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German Pages 258 [260] Year 2020
Perspektiven der Ethik herausgegeben von
Reiner Anselm, Thomas Gutmann und Corinna Mieth
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Elias Moser
Unveräußerliche Rechte
Mohr Siebeck
Elias Moser, geboren 1986; Studium der Philosophie/Ökonomie und Master in Political and Economic Philosophy; 2017 Doktorat in Philosophie in Bern; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Strafrecht, Universität Bern; Fellow am Institut für Rechtsphilosophie, Universität Wien, Projektmitarbeiter am Institut für Technikfolgenabschätzung, OEAW und an der Forschungsplattform „Nano-Norms-Nature“, Universität Wien; seit 2019 wissenschaft licher Mitarbeiter am Arbeitskreis Praktische Philosophie, Universität Graz. orcid.org/ 0000-0002-5293-6201
ISBN 978-3-16-157727-7 / eISBN 978-3-16-157728-4 DOI 10.1628/978-3-16-157728-4 ISSN 2198-3933 / eISSN 2568-7344 (Perspektiven der Ethik) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Mohr Siebeck Tübingen, Germany. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Über setzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Druckerei Laupp & Göbel in Gomaringen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden. Printed in Germany.
Für Eva
Vorwort Dieses Buch ist eine inhaltlich überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift, die hauptsächlich im Zeitraum zwischen 2015 und 2017 in Bern entstanden ist und an der Philosophisch-historischen Fakultät Bern verteidigt wurde. Mein Forschungsprojekt hat sich von der erstmaligen Skizzierung bis hin zum vorliegenden Resultat stark verändert. Zahlreiche Texte, Gespräche, Vorträge haben mir dabei geholfen, meine ursprünglichen Thesen zu prüfen, zu revidieren und meine Gedanken zu schärfen. Mein Dank gilt all jenen, die mich auf diesem Weg bis hierhin begleitet haben. Zunächst will ich meinen Eltern Elisabeth und Martin Moser für die bedingungslose Unterstützung während meines Studiums danken. Ohne diese wäre es mir nicht möglich gewesen, so viel Zeit und Aufwand in die Philosophie zu investieren. Speziell meiner Mutter will ich für ihr großes Vertrauen danken und dafür, dass sie sich immer hinter mich gestellt hat. Meinem Vater danke ich für spannende Diskussionen. Er ist, ohne es zu wissen, auch ein Philosoph. Durch das Angebot einer Assistenzstelle am Institut für Strafrecht und Kriminologie in Bern gab mir Martino Mona die Möglichkeit, ein Doktorat zu absolvieren. Nachwuchsförderung besteht seiner Ansicht nach darin, seinen Assistierenden größtmögliche Freiheiten für die eigene Forschung zu gewähren und sie als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stets ernst zu nehmen. Das dadurch geschaffene Arbeitsumfeld ist für junge Forschende von unschätzbarem Wert. Als Betreuer, Ratgeber und Freund danke ich Martino hiermit in aller Form. Mein Hauptbetreuer Markus Stepanians vom Institut für Philosophie der Universität Bern hatte in Bezug auf den methodischen Ansatz und die philosophische Stoßrichtung der Arbeit den stärksten Einfluss. Ich gehe davon aus, dass sich der Großteil der Ansichten, die hier vertreten werden, nicht mit seinen decken. Allerdings verbindet uns das grundsätzliche Verständnis der Rechtsphilosophie als analytische Wissenschaft. Ich danke ihm, für die philosophisch immer sehr herausfordernden aber herzlichen Gespräche, die mich auf unvergleichbare Weise weitergebracht haben. Der größte Dank gilt meiner Frau Eva Bobst, welcher ich das Buch gewidmet habe. Sie hat alle Teile in einer Rohfassung gegengelesen und ihre Kritik hätte schärfer nicht ausfallen können. Nicht allen von ihr formulierten Kritikpunkten konnte ich mit der Überarbeitung angemessen Rechnung tragen und
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Vorwort
es gelang mir nie, ihre letzten Zweifel vollständig auszuräumen. Das vorliegende Buch misst sich jedoch an den Herausforderungen, die sie mir gestellt hat. Meine ehemaligen Arbeitskolleginnen und Kollegen am Institut für Strafrecht Nora Scheidegger, Nicolas Leu, Fabian Odermatt und Gian Andri Färber übten einen viel subtileren Einfluss auf meine Arbeit aus. Es ist jedoch nicht von der Hand zu weisen, dass sie mich sehr stark in meinem Denken geprägt haben. Dies wurde mir erst mit einem gewissen zeitlichen und räumlichen Abstand bewusst. Ich danke allen für den wissenschaftlichen und persönlichen Austausch und die unvergesslichen Zeiten. Zu Dank verpflichtet bin ich nicht zuletzt der Joséphine-de-Karman Stiftung Bern, welche mich mit einem Übergangsstipendium ausgestattet hat, um meine Dissertation im Frühling 2017 fertigzustellen. Für die sehr großzügige Mitfinanzierung der Druckkosten bin ich den Publikationsservices der Karl-Franzens Universität Graz äußerst dankbar. Ich will mich zudem bei den Herausgebenden der Reihe, insbesondere bei Thomas Gutmann für die wohlwollende Prüfung meines Manuskripts danken. Seitens des Verlags wurde ich von Rolf Geiger sehr gut betreut, der ebenso maßgeblich zu einer Verbesserung der Qualität der Schrift beigetragen hat. Wien, den 31. Oktober 2019
