reflex auf einen Reiz interpretiert werden, eine hnliche Bewegung aber auch als „Sich-zu-Wort-Melden“, „Eine-Stimme-Abgeben“ etc. – je nachdem, welche Absicht der Handlung zugrunde gelegt wird und in welchem Kontext sie steht. Denn dieser erlaubt es, Handlungsabsichten und damit auch Handlungen zu deuten, selbst wenn das Handlungssubjekt selbst sie nicht ußert. In diesem Zusammenhang wird immer wieder erçrtert, ob Menschen frei sein mssen, um berhaupt Absichten haben und handeln zu kçnnen. Meines Erachtens kann diese Frage hier offen gelassen werden. Denn die im Verantwortungsbegriff enthaltene Prmisse, dass Menschen aus Absichten handeln, lsst sich grundstzlich mit unterschiedlichen Vorstellungen vom Verhltnis zwischen Freiheit und Determinismus vereinbaren: Vertreter des Kompatibilismus 8 etwa, die davon ausgehen, dass Determinismus mit
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das zu erwartende Resultat irrtmliches oder fehlerhaftes Tun ist demnach Handeln, auch dann, wenn das eintritt, was man hufig als nicht-intendierte Nebenfolge einer Handlung bezeichnet. Offen ist dabei weniger, inwiefern diese unintendierten Nebenfolgen (sobald sie als solche bezeichnet werden) noch als Resultat einer immer mit einer Absicht verbundenen Handlung zu beschreiben sind, als vielmehr, in welchem Maße die handelnde Person auch fr die nicht mit der Handlung intendierten Folgen zu haften hat. (Siehe hierzu oben, Abschnitt I.1.2.) – John McDowell unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen Tun und absichtsvollen Tun. Was jemand berhaupt getan hat, entscheidet sich danach, welche Vernderungen in der objektiven Welt auf intentionale Interventionen in ihr zurckgefhrt werden kçnnen, wobei sich dies (partiell oder insgesamt) der Kontrolle des Handelnden entziehen kann. Dennoch schreibt McDowell der handelnden Person eine besondere Autoritt zu, zwischen ihrem absichtsvollen Tun und dem nicht beabsichtigten zu unterscheiden. Diesen Gedanken hat McDowell in einer bisher unverçffentlichten Vorlesung ber „Agency“ entwickelt. Der Kompatibilismus ist wohl die zur Zeit verbreitetste Position, die u. a. von Philosophen wie Strawson, „Freedom and Resentment“, 45 – 66; Davidson, Handlung und Ereignis; Harry Frankfurt, Freiheit und Selbstbestimmung und Bieri, Handwerk der Freiheit, vertreten wird. Siehe zum Kompatibilismus etwa auch Marcus Willaschek, „Verantwortung und Freiheit. Ein Argument fr den Kompatibilismus und eine kompatibilistische Analyse des Freiheitsbegriffs“ und Habermas, „Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft“, hier besonders den Punkt IV: „Drei kompatibilistische Argumente“ (684 – 688). – Die Frage, inwieweit die Idee relativer Freiheit wirklich ausreicht, um das handelnde Subjekt fr sein Handeln verantwortlich zu machen, diskutiert etwa Peter Bieri am literarischen Beispiel des Raskolnikov. Dabei weist er auch die Gegenthese als nicht plausibel
III.1.1. Handeln und Intentionalitt
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relativer Freiheit des Menschen vereinbar ist, beschreiben handlungsleitende Absichten dann im Sinne einer solchen relativen Freiheit.9 Dagegen sind unter den Inkompatibilisten die so genannten Libertarier10 der Auffassung, dass Determinismus und Freiheit sich nicht vereinbaren lassen, Menschen aber ber absolute Freiheit verfgen und ihre Absichten entsprechend auf absoluter Freiheit basieren: In ihren Augen kann die handelnde Person ihren eine Handlung verursachenden Willen frei – und d. h. allein aus sich selbst und unbeeinflusst durch etwaige andere Faktoren – bestimmen und setzt insofern den Determinismus außer Kraft. Jemand, der handelnd seinen Arm ber seinen Kopf streckt, hat also nach berzeugung der Kompatibilisten wie der Libertarier als freier Urheber eben dieser Handlung zu gelten, die sich zunchst durch seine Absicht, den Arm so zu strecken, erklren lsst. Doch auch die andere Teilgruppe der Inkompatibilisten, die im Gegensatz zu den Libertariern eben nicht den Determinismus, sondern jede Idee von Freiheit negieren – die sogenannten „harten Deterministen“11 –, kçnnen noch so etwas wie Absichten unterstellen, allerdings erachten sie diese dann sowohl in ihrer Verursachung als auch in ihrer Wirkung fr
zurck, dass wir nur unter der Annahme eines absolut freien Willens berhaupt so etwas wie Verantwortung denken kçnnen. Denn wenn der Wille des Handelnden wirklich frei, d. h. unverursacht wre, trge der Handelnde – so die These – gerade keine Verantwortung. Vgl. Bieri, Handwerk der Freiheit, besonders das Kapitel 9: „Lebensgeschichte und Verantwortung: Raskolnikov vor dem Richter“. 9 Hufig wird statt zwischen „relativer“ und „absoluter“ Freiheit zwischen „Handlungs-“ und „Willensfreiheit“ unterschieden. Da aber Kompatibilisten und Imkompatibilisten nicht immer dasselbe unter Willens- und Handlungsfreiheit verstehen, halte ich die Begriffe „relative“ und „absolute“ Freiheit fr besser geeignet, um zwischen dem Begriff einer „Kausalitt aus Freiheit“ (absolute Freiheit) und der weniger anspruchsvollen Idee, dass „wir uns zu unseren Bedrfnissen immer noch whlend verhalten kçnnen“ (relative Freiheit), zu unterscheiden. Siehe zu dieser Begriffsunterscheidung Jochen Bojanowski, Kants Theorie der Freiheit, 29 ff. 10 Als Libertarier gelten in der Tradition neben Platon (Politeia) und Ren Descartes (Meditationes. De prima philosophia, 4. Meditation) auch Jean-Paul Sartre (Das Sein und das Nichts) und Roderick Chisholm („Die menschliche Freiheit und das Selbst“); aktuell vertritt etwa R. Kane eine solche Position: Robert Kane, „Some Neglected Pathways in the Free Will Labyrinth“, 406 – 435. 11 Siehe zu dieser Position in der aktuellen Debatte etwa die Aufstze von Galen Strawson, Ted Honderich, Derk Pereboom, Saul Smilansky, Richard Double und Alfred R. Mele, im Teil VII „Nonstandard Views: Successor Views to Hard Determinism and Others“ von Kanes Handbuch.
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III.1. Verantwortlich sein und Verantwortung haben
vollkommen determiniert.12 Fr den hier verwendeten Begriff des absichtsvollen Handelns ist demnach allein entscheidend, dass wir dem handelnden Subjekt eine Absicht – in Form eines Willens – unterstellen und annehmen, dass diese Absicht bzw. der durch sie gelenkte Wille (entweder frei oder im Rahmen der Naturkausalitt) die Handlung bewirkt.13 Handeln ist also absichtsvoll bzw. intentional. Mit Intentionalitt wird seit Franz Brentano14 und vor allem seit Husserl zunchst die Weise bezeichnet, mit der das Bewusstsein bei jeder Form von Wahrnehmung auf seine Gegenstnde gerichtet ist. So definiert Husserl in den Cartesianischen Meditationen Intentionalitt auch als „allgemeine Grundeigenschaft des Bewusstseins, Bewusstsein von etwas zu sein, als cogito sein cogitatum in sich zu tragen“15. Wie fr die Wahrnehmung bedeutet Intentionalitt fr das Handeln nicht nur das „Gerichtetsein auf“ und die Vermittlung zwischen Bewusstsein und Welt, sondern gleichzeitig und darber hinaus, dass hier etwas als etwas intendiert wird. Dass wir aber einen Gegenstand, wenn wir intentional wahrnehmen, als etwas wahrnehmen oder etwas, wenn wir intentional handeln, als etwas tun, setzt nicht nur Bewusstsein voraus, sondern auch dessen sprachliche Verfasstheit.16 Denn dass etwas etwas ist oder dass die Person die Absicht hat, etwas zu tun, sind Formen der Re12 Einzig die Position derjenigen sogenannten „harten Deterministen“ muss hier ausgeschlossen werden, die zum einen vertreten, dass wir, um berhaupt eine Absicht haben zu kçnnen, notwendigerweise so etwas wie Freiheit voraussetzen, und die zum anderen unterstellen, dass es berhaupt keine Form von menschlicher Freiheit gibt, weil wir in einer vollstndig determinierten Welt leben. 13 In diesem Sinne ist wohl auch Searle zu verstehen, wenn er betont, dass es zu den „Erfllungsbedingungen des geistigen Bestandteils [einer Handlung] gehçrt, daß er den materiellen Bestandteil sowohl reprsentieren als auch verursachen muß“. (John R. Searle, Geist, Hirn und Wissenschaft, 63.) 14 Siehe etwa Franz Clemens Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt, Bd. 1, Buch 2, Kapitel I, §5. 15 Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen, 35; Hervorhebungen teilweise E. B. 16 Dabei ist hier nicht zu klren, ob, wie Searle meint, Intentionalitt Sprache vorausgeht oder ob Sprache von Intentionalitt abhngt. (Siehe hierzu: John R. Searle, Intentionalitt, 21.) Vielmehr geht es darum, dass Intentionalitt in ihrer Form, etwas als etwas zu meinen oder etwas als etwas zu tun zu beabsichtigen, immer sprachlich strukturiert ist. Die These, dass eine Intentionalittstheorie auf Sprachkompetenz angewiesen ist, vertritt Apel in seinem Aufsatz: „Ist Intentionalitt fundamentaler als sprachliche Bedeutung? Transzendentalpragmatische Argumente gegen Searles Rckkehr zum semantischen Intentionalismus“. Siehe zur fundamentalen Bedeutung von Sprache fr alles Handeln auch Kohler, Handeln und Rechtfertigen, 168 f.
III.1.1. Handeln und Intentionalitt
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prsentation, die sich ohne Sprache nicht denken lassen.17 Etwas als etwas wahrnehmen oder tun heißt nicht nur, es bewusst zu tun, sondern es in Form allgemeiner Begriffe fassen zu kçnnen, die Teil einer intersubjektiv geteilten Sprache sind. Diese erlaubt erst, die eigene Wahrnehmung oder das eigene Handeln Anderen zu vermitteln: Nur weil eine andere Person uns ihre zugrunde liegende Absicht sprachlich mitteilen kann, wissen wir, dass sie gehandelt hat, und kçnnen ihr andererseits, weil sie selbst ber ein sprachlich strukturiertes Bewusstsein18 verfgt, Handlungsabsichten zuschreiben. Dabei ist Sprache nicht nur das Mittel, Wirklichkeiten zu beschreiben, vielmehr dient sie, so John Searle, dazu, „auf merkwrdige Art […] Tatsachen“19, d. h. hier: Akteure und deren Intentionen sowie Handlungen oder Handlungskontexte selbst erst als solche zu konstituieren.
17 Robert Brandom weist zwar bereits im Vorwort zu seinem Hauptwerk Expressive Vernunft darauf hin, dass es durchaus sinnvoll sein kçnne, „ber nicht-sprachbegabte Wesen so zu reden, als ob sie intentionale Zustnde htten“; er schrnkt dieses Argument jedoch dahingehend ein, „daß sich unser Verstndnis solcher Redeweisen parasitr gegenber der Art von vollausgebildeter sprachlicher Intentionalitt verhlt, fr die Zustnde und Einstellungen charakteristisch ist, ber die nur Wesen verfgen kçnnen, die sich an einer diskursiven sozialen Praxis beteiligen“. (Robert Brandom, Expressive Vernunft, 17 f.) Siehe hierzu auch Brandoms Auseinandersetzung mit Daniel C. Dennett (a. a. O., Kapitel 1.6.2, 111 ff.), der in seinem Aufsatz „Intentional Systems“, einen hnlichen Standpunkt verteidigt. Brandom vertritt die These, der ich mich hier anschließe, dass „das Verfgen ber propositionalen Gehalt auch der berzeugungen und anderen Zustnde, die intentionale Interpreten nicht-linguistischen Tieren zuschreiben, ohne Bezug auf die spezifisch sprachliche Praxis der Interpreten, aus der sie abgeleitet wird, nicht zu verstehen ist. Ursprngliche, unabhngige bzw. nicht abgeleitete Intentionalitt ist eine rein sprachliche Angelegenheit.“ (Brandom, Expressive Vernunft, 221.) – John McDowell unterscheidet in seinem Buch Geist und Welt zwischen solchen Tieren, die ihre Umwelt als Abfolge von Problemen und Gelegenheiten erfahren, und denen, die ber eine ausgereifte Subjektivitt verfgen und deshalb ihre Umwelt auch als solche begreifen. (Vgl. hierzu McDowell, Geist und Welt, 143 f.) 18 Daher kçnnen wir nicht mit derselben Rechtmßigkeit behaupten, dass in einem Bienenstaat intentionale Handlungen vollzogen werden, wie wir das Verhalten eines Trappisten, der in einer Kirchbank kniend die Hnde faltet, als Beten und damit als eine intentionale Handlung interpretieren: Dieser Ordensbruder, mag er auch bis an sein Lebensende schweigen, bleibt dennoch ein sprechendes Wesen, denn anders htte er sich die Ordensregeln des absoluten Stillschweigens nicht zu eigen machen kçnnen. 19 John R. Searle, Geist, Sprache und Gesellschaft, 138.
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III.1. Verantwortlich sein und Verantwortung haben
So konstitutiv Sprache fr die Mçglichkeit zu handeln nach dieser These auch ist, soll damit nicht behauptet werden, dass Wirklichkeit berhaupt auf Sprache reduziert werden kann, beziehen sich doch alle sprachlichen Beschreibungen in irgendeiner Form auf eine zwar sprachlich vermittelte, jedoch nicht vollstndig in diesen Beschreibungen aufgehende Realitt: Wenn uns ein Stein auf den Kopf fllt, spren wir etwas, unabhngig davon, ob wir es als Schmerz beschreiben oder nicht.20 Und hnliches gilt auch fr Handlungen. Denn selbst wenn wir mit Hilfe der Sprache zwischen verschiedenen Handlungen unterscheiden kçnnen – etwa ein Armheben als Greifen nach einem Gegenstand, als Geste der Wortmeldung oder als Versuch, Muskeln oder Bnder zu dehnen, beschreiben –, bleiben diese sprachlichen Interpretationen doch an (nicht notwendigerweise sprachlich explizierte) physisch wahrnehmbare Vorgnge gebunden. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass jemand, der etwas als Wirklichkeit beschreibt, was entweder unabhngig von seinen sinnlich vermittelten Beobachtungen ist oder sogar im Widerspruch zu ihnen steht,21 zunchst nicht verstanden wird. Wenn dieses Unverstndnis weiter bestehen bleibt oder die betreffende Person fortwhrend Vorgnge und Handlungen in fr Andere nicht nachvollziehbarer Weise beschreibt, wird sie nicht allein als sprachinkompetent, sondern als Person mit gestçrter Realittswahrnehmung erlebt. Insgesamt lsst sich also Hannah Arendts These, dass es „wortloses Handeln“22 nicht gibt, ber das politische Handeln hinaus so verallgemeinern, dass wir nur dann etwas als Handlung beschreiben kçnnen, wenn wir einen Vorgang in einem bestimmten durch Sprache vermittelten Kontext verstehen und wenn wir dem Handelnden Handlungsintentionen unterstellen, die in ihrer ußerung notwendig auf sprachliche Explikation angewiesen sind.
20 Siehe hierzu auch Searles These von der Prioritt „roher Tatsachen“ vor der „institutioneller Tatsachen“. (John R. Searle, Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer Tatsachen, 65 f.) 21 Natrlich kommt es auch vor, dass Menschen sich statt auf eigene Erfahrungen auf die anderer Menschen sttzen, dennoch gilt auch hier, dass zumindest irgendjemand eine zu den Elementen der sprachlichen Beschreibung passende Erfahrung gemacht haben muss. 22 Hannah Arendt, Vita activa oder vom ttigen Leben, 218.
III.1.2. Handeln und Grnde
213
III.1.2. Handeln und Grnde Im Zusammenhang mit der Zuschreibung von Verantwortung unterstellen wir außerdem, dass der Urheber einer Handlung Grnde fr sie hatte und deshalb so und nicht anders gehandelt hat: Ich hebe meinen Arm nicht nur, da dies meine Absicht ist, sondern weil ich etwa eine Vase fr Blumen brauche und mit gestrecktem Arm besser an die Vasen herankomme etc. Mit „weil“ wird hier auf den Handlungsgrund verwiesen, der Rationalitt impliziert. Denn Grnde, so formuliert Ulrich Pothast, bringen ein Ereignis dadurch hervor, daß sie einem rationalen Wesen die Begrndung (manchmal Rechtfertigung) liefern, unter der eine Handlung sinnvoll oder geboten erscheint. Sie bewegen ein rationales Wesen zum Handeln, nicht indem sie eine physikalische oder physiologische Ursache stellen, sondern indem sie die Handlung einleuchtend, notwendig, gefordert, usw. erscheinen lassen.23
Dabei unterscheiden sich die angegebenen Grnde sowohl in ihrem Gehalt als auch in ihrer Art. Neben subjektiven Dispositionen wie Gefhlen, Stimmungen, Motiven, Leidenschaften etc. kçnnen auch objektive Umstnde, Sachverhalte oder Begleitumstnde, die in einer relevanten Relation zur Handlungsabsicht stehen, Teil eines Handlungsgrundes werden: Ein defekter Fahrstuhl kann, vorausgesetzt, eine Person mçchte in den 25. Stock eines Gebudes, einer der Grnde dafr sein, warum diese die Treppen nimmt. Ebenso kçnnen intersubjektiv geltende Normen oder Konventionen, Sitten und Gebruche zu Grnden von Handlungen werden, wobei immer vorausgesetzt ist, dass das handelnde Subjekt sie sich zu eigen gemacht hat. Nach Davidson besteht ein primrer Grund, d. i. die Ursache einer Handlung, „aus einer berzeugung und einer Einstellung“, wobei es in den meisten Fllen ausreichend sei, eine der beiden zu nennen. Es kçnne aber auch „Handlungserklrungen mit Hilfe von nichtprimren Grnden“ geben, „die keine Erwhnung des primren Grundes bençtigen, um die Darstellung abzurunden“.24 Neben der unmittelbaren Absicht und mittelbaren Absichten mçgen daher auch damit verknpfte Vorstellungen (bei 23 Ulrich Pothast (Hg.), Seminar: Freies Handeln und Determinismus, 25. 24 Davidson, Handlung und Ereignis, 24. – Denn aus der Kenntnis bestimmter Umstnde lassen sich Grnde erschließen. Mit dem Hinweis, dass jemand Alkoholiker ist, erschließen wir den Grund, warum die betreffende Person das Spaghetti-Eis mit Likçr stehen lsst, auch wenn bekannt ist, wie gerne die betreffende Person Eis isst.
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III.1. Verantwortlich sein und Verantwortung haben
dem Beispiel „Blumen in die Vase stellen“, dass Blumen Wasser brauchen, in einer Vase besonders gut zur Geltung kommen etc.) sowie kontextrelevantes Wissen (etwa, dass man an das obere Regalfach auch ohne Stuhl herankommt, wenn man seinen Arm nur lang genug streckt) als Grnde bei der Erklrung einer Handlung gelten. Gemeinsam ist allen angefhrten Grnden jedoch, dass sie eine Handlung, auch wenn sie keiner Naturnotwendigkeit entspringen mag, so weit verstndlich machen, dass diese zwar nicht als zwangslufige, aber doch fr Andere nachvollziehbare Konsequenz dieser Grnde gelten kann.25 Dementsprechend charakterisiert G. Kohler Grnde als das, „was zur Antwort auf Fragen dient wie: ,Warum glaubst du sagen zu kçnnen, daß das und das geschehen ist bzw. daß es so ist; daß etwas nicht geschehen ist, etc.?“26. Handlungen zeichnen sich also nicht allein dadurch aus, dass ihr Urheber ein intentionales Subjekt ist, sondern auch dadurch, dass sie sich durch Grnde erklren lassen. Entscheidend ist dabei zunchst,27 dass Grnde, um berhaupt als Grnde fr Handlungen gelten zu kçnnen, zu dem Verhalten der handelnden Person nicht in offenkundigem Widerspruch stehen drfen28 : Wenn wir sehen, wie jemand auf offener Straße den 25 So scheint nicht hinreichend, dass es allein „vom Standpunkt des Handelnden“ aus etwas gab, das, „als er handelte, […] fr die Handlung sprach“, vielmehr wird vorausgesetzt, dass das, was hier als vernnftiger Grund angefhrt werden kann, intersubjektiv einsehbar sein muss. (A. a. O., 27.) hnlich rumt Davidson an anderer Stelle ein, dass eine Handlung „im Lichte der berzeugungen und Wnsche vernnftig wirken“ msse, und sieht hierin ein „normatives Element“ impliziert. (126) 26 Kohler, Handeln und Rechtfertigen, 136 f. – Charles Larmore hlt Grnde fr „essentially normative in character“, die deshalb nicht gleichgesetzt werden kçnnten, „with any features of the natural world, physical or psychological, though they certainly depend on the natural facts being as they are“. Ein Grund, etwas zu tun, besteht fr ihn nicht in einer Tatsache, vielmehr in einer bestimmten Beziehung zwischen einer Tatsache und unseren Handlungsmçglichkeiten: „Only insofar as the cold [als Tatsache] justifies or counts in favor of wearing a coat [unserer Handlungsmçglichkeit] does it take on the status of a reason, and this status – the relation of counting in favor of – is not a physical quality of the cold. Is is a normative attribute.“ (Charles Larmore, „The Autonomy of Morality“, 124.) 27 Zur nheren Bestimmung von Grnden siehe auch das 1. Kapitel von Thomas M. Scanlon, What we owe to each other, 17 – 77. Hier wird nicht nur die Vernnftigkeit von Grnden nher bestimmt, sondern auch auf das Verhltnis zwischen Wnschen und Grnden eingegangen. – Zum Verhltnis von Grnden und Absichten siehe etwa Davidsons Aufsatz: „Handlungen, Grnde und Ursachen“ in: Davidson, Handlung und Ereignis, 19 – 42. 28 Peter Stemmers einschrnkendem Vermerk, „dass die Existenz eines Grundes die entsprechende Handlung nicht notwendig nach sich“ ziehe, versuche ich mit der
III.1.2. Handeln und Grnde
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Arm hebt, nehmen wir an (sofern wir der beobachteten Person grundstzlich Intentionalitt und Rationalitt unterstellen), dass diese Person absichtsvoll und im Sinne ihrer Absicht rational handelt – auch wenn sich uns diese vielleicht nicht unmittelbar erschließt. Erklrt uns die Person dann auf Nachfrage, dass sie den Arm hob, weil sie einen Krampf lçsen wollte, halten wir das zunchst fr einen ausreichenden Grund fr ihr Verhalten und dessen Explikation fr so stimmig, dass wir keine Schwierigkeiten haben, es als Handlung zu akzeptieren. Handlungserklrungen 29 kçnnen demnach als eine erste Stufe von Handlungsbegrndungen gelten, indem sie einsichtig machen, was im Selbstverstndnis des Subjekts fr eine Handlung bestimmend war. Dass ein handelndes Subjekts seine Handlung erklren kann, bedeutet allerdings nicht notwendigerweise, dass es sie damit bereits so begrndet hat, dass Andere sie auch fr gerechtfertigt, d. h. Negativ-Formulierung, dass Grnde „zu dem Verhalten der handelnden Person nicht in offenkundigem Widerspruch stehen drfen“, Rechnung zu tragen. Ich teile seine Position so weit, dass „die Existenz eines Grundes […] kausal nicht suffizient fr den Vollzug der begrndeten Handlung [ist]. Dies bedeutet nicht, dass ein weiterer Grund vorliegen muss, damit die Handlung tatschlich vollzogen wird.“ (Peter Stemmer, Normativitt. Eine ontologische Untersuchung, 94.) – Davidson weist darauf hin, dass wir nicht verlangen, wenn „wir in dieser Weise von Grnden reden“, dass es sich um gute Grnde handelt: „Wir erfahren etwas ber die Grnde, weshalb jemand einen Krieg angefangen hat, wenn wir hçren, er habe es mit der Absicht getan, jeglichem Krieg ein Ende zu breiten, selbst wenn wir wissen, daß seine berzeugung, er wrde durch Auslçsen des Krieges jeglichem Krieg ein Ende bereiten, falsch war.“ (Davidson, Handlung und Ereignis, 125 f.) P. Stemmer kritisiert eine solche Unterscheidung von guten und schlechten Grnden – fr ihn handelt es sich bei einem schlechten Grund um einen „Putativ- oder Scheingrund“, d. i. einen Grund, „den es nicht gibt, von dem [der Handelnde] aber meint, es gebe ihn“; dabei ist aber wichtig, dass Handelnde sowohl durch Grnde als auch durch Scheingrnde zum Handeln motiviert werden kçnnen – beide kçnnen nach Stemmer ein Handeln erklren, ohne es jedoch kausal zu determinieren. (Siehe Stemmer, Normativitt, 95.) 29 Natrlich erklren Menschen nicht nur anderen Menschen, sondern auch sich selbst ihr Handeln, wobei diese Erklrungen fast immer in Form eines inneren Monologs gegeben und damit von außen nicht wahrgenommen werden. Außerdem sind dem Handelnden ein Großteil der bei einer Handlungserklrung anzufhrenden Informationen zu Absichten, Grnden und Motiven bereits ohne weitere Explikation zugnglich, weil er es ist, der sie hat. Gleichwohl kennen wir alle Situationen, in denen wir uns auch selbst unser eigenes Handeln erklren: Dann stellen wir (zumeist retrospektiv) fest, aus welcher Absicht oder welchem Grund wir (so und nicht anders) gehandelt haben. Dabei findet hufig eine Uminterpretation einer Handlung und ihrer Absicht statt, oder es wird auf tiefer liegende Grnde verwiesen, mit denen wir das, was wir bislang fr unsere Grnde erachtet haben, entweder rckfundieren, modifizieren oder revidieren.
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III.1. Verantwortlich sein und Verantwortung haben
fr richtig und legitim halten, was wir bei einer Handlungsbegrndung oder auch -rechtfertigung durchaus unterstellen. Dennoch lassen sich Erklrung, Begrndung und Rechtfertigung30 nicht immer eindeutig voneinander unterscheiden. Denn wer ein Handeln rechtfertigen will, sollte es auch erklren und begrnden kçnnen; und in manchen Fllen reicht es fr die Rechtfertigung eines Handelns aus, dieses zu erklren: Wenn jemand etwa, um ein bereits verwendetes Beispiel noch einmal aufzugreifen, beim TeeEingießen gefragt wird, was er tue, kçnnte er als Erklrung angeben, dass er dem eingeladenen Freund Tee einschenken will. In diesem Fall erklrt er dem Fragenden zunchst sein Greifen nach der Teekanne als Handlung des Tee-Einschenkens. Meistens wrde eine solche Antwort – ob als Erklrung, Begrndung oder als Rechtfertigung – den Fragenden wohl zufriedenstellen: Die Armbewegungen des Handelnden wren damit ausreichend erklrt und mçglicherweise mit dem ergnzenden Hinweis darauf, dass der Freund um Tee und nicht um Kaffee gebeten habe, auch ausreichend gerechtfertigt. Denn normalerweise gehen wir davon aus, dass eine solche Absicht, dem Gast auf dessen Wunsch hin Tee einzuschenken, auch als guter Grund fr eine entsprechende Handlung und somit als deren Begrndung und Rechtfertigung gelten kann. Die Erklrung und die Begrndung bzw. Rechtfertigung einer Handlung wrden sich in einem solchen Fall also nicht unterscheiden. Nehmen wir nun an, der Fragende weiß, dass der Freund sonst immer Kaffee trinkt. Die Handlung wre dann nach wie vor erklrt, jedoch fr den Fragenden wohl nicht mehr begrndet oder gerechtfertigt, da er zwar verstanden hat, dass der Gastgeber Tee einschenkt, dies aber fr einen Irrtum (oder zumindest fr fragwrdig) hlt: Da er um die Vorliebe des Gastes fr Kaffee weiß, liegt fr ihn (noch) kein hinreichend guter Grund vor, warum der Gastgeber seinem Gast Tee einschenken sollte.31 Erst durch eine zustzliche Information – etwa, dass man sich in Anbetracht der katastrophalen Arbeitsbedingungen auf Kaffeeplantagen entschieden habe, keinen Kaffee mehr zu trinken – wre fr den Fragenden das Abweichen von der erwarteten Handlung nicht nur erklrt, sondern erneut begrndet und u. U. gerechtfertigt: Die vom Gastgeber angestellten 30 Dabei soll hier der Kontext der Rechtfertigung erst einmal nicht weiter przisiert werden. Auf die Frage speziell der moralischen Rechtfertigung gehe ich im zweiten Abschnitt des folgenden Kapitels ausfhrlicher ein. 31 Lutz Wingert definiert einen rechtfertigenden bzw. berechtigenden Grund einer Handlung als Antwort auf die Frage: „warum soll oder darf man / ich dies, aber nicht jenes tun?“ (Vgl. Lutz Wingert, „ffentliche Vernunft. Zur sozialen Dimension der menschlichen Existenz“).
III.1.2. Handeln und Grnde
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moralischen Erwgungen32 stellen offensichtlich einen Grund fr ihn dar, Tee und nicht Kaffee einzuschenken. Gleichwohl kçnnten gegenber diesen Auslassungen des Gastgebers, die als Erklrung bereits eine Rechtfertigung implizieren, Zweifel anzumelden sein, ob der genannte Grund auch ein guter Grund ist und damit die Handlung wirklich rechtfertigen kann: Der Fragende wrde etwa argumentieren, dass es auf den Teeplantagen noch viel schlimmer zugehe, dass zwar in der Tat auf Kaffeeplantagen zumeist menschenunwrdige Arbeitsbedingungen herrschten, dass aber den moralischen Bedenken ebenso Rechung getragen wrde, wenn man nur „fair gehandelten“ Kaffee kaufe bzw. trinke. Doch selbst wenn er solche Einwnde vorbringen sollte, htte er die Antwort des Gastgebers als Erklrung verstanden und als Begrndung seiner Handlung anerkannt. Mit seinen Zweifeln und Gegengrnden stellte er lediglich die Triftigkeit der gegebenen Grnde in Frage und ußerte Zweifel daran, dass diese die Handlung wirklich rechtfertigen. Im Fortgang des Diskurses kçnnte der Fragende einwenden, man sei nur seinen Nchsten verpflichtet, und die Frage aufwerfen, wieso man berhaupt meine, gegen die Arbeitsbedingungen in anderen Lndern etwas tun zu mssen, inwieweit nicht die Vorlieben des Gastes – Kaffee vor Tee – wichtiger seien als die Lebensumstnde weit entfernt lebender Menschen … Auch hier htte der Fragende zunchst die Erklrung und Begrndung anerkannt, d. h., er ginge davon aus, dass der Gastgeber tatschlich aus den angegebenen Grnden gehandelt hat.33 Er wrde lediglich bezweifeln, dass 32 Natrlich kçnnten hier auch andere als moralische Begrndungen angefhrt werden – etwa solche, die die eigene Gesundheit betreffen, dass es nmlich gesnder sei, Tee und nicht Kaffee zu trinken. Mir geht es an dieser Stelle noch nicht um eine nhere Spezifizierung der Begrndungsarten, sondern vielmehr darum, den hufig fließenden bergang von Handlungserklrungen zu Handlungsbegrndungen aufzuzeigen. 33 Sicherlich gibt es auch Flle, in denen die angefhrten Erklrungen und Grnde offenbar nur vorgeschoben sind, oder Flle, in denen zumindest daran gezweifelt werden kann, ob die gegebenen Grnde auch wirklich die handlungsleitenden waren. Hier wird dann bereits die gegebene Erklrung nicht akzeptiert, weil etwa an der Aufrichtigkeit oder der Wahrhaftigkeit des Handelnden gezweifelt wird. (Natrlich lassen sich auch Flle denken, in denen wir zwar annehmen, dass der Handelnde aufrichtig ist, sich jedoch selbst ber seine Grnde oder Motive tuscht.) Noch einmal anders sind die Flle zu beschreiben, in denen gar nicht der Handelnde selbst, sondern ein dritter eine Handlung erklrt: Auch hier kann es sein, dass sich die Handlungserklrung nicht mit den Grnden deckt, aus denen der Handelnde wirklich gehandelt hat. In diesem Fall wrden wir wohl zunchst dem Handelnden selbst Glauben schenken (vorausgesetzt, dass dieser selbst auch sein Handeln erklrt) und erst im Zweifelsfall der externen Instanz, womit dann
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III.1. Verantwortlich sein und Verantwortung haben
die de facto wirksamen Handlungsgrnde diejenigen sind, aus denen der Handelnde htte handeln sollen: vielleicht, weil er zwar nicht moralische Grnde als solche, wohl aber ihre Relevanz und Bewertung fr diesen Fall in Zweifel zieht und dem Handelnden deshalb vorhlt, dessen moralische Bedenken seien hier fehl am Platz. Ebenso kçnnte der Grund seines Zweifels aber auch ein anderes Verstndnis von Moral sein, das andere Handlungen zur Folge htte.34 In allen hier skizzierten Alternativen wrde die Handlung des Tee-Einschenkens durch die gegebenen Erluterungen des Gastgebers zwar als erklrt gelten, auch wrde wohl jeder anerkennen, dass die gegebenen Grnde die Handlung begrnden sollen – sie sind die Grnde, aus denen der Handelnde tatschlich gehandelt hat –, bezweifelt wrde vom Fragenden allerdings, dass diese Begrndung die Handlung – auch jenseits der subjektiven Sichtweise des Handelnden – tatschlich rechtfertigt. Inwieweit sich die Erklrung, die Begrndung und die Rechtfertigung einer Handlung unterscheiden, hngt also davon ab, was man in einem bestimmten Kontext35 erwartet; auch die Frage, ab wann eine Handlung als erklrt bzw. begrndet oder gerechtfertigt gelten kann, ist dann je nach Erklrungs- bzw. Begrndungsanspruch unterschiedlich zu beantworten. Wenn eine Handlung etwa unter moralischen Aspekten untersucht wird, gelten andere Kriterien, als wenn nach der Gltigkeit ihrer Begrndung im Rahmen persçnlicher Prferenzen gefragt wird: Whrend in der ersten der beschriebenen Alternativen allenfalls die unmittelbar Betroffenen Bercksichtigung finden, wird in der anderen auch auf die Bedrfnisse und Ansprche anderer, nur entfernt oder indirekt Betroffener rekurriert. Denn ob der Gast jetzt gerade Kaffee oder Tee trinkt, hat – fr sich betrachtet – wenn berhaupt minimal Einfluss auf die Situation der Plantagenarbeiter, so dass diese nicht direkt betroffen sind. Wrden allerdings berhaupt wieder die Wahrhaftigkeit des Handelnden bzw. seine Selbsttransparenz in Frage gestellt wre. 34 Mit den hier skizzierten mçglichen Argumentationsketten will ich keineswegs behaupten, dass jede Handlung moralisch zu begrnden ist, vielmehr die These untermauern, dass mehr oder weniger jede Handlung – je nach Kontext – auch nach moralischen Kriterien begrndet und bewertet werden kann und dann auch muss. Mag im Falle des Tee-Einschenkens die Frage nach der moralischen Vertretbarkeit nur selten erwogen werden, so wird sie z. B. bei der Planung von Urlaubsreisen oder beim Kauf von Kleidung bei Billig-Ketten schon viel hufiger diskutiert. 35 Auf die Kontextabhngigkeit jeder Handlungsinterpretation wie auch der Bewertung ihrer Grnde werde ich in den nchsten beiden Abschnitten dieses Kapitels ausfhrlicher eingehen.
III.1.2. Handeln und Grnde
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keine Menschen oder erheblich weniger Menschen Kaffee trinken, der auf diesen Plantagen angebaut wurde (was jeder einzelne zunchst allenfalls mitbewirken kann, indem er selbst auf solchen Kaffee verzichtet), wrde das doch die Situation der Plantagenarbeiter erheblich beeinflussen. Allgemein scheint das Rechtfertigen bzw. Begrnden von Handlungen mit dem Erklren anzufangen und in vielen Fllen damit auch schon zu einem Ende zu kommen. Diesen Ausfhrungen gemß hat etwa G. Kohler geltend gemacht, dass es Vorgehensweisen gebe, „Handeln zu begrnden […], die sowohl ,Rechtfertigen‘ wie ,Erklren‘ heißen kçnnen.“36 Kohler bestreitet, dass sich hier eine strikte Trennlinie ziehen lasse: „Denn indem man den Behauptungssatz [bzw. eine Handlung] rechtfertigt, also die Grnde vorweist, die fr die Gltigkeit seiner Aussage sprechen, macht man zugleich die Ursache der Handlung […] einsichtig. Das heißt, man erklrt die Handlung x, wenn ,Erklren‘ alltagssprachlich den Sinn hat, die Ursache(n) von etwas anzugeben.“37 In der Alltagssprache sind die bergnge zwischen dem Erklren, Begrnden und Rechtfertigen einer Handlung hufig fließend. Und in vielen Fllen lsst sich nur artifiziell zwischen diesen Vorgngen differenzieren. Gleichwohl gibt es auch Bereiche, wo erklren, begrnden und rechtfertigen unterschieden werden. Dabei sind diese Unterschiede dann weniger auf der Ebene der de facto angefhrten Grnde auszumachen als auf der Ebene dessen, was mit der Angabe dieser Grnde intendiert wird. So sollen die bei einer Erklrung einer Handlung angefhrten Grnde zunchst erlutern, worin die Handlung besteht – etwa, dass wir Tee und nicht Kaffee einschenken –, und darber hinaus vielleicht noch, welchem Zweck sie dient, auf welchen Motiven sie basiert. Kurz: Sie sollen eine Art erweiterte Darstellung bzw. eine „Neubeschreibung“38 der Handlung und ihres Hintergrunds geben. Dagegen geht eine Begrndung eindeutig ber eine solche eher deskriptiv angelegte Darstellung der Handlung hinaus: Diese soll eben nicht allein erklrt, sondern zudem durch die Angabe von Grnden so weit als verstndlich ausgewiesen werden, dass sie, wenn auch vielleicht nicht als notwendig, so doch in ihrem Handlungskontext als richtig bzw. angemessen zu bewerten ist. Eine Unterscheidung zwischen begrnden und rechtfertigen scheint indes noch um einiges schwieriger und ist im Alltagsgebrauch oft nicht 36 Kohler, Handeln und Rechtfertigen, 239. 37 A. a. O., 239 f. 38 Siehe hierzu L. Wingerts Bestimmung von Urteils- bzw. Verhaltenserklrungen. (Wingert, „ffentliche Vernunft“.)
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III.1. Verantwortlich sein und Verantwortung haben
erkennbar. Will man dennoch auch hier differenzieren, kçnnte man darauf hinweisen, dass das Handlungssubjekt bei der Rechtfertigung seiner Handlung mehr noch als bei deren Begrndung in der Lage sein muss, Grnde fr sein Handeln anzufhren, die auch intersubjektiv als gute Grnde anerkannt werden kçnnen: Das handelnde Subjekt begrndet sein Handeln, indem es u. a. seine Motive und seine Intentionen erklrt und die Grnde benennt, die in seinen Augen einsichtig machen, warum es so und nicht anders handeln sollte. Wenn der Andere bzw. die Anderen diese Begrndungen als gute Grnde fr sein Handeln anerkennen, htte der Handelnde damit sein Handeln auch gerechtfertigt. Werden die gegebenen Grnde nicht als gute Grnde anerkannt, hat er zwar sein Handeln begrnden, jedoch nicht rechtfertigen kçnnen. Ein klassisches und immer wieder aktuelles Beispiel fr die Unterscheidung zwischen der Begrndung und der Rechtfertigung einer Handlung sind die Legitimationsversuche von Kriegen: Begrndet wird fast jede kriegerische Handlung mit der Absicht, Frieden zu sichern (si vis pacem, para bellum), aber es sind Zweifel angebracht, ob dieser Grund wirklich als Rechtfertigung gelten kann. Allerdings ist es in fast allen Fllen so – und damit wre erneut auf die Schwierigkeit hingewiesen, eindeutig zwischen Begrnden und Rechtfertigen zu unterscheiden –, dass Handelnde, die eine Begrndung fr ihr Handeln geben, damit zumeist den Anspruch verbinden, das eigene Handeln auch gerechtfertigt zu haben, whrend die Gesprchspartner im Diskurs oder hinzugezogene beurteilende Instanzen, wenn sie diesen Anspruch in Frage stellen, hufig gerade auch bestreiten, dass die angegebenen Grnde eine (gute) Begrndung darstellen. Die Unterscheidung von Begrndung und Rechtfertigung lsst sich somit in erster Linie beschreiben als eine Verschiebung des Fokus vom Subjekt der Begrndung auf die Instanz, die berufen ist, die Begrndung als Rechtfertigung einer Handlung anzuerkennen. Im Zusammenhang des vorliegenden Kapitels, dessen Ziel es ist, Handeln im Hinblick auf den hier entwickelten Verantwortungsbegriff detaillierter zu explizieren, geht es vor allem um den mit Handlungen verbundenen Anspruch, dass sie sich mit Grnden rechtfertigen lassen. Erklrungen bzw. Begrndungen bilden dabei hufig erste Stufen fr die Rechtfertigung und werden, je nachdem inwiefern Andere von einer Handlung betroffen sind, hufig auch als hinreichend verstanden, um eine Handlung zu rechtfertigen.
