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German Pages 178 Year 2018
Rainer W. Ernst Räumliche Ressourcen
Architekturen | Band 47
Rainer W. Ernst war Hochschullehrer für Stadtplanung, Städtebau und Entwerfen. Er war Rektor an der Kunsthochschule Weissensee und Präsident der Muthesius Kunsthochschule Kiel. Im Rahmen der Architekturwerkstatt Kiel realisiert er interdisziplinäre Projekte in Kooperation mit Ausbildungsstätten in Brandenburg und im Sonderforschungsbereich »Origin and Function of Metaorganism« an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
Rainer W. Ernst
Räumliche Ressourcen Architektur im Prozess gesellschaftlicher Verantwortung
© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © Rainer W. Ernst Korrektorat: Demian Niehaus, Nürnberg Satz: Michael Rauscher, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4331-2 PDF-ISBN 978-3-8394-4331-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt Z uvor | 7 1 R essourcen – P olyvalenz | 19 Raum als polyvalente und gesellschaftliche Ressource | 21 Hinweise auf Beispiele eigener Arbeiten zur Erweiterung des Arbeitsfeldes eines Architekten Anwendung von Methoden zur Analyse räumlicher Eigenschaften, die nicht üblicherweise zum Instrumentarium eines Architekten gehörten (in der Zeit 1970–1974) | 45
2 global – lokal | 55 Der Widerspruch zwischen Globalisierung und räumlich-kulturellen Differenzen | 57 Hinweise auf Beispiele eigener Arbeiten zur Erweiterung des Arbeitsfeldes eines Architekten Interdisziplinäre und internationale Kooperation zum Diskurs über räumliche Strategien vor dem Hintergrund der Globalisierung und räumlich-kultureller Differenzen (in der Zeit 1974–1992) | 79
3 K omplexität – M öglichkeit | 91 Komplexität des Raumes Demokratisierung der Stadtplanung und das Konzept ›Möglichkeitsraum‹ | 93 Beispiele eigener Arbeiten zur Erweiterung des Arbeitsfeldes eines Architekten Interdisziplinäre und dialogbasierte Kooperation zur Entwicklung komplexer räumlicher Strategien auf lokaler Ebene (in der Zeit 1989–1997) | 127 Beispiele eigener Arbeiten zur Erweiterung des Arbeitsfeldes eines Architekten Anwendung des Konzeptes ›Möglichkeitsraum‹ (in der Zeit 1987–2012) | 139
N un ?! | 171
Diagramme 1. Interdependenzen zwischen Nutzung und Produktion von verorteten Eigenschaften | 22 2. Vom hierachischen Denken und Sortieren zum Denkund Kommunikationsmodus Netzwerk | 28 3. Polyvalenz von Raum | 29 4. Subjekt – Realität | 32 5. Kommunikationsstrategie im Netzwerk | 103 6. Vorschlag für ein Grundschema zur Organisation der Bilanz der räumlichen Ressourcen | 106
Sondertexte 1. Studentischer Gedankenaustausch zum Thema ›Raum‹ | 13 2. Kategorien von Eigenschaften | 24 3. Öl (Songtext für Smith & Smart) | 60 4. Umdeutungen des Raums als Teil von Überlebensstrategien | 64 5. Raptext Stadt GLOCAL | 68 6. Kampagne gegen gewaltsame Vertreibung | 70 7. Thesen zum Verständnis von Stadt | 101 8. ›trialectics‹ | 112 9. Erläuterungsbericht in Form einer szenischen Beschreibung | 114 10. Simon Kühl: Erfahrungsbericht Zwischennutzung Lessingbad | 167
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Abb. 1: K. H. Ernst, »Rainer immer am Bauen«, Stuttgart, 1949.
Schon in frühen Lebensjahren bekam ich mit, dass die Prognose über meinen beruflichen Werdegang offensichtlich feststand: »Aus ihm wird mal ein Architekt.« Wurde ich, aber anders als gedacht.1 Mein beruflicher Werdegang war geprägt von Erfahrungen mit interdisziplinärer Kooperation, von der Auseinandersetzung um die Politik der Stadtentwicklung und die Kultur der Planung sowie von konkreter Erfahrung mit Architektur durch eher experimentelle Konzepte und Aufgaben im Umgang mit bestehender Bausubstanz. Sehr oft benutze ich einen eher kostextbezogenen, temporären Arbeitsplatz, das konventionell geführte Architektur- und/oder Stadtplanungsbüro entsprach eher nicht meinen gewünschten Arbeitsformaten. Eines der grundlegenden Elemente für das Verständnis von Architektur ist der Begriff ›Raum‹. Raum ist in der Architektur sowohl der Innenraum als auch der außenräumliche Kontext eines Gebäudes, unabhängig davon, ob der Raum konzipiert oder realisiert wurde, wenn auch aus Sicht der Architektur zumeist der neu konzipierte Raum im Mittelpunkt steht. Dieses Verständnis von ›Raum‹ scheint in der Architektur geklärt zu sein. Aber eine Betrachtung des Raumes an sich, eingegrenzt durch eine zweckgebundene Perspektive auf seine Gestaltbarkeit, verlangt wegen der damit im Zusammenhang stehenden ökonomischen, sozialen und kulturellen Prozesse eine Erweiterung. Die konventionelle Architekturauffassung, wie sie sich in den Prüfungsordnungen der Hochschulen der Fachrichtungen für Architektur und in den in Honorarordnungen für Architekten und Ingenieuren niedergelegten Positionen2 darstellt, ist relevant, aber für die Gegenwart nicht ausreichend. Meine Motivation war und ist es, den mit einem erweiterten Raumverständnis verbundenen Fragen nachzugehen und den entstandenen erweiterten Architekturbegriff in der praktischen Arbeit als Architekt zu überprüfen. Damit wird der Begriff ›Raum‹ ein politischer Begriff, der aber nichts mit der Verwendung von ›Raum‹ in der nationalsozialistischen kriegshetzerischen Propaganda »Volk ohne Raum«3 zu tun hat. Es verhält sich vielmehr umgekehrt: Eine Anwendung des im Buch erläuterten Begriffs ›räumliche Ressource‹4 zur Analyse dieser Propaganda würde ihren hetzerischen Gehalt verdeutlichen. Nun wissen wir seit der Aufklärung vor allem durch philosophische Auseinandersetzungen5 mit dem ›Raum‹, dass es den Raum an sich nicht gibt, dass er lediglich ein Ergebnis von subjektiver Wahrnehmung oder Vorstellung ist und dass er durch die von uns jeweils im Raum wahrgenommenen Gegenstände und Eigenschaften bestimmt wird. Raum ist als eine durch das Subjekt wahrgenommene Gleichzeitigkeit verschiedener Eigenschaften beschreibbar, die in dem wahrgenommenen Raum real oder gedanklich verortet sind. Raum wird also immer nur durch das Subjekt, bezogen auf einen Ort und eine Zeit der Wahrnehmung des Subjekts, generiert. Diese dreifache Relativität (Subjekt, Ort, Zeit) in der Beschreibung von Räumen ist eine grundlegende Bedingung für die Kommunikation über
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Raum. Diese Relativität kann nur durch Kommunikation verdeutlicht werden und nur durch Kommunikation von einer ›subjektiven Wahrheit‹ in ein gesellschaftliches Einverständnis überführt werden. Bevor ich auf die Architektur zu sprechen komme ist es vielleicht hilfreich, noch auf die beiden unterschiedlichen Raumbegriffe der europäischen Antike hinzuweisen. Die Griechen benutzten den Begriff ›topos‹ und bezeichneten damit die topographischen Eigenschaften eines Ortes, die unter anderem zur Festlegung der Standorte von besonderen Einrichtungen einer Stadt, wie Heiligtümern, Theatern, dem Hafen, der Agora etc., dienten. Die Römer benutzen den Begriff ›spatium‹ (›Zwischenraum‹), mit dem der vermessene Raum bezeichnet wurde, der zur Parzellierung, dem Bau technischer Infrastruktur und damit auch zur kolonialen Verwaltung erforderlich war. Mit diesem Begriff hat historisch die von mir verwendete Bezeichnung ›Verortung‹ zu tun, während ich den Raumbegriff der Griechen um die Gesamtheit aller Eigenschaften, die als Lebens-, Arbeits-, Kultur- und Freizeitbedingung eine Rolle spielen, erweitere.6 Im Architekturstudium wird zunächst der Eindruck vermittelt, dass mit Hilfe geometrischer Techniken das grundlegende Raumverständnis entsteht. Es handelt sich bei diesen Techniken um Hilfen für eine nachvollziehbare Verortung von Eigenschaften, die für die Kontrolle eines Entwurfs und als Grundgerüst für Handlungsanweisungen benötigt werden. Aus dieser Sicht stellt sich zum Beispiel das Prinzip des Bauhauses, »Raum zu lernen«, durch die Erweiterung des Punktes zur Linie, zur Fläche und zum Raum lediglich als pädagogisches Mittel dar und als Hilfsmittel zur Erläuterung der möglichen, gewünschten oder angeordneten Verortung von Eigenschaften. Das Raumverständnis der Architektur wird durch diese Systematik als Verortungsaufgabe von Eigenschaften durch ein Gebäude geprägt und weniger durch die notwendige Methode, die zur Beschreibung der Gesamtheit von verorteten Eigenschaften dient und die jeweils verschiedenen räumlichen Beziehungen aufweist. Daher ist es nicht verwunderlich, dass in der Architekturtheorie immer wieder eher einzelne Eigenschaften zur Beschreibung eines Ortes, eines Gebäudes bzw. eines Stadtteils herangezogen werden, um schlüssig erscheinende Aussagen über diese zu machen. Zur Erhellung einzelner Eigenschaften kann dies sehr dienlich sein. Dies ist aber weniger geeignet, die Vielfalt und Komplexität von Eigenschaften und ihre Veränderungen von diesen sowie die Veränderung ihrer Bedeutungen in den Zusammenhang zu einem gesellschaftlich und vorausschauenden und begründeten Handeln zu bringen. Dies ist aber erforderlich, um den immer wieder stattfindenden Missbrauch von Raum zu spekulativen Zwecken sichtbar werden zu lassen und damit auch eindämmen zu können. Außerdem ist dabei zu bedenken, dass die Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen und damit auch seine Erkenntniswege nicht allein durch das Denken, sondern auch durch das Handeln und die Sinne geprägt wird. Wie und wodurch ich zu dem Konzept ›Möglichkeitsraum‹ für die Kommunikation über die Zukunft einer Gesellschaft, die sich demokratisch verstehen will, gekommen bin, kann ich keinem einzelnen alles erklärenden Argument überlassen. Die Intention für diese Publikation ist: auf höchst komplexe Weise zu beschreiben, worauf das Konzept ›Möglichkeitsraum‹ basiert und wodurch es sich auszeichnet. Dies bedeutet, den Zusammenhang zwischen meinen gesuchten und erfolgten praktischen Erfahrungen und den damit verbundenen theoretischen Reflexionen komplex darzustellen. Für die praktischen Erfahrungen sind besonders zusammengestellte Arbeitsgruppen bestehend aus Experten unterschiedlicher Disziplinen repräsentativ. Ergänzt
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wurden diese Arbeitsgruppen durch die Einbeziehungen von Personen aus unterschiedlichen Institutionen, mit unterschiedlichen Ortskenntnissen bzw. unterschiedlichen persönlichen Beziehungen zum jeweiligen Ort. Dadurch wurde eine komplexe, interdisziplinäre und interinstitutionelle Kommunikation zum jeweiligen Projektvorhaben möglich. Es entstanden einmalige Zusammenarbeiten, durch welche ein neues demokratisches Verständnis von Individuum und Gesellschaft umgesetzt werden sollte. Der gesamte Prozess meiner Arbeit als Architekt, der für den Raum zeitgemäße Parameter suchte, wurde durch Ingrid Lucia Ernst, meine Lebens- und Arbeitsgefährtin, mit ihrer emanzipatorischen Ausrichtung und ihrem Engagement für eine Verbesserung unserer Lebensbedingungen diskursiv begleitet. Ich musste zur Kenntnis nehmen, dass die Darstellung des erreichten Kenntnisstandes in seiner Komplexität schwer verständlich wird, wenn nicht der Weg dahin nachvollziehbar dargestellt wird. So ist z. B. eine Kritik am ›Universalismus der Moderne‹ bzw. eine kritische Würdigung des Aufrufes der Zeitschrift für Architektur und Städtebau »Arch+« zum Thema ›Kann Universalität spezifisch sein?‹ 7 nur vor dem Hintergrund von erfahrenen und erforschten kulturellen Differenzen verständlich. Die Bedeutung von kulturellen Unterschieden wird für den architektonischen Raum im Rahmen der Globalisierung nach wie vor unterschätzt. Die ersten Eindrücke über kulturelle Differenzen entstanden während meiner Jugend bei verschiedenen familiären Reisen in den mediterranen Raum, die ersten beruflichen Erfahrungen dazu durch meine Tätigkeit Anfang der siebziger Jahre in Porto Alegre/Brasilien.8 Aber aufgepasst: Diese Unterschiede haben zum Beispiel bei wirtschaftlicher Betrachtung eine ganz andere Bedeutung als etwa aus sozialer Perspektive. Davon wird in Kapitel 2 die Rede sein. Die Entwicklung meiner raumtheoretischen Gedanken wird in den Mittelpunkt gestellt. Das Verständnis von Raum führt zu einer schrittweisen Erweiterung des Architekturbegriffs und bildet den Leitfaden für die Gliederung in drei Kapitel: 1. Raum als polyvalente und gesellschaftliche Ressource; 2. die Gleichzeitigkeit von und der Widerspruch zwischen globalisierten und lokalen räumlichen Eigenschaften vor dem Hintergrund räumlich-kultureller Differenzen und glocaler Strukturmischungen; 3. die Komplexität von Raum: die Bedeutung einer Demokratisierung der Stadtplanung und das damit einhergehende Konzept ›Möglichkeitsraum‹. Polyvalenz, Gleichzeitigkeit und Komplexität führen zu meiner Schlussfolgerung, dass Raum nur durch intensive Wahrnehmung und Kommunikation sowie durch koordiniertes kreatives Handeln als Möglichkeit qualifiziert werden kann. Dieser theoretische Gedankengang wird ergänzt durch die Zuordnung folgender Elemente: Diagramme, Sondertexte mit ergänzenden Gedanken, eigene Songtexte oder auch Assoziationen provozierende Beiträge, Auszüge aus dem Archiv eigener Arbeiten und eigenständige Texte mit Hinweisen auf weitere Informationen, Quellen, eigene Studien, Konzepte, Experimente, unrealisierte und realisierte Projekte, Ausstellungen und performative Aktionen.9 In Kapitel 1 wird zunächst der Schlüsselbegriff ›räumliche Ressourcen‹ und das damit implizit verbundene Raumverständnis erläutert. Dies ist die Grundlage der weiterführenden Gedanken in Kapitel 2 und 3.
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Mein Anliegen ist es, zu zeigen, wie mit Hilfe von Bilanzen räumlicher Ressourcen und entsprechender Kommunikation darüber, inklusive kommunizierbarer Studien über ›Möglichkeitsräume‹, eine Weiterentwicklung unserer räumlichen Lebensbedingungen auf dem Land und in der Stadt im lokalen Bezug demokratischer diskutierbar wird.
Zusammengesetzte Wörter mit ›Raum‹ Erlebnis- raum Raum-fahrt Denk- raum Raum-deckung Assoziations- raum Raum-akustik Zeit- raum Raum-begrenzung Spiel- raum Raum-anzug Theater- raum Raum-gefühl Schutt- raum Raum-inhalt Lebens- raum Raum-plan Luft- raum Raum-klima Klassen- raum Raum-bedarf
Spontan notierte zusammengesetzte Begriffe mit dem Wort ›Raum‹ und zwar zehn, die mit ›Raum‹ beginnen, und zehn, die mit ›Raum‹ enden. Es ist zu erkennen, dass der vielfältige alltägliche Gebrauch des Begriffs ›Raum‹, vor allem, wenn jetzt noch Adjektive dazukommen, leicht zu Missverständnissen führt, sofern nicht erklärt wird, welcher ›Raumbegriff‹ den zu erläuternden Gedanken über ›Raum‹ zu Grunde liegt.
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Sondertext 1
Studentischer Gedankenaustausch zum Thema ›Raum‹ die hier zu kreierende, darzustellende und zu propader mensch durchlebt eine zeitspanne in den seinem ergierende welt der vernünftigen unvernunft und der unfassungsvermögen entsprechenden drei dimensionen, das vernünftigen vernunft wird in ihren zusammenhängen wollen der menschen ist darauf ausgerichtet, diese drei eindeutig verstehbar, in allen ihren einzelheiten nachdimensionen (raum) entsprechend den persönlichen wertvollziehbar sein und trotzdem ihren zufallscharakter für vorstellungen für sich belebbar zu machen. der raum den außenstehenden, für den, der nicht in ihr ist, für wird erst existent durch das erleben, beleben und abden, der nur zuschaut, beobachtet, nicht in ihr agiert, leben des raumes, der raum ist also abhängig von dem für den weltherrn bewahren wertabhängigen wollen, sobald wollen nicht vorhanden diese welt wird eine künstliche welt sein, quasi als ist, hört raum auf zu existieren. Metapher aller vorherigen welten, als gemisch aus künstlichen und natürlichen welten, gemischt, überdas wollen (leben) ist in die zeitlichkeit geworfen, es baut, geschichtet und weiter schichtbar mit abgebauwird verbraucht, nutzt sich ab, ein raum, der existent ter, zu einem teil schon verbrauchter welt zu einer geworden ist, verlangt ein neues wollen, da er sonst verneuen, sich ergänzenden welt der gestaltung, nicht der reinheit. loren geht, ein neues wollen ergibt einen neuen raum. diese welt der unbedingten verwertbarkeit aller bedie zeitfrequenz des wollens ist abhängig von der zeitreits produzierten teile, aller imperfekten oder imdauer, die zwischen bewußt gewordenem resultat des perfekt gewordenen ereignisse, ist nicht so sehr auf wollens, dem daraus entstehenden neuen wollen und dem neue technische methoden oder technische perfektion neuer teile aus, sondern vielmehr auf eine methode der daraus neuen werdenden raum liegt. neues wollen entschichtung aller vorhandenen teile, nicht auf versteht auf grund von neubewußten werten, das der erkenntnichtung und verschimmelung, sondern auf verkru-
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stung durch anhäufung, auf erneuerung nicht durch nis des vorhergewollten raumes entwächst, damit wächst zerstörung, sondern durch umschichtung und uminmit der erkenntnis der bewußte, der erhellte raum, terpretation sozusagen auf eine welt der seligen und gleichzeitig wird die zeitdifferenz zwischen den jeweiliglücklichen clochards, eine welt des gerümpels und gen frequenzen vermindert durch die zunahme der erkennnis. der maschine, eine welt des ausschusses und des vollendeten. diese welt impliziert wie die vorige die Daraus ergibt sich folgende formel: leere und materialität, den raum und den haptischen und optischen widerstand. die zeiterkenntnis sei die wurzel aus raumerkenntnis geteilt durch bewußtseinsfähigkeit (erfassungsvermögen).
Ein mechanisch-dadaistischer Versuch, zwei verschiedene ironisierte gedankliche Konzepte (einerseits der auf Rationalisierung ausgerichtete Gedanke und andererseits die Orientierung an anarchistischer und emanzipatorischer Ausrichtung) zum Thema ›Raum‹ (von Rainer W. Ernst und Manfred Speidel) zusammenzufügen, undialektisch und letztlich bewusst vergeblich; aufgezeichnet für die einmalige Ausgabe der studentischen Zeitung »Pop Arch«, Fachschaft der Architektur TH Stuttgart (Hrsg.), Stuttgart 1965, Redaktion: rainer ernst, peter hübner, manfred speidel. Diese Zeitung kann als ein erster Vorläufer der drei Jahre später von Architekturstudenten aus Stuttgart, die zum Teil bei »Pop Arch« mitgewirkt haben, gegründeten Architekturzeitschrift »ARCH+« gelten. Dokumentarisch zu dem damals aufkommenden Diskurs über die für notwendig erachtete Reform des Architekturstudiums siehe auch: Nina Gribat, Philipp Misselwitz und Matthias Görlich (Hrsg.), »Vergessene Schulen: Architekturlehre zwischen Reform und Revolte um 1968«, Leipzig 2017. Schreibweise und Typographie entsprechen dem Original.
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A nmerkungen 1 | Mein beruflicher Werdegang begann am Lehrstuhl für Ökonometrie von Prof. Dr. Frank E. Münnich an der Abteilung Raumplanung der Universität Dortmund. Die Abteilung Raumplanung war 1969 gegründet worden, um den damals vollkommen neuen Studiengang ›Raumplanung‹ durchzuführen, der als einer der ersten interdisziplinären Studiengänge in der Bundesrepublik Deutschland galt. Dies war der Anfang für meine vielfach interdisziplinär organisierten Tätigkeiten in Lehre, Forschung und Planungspraxis, die durch Erfahrungen außerhalb Europas und eine eher experimentellen Architektur und die Ergänzung und Umdeutung von vorhandenem Raum ergänzt wurden. 2 | Im Mittelpunkt der Rahmendiplomprüfungsordnung für Architekten und der Honorarordnung für Ingenieure und Architekten (HOAI, Abteilung Objektplanung) steht das Entwerfen und Realisieren von Gebäuden und Gebäudekomplexen bis hin zu Siedlungen vor allem als dienstleistende, ästhetisch-technisch orientierte Aufgabe. 3 | Die von den Nationalsozialisten geprägte Behauptung ›Volk ohne Raum‹ geht auf den gleichnamigen Titel des 1926 erschienenen Romans des Schriftstellers Hans Grimm zurück. Mit diesem Schlagwort wurde der für das deutsche Volk angeblich erforderliche Eroberungskrieg im Osten begründet. Siehe auch das Parteiprogramm der NSDAP, in dem schon 1920 unter Punkt 3 die Forderung erhoben wurde: »Wir fordern Land und Boden (Kolonien) zur Ernährung unseres Volkes und Ansiedlung unseres Bevölkerungsüberschusses.« (Näheres siehe Wikipedia unter ›Volk ohne Raum‹.) Diese Begründung entsprach auch der generell rassistischen und antiurbanen Ausrichtung der NSDAP. 4 | Der Begriff ›räumliche Ressourcen‹ geht auf Diskussionen der Arbeitsgruppe ›Kommunale Planung‹ (AG.KOP) an der Universität Dortmund Anfang der siebziger Jahre zurück, siehe auch Hinweis (1) in Kapitel 1. 5 | Schon von Isaac Newton (1642–1726) und Gottfried Wilhelm Leibniz (1646– 1716) kennen wir die Auffassung, dass es den Raum an sich nicht gibt. Hingewiesen sei hier lediglich darauf, dass diese beiden Wissenschaftler in der Diskussion, ob durch diese Auffassung der unendliche Raum und damit der ›Raum Gottes‹ ausgeschlossen sei oder nicht, sich am Rande des damals lebensbedrohlichen Vorwurfs der Gotteslästerung bewegten. Vertieft wurde dieser Raumbegriff schließlich unter anderen von Immanuel Kant (1724–1804), der Raum nur aus der Wahrnehmung von Gleichzeitigkeit verschiedener Eigenschaften sichtbar werden lässt, wodurch Raum nur durch Kommunikation über Wahrnehmung Gegenstand von Verständigung werden kann. Daraus folgert Kant schon in seiner Dissertation, dass jegliche Wahrnehmung sich immer auf einen Ort und eine Zeit bezieht; siehe Immanuel Kant, »De mundi sensibilis atque forma et principiis« (›Von der Form der Sinnen- und Verstandeswelt und ihren Gründen‹, Titel seiner 1770 auf Latein verfassten Dissertation, übersetzt von Norbert Hinske), in Wilhelm Weischede (Hrsg.), »Immanuel Kant: Sämtliche Werke«, Band 5: Schriften zur Metaphysik und Logik, S. 56 ff. Daher hatte es für mich eine gewisse Logik, dass in nahezu allen universitären Disziplinen um die Jahrtausendwende einen ›spatial turn‹ behauptet und versucht wurde. Allerdings konnten wohl viele Disziplinen damit nicht viel anfangen; so wurde Ende des letzten Jahrzehntes dieser Gedanke mehr oder weniger ad acta gelegt. Dies hat sicher damit zu tun, dass ›Raum‹ eben nur durch die
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Wahrnehmung von ›Gegenständen‹ und deren Eigenschaften entsteht und Raum damit nur als Gleichzeitigkeit von verschiedenen Eigenschaften aus subjektiver, an Ort und Zeit gebundener Sicht beschreibbar ist und ein eigenschaftsloser Raum nicht existiert bzw. nicht relevant erscheint. Natürlich ist in einer Zeit, in der virtuelle Realitäten in der Kommunikation eine große Bedeutung haben, die Aussage von Kant scheinbar nicht mehr relevant, aber ist nicht auch die Verortung einer Wahrnehmung im virtuellen Raum eine verortete? Die Frage muss wohl mit ›Ja‹ beantwortet werden. Außerdem zeigen die enormen Aufwendungen zur digitalen GPS-Verortung von Handys, dass sie keine Aufwendungen sind, um Raum an sich zu erforschen, sondern um Bewegungsprofile von Individuen nachzeichnen zu können, wenn auch dafür die geographische Verortung den Hauptaufwand verursacht. Die Schwierigkeit besteht wahrscheinlich nun gerade darin, dass für die verschiedenen Disziplinen ihr Eigeninteresse an disziplinspezifischen Eigenschaften im Vordergrund steht und nicht die Gleichzeitigkeit der Eigenschaften insgesamt. In dieser Gesamtheit liegt aber die grundlegende Herausforderung einer Stadtplanung und Architektur, wenn diese Disziplinen nicht zur Verwaltungsangelegenheit oder einer Dienstleistung für technisch-ästhetische Besonderheiten verkommen wollen. Die Architekturbiennale Venedig 2016 hat zum Beispiel sehr deutlich gezeigt, dass Architektur sehr wohl auch ein eminent wichtiges sozial-politisches Projekt sein bzw. einen Beitrag dazu liefern kann. Nach wie vor gilt, dass die Vielzahl der Eigenschaften unseres Lebensraumes letztlich die Gestaltung bzw. Gestaltbarkeit der Verbesserung dieser Eigenschaften bestimmt. Davon wird in der folgenden Publikation die Rede sein. 6 | Stephan Günzel beschreibt in seinem Buch »Raum – Eine kulturwissenschaftliche Einführung« (Bielefeld, 2017) im Kapitel über Antonomien des Raums den Widerspruch zwischen Raum und Ort; ich trenne hier die Betrachtung von räumlichen Eigenschaften von der Verortung der Eigenschaften. In Begriffen wie zum Beispiel ›Heimatort‹, ›Ortskenntnis‹, ›Unort‹ oder ›verlassener Ort‹ werden Orte bezeichnet, die durch bestimmte Eigenschaften geprägt sind bzw. als solche so behauptet und kommuniziert werden. Dies steht natürlich im Widerspruch zu einem offenen, komplexen und auf Makro- und Mikroebene in die Unendlichkeit und damit aus unserer Wahrnehmungsfähigkeit verschwindenden Raum. Für die praktische Arbeit war es daher erforderlich, den Begriff ›Raum‹ eher als Adjektiv ›räumlich‹ im Zusammenhang mit Eigenschaften, die verortbar sind, zu gebrauchen, und damit die Vorstellung über ›Raum‹ offen zu belassen, aber gleichzeitig die Beziehung zu diesem offenen Raum in nachvollziehbare Handlungen übersetzen zu können. 7 | In der Jahresfrage 2016 von Arch+ für das »Projekt Bauhaus« (unter anderem bei der Eröffnung des deutschen Pavillons der Architekturbiennale in Venedig 2016 verteilt) wird implizit von einem Begriffs-Gegensatz zwischen ›universal‹ und ›ungleich‹ im Sinne von erwünscht und ungerecht ausgegangen. Damit rückt dieser Reflexionsaufruf nicht ab von der traditionellen und international überholten Diskussion um Entwicklung und Unterentwicklung. Für mich ist jedoch ein Diskurs um ›gleiche Standards für alle‹ als Dogma der Aufhebung von Ungerechtigkeit nur durch Kenntnis kultureller Differenzen kritisierbar bzw. relativierbar (siehe Abschnitt 2: Der Widerspruch zwischen Globalisierung und räumlichen kulturellen Differenzen). 8 | Siehe Beispiele 2 und 3 in Kapitel 1.
Zuvor 9 | Die eigene Entwicklung des performativen Formats ist exemplarisch dargestellt und einer besonderen Betrachtung, vorgenommen von Ingrid Lucia Ernst in »DenkenHandelnFühlen – Vorlesungen zwischen Kunst und Wissenschaft im inszenierten Raum«, erschienen in der Reihe »Gestalt und Diskurs« der Muthesius Kunsthochschule Kiel, Kiel, 2012. Der Gedanke, den ich in ironischer Anspielung auf die dialektische Methode ›Trialektik‹ genannt habe, wird in Sondertext 7 in Abschnitt 3 und im Ausblick auf das erweiterte Architekturverständnis nochmals aufgegriffen.
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Abb. 2: Jakob Gleisberg, temporärer Arbeitsplatz von Rainer W. Ernst aus der dokumentierenden Postkartenserie des Workshops in Görlitz »Urban stories – poetische Momente« von Rainer W. Ernst und Wolfgang Krause, Postkartenfotos alle Jacob Gleisberg, Görlitz, Juni 2006.
1 Ressourcen – Polyvalenz
Raum als polyvalente und gesellschaftliche Ressource
Zu Beginn des Wintersemesters 1969/70 begann an der neugegründeten Universität Dortmund der Studienbetrieb für einen für die Bundesrepublik damals einzigartigen Studiengang. Der Studiengang Raumplanung wurde als interdisziplinärer Studiengang eingerichtet und war politisch als Reaktion auf den damals wachsenden Bedarf an Fachkräften für die ›räumliche Planung‹ in der Republik auf allen staatlichen Ebenen gewollt. Dazu wurden Lehrstühle für Vertreter verschiedener Disziplinen (Städtebau, Stadt- und Regionalplanung, Soziologie, Verkehrsplanung, Volkswirtschaftslehre, Ökonometrie, Wasserwirtschaft, Verwaltungsrecht u. a.) mit jeweils einer Reihe von Assistentenstellen gegründet. Für die Diskussion um die Inhalte und Formate des Lehrangebots zur Erarbeitung einer Studien- und Prüfungsordnung war der politische Charakter der beiden Begriffe ›Planung‹ und ›Raum‹ Gegenstand sehr kontroverser Debatten. In einer sich interdisziplinär zusammengefundenen Arbeitsgruppe von Assistenten – genannt AG.KOP (Arbeitsgruppe Kommunale Planung)1 – einigte man sich nach vielen intensiven Diskussionen – teilweise über das Wochenende in Klausur –, ›Raum‹ als Träger bzw. Verortung von Eigenschaften zu sehen und die Nutzung dieser bzw. die Verfügung über diese Eigenschaften aber auch ihre Gestaltung als politischen Prozess zu verstehen. Dabei war zu beachten, dass der Bedarf an bestimmten Eigenschaften an einem bestimmten Ort und die Herstellung und Verfügung dieser Eigenschaften an einem bestimmten Ort ein interdependenter Prozess ist (siehe Diagramm 1). Da beide Prozesse (die Produktion von Eigenschaften und die Entstehung des Bedarfs an Eigenschaften2) dabei das Aufgabengebiet Raumplanung im Rahmen der Verantwortung öffentlicher Institutionen (je nach politischer Auffassung) mehr oder weniger bestimmten, wurde für die Beschreibung dieses Aufgabengebietes der Begriff ›räumliche Ressourcen‹ (in Ergänzung zu den finanziellen und organisatorischen respektive menschlichen Ressourcen) erarbeitet. Damit wurde die Planung dieser Ressourcen als ein Bewirtschaftungsprozess im öffentlichen Interesse angesehen und durch Aufgaben strukturiert: Bilanzierung, Erzeugung und Verbrauch, Verfügbarkeit und Verteilung der räumlichen Ressourcen bis hin zum ihrem Monitoring, wie es in den allmählich üblich gewordenen Spezialkatastern öffentlichen Eigentums oder auch den digitalisierten Kartensystemen heute, wenn auch begrenzt, möglich ist.
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Diagramm 1: Interdependenzen zwischen Nutzung und Produktion von verorteten Eigenschaften
Ein Grundstück wird mit einem mehrgeschossigen Wohngebäude bebaut. Die Wohnungen entsprechen dem Bedarf und werden nach Fertigstellung schnell bezogen. Der Spielplatz auf dem Nachbargrundstück erweist sich nun als zu klein. Es bildet sich eine Initiative aus dem Kreis der Eltern, die vorschlägt, die Dachterrasse des neuen Hauses in einen Spielplatz für die Kleinen umzubauen usw.
Mit diesem Ansatz – Raum als Verortung vielfältig kombinierter Eigenschaften zu verstehen – konnten Raumplanung als gesellschaftliche Aufgabe beschrieben und die möglichen Beiträge der verschiedenen Disziplinen zur Ausbildung und für eine Anreicherung des Tätigkeitsfeldes der Raumplanung zielgerichtet hinterfragt werden. Auf der Grundlage dieses Verständnisses wird Raum nicht nur als Ergebnis einer Wahrnehmung beschrieben, sondern auch als gesellschaftliches Gut, dessen verortete Eigenschaften ein wichtiges Element der Lebens- und Arbeitsbedingungen bestimmenden Faktoren bildet und damit als ein immanenter Teil des politischen Verteilungskalküls zu begreifen ist. Durch entsprechende Fragen und Antworten wird die Angelegenheit Raum systematisierbar und zum verhandelbaren gesellschaftlichen Gut: Was wird wem zur Verfügung gestellt? Unter welchen Bedingungen? Wer hat sich was zu welchem Zweck angeeignet? Welche Anstrengungen bzw. Investitionen werden zur Ausstattung von welchem Raum geleistet oder geplant? Ist die Verteilung gerecht? – etc. etc. (siehe auch Kapitel 3). Aber wie sollte dies in die Praxis der Planung umgesetzt werden? Für eine systematische Beschreibung von räumlichen Ressourcen mussten in jedem Fall zwei Definitionen erfolgen: a) Eine systematische Verortung verlangt ein räumliches Bezugssystem, das nicht nur aus einem geographisch bestimmten Punkt bestehen sollte, sondern aus Einheiten, die eine vergleichbare Bezugsgröße ermöglichen, wie Dichte oder
Raum als polyvalente und gesellschaf tliche Ressource
Preis pro Einheit, als Maß der Eigenschaft einer Fläche oder eines dreidimensionalen Raums. Nennen wir dieses Bezugssystem ›räumliche Einheiten‹.3 Jede einzelne Einheit wird zur Adresse bzw. zu einem Träger von Eigenschaften, um Ressourcen beschreiben und verorten zu können. Mit der Verortung werden die Ressourcen zu räumlichen Ressourcen. Maßstab und Form der Einheiten korrespondieren mit den räumlichen Dimensionen der in Frage kommenden Eigenschaften und der entsprechenden Maßnahmen. b) Außerdem muss eine Liste der verortbaren Merkmale festgelegt werden. Die verorteten Merkmalsausprägungen sind dann die Grundlage einer Analyse der Eigenschaften jeder räumlichen Einheit, auf der eine Beschreibung und Bestimmung räumlicher Ressourcen basiert. Dabei ist zu beachten, dass durch Nutzung oder Verbrauch von Eigenschaften die bestehenden verorteten Eigenschaften sich ändern. Eine Veränderung der sozialen Zusammensetzung der Bevölkerung eines Stadtquartiers, bedingt durch Auf- oder Abwertung der Gebäude oder durch Verdichtung, hat zum Beispiel Folgen für die Herausforderungen für die Grundschule und die Spielplätze im Quartier.
Zunächst schien dies einfach zu sein: Eine ›Verortung von Eigenschaften im Raum‹ erfolgte durch eine Zuordnung der Merkmalsausprägungen zu den räumlichen Einheiten; die räumlichen Einheiten wurden damit zu Merkmalsträgern, die Summe der zugeordneten Eigenschaften in Form von klassifizierten Merkmalsausprägungen und der Maßstab der räumlichen Einheiten bestimmte die Brauchbarkeit dieser Dateien für strategische Erwägungen oder Empfehlungen. Formallogisch entstand so nichts anderes als eine Datei, deren eine Variable aus der Zuweisung zu einer räumlichen Einheit bestand und damit als Verortung definiert war und deren andere Variable aus einer beliebigen Zahl von Eigenschaften bzw. Merkmalsausprägungen bestand. Dabei wurde auch deutlich, dass die Liste der Eigenschaften endlos ist und je nach akuter Fragestellung neu überdacht werden muss. So rückten Anfang der siebziger Jahre neue Eigenschaften städtischer Lebensbedingungen in den Mittelpunkt. Die im gesellschaftlichen Diskurs aufkommenden sozialen Fragen und die deutlicher werdenden Umweltherausforderungen wurden in den Zusammenhang mit den geplanten Modernisierungen von Städten gebracht und führten zu immer wieder neuen Eigenschaften, die ins planerische Kalkül rückten. Dies bedeutet für eine planende Institution, permanent offen für neue Fragen und Herausforderungen zu sein. Als Anregung und Fahrplan für die Suche nach brauchbaren und relevanten Eigenschaften, unter Einbeziehung anderer Disziplinen, kann die im Sondertext 2: ›Kategorien von möglichen Eigenschaften des Raums‹ aufgeführte Tabelle dienen. Bei der Überprüfung von Eigenschaften, die für die Verbesserung von Lebensbedingungen eigentlich bedeutsam sind, aber nicht beachtet werden, vielleicht auch weil die Informationen nicht ermittelt werden, bin ich auf Eigenschaften gestoßen, die mit dem Transportaufwand der Bevölkerung zu tun haben, um zur Arbeit zu kommen, ein Krankenhaus zu erreichen oder anderes. In der AG.KOP haben wir von dem zu ermittelnden ›Raumüberwindungsaufwand‹ gesprochen (siehe Beispiel 1.2). Jedwede räumliche Organisation trägt in sich einen erforderlichen Transportaufwand oder auch Raumüberwindungsaufwand der Bevölkerung.
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Sondertext 2
Kategorien von Eigenschaften
Beispiel 1: Eigenschaften, die in einem Gebäude * verortbar sind und damit Teil einer räumlichen Ressource am Gebäudestandort werden Ein Gebäude trägt eine Vielzahl von Eigenschaften in sich, die von folgenden unterschiedlichen Prozessen, durch die das Gebäude diese Eigenschaften erhält, geprägt sind (und verortet sie dadurch). Diese können im Verlauf der Zeit auch geändert werden. Die ›Kategorien‹ sind nur als Suchhilfe gedacht und dienen dazu, die Vielfalt der Eigenschaften, die eine räumliche Ressource beschreiben, anzudeuten. Es gibt selbstverständlich Überschneidungen zwischen den ›Kategorien‹. 1. Jedes Haus ist ein Produkt (Herkunft und Art bzw. Beschaffenheit und Ressourcenverbrauch der Baumaterialien, der Technologie, der Arbeitskräfte, Kosten und Zeitaufwand, Beeinträchtigung der Umwelt, Nachhaltigkeit, Anschluss an die technische Infrastruktur, Maßnahmen der Unterhaltung, Beseitigung der aktuellen Nutzung, Auswirkungen auf andere Nutzungsprozesse, Instandsetzung und Modernisierung u. a.) 2. Jedes Haus ist ein Gebrauchsgegenstand (Art – z. B. Lebensmodell, Geschäftsmodell etc. – und Maß der Nutzung wie GFZ [Geschossflächenzahl, mit der die Ausnutzung eines Grundstückes durch gebaute Flächen bezeichnet wird] und GRZ [Grundflächenzahl, mit der die bebaute Fläche eines Grundstücks bezeichnet wird], Nutzungsbedingungen, Kosten wie Betriebskosten und Zeitverlauf der Nutzung u. a.) 3. J edes Haus ist Repräsentation (es verfügt über Denkmalcharakter, Erzählwert, Ästhetik etc.) 4. Jedes Haus ist Gegenstand der informationellen Regeln (Verfügbarkeit, Eigentumsverhältnisse, Planungsrecht, Auflagen u. a.) 5. Jedes Haus beansprucht physischen Raum (Volumen, Abstandsregeln, Zugänglichkeit u. a.) 6. Jedes Haus hat Beziehungen zum Umfeld/Kontext (Milieu, Sichtbeziehungen, Erreichbarkeiten, Umweltbeziehungen, Schatten, Licht, Lärm, Luft u. a.) 7. Jedes Haus hat eine geographische Lage (Adresse, Kataster, Vermessung, Google u. a.)
Raum als polyvalente und gesellschaf tliche Ressource
Beispiel 2: Eigenschaften, die auf einem Grundstück verortbar sind und damit die Eigenschaften eines Grundstücks beschreiben 1. Jedes Grundstück hat topographische Eigenschaften (Adresse, Kataster, Vermessung, Google, Lage, Größe, Relief, Bodenbeschaffenheit etc.) 2. Jedes Grundstück ist Gegenstand von juristischen Festlegungen (Eigentum, Nutzungsbedingungen, nachbarschaftliche Regelungen, planungsrechtliche Einordnung, Beziehungen zum Umfeld, steuerliche Bewertung etc.) 3. Jedes Grundstück ist Gegenstand einer Nutzung (Nutzungsgeschichte und aktuelle Nutzung, historische Bedeutung bzw. Erzählwert, Altlasten, Begehrlichkeiten, Erschließung etc.; für Architekten insbesondere interessant ist die Herausarbeitung einer möglichen zukünftigen Nutzung des Grundstücks bzw. seiner Bebauung – siehe ›Möglichkeitsraum‹ in Kapitel 3 des Buches) 4. Jedes Grundstück hat Beziehungen zum Umfeld/Kontext (Milieu, Sichtbeziehungen, Erreichbarkeiten, Umweltbeziehungen, Schatten, Licht, Lärm, Luft u. a.)
* Eigenschaften können auch anders als durch die Betrachtung eines Gebäudes verortet werden; alle Maßnahmen (sowohl produktive als auch informationelle), die wenigstens eine Eigenschaft besitzen, welche verortbar ist, sind relevant für die Beschreibung von räumlichen Ressourcen. Ein Gebäude als Beispiel eignet sich zur Illustration besonders, da es potentiell relativ viele verschiedene Eigenschaften gleichzeitig aufweist. Für die Bilanzierung der räumlichen Ressourcen können auch Grundstücke als Träger von Eigenschaften strategisch von entscheidender Bedeutung sein. Daher stellt ein Liegenschaftskataster ein wichtiges ›räumliches Bezugssystem‹ dar. Grundstücke, die bebaut sind, sind dabei besondere Ressourcen, die sowohl eine Betrachtung des Grundstücks und seiner Eigenschaften als auch eine Betrachtung der auf dem Grundstück befindlichen Gebäude bzw. Gebäudeteile erfordern.
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Um den Transportaufwand einer in einer räumlichen Einheit wohnhaften Bevölkerung zu Einrichtungen verschiedenster Art (Arbeitsplätze, Einkaufsmöglichkeiten, soziale oder kulturelle Einrichtungen etc.) messen zu können, orientierte ich mich zunächst an den Standortmodellen für unternehmerische Entscheidungen und benutzte dann in Anlehnung an anglo-amerikanische Modellstudien Algorithmen, die mehr oder weniger aus den Gravitationsgesetzen abgeleitet sind.4 Dies entsprach dem Gedanken, dass das soziale Verhalten bei Entscheidungen, eine Entfernung zurückzulegen, von der Entfernung und der Attraktivität der zu besuchenden Einrichtung (in einem bestimmten Verhältnis zueinander, ähnlich wie Masse und Entfernung bei der Gravitation) abhängt. Zur planerischen Verwertung einer derartigen Datei wird weiter unten einiges ausgeführt, zunächst zurück zur Raumplanerausbildung in Dortmund. Mit einer Kategorisierung von räumlichen Einheiten und Eigenschaften erschloss sich die Möglichkeit, die Beiträge der verschiedenen Disziplinen zu dem Studiengang als raumplanungsrelevante Themen anzuregen und zu spezifizieren. Dies wies darauf hin, dass das zunächst vorgesehene, banale Schema, für jede zusätzliche Disziplin zunächst Grundlagenkurse einzustellen, überwunden werden musste. Der Stundenplan der ersten Semester war in den ersten Konzepten vollgestopft mit derartigen Pflichtangeboten. Der Studieninhalt des neuen Studiengangs sollte eben nicht aus der einfachen Addition von verschiedenen Disziplinen bestehen, sondern zu einer spezifischen Querschnittsdisziplin mit besonderen Aufgaben und Fragen an die verschiedenen Disziplinen entwickelt werden. So zunächst die Logik des Konzeptes ›räumliche Ressourcen‹ für den Studiengang. Inwieweit dieser Gedanke nachhaltig zu einer neuen Organisation des Studiengang Raumplanung geführt hat, kann ich hier nicht weiterverfolgen, da bald nach Erarbeitung dieser Logik mein Lebensweg von Dortmund weg und wieder zum Studiengang Architektur führte. Als Schwerpunkt habe ich aus Dortmund mitgenommen, inwieweit sich das gedankliche Konzept ›räumliche Ressource‹ in die praktische Planungsarbeit führen lässt. Rückblickend ist es erstaunlich, dass zwar immer noch besondere Aspekte dieses Konzeptes in meiner Arbeit vorkommen, aber erst in leitender Funktion an den Kunsthochschulen in Berlin und in Kiel die Gelegenheit entstand, so etwas wie eine differenzierte räumliche Bilanzierung für eine Institution anzuwenden und daraus eine räumliche Strategie als Instrument zu entwickeln und zu realisieren (siehe Beispiele 3.2 und 3.6). Der aufgezeigte Weg, um räumliche Ressourcen identifizieren zu können, verweist auf den gesamtgesellschaftlichen Charakter schon bei der Erhebung und Einordnung der Eigenschaften in einer Datei. Steht schließlich eine derartige Datei für die zu bearbeitende Planungsaufgabe zur Verfügung, stellt sich die Frage: Wie kommt man daraus auf räumliche Strategien als Ergebnis einer Bilanzierung der räumlichen Ressourcen? Es ist sicher so, dass eine systematische Erfassung von verorteten Eigenschaften eine spezielle Aufgabe ist. Unabhängig davon, dass oft nicht abzusehen ist, welche Daten über verortete Eigenschaften tatsächlich zur Verfügung stehen bzw. im Rahmen der gegebenen Aufwendungen für eine Planungsaufgabe beschaff bar oder erhebbar sind, gibt es weitere Gesichtspunkte, die zu berücksichtigen sind, soll der gesamtgesellschaftliche Charakter eines Planungsprozesses erreicht werden. Ein in diesem Zusammenhang bemerkenswertes Beispiel stellt ein Ergebnis des Forschungsprojektes »Baukulturatlas Deutschland 2030/2050« dar, das im August 2016 unter dem Titel »Spekulationen Transformationen: Über-
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legungen zur Zukunft von Deutschlands Städten und Regionen« erschien.5 Ausgehend von Zukunftshypothesen verschiedener Experten und auf der Grundlage eines zusammengestellten Atlas mit Karten zu verschiedenen Themen (Karten über die verschiedenen verorteten Eigenschaften) wurden spekulative Überlegungen, Reflexionen und typologische Transformationsmodelle dargestellt. Diese Arbeit ist ein aktuelles und sehr anschauliches Beispiel für eine Form handlungsorientierter Bilanzen von räumlichen Ressourcen in der Bundesrepublik Deutschland, das eigentlich in öffentlichen Diskursen behandelt werden müsste und damit eine deutlich bessere Aufmerksamkeit erlangen könnte. Unter einem Planungsprozess verstehe ich dabei weder eine deklarierte Zukunft als Fortschreibung etablierter Konventionen noch eine diktierte Zukunft einer sich selbst als Planwirtschaft bezeichnenden Gesellschaft oder eine delegierbare, allein technische Angelegenheit, sondern ich bezeichne damit eine demokratische Abwägung zukunftsorientierter Perspektiven und die transparente Verabredung von entsprechendem Handeln. Es sind fünf Strukturmerkmale für die Organisation derartiger Prozesse zu berücksichtigen, die ich im Folgenden zunächst darstelle, ehe ich die Frage, wie ich zu räumlichen Strategien komme, weiter erörtern werde. 1) Vermeidung einer strikten Hierarchisierung von Arbeitsschritten in der Planung. In der gedanklichen Logik einer systemtheoriebasierten Analyse und gemäß der damals vorherrschenden radikal-rationalisierenden Denkweise6 verbreitete sich durch die aufkommenden planungstheoretischen Gepflogenheiten, dass alle Arbeitsprogramme auf möglichst ein einziges Ziel hin hierarchisiert begründet werden müssen. Damit wurde implizit vorausgesetzt, dass weder eine allgemeingültige Hierarchisierung von Eigenschaften der Umwelt begründbar möglich noch eine eindeutige Hierarchisierung von Ursache-Wirkung-Beziehungen feststellbar wäre. Beides erweist sich nur bei Anwendung von dogmatisch befolgten Glaubenssätzen als begründbar (siehe Diagramme 2). Schon in meiner Studienzeit begann ich daher, Rückkoppelungen7 in die Arbeitsweisen einzuführen, die Zielmodifikationen oder zumindest Ergänzungen oder Konkretisierungen von Zielen in programmierten Arbeitsabläufen zulassen. Allein die Erarbeitung von einem Konsens zwischen allen Beteiligten über ein Handlungsziel ist nur, wenn überhaupt, integriert im Arbeitsprozess möglich. Im Normalfall müssen weiterbestehende Divergenzen bis hin zu Widersprüchen und inkohärente Annahmen berücksichtigt oder auch in Kauf genommen werden. Bei komplexen Planungs- und Verwaltungsaufgaben führen betriebswirtschaftlich orientierte Managergepflogenheiten – einen Betrieb auf ein einziges Ziel, die Gewinnmaximierung, hin auszurichten in die Irre.8 Als strategisch wichtig und gut einschätzbar stellte sich dagegen immer die Frage heraus, wem was nützt9; die Antworten waren immer vielfältig und hin und wieder widersprüchlich. 2) Dies wird auch durch die Erkenntnis, die sich aus der Interdependenz zwischen Nutzung und Produktion von räumlichen Ressourcen (siehe Diagramm 1) ableiten lässt, bestätigt. Diese Interdependenz verlangt noch eine weitere Konsequenz: Arbeitsschritte, die nach konventioneller Logik eigentlich in einer Abfolge hierarchisch sequentiell sortiert sein müssten (wie z. B., erst zu Ende zu denken und dann zu handeln), gemäß der Verhältnisse in der realen Welt,
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Diagramme 2: Vom hierachischen Denken und Sortieren zum Denk- und Kommunikationsmodus Netzwerk
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Diagramm 3: Polyvalenz von Raum
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die nie auf einen einzelnen Erkenntnisprozess warten, gleichzeitig durchzuführen. Gleichzeitig sollte so strategisch analysiert und sollten Maßnahmen durchgeführt sowie die Informationsbasis laufend aktualisiert werden. In Bezug zur Bilanzierung von räumlichen Ressourcen bedeutet dies, dass die beiden Eingriffe in die Bilanzierung der möglichen Veränderung der räumlichen Ressourcen (Veränderung der Nutzung und Veränderung der Produktion von lokalisierten Eigenschaften) im Verhältnis zueinander gedacht und beschrieben werden müssen. Damit wird die relative Gleichzeitigkeit strategischer und pragmatischer Orientierung 7 eine notwendige Charakteristik der Organisation eines planenden Prozesses räumlicher Ressourcen. Diese relative Gleichzeitigkeit entsprach in etwa dem damals vieldiskutierten dialektischen Prinzip des Verhältnisses von Denken und Handeln. Diese relative Gleichzeitigkeit ist reale Herausforderung für alle planenden Institutionen, verlangt allerdings eine Art systematisierende Artistik in vernetzter Kommunikation (s. Diagramme 2) und hat drastische Folgen für die Organisation derartiger Prozesse unter demokratischen Verhältnissen. Dies werden wir später sehen (siehe Kapitel 3 des Buches). 3) Außerdem erscheint es sinnvoll, zwischen produktorientierter und verfahrensorientierter Planung zu unterscheiden. Das heißt, eine politisch/verwaltungstechnisch wichtige Unterscheidung zu berücksichtigen, und zwar zwischen der Erarbeitung von Vorschlägen für eine materielle Veränderung verortbarer Eigenschaften und den Vorschlägen über Entscheidungs-, Kontroll- oder auch Genehmigungsverfahren bis hin zu Hinweisen auf gesetzliche Veränderungsnotwendigkeiten. Da in den sechziger bzw. siebziger Jahren, der Zeit der auf kommenden Planungseuphorie in der Bundesrepublik, Stadt- und Regionalplanungsprojekte vor allem dazu gedacht waren, Investitionen vorzubereiten oder solche Maßnahmen allenfalls in vorhandene Strukturen einzubetten, war die Mehrzahl der damaligen Projekte auf die Erstellung von Planungsvorschlägen über die Verortung von Eigenschaften – ich nenne dies ›produktorientiert‹10 – ausgerichtet. Das stand dann oft sehr schnell im Widerspruch zu der Auffassung, dass man als Berater in der Entwicklungszusammenarbeit die Selbstständigkeit der zuständigen Organe im Empfängerland bzw. Gastland stärken sollte; oder man wunderte sich, dass in der sogenannten Implementierungsphase kluge Vorschläge nicht dem etablierten Umgang mit Entscheidungen entsprachen und für die ›Planer‹ unerklärlich im Nebel politisch-administrativer Strukturen verschwanden. Daher wurde die Gleichzeitigkeit (oder auch Gleichwertigkeit) von produktorientierter und verfahrensorientierter Planung (siehe auch Diagramm 4) ein wichtiges Paradigma.7 In der praktischen Arbeit bedeutete dies, einen Arbeitsplan in einer von mir als notwendig erachteten Gesamtheit von Entscheidungsbedingungen und -prozessen zu überprüfen und einzuschätzen.11 Dazu gehörte die Untersuchung von Entstehungsbedingungen der gewünschten Eigenschaften, um die Realisierung von Konzepten besser einschätzen zu können oder auch zu verstehen, woran die Verortung einer Eigenschaft – wie Ausweisung von Grundstücken für Unterkünfte von Familien mit so gut wie keinem Einkommen – scheitern kann (siehe Beispiel 1.3).