Elias Moser
Inhaltsverzeichnis Vorwort ......................................................................................................VII
Kapitel I: Einleitung ................................................................................ 1 1. Herangehensweise ..................................................................................... 3 2. Aufbau ....................................................................................................... 9 2.1 Fragestellungen ................................................................................... 9 2.2 Thesen ............................................................................................... 11 2.3 Übersicht ........................................................................................... 13
Kapitel II: Der Begriff eines subjektiven Rechts ........................... 15 1. Rechtsträgerin, Rechtsadressatin, Rechtsgut ........................................... 17 2. Begriffsbestimmung ................................................................................. 22 3. Diskussion ............................................................................................... 30 3.1 Reine Anspruchsrechte ...................................................................... 31 3.2 Reine Privilegien ............................................................................... 32 3.3 Spezifische Privilegien ...................................................................... 36 3.4 Weitere rechtliche Positionen ............................................................ 37 4. Zusammenfassung.................................................................................... 40
Kapitel III: Der Begriff eines unveräußerlichen Rechts ............... 41 1. Begriffsbestimmung ................................................................................. 41 1.1 Mögliche Formen unveräußerlicher Rechte ....................................... 44 1.2 Unveräußerliche Rechte und Immunitäten ......................................... 47
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Inhalt
2. Der Begriff der Veräußerung ................................................................... 49 2.1 Bedeutung und Formulierungen ........................................................ 50 2.2 Joel Feinberg: Temporär beschränkte Veräußerung ........................... 52 3. Unveräußerlichkeit als rechtliche Unmöglichkeit .................................... 54 3.1 Faktische Unmöglichkeit ................................................................... 55 3.2 Jean-Jacques Rousseau: Freiwillige Versklavung .............................. 59 3.3 Pflichten gegen sich selbst ................................................................. 63 3.4 Verbindliche Rechte .......................................................................... 66 4. Zusammenfassung und Ausblick .............................................................. 67
Kapitel IV: Natürliche und positive unveräußerliche Rechte ..... 69 1. Abgrenzung unveräußerlicher Rechte ...................................................... 70 2. Unveräußerliche Rechte in kontraktualistischen Theorien ....................... 72 2.1 Unveräußerliche Rechte als Axiome .................................................. 72 2.2 Unabhängigkeit von kontraktualistischer Theorie .............................. 75 2.3 Kritik an der Voraussetzung natürlicher Rechte................................. 76 3. Beziehung zu Menschenrechten ............................................................... 78 3.1 Unveräußerliche Rechte und absolute Rechte .................................... 80 3.2 Universelle Rechte und unveräußerliche Rechte ................................ 82 4. Moralische Signifikanz unveräußerlicher Rechte ..................................... 84 5. Unveräußerliche Rechte im positiven Recht ............................................. 87 5.1 Mögliche unveräußerliche Rechte im Privatrecht .............................. 88 5.2 Mögliche unveräußerliche Rechte im Strafrecht ................................ 92 5.3 Mögliche unveräußerliche Rechte im öffentlichen Recht................... 98