III.1.3. Handeln und Handlungskontext
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III.1.3. Handeln und Handlungskontext Im Folgenden soll nun der Handlungsrahmen nher bestimmt werden. Dabei ist zunchst zu bercksichtigen, dass jede Form von Handlung in einem Bedeutungszusammenhang steht, der auf andere Subjekte verweist und durch diese erst konstituiert wird. Als Handlung kann grundstzlich ganz Verschiedenes beschrieben werden: „Sich-Anziehen“, „In-den-BusEinsteigen“, „Einem-Obdachlosen-Geld-Geben“, „Einen-Marathon-Laufen“ oder „Einen-Krankenbesuch-Machen“ etc. – all das lsst sich unter dem Begriff der Handlung subsumieren, obwohl diese Ttigkeiten sonst nicht viel gemeinsam haben. Fr alle Beispiele gilt jedoch, dass sie in einer intersubjektiv geteilten Welt stattfinden39 – und dies selbst da, wo wir zunchst meinen, eine Handlung ganz allein und unabhngig von anderen zu vollziehen. Denn sobald wir eine Handlung vollziehen, ist diese auf Menschen bezogen – sie sind direkte Adressaten oder Interaktionspartner, werden von den Konsequenzen einer Handlung potentiell oder aktuell betroffen, sie beobachten und bewerten unser Handeln oder konstituieren die unspezifischen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen mit, unter denen wir handeln. Menschen sind selbst in den Handlungen, die sie gerade unabhngig von Anderen, „ganz allein“ vollziehen, auf Andere verwiesen, weil die Anderen immer schon mit da sind, wie Heidegger die Weise des Menschen, mit Anderen die Welt zu teilen, „existenzial-ontologisch“40 beschreibt: „Die Welt des Daseins ist Mitwelt“41 – sogar dort, wo jemand gerade das Alleinsein und die Unabhngigkeit von Anderen intendiert: „Das Mitsein bestimmt existenzial das Dasein auch dann, wenn ein Anderer faktisch nicht vorhanden und wahrgenommen ist. Auch das Alleinsein des Daseins ist Mitsein in der Welt. Fehlen kann der Andere nur in einem und fr ein Mitsein.“42 Handlungen geschehen also in einer immer schon intersubjektiv geteilten Welt. Doch nicht nur verweist alles Handeln auf andere Menschen, vielmehr bestimmt auch der jeweilige Handlungskontext – der soziale Raum, in dem eine Handlung stattfindet –, welche Handlungen vollzogen werden, wie diese zu interpretieren sind und welche Grnde angefhrt werden kçnnen oder mssen, um ein Handeln zu rechtfertigen. Und dieser Kontext ist wiederum intersubjektiv konstituiert. 39 40 41 42
Hierauf werde ich im nchsten Kapitel ausfhrlich eingehen. Heidegger, SuZ, 120. A. a. O., 118. A. a. O., 120.
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III.1. Verantwortlich sein und Verantwortung haben
So wird, um nochmals auf das Beispiel des Armhebens zurckzukommen, meine Kçrperbewegung, auch ohne dass die Menschen um mich herum meine Absicht und meine Grnde kennen, in den meisten Fllen als Handlung interpretiert – allein schon deshalb, weil andere Menschen mir grundstzlich die Fhigkeit zu handeln zuschreiben. Welche konkrete Handlung ich mit dem Armheben ausfhre, geht aus der Benennung der physisch wahrgenommenen Kçrperbewegung nicht hervor. Eindeutiger lsst sich diese Bewegung erst dann bestimmen, wenn wir den nur teilweise explizit wahrgenommenen Kontext mit einbeziehen, in dem sie vollzogen wird: Auf einer Sitzung kçnnte eine solche Bewegung beispielsweise als eine Meldung verstanden werden (etwa im Rahmen einer Abstimmung ber einen Antrag oder aber im Rahmen einer Diskussion als Anzeige eines Wortbeitrags), eine hnliche Kçrperbewegung in einer Turnhalle vielleicht als eine Dehnbung, unter Umstnden aber auch als Antwort auf die Frage eines Spielers, wer derselben Mannschaft angehçrt wie er. Sieht man jemanden mit einem Kind im Park unter einem Kastanienbaum eine solche Armbewegung machen, lsst sich vermuten, dass die Person auf die Kastanien am Baum deuten will oder versucht, einen Ast zu ergreifen und ihn herabzuziehen. Diese letzte Situationsbeschreibung scheint dabei am wenigsten eindeutig und infolgedessen auch die Interpretation der vorliegenden Handlung am schwierigsten. Umso notwendiger wird infolgedessen die Mitbercksichtigung der vorliegenden Absicht und der Handlungsgrnde des Handlungssubjekts. Gleichwohl gilt auch fr Intentionen und Handlungsgrnde, dass sie wesentlich vom Kontext mitbestimmt sind, in dem gehandelt wird, denn auch jede Absicht und jeder Grund verweisen ber das Netz von Intentionen und Grnden,43 in dem sie stehen, ber sich und die Handlung hinaus. John Searle hat deshalb in einem hnlichen Zusammenhang den Begriff des Hintergrunds bzw. den des Netzwerks intentionaler Zustnde eingefhrt, der es berhaupt erst erlaube, eine Absicht zu haben. Diese kçnne nur sein, was sie ist […], weil sie in einem Netzwerk von andern berzeugungen und Wnschen angesiedelt ist. Weiterhin sind die berzeugungen und Wnsche im wirklichen Leben immer nur ein Teil eines grçßeren Komplexes von noch anderen psychischen Zustnden: Nebenabsichten, Hoffnungen, Befrch-
43 Damit sind zunchst die Grnde und Intentionen des Akteurs gemeint, die aber immer auch auf Intentionen, Prferenzen, Wnsche, Verhaltensweisen etc. von Anderen verweisen und diese – zumindest teilweise – mit einbeziehen.
III.1.3. Handeln und Handlungskontext
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tungen; ngste und Erwartungen; Gefhle der Enttuschung und der Befriedigung; und so weiter.44
Dabei konstituieren, prgen oder modifizieren Handlungen ihrerseits nicht so sehr als physische Einwirkung auf andere Objekte, sondern durch die mit ihnen verbundenen Interpretationen und Sinngebung wiederum den Kontext, in dem sie stehen, und dieser wird seinerseits als Hintergrund fr weitere Handlungen unterschiedlicher Akteure verstanden. Beispielsweise reagieren andere Subjekte verschieden, je nachdem, wie sie das Verhalten der Anderen durch den Handlungskontext deuten. Das handelnde Subjekt wird in den meisten Fllen nur dann zu einer Explikation seines Handelns aufgefordert werden, wenn dessen Sinn sich nicht selbst bzw. durch den Kontext eindeutig zu erschließen scheint: Etwa kann jemand in einer Versammlung gefragt werden, ob seine Armbewegung eine „Wortmeldung“ sei oder ob er sich – z. B. etwas versptet – noch an einer Abstimmung beteiligen will. Zu Missverstndnissen kann es gerade dann kommen, wenn nicht nachgefragt wird, weil der Kontext vermeintlich eindeutig ist: Hebe ich den Arm whrend einer Abstimmung in der Absicht, mich zu Wort zu melden, wohingegen die Redeleitung meine Bewegung als Stimmabgabe versteht, komme ich so lange nicht zu Wort, bis ich entweder mein Rederecht explizit einfordere oder meine Handlung aus anderen Grnden uminterpretiert und damit „richtig“ verstanden wird. In einem solchen Fall kann es dann sein, dass meine Bewegung als zwei Handlungen interpretiert wird. Dass die erste Handlung dabei gar nicht von mir beabsichtigt war, ndert nichts daran, dass meine erhobene Hand dennoch als Stimme gezhlt wird, zumindest so lange, wie ich nicht dazu auffordere, dass mein vorgebliches Votum unbercksichtigt bleibt – was wiederum voraussetzt, dass zumindest ich die Fehlinterpretation meiner Handlung erkannt habe. In komplexen Situationen oder Problemlagen ist deshalb immer wieder neu zu prfen und zu sortieren, ob und inwiefern Handlungen wirklich einem bestimmten Kontext eindeutig zugeordnet werden kçnnen; auch kann sich das, was als Kontext einer Handlung angesehen wird, mit dem Zeitpunkt der Reflexion ndern: Jahre spter entdecken wir mçglicherweise, welche bis dahin uns verborgenen Implikationen eine Handlung hatte und in welchem Kontext wir sie deshalb auch htten betrachten sollen 44 Searle, Intentionalitt, 180. – Auch wenn Searle selbst hier keine Form von Intersubjektivitt anfhrt, verweisen darauf doch alle von ihm genannten psychischen Zustnde und nicht zuletzt der von ihm hier verwendete Ausdruck des „wirklichen Lebens“, das immer kontextuell und damit intersubjektiv ist.
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III.1. Verantwortlich sein und Verantwortung haben
– und natrlich ist das ebenfalls nicht fr immer feststehend. Darber hinaus kann das, was als Grund einer Handlung angesehen wird, einem historischen Wandel unterliegen: Whrend z. B. jahrhundertelang der Verweis auf gçttlichen Willen oder gçttliche Gebote als Rechtfertigung fr Handlungen – auch außerhalb eines rein religiçsen Handlungskontextes – dienen konnte, sind theologische Argumente, zumindest in laizistischen Gesellschaften, heute allenfalls sehr eingeschrnkt als Handlungsgrund anerkannt. Insofern kann die Unterscheidung und eindeutige Festschreibung bestimmter Kontexte problematisch sein, auch wenn sie fr viele Handlungssituationen durchaus sinnvoll oder ntzlich sein mag. Die Interpretation einer Handlung wie die ihrer Grnde erfordert also die Einbeziehung relevanter Situations- oder Kontextmerkmale. Dabei ist nicht a priori festgelegt, welche Merkmale relevant sind, vielmehr verlangt diese Festlegung Urteilskraft. Erneut spielen unterschiedliche subjektive Dispositionen oder Prferenzen eine Rolle. So erachten Menschen etwa fr unterschiedlich relevant, was andere Menschen ber sie und ihr Handeln denken, und beziehen es dementsprechend in unterschiedlichem Maße in ihre Entscheidungsfindung ein. Whrend bei bestimmten Handlungsentscheidungen die Rcksicht auf Andere und die Einbeziehung ihrer Interessen eher nebenschlich sein kann, gibt es doch auch viele Entscheidungen, bei denen die Einbeziehung Anderer nicht mehr als Frage des persçnlichen Ermessens erachtet wird, sondern als notwendig, weil diese Anderen von der subjektiven Entscheidung offensichtlich oder unstrittig direkt oder mittelbar betroffen sind und deshalb ein Recht auf die Bercksichtigung ihrer Interessen haben.45 Folglich lassen sich – je nachdem, in welchem Kontext gehandelt wird – verschiedene Ansprche unterscheiden, die mit Handlungen und ihren Begrndungen verbunden werden. Hierauf soll im nchsten Abschnitt eingegangen werden.
III.1.4. Handeln und der Anspruch auf Rechtfertigbarkeit Das bislang vorgestellte Handlungskonzept impliziert, dass Subjekte, indem sie handeln, eine handlungsleitende Absicht zu realisieren suchen: Ohne diesen Realisierungsanspruch htten sie weder wirklich die Absicht zu handeln, noch wrden sie es tun. An der Verwirklichung dieser Absicht 45 Dass wir Andere nicht allein aus pragmatischen Erwgungen in unserem Handeln mit zu bercksichtigen haben, sondern auch aus einem moralischen Grund, werde ich im folgenden Kapitel ausfhrlicher erlutern.
III.1.4. Handeln und der Anspruch auf Rechtfertigbarkeit
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bemisst sich der Erfolg einer Handlung. Natrlich kçnnen Handlungen eine Absicht unterschiedlich gut realisieren. Jeder Urheber einer Handlung hofft oder glaubt im Allgemeinen – wenn auch hufig nur implizit –, dass sein Handeln seine Absicht auf „die beste Weise“ (optimal)46 erfllt oder zumindest besser als mçgliche Handlungsalternativen, da er sich sonst wohl nicht fr eben diese Realisierung seiner Absicht, sondern fr eine andere Option entschieden htte.47 Ob eine Handlung die ihr zugrunde liegende Absicht optimal erfllt, bemisst sich also zunchst daran, wie gut sie (im Vergleich zu den Handlungsalternativen) die Absicht des Handelnden realisiert.48 Dabei wird eine teleologische Handlungsrationalitt unterstellt, die auf starken Idealisierungen49 basiert: Eine isolierte oder isolierbare Absicht A vorausgesetzt sowie eine endliche, ebenfalls isoliert zu betrachtende Anzahl von diese Absicht realisierenden Handlungsoptionen, whlt jedes Subjekt immer diejenige Handlung, die seine Absicht am besten realisiert – jedes 46 Kohler definiert das bei einer Handlungsentscheidung gesuchte Beste als „die situationsgemße, universelle, eine bestimmte Handlung einfordernde Regel, die im Blick auf die in der Situation relevanten Kausalzusammenhnge aus der nach dem Kriterium der Intensitt gewonnenen letzten Zielsetzung abzuleiten ist und die zugleich die Bedingung der Nichtkollision erfllt“. (Kohler, Handeln und Rechtfertigen, 52.) 47 So betont E. Tugendhat, es gehçre „analytisch zu praktischen Fragen“, dass sie zu ergnzen seien durch die Frage, „was ist gut, besser, das Beste?“ (Ernst Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen, 193.) 48 Siehe hierzu auch Habermas’ Bestimmung eines pragmatischen Gebrauchs der Vernunft, wie er sie etwa in Habermas, „EzD“, 102 f., vornimmt. Siehe auch unten, 230 ff. 49 Denn auch wenn dieser Optimierungsanspruch, der zunchst subjektiv zu verstehen ist (siehe etwa Jon Elster, „Wesen und Reichweite rationaler Handlungserklrung“, 68.), grundstzlich fr jede Handlung besteht, kann es, wie Jon Elster einrumt, hufig schwierig sein, wirklich eine ganz bestimmte Handlung als die beste zu bestimmen, da es in vielen Handlungssituationen „mehrere gleiche und bestmçgliche Optionen geben“ kçnne. Elster folgert deshalb, dass eine eindeutige Handlungsoptimierung „generell nicht mçglich“ (65) sei, denn zum einen lasse sich optimales Handeln gar nicht immer eindeutig begrifflich fassen, zum anderen gebe es in manchen Fllen kein Optimum. Trotz dieser berechtigten Einwnde scheint es jedoch grundstzlich sinnvoll, an einem solchen Optimierungsanspruch unseres Handelns zumindest in Form einer regulativen Idee festzuhalten, da ohne den mehr oder weniger vagen, mehr oder weniger weit gefassten Anspruch, mçglichst optimal zu handeln, offen bleiben muss, woran sich Handelnde berhaupt orientieren, wenn sie sich fr eine Handlung und gegen mçgliche Alternativen entscheiden.
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III.1. Verantwortlich sein und Verantwortung haben
andere Handeln wre unter der Voraussetzung reiner Mittel-Zweck-Rationalitt nicht nachzuvollziehen und damit unbegrndet. Somit wre theoretisch vorhersehbar, wie jemand handelt und handeln soll. Dieses Modell basiert aber, wie gesagt, auf starken Idealisierungen. Denn Handlungsabsichten bestehen nicht fr sich, und nur selten lsst sich eine endliche Zahl isolierter Handlungsalternativen identifizieren, die sich dann eindeutig als mehr oder weniger geeignet bewerten ließen. Stattdessen handeln Menschen in einer Welt, in der Absichten, Grnde und auch Handlungen miteinander verflochten ein dichtes Netz bilden, das berdies nicht vom handelnden Subjekt allein konstituiert wird, sondern seine Bedeutsamkeit gerade aus der Mitkonstitution durch Andere gewinnt. Damit wir berhaupt entscheiden und entsprechend handeln kçnnen, wird dieses Netz in unseren Gedanken und Vorstellungen vereinfacht, werden bestimmte Elemente ausgeblendet, andere strker hervorgehoben.50 Dies tun wir nach Maßgabe unserer eigenen Wertvorstellungen und den (vermuteten) Bewertungen unserer Interaktionspartner. Je umfassender diese verschiedenen Faktoren bercksichtigt werden, als desto komplexer erweist sich der mit der Handlung verbundene Optimierungsanspruch und als desto weniger adquat das reine Modell der Mittel-Zweck-Rationalitt: Es wird dann nicht mehr allein zwischen klar definierten und eindeutig unterschiedenen vorgegebenen Handlungsalternativen gewhlt. Auch geht es nicht allein um das Beste fr das Handlungssubjekt, als wre jenes losgelçst von den Interessen und Bedrfnissen Anderer zu ermitteln. Stattdessen hat das Handlungssubjekt erst noch zu entscheiden, welche Bestandteile des Netzes berhaupt einbezogen werden – eine Entscheidung, die, sofern eine Person beansprucht, begrndet zu handeln, ihrerseits unter dem Anspruch steht, sich rechtfertigen zu lassen. Wenn, wie bisher argumentiert, Handlungen und Handlungsabsichten immer in einem Netzwerk aus vielen anderen Handlungen, Handlungsabsichten, berzeugungen, Wnschen etc. zu sehen sind und als Teil einer intersubjektiven Wirklichkeit auf andere Subjekte verweisen und durch diese wesentlich mitkonstituiert werden, lsst sich weiter folgern, dass die mit diesem Handeln verbundenen Ansprche ebenfalls nicht allein vor dem handelnden Subjekt, sondern auch vor Anderen bestehen. Das bedeutet zunchst, dass diese Anderen die Handlungen in ihrem Optimierungs50 Wie wichtig Abstraktion und Idealisierung bei der Entscheidungsfindung in der Wirklichkeit sind, belegen auch die verschiedenen Entscheidungstheorien – alle arbeiten mit Vereinfachungen, Wahrscheinlichkeiten und dem Ausblenden von als unwichtig erachteten Faktoren.
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anspruch nachvollziehen kçnnen. Im vollen Sinne als berechtigt erachten kçnnen sie solche Handlungen aber nur, wenn sie in der Handlungsentscheidung in dem Umfang mit bercksichtigt werden, in dem sie von den Handlungen betroffen51 sind (hierauf werde im nchsten Kapitel noch ausfhrlicher eingehen).52 Diese Forderung soll dabei nicht allein verstanden werden als ein Imperativ der Klugheit.53 Zwar ist anzunehmen, dass Menschen umso eher bereit sind, Handlungen Anderer als gerechtfertigt anzuerkennen und mit zu tragen, je mehr sie sich in diesen Handlungen mit bercksichtigt sehen – was fr das handelnde Subjekt nicht allein mehr persçnliche Anerkennung, sondern auch eine enorme Erleichterung bei der Durchsetzung seiner Interessen bedeutet. Doch auch 51 Die Betroffenheit ergibt sich zunchst aus der Beantwortung der Frage, auf wen eine Handlung oder eine ihrer Folgen eine objektive oder auch nur subjektiv empfundene Auswirkung hat. Darber hinaus lsst sich aber in einem weiten Sinne davon sprechen, dass Menschen eben als Menschen, die eine Welt miteinander teilen, von anderen immer schon betroffen sind. Aufgrund dieser basalen Betroffenheit durch Andere erachte ich Menschen als fundamental verpflichtet, Anderen gegenber immer noch begrnden zu mssen, warum sie bestimmte Handlungen, Entscheidungen oder Lebensweisen eben nicht weiter begrnden. (Siehe hierzu das nchste Kapitel der vorliegenden Untersuchung.) Zum Kriterium, Andere aufgrund ihrer Betroffenheit zu bercksichtigen, siehe auch Habermas’ Diskursprinzip bzw. Apels daraus abgeleitetes Handlungsprinzip: „(U) Jede gltige Norm muß der Bedingung gengen, daß die Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus ihrer allgemeinen Befolgung fr die Befriedigung der Interessen jedes einzelnen voraussichtlich ergeben, von allen Betroffenen zwanglos akzeptiert werden kçnnen.“ (Hier zitiert nach: Apel, DuV, 122.) Zu Apels Umformulierung in ein Handlungsprinzip siehe a. a. O., 123 f.; außerdem etwa Habermas, MuK, 75 f. u. 103 f. Habermas charakterisiert in Faktizitt und Geltung als betroffen „jeden, der von den voraussichtlich eintretenden Folgen einer Handlung einer durch Normen geregelten allgemeinen Praxis in seinen Interessen berhrt wird“. (Ders., Faktizitt und Geltung, 138.) 52 Diesen beiden Forderungen der Einbeziehung Anderer in die Handlungsentscheidung hat die Diskursethik, wie im Kapitel ber Apel ausfhrlich dargelegt, in den verschiedenen Fassungen ihres Diskurs- bzw. Handlungsprinzips Rechnung getragen, mit dem sie entweder Normen (Habermas) oder Maximen selbst (Apel) auf ihre intersubjektive Akzeptabilitt hin prft. (Siehe hierzu etwa die Formulierung in Apel, DuV, 123 sowie oben, Abschnitt II.2.1.4.) 53 Als solche hat Kant jene hypothetischen Imperative bezeichnet, die „die praktische Notwendigkeit der Handlung als Mittel zur Befçrderung der Glckseligkeit vorstellt“; hier ist anders als bei den bloß hypothetischen Imperativen der Geschicklichkeit vorausgesetzt, dass die zugrunde liegende Absicht „sicher und a priori bei jedem Menschen“ zu finden ist, „weil sie zu seinem Wesen gehçrt“. (Vgl. Kant, GMS, 415 f.; siehe zur Begrndung der Diskursethik auch oben, Abschnitt II.2.2.)
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abgesehen von solchen fundamentalen menschlichen Bedrfnissen nach gesellschaftlicher Anerkennung und unabhngig von pragmatischen Kalklen erachte ich Menschen generell als verpflichtet, ihr Handeln vor Anderen so weit zu rechtfertigen, wie diese davon betroffen sind. Nur falls Andere nicht davon tangiert sind und darber ein Konsens angenommen werden kann, erbrigen sich weitere Begrndungen. Bevor ich im nchsten Kapitel diese These nher erlutern werde, mçchte ich hier noch einmal betonen, dass ein Handlungskontext und, damit verbunden, eine Aussage darber, wer von einer Handlung betroffen ist und vor wem man sich rechtfertigen muss, nicht ein fr alle Mal feststeht, sondern sich ndern bzw. enger oder weiter gefasst werden kann.54 Je außergewçhnlicher und komplexer Handlungen und ihr jeweiliger Kontext sind, desto mehr bedarf es der Klrung – in Bezug auf die Handlung und auf die damit verbundenen Ansprche. Und umgekehrt gilt: Je standardisierter Handlungen und die Kontexte sind, in denen sie vollzogen werden, desto klarer scheint auch, welche Ansprche wem gegenber vorliegen und wie diese zu bewerten sind.55 Zu rechtfertigen ist dabei letzten Endes weniger, dass unsere Handlungen objektiv richtig sind, als dass sie intersubjektiv akzeptiert werden kçnnen.56 Dies als Anspruch, dass das eigene Handeln rechtfertigbar ist, oder kurz als Anspruch auf Rechtfertigbarkeit zu bezeichnen, scheint mir angemessener als die etwa von G. Kohler in diesem Zusammenhang verwendeten und hufig mit starkem Objektivittsanspruch konnotierten Termini des Wahrheits- und Richtigkeitsanspruchs.57 Gegen die Verwen54 Dem trgt die Diskursethik Rechnung, wenn sie daran festhlt, dass jede „inhaltliche und situationsbezogene Normenbegrndung […] mçglichst weitgehend als fallibel und revidierbar betrachtet“ werden msse. (Apel, DuV, 273.) 55 In diesen Fllen kçnnen wir sogar ohne große berlegungen handeln, einfach „im Rahmen und auf dem Boden selbstverstndlicher Gebruche, Dispositionen, Gewohnheiten und Routinen“. (Kohler, Handeln und Rechtfertigen, 15.) Wir mssen uns dann auch nur selten fr unser Handeln explizit rechtfertigen, gehen wir doch davon aus, „nicht ungerechtfertigt“ zu handeln. Dennoch kçnnen natrlich auch hier Fragen gestellt werden, die uns dazu zwingen, bislang selbstverstndliches und als berechtigt verstandenes Verhalten zu erklren und zu rechtfertigen. 56 Bei R. Brandom findet sich der in meinen Augen zunchst auch fr die hier mit Rechtfertigungsanspruch bezeichneten normativen Erwartungen treffende Begriff der „Berechtigung“: Fr ihn heißt, mit Grnden zu handeln, „zu den eigenen praktischen Festlegungen berechtigt zu sein“. (Vgl. Robert Brandom, „Handlung, Normen und praktisches Begrnden“, in: Begrnden und Begreifen, 122.) 57 Siehe hierzu Kohler, Handeln und Rechtfertigen, 171.
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dung dieser beiden Bezeichnungen spricht darber hinaus, dass Habermas sie in seiner Theorie des kommunikativen Handelns, ergnzt durch den Anspruch auf Wahrhaftigkeit, als diejenigen Geltungsansprche bestimmt, die speziell mit Sprechakten, also Handlungen, die von vornherein eine explizit formulierte Aussage beinhalten, erhoben werden. Fragwrdig scheint mir allerdings, ob diese Begrifflichkeit und die darin getroffenen analytischen Unterscheidungen ohne Einschrnkungen oder Ergnzungen auf Handlungen generell zu bertragen sind: Zwar sind Handlungen potentiell immer auf Sprache angewiesen, diese wird jedoch hufig erst zur nachtrglichen Explikation und Rechtfertigung eingesetzt. Der grundstzlich bestehende Zusammenhang von Handlungen und Intentionen ist in vielen konkreten Fllen ein so komplexer Prozess, dass die dabei implizit erhobenen Geltungsansprche nicht offensichtlich, sondern ihrerseits erst diskursiv zu ermitteln sind. Solange dies nicht real im Medium der Sprache reflektiert wurde, bleibt mehrdeutig, welchen Anspruch der Handelnde mit seiner Handlung verbindet (außer dem sehr allgemeinen, dass sie die optimale Realisierung seiner Handlungsabsichten ist).58 Aufgrund dieser berlegungen scheint mir fr den in dieser Arbeit weiter gefassten Handlungsbegriff der allgemeine Ausdruck „Anspruch auf Rechtfertigbarkeit“ der angemessenste, ist damit doch zunchst nur verlangt, dass sich das eigene Handeln in der ein oder anderen noch nher zu bestimmenden Weise vor Anderen rechtfertigen lsst – etwa als den eigenen Absichten dienend, die Interessen der Anderen ausreichend mit bercksichtigend oder hinsichtlich der Wahl der Mittel adquat. Damit entspricht „Anspruch auf Rechtfertigbarkeit“ allerdings insofern weitgehend Habermas’ Oberbegriff des Geltungsanspruchs, als einen Geltungsanspruch erheben immer auch heißt, dass wir die behauptete Geltung durch Grnde sttzen und somit vor anderen den Anspruch auf Geltung rechtfertigen kçnnen. Whrend Geltungsanspruch auf das dabei in Anspruch genom-
58 Apel hlt es fr eine jeglichem Argumentieren inhrente Forderung, „alle menschlichen Ansprche (auch die impliziten Ansprche von Menschen an Menschen, die in Handlungen und Institutionen enthalten sind) zu rechtfertigen“. In einer Anmerkung przisiert er, dass er unter Rechtfertigung „nicht jene definitive Rechtfertigung“ verstehe, „die es […] fr Stze (Behauptungen) der Wissenschaft nicht geben kann“. Dennoch sei es sinnvoll, an der Forderung nach „Rechtfertigung“ festzuhalten. Denn „die Kommunikationspartner haben in der Tat einen moralischen Anspruch darauf, von dem sie Ansprechenden darber unterrichtet zu werden, was alles rebus sic stantibus fr eine Behauptung – oder fr einen Antrag oder einen Vorschlag – spricht“. (Apel, Transformation der Philosophie, Bd. 2, 424.)
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III.1. Verantwortlich sein und Verantwortung haben
mene Ideal verweist, bestimmt die Rechtfertigbarkeit das Kriterium fr diese Geltung. hnlich wie die Interpretation einer Handlung vom Kontext, in dem sie stattfindet, mit bestimmt ist, hngt auch die Frage, welchen Rechtfertigungsanspruch eine handelnde Person vor wem mit welchen Grnden einzulçsen hat, von der Art der Handlung, ihrem Kontext und der Betroffenheit anderer ab: Je komplexer eine Handlung und der Kontext, in dem sie stattfindet, sind und je mehr Andere von ihr betroffen werden, desto weiter reicht auch der mit ihr verbundene Rechtfertigungsanspruch. Zur leichteren Orientierung ließe sich im Anschluss an Rainer Forst und Habermas eine Typisierung bestimmter Kontexte der Rechtfertigung59 vornehmen. Zu unterscheiden wre zunchst nach Habermas zwischen einem pragmatischen, einem ethischen und einem moralischen Rechtfertigungskontext.60 Bei pragmatischen Fragen gehe es „um eine rationale Wahl der Mittel bei gegebenen Zwecken oder um die rationale Abwgung der Ziele bei bestehenden Prferenzen“, bei denen unser Wille „faktisch durch Wnsche und Werte schon festgelegt“ sei.61 Hier berlegen und entscheiden wir allein „im Horizont der Zweckrationalitt mit dem Ziel, geeignete Techniken, Strategien oder Programme zu finden“62. Die Rechtfertigung einer solchen Handlung soll dann auch nur die gewhlten Mittel – etwa vor dem Vorgesetzten oder einem Kunden, die die vollzogene Handlung in Auftrag gegeben haben – als die geeignetsten oder effizientesten ausweisen.
59 Siehe hierzu vor allem Forst, Kontexte der Gerechtigkeit, 362 – 413, aber auch ders., „Praktische Vernunft“, 171 ff., und Jrgen Habermas, „Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft“, 102 – 118. Habermas spricht allerdings selbst nicht explizit von Rechtfertigungskontexten. – Kontexte der Rechtfertigung sind dabei nicht zu verwechseln mit dem im vorangegangenen Abschnitt verwendeten Begriff des Handlungskontextes. Dort ging es zunchst nur darum, berhaupt auf den Situationszusammenhang von Handlungen fr ihre Interpretation und Begrndung hinzuweisen, nicht aber schon darum, bestimmte Kontexte nher zu bestimmen, in denen wir uns – je nach Rechtfertigungsanspruch – zu rechtfertigen haben. 60 Siehe hierzu vor allem Habermas, „Pragmatischer, ethischer und moralischer Gebrauch der praktischen Vernunft“, wobei Habermas seine Unterscheidung zuweilen etwa durch einen rechtlichen Kontext ergnzt. (Siehe etwa ders., „Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft“, 674.) 61 Habermas, „Pragmatischer, ethischer und moralischer Gebrauch der praktischen Vernunft“, 102. 62 Ebd.
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Dagegen werden im ethischen Kontext Antworten auf die Fragen gesucht, „welches Leben man fhren mçchte“, also „welche Person man ist und zugleich sein mçchte“.63 Es gilt herauszufinden, was „auf lange Sicht und im ganzen ,gut ist‘“64 fr eine Person. Damit wird nicht mehr allein nach dem besten Mittel zur Realisierung eines bereits gesetzten Zieles gesucht, vielmehr sind die Ziele selbst hinsichtlich des eigenen Selbst- und Weltverstndnisses erst noch zu whlen und zu gewichten. Einzelne Handlungen sind dann auch nicht mehr einfach als besonders effizient, sondern als unserer Lebensplanung besonders gut entsprechend zu rechtfertigen. Anders als bei ethischen Fragen, die „auf das Telos je meines Lebens bezogen“ sind, wird im moralischen Kontext die egozentrische Perspektive dadurch transzendiert, dass hier gefragt wird, was gerecht fr alle ist.65 Andere Menschen werden also bei der Handlungsentscheidung nicht mehr allein im Hinblick auf ihre Bedeutung fr den Handelnden selbst mit bercksichtigt, vielmehr kommt ihnen ein Eigenrecht zu. Im moralischen Kontext sind Handlungen mithin so zu rechtfertigen, dass alle Menschen als Zwecke an sich selbst Bercksichtigung finden und Handlungen als gerecht fr alle gelten kçnnen. Analog zur Habermas’schen Unterscheidung differenziert R. Forst vier verschiedene Kontexte der Rechtfertigung. Neben dem ethischen und dem moralischen Kontext unterscheidet er einen rechtlichen und einen politischen: Im rechtlichen Kontext richten Menschen ihr Handeln an „Rechtsnormen“ aus, die „allgemein und verbindlich“ gelten.66 Hier erheben Menschen zunchst den Anspruch, dass sich ihr Handeln im Sinne der existierenden Rechtsordnungen als legal rechtfertigen lsst. Damit diese Rechtsnormen selbst als legitim gelten kçnnen, haben die Handelnden diese im politischen Kontext „als Brger wechselseitig“ zu rechtfertigen.67 Hierfr ist es erforderlich, dass Menschen sich „als Teil der Gemeinschaft“ verstehen und eine gemeinsame Sprache herausbilden, mit der sie sich in Diskursen gegenseitig Rede und Antwort stehen kçnnen.68 63 A. a. O., 103. – Siehe zu ethischen Kontexten auch Forst, „Praktische Vernunft“, 171 f. Forst differenziert hier noch weiter drei Dimensionen ethischer Rechtfertigung. 64 Habermas, „Pragmatischer, ethischer und moralischer Gebrauch der praktischen Vernunft“, 103. 65 Siehe a. a. O., 107 ff. 66 Forst, Kontexte der Gerechtigkeit, 396. 67 A. a. O., 401. 68 Ebd.
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III.1. Verantwortlich sein und Verantwortung haben
Die Festlegung und Typisierung bestimmter Rechtfertigungskontexte erleichtert gewiss die Entscheidung darber, welche Ansprche mit einer Handlung verbunden und welche Grnde fr ihre Rechtfertigung gefragt sind. Aber wie wir eine Handlung zuordnen und dementsprechend interpretieren, steht auch hier nicht ein fr alle Mal fest, sondern kann sich immer wieder ndern; trotzdem ist die Festlegung keinesfalls willkrlich, da sie sich auf berprfbare Tatsachen und Grnde sttzen muss. Die Frage etwa, aus welchen Grnden eine Frau ein Kopftuch trgt, kann sicherlich eine Frage ihrer persçnlichen Prferenz sein, die sich – je nach Gelegenheit, aktueller Mode oder Wetterumstnden – ndern kann. Gewçhnlich wrden die meisten hier berhaupt nicht nachfragen, sondern es fr eine persçnliche und situationsbezogene Entscheidung erachten, die keiner weiteren Rechtfertigung bedarf. Wird dieselbe Frau aber als Mitglied einer bestimmten Kultur- bzw. Religionsgemeinschaft gesehen, kçnnte sie vor sich selbst, ihrer Familie oder anderen Mitgliedern dieser Gemeinschaft ihre Wahl, ein Kopftuch oder kein Kopftuch zu tragen, auf andere Weise zu begrnden haben: dass sie den Koran auf diese oder jene Weise auslege oder bestimmte Vorstellungen von der Rolle einer Frau habe. Die Frage des Kopftuch-Tragens wird nun nicht mehr im pragmatischen Sinne, sondern als ethische Frage gestellt. Dieselbe Handlung kçnnte allerdings auch in einem politischen Kontext interpretiert und bewertet werden, wobei dann nicht mehr ber die Frage diskutiert wird, ob gerade diese Frau ein Kopftuch trgt oder nicht, sondern etwa darber, ob muslimische Frauen in çffentlichen Rumen generell ein Kopftuch tragen drfen (oder mssen). Schließlich kçnnte die Handlung auch in einem rechtlichen Kontext stehen, wenn etwa – wie in manchen Bundeslndern – Verordnungen fr den Schuldienst festlegen, dass das Tragen von Kleidungsstcken mit einem religiçsen Symbolwert gegen die weltanschauliche Neutralitt der çffentlichen Schule (oder deren christliche Grundorientierung) verstoße. Weil jede Handlung immer potentiell in unterschiedlichen Kontexten betrachtet werden kann (da diese nie als objektive Realitt beschrieben, sondern, wie bereits mehrfach betont, in nicht geringem Umfang auf wiederum zu begrndenden Konstruktionen und Festlegungen zwischen Subjekten beruhen und damit immer wieder neu hinterfragt werden kçnnen), scheint eine Hierarchie der Rechtfertigungskontexte umso dringender geboten. Diese basiert wesentlich auf der unterschiedlichen Reichweite von Geltungsansprchen, die wir in einem bestimmten Kontext mit einer Handlung erheben. Nach Habermas sind ethische Grnde
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gewichtiger als pragmatische und moralische wiederum gewichtiger als ethische Grnde.69 Denn whrend pragmatische Grnde, d. h. an ein bestimmtes (kurzfristiges) Ziel gebundene Grnde, „gegebenenfalls von ethischen Grnden, mit denen sich lngerfristige Interessen zur Geltung bringen,“70 berboten wrden, kçnnten diese von moralischen in Frage gestellt und außer Kraft gesetzt werden. Die Hçherwertigkeit von ethischen gegenber pragmatischen Grnden leitet Habermas also vor allem aus ihrem weiteren zeitlichen und rumlichen Horizont ab, dagegen hlt er Moral- und Rechtsgrnde71 auch deswegen fr berlegen, weil sie „aus einer dezentrierten Perspektive auf das ,fr alle gleichermaßen‘ Gute – oder Gerechte – ab[zielten]“72. Der Moral, die als ein „System von kategorisch verpflichtenden Normen“73 potentiell alle Menschen gleichermaßen zu bercksichtigen fordert und damit sowohl ber einen pragmatischen als auch einen ethischen Rechtfertigungskontext hinausgeht, ist folglich der Platz ganz oben in der Hierarchie einzurumen.74 Denn die hier beanspruchte universelle und unbedingte Geltung kann nicht durch die nur partikular und bedingt geltenden Interessen einzelner ausgehebelt werden: Eine moralische Forderung, etwa nicht zu lgen, kann allenfalls durch eine andere moralische Forderung, etwa das Leben Anderer zu schtzen, vorbergehend relativiert oder außer Kraft gesetzt werden, dabei bleibt jedoch deren grundstzliche Geltung unangetastet. Grundstzlich gilt, dass Menschen sich auch dann zu rechtfertigen haben, wenn sie der Auffassung sind, sich nicht weiter rechtfertigen zu mssen, indem sie begrnden, wieso Andere von ihrem Handeln und 69 Vgl. Habermas, „Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft“, 674 f. 70 A. a. O., 674. 71 Zwar sieht auch Habermas in Faktizitt und Geltung, dass dem positiven Recht, „ber die Legitimittskomponente der Rechtsgeltung, ein Bezug zur Moral eingeschrieben“ bleibe, gleichwohl warnt er davor, „die Moral dem Recht im Sinne einer Normenhierarchie berzuordnen“. Stattdessen sieht er die „autonome Moral und das auf Begrndung angewiesene positive Recht […] in einem Ergnzungsverhltnis“ zueinander stehen. (Habermas, Faktizitt und Geltung, 137.) Whrend das Recht in seiner Begrndung zwar auf die Moral angewiesen bleibt, bedarf die Moral in ihrer Verwirklichung des positiven Rechts, da dieses anders als die Moral „auch Handlungssystem“ sei. (137) 72 Habermas, „Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft“, 674 f. 73 Forst, „Moralische Autonomie“, 180. 74 Auf das in dieser Arbeit zugrunde gelegte Moralverstndnis werde ich unten, Abschnitt III.2.2., ausfhrlicher eingehen. – Zur These des Vorrangs der Moral siehe auch Martin Seel, Versuch ber Formen des Glcks. Studien zur Ethik, hier vor allem die Studie 4.
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Verhalten nicht betroffen sind. Dabei reicht es jedoch nicht, dass sie das aus ihrer eigenen Perspektive tun; sie mssen diese, wie Forst betont, zwar nicht aufgeben, wohl aber um die Grnde erweitern, „die andere geltend machen – und zwar nicht in Bezug darauf, wie ich leben soll, sondern welches Verhalten ich ihnen gegenber rechtfertigen kann“75.
III.1.5. Handeln und Verantwortung Handeln ist also intentional und basiert auf Grnden, es findet innerhalb einer mit Anderen geteilten Welt statt und ist generell mit dem Anspruch verbunden, dass es sich vor Anderen (davon Betroffenen) rechtfertigen lsst. Entsprechend hat Robert Brandom Handlung zunchst als das definiert, „fr das es grundstzlich angemessen ist, nach einem Grund zu fragen“, und daraus abgeleitet, dass „Handlungen (intentionale Akte) nur denjenigen zuerkannt [werden], die sich im Raum des Gebens und Verlangens von Grnden bewegen“ – welche er als diejenigen bestimmt, „die rational sind (oder als solche behandelt werden).“76 Insofern ist die den Begriff Verantwortung charakterisierende Forderung und Fhigkeit, das eigene Handeln durch Grnde zu rechtfertigen, bereits im Begriff des Handelns als vernnftiges oder an Vernunft orientiertes enthalten und damit den handelnden Menschen nicht erst nachtrglich von außen auferlegt. Da wir aber bei keinem Handeln wirklich ausschließen kçnnen, dass es nicht doch auch Andere betrifft, steht jegliches Handeln grundstzlich unter dem Anspruch, vor Anderen begrndet werden zu kçnnen.77 Die im ersten Teil dieser Arbeit entwickelte Bestimmung von Verantwortung als sprachlich verfasster Zurechnungsrelation eines Subjekts, das sich fr sein Handeln vor einer Instanz verantwortet, lsst sich damit weiter entfalten. Wurde dort argumentiert, dass das Verantwortungssubjekt ein des Handelns und der Sprache fhiges Wesen sein muss, so ist umgekehrt in der Handlungsfhigkeit immer schon vorausgesetzt, dass 75 Forst, Kontexte der Gerechtigkeit, 371. 76 Brandom, Expressive Vernunft, 358 f. – Siehe zu Brandoms Verstndnis von Handeln auch a. a. O., 259 u. 351. 77 Indem ich davon ausgehe, dass bei diesen Begrndungen die Bedrfnisse und Interessen aller von einer Handlung mçglicherweise Betroffenen mit zu bercksichtigen sind und selbst noch mit Grnden auszuweisen ist, inwiefern jemand von einer Handlung nicht betroffen ist, vertrete ich in dieser Arbeit einen anspruchsvolleren Begriff von Normativitt als Brandom. Hierauf werde ich im nchsten Kapitel ausfhrlicher eingehen.