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4) In meiner Reorientierung auf das Aufgabenfeld des Architekten begann ich das Verhältnis von Fachplanungen und Architektur zu konkretisieren. In meiner Grundlagenvorlesung zum Städtebau fügte ich eine Liste der Fragen ein, die ein Architekt an die verschiedenen Disziplinen stellen kann, samt Beispielen für die möglichen Antworten. Meine praktischen Erfahrungen lehrten mich jedoch auch, dass diese Fragen immer wieder neu zu überarbeiten waren und die eigenen praktischen Erfahrungen sowie die Entwicklung der verschiedenen Disziplinen immer wieder neue Erkenntnisse zu Trage förderten. Diese Reflexion hat mir einen praktikablen Leitfaden zur Organisation interdisziplinärer Kooperation im Bereich der Raumplanung geliefert. Aktuell habe ich eine Liste von allgemeinen Kategorien der Eigenschaften zusammengestellt, die als Check- und Suchliste zum Entdecken von einzelnen strategisch bedeutsamen verortbaren Eigenschaften dienen kann. Wichtig ist dabei auch, dass die Eigenschaften in der Verortung nicht einzeln, sondern (oft auch materiell) aneinander gebunden vorkommen, wie z. B. in einem Gebäude, wodurch deutlich wird, dass Räume letztlich in unterschiedlichen Maßstäben ineinander verschachtelt sind.12 Aus der Sicht des gestaltenden oder auch planenden Architekten stehen immer die Eigenschaften im Vordergrund, die einem vorhandenen oder konzipierten geographisch bestimmten Raum innewohnen, der als spezifischer Ort betrachtet oder verändert werden soll, zum Beispiel ein Grundstück,ein Gebäude oder eine Straße, oder ein Gebäudekomplex, oder ein Baublock, oder ein Dorf, oder ein Stadtteil, oder eine Stadt oder gar eine Region. Wichtig ist dabei, sich nicht auf die einem Ort innewohnenden Eigenschaften allein zu beschränken, sondern den Kontext bzw. Faktoren, die auf Eigenschaften des Ortes wirken, mit einzubeziehen (siehe Beispiel 3 in diesem Kapitel, Weiteres in Kapitel 3 des Buches). Es ist allerdings auch üblich – in anderen, nicht auf eine Ganzheit des Raumes ausgerichteten Disziplinen –, einen Raum mit Hilfe von Betrachtungen einzelner Eigenschaften zu bestimmen. Im Diskurs um den Raum führt dieser Unterschied zwischen verschiedenen ›Raumbestimmungen‹ bzw. Perspektiven auf den Raum leicht zu Missverständnissen. Anregend hierzu ist der animierende Katalog von 46 unterschiedlichen Räumen – wie z. B. der ›ambulante Raum‹, der ›panische Raum‹ oder der ›kritische Raum‹ – von Franz Xaver Baier.13 5) In der Diskussion um die Frage, welche räumlichen Eigenschaften in einem spezifischen Planungsfall wichtig sind, stellte sich eine weitere, strategisch sehr bedeutsame und notwendige Differenzierung heraus, angeregt durch die von der in den siebziger Jahren aufgekommenen Systemtechnik propagierte ›Nutzwertanalyse‹. In der Systemtechnik ›Nutzwertanalyse‹ kann für Entscheidungen zwischen Alternativen für komplexe Systeme durch unterschiedliche Bewertung – aus unterschiedlichen Perspektiven – von Eigenschaften und deren Ausprägungen ein vergleichbarer Gesamtwert als Entscheidungsgrundlage ermittelt werden. Diese Addition – ähnlich wie im betriebswirtschaftlichen Zusammenhang die Addition von Geldwerten – mutet aus der Sicht der Raumplanung nicht erst heute naiv an. Für eine politische Diskussion um Planungsalternativen ist jedoch die Unterscheidung zwischen Eigenschaften und den Wertigkeiten von Eigenschaften von besonderer Bedeutung. Durch diese unterschiedlichen Bewertungen wird der Nutzen für verschiedene Interessen-
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Diagramm 4: Subjekt – Realität
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ten an einer Sache deutlich. Damit konnten Antworten auf die oben angeführte Frage, ›wem was nutzt‹, methodisch eingearbeitet werden. Das klassische Beispiel dazu sind die Grundstückspreise, die Ergebnis unterschiedlicher Nutzungsinteressen sind und damit aber auch als Regulativ für die Nutzung im höchsten Maß ungewünschte Auswirkungen haben können. Bei dem Verkauf von Grundstücken der öffentlichen Hand ist eine Verpflichtung, zum ›Marktpreis‹ zu verkaufen, ein Hindernis dafür, die angestrebte Nutzung – wie z. B. für preisgünstigen Wohnungsbau – realisieren zu können. In der Raumplanung ist daher die Summierung unterschiedlicher Werte weniger von Interesse als die Offenlegung und Verdeutlichung unterschiedlicher Werte. Daher ist für eine systemcharakteristische Beschreibung räumlicher Ressourcen der Begriff ›polyvalent‹ erhellend. Raum mit seiner innewohnenden Vielfalt von Eigenschaften muss daher immer als ›polyvalent‹ 14 bezeichnet werden (siehe Diagramm 3). Selbstverständlich sind diese Wertzuweisungen ebenso keine festen Größen, allerdings nicht nur bedingt durch Veränderung der Eigenschaften selber, sondern oft auch durch die Erkenntnis neuer Eigenschaften der gleichen Maßnahme. Dies lässt sich an den aktuellen Bewertungen von geplanten Standorten für Windräder beispielhaft verdeutlichen. Einerseits ist die Platzierung eines Windrades zu einem besonderen Geschäftsmodell geworden – dies führt zu einer besonderen und heftig auf Durchsetzung abzielenden Bewertung; gleichzeitig werden neue Eigenschaften von Windrädern – wie z. B. Infraschall – entdeckt. Es entstehen Neubewertungen von Standortentscheidungen, neue Kriterien werden eingeführt und neue Beteiligte wirken in die Entscheidungsprozesse ein. Dies hat zur Folge, dass bei Standortentscheidungen für Windräder nicht nur neue Eigenschaften im politisch-administrativen Kalkül auftauchen und berücksichtigt werden müssen, sondern dass auch neue Akteure in den Prozess der Beteiligung eingebunden werden. Die Erfahrung zeigt, dass eine Betroffenheit durch Eigenschaften immer auch eine besondere Bewertung dieser Eigenschaften mit sich bringt und in Entscheidungsprozessen gemäß einer pluralen Gesellschaftsordnung auch diese anderen Bewertungen zumindest explizit werden sollten. Bei all diesen Fragen rund um das Thema Polyvalenz von Raum ist jedoch nicht nur die systematische Sammlung von interessensabhängigen Bewertungen von Eigenschaften von Bedeutung. Vielmehr ist bei der Arbeit eines Architekten die eigene Beurteilung, die sich von konventionellen Bewertungen frei macht, eine wichtige Voraussetzung, um Vorschläge zu erarbeiten, die auf eine Veränderung der Realität abzielen (siehe Diagramm 4). In vielen meiner Arbeiten musste ich mich in kurzer Zeit mit einem Ort und seinen Benutzern, die ich nicht kannte, vertraut machen. Erforderlich dazu war immer, gleichzeitig verschiedene Kommunikationswege zu erschließen. Die örtliche Realität entblätterte sich dann sehr schnell und zwar mehrdimensional (siehe Beispiele 1.2 und 2.2). Hilfreich war für mich auch oft eine ›trialektische‹ Arbeitsweise (siehe Sondertext 8: ›trialectics‹ in Kapitel 3 des Buches). Ich war oft verblüfft, wie es mir dadurch manchmal gelingen konnte, über ein in kurzer Zeit entstandenes Netz vielfältiger Kommunikation einen Überblick zu erlangen.
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Diese fünf Punkte sind immer abzuwägen und bei der Arbeitsorganisation der Planung zu berücksichtigen (siehe Kapitel 3). Zurück zur Erörterung der Frage, welche Möglichkeiten bestehen, aus einer Datei verorteter Eigenschaften eine Grundlage für Vorschläge zu räumlichen Strategien zu schaffen. Es lassen sich methodisch drei verschiedene räumliche Kategorien zur Auswertung in Grundstücken und/ oder Gebäuden verorteter Eigenschaften (als Beschreibung eines Istzustandes, eines vorgeschlagenen Zustandes oder eines gewünschten Zustandes) unterscheiden: A) Raumkategorien für statistische und kartographische Darstellungen von • Standorten (z. B. gleiche Eigentümer und eine bestimmte Größe und Beschaffenheit, Grundstücke mit einer bestimmten Nutzung) • Dichten (z. B. Einwohner pro Hektar oder Geschossfläche pro Grundstücksfläche) • Nachbarschaften (z. B. Grundstücke mit besonderen Nachbarschaften zu anderen Grundstücken, auf denen mit Störungen zu rechnen ist, oder Grundstücke, die einen direkten Wasserzugang oder Zugang zu einer Einkaufsstraße haben) • Zugehörigkeiten/Zonen/Strukturen (z. B.: Das Grundstück gehört zu einer baurechtlich relevanten Kategorie oder zu einem Sanierungsgebiet, oder es weist eine besondere Atmosphäre auf) • Erschließungsnetze (Netzdarstellungen evtl. gesondert und/oder z. B. Grundstück mit einer bestimmten Erschließung durch Verkehrswege mit Park- und Abstellplätzen sowie technische Infrastruktur) • Erreichbarkeiten/Einzugsbereiche (z. B. Einzugsbereich einer Grundschule, Erreichbarkeit eines Krankenhauses bzw. der entsprechende Raumüberwindungsaufwand, siehe Beispiel 4 in Kapitel 1) Die Frage ist immer zu stellen, ob die Verortung von Eigenschaften mit einer kartographischen Darstellung tatsächlich zu einem Erkenntnisgewinn führt gegenüber einer tabellarischen Auflistung ausgewertet mit statistischen oder anderen Methoden. Zur Überprüfung, ob ein derartiger Erkenntnisgewinn möglich erscheint, dienen auch die genannten Kategorien. Allerdings ist nicht zu unterschätzen, welche Bedeutung die Verortung von Eigenschaften in Karten oder auch Modellen für die Akteure selber hat (als eine besondere gedankliche Aneignung der örtlichen Bedingungen). Auf alle Fälle ist sie in partizipatorisch orientierten Kommunikationsprozessen hilfreich. Bei derartigen Prozessen hat sich gezeigt, dass mit in realen Situationen verorteten Markierungen, zum Beispiel mit Kreidestrichen auf der Straße oder an Wänden oder mit Hilfe anderer temporärer Mittel, wichtige Impulse für Kommunikations- oder auch Auseinandersetzungsprozesse erreicht werden können. Diese Möglichkeiten haben daher schon seit längerem auch Eingang in die schulpädagogische Arbeit gefunden.15 Ein wichtiges Instrument zur statistischen und kartographischen Darstellung bestand in den siebziger Jahren darin, die Verortung der Eigenschaften durch ein kartographisches Computerprogramm sichtbar zu machen und dabei sogar algorithmisch bestimmte Kombinationen von Merkmalen zusammenzufassen. Dafür gründeten Wilhelm F. Schraeder und ich die AG.COM, führten dazu verschiedene Versuche im Planungskontext durch, veröffentlichten diese und brachten diese Methode in die Lehre ein (siehe Beispiel 1.1).
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B) Raumkategorien für (geometrisch) dreidimensionale Darstellungen durch Abbildungen und Architekturmodelle von • Baumassen (z. B. Raumkanten, Profil, Abstandsflächen, Ausblicke, Eingänge, Zonierung vertikal und horizontal, Besonnung und Belichtung, Lärm etc.) • Zwischenräume (z. B. Sichtbeziehungen [siehe Beispiel 5B, Kapitel 3], Erdgeschossnutzung, Aufenthaltsqualität, Pflanzen, öffentlicher Charakter, Atmosphäre, Struktur der Fassaden etc.) • Besonderheiten (Erzählwert, Besonderheit eines Gebäudes bzw. Ortes, Heterotop [siehe Beispiel 2A in Kapitel 3] etc.) • Veränderbarkeiten (unterschiedliche [polyvalente] Beurteilungen der Veränderbarkeit, Darstellung von Möglichkeiten [zum Begriff ›Möglichkeitsraum‹ siehe Kapitel 3 des Buches] etc.) In manchen architektonischen Strategien, wie der Heterotopie16, besteht die Strategie sogar gerade darin, durch ästhetische Andersartigkeit eine besondere Aufmerksamkeit oder Abwechslung in einem relativ belanglosen Kontext zu erzielen. Mit diesem architektonischen Konzept kann natürlich der Aufwand, einen Ort in seinen verschiedenen Aspekten zu verstehen, sehr gering gehalten werden. C) Raumkategorien für Prozessdarstellungen durch • Reihenfolgen17 (z. B. Reihenfolge der Maßnahmen in einem Sanierungsgebiet oder bei der Nachurbanisierung einer Großsiedlung etc.) • Szenarios/Simulationen (z. B. durch Planspiele, drehbuchartige Darstellung eines Veränderungsprozesses etc., siehe im letzten Abschnitt »Nun?!« der Hinweis auf ein Projekt mit dem Sonderforschungsbereich 1182 »Origin and Function of Metaorganisms« an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel) • Umbaubare Modelle/Simulationen (z. B. Partizipation mit Hilfe eines umbaubaren Modells [siehe Beispiel 2 in Kapitel 2 und Beispiel 2A in Kapitel 3] etc.) • Aktionen (Besetzungsaktionen, Zwischennutzungen [siehe Beispiel 7B in Kapitel 3], Straßenaktionen [siehe Abbildung in biografische Notizen Kapitel 3] etc.) Wir sehen, dass es eine Vielzahl von methodischen Ansätzen gibt, um verortete Eigenschaften zu begreifen und zu kommunizieren. Zur Konkretisierung, Auswahl und Relativierung der Bedeutung der verschiedenen Arbeitskonzepte ist die eigene Subjektivität in Bezug zur Realität zu setzen (siehe Diagramm 4). Die Wahrnehmung der Realität durch jedes Subjekt ist geprägt von eigenen Modellvorstellungen über die Realität und der eigenen Analyse- und Handlungsabsicht zu der mit Regeln und Konventionen verkleideten Realität. Die eigene Analyse- und Handlungsfähigkeit ist daher abhängig von der Entwicklung eigener Modellvorstellungen und der Fähigkeit, diese Modellvorstellungen kontinuierlich zu überprüfen und zu korrigieren. Anfang der siebziger Jahre war noch die Ansicht sehr verbreitet, dass mit Hilfe computerbasierter betriebswirtschaftlicher Modelle, abgeleitet aus der Standortplanung von Filialen eines Betriebes/Konzerns oder Versorgungseinrichtungen im Militärbereich, räumliche Strukturen einer Stadt optimiert werden könnten. Damit wurde propagiert, den eigenen Bezug zur Realität einem Algorithmus zu überlassen. Dies lehnte ich
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grundsätzlich ab, da die verschiedenen verortbaren Eigenschaften für eine persönliche Standortwahl – einer Wohnung zum Beispiel – eben polyvalenten Charakter haben und es daher nie eine räumliche Struktur geben kann, die allgemeingültig als optimal genannt werden kann (ist diese Struktur doch aus zum Teil widersprüchlichen Eigenschaften zusammengesetzt, die immer wieder neu bewertet werden), und schon gar nicht, wenn alles nur nach den vorhandenen erkennbaren Gesetzmäßigkeiten von Attraktivität und Entfernung ermittelt wird. Daher habe ich diese Modelle in sogenannte Impact-Modelle umgebaut. Mit Hilfe der aus Optimierungsmodellen entnommenen Algorithmen konnte die zu erwartende räumliche Beziehung zwischen Quell- und Zielort (Ermittlung des Weges und seiner Nutzung zwischen zum Beispiel den Einwohnern zu einem Krankenhaus zu Fuß, mit dem Rad, mit öffentlichem Verkehr oder mit dem PKW) quantitativ ermittelt werden. Damit konnte der zu erwartende Verkehrsaufwand, im Jargon ›Raumüberwindungsaufwand‹ genannt, der Bevölkerung bei der Realisation für jede Planungsvariante errechnet werden – und dies unter Einberechnung der möglichen Veränderung des Verkehrsverhaltens. Damit konnten Planungsvarianten mit dieser Eigenschaft als eine mögliche Auswirkung – daher Impact – beschrieben werden. Die räumliche Verteilung einer Gesellschaft nach nur einem Kriterium vorschlagen zu können, erschien nicht nur mir ziemlich absurd. Daher war klar: Optimierungsmodelle auf polyvalente Sachverhalte anzuwenden ist geradezu falsch – da unterschiedliche Bewertungen nicht nur numerisch nicht aufrechenbar sind, sondern derartige Algorithmen nur als Impact-Modelle brauchbar sind, um Auswirkungen auf verschiedene Interessen sichtbar zu machen. Die Faszination der Übertragung von betriebswirtschaftlichen Kalkülen auf gesellschaftliche Fragen wuchs damals aber heftig und führte zu methodischen Fehlern, die teilweise bis heute herumgeistern, wie zum Beispiel der Anwendung der ›zielorientierten Projektplanung‹ (»ZOPP« genannt). Diese wurde in der Entwicklungszusammenarbeit als entscheidender Maßstab für die Entscheidung über die Finanzierung von zum Beispiel Krankenhäusern oder Bildungseinrichtungen oder ähnlich bei der leistungsbezogenen Mittelvergabe an Hochschulen benutzt, mit der vergeblich versucht wurde, Hochschulen in eine Art privatwirtschaftlichen Betrieb zu verwandeln. Da Optimierung eine algorithmische Hierarchisierung von Eigenschaften voraussetzt und dies bei öffentlichen Angelegenheiten nur sehr begrenzt möglich ist, ist dieses betriebswirtschaftliche Konzept – wie gesagt – für gesamtgesellschaftliche Aufgaben allenfalls als Impact-Analyse-Modell umgearbeitet anzuwenden (siehe auch Diagramme 2 und 3). Übertragungsideen von betriebswirtschaftlichen Methoden auf andere gesellschaftliche Aufgaben sind hier nicht das Thema, eine kritische Untersuchung dieses Glaubens an die Bedeutung betriebswirtschaftlicher Modelle für die Verbesserung der Effizienz gesellschaftlicher Einrichtungen wäre allerdings dringend angesagt. Da innovativen Vorschlägen allerdings immer Konventionen im Weg stehen, ist der Überzeugungsaufwand dann manchmal sehr viel höher als der Erarbeitungsaufwand und eine Erfolgsgarantie für die Überzeugungsarbeit ist nie gegeben, die Einsicht sich vielleicht selber zu irren eingeschlossen.18 Aber wer weiß das schon immer im voraus? – vor allem, da viele Erkenntnisse oft auch nur durch Veränderungsversuche zu Tage treten. Es ist jedoch auch zu beobachten, dass, sofern Sachverhalte aus verschiedenen und nicht gewohnten Perspektiven betrachtet werden, eher innovative Schlussfolgerungen oder gar Problemlösungen erarbeitet werden
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können (siehe dazu den etwas ironischen Songtext »anders sehen«, zitiert in Sondertext 8: ›trialectics‹ in Kapitel 3). Daher macht es auch keinen Sinn zu meinen, ein allgemeingültiger Methodenkasten müsste zur Verfügung stehen. Auch dies soll hiermit veranschaulicht werden: dass Methoden nur in ihrem historischen und örtlichen Kontext zu verstehen und damit weiterentwickelbar sind und weiterentwickelt werden müssen. In diesem Sinn sollen die aufgeführten Hinweise lediglich als Anregung dienen. Das einzige methodische Element, das eine allgemeine Bedeutung hat, ist die Bildung und Nutzung von Modellen. Diese Modelle, die sich auch als formuliertes Verstehen der Realität durch ein Subjekt verstehen lassen, können, unabhängig, ob sie analog oder digital, virtuell, verbal oder in anderen Formaten artikuliert sind, zum Erkenntnisgewinn, zur Verhaltensregulierung (inklusive einer Selbstreflexion zur Steuerung des eigenen Selbst) oder zur Praxisgestaltung Anwendung finden. Dies gilt generell für alle inhaltlich bestimmten Bereiche bzw. Aufgaben aller Disziplinen.19 Halten wir zunächst fest, dass für einen Architekten das Feld der verortbaren Eigenschaften eine Fundgrube dazu ist, in Architektur viel mehr als Konstruktion und Ästhetik sehen zu können und sehen zu wollen, und dass dazu Untersuchungsmethoden der räumlichen Ressourcen hilfreich sein können und fallspezifisch eine kreative Überprüfung der Vorgehensweise nicht zu empfehlen ist. Es gibt noch andere Differenzen für das Erkennen und Bewerten von Eigenschaften als solchen, die durch den Blick auf ›Konventionen‹ bzw. tradierte Gewohnheiten entstehen. Es sind kulturspezifische Lebens- und Arbeitsweisen, die nicht mit jenen des Betrachters übereinstimmen.20 Dies wird besonders relevant für ›Europäer‹ im Verhältnis zu nicht in ›Europa‹ (der Begriff wird hier pragmatisch und nicht präzise definiert verwendet) verwurzelten Kulturen, die allenfalls vom europäischen Kolonialismus und heutigen globalisierten Prozessen beeinflusst, überformt oder gar weitgehend zerstört wurden. Die mögliche Bedeutung räumlicher Eigenschaften, die in außereuropäischen Kulturen eine Rolle gespielt haben und im Kontext der Globalisierung einer Veränderung unterworfen sind, wird im anschließenden zweiten Kapitel im Mittelpunkt stehen. Damit wird von einer zusätzlichen Erweiterung des Arbeitsfeldes eines Architekten bzw. seines Horizontes die Rede sein und damit ein weiteres Verunsicherungspotential für das Selbstverständnis eines Architekten aufgezeigt.
A nmerkungen 1 | Eine ausführliche Dokumentation und Reflexion in der Arbeitsgruppe kommunale Planung (AG.KOP) aller damals als für einen Studiengang Raumplanung relevant erachteten Gesichtspunkte findet sich in: Ekkehard Brunn/Wolf Pannitschka, »Raumplanung und Planerausbildung«, in der Reihe Dortmunder Beiträge zur Raumplanung, Band 9, Dortmund 1978. Das Konzept der AG.KOP (als Antwort auf die zunächst nur additiv erfolgte Zusammensetzung der Lehrenden aus verschiedenen Disziplinen) verfolgte den Zweck, Konsequenzen für Forschung und Lehre aus der Erkenntnis zu ziehen, dass »Raum zunächst als eine allgemeine Existenzform jedweder materiellen wie sozioökonomischen Prozesse begriffen werden muss, und damit das Spezifikum einer eigenständigen Disziplin Raumplanung
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zunächst nicht ohne weiteres ersichtlich ist«, in Christoph Wurms, »Raumplanung als Wissenschaft – zur konzeptionellen Diskussion der AG.KOP«, Raumplanerzeitung, Dortmund, 1. Juli 1976, S. 4–7, nachgedruckt in »Raumplanung und Planerausbildung«, a. a. O., S. 41 ff. 2 | Unter Produktion von Eigenschaften fällt z. B. die materielle Erstellung eines Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) in einem bestimmten Gebiet bis hin zur Errichtung einer einzelnen Haltestelle. Unter Verfügung über Eigenschaften versteht man vor allem die Eigentumsverhältnisse an Grund und Boden bzw. Gebäuden, aber auch Zutrittsbedingungen von Einrichtungen oder die Festlegung von Tarifen für den ÖPNV. Ein Beispiel für den Bedarf an Eigenschaften wäre zum Beispiel der Wunsch, in zehnminütiger fußläufiger Entfernung eine Grundschule erreichen zu können. 3 | Für die bessere Vergleichbarkeit ist es sinnvoll, die räumlichen Einheiten (als Merkmalsträger) für die Berechnung und Darstellung von flächenbezogenen Eigenschaften möglichst gleich groß zu halten, wenn es geht, sogar in Form eines geometrisch regelmäßigen Musters, wie z. B. in Form eines quadratischen Rasters. Für die Darstellung war durch die Anfang der siebziger Jahre verfügbare digitale Drucktechnik die Buchstabengröße der Drucker die kleinste Einheit, heute ist die kleinste darstellbare Einheit durch die Pixelgröße bestimmt. Die Erfassung der Eigenschaften ist jedoch darauf angewiesen, vorhandene räumliche Einheiten zur Erfassung von Eigenschaften wie etwa Grundstücksgrenzen, statistische Bezirke, Wahlbezirke und andere administrativ bedeutsame Grenzen, geographische Eigenschaften, Bebauungsformen etc. zu nutzen. Es sind räumliche Begrenzungen, die zu unterschiedlichen Formen und Größen der räumlichen Einheiten führen. Dies in ein entsprechendes System zu übersetzen war damals nicht praktikabel. Heute erscheint es durchaus möglich, Dateien mit verschiedenen vorhandenen räumlichen Grenzen zu nutzen und räumliche Einheiten als Merkmalsträger nach bestimmten Algorithmen zu kombinieren, um weiterhin Eigenschaften von räumlichen Einheiten, die aus unterschiedlichen Merkmalen und Merkmalsausprägungen ermittelt werden, in verschiedenen Systemen räumlicher Einheiten in Kombination darstellen zu können. 4 | Eine gute Einführung in die Konstruktion der in den sechziger Jahren in den USA und in England entwickelten räumlichen Modelle ist zu finden in: Ian Masser, »Analytical Models for Urban and Regional Planning«, Devon, 1972; eines der Ausgangsmodelle geht auf I. S. Lowry zurück, siehe z. B. I. S. Lowry, »A short course in model design«, in Journal A. I. P., S. 158–166; in dem nach diesem Autor benannten ›Lowry-Modell‹ wurden mit Hilfe von Gravitationsalgorithmen die räumliche Anziehungskraft zwischen Wohnorten, Orten der Produktion und Orten von Dienstleistungen und damit die zu erwartenden Verkehrsströme, die zu erwartenden Wohnorte und die zu erwartenden Dienstleistungsorte errechnet. Merkwürdigerweise wurde von einigen Modellprotagonisten diese analytische Methode als ›Optimierungsmodell‹ angepriesen und verkauft. Zum Beispiel, so wurde es kolportiert, fiel die Stadt Hamburg Anfang/Mitte der siebziger Jahre darauf herein. Dokumentationen der natürlich nur unbrauchbaren Ergebnisse und über die Protagonisten sind im Nebel verschwunden. In dem Projekt der deutschbrasilianischen Zusammenarbeit zum Auf bau einer Regionalplanungsinstitution für die Metropolregion Porto Alegre im Süden Brasiliens (siehe Rainer W. Ernst und Wilhelm F. Schraeder, »Regionalplanung in Entwicklungsländern – ein Be-
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richt über ein deutsch-brasilianisches Projekt für den Großraum Porto Alegre«, in Stadtbauwelt 40, 1973; eine aktuelle Würdigung dieses Projektes ist Prof. Dr. Danielle Heberle Viegas mit ihrer Dissertation gelungen: »O planejamento da região metropolitana de Porto Alegre a partir da cooperação técnica entre Brasil e a República Federal da Alemanha« [1963–1978], Porto Alegre, 2016) hatte ich das ›Lowry-Modell‹ in ein Impact-Analyse-Modell umgebaut und erweitert (siehe Beispiel 1.3 und Dokumentation 13 der ersten Projektphase des deutsch-brasilianischen Projektes »Anwendung des Lowry-Modells als Impact-Analyse alternativer räumlicher Leitbilder«, Porto Alegre/Essen/Eschborn, 1973). Später habe ich das Modell für präzisere Untersuchungen von Standortplanungen der Stadt Bochum weiterentwickelt (siehe Beispiel 1.2), veröffentlicht durch die Stadt Bochum in ihrer blauen Reihe, Planungsamt, Abteilung Stadtentwicklung und Rainer W. Ernst, »Erreichbarkeitsanalyse – Ein Beitrag zur Teilautomation der Planung, Band 1: Methode«, Bochum, 1975, und Rainer W. Ernst und S. Stein, »Zur praktischen Anwendung einer Erreichbarkeitsanalyse: Bericht über ein mit dem Stadtplanungsamt Bochum entwickeltes Konzept«, in Ekkehard Brunn/Gerhard Fehl (Hrsg.), »Systemtheorie und Systemtechnik in der Raumplanung«, Basel, 1976. Ein ganz anderer Typ eines räumlichen Analysemodells war ›SCRAM‹, das uns damals (1974) in Dortmund, vermittelt durch DATUM e. V., als Software zur Untersuchung zur Verfügung gestellt wurde. In diesem Modell wurden räumliche Zuordnungen nicht durch Attraktivitätsparameter ermittelt, sondern es wurden durch Kapazitäten von Einrichtungen und der räumlichen Zuordnung von Bevölkerung zu Wegenetzen auf der Grundlage von ›Kurze-Wege-Algorithmen‹ Einzugsbereiche und daraus sich ergebende verortbare Versorgungslücken errechnet. Siehe Rainer W. Ernst/Wolf Pannitschka, »Erreichbarkeitsanalyse auf Stadtteilebene – zur Verwendung von Netzwerkmodellen«, in ÖVD 4/75, und als überarbeitete und erweiterte Fassung »SCRAM – eine Planungshilfe zur Allokation von Ressourcen in einem Netzwerk«, in W. F. Schraeder/M. Sauberer (Hrsg.), »Dortmunder Beiträge zur Raumplanung. Band 1: Methoden der empirischen Raumforschung«, Dortmund, 1976. 5 | Matthias Böttger/Stefan Carsten/Ludwig Engel, »Spekulationen Transformationen: Überlegungen zur Zukunft von Deutschlands Städten und Regionen«, entstand im Rahmen des Forschungsprojektes »Baukulturatlas Deutschland 2030/2050«, Zürich, 2016. 6 | Ursache-Wirkungsbeziehung (wer/woher/warum) von realen Prozessen zu ergründen galt damals als wichtige Voraussetzung, um der eigenen Entwurfsarbeit eine rationale Basis zu verleihen. Die Darstellungsmethoden der Systemtechnik und die Gedankenmodelle der System- und Modelltheorie sowie der formalen Logik waren in die Konzepte der eigenen Arbeitsorganisation zu übertragen. Ablaufdiagramme zur Organisation und Überprüfung der Logik eigener Arbeiten wurden für mich Konvention, ebenso wie das Entwerfen von Abläufen für Entscheidungsprozesse im gesellschaftlichen Kontext. Gerade in der Architekturabteilung der TH Stuttgart entstand Ende der sechziger Jahre in einigen Gruppen ein regelrechtes Rationalisierungsfieber, das dann zum Beispiel durch Arbeiten des Quickborner Teams über Büroorganisation und ähnliche Arbeiten angefeuert wurden oder auch zu der studentischen Forderung führte, ein Fachgebiet ›Planungsmethodik‹ in das Curriculum der Architektur einzubauen. Dieser Versuch, die eigene Arbeit strikt diesen Rationalismen unterwerfen, interpretiere ich heute als eine radikal rationalisierende Arbeitsepoche.
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Räumliche Ressourcen 7 | Daher wurde es für mich üblich – vor allem bei der Konzeptionierung und Evaluierung von Stadt- und Regionalplanungsprojekten in der Entwicklungszusammenarbeit in der Zeit von 1975–82 –, den sinnvollen Einbau von Rückkoppelungen in Arbeitsprogramme zu überprüfen sowie bei den Arbeitsschritte zwischen produktorientierten und verfahrensorientierten sowie strategisch und pragmatisch orientierten zu unterscheiden und bei der Beurteilung der Organisation von Planungsprozessen die Art der Berücksichtigung von Gleichzeitigkeiten als Kriterium einzusetzen. 8 | Ähnliche Probleme gab es in der ehemaligen DDR, in der die dort als ›Territorialplanung‹ bezeichnete Raumplanung gerade durch das gesellschaftliche Primat der produktiven Ökonomie bestimmt und damit eindeutig hierarchisiert war. Die räumlichen Einheiten wurden allein durch die politische Hierarchie bestimmt. Siehe zum Beispiel Rolf Bönisch/Gerhard Mohs/Werner Oswald, »Territorialplanung«, Berlin, 1976. Hier fing auch die politische Geheimniskrämerei an, auf das wissenschaftliche Publizieren über auf Rationalisierung orientierte Planungsmethoden einschränkend zu wirken, bis dahin, dass zum Beispiel Planunterlagen des Baus von Plattenbausiedlungen als geheim eingestuft wurden und teilweise sogar nach Errichtung der Siedlungen vernichtet wurden. Man brauchte diese Dokumente nicht mehr, da die Siedlung fertig sei, so wurde manchmal naiv argumentiert. Dies führte bei ersten Versuchen, wie z. B. im Auftrag der Wohnungsbaugesellschaft Marzahn Anfang der neunziger Jahre Nachverdichtungspotentiale zu identifizieren (siehe Beispiel 6 im Abschnitt 4), zu erheblichen Schwierigkeiten, den Bestand vorhandener technischer Infrastruktur darzustellen. 9 | Die Frage danach, »wer welchen Nutzen trägt«, begegnete mir zum ersten Mal bei der politisch sehr kontrovers geführten Debatte um die Architektenausbildung zwischen StudentenvertreterInnen der TH Stuttgart und der TUB (Technische Universität Berlin) 1968 durch den Hinweis auf ein Studienprojekt der TUB mit dem Titel »Sanierung für wen?« Später gab es eine gleichnamige Publikation als Textsammlung mit dem Untertitel ›Gegen Sozialopportunismus und Konzernplanung‹, herausgegeben vom Bureau für Stadtsanierung und soziale Arbeit, BerlinKreuzberg, 1971. Diese Frage, wem welche Maßnahme nützt, wurde für mich zur Schlüsselfrage, um Polyvalenzen von Maßnahmen systematisch zu erfassen bzw. mich dem zumindest anzunähern. 10 | Die produktorientierte Arbeitsweise von Architekten, Ingenieuren und Stadtplanern prägt bis heute das Ausbildungsprofil der entsprechenden Fachrichtungen. Handlungsanweisungen als Lösungen für vorgegebene Aufgaben zeichnerisch darzustellen und mit Erläuterungstext zu versehen bestimmt die Arbeitsweise in diesen Studiengängen. So war zum Beispiel auch bei der Konstituierung des Projektes (1971) der Technischen Zusammenarbeit (wie es damals bezeichnet wurde) zwischen Brasilien und der Bundesrepublik Deutschland zur Planung des Großraums Porto Alegre zwar verabredet, zu helfen, eine Planungsinstitution aufzubauen; in der Arbeitsorganisation sollte dies durch die Erarbeitung eines Entwicklungsprogramms für die Region erfolgen. Auf deutscher Seite war ich für die Erarbeitung des räumlichen Entwicklungsplanes unter Einbindung computerunterstützter Planungsmethoden rekrutiert worden. Um nun diese Ausrichtung der Arbeit auf die Erstellung eines Plans um die notwendige verfahrensorientierte Arbeitsweise zu ergänzen, habe ich dann versucht, integriert in die Arbeit eine Mitwirkungsstruktur zu entwickeln und – eingeschränkt durch die damalige antidemokratisch
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eingestellte Militärdiktatur – diese zumindest simulativ zu erproben. Ob dies zu einem aus heutiger Sicht brauchbaren Ergebnis führte war u. a. Gegenstand der Dissertation von Prof. Dr. Danielle Heberle Viegas am Lateinamerika-Institut der FU, in der sie die mögliche Bedeutung dieses Projektes für die zukünftige Arbeit unter gewünschten demokratischen Verhältnissen untersuchte. 11 | Die Ende der sechziger Jahre aufkommenden Proteste gegen z. B. Neubauprojekte, die den Abriss vorhandener bewohnter Gebäude voraussetzten, wurde deutlich, dass die Erarbeitung und Realisierung von Veränderungen oder eine Verhinderung von baulich-räumlichen Maßnahmen nicht losgelöst von den Strukturen und Abläufen vorhandener Entscheidungsprozesse sinnvoll gedacht werden konnten. Also war es notwendig, über baulich-räumliche Maßnahmen und entsprechende Entscheidungsprozesse bis hin zu den gesetzlichen Rahmenbedingungen gleichzeitig nachzudenken. Ein Beispiel für einen frühen, nachhaltigen Erfolg in der Verhinderung eines Abrisses im Ruhrgebiet ist 1970 durch das von mir und anderen geleitete Studienprojekt »Steinkühler Weg« an der Abteilung Raumplanung der Universität Dortmund gelungen. Die Siedlung blieb weitgehend in der Hand der damals dort wohnenden Bevölkerung und besteht noch heute. Ein weiteres, dramatischeres Beispiel wurde in Berlin-Kreuzberg durch gewaltsame Proteste bis hin zu Hausbesetzungen sichtbar, bis schließlich der Berliner Senat mit einem deutlichen Paradigmenwechsel in der Modernisierungspolitik einschwenkte und dadurch für die Internationale Bauausstellung (IBA ’84 ’87) das Prinzip ›Behutsame Stadterneuerung‹ in Verfahren und baulichen Maßnahmen unter der Leitung von Hardt-Walther Hämer entwickelt und realisiert werden konnte. 1997 war es dann umso erstaunlicher, dass dieses Prinzip der integrierten verfahrens- und produktorientierten Planung bei der stolzen Veröffentlichung des »Planwerk[s] Innenstadt« durch den Berliner Senat – mit identitätsstiftenden Attributen versehen – offensichtlich vollkommen in Vergessenheit geraten war. Darauf konnte ich öffentlich nur mit Polemik antworten: Rainer W. Ernst, »Planwerk Berliner Innenstadt? Identitätsstiftende Reise«, in Der Architekt 4/97, S. 201. 12 | Heutzutage ahnen wir, dass die für uns auch mit allen zur Verfügung stehenden technischen Hilfsmitteln wahrnehmbaren Räume – vom Universum bis hin zum mikrobiotischen Biotop – ein komplexes Ganzes sind. Dies bedeutet, dass räumliche Ausschnitte aus dem ›Ganzen‹ immer Interrelationen ausblenden und daher ein derartiger Ausschnitt immer nur in Bezug auf die Orientierung, die einer Betrachtung zu Grunde liegt, begründbar ist. Dies ist, das muss auch eingeräumt werden, auch eine pragmatisch bedingte Notwendigkeit. An dieser Stelle bekommt der Raum- und Zeitbegriff von Kant (siehe Anm. 1 in der Vorbemerkung: Raum und Zeit als etwas zu definieren, was nur durch die Wahrnehmung entsteht) eine aktuelle Bedeutung. Nun gibt es räumliche Eigenschaften, die durch materielle Bedingungen aneinander gebunden sind, wie zum Beispiel in einem Gebäude oder in anderen hergestellten Orten oder Gegenständen. Die Wahrnehmung, dass durch ein Gebäude verschiedene Eigenschaften scheinbar eingefroren sind, ist die Grundlage des nach wie vor verbreiteten monumentalen Denkens. Dieses Denken verbunden mit einem Streben nach Zeitlosigkeit ist einer der großen ideologisch aufgepumpten Irrtümer im Selbstverständnis von Architekten. Natürlich beeindruckt uns die Akropolis selbst in ihrem heutigen Zustand, aber erstens war das nicht immer so – sonst sähe die Akropolis nicht so aus, wie sie heute aussieht – und zweitens ist der Eindruck von heute geprägt durch andere Gesichtspunkte
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als zu ihrer wechselvollen Entstehungszeit (es gibt auch nicht ›das Original‹) und zweitens hat der Eindruck heute vollkommen andere Wirkung auf den Umgang mit der Akropolis. Dies ist zu erwähnen, um hier nicht ein Missverständnis zu produzieren, wenn ich die Gleichzeitigkeit und Verschiedenheit von räumlichen Eigenschaften an einem Gebäude veranschauliche; es war immer erhellend, sich mit Studierenden an einen städtischen Platz zu stellen oder in die Landschaft und dann über die wahrnehmbaren Eigenschaften zu sprechen. Für Architekten ist es vordergründig plausibel, das Gebäude als Beispiel zu nehmen, weil gerade das Gebäude von Architekten oft eher auf wenige Eigenschaften reduziert reflektiert wird. Eine der ersten großen Ausnahmen war für mich das Buch von Albert Gessner, »Das Deutsche Miethaus«, München, 1909; in dieser Publikation wird zum ersten Mal in der Neuzeit das Haus anhand praktisch aller erdenklichen Gesichtspunkte diskutiert: Finanzierung, Baukonstruktion, Eigentumsverhältnisse, Fassade, Technik, rechtliche Fragen etc. Der Titel weist allerdings auch darauf hin, in welche Schieflage der zunächst der Reformarchitektur zugeordnete Architekt durch die Bewegung der Moderne in der Weimarer Republik und dann als wieder benötigte Figur im Dritten Reich kam. 13 | Ein Katalog aus verschiedenen Perspektiven des Nichterlebens, des Erlebens und der Erweiterung. Siehe Franz Xaver Baier, »Der Raum«, Köln, 2000. Grundlegende Texte zum Thema Raum aus Philosophie und Kulturwissenschaften sind zusammengestellt in Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hrsg.), »Raumtheorie«, Frankfurt a. M., 2006. Zum Raum betrachtet aus der Sicht von verschiedenen Disziplinen der Sicht siehe Stephan Günzel (Hrsg.), »Raumwissenschaften«, Frankfurt a. M., 2009. 14 | Der Bezeichnung ›Polyvalenz des Raums‹ bin ich zum ersten Mal in Arbeitsgesprächen mit Ethnologen Anfang der achtziger Jahre begegnet, insbesondere bei der Vorbereitung der Ausstellung ›living in cities‹ (siehe Abschnitt 2). Es wurden damit bezeichnet: unterschiedliche Bedeutungen von räumlichen Elementen, wie unterschiedliche Möblierung und Nutzung von Räumen je nach Jahreszeiten in den traditionellen Bürgerhäusern in der Altstadt von Aleppo, siehe Gennaro Ghirardelli/Annegret Nippa, »Aleppo: Tradition und Gegenwart einer urbanen Gesellschaft«, in Rainer W. Ernst (Hrsg.), »Stadt in Afrika, Asien und Lateinamerika«, Berlin, 1984, sowie temporäre unterschiedliche Bedeutungen von räumlichen Elementen, wie einem heiligen Baum in Siedlungsgebieten in Westafrika, der nur zu bestimmten Anlässen einen ›heiligen‹ Charakter hat und im Alltag als besonderer Baum nicht im geringsten identifizierbar ist – in einer Feldstudie mit Karlheinz Seibert im Stadtteil Bakau in Gambia entdeckt –, oder einer Straßenecke in Kathmandu, die belanglos aussieht und auch so behandelt wird, aber – nach Erzählungen von Jan Piper – zu einem Feiertag ein unantastbarer Ort wird. Für die Darstellung unterschiedlicher Bewertung von Eigenschaften des Raums übernahm ich diesen Begriff auch, um die subjekt- und zeitabhängige Relativität in der Bewertung von räumlichen Eigenschaften bzw. den Hinweis auf kulturspezifische Bewertungen/Bedeutungen beizubehalten. Der Hinweis auf temporär verschiedene Bedeutungen führte auch zu einer selbstverständlichen Erweiterung des funktionalistischen Architekturverständnisses. 15 | Ein sehr anschauliches Beispiel für Markierungen und Aktionen im öffentlichen Raum ist dokumentiert in: D. Apel/S. Chardonnet/A. Fraure/D. Frick/H. Guggen thaler/U. Kohlbrenner/F. Loiseau (Hrsg.), »Lebensraum Straße in Berlin und Paris: Ergebnisse einer Werkstatt vom 23. bis 30. September 1989«, Berlin, 1989, zweisprachig
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deutsch/französisch, im Auftrag der Senatsentwicklung und Umweltschutz in Zusammenarbeit mit der Stadt Paris, Realisation: Chr. Feireiss, Copyright: S. Konopka. 16 | Eine anregende Dokumentation zeitgenössischer Aktivitäten in diesem Sinne ist zum Beispiel in den Berichten des Laboratory of Critical Urbanism zu finden, zum Beispiel Felix Ackermann/Benjamin Cope/Miodrag Kuč (Hrsg.), »Mapping Vilnius. Transition of post-socialist urban spaces«, Vilnius, 2016. Eine Reihe von beispielhaften pädagogischen Beispielen ist dokumentiert in F. Rückert (Hrsg.), »Kunst hoch Schule: Beispiele für Kooperationsprojekte der Muthesius Kunsthochschule mit Schulen in Schleswig-Holstein«, Kiel, 2012. 17 | Zum Begriff ›Heterotopie‹ siehe Stephan Günzel (Hrsg.), »Lexikon der Raumphilosophie«, Darmstadt, 2012, S. 172, oder auch angewandt als städtebauliche Strategie in: Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen Berlin/W. Nagel/H. Stimmann (Hrsg.), »Ideenwerkstatt Marzahn«, und zwar folgende Beiträge: R. W. Ernst, »Zur Diskussion über Strategien für Marzahn – Zusammenfassung der Ergebnisse« (S. 10 ff.) und K. T. Brenner, »Heterotope Marzahn« (S. 20 ff.). 18 | Ein besonderes Beispiel zur schematischen Analyse von Prozessen ist durch das ›Laboratorio de Urbanismo de Barcelona 1976 mit »Teoria y Experiencia de la Urbanización Marginal« veröffentlicht worden. Dort wurde eine Typologie von 9 verschiedenen Abläufen der Stadtentwicklung anhand von Beispielen aus Barcelona entwickelt. Zur strukturellen Unterscheidung wurde festgestellt, dass bei unterschiedlichen Reihenfolgen der Realisation von Parzellierung, Erschließung (durch die gesamte technische Infrastruktur) und Bebauung unterschiedliche Wohnungstypologien mit unterschiedlichen Qualitäten und Folgen für die Bewohner sowie unterschiedliche Probleme auf dem Weg zur Komplettierung durch Parzellierung, Erschließung und Bebauung entstehen. Vier Typen entsprachen den damaligen Planungsgesetzen. während fünf Typen Prozessen ohne Mitwirkung der Stadtplanung entsprachen. 19 | In den Jahren 1990–93 machten mein damaliger Partner Bernd Multhaup und ich mit unserem Büro für Architektur und Planung immer wieder die Erfahrungen, dass Vorschläge für Raumprogramme mit unseren potentiellen Bauherrn abgestimmt waren – z. B. für ein Bürotel, ein Hotel mit Büros, also für Reisende, die temporär in Berlin arbeiteten, dies war gerade in der neuen Situation der Stadt als wiedervereinigte Hauptstadt dringend erforderlich – aber von den Kreditgebern als nicht marktgerecht abgelehnt wurden. Dies gilt heute wieder, da Berlin mitsamt seiner Region inzwischen zu einer geographisch deutlich wachsenden Stadt geworden ist und daher immer wieder neue Akteure anzieht. Oder der Vorschlag für selbst ausbaubare Lofts: Von Banken wurde eine Finanzierung mit der Begründung abgelehnt, dies ginge nicht am Markt. Dies betraf alle Vorschläge, die Nutzungskonzepte betrafen, welche noch nicht am Markt ausprobiert worden waren und daher nicht nachvollziehbar Renditen erzeugt hatten. Im Fall der Lofts spielte allerdings auch eine Rolle, dass der Ausbau in konventionelle Komfortwohnungen einen besonders gewinnträchtigen Teil des Immobiliengeschäfts darstellte. Was war das für eine rückwärtsgewandte Argumentation damals, die uns und einigen interessierten Investoren viel vergebliche Mühe und Aufwendungen abverlangte! 20 | Für eine systemtheoretische Annäherung an den Modellbegriff siehe: E. Brunn, »Versuch zu einem handlungs- + planungsorientierten Modellbegriff für die Raumplanung«, Dortmund, 1977 (Dissertation an der Abteilung Raumplanung der Universität Raumplanung).