Kapitel V: Theorien subjektiver Rechte ......................................... 103 1. Willenstheorie und die Interessetheorie ................................................. 104 1.1 Die Willenstheorie........................................................................... 104 1.2 Die Willenstheorie und unveräußerliche Rechte .............................. 106 1.3 Die Interessetheorie ......................................................................... 112
Inhalt
XI
1.4 Die Differenz zwischen den Theorien .............................................. 115 2. Die Idee einer Theorie subjektiver Rechte ............................................. 118 2.1 Das Ziel einer Theorie subjektiver Rechte ....................................... 119 2.2 Das zugrundeliegende Missverständnis im Diskurs ......................... 122 3. Kritik an der Kontrollthese .................................................................... 125 3.1 Ansprüche mit eingeschränkter Verfügung ...................................... 125 3.2 Durch das Strafrecht geschützte Ansprüche ..................................... 125 3.3 Durch das Zivilrecht geschützte Ansprüche ..................................... 127 3.4 Zusammenfassung der Kritik an der Willenstheorie ........................ 130
Kapitel VI: Die Theorie autonomer Entscheidungen .................. 133 1. Begriffsbestimmungen ........................................................................... 134 1.1 Der Begriff des Interesses ............................................................... 134 1.2 Der Begriff der Autonomie .............................................................. 136 2. Rechte zum Schutz autonomer Entscheidungen ...................................... 138 2.1 Vereinbarkeit mit unveräußerlichen Rechten ................................... 140 2.2 Vergleich zu Hybrid-Theorien ......................................................... 141 2.3 Kritik an der Kombinationstheorie .................................................. 143 3. Diskussion ............................................................................................. 144
Kapitel VII: Die Rechtfertigung unveräußerlicher Rechte ........ 147 1. Zum moralischen Problem ..................................................................... 148 2. Rechtsethischer Ansatz .......................................................................... 152 3. Zusammenfassung.................................................................................. 158
Kapitel VIII: Objektive Werte .......................................................... 159 1. Substantielle Begründungsformen ......................................................... 159 1.1 Rechtsmoralismus ........................................................................... 160
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Inhalt
1.2 Rechtspaternalismus ........................................................................ 162 2. Das Argument der Würde ...................................................................... 164 3. Das Argument der moralischen Grenzen des Marktes ........................... 169 4. Liberaler Ansatz .................................................................................... 175
Kapitel IX: Liberale Bevormundung .............................................. 179 1. Sanfter Paternalismus............................................................................ 180 1.1 Urteilsunfähigkeit in der Sterbehilfedebatte..................................... 182 1.2 Einwand: Zirkelschluss ................................................................... 184 2. Paternalismus zur Freiheitsvergrößerung ............................................. 186 2.1 Wert der Freiheit ............................................................................. 187 2.2 Diskussion ....................................................................................... 192
Kapitel X: Zwang und Schädigung Dritter .................................... 195 1. Zwang, Nötigung, Ausbeutung ............................................................... 195 1.1 Der Begriff des Zwangs................................................................... 198 1.2 Formen von Zwang ......................................................................... 200 1.3 Zwischenfazit .................................................................................. 206 1.4 Ökonomischer Zwang beim Organhandel ........................................ 207 1.5 Einwand: Konsistenz und Analogieargumente................................. 209 2. Liberaler Utilitarismus .......................................................................... 212 2.1 Das Argument der kollektiven Handlungen im Arbeitsmarkt........... 212 2.2 Einwand: Weshalb unveräußerliche Rechte? ................................... 214 3. Schädigung Dritter ................................................................................ 216 3.1 Das Verbot der Tötung auf Verlangen ............................................. 216 3.2 Einwand: Bezug auf objektive Werte .............................................. 218 3.3 Einwand: Weshalb unveräußerliche Rechte? ................................... 221