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Menschen ihr Handeln auch vor Anderen als begrndet ausweisen und rechtfertigen – also in diesem Sinne verantworten kçnnen. Handeln und Verantwortung stehen also in einer Wechselbeziehung: Handelnde Subjekte sind auch verantwortliche Subjekte.78 Vorausgesetzt ist dabei die Sprache – nur vermittelt durch Sprache kçnnen Subjekte berhaupt handeln und verantwortlich sein, denn zum einen setzt die fr jede Handlung notwendige Intentionalitt ein sprachlich strukturiertes Bewusstsein voraus, zum anderen lassen sich Handlungsgrnde und der mit jedem Handeln erhobene Anspruch, das eigene Handeln rechtfertigen zu kçnnen, nur sprachlich – in Form eines Verantwortungsdiskurses – explizieren. Damit besteht die oben skizzierte Wechselbeziehung nicht nur zwischen Handeln und Verantwortung, sondern in hnlicher Form auch fr das Verhltnis von Verantwortung und Sprache: Wie VerantwortlichSein Sprache voraussetzt, so impliziert ber-Sprache-Verfgen die bernahme von Verantwortung. Denn weil Sprache intersubjektiv ist, verlangt sie von ihren Teilnehmern, dass diese sich in einer Weise an ihr beteiligen, die sie immer auch fr Andere nachvollziehbar sein lsst, und dass sie ihre Beitrge zur Wechselrede gegebenenfalls vor Anderen explizieren und rechtfertigen. In diesem Sinne kann Sprache selbst als Verantwortungspraxis beschrieben werden. Es geht nicht an, dauerhaft sprachliche ußerungen, die fr niemanden verstndlich sind, in den intersubjektiven Raum zu stellen, ohne auf die Nachfragen und Aufforderungen von Anderen einzugehen, sie zu erklren und zu begrnden. In der Sprache legen Menschen sich auf bestimmte Aussagen ber die Welt fest. Damit erheben sie zugleich den Anspruch, hierzu berechtigt zu sein.79 Diesen Anspruch 78 Ebenso vertritt Christine Korsgaard in ihrer an Kant angelehnten Moralphilosophie die These, jemanden fr verantwortlich zu halten sei auch entscheidend dafr, jemanden berhaupt als Person (d. h. als fhig, rational und moralisch zu handeln) anzuerkennen, wobei sie im Unterschied zu der hier vertretenen Position davon ausgeht, dass Verantwortung primr bernommen und weniger von außen zugeschrieben wird: „Responsibility is in the first instance something taken rather than something assigned. […] But in a broader sense it is not possible for us to avoid holding one another responsible. For holding one another responsible is the distinctive element in the relation of adult human beings. To hold someone responsible is to regard her as a person – that is to say, as a free and equal person, capable of acting both rationally and morally.“ (Christine Korsgaard, „Creating the Kingdom of Ends: Reciprocity and Responsibility in Personal Relations“, 189.) 79 Menschen reden natrlich auch Unsinniges. Tun sie dies aber unbeabsichtigt, sollten sie, sobald sie auf die Unstimmigkeiten aufmerksam gemacht werden, ihre Aussagen revidieren. Erzhlen sie aber gewolltermaßen Unsinn, sollten und kçnnen sie nicht beanspruchen, damit von Anderen fr voll genommen zu werden.
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III.1. Verantwortlich sein und Verantwortung haben
mssen sie, soll die sprachliche Praxis gelingen, vor Anderen gegebenenfalls mit Grnden rechtfertigen – d. h., auch hier mssen sie die Berechtigung ihrer Aussagen verantworten.80 Verantwortlich sind Menschen fr ihre Handlungen. Da einzelne Handlungen aber nur scheinbar und eher knstlich aus dem komplexen Geflecht von Tatsachen, Ereignissen, subjektiven berzeugungen und Wnschen etc., das den Handlungskontext konstituiert, isoliert werden kçnnen, beruht diese Bestimmung des Verantwortungsobjekts auf Abstraktion, die auch die Verantwortungspraxis selbst auszeichnet: In stark standardisierten Handlungssituationen mag das Verantwortungsobjekt einfach als eine Handlung und ihre Konsequenzen zu identifizieren sein – wobei auch hier immer noch die verschiedenen Handlungsabsichten und -grnde hinzukommen kçnnen, die die einfache Handlung unmittelbar zu einem ganzen Handlungskomplex ausweiten. Dann gilt es unter Umstnden, nicht nur die Handlungen selbst, sondern auch die zugrunde liegenden Absichten, die motivierenden Grnde etc. im Verantwortungsdiskurs zu rechtfertigen. Gerade angesichts einer in zunehmendem Maße als komplex und damit unberschaubar begriffenen Wirklichkeit – aufgrund der gesellschaftlichen und politischen Umgestaltung, der Vielzahl technischer Errungenschaften und zunehmend verschwimmender Vorstellungen von normativen Verbindlichkeiten81 – weitet sich das Verantwortungsobjekt immer mehr aus. Schließlich lsst sich kaum noch sagen, dass etwas prinzipiell nicht Objekt der Rechtfertigung werden kann, vielmehr kann alles, womit Handelnde sich den Blicken und Fragen von (eventuell) dadurch betroffenen Mitsubjekten aussetzen, auch Teil dessen werden, was sie vor Anderen rechtfertigen mssen.82 Damit wre einmal mehr die im ersten Teil vertretene Position bestrkt, dass die bei einigen Autoren vorzufindende Unterscheidung in prospektive und retrospektive Verantwortung eher zwei unterschiedliche zeitliche Perspektiven beschreibt als zweierlei Typen von Verantwortung. Die in80 Auch R. Brandom betont, dass „die Eigenschaft, ber propositionalen Gehalt zu verfgen, anhand von Praktiken des Lieferns und Forderns von Grnden zu verstehen ist“. Er fhrt weiter aus, dass „diese Praktiken als soziale Praktiken zu verstehen sind – ja als sprachliche. Der elementare Zug im Spiel des Lieferns und Forderns von Grnden ist das Aufstellen einer Behauptung – eine insofern propositional gehaltvolle Performanz, als sie das Liefern einer Begrndung sein kann und fr sie eine solche verlangt werden kann.“ (Brandom, Expressive Vernunft, 219.) 81 Vgl. Heidbrink, Kritik der Verantwortung, 10. 82 Siehe auch hierzu Kohler, Handeln und Rechtfertigen, 10 f. u. 191.
III.1.5. Handeln und Verantwortung
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hrente Verbindung zwischen Handeln, Sprache und Verantwortung basiert darauf, dass Menschen intentional und aus Grnden handeln und damit beanspruchen, dass dieses Handeln als begrndet anerkannt werden kann. Der im Verantwortungsdiskurs explizierte und verteidigte, mit jedem Handeln verknpfte Rechtfertigungsanspruch lsst sich dabei in beide Zeitrichtungen denken: (Prospektiv) verantwortlich sein heißt, die Infragestellung durch Andere, von unserem Handeln Betroffene, zu antizipieren und so zu handeln, dass diese die Grnde fr unsere Handlungen sowie die Handlungen selbst nachvollziehen und als gerechtfertigt akzeptieren kçnnen. (Retrospektiv) seiner Verantwortung nachkommen bedeutet, Handlungen im Nachhinein allen davon Betroffenen durch Grnde erklren und vor ihnen rechtfertigen zu kçnnen. Potentiell rechtfertigen mssen sich handelnde Subjekte vor all denen, die von ihren Handlungen betroffen sind oder sein kçnnten. Nie lsst sich jedoch abschließend bestimmen, fr wen dies der Fall ist und in welchem Ausmaß und wer deshalb ein konkretes „Recht auf Rechtfertigung“83 hat. Falls sich ein Handlungskontext ndert oder die Interpretation einer Handlung und daher jemand anderes nach Grnden fragt, muss auch diesem geantwortet werden – zumindest dann, wenn er seinerseits plausibel darlegen kann, dass er ebenfalls in relevanter Weise von der Handlung betroffen ist. Dennoch kçnnen wir, wie Brandom84 hervorhebt, davon ausgehen, dass im Alltag nur selten gefragt und geprft werden muss, wer zur Frage nach Rechtfertigung berhaupt berechtigt ist. Denn es „entsteht ein Grundlegungsproblem im allgemeinen nur, wenn eine Berechtigung niemals zuerkannt wird, bis und solange sie nicht nachgewiesen ist“85. 83 Forst betont, dass dieses basale Recht grundstzlich allen Menschen „qua ihrer Mitgliedschaft in der Menschengemeinschaft“ zukommt. (Forst, Kontexte der Gerechtigkeit, 262.) De facto wird dieses Recht vor allem dann in Anspruch genommen, wenn Menschen selbst direkt oder indirekt von Handlungen betroffen sind. 84 Allerdings bezieht sich Brandoms Argumentation an dieser Stelle auf Berechtigungsansprche bei Behauptungen allgemein und weniger auf Handlungen – ich halte sie aber insofern fr bertragbar, als er anschließend selbst hnlich in Bezug auf Handlungen argumentiert. Siehe hierzu aber die Kritik an Brandoms bertragung bei Jrgen Habermas, „Von Kant zu Hegel. Zu Robert Brandoms Sprachpragmatik“, hier vor allem den Abschnitt VI. 85 Brandom, Expressive Vernunft, 267. – Gleichwohl geht Brandom in seinem Modell von einer „Vorschuß- und Anfechtungs-Struktur der Berechtigung“ aus: „Wenn einem Sprecher eine Festlegung zugewiesen wird, wird hufig auch die Berechtigung zu ihr blind zugewiesen. Dieser prima facie-Status ist weder dauerhaft noch unerschtterbar, die Berechtigung zu einer behauptenden Festlegung kann ange-
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III.1. Verantwortlich sein und Verantwortung haben
Zwar kann jeder Akteur theoretisch immer die Explikation seiner Intentionen verweigern oder bewusst in Kauf nehmen, bestimmten Ansprchen nicht zu entsprechen. In diesem Fall verbindet ihn allerdings immer noch eine Art „Negativ-Anspruch“ mit den von seinem Handeln Betroffenen, nmlich sein Handeln eben nicht weiter rechtfertigen zu mssen, was er erneut rechtfertigen muss.86 Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, wie ich im nchsten Kapitel ausfhrlicher darlegen werde, eine weitere Verallgemeinerung: Es ist nicht eindeutig festgelegt, wer von einer Handlung betroffen ist und damit ein Recht auf Antwort und Rechtfertigung hat; generell kommt jedem Menschen dieses Recht zu. Da es generell von allen Menschen gegenber allen Menschen geltend gemacht werden kann, handelt es sich um ein unbedingtes universelles Recht, und dem entspricht eine moralische Pflicht. Der normative Rahmen, innerhalb dessen die Verantwortungsrelation zu verorten ist, wird generell dadurch vorgegeben, dass Menschen immer schon in einer intersubjektiv geteilten Wirklichkeit handeln, in der andere Subjekte nicht nur vom Handeln betroffen sind, sondern darber hinaus wesentliche Elemente unseres Handelns mit konstituieren. Dadurch ist jedes Subjekt in seinem Handeln abhngig von der Akzeptanz durch Andere, mit denen es zusammenlebt, die von seinem Handeln direkt oder indirekt betroffen sind und vor denen es sich deshalb rechtfertigen muss.87 Der konkrete normative Rahmen ist dann wesentlich dadurch bestimmt, welche besondere Art von Geltung jemand fr die Rechtfertigung seines Handelns beansprucht. Entsprechend meiner Ausgangsthese lsst sich damit zusammenfassend festhalten: Handeln in einer intersubjektiv geteilten Welt kann dann als rechtfertigbar und damit verantwortbar gelten, wenn alle von dieser fochten werden. Wenn sie angebrachterweise angefochten wird […], hat das zur Folge, daß die inferentielle und kommunikative Autoritt der korrespondierenden Behauptungen (ihre Fhigkeit, Berechtigung weiterzugeben) annulliert wird, es sei denn, ihr Vertreter kann die Festlegung durch Berechtigungsnachweis vindizieren.“ (268) 86 Dass Menschen immer noch rechtfertigen mssen, warum sie sich hier nicht weiter rechtfertigen zu mssen glauben, entspricht – in negativer Formulierung – dem Kern der moralischen Verpflichtung Anderen gegenber; daraus ergibt sich als positive Forderung, dass wir Andere immer da, wo sie von unserem Handeln betroffen sind, auf angemessene Weise mit bercksichtigen mssen und ihnen nach Maßgabe ihrer Betroffenheit Grnde fr unser Handeln schulden. 87 Die Apel’sche Diskursethik etwa trgt dieser primordialen Angewiesenheit auf Andere in ihrem Handlungsprinzip Rechnung. (Siehe etwa Apel, DuV, 123, aber auch oben, Abschnitt III.1.4.)
III.1.5. Handeln und Verantwortung
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Handlung potentiell Betroffenen dieses Handeln als gerechtfertigt anerkennen kçnnten. Voraussetzung hierfr ist neben der Fhigkeit des Subjekts zu handeln, dass die Beteiligten sich mit dem Handlungssubjekt ber dessen Handlungsabsichten und -grnde sowie ber ihre mçglicherweise davon tangierten Interessen verstndigen kçnnen, woraus sich ein Rechtfertigungsdiskurs ergibt. Verantwortung haben bzw. verantwortlich sein heißt also, diesen Anspruch (retrospektiv) durch die Angabe von intersubjektiv nachvollziehbaren und einsehbaren Grnden einzulçsen oder (prospektiv) das eigene Handeln daran zu orientieren, dass mçglichen berechtigten Rckfragen dazu zufriedenstellend geantwortet werden kann. Im Alltag mag dies ein kaum realisierbares Ideal sein, schon deshalb, weil es Interessenkonflikte geben kann und weil nie vollstndig bekannt ist, welche Interessen bei einer Handlung zu bercksichtigen sind, oder weil unklar ist, wer von einer Handlung betroffen ist und was jemand als gut begrndet akzeptieren wird. Gleichwohl kann und sollte dieses Ideal im Sinne einer regulativen Idee handlungsleitend sein.88
88 Auch diesen Gedanken werde ich in den nchsten beiden Kapiteln noch weiter erlutern, in denen es um die Fragen nach dem Grund von Verantwortung als moralischer Pflicht und nach einer verantwortlichen Praxis gehen wird.
III.2. Grundlagen moralischer Verantwortung Verantwortung haben bzw. verantwortlich sein bedeutet, den mit Handlungen1 erhobenen, wenngleich nicht immer explizit formulierten Anspruch, dass sie zu rechtfertigen sind, diskursiv einzulçsen bzw. einlçsen zu kçnnen2 – das war im Resmee die Antwort auf die erste in dieser Arbeit gestellte Frage, was Verantwortung ist, zu deren Klrung ich den inneren Zusammenhang zwischen Handeln und Verantwortung herausgearbeitet habe. Im nun folgenden Kapitel sollen die Fragen, warum Menschen berhaupt verantwortlich sind und ob bzw. inwiefern es sich dabei um eine moralische Pflicht handelt, erneut im Mittelpunkt stehen. Meine erste These, die ich in diesem Abschnitt weiter ausfhren mçchte, ist zunchst, dass Verantwortung konstitutiver Bestandteil zwischenmenschlicher Beziehungen ist, weil Menschen in der Sprache mit anderen Menschen Welt teilen, denen sie antworten und vor denen sie sich verantworten mssen. Andere ansprechend und von Anderen angesprochen anerkennen sie diese Anderen und erkennen dabei, dass sie ihnen Antworten und Grnde schulden. Dabei ist die Anerkennung anderer Menschen weniger zu verstehen als eine freie, willentlich von Menschen 1
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Menschen verbinden zwar mit jedem Handeln grundstzlich den Anspruch, dass es sich rechtfertigen lsst. Jedoch erheben sie, wie bereits betont, je nach Handlung und je nach dem diese wesentlich mitbestimmenden Kontext unterschiedlich weit reichende Ansprche, die sie damit auch vor jeweils Anderen rechtfertigen mssen: Whrend sie etwa bei banalen alltglichen Entscheidungen berechtigt davon ausgehen, dass sie eine persçnliche Entscheidung treffen, die in den meisten Fllen niemand anderen wirklich etwas angeht, betreffen andere Handlungen – etwa, wenn ein Unternehmen entscheidet, einen Großteil seiner Beschftigten zu entlassen – nicht nur eine betrchtliche Anzahl von unmittelbar Beteiligten, sondern auch deren soziales Umfeld, die Politik, die ffentlichkeit etc., die daher legitimerweise Rechtfertigungsansprche an die Entscheidungsinstanz des Unternehmens stellen. Fr alle denkbaren Flle gilt, so werde ich im Folgenden argumentieren, dass Menschen generell immer zumindest dazu verpflichtet sind zu rechtfertigen, warum sie sich in bestimmten Fllen fr ihr Handeln nicht rechtfertigen. Siehe hierzu Brandom, Expressive Vernunft, 359: „Zum Eingehen irgendwelcher diskursiver Festlegungen gehçrt eine bedingte Verantwortung, die Berechtigung zu ihnen nachzuweisen.“
III.2.1. Sprache – Anspruch – Anerkennung
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getroffene Entscheidung, sondern vielmehr als die besondere Haltung, die Menschen Anderen gegenber immer schon einnehmen. Die zweite These, die ich im Anschluss daran im nchsten Abschnitt weiter entwickeln werde, besagt: Verantwortung ist darber hinaus im Sinne einer moralischen Pflicht3 zu verstehen; allgemein haben sich Menschen gegenber jedem Menschen als Menschen zu verantworten.
III.2.1. Sprache – Anspruch – Anerkennung Bereits im letzten Kapitel bin ich auf den inhrenten Zusammenhang zwischen Verantwortung, Handeln und Sprache eingegangen. Dabei habe ich konstatiert, dass Verantwortlich-Sein und ber-Sprache-Verfgen sich gegenseitig implizieren. Im Folgenden mçchte ich diesen Zusammenhang in vier Schritten noch weiter ausfhren:4 1.) In der Sprache teilen Menschen eine Welt, die selbst durch und durch sprachlich verfasst ist; 2.) als der Sprache fhige Wesen sprechen Menschen Andere an und sind selbst angesprochen und somit aufgefordert, Anderen zu antworten; 3.) in ihren Antworten erkennen und anerkennen Menschen Andere als Menschen, denen sie Antworten und gute Grnde schulden; 4.) Verantwortung ist konstitutiv fr die Weise, wie Menschen in der Sprache mit anderen Menschen Welt teilen. 1.) Sprache wird allgemein verstanden als Raum oder Medium,5 in dem Menschen einander sich, ihre Sicht auf die Welt und die der Anderen 3
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Pflichten unterscheiden sich nach Rawls darin wesentlich von Verpflichtungen, dass wir uns nicht aussuchen, ob wir ihnen unterstehen. (Vgl. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 134 ff.; siehe zu dieser Unterscheidung auch Rainer Forst, „Die Pflicht zur Gerechtigkeit“, hier insbesondere 190 ff.) Gleichwohl kçnnen wir uns auch ber Pflichten hinwegsetzen – andernfalls ließe sich gar nicht mehr von Handlungen sprechen. Doch dass eine Pflicht, nur weil Menschen gegen sie verstoßen, ihren unbedingten und universellen Geltungsanspruch nicht verliert, lsst sich am Beispiel des kategorischen Imperativs zeigen: Auch wenn Menschen faktisch permanent gegen das Moralgesetz handeln, verliert dieses nach Kant nicht seine Gltigkeit. Gleichzeitig wren wir aber dem Moralgesetz gar nicht unterworfen, wenn wir unausweichlich nach ihm handeln wrden – wir mssen, um berhaupt handeln zu kçnnen, auch gegen das Moralgesetz verstoßen kçnnen. Es kann hier selbstverstndlich nicht darum gehen, einen eigenen sprachtheoretischen Ansatz zu entwickeln, sondern allein darum, deutlicher zu machen, wie eng Verantwortung mit der menschlichen Fhigkeit zu sprechen verbunden ist. Wilhelm von Humboldt hat in einem Brief an Schiller die Auffassung vertreten, die Sprache sei „wenn nicht berhaupt, doch wenigstens sinnlich das Mittel, durch
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III.2. Grundlagen moralischer Verantwortung
mitteilen und teilen und dabei miteinander sind. Dabei setzt Sprache immer voneinander getrennte Wesen voraus – es bedrfte keiner sprachlichen Vermittlung, wenn es nicht die Trennung zwischen dem Ich und den Anderen gbe.6 Bestnden indes zwischen diesen voneinander kçrperlich getrennten Wesen nicht zugleich Formen der Verbundenheit, wre ebenfalls kein sprachlicher Austausch mçglich. Menschen kçnnen sich nur verstndigen, weil sie als in ihrer Wahrnehmung ansonsten getrennte Wesen in einer gemeinsamen Sprache Welt teilen kçnnen.7 Damit ist Sprache, wie Hans-Georg Gadamer im Anschluss an Wilhelm von Humboldt hervorhebt, „nicht nur eine der Ausstattungen, die dem Menschen, der in der Welt ist, zukommt, sondern auf ihr beruht, und in ihr stellt sich dar, daß die Menschen berhaupt Welt haben“8. Dass die
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welches der Mensch zugleich sich selbst und die Welt bildet oder vielmehr seiner dadurch bewußt wird, daß er eine Welt von sich abscheidet“. (Wilhelm von Humboldt, Kleine Schriften – Autbiographisches – Dichtungen, Briefe, Band 5, 196.) – Unter Medium ist hier nicht ein Mittel zu einem anderen Zweck zu verstehen, sondern eine Art Zwischenbereich, der Menschen, obwohl sie getrennt sind, verbindet: Dies scheint mir mit der Metapher eines Raums, in dem wir uns bewegen, ohne dass immer genau feststeht, wo und wie die Grenzen verlaufen und wo wir uns befinden, gut wiedergegeben. – In seinem Aufsatz „Das Wesen der Sprache bezeichnet Heidegger in Anlehnung an Stefan George Sprache als „Haus des Seins“ (166); fr treffender, weil offener halte ich seine aus demselben Vortrag stammende Formulierung, „daß der Mensch den eigentlichen Aufenthalt seines Daseins in der Sprache“ habe. (Heidegger, „Das Wesen der Sprache“, 159.) Eine Ausnahme bildet scheinbar das Selbstgesprch, das ich aber fr eine vom Dialog abgeleitete Form von Sprache halte. Zwar macht jeder Mensch seine eigenen Erfahrungen. Da Menschen aber nie unabhngig von Anderen sind, sondern – in mehr oder weniger engem Sinne – immer mit Anderen diese Welt teilen, sind natrlich auch Erfahrungen nie unabhngig von anderen Menschen: Einerseits sind diese immer auch Objekt von Erfahrung, andererseits bestimmen sie aber auch die Art und Weise von Erfahrung. Habermas etwa unterscheidet deshalb zwischen der prinzipiell einsamen Erfahrung des Beobachters und der intersubjektiv vermittelten Erfahrung des sinnverstehenden Interpreten: „Der Beobachter macht seine Erfahrung prinzipiell einsam, auch wenn das kategoriale Netz, in dem Erfahrungen als Objektivitt beanspruchende Erfahrungen organisiert sind, immer schon von mehreren (oder gar allen) Individuen geteilt wird. Der sinnverstehende Interpret hingegen macht seine Erfahrung grundstzlich als Kommunikationsteilnehmer auf der Grundlage einer durch Symbole hergestellten intersubjektiven Beziehung mit anderen Individuen, auch wenn er sich faktisch mit einem Buch oder einem Dokument oder einem Kunstwerk allein befindet.“ (Jrgen Habermas, „Was heißt Universalpragmatik“, 184.) Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzge einer philosophischen Hermeneutik, Band 1, 446 f.
III.2.1. Sprache – Anspruch – Anerkennung
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Welt fr den Menschen als Welt da ist, „wie sie fr kein Lebendiges sonst Dasein hat, das auf der Welt ist“, liegt also wesentlich in der sprachlichen Verfasstheit der Welt begrndet; umgekehrt ist Welt „der gemeinsame, von keinem betretene und von allen anerkannte Boden, der alle verbindet, die miteinander sprechen“, und Sprache bildet „durch den Vollzug der Verstndigung erst [deren] Wirklichkeit. Deshalb ist sie kein bloßes Mittel zur Verstndigung“9 vielmehr konstitutiv fr die Weise, in der Menschen miteinander in dieser Welt sind. Gleichzeitig ist aber Sprache nicht nur fr die spezifisch menschliche Weise, Welt zu haben und zu teilen, konstitutiv, ebenso lsst sich Sprache nicht anders denn als Ausdruck von Welt verstehen. Welt haben und der Sprache teilhaftig sein implizieren einander. Denn die Welt ist, wie Gadamer treffend festhlt, „nur Welt, sofern sie zur Sprache kommt“, umgekehrt kann Sprache „ihrerseits gegenber der Welt, die in ihr zur Sprache kommt, kein selbstndiges Dasein behaupte[n] […] – die Sprache hat ihr eigentliches Dasein nur darin, daß sich in ihr die Welt darstellt“.10 Etwas spezifischer ist Sprache nicht nur der Grund und allgemeine Ausdruck einer intersubjektiv geteilten Welt, vielmehr stellt sie auch das Medium dar, in dem Menschen sich gegenseitig als Subjekte erfahren und die Welt als eine, die von anderen Subjekten gleichfalls erlebt wird; in der Sprache teilen sich die Subjekte mit 11 und kommunizieren, wie sie einander und die Welt erfahren, wie sie miteinander und mit der Welt agieren und interagieren.12 In einer gemeinsamen Sprache haben Menschen also
9 A. a. O., 450. 10 A. a. O., 446 f. 11 Mitteilung und speziell die Fhigkeit, sich mitzuteilen, ist fr Gadamer so etwas wie die Bedingung der Mçglichkeit dafr, dass „es berhaupt […] unter den Menschen ein Meinen des Gemeinsamen gibt, d. h. gemeinsame Begriffe und vor allem diejenigen gemeinsamen Begriffe, durch die das Zusammenleben der Menschen ohne Mord und Totschlag, in der Form des gesellschaftlichen Lebens, in der Form einer politischen Verfassung, in der Form eines arbeitsteilig gegliederten Wirtschaftslebens mçglich ist“. (Hans-Georg Gadamer, „Mensch und Sprache“, in: Wahrheit und Methode. Ergnzungen Register, Band 2, 146.) Sprache ist die Metainstitution, durch die erst andere Formen von Institutionen mçglich werden. Ich werde darauf im nchsten Kapitel zurckkommen. 12 Diese Erfahrung kommt, wie Gadamer betont, selbst nicht ohne Sprache aus: „Wir sind in allem unserem Denken und Erkennen immer schon voreingenommen durch die sprachliche Weltauslegung, in die hineinwachsen in der Welt aufwachsen heißt.“ (A. a. O., 150.)
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III.2. Grundlagen moralischer Verantwortung
berhaupt erst eine (geteilte) Welt,13 und in der Wechselrede wird die Welt fr die sich ber sie verstndigenden Subjekte zu einer bedeutsamen Welt. 2.) Gleichzeitig sprechen Menschen, indem sie ber und von etwas sprechen, Andere an und erfahren sich selbst von diesen als Gegenber angesprochen. Denn mit jeder Aussage, Frage, Aufforderung, Interaktion etc. ist nicht nur ein Sprecher impliziert, und es geht nicht nur um „Stze“, d. h. um eine Mitteilung von Inhalten14 ber diese Welt. Mit jedem Sprechakt wird auch immer eine Person angesprochen, mag diese auch, etwa in Reden oder bei literarischen Werken, ein abstraktes Kollektiv oder, wie im Selbstgesprch, das eigene Ich15 sein. Sprache hat neben – vielleicht sogar vor – der mitteilenden eine phatische Funktion, mit der sie den Kontakt zum Anderen herstellt oder hlt.16 Der Sprechakt setzt grundstzlich ein Gegenber voraus, denn ohne einen Adressaten ginge er ins Leere und wre gar nicht vorstellbar. Ein solcher Adressat muss, damit er berhaupt angesprochen werden kann, wesentlich als vom sprechenden Subjekt getrennt und darf auch nicht einfach nur als Vorstellung des sprechenden Subjekts gedacht werden. So hat Lvinas bereits in Totalitt und Unendlichkeit betont: … in ihrer Ausdrucksfunktion untersttzt die Sprache gerade den Anderen, an den sie sich wendet, den sie anruft oder an den sie appelliert. Gewiß besteht die Sprache nicht darin, den Anderen als vorgestelltes oder gedachtes Seiendes anzurufen. Aber eben darum stiftet die Sprache eine auf Subjekt-ObjektVerhltnis nicht zurckfhrbare Beziehung: die Offenbarung des Anderen. Nur im Rahmen dieser Offenbarung kann sich die Sprache als System von Zeichen konstituieren. Der angerufene Andere ist kein Vorgestelltes, kein Gegebenes, kein Besonderes, das sich von einer Seite her schon der Verallgemeinerung anbietet. Weit davon entfernt, Universalitt und Allgemeinheit vorauszusetzen, macht die Sprache sie allererst mçglich. Die Sprache setzt Gesprchspartner voraus, eine Pluralitt. Ihr commercium, ihre Gemeinschaft, besteht weder darin, daß der eine den Anderen vorstellt, noch besteht sie in der Teilhabe an der Universalitt, an dem Gemeinsamen der Sprache. Ihre Gemeinschaft […] ist ethischer Art. […] Die Beziehung der Sprache setzt die Transzendenz voraus, die radikale Trennung, die Fremdheit der Gesprchspartner, den Anderen, der sich mir 13 Auch Maurice Merleau-Ponty beschreibt in seiner Phnomenologie der Wahrnehmung den Dialog als die Verbindung zwischen zwei Subjekten, die ihnen berhaupt ermçglicht, eine gemeinsame Welt zu haben. (Vgl. etwa Maurice Merleau-Ponty, Phnomenologie der Wahrnehmung, 406.) 14 Diese Inhalte mssen nicht unbedingt als Aussagestze formuliert sein, wird doch auch in einem Befehl, einer Interjektion immer schon Welt sprachlich vermittelt. 15 Das „Ich“ fungiert wie gesagt im Selbstgesprch aber immer als ein Gegenber. 16 Bestimmte Sprechakte dienen vor allem dieser phatischen Funktion.
III.2.1. Sprache – Anspruch – Anerkennung
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offenbart. Anders gesagt: Die Sprache wird da gesprochen, wo die Gemeinsamkeit der aufeinander bezogenen Termini fehlt, wo die gemeinsame Ebene fehlt, wo sie erst konstituiert werden muß. Die Sprache steht in dieser Transzendenz.17
Jemanden ansprechen bedeutet aber gleichzeitig vorauszusetzen, dass die angesprochene Person antworten kann und antwortet,18 und darber hinaus, dass diese Person nicht nur antwortet, sondern auf den Sinn des an sie gestellten Anspruchs eingeht und damit auf den Sachverhalt und vor allem auf die Intention des Anspruchs.19 Diese Erwartungen werden oft nur in Anstzen oder gar nicht erfllt. Gleichwohl: Dass Erwartungen mit dem (An-)Sprechen verbunden sind, zeigt sich deutlich, wenn beispielsweise ein Unverstndnis oder Missverstndnis oder das Ausbleiben einer Reaktion denjenigen, der einen Anderen angesprochen hat, verrgert, enttuscht oder beunruhigt. Auch in aktuellen Debatten ber den Begriff der Verantwortung20 wird speziell in Bezug auf moralische Ansprche (moral address) vielfach betont, dass Menschen bei Anderen immer schon eine Bereitschaft oder Fhigkeit, sie zu verstehen und dementsprechend zu handeln, voraussetzen, wenn sie sich mit einer sprachlichen ußerung an sie wenden.21 Dabei gehe es weniger darum, ob faktisch ein Adressat ber diese Eigenschaften verfgt, vielmehr darum, dass Menschen sich an Andere richten, „on the assumption that they can understand and be guided by what we are saying“22. 17 Siehe hierzu Lvinas, TU, 99 [45]. 18 Dieser unausgesprochene Anspruch scheint mir auch konstitutiv fr das, was Lvinas mit der aller aktualisierten Sprache (dem, was er als „Gesagtes“ bezeichnet) zugrunde liegenden Struktur des „Sagens“ bezeichnet hat. Siehe hierzu auch oben, Abschnitte II.3.2.1. bis II.3.2.3. 19 Die Kommunikationstheorie spricht von Verstndigung auf der „Inhalts- wie auf der Beziehungsebene“. (Vgl. Paul Watzlawick, Janet Beavin Bavelas und Don D. Jackson, Menschliche Kommunikation. Formen, Stçrungen, Paradoxien, 53 ff.) 20 Ich beziehe mich hier auf Autoren wie Gary Watson und den an Watson anknpfenden Stephen Darwall. Siehe vor allem Gary Watson, „Responsibility and the Limits of Evil: Variations on a Strawsonian Theme“, 256 – 286; Darwall, The Second-Person Standpoint. 21 Darwall, The Second-Person Standpoint, 75. 22 Ebd. – Anders als etwa Lvinas beschreibt Darwall die Beziehung, die wir zu Anderen in der zweiten Person haben, von Beginn an als eine reziproke Beziehung. Dies kçnnte damit zusammenhngen, dass er sie weniger aus der Perspektive einer der beiden Teilnehmer sieht, als vielmehr aus einer Art Vogelperspektive, in der die Beziehung des einen zum Anderen sich spiegelt in der des Anderen zum einen. Auch wenn Lvinas immer wieder die Asymmetrie in der ethischen Beziehung betont, schließt er Reziprozitt auf der Bewusstseinsebene keineswegs aus. (Siehe
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III.2. Grundlagen moralischer Verantwortung
Doch auch ohne aktuell angesprochen zu sein, sind Menschen als sprachliche Wesen immer schon potentiell angesprochen – bereits dadurch, dass sie grundstzlich von der Rede Anderer erreicht werden, sind sie der Sprache23 teilhaftig und sprachliche Wesen und haben als solche die Mçglichkeit, mit anderen Menschen Welt zu teilen. Indem Menschen nicht umhin kçnnen, angesprochen zu sein, kçnnen sie sich auch einer Antwort (im erweiterten Sinn einer Reaktion) nicht entziehen.24 Denn sobald Menschen als Adressaten „von einem An-spruch, einem Ansprechen, das einen Anspruch erhebt, getroffen“25 sind, ist, so Bernard Waldenfels, jedes darauf folgende Handeln und Verhalten – ob positiv oder negativ – auf diesen Anspruch bezogen und damit nolens volens eine Antwort: „Selbst wer sich weigert zu tun, wozu er aufgefordert wird, selbst wer die Aufforderung als unzulssige Zumutung empfindet oder sich zu etwas verleiten lßt, was ihn nachtrglich reut, hat sie vernommen“26 und zeigt dies in seinem Verhalten, das von Anderen als Antwort aufgefasst wird. Sogar in einer zugespitzten Konfliktsituation ist es, wie Christine
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hierzu auch oben, Abschnitt II.3.3.2.) So plausibel ich den Grundgedanken finde, Moralitt aus der (ersten und) zweiten Person-Perspektive, also aus der Teilnehmerund nicht der Beobachter-Perspektive zu beschreiben, so scheint mir bei Darwall doch das Phnomen insofern nicht richtig getroffen, als unklar bleibt, wie man berhaupt den Standpunkt der zweiten Person einnehmen kann. In der moralischen Beziehung stehen wir selbst in der ersten Person jemandem gegenber, den wir als Du – in der 2. Person – ansprechen und der uns aus seiner Sicht – wiederum der 1. Person – gleichzeitig als Du anspricht. Niemand vertritt damit wirklich den Standpunkt der 2. Person, sondern richtet sich nur in der sprachlichen Form der 2. Person an den Anderen und wird von ihm ebenfalls in der 2. Person angesprochen. „Rede“ und „Sprache“ und die verwandten Begriffe sind – das sei noch einmal betont – in diesem Zusammenhang immer umfassend im Sinne des kommunikativen Austauschs kodierter bedeutungshaltiger Zeichen zu verstehen. Das heißt, dass auch Menschen, die z. B. aufgrund von Krankheit, Schwche oder einer Behinderung im umgangssprachlichen Sinne nicht sprechen kçnnen, sich gleichwohl ber Gesten und Gebrden verstndlich machen und damit kommunizieren. Nicht erst Paul Watzlawick hat deshalb als ein Axiom der Kommunikationstheorie festgehalten, dass man nicht nicht kommunizieren kçnne; bereits Merleau-Ponty weist in seiner Phnomenologie der Wahrnehmung auf die Unmçglichkeit von Nicht-Kommunikation hin; denn auch „die verweigerte Kommunikation“ sei immer noch als „eine Weise der Kommunikation“ zu verstehen. (Merleau-Ponty, Phnomenologie der Wahrnehmung, 413.) Bernhard Waldenfels, Bruchlinien der Erfahrung. Phnomenologie, Psychoanalyse, Phnomenotechnik, 127. Ebd.
III.2.1. Sprache – Anspruch – Anerkennung
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Korsgaard feststellt, nicht mçglich, die an uns gerichteten sprachlichen ußerungen des Anderen einfach als Gerusch, das uns nicht angeht, zu ignorieren, und das bedeutet zugleich, dass wir nicht umhin kçnnen, den Anderen als Menschen wahrzunehmen, der uns als Menschen anspricht: […] it is impossible to hear the words of a language you know as mere noise. In hearing your words as words, I acknowledge that you are someone. In acknowledging that I can hear them, I acknowledge that I am someone. If I listen to the argument at all, I have already admitted that each of us is someone.27
Sicherlich kommt es dennoch vor, dass jemand eine an ihn gerichtete Aufforderung nicht versteht. Fr gewçhnlich lsst seine Reaktion jedoch erkennen, dass er zwar verstanden hat, von jemandem angesprochen zu sein, nur den Inhalt dieses an ihn gerichteten Anspruchs nicht begreift (oder die implizierte Beziehungszumutung nicht akzeptiert). Denn selbst dann, wenn Menschen unvermutet in einer ihnen vollkommen fremden Sprache angesprochen werden, verstehen sie zumeist, dass ihnen jemand irgendetwas mitteilen will. Bleibt aber wirklich jede Form von Reaktion aus, wird der Sprecher noch auf die wahrgenommene Indifferenz des Angesprochenen28 reagieren, indem er das Gesagte entweder genauso oder anders – eventuell in einer anderen Sprache – wiederholt: Auch wenn der Andere ihn partiell oder generell nicht versteht, nimmt der Ansprechende das als richtungsweisend fr sein weiteres Handeln. Hufig wird dann versucht werden, zunchst darber zu kommunizieren, wie man sich berhaupt verstndlich machen kann, um nach gelungener Meta-Kommunikation in einem zweiten Schritt die inhaltliche Verstndigung falls mçglich wieder aufzunehmen. Sprechen, Angesprochen-Werden, Antworten sind also nicht voneinander zu trennende Bestandteile oder Aspekte von Interaktionsprozessen. Diese sind zwar ohne verbale Artikulation29 kaum mçglich, finden jedoch nicht ausschließlich auf dieser Ebene statt. So muss auch eine Antwort nicht unbedingt rein verbal sein, sondern kann – wie vor allem im Englischen response und im Franzçsischen rponse – in einigen Fllen einfach in einer non-verbalen Reaktion30 bestehen. Auch im Deutschen kann „Antwort“ 27 Christine Korsgaard, The Sources of Normativity, 143. 28 Diese wird dann auch schon fast im Sinne einer Reaktion oder einer Antwort ausgelegt. 29 Und sei es in Gebrdensprache. 30 Zumeist als re-actio auf eine durch das Handeln (actio) Anderer zustande gekommene Situation.