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Räumliche Ressourcen 21 | Nicht nur das, was erkennbar ist, mag anders sein, sondern vor allem Zusammenhänge, die diese Andersartigkeit produzieren. Daher führt ein Erklärungsversuch von ›fremden Phänomenen‹ oder das Nichterkennen von fremden Bewertungen zu Missverständnissen oder anderen unerfreulichen Umständen, selten zum von offener Neugier getriebenen Einstieg in einen Verständigungsversuch. In dem 1979 an der Hochschule der Künste im Fachbereich Architektur geplanten Studienschwerpunkt ›Bau- und Stadtentwicklung in außereuropäischen Kulturen‹ wurde daher von mir, dem Assistenten Dr. Jo Santoso und dem Lehrbeauftragten Dr. Omar Akbar die Zusammenarbeit mit Ethnologen/Soziologen gesucht, insbesondere um die Brauchbarkeit der Methode ›teilnehmende Beobachtung‹ im Erarbeiten von Grundlagen für Stadtentwicklungsstrategien unter Berücksichtigung des lokalen sozioökonomischen Kontextes zu überprüfen. In ein dramatisches Beispiel in kleinem Maßstab wurde ich 1982/83 in Gambia als Gutachter der damaligen Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) verwickelt. Im Rahmen eines Projektes zur Erarbeitung eines Stadtentwicklungskonzeptes und dem Auf bau einer Stadtplanungsamtes wurde u. a. in dem Vorort Bakau – einem semiurbanen Ort mit ca. 1.200 Einwohnern, verteilt auf 80–120 Großfamilien/compounds, eine wichtige Lebensgrundlage war der Gartenbau und die in Verdrängung befindliche Kleinfischerei – von der Weltbank der Neubau eines Marktgebäudes vorgeschlagen. Der Ort verfügte über ein wohl aus der britischen Kolonialzeit stammendes offenes Marktgebäude umgeben von einer Vielzahl z. T. provisorisch aus Wellblech und krummen Ästen zusammengebastelter Stände. Die ökonomische FeasibilityStudie der Weltbank hatte errechnet, dass die Höhe und Finanzierung des Kredits nur durch maximal vier Marktbetreiber erwirtschaftet werden könnte. Dabei wurde übersehen, dass jede Großfamilie das traditionelle Recht auf einen Marktplatz hatte. Selbst wenn nur drei Tomaten im Stand angeboten wurden, war der Stand teilweise besetzt. Warum? Weil der Markt wichtigster Alltags-Kommunikationsort für alle Bewohner, und zwar vor allem die Frauen, war. Da die GTZ auf eine besondere Zusammenarbeit bzw. Einführung einer Arbeitsteilung zwischen Weltbank und GTZ gehofft hatte, ist diese Haltung gegen den Vorschlag der Weltbank, der sich die örtliche Regierung anschloss, als Obstruktion empfunden worden.
Hinweise auf Beispiele eigener Arbeiten zur Erweiterung des Arbeitsfeldes eines Architekten Anwendung von Methoden zur Analyse räumlicher Eigenschaften, die nicht üblicherweise zum Instrumentarium eines Architekten gehörten (in der Zeit 1970–1974)
Beispiel 1 Gleichzeitige Betrachtung und handlungsorientierte Interpretation von verschiedenen räumlichen Eigenschaften mit Hilfe der Computerkartographie (1970/71) Im Rahmen der Sanierungsplanung der Stadt Herdecke wurden R. W. Ernst und Wilhelm F. Schraeder von der Stadt beauftragt, alle Daten (vorhandene und speziell erhobene die Bevölkerung, die Nutzung und Bauweise sowie den Bauzustand der Gebäude betreffend), die als für eine Entscheidung zum weiteren Vorgehen in der Sanierungsplanung relevant galten, systematisch und kombiniert in einem Atlas in Form von Computerkarten zusammenzustellen. Dabei wurden auf der Grundlage von grundstücksbezogenen Daten, die durch kartographische Auswertungen, die Einwohnerdatei und durch spezielle Erhebungen zur Verfügung standen, folgende Themen behandelt: • Ortsbildpflege: Gibt es aus der Sicht der Denkmalpflege wichtige räumlich zusammenhängende Zonen? Grundlage war eine materielle und ideelle Bewertung jedes Gebäudes, die in vier Stufen bzw. fünf Klassen mit unterschiedlichen Empfehlungen von Abriss bis Instandsetzung zusammengefasst wurden. • Sozioökonomische Struktur: Gibt es räumlich zusammenhängende Fälle, die sich als sozialer Problembereich darstellen? Grundlage waren die Daten ›Wohnfläche pro Einwohner‹, ›Anteil der Ausländer‹, ›Anteil der über 65-jährigen‹, ›Anteil der Einpersonenhaushalte‹, ›Anteil der Vollbeschäftigten‹, ›Anteil der Arbeiter‹ und ›Gebäudezustand‹. • Fehlbestand ruhender Verkehr: Gibt es eine räumliche Konzentration des Fehlbestandes, für die gesamte Innenstadt auf 1.750 Einstellplätze geschätzt, die möglicherweise ein Parkhaus nahelegen könnte? • Bausubstanz: Wie ist um den materiellen und ideellen Gebäudezustand bestellt? Die Bauweise und die Geschossfläche wurden in vier Klassen zusammengefasst, von ›Veränderung nicht möglich‹ bis ›Veränderung ohne weiteres möglich‹.
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Aus heutiger Sicht erscheint die Visualisierung sehr grob, wichtig waren aber die inhaltlichen Auseinandersetzungen über die verschiedenen Eigenschaften. Ob die Karten tatsächlich als Referenzen für Entscheidungen dienten, ist fraglich. Sie halfen allerdings vor allem durch die Gespräche über die Bedeutung von Eigenschaften, die Komplexität der Entscheidungen zu vergrößern. Entscheidend waren letztlich die Haltungen und Absichten der verschiedenen Hauseigentümer. Sicher ist auch, dass die impliziten Wertigkeiten heute sicher anders gesetzt werden würden; gleichfalls ist zu berücksichtigen, dass ›Datenschutz‹ damals kein Thema war.
Veröffentlichungen Stadt Herdecke (Hrsg.), »Sanierung Innenstadt Herdecke, Teil 1: Bestandsaufnahme, Grundlagen, Erschließungskonzept«, Herdecke, 1971, bearbeitet durch Karl F. Gehse (beauftragter Architekt für die Sanierung), Detlef Grüneke (Planer), G. Wüster (Verkehr), Systemanalyse und Computergrafik (AG.COM, R. W. Ernst und W. F. Schraeder), Befragung (D. Aufferroth). Klaus H. Ernst/Werner Wolff, »Stadterneuerung Haussanierung«, Stuttgart, 1973, S. 19 ff. Zur Reflexion über die Methode s. a. Arbeitspapier AG.COM: Rainer W. Ernst/Wilhelm F. Schraeder, »Komputergestützte Thematische Kartografie«, Abteilung Raumplanung, Universität Dortmund, 1971. In diesem Arbeitspapier wurden anhand mehrerer eigener Beispiele die theoretischen Grundlagen der Methode reflektiert.
Hinweise auf Beispiele eigener Arbeiten
Abb. 3: AG.COM (Rainer W. Ernst und Wilhelm F. Schraeder), »Bausubstanz Innenstadt Herdecke«, in Stadt Herdecke (Hrsg.), »Sanierung Innenstadt Herdecke, Teil 1: Bestandsaufnahme, Grundlagen, Erschließungskonzept«, Herdecke, 1971. Die Computerkarte zum Thema ›Bausubstanz‹ zeigt nach einer ›Logik des Abrisses‹, bei welchen Grundstücken aus der Betrachtung der Bausubstanz (Gebäudezustand materiell, Gebäudezustand ideell, Bauweise und Geschossfläche) keine Bedenken für einen Abriss bestehen. Damit wird ein spezifisches Veränderungspotential der bestehenden räumlichen Verteilung beschrieben. Die Gebäude sind entsprechend ihrer Veränderbarkeit aus Sicht auf die Bausubstanz durch Abriss in vier Klassen, von ›Veränderbarkeit nicht möglich‹ (hell) bis ›Veränderbarkeit ohne weiteres möglich‹ (schwarz) dargestellt. Eine besondere räumliche Konzentration der Klasse 4 ist nicht feststellbar.
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Beispiel 2 Analyse von Realisierungsbedingungen für eine gewünschte/geplante räumliche Eigenschaft (1973) Anfang der siebziger Jahre fand in der offiziellen Entwicklungshilfepolitik das Thema ›Verbesserung der Wohnungsbedingungen der Ärmsten‹ allmählich Beachtung. In dem Projekt der Zusammenarbeit zwischen Brasilien und der Bundesrepublik Deutschland zum Auf bau einer Regionalplanungsinstitution für den Großraum Porto Alegre (damals ›GERM‹ genannt) wurden zum Beispiel Vorschläge für die Ausweisung von Wohnungsgebieten für diese Bevölkerungsschicht gemacht. Dies veranlasste mich, unabhängig von meiner offiziellen Arbeit, die Finanzierungsbedingungen der Nationalen Wohnungsbaubank (Banco Nacional da Habitação, BNH) des ›brasilianischen sozialen Wohnungsbau‹ kritisch zu betrachten. Die Analyse des Geldkreislaufs der BNH ergab, dass es so gut wie unmöglich war, die Finanzierung von Wohnungen für die Ärmsten unter sozialabgabenpflichtigen Bevölkerung auf diesem Weg zu realisieren. Sie zahlten zwar wie alle anderen registrierten Beschäftigten ein, ihre Einzahlungen wurden aber für die Wohnprojekte Besserverdienender eingesetzt – zu sehen an den anhand offizieller Dokumenten drei verschiedenen Einkommensklassen zugeordneten Geldströmen. Damit wurde deutlich, dass allein eine Verortung/Ausweisung von Flächen in Bezug auf die Verbesserung der Wohnungsbedingungen der unteren Einkommensschichten keinen Erfolg haben konnte. Die BNH wurde noch während der Militärdiktatur aufgelöst. Diese Arbeit ist aus Anlass meiner Mitwirkung an dem Projekt der brasilianisch-deutschen Zusammenarbeit zum Auf bau der Regionalplanungsinstitution zuständig für den Großraum Porto Alegre entstanden. Von diesem Zeitpunkt an begleitete mich einige Jahre die Suche nach Realisierungswegen für Projekte zur Verbesserung der Wohnsituation der von den offiziellen Märkten ausgeschlossenen Bevölkerung (s. a. Kapitel 2, Beispiele). Für einen zusätzlichen Gesichtspunkt zum Thema ›Polyvalenz von räumlichen Eigenschaften‹ kann aus dieser Projektarbeit ein weiteres Beispiel (siehe Beispiel 3) entnommen werden. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang, dass dieses Projekt der Zusammenarbeit als Modellfall für die später deklarierten Metropolregionen in Brasilien galt. Daher wurde die Zusammenarbeit zum Thema ›Großraumplanung in Brasilien‹ auf der Ebenen der bundesstaatlichen Ebene mit dem Folgeprojekt CNDU (Conselho Nacional de Desenvolvimento Urbano, »Nationaler Stadtentwicklungsrat«) in Form einer Beratung der brasilianischen Bundesregierung fortgesetzt.
Veröffentlicht in Rainer W. Ernst und Wilhelm F. Schraeder, »Regionalplanung in Entwicklungsländern: Bericht über ein deutsch-brasilianisches Projekt«, in Stadtbauwelt 40, 1973, S. 316 ff. Weitere Materialien sind im eigenen Archiv sowie im Archiv der dpu und GIZ vorhanden.
Hinweise auf Beispiele eigener Arbeiten
Abb. 4: R. W. Ernst, Schema der Finanzierung der BNH (Geldbeträge sind in Cruzeiros [CRZ], der damaligen Währung, beschrieben), aus oben erwähnter Veröffentlichung in der Bauwelt, 1973. Die aus unterschiedlichen Geschäftsberichten und staatlichen Veröffentlichungen zusammengetragene und zu einem Geldkreislauf zusammenmontierten Zahlen über Finzierungsquellen (Input) und Finanzierungszuwendungen (Output) der BNH zeigen deutlich, dass die Bank keinerlei Finanzierung von Wohnungen für die ärmsten Sozialbeitragspflichtigen (also die nicht ständig Beschäftigten) zustande brachte, aber auch, dass das Finanzierungssystem eine Umverteilung der eingezahlten Mittel zu Gunsten der Besserverdienenden zur Folge hatte. Die BNH wurde noch vor dem Ende der Militärdiktatur in Brasilien Ende der siebziger Jahre abgeschafft. Was dann mit den eingesparten Beiträgen erfolgte und wie das aktuelle Wohnkreditsystem ausgelegt ist, entzieht sich meiner momentanen Kenntnis. Die Veröffentlichung in der Bauwelt hat für mich lediglich zu einem Einreiseverbot durch die Militärdiktatur ab Anfang 1974 geführt, das erst Anfang 1981 wieder aufgehoben wurde.
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Beispiel 3 Bewertung alternativer räumlicher Entwicklungskonzepte mit Hilfe der Nutzwertanalyse. Ein Versuch, polyvalente räumliche Eigenschaften für den Entscheidungsprozess zusammenzufassen (1973) Ein Kern der deutsch-brasilianischen Zusammenarbeit zum Auf bau einer Planungsbehörde für den Großraum Porto Alegre war die Erarbeitung eines räumlichen Entwicklungsplanes. Dazu wurden neun alternative räumliche Verteilungskonzepte (räumliche Verteilung der Flächen für Wohnen, Arbeiten und Dienstleistungen sowie andere Funktionen) entwickelt und dargestellt. Bewertungskriterien unter verschiedenen Gesichtspunkten wurden verabredet. Damit versuchte man, der Komplexität dieser vereinfachten räumlichen Bilanz für eine zukünftige Entwicklung gerecht zu werden. Eine polyvalente Bewertung sollte durch die Anwendung der Nutzwertanalyse deutlich und nachvollziehbar gemacht werden. Die Polyvalenz (Bewertung unter verschiedenen Gesichtspunkten und aus unterschiedlichen Perspektiven) wurde aber im Bericht nicht mehr deutlich, da die Bewertungen durch einen vom Team gemeinsam festgelegten Algorithmus zu einer einzigen Bewertung aufsummiert wurden und die Bewertungen aus verschiedenen Perspektiven bzw. Interessen damit in der Gesamtheit verschwanden. Das Lowry-Modell wurde benutzt, um für die neun verschiedenen räumlichen Verteilungsmuster jeweils ein relatives räumliches Gleichgewicht zwischen räumlicher Verteilung von Arbeitsplätzen, Dienstleistungsorten und Wohnorten und entsprechenden Verkehrsströmen zu ermitteln. Unter diesen Gesichtspunkten können die jeweils ausgewogenen Verteilungen als Suboptimum der jeweiligen Alternativen verstanden werden und diese wurden Gegenstand einer bewertenden Analyse unter einer Reihe anderer Gesichtspunkte. Das Lowry-Modell, ursprünglich als Optimierungsmodell konzipiert, wurde hiermit in ein Impact-AnalyseModell transformiert. Es wurde also nicht die Komplexität reduziert, um durch das Computerprogramm eine Entscheidung simuliert zu erhalten (ähnlich wie bei der Anwendung durch die Nutzwertanalyse, siehe Beispiel 3), sondern durch eine nachvollziehbar gestaltete Erweiterung der Komplexität (siehe auch Anmerkung 16).
Veröffentlichungen Berichte zum Abschluss der ersten Phase (1971–1973) des Projektes »Großraum Porto Alegre – Rio Grande do Sul/Brasilien«, veröffentlicht 1973 durch die Bundesstelle für Entwicklungshilfe (Vorgängerinstitution der GTZ) und verfasst durch die brasilianische Institution GERM (Grupo Executivo da Região Metropolitana Porto Alegre) und die dpu (Deutsche Projekt Union GmbH, Planer Ingenieure Essen) in Zusammenarbeit mit Deutsche Eisenbahn Consulting GmbH. Folgende Bände insbesondere: »Zusammenfassung«, »Dokumentation 13: Anwendung des LOWRY-Modells als Impact-Analyse alternativer räumlicher Leitbilder« und »Dokumentation 14: Anwendung der Nutzwertanalyse bei der Auswahl der räumlichen Leitbilder«.
Hinweise auf Beispiele eigener Arbeiten
Abb. 5: BfE/GERM/dpu, »Apresentação esquemática das nove alternativas de distribuição espacial (output)«, »Schematische Darstellung der neun alternativen räumlichen Leitbilder (Output)«, Porto Alegre/Eschborn/Essen, 1973. Die schematisch dargestellten neun Alternativen stellen die räumliche Verteilungen der Bevölkerung, der Arbeitsplätze, der Dienstleistungsattraktivitäten und der jeweils dazu passenden Hauptverkehrsverbindungen dar. Die Alternativen sind durch das angewandte Modell (siehe Anmerkung 4) jeweils durch Iteration in ein Gleichgewicht gerechnet worden, daher Output. Die neun so ermittelten Alternativen wurden dann durch Anwendung der ›Nutzwertanalyse‹ unter den Gesichtspunkten Industrie, Wohnen, Dienstleistung, Landwirtschaft und Verkehr bewertet und erhielten damit eine Gesamtpunktzahl. Dieses Ergebnis sollte dazu dienen, eine fachlich fundierte und politisch transparente Diskussion für alle Beteiligten zu ermöglichen.
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Beispiel 4 Systematische Analyse von räumlichen Eigenschaften, die bis zu dieser Zeit nur schematisch gedacht werden konnten. Die Auswirkung von Maßnahmen zur Änderung der räumlichen Verteilung auf den Transportaufwand der Bevölkerung der Stadt Bochum durch eine polyvalent differenzierte Erreichbarkeitsanalyse (1974/75) Es wurde durch das für die Stadtverwaltung Bochum in Zusammenarbeit mit dem damaligen Informatikstudenten Siegfried Stein und dem Planungsamt, Abteilung Stadtentwicklung entwickelte Computerprogramm möglich, den Raumüberwindungsaufwand der Bevölkerung dieser Stadt bei verschiedenen Maßnahmen den Verkehr (per IndV, ÖPNV und zu Fuß), und die Standorte für Wohnungen, Dienstleistungseinrichtungen (etwa Parks, Schulen oder Handelseinrichtungen) und Arbeitsplätzen betreffend in quantifizierter Form vergleichbar – auf der Grundlage von Algorithmen, die Ergebnisse von einer Vielfalt verschiedener statistischer Untersuchen in der ganzen Bundesrepublik widerspiegelten – zu prognostizieren. Aufsummiert für 10 Jahre und die gesamte Bevölkerung betreffend kamen volkswirtschaftlich erschreckend relevante Beträge zusammen. Das Ausmaß der von der Bevölkerung zu tragenden Transportaufwendungen wurde erst durch diese Aufsummierung deutlich. Es gelang, die Stadtverwaltung und den Bürgermeister zu überzeugen, dass diese Methode zur Überprüfung des Raumüberwindungsaufwandes bei Entscheidungen über entsprechende Maßnahmen routinemäßig angewandt werden sollte. Dieses Beispiel steht für eine Methode zur Quantifizierung einer räumlichen Eigenschaft, die die Bevölkerung in ihrem Alltag vor allem langfristig betrifft und bislang nicht dargestellt wurde. Nach einigen Jahren der Anwendung dieser Methode in der Stadtverwaltung Bochum sind das Programm und auch die Ergebnisse nicht mehr auffindbar. Die auf der Seite der Stadt beteiligten Personen sind längst nicht mehr im Amt bzw. leben auch nicht mehr. Das Thema ›Raumüberwindungsaufwand‹ der Wohnbevölkerung könnte gerade im Zusammenhang mit den Themen Verdichtung, Gentrifizierung, Standorte für den sozialen Wohnungsbau etc. wieder relevant werden. Es ist auf Grund der heute verfügbaren Computertechnologie denkbar, dass im Zusammenhang der von mir empfohlenen ›kommunalen räumlichen Bilanzen‹ (siehe Abschnitt 3 und Ausblick) dieses Thema in neuer Form aufgegriffen werden sollte und könnte.
Veröffentlichungen Stadt Bochum, Planungsamt, Abt. Stadtentwicklung/Rainer W. Ernst, »Erreichbarkeitsanalyse ein Beitrag zur Teilautomation der Planung, Band 1: Methode«, Bochum, 1975. Rainer W. Ernst/S. Stein, »Zur praktischen Anwendung einer Erreichbarkeitsanalyse: Bericht über ein mit dem Stadtplanungsamt Bochum entwickeltes Konzept«, in Ekkehard Brunn/Gerhard Fehl (Hrsg.), »Systemtheorie und Systemtechnik der Raumplanung«, Basel, 1976.
Hinweise auf Beispiele eigener Arbeiten
Abb. 6: R. W. Ernst, Flussdiagramm für den Arbeitsablauf, siehe Veröffentlichung der Stadt Bochum, 1975. Die Abbildung 24 zeigt, dass der Input in die Berechnung des Transportaufwandes der Bevölkerung immer als Maßnahme die Veränderung der räumlichen Verteilung der Bevölkerung, der Verkehrsstruktur und der Standorte von den verschiedenen ausgewählten Einrichtungen betreffend (Zielorte der Bevölkerung) eingegeben werden musste und damit die möglichen Auswirkungen auf den Transportaufwand der Bevölkerung ermittelt wurden. Die ersten Berechnungen ergaben, dass zum Beispiel das von der damaligen Regierung des Landes NRW vorgegebene Standortprogramm bei strikter Realisierung für die Bevölkerung von Bochum einen Transportmehraufwand, aufgerechnet auf 10 Jahre, in Höhe von mehr als 10 Mio. DM bedeutet hätte.
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Abb. 7: R. W. Ernst, typisches Flussdiagramm von Modell 2, Teil 1, siehe Veröffentlichung der Stadt Bochum, 1975. Die Abbildung zeigt die Logik des angewandten Grundmodells.
2 global – lokal
Der Widerspruch zwischen Globalisierung und räumlich-kulturellen Differenzen
Die Welt rückt mehr und mehr zusammen.1 Als Globalisierung2 wird dieser Prozess bezeichnet, der von einer gewünschten, aber auch unbändig erscheinenden Wirtschaftsdynamik getragen wird, begleitet von einer im Vergleich zum globalen Bevölkerungswachstum extrem unverschämten und stetig wachsenden Konzentration der global vorhandenen und geschaffenen materiellen Werte in der Hand einer überschaubaren Zahl von Personen. Diese ›Erfolge‹ global organisierter Wertschöpfungs- und Wertabschöpfungsstrategien sind bestimmt von zwei sich widersprechenden Bedingungen: Einerseits werden für die globale Aktionsfähigkeit verlässliche, quasi-transparente und weitgehend ähnliche Bedingungen für die weltweite Produktion, Vermarktung und Kommunikation benötigt, andererseits sind es gerade die Unterschiede, die Ungleichzeitigkeit und die wegen fehlender Transparenz nur durch besondere Beziehungen erzielbaren Bedingungen, die Grundlage für besondere Wettbewerbsvorteile sind. Allseits bekannt dürfte durch die globale Medienpräsenz die Tatsache sein, dass im ›postkolonialen Zeitalter‹ die Lebensbedingungen auf der Erde vielfältig und umfassend von Globalisierungsphänomenen durchdrungen sind bzw. dass die die Lebensbedingungen im als urbanisiert geltenden Raum betreffenden Prozesse in diesen Zusammenhang gebracht werden. Bei der Überprüfung, welche Phänomene inzwischen im Zusammenhang der Globalisierung gesehen werden können bzw. müssen, bemerken wir, dass alle Lebens- und Arbeitsbereiche dazu gehören; eine vollständige Liste erlaubt die rasante Entwicklung nicht. Insbesondere werden zur Zeit folgende Inhalte der weltumspannenden vernetzten und für die Globalisierung typischen Prozesse immer wieder benannt: Kapitalflüsse, Waffen- und Drogenhandel, militante Aggressionen und Kontrollsysteme, Geheimdienste, Regeln des Währungstausches und Steuerschlupflöcher, terroristische Aktionen, die Vermischung von Diplomatie und internationaler Korruption, friedensstiftende Bemühungen und die weltweit wachsenden Flüchtlingsströme, Waren-, Rohstoff- und Energiehandel, die gängige Durchmischung von Propaganda und Nachrichten mit ›Fake-News‹ und der Produktion globaler Ikonen sowie all die Aktivitäten von Rohstoff-, Technologie-, Kommunikations-, Bildungs-, Klima- und Umweltkartellen bzw. Aktivitäten, die auf globale Gültigkeit abzielen. All dies Prozesse werden von Bemühungen begleitet, die gleichen oder ähnliche Bedingungen durch Vertrags- und Handelsrecht zu erreichen. Das
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soll zum Beispiel in den seit vielen Jahren andauernden Verhandlungen über TTIP und CETA durch freie Handelsbedingungen geregelt und durch überstaatliche und staatsunabhängige Schiedsgerichte durchgesetzt werden.3 Ferner gehört dazu, für global zu geltende Menschenrechte mit internationalem Gerichtshof zu werben, überall demokratische Legitimationen und eine Angleichung staatlicher Finanzierungssysteme trotz weltweit offensichtlich zunehmender Staatsgrenzen überschreitender Gewaltbereitschaft zu erwirken. Auch die weltweit verstreuten Recyclingbemühungen und Mülldeponiegepflogenheiten sowie die vernetzten Globalisierungsgegner gehören dazu. Mit Globalisierung wird auch die Vereinheitlichung der Produkte für den Alltag auf der ganzen Welt bezeichnet: Die gleichen Konsumwaren wie Autos, Kühlschränke, Rasierapparate, Haartrockner, Toaster etc., die gleichen Lebensbedingungen für die global agierenden Globalisierungsagenten und ihre Gegner in Form der überall gleichen Hotelzimmer, Bankschalter, Flughäfen, Restaurants, Vergnügungseinrichtungen, Kreditkarten, die gleichen Mittel für die Freizeit, für Animation, Körper- und Bewegungskult, Pornographie, Kino, Vergnügungsparks, der gleichen Services für gehobene Lebensbedingungen, Prostitution und so weiter und so fort. Vereinheitlichungen über alles, alles gleich, für alle gleich – der Markt muss überall die gleichen Produkte anbieten, damit diese Gleichheit erreicht werden kann. So die Propaganda. In den Supermärkten weltweit – ob in Dakar, São Paulo, Berlin, New York, Johannesburg oder Kairo – stehen die gleichen Waren, in gleichen Verpackungen und in gleichen Regalen. Eine Konsum-Individualisierung soll durch individuelles ›sampling‹ – für diejenigen, die es sich leisten können – möglich sein. Hinzu kommen außerdem Probleme, die aus gegenwärtiger Sicht überhaupt nicht kontrollierbar sind bzw. in ihrer räumlichen Ausbreitung bzw. Wirkung kaum kontrollierbar erscheinen, wie die punktuell aus der Kontrolle geratene Verseuchung durch Radioaktivität, durch Krankheitserreger und durch andere Desiderate menschlicher Aktivitäten wie die Vermüllung der Meere und ihre bedrohliche Übersäuerung; oder der unvermindert rasante Abbau von Wäldern; oder die vehemente Verringerung der Artenvielfalt; oder auch die gemessene Erderwärmung sowie die entsprechende Klimaänderungen und die damit möglicherweise im Zusammenhang stehenden Naturkatastrophen, zumindest jene, die klimaabhängig sind und natürlich auch die vermuteten und für Propagandazwecke eingesetzten Projektionen von solchen Katastrophen. Neben der Beobachtung, dass sich alle Eigenschaften, die unser alltägliches Leben und Arbeiten charakterisieren, aus globaler Perspektive ähnlicher zu werden scheinen, ist heute die Tatsache beunruhigend für uns, dass die Wertschöpfungsprozesse der internationalen Akteure sich längst von den nationalstaatlichen Fesseln befreit haben und es dadurch zur Zeit keine politisch legitimierte staatenübergreifende Kontrollinstitution für das international herumvagabundierende Kapital gibt. Die Unzufriedenheit mit diesen Entwicklungen drückt sich z. B. in Europa in einer anderen bedrohlichen Tendenz aus: dem offensichtlichen politischen Erfolg von populistisch agierenden Parteien, nationalstaatliche Abgrenzungen zu propagieren. Diesem absurden Glauben an die Macht nationalstaatlicher Möglichkeit stehen international nur langsam wachsende Überlegungen gegenüber, z. B. die Steuerschlupflöcher zumindest einzudämmen. Die auf eine international abgestimmte und wirksame Regulierung abzielenden Diskussionen finden angesichts der dynamischen Konzentration von Werten in wenigen Händen im Schnecken-
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tempo statt. Mit den im Geheimen durchgeführten Verhandlungen über Freihandelsabkommen wird ein überstaatliches Agieren vorgetäuscht, das letztlich jedoch nur durch privatisierte Schiedsgerichte die Einhaltung der im Vertrag verabredeten Regelungen kontrollieren und über eine weitgehend staatsunabhängige Sanktionsgewalt verfügen soll. Welch Absurdität! In der Realität sind Wertabschöpfungsprozesse durch einzelne Personen bzw. einzelne Institutionen in nie gekanntem Ausmaß unkontrolliert möglich und die individuellen Gewinnaneignungen wunderbar versteckbar. Dazu sind Differenzen der Produktionsbedingungen und Verwertungsbedingungen willkommen: Die Richtung und Stärke der Geldstaubsauger ordnet sich kaum politischen Programmen von Nationalstaaten unter, sondern nutzt sie höchstens. Krasse Beispiele aus den 2010er Jahren sind die Spekulation mit Staatsanleihen, die juristisch gedeckelte Eintreibung sittenwidriger Gewinne gegen Nationalstaaten, die unterschiedlich nützlichen Funktionsweisen des Handels mit Öl in den die Lebenswelt von Millionen Menschen zerstörenden Kriegen im Irak und in Syrien oder auch die genannten Verhandlungen zu TTIP. Angesichts all dieser Beobachtungen kann nur mit Entsetzen die erbärmliche Naivität einiger europäischer Politiker konstatiert werden, die meinen, die aufkommenden Probleme mit nationalstaatlicher Autorität regeln zu können – als ob die Erinnerung an die nationalstaatlich begründeten Ursachen der beiden Weltkriege vergessen wäre. Die Vereinten Nationen (UN) sind zwar immerhin ein politisches Organ der Weltgemeinschaft zur Erreichung von universellen Menschenrechten, Handelsabkommen, Kultur- und Schutzprogrammen, funktionieren aber überwiegend nur als Rettungsanker für Friedensbemühungen oder als Hilfsorganisation zur Bewältigung von Katastrophen aller Art. Daher wirken sie sehr oft wie ein zahnund tatzenloser Tiger – eher symptombegrenzend als vorbeugend, wenn auch ohne Zweifel eine Vielzahl humanitärer Wirkungen erzielt wurden. Auf eines der typischen Umweltthemen und auf das Thema, worauf sich eigentlich der Wohlstand in den Industrieländern gründet, sei exemplarisch mit Sondertext 3: ›Öl‹ hingewiesen.4 Es lohnt sich aber trotz der unübersichtlichen Vielzahl unterschiedlicher Prozesse, die im großen Ganzen auf eine überstaatliche Vereinheitlichung von Politik, Wirtschaft, Handel, Kultur und Klima abzielen, und trotz der fragwürdigen Renaissance nationalstaatlichem Gedankengut entspringender Propaganda, die verborgenen, aber vehementen ökonomischen Interessen an den gesellschaftlichen Differenzen näher zu betrachten. In klassischen ökonomischen Theorien wird dieses Interesse an Unterschieden von Verwertungsbedingungen manifest durch den Begriff der ›Differenzialrente‹ bei Marx (gemeint sind die durch unterschiedliche Produktionsbedingungen bedingten Unterschiede von Erträgen bei der Erzeugung der gleichen landwirtschaftlichen Produkte an verschiedenen Orten) und die Begriffe ›komparative Kostenvorteile‹ (gemeint sind die bei Allokationsentscheidungen von Produktionsanlagen feststellbaren hypothetischen Unterschiede der Produktionskosten an den verschiedenen in Frage kommenden Standorten) sowie ›Opportunitätskosten‹ (die Kosten, die durch entgangene oder mögliche Gelegenheiten nicht eingespart wurden oder werden), beide Begriffe aus der konventionellen Betriebswirtschaftslehre. In der Ideologie der ›freien Marktwirtschaft‹ sollen gerade die Wirkungen dieser Unterschiede oder auch der Missbrauch derselben durch den freien Markt aufgehoben werden und zum allgemeinen Nutzen füh-
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Sondertext 3
Songtext Öl 4
Öl, dieser teuflische Stoff, Der den Stahl zum Gleiten bringt, Der das Gefieder, den Pelz, das Fell, die Haut und das Gewebe tödlich verklebt, Der uns hilft, uns in taumelnden Geschwindigkeiten zu bewegen, Der in verschieden verwandelter Form aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken ist, Der die Tanker wie aufgescheuchte Hühner unentwegt durch die Meere der Welt fahren lässt, Der die Bewegungen von Armeen beschleunigt, Dessen Preis weltweit nie unbemerkt bleibt, Dessen Verbrauch uns ungeheuerliche Bequemlichkeiten erlaubt Der aber auch uns die Luft zum Atmen schleichend nimmt, Dessen aufdringlicher Gestank in alle Poren dringen kann, Den man aus unbekannten Tiefen der Erde herauspumpt, Und der uns als Altöl hoffnungslos macht aber als Fläche höllische Spiegelungen erlaubt. Oh Öl, dieser teuflische Stoff …
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ren. Dies frei nach der Adam Smith (dem Vater der Ideologie der freien Marktwirtschaft) zugeschriebenen Behauptung, dass die Kräfte des freien Marktes dafür sorgen werden, dass der freie Markt alles zum Guten wenden wird (»private vices become public benefits«). Welch irreführende Behauptung über die ›göttlich‹ anmutende Fähigkeit des freien Marktes, die von Goethe mit Mephistos Selbstauskunft »Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft«5 aufgenommen wurde. Da wir sicher sein können, dass dieser Transformationsprozess nicht von alleine stattfindet, da es die postulierte Konsumentensouveränität ja nicht gibt bzw. im internationalen Rahmen Reaktionen der Konsumenten nochmals zusätzlich verzögert werden, weist dies auch auf die Notwendigkeit hin, mit demokratischen Strukturen die Freiheiten des Eigennutzes, des Stärkeren bzw. des privaten Eigentümers wenigstens zu kontrollieren. Zur Illustration des genannten Widerspruchs fällt mir ein Beispiel der Mitte der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts ein. Damals wurde kolportiert, dass der Konzern Ford eine Doktrin an seine Manager erlassen habe, dass jedes Produktteil eines von Ford hergestellten Kraftfahrzeuges in zwei verschiedenen Ländern mit möglichst unterschiedlichen politischen Bedingungen hergestellt werden soll.6 Diese darin steckende politische Vorstellung – die Produktion des Konzerns unabhängig von politischen Entwicklungen besser absichern und einzelne Länder in der Verhandlung um besondere Produktionsbedingungen leichter gegeneinander ausspielen zu können – war wahrscheinlich durch die zweifelhaften Erfolge der CIA bei der Etablierung von Militärdiktaturen in Lateinamerika und, beginnend, auch Afrika animiert worden. Oder umgekehrt: Die geheimdienstlichen Interventionen wurden durch die entsprechenden Lobbygruppen animiert. Damit wird aber auch das Dilemma zwischen Vereinheitlichungs- und Differenzierungsinteressen der globalen Akteure deutlich. Die Verlagerung von Produktionsprozessen wird durch das mit digitaler Schnelligkeit global herumvagabundierende Kapital unterstützt und erreicht immer wieder Orte, wo höhere Renditen für einen Produktionsprozess zu erwarten sind und verlässt Orte, die dies nicht mehr zu gewährleisten scheinen – oft mit fatalen Auswirkungen für diese Orte. Da die diese Entscheidungen beeinflussenden Faktoren jedoch sich ebenfalls ändern – z. B. durch Proteste in den asiatischen Textilproduktionszentren – sind Entscheidungen über den Abbau von Produktionsbedingungen oft vorschnell. So kann heute die weitgehende Vernichtung von Einrichtungen der Textil- und Keramikproduktion in der Bundesrepublik als fataler Fehler gesehen werden. Im Gegensatz dazu steht zum Beispiel der Erfolg der aus den Garagen geholten modernisierbaren Webstühle von Kleinproduzenten in Oberitalien. Als Nebenbemerkung mein wesentliches Tätigkeitsfeld an den Kunsthochschulen betreffend sei angemerkt, dass die weitgehende Vernichtung der Textil- und Keramikproduktion in Deutschland Folgen hatte bis hin zu den Profilen von Kunsthochschulen (z. B. durch Aufgabe von einzelnen Studiengängen wie Keramik an den deutschen Kunsthochschulen). An diesem Beispiel ist auch zu bemerken, welche Schwierigkeiten einer Korrektur dieser Entscheidungen entgegenstehen, sind etablierte Produktionsprozesse doch komplex vernetzt. Die Entfernung eines Bausteins aus einem komplexen System hat immer auch Implikationen für andere Bausteine. Diese Auswirkungen standen zwar möglicherweise nicht im Begründungszusammenhang für die Entscheidung der Entfernung eines Bausteins, schaffen aber unter Umständen irreversible Tatsachen in anderen nicht direkt von der Entscheidung betroffenen Bereichen.
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In der internationalen Zusammenarbeit sind immer noch gedankliche Spuren kolonialer Konzepte wirksam, die den beschriebenen Handlungswiderspruch globaler Akteure durch vereinfachte Klassifikationen der Staaten der Welt verschleiern. Die von den marxistischen und neoliberalen Entwicklungsideologen behauptete weltweit gültige lineare Entwicklung und die damit behaupteten genealogischen Beziehungen aller gleichzeitig vorhandenen Entwicklungssituationen hat sich längst als pure Ideologie erwiesen. Bis heute ist aber die daraus abgeleitete Doktrin der Klassifikation von Staaten nach ihrem ›Entwicklungsstand‹, natürlich auch geprägt durch den Kalten Krieg, offiziell nicht revidiert. Die Begriffe ›Entwicklungsländer‹ und ›Entwicklungshilfe‹ wurden zwar spätestens mit dem Fall der Mauer und der Beendigung des Kalten Kriegs beerdigt und durch die Begriffe ›in Entwicklung befindliche Länder‹ und ›Entwicklungszusammenarbeit‹ ersetzt, eine Klassifikation der Länder der Erde nach Stufen dieser linearen Entwicklungsmodelle ist jedoch in der internationalen Wirtschaftspolitik nach wie vor implizit geläufig (im noch gebräuchlichen Begriff ›Schwellenländer‹ wird dies deutlich). In der von Architekten geführten Debatte um die Stadt der Zukunft hat sich schon in in den zwanziger Jahren (damals vor allem durch die Organisation bzw. Kongresse CIAM7) ein selbstverständlicher ›Internationalismus‹ herausgebildet, der nach dem zweiten Weltkrieg in Berlin (West) vor allem in der internationalen Bauausstellung ›Interbau‹ 1957 ihren Ausdruck fand und in der Vorbereitung der ›Internationalen Bauausstellung Berlin‹ (IBA ’84 ’87) eine große Rolle spielte, bis diese Auffassung letztlich durch die Debatte um die ›Postmoderne‹ und die ›behutsame Stadterneuerung‹ modifiziert wurde. Mit dem Hinweis auf zwei Studien aus den Jahren 1979/80 kann belegt werden, dass gerade in der Entwicklungszusammenarbeit sich die Auffassung, international gültige Normen für die Stadtentwicklung seien möglich und notwendig, hartnäckig gehalten hatte.8 Die erfolgten Exporte der ›Moderne‹9 wurden zwar kritisch betrachtet, aber dennoch wurden weiterhin, insbesondere nach dem Fall der Mauer, Stadtvorstellungen unkritisch als allgemeingültig behauptet und verkauft. Bemerkenswert dazu ist, dass es eine Reihe von international tätigen Architekten gibt, die es vermögen, kontextbezogen zu arbeiten, also auf die spezifischen Bedingungen eines Ortes und dessen Bewohner einzugehen.10 Neuerdings wird sogar der Begriff ›Entwicklungsländer‹ wieder unkommentiert verwendet. Dem steht entgegen, dass es nach wie vor auf der Welt Lebens- und Arbeitsformen gibt, die nicht nur als eine Stufe der europäischen Entwicklung zu begreifen sind. Betrachtet man zum Beispiel die aktuelle sozioökonomische Struktur der Bevölkerung Brasiliens, die als Erbe des europäischen Kolonialismus begriffen werden muss, so ist diese in ihrer heutigen Form nicht als Transformation nach dem Muster europäischer Entwicklungslinien einer von Europa importierten Klassenstruktur verstehbar. Nach UN-Statistik hätte die Hälfte der Bevölkerung schon vor 20 Jahren verhungern müssen; dies ist nicht geschehen, da ein informelles Nützlichkeitsnetz, durchdrungen von Strukturen der Schattenwirtschaft unterschiedlichster Art bis hin zu kriminell operierenden Netzwerken die brasilianische Gesellschaft prägt und die Überlebenschancen aller – wenn auch in drastisch unterschiedlicher Form – verbessert. Dies ist auch ein Grund dafür, dass die als links oder sozialistisch bezeichnete bzw. gewerkschaftlich orientierte Regierungspartei PT der Präsidentin Brasiliens, Dilma Rousseff, für die Verbesserung der Lebensbedingungen des ärmeren und verarmenden Teils der Bevölkerung des Landes kein greifendes politisches Konzept fand. Am Ende des Feudalismus in
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Europa waren Strukturen wie in Brasilien nicht signifikant und wurden durch die Industrialisierung nicht hervorgebracht. Die damals entstandenen Elendsstrukturen hatten andere Eigenschaften, den Betroffenen standen Handlungsmöglichkeiten wie in Brasilien nicht zur Verfügung. Die in Europa entstandene sogenannte ›Überschussbevölkerung‹ (z. B. im 19. Jahrhundert auf ca. 10 % der Bevölkerung Mitteleuropas geschätzt) war, wenn sie nicht verhungern wollte, gezwungen auszuwandern und konnte dies auch. Daher verfügt Europa z. B. über keinerlei eigene Erfahrungen mit Strategien zum Abbau dieser Art drastischer sozioökonomischer Unterschiede, die aber ein Überleben aller ermöglichen, wie das Beispiel Brasilien zeigt. An vier Beispielen einzelner Familien konnte ich die Vielfalt, Komplexität und Kreativität von Überlebensstrategien der ärmeren Bevölkerung in Brasilien konkret studieren (siehe Sondertext 4: ›Umdeutungen des Raums als Teil von Überlebensstrategien‹). Dabei fiel unter anderem auf, dass allein durch Umdeutungen von räumlich-sozialen Elementen sich für die Betroffenen Perspektiven eröffneten, die für diese selbstverständlich, notwendig und nützlich sind, aber aus einer europäischen Perspektive sofort zur Feststellung von Fehlern, Gesetzesübertretungen oder schlicht zur Unmöglichkeit, die Sachverhalte einzuordnen oder zu kategorisieren, führen würde.11 Blickt man nun vor diesem Hintergrund auf die Strukturen der Städte der Welt, so ist festzustellen, dass die aktuellen gesellschaftlichen und baulich-räumlichen Strukturen der Städte in Afrika, Asien und Lateinamerika heterogen sind; heute würde man dies euphemistisch als ›hybrid‹ bezeichnen. Diese Heterogenität setzt sich zusammen aus Elementen der verschiedenen Phasen der mehr oder weniger linearen europäischen Entwicklung und des Exports dieser Elemente in verschiedenen Phasen der Weltgeschichte, aber auch aus Elementen nichteuropäischer Kulturen, die kaum oder gar nicht in einer genealogischen Beziehung zur europäischen Entwicklung stehen.12 Immer wieder gab es und gibt es gerade in Europa aufs Neue Versuche auf lokaler Ebene, ›informelle‹ Strukturen zu unterstützen, zu konzeptionieren und zu realisieren, die eine möglichst weitgehende Selbstbestimmung der Gestaltung von Arbeits- und Lebensbedingungen ermöglichen sollen. Von ›Hilfe zur Selbsthilfe‹ ist dann die Rede. Die Heterogenität der allgemeinen Bedingungen, zu denen durch paradoxe und widersprüchliche Interessen geförderte Unsicherheit, Ungeduld und Gewaltbereitschaft zählen, öffnet jedoch in den Köpfen der Menschen Tore für Wahrheitsdogmatiken, die meist mehr und mehr religiös verbrämt daherkommen – Wahrheitsdogmen, die sich zur Legitimation von diktatorisch bzw. faschistisch und/oder religiös geprägten Herrschaftsstrukturen als brauchbar erweisen. Nicht nur die menschlichen Opfer zum Beispiel der gewalttätigen Auseinandersetzungen im sogenannten ›Nahen Osten‹ sind als schmerzhafter, nicht zu akzeptierender Verlust anzusehen, sondern auch die baulich-räumliche und kulturell-soziale, irreversible Vernichtung von über Jahrhunderte gewachsenen urbanen Koexistenzkulturen, wie zum Beispiel im syrischen Bürgerkrieg mit multinationaler Beteiligung. In der Zerstörung gar nach nationalsozialistischem Vorbild einen Modernisierungsvorteil für spätere Zeiten zu sehen oder die Chance, Wertvorstellungen, die im Widerspruch zur Realität stehen, durchzusetzen, ist mehr als zynisch. Diese Sichtweise widerspricht grundsätzlich der Menschenrechtscharta der UN, aber wen kümmert dies? Und wie ist es zu erklären, dass alle Bemühungen der UN so lange gedauert haben, bis schließlich erst Anfang 2017 der lange an-
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Sondertext 4
Umdeutungen des Raums als Teil von Überlebensstrategien 11 Vier Fallbeispiele aus Salvador da Bahia de Todos os Santos (Brasilien), 1990–1993
Baracke
wird zu
am 40 km langen Stadtstrand zur Versorgung der Strandbesucher mit Gasund Wasseranschluss.
Baulücke in einem Apartmenthausviertel (Hochhäuser mit Tiefgaragen), schwer bebaubar und teilweise mit 4–5 Wohnbaracken illegal bebaut.
Wohnzimmer der drei Generationen umfassenden Großfamilie mit ca. 40 Personen Kinder machen dort Schularbeiten Familie trifft sich dort etc. Übernachten ist verboten. Die Großfamilie gab ihr Einkommen für die Busfahrt zu den selbstgebastelten Schlafhütten am Stadtrand aus.
wird zu
Reparaturplatz von dem die ca. 50 Bewohner der Minifavela leben. An dem Reparaturplatz für die PKW der Apartmenthausbewohner arbeiten 2–4 Personen, teilweise auch auf der Straße. In einer Minibaracke sind die Werkzeuge und die Schlüssel der Garagen.
Der Widerspruch zwischen Globalisierung und räumlich-kulturellen Dif ferenzen
Hausflur
wird zur
eines heruntergekommenen Hinterhauses im historischen Zentrum.
Ruine im historischen Zentrum in Nachbarschaft des DenkmalPflegeamtes, von Museen, Kirchen und anderen Einrichtungen.
Kneipe von der Kneipe leben 5 Personen, die Kneipe ist ein wichtiger Kommunikationsort für die noch in der Altstadt Wohnenden.
wird zur
›Confiserie‹ und auch Schlafplatz. Süßigkeiten aller Art und kleine Gebäcke werden von 3–8 Personen produziert und in einem fahrbaren Kiosk vor der Ruine im Straßenverkauf angeboten.
Alle Beispiele gibt es nicht mehr. Sie waren geduldet und abhängig von den Standorten und haben durch selbstorganisierte Arbeit ein Minimaleinkommen für die teilweise sehr großen Familien erwirtschaften können. Alle Familienoberhäupter der hier betrachteten Familien leben nicht mehr, sie wurden kaum älter als 50 Jahre. Ignoranz, unsoziales Gesellschaftsverständnis und uneingeschränkter Vorrang des (teilweise öffentlichen) Eigentums führten zur rücksichtslosen Zerstörung von halbwegs funktionierenden Überlebensstrategien.