Inhalt
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Kapitel XI: Konklusion ...................................................................... 225 1. Beziehung zu Grundrechten ................................................................... 225 2. Vereinbarkeit mit einer Willenstheorie .................................................. 226 3. Kritik an der Begründung durch objektive Werte ................................... 227 4. Liberale Argumente zur Begründung ..................................................... 228
Literaturverzeichnis............................................................................. 231 Index ....................................................................................................... 241
Kapitel I
Einleitung Die Aussage, die philosophische Begründung liberal-demokratischer Rechtsstaaten basiere auf der Annahme unveräußerlicher Rechte, besitzt etwas Wahres. Wenn wir uns den Staat als eine durch einen „Gesellschaftsvertrag“ legitimierte Gewalt vorstellen, dann sind unveräußerliche Rechte die inhaltlichen Grenzen dieses Vertrages und somit die Grenzen staatlicher Gewalt. Der Begriff ‚unveräußerliches Recht‘ wurde deshalb fast ausschließlich im Kontext von Theorien verwendet, welche die Frage nach der Rechtfertigung eines politischen Systems stellen. Unveräußerliche Rechte werden in Unabhängigkeitserklärungen und Verfassungstexten aber auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als jene zentralen Rechte anerkannt, welche allen Personen zukommen und die eine Person unmöglich verlieren kann. Die vorliegende Arbeit ist aber keine Abhandlung, die sich ausschließlich mit der Idee der Menschenrechte oder der Grundrechte auseinandersetzt. Es wird hier nicht aufgezeigt, welche Rechte allen Menschen oder allen Mitgliedern einer Gesellschaft zukommen sollen und auch nicht, wie diese normative Forderung begründet werden kann. Von Interesse ist nicht primär der Inhalt unveräußerlicher Rechte, sondern ihre Form. Wenn ein Recht unveräußerlich ist, dann sind bestimmte Rechtshandlungen unmöglich. Das unveräußerliche Recht kann nicht freiwillig aufgegeben werden. Es kann nicht an eine andere Person oder Institution übertragen oder verkauft werden. Diese Einschränkungen der Verfügungsmacht der Individuen über ihre eigenen Rechte ist das zentrale moralphilosophische Problem, das in dieser Untersuchung ausgearbeitet wird. Es wird nach den ethischen Gründen für die Einschränkung der Verfügung über Rechte gefragt. Die Unveräußerlichkeit beschneidet möglicherweise die Freiheiten eines Individuums: Eine Person kann ein Recht nicht freiwillig abtreten und bleibt gewissermaßen auf dem Recht sitzen, auch wenn dies nicht gewollt ist. Wenn wir aber über Rechte sprechen, besitzen wir normalerweise nicht ein solches Verständnis. Rechte ermöglichen Handlungen; Rechte gereichen den Rechtstragenden zum Vorteil. Eine Frage, die in diesem Zusammenhang zu beantworten sein wird, ist Folgende: Gibt es überhaupt unveräußerliche Rechte? Ist die Konzeption solcher Rechte begrifflich möglich?
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Kapitel I: Einleitung
Es gibt Theorien, welche davon ausgehen, dass es so etwas wie unveräußerliche Rechte nicht geben kann bzw. dass ein richtig verstandener Begriff eines Rechts, solche vermeintlichen Rechte, die nicht veräußerbar sind, nicht umfassen kann. Das andere Problem, das in Bezug auf die Einschränkung der Verfügungsmacht augenscheinlich wird, ist dasjenige der staatlichen Bevormundung. Bestimmte Rechte sind unveräußerlich, um die Rechtsträgerin gewissermaßen vor sich selbst zu schützen. Der Verzicht auf ein Recht oder der Transfer wird rechtlich „verunmöglicht“, da eine freiwillige Aufgabe des Rechts nicht im Interesse des Individuums zu liegen scheint. Es stellt sich also die grundlegende Frage, inwiefern der Staat durch eine Verunmöglichung bestimmter Rechtshandlungen nicht in die Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger1 eingreift und ob ein Eingriff in irgendeiner Weise gerechtfertigt sein kann. Worum geht es aber konkret, wenn von unveräußerlichen Rechten gesprochen wird? Es gibt eine Vielzahl von Rechten, die eine Person nicht freiwillig abgeben, übertragen oder verkaufen kann. Ein bekanntes Beispiel eines unveräußerlichen Rechts liefert das Stimmund Wahlrecht der Bürgerinnen eines demokratisch organisierten politischen Systems. Einer Person ist es zwar freigestellt, dieses Recht nicht wahrzunehmen, es ist ihr jedoch nicht möglich, das Recht an eine andere Person zu transferieren, so dass jene nunmehr zwei, statt nur einer Stimme besitzt. Eine Stimme ist unverkäuflich und es gilt das Prinzip: „One person one vote.