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III.2. Grundlagen moralischer Verantwortung
und „antworten“ im bertragenen Sinne verwendet werden, etwa wenn davon gesprochen wird, dass jemand auf den Angriff mit einem Gegenangriff geantwortet habe oder dass jemand mit einer Entscheidung auf die sich ihm als unertrglich darstellende Situation antwortet. 31 Gleichwohl finden alle Handlungen nicht in einer vor- oder neben der Sprache liegenden, sondern durch und durch sprachlich strukturierten Welt statt. 3.) Allgemein kann jedes Sprechen oder Handeln im Sinne einer Antwort auf Andere verstanden werden – steht es doch schon immer in Bezug zu vorausgegangenen Sprach- oder Handlungssequenzen, denen es mehr oder weniger explizit Rechnung trgt. In diesem Sinne antworten Menschen als sprachliche Wesen notwendig. Indem sie antworten, bekunden sie nicht allein sich als sprachliche Subjekte, sondern sie anerkennen zugleich den Anderen oder die Anderen als sie ansprechende Personen.32 Diese Anerkennung vollzieht sich dabei jedoch zumeist gerade nicht in kognitiver Weise33 in dem Sinne, dass Menschen Andere „als ansprechende Personen“ erkennen, vielmehr haben sie Andere, indem sie ihnen antworten, implizit immer schon anerkannt: Denn ebenso, wie bei jedem Sprechakt ein Adressat mit zu denken ist, antworten Menschen auch nur, wenn sie jemandem auf seine Mitteilung, seine Frage, seine Erwartung, sein direkt oder indirekt an sie gerichtetes Handeln antworten. Die hier mit „Anerkennung“ beschriebene Weise, wie wir andere Menschen erfahren, transzendiert nicht nur die Sinneswahrnehmung,34 sie ist auch weniger als 31 Nur Beantwortung bezieht sich ausschließlich auf sprachlich formulierte Fragen. 32 Siehe hierzu noch einmal das Zitat von Christine Korsgaard im letzten Abschnitt, in dem sie nicht nur die Unmçglichkeit betont, Worte einer uns bekannten Sprache als reines Gerusch zu hçren, sondern auch hervorhebt, dass wir dabei nicht umhin kçnnen, denjenigen, der sie ußert, als ein jemand anzuerkennen, der uns anspricht. 33 Als eine solche vor-kognitive Bezogenheit auf andere Menschen wird diese Anerkennung gegenwrtig u. a. von Axel Honneth gedeutet, auf den ich vor allem im folgenden Abschnitt noch nher eingehen werde. 34 Im Anschluss an meine vorangehenden Erluterungen, dass Menschen nur in der Sprache mit anderen Welt haben und Sprache Ausdruck dieser gemeinsamen Welt ist, sollte auch einsichtig sein, dass Menschen andere Menschen nicht allein in konkreten Antworten anerkennen, sondern berhaupt, weil sie mit Anderen eine Welt teilen, was ohne eine solche Anerkennung Anderer berhaupt nicht mçglich ist. Dass wir andere Menschen nicht allein in aktuellen Redesituationen anerkennen, wird besonders deutlich auch bei Sartre. Dieser sucht die spezifische Weise, wie wir zu anderen Menschen in Beziehung stehen, zunchst anhand seiner berhmt gewordenen Analyse der wechselseitigen Blickwahrnehmung zu illustrieren. Dabei ist diese die Sinnlichkeit transzendierende Erfahrung zum einen Ausdruck der konkreten Erfahrung, vom Anderen erblickt zu werden („autrui me
III.2.1. Sprache – Anspruch – Anerkennung
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Bewusstseinsakt zu identifizieren, den wir in Form einer Proposition fassen kçnnen, sondern eher als eine besondere Haltung 35, die wir anderen Menschen, nicht aber Gegenstnden gegenber einnehmen, und zwar unabhngig davon, welches konkrete Gesicht, welche Stimme wir erkennen. Wir anerkennen andere Menschen unmittelbar, sobald wir ihnen begegnen. Eine Parallele zu Lvinas’ Beschreibungen der nicht-intentionalen Begegnung mit dem Gesicht des Anderen als dritter Form des subjektiven Weltbezugs36 liegt nahe. Denn auch diese besteht gerade nicht darin, dass wir die Gesichtszge des Anderen identifizieren oder dass dessen Gesicht „vor meinem Blick als Thema“ in Erscheinung tritt.37 Zwar nehmen Menschen generell am anderen Menschen dessen physische Eigenschaften regarde“, was auf Franzçsisch – wie schon im Kapitel ber Lvinas hervorgehoben wurde – sowohl bedeutet, dass mich der Andere anblickt, als auch, dass er mich etwas angeht), zum anderen erfahren wir uns auch dann erblickt, wenn uns real niemand anblickt. (Vgl. Sartre, Das Sein und das Nichts, 457 – 538, insbesondere 465.) Gleichwohl rumt auch Sartre der Sprache eine entscheidende Funktion fr die spezifische Weise der zwischenmenschlichen Beziehung ein, sei sie doch „kein dem Fr-Andere-sein hinzugefgtes Phnomen“, vielmehr „ursprnglich das FrAndere-sein, das heißt das Faktum, daß eine Subjektivitt sich als Objekt fr die andere erfhrt. In einem Universum bloßer Objekte kann die Sprache in keinem Fall ,erfunden‘ werden, da sie ursprnglich einen Bezug zu einem andern Subjekt voraussetzt; und in der Intersubjektivitt der Fr-Andere ist es nicht notwendig, sie zu erfinden, denn sie ist in der Anerkennung des andern schon gegeben. […] [Sprache] ist Teil der conditio humana, sie ist ursprnglich fr die Erfahrung, die ein Fr-sich von seinem Fr-Andere-sein machen kann, und spter das berschreiten dieser Erfahrung und ihre Verwendung auf Mçglichkeiten hin, dies oder jenes fr den Anderen zu sein. Die Sprache unterscheidet sich also nicht von der Anerkennung der Existenz des Andern. Das Auftauchen des andern mir gegenber als Blick lßt die Sprache als Bedingung meines Seins auftauchen.“ (A. a. O., 652 f.) 35 Siehe hierzu Korsgaard, „Creating the Kingdom of Ends: Reciprocity and Responsibility in Personal Relations“, 188. – Fr Korsgaard ist Verantwortung die spezifische Haltung, die wir anderen Menschen gegenber einnehmen: „to hold someone responsible is to adopt an attitude towards him rather than to have a belief about him or about the conditions under which he acts.“ 36 Sartre teilt mit Lvinas die Kritik an Husserl, dass dieser „das Sein auf eine Reihe von Bedeutungen reduziert“ habe, die als „einzige Verbindung […] zwischen meinem Sein und dem des Andern […], die der Erkenntnis“ zulassen wrden, so dass auch Husserl „ebenso wenig wie Kant dem Solipsismus entgehen“ kçnne. (Sartre, Das Sein und das Nichts, 428.) Mit einer deutlich positiveren Bewertung wird hingegen Husserls Versuch einer Phnomenologie des Anderen von Derrida nachgezeichnet. (Siehe Derrida, „Gewalt und Metaphysik“, insbesondere 186 ff.) 37 Siehe hierzu oben, Abschnitt II.3.1, aber auch Lvinas, TU, 63.
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III.2. Grundlagen moralischer Verantwortung
wahr, doch ist fr Lvinas das von ihm als Gesicht bezeichnete „Phnomen“38 etwas, das alle Sinneswahrnehmung transzendiert und dennoch „durch sich selbst bedeutet“ bzw. „Ausdruck“, „sprechend“ und „schon Rede“ ist und uns fr und vor diesem Anderen verantwortlich sein lsst.39 Anerkennen ist also wie die Begegnung mit dem Anderen von Erkennen zu unterscheiden. Denn Erkennen ist in der philosophischen Tradition immer intentional und setzt neben der sinnlichen Wahrnehmung eine Form von Bewusstsein voraus, das berhaupt etwas – hier etwa ein Gesicht, einen Blick, eine Stimme – als etwas – als Gesicht, Blick oder Stimme – erkennen kann. Festzuhalten ist aber, dass die beiden Modi der Erfahrung, Erkennen und Anerkennen, so verschieden sie auch sind, weder zwei sich ausschließende alternative Weltbezge darstellen noch zwei voneinander strikt unterscheidbare Objekte haben. Wir anerkennen den anderen Menschen, den wir zugleich mit Hilfe unserer Sinneserfahrung und unseres Bewusstseins als bestimmte Person erkennen. Erst in der Verschrnkung dieser beiden Beziehungsmodi nehmen wir Menschen als Menschen wahr. Anerkennung als eine Haltung anderen Menschen gegenber ist ein konkreter alltglicher, in unserem Verhltnis zu Anderen allgegenwrtiger Bezug und konstitutiv fr die Weise, wie Subjekte sich in dieser Welt vorfinden. 4.) Mit jeder Antwort (im oben beschriebenen Sinne) beansprucht das sprechende Subjekt idealiter, auf Andere, auf das Angesprochensein und auf die darin enthaltenen Erwartungen so, wie es als antwortendes, handelndes Subjekt sie versteht und bewertet, angemessen zu reagieren, d. h., diesen Erwartungen zu entsprechen. Denn ob und wie Menschen antworten, ruft nicht nur verschiedene Reaktionen hervor, vielmehr realisiert, strukturiert und przisiert sich das Verhltnis der Interaktionspartner und damit ihre gemeinsame Welt mit jeder gegebenen Antwort auf die eine oder andere Weise. Menschen greifen, indem sie Anderen antworten, in diese Welt ein, gestalten und verndern sie. Keine gegebene Antwort bleibt dabei jemals als eine wirklich endgltig letzte Antwort stehen, antworten doch Andere, die von ihr angesprochen oder zumindest von ihr direkt oder indirekt betroffen sind, auf sie (wobei auch diese Antwort nicht immer in 38 Wie gesagt bleibt zu diskutieren, inwiefern Lvinas’ Beschreibungen der Begegnung mit dem Gesicht des Anderen berhaupt als phnomenologische zu bezeichnen sind, beschreiben sie doch gerade etwas, das den phnomenalen Charakter des anderen Menschen transzendiert. Dennoch ließe sich in Bezug auf Lvinas’ Philosophie von einer Phnomenologie des Nicht-Phnomenalen sprechen. 39 Vgl. Lvinas, TU, 87
III.2.1. Sprache – Anspruch – Anerkennung
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verbaler Form erfolgen muss), und hierauf wird erneut geantwortet. Denn alles Handeln und Verhalten ist fortan in Bezug auf diese Antwort wiederum als Antwort und in erweitertem Sinne als ein Netz von Antworten oder auch von Antworten auf Antworten, in denen sich zugleich Welt konstituiert und neu strukturiert, zu verstehen. Gleichzeitig bedeutet Antworten und Sprechen aber auch, ber oder von etwas zu sprechen, fr das Menschen, indem sie sich ußern, zumindest implizit beanspruchen, dass es sich erklren und – mehr oder weniger berzeugend – rechtfertigen lsst.40 Denn wrden sie etwas gnzlich ohne diesen Anspruch ußern, wrde sich die von ihnen gemachte ußerung als sinnlos oder sinnentleert erweisen; sie kçnnte nicht mehr verstanden werden, und der Sprecher wrde, geschhe dies dauerhaft (und nicht etwa in der ebenfalls zu kommunizierenden Absicht, Andere zu belustigen oder zu verwirren), als sprachgestçrt behandelt werden. Jeder implizit oder explizit erhobene Anspruch kann von Anderen in Frage gestellt werden. Und hnlich wie die mit jeder Handlung erhobenen Ansprche sich unterscheiden, kçnnen sie auch auf verschiedene Weise in Frage gestellt werden. Wir kçnnen z. B. meinen, dass etwas einem bestimmten Ziel angemessen, dass es hinsichtlich unserer lngerfristigen Lebensplanung sinnvoll, dass es auch im Hinblick auf die Interessen und Ansprche unserer Freunde und die Menschen unserer nheren Umgebung richtig oder dass es moralisch legitim ist – und wir kçnnen als Betroffene dieser Handlung wie auch als externe Beobachter bezweifeln, dass diese Handlung wirklich dem Anspruch gerecht wird, angemessen, sinnvoll, richtig, moralisch legitim etc. zu sein. In diesem Fall muss der Handelnde erneut – und je nach Kontext – auf verschiedene Weise antworten oder reagieren, sofern er seinen Anspruch, dass sich sein Handeln rechtfertigen und somit verantworten lsst, weiter aufrechterhalten will. Er tut dies, indem er Intentionen nher expliziert, indem er zustzliche Informationen ber Kontext und Handlungsabsicht zur Verfgung und zur Diskussion stellt und vor allem, indem er Begrndungen fr seine Antwort oder sein 40 Siehe hierzu auch oben, Kapitel III.1., und dort vor allem Abschnitt III.1.4.; auf die Unterscheidung zwischen Erklren und Rechtfertigen und den Zusammenhang zwischen beiden bin ich oben, Abschnitt III.1.2., ausfhrlicher eingegangen. Siehe hierzu ferner noch einmal Apels Idee, dass das Apriori der Argumentation den Anspruch enthalte, „[…] alle menschlichen Ansprche (auch die impliziten Ansprche von Menschen an Menschen, die in Handlungen und Institutionen enthalten sind) zu rechtfertigen“, wobei Apel explizit betont, unter Rechtfertigung keine „definitive Rechtfertigung“ zu verstehen. (Apel, Transformation der Philosophie, Band 2, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, 424.)
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III.2. Grundlagen moralischer Verantwortung
Verhalten gibt, die dieses als verstndlich und als im beanspruchten Sinne legitim rechtfertigen sollen. Solche Begrndungen werden je nach Kontext verschieden ausfallen. So ließe sich, wie ich bereits im vorangegangenen Kapitel im Anschluss an Habermas und Forst ausgefhrt habe, zwischen pragmatischen, ethischen, rechtlichen, politischen und moralischen Kontexten unterscheiden, in denen sich Subjekte zu rechtfertigen haben.41 Innerhalb eines ethischen Kontexts hat eine Handlung sich allein als „fr mich gut“ auszuweisen, wobei auch dieses „fr mich gut“ Andere – in einem mehr oder weniger umfassenden Sinn – mit einschließen kann.42 Soll hingegen eine Rechtfertigung eine Handlung moralisch legitimieren, muss sie die Ansprche aller Anderen so weit bercksichtigen, dass diese die gegebenen Grnde nicht nur nachvollziehen, sondern auch als mit eigenen legitimen Normund Wertvorstellungen hinreichend kongruent akzeptieren kçnnen. Sobald also Menschen den mit ihrem Handeln erhobenen Anspruch, dass es zu rechtfertigen ist, diskursiv einlçsen, verantworten sie sich vor Anderen. In diesem Sinne hat K. Lçwith Verantwortung beschrieben als ber etwas zu einem andern so reden, daß man der Antwort des andern wiederum Rede steht und damit seine eigene Rede vor ihm verantwortet. Dieses auf sich Zurckkommenlassen des Gesagten hat zur Bedingung, daß das Ausgesprochene vom Sprechenden selbst, und zwar als etwas zu einem andern Gesagtes, bei sich behalten wird – […] im Sinne des Einstehens fr das Gesagte.43
Jede Rede ist eingebettet in eine durch Andere geteilte und durch diese mitbestimmte Sprache. Sie bezieht sich mehr oder weniger direkt oder weitlufig auf vorangegangene Sprachsequenzen und kann daher immer auch als Antwort auf Andere, auf aktuell oder in entfernterem zeitlichen Zusammenhang gemachte sprachliche ußerungen beschrieben werden. Entsprechend ist auch Handeln in Interaktionszusammenhngen zu verstehen und dann als Reagieren oder Antworten auf vorausliegendes Handeln zu interpretieren. Beides, Sprechen und Handeln, ist dabei eng miteinander verwoben: Sprechen ist immer auch ein Handeln, und 41 Siehe Forst, Kontexte der Gerechtigkeit, 362 – 423, und Habermas, „Pragmatischer, ethischer und moralischer Gebrauch der praktischen Vernunft“, 102ff, aber auch die Ausfhrungen oben, Abschnitt III.1.4. 42 Forst expliziert ethische Fragen denn auch als „Fragen nach der Orientierung, die ich in ,meiner‘ Welt habe, die nicht ,meine‘ ist, sondern auch die Welt der anderen. Ethische Fragen sind Fragen, die eine Person fr sich mit anderen beantworten, allein jedoch verantworten muß.“ (Forst, Kontexte der Gerechtigkeit, 389.) 43 Karl Lçwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, 113.
III.2.2. Verantwortung als moralische Pflicht
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Handeln ist als intentionales, sich auf Grnde sttzendes auf Sprache44 angewiesen. Und beides ist, dies sei hier noch einmal hervorgehoben, durch andere Subjekte, mit denen wir Welt teilen und die wir anerkennen, mit konstituiert, beides realisiert sich in dieser mit Anderen geteilten Welt, beides verbindet der Anspruch, zumindest im Ansatz oder von der Intention her, verstndlich und, je nach Kontext, rechtfertigbar zu sein; denn Reden und Handeln, das von Anderen grundstzlich nicht mehr verstanden werden kann, stnde außerhalb dieser geteilten Welt von Grnden und ließe sich dann auch nicht mehr als Rede und Handeln beschreiben. Es verlçre Legitimation und Geltung. Allerdings gibt es erhebliche graduelle Abstufungen, in welchem Ausmaß Sprechen und Handeln zu verstehen und zu rechtfertigen sind, und die bergnge kçnnen fließend sein: Je klarer Menschen sich mit ihren Ansprchen in der Rede und im Handeln Anderer bercksichtigt sehen, desto eher kçnnen sie deren explizierte oder implizierte Ansprche als berechtigt akzeptieren. Umgekehrt sind Handlungen auch dann noch als Handlungen zu verstehen, wenn sie die in ihnen erhobenen Ansprche nicht vollstndig einholen kçnnen. Je weniger das allerdings gelingt, desto mehr verlieren sie den Anspruch – inhaltlich oder berhaupt als bedeutsame Rede oder Handlung –, berechtigt zu sein. Auch bei den an den Handelnden herangetragenen Ansprchen ist zwischen verschiedenen Berechtigungsgraden zu unterscheiden, die zu begrnden sind. Sowohl die an Andere gestellten Ansprche als auch die Weise, wie Menschen den Ansprchen Anderer antworten, przisieren, bestimmen und strukturieren ihr Verhltnis zueinander und damit die kommunikativen Grundlagen einer potentiell von allen geteilten Welt.
III.2.2. Verantwortung als moralische Pflicht Bisher ging es darum zu zeigen, inwiefern Verantwortung als Rechtfertigungspraxis konstitutiver Bestandteil des menschlichen In-der-Welt-Seins ist. Verantwortlich-sein charakterisiert die menschliche Lebensweise demnach ebenso wesentlich wie ihr Sprach- und Handlungsvermçgen: Als sprechende und handelnde Wesen, die mit Anderen eine gemeinsame Welt teilen, haben sie sich fr ihr Handeln mit guten Grnden zu verantworten. Doch mit diesen vorangegangenen Ausfhrungen ist bislang nur vorbereitend expliziert worden, inwiefern Verantwortung-Tragen – so die zweite 44 Siehe hierzu oben, Abschnitt III.1.5.
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III.2. Grundlagen moralischer Verantwortung
zu Beginn dieses Kapitels formulierte These – auch als moralische Pflicht zu verstehen ist. Dafr ist jedoch das Adjektiv „moralisch“ bzw. der Begriff der Moral, wie ich ihn hier verwende, noch klarer zu bestimmen. Denn bereits unsere alltglichen moralischen berzeugungen geben einer Vielzahl und Vielfalt von moralischen Denkweisen – einer, wie Charles Larmore es nennt, „heterogeneity of morality“45 – Ausdruck. Darber hinaus wird unter Moral auch in der Philosophie durchaus Unterschiedliches46 verstanden. Gleichwohl scheinen viele Positionen darin bereinzukommen, dass es bei diesem Begriff darum geht, die auf Eigennutz fokussierte Perspektive durch die Einbeziehung des Wohls oder der Interessen Anderer zu relativieren; allgemein beinhaltet Moral, so Larmore, „seeing another’s good as a reason for action on my part“47. Mit dem Anderen aber muss dabei den Handelnden nichts weiter verbinden als die Tatsache, auch Mensch zu sein, er ist also kein besonderer Anderer, sondern kann grundstzlich jeder beliebige Andere sein. Moral ließe sich daher, etwas enger gefasst, als ein Bewertungsmaßstab verstehen, anhand dessen menschliches Handeln, dessen Handlungsgrundstze und -motive dahingehend beurteilt werden, ob sie allgemein als richtig bzw. gut gelten kçnnen. Das impliziert zwar nicht, dass eine Handlung, um als moralisch gelten zu kçnnen, unabhngig von persçnlichen Interessen zu sein hat, aber doch, dass die Interessen des Handelnden nur so weit Bercksichtigung finden, dass die Handlung auch von allen Anderen (zumindest von allen davon Betroffenen) als gut oder richtig bewertet werden kann und dass die ihr zugrunde liegenden Normen prinzipiell fr alle Menschen gltig sind. Anders formuliert, erfordert Handeln nach den Kriterien der Moral – zumindest so, wie der Begriff hier verstanden werden soll –, die partikulare subjektive Handlungsperspektive so weit zu verlassen bzw. einzuschrnken, dass die relevanten Sichtweisen von allen mçglicherweise involvierten
45 Larmore, „The Autonomy of Morality“, 88. 46 Siehe zur Uneindeutigkeit des Begriffs der Moral etwa Bayertz, Warum berhaupt moralisch sein?, 2. Kapitel („Was heißt hier eigentlich ,Moral‘?“), aber auch Birnbacher, Analytische Einfhrung in die Ethik, insbesondere 4 – 56. 47 Larmore, „The Autonomy of Morality“, 88. – Lvinas soll Moral, wie bereits erwhnt, mit der alltglichen Hçflichkeitsformel „apr s vous“ definiert haben. So banal dies zunchst klingen mag, scheint mir hiermit doch der Kern vieler Moralvorstellungen getroffen, nmlich eine Relativierung der eigenntzigen Perspektive, die den anderen Menschen als (mindestens) gleichberechtigt in die eigenen Handlungsentscheidungen einbezieht.
III.2.2. Verantwortung als moralische Pflicht
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anderen Menschen ebenfalls Bercksichtigung finden oder zumindest grundstzlich finden kçnnen.48 Sicherlich gelten auch diese sehr allgemeinen Merkmale zur Definition von Moral nicht fr alle Moraltheorien,49 doch sind sie in zumindest zwei der gegenwrtig einflussreichsten Strçmungen in der Moralphilosophie zu finden: zum einen in deontologischen Anstzen, zum anderen bei denjenigen unter den Utilitaristen, die sich nur indirekt auf subjektive Zwecke beziehen, indem sie aus diesen den gemeinsamen Nutzen aller als hçchsten Zweck ihrer Moral ableiten. So betont unter den zeitgençssischen utilitaristisch argumentierenden Theoretikern etwa Dieter Birnbacher, dass erstens „im Mittelpunkt der Moral […] Urteile [stehen], durch die ein menschliches Handeln positiv oder negativ bewertet“ werde; zweitens, so przisiert er, seien diese Urteile „kategorisch“ in dem Sinne, dass sie Handeln unabhngig davon bewerten, inwieweit „es den Zwecken oder Interessen des Akteurs entsprechen“ mag; drittens beanspruchten sie damit „intersubjektive Verbindlichkeit“.50 hnlich kennzeichnet R. Forst, der eine deontologische Ethik vertritt, Moral als ein „System von kategorisch verpflichtenden Normen“, das, wie er nachdrcklich betont, „unter Menschen als Menschen […] wechselseitig und allgemein gilt und keinen 48 So hat bereits David Hume, Vertreter einer Gefhlsethik, in seiner Untersuchung ber die Prinzipien der Moral diese hier hervorgehobenen Merkmale als „moral point of view“ folgendermaßen beschrieben: „Wenn jemand einen anderen als seinen Feind, Rivalen, Gegenspieler oder Gegner bezeichnet, dann meint man, daß er die Sprache der Selbstliebe spricht und Empfindungen ausdrckt, die ihm eigen sind und die auf seinen besonderen Umstnden und seiner besonderen Situation beruhen. Wenn er jedoch einem Menschen die Prdikate bçsartig, verwerflich oder verderbt zuschreibt, dann spricht er eine andere Sprache und drckt Empfindungen aus, von denen er erwartet, daß alle seine Zuhçrer sie mit ihm teilen. Er muß darum in diesem Fall von seiner privaten und besonderen Situation absehen und einen Standpunkt einnehmen, den er mit anderen teilt. Er muß ein universales Prinzip der menschlichen Natur ansprechen und eine Saite berhren, die in allen Menschen gleichgestimmt und harmonisch ist.“ (David Hume, Untersuchung ber die Prinzipien der Moral, 111; Hervorhebungen teilweise E. B.) 49 So gilt als fraglich, inwiefern etwa die Situationsethik oder der Dezisionismus noch den Anspruch der Allgemeingltigkeit vertreten. Siehe hierzu auch Birnbacher, Analytische Einfhrung in die Ethik, 107 – 112. 50 A. a. O., 13. – Ein viertes von Birnbacher benanntes Merkmal, dass „moralische Urteile […] Handlungen ausschließlich aufgrund von Faktoren [bewerten], die durch Ausdrcke von logisch allgemeiner Form ausgedrckt werden kçnnen“ (Birnbacher bezeichnet dies auch als „Universalisierungsprinzip“), mçchte ich hier zunchst beiseite lassen, da es dafr weit weniger Entsprechungen bei anderen Autoren gibt als fr die drei erstgenannten.
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III.2. Grundlagen moralischer Verantwortung
dichteren Kontext zwischenmenschlicher Beziehungen bzw. spezieller Gemeinschaften […] voraussetzt“.51 Nun soll in der vorliegenden Arbeit keine Moraltheorie im Sinne eines „Systems von kategorisch verpflichtenden Normen“ entwickelt werden. Wenn hier jedoch Verantwortung als eine moralische Pflicht beschrieben wird, ist diese nicht nur als eine partikulare Verpflichtung gegenber bestimmten Anderen zu sehen, die Menschen freiwillig eingehen; vielmehr handelt es sich um eine Pflicht, die fr alle Menschen, weil sie Menschen sind, gilt und der sie grundstzlich gegenber jedem Menschen nachzukommen haben. Unterschiedlich definiert wird allerdings nicht nur der Terminus „Moral“; was unter Moralbegrndung zu verstehen ist, erscheint ebenfalls mehrdeutig.52 Forst etwa unterscheidet dreierlei Bedeutungsvarianten dieses Begriffs: Erstens kçnne darunter die Frage verstanden werden, „wie der moralische Standpunkt angemessen verstanden und expliziert werden soll“53 – eine Frage, die fr ihn die Bestimmung der Kriterien, „die moralisches Handeln auszeichnen“, ebenso einschließt wie die „Analyse der menschlichen Eigenschaften, die als Basis der Rekonstruktion des moralischen Standpunkts und moralischer Reflexion dienen“.54 Forsts zweite Interpretation von Moralbegrndung beinhaltet die „Rechtfertigung moralischer Normen bzw. Handlungsweisen gemß des auf der ersten Ebene begrndeten Verstndnisses des moralischen Standpunktes“55. Bei der ersten Bedeutung geht es also um eine Explikation dessen, was mit Moral gemeint ist und welches ihre Voraussetzungen sind; Forsts zweite Bestimmung von Moralbegrndung sieht dann so etwas wie die Rechtfertigung eines Regel- bzw. Normenkatalogs vor. Dieser soll mit der in der ersten Interpretation herausgearbeiteten Bestimmung von Moral in Einklang stehen. Als dritte Variante schlgt Forst schließlich vor, unter Moralbegrndung die Frage nach den „Quellen der Normativitt“56 zu verstehen. 51 Forst, „Moralische Autonomie“, 180. 52 Siehe zu dieser Mehrdeutigkeit etwa Bayertz, Warum berhaupt moralisch sein?, 20 ff. Bayertz geht hier davon aus, dass sich die unterschiedliche Bedeutung der Frage vor allem ergibt „aus den verschiedenen Positionen, von denen aus sie gestellt werden kann, und aus den verschiedenen Hintergrundannahmen, die ihr jeweils zugrunde liegen.“ 53 Forst, „Praktische Vernunft“, 179. 54 Ebd. 55 A. a. O., 179 f. 56 A. a. O., 180.
III.2.2. Verantwortung als moralische Pflicht
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Die von Forst vorgeschlagenen unterschiedlichen Ebenen von Moralbegrndungen scheinen mir auch auf die Frage, wie Verantwortung als moralische Pflicht zu begrnden ist, bertragbar. Demnach wre zunchst zu bestimmen, was „Verantwortung haben“ heißt und an welchen Kriterien sich verantwortliches Handeln bemisst. Im ersten Kapitel dieses dritten Teils wurde das bereits ansatzweise unternommen: Verantwortung haben wurde als eine Verpflichtung expliziert, die mit jedem Handeln erhobenen Ansprche auf Begrndung diskursiv einzulçsen. In der Folge wurde die These entfaltet, dass es zum Menschsein allgemein gehçrt, sich vor Anderen zu verantworten, und dass dies – wie fr die Moral gefordert – allgemein fr alle Menschen gilt. Nicht ausreichend erlutert blieb jedoch, inwiefern dieser Verpflichtung wirklich auch gegenber allen Menschen generell, unabhngig von den eigenen Interessen und den Besonderheiten der jeweiligen zwischenmenschlichen Beziehungen, nachzukommen ist; denn nur dann kçnnte man von einer moralischen Pflicht sprechen.57 Dies soll nun in Verknpfung mit der Frage nach den normativen Quellen der Verantwortung ausgefhrt werden. Verantwortung indessen im Sinne von Forsts zweitem Deutungsvorschlag zu begrnden wrde heißen, aus dem hier entwickelten Verstndnis von Verantwortung „konkrete Handlungsregeln und Normen“ abzuleiten und sie zu rechtfertigen. Diese kçnnen allerdings m. E. nicht vorab, sondern nur von konkreten Diskursgemeinschaften bestimmt werden – entsprechend etwa den inhaltlichen Normen auf der zweiten Ebene der Diskursethik, die (im Unterschied zum Diskursprinzip selbst) grundstzlich falsifizierbar bleiben.58 Auf diesen Aspekt der Begrndung werde ich gleichwohl im nchsten Kapitel zurckkommen, wenn ich versuchen werde, allgemeine Voraussetzungen und Kriterien einer verantwortlichen Praxis zu bestimmen. Schließlich bleibt zu erçrtern, wie Verantwortung als moralische Pflicht im Sinne des dritten vorgeschlagenen Verstndnisses von Moralbegrndung aufzufassen wre – mit anderen Worten, worauf berhaupt die Normativitt von Verantwortung beruht. Der Ausgangpunkt meiner weiteren Argumentation ergibt sich hier aus den vorangegangenen Ab57 Siehe hierzu noch einmal Rawls’ Unterscheidung zwischen „Verpflichtung“ (obligation) und „Pflicht“ (duty): Whrend eine Pflicht nicht an freiwillige Akte der Zustimmung gebunden ist und gegenber allen Menschen gilt, wird eine Verpflichtung in der Rawls’schen Terminologie freiwillig eingegangen, sie gilt nur gegenber bestimmten Menschen. 58 Siehe hierzu auch oben, Abschnitt II.2.1.4.
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III.2. Grundlagen moralischer Verantwortung
schnitten: Als handlungs- und sprachfhige Wesen sind Menschen dazu verpflichtet, sich vor Anderen zu verantworten; dies gehçrt untrennbar zur menschlichen Existenz, nmlich dazu, wie Menschen miteinander die Welt teilen, in der sie leben. Bei all diesen Unterscheidungen wurde bislang allerdings nur aus der Perspektive eines unbeteiligten Beobachters argumentiert. Davon getrennt ist die Frage „nach dem praktischen Selbstverstndnis einer moralischen Person“ zu stellen, die Forst auch versteht als Frage, „in welchem Sinne dieses Prinzip Teil der moralischen Identitt einer Person ist“.59 Erneut gilt es zu bercksichtigen, dass zwar zunchst nach einem im Subjekt wirksamen Handlungsgrund zu suchen ist, dabei jedoch nicht allein auf partikulare, subjektive Zwecke und Ziele verwiesen werden darf, wenn Verantwortung moralisch begrndet werden soll, d. h. als eine Pflicht, der alle Menschen allgemein gegenber allen Menschen nachzukommen haben. Denn eine Begrndung durch partikulare subjektive Ziele scheidet im Hinblick auf die Moral schon deshalb aus, weil dann all diejenigen, die diese Ziele nicht verfolgen, moralisch nicht verpflichtet wren.60 Doch ebenso erachte ich eine Begrndung durch einen allgemeinen, von allen gleichermaßen angestrebten Nutzen fr problematisch. Denn worin dieser allgemeine Nutzen besteht, lsst sich zum einen empirisch nicht auf die gleiche Weise feststellen wie der Inhalt eines subjektiven Nutzens, weil auf kein reales Subjekt rekurriert werden kann, das diesen Nutzen tatschlich verfolgt. Sicherlich kçnnte versucht werden, die Frage in gesellschaftlichen Diskursen zu erçrtern. Doch Ergebnis dieser Diskurse wre dann nur ein Mehrheitsvotum dazu, welcher Nutzen am ehesten fr konsensfhig erachtet wird. Ob solch ein mutmaßlich mehrheitlich angestrebtes Gut tatschlich fr alle oder zumindest fr die Mehrheit von Nutzen wre, bleibt fraglich. Schon beim Einzelnen kann nicht ausgeschlossen werden, dass er einer Selbsttuschung unterliegt und sich im irrigen Glauben, sich selbst zu nutzen, Schaden zufgt. Zum anderen wre zu begrnden, warum bzw. inwiefern Menschen einen allgemeinen Nutzen – wenn man ihn denn ermittelt htte – selbst dort prioritr zu realisieren haben, wo er offen-
59 Forst, „Praktische Vernunft“, 191. 60 Sicherlich kçnnte man dagegen argumentieren, dass eine Begrndung dieser Art ja gerade auf ein universell geteiltes subjektives Bedrfnis rekurriert. Diese anthropologische Setzung subjektiver menschlicher Bedrfnisse als universal trge allerdings eine hohe Beweislast und wrde jedem, der die Existenz eines solchen Bedrfnisses plausibel bestreitet, erlauben, dagegen zu handeln.
III.2.2. Verantwortung als moralische Pflicht
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sichtlich mit ihren individuellen Handlungsinteressen nicht bereinstimmt oder kollidiert. Eine Mçglichkeit, diesen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen, wre, Verantwortung als moralische Pflicht in sich selbst zu begrnden – was allerdings keine Begrndung im klassischen Sinne wre, die immer schon einen Grund außerhalb des zu Begrndenden voraussetzen wrde. Im Folgenden mçchte ich im Sinne einer solchen „Selbstbegrndung“ der Moral pldieren, und zwar mit Argumenten, wie sie aus verschiedenen, vor allem an Kant anschließenden Moralgebegrndungen bekannt sind.61 Diese gehen davon aus, dass Menschen nicht außerhalb der Moral stehen, wenn sie versuchen, Moral zu begrnden; vielmehr ist Moral als ein autonomer Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen zu begreifen, der immer schon besteht, wo Menschen miteinander diese Welt teilen und in den Menschen daher nicht erst aufgrund bewusster Entscheidung oder ußeren Zwanges eintreten. Meine Hauptthese ist daher: In der Begegnung mit dem Anderen haben Menschen eine moralische Einsicht 62, in der sie den Anderen anerkennen und dabei erkennen, dass sie ihm Antworten und gute Grnde schulden. In drei Schritten soll dies nun weiter entfaltet werden: 1.) Menschen sind gegenber jedem Menschen aufgrund seines Menschseins verantwortlich. 2.) Menschen anerkennen andere Menschen nicht nur, sie erkennen dabei, dass sie ihnen Antworten und Grnde schulden. 3.) Eine solche Beschreibung moralischer Einsicht basiert zwar auf einer realistischen Annahme ber den Grund der Normativitt, enthlt aber ebenso konstruktivistische Elemente. 61 hnlich argumentiert etwa auch Dieter Henrich, „Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft“, wie zuletzt auch noch einmal in ders., Denken und Selbstsein. Vorlesungen ber Subjektivitt, hier besonders 111 ff., aber auch Forst, „Moralische Autonomie“, u. a. – Charles Larmore optiert ebenfalls fr die „Autonomie der Moral“, allerdings ohne dabei auf einen autonomen Vernunftbegriff zu rekurrieren: „The sole way for me truly to acknowledge the authority of morality is, without any detour through my own good, to focus at the outset on the defining value of moral thinking – namely, the fact that another’s good is in itself a reason for action on my part. […] The ethics of autonomy needs to be jettisoned, and in its stead belongs to what I have called the autonomy of morality – by which I mean, obviously enough, not that morality is self-legislating (that would be nonsensical), but that morality forms an autonomous, irreducible domain of value, into which we cannot reason ourselves from without, but which we must simply acknowledge.“ (Larmore, „The Autonomy of Morality“, 122.) 62 Vgl. Forst, „Praktische Vernunft“, 197 ff.; Forst, „Moralische Autonomie“, 188 ff. – Bereits Dieter Henrich verwendet den Begriff einer sittlichen „Einsicht“. (Henrich, „Begriff der sittlichen Einsicht“, 223 – 254.)
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III.2. Grundlagen moralischer Verantwortung
1.) Bislang wurde festgehalten, dass es zum menschlichen In-der-WeltSein gehçrt, sich vor Anderen zu verantworten. Der Praxis, sich mit Anderen ber die mit ihnen geteilte Welt sprachlich zu verstndigen, kçnnen Menschen sich nicht – zumindest nicht gnzlich – verweigern, und zwar nicht nur aus dem Eigeninteresse, als verlsslicher Gesprchspartner anerkannt zu werden, sondern generell, weil Menschen damit eine wesentliche Dimension anderer Menschen, aber auch ihrer selbst verlieren bzw. missachten wrden.63 Menschen kçnnen daher grundstzlich nicht whlen, ob sie an der Antwort- und Rechtfertigungspraxis berhaupt partizipieren. Aber wre es nicht ausreichend, wenn Menschen, um nicht isoliert zu sein, sich vor Anderen nur so weit rechtfertigen, wie es ihnen fr ein subjektiv wnschenswertes Maß an sozialer Interaktion nçtig erscheint?64 Wenn beispielsweise ein Mensch sich seiner Familie gegenber verpflichtet sieht, fr sein Handeln Rechenschaft abzulegen, dies aber Fremden gegenber ausschließt, scheint das vordergrndig durchaus kompatibel damit, dass Menschen sich zu verantworten verpflichtet sind, weil das zum menschlichen In-der-Welt-Sein gehçrt. Denn auch dieser Mensch bernimmt ja durchaus Verantwortung, nur eben nicht gegenber allen Menschen, sondern allein gegenber seiner Familie. Meines Erachtens lsst sich eine solche eingeschrnkte Variante von Verantwortlich-Sein mit den bisher entfalteten Gedanken nicht vereinbaren, es wre dann allenfalls eine partikulare Verpflichtung gegenber manchen Menschen und eben nicht eine Pflicht gegenber allen, auch wenn alle Menschen ihr grundstzlich nachzukommen htten. Denn es bliebe unbercksichtigt, was die Beziehung zum anderen Menschen generell charakterisiert – also unabhngig davon, in welcher besonderen Beziehung eine konkrete andere Person zum Subjekt steht. Im vorangegangenen Abschnitt zur sprachlichen Interaktion ist das bereits deutlich gemacht worden: Zwar begegnen wir immer einem konkreten Anderen, gleichwohl wird in dieser Begegnung die intentionale Erfahrung des An63 Zur These, wie wesentlich das Verantwortlichhalten dafr ist, dass wir Andere als Personen anerkennen, siehe auch Darwall, The Second-Person Standpoint, 89 f. 64 Siehe zu diesem hypothetischen Einwand etwa Richard Rortys Position, wie er sie in „Solidaritt oder Objektivitt?“ vertritt, dass sich Menschen einteilen lassen „in diejenigen, vor denen man seine berzeugungen rechtfertigen muß, und die brigen“. (Richard Rorty, Solidaritt oder Objektivitt. Drei philosophische Essays, 27 f.); siehe auch Rortys Aufsatz „Justice as a Larger Loyalty“, in dem Rorty der Frage nachgeht, „should we contract the circle for the sake of loyalty or expand it for the sake of justice?“ (140) eine hnliche Frage diskutiert auch K. Bayertz, Warum berhaupt moralisch sein?, Abschnitte 58 f.
III.2.2. Verantwortung als moralische Pflicht
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deren so weit transzendiert, dass auch die sich darin realisierende Anerkennung des Anderen als losgelçst zu verstehen ist von jeglicher besonderen zwischenmenschlichen Beziehung. Einen anderen Menschen, dem wir begegnen, anzuerkennen heißt nicht, ihn als Freund X, Geschftspartner Y, Verwandten, Feind oder auch nur als den „Unbekannten“ zu erkennen, sondern beschreibt die nicht-intentionale Weise, in der wir generell jedem anderen Menschen verbunden sind: Die Wahrnehmung, dass der Andere einen etwas angeht, ist unabhngig davon, ob der Andere in einer besonderen – positiven oder negativen – Beziehung zu einem steht oder auf sozusagen „neutrale Weise“ fremd ist.65 Es ist nicht leicht, zur Veranschaulichung dieser These alltgliche Beispiele zu finden. Denn fast immer ließe sich argumentieren, dass in jedem konkreten Fall eine besondere, z. B. durch soziale Rollen bedingte Form der Verbindlichkeit besteht: Kinder rechtfertigen ihren Eltern gegenber, wofr sie ihr Taschengeld ausgeben, Freunde erklren einander, wieso sie sich so lange nicht gemeldet haben, ein Geschftspartner begrndet gegenber einem anderen, warum er seine Preise erhçhen musste. Selbst in Fllen, in denen keine persçnlichen Beziehungen bestehen, wenn beispielsweise jemand einem anderen, ihm unbekannten Menschen, dem er zufllig begegnet, erlutert, warum er Anspruch auf etwas erhebt, kçnnten etwa auch einfach Grnde der Konvention Motive fr die vom Anderen gegebene Rechtfertigung sein. Und so lsst sich in fast allen Handlungssituationen nicht eindeutig unterscheiden, ob wir dem Anderen antworten, weil wir uns als ihm verpflichtet wahrnehmen aufgrund einer besonderen Verbindlichkeit oder berhaupt als Mensch. Und dies gilt ganz besonders fr Flle, in denen nicht wir selbst, sondern Andere handeln, deren Handlungen wir nur von außen betrachten. Denn da wir hier Motive und Grnde einer Handlung lediglich indirekt durch die Aussagen des Handelnden erfahren, wissen wir nie mit Sicherheit, aufgrund welcher Motive Menschen wirklich gehandelt haben und ob sie vielleicht nur Konventionen folgen, die mehr oder weniger zufllig mit einer Einsicht in eine generelle moralische Verpflichtung konform sein kçnnten.66
65 Siehe hierzu vor allem oben, Abschnitt II.3.1., aber auch Abschnitt III.2.1. 66 hnlich lsst sich ja auch nach Kant nicht mit abschließender Sicherheit entscheiden, ob jemand aus Pflicht oder nur pflichtmßig gehandelt hat, etwa dann, wenn jemand, statt wirklich aus moralischen Grnden zu handeln, zwar solchen gemß zu handeln scheint, es ihm aber vielleicht nur darum geht, von Anderen als ein moralisch gutes Wesen wahrgenommen zu werden. (Siehe Kant, GMS, 406 ff.)
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III.2. Grundlagen moralischer Verantwortung
Dennoch sehen Menschen sich, so die hier vertretene These, bereits unabhngig von einem besonderen oder konventionsbedingten Verhltnis in einer grundstzlichen Antwort- und Verantwortungspflicht anderen Menschen gegenber – einfach, weil diese ebenfalls als Menschen wahrgenommen werden. Selbst in Fllen, in denen wir Anderen nicht antworten, bzw. meinen, uns nicht weiter verantworten zu mssen, weil es den Anderen nichts angehe, haben wir implizit zugestanden, dass wir Anderen immer dort, wo sie betroffen sind, Antworten schulden. Eine begrndete Ablehnung einer Antwort auf der konkreten inhaltlichen Ebene bzw. das bewusste Ignorieren eines Anspruchs impliziert also auf der Metaebene, dass wir dem Anderen unabhngig von dessen mçglicher besonderer konkreten Betroffenheit generell ein Recht einrumen, nmlich allgemein nach Grnden fragen zu drfen und begrndete Antworten zu erwarten.67 Dieses Recht halte ich fr ein moralisches Recht: Wir antworten und rechtfertigen uns vor Anderen nicht allein aufgrund bestimmter Konventionen, einem positiven Rechtscode oder hnlichem, sondern deshalb, weil wir sie anerkennen.68 2.) Bislang wurde festgehalten: Verantwortung als moralische Pflicht, Anderen zu antworten und sich vor ihnen zumindest dafr zu rechtfertigen, dass man ihnen keine weiteren Antworten gibt, beruht auf der Anerkennung anderer Menschen. Ob wir andere Menschen anerkennen, ist unabhngig davon, in welcher besonderen Beziehung wir zu ihnen stehen, und es obliegt uns nicht, darber zu entscheiden; denn nicht wahrzunehmen, dass mich ein Anderer, dem ich begegne, etwas „angeht“69, wrde
67 Auch nach Korsgaard bedarf die Nicht-Bercksichtigung Anderer und ihrer Grnde immer selbst guter Grnde. So betont sie: „We do not seem to need a reason to take the reasons of others into account. We seem to need a reason not to. Certainly we do things because others want us to, ask us to, tell us to, all the time. We give each other the time and directions, open doors and step aside, warn each other of imminent perils large and small. We respond with the alacrity of obedient soldiers to telephones and doorbell and cries for help. You could say that it is because we want to be cooperative, but that is like saying that you understand my essential point, which is that it is so hard not to.“ (Korsgaard, The Sources of Normativity, 140 f.) 68 Damit soll jedoch keineswegs behauptet werden, dass Menschen sich auch immer im Sinne dieser Pflicht verhalten. Denn dass Menschen grundstzlich jeden Anderen, dem sie begegnen, auch anerkennen, heißt noch nicht, dass sie nicht dennoch mçglicherweise „unverantwortlich handeln“. 69 Siehe hierzu oben, Abschnitt III.2.1.