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dauernde Zerstörungsfeldzug gegen Menschen und Gebäuden (neben den Wohngebäuden vor allem auch Einrichtungen wie Krankenhäuser und Schulen) durch einen Waffenstillstand gestoppt werden konnte. Dieser war jedoch auch wieder nur vorübergehend. Das Interesse an der Weiterführung der Zerstörung und am Gebrauch des Kriegsmaterials war offensichtlich stärker als an Friede und einer Durchsetzung der Menschenrechte.13 Die Unkenntnis der Lebens- und Arbeitsbedingungen im außereuropäischen Raum hat zu Fehleinschätzungen mit verheerenden Folgen bis in die heutige Zeit geführt, wie es z. B. im Irak- oder Syrien-Konflikt deutlich wurde. Es ist aber nicht nur die Arroganz, die sich darin verbirgt, sondern auch die Ignoranz gegenüber bedeutsamen Unterschieden, die sich manchmal in globalisierten Hüllen vielfältig verbergen.14 Gerade in den kultur- oder auch kontextbedingten Unterschieden liegt oft eine wichtige Ressource verborgen, beziehen sich doch die Unterschiede auf Fähigkeiten, Überlebensbedingungen auch ohne eine bedingungslose Anpassung an die Globalisierung zu gestalten. Kenntnis dieser Potentiale ist eine Voraussetzung, um in der interkulturellen Kommunikation oder Kooperation nicht mit der Arroganz des es vermeintlich besser Wissenden menschlicher Würde den Boden zu entziehen. Die weltweiten Probleme des Hungers, der Gewalt, der Ungerechtigkeit sind noch lange nicht gelöst. Der Eindruck, dass diese Probleme eher eskalieren, lässt sich nicht verdrängen. Daraus lässt sich auch die Schlussfolgerung ziehen, dass diese Probleme nicht durch die Systeme der Globalisierungsdynamik allein zu bewältigen sind. Dies bedeutet, dass auch aus diesem Grund die kulturellen Differenzen bzw. die spezifischen realen Lebens- und Arbeitsbedingungen bedeutsame Ausgangspunkte für Strategien zur Bewältigung der weltweiten Probleme sein müssen und nicht allein den aggressiven, global agierenden Verwertungsinteressen und den mit Terror agierenden Strategen anheim fallen dürfen. Bei dieser Betrachtung wird die Tatsache bedeutend, dass ›Globalisierung‹ nicht allein mehr ein Exportartikel Europas ist, sondern dass längst die global players, die eines kulturellen Kontextes mehr oder weniger enthoben sind, diese Funktion übernommen haben. Sie sind genau dort verortet, wo kulturelle Differenzen eher verschwunden sind: im Ortlosen, den weltweit vereinheitlichten Büros, Hotelanlagen, Yachthäfen und gated communities, wobei gleichzeitig die vorhandenen verwertbaren Differenzen aufgespürt, genutzt und verschärft werden. Die wichtigsten Konsumprodukte unserer Gesellschaft wie Autos, Waschmaschinen, Computer und vieles mehr, sind längst Ergebnis weltweit verzweigter Wertschöpfungsketten. Da nützt kein noch so radikalisierter Nationalismus: Die Zerschneidung dieser Ketten würde zunächst extreme Folgen auf die Konsumgüterindustrie der wohlhabenden Länder haben. Nur eine international legitimierte Macht könnte eine gerechtere Verteilung der Mehrwerte dieser Prozesse bewirken, bzw. eine nationale Wirtschaftsförderung müsste genau da an den Wertschöpfungsketten ansetzen, wo es Chancen gibt, einzelne Schritte oder Teile davon im eigenen Territorium anzusiedeln. Bei all dem ist außerdem zu beachten, dass Europa als die Mutter der weltweiten Kolonisierung inzwischen selber nicht mehr alleiniger Ursprung und Profiteur der Globalisierung ist, sondern die europäischen Gesellschaften auch selber spürbar negativ von den Auswirkungen dieser Verwertungsstrategien betroffen sind. Die aktuell anhaltende Arbeitslosigkeit gerade in Südeuropa ist auch vor diesem Hintergrund zu verstehen. Daraus resultiert die strategische Bedeutung der Entwicklung lokaler Ökonomien – der urbane Kontext bietet auch in Europa hier-
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für noch nicht erschlossene Möglichkeiten. Dies könnte auch ein Ansatz sein, die kulturellen Differenzen innerhalb Europas als stärkende Vielfalt zu nutzen und nicht als Strategiehemmnis für Europa zu interpretieren, wie Mitte der 2010er Jahre gegenüber Griechenland. Das weltumspannende Spinnennetz der Globalisierung hat zu einem typischen Stadtgefüge geführt. Es sind Mischungen aus weltweit sich gleichenden Eingriffen und Spuren sowie lokal differenzierten Prägungen entstanden. Seit einiger Zeit kann von einem weltweiten Phänomen gesprochen werden: der ›Stadt Glocal‹15 (siehe Sondertext 5: ›Raptext Stadt GLOCAL‹16), die von Bedrohung und Hoffnung, Herausforderung und Beschränkung, globaler Dynamik und lokalen Besonderheiten geprägt wurde, alles mehr oder weniger gleichermaßen und gleichzeitig. Damit wird die Globalisierung einem nicht auflösbar erscheinenden politisch-kulturellen Widerspruch ausgesetzt, der die internationale Gemeinschaft in den nächsten Jahrzehnten vor eine Herausforderung stellt, auf die sie bislang nicht vorbereitet ist: Der sich weltweit ausbreitende ›glocale‹ Zivilisationsmischmasch wird vor dem Hintergrund der paradoxen und widersprüchlich wirkenden Globalisierungsakteure kulturelle Verluste produzieren und damit einen tief sitzenden emotionalen und gewaltbereiten Widerstand hervorbringen. Er kann aber auch gleichzeitig quasi osmotisch die Bedingungen für eine weltweit friedlichere Verständigung und damit für eine Kooperation bzw. Koexistenz stärken. Dies setzt voraus, dass die Weltgemeinschaft die dazu notwendige Kommunikationsenergie und Toleranz auf bringt und sich nicht darauf verlässt, dass die westlichen Polittechnokraten mit ihrem formalistischen Traum von einer überall nach den gleichen Regeln funktionierenden Weltgesellschaft den Frieden schon realisieren werden. Dom Helder, der inzwischen verstorbene und ehemalige Erzbischof von Recife und Olinda (Brasilien), drückte es bei der Eröffnung des ›Habitat Forum Berlin ’87‹ (siehe Beispiel 3) aus Anlass des damaligen Weltjahres der Menschen in Wohnungsnot so aus: »Entweder wir schaffen es gemeinsam, oder wir werden gemeinsam untergehen.«17 Die Anstrengungen dazu sind unermesslich, vor allem vor dem Hintergrund einer notwendigen Gleichzeitigkeit permanenter globaler Verständigung und lokaler strategischer Versuche, Grundlagen für eine Verbesserung und Sicherung der Lebensbedingungen der Einwohner des Planeten Erde zu erreichen. Dies kann sogar dazu führen, dass ein in Verbesserung befindliches Slum-Quartier gegen eine Zerstörung und Vertreibung der Bewohner verteidigt werden muss (siehe Sondertext 6: ›Kampagne gegen gewaltsame Vertreibung‹). Im Fokus wird dabei sicher der als urbanisiert geltende Lebensraum stehen, also, nach einer klassischen Definition, der Raum, von dem aus es räumlich uneingeschränkten Zugang zu den für den Lebensstandard des betreffenden Staats typischen Ausstattungen und Einrichtungen gibt (siehe Beispiel 2). Die Möglichkeiten, die diese Räume bieten, sind aus den erwähnten Gründen weltweit unterschiedlich. Eine erste eigene Untersuchung über kulturspezifische urbane Differenzen konnte ich 1982 bis 1985 zusammen mit einem interdisziplinären und internationalen Team im Auftrag der Internationalen Bauausstellung Berlin ’87 durchführen (siehe Beispiel 1). Die Ergebnisse wurden in der Ausstellung ›andernorts‹ in den Räumen der Hochschule der Künste Berlin gezeigt. Im Hauptteil der Ausstellung wurde das Leben in vier außereuropäischen innerstädtischen Quartieren gezeigt. Im Fokus stand der Zusammenhang von gewachsenen räumlichen Bedingungen dieser Quartiere und den sozialen Strukturen der Bewohner. Vor dem Hintergrund
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Sondertext 5
Raptext Stadt GLOCAL 15 Wie hieß es doch? zuerst denken und dann handeln, – und dann wieder denken natürlich, oder umgekehrt? nein, besser: denkend handeln und handelnd denken. Das ist richtige Dialektik, so jedenfalls damals das eine Dogma, etwas später lautete das andere: global denken und gleichzeitig lokal handeln oder auch umgekehrt: lokal denken und gleichzeitig global handeln. Ja um ›Himmels Willen‹, wie provinziell. Tja, was nun, es bleibt gar nichts anderes übrig, als lokal zu denken und gleichzeitig lokal zu handeln und gleichzeitig global zu denken und zu handeln. Wow, universell, umfassend. Aber wo bleibt da die für eine menschliche Existenz notwendige Trialektik von Denken, Handeln und Fühlen?
Pssssssssui Stadt überall und überall Und überall im Leben global warum im Kopf nicht ein wenig ideal vielleicht ein bisschen local Stadt wirklich überall Überall überall überall und überall doingdingdoingdingdongdingdoingding Düsenjäger und Aral Ikea Regal und überall alles im Kanal egal fatal, banal und global Du nützlicher Idiot total und alles ist egal egal doingdingdoingdingdongdingdoingding Hände weg von mei’m Areal lokal und kommunal sozial und dezentral konkret provinziell und emotional gefangen, verklebt im Netzlokal – verbrennst im urbanen Dschungelmist
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weißt Du denn noch wer Du eigentlich bist doingdingdoingdingdongdingdoingding sakral fraktal oh Kapital Stadtdschungel heute total sakral fraktal oh Kapital Stadtdschungel heute total ich lebe und klebe am Konsumregal durch Konsum lass ich mich nicht verbrauchen ich lass mich nicht durch niemand verbrauchen doingdingdoingdingdongdingdoingding oijoijoi Stadt glocal oijoijoi Stadt glocal Pssssssssui
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Kampagne gegen gewaltsame Vertreibung * Habitat Forum Berlin** Das Habitat Forum Berlin ist eine gemeinnützige Organisation, die es sich zur Aufgabe gestellt hat, den internationalen Erfahrungsaustausch im Wohnungs- und Siedlungsbereich zu fördern sowie Selbsthilfe und die Arbeit von nichtstaatlichen Organisationen zu unterstützen. Dazu werden vom Habitat Forum Berlin auch eigene Pilotprojekte gefördert und durchgeführt. (z. B. das Pilotprojekt in Salvador/Bahia). Eine der konkreten aktuellen Aufgaben des Habitat Forum Berlin ist die Unterstützung der internationalen Kampagne gegen gewaltsame Vertreibungen, welche die Habitat International Coalition als internationaler Dachverband der NGOs im letzten Jahr [1990] gestartet hat. Die Kehrseite der Medaille September 1988 – Olympische Spiele in der südkoreanischen Stadt Seoul. Während der Blick der Welt auf die olympischen Cracks in Seoul gerichtet ist, blickt ein großer Teil der Bevölkerung Seouls aufs nackte Elend. Es sind Menschen, die unter der Parole »Stadtsanierung« den modernen Wohnblocks und Prachtbauten, den neuen Straßen und Plätzen und den gigantischen Sportanlagen weichen müssten. Betroffen von der Sanierung sind nach Pater John Daly, der in einer der Armensiedlungen lebt und arbeitet, 236 Wohngebiete mit 3,5 Millionen Menschen – überwiegend Stadtrandgebiete, die durch den Anschluss an das städtische Verkehrsnetz für finanzkräftige Investoren interessant geworden sind. Wegsaniert werden alte, traditionelle Wohnviertel, in denen Familien mit niedrigem Einkommen leben. Den Widerstand, den die Betroffenen unter härtesten Bedingungen (nach Abriss der Häuser – Leben in Zelten; nach Zerstörung der Zelte – Leben in Erdhöhlen usw.) leisten, halten sie nur aufgrund ihrer Solidarität und der Unterstützung von außen, bisher vor allem von kirchlicher Seite, durch. Deshalb rufen wir zur internationalen Solidarität gegen gewaltsame Vertreibung auf! Zur Feier des Tages … werden derzeit Tausende Familien in Santo Domingo vertrieben. Gefeiert werden soll der 500. Jahrestag der Ankunft von Kolumbus in Amerika. Die Stadt soll sich im Festkleid zeigen. 1987 wurde von der Regierung damit begonnen, die Stadt umzubauen. Wegen der Publizität, die mit der genannten Feier verbunden sein wird, soll der Welt ein schönes, ordentliches und modernes Santo Domingo gezeigt werden. Durch die »Planierung« der zentral gelegenen Armenviertel sind bis Juni 1988 bereits mehr als 10.000 Menschen obdachlos geworden. Die weitere gewaltsame Vertreibung Tausender Familien und die Zerstörung ihrer selbstgebauten Häuser bedeuten nicht nur den Verlust von Obdach und die Platzierung lukrativer privater Investitionen, sondern auch das Zerbrechen von sozialen, kulturellen und ökonomischen Beziehungen, die über viele Jahre aufgebaut wurden. Die domini-
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kanische Regierung rechtfertigt ihre Vertreibungen, ohne irgendeinen adäquaten Wohnersatz unmittelbar vorzusehen, mit einem regionalen Entwicklungsplan, der in Kooperation mit deutschen ›Experten‹ und mit Hilfe von Finanzmitteln aus der Bundesrepublik erarbeitet worden war. Die betroffene Bevölkerung hatte keinen Einfluss auf die Planung nehmen können. Kooperation darf nicht dazu führen, dass Planungen als Waffe gegen die betroffene Bevölkerung gewendet werden. Deshalb fordern wir: Entwicklungshilfeprojekte müssen nicht nur ihre Umweltverträglichkeit, sondern auch ihre Sozialverträglichkeit unter Beteiligung der betroffenen Bevölkerung nachweisen! Selbsthilfe, wo der Staat versagt Weltweit ist es die Bevölkerung mit niedrigen Einkommen, welche die Verantwortung für die Planung und den Bau der meisten Wohnungen übernommen hat; sie sind es vor allem, die in den schnell wachsenden Städten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas in Selbsthilfe und meist ohne jede staatliche oder sonstige Unterstützung Wohnraum schaffen. Als eines der größten erfolgreichen Beispiele kann Villa El Salvador in Lima/ Peru angesehen werden. In ca. 15 Jahren ist in der Wüste am Stadtrand Limas, 20 km vom Stadtzentrum entfernt, in Selbsthilfe ein begrüntes Gebiet mit Wohnungen für 200.000 Einwohner entstanden. Aus der ursprünglichen Landbesetzung ist – immer im Konflikt mit den staatlichen Behörden – eine selbstverwaltete und eigenständige Stadt geworden. Dieser Art von Erfolgen stehen unzählige Misserfolge staatlicher Wohnungsbauprogramme gegenüber. Die Fähigkeit, die Kapazität und das soziale Interesse selbstorganisierter Bewohnergruppen bei der Bewältigung der Wohnprobleme finden aber auch in der offiziellen Entwicklungszusammenarbeit nicht ihren adäquaten Niederschlag. Deshalb fordern wir: Mehr Anstrengungen in der Unterstützung von nichtstaatlichen und Betroffenenorganisationen im Kampf gegen Wohnungsnot!
* Teilnahme des Habitat Forum Berlin mit eigenem Text (hier in leicht gekürzter Fassung) an der Internationalen Kampagne gegen gewaltsame Vertreibung. 1992 konnte im ersten konkreten Fall der Kampagne mit besonderer Hilfe der katholischen Kirche erfolgreich die Vertreibung von Tausenden Bewohnern aus einem slumähnlichen Viertel verhindert werden. ** Habitat Forum Berlin wurde 1988 von Rainer W. Ernst und Ludwig Thürmer gegründet, von 1994–1998 von Rainer W. Ernst alleine geleitet und 1998 an Dr. Günter Nest zur Weiterführung übergeben.
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der historischen Entwicklung der jeweiligen Städte mit dem Augenmerk auf koloniale Einflüsse wurde auf aktuelle Konflikte zwischen ›Modernisierung‹ und kulturspezifischer ›Tradition‹ hingewiesen. Es handelte sich um folgende vier Quartiere: Quartier Al Jallum in Aleppo (Syrien), das Quartier Bakau in Banjul (Gambia), die Quartiere Santo Antonio und Pelourinho (historisches Zentrum) in Salvador (Brasilien) und das Quartier Pandegiling in Surabaya (Indonesien). Dieser Teil der Ausstellung, ergänzt um das Fallbeispiel Luisenstadt in Berlin, wurde im Anschluss an die Internationale Bauausstellung ’87 zusammen mit dem Goethe-Institut in 25 Städten, in einer portugiesischen und einer englischen Version und oft begleitet von Seminaren, gezeigt (siehe auch Kapitel 3 des Buches).18 Diese Arbeit wurde mit einer Forschungsarbeit an der Hochschule der Künste Berlin (heute Universität der Künste) zwischen 1990 und 1993 fortgesetzt, verbreitert und vertieft, wobei dabei der Schwerpunkt der Untersuchung auf den Zusammenhang von Wohnen und Arbeiten als eine Grundlage für das Verständnis der Stadt im interkulturellen Vergleich fokussiert war.19 Wichtiger Gesichtspunkt war die Erkenntnis, dass es gerade vor dem Hintergrund der dargestellten Widersprüche der Globalisierungsprozesse sehr viel Sinn machen kann, die Organisation von nichtorganisierter Arbeit sowie die Entwicklung von selbstbestimmten Lebensmodellen und kulturellen Aktivitäten auf lokaler Ebene in den Fokus der Auseinandersetzung mit Stadt zu stellen. In den aktuellen Diskussionen und Projekten zu den Themenbereichen ›Demokratisierung von Stadtplanung‹ (siehe Beispiel 1), ›Wohnungsbaupolitik‹, ›Lokale Ökonomie‹ bzw. ›Öffentlicher Raum‹20, ›Kreativwirtschaft‹, ›Liegenschaftspolitik‹ sowie ›Finanzierung kommunaler Kultur‹ ist die Notwendigkeit und auch die Energie deutlich zu bemerken, neue Wege zur Überwindung der durch Konventionen eingefrorenen Beschränkungen zu finden. Zu beachten ist, dass gerade die lokalen Bedingungen überall in ihrer Ganzheit verschieden sind und dabei fast immer besondere, nur einen Ort betreffende Eigenschaften aufweisen, die außerdem polyvalenten Charakter aufweisen (siehe Kapitel 1 des Buches). An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass im dritten Abschnitt die Bedeutung der lokalen Ebene für die Strategie ›Möglichkeitsraum‹ besonders behandelt wird. Ressourcen wie Arbeitskräfte, Kenntnisse, Werkzeuge, Fähigkeiten, räumliche Möglichkeiten und Rohstoffe sind im urbanen Kontext überall zumindest teilweise vorhanden. Wesentlich ist daher, den (vor allem preisgünstigen) Zugang für kleinere und mittlere Unternehmen bzw. unternehmensähnliche Aktivitäten zu schaffen. An den vorhandenen Überlebensstrategien in den Metropolen ist allerdings zu beobachten, dass labile – d. h. nicht formal gesicherte – Zugänglichkeit zu Ressourcen bei geringfügigen Kontextveränderungen schnell zum Zusammenbruch dieser Überlebensstrategien führen können. Die Frage, welche Auswirkungen die Globalisierungsprozesse auf unseren Lebensraum, insbesondere auf den Lebensraum ›Stadt‹ haben, wird uns sicher die nächsten Jahrzehnte beschäftigen. Da eine Adresse mit weltpolitischer Verantwortung und entsprechender Macht für einen grundsätzlichen Protest gegen die Globalisierung noch nicht vorhanden ist, wird es eine Bedeutung haben, immer wieder Auswirkungen dieser Prozesse transparent aufzuzeigen und einzufordern, dass weltpolitisch wirksame Vereinbarungen zur Kontrolle und Korrektur dieser Prozesse entworfen und durchgesetzt werden. Da Vorteile der Globalisierungsprozesse ebenfalls feststellbar und insbesondere Weltklima, Weltverschmutzung auf
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allen Ebenen und weltweiter Verbrauch von Ressourcen nicht im Geringsten aus nationaler Kompetenz bewältigbar sind, scheint keine andere Strategie möglich zu sein, als einerseits diese Neuordnung von Weltpolitik einzufordern und gleichzeitig die existenziell erforderlichen Lebensmodelle auf lokaler Ebene zu ermöglichen. Daher drängt sich geradezu auf, zu hoffen, dass durch Intensivierung der Kommunikation auf lokaler Ebene in gewisser Vernetzung mit entsprechender sozioökonomischer Verantwortung eher ein Klima auf lokaler Ebene (nicht zu verwechseln mit nationalen, regionalen oder anderen aus politisch-statistischen Gründen entstandenen räumlichen Grenzen) entsteht, das innovativ wirkende Emergenz wachsen lässt. Die Auswirkungen der Globalisierung werden erfordern, dass auf lokaler Ebene die Gesamtheit notwendiger Arbeit und die Schaffung von korrespondierenden Lebensbedingungen ins Blickfeld geraten und lokal wirksame Strategien auch als Schutz vor den destruktiven Auswirkungen der Globalisierungsprozesse entwickelt und realisiert werden. Denn ein wirksamer Teil der global organisierten ›Geldstaubsauger‹ hat längst die Bedeutsamkeit der Verortung von gewinnbringenden Ressourcen, die im ersten Kapitel als gesellschaftliche Ressourcen beschrieben wurden, erkannt. Insbesondere städtische Immobilien – geschützt durch das global verbreitete justitiable Privateigentum an Grund und Boden – werden zunehmend Gegenstand von diesen der lokalen Bevölkerung entfremdeten Wertschöpfungsprozessen. Daher gewinnen für gesellschaftlich orientierte Raumentwicklungsstrategien nachvollziehbare Verdeutlichung und Dokumentation der Polyvalenz dieser Ressourcen, die als Lebensbedingung wichtig sind, eine politische Bedeutung. Wie aus solchen Informationen demokratiegerechte Entscheidungsprozesse über Produktion und Verfügung räumlicher Ressourcen zu organisieren wären, ist Gegenstand des dritten Kapitels. Welche Schlüsse sind daraus für die Arbeit als ArchitektIn auch für künstlerische Arbeiten im öffentlichen Raum21 zu ziehen? In den eigenen Beispielen dieses Kapitels wird insbesondere der Versuch angezeigt, diesen Herausforderungen durch interdisziplinäre Kooperation, interkulturellen Dialog und Unterstützung sowie durch international organisierte Kommunikation gerecht zu werden. Dazu ist es erforderlich, den komplexen Charakter von Raum zu verstehen, wobei damit einige gewohnte Arbeitsweisen auch von ArchitektInnen grundsätzlich in Frage zu stellen sind.
A nmerkungen 1 | Als Rationalist müsste man sich an dieser Stelle sofort fragen: Wohin führt dieser Prozess des immer weiteren Zusammenrückens der Weltgesellschaft? Diese Frage ist in der Science-Fiction-Literatur sicher schon in etwa wie folgt beantwortet: Das sich dynamisch beschleunigte Zusammenrücken der Weltbevölkerung führt zum Verschwinden derselben in einem schwarzen Loch und hebt damit die subjektbasierte Relativität von Raum und Zeit als Verstehensmuster auf. Dieser Apokalypse enthoben ist lediglich die gerade auf einem momentan noch unbekannten Stern gelandete, gendergerecht zusammengesetzte Besatzung der Raumfähre ›Noah‹, die nun aufgefordert ist, einen weiteren Versuch menschlicher Existenzfähigkeit im Universum zu starten.
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Räumliche Ressourcen 2 | Zur Vielfalt der Benutzung und Bedeutung des Begriffs ›Globalisierung‹ siehe u. a.: Jürgen Osterhammel und Niels P. Petersson, »Geschichte der Globalisierung«, München, 2003. Hier einige zusammenfassende Hinweise unter dem Titel »Die Wurzeln des eurozentrischen Blicks auf die Welt«: Die Globalisierung ist keine neue Erfindung, schon in der Antike haben immer wieder einzelne Imperien versucht, das von ihnen wahrnehmbare Territorium komplett zu unterwerfen bzw. unter ihre politisch-kulturelle Kontrolle zu stellen. Alle Elemente, die den Wertvorstellungen des Okkupanten widersprachen wurden unterdrückt oder ausgemerzt. In den ersten Jahrzehnten nach der Landung von Columbus auf Haiti haben die spanischen Besetzer die vorhandene Bevölkerung um 95 % von 50.000 auf 5.000 – so schätzt man heute – reduziert. In der Neuzeit wurde es erst mit der europäischen Kolonisierung möglich, die gewünschte Einflusssphäre tatsächlich global zu denken und zu versuchen, ohne diese sich gleichzeitig einzuverleiben. Die britisch-westindische Gesellschaft gilt als erster global player der Neuzeit. Papst Alexander VI. kann als die erste politische Figur der Neuzeit angesehen werden, die eine Aufteilung der gesamten Welt konzipiert hat: 1494, nach der Rückkehr von Columbus, wählte er zwei Längengrade aus und teilte mit religiöser Legitimation die Welt unter Spaniern und Portugiesen auf (›Tortesillas-Linie‹). In der Entschlüsselung der ideologischen Herkunft von Rassismus und Eurozentrismus ist das Menschenbild, das die katholische Kirche in dieser Zeit diskutierte, ein besonderer Baustein: Nach Jahrzehnte andauerndem Streit darüber, ob Nichtweiße auch Menschen seien, verkündete Papst Paul III. 1537 in der Bulle ›Sublimis Deus‹, dass Indianer und Angehörige aller noch nicht entdeckten Völker vernunftbegabte Wesen mit einer Seele und daher zum katholischen Glauben bekehrbar seien. Selbst heute noch bleibt dieser Anspruch auf ein globales Wahrheitsmonopol der katholischen Kirche trotz aller Dialogbemühungen nicht vollkommen ausgeräumt. Sieht man heute Europa als ein Ganzes, so ist die europäische Kolonisierung der Welt bzw. der nicht ganz gelungene Versuch, die Welt als Ganzes europäisch zu verwalten, und damit der eurozentrische Blick auf die Welt als die wesentliche Wurzel der im Abschnitt ›Der Widerspruch zwischen Globalisierung und räumlich-kulturellen Differenzen‹ genannten Phänomene der Globalisierung anzusehen. Die Berliner Kongokonferenz 1884/85 unter der Leitung von Fürst Bismarck kann als der letzte Akt angesehen werden, einen ganzen Kontinent unter Europa territorial aufzuteilen. Später, nach der Bildung der beiden Blöcke des Kalten Krieges im 20. Jahrhundert, spiegelte sich die Arroganz Europas in den beiden linearen Entwicklungstheorien des ›Westens‹ (basierend auf der Wirtschafts- und Entwicklungstheorie von Rostow) und des ›Ostens‹ (basierend auf der Entwicklungstheorie von Marx) wider. Der Begriff ›Entwicklungsländer‹ und die Bezeichnung ›in Unterentwicklung gehaltene Länder‹ haben in diesen Theorien bis heute ihre ideologischen Wurzeln. 3 | Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die im Rahmen der beabsichtigten Handelsabkommen zwischen Europa und den USA sowie Kanada (TTIP und CETA) vorgesehenen regierungsunabhängigen Schiedsgerichte als ›Deregulierungshebel‹ zur freien Platzierung bzw. Lokalisierung von Investitionen gedacht sind, die von Kritikern als »Investitionsbomben« bezeichnet werden. Der Name rührt daher, dass durch diese Investitionen zwar neu organisierte Arbeitsplätze geschaffen werden, aber gleichzeitig auch eine manchmal sogar größere Zahl von vorhandenen Arbeitsplätzen vernichtet wird. Das Kapital für derartige Investitionen wird durch verschiedene Prozesse gesammelt, die wiederum ihre eigene Wirkung haben und
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als globale ›Geldstaubsauger‹ bezeichnet werden können. Dies betrifft zum Zeitpunkt des Schreibens – angefeuert durch die niedrigen Zinsen und die diversen Steuerersparnismodelle – insbesondere den Immobilienmarkt in Agglomerationsräumen. 4 | Der Text »Öl« von Rainer W. Ernst war Bestandteil der von ihm und Stephan Sachs konzipierten filmtheatralen Komposition »Ocean, mobilis in mobili« mit den Wissenschaftlern Thomas C. G. Bosch, Arne Körtzinger und Alexander Proelss und den Künstlerinnen Ingrid Lucia Ernst und Birthe Bendixen, in der Kunsthalle zu Kiel am 21., 22. und 23. Juni 2009; dokumentiert in Ingrid Lucia Ernst, »Denken Handeln Fühlen – Vorlesungen zwischen Kunst und Wissenschaft im inszenierten Raum«, Kiel, 2012, und im Werkverzeichnis R. W. Ernst unter Trialectic 18 (s. u. a. www.rainerwernst.de); modifiziert und ergänzt in: Smith & Smart, »Das Haus«, smith & smart records, Berlin, 2016. 5 | itiert und kommentiert in Marc Jongen (Hrsg.), »Der Göttliche Kapitalismus«, München, 2007, im Beitrag von Jochen Hörisch, S. 34 f. 6 | Ein ähnliches Prinzip deklarierte 2016 VW, nachdem der Konflikt mit seinen Zulieferern beigelegt worden war, um in der Zukunft nicht mehr von derartigen Konflikten abhängig zu sein. 7 | Der Kongress CIAM und das Konzept »Die internationale Stadt«: CIAM (Congrès Internationaux d’Architecture Moderne) wurde 1928 als Vereinigung europäischer Architekten zur Durchführung von internationalen und interdisziplinären Kongressen zum Thema ›Stadt‹ gegründet. Fünf Kongresse wurden durchgeführt: der erste 1928 in La Sarraz, dann 1929 in Frankfurt, 1930 in Brüssel, 1933 auf dem Schiff Patras II zwischen Paris und Athen mit der Verabschiedung der Charta von Athen und der letzte vor Kriegsausbruch 1937 in Paris. Vor der Verabschiedung der Charta von Athen trafen sich besondere Arbeitsgruppen in Berlin, Barcelona und Paris. In Deutschland waren die wichtigen Denkschmieden dazu: Die Stadtplanungsbüros in Frankfurt unter Ernst May und in Berlin unter Martin Wagner sowie das Bauhaus in Dessau, aber eben nur bis zu Beginn des Nationalsozialismus. Die Kongresse sollten vor allem dem Vergleich von Stadtplanungskonzepten dienen mit dem Ziel der Festlegung von gemeinsamen international anzuwendenden Normen und Richtlinien. Dazu hatten alle Teilnehmer ihre Beispiele über Stadtentwicklungs-Planungen und den Wohnungsbau nach einem gleichen Schema sowie gleichen Darstellungsformen und -farben mitzubringen, damit ein Vergleich möglich wurde. Die Diskussionsergebnisse zu Themen wie ›Wohnen für unterbemittelte Schichten‹, ›Wohnen für unbemittelte Schichten‹ und zum ›Wohnen für das Existenzminimum‹ wurden nach dem zweiten Weltkrieg wichtige Grundlage in beiden Teilen Deutschlands für die Erarbeitung von verbindlichen Standards und Normen für den Wohnungsbau. Ebenso wie die Konzepte für die als fortschrittlich gesehene funktional gegliederte, aufgelockerte Stadt mit großen Wohnblöcken als die prägende Wohnform. Außerdem war immer wieder die Rede vom internationalen Architekturstil. Bemerkenswert aus heutiger Sicht sind für den Beginn der Serie der Kongresse besonders folgende analytische Ansätze zu sehen: erstens die kasuistische Vorgehensweise sowie zweitens die sehr komplexen Versuche, die Einzelfälle zu erfassen. Die Charta von Athen in der Fassung von Le Corbusier wurde in der Kritik an der Durchsetzung des Prinzips der funktional gegliederten und aufgelockerten Stadt im ›fließenden‹ Raum nach dem zweiten Weltkrieg als Ursache dieser ›stadtzerstörenden‹ Prinzipien bezeichnet. Dies wird den eigentlichen
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Ansätzen des CIAM nicht gerecht. Der aber in diesem Zusammenhang zu konstatierende Ansatz für ein internationalisiertes Stadtverständnis lenkt bis heute von den besonderen Phänomenen ›Kulturellere Differenzen‹ beziehungsweise ›prägende Besonderheiten einer Stadt‹ ab. Es kann tragisch von einer methodischen und stilistischen Erstarrung der ›Moderne‹ in der Nachkriegszeit gesprochen werden. Hingewiesen sei auf die von Martin Steinmann herausgegebene, kommentierte Dokumentation »CIAM. Dokumente 1928–1939«, Basel-Stuttgart, 1979, sowie auf Thilo Hilpert (Hrsg.), »Le Corbusiers ›Charta von Athen‹: Texte und Dokumente. Kritische Neuausgabe«, Bauwelt Fundamente 56, Braunschweig, 1984. 8 | Hinweise auf zwei sehr unterschiedliche Arbeiten (a + b), die sich mit der Suche nach international gültigen Standards für Stadtentwicklung auseinandersetzten: a) R. W. Ernst, O. Akbar und A. Bittencourt, »Richtwerte und Mindeststandards für die Stadtplanung in Entwicklungsländern im Auftrag der GTZ«, Eschborn 1979, Archiv GTZ und eigenes Archiv, liegt auch in portugiesischer Fassung vor; im Auftrag der GTZ im Rahmen des Kooperationsprojektes Raumordnungs- und Stadtentwicklungspolitik CNPU (Brasilien). Anhand der verfügbaren internationalen Literatur aus allen Kontinenten wurden auf der Grundlage international verfügbarer Statistiken von nationalen Wohnungspolitiken bezogen auf ›Indikatoren‹ wie Einkommensverhältnisse, Beschäftigungsstruktur, Struktur der Investitionen im Wohnungssektor, Bodenpreisentwicklung, Konsumstruktur und räumliche Konzentration sowie besondere Merkmale der Wohnungs- und Infrastrukturpolitik einzelner Länder Unterschiede dargestellt. Kulturelle und geographische Besonderheiten, die eine Rolle für die jeweilige Wohnungspolitik spielten, wurden ebenfalls abgebildet. Anschließend wurden die Unterschiede anhand von 14 aktuellen Stadtentwicklungsplanungen aus Afrika, Asien, Europa und Lateinamerika exemplifiziert. Die Hoffnung der GTZ, damit eine einfache Verallgemeinerungsgrundlage für einen Grundvertrag z. B. mit der Weltbank zu haben, konnte damit nicht erfüllt werden. Aus heutiger Sicht erinnert dies ein wenig an die TTIP-Verhandlungen. b) Horacio Casinos/Reinhard Goethert, »Urbanization Primer«, Cambridge, Massachusetts, 1980; in dieser Arbeit wurde von einem allgemeinen optimalen räumlichen Schema (400 m x 400 m) ausgegangen und ein entsprechender Kriterienkatalog entwickelt, aus dem die Anpassung an besondere Gegebenheiten gemessen werden kann. Kann als ein verzweifelter systematischer Versuch angesehen werden, einen Vorschlag für einen international anwendbaren, allgemeingültigen Beurteilungsrahmen von Wohnungsprojekten und entsprechenden Strukturen von Siedlungen zu entwickeln. Dieser Gedanke blieb aber wegen der Komplexität der vor allem geographisch und kulturell bedingten Unterschiede in den einzelnen Fällen Fiktion. 9 | Wohnungsbauten in Plattenbauweise wurden z. B. von der DDR als Exportartikel in Sansibar errichtet. Dies geschah als Geschenk der DDR-Regierung für die diplomatische Anerkennung durch den 1964 an die Macht geputschten Präsidenten Karume. Es handelte sich um 150 Wohnungen (drei Zimmer, Küche, Bad) als Modernisierungssymbol entlang einer in die vorhandene Struktur geschlagenen Schneise. Die Plattenbauten als Fremdkörper sind im Netz anhand diverser Fotos unter ›Sansibar Plattenbauten‹ gut wahrnehmbar. 10 | Hingewiesen sei bei dieser Gelegenheit auf die Architektur-Biennale in Venedig 2016. Der chilenische Kurator Alejandro Aravena hat in seinem Aufruf die
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eingeladenen Aussteller dazu aufgefordert, ihre jeweilige Auseinandersetzung mit den aktuellen urbanen Herausforderungen zu thematisieren. Damit wurde – soweit ich mich erinnere – von der Architekturbiennale Venedig zum ersten Mal Architektur als soziales/politisches und als interdisziplinäres Projekt in den Mittelpunkt gestellt; dabei wurden insbesondere auch durch den deutschen Pavillon Flucht bzw. Flüchtlinge thematisiert und die Integration Letzterer auch als räumliche Aufgabe beschrieben. 11 | Texte und Fotos zu den vier Fallbeispielen sind veröffentlicht in Jon von Wetzlar/Christoph Buckstegen, »Die Kultur der Imbissbude«, Marburg, 2003, S. 11, »Stadtraum als Arbeitsraum, lernen von andernorts?« und in überarbeiteter und aktualisierter Form in R. W. Ernst, »Stadt Raum Strategie«, Berlin, 2006, S. 64 ff.: »Not macht erfinderisch.« 12 | Der erste konkrete Beleg für diese Thesen konnte im Rahmen des Studienprojektes »Bazar Teheran« mit einer dreiwöchigen Feldstudie im Großen Basar von Teheran gefunden werden. Der Basar, so wie wir ihn damals erleben konnten, wies eine kleinteilige räumlich-funktionale Mischung auf – vor allem von Produktion, Handel und Dienstleistung – und führte offensichtlich seit Jahrhunderten Welthandel durch (mit Waren abgestempelt in China, Moskau oder New York und Exporten in die ganze Welt). Er funktionierte mit teilweise modernen Produktionstechnologien (zum Beispiel mit vollautomatischen Spinngeräten) und war in kleinteiliger Verantwortung organisiert. Die Gewinne wurden durch eine religiöse Stiftung kontrolliert, die für eine sozioökonomische Absicherung sorgte. Diese Struktur als Ganzes kam und kommt nicht in der kapitalistischen Entwicklung vor und war trotzdem aktuell konkurrenzfähig. Es wäre sicher interessant, die aktuelle Entwicklung des Großen Basars von Teheran nochmals zu untersuchen. Hochschule der Künste, Fachbereich 2 Architektur (Hrsg.), »Bazar Teheran«, Dokumentation des Projekts »Probleme der Internationalen Stadtentwicklung«, Berlin, 1979, betreut von Omar Akbar, Rainer W. Ernst und Jo Santoso mit Christine v. Strempel; weitere Belege für die Thesen konnten mit einer Forschungsstudie zum Thema »Richtwerte und Mindeststandards für die Stadtentwicklung in Entwicklungsländern« gefunden werden (siehe Anm. 7). 13 | AFP-Nachricht im Tagesspiegel v. 26.10.2016: UN geben allen Kriegsparteien Schuld an blockierter Aleppo-Hilfe. 14 | Doch auch Vorsicht: Es sind doch gerade die inzwischen auch weltweit agierenden Terroristen, die kulturelle bzw. religiöse Differenzen für die Legitimation ihrer brutal und unmenschlich verfolgten Herrschaftsansprüche benutzen. 15 | Ursprung des Begriffs ›Stadt Glocal‹: Dieser Begriff wurde von mir zum ersten Mal 1988 im Rahmen eines Vortrages am Goethe-Institut in Addis Abeba aus Anlass der Eröffnung der Ausstellung ›Living in Cities‹ erläutert, in Anlehnung an den von britischen Geographen eingeführten und gebräuchlich gewordenen Begriff rurban zur Bezeichnung für das für Afrika typische städtisch-ländliche Siedlungsgemisch. Zur Information über die diversen Urbanisierungsprozesse weltweit siehe Literaturhinweise (Anm. 12 in Kapitel 3). 16 | Leicht aktualisierte Version eines Raps, der zum ersten Mal zum Abschluss des oben in Anmerkung 15 erwähnten Vortrages vorgestellt wurde, später auch in verschiedenen Variationen in portugiesischer, englischer und spanischer Sprache bei diversen Veranstaltungen.
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Räumliche Ressourcen 17 | Zitat Schlusssatz der Eröffnungsrede der internationalen Konferenz ›Habitat Forum Berlin ’87‹ von Dom Helder Camara, emeritierter Erzbischof von Olinda und Recife (Brasilien) in der vom Habitat Forum Berlin und der Deutschen Stiftung für Internationale Entwicklung (DSE) herausgegebenen Dokumentation in englischer und spanischer Sprache der »international conference on housing and local development, urbanization processes and development options, held in the Reichstag building in Berlin (West) from 1 to 11 June, 1987«; unter dem Motto »learning from one another«, aus Anlass des Internationalen Jahres der Menschen in Wohnungsnot 1987, des 750. Geburtstages der Stadt Berlin und der Internationalen Bauausstellung Berlin 1987 unter der Schirmherrschaft des Senators für Bau- und Wohnungswesen Berlin (West). 18 | Siehe Rainer W. Ernst (Hrsg.), »Stadt in Afrika, Asien und Lateinamerika«, Berlin, 1984 als Buch zu der Ausstellung ›andernorts‹ 1984 in der Hochschule der Künste Berlin aus Anlass des Berichtsjahres der Internationalen Bauausstellung Berlin 1984, organisiert und gestaltet von Rainer W. Ernst und Ludwig Thürmer, und Habitat Forum Berlin (Hrsg.), »Living in Cities«, Berlin, 1990, Begleitkatalog der gleichnamigen Wanderausstellung; Head of production: Rainer W. Ernst, Visualisationkonzept: Ludwig Thürmer; eine Zusammenfassung findet sich auch in R. W. Ernst, »Stadt Raum Strategie«, Berlin, 2006. 19 | Siehe Rainer W. Ernst/Renate Borst/Stefan Krätke/Günter Nest (Hrsg.), »Arbeiten und Wohnen in städtischen Quartieren – Zum Verständnis der Stadt im interkulturellen Vergleich«, Basel-Boston-Berlin, 1993. 20 | iehe Rainer W. Ernst, »Stadt Raum Strategie«, Berlin, 2006, S. 114 ff.: »Lokale Ökonomie – Gewinnen neuer Akteure«. 21 | Zum Thema ›Kunst und öffentlicher Raum‹ siehe zum Beispiel: Rainer W. Ernst/Anke Müffelmann (Hrsg.), »thinking the city acting the city – art in public space«, Kiel, 2002, ein Projekt zum Vergleich von Kunst im öffentlichen Raum an den Beispielen Belfast, Berlin, Istanbul, Lissabon, Ramallah und Beirut; gefördert vom Kulturprogramm der europäischen Kommission.
Hinweise auf Beispiele eigener Arbeiten zur Erweiterung des Arbeitsfeldes eines Architekten Interdisziplinäre und internationale Kooperation zum Diskurs über räumliche Strategien vor dem Hintergrund der Globalisierung und räumlich-kultureller Differenzen (in der Zeit 1974–1992)
Beispiel 1 Zum interkulturellen Vergleich – Recherche und Ausstellung ›andernorts‹ (1984) und Wanderausstellung ›Viver na Cidade/Living in Cities‹ (1986–1992) Ausstellung ›andernorts‹ von Rainer W. Ernst und Ludwig Thürmer im Rahmen des Berichtsjahres 1984 der Internationalen Bauausstellung Berlin (IBA ’84), veranstaltet durch den Senator für Bau- und Wohnungswesen Berlin in Zusammenarbeit mit der Hochschule der Künste, 1984. Mit folgenden Argumenten wurde die Organisation der IBA ’84 davon überzeugt, dass das Vorhaben der Ausstellung ›andernorts‹ Bestandteil der IBA sein sollte: 1. Mit dem Blick auf verschiedene außereuropäische Stadtquartiere sollte nicht nur das Baugeschehen in Berlin durch Beteiligung international bekannter Architekten aufgewertet werden, sondern auch der Blick über den Tellerrand von Berlin auf Stadterneuerungsfragen außerhalb Europas die fachspezifische Kenntnis erweitert werden. 2. Mit der Ausstellung sollte gleichzeitig das Vorhaben ›Bau- und Stadtentwicklung in außereuropäischen Kulturen‹ als sinnvolles Thema für die Architektenausbildung dargestellt werden, insbesondere angesichts der schon damals immer deutlicher werdenden baulich-räumlichen globalisierten Entwicklung von Großstädten weltweit. Die realisierte Ausstellung bestand aus vier Teilen: 1. Überblick über das Ausmaß und die Verbreitung der Verstädterung mit Hinweisen auf die Verschiedenheit derselben und zwei Exkursen über Metropolen (Beispiele Mexiko-Stadt, Kairo und Bangkok) und den typisch afrikanischen Strukturen (rurban) mit entsprechender Stadt-Land-Verflechtung (Beispiel Ouagadougou im damaligen Obervolta, heute Burkina Faso).
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2. Einblick in den Quartiersalltag von historischen Stadtteilen in Aleppo, Banjul, Salvador (Brasilien) und Surabaya mit besonderem Blick auf das Verhältnis nichteuropäisch beeinflusster Entwicklung im Bezug zu europäischer Kolonialpolitik. 3. Rückblick auf die Geschichte des europäischen Vorverständnisses von Städten des Orients. Sammlung architektonischer Besonderheiten aus verschiedenen Kulturen (Indien, Nepal, Bali, Marokko und Obervolta/Burkina Faso). An der Erarbeitung des Materials waren nahezu hundert Kooperanten aus 21 Ländern beteiligt. Für das Berichtsjahr ’87 wurde die Ausstellung als Wanderausstellung für das Goethe-Institut umgearbeitet (zunächst in portugiesischer Sprache unter dem Titel ›Viver na Cidade‹ und ab 1988 in englischer Fassung mit dem Titel ›Living in Cities‹) und bis 1992 in über 40 verschiedenen Goethe-Instituten auf den drei Kontinenten Südamerika, Afrika und Asien gezeigt. Die Wanderausstellung beinhaltete lediglich Teil 2 der Ausstellung, ›andernorts‹. Dieser Ausstellungsteil, der als Kern der Ausstellung gesehen und ausgeführt worden war, wurde um das Fallbeispiel aus Berlin Luisenstadt, die Darstellung der fünf Stadtentwicklungsgeschichten in gleicher Form sowie einen systematischen Vergleich ergänzt. Dazu wurde eine Darstellung über die aktuellen Konflikte zwischen den bestehenden Stadtquartieren und drohenden Zerstörungen durch allgemein verbreitete Modernisierungskonzepte angefügt. Begleitetet wurde die Ausstellung mehrfach von einem Seminar zum Thema ›Stadterneuerung‹, organisiert von der Deutschen Stiftung für internationale Entwicklung (DSE). Zum Abschluss der Reise wurde die Ausstellung 1992 im Deutschen Werkbund in Frankfurt gezeigt. Im aktuellen Diskurs um Architektur scheint erst neuerdings das Thema langsam wieder – befreit von den Regularien der offiziellen Zusammenarbeit – in den Blickpunkt zu geraten. Aus der Ausbildung von Architekten ist er nahezu verschwunden und hat lediglich unter dem Thema ›Flüchtlingscamps‹ eine gewisse neue Aktualität, wie unter anderem die letzte Architekturbiennale (2016) in Venedig zeigte. Gesamtleitung der Ausstellung: Rainer W. Ernst; Visualisierungskonzept: Ludwig Thürmer; Organisation der Realisierung: Ralf Wudtke; Grafische Bearbeitung: Günter Illner und Dietmar Täubner; Durchführung: Gerhard Diehl und Studierende des FB4, Fachrichtung Ausstellungsdesign; Beratung des Teils »Metropolen« und Visualisierungskonzept der Geschichte der vier Stadtbeispiele: Hans Imesch. Wissenschaftliche Bearbeitung: Überblick, Metropolen: William Rauch; Aleppo: Annegret Nippa und Gennaro Ghirardelli; Banjul: Karlheinz Seibert und Ulla Tripp-Seibert; Salvador: Johannes Augel und Moema Parente Augel; Surabaya Bernd Multhaup und Surjadi Santoso; deutsche Ansichten orientalischer Städte: Annegret Nippa; Sammlung besonderer architektonischer Elemente aus verschiedenen Kulturen: Walter Grasskamp und Jan Piper. Kooperiert haben nahezu 50 Personen und Institutionen aus den verschiedenen angesprochenen Ländern. Zur Ausstellung ›andernorts‹ erschien das ergänzende Buch Rainer W. Ernst (Hrsg.), »Stadt in Afrika, Asien und Lateinamerika«, Berlin, 1984 und Führungsblätter »Andernorts: Aspekte städtischen Wohnens in Afrika, Asien und Lateinamerika«, herausgegeben von der Pressestelle der Hochschule der Künste Berlin im Auftrag des Präsidenten. Für die Wanderausstellung ›Living in Cities‹ (englische Fassung) erschien ein gleichnamiger Katalog vom Habitat Forum Berlin unter der Leitung von Rainer W. Ernst und mit der graphischen Gestaltung von Ludwig Thürmer, Berlin, 1990.
Hinweise auf Beispiele eigener Arbeiten
Abb. 8: Ludwig Thürmer, Foto und Konzept der Eingangsinstallation des Gebäudes der HdKB in der Hardenbergstraße 33 aus Anlass der Ausstellung ›andernorts‹ im Erdgeschoss dieses Gebäudes, Organisation der Realisierung: Ralf Wudtke, Berlin, 1984.
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Abb. 9: R. W. Ernst, schematischer Vergleich, Ausschnitt aus: Habitat Forum Berlin, englischsprachiger Katalog »Living in Cities« der gleichnamigen Wanderausstellung für Goethe-Institute, Berlin, 1990.