“ Zudem treffen wir das Konzept der Unveräußerlichkeit bspw. auch in Bezug auf Rechte auf den eigenen Körper an. So ist es in den meisten Staaten einer Person rechtlich nicht möglich, ihre eigenen Organe auf einem Markt anzubieten. Ein entsprechender Verkaufsvertrag ist ungültig. Die Käuferin macht sich strafbar. Ein Beispiel, auf welches auch in dieser Untersuchung vermehrt zurückgegriffen wird, ist dasjenige des Rechts auf Leben. Dieses Recht kann durch Verbote und Gebote nicht hinreichend beschrieben werden. Es ist in den meisten Rechtssystemen einer Person nicht verboten, auf ihr Recht auf Leben freiwillig zu verzichten. So ist versuchter Suizid in modernen Rechtssystemen nicht strafbar. Allerdings ist eine Person in den Möglichkeiten zur Veräußerung eingeschränkt. Ein Vertrag, der einer anderen Person die Tötung erlauben soll, kann rechtlich nicht bindend sein. Die sog. „Tötung auf Verlangen“ ist somit in den meisten Rechtssystemen strafbar. Demgegenüber stellt sich die Frage, ob Sterbehilfe erlaubt sein soll bzw. ob hierbei eine Person freiwillig auf ihr eigenes Leben verzichten können soll.
1 In der Folge wird aus stilistischen Gründen darauf verzichtet, jeweils die männliche Form explizit zu erwähnen. Bei Beispielen werden jeweils abwechselnd die männliche und die weibliche Form verwendet.
1. Herangehensweise
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Diese und weitere Themen werden in dieser Abhandlung aufgegriffen. Es wird versucht, Gründe zu finden, weshalb die individuelle Freiheit durch ein Recht eingeschränkt sein kann und die Gründe dafür werden kritisch hinterfragt. Bevor die konkreten Fragestellungen dieser Untersuchung ausgearbeitet werden können, sind aber einige Erläuterungen zum methodischen Ansatz notwendig.
1. Herangehensweise Die Voraussetzung dieser Untersuchung ist ein klares Verständnis des Konzepts eines unveräußerlichen Rechts. Die Bestimmung des Begriffes versucht den intensionalen Gehalt zu erfassen. Es wird nach den Bedingungen gefragt, die ein Sachverhalt erfüllen muss, damit er als unveräußerliches Recht bezeichnet werden kann. Diese Analyse findet unabhängig davon statt, welche Rechte tatsächlich unveräußerlich sind und unabhängig davon, welche Rechte gemeinhin als unveräußerlich bezeichnet werden. Es wird auch nicht als Annahme vorausgesetzt, dass nur bestimmte Rechte als Kandidaten für unveräußerliche Rechte infrage kommen. Der methodische Zugang dieser Untersuchung zeichnet sich dadurch aus, dass der Begriff extensional nicht festgelegt ist. Es wird gezeigt, dass unveräußerliche Rechte nicht notwendig Menschenrechte oder Grundrechte sind und dass umgekehrt Grundrechte nicht notwendig unveräußerlich sind. Das Konzept unveräußerlicher Rechte kann für die Untersuchung und Analyse ganz unterschiedlicher rechtlicher Teilbereiche dienlich sein. Im positiven Recht können unveräußerliche Rechte durch Beobachtungen verschiedener Einschränkungen der individuellen Vertrags- und Handlungsfreiheiten festgestellt werden. Es gibt einerseits inhaltliche Schranken der Vertragsfreiheit, wie bspw. die Ungültigkeit sog. „sittenwidriger“ Vertrage. Andererseits gibt es strafrechtliche Schranken einer möglichen Einwilligung. Im Gegensatz dazu legen Naturrechtstheorien für gewöhnlich gewisse Rechte als unveräußerlich fest. So schreibt bspw. Pfizer in seinem Enzyklopädie-Eintrag Urrechte oder unveräußerliche Rechte im Jahre 1843: Unveräußerliche Rechte nennen die Naturrechtslehrer diejenigen dem Menschen angeborenen Rechte, welche durch keinen Vertrag oder Verzicht verloren gehen können.2
Er identifiziert u.a. die Rechte auf Leben, auf Eigentum, die Glaubens- und Gewissensfreiheit und die Vertragsfreiheit als allgemein anerkannte unveräußerliche Rechte. 2 Pfizer, J. (1843): „Urrechte oder unveräußerliche Rechte; vorzüglich in Beziehung auf den Staat“, in: von Rotteck, C./Welcker, K. T.: Staats-lexikon oder Encyclopaedie der Staatswissenschaften, Altona: Hammerich, S. 610.