III.2.2. Verantwortung als moralische Pflicht
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heißen, ihn und uns selbst in einem wesentlichen Aspekt seines bzw. unseres Menschseins zu verkennen.70 Einer der gegenwrtig prominentesten Vertreter der Auffassung, dass der Kern unserer moralischen Beziehungen in einer solchen anerkennenden Einstellung zu Anderen liegt, ist Axel Honneth. In seinem aus seinen „Tanner Lectures“ hervorgegangenen Buch Verdinglichung entwickelt er die These einer grundlegenden Anerkennungsbeziehung, die er als eine der Kommunikation „vorgngige[…] Interaktion“ beschreibt, „die Zge einer existentiellen Besorgnis“ trage.71 Honneth sttzt sich dabei zunchst auf Heideggers Begriff der „Sorge“ sowie auf Deweys Begriff des „Engagements“ – fr ihn zwei Deutungen eines nicht-epistemischen, vielmehr existentiellen Weltbezugs. Whrend Heideggers Begriff der Sorge eine „positive[…] Befrwortung“, eine „existentielle[…] Zugewandtheit“ beinhalte, was „in der Zuschreibung von rationaler Motiviertheit nicht hinlnglich zum Ausdruck“ komme,72 argumentiere Dewey, dass „der ursprngliche, qualitative Erfahrungsgehalt“ der Erkenntnisobjekte „nicht verloren gehen“ drfe, da wir sonst aus den Augen verlieren wrden, „worumwillen wir die Reflexion berhaupt erst begonnen haben“.73 70 Honneth, auf den ich im Folgenden nher eingehen werde, interpretiert das vollstndige Fehlen einer solchen vorgngigen Anerkennungsbeziehung bzw. ihr Vergessen als „Verdinglichung“, worunter er zum einen die Verdinglichung des vergessenden Subjekts selbst, zum anderen aber die Verdinglichung seiner Umwelt versteht. (Siehe Axel Honneth, Verdinglichung, insbesondere 68 – 73.) – John McDowell betont im Hinblick auf die Frage, woher das Unvermçgen stamme, berhaupt „Grnde fr tugendhaftes Handeln zu sehen“, es mangele „an einer spezifischen Sicht der Situation“. Denn wenn „dieses Wahrnehmungsvermçgen gegeben ist und zum Einsatz gebracht wird“, wrde es dem Handelnden „nichthypothetische Handlungsgrnde“ liefern. (John McDowell, „Sind moralische Forderungen hypothetische Imperative?“, 147.) Dabei geht McDowell von der These aus, „dass die Vorschriften der Tugend, sofern man sie richtig wrdigt, berhaupt nicht gegen andere Grnde abgewogen werden […]. Wird eine Situation, in der die Tugend eine Forderung stellt, wirklich als solche aufgefasst, dann werden […] Erwgungen, die in einer Situation ohne diese Forderung Grnde fr ein anderes Handeln konstituiert htten, von dieser Forderung nicht ausgestochen, sondern vçllig zum Schweigen gebracht.“ (151; siehe zu diesem Punkt auch a. a. O., 154 f.) Sicherlich argumentiert McDowell vor dem Hintergrund eines tugendethischen Programms, gleichwohl tritt auch er fr ein genuin moralisches „Wahrnehmungsvermçgen“ ein, das Menschen qua ihres Menschseins oder zumindest als tugendhaften zukommt. 71 Vgl. Honneth, Verdinglichung, 46. 72 A. a. O., 38. 73 A. a. O., 43.
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III.2. Grundlagen moralischer Verantwortung
Eine Entsprechung zu diesen beiden Aussagen sieht Honneth in den bewusstseinspsychologischen Beschreibungen von M. Tomasello, dass im „Normalfall“ der kindlichen Entwicklung die „emotionale Identifikation mit Anderen die notwendige Voraussetzung“ darstelle, „um jene Perspektivenbernahme zu ermçglichen, die zur Entwicklung symbolischen Denkens“ fhre.74 Zwar betont Honneth selbst nachdrcklich, die „emotionale Verbundenheit oder Identifikation mit dem konkreten Anderen“ sei „etwas anderes als jene prinzipielle Besorgnis um situationale Gegebenheiten, die Heidegger oder Dewey im Sinn haben“.75 Gleichwohl sieht er in dem von den Entwicklungspsychologen dargestellten „ontogenetische[n] Befund […] einen ersten Anhaltspunkt fr die Plausibilitt“76 seiner Annahme der Vorrangigkeit77 des nicht-epistemischen Anerkennens vor dem Erkennen als einem kategorial zu unterscheidenden Weltbezug. Um diese These zu untermauern, versucht Honneth deshalb, die ontogenetische mit der sozialontologischen Argumentation zusammenzufhren, indem er ein Argument von Stanley Cavell aufgreift, daß vor aller mçglichen Erkenntnis von Empfindungszustnden eines anderen Subjekts zunchst eine gewisse Haltung stehen muß, in der ich mich in dessen Empfindungswelt gleichsam existentiell einbezogen fhle; ist ein solcher ,Ruck‘ einmal vollzogen und damit eine gewisse Form der Verbindung mit dem Anderen hergestellt, so nehme ich dessen Empfindungsußerungen als das wahr, was sie ihrem Gehalt nach sind, nmlich als an mich ergehende Forderungen, in einer entsprechenden Weise zu reagieren.78
Diese existentielle Haltung, die Honneth wie Cavell „Anerkennung“ nennt, beschreibt er zusammenfassend als „Ausdruck der Wrdigung der qualitativen Bedeutung, die andere Personen oder Dinge“79 fr uns besitzen. Wir wrdigen einen anderen Menschen nicht (erst) in Form eines 74 75 76 77
A. a. O., 49. A. a. O., 52. Ebd. Mir schiene es besser, von der „Unbedingtheit“ der Anerkennung zu sprechen, und zwar in doppelter Hinsicht: Zum einen lsst sich fr diese Anerkennung kein weiterer Grund angeben, zum anderen scheint mir diese Anerkennung anderer Menschen deshalb unbedingt, weil sie nicht an besondere Eigenschaften besonderer Menschen gebunden ist, sondern wir generell jeden Mensch anerkennen. Eine Vorrangfrage stellt sich m. E. erst vor dem Hintergrund einer solchen nichtepistemischen Anerkennung, nmlich dann, wenn wir zwischen verschiedenen Ansprchen stehen und berlegen mssen, welchen wir wie und in welcher Reihenfolge nachzukommen haben. 78 Honneth, Verdinglichung, 57. 79 A. a. O., 41 f.
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kognitiven Urteils, und wir tun dies zunchst auch unabhngig davon, als welche besondere Person wir jeweils Andere wahrnehmen und in welchem konkreten Verhltnis diese zu uns stehen mçgen; denn solche spezifischen Gehalte einzubeziehen ist ohne kognitive Vorgnge nicht mçglich. Dementsprechend weist Honneth darauf hin, dass sich nach Cavell „eine nicht-epistemische Besttigung der menschlichen Personalitt des Gegenbers“ selbst in bloßer „Indifferenz“ oder „negativen Gefhlen“ zeigen kçnne; denn es gehe hier um die „bis ins Affektive hineinwirkende Tatsache, daß wir den Wert des Anderen in der Einstellung der Anerkennung bejahen mssen, selbst wenn wir ihn im Augenblick verfluchen oder hassen“.80 Honneth geht dabei insofern ber Cavell hinaus, als er vermutet, dass „in solchen Fllen einer gefhlsmßig negativ erlebten Anerkennung immer ein Gespr dafr mitschwingt, dem Anderen in seiner Personalitt nicht angemessen gerecht zu werden; dabei wrde es sich dann um jenes Moment in der anerkennenden Haltung handeln, das herkçmmlich ,Gewissen‘ genannt wird“81. Moralische Verantwortung beruht also auf einer besonderen Art von Einsicht. Diese lsst sich als nicht-intentionale, nicht-epistemische Weise beschreiben, dem Anderen zu begegnen, als spezifische Haltung, die wir anderen Menschen gegenber haben und aufgrund der wir mit anderen Menschen in besonderer Weise umgehen. Gleichwohl soll hier nicht argumentiert werden, dass moralische Verantwortung als generelle Rechenschaftspflicht – die damit bereits ber eine existentielle Besorgnis anderen Menschen gegenber hinausgeht – ohne Bezug auf Bewusstseinsleistungen und Intentionalitt zu denken ist. Soll der Gehalt der moralischen Einsicht ber die vielleicht noch als vor-bewusst oder nicht-epistemisch zu deutende Erfahrung, dass Andere uns als Menschen etwas angehen, hinaus sich erstreckend beschrieben werden, nmlich als Einsicht, dass wir ihnen deshalb 80 A. a. O., 59 f. – Auch Stephen Darwall, der auf den Begriff der Anerkennung und den des Respekts im Zuge seiner Analyse des „second-person standpoint“ rekurriert, betont, dass der einem Anderen geschuldete Respekt, den Darwall auch „recognition respect“ nennt, sich nicht auf dessen „excellence or merit“ richte und auch nicht darauf, „how something is to be evaluated or appraised, but how our relations to it are to be regulated or governed. […] Since the authority that persons have as such is fundamentally second-personal, respect for it must be secondpersonal also; it must involve acknowledgement.“ (Darwall, The Second-Person Standpoint, 123; s. auch 126). 81 Honneth, Verdinglichung, 60. – Zu Honneths Beschreibungen eines Gewissens, das seinen Ursprung nicht in einem epistemischen Wissen hat, finden sich Parallelen bei Lvinas. (Siehe etwa EPP, 80, aber auch oben, Abschnitt II.3.2.3.)
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III.2. Grundlagen moralischer Verantwortung
Antworten und Rechtfertigungen schulden, bedarf es kognitiver Leistungen82 : Je deutlicher und griffiger das von Honneth als „Gespr“ beschriebene vorbewusste Empfinden sich artikuliert, dem Anderen nicht angemessen gerecht zu werden, desto offensichtlicher ist, dass die nicht-epistemische Bezogenheit auf den Anderen durch ein erkennendes Bewusstsein begleitet wird, das Menschen berhaupt erlaubt zu handeln und sich in ihrem Handeln an bestimmten Ansprchen zu orientieren. Menschen mssen, um entsprechend der nicht-epistemischen Anerkennung des Anderen handeln zu kçnnen, sowohl eine Vorstellung davon haben, was Grnde und Begrndungen sind, als auch ein Wissen davon erlangen, welche besonderen Bedrfnisse und Rechte andere Menschen aufgrund von jeweiligen Betroffenheiten ber das allgemeine „Recht auf Rechtfertigung“ hinaus haben. Damit kçnnen sie berhaupt spezifische Ansprche verstehen und darber entscheiden, welche an sie gestellten Ansprche berechtigt sind, so dass sie diesen in ihrem Handeln Rechnung tragen mssen. Dies kçnnen sie nur, indem sie den Anderen sowohl anerkennen als auch darber nachdenken und schließlich urteilen, in welcher Weise der Andere sie etwas angeht. Zur moralischen Einsicht gehçrt also ebenso die andere Dimension,83 dass die Verantwortungspflicht, wie Forst hervorhebt, nicht bloß „anerkannt“, sondern eben auch „erkannt“ wird.84 Menschen mssen, um Anderen nicht nur irgendwie zu antworten, sondern ihnen mçglichst angemessen zu antworten und sich vor ihnen zu verantworten, eine kognitive Vorstellung davon haben, wie sie Anderen gerecht werden kçnnen. Dabei sehe ich mindestens drei Momente, bei denen Kognition zur „gesprten“ Einsicht in die Verantwortung dem Anderen gegenber hin82 Auch Martin Seel macht gegen Honneths Vorrangthese einer nicht kognitiven Anerkennung geltend, dass zur „Teilnahme an diesem Aufeinanderreagieren […] bereits elementare Wahrnehmungs- und damit Unterscheidungsleistungen verlangt [sind], die durchaus den Titel kognitiver Fhigkeiten verdienen, wie sehr und wie weit diese auch zunchst diesseits der Schwelle zu einem begrifflichen Festhalten von Gegebenheiten und Gelegenheiten verharren werden“. So sieht Seel zwar in der Anerkennung eine Art Voraussetzung fr „ein zunehmend distanziertes Erkennen“. Dennoch sei auch Anerkennung nicht ohne Erkennen mçglich: „Beides, das Eingehen auf die Sichtweisen anderer sowie die erkennende Sondierung der mit ihnen geteilten Welt, vollzieht sich zusammen; auf die Welt gerichtetes Vernehmen und auf die anderen gerichtetes Verstehen hngen wechselseitig voneinander ab.“ (Martin Seel, „Anerkennung und Aufmerksamkeit. ber drei Quellen der Kritik“, 162 ff.) 83 Auch Lvinas weist ausdrcklich darauf hin, dass das „nicht-intentionelle Gewissen das intentionale Bewusstsein begleitet“. (Lvinas, EPP, 83.) 84 Forst, „Moralische Autonomie“, 190.
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zukommen muss: Zum einen ist die ursprngliche Begegnung mit dem Anderen reflexiv einzuholen, damit die Erfahrung auch dort handlungsleitend wird, wo wir ihr nicht unmittelbar entsprechen; zum anderen ist Kognition erforderlich, damit wir vor dem Hintergrund einer grundstzlichen Anerkennung des Anderen die an uns gestellten Ansprche verstehen, abwgen und nach dem Maßstab der Gerechtigkeit beurteilen kçnnen; schließlich kommt Kognition ins Spiel, wenn es um die Mçglichkeit geht, diese Grunderfahrung einer konkreten Begegnung mit einem anderen Menschen verallgemeinernd auf alle denkbaren anderen Menschen zu bertragen, auch ohne dass wir diesen persçnlich begegnet sein mssen. Zwar setzt andere Menschen anzuerkennen konkrete Begegnungen voraus, in denen wir unserer Pflicht gewahr werden, dass wir uns ihnen gegenber zu rechtfertigen haben. Doch da Menschen nicht jedem anderen Menschen persçnlich begegnen und somit auch nicht zu jedem Anderen in einem konkreten Anerkennungsverhltnis stehen, lsst sich diese Anerkennung mittels der Vernunft bertragen. Denn als vernunftbegabte Wesen kçnnen Menschen erkennen, dass sie grundstzlich (und nicht nur in einer je konkreten Situation) gegenber jedem Menschen verantwortlich sind, weil auch dieser sie als Mensch immer etwas angeht. Nicht-intentionale Bezogenheit auf den Anderen (die Anerkennung des Anderen als Anderen) und kognitives Erfassen (das Erkennen) der Verantwortungspflicht sowie das Wissen ber die Angemessenheit und die Mçglichkeit der Universalisierung sind dabei inhrent miteinander verbunden,85 auf der Handlungsebene voneinander abhngig und damit nicht in eine Rangordnung zu bringen; Menschen wrden berhaupt nicht vernnftig darber nachdenken, wie sie auf Andere und deren Ansprche angemessen antworten kçnnen, wenn sie dabei nicht bereits anerkannt htten, dass diese Anderen als Menschen sie etwas angehen. Dagegen wrde ohne ein durch die Begegnung mit dem anderen Menschen instruiertes,
85 Siehe abermals die entsprechende These bei Lvinas (JS, 343, [200]), aber auch Gelhard, Levinas, 108 f., der betont, die „Forderung nach Gerechtigkeit“ fhre „zu einem Umschlag der Diachronie in Synchronie, des Sagens ins Gesagte und des Singulren ins Universale“. In diesem Sinne versteht Gelhard sie als eine „,unablssige Korrektur‘ der Asymmetrie der ethischen Beziehung“, die den „,Umschlag des unvergleichlichen Subjekts zum Mitglied der Gesellschaft‘“ und „den bergang vom Ethischen zum Politischen“ ermçgliche, wobei sie „als Forderung“ immer auch „eine ethische Qualitt“ behalte und „das Universale an das Singulre zurck[binde]“. (109) Siehe zur Verschrnkung beider fr verantwortliches Handeln notwendiger Perspektiven auch den Abschnitt weiter oben, II.3.3.3.
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III.2. Grundlagen moralischer Verantwortung
Vernunft-geleitetes Denken die Anerkennung leicht zur unverbindlichen Floskel. Gleichwohl: Auch dort, wo das Subjekt nicht nur dem einen Anderen, sondern auch noch dessen Nchsten zu antworten und gerecht zu werden hat, geht es, wie Lvinas bereits betont, immer um konkrete andere Menschen, denn auch „alle Anderen, die mich im Anderen begrnden und verfolgen, betreffen mich nicht als ,Exemplare‘ derselben Gattung, die mit meinem Nchsten aufgrund von hnlichkeit oder natrlicher Gemeinschaft verbunden sind“86, sie betreffen mich, so ließe sich sinngemß ergnzen, da auch sie, jeder fr sich, in ihrer Alteritt einzige konkrete Andere87 sind. Im Unterschied zu kantisch orientierten Moralanstzen, die ausgehend von der Universalitt des Moralgesetzes Einzelflle diesem subsumieren, wird hier die Erfahrung mit dem konkreten Einzelnen auf jeden Anderen bertragen, weil auch er eben ein Anderer ist. Es geht also weniger um die Erfllung eines abstrakten Prinzips als darum, dem anderen Menschen in der konkreten Ausprgung seines Menschseins gerecht zu werden. Kern der Moral ist damit nicht ein allgemeines Gesetz, sondern die Bereitschaft, sich auf den jeweils anderen Menschen einzulassen. Die bislang vertretene These, dass verantwortlich sein einen wesentlichen Aspekt der Weise beschreibt, wie Menschen miteinander Welt teilen, ist somit zu einer moralphilosophischen Aussage erweitert worden: Menschen anerkennen in der Begegnung mit einem Anderen – und zwar unabhngig von jeder besonderen Beziehung – auf nicht intentionale Weise, dass dieser Mensch sie etwas angeht, und dabei erkennen sie zugleich, dass sie diesem wie jedem Anderen zu antworten bzw. sich vor ihnen mit Grnden zu verantworten haben.88 Nicht anzuerkennen oder zu erkennen, dass der Andere ein solches grundstzliches Recht auf Rechtfertigung hat – wie Forst den Kern der moralischen Einsicht bestimmt –, wrde bedeuten, ihm und sich selbst eine wesentliche Dimension des menschlichen In-derWelt-Seins abzusprechen: nmlich ein Wesen zu sein, das mit Anderen in der Sprache eine Welt teilt, wozu auch gehçrt, sich fr sein Handeln und Verhalten vor Anderen mit angemessenen Grnden zu rechtfertigen. 86 Lvinas, JS, 346. 87 So betont auch Adrian Peperzak im Anschluss an Lvinas, dass die Einzigkeit des Gesichts universell sei. (Vgl. Adriaan Peperzak, „The Other, Society, People of God“, in: Beyond. The Philosophy of Emmanuel Levinas, 127.) 88 Und dies gilt m. E. epochen- und kulturbergreifend, auch wenn natrlich die spezifischen Rechtfertigungsweisen und das, was wir als berechtigte Ansprche anerkennen etc., durchaus dem historischen Wandel unterliegen.
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3.) Die hier beschriebene Einsicht setzt sich also aus zwei miteinander verwobenen und dabei aufeinander angewiesenen Arten des Weltbezugs zusammen: Neben einer nicht-intentionalen, nicht-kognitiven Anerkennung des anderen Menschen bedarf es immer auch kognitiver Fhigkeiten, damit wir entsprechend dieser Einsicht antworten und handeln kçnnen. Offen geblieben ist jedoch bislang, wie diese Einsicht aus metaethischer Perspektive zu beschreiben wre – ob es sich dabei um eine eher konstruktivistisch zu verstehende These ber die Einsicht der praktischen Vernunft handelt oder ob diese doch ber einen moralisch-realistischen Kern verfgt. Betrachten wir daher noch einmal das erste Element dieser Einsicht – die nicht-intentionale Bezogenheit auf den Anderen, verstanden als originre Form der Anerkennung, die den Anderen als moralisch relevantes Gegenber besttigt. Damit wurde zunchst ein heteronomes Moment89 der Einsicht hervorgehoben. Denn anders als etwa die meisten kantisch argumentierenden Moraltheorien setzt die hier vorgeschlagene Verantwortungskonzeption nicht beim autonomen Subjekt an, das mittels seiner Vernunft das moralische Gesetz konstituiert oder schafft, dem es sich fortan unterstellt sieht.90 Vielmehr geht sie von einer Beschreibung des anderen Menschen aus, der die Sinnstiftung des Subjekts transzendiert und es so eine ethische Dimension erfahren lsst, die fr seine Subjektivitt konstitutiv ist. Damit und nicht mit der autonomen Vernunft sollte m. E. eine Phnomenologie der Moral beginnen, da, wie auch Forst betont, „nur der andere Mensch […] – eben weil er ein Mensch ist – […] der Grund der moralischen Verpflichtung“91 sein kann. Die moralische Autoritt des Anderen als Grundlage unserer Verantwortung, die in der intersubjektiven Begegnung zutage tritt und vom Subjekt anerkannt wird, ist jedoch allenfalls in einem begrenzten Sinne als eine subjekt-unabhngige Realitt zu charakterisieren.92 Zwar ist sowohl in der Lvinas’schen Beschreibung der Begegnung mit dem Anderen als auch in dem, was Honneth als Anerkennung des Anderen bezeichnet, das 89 Siehe auch Lvinas’ Erçrterungen zur „endlichen Freiheit“ im gleichnamigen Abschnitt in Lvinas, JS, 270 – 288 [156 – 166]. 90 Siehe hierzu etwa die Moraltheorien von Dieter Henrich oder Christine Korsgaard. 91 Forst, „Moralische Autonomie“, 190. 92 So stimme ich McDowell auch dahingehend grundstzlich zu, dass „[e]s […] ein irriger Gedanke [ist], wenn man die Objektivitt als vollstndige Unabhngigkeit von der Subjektivitt auffasst“, denn „da die natrliche Welt eine Welt ist, ist sie in puncto Konstitution nicht von der Struktur der Subjektivitt unabhngig.“ (John McDowell, „Zwei Arten von Naturalismus“,48.)
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III.2. Grundlagen moralischer Verantwortung
Subjekt nicht als allein aktive oder vorrangige Ursache einer Erkenntnisleistung zu verstehen, gleichwohl geht es auch nicht um vom Subjekt losgelçste, objektiv gesetzte Werte oder Eigenschaften des Anderen, sondern immer um eine Weise der personalen, intersubjektiven Bezogenheit, bei der der Andere nicht fr sich genommen, sondern gerade fr das Subjekt eine Autoritt darstellt. Die hier vorgeschlagene Bestimmung der Quelle der Moral basiert also auf einer Relationalitt, die sich nicht mit einer „einfachen“ Objektivittsthese vereinbaren lsst. Einer solchen bedarf es m. E. auch gar nicht, geht es doch bei der Moral weniger um die Beschreibung der objektiven als um die intersubjektive Welt.93 In diesem Zusammenhang Objektivitt anzunehmen wre, wie John McDowell erklrt, insofern „abwegige Metaphysik“, als dabei die moralische Dimension des Anderen wie „Werte oder Pflichten unserer Subjektivitt gegenbergestellt und fr von ihr ebenso unabhngig erachtet werden wie Form und Grçße der Dinge“.94 Zwar impliziert das als Begegnung mit dem Anderen bzw. als dessen Anerkennung beschriebene Bezogensein auf den Anderen, dass wir uns auf diesen als ein moralisch relevantes Gegenber und damit als eine Art Autoritt einlassen, die nicht durch subjektive Vernunftleistung gestiftet ist; indes ist die Begegnung eben nicht allein eine Wirkung der „Autoritt“ des Anderen (die sich strenggenommen begrifflich gar nicht als Autoritt fassen lsst, geht es dabei doch gerade nicht um eine zu erkennende Eigenschaft an einem Objekt), sondern diese ergibt sich ebenso aus der nichtintentionalen „Haltung“ des Subjekts, das den Anderen anerkennt. Passend scheint es mir deshalb, die moralische Wahrnehmung des Anderen hnlich der von McDowell im Anschluss an Locke entwickelten Idee zu deuten, moralische Werte analog zu Farben als secondary qualities zu beschreiben, denn, so betont McDowell, „[g]enauso wie Farben sind Werte nicht schlichtweg – unabhngig von unserem Empfindungsvermçgen – da; [doch] wie bei den Farben hlt uns dies nicht von der Annahme ab, daß sie unabhngig von jeder ihrer einzelnen manifesten Erfahrungen bestehen“95. 93 Siehe hierzu etwa Jrgen Habermas, „Richtigkeit versus Wahrheit. Zum Sinn der Sollgeltung moralischer Urteile und Normen“, 312 ff. 94 John McDowell, „Interne und externe Grnde“, 163. 95 John McDowell, „Werte und sekundre Qualitten“, in: Wert und Wirklichkeit, 225. – Siehe auch ders., Geist und Welt, 57 f.: „Der Begriff einer Ansicht gehçrt in den visuellen Bereich. Wir kçnnen ihn aber derart verallgemeinern, dass er auch nichtvisuelle Erfahrungen umfasst. […] Der Gegenstand der Erfahrung wird so verstanden, als wre er in eine weiterreichende Realitt eingebettet, und zwar auf eine Art und Weise, die widerspiegelt, wie die entsprechenden Begriffe in das
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Zwar ist unbersehbar, dass die Anerkennung anderer Menschen als moralisch relevanter Gegenber nicht wie die Farbwahrnehmung auf der Ebene sinnlicher Erscheinungen gedeutet wurde, gleichwohl sehe ich eine Parallele darin, dass die nicht-intentionale Anerkennung des Anderen ebenfalls auf dem subjektiven Vermçgen, dem Anderen begegnen zu kçnnen, basiert und damit auch nicht losgelçst von einem Empfindungsbzw. Wahrnehmungsvermçgen des Subjekts zu denken ist. Darber hinaus sehe ich noch eine weitere Strukturhnlichkeit darin, dass der Andere auch dann noch als moralisch relevantes Gegenber zu verstehen ist, wenn ihm gerade niemand persçnlich begegnet – hnlich, wie wir Gegenstnde eben auch dann als farbig beschreiben, wenn sie von niemandem aktual gesehen werden. In diesem Sinne kçnnte man die hier vertretene Position als einen schwachen moralischen Realismus deuten,96 wobei einer solchen Beschreibung der Quelle der Moral wohl auch eher zum Konstruktivismus tendierende Autoren wie Christine Korsgaard zustimmen wrden, wie etwa die folgende Aussage illustriert, in der auch sie die Rolle der anderen Menschen als moralischer Autoritten betont: Of course there are entities that meet these criteria. It’s true that they are queer sorts of entities, and that knowing them isn’t like anything else. But that doesn’t mean that they don’t exist. […] For it is the most familiar fact of human life that the world contains entities that can tell us what to do and make us do it. They are people, and the other animals.97 Repertoire der Spontaneitt im allgemeinen eingebettet sind. Diese Einbettung erlaubt sogar eine Farberfahrung als ein Bewußtsein von etwas zu verstehen, das unabhngig von der Erfahrung selbst ist: etwas, das durch seine Verbindung mit der weiterreichenden Realitt an seinem Platz festgehalten wird, so dass wir uns vorstellen kçnnen, dass es sich so verhalten wrde, selbst wenn es nicht so wahrgenommen wrde.“ Dabei scheint mir offen, ob es berhaupt so etwas wie primary qualities gibt oder ob nicht alle Eigenschaften von Gegenstnden bzw. Tatsachen auf entsprechende subjektive Empfindungs- bzw. Wahrnehmungsvermçgen angewiesen sind. In eine hnliche Richtung argumentiert denn auch McDowell selbst. (Siehe McDowell, „Zwei Arten von Naturalismus“, 50.) 96 Allerdings nicht in dem Sinne, dass wir moralischen Urteilen subjektunabhngige Wahrheitswerte zusprechen – um diese Frage geht es mir hier gar nicht. 97 Korsgaard, The Sources of Normativity, 166. – Diese Passage aus Korsgaards „Tanner Lectures“ ist ein Kommentar zu John Mackie. Dagegen argumentiert Korsgaard an anderer Stelle (vgl. etwa Korsgaard, „Realism and Constructivism in Twentieth-Century Moral Philosophy“, 105) eindeutig als Kritikerin des moralischen Realismus: „Rather, I mean to call into question the idea that this is what all of our concepts are for – that their cognitive job, so to speak, is to describe reality. So long as we retain that idea, it will continue to appear that moral realism is the only possible alternative to relativism, skepticism, and all of the various ways that ethics
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III.2. Grundlagen moralischer Verantwortung
Doch auch wenn Verantwortung als moralische Pflicht auf der nicht-intentionalen Begegnung mit dem Anderen bzw. seiner Anerkennung beruht, ist damit die Einsicht in unsere Pflicht, dass wir uns vor jedem, der von unserem Handeln betroffen ist, mit guten Grnden zu rechtfertigen haben, nur unvollkommen beschrieben. Dafr bedarf es, wie bereits ausgefhrt wurde, gleichermaßen kognitiver Fhigkeiten, die uns erlauben, Ansprche reflexiv zu betrachten und zu berlegen, wie wir den verschiedenen Anderen und ihren Ansprchen entsprechen kçnnen. Ohne solche kognitiven Fhigkeiten kçnnten wir berhaupt nicht (verantwortlich) handeln; wir wren auch nicht in der Lage, die Anerkennung des Anderen auch dort als Grund zu bercksichtigen, wo wir ihr nicht unmittelbar entsprechen; und schließlich wssten wir nicht, wie wir die in der konkreten Begegnung mit dem Anderen anerkannte Autoritt auf all die Anderen zu bertragen haben,98 weil auch sie uns begegnen kçnnen. Die moralische Einsicht in unsere Verantwortung impliziert eindeutig Vernunftleistungen, die uns berhaupt erst ermçglichen, jeden Anderen in unserem Handeln zu bercksichtigen. Denn, worauf auch Forst insistiert, „[n]ur dem ,vernnftig‘ blickenden Auge enthllt sich der Mensch als Person mit einem Recht auf Rechtfertigung“99. Ohne kognitive Fhigkeiten kçnnten wir gar nicht erfassen, was Verantwortung im Sinne einer Rechtfertigungspflicht sein soll: Sowohl sich zu rechtfertigen als auch sich als verpflichtet zu begreifen setzt kognitive Leistungen voraus. Außer Frage steht also, dass es fr moralisch verantwortliches Handeln der Vernunft bedarf. Mir scheint jedoch, dass diese praktische Vernunft als „eine Weise des In-der-Welt-seins, die andere im Lichte des Rechtfertigungsprinzips erscheinen lsst“100, sich nicht mehr ausschließlich als autonom beschreiben lsst, wenn sie den anderen Menschen als moralisches Gegenber weniger konstituiert als eben „enthllt“101. Der Andere erfhrt zwar durch die Vernunft eine spezifische Interpretation, geht aber gleichwohl als
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99 100 101
might seem hopeless. And so long as moral realism is the only possible alternative to these skeptical options, the need to show that moral truth is as solid, as real, as objective, as scientific truth – and also that it is objective in the same way as scientific truth – will seem pressing.“ Siehe hierzu auch Korsgaard, die es fr ein Charakteristikum konstruktivistischer Positionen hlt, dass in ihnen die Vernunft zur Lçsung praktischer Probleme eingesetzt wird. (Korsgaard, „Realism and Constructivism in Twentieth-Century Moral Philosophy“, 115.) Forst, „Moralische Autonomie“, 196; Hervorhebung E. B. Ebd. Ebd.
III.2.2. Verantwortung als moralische Pflicht
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moralische Autoritt nicht erst aus ihr hervor. Auch wenn das „Recht auf Rechtfertigung“ dem anderen Menschen erst durch die Vernunft zuerkannt wird, entspricht diese damit doch der besonderen Weise, wie Menschen mit Anderen Welt teilen. Meines Erachtens verweist Verantwortung auf zweierlei: auf den Anderen als moralisch relevantes Gegenber und auf unsere Vernunft. Die dabei beschriebene Realitt ist demnach eine durch und durch menschlich bzw. intersubjektiv gegebene und konstituierte, bei der Menschen sowohl einen rezeptiven wie auch einen konstruierenden Part bernehmen. Insofern ließe sich Verantwortung als Einsicht in unsere moralische Pflicht am besten beschreiben als ein vernnftiges Konstrukt, um angemessen auf das real sich uns stellende Problem zu antworten, wie wir mit anderen Menschen, die wir als moralisch relevante Gegenber (an)erkennen, unter allen anderen Menschen, die wir ebenso (an)erkennen, umzugehen haben.
III.3. Verantwortliches Handeln In den beiden vorangegangenen Kapiteln wurde das Verhltnis von Verantwortung und Handeln nher bestimmt, und es wurden die Thesen entfaltet, dass es wesentlich zum menschlichen Selbstverstndnis gehçrt, verantwortlich zu sein und dass darber hinaus Menschen eine Disposition zur moralischen Einsicht in eine Verantwortungspflicht gegenber allen Menschen haben. Zwei mçgliche Bedenken sind dabei zu erwgen: Das eine wre, dass wir den unbedingten Anspruch eines einzelnen Anderen nicht mehr wahrnehmen, wenn wir Verantwortung so weit fassen und so abstrakt denken; das andere Bedenken kçnnte sein, dass in der realen Lebenswelt die vorbehaltlose Bereitschaft, den Ansprchen des einen Anderen gerecht zu werden, dazu fhren kçnnte, legitime Interessen Dritter oder die der eigenen Person nicht ausreichend zu bercksichtigen. Daher soll in diesem Kapitel weiter berlegt werden, wie die aus dem Alltag gelufige Spannung zwischen unbedingter Verantwortung gegenber einem Anderen und relativierender Gerechtigkeit gegenber jedem von unserem Handeln Betroffenen aufzulçsen wre. So soll nun abschließend erneut die Frage im Fokus stehen, wie im Sinne einer solchen moralischen Verantwortung zu handeln ist. Dabei ist vorab zwischen einer ontologischen, wertneutralen und einer moralisch bewertenden Verwendungsweise des Adjektivs bzw. Adverbs „verantwortlich“ zu unterscheiden.1 Auf der ontologischen Ebene sind Menschen in allen ihren Lebensvollzgen zumindest insofern verantwortlich, als sie nicht handeln, ohne dass sie grundstzlich durch Andere aufgefordert sind, ihr Handeln mit Grnden zu rechtfertigen oder zu verantworten.2 Wo jedoch alles Handeln a priori als verantwortlich qualifiziert ist, erbrigt sich 1 2
Siehe hierzu auch Lohmar, Moralische Verantwortlichkeit ohne Willensfreiheit, 41 ff., der (allerdings in einem etwas anderen Kontext) eine hnliche Unterscheidung vornimmt. In diesem Sinne lsst sich Verantwortung nicht nicht bernehmen, wie wir nicht nicht antworten kçnnen und wie wir nach Kant und nach Lyotard das Gesetz nicht nicht anerkennen kçnnen, denn selbst „wenn du das Gesetz brichst, erkennst du es an. […] Der Empfnger kann sehr wohl folgendermaßen anknpfen: Ich werde es nicht tun, obwohl er zuvor ein von der Verpflichtung ergriffenes Du gewesen ist.“ (Jean-FranÅois Lyotard, Der Widerstreit, 204.)
III.3. Verantwortliches Handeln
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die Frage, wie wir verantwortlich zu handeln haben.3 Die andere gebruchliche Verwendungsweise von „verantwortlich“ – und um diese geht es hier – impliziert dagegen eine qualitativ positive Bewertung. Handlungen kçnnen dann entweder verantwortlich oder unverantwortlich oder auch mehr oder weniger verantwortlich bzw. unverantwortlich sein. Auch wenn potentiell alle Handlungen vor Anderen zu rechtfertigen sind, kçnnen Rechtfertigungsdiskurse verweigert, umgangen oder akzeptiert werden und folglich zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. In diesem zweiten Sinne gelten Handlungen als verantwortlich, die (von allen Beteiligten) als legitim beurteilt werden kçnnen. Und wir fragen: Wie kçnnen Menschen vor sich selbst und Anderen gegenber verantwortlich handeln? Wie wichtig diese Frage nach einer verantwortlichen Praxis auch innerhalb der philosophischen Diskussion ist, wird etwa in der politischphilosophischen Debatte um Gerechtigkeit und Menschenrechte deutlich, bei der das Problem an zentraler Stelle steht, wie in einer Lebenswelt mit globalem Horizont eine verantwortliche Praxis auszusehen hat.4 Auch fr Jonas und Apel war dieses Problem konstitutiv fr die Entwicklung ihrer Theorien. An ihren Schriften sowie der durch sie evozierten Kritik wurde allerdings zugleich deutlich, dass hier die Philosophie berfragt ist, wenn sie nicht angrenzende Disziplinen wie etwa die Politikwissenschaft, die Rechtswissenschaft oder die Soziologie mit einbezieht.5 Gleichwohl haben doch alle drei Autoren der hier untersuchten Verantwortungstheorien einige grundlegende Erwgungen zu dieser Problemstellung beisteuern kçnnen. Jonas hat – so eindringlich wie wohl kein anderer Philosoph und zu einem Zeitpunkt, da diese Thematik in der Philosophie noch wenig Beachtung fand – nicht nur auf die Notwendigkeit und Dringlichkeit einer verantwortlichen Praxis hingewiesen, er war es auch, der den prospektiven, 3
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hnlich unscharf ist auch das Adjektiv moralisch selbst: Einerseits charakterisiert es den Menschen als ein moralisches Wesen, d. h. ein generell der Moral fhiges Wesen, andererseits werden Handlungen als moralische (d. h. moralisch gute) oder unmoralische (also moralisch schlechte) bezeichnet. Siehe hierzu etwa den inzwischen auch ins Deutsche bersetzten Artikel von Peter Singer, „Famine, Affluence, and Morality“, 229 – 243, sowie den krzlich auf Deutsch erschienenen, von Barbara Bleisch und Peter Schaber herausgegebenen Sammelband Weltarmut und Ethik, aber auch die Arbeiten von Thomas W. Pogge (World Poverty and Human Rights und „Moralizing Humanitarian Intervention: Why Jurying Fails and How Law Can Work“, 158 – 187) und den auf Englisch erschienen Aufsatzband: Andrew Kuper (Hg.), Global Responsibilities. Who Must Deliver on Human Rights? Dies hat etwa Jrgen Habermas vor allem mit seiner Diskurstheorie des Rechts getan. (Habermas, Faktizitt und Geltung.)
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III.3. Verantwortliches Handeln
Generationen bergreifenden Aspekt6 von Verantwortung in den Blickpunkt systematischer Analysen gerckt hat: Wie wir in zunehmend unberschaubar gewordenen Kontexten unser Handeln und dessen nicht mehr einfach und oft nicht eindeutig voraussehbare Folgen fr uns und zuknftige Generationen dennoch verantworten kçnnen, ist Jonas’ zentrales Problem, das trotz seiner Dringlichkeit bis heute – wie die Diskussionen um unzureichende politische Konsequenzen, die aus çkologischen Prognosen gezogen werden, immer wieder drastisch vor Augen fhren – nicht einmal annhernd gelçst wurde. Apel und Lvinas indessen haben (in sehr unterschiedlichen Theoriekontexten und mit dementsprechend jeweils eigenen Akzenten) Verantwortung eng mit der Sprachfhigkeit des Menschen verbunden. Sie haben damit den hier entwickelten berlegungen zu einer verantwortlichen Praxis die Richtung gewiesen – sich im sprachlichen Austausch mit Anderen ber die Berechtigung der eigenen Handlungen, der ihnen zugrunde liegenden Intentionen und der eigenen Lebensweise zu verstndigen und dementsprechend zu handeln. Von drei Thesen ausgehend, sollen im Folgenden berlegungen entfaltet werden, die die Philosophie zur Klrung des Problems, wie verantwortlich zu handeln ist, beisteuern kçnnte: 1) Die Frage, welche Handlungen und Antworten als berechtigt gelten kçnnen, verweist auf die Notwendigkeit eines intersubjektiv gltigen Maßes – der Gerechtigkeit –, mit Hilfe dessen die mit jedem Handeln verknpften Berechtigungsansprche sowie die verschiedenen Ansprche der von einer Handlung Betroffenen verglichen und beurteilt werden kçnnen. 2) Verantwortlich zu handeln verlangt vom handelnden Subjekt verschiedene Formen der temporren Urteilsenthaltung, die es erlauben, neben den eigenen Interessen auch die Ansprche Anderer deutlich wahrzunehmen und sie gegeneinander abzuwgen. 3) Hierfr bedarf es der sprachfçrmigen Verstndigung mit Anderen, in der diese mit ihren Ansprchen so weit wie mçglich einbezogen werden kçnnen. Sie bildet eine der Grundlagen sozialer Institutionen, die es dem Subjekt ermçglichen, die fr eine verantwortliche Praxis notwendigen Fhigkeiten zu entwickeln und darber hinaus den Raum fr diesen Austausch und fr die Einbeziehung Anderer zu schaffen. 6
Sicherlich findet sich diese prospektive Bedeutung auch schon bei Max Weber, der bekanntlich als einer der ersten mit seiner Unterscheidung von Verantwortungsund Gesinnungsethik den Verantwortungsbegriff populr gemacht hat; gleichwohl geht es ihm noch nicht explizit um den generationenbergreifenden Aspekt von Verantwortung.