Hinweise auf Beispiele eigener Arbeiten
Beispiel 2 Ein konkretes Beispiel zur Armutsbekämpfung im historischen Zentrum von Salvador-Bahia mit einer Strategieüberprüfung für die gesamte Stadt (1985–1991) Realisiertes Pilotprojekt im historischen Zentrum von Salvador und Nachweis über eine realisierbare Strategie zum Abbau der Wohnungsnot in der Stadt Salvador für ca. 75.000 Einwohner. Das historische Zentrum Salvadors, 1985 von der UNESCO zum »Weltdenkmal der Menschheit« erklärt, ist das größte zusammenhängende Stadtviertel Lateinamerikas in Barockarchitektur. Aber weder die UNESCO-Deklaration noch die brasilianische Regierung, die das Viertel bereits vor einem halben Jahrhundert unter Denkmalschutz stellte, haben den seit fast 100 Jahren anhaltenden Zerfallsprozess aufhalten können. Der bauliche Verfall des Viertels ging einher mit dem Wachsen sozialer Probleme. Armut und Prostitution begannen, den Ruf des Pelourinho zu prägen. Die Immobilien blieben weitgehend in den Händen der reichen Familien, die kein Interesse an der Instandhaltung zeigten, während den Bewohnern nicht die Mittel zur Verfügung standen, den Verfall aufzuhalten. Nutznießer dieser Situation waren vor allem die sogenannten »Untervermieter«, die ohne vertragliche Basis die mit Bretterverschlägen unterteilten Zimmer »vermieteten«. Dies führte dazu, dass 1985 das historische Zentrum Salvadors eine Ruine ist. Der unaufhaltsame Niedergang des Quartiers bildet den Hintergrund für das Pilotprojekt zur Revitalisierung des Wohnens im historischen Zentrum von Salvador unter dem Motto: Zerfallende Herrenhäuser in menschenwürdige Wohnungen umwandeln. Dabei handelt es sich nicht um ein institutionell, organisatorisch und finanziell breit abgesichertes Entwicklungsprojekt, sondern um einen durch Privatspenden möglich gewordenen Versuch, neue Möglichkeiten und Wege zu finden, für die wohnungslose Bevölkerung, die von den selbstorganisierten Dienstleistungen in der Stadt lebt, menschenwürdige Unterkünfte zu erstellen. Eine interdisziplinäre Gruppe mit Fachleuten aus Praxis und Forschung erarbeitet 1985 eine erste Projektkonzeption und einen vorläufigen Arbeitsplan. Ausgehend von einer Reihe von Hypothesen, die auf der Untersuchung der historischen Entwicklung und der aktuellen Situation basieren, werden zwei Dimensionen desselben Problems miteinander verknüpft: die bauliche und die soziale. Folgende Ausgangshypothesen wurden erarbeitet: 1. Wohnen ist eine zentrale Funktion des Pelourinho. Die heutige Bevölkerung, die zum überwiegenden Teil schon sehr lange hier lebt, will auch weiterhin hier wohnen bleiben. 2. Der entscheidende Faktor für den physischen Verfall der Gebäude im Pelourinho ist die fehlende Instandhaltung. 3. Die zentrale Lage des Pelourinho innerhalb des Stadtgebietes macht es für die Bevölkerung mit geringem Einkommen attraktiv. 4. Das Pelourinho-Viertel bietet bereits einen infrastrukturell gut ausgestatteten städtischen Raum mit zum Teil noch verwertbarer Bausubstanz.
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5. Während das Fehlen von Investitionen das Desinteresse der Eigentümer reflektiert, verfügen die Bewohner nicht über die notwendigen Ressourcen zur Instandhaltung. 6. Die schlechten Wohnbedingungen im Pelourinho sind auch Resultat und Ausdruck der schlechten sozioökonomischen Lage, in der sich seine Bewohner befinden. Niedriges Bildungsniveau und geringes Einkommen können nicht durch Wohnungsbau geändert werden. Deshalb sind begleitende Maßnahmen zur Verbesserung der sozioökonomischen Situation erforderlich, um langfristig den Verbleib der Bewohner zu ermöglichen. Es wird verabredet, ein Experiment mit der Bezeichnung »Projeto Piloto« zu starten. Mit dem Experiment sollen aber auch gleichzeitig die Wohnbedingungen einiger ausgewählter Familien mit deren aktiver Beteiligung exemplarisch verbessert werden. Man kann diesen Versuch als »soziale Denkmalpflege« bezeichnen. Im Herbst 1985 kommen Berliner Architekturstudenten hinzu und mit ihnen sowie zwei brasilianischen Architekten (Wolf Reiber und Paulo Rocha) werden die Möglichkeiten für ein Baukonzept untersucht. Schließlich wird eine geeignete Ruine ausgewählt. Eine Baukonzeption muss entwickelt werden, denn es scheint nicht angebracht, herrschaftliche Wohnhäuser nach dem Muster des 19. Jahrhunderts zu errichten, sondern es sollen moderne Materialien und dafür geeignete Technologien angewandt werden. Notwendigerweise ist es erforderlich, hierfür den Begriff »historisches Baudenkmal« neu zu verabreden. Da das historische Zentrum schon immer umgebaut wurde – es also kein »Original« der Altstadt gibt – und die Wohngebäude nun weitgehend Ruinen sind, von denen nur noch die Außenmauern stehen, muss davon ausgegangen werden, dass allein die äußere Bauform der Wohngebäude, durch die der Stadtteil geprägt ist, denkmalpflegerischer Kritik unterworfen werden darf. Hinzu kommt, dass zugunsten einer besseren Erschließung und Belüftung die fast hundertprozentige Überbauung der Grundstücke verringert werden müsste. Da dies jedoch nur mit einem integrierten Blockkonzept möglich ist, wurde die Erweiterbarkeit des Pilotprojektes zu einem Blockprojekt angeregt. Weitere Elemente bei der Suche nach neuen Wegen waren die Einbeziehung der Bevölkerung in die Planung und ein finanzielles Konzept. Ihre aktive Partizipation von den Anfängen der Planung an vermittelte genauere Einblicke in Bedürfnisse und Möglichkeiten der Bewohner. Die Finanzierung der späteren Instandhaltung soll durch die Vermietung von 20 % – 25 % der Wohnfläche an Gewerbemieter ermöglicht werden. In Berlin beginnt Anfang 1986 eine Spendensammlung, die ca. 50.000,– DM erbringt und treuhänderisch vom deutschen Honorarkonsul in Salvador, Herrn Wolfgang Roddewig, verwaltet wird. In Salvador werden drei Familien ausgewählt, die am Pilotprojekt teilnehmen wollen, und es beginnt eine weitgehend permanente Betreuung vor Ort, insbesondere durch den Soziologen Dr. Peter Pfeiffer. Während verschiedene Alternativmodelle (im Maßstab 1:50) mit zukünftigen Bewohnern und Institutionen diskutiert werden, scheitert der Kauf eines Grundstücks zunächst an juristischen und administrativen Hindernissen. Es zeigt sich, dass die Veränderung des Eigentums wegen der noch geltenden Bedingungen aus der Kolonialzeit, praktisch nicht realisiert werden kann, sondern lediglich ein Pachtvertrag oder eine Enteignung durch den Staat möglich ist. Dies ist für die
Hinweise auf Beispiele eigener Arbeiten
brasilianischen Behörden eine neue Erkenntnis und spielt für die spätere Realisierung und aktuelle Modifikation des realisierten Modernisierungskonzeptes eine bedeutende Rolle. Die Projektidee wird in breitem Rahmen zur Diskussion gestellt: In einer Studie für den CNDU und kurz darauf an der Architekturfakultät der Bundesuniversität von Bahia sowie beim Kongress »Cidade do Futuro« in Salvador. Die Revitalisierungsproblematik findet eine immer breitere Öffentlichkeit: Die Medien stellen das Pilotprojekt vor und ein Videofilm wird fertig gestellt und öffentlich gezeigt. Die ersten Hürden sind genommen: der Grundstückseigentümer und die Landesdenkmalbehörde (IPAC) stimmt dem Erbpachtvertrag zu und das Bauschild wird mit einer feierlichen Grundsteinlegung unter Beteiligung von Musikern der Gruppe OLODUM angebracht. Ein Trägerverein (SOPRU) wird gegründet. Im Jahr 1987 beginnt der Bau, die Baumittel sind zum Jahresende zu 80 % verbaut, die galoppierende Inflation erschwert die Kontrolle der Ausgaben. Außer zwei Baufachleuten werden die Bauarbeiter von SOPRU über die beteiligten Familien rekrutiert. Eine zusätzliche Spendensammlung in Brasilien wird notwendig, durch Unterstützung des deutschen Honorarkonsuls steht der geschätzte Fehlbetrag in Höhe von 10.000,– DM zur Verfügung. Von SPHAM (Bundesdenkmalbehörde) werden Mittel aus der nationalen Denkmalpflege für Dach und Fassade zugesagt. Im Frühjahr 1988 sind die Bauarbeiten bis auf die Fassade und den Innenputz beendet. Das IPAC übernimmt die Hausverwaltung und Instandhaltung, während mit den zuständigen kommunalen Behörden weitere Perspektiven erarbeitet werden. Dies erweist sich als zäher Prozess, eine konstruktive Verständigung ist nur partiell möglich. Die Stadtverwaltung hat inzwischen mit der Bundesregierung ein anderes Modernisierungskonzept für das historische Zentrum verabredet und eine entsprechende Finanzierungshilfe erwirkt. 1991 können die drei ausgewählten Familien schließlich einziehen und den kleinen Gewerbeteil vermieten. Dies ist bis heute (2017) weitgehend so geblieben. Die reinen Baukosten mit dem Selbsthilfeanteil entsprechen den Baukosten für die ca. zwei Stunden Busfahrt vom historischen Zentrum entfernten sozialen Minimalwohnungen in Fertigbetonkistchen. Das Pilotprojekt stellte sich sowohl sozial wie finanziell und bautechnisch als Alternative zu den üblichen offiziellen Versuchen, die Wohnbedingungen der Favelabewohner zu verbessern, dar. Es war eher Projekten zur Legalisierung von Favelas und zu behutsamer Verbesserung der vorhandenen Lebensbedingungen in den Favelas vergleichbar. Dazu muss gesagt werden, dass keinerlei Architekten- oder Beratungshonorare oder gar Reisekosten aus den Spendenmitteln bezahlt wurden. Parallel zu dem Pilotprojekt wurde im Auftrag der GTZ und in Absprache mit der Stadtverwaltung von mir und Dr. Pfeiffer ein Gutachten zur Anwendung der Erfahrungen mit dem Pilotprojekt auf weitere Ruinen im Stadtgebiet angefertigt. Dabei konnten wir schätzen, dass auf dem gleichen Weg und zu gleichen Bedingungen Wohnungen für ca. 75.000 Einwohnern möglich wären. Da von der Stadt aber ein touristisches Konzept mit Wohnungen für die obere Mittelschicht favorisiert und dann auch realisiert wurde, blieb das Pilotprojekt zunächst eine einsame Insel. Erst nachdem um die Jahrtausendwende diese Modernisierungspolitik als gescheitert angesehen wurde (die realisierten Wohnungen wollte keiner haben bzw. konnte sich keiner leisten), wurde von den zuständigen Behörden Projekte ähnlich wie das Pilotprojekt in Angriff genommen.
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Räumliche Ressourcen Das Pilotprojekt wurde lediglich in kleiner Auflage für Interessierte durch das Habitat Forum Berlin, 1989, veröffentlicht sowie als Wandzeitungsserie im Format A0 zur Verfügung gestellt (vergriffen). Unterlagen dazu befinden sich im eigenen Archiv von R. W. Ernst. Das Gutachten im Auftrag der GTZ »Habitação Popular e Património Histórico« von Prof. R. W. Ernst und Dr. P. Pfeiffer, Salvador/Ba, 1987, liegt im Archiv der GTZ und im eigenen Archiv vor.
Abb. 10: R. W. Ernst, Fassade und eine Bewohnerin (Dona Nilsete, gest.) des seit 1991 bewohnten Pilotprojektes in der Rua Vicente im historischen Zentrum von Salvador da Bahia de Todos os Santos, Salvador, 1998.
Hinweise auf Beispiele eigener Arbeiten
Abb. 11: Habitat Forum Berlin, Diskussionen mit zukünftigen Bewohnerinnen, die damalige Sozialarbeiterin der staatlichen Landesdenkmalbehörde in Bahia Karla Issa Freitas, Rainer W. Ernst, dem Statiker Horst Spandow (Berlin) und den Studierenden Paula Ramos und Holger Thor am demontablen Modell im Maßstab 1:50, 1986.
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Beispiel 3 Internationale NGO-Konferenz ›Habitat Forum Berlin ’87‹ zum internationalen und interkulturellen Erfahrungsaustausch unter dem Motto »learning from one another« (1987) Realisierter neuntägiger Weltkongress ›Habitat Forum Berlin ’87‹ für NGOs aus Anlass des internationalen Jahres der Menschen in Wohnungsnot im Rahmen der IBA ’87, veranstaltet vom Habitat Forum Berlin ’87 unter der Schirmherrschaft des Senators für Bau- und Wohnungswesen in Kooperation mit dem Habitat International Council (HIC) und dem Politikforum der Deutschen Stiftung für internationale Entwicklung (DSE) sowie der besonderen Unterstützung durch Misereor und der Carl Duisburg Gesellschaft e. V. mit 279 TeilnehmerInnen aus 51 Ländern und zusätzlicher Unterstützung von 17 international agierenden öffentlichen Institutionen aus verschiedenen Ländern bzw. von internationalen Organisationen. Konferenzsprachen war Englisch mit Simultanübersetzungen für Französisch, Spanisch und Deutsch. Unter anderem wurden von verschiedenen Personen Workshops organisiert und/oder Organisationen zu folgenden Themen durchgeführt: • • • • • • • •
Appropriate Technologies for Building in the Third World Communication on Urban Strategies Disaster Mitigation Role of NGOs in the Process of Popular Habitat Rehabilitation of Old City Centres Participation and Self-Help Housing in Towns and Rural Areas Women and Habitat
Dazu kamen mehrere Plenarsitzungen, ein Filmprogramm, 13 Ausstellungsbeiträge und die Vorstellung der 19 ausgewählten Projekte von NGOs. Unter anderem wurde ein allgemeiner Aufruf gegen gewaltsame Vertreibung verabschiedet, der 1992 zu der erfolgreichen internationalen Kampagne gegen gewaltsame Vertreibung in Santo Domingo, Dominikanische Republik geführt hat (Beitrag des Habitat Forum Berlin siehe Sondertext 6). Leitungskomitee: DSE Götz Link; HFB Rainer W. Ernst und Ludwig Thürmer; HIC Yves Cabannes, Peter Slits, John F. C. Turner, Han Verschure. Leitung des Organisationsbüros: Rainer W. Ernst und Ludwig Thürmer mit Ulla Kroog-Hrubes und Dagmar Wünneberg. Visuelles Konzept und Visualisierung: Bruno Bakalovich, Thomas Schneider, Ludwig Thürmer Kongressdokumentation auf Englisch: Habitat Forum Berlin ’87 und German Foundation for International Development (Hrsg.), »learning from one another«, Berlin, 1987; liegt auch in spanischer Sprache vor. »Changing the City – Building Community«, Wandzeitungsserie herausgegeben von Habitat Forum Berlin ’87, enthält die Dokumentation der 19 ausgewählten Projekte und von fünf verschiedenen Typen von Stadtentwicklungsprozessen, die zu spezifischen Wohnproblemen führten, gesponsert vom Senator für Bau- und Wohnungswesen und der Wohnungskreditanstalt, Berlin (West); an der Dokumentation der Fallstudien waren 23
Hinweise auf Beispiele eigener Arbeiten verschiedene Institutionen beteiligt, die Autoren für die Stadtentwicklungsprozesse waren: Ekhart Hahn und Christian Örtel; Annegret Nippa; Ingrid Krau; Johannes Augel und Rainer W. Ernst; Heitor Araújo, Christoph Borchert, Philippe Haeringer, Walter Heil und Gennaro Ghirardelli; vergriffen. Eine besondere Dokumentation der 19 Projekte durch Bertha Turner (Hrsg.), »Building Community – A Third World Book from Habitat International Coalition«, London, 1988.
Abb. 12: tom bakelit im Auftrag des Habitat Forum Berlin, Teilnehmer des Habitat Forum Berlin ’87 vor dem Seiteneingang Reichstag Berlin, Berlin, 1987, veröffentlicht.
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Abb. 13: Habitat Forum (Hrsg.) (visuelles Konzept und graphisches Design: Bruno Bakalovic und Thomas Schneider unter der Leitung von Ludwig Thürmer), Poster 2 (Überblick) der 26 Poster umfassenden Serie »Changing the City – Building Community« mit 19 ausgewählten Fallstudien und 5 Studien über Stadtentwicklungsprozesse, die jeweils typische Wohnungsprobleme hervorbringen; Berlin, 1987 aus Anlass des Weltkongresses Habitat Forum Berlin ’87.
3 Komplexität – Möglichkeit
Komplexität des Raumes Demokratisierung der Stadtplanung und das Konzept ›Möglichkeitsraum‹
In den beiden vorangegangenen Kapiteln wurde zunächst die Verschiedenheit räumlicher Eigenschaften und die Polyvalenz dieser Eigenschaften aus der Perspektive der Planung erläutert. Dazu wurde darauf hingewiesen, dass Eigenschaften und deren Veränderungen bestimmende Prozesse weltweit verflochten sein können und in ihrer Bewertung sowohl Widersprüchlichkeiten aufweisen als auch kulturbedingten Missverständnissen unterliegen. In diesem Abschnitt soll nun betrachtet werden, welche Handlungsparameter unter dem Gesichtspunkt der Organisation von planendem Handeln – also der rationalisierenden Zukunftsvermutung – zu berücksichtigen wären. Gerade unter dem Gesichtspunkt der ›Nachhaltigkeit‹ bzw. insbesondere bei Berücksichtigung eines sparsamen Verbrauchs stofflicher und finanzieller Ressourcen sind die geographischen Dimensionen im planenden Handeln vor dem Hintergrund der weltweit verflochtenen Wertschöpfungsketten und Verfrachtungen nicht so ohne Weiteres eingrenzbar. Aus ideologischen und/oder auch pragmatischen Gründen hat sich unsere Gesellschaft daran gewöhnt, dass viele Prozesse der Erzeugung und Verteilung von verschiedenen Eigenschaften an die ›göttliche Kraft‹ (siehe Hinweis 4 in Kapitel 2 des Buches) und Regulierungswirkung des Marktes delegiert worden sind, aber auch dies garantiert nicht, vor grundsätzlichen Fehleinschätzungen geschützt zu sein (wie weltweit die dynamisch auseinandergehende Schere zwischen individueller Armut und individuellem Reichtum zeigt) oder Fehleinschätzungen von Entwicklungsperspektiven aufzusitzen und damit gravierende Fehler in der Planung zu verursachen.1 Es ist ist aber an dieser Stelle zumindest zu ahnen, dass, um praktisches Handeln denken und realisieren zu können, eine gewisse geographische Eingrenzung unerlässlich ist. Die Welt als Ganzes als strategische Absicht eines einzelnen Staates in Betracht zu ziehen ist eher Gegenstand der Erwägungen von durchgeknallten Diktatoren.2 Seit dem zweiten Weltkrieg sind Betrachtungen der Welt als Ganzes allgegenwärtig, eine entsprechende handlungsfähige politische Instanz ist aber nicht in Sicht; die Möglichkeiten von UN-Organisationen sind sehr begrenzt, dies wird sich wohl auf absehbare Zeit nicht ändern. In der europäischen Geschichte gibt es zwei Ereignisse, die im gedanklichen Zusammenhang, die Welt als Ganzes als machtpolitischen Anspruch zu betrachten, zu erwähnen sind: Die Aufteilung
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der Welt 1494 durch päpstlichen Akt mit der sogenannten ›Tordesillas-Linie‹ in eine spanische und in eine portugiesische Einflusssphäre3 und die Kongo-Konferenz 1884/85 in Berlin, auf der unter Vorsitz von Bismarck als Vertreter des deutschen Kaisers und unter Anwesenheit aller damals anerkannten Kolonialmächte Afrika komplett in Kolonien aufgeteilt wurde. Das heißt also, es tagten damals die selbsternannten Herren der Welt ohne jegliche Beteiligung der betroffenen Afrikaner.4 Natürlich gibt es verschiedene Think Tanks, Lobbygruppen, Konferenzen, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen, Militaristen und Terroristen, die G7- und G20-Konferenzen als ausgewählte Verantwortungsgemeinschaft für das globale Geschehen und schließlich die UN mit all ihren Organisationen etc., die geheim oder mit gezielter Öffentlichkeitsarbeit versuchen, die Welt als Ganzes im Blick zu haben und entsprechend zu handeln. Dies ist nicht das Thema hier. Vielmehr stellt sich die Frage, unter welchem Gesichtspunkt sich der Betrachtungsraum für einen Architekten geographisch eingrenzen lässt. In Kapitel 1 habe ich ein Gebäude zur Veranschaulichung einer Verortung von Kategorien von räumlichen Eigenschaften benutzt. Für einen Architekten ist es – sofern er sich nicht in architekturtheoretische oder allgemeine Überlegungen verstrickt hat – der Handlungsraum seines gestalterischen Auftrags oder Anliegens, den er vor allem zu betrachten hat. Und dennoch gibt es Folgendes zu betrachten: Am Beispiel 3 in Kapitel 1 habe ich dargestellt, dass manchmal die Ursachen für die Wirkungen auf Eigenschaften des Handlungsraums weit außerhalb des Handlungsraums zu finden und möglicherweise von zentraler strategischer Bedeutung sind. Oder es können auch Arbeitsfelder für einen Architekten entstehen, die nicht durch Handlungsfelder in dem genannten konventionellen Sinn bestimmt sind, sondern durch Kooperationen erweitert werden und zu strategisch sinnvollen Ergebnissen auch für den Einzelfall führen können (s. Beispiel 3 in Kapitel 1 des Buches). Der gängige Handlungsraum für einen Architekten reicht von einem oder mehreren Grundstück(en), einem Gebäudeteil oder Gebäude bis hin zu einem Gebäudekomplex oder einem ganzen Stadtteil. Der gängige Kontext, der dabei nicht außer Acht gelassen werden sollte, ist in der Regel die Stadt im Kontrast zum Land.5 Werfen wir daher zunächst einen kurzen Blick auf das allgegenwärtige und unerschöpfliche Thema ›Stadt‹: Eine allgemeingültige Definition von Stadt gibt es nicht, dies hat sich seit der UN-Studie von 19766 trotz Globalisierung nicht grundsätzlich geändert. Lediglich der Anteil der Weltbevölkerung, der in Städten lebt – nach den nationalstaatlich unterschiedlichen Definitionen als Summe errechnet – ist drastisch gewachsen. Nach dieser Berechnung lebt heute mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten.7 Aber was ist Stadt für ein Ort? In Literatur, bildender Kunst, auch in der Musik sowie in vielen wissenschaftlichen Disziplinen und in einer Vielzahl von Architekturmagazinen ist Stadt als prägender Lebensraum immer wieder Thema. Aber ist aus den Reflexionen über Stadt als Ganzes auch Stadt allgemein als Entwurfsgegenstand abzuleiten? Dies würde zunächst voraussetzen, dass es möglich wäre, Stadt gerade als Einzelfall in ihren prägenden Einzelheiten im Kontext ihrer Ganzheit und ihres Veränderungsbedarfs zu erfassen, zu reflektieren und als widerspruchsfreies Gebilde auf ein ausgewähltes Handlungsmuster zu reduzieren oder die gesamte Vielfalt von Stadt in einer allgemeingültigen Ganzheit zusammenfassen zu können. Wird Stadt nicht nur als formal-geometrisches Gerüst (z. B. nur aus Mustern für Erschließung und Parzellierung bestehend), sondern als ein singulärer Ort mit spezifischen Bedingungen für alle gesellschaft-
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lichen Tätigkeiten verstanden, kann Stadt als Ganzes nicht wie ein ›Designobjekt‹ oder gar wie ein industrielles Produkt entworfen8 und realisiert werden. Selbst wenn die Computerspielwelt uns dies indirekt mit Eindringlichkeit suggerieren will. Eine lebendige Stadt ist immer heterogen und spezifisch gewachsen.9 In Fortsetzung der dargestellten Gedanken über ›Raum‹ könnte Stadt lediglich als eine verdichtete Verortung von verschiedensten und polyvalenten Eigenschaften betrachtet werden, als ein besonderer Ort der Ballung von räumlichen Ressourcen. Historisch war dies durchaus anders erlebbar. In Europa war sowohl in der Antike als auch im Mittelalter Stadt vor allem ein besonderer Lebensraum, der wesentlich durch die besonderen Rechtsbedingungen geprägt war; ein Spruch wie ›Stadtluft macht frei‹ drückt dies deutlich aus. Die korporationsrechtliche Verfassung der Städte war eine wesentliche Grundlage für die bauliche, soziale und ökonomische Bedeutung der Städte als Verortung von Triebkraft für die gesellschaftliche Entwicklung. Diese Bedeutung hat Stadt heute verloren. Schon Max Weber hat Anfang der zwanziger Jahre in seiner Schrift ›Die Stadt‹ versucht, eine Typologie der Städte darzulegen, durch die verschiedene Städte anhand vollkommen unterschiedlicher Merkmale aus der Geschichte, der Lage, der Funktion etc. zu Typen zusammengefasst werden, um daraus unterschiedliche gesellschaftliche Bedeutung der verschiedenen Typen ableiten zu können. Dieser historisch bedeutsame Versuch zeigt, dass es nicht erst heute unmöglich ist, eine Stadt auf allein ein besonderes Merkmal unter dem Handlungsgesichtspunkt eines Architekten zu reduzieren oder gar eine allgemeingültige Definition von Stadt daraus abzuleiten.10 In Europa war Stadt als Ganzes immer wieder Gegenstand von Utopien11 oder auch realisiertes Expansionsprojekt vor allem im Rahmen von kolonialen Erweiterungen12 . Stadtneugründungen waren im Europa des 20. Jahrhunderts selten. Wenn, dann war die Planung dieser Städte als Ganzes aus einer Monofunktion (das bedeutet, dass die Anforderungen an die Konzeption einer derartigen Stadt in eine eindeutige Hierarchie gebracht werden konnten, z. B. Wolfsburg) abgeleitet oder als direkte oder indirekte Exportartikel13 entwickelt. Im letzten Jahrhundert ist in unzähligen Seminaren, Symposien, Tagungen, Manifesten, Aktionen, Filmen, Büchern, Wettbewerben und Ausstellungen über Stadt als Lebensraum diskutiert und sind Gedanken dazu exponiert worden. Für den Diskurs auf europäischer Ebene spielte im 20. Jahrhundert dabei die Gruppe CIAM (5 Kongresse zwischen 1928 und 1937) mit der Entwicklung der Charta von Athen und dem bis heute wirkenden Konzept der »Funktionalen Stadt« eine prägende Rolle. »In den mannigfachen Architekturbewegungen dieses Jahrhunderts hat die Gruppe um die ›Congrès Internationaux d’Architecture‹ eine besonders intensive Ausstrahlung und Folgewirkung erreicht. Alles das, was unter den Kennworten ›neues bauen‹, ›Modern Movement‹, ›International Style‹, ›Funktionalismus‹ die Bauwelt so tiefgreifend verändert hat, ist mit dem CIAM so oder so verknüpft.«14 Eine vergleichbare Initiative auf zumindest europäischer Ebene hat seitdem nicht mehr stattgefunden. Die Internationale Bauausstellung Berlin ’87 hatte vor allem das Baugeschehen in Berlin mit internationaler Beteiligung im Focus (mit der Ausnahme der Ausstellung ›andernorts‹ und dem Habitat Forum Berlin ’87, siehe Beispiele 1 und 3 in Kapitel 2 des Buches). Aber immerhin hat auch diese Veranstaltung zumindest mit dem Konzept ›behutsame Stadterneuerung‹ nachhaltige Impulse für einen Paradigmenwechsel im Denken und Planen über Stadt auch im außereuropäischen Diskurs geliefert, nämlich Stadt nicht mehr nur
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durch Neubauten, sondern auch mit der vorhandenen Bevölkerung und auf der Grundlage der vorhandenen Bausubstanz weiterzuschreiben. In vielen Veranstaltungen im Verlauf der letzten Jahrzehnte sind in Europa auch mit spezifischen Vergleichen wichtige Hinweise auf den zeitgemäßen Umgang mit Stadt sichtbar geworden. Trotz dieser Vielfalt der betrachteten Städte und der jeweils hervorgehobenen unterschiedlichen Aspekte der Betrachtung von Stadt hat es immer wieder Versuche gegeben mit der Heraushebung von wenigen Aspekten eine Stadt oder auch Stadt allgemein zeitgemäß zu kategorisieren.15 Anders sind Versuche einzuordnen, mit Hilfe von Vergleichen die Vielfalt von Gemeinsamkeiten und von Unterschieden zwischen Städten differenziert betrachten zu können.16 Als Lehr- und Lernmaterial sind diese oft sehr gut brauchbar. Auch ist das dem Vergleich innewohnende Prinzip ›voneinander lernen‹ ein scheinbar praktikabler Punkt, jedoch sind die Möglichkeiten, diesem Prinzip folgen zu können, angesichts der Fülle und oft auch Unübersichtlichkeit der Materialien sehr begrenzt. Oft sind es gerade die nicht übertragbaren Besonderheiten einer einzelnen Stadt, die die darauf basierenden planerischen Analysen und Konzepten diskussionswürdig machen. Für Außenstehende ist dann ein Zugang zu Informationen schwierig, um verstehen zu können, aus welchem Kontext und durch welche Abläufe diese Besonderheiten möglicherweise entstanden sind. So ist nicht so einfach zu verstehen, wieso in der Bundesrepublik die in den siebziger Jahren heftig geführte Diskussion über den sogenannten ›Planwertausgleich‹17 auf Bundesebene sang- und klanglos von der Tagesordnung verschwand. Wahrscheinlich lag es an der Unmöglichkeit, all die verschiedenen Aspekte durch eine numerisch definierte Regelung wie bei der Steuergesetzgebung allgemeingültig zu regeln. All diese Komplikationen beförderten in den letzten beiden Jahrzehnten den Versuch, einen bilateralen Austausch zwischen zwei Städten und einen entsprechenden Diskurs zwischen den Politikern, Architekten, Planern, Verwaltungsleuten und anderen Experten der beteiligten Städte fruchtbar werden zu lassen. Städtepartnerschaften und nationale Kulturinstitute beförderten solche Veranstaltungen. War von den beiden jeweils beteiligten Städten eine in Lateinamerika, Asien oder Afrika, bekamen die Veranstaltungen sehr oft einen postkolonialen Charakter, schien doch von vorneherein klar zu sein, wer die Rolle eines Vorbildes in dem Austausch übernehmen sollte. So entschied man sich im Beispiel des »Forum Berlin – Caracas« im Jahr 2001, dies von vorneherein zunächst als Beratungsveranstaltung von Berlin für Caracas zu organisieren. Dies begann auch sehr eindrucksvoll.18 Die politischen Veränderungen haben aber eine Fortsetzung dieser Art von beratendem Dialog nicht mehr zugelassen. Ein anderes Format für Architekten, sich mit einer Stadt als Ganzes zu beschäftigen, sind entsprechende Wettbewerbe. Zum Wiederauf bau deutscher Städte nach der Zerstörung durch den zweiten Weltkrieg wurde in verschiedenen Fällen versucht, die Stadt neu zu erfinden.19 Die vielleicht heftigsten, aber auch vergeblichsten Bemühungen in diesem Sinn wurde mit dem internationalen Ideenwettbewerb ›Hauptstadt Berlin‹ veranstaltet. 1957 wurde dieser Wettbewerb aus Anlass der Interbau im Westteil der Stadt als Gesamthauptstadtwettbewerb ausgeschrieben. Politisch war dieser Wettbewerb eine typische Provokation im Rahmen des Kalten Krieges, der zu dieser Zeit zu eskalieren drohte. Besonders provokant waren dabei einige Karten in den Wettbewerbsunterlagen, die Deutschland in den Grenzen von 1937 zeigten (dieser politischen Karte begegnete ich auch 1971 im Warteraum des
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deutschen Konsulats in Porto Alegre – man stelle sich vor: in einer offiziellen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland!). Dies nur nebenbei. Ziel des Wettbewerbs war es, nicht nur städtebauliche Ideen für die gesamte Stadt zu erhalten, sondern der Kern der Aufgabe wurde in der Ausschreibung wie folgt beschrieben: »Der Neubau der durch den Krieg zerstörten Mitte Berlins ist die materielle, ihre Formung zu einem sichtbaren Ausdruck der Hauptstadt und der modernen Weltstadt ist die geistige Aufgabe des Wettbewerbs.« Dieser Fokussierung auf die Mitte der Stadt begegnen wir im Weiterschreiben der Stadt Berlin bis heute immer wieder. Dabei scheinen sich der provinziell anmutende Versuch, der Hauptstadt der Bundesrepublik endlich eine angemessene Mitte zu verpassen, und der Wunsch, die Spuren der ehemaligen Hauptstadt der DDR möglichst zur Belanglosigkeit zu reduzieren, ineinander zu verheddern. Dabei hat die entstandene Kraft des Fragmentarischen und des Vielschichtigen mit den innewohnenden kulturellen Highlights zumindest für das touristische Publikum eine ungebrochene Anziehungskraft. Hiermit soll nur noch einmal darauf hingewiesen werden, dass es eben nicht gelingt, aber auch nicht notwendig ist, mit aller Macht und Energie eine Stadt zu einem vermeintlich idealen Gesicht zu formen. Ein Stadt schreibt sich selber durch die in ihr lebendig vorhandenen Vielfalt und Energie, sofern die Einwohner Gelegenheit dazu haben, sich in der Stadt entsprechend ihrer Lebenswünsche einzurichten. Dies heißt jedoch nicht, dass dies vollkommen von alleine geschieht. Aber was wäre zu tun? Ein architektonischer Wettbewerb für eine ganze Stadt wird immer wieder einmal versucht. In Berlin geschah dies nach einschneidenden Ereignissen, wie erwähnt noch während, aber insbesondere nach dem Ende des zweiten Weltkrieges und dann nach der Wiedervereinigung der beiden Stadthälften.20 Es erscheint nachvollziehbar, dass die Möglichkeiten, die man sich vorstellen konnte, die in einer Art ›Stunde-Null-Empfinden‹ hervorgebracht werden und die von einem derartigen Gesamtstadtwettbewerb erhofft wurden, zu derartigen Aufwendungen für einen offenen internationalen Wettbewerb mit über 100 Beteiligten führten. Betrachtet man aber aus heutiger Sicht die Dokumente der Ergebnisse – unabhängig davon, dass mehr oder weniger keine der Ergebnisse in die Realität umgesetzt wurden –, ist dabei zwar eine Vielzahl von einzelnen Anregungen und Denkanstößen zu entdecken, die Mehrzahl der Inhalte aber hat längst nicht die Qualität zum Beispiel literarisch geprägter Porträts der Stadt. Als eingefrorenes Zukunftsbild sind es in der Regel überwiegend Unzulänglichkeiten, beileibe nicht praktikable Hinweise und fern einer anregenden utopischen Kommentierung der Ausgangssituation. Dies liegt sicher auch daran, dass die Beschränkung auf die Visualisierung baulicher Gestaltung ein sehr einseitiges Bild von verorteten Eigenschaften ergibt. Im zweiten Wettbewerb, veranlasst durch das Stadtforum Berlin 1992, ist zu bemerken, dass von einigen Teilnehmern deutlich versucht wurde, diese Begrenzung auf die von der Architektur klassischerweise zu bearbeitenden Eigenschaften von Stadt zumindest mit assoziativen Bildern und entsprechenden Kommentaren zu überschreiten. Hervorzuheben ist ein Beitrag, genannt ›Stadtvertrag‹, in dem die Verfasser sich mehr auf Prinzipien und Kriterien zum Thema Stadtverträglichkeit konzentrierten. Diese Arbeit hat eher die Form eines Manifestes über Grundprinzipien und schützt sich damit vor in diesem Rahmen unzulänglicher Konkretheit.21 Aber auch hier ist eine Spur, die zu einer realitätswirksamen Veränderung im politisch-bürokratischen Umgang mit der Stadt führen könnte, nicht wirklich zu entdecken. Mir geht es jedoch hier nicht darum, all diese
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Versuche kritisch und historisch angemessen zu würdigen, sondern lediglich darum festzustellen, dass wir uns sehr schwer tun, einen zeitgemäßen und praktikablen Ansatz – mit oder ohne Architekten – zu finden, um den Umgang mit Raum und speziell der Stadt zu verbessern. Ich habe damals eher pragmatisch versucht, in einer interdisziplinären Gruppe die erforderlichen räumlichen Aufgaben als Diskussionsgrundlage zu formulieren und aus dieser Erfahrung heraus eine neue Planungskultur zu fordern (siehe Beispiel A2). Dies war dann eine Grundlage in der Diskussion des Deutschen Werkbundes Berlin mit Volker Hassemer (vor den Wahlen in Berlin, die ihn zum Senator für Stadtentwicklung und Umwelt machten) über unsere Empfehlung für die Begleitung der Stadtentwicklungspolitik das ›Stadtforum‹ einzurichten. Die Einrichtung des Stadtforum Berlin war eine innovative Tat; die Wirkung erscheint aus heutiger Sicht trotz des großen Aufwandes relativ gering und temporär, obwohl dies für mich ohne Zweifel eine richtungsweisende Form darstellte, die gut hätte weiterentwickelt werden können. Dass seitdem keiner der auf Volker Hassemer folgenden Politiker auch nur ansatzweise eine ähnliche Anstrengung zur Verbesserung der erforderlichen Stadtentwicklungsplanung ergriffen hat, ist mehr als verwunderlich. Zu erwähnen sei allerdings noch ein anderer Versuch, der sich auf eine baulich relativ homogene Struktur bezog, die das Bild von neueren Stadtteilen in der DDR wesentlich prägten: die Plattenbausiedlungen. Hier wurde auch mit großem Aufwand zu dem Raumtypus ›Großsiedlungen‹ interdisziplinär unter Beteiligung verschiedener Mitarbeiter aus der Berliner Verwaltung und den Wohnungsbaugesellschaften sowie in internationalem Austausch ein intensiver Kommunikations- und Entwurfsprozess durchgeführt. Die Ergebnisse sind dokumentiert. Die Versuche, Ansätze für eine Nachbesserung oder gar Nachurbanisierung zu finden, waren gegeben; wie sich aber in einer konkreten Ergänzungsanalyse zu Marzahn-Süd herausstellte, waren sie unrealistisch. Schon kurz nach der ›Wende‹, wahrscheinlich unter der Federführung der Treuhand, war eine Parzellierung durchgeführt worden, nicht nur die Großsiedlung Marzahn, sondern auch alle anderen Großsiedlungen der DDR 22 betreffend. Dies hatte zur Folge (ähnlich wie bei der Überführung von Produktionsbetrieben in Privateigentum), dass alles, was nicht als für die Wohngebäude (oder die Betriebe) unmittelbar erforderlich angesehen wurde, in das Eigentum der Treuhand geriet bzw. unmittelbar dem Eigentum anderer Zuständigkeiten zugewiesen wurde. Wenn man bedenkt, dass in Marzahn mit seinen ca. 160.000 Einwohnern 1990 im Grundbuch nur fünf oder sechs verschiedene Eigentümer verzeichnet waren – 160.000 Einwohner und nur eine Handvoll Eigentümer? Wie das!? –, war die Überlegung, daran sofort etwas zu ändern, verständlich, aber hastig durchgeführt. Die Grundstücksgrenzen waren so um die Wohnungsgebäude gezogen, dass eben keinerlei Ergänzungen möglich waren. Die planerischen Anstrengungen kommen nachträglich wie ein blöder Witz daher (siehe Beispiel B3). Die schnelle Privatisierung von Grundstücken sollte zum Beispiel aufgelaufene Schulden im Wohnungsbau tilgen; gleichzeitig sollten durch die Verteilung des öffentlichen Raums auf verschiedene Verwaltungen die Verantwortung und die ›Betriebskosten‹ für diese Flächen bzw. diesen Raum differenziert zugeordnet werden. Dies sei nur erwähnt, um an diesem Beispiel auf die Bedeutung vorhandener räumlicher Eigenschaften des Raums für jede Planung hinzuweisen. Es ist ebenfalls nicht meine Absicht, hier eine umfassende und systematische Aufarbeitung der europäisch-deutschen Stadtbaugeschichte zu präsentieren 23, sondern le-
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diglich, an vergebliche Bemühungen zu erinnern, die ganze Stadt oder auch große Stadtteile als Ganzes zum Entwurfsgegenstand zu erheben, und dabei gleichzeitig auf wichtige zu berücksichtigende Parameter bei einem derartigen Diskurs hinzuweisen. Stadt als Ganzes zu betrachten scheint dennoch notwendig zu sein, um der erforderlichen Komplexität der Entwicklung von Raum gerecht werden zu können. Dazu sind zwei Anmerkungen zu machen, um Missverständnisse zu meiner weiter oben angeführten Kritik an Stadtentwürfen für eine ganze Stadt zu klären: a) Mit der räumlichen Abgrenzung wird gerade für alle zu betrachtenden Eigenschaften vordergründig ein einheitlicher Betrachtungsraum festgelegt. Zuständigkeiten, menschliches Verhalten, natürliche Prozesse, technische Erfordernisse und Prozesse führen immer nicht nur inhaltlich zu unterschiedlichen Wirkungen und erfordern inhaltlich unterschiedliche Bedingungen, sondern diese Wirkungen und Bedingungen sind in unterschiedlichen räumlichen Dimensionen wirksam und beschreibbar. Es gibt daher keine sinnvolle räumliche Abgeschlossenheit für eine ganzheitliche Betrachtung, sondern nur pragmatisch bedingte Verabredungen zum singulären Gebrauch. Nehmen wir zum Beispiel die für Berlin beabsichtigte und wohl zur Zeit (2017) auch sinnvolle räumliche Verdichtung, die unweigerlich nach unserem aktuellen Verständnis und gesetzlich verankerten Erfordernissen eine Reihe von Ausgleichsmaßnahmen (durch entsprechende Bepflanzung auf geeigneten Flächen mit entsprechender Pflege) erfordert, die im Raum Berlin kaum noch verortbar sind. In Brandenburg gäbe es aber noch eine Vielzahl wirksamer und realisierbarer Orte für derartige Ausgleichsmaßnahmen. Für jeden Verwaltungsangestellten in Berlin und Brandenburg ist eine derartige Überlegung mitnichten statthaft, da ein derartiger Ausgleich über Landesgrenzen hinaus einen entsprechenden Staatsvertrag erfordert. Also wird dies gar nicht erst in Erwägung gezogen, obwohl es für beide Länder Vorteile bringen könnte. b) Die Reduktion auf städtebauliche Eigenschaften bei einer Gesamtstadtplanung kann nicht als ein zu realisierender Vorschlag verstanden werden. Stadt als Ganzes als ein Gestaltungsobjekt zu betrachten geht nur durch die Reduktion der Eigenschaften von Stadt auf wenige, die den Gegenstand einer derartigen Vorgehensweise betreffen. Da aber das System der Eigenschaften ein offenes – also sich immer veränderndes – ist und einzelne Eigenschaften mit anderen in interdependenten Beziehungen stehen und die Gesamtsumme der Eigenschaften, wie in Kapitel 1 gezeigt wurde, alle erdenklichen Bereiche der Gesellschaft betreffen können, ist die Planung bzw. Gestaltung von Stadt eine ganzheitliche Aufgabe. Dies bestreitet nicht, dass es für besondere Zwecke sinnvoll und möglich sein kann – wie etwas später unter dem Stichwort ›Möglichkeitsraum‹ dargestellt wird –, mit der Reduktion auf einige Eigenschaften wichtige Beiträge in den Diskurs um Stadt einzubringen und einzuarbeiten. Dies wird im Folgenden unter dem Gesichtspunkt ›Raum als komplexes System‹ dargestellt werden. Kommen wir zurück zu dem bislang dargestellten Grundgedanken über Raum als gesellschaftliche Ressource. Nach den bisher dazu ausgeführten Gedanken mit den Begriffen ›Polyvalenz von Raum‹ und der Erläuterung des nicht nur räumlich
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bedingten Spannungsfeldes ›global-local‹ wäre Stadt neben ihrer besonderen Form organisierter Zuständigkeit für das kommunale Gemeinwohl als Lokalisierung von räumlichen Eigenschaften in besonderer Dichte zu behandeln. Für jede Kommune bzw. Stadt wäre demzufolge eine Datei der räumlichen Ressourcen Grundlage planerischen Handelns. Dem Erzählwert verorteter Eigenschaften käme dabei eine spezifische Bedeutung für die Berücksichtigung jeweils örtlich vorhandener historischer Besonderheiten zu. Daher erscheint es nicht erforderlich zu sein, als Grundlage für eine kommunale Bilanz räumlicher Ressourcen eine umfassende und verallgemeinerbare Stadtbaugeschichte zu eruieren. Eine allgemeine Zusammenfassung von Eigenschaften der ›Stadt‹ ist eher als systemischer Hinweis nützlich (siehe Sondertext 7: »Thesen zum Verständnis der Stadt«). Hinzu kommt, dass ich auf der Grundlage meiner Erfahrungen und meines Wissens zusammenfassend feststellen kann, dass es trotz einer Vielzahl von Anstrengungen verschiedenster Art in den letzten Jahren in Europa nicht gelungen ist, die Bearbeitung des Raums als gesamtgesellschaftliche Ressource einer Stadt und damit als öffentliche Aufgabe so zu strukturieren und zu praktizieren, dass die entsprechenden Planungs- und Entscheidungsprozesse der Komplexität der Aufgabe gerecht werden. Zum Beispiel ist ein Liegenschaftskataster der Eigentümer öffentlichen Rechts mit entsprechenden regelmäßigen (im Sinne der bislang erfolgten Darlegungen) polyvalenten Bilanzen nicht bekannt, geschweige denn, dass politische Entscheidungen bekannt sind, die auf derartigen Grundlagen basieren. Nicht ohne Grund ist 2017 in Berlin mit Beginn der neuen Landesregierung ein ›Runder Tisch zur Neuausrichtung der Berliner Liegenschaftspolitik‹24 eingerichtet worden. Dieser runde Tisch hat sich vorgenommen, die Grundlagen für eine zeitgemäße Immobilienpolitik zu schaffen und Stellungnahmen zu aktuellen Fällen abzugeben, wie bei den Immobilienkonflikten bezogen auf das ›Dragoner-Viertel‹ oder das ›Haus der Statistik‹, die als Bundesimmobilien durch die im Mai 2017 erfolgte Unterzeichnung des neu verhandelten Hauptstadtvertrags in das Eigentum des Landes Berlin übertragen wurden. Man wird sehen, ob es diesem ›Runden Tisch‹ gelingt, über singuläre Aktionen und Berücksichtigung von speziellen Interessen an Einzelprojekten hinaus grundsätzliche Ratschläge oder gar Forderungen grundsätzlicher Art an die Landesregierung vorzubereiten und zu diskutieren. Auf der Suche nach operablen Ansätzen zu diesem Thema scheint es mir hilfreich zu sein, die Komplexität und Kompliziertheit von Raum bzw. des Konzeptes ›räumliche Ressourcen‹ näher zu betrachten. Daher werde ich im Folgenden auf die besondere Komplexität von Raum eingehen und daraus Schussfolgerungen ziehen, wie diesbezügliche Entscheidungsprozesse unter demokratischen Gesichtspunkten vielleicht strukturiert sein müssten, um einer zeitgemäßen Demokratisierung eher gerecht zu werden. Rufen wir uns nochmals in Erinnerung, dass jedweder Raum, bedingt durch die dreifache Relativierung (durch Subjekt, Ort und Zeit), nur zu einer momentanen Gewissheit für diejenigen werden kann, die durch Kommunikation über den jeweiligen Raum in einem demokratischen Prozess ein Einverständnis erreicht haben. Dies erscheint natürlich als ein irrwitziges Phantasma. Nimmt man diese Erkenntnis im wissenschaftlichen Sinn, also messtechnisch genau, wäre ein Einverständnis sowieso unmöglich. Einverständnis muss außerdem immer informell vor- und nachbereitet werden. Dies kann sehr aufwendig sein, vor allem, wenn dies nicht nur zu einer internen Kungelei benutzt wird. Ein Erfolg ist trotzdem nicht ga-
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Sondertext 7
Thesen zum Verständnis von Stadt Stadt ist kein Fertigprodukt: Stadt ist ein kontinuierlicher Prozess, der von Regularien, Entscheidungsprozessen, Prozessen der Produktion von Stadt, Prozessen des Gebrauchs von Stadt, von symbolischen und repräsentativen Prozessen, von Prozessen der Veränderung von Erinnerung, von Verfügbarkeit und von Verantwortung begleitet wird; daher: Stadt ist eine räumlich heterogene und komplexe Angelegenheit, von Menschen immer wieder gedacht und geschaffen, eine künstliche Lebenswelt, der alle Eigenschaften zivilisatorischer Entwicklung in einer für jede Stadt eigenständigen Mischung und Wertigkeit innewohnen; daher: Jede Stadt ist einzigartig, jede Stadt ist ein Unikat: Jede Stadt ist eine materielle, informationelle, soziale, technologische und ökologische sowie eine ökonomische und kulturelle Angelegenheit; jede Stadt ist auch immer als ein Archiv des Gedächtnisses der Stadt selber zu lesen; damit verkörpert jede Stadt auch ihre eigene Geschichte auf eigene Art; daher: Stadt geht uns alle an: Die Gestaltung/Planung jeder Stadt betrifft daher alle Interessen und Bedingungen, die sich auf die jeweilige Stadt als Ort spezifischer Lebens- und Arbeitsbedingungen beziehen. Ein organisierter Dialog über die Gestaltung der Stadt ist daher eine fundamentale demokratische Herausforderung für jede kommunale Verwaltung und Politik. Dabei ist zu beachten, dass inzwischen jede Stadt auf der Welt zwar globalisierten Einflüssen unterliegt, aber jede Stadt auch besondere Gestaltungsmöglichkeiten auf lokaler Ebene aufweist; dies betrifft lokal organisierbare Arbeit, das Gemeinwesen insgesamt, die räumliche Ordnung der Stadt, den Umgang mit dem Gedächtnis der Stadt, die Entscheidungen über das Erscheinungsbild der Stadt usw.; daher lässt sich sagen: Stadt ist glocal: Sie ist bestimmt durch globale Entwicklungen und Einflüssen wie auch durch die lokal genutzten Entscheidungsspielräume.