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Kapitel I: Einleitung
Der Ausdruck ‚unveräußerliches Recht‘ fällt tatsächlich oft nur in Bezug auf sehr grundlegende, moralisch signifikante Rechte der Bürgerinnen eines Staates (oder der Gesamtheit aller Menschen). Eine Einschränkung auf fundamentale Rechte ist m.E. aber aus zwei Gründen nicht zielführend. Erstens lässt eine „axiomatische Setzung“ grundlegender unveräußerlicher Rechte die Frage nicht offen, ob bestimmte Rechte unveräußerlich sein sollen. Es kann durchaus möglich sein, dass bestimmte durch das positive Recht als unveräußerlich gehandhabte Rechte nicht unveräußerlich sein sollten. Zudem ist es möglich, dass bestimmte in naturrechtlichen Theorien vorausgesetzte unveräußerliche Rechte als falsche Annahmen qualifiziert werden können. Zweitens erschließt sich durch die formale Bestimmung des Begriffs eines unveräußerlichen Rechts eine neue Kategorie, welche für die Analyse der normativen Implikationen bestimmter Rechte äußerst hilfreich sein kann. Es wird sich zeigen, dass es Rechte gibt, die nicht grundlegend sind, die aber dennoch gerechtfertigterweise unveräußerlich sind oder sein sollen. Es besteht somit das Bestreben, die Fragen nach der Bedeutung des Begriffs, nach der positiven Existenz der Objekte, die darunterfallen und diejenige der Rechtfertigung möglichst zieloffen zu stellen. Eine solche Vorgehensweise ist nicht „naturrechtlich“. Es werden keine universell gegebenen, natürlichen Rechte aller Menschen vorausgesetzt, die das (objektive) Recht respektieren und wahren soll. Es wird somit kein notwendiger moralischer Gehalt des positiven Rechts vorausgesetzt. Es stellt sich nun aber die Frage, ob die Methode der Untersuchung „rechtpositivistisch“ ist. Um diese zu beantworten, muss zunächst die Idee des Positivismus in den Rechtswissenschaften erläutert werden. Positivistische Ansätze in den Geistesund Sozialwissenschaften (z.B. der sog. „Behaviorismus“ in der Psychologie oder die „neoklassische Ökonomie“) versuchen grundsätzlich ihre Behauptungen nicht aus metaphysischen Annahmen herzuleiten, da diese empirisch weder verifiziert noch falsifiziert und logisch nicht aus empirisch fundierten Überzeugungen hergeleitet werden können. Es handelt sich somit um einen wissenschaftstheoretischen Ansatz, der versucht, sich von (mit „wissenschaftlichen“ Methoden) nicht überprüfbaren Annahmen zu befreien.3 In der Rechtswissenschaft beschränkt sich die positivistische Untersuchung auf rechtliche Gegebenheiten. Das sind einerseits das in einem rechtmäßigen Verfahren durch eine Autorität „gesetzte Recht“, dessen Fortbildung, Abänderung und Anwendung sowie die Schlussfolgerungen, die sich aus dogmatischen Ableitungen ergeben. Andererseits sind es aber auch bspw. die Wirksamkeit von Normen oder deren Akzeptanz in der Gesellschaft. Ausgeklammert wird im Rechtspositivismus allerdings die Frage nach der Gerechtigkeit des Rechts, da ein Bezug zur Gerechtigkeit notwendig gewisse metaphysische 3
Vgl. Kunz, K.-L./Mona, M. (2015): Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtssoziologie, 2. Aufl., Bern: Haupt, S. 36.