III.3.1. Verantwortliches Handeln – Gerechtigkeit als Maß
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III.3.1. Verantwortliches Handeln – Gerechtigkeit als Maß Mit jedem Handeln, so wurde in Kapitel III.1 hervorgehoben, verbindet sich der Anspruch, dass es sich rechtfertigen lsst. Dabei muss ein Subjekt neben den eigenen Bedrfnissen und den Erwartungen, die es an Andere oder an sich selbst richtet, auch Ansprche und Erwartungen derjenigen einbeziehen, die von seinem Handeln in relevanter Weise betroffen sind, sonst ließe dieses sich nicht im handlungsbegleitenden Diskurs vor Anderen als gerechtfertigt ausweisen. Allerdings kann das handelnde Subjekt nur selten allen vollstndig gerecht werden, lebt es doch in einer Welt, in der die Ansprche anderer Menschen, die zu bercksichtigen sind,7 hufig in Konflikt miteinander oder mit eigenen Ansprchen stehen. Das Subjekt kommt also nicht umhin zu fragen, welchen Ansprchen welcher Anderer es aus welchen Grnden entsprechen muss bzw. welche es mit Grund zurckweisen kann. Daher ist jedes handelnde Subjekt, um verantwortlich zu handeln, gençtigt, die verschiedenen Ansprche der von seinem Handeln Betroffenen zu prfen, zu beurteilen und gegeneinander abzuwgen.8 Selbst fr Lvinas, der in seinen Schriften zunchst eine unendliche Verantwortung postuliert, ist klar, dass das handelnde Subjekt, will es als endliches Wesen mit endlichen Ressourcen und endlich viel Zeit seiner Verantwortung nachkommen, die Frage stellen muss: „Was habe ich gerechterweise zu tun?“9 Denn wrde es einfach nur dem einen Anderen antworten, wie Lvinas’ Formulierungen es bisweilen nahelegen, dabei aber die Erwartungen der anderen Betroffenen wie auch die eigenen vernachlssigen, wre sein Handeln nur in Abstraktion von der realen Welt als verantwortlich zu bezeichnen; in Wirklichkeit wre es insofern unverantwortlich, als die Belange der anderen Anderen ungehçrt blieben, und außerdem liefe das Subjekt, wenn es von der Erfllung seiner eigenen 7 8
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Dies geht auf der moralischen Ebene unseres Handelns bis hin zur Einbeziehung aller Anderen, d. h. der heute und zuknftig lebenden Anderen. Sogar in der romantisch-brgerlichen Idee einer auf Liebe zu einer Person begrndeten Zweierbeziehung sehen Menschen sich in der Realitt damit konfrontiert, zwischen verschiedenen Ansprchen verschiedener Personen abwgen zu mssen, auch wenn hier eine Hierarchie der Ansprche von vornherein vorgegeben scheint. Denn schließlich findet auch diese Liebesbeziehung in einer Welt statt, in der Menschen in einer Vielzahl sozialer Beziehungen unterschiedlicher Natur stehen, die mit einer Vielzahl unterschiedlicher Ansprche verbunden sind, denen Menschen mit je unterschiedlicher Dringlichkeit zu antworten haben, solange sie sich in diesen sozialen Strukturen bewegen. Siehe zum Ideal der romantischen Liebe auch Norbert Elias, Die hçfische Gesellschaft, 380 f. Lvinas, JS, 343; Hervorhebung E. B. [200].
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III.3. Verantwortliches Handeln
Intentionen gnzlich abshe, schließlich Gefahr, sich selbst zu beeintrchtigen oder zu schdigen und damit tendenziell handlungsunfhig zu werden. Um aber die verschiedenen partikularen, eigenen und fremden Ansprche vergleichen zu kçnnen, um dann zu beurteilen und zu entscheiden, welche davon in welchem Maße im Handeln zu bercksichtigen sind, bedarf es eines intersubjektiv geltenden Maßes – der Gerechtigkeit. Diese ist nicht mit Angemessenheit zu verwechseln, denn anders als der Begriff „Angemessenheit“ impliziert „Gerechtigkeit“, dass wir bei der Beurteilung von Handlungen und deren Folgen die Perspektiven und Interessen anderer involvierter Personen in ausgewogenem Maß (ohne dass hier geklrt werden kann, was das im Einzelfall heißen mag) einbeziehen. Eine Handlung als angemessen zu beurteilen erfordert hingegen nicht notwendigerweise eine solche umfassende, Perspektiven und Interessen vergleichende Weise des Herangehens: Hier kçnnen die Interessen und Ansprche Anderer so lange unbercksichtigt bleiben, wie das Kriterium der Angemessenheit nicht spezifisch auf soziale Positionen oder Rollen bezogen wird. „Gerechtigkeit“ lsst sich insofern als ein Unterbegriff zu „Angemessenheit“ verstehen, als dieser Begriff – zumindest in der hier unterstellten Verwendungsweise10 – eine Weise der Angemessenheit beschreibt, die Andere als gleichrangig oder zumindest „ausgewogen“ (im Sinne eines Interessenausgleichs) mit bercksichtigt. Allerdings ist eine sich an Gerechtigkeit orientierende Handlung in moralischer Hinsicht auch als angemessen zu beschreiben. Doch was ist gerecht bzw. welche Handlungen sind gerecht? Dieser in der praktischen Philosophie wie im Alltag so zentrale Begriff gilt als mindestens ebenso unbersichtlich und komplex wie der Begriff der Verantwortung selbst und variiert darber hinaus je nach Kontext, in dem er verwendet wird. Zumindest der Kern eines allgemein geteiltes Grundverstndnisses dieses Begriffes kann und sollte gleichwohl vorausgesetzt werden. Es wird mit den Attributen der Unparteilichkeit 11, Ausgewogen10 Gelegentlich fehlt auch bei der Weise, in der wir „gerecht“ in der Alltagssprache verwenden, der Bezug auf Andere – so sagen wir etwa, dass jemand mit einer Handlung sich selbst (d. h. den eigenen Ansprchen an sich selbst) nicht gerecht wird. 11 Siehe etwa Forst, Kontexte der Gerechtigkeit, 9; Stefan Gosepath, Gleiche Gerechtigkeit. Grundlagen eines liberalen Egalitarismus, 36 ff.; Otfried Hçffe, Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat. Erweiterte Neuausgabe, 43 f.
III.3.1. Verantwortliches Handeln – Gerechtigkeit als Maß
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heit 12 und Autoritt 13 im Urteilsspruch verbunden oder, negativ formuliert, mit der Forderung nach Willkrvermeidung14 und findet sich im Bild der Justitia mit Augenbinde15, Waage und Schwert symbolisiert. Aus einem Verstndnis, das sich von diesen sicherlich noch sehr vagen Attributen leiten lsst, ergibt sich fr die Frage, wie sich verantwortliches Handeln am Maß der Gerechtigkeit zu orientieren hat: Die verschiedenen Ansprche und die zu ihrer Sttzung vorgebrachten Grnde werden nicht etwa allein in Bezug auf ihre Kongruenz mit den eigenen Interessen und Neigungen beurteilt. Vielmehr werden die einzelnen subjektiven Standpunkte und Ansprche auf eine bergeordnete Perspektive hin transzendiert, die idealiter die Ansprche aller Betroffenen umfasst.16 Alle von einer Handlung Betroffenen sind bei der Bewertung der Handlung zunchst als moralisch gleichrangige 17 Personen einzubeziehen, dann jedoch in dem 12 Forst, Kontexte der Gerechtigkeit, 9. 13 Ebd. 14 Vgl. Rainer Forst, Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit, 9 f. – Interessant ist dabei, dass es sich nur um eine negative Bestimmung von Gerechtigkeit handelt, die sich m. E. verbinden lsst mit der Vorstellung, dass es sich bei der Gerechtigkeit um ein berschießendes Ideal oder um eine Art regulative Idee handelt, die nur mehr oder weniger, aber nie vollstndig und abschließend erreicht werden kann und deren positiver Gehalt auch deshalb nicht anders als mit Grenzbestimmungen zu beschreiben ist. 15 Dabei trug, wie der Frankfurter Gerechtigkeitsbrunnen bezeugt, die Justitia keineswegs immer eine Augenbinde, sollte sie doch gerade auch die besonderen Umstnde bzw. die soziale Stellung der zu richtenden Personen in ihrem Urteil bercksichtigen. „Suum cuique“ oder „jedem das Seine“ hieß nicht unbedingt allen dasselbe oder gleiche, vielmehr jedem das, was ihm entspricht. Hierauf macht Gunther Teubner („Selbstsubversive Gerechtigkeit: Kontingenz- oder Transzendenzformel des Rechts?“, 9 – 36) aufmerksam. – Angesichts faktischer sozialer Ungleichheit erweisen sich beide Varianten des Gerechtigkeitsverstndnisses als problematisch. So kann die Gleichheit vor dem Gesetz bekanntlich Armen wie Reichen verbieten, Holz im Wald zu stehlen oder unter Brcken zu schlafen. Umgekehrt fehlt es nicht an Rechtfertigungen von Privilegien unter Verweis auf besondere gesellschaftliche Funktion und Verantwortung. 16 Wie eine solche intersubjektive Perspektive gewonnen werden kann, soll in den folgenden beiden Abschnitten weiter expliziert werden. 17 Dass wir Andere in unserem Handeln zunchst als gleichrangig zu bercksichtigen haben, folgt aus der moralischen Einsicht, dem anderen Menschen – und zwar unabhngig davon, wer dieser Andere ist – generell ein moralisches Recht auf Antworten und Rechtfertigungen zuzuerkennen. Auf die Idee einer solchen prinzipiellen Gleichheit, die dem kommunikativen Handeln zugrunde liegt, verweist auch Habermas: Jrgen Habermas, „Hannah Arendts Begriff der Macht“, 233.
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III.3. Verantwortliches Handeln
Maße, in dem sie von einer Handlung und ihren Folgen jeweils betroffen sind. Grundstzlich gilt, dass Handlungen, auch weil sie in unterschiedlichen Kontexten stattfinden, auf unterschiedliche Weisen zu rechtfertigen sind. Dementsprechend unterscheidet etwa Rainer Forst (wie bereits dargelegt18) vier verschiedene Rechtfertigungsebenen 19, die jedoch keineswegs strikt voneinander zu trennen sind. Denn einerseits kann es berlappungen geben, andererseits einen Wechsel der Ebenen.20 Die Frage, wie und ob sich eine konkrete Handlung faktisch rechtfertigen lsst, wird wohl in den meisten Fllen auf der ethischen Rechtfertigungsebene21 zu klren sein; verstçßt der Handelnde aber etwa gegen eine Rechtsnorm, wird er sich fr sein Handeln auch vor Gericht und damit auf rechtlicher Ebene verantworten mssen. Die politische Ebene hingegen spielt hier wohl seltener eine Rolle, jedoch beispielsweise in Konfliktfllen immer dann, wenn von einer konkreten Handlungssituation ausgehend berlegt wird, ob die Normen, nach denen eine Handlung bis dato beurteilt wurde, berhaupt als gerechtfertigt gelten kçnnen. In welchem Kontext eine Handlung steht, ist keine objektive Tatsache, aber auch nicht willkrlich bestimmbar. Zur Klrung dieser Frage bedarf es Subjekte, die interpretieren, Festlegungen treffen und darber diskursiv reflektieren kçnnen. In den meisten Fllen wird ein Kontext und sein Geltungsbereich – ohne genauere Prfung – als eindeutiger und klar definierter Bezugsrahmen angenommen. Dieser wird zumeist erst dann in Frage gestellt, wenn die Bewertung der Handlung und der zu bercksichtigenden Ansprche selbst problematisch geworden sind. Gleichwohl vertrete ich weiterhin die Position, dass jede Handlung insofern abstrakt dem moralischen Rechtfertigungsprinzip unterliegt, als in jeder Situation jeder Mensch zunchst Rechtfertigungen fordern kann und diese Forderung nur mit guten Grnden zurckweisbar sein sollte. Einzelne Personen vom Recht auf Rechtfertigung auszunehmen wre ungerecht. Denn nach den im vorangegangenen Kapitel entwickelten Thesen 18 Siehe auch oben, Abschnitt III.1.4. 19 Siehe hierzu Rainer Forst, Kontexte der Gerechtigkeit, besonders das Kapitel „Kontexte der Rechtfertigung“. 20 Auch Rainer Forst macht darauf aufmerksam, dass es sich hierbei um eine „kriterielle Unterscheidung“ handelt, „die nicht bestimmte Wertbereiche a priori als dem einen oder anderen Kontext zugehçrig aussondert.“ (A. a. O., 54.) Vgl. auch ders., „Ethik und Moral“, 354. 21 Denn in den meisten Fllen geht es hier um die Frage, wie Menschen in ihren Handlungen ihren eigenen Ansprchen und denen bestimmter anderer Personen gerecht werden kçnnen.
III.3.1. Verantwortliches Handeln – Gerechtigkeit als Maß
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gilt, dass eine in einem gesellschaftlichen Kontext handelnde Person vor Anderen zumindest potentiell begrnden kçnnen muss, warum sie ihr Handeln nicht weiter begrndet – etwa weil sie mit guten Grnden annimmt, dass ihr Handeln den Anderen gar nicht betrifft. In diesem minimalen Sinne sind Menschen potentiell von allen Menschen betroffen, da diese uns – um mit Lvinas zu sprechen – immer schon etwas angehen, sobald22 wir ihnen begegnen. Je nach Kontext und besonderen Beziehungen zu Anderen sind Menschen darber hinaus bzw. darauf aufbauend dann gegenber bestimmten Anderen zu besonderer Rechenschaft verpflichtet. Und diese Verpflichtungen lassen sich, wie bereits hervorgehoben, hinsichtlich ihres Geltungsbereiches und des Grades ihrer Verbindlichkeit weiter differenzieren und hierarchisch abstufen – wobei ich davon ausgehe, dass die in diesen Prozessen etablierten oder noch zu etablierenden Hierarchien selbst nicht ein fr alle Mal feststehen, sondern in ihrem Status und Geltungsbereich in Rechtfertigungsdiskursen mit guten Grnden zu sttzen sind und dort gegebenenfalls auch neu geordnet werden kçnnen. Die Tatsache, dass Handlungen kontextabhngig zu bewerten sind und Rechtfertigungsebenen sich berlappen und aufeinander verweisen, macht es genau genommen unmçglich, vorab kategorisch zu entscheiden, auf welcher Ebene eine Handlung zu rechtfertigen ist. Fr die Frage nach der Mçglichkeit verantwortlichen Handelns erweist es sich deshalb als sinnvoller, zunchst nur festzuhalten, dass sich Handlungen – in je verschiedenen Kontexten auf verschiedene Weise – berhaupt rechtfertigen lassen mssen: Hufig scheint in erster Linie eine Abwgung zwischen verschiedenen eigenen Interessen des Handlungssubjektes gefordert, bei denen sich die Frage der Gerechtigkeit nur stellt als die Frage „Wie werde ich meinen eigenen Interessen am besten gerecht?“ bzw. „Welche Handlung entspricht meinen Bedrfnissen und Interessen am angemessensten?“. Unter der Voraussetzung, dass die eigenen Interessen Andere wirklich nicht tangieren, kçnnte das handelnde Subjekt sich hier die Frage nach ihrer angemessen Bercksichtigung und Gewichtung im Vergleich zu seinen anderen Interessen prinzipiell allein stellen und beantworten – wenngleich auch hier natrlich mit Anderen geteilte Werte eine Rolle spielen werden und der Austausch mit Anderen insofern von großem Gewinn sein kann, als er dem handelnden Subjekt idealiter einen „Blick von außen“ auf seine Situation ermçglicht, den es selbst nicht haben kann. 22 Damit meine ich nicht, dass sie erst vom Anderen betroffen sind, sobald sie diese Mçglichkeit aktualisiert haben, sondern, dass die Aktualisierung dieser Mçglichkeit wesentlich zu der Weise gehçrt, wie wir uns auf andere Menschen beziehen.
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III.3. Verantwortliches Handeln
Sobald bei einer Handlung ein Anderer oder mehrere Andere mit ins Spiel kommen, geht es um die gerechte Bercksichtigung der Ansprche mehrerer, tendenziell aller Betroffenen. Je nach Kontext sind diese Ansprche mit anderen Grnden zu vertreten, immer mssen sie aber letztlich „in Ansehung der Folgen fr andere moralisch zu verantworten sein“23. Denn die Moral stellt einen universalen Geltungsanspruch, der durch ethische, rechtliche oder politische Grnde nicht außer Kraft gesetzt werden kann,24 da er kategorisch (also unabhngig von besonderen Interessen und Zwecksetzungen) fr alle Menschen gegenber allen Menschen besteht und damit auch unabhngig von der konkreten Situation, in der wir gerade handeln, und den besonderen Beziehungen, in denen wir zu Anderen stehen. Eindeutig ist diese Idee von handlungs- und kontextsensibler Gerechtigkeit, soll sie praktisch umgesetzt werden, auf Formen sprachlicher Verstndigung angewiesen, in die alle Betroffenen selbst oder stellvertretend einbezogen werden, damit sie ermitteln, was aus ihrer jeweiligen Sicht als gerechtfertigt gelten kann und deshalb akzeptiert werden sollte. Dies setzt, wie Forst in Bezug auf seine Konzeption moralischer Verantwortung betont, nicht „das Verlassen der eigenen ethischen Perspektive voraus“, aber „ihre moralische Erweiterung um die Grnde, die andere geltend machen“.25 Denn indem das handelnde Subjekt die anderen von seinem Handeln Betroffenen und sich selbst nach Grnden fr die eigenen Ansprche fragt und seine Einschtzung derselben seinerseits wieder begrnden kann, ist eine mçglichst ausgewogene, gleichrangige Einbeziehung der von seinem Handeln Betroffenen zu erreichen. Zwar sind in der Realitt Handlungen nur selten vollkommen gerecht, da die angemessene Bercksichtigung aller Ansprche und Interessen praktisch kaum je gelingt, lsst sich doch von einer graduell unterschiedlichen Realisierung von Gerechtigkeit sprechen: Handeln ist demnach umso gerechter, je umfassender es sich rechtfertigen und damit auch vor allen Beteiligten verantworten lsst. Dies ist, so sei hier noch einmal betont, eine sehr formale Bestimmung von Gerechtigkeit – und das kann auch nicht anders sein, denn was im Einzelfall gerecht ist, lsst sich nicht vorab bestimmen, 23 Forst, Kontexte der Gerechtigkeit, 371. 24 R. Forst verweist hier auf das „bergeordnete Prinzip der Rechtfertigung, das auf normative Kontexte im allgemeinen zutrifft“. Nach diesem „mssen Antworten auf praktische Fragen auf genau die Weise zu rechtfertigen sein, die ihr Geltungsanspruch impliziert“. (Forst, „Ethik und Moral“, 350.) 25 Forst, Kontexte der Gerechtigkeit, 371.
III.3.1. Verantwortliches Handeln – Gerechtigkeit als Maß
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sondern ist erst in den jeweils zu fhrenden Rechtfertigungsdiskursen zu ermitteln. hnlich formal hat auch Karl-Otto Apel, fr den Gerechtigkeit neben Verantwortung und Solidaritt die dritte Grundnorm der Moral darstellt, jene bestimmt als „Prinzip der notwendigen Konsensfhigkeit bzw. Akzeptierbarkeit aller moralisch relevanten Problemlçsungen fr alle von den Folgen Betroffenen“26. Dies wre nun eine positive Formulierung der Forderung, dass Willkr zu vermeiden ist, indem alle Ko-Subjekte nach dem Grad ihrer Betroffenheit mit zu bercksichtigen sind; formal ist auch sie, da lediglich ein Kriterium benannt wird, an dem sich alle Diskurse zu orientieren haben. ber eine rein formale, auf der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen beruhende Regelung geht diese Forderung nur insoweit hinaus, als Personen oder Personengruppen nach dem Grad oder der Relevanz ihrer Betroffenheit zu unterscheiden und entsprechend bei einer Handlungsentscheidung zu bercksichtigen sind. Verantwortung und Gerechtigkeit sind demzufolge auf der Anwendungsebene eng miteinander verschrnkt27: Whrend verantwortliches Handeln von uns verlangt, dass wir unser Handeln unter Einbeziehung der Anderen mit ihren Ansprchen durch Grnde als berechtigt ausweisen kçnnen, ist Gerechtigkeit das Maß, anhand dessen die Relevanz der verschiedenen Ansprche in einem Rechtfertigungsdiskurs beurteilt wird. Kein Handeln kann gerecht sein, wenn der Handelnde sich nicht gleichzeitig jedem einzelnen der von seinem Handeln Betroffenen gegenber als verantwortlich erkennt. Andererseits muss er, um berhaupt noch antworten und dementsprechend verantwortlich handeln zu kçnnen, (fast) immer bestimmte partikulare Interessen ausblenden oder von ihnen zumindest temporr abstrahieren. Er hat zwischen dem Blick auf die Gesamtheit aller Beteiligten und dem auf bestimmte Segmente des Handlungsfeldes oder auch nur auf Einzelinteressen so zu wechseln, dass die eine Perspektive einzunehmen nicht mit dem Verlust einer anderen zu bezahlen ist, vielmehr beide miteinander vermittelt werden kçnnen; hierzu sind Formen der Einklammerung (Epoch) vor allem der eigenen Perspektive erforderlich, auf die im nun folgenden Abschnitt nher eingegangen werden soll.
26 Apel, „Das Problem der Gerechtigkeit“, 127. 27 Dies ergaben bereits die Analysen der Apel’schen und vor allem der Lvinas’schen Verantwortungskonzeptionen im zweiten Teil dieser Arbeit.
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III.3. Verantwortliches Handeln
III.3.2. Epoch als konstitutives Element verantwortlichen Handelns Auch bei der Frage, was gerechterweise zu tun ist, drfen die jeweils fr sich stehenden Ansprche der Einzelnen niemals aus dem Blick geraten; gleichzeitig muss die dem Einzelnen geschuldete Antwort die Mçglichkeit einschließen oder offen halten, dass auch die Ansprche aller anderen (mçglicherweise) Betroffenen sowie die eigenen des handelnden Subjekts mit bercksichtigt werden.28 Dabei muss außerdem geprft werden, wie sich diese Ansprche oder Wnsche angesichts intersubjektiv geltender, unter Umstnden miteinander konfligierender Normen und objektiver Rahmenbedingungen berhaupt realisieren lassen. Um dabei zu einer den Ansprchen aller Beteiligten gleichermaßen gerecht werdenden Beurteilung der Situation zu kommen und entsprechend handeln zu kçnnen, bedarf es in besonderem Maße der Fhigkeit, verschiedene Perspektiven einnehmen und zwischen ihnen wechseln zu kçnnen, ohne dabei die jeweils anderen vollstndig aus dem Blick zu verlieren. Die verschiedenen Perspektiven sollen also nicht aufgegeben, sondern nur – zeitweilig und im Wechsel – eingeklammert 29 oder ausgeblendet werden. Dieses Verfahren, angesichts widerstreitender Ansprche und Perspektiven und der daraus resultierenden Ungewissheit sich zunchst eines Urteils zu enthalten – im Anschluss an die antike Skepsis und Husserl ließe sich hier von „Epoch“ sprechen –, erlaubt eine provisorische Distanzierung und Selbst-Distanzierung. Sicherlich bleibt jedes handelnde Subjekt zunchst an seine eigene Perspektive als involviertes Subjekt gebunden. Doch gerade als agierendes und nicht etwa nur auf ußere Reize reagierendes Subjekt besitzt es auch die Fhigkeit, sich und sein Handeln zu reflektieren und dabei von seiner eigenen aktuellen Handlungsperspektive zurckzutreten. 30 Außerdem 28 Siehe hierzu erneut Apels Konzeption eines Handlungsprinzips, auf die oben, in Abschnitt II.2.1.4., ausfhrlich eingegangen wurde und an deren Grundgedanken die hier vorgetragenen berlegungen anknpfen. 29 hnlich verwendet Martin Seel diesen Begriff, wenn er die Bedeutung der Selbstdistanz betont, um „selbstzweckhafte Begegnungen mit anderen“ berhaupt eingehen zu kçnnen: Hierfr sei eine „Bereitschaft zur Einklammerung der eigenen Voreingenommenheit“ nçtig, die „allein im dialogischen Verhltnis ausgebt werden kçnne“. (Seel, Versuch ber Formen des Glcks, 201.) 30 Auch McDowell unterstreicht in der ersten seiner bisher unverçffentlichten Vorlesungen zum Handlungsbegriff: „Stepping back is taking on a responsibility to decide whether to acknowledge as a reason for acting, a candidate for being a reason
III.3.2. Epoch als konstitutives Element verantwortlichen Handelns
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verfgt jedes Subjekt durch seine verschiedenen sozialen Rollen und die Tatsache, dass es sich in verschiedenen und wechselnden Handlungskontexten bewegt, immer schon ber mehrere ihm eigene oder verfgbare subjektive Perspektiven und gleichzeitig ber die Fhigkeit, zwischen diesen so zu wechseln, dass einige dabei (zeitweilig) eingeklammert, jedoch nicht getilgt werden.31 Um gegenber Anderen verantwortlich und gerecht handeln zu kçnnen, mssen handelnde Subjekte die Fhigkeit zur zeitweiligen Distanzierung so weit ausgebildet haben, dass sie in der Lage sind, neben den eigenen Perspektiven auch die Perspektiven Anderer provisorisch einzunehmen, darber hinaus aber diese ebenfalls „einklammern“ oder transzendieren zu kçnnen, um in der Lage zu sein, von einem (oder mehreren) bergeordneten, intersubjektiv mçglichst weitgehend geteilten Standpunkt (oder Standpunkten) die Situation zu beurteilen. Diesen Gedanken entspricht die Grundeinsicht der Diskursethik, dass „es bei der diskursiven Konsensbildung“, wie Apel unterstreicht, „darauf ankommt, die Interessen aller Betroffenen zur Geltung zu bringen – sei es durch ihre Beteiligung am Diskurs, sei es durch ihre advokatorischen Vertreter, oder sei es, wenn keine andere Mçglichkeit besteht, dadurch, daß eine einzelne Person in verantwortlicher Weise die mçglichen Argumente der Betroffen in einem Gedankenexperiment zu antizipieren versucht“.32 Dabei kann bzw. sollte der hier geforderte Perspektivenwechsel und die for acting that is brought to one’s attention when one is assailed by what would otherwise be a mere motivational force.“ (Einige Seiten spter erlutert er, wie wichtig diese Form des Zurcktretens fr jede Form des Handelns sein kann: „To step back in the relevant sense is to occupy a standpoint at which questions about reasons can be asked: whether some consideration is a reason to do something, and if so, whether to act on that reason.“) McDowell hlt es fr plausibel, „that this becomes a possibility with the acquisition of language“, wobei er nachdrcklich darauf hinweist „that the capacity to use language and the capacity to adopt a distanced attitude towards circumstances one finds oneself in are two elements in a bundle of capacitites that needs to be understood as a whole“. 31 „[W]enn wir eines unserer habituellen Interessen aktualisieren, somit in unserer Berufsttigkeit (im Arbeitsvollzug) sind, haben wir eine Haltung der Epoch hinsichtlich unserer anderen, aber doch uns eigenen und fortbestehenden Lebensinteressen. Jedes hat ,seine Zeit‘, und wir sagen im Wechsel dann etwa ,nun ist es an der Zeit, zur Sitzung, zur Wahl zu gehen‘ und dergleichen.“ (Husserl, Krisis, 139.) 32 Karl-Otto Apel, „Universale Prinzipien und partikulare (inkommensurable?) Entscheidungen und Lebensformen. Eine Auseinandersetzung mit Peter Winch ber ein Problem der Ethik in der philosophischen Situation nach Kant und nach Wittgenstein“, in: Auseinandersetzungen. In Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, 625.
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III.3. Verantwortliches Handeln
Distanzierung vom eigenen Standpunkt nicht, wie man vielleicht zunchst denken mag, dazu fhren, dass man statt dessen den eines „neutralen Beobachters“ einnimmt, da ein solcher, wie Habermas nachdrcklich betont, gerade nicht alle Perspektiven mit bercksichtigt, sondern immer „im Lichte seines eigenen Welt- und Selbstverstndnisses“33 urteilt, statt sich mit Anderen auszutauschen. Um das Risiko auf ein Minimum zu reduzieren, in den eigenen Ansprche gleichsam gefangen zu bleiben oder paternalistisch, „von oben herab“, ber die Ansprche Anderer zu befinden, ist eine direkte Einbeziehung der Anderen in Form des verstndigenden Gesprchs – oder, wie es bei Apel heißt: durch diskursive Konsensbildung – geboten; dabei bringen diese Anderen selbst ihre jeweiligen Perspektiven ein, um dann gemeinsam die jeweiligen partikularen Perspektiven durch eine intersubjektiv geteilte Perspektive oder zumindest durch konsensfhige Aspekte zu ergnzen.34 Aus einer solchen im Gesprch sich entwickelnden, das Subjekt transzendierenden Perspektive kçnnen Situationen und die darin zu bercksichtigenden Standpunkte insofern besser unvoreingenommen und mçglichst frei von Vorurteilen beurteilt werden, als hier alle – und nicht allein das handelnde Subjekt – mit ihren Ansprchen selbst zu Wort kommen und gemeinsam ber die (relative) Berechtigung der einzelnen Ansprche befinden. Dabei kann es auch zur Neu- bzw. Uminterpretation von Gefhlen, Neigungen und Wnschen kommen, die sich subjektiv zunchst als uneingeschrnkt berechtigt dargestellt hatten. Sie mçgen dann als wichtige Option oder auch nur als eine Laune unter anderen erscheinen; ebenso wie die Einsicht mçglich ist, dass bestimmte fr die Begrndung der eigenen Position in Anspruch genommene Werte abhngig von subjektiven Prdispositionen sind. Durch die Gegenberstellung mit anderen, aus subjektiver Sicht ebenso absolut gesetzten Ansprchen und berzeugungen ist es mçglich, die eigene Position so weit zu relativieren, dass ein Moratorium, ein Kompromiss oder eine Einigung, besser noch ein Einverstndnis auch in auf den ersten Blick unberwindbar oder unberbrckbar scheinenden Interessenkonflikten erzielt werden kann.35 Die Vorstellung einer intersubjektiv praktizierten Epoch bzw. Einklammerung oder Ausblendung der eigenen Prferenzen findet sich beispielhaft konzeptualisiert in Habermas’ Idee des handlungsentlasteten 33 Habermas, „EzD“, 153. 34 Siehe hierzu etwa Habermas, MuK, 157; ders., „EzD“, 153. 35 Siehe zu diesem Punkt der Relativierung und Umwandlung der subjektiven Perspektiven auf einer anderen Ebene auch Habermas, MuK, 181.
III.3.2. Epoch als konstitutives Element verantwortlichen Handelns
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Diskurses, bei dem „die Argumentationsteilnehmer eine hypothetische Einstellung zu kontroversen Geltungsansprchen“36 einnehmen. Hier soll eine umstrittene Norm so geprft werden, dass ihre Gltigkeit vorerst eingeklammert wird, bis sich „im Wettbewerb zwischen Proponenten und Opponenten“ erweist, „ob diese es verdient, anerkannt zu werden oder nicht“.37 Auch wenn der intersubjektiv gefhrte handlungsentlastete Diskurs explizit einer praktischen Absicht dient, sieht Habermas die Reichweite der hier geforderten Epoch eingeschrnkt. Er bezweifelt, dass es mit diesem Verfahren mçglich ist, ber den Austausch von Argumenten hinaus so etwas wie Lebensweisen, „in denen sich die eigene Identitt gebildet hat“, zu hinterfragen, denn dazu mssten die Diskursteilnehmer ihre „eigene Existenz in Frage stellen“; das wrde jedoch eine andere Art von Distanz erfordern als den „Abstand des normprfenden Diskursteilnehmers von der Faktizitt bestehender Institutionen“.38 Angesichts der hier gestellten Frage, wie handelnde Subjekte auch in Alltagssituationen die fr gerechtfertigtes Handeln notwendigen Perspektivenwechsel leisten kçnnen, scheint eine Einklammerung der intersubjektiv geltenden Normen also nur bedingt tauglich. Auch ist sie nicht in jedem Fall ausreichend, geht es doch vor allem darum, zwischen verschiedenen Ansprchen und Bedrfnissen in konkreten Handlungssituationen zu vermitteln, ohne dass dabei immer erst in handlungsentlasteten Diskursen die Normgeltungsfrage aufgeworfen werden kann.39 Denn in solchen konkreten Handlungssituationen bedarf es hufig kurzfristig und pragmatisch der Verstndigung, soll ber die Bercksichtigung verschiedener subjektiver Ansprche entschieden werden.40 Zudem kommt es dabei nicht immer allein auf eine kognitive Verstndigung an, vielmehr geht es (wie Axel Honneth in seinem Aufsatz „Das Andere der Gerechtigkeit“ im Anschluss an Stephen K. White unterstreicht) auch darum zu 36 37 38 39
A. a. O., 136; Hervorhebung E. B. Ebd. A. a. O., 189. Siehe zum Problem von Anwendungsdiskursen innerhalb der Diskursethik Gnther, Sinn fr Angemessenheit, insbesondere 23 – 99. – Hier mag der Grund dafr liegen, dass K.-O. Apel anders als J. Habermas in seiner Diskursethik eben ein Handlungsprinzip formuliert hat, mit dem wir nicht nur Normen, sondern die Maximen unserer Handlungen prfen sollen. Siehe hierzu auch oben, Abschnitt II.2.1.4. 40 Siehe zur Besonderheit von Einvernehmen in praktischen Diskursen, die daraus resultiert, dass hier oft nicht auf einen Konsens gewartet werden kann, der nur langfristig erreicht werden kann: Apel, „Universale Prinzipien“, 625.
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III.3. Verantwortliches Handeln
bercksichtigen, „daß sich die normativen Ansprche anderer Subjekte nur dann in ihrem moralischen Gewicht einschtzen lassen, wenn zugleich die je besonderen Sichtweisen mitverstanden werden, aus denen sie hervorgegangen sind“.41 Denn um berhaupt zu verstehen, „welchen Stellenwert ein bestimmtes Interesse fr eine konkrete Person besitzt“, ist es erforderlich, sich „zugleich auch deren individuelle Lebensideale und Orientierungsweisen verstndlich zu machen“.42 Das erfordert neben der kognitiven Rollenbernahme „ein gewisses Maß an wechselseitiger Einfhlungsbereitschaft“43. Zwar dient, wie Honneth betont, auch der handlungsentlastete Diskurs dem Ziel, „die Argumente oder eben die Sichtweise jeder anderen Person in ihrer individuellen Besonderheit zur Kenntnis zu nehmen“44. Doch wendet Honneth gegen die von Habermas befrchtete (und dessen Kognitivismus motivierende) „Gefahr eines affektgesttzten Partikularismus“45 ein, dass „die normativen Ansprche der einzelnen Personen“ grundstzlich nur in dem Maße bewertet werden kçnnen, „in dem mit dem entsprechenden Einfhlungsvermçgen zugleich herausgehçrt wird, welche Rolle sie in deren unverwechselbarer, besonderer Lebensgeschichte spielen“.46 Dafr mssen nach Honneth die betroffenen Personen mçglichst viele jener Einstellungen und Verhaltensweisen teilen, die White in seinem Ansatz als Fhigkeiten der passiven Anteilnahme beschrieben hat; je mehr an solchen Eigenschaften die Diskutanten nmlich besitzen, desto eher werden sie gemeinsam dazu in der Lage sein, sich wechselseitig in die Rolle des anderen zu versetzen, um zu einem wirklichen Verstndnis ihrer jeweiligen Interessen zu gelangen.47
Wenn es diese Tugenden „der passiven Anteilnahme“ sind, die eine sensible Reaktion auf die Bedrfnisse Anderer ermçglichen, so stellt sich fr Honneth die Frage, ob jene „Fhigkeit, zuhçren zu kçnnen, die Bereitschaft zu emotionaler Zuwendung und schließlich das Vermçgen, persçnliche Eigenarten zuzulassen, ja zu ermutigen“48, nicht einfach den „sozialkognitiven Einstellungen entsprechen, die auch Habermas voraussetzen kçnnen msse, wenn er den moralischen Diskurs als einen Prozeß 41 Axel Honneth, „Das Andere der Gerechtigkeit. Habermas und die ethische Herausforderung der Postmoderne“, 151. 42 Ebd. 43 Ebd. 44 A. a. O., 148 f. 45 A. a. O., 150. 46 A. a. O., 151 f. 47 A. a. O., 152. 48 A. a. O., 146.
III.3.2. Epoch als konstitutives Element verantwortlichen Handelns
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der intersubjektiven Verstndigung beschreibt“49. Honneth kommt zu dem Schluss, das Grundprinzip der Diskursethik – die Idee der Gleichbehandlung aller Diskurspartner – verlange ebenfalls einige wenige und zugleich nur hçchst formal bestimmte Persçnlichkeitseigenschaften, auf deren Durchsetzung wir nicht nur hoffen kçnnen, sondern die wir als solche auch normativ anstreben sollten. […] Werden nun im Gegensatz zu Habermas zu solchen kommunikativen Tugenden auch affektive Fhigkeiten gerechnet, wie sie etwa im Einfhlungsvermçgen gegeben sind, so ist schon der Punkt erreicht, von dem aus in der postmodernen Ethik Whites die Ausarbeitung einer Implikation der Diskursethik zu erkennen ist: was jener im Rckgriff auf Heidegger als Fhigkeit zur Vergegenwrtigung individueller Besonderheiten beschrieben hat, ist ein zentrales Element der kommunikativen Tugenden, die hier als personale Voraussetzungen von moralischen Diskursen in Anschlag gebracht werden kçnnen.50
Sollte Habermas mit der Formulierung seines Diskursprinzips wirklich, wie er es selbst explizit beansprucht, auf rein kognitive Fhigkeiten setzen, um zu evaluieren, ob die Folgen und Nebenwirkungen einer Normanwendung von allen zwanglos akzeptiert werden kçnnen, ist Honneth zuzustimmen, dass es darber hinaus immer der Fhigkeit der Einfhlung bedarf, um eine gelungene Kommunikation ber Bedrfnisse und Interessen zwischen Subjekten zu ermçglichen. Dazu gehçrt auch die Bereitschaft des Subjektes, die Geltung und die affektive Bewertung der eigenen Ansprche und Interessen zeitweilig zu suspendieren oder einzuklammern, um berhaupt die des Anderen so weit an sich heranlassen zu kçnnen, dass sie in ihrer Bedeutung fr den Anderen verstehbar werden.51 Eine solche Einklammerung kann unterschiedlich realisiert werden und verschiedene sprachliche Formen annehmen. So kann der Geltungsanspruch einer Aussage schon durch die Wahl verschiedener hypothetischer Modi eingeklammert oder relativiert werden – etwa wenn anstelle des Indikativs oder gar des Imperativs Konjunktive, Optative oder Frageformen ver-
49 A. a. O., 149. 50 A. a. O., 153. – Es wre zu prfen, inwiefern Honneths Integrationsversuch sich noch mit Habermas’ Entwurf einer rein kognitivistischen Moral vertrgt. 51 Daneben kann die Relativierung des eigenen Standpunkts, unter gesprchsstrategischen Gesichtspunkten betrachtet, auch dazu beitragen, dass Diskurspartner ihrerseits die eigene Position nicht mehr mit Zhnen und Klauen verteidigen zu mssen glauben, sondern zu den eigenen persçnlichen Perspektiven auf Distanz gehen kçnnen und man sich auf diesem Wege leichter einer intersubjektiv akzeptierten oder geteilten Perspektive nhert.
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wendet werden.52 Daneben verwenden wir Redeweisen, die den bloß thetischen Charakter unserer Aussagen hervorheben (beispielsweise Satzeinschbe wie „wenn ich mich nicht irre“) sowie Sprechregister, denen die Einklammerung von Geltungen inhrent ist, etwa manche Formen von Humor oder Selbstironie. In der gesprochenen Sprache kçnnen darber hinaus stimmliche oder gestische Modi erkennen lassen, dass Worte nur eine eingeschrnkte oder vorlufige Geltung beanspruchen. Mit Hilfe solcher sprachlicher Mittel kann ein Subjekt zwar seine Ansprche vortragen, gleichwohl wird hier der mit ihnen verbundene Geltungs- oder Berechtigungsanspruch in seiner Absolutheit suspendiert. Durch die relativierende Geste signalisiert es seine Distanz gegenber den eigenen Ansprchen und kann damit offener auf die der Anderen eingehen. Sind alle am Gesprch Beteiligten bereit und in der Lage, auf die eine oder andere Weise ihre Ansprche einzuklammern, wird diese Relativierung der eigenen Perspektive – mçglicherweise auch der zugrunde liegenden Lebensentwrfe – nicht nur zu einem besseren Verstndnis der Perspektiven Anderer fhren, sondern darber hinaus die Gesprchsatmosphre vertrglicher gestalten und damit zu einer Entschrfung zunchst antagonistisch erscheinender Konflikte beitragen. Fr alle hier angefhrten Modi der Einklammerung gilt: Epoch bedeutet nie, so hat es bereits Kierkegaard sehr anschaulich fr die Ironie dargelegt, die eigene Handlungsperspektive vollstndig oder auf Dauer aufzugeben; denn um berhaupt noch entscheiden und handeln zu kçnnen, gilt es, die Selbstdistanzierung nur in „Form eines Bades zu genießen“ als „Erfrischung und Strkung, die darin liegt, daß man, wenn die Luft zu drckend wird, sich entkleidet und sich ins Meer der Ironie strzt, natrlich nicht, um darinnen zu bleiben, sondern um gesund und froh und leicht die Kleidung wieder anzulegen“.53 Der Versuch einer provisorisch distanzierten, handlungsentlasteten Interessenabwgung schließt die Mçglichkeit des Irrtums mit ein. Er setzt stets die grundstzliche – oben ausfhrlich erçrterte – moralische Einsicht voraus. Darber hinaus ist vor allem dann, wenn Menschen die Fhigkeit 52 Diese drfen jedoch nicht einfach nur rhetorisch oder strategisch eingesetzt werden. 53 Sçren Kierkegaard, ber den Begriff der Ironie. Mit stndiger Rcksicht auf Sokrates, 331. – Um Missverstndnisse zu vermeiden: Wenn hier Ironie, vornehmlich Selbstironie, als eine Form der Epoch hervorgehoben wird, geht es nicht darum, die Ernsthaftigkeit moralischer Fragen in Zweifel zu ziehen, wohl aber die Art von Geltungsansprchen, die meint, die eigenen Widersprche, Irrtmer und Verfehlungen wie die der Anderen ohne Nachsicht verfolgen und ausmerzen zu sollen.