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rantiert: Fehler, Fehleinschätzungen oder Versäumnisse geschehen immer (siehe Diagramm 5). Aber besonderes Engagement ist immer erforderlich, soll die planmäßige Entwicklung unseres Lebensraumes Thema demokratisierter Entscheidungsprozesse sein und allein bürokratischer Routine überlassen bleiben. Wir werden uns daher daran gewöhnen müssen, dass es mit dem Ziel, ›Demokratisierung weiterzuentwickeln‹, lediglich darum gehen kann, sich diesem Einverständnis als momentane Gewissheit allmählich in Schritten ein wenig anzunähern. Dies weist darauf hin, dass dieser Prozess der Verständigung allein schon durch die Relativierungsproblematik ein sehr komplizierter Kommunikationsprozess ist und außerdem immer unter Zeitdruck steht. Also wird die einfachste Regelung sein, sich auf Fristen für die immer wieder zu wiederholenden Schritte zu einigen, ähnlich wie bei der Aufstellung eines Haushaltsplanes, unabhängig natürlich von der notwendigen Entscheidung darüber, über welche Verortung welcher Eigenschaften ein wie geartetes Einverständnis erzielt werden soll. In diesen Fragen ist die inhaltlich bedingte Komplexität der Agenda rund um das Thema Raum verborgen. Zwischenbemerkung: In der klassischen Systemtheorie wurde formal zwischen Komplexität und Kompliziertheit unterschieden, es hat sich aber eingebürgert, mit Komplexität beide Systemeigenschaften zu bezeichnen.25 Komplexität im gebräuchlichen allgemeinen Verständnis benennt die Eigenschaft eines Systems, das unübersichtlich ist, Überraschungen und Widersprüche bzw. Unvereinbarkeiten in sich birgt, in seiner Entwicklung nicht vorhersehbar ist, nur bedingt durch Weglassen erklärbar bleibt, an verschiedenen Teilen gleichzeitig veränderbar ist und sicher noch einiges mehr. Ein System als allgemein komplex zu bezeichnen weist also lediglich darauf hin, dass zur Ergründung eines zu betrachtenden Systems, das als komplex bezeichnet wird, genauer hingesehen werden muss. Also ist die Frage zu stellen: Wodurch ist das System ›Raum‹ als komplexes System zu beschreiben? Ein bestimmter Raum hat viele verortete Eigenschaften, die nur durch besondere Sachzusammenhänge erklärbar sind. Raum zu verstehen ist daher meistens eine Angelegenheit interdisziplinärer Kooperation. Diese Eigenschaften werden aus den Perspektiven der verschiedenen Interessen unterschiedlich bewertet. Die Polyvalenz von Raum zu beurteilen und einzuschätzen ist daher nur aus pluralem Verwertungsinteresse zu erfassen. Meinungen über Zustände von Eigenschaften sind immer angesichts der beteiligten Personen, des Ortes und des Zeitpunkts der Meinungsbildung zu relativieren, ein gefundenes Einverständnis ist nie ein Endzustand. Zwischen einigen Eigenschaften gibt es interdependente Beziehungen, sodass einige Eigenschaften nicht ohne Weiteres als Indikator für eine andere Eigenschaft verwendet werden können. Relevante Eigenschaften stehen nicht in einer hierarchischen Beziehung, ansonsten könnten sie als nicht erforderlich betrachtet werden. Außerdem ist immer zu berücksichtigen, dass die Gesamtheit der Eigenschaften eines Ortes nicht nur aus der Summe ihm innewohnender Eigenschaften, sondern auch aus Beziehungen zwischen Ort und, durch Ansprüche oder Begehrlichkeiten, nicht dem Ort allein zugeordneten Akteuren besteht. Oft liegt in diesen Beziehungen sogar der Schlüssel für eine erfolgreiche Raum-Strategie für den Ort versteckt.
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Diagramm 5: Kommunikationsstrategie im Netzwerk (Beispiel auf der Grundlage eines realen Falles, der anonymisiert ist)
Beispiel Protokoll der Kommunikation in der Vorbereitung und Vermittlung der Entscheidung eines Fachgremiums an Politiker Jeder Punkt stellt eine Person dar, die grossen schwarzen die relevanten politischen Entscheidungsträger, die in der Kommunikation nur indirekt eingebunden waren, die Punkte, die mit einem schwarzen Balken verbunden sind, sind das mehrköpfige Fachgremium, die Entscheidung des Fachgremiums erreichte nicht wirklich die beiden zentralen politischen Entscheidungsträger, die Empfehlung des Gremiums wurde durch eine parallele Aktion ausgehebelt. Charakteristik: Netzstruktur, polivalent (verschiedene Aufgaben), teilweise Interdependenzen, offene Struktur intern-extern.
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Einige Eigenschaften sind durch andere substituierbar, z. B. durch Ersatzmaßnahmen. Das System der Eigenschaften ist offen: Es treten neue Eigenschaften auf und werden wichtig, andere werden unwichtig. Am Beispiel der Standortentscheidung von Windrädern ist dies deutlich zu sehen. Diese verschiedenen Eigenarten des Systems von räumlichen Eigenschaften haben zur Folge, dass es nie eine vollständige Betrachtung von Raum, sondern nur verabredete Gewissheiten geben kann. Bei einer Erarbeitung einer Bilanz von räumlichen Ressourcen wird aus strategischer Sicht, sozusagen mit politischer Intention, immer eine Reduktion der Komplexität erforderlich sein. Nun mag man einwenden: Das haben wir doch, wozu diese ganze Komplexitätserwägungen? Wozu haben wir Parteiprogramme? Oder: Intuition ist alles! Verständlich, aber hier ist zu entgegnen, dass es eine Reihe politisch erklärter oder in Erwägung gezogener Ziele gibt – unabhängig von Gerechtigkeitsfragen alle Lebens- und Arbeitsbereiche betreffend –, deren räumliche Implikationen bzw. Umsetzungen an adäquaten Standorten zu erforderlichen Bedingungen eben nicht klar sind. Als da sind zum Beispiel: • ausreichend preiswerter Wohnraum • Verminderung des Transportaufwandes der Bevölkerung (auch als Energiesparmaßnahme) • Verbesserung des räumlichen Angebots für Start-ups • Verbesserung der sozial-räumlichen Integration von Flüchtlingen • Verbesserung der Umweltbedingungen • Verbesserung der Koordination der Stadtentwicklung mit anderen Verwaltungsbereichen • Verbesserung des räumlichen Angebots für lokale Kultur und Start-ups • Verbesserung der Möglichkeiten für Urban Gardening • Verbesserung der räumlichen Verteilung von Schulen und Kindergärten bzw. Kindertagesstätten • Verbesserung des lokalen Grünraumangebots • etc. … und vor allem: • Was ist überhaupt mit selbstorganisierter Arbeit im öffentlichen Interesse? Soweit einige beispielhafte Hinweise. Eine räumliche Bilanzierung müsste zumindest die Möglichkeitsräume für Aktivitäten, die diesen Zielen entsprechen, aufweisen können. Die räumliche Zuordnung – Verortung – wäre eine weitere Aufgabe. Jedenfalls sind öffentlich zugängige Untersuchungen über noch nicht ausgeschöpfte räumliche Potentiale für die genannten oder auch andere strategische Ziele in der öffentlichen Diskussion bislang nicht wirklich erkennbar. Eine besondere Ausnahme ist die regelmäßige Information in Karten (verortete Eigenschaften) und den dazugehörigen Statistiken rund um das Thema Mietpreisbindung. Diese Informationen haben sicher ihren Nutzen, sie zeigen aber auch, wie wenig die deklamierte Mietpreisbindung funktioniert. Sie hat außer einer notwendigen Information für jeden einzelnen
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Mieter, um sich individuell besser gegen ›ungerechtfertigte‹ Mieterhöhungen wehren zu können, keinen weiteren erkennbaren strategischen Nutzen. Die gewollte ›Mietpreisbremse‹ ist lediglich zu einer justitiablen Legitimation von regelmäßigen Mietpreiserhöhungen geraten. Vielleicht ist es immerhin ein Anfang zur Entwicklung einer Diskussions- und Planungskultur über ›räumliche Ressourcen‹ des Landes Berlin. Es kann aber auch sinnvoll sein, räumliche Bilanzen nicht nur mit dem Blick auf ›Möglichkeitsräume‹, auf einzelne Orte oder für besondere Institutionen durchzuführen. Das Konzept ›Möglichkeitsräume‹, das hier im Vordergrund steht, dient in diesem Kontext vor allem dazu, das Aufgabengebiet von ArchitektInnen und ihre Rolle bei räumlichen Bilanzen deutlich werden zu lassen. Räumliche Bilanzen werden durchaus auch aus besonderer thematischer Sicht geführt bzw. gezielt beeinflusst. So wurde z. B. 1960 auf der Grundlage verschiedener Untersuchungen und einer Tagung zum Thema Landschaftszerstörung durch Zersiedlung und Umweltverschmutzung (1959 in Marl) vom Deutschen Werkbund unter Leitung von Walter Rossow die Kampagne »Die große Landzerstörung« durchgeführt. Unter anderem wurden Planungsinstrumente zum Schutz von Natur und Grünflächen verlangt und damit eine Bilanz der räumlichen Ressourcen zu Gunsten einer bestimmten Flächenart (bestimmter verorteter Eigenschaften) eingefordert. Zum gleichen Thema aus ökonomischer Sicht sei auf das Buch »Landschaftsfraß« von Rita Kindler hingewiesen.26 Unabhängig von diesen eher inhaltlichen Fragen möchte ich noch einen Blick auf die erforderlichen System-Eigenschaften möglicher Prozesse zur Bilanzierung von räumlichen Ressourcen werfen, ehe ich zum abschließenden Punkt des Möglichkeitsraums insbesondere im lokalen Kontext komme. Nach den bisherigen Aussagen und den genannten Komplexitätsmerkmalen müssten die Prozesse folgende Elemente aufweisen: 1. Eine Verzeitlichung einzelner Schritte in Form von Fristen oder auch Takt angaben. 2. Berücksichtigung von Rückkoppelungen. 3. Bereitstellung von Alternativen (mindestens zwei) zu bestimmten Entscheidungen. 4. Plurale Mitwirkung (Interessenvielfalt, multidisziplinäre, polykulturell) vor allem bei der Bewertung von Eigenschaften. 5. Eine Art Monitoring über die laufenden Veränderungen (Eigenschaften, Bewertungen, Verortungen), und damit eine regelmäßige, kontinuierliche Aktualisierung der Raumdateien sowie ein mit dem Ablauf abgestimmtes Berichtswesen. Ziffern siehe auch Diagramm 6
Mit Diagramm 6 wird unter Berücksichtigung der genannten 5 Komplexitätsmerkmale ein Grundschema für die Organisation der regelmäßigen Erstellung der Bilanz räumlicher Ressourcen einer Kommune vorgeschlagen. Ein genaueres Regime für die Erarbeitung und Entscheidungsprozesse kann nur im konkreten Fall mit Politik und Verwaltung erarbeitet werden. Die Realisation wird ziemlich sicher nur schrittweise erfolgen können, einiges wird auch ausprobiert werden müssen. Viele Elemente werden aber schon in der Verwaltung, allerdings nicht genau für diesen Verwendungszweck, erstellt. Eine Implementierung in die Verwaltung bedeutet
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Diagramm 6: Vorschlag für ein Grundschema zur Organisation der Bilanz der räumlichen Ressourcen
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Modifikation in der Arbeitsteilung einer Verwaltung sowie Modifikation entsprechender Entscheidungsprozesse mit einer Einbeziehung der Bürgergesellschaft in Vorbereitung und Beratung von Entscheidungen zu verabredeten Punkten. Um die wachsende Unkultur von Bürgerbeteiligungen in rein symbolischen Formaten und Protesten, die allein auf Partikularinteressen beruhen, zu vermeiden, müssen die demokratischen, parteibasierten Gepflogenheiten dringend einer kritischen Überprüfung unterzogen werden. Die Erfahrung von entsprechenden Initiativen ist es, dass es keinerlei Sicherheiten gibt, dass Einwände gegen entsprechende Entscheidungsprozesse richtig gewürdigt werden. Vielleicht liegt es daran, dass die Gesellschaft in der Bundesrepublik nach wie vor eher von einer Durchsetzungskultur als von einer zivilen Streitkultur zur Erreichung einer Art relativer gesellschaftlicher Vernunft im Handeln geprägt ist. Eine ähnliche Vorgehensweise wie bei der Bilanzierung kommunaler räumlicher Ressourcen ist ebenfalls größeren Institutionen wie Universitäten oder auch Krankenhäusern zu empfehlen. In den beiden am Ende dieses Kapitels angeführten Beispielen für zwei Kunsthochschulen (siehe Beispiele B2 und B6) habe ich für die Leitung der Schulen Grundzüge dieser Vorgehensweise wie folgt angewandt: Für die Kunsthochschule Berlin Weißensee habe ich regelmäßige Raumberichte zur Vorbereitung und Überprüfung des Ablaufs der vielen Einzelmaßnahmen (siehe Beispiel B2) angefertigt. Für die Muthesius Kunsthochschule in Kiel habe ich einen baulich-räumlichen Entwicklungsplan, integriert in den Strukturentwicklungsplan der Muthesius Kunsthochschule Kiel (siehe Beispiel B6), erarbeitet sowie, permanent aktualisiert, komplexere Flächenbilanzen skizziert, die sich für die Diskussionen um die Raumverteilung vor dem Umzug in den neuen Campus und für die Präzisierung der erforderlichen Anmietung als sehr nützlich erwiesen. Die unterschiedlichen Vorgehensweisen waren durch die verschiedenen Bedingungen in den jeweiligen Landeshaushalten möglich und erforderlich. Die von mir praktizierte komplette und regelmäßig durchgeführte Offenlegung der Raumplanung hat in den beiden Hochschulen zu fast immer einstimmigen Beschlüssen in den zuständigen Hochschulgremien geführt (oft wurde ironisch angemerkt, dass sich ›sozialistische Gepflogenheiten‹ eingebürgert hätten), was wiederum die Voraussetzung war, um Akzeptanz in der Ministerialbürokratie für eine Vorgehensweise, die von den vorgeschriebenen Verfahrensweisen abwich, aber zielführend war, zu erreichen. Die Beteiligung von Architekten an derartigen Prozessen ist an verschiedenen Stellen unerlässlich. Besonders möchte ich auf die Bedeutung der Qualifizierung von Grundstücken der öffentlichen Hand durch die Präzisierung von möglichen Entwicklungen durch Architektur als Teil der für die Bilanzierung erforderlichen Raumdatei hinweisen. Architekten sollten sich weniger im Gefühl des Bedauerns des historischen Verlusts einer Omnipotenz um die Reduktion erforderlicher Komplexität mit einem scheinbar alles umfassenden baulich-räumlichen Vorschlag kümmern, sondern die hypothetische und mögliche Vielfalt der Eigenschaften einer möglichen einzelnen Maßnahme ausloten und kommunizieren. Dies gewinnt bei Betrachtung der lokalen Ebene an Bedeutung. Bevor ich das dazu entwickelte Konzept ›Möglichkeitsraum‹ näher erläutere ist ein inhaltlicher Blick auf die ›lokale Ebene‹ sinnvoll. Die Realität dieser lokalen Ebene lässt sich nicht durch einen geographischen Maßstab definieren; vielmehr ist der geographische Umfang dieser Ebene jeweils durch ein Vorhaben mit baulich-räumlicher Dimension und
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die Berücksichtigung der entsprechenden Realisierungsmöglichkeiten bestimmt. In Beispiel 1.3 habe ich gezeigt, dass die Realisierung zum Beispiel einer Verortung lokaler Wohnprojekte durchaus von staatlichen oder sogar internationalen Bedingungen abhängig sein kann und daher Gegenstand der Analyse der Realisierungsmöglichkeiten sein muss. Dies bedeutet, dass der zu betrachtende geographische Raum mit seinen unterschiedlichen Eigenschaften geographisch sehr heterogen sein kann. Es macht also keinen Sinn, den Betrachtungsraum allein geographisch für alle Eigenschaften gemeinsam festzulegen. Auf dieser so flexibel definierten ›lokalen Ebene‹ kommt der Frage nach der lokal zu ermöglichenden Arbeit eine besondere Bedeutung zu. Weltweit wird in der wachsenden Arbeitslosigkeit (insbesondere in großen Städten) eine der wesentlichen Herausforderungen für die Gestaltung der Zukunft gesehen. Einzelerfolge in spezifischen Orten und Regionen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gesamtzahl der ›organisierten‹ Arbeitsplätze (insbesondere der Arbeitsplätze in der industrialisierten Produktion) im Verhältnis zur wachsenden Weltbevölkerung abnimmt. Die heftigen Verlagerungen der Produktion aus Industrieländern in Billiglohnländer täuschen eine Entwicklung von neuen Arbeitsplätzen aus globaler Perspektive lediglich vor. Dabei ist zu beobachten, dass auf der anderen Seite die Mobilität des Kapitals den Charakter einer ›Ortslosigkeit‹ zu erhalten scheint und dabei die Tendenz hat sich eher an einer Applikation und der entsprechenden Rendite und weniger an den materiellen und sozialen Bedingtheiten von Investitionen zu orientieren. Der globale Kapitalverkehr hat sich dabei einer politischen Kontrolle weitgehend entzogen (siehe Kapitel 2). Es wird in den Städten auch der Industrieländer eine der wichtigsten Aufgaben der Zukunft sein, noch nicht organisierte Arbeit zu organisieren sowie Initiativen, die nicht allein vom Kapitalverkehr bestimmt sind, und Selbstorganisation von Arbeit nicht nur zuzulassen, sondern auch zu fördern. Die Aufgaben zur Verbesserung der Lebensbedingungen im urbanen Kontext sind nicht geringer geworden. Diese Aufgaben definieren sich im Wesentlichen durch die lokalen Bedingungen und entsprechenden Potentialen. Wie schon dargestellt sind die lokalen Bedingungen überall in ihrer Ganzheit verschieden. Weltweite Beispiele zeigen aber auch, dass derartige durch den lokalen Kontext ermöglichte Überlebensstrategien sehr oft zwischen der Bemächtigung der entstandenen Strukturen durch kriminelle Akteure und einer drohenden Vertreibung durch staatliche Institutionen zerrieben werden. Von den Ideologen der freien Marktwirtschaft wird dabei mit den Dogmen ›Beseitigung der Schattenwirtschaft‹ und ›fehlender Beitrag zum Bruttosozialprodukt‹ argumentiert. Die Überlebensbedingungen werden nicht zur Kenntnis genommen, obwohl sie für die Erarbeitung von Strategien zur Verbesserung der Lebensbedingungen der betroffenen Bevölkerung erforderlich wären. Die klassischen Organisationsmodelle der räumlichen Trennung von Wohnen und Arbeiten sowie der fehlenden Rückkoppelung zwischen Produzent, Dienstleister und Konsument führen offensichtlich eher dazu, dass die Teilhabe der Stadtbevölkerung an den Entwicklungsprozessen abnimmt. Das Gegenteil, eine Stärkung dezentraler, aber umfassender Eigenverantwortung, ist unbedingt erforderlich. Daher ist zum Beispiel eine Förderung und nicht eine Behinderung von Lebens- und Arbeitsmodellen notwendig, die durch eine Integration von Wohnen und Arbeiten charakterisiert ist. Eine Förderung müsste durch folgende Maßnahmen zum Ausdruck kommen:
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• Verfügbarkeit preiswerter und provisorisch nutzbarer Räumlichkeiten, daher insbesondere Verhinderung der Beseitigung alter, abgenutzter Baustrukturen; entsprechende Relativierung von Wohnungs- und Baunormen; eine besondere Bedeutung hat dabei die Förderung durch preiswerte temporäre Räumlichkeiten für die sogenannte ›Garagenökonomie‹; • Stärkung dezentraler Verantwortung mit Vernetzung zu zentraler Verantwortung; • Angepasste Ausbildungsprogramme, insbesondere praxisorientierte, kleinteilige Ausbildungsbausteine, Begleitung von ›learning by doing‹-Prozessen oder kooperativer Selbstqualifikation; • unkomplizierter Zugang zu Kleinkrediten; • unkomplizierter Zugang zu Umwelttechnologien; • Legalisierung informeller Arbeitsstrukturen und unkonventioneller Lebensweisen; • Erleichterung überregionaler Vermarktung von Produkten, Teilprodukten und Dienstleistungen; • Zulassung gärtnerischer Produktion innerhalb des Stadtgebietes. In diesem Zusammenhang ist der Begriff oder auch die baulich-räumliche Strategie ›Möglichkeitsraum‹27 als Alternative zu den üblichen Aufgaben für Architekten entwickelt worden. Stadt als Präsenz von Geschichte im Alltag des Städters hält jenen Möglichkeitssinn wach, von dem Robert Musil geschrieben hat: »So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.«28 Aus der Verpflichtung, demokratieerzeugend zu wirken, müsste dieses Zitat aus heutiger Sicht um eine deutliche Unterscheidung zwischen dem, was sein soll, und dem, was sein könnte, ergänzt werden.
Das Konzept ›Möglichkeitsraum‹ als eine besondere Raumstrategie der Architektur Mit dem hier verwendeten Begriff ›Möglichkeitsraum‹ wird die Absicht verfolgt, einen Weg zu beschreiben, das Paradigma des ›modernen internationalen Städtebaus‹ zu Gunsten einer demokratischeren und komplexeren Handlungsorientierung zu überwinden. Eine Konsequenz aus dem Paradigmenwechsel in der Struktur der klassischen, städtebaulichen Aufgaben, für vorhandene Räume die richtige Funktion zu finden und nicht nur Gebäude für vorgegebene Nutzungsprogramme zu entwerfen – in Europa ist die Stadt schon da –, erfordert auch ein Nachdenken über neue Lebens- und Arbeitsmodelle wie zum Beispiel das Mehrgenerationenhaus. Die Wiederbelebung des bekannten Modells der Mischung von Wohnen und Arbeiten ist im Fokus der Aufmerksamkeit. Patenschaften für die Pflege des öffentlichen Raums werden etabliert, vorhandene Strukturen über das parasitäre Andocken erweitert, mobile Aktionscontainer bilden die Plattform für die Kommunikation verschiedenster Art und anderes. Mit dem Begriff ›Möglichkeitsraum‹ soll die erforderliche zeitgemäße Ausrichtung von Stadtplanungs- und Projektentwicklungsprozessen auf die Komplexität der Aufgaben und auf den jeweiligen gesellschaftlich-kulturellen Kontext der Aufgaben ausgedrückt und ermöglicht werden: die Artikulation und Veranschauli-
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chung einer Möglichkeit und ihrer Implikationen als Diskussionsgegenstand. Ein mehrdimensionaler Dialog bezieht die Interessen der Betroffenen, verschiedene Kompetenzen, Disziplinen und Zuständigkeiten mit in den Planungsprozess ein. Der Dialog erreicht dann strategische Dimensionen, wenn perspektivische Möglichkeiten und ihre Voraussetzungen und Wirkungen (›Impact-Analyse‹, siehe auch Beispiel 3 in Kapitel 1) ausgearbeitet vorliegen und mehrdimensional durchleuchtet und ausgehandelt werden. Eine wichtige Unterstützung zur Verdeutlichung komplexer Arbeitsprozesse habe ich mit meiner Präsentationsmethode ›trialectic‹ (siehe Sondertext 8: ›trialectics‹) angestrebt. An dieser Stelle sei noch auf eine andere sinnvolle Erweiterung der Kommunikationsmittel hingewiesen – dies zur Unterstützung der Darstellung einer Qualifizierung von Raum durch Architektur. Ohne literarische Ansprüche zu verfolgen habe ich mehrfach die vor allem bei Wettbewerben geforderten Objektbeschreibungen mit szenischen Erläuterungen einer möglichen Nutzung angereichert. Dies dient dazu, die gedachte Atmosphäre auf blitzen zu lassen, aber auch dazu, den möglichen Gebrauch des entworfenen Raums zu veranschaulichen. Dazu sei mit Sondertext 9: ›Erläuterungstext Wettbewerb Dachaufbau HdKB in Form einer szenischen Beschreibung‹ auf ein relativ frühes Beispiel (bezieht sich auf Beispiel 3B1, in der Kurzdarstellung von Beispiel 3B8 ein aktuelleres Beispiel dazu) hingewiesen. Die notwendige Berücksichtigung der Komplexität der Materie und der Prozesse ist kurz dargestellt worden. Dies hat eine Reihe von Konsequenzen für das Verständnis von Stadt (siehe Sondertext 7: ›Thesen zum Verständnis von Stadt‹). Bevor die Anforderungen an die Methode ›Möglichkeitsraum‹ verdeutlicht werden, soll hier noch ein Blick auf den Aspekt ›Kontext‹ geworfen werden.
Zum Kontextbezug Das Ablegen eines entworfenen Objektes an einem leergeräumten Bauplatz als Architekturaufgabe geriet an den bundesdeutschen Hochschulen erst in den sechziger Jahren in den Verruf. In der Moderne der Nachkriegszeit, insbesondere im Wohnungsbau und in den Sozialbauten, gab es offensichtlich eine Reihe historisch bedingter Gründe, die Energie auf die typologische Entwicklung einzelner, meist monofunktionaler und oft auch mehr oder weniger räumlich kontextlos konzipierter Gebäude zu konzentrieren. Die meisten der dieser Denkweise entsprungenen Bauten sperren sich daher gegen eine Anpassung der ihnen innewohnenden räumlichen Bedingungen an sich ändernde Nutzungsanforderungen. Heute können wir davon ausgehen, dass wir in Mitteleuropa nicht nur über reichlich nicht mehr dem ursprünglich geplanten Zweck entsprechend genutzte Bausubstanz verfügen und wir uns immer im schon genutzten Kontext bewegen, sondern auch, dass monofunktionale und nicht vernetzte Konzepte in der Regel nicht mehr den Anforderungen unserer Zeit entsprechen. Die Aufgabe, für vorhandene Räume die richtige Funktion zu finden und nicht nur Gebäude für vorgegebene Nutzungsprogramme zu entwerfen, ist an den Architekturausbildungsstätten eine wichtige, für unsere Zeit typische Studienaufgabe geworden. Diese umgekehrte Übersetzung von Raum in Nutzung erfordert allerdings anderes Wissen und eine andere Vorgehensweise. Zwischennutzung, Umnutzung, Nachnutzung oder auch Restnutzung sind wichtige strategische Begriffe geworden. Kontext bezeichnet in diesem Zusammenhang
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weniger den baulichen Kontext, in den eine neue Bebauung eingepasst werden soll, sondern den sozialen, ökonomischen und kulturellen Kontext, aus dem heraus Anforderungen an den Raum aktualisiert werden müssen. Aus der Sicht der Stadtentwicklungsplanung und der Ausbildung von Architekten und Stadtplanern interessiert besonders der mit diesen Strategien verbundene ›Möglichkeitsraum‹ als in verschiedenen Maßstäben experimentell zu erforschendes Thema.
Zur Methode ›Möglichkeitsraum‹ Mit Möglichkeitsraum wird derjenige Raum bezeichnet, der durch eine vorgeschlagene Lokalisation von Eigenschaften als möglich, als vorstellbar, gewünscht und auch als realisierbar erscheint. Er eröffnet den Dialog über Alternativen, wohl wissend, dass es die gern gewünschten und behaupteten optimalen Räume allgemein nicht gibt. Im Verkaufen einer entworfenen Architektur wird dies gerne als Marketing-Argument gebraucht, verrät aber einen grundsätzlichen Denkfehler. Jeder Raum ist veränderbar und trägt mögliche Veränderungen in sich, die im Verlauf der Zeit hervortreten und unter Umständen sichtbar (gemacht) werden. Gerade im Dialog mit Auftraggebern ist es erforderlich und auch sehr nützlich, rechtzeitig Möglichkeiten und ihre Implikation deutlich werden zu lassen. Das Konzept ›Möglichkeitsraum‹ beschreibt eine wesentliche Station in allen Abläufen dialogbasierter raumbezogener Planungsprozesse: die Artikulation und Veranschaulichung einer Möglichkeit und ihrer Implikationen als Diskussionsgegenstand. Ein mehrdimensionaler Dialog bezieht die Interessen der Betroffenen, der verschiedenen Kompetenzen, Disziplinen und Zuständigkeiten aufeinander. Der Dialog erreicht strategische Dimensionen, wenn perspektivische Möglichkeiten und ihre Voraussetzungen und Wirkungen (›Impact-Analyse‹ eines Vorschlages) ausgearbeitet vorliegen und mehrdimensional durchleuchtet und ausgehandelt werden. Dies hätte für die Ausbildung von Architekten die Konsequenz, dass die Entwicklung von mehrdimensionalen Möglichkeiten und der Diskurs darüber zum prägenden Bestandteil des Studiums werden. Alternativen zu Nutzung und Gestaltung von urbanem Raum werden auch durch Live-Experimente im Maßstab 1:1 und im temporären Selbstversuch entwickelt – meist in einer Gruppe und im Geflecht widersprüchlicher Interessen, Anschauungen und Kompetenzen. Es gibt allerdings auch immer wieder famose Versuche von Architekten, die auch international anerkannt sind, in – meist morphologischen – Modellstudien polyvalente bzw. komplexe Räume für eine bestimmte Aufgabe zu erfinden. Dies ist in der realen Stadtentwicklungsplanung 1:1 nur bedingt möglich. Durch den Leerstand von Gebäuden sind auch Chancen gegeben, im 1:1-Versuch Möglichkeiten für neue Lebens-, Arbeits- und/oder Kulturmodelle experimentell zu überprüfen. Daher spielt die Nutzung von leerstehenden Gebäuden, wenn auch oft nur temporär, für diese Art der Erprobung von Nutzungsmodellen eine strategisch bedeutsame Rolle. Daher war zum Beispiel die Möglichkeit, das leerstehende Lessingbad in Kiel in diesem Sinn als Experimentierraum für die Muthesius Kunsthochschule ›zwischenzunutzen‹ und gleichzeitig auch perspektivische Hinweise auf die inzwischen als Turnhalle mit Zusatzfunktionen erfolgte Nachnutzung zu erarbeiten, eine außerordentliche und wirksame Gelegenheit (siehe Beispiel 3B7). An diesem Beispiel wurde auch deutlich, dass die Methode ›Möglichkeitsraum‹ sehr schnell zu Überschneidungen mit dem Arbeitsbereich von Maklern führen kann.
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›trialectics‹ ›trialectic‹ ist eine von mir gewählte Bezeichnung für performative, öffentliche, multimediale Veranstaltungen, die von mir, meist in Kooperation mit anderen Personen, konzipiert, gestaltet und durchgeführt wurden und von einem Dreiklang von Denken, Handeln und Fühlen geprägt sind. Das von mir angelegte Verzeichnis beginnt mit der Nr. 1, ›Die Frau hört sich im Dia-Labyrinth und wieder auch nicht‹, entstanden in Kooperation mit Peter Hübner, Dieter Hezel und Ingrid Jäger, einer mehrwöchigen Multimediainstallation mit punktuellen Auftritten von Rainer W. Ernst, Peter Hübner und HPC Weidner in der Eingangshalle des Gebäudes K1 der TH Stuttgart, das den Studiengang Architektur bis heute beherbergt, Stuttgart, 1966 u. a. Stuttgarter Nachrichten 11.02.1966, und endet aktuell mit der Nr. 21, »Keep moving the space«, mit Maxwell Smart in der Stadtgalerie Kiel am 13.12.2016; s. a. Kieler Nachrichten vom 15.12.2016, eigenes Archiv. Zitat: »Hier beziehe ich mich auf die Form dieser Präsentation, zu besonderen Anlässen, etwa um meine Gedanken darzustellen und sie öffentlich zu machen. Die gleichzeitige Einbringung von Emotionen und das szenische Zeigen von Handlungserfahrungen und Handlungskonzepten und von theoretischen Erwägungen ist eine Erzählweise, die mir ermöglicht, der Komplexität von Sachverhalten gerecht zu werden.«* Dieser Gedanke beruht auf der Erkenntnis über die Funktionsweise ›parallel thinking‹ des menschlichen Gehirns, bedingt durch die Fähigkeit ›coacting‹ der Nervenzellen. Diese Fähigkeit liegt wohl auch dem ›multitasking‹ bei der parallelen Bearbeitung verschiedener Vorgänge und der Gleichzeitigkeit in Kommunikationsprozessen von ›Denken, Handeln und Fühlen‹ zu Grunde.**
Komplexität des Raumes
Songtext: ›anders sehen‹ *** Vorgefundenes anders sehen, es sich anders wünschen, es soll nicht so bleiben, wie es ist, gab es je eine Zeit, in der die Realität zufriedenstellend war, von alleine bleibt die Welt unverändert, ich wünsche mir von Dir, dass es anders wird, dies kann so nicht bleiben, mach es anders, es muss anders werden, nein, es ist unmöglich, mach doch einen Plan, spiel mir das Lied von damals nach: ›aber gehen tun sie beide nicht‹. Vorgefundenes anders sehen, es sich anders wünschen, es soll nicht so bleiben wie es ist, gab es je eine Zeit, in der die Realität zufriedenstellend war, von alleine bleibt die Welt unverändert, ich wünsche mir von Dir, dass es anders wird, dies kann so nicht bleiben, mach es anders, es muss anders werden, nein, es ist unmöglich, nichts ist unmöglich, man muss es sich nur vorstellen können, wie es anders sein könnte.
* aus Ingrid L. Ernst, »Denken, Handeln, Fühlen«, Kiel, 2012, S. 37. ** siehe dazu Peter Gendola, Jürgen Schäfer (Hrsg.), »Wissensprozesse in der Netzwerkgesellschaft«, Bielefeld, 2005. *** Songtext aus trialectic 12, »rectors lecture«, Berlin, 2003, mit Maxwell Smart (electronic wildstyle), Thomas Bratzke und Akim Ngyen (Bildhauerei) im Rahmen der Tage der offenen Tür der Kunsthochschule Berlin Weißensee (KHB) am 13.07., 16:00 Uhr, und am 14.7., 13:00 Uhr, eigenes Archiv und Magazin 5 der KHB; der Songtext erschien in überarbeiteter Form auf der CD Smith and Smart, »Im Schatten der Logik«, Berlin, 2015.
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Sondertext 9
Erläuterungsbericht in Form einer szenischen Beschreibung Wettbewerb Dachauf bau der Hochschule der Künste Berlin mit Klaus Zillich, 1989, siehe Beispiel B1, Originaltext
Ein Freund schreibt mir über neue Architektur in Berlin. Der Brief enthält ein Innenraumfoto des neuen Dachauf baus der HdKB. Sofort kommt mir Shinoharas Museum am Eingang des Campus des technologischen Instituts in Tokio in den Sinn. Auf meiner Bahnfahrt nach Berlin frage ich mich, ob sich eine derartige Dachröhre mit dem Gründerzeitprotz und der Baumgarten’schen Nachkriegsmoderne verträgt. Innerstädtisch angekommen entdecke ich schon nach kurzem Fußweg das Ultramarin vor dem preußischen Herbsthimmel hinter dem verblichenen Kupferdach des Konzertsaals. Die runde Form, leicht geneigt, überkragend, blaumetallisch reflektierend, davor die verzinkten Fluchtstege mit ihrer schwebenden Offenheit die Vergangenheit des grünspanigen Turmhelms hervorhebend. Ist das der neue Zeitgeist des Fachbereichs Architektur? Verblüfft zähle ich drei Etagen, wirkt doch der Baukörper leicht und zurückhaltend gegenüber der Massigkeit des Steinklotzes mit seinen riesigen ziegelbedeckten Dachhauben. Hat aber eine derartige Bauhöhe nicht eine negative Wirkung auf den Innenhof? Er ist doch einer der schönsten mir bekannten innerstädtischen Gartenhöfe. Mit Skepsis betrete ich die Halle. Baulich hat sich an ihr nichts geändert. Sie wird allerdings anders genutzt: als zentraler Versammlungsraum. Weiter die Ruine betretend, vorbei an einer Gruppe, die gerade einen temporären Regenschutz für eine Freiluftausstellung montiert. Ich drehe mich um und bin überrascht. Nicht mehr als ein ultramariner Streifen ist über dem grauen Gesims zu sehen. Erst von der Mitte des Hofs aus kann ich die riesige Atelierverglasung wahrnehmen. Um einen besseren Eindruck zu gewinnen, betrete ich das Quergebäude und steige die Treppe hoch. Durch ein offenes Fenster betrachte ich fasziniert das Glasdach, strukturiert durch die vertikalen hinter dem Glas sichtbaren Träger und die horizontalen Fensterbänder. Das Reflexionsspiel in der leicht gekrümmten Glasfläche, gebrochen durch die teilweise aufgeklappten Lüftungsflügel, erinnert mich an eine zeitgenössische Partitur. Spielerisch und leicht. Eine moderne Version der darunterliegenden, in Anlehnung an ein Produktionsgebäude gestalteten Ateliergeschosse. Sofort fällt mir das Gebäude ein, in dem ich mich gerade befinde, und die hinter mir liegenden Bildhauerateliers. Typisch für alle drei langgestreckten Bauten sind die großen Glasflächen nach Norden, Erschließungsgänge im Süden, großzügige Räume, Lofts, Produktionsstätten, Orte für Experimente und Kontemplation. Insgesamt ein durch seinen eindeutigen Zweck strukturiertes Ensemble von drei parallelen, aber unterschiedlich hohen Ateliertrakten. Sehr viel später wird mein Eindruck durch ein Foto vom Dach des Zentralgebäudes der TU bestätigt werden.
Komplexität des Raumes
Nun, ich weiß, der Umgang mit den Räumen bestimmt die Lebendigkeit einer Hochschule und nicht allein die Räume selber. Gespannt auf das ›Innenleben‹ gehe ich zurück zur Halle, steige, wie früher gewohnt, die rechte Treppe empor. Sie entspricht meiner Erinnerung. Im 3. Obergeschoss angekommen, fällt mir zunächst die auf der gegenüberliegenden Seite des gebäudelangen Flurs befindliche weiterführende Treppe auf. Mit Lichteinfall von oben. Damit knüpft die Erschließung des Dachauf baus unmittelbar an die alte Treppe an. Ein Kollege erklärt mir später, dass durch die Fluchtbalkone auch im 3. OG ein zusätzliches Treppenhaus nicht notwendig war. Ja der Flur, er machte einen helleren Eindruck. Am Flurende sichtbar: eine kleine Gruppe, diskutierend. Auf dem über der alten Treppe schwebenden Podest montieren gerade zwei Studenten ein mächtiges Papiermodell, ansonsten ist es ruhig. Von weitem höre ich ein Stimmengewirr, das mich anzieht. Siehe da, das Café gibt es noch, gut besucht und offensichtlich durchorganisiert. Zu meiner Überraschung treffe ich Bekannte. Eine Bildhauerin und ein Pädagoge erklären mir, dass sie gerade mit einer Gruppe Ökologen, Naturwissenschaftlern und Architekten in einem für fachbereichsübergreifende Projekte freigehaltenen Raum einen Beitrag zum Thema ›Recycling-Park‹ für das nächste Karl-Hofer-Symposium erarbeiten. »Überhaupt die Grenzen zwischen einzelnen Fachbereichen sind offener, dazu trägt das Café als Informeller Treffpunkt bei«, wird mir erklärt. »Und vor allem«, wirft die dazugekommene Verwaltungsleiterin ein, den Finger nach oben zeigend, »in dem autonom organisierten Studentenatelier über uns arbeiten auch StudentInnen aus anderen Fachbereichen. Und es funktioniert, unterstützt sich durch die klare räumliche Gliederung. Oben nur studentische Arbeitsplätze, ein Hörsaal und ein Ausstellungsraum. Im 3. OG alles, was der Lehre dient. Um die Treppen herum die Dienstleistung, die zentralen Einrichtungen in der Mittelachse, dazwischen die Lehrenden, und, etwas geschützt, aber unterteilt, die Forschung. Aber oben, das steht hier im Mittelpunkt.« Ich steige dem Licht folgend die blaue Wendeltreppe empor und komme zu meiner Überraschung zwischen einem Ausstellungsraum und einer Freiluftterrasse an. Die Ausstellung zeigt Arbeiten aus dem letzten Semester. Wie schwer war es doch früher gewesen, sich einen aktuellen Einblick zu verschaffen. Animierend, dieser nicht sehr große, aber unter dem Glasdach großzügig wirkende und durch eine Galerie erweiterte und gegliederte Raum. Verbunden damit die Terrasse vor dem nun als Zeichenatelier genutzten Mittelturm. Eine Gruppe ist dabei, Modellfotos zu machen, in einer anderen Ecke wird das flache Sonnenlicht für Zeichenübungen genutzt, ein älterer Herr, ich vermute in ihm den Kollegen H., sonnt sich. Zwei Studenten folge ich zurück in den Flur über und die Treppe ein Geschoss höher. Praktisch das ganze studentische Atelier liegt nun vor mir: ein Dschungel von Aktivitäten, Pflanzen, an einer Stelle geradezu hängende Gärten, Papiermodelle in der Luft, hin und wieder eine freche Farbe hervorblitzend, Einbauten hängend oder trennend. Ein über alles geneigtes Dach und das Atelier zusammenfassendes Auge zum Himmel über Berlin. Eine Studentin erklärt mir: »Das neue Atelier hat so viel Platz, dass jede(r) im Fachbereich 2 Studierende hier arbeiten kann, aber es gibt auch noch welche aus anderen Fachbereichen hier. Der Horizont ist dadurch nicht nur durch das Gebäude erweitert – jede(r) arbeitet für sich, aber auch alle irgendwie zusammen, wir sind spürbar unter einem Dach und sind frei zu wählen, ob wir uns zusammen- und auseinandersetzen. Der Fachbereich Architektur ist dadurch zu einem wichtigen Katalysator der Entwicklung der HdKB geworden.«
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Lange beobachte ich diese vielgestaltete Atelierlandschaft, freigesetzte Fantasie und Produktivität. Gedankenversunken kehre ich zurück und betrete den sich gerade öffnenden gläsernen Fahrstuhl. Beeindruckend der Blick an den ausgebauten Türmen vorbei über die Dächer der Umgebung hinweg. Dann tauche ich langsam wieder ins Gebäude ein. In der Eingangshalle begegnet mir Kollege M. Er bestätigt die Aussage der Studentin und fügt noch hinzu, dass die autonome Verwaltung und der teilweise im Rahmen von Übungen durchgeführte Selbstbau für die Identität der Studierenden mit dem Atelier nicht unwichtig sei. Auf die Frage nach dem Bauablauf antwortet er: »Oh, ich war zunächst sehr skeptisch, aber sowohl von der Genehmigungsstelle wie auch bezogen auf die zunächst sehr gewagt erscheinende Konstruktion lief alles reibungslos. Sie wissen, der Senatsbauverwaltung musste man natürlich schwer auf die Finger schauen.« »Und es ging ohne Einbau eines zusätzlichen Treppenhauses?« »Durch die Fluchtbalkone und den Umbau der Treppenhäuser in den Ecktürmen waren alle Anforderungen einfach, aber hinreichend erfüllt. Die Knaggen für die Röhre liegen genau auf den Schotten; mit einer horizontalen, von Schotte zu Schotte reichenden Gleitschalung wurde die Hauptkonstruktion sehr schnell gegossen. Anschließend wurden Sandwichplatten – die ultramarinblaue Verkleidung haben Sie ja gesehen – davor gehängt. Im obersten Teil der Röhre wurden Plattenkollektoren in gleicher Farbe angebracht. Diese Solaranlage hilft der Hochschule gerade in der Übergangszeit Fernheizungswärme zu sparen. Im 3. OG war außer dem gelegentlichen Baulärm fast nichts zu merken. In den Ferien erfolgten die Treppendurchbrüche, im anschließenden Semester zogen alle StudentInnen oben ein. Die ›Flurachse‹ war dann frei geworden für den Umbau der Lehrendenräume. Die meisten hatten den Deckendurchbruch für einen möglichen Galerieeinbau durchführen lassen.« Ich erinnere mich an das Innenraumfoto: Die Walfischbauchdecke moduliert durch das tangential einfallende Licht, abstrakt und doch gewichtig, die Lehrenden an die über ihnen schwebende Funktionsbestimmung erinnernd. Als der Hausmeister vorbeikommt, beginnt M. mit dem Blick auf mich ein tuschelndes Gespräch. »Kommen Sie«, sagt er, »etwas will ich Ihnen nicht vorenthalten«, und führt mich in den Gartenhof. »Ich war doch schon hier.« »Geduld, passen Sie auf.« Nach einer Weile sehe ich, wie sich Lüftungsklappen des Ateliers langsam, wie von Geisterhand bewegt, schließen. Plötzlich beginnt ein surrendes Geräusch, am Ende des Dachs rotiert senkrecht eine riesige mehrteilige Bürste, eine rote Spirale bildend, Wasser sprühend, von West nach Ost fahrend. »Ein kinetisches Objekt, unsere Waschanlage«, lacht M., »von Cosy gesponsert.« Noch eine Weile betrachten wir amüsiert das Schauspiel. Mit Grüßen an den sich gerade zur Wiederwahl stellenden Präsidenten verabschiede ich mich. Von Wasmuth aus blicke ich auf das wilhelminische Gebäude mit seiner herausgeputzten Fassade zurück, das nun, sichtbar eine neue Welt tragend, als Hochschule der Künste identifizierbar und nicht mehr mit einem Verwaltungsgebäude verwechselbar ist. Voller Anregung mache ich mich auf den Weg zur Besichtigung der vieldiskutierten neuen Wohnprojekte in Berlin, zur Vervollständigung meines Eindrucks über die ›Post-IBA-Architektur‹ in Berlin-West.