1. Herangehensweise
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Annahmen beinhaltet. Die eigentümliche These des Rechtspositivismus ist die sog. „Trennungsthese“. Ihr gemäß sind Rechtsnormen logisch unabhängig von Normen der Gerechtigkeit.4 Zwei Missverständnisse müssen hierbei vermieden werden. Erstens ist der Rechtspositivismus nicht als „Gesetzespositivismus“ zu verstehen. Das Recht ist nicht auf die Summe aller Gesetze reduzierbar.5 Es wird durchaus von rechtspositivistischen Denkerinnen anerkannt, dass das Recht ein soziales Phänomen ist, das z.B. auch als „Gewohnheitsrecht“ Geltung beanspruchen kann. Zudem wird das Recht nicht als etwas Statisches angesehen, das sich nicht durch Anwendung, Auslegung und Rechtsfindung verändern kann. Zweitens postuliert die Trennungsthese keine historische oder politische Unabhängigkeit des Rechts von Ideen der Gerechtigkeit. Positivistische Theorien negieren nicht die Tatsache, dass bei der Rechtssetzung Gerechtigkeitsüberzeugungen eine zentrale Rolle spielen können und dies in modernen Rechtsstaaten i.d.R. auch tun.6 Die Trennungsthese besagt lediglich, dass eine rechtliche Norm nicht notwendigerweise gerecht sein muss und dass ein Gebot der Gerechtigkeit nicht notwendig auch eine Rechtsnorm sein muss. Das Recht ist dadurch begrifflich unabhängig von moralischen Annahmen. Daraus ergibt sich inhaltlich, dass der Gehalt von Rechtsnormen nicht durch Gerechtigkeitsnormen definiert sein muss; oder gemäß dem bekannten Diktum von Kelsen: „Darum kann jeder beliebige Inhalt Recht sein.“7 Die Vorgehensweise dieser Abhandlung ist mit einer positivistischen Theorie aus zwei Gründen vereinbar. Erstens werden die rechtstheoretische Analyse und die ethisch kritische Beurteilung voneinander getrennt durchgeführt. Zweitens kann die für den Rechtspositivismus konstitutive Trennungsthese aufrechterhalten werden. Jene besagt nämlich nur, dass eine rechtliche Norm nicht zwingend einen Zusammenhang mit moralischen Normen besitzt – und ein solcher Zusammenhang wird nicht vorausgesetzt. Da die Untersuchung in Bezug auf die Frage nach der Begründung unveräußerlicher Rechte, wie bereits erläutert, möglichst zieloffen sein will, wird angenommen, dass grundsätzlich jedes Recht unveräußerlich sein kann und dass jedes tatsächlich unveräußerliche Recht nicht zwingenderweise unveräußerlich sein soll. Auf einen zweiten Blick ist die Herangehensweise jedoch nicht rechtspositivistisch. Der Untersuchung liegt die normative Forderung zugrunde, dass eine moralische Begründung rechtlicher Normen innerhalb eines Systems von normativen Überzeugungen konsistent sein muss. Wenn eine rechtliche Norm 4
Ebd. S. 233. Vgl. Hoerster, N. (1989): Verteidigung des Rechtspositivismus, Würzburg: Metzner, S. 10. 6 Vgl. Seelmann, K. (2010): Rechtsphilosophie, 5. Aufl., München: C. H. Beck, S. 34. 7 Kelsen, H. (2017): Reine Rechtslehre, orig. 1960, 2. Aufl., Jestaedt, M. (Hrsg.), Tübingen: Mohr Siebeck, S. 201. 5
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Kapitel I: Einleitung