III.3.3. Verantwortliches Handeln und sprachliche Verstndigung
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der Epoch nicht gengend ausgebildet haben, ein Scheitern mçglich oder gar wahrscheinlich. Drei Flle sind dabei von besonderer Bedeutung: a) Mangel an rationaler Reflexion: Etwa wenn wir unsere eigenen Interessen und Grnde prinzipiell fr wichtiger nehmen, ohne diese Hierarchisierung zu rechtfertigen bzw. rechtfertigen zu kçnnen; (ebenso ist vorstellbar, dass Menschen stets die Grnde Anderer an erste Stelle setzen, ohne hierfr triftige Grnde angeben zu kçnnen;) b) Mangel an Empathie: Wenn wir nicht hinreichend bereit oder in der Lage sind, die Perspektiven, Denkweisen, Gefhle und Grnde Anderer zu verstehen, weil wir zu sehr an unsere eigenen gebunden sind und diese fr „objektiv richtig“ halten; (zwischen a und b kann es fließende bergnge geben;) c) Mangel an Pragmatismus und an Fhigkeit zur Komplexittsreduktion: Wenn es uns nicht mehr gelingt, die verschiedenen Perspektiven so auszubalancieren, dass wir handeln kçnnen.
III.3.3. Verantwortliches Handeln und sprachliche Verstndigung Das handelnde Subjekt muss also (wie in den beiden vorangegangenen Abschnitten dargelegt wurde), damit sich sein Handeln vor Anderen, davon – mçglicherweise – Betroffenen rechtfertigen lsst, diese mit ihren Ansprchen nach Maßgabe von Normen einbeziehen, die als gltig und situationsgerecht anerkannt werden. Hierzu muss es die Bereitschaft zeigen, die Motive und Ziele seines Handelns nicht nur fr sich selbst zu reflektieren, sondern bei Bedarf Anderen offenzulegen und sich mit ihnen darber gesprchsweise zu verstndigen; denn erst so lsst sich ermessen, ob und inwiefern das subjektive Verhalten die Interessen und Lebensbereiche Anderer tangiert.54 Einerseits kann der Akteur selbst auf diese Weise ber seine Handlungsmotive, -absichten etc. Auskunft geben, was Anderen ermçglicht, sein Handeln insgesamt besser zu verstehen und zu beurteilen. Andererseits kann so das handelnde Subjekt auch von Anderen erfahren, wie diese zu seinem Handeln stehen, welche Aspekte und mçgliche Konsequenzen von ihm vielleicht entgegen den eigenen Intentionen unbercksichtigt blieben und deshalb in zuknftige Handlungen zu inte54 Nach Gadamer gehçrt es „zu jedem echten Gesprch, daß man auf den anderen eingeht, seine Gesichtspunkte wirklich gelten lßt und sich insofern in ihn versetzt, als man ihn zwar nicht als diese Individualitt verstehen will, wohl aber das, was er sagt.“ (Gadamer, Wahrheit und Methode, 389.)
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III.3. Verantwortliches Handeln
grieren wren. (Natrlich kann und wird es dabei gegebenenfalls auch zu einer wechselseitigen Verstndigung ber die mit der Handlungssituation verbundenen normativen Erwartungen kommen.) Die sprachliche Verstndigung ist also keineswegs als abgeschlossene Sphre neben der des Handelns zu verstehen, sondern begleitet, untersttzt und durchdringt menschliches Handeln55 – im Vorfeld ebenso wie bei der Verstndigung ber die Ausfhrung, whrend des Handlungsverlaufs und schließlich bei der retrospektiven Rechtfertigung der Handlung, indem man Grnde benennt und die zugrunde liegenden Motive und Zwecke offenlegt. Bezogen auf die Situation in modernen Industriegesellschaften besteht eine der Hauptschwierigkeiten der hier erçrterten Konzeption verantwortlichen Handelns durch sprachliche Verstndigung allerdings darin – was vor allem Hans Jonas hervorgehoben hat –, dass Spt- und Nebenfolgen menschlichen Handelns immer hufiger knftige Generationen betreffen kçnnen,56 mit denen eine reale Verstndigung unmçglich ist. Ebenso findet ein direkter Dialog mit Menschen in fernen Kontinenten, die mçglicherweise unter den hierzulande oder andernorts produzierten Umweltschden leiden, real in aller Regel nicht statt.57 Das heißt gleichwohl nicht, dass unter diesen Voraussetzungen berhaupt keine Form des Gedankenaustauschs sinnvoll und mçglich wre. Denn zum einen wachsen aufgrund moderner Kommunikationsmedien die Mçglichkeiten der In55 Siehe zum Begriff des kommunikativen Handelns neben Jrgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, auch Habermas’ Aufsatz „Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln“, in seinem gleichnamigen Buch, 127 – 206. 56 Vor Jonas hat eine solche Position bereits etwa Gnther Anders – unter dem Eindruck des Abwurfs der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki – mit seinen Gedanken zum „prometheischen Geflle“ eindrucksvoll formuliert. (Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, u. a. 16 ff. und 267 ff.) 57 Siehe zu diesem Punkt der Verantwortung gegenber entfernten Anderen etwa die beiden Ausgaben von The Monist 86, no. 2 und 3 (2003), hier besonders die Aufstze von David Braybrooke („A Progressive Approach to Personal Responsibility for Global Beneficence““, 301 – 322), Garrett Cullity („Asking too much“, 402 – 418), Karen Green („Distance, Divided Responsibility and Universability“, 501 – 515), Wendy C. Hamblet („The Geography of Goodness: Proximitys Dilemma and the Difficulties of Moral Response to the Distant Sufferer“, 355 – 366), Jan Narveson („We dont owe them a thing! A tough-minded but soft-hearted view of aid to the faraway needy“, 419 – 433), Soran Reader („Distance, Relationship and Moral Obligation“, 367 – 381) und Jeremy Waldron („Who is my neighbor?: Humanity and proximity“, 333 – 354); siehe außerdem den von Andrew Kuper herausgegebenen Sammelband Global Responsibilities. Who Must Deliver on Human Rights?
III.3.3. Verantwortliches Handeln und sprachliche Verstndigung
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formation sowie der realen Verstndigung stetig.58 Zum anderen ermçglicht Sprache aufgrund der ihr inhrenten Option der Einstellungsbernahme auch ein fiktives Gesprch mit einer beliebigen Anzahl von gedachten Dialogpartnern59 und die Konstruktion einer prinzipiell unbegrenzten Anzahl von Einwnden. Wichtig hierbei ist allerdings, dass der hypothetische Status solcher Dialoge bewusst bleibt; entsprechend muss in ihnen immer gegenwrtig bleiben, dass die Einwnde und Beitrge anderer Betroffener bis dato nur antizipiert wurden, die jederzeit durch deren reale Stellungnahmen zu ergnzen bzw. zu revidieren wren.60 Hilfreich ist fr diese fiktive Verstndigung deshalb sicherlich auch die Einbeziehung mçglichst vieler realer Dialogpartner. Als „Stellvertreter“ bzw., wie es bei Apel heißt, „advokatorische Vertreter“ drngen sie darauf, mçglichst viele unterschiedliche – eigene oder vermutete fremde – Perspektiven vorzubringen und zu bercksichtigen. Allerdings selbst da, wo Verstndigung wirklich ernsthaft angestrebt wird, gelingt es hufig nicht ein Einverstndnis oder wenigstens einen tragfhigen Kompromiss zu erzielen. Denn oft sind Menschen nur unzureichend oder gar nicht dazu in der Lage (oder bereit), ihre eigenen Ansprche, Bedrfnisse und Grundhaltungen fr Andere verstndlich zu artikulieren, umgekehrt fllt es ihnen schwer, sich auf die Darlegungen Anderer einzulassen; und eine Bereitschaft, die Interessen Anderer mçglichst umfassend ins eigene Handeln einzubeziehen, kann nicht als selbstverstndlich vorausgesetzt werden. So kann es sein, dass sich Differenzen in Bezug auf Meinungen, Interessen oder grundlegende Haltungen aus diesen oder sonstigen Grnden nicht auflçsen lassen.61 In solchen 58 Dabei bleiben die subjektiven Mçglichkeiten gleichwohl oft begrenzt. Und nur weil wir heute die Mçglichkeit haben, mit immer mehr Leuten auf immer mehr Wegen zu kommunizieren, heißt das noch nicht, dass sich die Verstndigung auch qualitativ verbessert hat. 59 Whrend Habermas unterstreicht, dass eine „,reale‘ Argumentation“ im Sinne eines intersubjektiven Verstndigungsprozesses erforderlich sei, damit das dadurch erzielte „Einverstndnis“ einen „gemeinsamen Willen zum Ausdruck“ bringen kçnnte (Habermas, MuK, 77), sieht Apel durchaus die Mçglichkeit, dass wir die Argumente der Betroffenen, „wenn keine andere Mçglichkeit“ bestehe, auch allein, aber „in verantwortlicher Weise“, „in einem Gedankenexperiment zu antizipieren“ versuchen (Apel, „Universale Prinzipien“, 625). 60 Das scheint mir auch impliziert, wenn Apel auf die besondere „provisorische“ Natur praktischer Diskurse hinweist. Vgl. Apel, „Universale Prinzipien“, 625. 61 In diesem Sinne verkndet einer der beiden Protagonisten in Diderots Paradoxe sur le comdien die Maxime: „Ne vous expliquez point si vous voulez vous entendre.“ („Erklrt euch bloß nicht, wenn ihr euch verstehen wollt.“)
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III.3. Verantwortliches Handeln
Fllen lsst sich dann nur nach fr alle akzeptablen Kompromissen suchen bzw. nach Arrangements, sich so weit aus dem Weg zu gehen, dass das eigene Leben und Handeln das Leben und Handeln der Anderen nicht mehr betrifft, so dass man sich vor diesen auch nicht mehr rechtfertigen muss. Sprachliche Verstndigung ist sicherlich immer unvollkommen und damit auch in gewissem Grade ungengend – allerdings stellt sich die Frage, ber welche aussichtsreichen Alternativen wir verfgen, Andere in unser Handeln friedlich und mçglichst gleichberechtigt einzubeziehen. Denn wie der Sprache die Idee der Verstndigung innewohnt,62 ist umgekehrt auch Verstndigung auf Sprache angewiesen: Selbst wo wir von einer Verstndigung „ohne Worte“ sprechen, wird doch dieser Vorgang noch als eine Form der „wortlosen Sprache“ gedeutet oder in einem Metagesprch eingeholt.63 Bei der Vermittlung von Positionen, Perspektiven ebenso wie von Kritik oder Zweifeln ist also Sprache in irgendeiner Gestalt unerlsslich. Dabei sind verschiedene Modi der sprachlichen Verstndigung zu unterscheiden, die nicht alle gleichermaßen geeignet sind, verantwortliches Handeln zu untersttzen oder zu fçrdern: Diejenige besondere Form der Sprache, in der die Verstndigung explizit Ziel ist und auf die in dieser Arbeit bereits ausfhrlich eingegangen wurde, ist der argumentative Diskurs, wie ihn Karl-Otto Apel und Jrgen Habermas in ihrer Diskurstheorie beschreiben. Dabei wird vorausgesetzt, dass die Struktur der Kommunikation, „aufgrund rein formal zu beschreibender Merkmale, jeden […] 62 Sprache hat, wie Gadamer resmiert, „in der Ausbung der Verstndigung ihr eigentliches Sein“. Dabei fasst auch Gadamer Verstndigung sehr allgemein als „Lebensvorgang, in dem sich eine Lebensgemeinschaft darlebt“. Das Besondere der sprachlichen Verstndigung liegt fr Gadamer darin, dass in ihr „,Welt‘ offenbar gemacht wird. Sprachliche Verstndigung stellt das, worber sie stattfindet, vor die sich Verstndigenden hin wie einen Streitgegenstand, der zwischen den Parteien in der Mitte niedergelegt wird. Die Welt ist derart der gemeinsame, von keinem betretene und von allen anerkannte Boden, der alle verbindet, die miteinander sprechen. Alle Formen menschlicher Lebensgemeinschaft sind Formen von Sprachgemeinschaft, ja mehr noch: sie bilden Sprache. Denn die Sprache ist ihrem Wesen nach die Sprache des Gesprchs. Sie bildet selber durch den Vollzug der Verstndigung erst ihre Wirklichkeit. Deshalb ist sie kein bloßes Mittel zur Verstndigung.“ (Gadamer, Wahrheit und Methode, 450.) 63 Typisch fr solche Situationen sind Beschreibungen wie „Ihr Blick schien mir sagen zu wollen …“ oder „Er rusperte sich, als wollte er mich darauf hinweisen, dass …“. Jede bedeutungsvolle Geste verstehen oder missverstehen wir, als wre sie Sprache.
III.3.3. Verantwortliches Handeln und sprachliche Verstndigung
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Zwang – außer dem des besseren Argumentes – ausschließt“64. Erklrtermaßen handelt es sich hier um eine Idealkonstruktion – Apel selbst fragt, wie gesagt, skeptisch, „wer argumentiert denn schon ordentlich?“65 –, die in der Realitt in dieser Form nie oder nur ußerst selten realisiert wird. Dass friedliche Verstndigung mçglich sei, setzen wir jedoch als regulative Idee in jeder realen Diskurssituation, ja in jedem Gesprch voraus. Auf die faktische Wirksamkeit einer solchen regulativen Idee beruft sich keineswegs nur die Diskursethik – auch ein ihr eher fernstehender Denker wie Derrida formuliert eine hnliche Einsicht: [W]ir wrden nicht die gleiche Sprache sprechen oder um bersetzung im Horizont der gleichen Sprache bitten – und sei es auch, um eine Uneinigkeit kundzutun –, wre nicht vor jedem anderen Vertrag eine Art Freundschaft schon besiegelt, schon einbekannt worden, eingestanden als das Unmçgliche, das selbst dem Eingestehen widersteht, aber doch einbekannt, eingestanden als das Uneingestehbare der „uneingestehbaren Gemeinschaft“: Eine Freundschaft vor allen Freundschaften, eine unauslçschliche, grundlegende und grundlose Freundschaft, jede, die im Sprechen einer (vergangenen oder zuknftigen) geteilten Sprache und in jenem Zusammen-sein lebendig ist, das in jeder Allokution, in jeder Anrede, selbst in einer Kriegserklrung vorausgesetzt ist.66
Derrida greift hier auf einen noch vor jeder Sprache liegenden Begriff der Freundschaft oder eine Struktur der Freundschaft zwischen Menschen 64 Habermas, TkH, Bd. 1, 47. – Es bleibt zu untersuchen, was alles in welchem Kontext als Argument gelten kann: Habermas bestimmt Argumente zunchst als „diejenigen Mittel, mit deren Hilfe die intersubjektive Anerkennung fr den zunchst hypothetisch erhobenen Geltungsanspruch eines Proponenten herbeigefhrt und damit Meinung in Wissen transformiert werden kann. Die ,Strke‘ eines Arguments bemisst sich, in einem gegebenen Kontext, an der Triftigkeit der Grnde“. (A. a. O., 48.) Im Anschluss an Stephen E. Toulmin beschreibt Habermas die allgemeine Struktur eines Arguments: Es „setzt sich zusammen aus der problematischen ußerung, fr die ein bestimmter Geltungsanspruch erhoben wird (conclusion), und aus dem Grund (ground), mit der dieser Anspruch etabliert werden soll. Der Grund wird mit Hilfe einer Regel (einer Schlußregel, eines Prinzips, eines Gesetzes usw.) gewonnen (warrant). Diese sttzt sich auf Evidenzen verschiedener Art (backing). Gegebenenfalls muß der Geltungsanspruch modifiziert oder eingeschrnkt werden (modifyer).“ (Ebd.) Aufschlussreich fr diesen Zusammenhang scheint mir auch Harald Wohlrapp, (Hg.), Wege der Argumentationsforschung, 280 – 297. Hier werden drei Grundoperationen beim Argumentieren unterschieden: A) Behaupten, B) Begrnden, C) Widerlegen. (Vgl. 284 ff.) 65 Sic et Non, Dialog mit Karl-Otto Apel. 66 Jacques Derrida, Politik der Freundschaft, 317 f. – Den Hinweis auf diese Stelle und ihre Nhe zum Apel’schen Programm verdanke ich Martin Saar.
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III.3. Verantwortliches Handeln
zurck, die in der Diskursethik nicht als solche bezeichnet wird. Doch scheint der Kern einer solchen sehr formalen Freundschaftsstruktur ohne Bezug auf konkrete Personen nichts anderes zu sein als die regulative Idee der immer schon akzeptierten Pflicht zur Verstndigung: Menschen sprechen miteinander, weil sie – vielfach wider jede Erfahrung – an der Idee festhalten, dass sie sich dadurch miteinander verstndigen und einvernehmlich Welt teilen kçnnen. Vor diesem Hintergrund einer grundstzlichen Bereitschaft zur Verstndigung gilt jedoch nicht nur, dass verschiedene Sprachformen oder Sprachmodi dazu unterschiedlich gut geeignet sind. Vielmehr hngt die spezifische Verstndigungsleistung einer Sprachform ebenfalls stark vom Kontext ab, in dem sie eingesetzt wird, weil die jeweils zu vermittelnden Ansprche jeweils verschiedene Formen der Verstndigung notwendig machen: Whrend etwa auf politischer oder rechtlicher Ebene Argumente aufgrund ihres Anspruchs vorrangig sein sollten, mçglichst allgemein und emotional neutral zu gelten, haben in privaten Beziehungen auch und gerade andere Formen der Verstndigung ihren Platz, geht es hier zumeist doch weniger um die Vermittlung von klar zu fixierenden politischen oder rechtlichen Ansprchen als um die viel weiter gefassten ethischen Ansprche, die auch die Bercksichtigung von Gefhlen oder Stimmungen einschließen.67 In diesem Sinne gibt etwa Axel Honneth zu bedenken, dass in einer Liebesbeziehung „andere Grnde als moralisch berzeugend“ gelten „als etwa in einer Rechtsbeziehung, wo nur das als moralisch verallgemeinerungsfhig gilt, was im wechselseitigen Interesse an der moralischen Autonomie des jeweils Anderen liegt“.68 Dabei kann allerdings die Frage, in welchem Kontext wir uns gerade zu rechtfertigen haben und welche sprachliche Form deshalb adquat sein drfte, je nach Perspektive unterschiedlich interpretiert und beantwortet werden.69 Gleichwohl: Auch mit einer solchen Differenzierung unterschiedlicher Sprachformen und Kontexte, in denen Verstndigung gesucht werden muss, ließe sich immer noch einwenden, dass die Idee einer wie auch immer ausgestalteten fortwhrenden Verstndigung mit Anderen ber das eigene Handeln eine Zumutung ist, weil sie etwa bestehende subjektive 67 Siehe zur Verantwortung in ethischen Fragen auch Forst, Kontexte der Gerechtigkeit, 388 ff. 68 Honneth, „Anerkennungsbeziehungen und Moral“, 110. 69 Seyla Benhabib etwa betont im Anschluss an S. Cavell, dass „Situationen […] nicht so einfach wie ,Briefumschlge und goldene Finken‘ oder ,wie der Qualittsgrad reifer pfel‘ […]“ zu beschreiben seien. (Seyla Benhabib, „Der verallgemeinerte und der konkrete Andere. Anstze zu einer feministischen Moraltheorie“, 473 f.)
III.3.3. Verantwortliches Handeln und sprachliche Verstndigung
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Freiheitsbedrfnisse auf illegitime Weise einschrnkt. So besteht beispielsweise Albrecht Wellmer in seiner Auseinandersetzung mit Habermas’ Diskursethik auf einer Form „negativer Freiheit“, die mit dem Recht verbunden sei, „nicht vollkommen rational zu sein“;70 diese sei gleichzeitig die Voraussetzung dafr, dass Menschen berhaupt mit Anderen in einen rationalen Diskurs treten kçnnen: „Denn nur wenn sie ein Recht haben, im Sinne eines kommunalen Begriffs von Rationalitt nicht vollkommen rational zu sein, kann ihre kommunale Rationalitt ihre eigene Leistung, ihr eigenes Werk, und kann kommunale Freiheit eine Manifestation ihrer individuellen Freiheit werden.“71 Andererseits, so betont Wellmer einleitend, kçnne diese besondere Form von „negativer Freiheit“ aber auch „nicht als Teil eines Begriffs kommunikativer Rationalitt in Habermas’ Sinn betrachtet werden“,72 beinhalte sie doch gerade ein Recht auf deren Gegenteil – nmlich darauf, sich eben nicht argumentativ rechtfertigen zu mssen. Das hier geforderte Ausnahmerecht, bis zu einem gewissen Grad nicht rational im Sinne kommunikativer Rationalitt zu sein und deshalb auch fr Bereiche des eigenen Lebens bzw. bestimmte Entscheidungen keine Rechenschaft vor Anderen abzulegen, muss deshalb Wellmer zufolge einer „andere[n] Art von ,Rechten‘“73 zugehçren. Genauer expliziert er dieses Recht als eines, das sich „nur in terms der moralischen Verpflichtungen“ erklren lasse, „die andere Menschen bezglich meiner Sphre negativer Freiheit haben“, nmlich „eine moralische Verpflichtung, meine Sphre negativer Freiheit zu respektieren – selbst wenn ich die entsprechenden Rechte in einer nicht rationalen Weise ausbe“.74 Zwar ist diese negative Freiheit, sich fr bestimmte Dinge gerade nicht zu rechtfertigen,75 nicht mehr ihrerseits als Recht im Sinne kommunikativer Rationalitt zu fordern, gleichwohl wre sie anderen Menschen immer dort einzurumen, wo diese Freiheit die Interessen Anderer nicht in relevanter Weise beschneidet: Nicht jeder erhobene Anspruch auf Rechtfertigung ist gerechtfertigt, und sobald sich das herausstellt, lsst er sich auch nicht mehr aufrechterhalten. 70 71 72 73 74 75
Albrecht Wellmer, Endspiele: Die unversçhnliche Moderne. Essays und Vortrge, 39. Ebd. A. a. O., 43. A. a. O., 44. Ebd. Eine interessante literarische Illustration der Antwortverweigerung – die doch immer eine Art von Antwort ist – findet sich in H. Melvilles Novelle „Bartleby, the Scrivener“, deren Protagonist (fast) grundstzlich jede an ihn gerichtete Aufforderung mit der Floskel „I would prefer not to“ beantwortet.
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III.3. Verantwortliches Handeln
In solchen Fllen hat der zur Rechtfertigung Aufgeforderte auf den geußerten Rechtfertigungsanspruch allenfalls zu antworten, dass er ihn zurckweist, und muss dies auch nicht unbedingt weiter erklren. Diskursive Verstndigung, so wurde bislang argumentiert, basiert zwar einerseits auf einer negativen Freiheit, sich auch nicht rational verhalten zu kçnnen, andererseits muss sie diese einschrnken. Denn sofern Menschen das Recht, sich nicht zu rechtfertigen, dauerhaft und konsequent praktizieren, zerstçren sie in aller Regel die Mçglichkeit, sich berhaupt mit Anderen zu verstndigen. Dabei ist jedoch zu bercksichtigen, dass diskursive Praxis nicht allein auf negative Freiheit angewiesen ist, sie ist umgekehrt selbst notwendige Bedingung fr die Realisierung eben dieser negativen Freiheit in einer sozialen Welt: Ohne den rationalen Diskurs und seine idealiter friedliche Vermittlung verschiedener Interessen und Ansprche wre gerade auch die individuelle negative Freiheit permanent bedroht durch die faktische Konkurrenz, in der sie mit der negativen Freiheit aller Anderen steht. Nur bei einseitiger Betrachtung lsst sich also in der Pflicht zur Kommunikation eine Einschrnkung der Freiheit sehen. Ebenso unbersehbar stellt das verstndigungsorientierte Gesprch eine Bedingung der Realisierung von individueller Freiheit berhaupt dar, basiert auf ihm doch ein Großteil der Institutionen, Praktiken und Lebensformen, die die fr die individuelle Freiheit notwendige gesellschaftliche Einbindung erst ermçglichen. Wellmer verweist denn auch auf die Kommunalisten, die (m. E. zu Recht) davon ausgehen, dass individuelle Freiheit nicht durch die Anderen begrenzt, sondern durch diese erst ermçglicht wird. Denn fr die Kommunalisten sei „der ursprngliche Ort der Freiheit […] nicht das vereinzelte Individuum, sondern die Gesellschaft als Medium einer Individuierung durch Sozialisierung; Freiheit wre zu denken als etwas, das nicht nur – als negative Freiheit – durch Institutionen begrenzt, sondern das – als positive Freiheit – durch die Institutionen, Praktiken und Lebensformen einer Gesellschaft allererst ermçglicht und hervorgebracht wird“76. Gesprche, etwa in Form des argumentativen Diskurses, kçnnen Impulse unterbinden, die eigenen Interessen und Bedrfnisse mit Mitteln der Gewalt durchzusetzen, was hufig – zumindest lngerfristig – eine noch grçßere Einbuße an Freiheiten zur Folge htte. Zwar bedeutet die Pflicht, sich ber sein Handeln mit Anderen so weit zu verstndigen, wie diese davon betroffen sind, eine Einschrnkung der individuellen Handlungs76 Wellmer, Endspiele, 17 f.
III.3.3. Verantwortliches Handeln und sprachliche Verstndigung
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freiheit. Doch diese Handlungsfreiheit der Subjekte ist mindestens ebenso sehr durch die faktische und potentiell rcksichtslose Konkurrenz verschiedener Interessen bedroht. In einer intersubjektiv geteilten Welt sind Menschen vom Handeln Anderer immer schon betroffen. Dies an sich kann eine Einschrnkung der eigenen Freiheit bedeuten, doch erlaubt die Verstndigung ber unterschiedliche Interessen und Ansprche, den Raum, in dem wir handeln, mçglichst friedlich zu teilen, gegen die gewaltsame Vereinnahmung durch Einzelne zu schtzen und mçglicherweise bis dahin nicht genutzte Handlungsspielrume zu realisieren.
III.4. Ausblick Mit den vorangegangenen Erçrterungen zu den Stichworten „Gerechtigkeit“, „Epoch“ und „Sprache“ ging es mir darum, wichtige Aspekte einer verantwortlichen Praxis nher zu beleuchten. Der dabei entwickelte Kerngedanke lsst sich folgendermaßen resmieren: Ein verantwortlich Handelnder muss sich in seinem Handeln und bei der Rechtfertigung dieses Handelns am Maßstab der Gerechtigkeit orientieren; wichtig ist hierbei, die eigene Perspektive einklammern zu kçnnen und die anderer Betroffener einzubeziehen, um auf diesem Wege zu einer mçglichst offenen, gleichberechtigten Verstndigung zu gelangen. Eine Reihe von berlegungen konnte dabei nur angedeutet werden. Eine ausfhrlichere Diskussion wrde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, deren Hauptanliegen darin liegt, eine Antwort auf die Frage vorzuschlagen, warum Menschen berhaupt moralisch verantwortlich sind. Außerdem bedarf die Philosophie zur Beantwortung dieser anwendungsorientierten Frage der Einbeziehung anderer ihr benachbarter Disziplinen wie etwa der Politikwissenschaft, der Rechtswissenschaft, der Psychologie und der Soziologie. Zu einem der bislang in dieser Arbeit weitgehend nur wenig bercksichtigten Aspekte, der Notwendigkeit von gesellschaftlichen Institutionen fr die Etablierung, Umsetzung und Sicherung verantwortlicher Praxis, mçchte ich gleichwohl ausblickend einige Anmerkungen machen. Die Frage des verantwortlichen Handelns wurde hier vor allem aus der Perspektive des individuellen Handlungssubjekts beleuchtet, das verantwortlich ist, indem es sich vor Anderen mit guten Grnden rechtfertigt. Dabei ist dieses verantwortliche Subjekt jedoch nie losgelçst von seiner sozialen Umwelt zu betrachten. Vielmehr lebt es, wie immer wieder hervorgehoben wurde, mit Anderen, die es als Person und in seinem Handeln ganz wesentlich mitbestimmen und mit denen es vermittelt durch Sprache an der gemeinsamen Welt teilhat. Daher kann die Frage nach den Bedingungen einer verantwortlichen Praxis sich nicht auf ein vereinzeltes Subjekt beschrnken, sondern hat auch dessen Einbindung in seine soziale Welt zu bercksichtigen. Diese soziale Welt ist nicht als eine Summe von Individuen, sondern als durchweg in einem Ensemble von Institutionen
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strukturiert und organisiert zu beschreiben.1 Im Hinblick auf die Frage nach einer verantwortlichen Praxis kommen diesen Institutionen vor allem drei wichtige Funktionen zu, die ich im Folgenden zumindest umreißen mçchte: 1.) bedarf es sozialer Institutionen, damit das Subjekt berhaupt die fr verantwortliches Handeln nçtigen Fertigkeiten ausbilden kann; 2.) ist ein institutioneller Rahmen erforderlich, um verantwortliches Handeln auch in einer Welt nicht-idealer Bedingungen zu ermçglichen und das handelnde Subjekt dabei so weit zu entlasten, dass es in nicht vorstrukturierten oder als Routine etablierten Situationen ebenfalls verantwortlich handeln kann; 3.) schließlich kçnnen Institutionen innerhalb von Verantwortungsrelationen vielfach die Rolle der beurteilenden Instanz bernehmen. 1.) Zwischen verschiedenen Perspektiven wechseln und eigene Sichtweisen oder Ansprche temporr einklammern zu kçnnen wie auch vor Anderen das eigene Handeln mit Grnden zu rechtfertigen, diese fr verantwortliches Handeln bençtigten Fhigkeiten entwickeln Menschen mit bzw. in der Sprache. Sprache, obwohl als Potential angeboren,2 ist als Fertigkeit sowohl im alltglichen Umgang mit anderen Menschen als auch durch implizite oder explizite Unterweisung zu erlernen und zu entwickeln.3 Kinder lernen erst, sich der Sprache zu bedienen, indem sie Wortbildung, Vokabular und Grammatik (mindestens) einer Sprache von anderen Sprechern bernehmen, und sie eignen sich dadurch zugleich das dazu nçtige Weltwissen an. Darber hinaus ist auch das Ausmaß und die 1
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Beim Begriff der Institution geht es mir hier um all die sozialen Einrichtungen, die zur Stabilitt von wechselseitigen Verhaltenserwartungen beitragen und damit das handelnde Individuum in seinen Entscheidungen und Handlungen entlasten. Siehe zum Begriff der Institution und ihrer entlastenden Funktion neben Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik, 93 – 98, etwa Peter L. Berger und Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Kapitel II.1. (Institutionalisierung) und Kapitel II.2. (Legitimation). Auch John Searle betont den stabilisierenden Aspekt von Institutionen. Siehe hierzu Searle, Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit, 91. Siehe hierzu etwa Michael Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Siehe dazu, dass Menschen in die Sprache erst noch eingeweiht werden mssen auch McDowell, Geist und Welt, 153. McDowell bezieht sich auf Gadamers Wahrheit und Methode. In Abgrenzung zu McDowell scheint mir ein kritischerer Umgang mit der Tradition angebracht. Gerade der fast schon sakrale Gestus, mit dem bei McDowell von „einweihen“ die Rede ist, kçnnte sonst den Eindruck erwecken, Tradition sei ein Wert an sich und sakrosankt.
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Komplexitt der hierfr bençtigten Reflexion abhngig von vorangegangenen Bildungsprozessen: Menschen kçnnen eingehend oder nur flchtig, mit engerem oder weiterem Horizont bedenken, welche Auswirkungen die eigenen Handlungen haben, und dabei Andere einbeziehen – und auch das hngt nicht allein von natrlichen Dispositionen ab, sondern nicht zuletzt davon, inwieweit sie die hierfr nçtigen Fertigkeiten ausgebildet haben. Mindestens teilweise erlernbar ist denn auch die Fhigkeit, aus der Reflexion oder aus reflexiven Diskursen Handlungskonsequenzen zu ziehen. Die Mçglichkeit hierzu scheint zwar den Menschen grundstzlich gegeben, aber je nach natrlicher wie sozialer Prgung einerseits und Unterweisung und bung andererseits sind sie unterschiedlich gut in der Lage, dieses Potential zu nutzen. Fr die Ausbildung der sprachlichen und reflexiven Fhigkeiten sind zunchst Familien bzw. familienhnliche Strukturen ebenso von Bedeutung wie (im weitesten Sinne) „freundschaftliche“ außerfamilire Beziehungen. Neben diesen eher privaten Institutionen kommt Schulen und anderen Sozialisations- und (im engeren Sinne) sozialen Einrichtungen eine wichtige Rolle zu. Denn auch hier werden die fr die verantwortliche Praxis notwendigen Fhigkeiten des auf Verstndigung abzielenden Austauschs, des Begrndens und ein auf der Rechtfertigungspraxis basierender Umgang zwischen Menschen erlernt und gebt.4 Durch explizite Regeln oder durch stillschweigendes bereinkommen etabliert sich ein jeweils spezifischer Modus von Kommunikation und Interaktion. Offensichtlich kçnnen dabei alle an der Entwicklung zum verantwortlichen Handeln beteiligten sozialen Institutionen – von der Familie ber die Schule und ber Vereine bis hin zur gesellschaftlichen Organisation von Arbeitsprozessen – sehr unterschiedlich akzentuiert und strukturiert sein. Wie gut sich Menschen in ihnen zu verantwortlichen Personen entwickeln kçnnen, hngt zu einem großen Teil davon ab, welche Rolle in ihnen eine – bei allen funktionalen Differenzierungen – grundstzlich mçglichst gleichberechtigte Verstndigung aller Mitglieder untereinander spielt. Allgemein gilt: Je mehr sich hier „gelingende Verstndigung“, diese „Metainstitution“5 verantwortlichen Handelns, umgesetzt 4 5
Auch Charles Lamore verweist darauf, dass es der bung bedarf, um dahin zu gelangen, „that we come to see in other people’s good a reason for action on our part“. (Larmore, „The Autonomy of Morality“, 126.) In seinem Aufsatz zu Arnold Gehlen bezeichnet Apel Sprache zurckgreifend auf rçmische und italienische Vertreter eines rhetorischen Humanismus auch als „Institution der Institutionen“. (Vgl. Karl-Otto Apel, „Arnold Gehlens ,Philosophie der Institutionen‘ und die Metainstitution der Sprache“, 217; hier betont Apel
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findet, desto eher scheinen soziale Institutionen in der Lage, ihre Mitglieder bzw. die an ihnen Beteiligten zu eben solchen verantwortlichen, sich verantwortenden Subjekten auszubilden. Eher autoritr organisierte, stark hierarchisierende Familienstrukturen oder soziale Institutionen werden das Rechtfertigungsverhltnis aufgrund vorhandener oder beanspruchter Kompetenzunterschiede, aber zumeist mehr noch aufgrund eines Machtgeflles stark asymmetrisch auslegen und damit kaum oder allenfalls einseitig zum verantwortlichen Handeln anleiten. In weniger autoritren und eher auf Partnerschaft ausgerichteten Institutionen hingegen ist das Rechtfertigungsverhltnis strker reziprok und ermçglicht und fordert deshalb von allen Beteiligten oder Mitgliedern in hçherem Maße die Einbung und Umsetzung der fr eine verantwortliche Praxis notwendigen Fhigkeiten – sich und seine Ansprche Anderen verstndlich zu machen und vor diesen mit Grnden rechtfertigen zu kçnnen, auf der Basis wechselseitigen Respekts und der Bereitschaft, die jeweils andere Perspektive zu bernehmen. Wenn in solchen strker horizontal strukturierten sozialen Institutionen u. U. zu wenig bercksichtigt wird, dass manche Menschen (z. B. aufgrund geringerer Kenntnisse und Fhigkeiten) eben nicht oder nicht in vollem Umfang verantwortlich sind (d. h., dass sie nicht im gleichen Maße Grnde angeben bzw. verstehen kçnnen wie bereits in diese Praxis Eingebte), kann das allerdings das Risiko einer berforderung mit sich bringen.6 2.) Institutionen bernehmen indes nicht nur eine wichtige Rolle beim Erlernen und Einben der fr die verantwortliche Praxis notwendigen subjektiven Fhigkeiten und Fertigkeiten. Darber hinaus erfordert die Umsetzung und Sicherung verantwortlichen Handelns – gerade angesichts der nicht idealen Bedingungen, unter denen Menschen de facto handeln – sttzende Institutionen. Denn in Handlungskontexten, in denen mangels verbindlicher Regelungen prinzipiell ungewiss oder fraglich bleibt, ob die Anderen ihrer Rechtfertigungspflicht ebenfalls nachkommen, ist es
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im brigen, „das Wesen der parlamentarischen Demokratie“ bestehe letztlich darin, „daß die nicht mehr selbstverstndlichen gesellschaftlichen Institutionen aus der Institution des vernnftigen Gesprchs allererst hervorgehen – so in der Legislative und noch prinzipieller in der verfassungsgebenden Versammlung.“ – Siehe zum konstitutiven Charakter von Sprache fr alle Institutionen auch Searle, Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit, insbesondere 70 ff. Siehe hierzu etwa Alain Ehrenberg, „Depression. Die Mdigkeit, man selbst zu sein“, 103 – 139; ders., Das erschçpfte Selbst. Ich komme im folgenden Punkt noch einmal hierauf zurck, wenn es um die entlastende Funktion von Institutionen geht.
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schwierig oder gar unmçglich, sich seinerseits verantwortlich zu verhalten. Zwar sind Menschen unabhngig davon, ob die Anderen sich an die Regeln einer verantwortlichen Praxis halten, aufgefordert, so zu handeln, dass sie den davon Betroffenen stets gute Grnden fr ihr Handeln angeben kçnnen. Faktisch wird das aber dadurch beeintrchtigt, wenn nicht sogar vereitelt, dass in einem solchen im Hinblick auf die Verbindlichkeit von Regeln fragwrdigen Diskurs „Scheingrnde“ oder „Scheinargumente“ vorgebracht werden, die entgegen ihrem Wortlaut anderes intendieren und damit gegen mindestens einen der alle Verstndigung leitenden Geltungsansprche der Richtigkeit, Wahrhaftigkeit und Wahrheit verstoßen.7 Nach K.-O. Apel kann es in derartigen unsicheren, wenn nicht dubiosen, der friedlichen Verstndigung eher aversen Situationen zulssig oder sogar moralisch geboten sein, dass handelnde Subjekte auf strategisches Handeln zurckgreifen,8 um in der realen Lebenswelt verantwortlich handeln zu kçnnen. Stattdessen hat Habermas dafr pldiert, die Diskurstheorie der Moral durch eine Diskurstheorie des Rechts zu ergnzen,9 durch welche ein rechtlicher und politischer Rahmen fr ein am Kriterium der Gerechtigkeit sich orientierendes, auf gleichberechtigter Verstndigung basierendes Handeln geliefert werden soll.10 Dabei geht es weniger um den privaten, zwischenmenschlichen Bereich, da dieser insgesamt weniger institutionalisiert ist und die beteiligten Subjekte deshalb vor allem untereinander und persçnlich fr die Einrichtung und Einhaltung einer solchen Praxis sorgen kçnnen und mssen, als vielmehr um die Sicherung verantwortlichen Handelns in çffentlichen Kontexten. Denn hier kçnnen sowohl unzureichend strukturierte, anarchische oder anomische Situationen als auch einseitig an hierarchische Machtstrukturen gebundene Formen der Rechtfertigungsdiskurse verantwortliches Handeln erschweren bzw. vereiteln: Hierarchien bergen die Gefahr, dass sich der nicht zu rechtfertigen hat, der die hçhere Machtposition innehat oder ein irgendwie naturgegebenes Recht des Strkeren und daraus abgeleitete Privilegien meint in Anspruch nehmen zu kçnnen. Es mangelt hier, ebenso wie in tendenziell strukturlosen Handlungskontexten, an einer sich am Gerech7 Siehe hierzu etwa Habermas, TkH, Bd. 1, 149 und 410 ff. 8 Dieses strategische Verhalten muss dabei gleichwohl, wie schon betont wurde, versuchen, zumindest langfristig ideale Kommunikationsbedingungen einzurichten. (Siehe hierzu oben, Unterabschnitt II.2.3.2.) 9 Siehe vor allem Faktizitt und Geltung, aber auch seine Erluterungen zur Diskursethik, in denen Habermas direkt auf Apels Anwendungsproblem eingeht. 10 Siehe hierzu auch das Anwendungsproblem bei Apel, auf das ich oben (Abschnitt II.2.3. bzw. im 2. Exkurs von Teil II) ausfhrlich eingegangen bin.
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tigkeitskriterium orientierenden Praxis der Perspektivenbernahme sowie der Bereitschaft zu einer gleichberechtigten Verstndigung und einem entsprechenden Engagement. Zudem fehlt es an der Sicherheit, dass die Anderen sich ebenfalls an diesen Maßstben und an dem Ziel orientieren, eine herrschafts- und gewaltfreie Verstndigung zu verwirklichen. Auf politischer Ebene kann der demokratische Rechtsstaat11 insofern als wichtiger Garant verantwortlichen Handelns gelten, als er seinem eigenen Anspruch nach die mçglichst gleichrangige Beteiligung von mçglichst vielen Betroffenen an politischen Entscheidungen regelt und zu einem unverzichtbaren Recht der Brger sowie zur unumgnglichen Verpflichtung jeder politischen Willensbildung macht. Dies geschieht in den politischen Prozeduren der reprsentativen Demokratie nicht unmittelbar, sondern in einer Art pragmatischem Kompromiss zwischen den Beteiligungsansprchen einerseits und dem Erfordernis, dass alle Diskussionen in einen praktikablen Kompromiss einmnden mssen, damit notwendige Entscheidungen getroffen und umgesetzt werden kçnnen – selbst auf die Gefahr hin, dass nicht in allen Fllen mçglich ist, wichtige partikulare Bedrfnisse und Interessen ausreichend zu bercksichtigen. So ist das, was in demokratischen Rechtsstaaten als Ergebnis gesellschaftlicher Diskurse erscheinen mag, faktisch oft nicht mehr als eine prekre bereinkunft nach zum Teil heftigen, wenn nicht gewaltsamen Konflikten, bei denen in der Geschichte fast nie nur die „Kraft des besseren Argumentes“ zhlte. Infolgedessen sind auch die demokratisch organisierten Gesellschaften vorausgehenden oder zugrunde liegenden gesellschaftlichen Prozesse nicht frei von Unzulnglichkeiten, Ungereimtheiten und Irrtmern. Im Großen und Ganzen sind die realen Kommunikationsbedingungen hier einer verantwortlichen Praxis zwar sicherlich zutrglicher als etwa unter Bedingungen totalitrer Systeme; dennoch lassen sie sich nie als im Sinne der Diskursethik ideale Bedingungen beschreiben. Denn nicht selten werden auch hier die normativen Regelungen des gleichen Rechts fr alle durch die tatschlichen – nicht zuletzt çkonomisch begrndeten – Machtverhltnisse eingeschrnkt, wenn nicht gar außer Kraft gesetzt. Immerhin erlaubt der demokratische Rechtstaat einen çffentlichen gesellschaftlichen Diskurs ber diese Fragen, eine darauf bezogene politische Meinungsbildung sowie – mehr oder weniger wirksame – politische Aktivitten zur Artikulierung von Ansprchen, Forderungen oder Kritik. 11 Siehe hierzu etwa die klassische Studie von Franz Neumann, Demokratischer und autoritrer Staat.