Komplexität des Raumes
A nmerkungen 1 | Einer der folgenschwersten Irrtümer in einer vorausschauenden Rationalisierung war 1992 die Einigung des Berliner Senats, die Stadtentwicklung der Stadt auf ein Bevölkerungswachstum auf 5 Mill. Einwohner bis zum Jahr 2000 auszurichten; dies hatte katastrophale, zukunftsbeeinträchtigende Fehlentscheidungen für Standortentscheidungen für z. B. Wohnungen und Dienstleistungen zur Folge. Die Bevölkerung Berlins blieb bis zum Jahr 2000 relativ konstant bei ca. 3,5 Mio. Einwohnern; polemischer Kommentar zu der Fehlannahme siehe in Rainer W. Ernst, »Recht auf Irrtum oder leichtfertige Spekulation«, in Werk und Zeit 7/8, 1996 und Arquitetura e urbanismo (brasilianische Architekturzeitschrift, in portugiesischer Fassung) 4/5, 1996. 2 | Als eine Ikone eines ironischen Kommentars zur Welt als Ganzes als Handlungsgegenstand zu sehen ist durch Charlie Chaplin in seinem Film »Der große Diktator« kreiert worden, s. a. Ingrid Lucia Ernst, »Denken Handeln Fühlen«, in Kapitel Vorlesung 4, ›Die Teile und das Ganze‹, S. 166. Die Tordesillas-Linie kann als Fallbeispiel für die anmaßende territoriale Aufteilung der Erde durch Großmächte angesehen werden. Nach mehrjährigen Verhandlungen zwischen Spanien und Portugal wurde mit päpstlichem Segen eine Aufteilungslinie vertraglich besiegelt. Ohne Kenntnis der betroffenen Gebiete, ohne Mitwirkung der Betroffenen oder Beteiligung dritter Interessierter wurde diese Verabredung jedoch bald obsolet.»Am 15. November trat unter Bismarcks Vorsitz im Kanzleramt die Berliner ›Kongokonferenz‹ zusammen. Bismarck, der sich mit dieser Konferenz einen Vorschlag Portugals zu eigen gemacht hatte, hoffte, die Spannungen innerhalb der konkurrierenden europäischen Kolonialmächte auszugleichen und die gegenseitige Interessen abzugrenzen und den bis dahin in Afrika überlegenen Briten ihre Vorrangstellung streitig zu machen. Berlin schien deshalb als neutraler Konferenzort geeignet, weil Deutschland nicht direkt an der Aufteilung des Kongos zu eigenen Gunsten interessiert war. Ausgelöst wurde der Konflikt um den Kongo durch einen Vorstoß der belgischen Krone: In den Jahren 1879–83 hatte der Afrikaforscher Henry Morton Stanley – engagiert vom belgischen König Leopold – mit zahlreichen Häuptlingen am Kongo Landverträge abgeschlossen und Handelsstationen angelegt. Damit war die Aufmerksamkeit der älteren und größeren Kolonialmächte geweckt … Die Konferenz schloss am 26.2.1885 mit einer Generalakte … An den Berliner Schreibtischen wurden mit dem Lineal und dem Zirkel Grenzen gezogen, die verschiedene Völker willkürlich zu kolonialen Staaten zusammenfassten oder – ebenso willkürlich – auseinander schnitten. Die Berliner Grenzen gelten heute noch und sind der Grund für viele Konflikte in Afrika.« Aus: »Andernorts: Aspekte städtischen Wohnens in Afrika, Asien und Lateinamerika«, Führungsblätter zur Ausstellung, Internationale Bauausstellung Berlin 1984/87, Hochschule der Künste Berlin, Ausstellung »andernorts«, Berlin, 1984, eigenes Archiv und Archiv UdK; siehe auch Beispiel 1 im zweiten Abschnitt; s. a. Hinweis 2 in Abschnitt 2. Aus diesen Führungsblättern ist folgender Ausschnitt entnommen:»Zum Themenkomplex ›Europäische Kolonialstadt‹ ist Folgendes zum Verständnis als Hintergrund zu erwähnen: Der Kontinent Afrika wurde im Dreieckshandel zwischen Europa, Afrika und Amerika zunächst Sklavenlieferant. In Amerika, Asien östlich des Urals und Australien wurden die Einwohner, die sich der neuen Ordnung und Herrschaft durch die Kolonisatoren widersetzten, niedergemetzelt. In Asien wurden mit
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den verschiedenen Herrschern Koalitionen, Verträge und Abkommen geschlossen, die meist nicht sehr lange hielten, da immer wieder mit Intrigen aller Beteiligten versucht wurde politische, militärische und wirtschaftliche Vorteile zu erringen. Angefeuert durch den Wert der heimgelieferten Schiffsladungen und die abenteuerlichen Reiseberichte über unermessliche Schätze und fürchterliche Grausamkeiten der menschenähnlichen Bewohner (ohne Köpfe, mit Hundeköpfen, ohne Kleidung etc.), deren Wahrheitsgehalt keiner kontrollieren konnte, wurden gegen die ›Wilden‹ grausame Vernichtungszüge legitimiert. Die, wie man heute weiß, zusammengelogene Legitimation für den Überfall auf den Irak steht durchaus in dieser Tradition. Erst Mitte des 16. Jahrhunderts, nachdem zum Beispiel die Ureinwohnerschaft der von Columbus bezeichneten Insel Hispanola (heute Haiti/ Dominikanische Republik) von circa 500.000 auf circa 5.000 Menschen reduziert worden war, versuchte Papst Paul III. mit der Bulle ›Sublimis Deus‹ durchzusetzen, dass Indianer auch als Menschen anzusehen sind, da sie sich zum Christentum bekehren ließen. Dies wird hier nur kurz erwähnt, weil hierin einer der wesentlichen Ausgangspunkte eurozentrischer Betrachtung außereuropäischer Kulturen liegt, die erst heute, nach einem halben Jahrtausend, durch die Aufforderung eine Gleichberechtigung unterschiedlicher Kulturen und Religionen anzuerkennen, relativiert wird. Städte waren in dieser Politik des europäischen Kolonialismus ein wichtiges strategisches Element. Blickt man auf die Gestaltung dieses Elementes, sind, auch geprägt durch die unterschiedlichen Kolonisationsstrategien der verschiedenen Europäer und bedingt durch die vorgefundenen Bedingungen, zwei Vorgehensweisen zu entdecken: Entweder wurden Städte vollkommen neu an einem strategisch günstigen Ort neu gegründet oder es wurden strategisch wichtige Elemente der Kolonialherren in vorhandene Städte implantiert und diese je nach kolonialem Erfolg allmählich insgesamt transformiert. Im ersten Fall waren meistens an die griechischen Kolonialstädte der Antike und die römischen Militärstädte erinnernde Landaufteilungsraster die wesentliche Leitlinie für die Entwicklung der Städte. Die im Verlauf der Renaissance und später in Europa entwickelten Idealstadtkonzepte haben einen deutlichen Bezug zu diesen historischen Vorbildern. In Europa wurden sie so gut wie nie realisiert, lediglich später in der osteuropäischen Kolonisation. Der spanische König Philipp II. hatte jedoch für seine Kolonien schon 1573 ein Gesetz erlassen, mit dem detailliert die städtebaulichen Regeln zu Maßen, Ausrichtung und Bebauung des zu etablierenden regelmäßigen Strassen- und Grundstücks-Rasters beschrieben sind. Er gilt damit als erster europäischer Stadtplaner der Neuzeit. Nun konnte man von Europa aus ohne vor Ort zu sein, das Land aufteilen und alle weiteren Schritte für eine Neugründung vorbereiten und konnte sich in der neuen Stadt bei Ankunft sofort orientieren und sich ›zu Hause‹ fühlen. Schiffe, die zum Beispiel nicht erst nach Afrika fuhren, um Sklaven dort abzuholen, sondern direkt nach Lateinamerika segelten, wurden mit den notwendigen Utensilien, manchmal sogar dem kompletten Bausatz von Steinen für besondere Gebäude, beladen. Die Kolonie wurde durch das Mutterland entwickelt und zahlte dafür. Die damit verbundene Arbeitsteilung hatte Folgen für die Entwicklungsfähigkeit und die Struktur der Kolonialstädte, die oft bis heute eine Bedeutung haben. Die daraus resultierende Gleichzeitigkeit von Ungleichheit der Explorationsbedingungen, der Produktionsbedingungen und Vermarktungsbedingungen ist insbesondere auf diese historischen Prozesse zurückzuführen. Dem Import der Eroberungstrophäen für Börse, Wohlstand und Museen stand der Export von Iden-
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tifikations- und Machtinstrumenten gegenüber. Dies mutet an wie eine Weiterschreibung eines archetypischen Psychogramms der semi-animalen Spezies der Jäger und Sammler, die zur Absteckung ihres Reviers Duftmarken oder andere Besetzungssymbole verteilten. Die noch Mitte des 20. Jahrhunderts festzustellende Zeitverschiebung in der Verbreitung von besonderen baulich-räumlichen Merkmalen wie zum Beispiel Mietshäuser im Art-deco-Stil, öffentliche Bauten nach Mustern der klassischen Moderne oder die industrielle Produktion von Bauten etc. ist heute längst aufgehoben. In den Regionen, in denen versucht wurde, durch Handelsbeziehungen koloniale Verfügung zu erzwingen, verfolgte man die Strategie, die Städte an kulturell und wirtschaftlich bedeutsamen Stellen zu transformieren. Traditionell heilige Orte wurden von der Entwicklung isoliert, besetzt, beseitigt, neue christlich geprägte kulturelle Zentren errichtet, Handels-, Verwaltungs- und Militäreinrichtungen gebaut, Stadtzentren verlagert, Häfen ausgebaut etc. Es ging darum, Kontrolle über und Zugriff auf Waren und die Bewohner auszubauen. War es schon nicht gelungen, das Zentrum des alten Weltbildes zu erobern, so wurde nun mit aller Energie versucht, den neu entdeckten Raum der Weltkugel global von Europa aus zu erobern und zu unterwerfen. Wie wir heute wissen, in einigen Teilen der Erde temporär mit großem Erfolg, aber auch begleitet von brutaler Unmenschlichkeit und verlustreichen Misserfolgen. Die verschiedenen beteiligten europäischen Nationen standen dabei immer wieder in Konkurrenz und verfolgten daher ihre Strategie mit unterschiedlichen Mitteln und Maßnahmen. Ein in allen Fällen für die Entwicklung der Städte gleiches und bedeutsames und bis heute wirksames Element in der Transformationsstrategie war die Einführung von privaten Eigentumsrechten nach europäischem Vorbild. In Lateinamerika ist allerdings auf eine besondere historische Bedingung, die bis heute fatale Folgen hat, hinzuweisen. Die Befreiung der lateinamerikanischen Kolonien von den Königshäusern in Spanien und Portugal und damit auch von den feudalen Bedingungen erfolgte nicht in Form eines gesellschaftlichen Reform- oder Revolutionsprozesses, sondern vielmehr in einer Art familieninternen Auseinandersetzung. Daher konnten die alten Feudalrechte ohne räumlich-strukturelle Veränderungen in das moderne private Eigentumsrecht direkt umgewandelt werden. Die extreme Ungleichheit in der Verfügung von Grund und Boden in Lateinamerika hat hierin ihre wesentliche Ursache. Im Übrigen sei angemerkt, dass die politisch-ökonomische Eingliederung der DDR in die Bundesrepublik einem ähnlichen Transformationsprozess unterworfen war. Die Überführung des Volkseigentums mit monopolistischem Charakter in die Eigentumsform nach privatem Recht. Hier ist allerdings an eine andere historische Besonderheit zu erinnern. Der Mielke-Erlass von 1987 an die Offiziere der Stasi verlangte, bei politischer Veränderung dafür zu sorgen, dass das Volkseigentum in ihre Hände gelangt. Das ist offensichtlich nicht ohne Folgen geblieben. Gleichzeitig wurden die für die staatlichen Aufgaben notwendigen Immobilien öffentliches Eigentum, die osteuropäisch organisierte Arbeitsteilung enthebelt und durch EU-Bedingungen neu sortiert. Das Ganze war und ist dann noch überlagert durch zum Teil noch nicht geklärte Rückgabeansprüche aus unterschiedlichen politischen Epochen. In diesem Sinn ist es Deutschland nach gescheiterter eigener Kolonialpolitik gelungen, endlich auch eine gewisse Kolonisierung dauerhaft zu realisieren, allerdings nur eine Teilselbstkolonisierung mit hybridem Charakter. In den Städten in den neuen Bundesländern ist dieser Prozess deutlich erkennbar anhand der Modernisierung der Städte mit einer Angleichung der Stan-
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dards und teilweisen Modifikation der Strukturen, die den DDR-sozialistischen Modellstadtvorstellungen entsprachen und die durch die Realisationsbedingungen der DDR geprägt sind. Es ist erstaunlich, wie schnell an den entstandenen Erscheinungsbilder, den inzwischen etablierten Gebrauchsformen, den gesamten Betrieblichkeiten bis hin zu dem wahrnehmbaren Geruch nur noch wenig an die Bemühungen, die Stadt der zukünftigen Gesellschaft zu schaffen, erinnert. Auch die europäische Kolonialstadt ist zwar heute als solche nicht mehr existent. Die Spuren, die bis hin zu der internationalen bzw. internationalisierten Stadt führen, sind meist gar nicht mehr zu erkennen. Die Globalisierungsdynamik hat in allen Städten, die heute eine wirtschaftliche und politische Bedeutung weltweit haben, ähnliche Bedingungen und Stadtbilder geschaffen. Vom Bürohochhaus in allen technischen und formalen Varianten und den Mall-Verkaufstempeln bis hin zu den Inneneinrichtungen von Restaurants und Hotelzimmern: Beherrschend ist das Interesse, sich an den wichtigen Ereignisorten der Welt zurechtzufinden, sich zu Hause zu fühlen und sich des global sich durchsetzenden Konsumangebots zu bedienen.« S. a. Kapitel 2 und R. W. Ernst, »Stadt Raum Strategie«, Berlin, 2006. 3 | Dazu ein weiteres Zitat aus den Führungsblättern der Ausstellung ›andernorts‹, a. a. O.: »Die Unterschiedlichkeit der statistischen Definition von städtischen Gebieten bzw. die Trennung in städtische und ländliche Bevölkerung lässt die historischen und kulturellen Bedingungen, die diesen Definitionen zugrunde liegen, nur erahnen. In der europäischen Stadtgeschichte ist die Trennung bzw. Differenzierung zwischen Stadt und Land der prägende Gesichtspunkt in allen Stadttheorien«. Hierfür steht folgendes Beispiel: »Die größte Teilung der materiellen und geistigen Arbeit ist die Trennung von Stadt und Land. Der Gegensatz zwischen Stadt und Land fängt an mit dem Übergang aus der Barbarei in die Zivilisation, aus dem Stammeswesen in den Staat, aus der Lokalität in die Nation, und zieht sich durch die ganze Geschichte der Zivilisation bis auf den heutigen Tag«, Karl Marx und Friedrich Engels, »Die deutsche Ideologie«, geschrieben 1845–1846, in Karl Marx/ Friedrich Engels, »Werke«, Band 3, S. 50, Berlin, 1969. Einen besonderen Unterschied zwischen Stadt und Land in der neueren Zeit ist in der ehemaligen DDR durch die nach dem zweiten Weltkrieg durchgeführte Bodenreform entstanden. Dadurch wurden Rechtsverhältnisse auf dem Land erwirkt, die es so in der Stadt der ehemaligen DDR nicht gab. Folgen dieser Bodenreform sind in den ostdeutschen Bundesländern bis heute noch zu entdecken. Zumindest entstanden aus einigen LPGs besonders leistungsfähige, moderne landwirtschaftliche Betriebe, allerdings auch problematische Monokulturen und für einige Beteiligte ungerecht erscheinende Folgen dadurch, dass es nicht gelungen ist, eine transparente Transformation unter Beteiligung aller Betroffenen durchzuführen. 4 | Global Review of Human Settlements, Statistischer Annex, New York, 1976, UN-Publikation.Nach Statista Portal (de.statista.com, Stichwort ›Weltbevölkerung‹, Tabelle ›Anteil der in Städten lebenden Bevölkerung weltweit im Zeitraum 1950– 2050‹, aktualisiert am 30.01.2018): »Anteil der Bevölkerung, die in Städten lebt, 1950 29 %, 2010 51 %, 2050 70 %.« 5 | Aus heutiger Sicht erscheint es geradezu naiv vermessen, wie z. B. Le Corbusier in seinem Manifest, anspielend auf die industrielle Produktionsweise, vorschlug, Paris neu zu erfinden. Liest man diese Publikation heute, ist sie in höchstem Maß historisch anregend und gleichzeitig anmaßend. Sie wurde interessanterweise von den Nazis verboten, konnte aber nach 1933 noch eine Weile bei Wasmuth (Berlin)
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heimlich, versteckt unter dem Ladentisch, erworben werden, wie mir mein Vater, damals Student der Architektur an der TU Charlottenburg, lächelnd erzählte, als er mir die Neuausgabe schenkte: »Urbanisme«, Paris, 1925 (deutsche Ausgabe Hans Hildebrandt [Hrsg.], »Städtebau«, Faksimile der Ausgabe von 1929, Stuttgart, 1979). 6 | iehe Abschnitt »Gewachsene und geplante Stadt«, in R. W. Ernst, »Stadt Raum Strategie«, Berlin, 2006; 7 | iehe Max Weber, »Die nichtlegitime Herrschaft« (»Typologie der Städte«, in Max Weber, »Wirtschaft und Gesellschaft«), Studienausgabe, Tübingen, 1972, S. 727 ff. (Erstdruck im »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik«, 47. Band, 1921, S. 621 ff. unter dem Titel »Die Stadt«). 8 | Dazu gibt es immer wieder Publikationen, als Einstieg ist zu empfehlen: Neuer Berliner Kunstverein e. V., »Stadt und Utopie – Modelle idealer Gemeinschaften«, Idee und Konzeption Lucie Schauer, Berlin, 1982. 9 | Drastisches städtisches Bevölkerungswachstum wie Ende des Mittelalters oder Ende des 19. Jahrhunderts in Europa führte zwangsläufig zu ›Gesamtstadtüberlegungen‹ mit entsprechenden Forderungen nach Neukonzeptionen von Städten, die aber weitgehend nur partiell Eingang in die reale Entwicklung der Städte fanden. Anders verlief die Stadtentwicklung im Rahmen europäischer kolonialer Entwicklungen: Innerhalb kurzer Zeit mussten stabile und verteidigungsfähige urbane Stützpunkte geschaffen werden. Um sich einen Einblick in diese durchaus nach den verschiedenen europäischen Kolonialmächten (inklusive Russland) differenzierten Entwicklungen zu verschaffen, die in Deutschland bislang nur am Rande im Diskurs um Stadt zur Kenntnis genommen wurden, empfiehlt es sich, in folgender Literatur zu stöbern: Ernst Egli, »Geschichte des Städtebaus«, insbesondere Band 2, »Das Mittelalter«, Zürich-Stuttgart, 1967/76; Leonardo Benevolo, »Die Geschichte der Stadt«, erweiterte Auflage, insbesondere Kapitel 10, »Die Kolonisierung der Welt durch die Europäer«, Frankfurt-New York, 1983; Wolf Tietze (Hrsg.), »Urbanisierung der Städte«, Band 1, 2 und 3, Berlin-Stuttgart, 1984; eine aktuellere und besonders umfassend gründliche Studie ist spanisch Lesenden zu empfehlen: Juan Bernal Ponce, »Ciudades del Caribe y Centroamerica«, eine Studie, die von 1986–1990 am Lasteinamerikainstitut der Freien Universität Berlin mit Unterstützung der Fulbright-Stiftung entstanden ist und dort vorliegt. Zum Verhältnis europäisch-kolonialen Einfluss auf nichteuropäische Städte im Vergleich s. a. Rainer W. Ernst (Hrsg.), »Stadt in Afrika, Asien und Lateinamerika«, Berlin, 1984 und Habitat Forum Berlin, »Living in Cities«, Berlin, 1990. 10 | Als klassisch europäisch geprägte Neugründungen von Städten außerhalb Europas können beispielhaft folgende drei Städte mit ihrer auf eine jeweils monofunktionale Rolle ausgerichteten Planung gelten: Brasília als Hauptstadt Brasiliens (in Betrieb seit 1960), Ciudad Guyana (amtlich genannt Santo Tomé de Guyana), 1961 in Venezuela als Stadt für die Stahlindustrie gegründet, und San Pedro in der Elfenbeinküste, seit 1972 in Funktion, gegründet als Hafenstadt vor allem für den Holzexport. Allen Städten ist gemein, dass die außerhalb des geplanten Bereichs liegenden Gebiete, wo die überwiegende Bevölkerung wohnt, ohne die die jeweilige Stadt ermöglichende Dienstleistung nicht funktionieren könnte – letztlich ein Stadtkonzept aus der kolonialen Vergangenheit bzw. dem Glauben an die »Funktionale Stadt« verhaftet (s. a. nächste Anmerkung über CIAM). 11 | Adolf Max Vogt in der Einleitung zu Martin Steinmann (Hrsg.), »CIAM Dokumente 1928–1939«, Basel-Stuttgart, 1979, S. 8; diese Dokumentation kann als die
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ausführlichste deutschsprachige Darstellung von CIAM gelten. Der Gründungskongress von CIAM fand 1928 in La Sarraz mit Beteiligung von Protagonisten aus Frankreich, Belgien, Holland, Deutschland, der Schweiz, Italien und Spanien statt. Von CIAM wurden 4 weitere Kongresse durchgeführt: 1929 in Frankfurt (›Die Wohnung als Existenzminimum‹), 1930 in Brüssel (›Rationelle Bebauungsweisen‹), 1933 auf dem Schiff Patras II und in Athen (›Die Funktionelle Stadt‹), 1937 in Paris (›Wohnung und Erholung‹). Der sechste Kongress sollte in Lüttich stattfinden; dieser musste wegen des Krieges abgesagt werden. Besondere Bedeutung erlangte die Charta von Athen über die räumlich funktional gegliederte Stadt, deren Grundlagen auf dem vierten Kongress verabschiedet wurden. Diese hatte weltweit Auswirkungen auf Stadtplanungskonzepte und die entsprechenden Gesetzgebungen. So kann man z. B. sagen, dass die in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2017 geltende Baunutzungsverordnung (BNVO) auf diese Überlegungen zurückgeführt werden kann, mit all den negativen Folgen für eine kleinteilige räumlichfunktionale Mischung und einer Modifikation der Bewertung von Grundstücken allein durch die am Markt gebotenen Preisen. Eine Aktualisierung dieser BNVO unter diesen beiden Gesichtspunkten wird gerade (April 2017) heftig diskutiert (siehe auch Hinweis 6 in Kapitel 2). 12 | Mit dem Begriff ›Europäische Stadt‹ wurde versucht, ein gemeinsames prägendes Element europäischer Städte zu behaupten und als Handlungskonzept propagandistisch zu nutzen; gleichzeitig wurde versucht, den gesamten ›mitteleuropäischen‹ Raum als ein mehr oder weniger verstädtertes Gebiet zu bezeichnen, oder im Gegensatz dazu behauptet, dass der Gedanke der Differenzierung von Zentrum und Peripherie immer noch eine Bedeutung hat. Gleichzeitig wurden Begriffe in die Debatte um Stadt gebracht, mit denen die aktuelle Urbanisierung wie folgt charakterisiert werden sollte: ›Bandstadt‹, ›Zwischenstadt‹, ›Randstadt‹, ›schrumpfende Stadt‹ und ›Metropole‹. Gemeinsam ist allen Versuchen, einen einzigen, wenn auch nicht unwichtigen Aspekt in den Mittelpunkt der Betrachtung von Stadt zu rücken. 13 | Ein hervorzuhebendes Beispiel war die Ausstellung »Mastering the City« – 27 Beispiele aus verschiedenen europäischen Ländern und Zeiten, am Netherlands Architecture Institute in Rotterdam, 1997/98, nachzulesen im gleichnamigen Katalog, von Koos Bosma und Helma Hellinga herausgegeben und erschienen als NAI-Veröffentlichung, Den Haag, 1997 mit einem Vorwort von Christin Feireiss, der damaligen Direktorin des Instituts, in dem sie auf die erforderliche Reduktion der Stadtwirklichkeit und die besonderen Bemühungen um die Aussagekraft und Verständlichkeit von Plänen hinwies. 14 | Zum Thema Planwertausgleich lohnt es sich für Interessierte, unter diesem Stichwort im Internet zu stöbern. Man stößt auf reichlich Literatur und kann nachvollziehen, dass der grundlegende Gedanke, die Wertsteigerung von Grundstücken im städtischen Kontext, auch als Folge öffentlicher Investitionen anzusehen ist. Es wäre nicht verwunderlich, wenn bei den aktuellen dynamischen Immobilienpreiserhöhungen dieser Gedanke wieder auf die Tagesordnung kommt.»Foro Berlin-Caracas« sollte nach der ersten Veranstaltung im Jahr 2001 zu einer Reihe werden. Aus Berlin waren Volker Hassemer und Rainer W. Ernst eingeladen, über die Stadtplanungserfahrungen in Berlin nach der Wiedervereinigung der Stadt zu berichten; Caracas war mit Politikern – unter anderem dem damaligen für die Stadtplanung von Caracas verantwortlichen Staatssekretär Leopoldo Provenzali und der Leiterin des Amtes, Begona Goioechea – vertreten, die Universidad Central
Komplexität des Raumes
durch die Professoren Frank Marcano und Carolina Ferraro. Von den beiden Veranstaltern waren Dietrich Kunckel, Präsident der Kulturvereins Humboldt, und der damaligen Leiterin des Goethe-Instituts, Caracas Dagmar Lara-Heusler beteiligt. Es fand eine dreitägige Veranstaltung mit Vorträgen und intensiven Debatten statt; in den Diskussionen wurde aber auch sehr schnell deutlich, dass bei allem gegenseitigen Interesse die Kenntnisse über die Bedingungen, den historischen Hintergrund, die Strukturen der Entscheidungsprozesse etc. über die jeweils andere Stadt nicht ausreichten, um die eigenen Erfahrungen auch fruchtbar für die Gegenseite verständlich zu machen. Veröffentlichung dieser Veranstaltung auf Spanisch durch Ediciones Instituto de Urbanismo, Ciudad Universitaria de Caracas, Faculdad de Arquitectura y urbanismo (Hrsg.), »Foro Berlin Caracas«, Caracas, 2004. 15 | iehe Unterlagen zum städtebaulichen Ideenwettbewerb »Hauptstadt Berlin«, insbesondere den Band mit den Planungsgrundlagen und einer Denkschrift bearbeitet vom Senator für Bau- und Wohnungswesen, Abt. Landes- und Stadtplanung Berlin, herausgegeben vom Bundesminister für Wohnungsbau, Bonn, und vom Senator für Bau- und Wohnungswesen, Berlin, 1957. 16 | Zum Thema der Konzepte für den Wiederauf bau deutscher Städte nach den Bombardierungen im zweiten Weltkrieg ist die umfassende Dokumentation und Analyse von Werner Durth und Niels Gutschow zu empehlen: »Träume in Trümmern. Planungen zum Wiederauf bau zerstörter Städte im Westen Deutschlands 1940–1950. Teil 1 und Teil 2«, Braunschweig, 1988. 17 | Unter dem Begriff »Stadtidee« schrieb der damalige Senator Volker Hassemer einen eingeladenen Wettbewerb zwischen 7 verschiedenen Gruppen aus, mit dem speziellen Hinweis darauf, eine Vorstellung was die Stadt Berlin in Zukunft sein könnte oder sollte, zu artikulieren. Damit verließ dieser Wettbewerb eindeutig das klassische Format eines städtebaulichen Wettbewerbes. Dennoch war die Mehrzahl der Beteiligten Architekten. Die Frage nach einer Idee oder einem zukunftsfähigen Verständnis der Stadt wurde, wenn auch etwas aus dem Rahmen, am umfassendsten von der Gruppe um Hardt-Walherr Hämer behandelt. Aber auch hier konnte man beobachten, dass durch die Wettbewerbsarbeiten die Stadt Berlin aus »unterschiedlichen Perspektiven ausgeleuchtet« wurde, aber »das Thema nicht abgeschlossen ist, sondern erst gerade ausgebreitet wurde«, so Volker Hassemer im Vorwort der Dokumentation der ›Wettbewerbsarbeiten‹ in »Stadtideen Stadt Forum – Stadtforum Berlin«, herausgegeben von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz, Berlin, 1992. Also kein Wunder, dass mögliche Folgen der Arbeiten im planungsgeschäftlichen Trubel der Zeit verschwanden. 18 | Ein deutlich anderer Versuch, zu räumlichen Strategien zu kommen, wurde 1994 unternommen, in der Absicht an einer konkreten räumlichen Struktur, den sogenannten ›Großsiedlungen‹ mit einer Ideenwerkstatt, also einem organisierten interdisziplinären, internationalen und multilateralen Dialog in einer begrenzten Zeit von sechs Monaten strategisch bedeutsame räumliche Ergänzungen identifizieren zu können. Beauftragt mit der Koordination wurde das Habitat Forum Berlin unter der damaligen Leitung von Prof. R. W. Ernst in Kooperation mit Prof. Dr. Omar Akbar, Christine van der Heijden und Bernd Multhaup. Im Auftrag der Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen, Berlin vertreten durch Dr.-Ing. Hans Stimmann, Klaus Keller, Monica Schürmer-Strucksberg und Dr. Heinz Willumat. Gefördert durch das Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, Bonn und das Land Berlin. Begonnen wurde mit einem Sympo-
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sium zum internationalen Vergleich unter Mitwirkung von: Marie-Hélène Bacqué (Paris), Prof. V. Kassianov (Moskau), Martin Mulder, Igor Roovers (Amsterdam), Carlos Semedo (Paris), Michael Varming (Horsholm), Prof. Dr. Hartmut Häußermann, Thomas Groé (Essen), Prof. Dr. Thilo Hilpert (Wiesbaden), Prof. Saskia Sassen (New York), Thomas Weber; beim 2. Symposium »Strategien für Marzahn« wirkten mit: Klaus Theo Brenner, Prof. Dr. Wolf Eisentraut, Prof. Dr. Thilo Hilpert (Wiesbaden), Prof. Dr, Hartmut Häußermann, Dr. Peter Ring, Dr. Hannelore Schneider (Frankfurt), Alessandro Vasella; die Werkstatt wurde von einem Beirat begleitet, dem angehörten: Dr. Martina Buhtz (Weeber+Partner), Cornelia Cremer (Urban Plan), Petra Gelfort (IfS), Undine Giseke (Landschaftsplanungsbüro), Dr. Bernd Hunger (Stadtbüro Hunger), Hartmut Meuter (WBG-Marzahn), Dr. Holger Schmidt (Bauhaus Dessau), Herrmann Seiberth (EAUE), Dr. Rotraut Weeber (Weeber+Partner), Herrmann Wurtinger (ProStadt). Veröffentlicht ohne den internationalen Vergleich in Senatsverwaltung für Bau und Wohnungswesen, Berlin, Senator Wolfgang Nagel und Senatsbaudirektor Dr.-Ing. Hans Stimmann (Hrsg.), »Ideenwerkstatt Marzahn. Die Zukunft der Großsiedlungen – Zeichen für eine Identität«, Konzeption Klaus Keller und Monica Schümer-Strucksberg; Referat Wohnungsbau in der Stadtplanung, Koordination Habitat Forum Berlin – Gesellschaft zur Förderung menschengerechten Wohnens mbH, Prof. Rainer W. Ernst, Redaktion: Christine van der Heijden, Günter Nest. Berlin, Dezember 1994. Siehe auch Beispiel A2 im Abschnitt 3. 19 | iehe Literaturhinweise unter (12) 20 | Am 09.11.2012 hat der auf gemeinsamer Initiative von SPD, CDU, Grünen, Linken und Piraten ins Leben gerufene ›Runde Tisch zur Neuausrichtung der Berliner Liegenschaftspolitik‹ seine erste Sitzung durchgeführt. Die 20. Sitzung fand am 14. Juli 2017 statt. Organisiert wird der runde Tisch von der Initiative ›Stadt Neudenken‹: www.stadtneudenken.net. Im Vordergrund standen wohl bislang weitgehend aktuelle Projekte, die Anlass zu Initiativen und Aktionen gaben, das Stadtentwicklungsgeschehen nicht allein den etablierten Akteuren auf dem Berliner Immobilienmarkt zu überlassen. 21 | In der klassischen Systemtheorie wurde zwischen Komplexität (die Zahl der Verbindungen zwischen den Elementen eines Systems ist höher als die Zahl der Elemente; je höher diese Zahl, desto höher der Grad der Komplexität) und Kompliziertheit, die durch die Zahl der Verschiedenheit der Elemente eines Systems bezeichnet wird, unterschieden;, siehe Prof. Dr. Georg Klaus, »Wörterbuch der Kybernetik«, Berlin, 1968; im »Lexikon der Planung und Organisation« von Hans Niewerth/Jürgen Schröder, Quickborn, 1968, wird die Komplexität mit der Schwierigkeit, das Verhaltens eines Systems vorauszusehen, erläutert und die Kompliziertheit wird wie bei Klaus durch die Anzahl der Verschiedenheiten der Elemente beschrieben. Nun hat sich aber in der Praxis herausgestellt, dass die Definitionen von Elementen und Beziehungen im System sich gegenseitig bedingen und sogar systematisch austauschbar sind, und damit ist diese Unterscheidung relativ obsolet. Daher wird von mir in dieser Publikation wie im allgemeinen Sprachgebrauch der Begriff Komplexität als Oberbegriff benutzt.Rita Kindler, »Landschaftsfraß: Flächenwende in Sicht?«, Berlin, 2004. Der Begriff ›Möglichkeitsraum‹ und ähnliche Aussagen wie ›Stadt schafft mögliche Räume‹ sind in der deutschsprachigen Stadtplanungsliteratur seit Beginn dieses Jahrhunderts vielfach zu finden. Anhand folgender Literatur können verschiedene Facetten dieses gedanklichen Konzeptes
Komplexität des Raumes
verfolgt werden: A) Der besondere Zusammenhang zwischen Stadt und möglichen Räumen ist sehr anschaulich dargestellt in: Walter Siebel, »Urbanität und Raum: Der Möglichkeitsraum«, in D. Kornhardt, G. Pütz, T. Schröder (Hrsg.), »Stadt schafft mögliche Räume«, Hamburg, 2002, eine Zusammenfassung der Ergebnisse einer Tagung der BUGA 2001, »Stadt schafft Landschaft«. Der Begriff ›Möglichkeitsräume‹ im Zusammenhang mit urbaner Transformation findet sich in R. W. Ernst, »Stadt Raum Strategie«, Berlin, 2006, S.107 ff. sowie in Rainer W. Ernst, »Vorschlag für den weiteren Diskurs« und Peter Zlonicky, »Der dritte Raum – Zustandbilder, Zukunftsbilder«, beide Aufsätze in Heiner Moldenschardt (Hrsg. im Auftrag der Akademie der Künste Berlin), Berlin, 2007, Dokumentation des Symposiums »Modelle urbaner Raum-Bildungen«, November 2005, Akademie der Künste Berlin, im Rahmen des Projektes: RAUM, Orte der Kunst. B) Zur Verwendung des Begriffs ›Möglichkeitsraum‹ auch im Sinn von Potentialen im Zusammenhang mit Kreativität, Zwischennutzungen und Inkubatorfunktionen sind drei Publikationen zu erwähnen: Heike Liebmann, Tobias Robischon (Hrsg.), »Städtische Kreativität: Potential für den Stadtumbau«, Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung, Erkner, 2003; Senatsverwaltung für Stadtentwicklung (Hrsg.), »Urban Pioneers«, Berlin, 2007; Rainer W. Ernst, Simon Kühl, Friederike Rückert/ Muthesius Kunsthochschule (Hrsg.), »Möglichkeitsraum Lessingbad«, Kiel, 2015, siehe auch Beispiel 3B 7). C) Besondere Beispiele für Möglichkeitsräume durch Aktionen an der Basis, Partizipation und besonders kostengünstige Installationen oder Interventionen und auch im Zusammenhang mit der Schaffung von Unterkünften für Flüchtlinge sind zu finden in: Jesko Fezer/Matthias Heyden (Hrsg.), »Hier entsteht: Strategien partizipativer Architektur und räumlicher Aneignung«, Berlin, 2004, Dokumentation des Projektes HIER ENTSTEHT im Rahmen von ErsatzStadt, einem Initiativprojekt des Bundes in Kooperation mit der Volksbühne Rosa-Luxemburg-Platz; Marcos L. Rosa/Ute E. Weiland, »Handmade Urbanism from Community Initiatives to Participatory Models«, Berlin, 2013, mit Beispielen aus Mumbai, São Paulo, Istanbul, Mexiko City und Kapstadt; Jörg Friedrich/Simon Takasaki/Peter Haslinger/Oliver Thiedmann/Cristoph Borchers (Hg.), Refugees Welcome – Konzepte für eine menschenwürdige Architektur«, Berlin, 2015; Christian Teckert/Muthesius Kunsthochschule Kiel (Hrsg.), »Räumliche Interventionen und Urbane Strategien Eine Sammlung von Konzepten«, Kiel, 2016; Lars Krückeberg/Wolfram Pitz/Thomas Willemeit, »Architecture Activsm«, Basel, 2016.siehe Robert Musil/Adolf Frisé (Hrsg.), »Der Mann ohne Eigenschaften«, Reinbek bei Hamburg, 1952, S. 16.
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Beispiele eigener Arbeiten zur Erweiterung des Arbeitsfeldes eines Architekten Interdisziplinäre und dialogbasierte Kooperation zur Entwicklung komplexer räumlicher Strategien auf lokaler Ebene (in der Zeit 1989–1997)
Beispiel 1 Ausstellung und Dokumentation »Perspektiven durch Verbindungen – Neue Aufgaben für die Stadtplanung in Berlin (Ost und West) 1990«, eine interdisziplinäre Kooperation auf Gesamtstadtebene mit einem Manifest für eine neue Planungskultur (1990/91) Dieses Projekt entstand 1990 durch eine informelle und selbstbestimmte Kooperation von interessierten Architekten, Planern und Gestaltern aus den beiden damals noch existierenden Teilen der Stadt Berlin. Von der Gruppe wurde das Ziel verfolgt, die durch den Fall der Mauer entstandenen Aufgaben als eine neue Perspektive für die Stadtentwicklung von Berlin zu begreifen. Folgende Themen waren Gegenstand der Ausstellung der zehn Karten über Gesamtberlin und der Dokumentation: • Von der Schwierigkeit, der Vergangenheit zu entrinnen • Zwei Hälften: Querdenken – Vernähen • Grün und Wasser: Schutz vor Zersiedlung – Integration der Wasserstraßen in die Stadt • U + S-Bahn: Ein Gesamtnetz – Neue Potentiale • Fernbahn: Metropolen haben keinen Hauptbahnhof • Straße: Die Stadt vor dem Auto schützen – das vorhandene Netz stabilisieren • Versorgung: Die polyzentrale Stadt (siehe Abbildung) • Dispositionen: Die Stadt wird größer • Industrie: Intensivierung, Beschränkung, ökologischer Umbau und Förderung der Mischgebiete • Zonierung: Steuerung der zu erwartenden Dynamik durch Prioritäten, Standortplanung und Schutzgebiete Ergänzt wurde die Ausstellung und Dokumentation um eine Collage aus Fundstücken aus dem Mauerstreifen (gesammelt und erarbeitet unter der Leitung von Dietmar Starke mit Ivan Ferraro, Himasari Hanan und Rosana Zanini) und ab-
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geschlossen mit einem Aufruf (von R. W. Ernst) zu einer neuen Planungskultur in Berlin, die an dieser Stelle in Ausschnitten zitiert wird: »Plant Berlin?! Die Stadt steckt voller Aufgaben, und jede von ihnen relativiert sich im Gefüge des Ganzen. Die Fragestellungen zu benennen und Lösungsansätze zu entwickeln, ist eine spannende Herausforderung an uns alle! Eine überstürzte Rekonstruktion Berlins unter Verwendung bedenklicher Modelle der Vergangenheit würde das Ziel verfehlen, die Stadt als attraktives und modernes Habitat für seine Bewohner zu konzipieren und ein neues Selbstverständnis im europäischen Kontext zu entwickeln. Die Zeit ist reif für eine zeitgemäße Form der Planungskultur: Ein demokratisches Forum der Stadtplanung ist gefordert – fachlich unterstützt von einem interdisziplinären Koordinations- und Planungsteam unter Beteiligung freier Architekten und Planer der Stadt (Ost+West). ›Berlin als Experiment‹ – das sollte die zentrale Funktion der Stadt innerhalb der beabsichtigten Konföderation werden.« »Unumstritten scheint die Forderung nach einer verbesserten öffentlichen Beteiligungen der Stadtentwicklungsplanung zu sein, ebenso wie der Ruf nach Koordination zwischen Stadtentwicklungs-, Verkehrs- und Bauplanung. Fragwürdig dagegen die Forderung nach einem ›verbindlichen Stadtentwurf‹ oder einem städtebaulichen Wettbewerb für Gesamtberlin. Die Stadt einer pluralistischen Gesellschaft kann nie nach einem einzigen baulichen Endprodukt entworfen werden.« »Die bisher gebräuchlichen Planungsinstrumente in Ost und West waren für derartige Aufgaben nicht entwickelt. Nun ist weniger die Regulierung des Bestandes als die räumliche Koordination von Investitionen gefragt.« »Dazu sind insbesondere folgende Schritte Voraussetzung: 1. eine Bestandsaufnahme der Potentiale der gesamten Stadt (die vorliegende Dokumentation ist ein Katalog der dazu notwendigen Arbeiten); 2. ein öffentlicher Diskurs und politischer Konsens über die städtebaulichen Leitbilder, die gewünschten und möglichen Lebenswelten; 3. aktive Anwerbung von zukunftsweisenden Aufgaben für Berlin.«
Dieser Aufruf wurde unterstützt vom Deutschen Werkbund Berlin und von diesem ins Gespräch mit dem damals zukünftigen Senator für Stadtentwicklung Volker Hassemer gebracht. Dies hatte Einfluss auf die Gründung des Stadtforum Berlin. Dabei blieb es jedoch. Aus heutiger Sicht ist möglicherweise eine Chance vertan worden, damals die Grundlage für eine neue Planungskultur zu schaffen, insbesondere im Hinblick auf die Entwicklung des Instruments ›Bilanz der räumlichen Ressourcen‹. Eine Ausstellung des Deutschen Werkbundes Berlin, entstanden in Kooperation mit der Kunsthochschule Berlin Weißensee, erstmals gezeigt in der Werkbundgalerie vom 21.03.– 27.04.1990, erarbeitet von Rainer W. Ernst (Berlin West), Himasari Hanan (Indonesien), Peter Kaufmann (Berlin Ost), Dietmar Kuntzsch (Berlin Ost), Bernd Multhaup (Berlin West), Dietmar Starke (Brasilien), Kai Teutsch (Berlin Ost), Rosana Zanini (bei einem Investor in Berlin Ost tätig); Die Dokumentation wurde herausgegeben von R. W. Ernst und B. Multhaup mit Unterstützung der EUWO HOLDING AG; die Arbeitsgruppe wurde beraten durch: E. Feddersen (West), A. Felz (Ost), U. Kohlbrenner (West), H. Kossel (West), L. Krause (Ost), C. Tschepe (West), C. Zillich (West) und H. Zimmermann (West), Gestaltung der Dokumentation: Sabine Konopka (TUB).
Beispiele eigener Arbeiten
Abb. 14: Büro Ernst + Multhaup, Beispiel für eine der zehn Karten: Die polyzentrale Stadt, aus »Perspektiven durch Verbindungen – Neue Aufgaben für die Stadtplanung in Berlin (Ost und West) 1990«, S. 17, Berlin, 1990. Die Karte zeigt deutlich die im Verlauf der Geschichte zusammengewachsene polyzentrale räumliche Struktur, die ein besonderes Potential für die Entwicklung einer Stadtstruktur mit 3,5 Millionen Einwohnern darstellt, das mit der verzweifelten Konzentration der Energie auf die ›Mitte der Stadt‹ konterkariert wird.
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Beispiel 2 Interdisziplinäre Kooperation und Bevölkerungsbeteiligung auf Stadtteilebene: Zwei Projekte, »Ideenwerkstatt Marzahn« und Modellvorhaben »Urbanisierung der Wohnsiedlung Greifswalder Straße« (1991–1995) Beide Projekte waren Bestandteil des EXWOST-Programms. Mit dem von der Bundesregierung 1990/91 aufgelegten Programm zur begleitenden Forschung von Projekten des experimentellen Wohnungsbaus in den neuen Bundesländern wurden von den elf geförderten Projekten allein vier Projekte ausgewählt, die auf eine Nachurbanisierung von Großsiedlungen in Berlin abzielten. Zur Durchführung einer die Großsiedlungen betreffenden Ideenwerkstatt wurde das Habitat Forum Berlin 1993 (damals alleiniger Geschäftsführer Rainer W. Ernst) mit der Durchführung beauftragt. Zunächst wurde ein internationales Symposium zum Thema Großsiedlungen durchgeführt und dann eine Ideenwerkstatt am Beispiel Marzahn zur Identifikation strategisch bedeutsamer städtebaulicher und landschaftlicher Elemente veranstaltet. In dem Abschlussbericht 21 sind folgenden neun Strategiebausteine festgehalten: 1. Marzahn funktional und städtebaulich ergänzen; 2. den visuellen Eindruck durch neue Architektur und Landschaftselemente ergänzen; 3. Marzahn räumlich integrieren; 4. neue Träger- und Eigentumsformen etablieren; 5. für neue Formen der Arbeit Platz schaffen; 6. Vielfalt von Lebensmodellen ermöglichen; 7. die ökologischen Eigenschaften Marzahns verbessern; 8. koordinierte Planung verbessern; 9. Pilotmaßnahmen zur Konkretisierung der Strategie durchführen. Zu Punkt 2 wurde vorgeschlagen: 1. 2. 3. 4.
Herausbildung von Heterotopen (nach Brenner); Entwicklung von vernetzten Entwicklungsbändern (nach Hilpert); Gestaltung einzelner Wohninseln (nach Eisentraut und Hilpert); Herausbildung besonderer landschaftsgestalterischer Elemente.
Diese Vorschläge können verstanden werden als Vorschläge für die Lokalisation besonderer städtebaulicher Eigenschaften und wären daher als Möglichkeitsräume in eine Raumbilanz über Marzahn einzubringen. Eine derartige Bilanz würde eine Entscheidungsgrundlage für eine weitere räumliche Entwicklung des Stadtteils bilden. Zu 1. und 2. siehe Abbildung 15: »Skizze 1: Heterotope und Entwicklungsbänder«
Die in der Ideenwerkstatt Marzahn identifizierten Strategiebausteine und städtebaulichen Elemente sind offensichtlich in der weiteren Entwicklung von Marzahn nicht weiter diskutiert worden. Es war zwar ein Vorteil, diese Elemente zunächst
Beispiele eigener Arbeiten
unabhängig von Bewohnerinteressen, Eigentumsstrukturen, Investoreninteressen und baurechtlichen Herausforderungen formuliert zu haben, als Diskussionsbeitrag sicher nützlich. Für das pragmatische Investitionsgetriebe im Land Berlin mit der Konzentration der Aufmerksamkeit vor allem auf die sogenannte ›Mitte‹ der Stadt waren diese Überlegungen wohl unbrauchbar. Ähnliche Gründe führten auch zum Scheitern des Ansatzes für gewünschte bauliche Ergänzungen von Wohngebäuden in Marzahn, dargestellt im Beispiel B3. Der methodische Versuch, modularisierte baulich-räumliche Elemente zu entwickeln, sollte zur Anwendung einer qualifizierten Bilanz räumlicher Ressourcen weiterentwickelt werden. Das Modellvorhaben »Urbanisierung der Wohnsiedlung Greifswalder Straße« hat vor allem gezeigt, »dass ein integrierter Planungs- und Durchführungsprozess die städtebaulichen, baulichen, sozialen, ökologischen und organisatorischen Maßnahmen bündeln und zügig die verabredeten Schritte und Maßnahmen umsetzen kann«. Dies weist auf eine kontextspezifische Wahrnehmung einer eigentlich der öffentlichen Verwaltung zugeordneten Aufgabe hin. Diese Art von ortsspezifischer Wahrnehmung integrierter und integrierender Koordination auch im Kontakt mit der betreffenden Bevölkerung bedarf einer besonderen Organisationsform und damit verbundenen operativen Mitteln, die offensichtlich nur in diesem Sonderfall nach der Einbindung der ehemaligen DDR in die Bundesrepublik sinnvoll erschien und eigentlich als grundlegender Bestandteil einer auf die Verbesserung realer örtlich bedingter Lebensbedingungen abzielenden Verwaltungstätigkeit als Standardvorgehensweise dringend erforderlich wäre. Zu bemerken bleibt, dass von den konkreten Planungsvorschlägen 2017 praktisch nur der zentrale Kultur- und Bürgerpavillon vorhanden ist und noch genutzt wird. Hinzuweisen bleibt noch auf den Gedanken, zu Gunsten einer ›Garagenökonomie‹ entlang der Michelangelostraße eine eingeschossige, garagenähnliche, mit einfachen Mitteln herstellbare Struktur vorzusehen, der damals auf vollkommenes Unverständnis bei den meisten Beteiligten stieß. Der veranstaltete Architekturwettbewerb und der Umgang mit den Ergebnissen von damals und den aktuellen Planungen erscheint aus Kenntnis der Forschung des Modellvorhabens »Urbanisierung der Wohnsiedlung Greifswalder Straße« heute ziemlich ignorant und naiv. Kein Wunder, dass sich trotz dieser Anstrengungen nichts zu bewegen scheint. Zur begleitenden Forschung des Modellvorhabens »Urbanisierung der Wohnsiedlung Greifswalder Straße« wurde 1991 zunächst das Büro Ernst und Multhaup (1993 aufgelöst) beauftragt, die Koordination übernahm von Anfang an Bernd Multhaup, er führte die Forschungskoordination bis zur Verfassung des Endberichtes 1995 durch und war zusätzlich verantwortlich für den Baustein »Städtebauliche Konzeption zur Weiterentwicklung der Wohnsiedlung Greifswalder Straße«. Die weiteren Bausteine des Projektes waren »Strukturelle Integration«, bearbeitet durch Dipl.-Ing. Gabriele Pfeil (Stadtplanungsamt Prenzlauer Berg), »Aktivierende Wohngebietsforschung«, bearbeitet durch Dr. Ingeborg Beer (Sozialwissenschaftlerin), »Parzellierung«, bearbeitet durch Dr. Eckehardt Schamer (Jurist) und »Trägerschaften«, bearbeitet durch Matthias Frinken (Architekt und Stadtplaner). Bestandteil des Projektes war eine umfangreiche Bürgerbeteiligung im Rahmen eines speziell organisierten Forums und einer betreuten Sozialstation, nicht zuletzt mit einer Diskussion am veränderbaren städtebaulichen Modell, siehe Abbildung). Die Diskussionen mit den Bürgern haben zu einer Veränderung der räumlichen Strategie zu Gunsten der Beibehaltung des Konzeptes ›äußere Erschließung‹ geführt.
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Abb. 15: Rainer W. Ernst, ›Heterotope und Entwicklungsbänder‹, in »Zur Diskussion über Strategien für Marzahn – Zusammenfassung der Ergebnisse«, in »Ideenwerkstatt Marzahn. Die Zukunft der Großsiedlungen: Zeichen für eine Identität«, Städtebaubericht 25 der Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen, Berlin, 1994, s. a. Anm. 22, Kapitel 3.
Beispiele eigener Arbeiten
Abb. 16: Rainer W. Ernst, ›Landschaftsgestalterische Elemente‹, a. a. O.
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Abb. 17: Büro Ernst + Multhaup, Modell für ein städtebauliches Konzept für die Plattenbausiedlung Greifswalder Straße nach den Dialogen am Modell mit der Bewohnerschaft, Berlin, 1993, eigenes Archiv. Das umbaubare Modell war ein ausschlaggebendes Instrument für einen konstruktiven Dialog mit den Bewohnern des Viertels.
Beispiele eigener Arbeiten
Beispiel 3 Interdisziplinäre Kooperation für eine mögliche komplexe Institution mit überregionaler Bedeutung: Projekt Museumspark Baustoffindustrie Rüdersdorf (seit 1990) Anfang 1990 empfahl Christian Tietze von der Deutschen Gesellschaft e. V. dem Deutschen Werkbund Berlin (DWB) nachdrücklich, sich um die Denkmäler in Rüdersdorf und das zerschlissene Industriegelände rund um die Kalk- und Zementproduktion zu kümmern. Rund um die riesige Abbaugrube von Kalkstein (ehemals Kalkberg, nun ein Negativabdruck der Positivform des gebauten Berlin) eine Landschaft wie aus einem Tschaikowski, mit wuchernden Ruderalbewachsungen, alten Baustoffindustriedenkmälern, alles von einer dicken Zementstaubschicht bedeckt (Rüdersdorf galt als am stärksten staubbelasteter Ort der ehemaligen DDR) und mittendrin ein Gefängnis für politische Gefangene. Noch im Jahr 1990, kurz nach dem Einigungsvertrag, veranstaltete der DWB in Rüdersdorf ein Symposium mit Beteiligung bzw. Unterstützung des neuen Zementwerkbetreibers, der Gemeinde Rüdersdorf, der Landesdenkmalpflege, de Senatsverwaltung für kulturelle Angelegenheiten und dem Bundesumweltamt zum Thema »Perspektiven für Rüdersdorf« (Dokumentation herausgegeben vom DWB e. V., 1991). Das Symposium war ein voller Erfolg, nicht nur wegen der hohen Teilnehmerzahl; hier wurde die Grundlage verabredet für die 1992 erfolgte Gründung des Fördervereins »Museumspark der Baustoffindustrie Rüdersdorf e. V.«, für die Beauftragung zu einem Landschaftspark im Rahmen der Rekultivierungsmaßnahmen und für die Ergänzung des vorliegenden Flächennutzungsplanentwurfes sowie zur planerischen und denkmalpflegerischen Untersuchung einzelner historischer Gebäude. 1994 übernahm dann schließlich die Gemeinde Rüdersdorf die Trägerschaft für den Museumspark und schloss dazu eine Partnerschaft mit der ortsansässigen Arbeitsfördergemeinschaft Stienitzsee GmbH. Da sich im weiteren Verlauf herausstellte, dass die Mittel zur Errichtung des beabsichtigten Museumsparks nicht vorhanden waren, wurde auf Anregung »Bundesstiftung Umwelt« das Büro Prof. Ernst mit der Erarbeitung einer Realisierungsstudie als Grundlage zur Einwerbung weiterer Mittel 1996 beauftragt. Mit dieser Studie wurde versucht, das vielfältige Potential des Geländes zu beschreiben und ein Konzept für eine Einrichtung mit überregionaler Bedeutung zu entwickeln. Folgende Potentiale des Museumsparks wurden dargestellt, wodurch die Grundlagen für die Komplexität des Projektes deutlich wurden: • • • • • •
Der Museumspark als Teil der Umwelt Der Museumspark als Freiraum Der Museumspark als geologischer Ort Der Museumspark als Ort des Bergbaus Der Museumspark als Ort der Baustoffe Der Museumspark als Ort der Kultur und Kunst
Entsprechend dieser Komplexität wurde ein räumliches Konzept entwickelt, in das die verschiedenen Belange und Zeugnisse zu den Themen integriert wurden (siehe exemplarisch die beiden Abbildungen).
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Das eigentlich verabschiedete Konzept mit den oben erwähnten Gesichtspunkten wurde durch andere, sich durchsetzende Interessen unterlaufen und daher nur in Bruchstücken und als sehr lokale Institution im bescheidenen Rahmen realisiert. Eine verbindliche Entwicklungsplanung ist trotz der verschiedenen Vorschläge aus dem Büro Ernst+Multhaup und danach vom Büro Prof. Ernst trotz Unterstützung durch die Landesdenkmalbehörde des Landes Brandenburg nie entstanden. Die Potentiale für eine mögliche überregionale Bedeutung wurden weder vom Land noch der Gemeinde richtig erkannt und die dazu notwendigen Mittel nicht akquiriert, trotz der möglichen Förderbereitschaft durch die Deutsche Bundesstiftung Umwelt. Ein Fehler bestand sicher auch darin, dass die möglichen und üblicherweise der Verursacherindustrie abverlangten Mittel für Rekultivierungsmaßnahmen für den Auf bau des Museumsparks nicht vollständig zur Disposition standen (siehe auch im Folgenden die beiden Beispiele B 4). Büro Prof. Rainer W. Ernst, »Realisierungsstudie des Museumsparks Baustoffindustrie Rüdersdorf unter Ausrichtung auf Umweltgesichtspunkte«, im Auftrag der Gemeinde Rüdersdorf, in Zusammenarbeit mit der Stienitzsee GmbH und des Museumsparks Baustoffindustrie Rüdersdorf, gefördert durch die Deutsche Bundesstiftung Umwelt und den Förderverein des Museumsparks der Baustoffindustrie Rüdersdorf, beraten durch das Referat Denkmalschutz im Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg, Herrn Hartmut Dorgerloh, Berlin, Juni 1997. Mitwirkende an der Realisierungsstudie: Redaktion: Rainer W. Ernst, Ingrid Lucia Ernst, Eva Köhler und Simone Mallbrand; Wissenschaftliche Beratung: Prof. Dr. K.-B. Jubitz, Dr. Joachim Jacobs (Freiraum), Martin Jennrich (Denkmalpflege), J. H. Streichan (Geologie); Beratung zur Institution und zum Thema Wirtschaft: Dipl.-Kfm. Thorsten Dembsky und Ulrich Lehmann; Beiträge folgender Autoren wurden eigearbeitet: Dr. Dieter Benkert (Flora und Fauna des Kalks), Dipl.-Ing. Siegfried Brandenfels (Bestand Vegetation), Dipl.-Kfm. Thorsten Dembsky (wirtschaftliche Bedeutung), Ingrid L. Ernst (Kalk als Baustoff der Zivilisation, Museumspark als Ort der Kultur und Kunst, Schachtofenbatterie als Schauplatz theatraler Ereignisse), Dipl.-Arch. Sebastian Frach (Schachtofenbatterie), Dr. Brigitte Hammer (Kunst im Kontext), Dr. Joachim Haensel (Fledermaus-Diorama), Dr. Joachim Jacobs & Petra Hübinger (Landschaftsplanungen), Martin Jennrich (Baustoffproduktion, Denkmale des Museumsparks, Transportgeschichte und Spuren der Anwendung), Prof. Dr. K.-B. Jubitz + J. H. Streichan (Geologie), Katrin Klippstein (Botanischer Lehrpfad), Eva Köhler (»Es war einmal viel Staub in der Luft«, Museumspark als Ort des Bergbaus, Arbeitsund Sozialgeschichte, Museumspark als Institution, Führung Tagebau, Museumspädagogik), Ulrich Lehmann (Bauhof), Marion Myrrhe (Geschichte der Rüdersdorfer Kulturlandschaft), Dipl.-Arch. Kristina Schwesinger (Eingangsbereich, Glashaus der Steine), Thomas Wulffen (künstlerische Weiterbildung).
Beispiele eigener Arbeiten
Abb. 18: Büro Prof. Ernst, Skizze Schnittstelle Museumspark Baustoffindustrie Rüdersdorf, aus Büro Prof. Ernst: Realisierungsstudie des Museumsparks Baustoffindustrie Rüdersdorf, 1997 (s. o.).
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Abb. 19: Büro Prof. Ernst, Standorte der Denkmäler bzw. der historisch bedeutsamen Elemente, Karte 7 aus der oben genannten Studie; weitere Themen in Karten gleicher Art in der Studie sind: Karte 2: Standorte besonderer Vermittlung von Umweltthemen; Karte 3: Vegetation besonderer Bestand; Karte 4: Erschließung; Karte 5: Maßnahmen zur Entwicklung der Freiraumstruktur im Museumspark; Karte 8: Vorhandene Standorte der Kultur und der Vermittlung; Karte 9: Zusätzliche Standorte der Vermittlung; Karte 10: Lehrpfade, aus Büro Prof. Ernst: Realisierungsstudie des Museumsparks Baustoffindustrie Rüdersdorf, 1997 (s. o.).
Beispiele eigener Arbeiten zur Erweiterung des Arbeitsfeldes eines Architekten Anwendung des Konzeptes ›Möglichkeitsraum‹ (in der Zeit 1987–2012)
Abb. 20: Selfie Rainer W. Ernst im Atelier, Entwurf und Ausführungsplanung Rainer W. Ernst, Überbauung der großen Terrasse auf dem Haus der Eltern in Berlin, 1992.
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Beispiel 1 Raumgewinn durch einen möglichen Dachaufbau: Wettbewerbsbeitrag (1. Preis) Realisierungswettbewerb Dachaufbau HdKB (heute UdKB) für das zweite Quergebäude am Steinplatz (1989) Eingeladener Realisierungswettbewerb, 1. Preis 1989, bislang nicht realisiert; zur Ermöglichung, dass jeder Architekturstudent an der HdK (Hochschule der Künste Berlin) einen eigenen Arbeitsplatz bekommt und ein Gebäudeteil des historischen Komplexes einen zeitgemäßen Hut bekommt. Erläuterungstext siehe Sondertext 9: ›Erläuterungsbericht in Form einer szenischen Beschreibung‹. Die Realisierung scheiterte letztlich an der durch die Vereinigung von BerlinWest und -Ost erforderlichen Priorität von Investitionen in die Hochschulen in Berlin-Ost. Im Zuge der aufkommenden Planung der Verdichtung und des ökologischen Umbaus des Campus der TUB/UdK ist das Projektvorhaben wieder ins Gespräch gekommen. Ausgang offen.
Veröffentlichungen Baumeister 7, Juli 1989, S. 7 und Urban Design, Nr. 001, Tsinghua University, 2015, S. 017; eigenes Archiv und Archiv der Berlinischen Galerie.
Beispiele eigener Arbeiten
Abb. 21: Modellfoto Theil, Wettbewerbsentwurf, Rainer W. Ernst in Zusammenarbeit mit Claus Zillich, Berlin, 1989; Baumeister 7, Juli 1989, S. 7; eigenes Archiv und Urban Design, Nr. 001, Tsinghua University, 2015, S. 017.
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Abb. 22: Schnitte aus dem Wettbewerbsbeitrag von Rainer W. Ernst in Zusammenarbeit mit Claus Zillich, eigenes Archiv. An den Schnitten wird die baulich-räumliche Integration des neuen Elements in die bestehende Baustruktur deutlich.
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Beispiel 2 Ermöglichung eines Campus für eine Kunsthochschule an einem Standort: Ausbau, Umbau und Ergänzung in kleinen Schritten des Standortes Weißensee der Kunsthochschule Berlin-Weißensee (KHB) (1993–2008) Ohne Investitionsmittel mit einem fortgeschriebenen Gesamtkonzept (laufend aktualisierte Raumbilanzen) wurde eine Erweiterung der Kunsthochschule BerlinWeißensee im laufenden Betrieb schrittweise realisiert (1993–2008). 1991 beschloss der neugebildete Berliner Senat in seiner Sitzung am 22.10.1991 (Beschluss Nr. 852) den Erhalt der Kunsthochschule Berlin Weißensee mit einer Erhöhung der Studienplätze auf 550 und dem Ausbau auf 11.000 qm Nutzfläche (gemäß Empfehlung des Wissenschaftsrats), für die ein Investitionsvolumen von 42 Mio. DM angegeben wurden, damit alle Flächen an einem Standort sein könnten. Diese Investitionssumme wurde nie in den Haushaltsplan des Landes Berlin aufgenommen. Erst im Nachtragshaushalt des Landes Berlin 2009 wurden 6,2 Mio. Euro Investitionsmittel eingestellt, dies war aber erst durch den vom 13.02.2009 vom Deutschen Bundestag in vier Gesetzen beschlossenen »Pakt für Beschäftigung und Stabilität zur Sicherung der Arbeitsplätze, Stärkung der Wachstumskräfte und Modernisierung des Landes« (genannt Konjunkturpakt II) möglich. Unmittelbar nach meinem Wechsel zur KHB zum Sommersemester 1993 konnte ich an einem Gespräch (von Seiten der Hochschule waren außerdem beteiligt der damalige Rektor Alfred Hückler und der damalige Prorektor Max Görner) mit dem damaligen Senator für Wissenschaft und Forschung Prof. Erhardt teilnehmen, in dem Planung und Ausbau der Kunsthochschule in kleinen Schritten verabredet wurden, unter Nutzung der Möglichkeiten, dazu Mittel aus der Bauunterhaltung (für die allerdings der Senator für Bau- und Wohnungswesen zuständig war und ist) einzusetzen. In der Hochschule wurde ein Einvernehmen erzielt, zunächst die Priorität auf den Ausbau und die Stabilisierung der vorhandenen Werkstätten zu legen sowie auf die Ergänzung von Atelierflächen für Studierende. Im Konzept zwei zur baulich-räumlichen Entwicklung der KHB konnte aufgezeigt werden, dass ein Teil des Flächendefizits durch Ausbau nicht genutzter Dachräume und den zweigeschossigen Ersatz der eingeschossigen, asbestbetroffenen Baracken möglich ist. Von dieser Zeit bis zum Jahr 2007 wurde jährlich mit der Anmeldung von baulichen Instandsetzungs- und Modernisierungsmaßnahmen das fortgeschriebene und weiterentwickelte Raumkonzept für die KHB den Gremien des Hauses, der Wissenschaftsund der Bauverwaltung vorgelegt. Der allmähliche Zuwachs an Arbeitsflächen für Studierende erlaubte es, im Hauptgebäude die Bibliothek um- und auszubauen und ein Atelier in einen Hörsaal mit 90 Plätzen zu transformieren. Ein Beispiel für die fortgeschriebene Planung ist in Abbildung 7 am Plan zu Konzept 6 vom 10.01.2001 zu sehen. Mit den kontinuierlichen und fortgeschriebenen, vorüberlegten und gestalterisch konzipierten Raumerweiterungsmöglichkeiten wurde der Bedarf an Raum konkretisiert, abgestimmt und realisierbar. Diese Art von kontinuierlichen Raumbilanzen war daher ein wesentliches Instrument für die erfolgreiche baulich-räumliche Entwicklung der KHB. Die Besonderheiten der Ergebnisse liegen in folgenden Aspekten begründet: erstens die Flächenerweiterung auf dem vorhandenen Campus im laufenden Betrieb, zweitens
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die drei Ersatzgebäude für die beiden Baracken und drittens das Behelfsatelier in der Ecke. Die beiden zweigeschossigen Bauten und der dreigeschossige Eckbau (in Hommage an Mart Stam aus drei Entwürfen vom ihm gesamplet) für Ateliers, Werkstätten, Seminar- und Arbeitsräume für Lehrende konnten im Ablauf nur durch geschickte Umnutzung im Bestand und punktuelle Anmietung ermöglicht werden. Das von den dreien als erstes fertiggestellte Gebäude ist das sogenannte Werkstattgebäude mit den Ateliers für die künstlerischen Grundlagen im OG (siehe Abbildung).
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Abb. 23: Büro Prof. Ernst, Karte zur Übersicht über die stufenweise bauliche Entwicklung der KHB, Berlin, 2001, Bestandteil von: Rektor der Kunsthochschule Berlin-Weißensee, 10.07.2001, »Konzept 6 zur baulich-räumlichen Entwicklung KHB«, Archiv KHB und eigenes Archiv.
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Abb. 24: Karl-Ludwig Lange, Werkstattgebäude KHB, Berlin, Entwurf Büro Prof. Ernst, Ausführungsplanung Büro Baukanzlei, Fertigstellung 1999.
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Abb. 25: Büro Prof. Ernst, Das neue Eckgebäude, in Erinnerung an den ehemaligen Rektor Mart Stam (1950–53), der wegen Formalismusvorwurfs die DDR innerhalb einer Woche verlassen musste; ehemals eingeschossiges, baufälliges Bildhaueratelier, nun Keramikwerkstatt, Freiluftzeichenatelier und Seminarraum, gesamplet aus 3 verschiedenen Entwürfen von Mart Stam; Baukanzlei mit Prof. Ernst, 2002.
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Beispiel 3 Überprüfung von Erweiterungsmöglichkeiten: Nachverdichtung von Marzahn auf Grundstücken der Wohnungsbaugesellschaft Marzahn (1995/96) Untersuchung von »Nachverdichtungsmöglichkeiten auf Grundstücken der Wohnungsbaugesellschaft Marzahn oder auf Grundstücken anderer Träger, die die Wohnungsbaugesellschaft Marzahn erwerben oder zugeordnet bekommen konnte«, lautete die Aufgabe an das Büro Prof. Ernst. Die Arbeit wurde fast unmöglich, da es keinen Plan gab, der alle seit November 1989 erfolgten Parzellierungen enthielt. Hinzu kam, dass es keine zuverlässigen Pläne der verlegten technischen Infrastruktur gab; diese, sofern es sie überhaupt gab, waren weitgehend in geheimen Akten der DDR verschwunden. Wir haben uns bei der Erstellung einer Ergänzungstypologie auf Skizzen, unvollständige Pläne, Vermutungen und nicht zeichnerische Akten und mündliche Berichte verlassen müssen. Die Ergänzungstypologie wurde zwar auch unter Gesichtspunkten entwickelt, andere Nutzungen als Wohnen zu ermöglichen. Die nähere Untersuchung ergab jedoch, dass die entstandene Parzellierung mit der vorhandenen Bebauung nur sehr begrenzte Möglichkeiten für Ergänzungen zulassen. Es wurde daher keine aus der damaligen Sicht vorgeschlagene Ergänzung in die Realisierung gebracht. Die Methode, auf eine Ergänzungstypologie hin zu arbeiten, erscheint jedoch aus der Betrachtung von Möglichkeitsräumen ein wichtiger methodischer Ansatz zu sein. Man darf gespannt sein, ob es bei den zur Zeit (2017/18) heftig diskutierten Überlegungen zu Nachverdichtungen im Land Berlin möglich wird, das Potential, das in den Großsiedlungen im Ostteil der Stadt Berlin steckt, sofern nur die Bebauungsstruktur betrachtet wird, doch noch zu realen Möglichkeiten transformiert werden kann. Dies setzt aber andere koordinierte und integrierte Anstrengungen voraus als die, die bislang erkennbar sind.
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Abb. 26: Büro Prof. Ernst mit Thomas Fiel und Martin Jennrich, Ausschnitt aus Karte 10: »Bestand der WBG in Marzahn-Süd«, aus dem Bericht »Wohnungsbaupotentialanalyse MarzahnSüd«, im Auftrag der WBG Marzahn, Berlin, 1996; eigenes Archiv. Deutlich ist zu erkennen, dass die Festlegung der Grundstücke für die WBG, wie sie durch die Parzellierung nach der Wende entstanden sind, kaum Ergänzungsbauten zulässt.
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Abb. 27: Büro Prof. Ernst mit Thomas Fiel und Martin Jennrich, Blatt 6: ›Ergänzungstypen‹, aus dem Bericht »Wohnungsbaupotentialanalyse Marzahn-Süd«, im Auftrag der WBG Marzahn, Berlin, 1996; eigenes Archiv.
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Beispiele 4 Nutzung vorhandener Gegebenheiten: Zwei Beispiele aus dem Museumspark Rüdersdorf (1997/99) A) ›Haus der Steine‹ (Büro Prof. Ernst, 1997/99): eine geologische Schatztruhe neben den Rumfordöfen Nachdem ein Standort im Bereich des Tagebaus aus abbautechnischen Gründen nicht mehr in Frage kam, stand im Eingangsbereich nur das abgeräumte Grundstück schräg gegenüber dem Magazingebäude (1666) mit Uhrenturm (1830) und in Nachbarschaft des Rumfordofens mit Bohlenbinderdach (1817) zur Verfügung. Die besondere Formensprache der denkmalpflegerisch auf bereiteten Gebäude, die zu den ältesten im Museumspark gehören, verlangte eine korrespondierende Form. Unter Einbeziehung der vorhandenen Stützmauer wurde eine Flügelform (gemäß der Aerodynamik der eingebauten Luftkollektoranlage) für das Dach entwickelt, die dem Gebäude einen einer ›Schatztruhe‹ ähnelnden Querschnitt verleiht. Das Gebäude ist selbst integrativer Teil der Ausstellung. Auf die für Rüdersdorf relevanten Abschnitte der Erdgeschichte (Eiszeit, Perm und Trias) wird von außen hingewiesen. Wände und Boden stellen Transformationsstufen des primären Materials Kalkstein dar: Bruchstein und Sichtbeton. Ein kreisförmiger Einschnitt im Fußboden erlaubt den direkten Blick auf das 1.50 m tiefer liegende Originalgestein und schafft Platz für ein Schauseismometer, das sich selbst ausstellt. Der Zusammenhang zwischen Kalk und Luft kann durch das schwebende Dach mit bewegter Luftschicht (Luftkollektoranlage) assoziiert werden. Dem Charakter einer ›Freiluftausstellung‹ der geologischen Exponate und der erdgeschichtlichen Erläuterungen wird durch Verzicht auf eine konventionelle Heizung nahegekommen. Damit ist dieses neue Museumsgebäude ähnlich wie die Rumfordöfen eng mit dem Gelände verbunden und führte zu Kosteneinsparungen, durch die das Gebäude überhaupt erst möglich wurde. Lobende Erwähnung im Architekturpreis 2000, ausgelobt vom Zentralverband Sanitär Heizung Klima in Zusammenarbeit mit dem Bund Deutscher Architekten (BDA).
B) Bespielbarkeit der Schachtofenbatterie in Rüdersdorf (1997/99) genannt »Kathedrale des Kalks« »Das fremdartige, fantastische Erscheinungsbild der Schachtofenbatterie mit den 18 Türmen, dem breiten Dach mit dem Verbindungssteg und den vielen fragmentierten Öffnungen an der Vorderfront bildet ein faszinierendes Ambiente und wirkt auf den Betrachter geradezu magisch: Die archaisch groben Formen der Architektur kontrastieren mit der bizarren Kleinteiligkeit der technischen Konstruktion. Die Abstände zwischen den Türmen segmentieren das Dach in Räume.« (aus Ingrid L. Ernst, »Museumspark als Ort der Kultur und Kunst«, in »Realisierungsstudie des Museumsparks Baustoffindustrie Rüdersdorf unter Ausrichtung auf Umweltgesichtspunkte«, siehe Beispiel A3) In einer ersten Sicherungsmaßnahme wurden das Dach auf der Nordseite der Schachtofenbatterie wiederhergestellt und der weitere Verfall der Stützkonstruktio-
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nen aus Holz aufzuhalten versucht. In der zweiten Phase wurden die Sicherungsmaßnahmen fortgeführt. Eine Teilbegehbarkeit des Gebäudes wurde hergestellt, die Belieferungsbrücke zur Hälfte rekonstruiert und mit einer neuen Treppe an der Nordseite verbunden, sodass die Schachtofenbatterie damit an die Rundwege des Museumsparks angeschlossen ist und von allen Seiten betrachtet werden kann. Der atmosphärischen Besonderheit der Anlage entsprechend wurde der nördliche Teil der Schachtofenbatterie ohne Eingriffe in die Substanz für eine theatrale Nutzung hergerichtet. Aus Anlass der Abschlusses dieser Sicherungsmaßnahmen und der Erstellung einer Begehbarkeit wurde das theatrale Potential der Halbruine durch mehrere nächtliche Freiluftaufführungen mit dem Theaterstück »Der Traumarbeiter«, inszeniert von Ingrid L. Ernst, aufgezeigt. »Das Gebäude soll die Phantasie anregen, ist Material für das Stück. Ist einer der Akteure. Ich will es verwandeln, verzaubern und mit Bildern neu entdecken.« (Ingrid L. Ernst, zitiert in der Kritik von Jens Blankennagel in der Berliner Zeitung, 177 UM, vom 2. August 1999) Die Ausstellung im Haus der Steine ist ohne Mitwirkung des Architekten erfolgt und entspricht auch nicht annähernd den Vorstellungen, die der Gestaltung des Innenraums zugrunde lagen. Die imposanten Räumlichkeiten mit einer außerordentlich beeindruckenden Atmosphäre werden seit 1999 nicht mehr für theatrale Veranstaltungen genutzt.
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Abb. 28: Uwe Walter, Innenraum des geologischen Museums ›Haus der Steine‹, Entwurf Büro Prof. Ernst, 1997; in bau (3) 99, S. 7; Uwe und Ulla Walter, Rainer Görss, Andreas Reidemeister, Katalog der Ausstellung »Transformation des Verschwindens« vom 01.08.–30.09.1999 in der Galerie Linkstraße im Volksbank-Center am Potsdamer Platz.
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Abb. 29: Büro Prof. Ernst, Schemaskizze zur Verdeutlichung der Einfügung des ›Haus der Steine‹ in den Kontext, 1996, eigenes Archiv.
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Abb. 30: Uwe Walter, die neu angefügte Treppe zur Erschließung und Begehbarkeit der drei Ebenen der Schachtofenbatterie, Entwurf und Realisation Büro Prof. Ernst, Rüdersdorf 1997.
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Abb. 31: Ingrid L. Ernst, Inszenierung »Der Traumarbeiter« von Ingrid L. Ernst, Rüdersdorf, 1998, eigenes Archiv.
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Beispiel 5 Neue Möglichkeiten durch die Aufgabe einer nicht mehr benötigten Nutzung: Studie über eine neue mögliche städtebauliche Qualität für die Unterstadt von Salvador (Ba) durch Ersatz des Hafengeländes an anderer Stelle (2001/03) Der Zugang der Altstadt von Salvador (Brasilien) zum Meer ist durch einen nicht mehr genutzten Hafen versperrt. Die Studie ›Waterfront‹ wurde von der Stadtverwaltung in Auftrag gegeben. Es gab zwischen Stadt bzw. Land und der Firma Odebrecht eine Verhandlung darüber, einen neuen Containerhafen außerhalb von Salvador zu bauen, es musste dazu eine Wertschätzung des Grundstückstreifens auf dem der alte Hafen lokalisiert ist, durch eine städtebauliche Studie begründet werden (2001/03). Ein städtebauliches Konzept, das einerseits die Verlängerung der baulichen Struktur bis zum Wasser mit entsprechenden Durchblicken und Grünverbindungen bedeutete, aber andererseits auch eine öffentliche Promenade mit neuen Nutzungen wie Hotels, Kolonialmuseum, Yachthafen mit Wohnungen sowie Loft- und Einfachwohnungen. Eine Weiterverfolgung des Konzeptes scheiterte offensichtlich an den unübersichtlichen, inzwischen unter Korruptionsverdacht stehenden Beziehungen zwischen den staatlichen Institutionen bzw. deren Repräsentanten und der Firma Odebrecht.
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Abb. 32: Glocal Studio (AG Rainer W. Ernst und Bela Kunckel), aus der Analyse zur Bestimmung möglicher Baufelder für die Bebauung der alten Kaianlagen von Salvador/Ba, aus der städtebaulichen Studie ›Waterfront Bahia‹, Salvador/Berlin, 2005, Stadt Salvador und eigenes Archiv.
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Abb. 33: Glocal Studio (AG Rainer W. Ernst und Bela Kunckel), Isometrische Darstellung der möglichen Bebauung der alten Kaianlagen von Salvador/Ba, aus der städtebaulichen Studie ›Waterfront Bahia‹, Salvador/Berlin, 2005, Stadt Salvador und eigenes Archiv.
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Beispiel 6 Ermöglichung der Realisierung eines neuen Campus für die Muthesius Kunsthochschule durch ein städtebauliches Konzept mit besserer Eingliederung in den Bestand und durch Kostenreduktion trotz Raumerweiterung (2008–2013) Anfang 2008 wurde ich zum Präsidenten der 2005 von der Fachhochschule für Kunst und Gestaltung zu einer Kunsthochschule umorganisierten Muthesius Kunsthochschule Kiel. Sie ist die einzige Kunsthochschule des Landes SchleswigHolstein. Schon vor offiziellem Beginn meiner Arbeit am ersten April 2008 war mir durch Gespräche und Akteneinsicht deutlich geworden, dass die räumliche Ausstattung der Hochschule eines der zentralen Themen für meine Amtszeit sein würde. Am Ende meiner Amtszeit war die Kunsthochschule in einen neuen Campus umgezogen. Dieser Erfolg ist nur bei genauerer Betrachtung der Flächenbilanzen auf dem Weg dahin zu verstehen. Ausgangspunkt war der Bestand von 5.500 qm Hauptnutzfläche (HNF, beinhaltet alle Flächen, die für die Funktion einer Institution direkt erforderlich sind, und beinhaltet nicht die Nebenflächen wie Flächen für Technik, Sanitär oder Verkehr; von den 5.500 qm waren 2.200 qm angemietet) für geplante 480 Studienplätze und eine im Haushaltsplan vorgesehene Summe in Höhe von 4,5 Mio. Euro zum Ausbau eines neuen Campus am von der Fachhochschule Kiel aufgegebenen Standort der an der Legienstraße. Der Bestand entsprach auch dem vom zuständigen Ministerium als ›anerkannter Bedarf‹ bezeichnete Fläche. Für den vorgesehenen neuen Standort gab es eine Planung, die eine geschätzte bauliche Investition in Höhe von 17,5 Mio. Euro erforderte; diese Planung wurde aus städtebaulichen Gründen von der Stadt Kiel abgelehnt. Der anerkannte Bedarf beruhte auf dem damals aktuellen Bestand an Studierenden in der Regelstudienzeit und einem vom Wissenschaftsrat empfohlenen Flächenrichtwert in Höhe von 12 qm HNF pro Studienplatz. Diese Empfehlung des Wissenschaftsrats stand im Widerspruch zu der für die Kunsthochschule Weißensee empfohlenen Ausstattung mit 20 qm HNF pro Studienplatz. Meine Recherchen beim Wissenschaftsrat erbrachten jedoch kein Ergebnis – es fühlte sich niemand mehr dafür zuständig, wohl wissend, dass der für Kiel empfohlene Richtwert nicht dem von der Bundesregierung anerkannten Empfehlung durch das Hochschulinformationssystem (HIS auf der Basis einer intensiven Untersuchung aller Kunsthochschulen der Bundesrepublik inkl. der neuen Bundesländer) in Höhe von 20 qm pro Studienplatz für alle künstlerischen Fächer entsprach. Noch im April schlug ich dem Senat der Hochschule mit einer Skizze ein städtebauliches Konzept mit einer Verteilung der Nutzungen vor (siehe Abbildung) auf der Grundlage einer korrigierten Bedarfsrechnung. Ich verlangte eine Bedarfsanerkennung für die geplanten Studienplätze und einen korrigierten Richtwert in Höhe von mindestens 15 qm und schätzte die bauliche Investition auf 10,0 Mio. Euro. Ein paar Tage später konnte ich in einer mehrstündigen Sitzung bei der Wissenschaftsverwaltung unter Anwesenheit eines Vertreters der Finanzverwaltung die Anwesenden von der Plausibilität meiner Berechnungen überzeugen. Das Argument der Finanzverwaltung, dass man für die von mir geschätzten zehn Mio. Euro mehr Fläche bekäme, schlug durch. Planungsmittel standen zur Verfügung. Das Büro Schmieder & Dau wurde beauftragt, das Konzept baulich und kostenmäßig zu überprüfen. In einer intensiven Zusammenarbeit mit dem Büro, die bis zum Einzug in den fertiggestellten Campus wunderbar funktionierte,
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wurde die Skizze vorentwurfsmäßig überprüft und das Ergebnis in ein städtebauliches Modell übertragen. Die Kostenüberprüfung ergab, dass für 10,5 Mio. Euro das Konzept zu realisieren sei. Dies wurde dem Gestaltungsbeirat der Stadt Kiel noch im Mai vorgestellt und einstimmig akzeptiert, die Presse wurde informiert, die Gesellschaft für Gebäudemanagement des Landes Schleswig-Holstein (GMSH) als Projektsteuerer eingesetzt und die entsprechenden Haushaltsmittel eingestellt. Ein Jahr später fand die Grundsteinlegung statt. Rückwärtig betrachtet erscheint diese Terminabfolge abenteuerlich, sie war aber Ergebnis einer intensiven Terminartistik und intensiv vorbereiteter Aktionen. Zu Anfang des Wintersemesters 2013 war die Hochschule in den fertiggestellten Campus umgezogen. Kosten in Höhe von 11,5 Mio. Euro wurden abgerechnet (hinzugekommen waren 1,0 Mio. durch vorher nicht bekannte Kosten für den Abraum eines unterirdisch noch vorhandenen Bunkers, für die Reparatur der technischen Erschließung in der Straße vor dem Gebäude und ein ebenfalls vorher nicht bekanntes Problem mit dem alten Putz des Altbaus). Sicher, die Ausstattung war sehr sparsam; diese konnte dem Konzept nach aber nachgebessert oder auch ergänzt werden, was teilweise auch schon geschehen ist. Wie war dies möglich? Schlüssel zu der niedrigen Kostenschätzung waren erstens eine Nutzungsverteilung, die nahezu keine Umbauten im Altbau erforderte, zweitens auf jeweils eine Funktion zugeschnittene Neubauten bzw. ergänzende Bauteile ohne Flächenverluste und drittens geringstmögliche Nebenflächen (ein Neubau nur für Werkstätten in Lofts, ein Verwaltungsgebäude mit den Vorschriften entsprechenden Raumgrößen, die Fluchttreppen fast alle außerhalb, im Altbau hauptsächlich Ateliers für Studierende, die Abstellräume für die studentischen Ateliers als Container an die Fluchttreppen angehängt, architektonisch ›Parasiten‹ genannt). Mit diesem Konzept konnte auch eine dynamische Entwicklung der Hochschule ermöglicht werden: Zusätzliche Atelierplätze durch wachsende Studierendenzahlen konnten damit schon in der Zwischenzeit bis zum Umzug durch preiswerte Anmietungen in leerstehenden Gebäuden realisiert werden (dabei konnten so zwei Gebäude vor dem Abriss gerettet werden, sie wurden später einer neuen Nutzung zugeführt). Da die Grundausstattung der Hochschule mit Arbeitsräumen für Lehrende, die Verwaltung und die Werkstätten im Prinzip weitgehend durch den alten Campus gesichert waren, war dies relativ einfach zu realisieren. Durch zusätzliche Anmietungen liegt der Bestand der Hochschule heute nahezu bei 11.000 qm HNF bei ungefähr 550 Studienplätzen. Die geplante Koordination von Haushaltsplan, Organisationsplan und Raumplan ist durch den 2010 von den Gremien der Muthesius Kunsthochschule verabschiedeten Strukturentwicklungsplan 2010–2014 gut nachvollziehbar.
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Abb. 34: Rainer W. Ernst, Overheadfolie zur Präsentation der städtebaulichen Einordnung und der Nutzungsverteilung des neuen Konzeptes für den neuen Campus der Muthesius Kunsthochschule Kiel (MKH), Kiel, April 2008; eigenes Archiv.
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Abb. 35a + b: Büro Schmieder & Dau, das fertiggestellte Projekt von Süden (a) und Norden (b), Architekten Schmieder & Dau, Kiel, 2013.
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Beispiel 7 Realisierungsmöglichkeit für neue Nutzungsmodelle und nicht vorhandene kreative Start-ups: Zwischennutzung des leerstehenden Schwimmbades Lessingbad in Kiel (2010–2013) Das leerstehende Lessingbad konnte für verschiedenste künstlerische Aktivitäten durch die Kunsthochschule, andere Institutionen und selbstorganisierte Aktivitäten genutzt werden und führte zu einem neuen kommunalen Umnutzungskonzept und einer Reihe von Gründungen, die sich nach Beendigung der Zwischennutzung an anderer Stelle etablieren konnten (2010–2013). Die Vielfalt explodierte geradezu und zeigte damit auf, dass ein künstlerisch-kreatives Potential in Kiel schlummerte, für das es offensichtlich erforderlich war, preiswerte und zugängliche Räumlichkeiten mit Beziehungen zur Kunsthochschule für experimentelle, temporäre sowie Start-up-Aktivitäten zur Verfügung zu stellen; siehe dazu auch die unten aufgeführte Dokumentation. Zur organisatorischen Erfahrung sei hier der Originalerfahrungsbericht von Simon Kühl aus der Dokumentation angeführt (siehe Sondertext 10: ›Simon Kühl: Erfahrungsbericht Zwischennutzung Lessingbad‹). Nach fast dreijähriger Zwischennutzung des leerstehenden Schwimmbades wurde das Gebäude, angeregt durch die Raumnutzung während der Zwischennutzung, in eine Turnhalle mit Kita und Café umgebaut und seit 2016 so genutzt. Die Akteure der Zwischennutzung haben sich zusammengetan und, um einige Akteure erweitert, zunächst als Zwischennutzer in dem alten Campus lokalisiert. Inzwischen hat die auf 52 Projekte mit 120 Aktiven angewachsene Initiative einen Verein (›Impuls-Werk‹) gegründet und mit Hilfe der Triasstiftung 2016 einen längerfristigen Mietvertrag mit der Stadt abgeschlossen. Dieses Beispiel zeigt, dass raumgünstige Gelegenheiten und eine synergieproduzierende Zusammensetzung der Beteiligten eine Schlüsselvoraussetzung für derartige selbstorganisierte Arbeit sind. Von den 120 Akteuren erwirtschaften 47 in dem alten Campus ihren Lebensunterhalt. Praktisch alle Akteure hätten eine derartige kreative Existenz in Kiel sonst nicht auf bauen können. Dem Organisationsteam gehörten an: Simon Kühl, Friederike Rückert, Theresa Weinelt sowie der ›künstlerische Hausmeister‹ Robin Romanski (er hatte sein Studentenbude und sein Atelier in das Schwimmbad verlegen können und zusammen mit Simon Kühl eine Werkstatt zur Unterstützung der verschiedenen Aktivitäten eingerichtet). Rainer W. Ernst/Simon Kühl/Friederike Rückert/Muthesius Kunsthochschule (Hrsg.), »Möglichkeitsraum Lessingbad: Die künstlerische Zwischennutzung der Schwimmhalle am Lessingbad in Kiel (2010–2013)«, Kiel, 2015.
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Abb. 36: Peter Cornelius, Eingangsfront des unter Denkmalschutz stehenden Gebäudes Lessingbad Kiel, gebaut Anfang der dreißiger Jahre, veröffentlicht in Rainer W. Ernst/Simon Kühl/Friederike Rückert/Muthesius Kunsthochschule (Hrsg.), »Möglichkeitsraum Lessingbad: Die künstlerische Zwischennutzung der Schwimmhalle am Lessingbad in Kiel (2010– 2013)«, Kiel, 2015.
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Abb. 37: Organisationsteam Lessingbad, das Foto zeigt die für die erste große öffentliche Veranstaltung, die Fishbowl-Diskussion ›Badgeflüster‹, veranstaltet von der Heinrich-BöllStiftung im Dezember 2010, hergerichtete Schwimmhalle; besonders auffallend sind die roten Absicherungsplatten, die den demontierten Umzugskabinen entstammen, siehe auch aufgeführte Dokumentation.
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Sondertext 10
Simon Kühl: Erfahrungsbericht Zwischennutzung Lessingbad* Die Veranstaltung »Badgeflüster« der Heinrich Böll Stiftung am 1. Dezember 2010 stellte für das Organisationsteam des Projektes »Articulum im Lessingbad« so etwas wie die offizielle Auftaktveranstaltung in den Räumlichkeiten der ehemaligen Schwimmhalle dar. Eingeladen waren Vertreter der kulturellen Institutionen und Initiativen der Stadt Kiel, um sich in der Herrenumkleide mit ihren Aktivitäten zu präsentieren, das große Becken wurde zu diesem Anlass für eine Fish-Bowl-Diskussion mit bis zu 200 Teilnehmern hergerichtet. Die Öffentlichkeit war aufgefordert, ihre Belange im Bereich des kulturellen Lebens der Stadt mit Verantwortlichen der Verwaltung aufzuzeigen und eine lebhafte Diskussion zum Thema »Kiel hat Kultur« zu führen. Der Abend sollte für uns ein erfolgreiches Beispiel für die weitere Umsetzung von »Großveranstaltungen« im Rahmen der Zwischennutzung »Articulum im Lessingbad« werden. Mit über 180 Gästen und einer großen Anzahl von Ausstellern präsentierte sich das seit mehreren Jahren leerstehende Gebäude nun mit einer neuen Nutzung und einigen leichten baulichen Veränderungen. Neben der kompletten Räumung des Umkleidetraktes auf der Südseite und einem Cafébetrieb im Empfangsfoyer am Hauptgiebel konnten durch den Einbau zahlreicher Podeste, die die gesamte Schräge des Beckenbodens in lockerer Reihung besetzten, Sitzgelegenheiten angeboten werden. Entlang der Beckenkante befand sich eine den Hallenraum in seiner pastellfarbenen Grundstimmung angenehm kontrastierende, orangefarbene Absturzsicherung, die aus dem recycelten Material der Umkleidetüren im Südflügel gefertigt war. Diesem Event vorausgegangen waren natürlich etliche kleinere Veranstaltungen, kunstpädagogische Workshops und Aktionen, doch bis zu diesem Zeitpunkt war die breite Öffentlichkeit nicht im Hause gewesen, umso größer waren also die Erwartungen hinsichtlich der Wahrnehmung unserer Gäste. Die durch diese Veranstaltung und weitere gezielte Aufrufe an die Bevölkerung geschaffene Aufmerksamkeit, wie zum Beispiel »Schaffen Sie Platz«, eine Sammelaktion gebrauchsfähiger Stühle von Kieler Bürgern, führte in kurzer Zeit zu einer großen Nachfrage von kreativen Nutzern. Das Lessingbad wurde in den folgenden Monaten sukzessive mit einer ganzen Bandbreite von Events, Aktionen und Veranstaltungen gefüllt. Ein wichtiges Ziel war es, weitere Akteure aus der Kreativwirtschaft für den Zeitraum der Zwischennutzung mit ins Boot zu holen. Die geringe Betriebskostenbeteiligung statt der ortsüblichen Miete und die Aussicht auf einen Arbeitsraum in diesem lebendigen Umfeld der Stadt führten dann mittelfristig zu einer kompletten Belegung der zur Verfügung stehenden Räume im Gebäude. Das Organisationsteam begleitete und koordinierte diese Entwicklung mit großer Unterstützung hinsichtlich baulicher, rechtlicher und sicherheitsrelevanter Belange, um die im Vorfeld festgelegten Rahmenbedingungen hinsichtlich des Denk-
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malschutzes, der Versammlungsstättenverordnung und der Gewerbeordnung nicht aus den Augen zu verlieren. Die Zusammenarbeit der Immobilienwirtschaft und des Bauordnungsamtes der Stadt Kiel mit der Projektgruppe Lessingbad kann als sehr kooperativ bezeichnet werden und war für die erfolgreiche Realisierung des gesamten Projektes »Articulum im Lessingbad« unabdingbar. Sowohl bei der Unterstützung bei Antragsformalitäten zur Nutzungsänderung des Gebäudes als auch bei der Wartung der gesamten technischen Anlagen, insbesondere der veralteten Heizungsanlage, zeichnete sich die Kooperation mit der Verwaltung durch eine unbürokratische und zielorientierte Umsetzung aus. Die in der Zwischennutzung »Articulum im Lessingbad« gesammelten Erfahrungen hinsichtlich Resonanz, Partizipation und Unterstützung durch die zahlreichen Besucher und Nutzergruppen sind weitestgehend positiv. Die Bedeutung dieses Frei-Raumes für die vielen Akteure im kulturellen Bereich und die dadurch entstandene Realisierung vieler Projektideen im urbanen Umfeld konnte durch diese Zwischennutzung zusätzlich unterstrichen werden. Langfristig ist die Etablierung einer städtischen Raumbörse für Zwischen- und Interimsnutzungen leerstehender Immobilien, auf sozialer und kultureller Basis, nicht nur wünschenswert, sondern sollte als Förderung und niederschwelliger Einstieg für junge Kreative in die Kulturszene dieser Stadt verstanden und etabliert werden.
* Originalbericht aus Rainer W. Ernst/Simon Kühl/Friederike Rückert/Muthesius Kunsthochschule (Hrsg.), »Möglichkeitsraum Lessingbad: Die künstlerische Zwischennutzung der Schwimmhalle am Lessingplatz in Kiel (2010–2013)«, Kiel, 2015.
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Beispiel 8 Möglichkeit für Aufmerksamkeit und einen neuen Aufenthaltsort durch eine ›parasitäre‹ Ergänzung eines historischen Gebäudes: durchgefallener Wettbewerbsbeitrag für die Erneuerung des Eingangs der Kunsthalle zu Kiel (2011) Die Kunsthalle zu Kiel benötigte einen Umbau ihres Eingangs. Einige Büros wurden eingeladen Vorschläge zu machen. Der vom Büro Schmieder & Dau in Zusammenarbeit mit Prof. Ernst präsentierte Vorschlag mit einer hohen, kunsthallengerechten Aufmerksamkeits- und Aufenthaltsqualität für das im Container lokalisierte Café stieß erstaunlicherweise auf vollkommenes Unverständnis (2011). Mit dem parasitär am Bestand angedockten zeitgenössischen Architekturelement sollte die Lage der Kunsthalle im Stadtraum und gleichzeitig von innen die Lage an der Kieler Förde erlebbar werden. Durch die ›Vernähung‹ mit dem Bestand konnte äußere und innere Eingangssituation deutlich verbessert werden. Zum Verständnis ist der Erläuterungstext der Abbildung 38 beigefügt, der in Form einer Postkarte an den ehemaligen Leiter der Kunsthalle Dirk Lukow verfasst wurde, auf dessen Initiative die Architekten eingeladen worden waren.
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Abb. 38: Rainer W. Ernst, Vorder- und Rückseite einer Postkarte an den ehemaligen Leiter der Kunsthalle, Dirk Lukow: Skizze für den neuen Eingang für die Kunsthalle zu Kiel, Entwurf des Beitrags zum diesbezüglichen Wettbewerb, Büro Schmieder & Dau mit Rainer W. Ernst, Kiel, 2011; eigenes Archiv.
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Abb. 39: Ingrid L. Ernst, R. W. Ernst nachdenklich in seinem Bibliotheksatelier, Berlin, 2016.
Auch aus der Reflexion über ›Raum‹ drängen sich einige Notwendigkeiten auf, wie sie in der Öffentlichkeit schon als Forderung nach einer Veränderung des globalen politisch-ökonomischen Systems diskutiert werden. Als da sind zum Beispiel: Politisches Handeln auf globaler Ebene ist zu etablieren, alle globalisierten Wertschöpfungsketten sind zu erfassen und transparent zu veröffentlichen, die Steuervermeidungstricks der globalen Akteure sind zu verhindern und es ist erforderlich, das quasi uneingeschränkte und weltweit verbreitete Primat des Privateigentums an Grund und Boden zu Gunsten einer gesellschaftlichen Bewirtschaftung der räumlichen Ressourcen zu relativieren. Unabhängig von diesen grundlegenden Veränderungen, die nicht im Mittelpunkt dieses Buches stehen, sind aber folgende Gedanken vielleicht eine nützliche Anregung für den weiteren Diskurs um ›Raum‹: 1. Erfassen und Kommunizieren von Raum ist als grundlegende Kulturtechnik als Gegenstand der Bildung auf allen Ebenen zu vermitteln. Gerade weil die Dynamik einer fortschreitenden Virtualisierung unserer Wahrnehmung und Kommunikation den Eindruck vermittelt, dass die Relativierung von Raum und Zeit überflüssig wird, andererseits aber die Realisierung einer Verbesserung der unmittelbaren Lebensbedingungen nach wie vor nur als verortete und verzeitlichte Maßnahmen erleb- und realisierbar sind, ist die Fähigkeit, Raum zu verstehen und Raum zu kommunizieren, eine wichtige kulturtechnische Voraussetzung demokratisierten Handelns. Dabei können Kommunikationsformate wie szenische Darstellung in Form eines Puppenspiels sich als äußerst hilfreich herausstellen. In einem experimentellen Workshop, den ich zusammen mit Simon Kühl am SFB 1182 (Sonderforschungsbereich 1182 »Origin and Function of Metaorganisms«) an der CAU (Christian-Albrechts-Universiät zu Kiel) im Herbst 2017 zum Thema ›Raum und Kommunikation auf Mikroebene‹ mit Forschern des genannten Sonderforschungsbereiches durchgeführt habe, stellten wir fest, dass sich durch die Darstellung mit einfachen Mitteln in einer Art ›Bakterientheater‹ eine Reihe von Fragen an die Forscher ergaben, die sich in der ablaufenden Forschung noch nicht in dieser Klarheit gestellt hatten. Die Präsentation erfolgte in einfachen Videoclips und erregte anregende Aufmerksamkeit im SFB 1182. Man wird sehen, wie es weitergeht. 2. Der Grundgedanke, dass ›Eigentum verpflichtet‹, ist zu konkretisieren und in Vorschläge zu übersetzen, durch die die nahezu vollständige Uneingeschränktheit des Privateigentums an Grund und Boden – als grundlegende Errungenschaft einer freiheitlichen Grundordnung – relativiert werden kann. Dazu wird es wahrscheinlich erforderlich sein, das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in diesem Sinn zu aktualisieren und eine entsprechende Initiative für Europa in Gang zu bringen. Ein politisch-juristisch nicht einfaches Unterfangen, das viel Sachverstand, politischen Willen und Zeit benötigt.
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Räumliche Ressourcen
3. Es sind Versuche zu starten, auf kommunaler Ebene oder auch für größere Institutionen den Gedanken, räumliche Ressourcen regelmäßig zu bilanzieren, in die Tat umzusetzen. 4. Ein erweiterter Architekturbegriff muss Eingang in die Ausbildung und die entsprechenden Honorarordnungen finden. 5. Verfahren müssen entwickelt und realisiert werden, um innovative Nutzungsmodelle zu ermöglichen, zu moderieren und zu testen und dabei die Teilhabe der Einwohnerschaft an der Zukunft der Stadtgesellschaft zu verbessern. Über allem scheint sich ein dramatischer kulturhistorischer Paradigmenwechsel anzubahnen. Hat die europäische Kulturepoche ›Renaissance‹ für Europa ein neues Welt- und Menschenverständnis als Grundlage der Aufklärung hervorgebracht, das bis heute den Menschen als autonomes und handelndes Subjekt im Kosmos Erde sieht (mit der Konsequenz einer Radikalisierung der Individualität in nahezu allen dominanten Kulturen der Welt und in allen gesellschaftlichen Bereichen), so zeigen zeitgenössische biologische, sozialwissenschaftliche und ökologische Studien, dass der einzelne Mensch als Teil eines umfassenderen ›Metakörpers‹ zu verstehen ist. Der Metakörper besteht auch aus einer Vielzahl von Elementen, die nach dem bisherigen Verständnis nicht als Lebewesen bezeichnet werden, es sind z. B. Bakterien, Pflanzen, Strahlen, einzelne Zellen, einzelne Elemente, Neutronen, und vieles andere mehr, die alle ›Akteure‹ in diesen Kommunikationsprozessen und beileibe nicht allein dem menschlichen Willen unterworfen sind. Daher ist die Sicherung und Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen nicht nur von seinen organisatorischen Fähigkeiten abhängig, die angesichts der von Menschen ausgehenden zerstörerischen Gewalt sowieso in Zweifel zu ziehen sind, sondern der Erfolg des Handelns einzelner Menschen ist von Kommunikationsprozessen innerhalb des eigenen Körpers und über jedes einzelne Subjekt hinaus bestimmt. Diese Prozesse kann der einzelne Mensch für sich selber höchstens beeinflussen, aber nicht steuern – jedenfalls zur Zeit. Vielleicht wird er dazu sogar nie in der Lage sein; dies wird sich in der Zukunft zeigen. Es muss aber dringend am Verständnis der gesellschaftlich-ökologischen Dimension dieser Kommunikationsprozesse gearbeitet werden.
Nun?!
Es ist nie zu Ende Am Ende des Buchs angekommen, muss ich dringend darauf hinweisen, dass wer jetzt glaubt, dass das Nachdenken über Raum abgeschlossen sei, sofort von dem gedankenfressenden, dem entfesselnden Markt entsprungenen Reptil einverleibt wird!
Abb. 40: Rainer W. Ernst, ›Das gedankenfressende Krokodil‹, Berlin 2017.
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Architektur und Design Gerrit Confurius
Architektur und Geistesgeschichte Der intellektuelle Ort der europäischen Baukunst Oktober 2017, 420 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3849-3 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3849-7
Eduard Heinrich Führ
Identitätspolitik »Architect Professor Cesar Pinnau« als Entwurf und Entwerfer 2016, 212 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3696-3 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3696-7
Judith Dörrenbächer, Kerstin Plüm (Hg.)
Beseelte Dinge Design aus Perspektive des Animismus 2016, 168 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3558-4 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3558-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Architektur und Design Claudia Banz (Hg.)
Social Design Gestalten für die Transformation der Gesellschaft 2016, 200 S., kart., zahlr. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3068-8 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3068-2
Thomas H. Schmitz, Roger Häußling, Claudia Mareis, Hannah Groninger (Hg.)
Manifestationen im Entwurf Design – Architektur – Ingenieurwesen 2016, 388 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3160-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3160-3
Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)
POP Kultur & Kritik (Jg. 6, 2/2017) Oktober 2017, 176 S., kart., zahlr. Abb. 16,80 € (DE), 978-3-8376-3807-3 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3807-7
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