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Aus den beschriebenen Funktionen von Institutionen ergibt sich noch ein weiterer Aspekt, der fr die Gewhrleistung einer verantwortlichen Praxis von Bedeutung ist: Institutionen tragen ganz wesentlich dazu bei, Verantwortlichkeiten vorab festzulegen und entsprechende Zustndigkeiten verbindlich zu regeln. Dadurch wird das Handlungssubjekt so weit entlastet, dass es mit seiner theoretisch unabschließbaren Verantwortlichkeit praktisch umgehen kann und an der Last einer solchen Verantwortung – kçnnten doch fr jeden Grund wieder weitere Grnde eingefordert werden – nicht zerbricht.12 Allgemein wird immer wieder auf diesen (insbesondere von Arnold Gehlen hervorgehobenen)13 Entlastungsaspekt von Institutionen verwiesen. Denn diese lassen sich als Gegengewicht zur drohenden berforderung durch einen auf dem eigenen Handeln und Leben stndig lastenden Legitimationsdruck verstehen. Wie brisant und gefhrlich jedoch diese teilweise wnschenswerte Entlastung berall da sein kann, wo sich die Institutionen ihrerseits nicht mehr verantworten mssen, zeigen die (historischen) Erfahrungen mit autoritren Regimen: Selbst dort, wo deren starre Regelungssysteme mit gewaltttigen Sanktionen bewehrt und auf gewaltttige Ziele gerichtet sind, wurden und werden sie vom Einzelnen vielfach als entlastend empfunden – sofern er nicht zur Gruppe der „Volksfeinde“ und anderer Opfer zhlt. Mit der Behauptung, nicht selbst verantwortlich, sondern „im Befehlsnotstand“ oder nur nach „Anweisung von oben“ zu handeln,14 wird dann hochgradig unverant12 Darauf, dass Lvinas’ Konzeption einer unendlichen Verantwortung fr den Anderen, die selbst dessen Verantwortlichkeit einschließt, eine berforderung sein kçnnte, ist immer wieder kritisch hingewiesen worden; dagegen macht Lvinas selbst mit Bezug auf die Einbeziehung anderer Anderer geltend, dass Menschen ihrer Verantwortung berhaupt nur gerecht werden kçnnen, wenn sie diese begrenzen, denn andernfalls mssten sie an ihr zerbrechen. (Vgl. hierzu noch einmal Lvinas, Vier Talmud-Lesungen, 94 [108].) Damit soll keineswegs deren theoretische Unabschließbarkeit in Frage gestellt, sondern nur auf die Tatsache aufmerksam gemacht werden, dass Rechtfertigungsdiskurse in lebensweltlichen Kontexten de facto zu einem Ende kommen und auch kommen mssen, um verantwortliches Handeln berhaupt mçglich zu machen. 13 Siehe etwa Arnold Gehlen, Urmensch und Sptkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, Teil I, sowie ders., Moral und Hypermoral, Kapitel 7. – In seinen anthropologischen Schriften hat Gehlen diese Entlastungsfunktion allzu einseitig positiv bewertet. 14 Erinnert sei hier etwa an Adolf Eichmanns Verteidigung in Jerusalem, wie sie auch von Hannah Arendt wiedergegeben wird. Siehe hierzu Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalitt des Bçsen sowie den 1999 herausgekommenen Film von Eyal Sivan, „Un spcialiste. Le portrait d’un criminel moderne“.
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wortliches, unmndiges und verbrecherisches Handeln zu entschuldigen gesucht. Doch ist umgekehrt ein Verzicht auf die Entlastung durch institutionalisierte Verfahren und Institutionen keineswegs die Gewhr dafr, dass eine verantwortliche Praxis gelingt. Hier gibt es einerseits ein Effizienzproblem: Im kleinen Rahmen hat sich das immer wieder z. B. in selbstorganisierten Institutionen mit basisdemokratischem Anspruch (Knstlerkollektiven, Kinderlden, Redaktionen in alternativen Zeitungsprojekten etc.) gezeigt, wenn nmlich dort der Anspruch, dass alles, oder auch nur fast alles, mit allen mçglichst noch bis zum einstimmigen Konsens diskutiert werden muss, zur zumindest partiellen Paralyse jedes Handelnden und damit gerade zu ebenfalls unverantwortlichen Konsequenzen gefhrt hat. Um so mehr ist fr grçßere und komplexere soziale Strukturen die – kontrollierte und reflektierte – Entlastung durch Institutionen unabdingbar. Es kann andererseits ein Legitimationsproblem geben: Das Fehlen tragfhiger formalisierter Verantwortungsstrukturen kann dazu fhren, dass mit dem ungeprften Anspruch auf Gleichberechtigung sich faktisch bestehende ungleiche Machtverhltnisse durchsetzen und es keine ausreichenden Verfahren gibt, wie sich die Strkeren zu legitimieren haben und wie mçglicherweise Benachteiligte ihre Ansprche geltend machen kçnnen. Hier sei etwa auf das prekre Verhltnis von Politikern mit starker persçnlicher Ausstrahlung zu den Gremien und zur Basis ihrer Partei hingewiesen. Bei aller oft bewunderten Durchsetzungsfhigkeit dieser Persçnlichkeiten, also hochgradiger Effizienz, gab es immer wieder begrndete Zweifel, ob hier demokratisch nicht legitimierte Machtausbung das Erfolgsrezept war. Institutionen ben also einerseits insofern eine entlastende Funktion15 aus, als die handelnden Subjekte nicht immer neu und persçnlich sicherstellen mssen, dass die Rahmenbedingungen fr verantwortliches Handeln gegeben sind. Andererseits schtzen Institutionen die Gesellschaft vor willkrlichen und chaotisch gegeneinander wirkenden Handlungen, indem sie wohlgeordnete oder zumindest besser vorhersehbare Strukturen und Ablufe gewhrleisten. Damit diese Institutionen aber 15 Wie deutlich gemacht werden sollte, bleibt dabei immer zu bercksichtigen, dass diese Entlastung nicht risikofrei ist. Der hier geforderte Balanceakt besteht zwischen der Einsicht, dass nicht alles stndig und zwischen allen kommuniziert und gerechtfertigt werden kann, und der, dass blindes Vertrauen in einzelne Personen oder Institutionen bedeuten kann, dass diese sich gar nicht mehr der kritischen Selbstreflexion oder der kritischen Prfung durch Andere aussetzen.
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nicht Gefahr laufen, verantwortliches Handeln zu behindern und zu lhmen, mssen sie in ihrer Grundstruktur selbst vor allen rechtfertigbar sein, sich immer wieder in Legitimationsdiskursen neu rechtfertigen und entsprechend wandelbar bleiben. Auch drfen sie nicht so fest gefgt sein, dass sie starr und blind werden fr die Ansprche und Bedrfnisse der an ihnen beteiligten Personen. Institutionen bedrfen deshalb selbst einer prozeduralen Rechtfertigungsstruktur und -kultur. So wichtig die institutionelle Verankerung und Absicherung der subjektiven Verantwortung sein mag, mssen deren Grenzen den Beteiligten stets bewusst bleiben, auch um einen Missbrauch von institutioneller Autoritt zu vermeiden. 3.) Abschließend soll auf die Rolle von Institutionen eingegangen werden, die selbst als Instanz in der Verantwortungsrelation fungieren. Im ersten Teil dieser Arbeit waren fr die Instanz der Verantwortung drei Aufgaben nher bestimmt worden: die Zuschreibung von Verantwortung, die Aufforderung zur Rechtfertigung und schließlich die Sanktionierung von unverantwortlichem Handeln. Neben dem Subjekt selbst (speziell seinem Gewissen) wurden als mçgliche Verantwortungsinstanzen zunchst alle direkt von den zu verantwortenden Handlungen Betroffenen identifiziert, weil diese aufgrund ihrer Betroffenheit durch die Handlungen des Subjekts einen wohl begrndeten Anspruch auf Rechtfertigung erheben kçnnen. Darber hinaus wurden aber auch externe Instanzen benannt, die vordergrndig mit den Handlungen des Subjekts nicht in Zusammenhang stehen oder stehen mssen. Selbst wenn die Frage nach deren Berechtigung im Einzelfall zu klren bleibt, liegt ein nicht zu verkennender Vorteil der Einbeziehung solcher externen Instanzen darin, dass diese, als eben nicht oder nicht unmittelbar von der Handlung betroffene, grçßere Distanz und damit „mehr Objektivitt“ bei der Zuschreibung, Bewertung und gegebenenfalls auch der Verurteilung von Handlungen wahren kçnnen – zumindest dann, wenn diese Rolle nicht von Privatpersonen, sondern beispielsweise von rechtlich legitimierten und durch klare Normen strukturierten Institutionen bernommen wird: Nicht nur bei der Zuschreibung von Verantwortung, sondern vor allem bei der Prfung und Beurteilung von gegebenen Rechtfertigungen und bei der Sanktionierung von „unverantwortlichem“ Handeln stehen diese Instanzen strker als etwa betroffene Einzelpersonen unter dem Anspruch, Handlungen und Personen „objektiv“, d. h. unabhngig von persçnlichen Interessen zu beurteilen. Sicherlich kann und sollte dies nicht die einzige in Verantwortungsdiskursen einzunehmende Perspektive sein – denn nur unter der Voraussetzung, dass alle persçnlichen Interessen (sowohl die des Handelnden als
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auch die der Betroffenen) gehçrt und bercksichtigt werden, sofern sie de facto handlungsrelevant sind, lsst sich berhaupt eine konstruktive Verstndigung ber ihre Berechtigung und die Mçglichkeit einer sinnvollen Bercksichtigung beginnen. Damit die in diesem Zusammenhang geußerten Positionen jedoch nicht unvermittelbar und antagonistisch nebeneinander stehen bleiben, ist fr eine Verstndigung und Bewertung der unterschiedlichen Interessen und Bedrfnisse eine das Subjekt teilweise transzendierende Perspektive, in der intersubjektiv einsehbare Grnde gesucht werden, ebenso erforderlich. Und diese den Diskursprozess moderierende Funktion16 kann gerade von solchen externen Instanzen (etwa rechtsprechenden Institutionen oder entsprechend ausgebildeten Schlichtern) besonders gut eingenommen werden, die professionell, „von Amts wegen“, d. h. aufgrund einer formellen Legitimation sowie Qualifikation und als selbst nicht Betroffene, hinzugezogen werden und explizit einem das Subjekt transzendierenden Bewertungsmaßstab verpflichtet sind. Neben Rechtsprechungsinstitutionen kçnnen also auch andere çffentliche Institutionen als externe Instanzen der Verantwortungsrelation fungieren, auf diese Weise eine oder mehrere der oben angefhrten Aufgaben bernehmen und damit an Verantwortungsdiskursen mitwirken – z. B. eine unabhngige Presse durch die kritische Sichtung und Bewertung mçglichst vieler Informationen sowie durch Zuschreibung von Handlungen und Unterlassungen und entsprechender Verantwortlichkeit, woraus hufig (implizit) eine Aufforderung zur Rechtfertigung hervorgeht; oder auch politische Institutionen wie Untersuchungsausschsse und Wahrheitskommissionen. Damit all diese Institutionen selbst als verantwortlich gelten kçnnen, ist entscheidend, dass auch sie wieder anderen, mçglicherweise bergeordneten Instanzen zur Rechenschaft verpflichtet sind und dass sie dieser Verpflichtung nach çffentlich einsehbaren Kriterien nachkommen (wie etwa einem schriftlich niedergelegten und als legitim ratifizierten Recht). Auch sollten zur Verantwortung gezogene Personen die sie zur Rechenschaft auffordernden und ihr Handeln bewertenden Instanzen im Zweifelsfall selbst wieder auffordern kçnnen, die verwendeten Bewertungskriterien und die daraus abgeleiteten Beurteilungen offenzulegen und sie mit „guten Grnden“ zu rechtfertigen. Entscheidend bleibt dabei neben allen formellen Regelungen stets, dass diese Instanzen von Personen getragen werden, die „sich ihrer Verantwortung bewusst sind“. 16 Siehe hierzu etwa Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 86.
Teil IV Schluss
IV.1. Einige – nicht abschließende – Thesen „Verantwortung im Diskurs“ – unter diesem Titel habe ich in dieser Arbeit versucht, den Begriff der Verantwortung im Sinne einer moralischen Schlsselkategorie als Einsicht in die Pflicht, sich fr sein Handeln zu rechtfertigen, klarer zu bestimmen. Anhand von konstruierten Beispielstzen habe ich zunchst die alltagssprachliche Verwendung des Begriffs „Verantwortung“ analysiert. Damit wollte ich verdeutlichen, dass Verantwortung als Rechtfertigungspraxis ein unverzichtbarer Bestandteil unserer sozialen Welt ist. Verantwortung lsst sich als eine sprachlich verfasste Zurechnungsrelation zwischen mindestens drei Relata beschreiben: Ein Subjekt hat sich bzw. sein Handeln (Objekt) vor einer Instanz zu verantworten, die das handelnde Subjekt zur Rechenschaft zieht, indem sie Grnde fr sein Handeln einfordert. Subjekt von Verantwortung ist der Mensch, in dem Maße, wie ihm die Fhigkeit zu handeln und zu sprechen zugeschrieben werden kann. Denn nur weil Menschen ber Sprache verfgen, kçnnen sie ihr Handeln explizieren und mit Grnden rechtfertigen. Potentiell kann jeder Mensch Subjekt von Verantwortung sein. Aktuell ist jemand berall dort verantwortlich, wo er in einem realen diskursiven Beziehungs- und Interaktionsgeflecht fr sein Handeln Grnde geben muss oder wenn vorweggenommen wird, dass dies zu einem spteren Zeitpunkt von ihm eingefordert wird. In welchem Umfang jemand sein Handeln zu rechtfertigen hat, bemisst sich vor allem daran, in welcher Weise Andere von diesem Handeln betroffen sind. Als allgemeiner Grundsatz kann festgehalten werden: Ein Handlungssubjekt ist verpflichtet, sein Handeln im Medium der Sprache durch gute Grnde zu legitimieren. Verantwortlich sind Menschen fr ihre Handlungen. Einzelne Handlungen sind aber nur vordergrndig aus dem den Handlungskontext konstituierenden Sinnzusammenhang von Tatsachen, Ereignissen, subjektiven Wert- und Weltvorstellungen, Intentionen etc. herauszulçsen. Allenfalls in stark standardisierten Handlungssituationen mag eine einzelne Handlung und deren Konsequenzen als Verantwortungsobjekt bestimmt werden – wobei bereits hier die Einbeziehung von verschiedenen Handlungsabsichten und -grnden deutlich machen kann, dass die dem ersten
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Anschein nach einfache Handlung in einen ganzen Handlungskomplex eingebettet ist. Prinzipiell kann alles, wodurch Handelnde sich den Blicken und Fragen von (eventuell) dadurch betroffenen Mit-Subjekten aussetzen, vor diesen zu rechtfertigen sein. Rechtfertigen muss sich ein handelndes Subjekt also potentiell vor all denen, die von seinen Handlungen direkt oder indirekt betroffen sind oder sein kçnnten, die diesen Anspruch stellvertretend wahrnehmen. In vielen Fllen scheint mehr oder weniger eindeutig vorgegeben, wer in welchem Maße von bestimmten Handlungen betroffen ist und deshalb ein entsprechendes „Recht auf Rechtfertigung“ hat. Sofern sich ein Handlungskontext oder die Interpretation einer Handlung ndert und weitere Personen oder Institutionen berechtigterweise nach Grnden fragen, muss auch diesen geantwortet werden. Nach dieser Bestimmung der drei Relata, zwischen denen sich durch Interaktion und diskursiven Austausch die Verantwortungsbeziehung konstituiert, lsst sich ergnzend weiterfragen, anhand welcher Kriterien sich das Verantwortungssubjekt bei der Auswahl seiner Grnde orientiert oder wonach die Verantwortungsinstanz seine vorgebrachten Grnde berhaupt bewertet: Rechtliche Regelungen, ethische oder moralische Normen – in kodifizierter Form oder als Tradition stillschweigend vorausgesetzt – bilden im Verantwortungsdiskurs eine Art normativen Bezugsrahmen, einen Hintergrund, an dem das Subjekt sein Handeln (implizit) ausrichtet und auf den die Instanz bei ihrer Prfung und Bewertung von Handlungen zurckgreift, auch wenn in vielen Fllen dieser Rckgriff nicht thematisiert wird. Verantwortung haben oder verantwortlich sein bedeutet demnach retrospektiv, den verpflichtenden Anspruch, den Menschen mit jedem Handeln verbinden, dass es gerechtfertigt werden kann, durch die Angabe von intersubjektiv nachvollziehbaren und einsehbaren Grnden einzulçsen. Prospektiv bedeutet verantwortlich sein, sich in seinem eigenen Handeln in dem Maße, in dem es Andere betrifft, daran zu orientieren, dass auf legitime Fragen zufriedenstellende Antworten gegeben werden kçnnen. Hierzu mssen die Beteiligten in der Lage sein, sich ber die ihre Handlungen leitenden Motive, Intentionen und Grnde im Rahmen von Rechtfertigungsdiskursen zu verstndigen. Fr die erste der drei diese Arbeit leitenden Fragen, was Verantwortung ist, konnten somit bereits wichtige Anhaltspunkte gefunden werden. Noch weitgehend unbeantwortet blieben dagegen die Fragen nach der Begrndung von Verantwortung als moralischer Pflicht sowie nach den Kriterien
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fr eine verantwortliche Praxis. Um diese Fragen weiter zu klren, habe ich mich mit drei fr das 20. Jahrhundert besonders einflussreichen Verantwortungskonzeptionen auseinandergesetzt: mit Hans Jonas’ Zukunftsethik, mit Karl-Otto Apels Diskursethik und schließlich mit Emmanuel Lvinas’ Ethik der Begegnung mit dem anderen Menschen. Bei aller Verschiedenheit ist diesen drei Autoren nicht nur gemeinsam, dass fr sie alle der Verantwortungsbegriff im Zentrum ihrer moralphilosophischen berlegungen steht, sondern auch – und dies war fr meine Arbeit entscheidend –, dass er das normative Fundament ihrer Ethik bildet. Fr sie ist Verantwortung der Begriff, der zwischenmenschliche Beziehungen und damit jede Moralphilosophie grundlegend bestimmt: Jonas bezeichnet Verantwortung als das Prinzip der Moral; Apel interpretiert Verantwortung als eine der drei in der argumentativen Praxis immer schon vorausgesetzten Grundnormen; und Lvinas beschreibt Verantwortung als die fundamentale Weise, wie wir mit anderen Menschen diese Welt teilen, wobei Verantwortung als nicht-intentionale Beziehung das menschliche Bewusstsein (zumindest teilweise) transzendiert. Darber hinaus ist allen drei Autoren gemeinsam, dass sie den responsiven bzw. diskursiven Aspekt von Verantwortung einbeziehen – ein weiterer zentraler Grund, mich in meiner Arbeit gerade mit diesen Theorien auseinanderzusetzen. Es konnte und sollte jedoch in meiner Untersuchung nicht darum gehen, als Antwort auf die drei Leitfragen eine Art Synthese von Jonas, Apel und Lvinas vorzuschlagen. Vielmehr habe ich versucht, die Grundlinien einer Theorie moralischer Verantwortung in einer Art hypothetischem Diskurs mit diesen Autoren und zwischen deren Theorien zu entwickeln. Jonas’ Verantwortungstheorie schien mir dabei zwar als Ausgangsberlegung geeignet, aber bei genauerer berprfung eher eine Art Kontrastfolie und als solche weniger hilfreich als die Anstze von Lvinas und Apel, die ich als eine Art sich ergnzendes und korrigierendes Gegensatzpaar betrachtet habe. Von Apel habe ich die Kernthese einer inhrenten Verbindung zwischen Verantwortung und argumentativer Praxis bernommen. Zurckgreifend auf Gedanken von Lvinas sehe ich jedoch die Grundlage von Verantwortung als argumentativer Praxis in der Beziehung zum anderen Menschen, die nicht in argumentativer Rede aufgeht, sondern die voraussetzt, dass Menschen auch außerhalb einer solchen Praxis in einem Verantwortungsverhltnis dem Anderen gegenber stehen, das sie wesentlich als Menschen konstituiert. Keineswegs hlt Lvinas den Logos fr gnzlich entbehrlich. Auch er verweist in seinen Schriften auf die Notwendigkeit rationalen Denkens: Nur so kann Verantwortung auch einem Dritten und nicht zuletzt auch der eigenen Person gegenber wahrge-
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nommen werden. Diesen auf die alltgliche Lebenspraxis bezogenen Gedanken hat Lvinas in seinen Schriften jedoch kaum ausgefhrt, daher habe ich – hier der Diskursethik folgend – argumentiert, dass diskursive Verstndigung berall dort unerlsslich ist, wo es darum geht, zwischen verschiedenen, zum Teil auch gegenstzlichen und miteinander konkurrierenden Interessen zu vermitteln und den Ansprchen mçglichst vieler gerecht zu werden. Bei der Ausarbeitung meiner „rekonstruktiv-hermeneutischen Konzeption moralischer Verantwortung“ habe ich dann unter Bercksichtigung weiterer Theorie-Anstze zunchst versucht, das Verhltnis von Verantwortung und Handeln noch klarer zu umreißen, um dann auf die Kernfrage meiner Arbeit einzugehen, warum Menschen verantwortlich sind, und schließlich, die dritte Frage (nach den Mçglichkeiten verantwortlichen Handelns) noch einmal aufzunehmen. Die dort entwickelten Gedanken und Argumente mçchte ich hier abschließend in Thesenform resmieren: 1.) Handeln, Sprache und Verantwortung als aufeinander verweisende Begriffe: Handeln ist intentional und basiert auf Grnden. Es vollzieht sich innerhalb einer mit Anderen geteilten, durch diese mit konstituierten und sprachlich strukturierten Welt und ist generell mit dem Anspruch verbunden, dass es sich vor Anderen (davon Betroffenen) rechtfertigen lsst. Insofern ist die fr den Begriff „Verantwortung“ maßgebliche Forderung und Fhigkeit, das eigene Handeln durch Grnde zu rechtfertigen, dem Begriff des Handelns – das vernnftig oder an Vernunft orientiert sein muss, um berhaupt als solches gelten zu kçnnen – inhrent und wird damit handelnden Menschen nicht erst nachtrglich von außen auferlegt. Sprache ist dabei nicht nur als Bedingung zu verstehen in dem Sinne, dass die fr jede Handlung notwendige Intentionalitt ein sprachlich strukturiertes Bewusstsein voraussetzt. Auch Handlungsgrnde und der mit jedem Handeln erhobene Anspruch, das eigene Handeln rechtfertigen zu kçnnen, lassen sich nur in der Sprache explizieren. Doch setzt nicht nur Verantwortlich-Sein Sprache voraus, auch umgekehrt impliziert zu sprechen und ber Sprache zu verfgen, Verantwortung zu bernehmen. Sprache ist intersubjektiv und muss daher immer auch fr Andere nachvollziehbar sein. Niemand kann dauerhaft sprachliche ußerungen, die fr niemanden verstndlich sind, in den intersubjektiven Raum stellen und dabei Fragen und Aufforderungen von Anderen, diese zu erklren und zu begrnden, zurckweisen oder hartnckig ignorieren. Indem Menschen sprechen, le-
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gen sie sich auf bestimmte, wenn auch (fast) nie endgltige Aussagen ber die Welt fest und beanspruchen damit – mindestens implizit – zugleich, hierzu berechtigt zu sein. Und diesen mit ihren Aussagen verbundenen Berechtigungsanspruch haben sie, wollen sie nicht ein Scheitern der Kommunikation riskieren, gegebenenfalls vor Anderen mit Grnden zu bekrftigen und zu rechtfertigen, d. h. zu verantworten. 2.) Verantwortung als Konstituens des menschlichen In-der-Welt-Seins: hnlich, wie Menschen selbst im Alleinsein noch mit Anderen sind und wie sie selbst dann, wenn sie niemand anblickt, sich als von anderen Menschen gesehen erfahren, sind sie, auch ohne konkret angesprochen zu werden, als sprachliche Wesen potentiell angesprochen: Nur dadurch, dass sie grundstzlich von der Rede Anderer erreicht werden, sind sie berhaupt der Sprache teilhaftig und damit sprachliche Wesen; nur als solche haben sie die Mçglichkeit, mit anderen Menschen Welt zu teilen. Sofern Menschen nicht frei whlen, angesprochen zu sein, kçnnen sie sich auch der Erwartung, dass sie antworten, nicht entziehen. Denn sobald jemand angesprochen ist, wird selbst das Ausbleiben einer Antwort noch als Antwort verstanden. Da jedes Handeln seinerseits immer in mehr oder weniger direktem Bezug zu vorausgegangenen Handlungs- oder Sprachsequenzen steht und diesen Rechnung trgt, kann allgemein jede ußerung von Menschen auch als eine Antwort gelten. Indem Menschen Anderen antworten, bekunden sie sich jedoch nicht allein als sprachliche Subjekte, sie anerkennen zugleich Andere als sie ansprechende Personen: Wie jeder Sprechakt einen Adressaten bençtigt, kçnnen Menschen umgekehrt nur antworten, wenn sie jemandem auf seine Frage, seine Mitteilung, seine Erwartung, auf sein an sie direkt oder indirekt gerichtetes Handeln und die damit verbundenen Ansprche antworten. Mit seiner Antwort beansprucht das sprechende Subjekt, auf Andere, auf die Ansprache von Anderen und auf die darin enthaltenen Erwartungen angemessen zu reagieren, diesen so zu entsprechen, wie das antwortende, handelnde Subjekt sie versteht und bewertet. Antworten und sprechen bedeutet auch, etwas zu antworten bzw. ber oder von etwas zu sprechen, fr das Menschen, indem sie sich ußern, zumindest implizit beanspruchen, dass es sich verstehen bzw. erklren und – in unterschiedlichem Umfang auch – rechtfertigen lsst. Denn ohne diesen Anspruch wre die ußerung gegenstands- oder bedeutungslos, kçnnte nicht mehr verstanden werden, und der Sprecher stnde, geschhe dies dauerhaft, außerhalb der sprachlich vermittelten gesellschaftlichen oder lebensweltlichen Bezge.
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Erteilte Antworten rufen ihrerseits nicht nur verschiedene Reaktionen beim Anderen hervor, vielmehr realisiert, strukturiert und przisiert sich die sprachliche Interaktion und die darin artikulierte gemeinsame Welt mit jeder gegebenen Antwort auf eine bestimmte Weise: Indem Menschen Anderen antworten, greifen sie gestaltend und verndernd in diese Welt ein. Doch keine Antwort bleibt jemals eine wirklich endgltig letzte Antwort, da hierauf Andere antworten, die von ihr angesprochen oder in direkter oder indirekter Weise betroffen sind (wobei auch deren Antwort nicht immer eine explizit verbale Form annehmen muss). 3.) Verantwortung als moralische Pflicht: Zum menschlichen In-der-Welt-Sein gehçrt es also, dass sich Menschen vor Anderen zu verantworten haben. Diese anthropologische These habe ich versucht, zu einer der Moral zu erweitern, die besagt, dass Menschen sich grundstzlich gegenber allen Menschen als zur Rechenschaft verpflichtet begreifen sollen: Menschen anerkennen in der Begegnung mit einem Anderen auf nicht intentionale Weise, dass dieser Mensch sie etwas angeht; und dabei erkennen sie zugleich, dass sie ihm als Menschen Antworten und Begrndungen schulden. Nicht anzuerkennen oder nicht zu erkennen, dass der Andere einen solchen grundstzlichen Anspruch auf Rechtfertigung hat, wrde bedeuten, eine wesentliche Dimension des menschlichen In-der-Welt-Seins zu verkennen: Menschen sind Wesen, die mit Anderen in der Sprache eine Welt teilen, wozu auch gehçrt, sich fr sein Handeln und Verhalten vor Anderen mit angemessenen Grnden zu rechtfertigen. Gewiss begegnen Menschen nicht jedem anderen Menschen persçnlich und stehen somit auch nicht zu jedem in einem konkreten bzw. persçnlichen Anerkennungsverhltnis. Als mit Vernunft begabte Wesen kçnnen Menschen aber ber die konkrete Situation hinaus erkennen, dass sie grundstzlich gegenber jedem Menschen, und nicht nur gegenber denen, denen sie (zuflligerweise) begegnen, verantwortlich sind, weil jeder Mensch sie als Mensch immer etwas angeht und daher als Mensch ein grundstzliches Recht auf Rechtfertigung hat. Zwar setzt die Anerkennung anderer Menschen persçnliche Begegnungen voraus, in denen Menschen ihrer Pflicht, sich Anderen gegenber zu rechtfertigen, gewahr werden. Die Wahrnehmung dieser Pflicht beruht aber nicht auf einer besonderen Beziehung zu einem bestimmten Anderen, sondern allein auf der Anerkennung eines Menschen als Menschen. Daher lsst sich mit Hilfe der Vernunft, so meine zentrale These, die mit dieser Begegnung verbundene Einsicht in die Verantwortungspflicht auf jeden Menschen bertragen:
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Menschen haben eine Einsicht der Vernunft, die sie erkennen lsst, dass sie anderen Menschen als Menschen grundstzlich zur Rechenschaft verpflichtet sind und dass diese ein Recht auf Rechtfertigung haben – berall dort, wo sie von einer Handlung direkt oder indirekt betroffen sind. Umgekehrt ist aufgrund dieser Einsicht zu begrnden, dass Menschen in bestimmten Fllen keine Rechtfertigung verlangen kçnnen, weil sie nicht in relevanter Weise betroffen sind. Anerkennen und Erkennen – nicht-intentionale Bezogenheit auf den Anderen und kognitives Erfassen der Verantwortungspflicht – sind nicht voneinander zu trennen und im Handeln so ineinander verschrnkt, dass beide Aspekte als grundstzlich gleichrangig zu bewerten sind: Vernunftgeleitetes Nachdenken darber, wie Menschen auf Andere und deren Ansprche angemessen reagieren kçnnen, setzt voraus oder impliziert, dass sie bereits auf nicht-intentionale Weise anerkannt haben, dass Andere als Menschen sie etwas angehen. Zugleich bedarf es aber einer durch die Begegnung mit dem anderen Menschen instruierten Vernunft und kognitiver Leistungen, etwa des Vergleichens und Abwgens von Ansprchen, Bedrfnissen und Interessen; es bedarf also des vernunftgeleiteten Denkens, damit Menschen Anderen und ihrer Verantwortung diesen gegenber so gerecht wie mçglich werden kçnnen. 4.) Verantwortliches Handeln: Um berhaupt verantwortlich handeln zu kçnnen, mssen sich Menschen zunchst an einem die Interessen, Ansprche und Bedrfnisse aller Betroffenen einbeziehenden Maß, dem der Gerechtigkeit, orientieren. Mit Hilfe dieses Maßes – und es kann sich auf dieser abstrakten Ebene nur um einen formalen Begriff der Gerechtigkeit handeln – kçnnen und sollen die eigenen Ansprche und Interessen und die verschiedenen Ansprche der Anderen, von einer Handlung Betroffenen, verglichen und beurteilt werden. Was jeweils als gerecht gelten kann, hngt nicht nur vom Grad der Betroffenheit der einzelnen zu bercksichtigenden Ansprche und Interessen ab, sondern auch vom Kontext, in dem eine Handlung zu betrachten ist. Nie steht dabei ein fr alle Mal fest, in welchem Kontext eine Handlung zu sehen und welche Weise oder normative Ebene der Rechtfertigung folglich angemessen ist. Jede Handlung kann in unterschiedlichen Kontexten betrachtet werden, da diese auf wiederum begrndeten Konstruktionen und Festlegungen zwischen Subjekten beruhen und immer wieder neu hinterfragt werden kçnnen. Daher scheint eine Hierarchie der zur Debatte stehenden Grnde umso relevanter. Doch auch diese kann erneut in Frage gestellt werden. Grundstzlich, so meine ich, haben immer solche
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Grnde Vorrang, mit denen eine universelle und unbedingte Geltung verbunden werden kann und die sich nicht durch nur partikular und bedingt geltende Interessen einzelner in Frage stellen lassen. Wichtig fr jede Verantwortungspraxis ist, dass Menschen von der Unmittelbarkeit der Handlungssituation zurcktreten und sich zunchst eines Urteils enthalten kçnnen, damit sie berhaupt die verschiedenen, eventuell konfligierenden oder konkurrierenden an sie gestellten Ansprche gegeneinander abwgen und entsprechend handeln kçnnen. Hierzu, und damit habe ich noch einmal auf Apels und Habermas’ diskursethischen Ansatz zurckgegriffen, bedarf es wesentlich der sprachlichen Verstndigung mit Anderen, in der diese mit ihren Ansprchen so weit und so direkt wie mçglich einbezogen werden kçnnen. Subjekte sind dabei auf die Untersttzung durch soziale Institutionen angewiesen, die es ihnen allererst ermçglichen, die fr eine verantwortliche Praxis notwendigen Fhigkeiten zu entwickeln und darber hinaus den Raum fr diesen Austausch und fr die Einbeziehung Anderer zu schaffen.
Teil V Anhnge
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Personenregister Albert, Hans 108 Anders, Gnther 48, 292 Apel, Karl-Otto 2, 5–7, 40, 42 f., 45 f., 81, 89–135, 137–141, 143, 145, 156, 188, 201–203, 210, 227–229, 238, 251, 275 f., 283–287, 293–295, 302, 304, 315, 320 Arendt, Hannah 183, 212, 306 Aristoteles 18, 73, 206 Bayertz, Kurt 4, 12, 15 f., 22, 25 f., 34, 37, 39, 48 f., 80, 86, 202, 254, 256, 260 Bedorf, Thomas 149, 156, 166, 169 f., 172, 176 f., 179, 187, 191, 196 Benhabib, Seyla 296 Benveniste, Emile 176 Berger, Peter L. 301 Bieri, Peter 6, 208 f. Birnbacher, Dieter 2, 24, 27, 254 f. Bleisch, Barbara 275 Bçhler, Dietrich 48 Bojanowski, Jochen 209 Brandom, Robert 211, 228, 234, 236 f., 240 Braybrooke, David 292 Brentano, Franz Clemens 210 Brumlik, Micha 150, 152, 184, 189 Bubner, Rdiger 206 Canaris, Claus-Wilhelm 16 Cavell, Stanley 182, 264 f., 296 Chisholm, Roderick 209 Critchley, Simon 164 Cullity, Garrett 292 Darwall, Stephen 18, 28, 154, 161, 245 f., 260, 265 David, Christophe 48
Davidson, Donald 5, 207 f., 213–215 Dennett, Daniel C. 211 Derrida, Jacques 146, 173, 249, 295 Descartes, Ren 156, 181, 209 Dewey, John 263 f. Diderot, Denis 293 Double, Richard 209 Ehrenberg, Alain 303 Eichmann, Adolf 306 Elias, Norbert 277 Elster, Jon 225 Fischer, John Martin 6 Forst, Rainer 3, 39, 108, 116–118, 163, 188, 230 f., 233 f., 237, 241, 252, 255–259, 266, 268 f., 272, 278–280, 282, 296 Frankfurt, Harry 208 Gadamer, Hans-Georg 242 f., 291, 294, 301 Garrido-Maturano, Angel E. 190 Gehlen, Arnold 301 f., 306 Gelhard, Andreas 153, 155 f., 158–160, 162, 169, 267 George, Stefan 242 Gethmann-Siefert, Annemarie 62 Gondek, Hans-Dieter 186 Gosepath, Stefan 11, 16, 28, 38 f., 278 Green, Karen 292 Gronke, Horst 62 Gnther, Klaus 28, 35, 120, 287 Habermas, Jrgen 99, 101–103, 108–112, 114–118, 124–130, 135–137, 139, 143, 202 f., 208, 225, 227, 229–233, 237, 242, 252,
336
Personenregister
270, 275, 279, 286–289, 292–295, 297, 304, 320 Hamblet, Wendy C. 292 Hand, Sean 173 Heidbrink, Ludger 2, 4, 12, 20, 22, 48 f., 86, 236 Heidegger, Martin 5, 7, 150, 161 f., 174 f., 184, 202, 221, 242, 263 f., 289 Henrich, Dieter 259, 269 Hçffe, Otfried 20 f., 27 f., 50 f., 278 Honderich, Ted 209 Honneth, Axel 118 f., 248, 263–266, 269, 287–289, 296 Hçsle, Vittorio 48, 112 Humboldt, Wilhelm von 241 f. Hume, David 62, 255 Husserl, Edmund 7, 147 f., 150, 157, 174 f., 210, 249, 284 f. Jakob, Gnther 80 Jonas, Hans 2, 5–7, 40, 42 f., 45–91, 93–96, 98, 103 f., 125, 131, 156, 201–203, 275 f., 292, 315 Kafka, Franz 38 Kane, Robert 6, 18, 209 Kant, Immanuel 2, 16, 34, 50 f., 64 f., 73 f., 76, 99 f., 102, 105–107, 112 f., 120, 123, 133, 131, 152, 156, 160, 183, 193, 227, 235, 241, 249, 259, 261, 268 f., 274, 285 Kaufmann, Franz-Xaver 25 Kettner, Matthias 48, 62, 81 Kierkegaard, Sçren 178, 290 Kohler, Georg 206, 210, 214, 219, 225, 228, 236 Korsgaard, Christine 235, 247–249, 262, 269, 271 f. Koschut, Ralf-Peter 63 Krewani, Wolfgang 150 Kuhlmann, Wolfgang 48, 63, 105 f., 109–112 Kuper, Andrew 275, 292 Larenz, Karl 16 Larmore, Charles 214, 254, 259, 302 Lenin, Wladimir I. 83
Lenk, Hans 15, 40, 48, 50 f. Lvinas, Emmanuel 2, 5–7, 40, 42 f., 45 f., 118 f., 145–160, 162–198, 201–204, 244 f., 249 f., 254, 265–269, 276 f., 281, 283, 306, 315 f. Lohmar, Achim 19, 274 Lçwith, Karl 252 Lbbe, Weyma 18–22, 24, 27, 49 Luckmann, Thomas 301 Luhmann, Niklas 19, 309 Lyotard, Jean-FranÅois 170, 274 Mackie, John Leslie 2, 271 Maier, Maria 12, 30–32 Marcuse, Herbert 83 Maring, Matthias 15, 40 Marx, Karl 19 McDowell, John 161, 208, 211, 263, 269–271, 284 f., 301 Mele, Alfred R. 209 Melville, Herman 297 Merleau-Ponty, Maurice 148, 244, 246 Nagel, Thomas 18 Narveson, Jan 292 Neumaier, Otto 16, 26 Neumann, Franz 305 Nietzsche, Friedrich W. 73 Niquet, Marcel 103, 115, 135–143 Nunner-Winkler, Gertrud 17, 21 Obama, Barak
1
Pascal, Blaise 170 Peperzak, Adriaan 268 Pereboom, Derk 209 Picht, Georg 4, 37 Platon 71, 73, 83, 158, 202, 209 Plourde, Simone 151 Pogge, Thomas W. 275 Pothast, Ulrich 213 Ravizza, Mark 6 Rawls, John 241, 257 Reader, Soran 292 Reese-Schfer, Walter 202
337
Personenregister
Riedel, Manfred 12, 34, 39 Rolland, Jacques 146, 175 Rçpcke, Dirk 48 Rorty, Richard 260
Teubner, Gunther 279 Tomasello, Michael 264, 301 Toulmin, Stephen E. 295 Tugendhat, Ernst 225
Saar, Martin 295 Sartre, Jean-Paul 161 f., 209, 248 f. Scanlon, Thomas M. 214 Schaber, Peter 275 Schllibaum, Urs 178 Schaub, Jçrg 159 Schiller, Johann Christoph Friedrich von 241 Searle, John R. 210–212, 222 f., 301, 303 Seebaß, Gottfried 24 Seel, Martin 233, 266, 284 Sextus Empiricus 108 Shaftesbury, Earl of 73 Simon, Ren 151 Singer, Peter 275 Sivan, Eyal 306 Smilansky, Saul 209 Spinoza, Baruch de 73 Stemmer, Peter 214 f. Strawson, Galen 209 Strawson, Peter 18, 161, 208
Waldenfels, Bernhard 148, 176 f., 246 Waldron, Jeremy 292 Wallace, Jay R. 18 Walsh, Robert D. 178 Watson, Gary 245 Watzlawick, Paul 245 f. Weber, Max 12, 99, 125, 127, 132–134, 276 Weischedel, Wilhelm 4, 12, 33, 39 Wellmer, Albrecht 115 f., 297 f. Werner, Micha H. 51 White, Stephen K. 287–289 Wiemer, Thomas 148, 174, 176 Willaschek, Marcus 208 Wille, Bernd 48, 63 Wingert, Lutz 216, 219 Wittgenstein, Ludwig 177, 285 Wohlrapp, Harald 295 Wolzogen, Christoph von 151, 178 Zippelius, Reinhold
15