moralisch begründet wird (wenn sie aufgrund moralischer Intentionen implementiert wurde oder ihre Anwendung aufgrund einer moralischen Deliberation erfolgt), dann soll dieselbe Begründung auch konsequent auf alle anderen Normen angewendet werden, die von der Argumentation betroffen sind.8 Ein Beispiel mag hier zur Klärung beitragen. Nehmen wir an, „Zoophilie“ (ugs. „Sodomie“) wird in einem bestimmten Rechtssystem strafrechtlich sanktioniert.9 Nehmen wir zudem an, die Norm wurde und wird dadurch moralisch begründet, dass das betroffene Tier geschützt werden soll. Anders ausgedrückt: Das durch das Strafrecht geschützte „Rechtsgut“ ist das „Wohl des Tieres“.10 Der Schutz der körperlichen und sexuellen Integrität des Tieres liefert somit den moralischen Grund für das Verbot. Es stellt sich dann die Frage, wie dies mit der Erlaubnis zu vereinbaren ist, dass Tiere gehalten und geschlachtet werden dürfen, dass Fleisch gegessen werden darf usw. Wenn wir tatsächlich die körperliche Integrität des Tieres durch ein Verbot schützen wollen, dann sollten wir auch unsere Fleischproduktion und den Konsum strafrechtlich belangen. Die Rechtfertigungsgrundlage der einen Norm (des Zoophilie-Verbots) ist also auch auf andere Sachverhalte (das Schlachten von Tieren) anwendbar, weil diese Sachverhalte ebenso von der moralischen Forderung der Begründung betroffen sind. Es gibt aus Gründen der Konsistenz zwei mögliche Lösungen für das Problem. Entweder man verbietet die Tierhaltung und das Schlachtwesen oder nicht. Im letzteren Fall muss aber, die moralische Begründung des Verbotes hinterfragt werden. Man wird hierbei evtl. zum Schluss gelangen, dass der Schutz des Tieres nur ein „falscher Vorwand“ für das Verbot sei. Es ist gut möglich, dass die Norm durch eine andere (quasi-moralische) Einstellung begründet ist: z.B. „Sodomie ist etwas Anstößiges“. Es handelt sich dabei um einen „Tabubruch“. Ist dies der Fall, stellt sich die Frage, ob unsere Abscheu vor der Praxis der Zoophilie ein hinreichender Grund für eine Bestrafung der handelnden Person ist.11 Beantwortet man diese Frage negativ, gerät man zum Schluss, dass die rechtliche Norm moralisch nicht begründet ist. 8
Vgl. Rawls, J. (1951): „Outline of a Decision Procedure for Ethics“, Philosophical Review 60 (2), S. 188. 9 Schweizerische Tierschutzverordnung, TSchV, 455.1, 23.04.2008, 16. in Deutschland Tierschutzgesetz, TierSchG, 7833-3, 24.07.1972, 3. 10 So z.B. die Begründung des Zwecks des Deutschen Tierschutzgesetzes: „Zweck dieses Gesetzes ist es, aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen. Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.“ TierSchG § 1. Damit wird impliziert, dass es sich beim Verzehr von Tieren um einen vernünftigeren Grund handelt als beim Geschlechtsverkehr. Wenn man das auf Menschen anwenden würde, wäre Kannibalismus gerechtfertigt. 11 Bzw. die Frage: Ist ein Tabubruch bereits eine Rechtsgutverletzung? Dagegen Roxin, C. (2006): Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. 1 Grundlagen: Der Aufbau der Verbrechenslehre, 4. Aufl., München: C. H. Beck, § 2.
1. Herangehensweise
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Die Frage nach der Begründung unveräußerlicher Rechte wird auf dieselbe Art und Weise gestellt: Sind die moralischen Gründe mit unserem Recht, unserem Rechtsempfinden oder unseren moralischen Überzeugungen konsistent? In Bezug auf das Verhältnis zwischen ‚Recht‘ und ‚Moral‘ kann der hier verwendete Ansatz also wie folgt beschrieben werden: Wenn einer Norm eine moralische Begründung zugrunde liegt, gilt dieselbe Begründung auch für andere Handlungen, auf welche die Konsequenzen der moralischen Begründung ebenso zutreffen. Ist ein Rechtssystem „inkonsistent“, in dem Sinne, dass zwei Handlungen rechtlich nicht gleich normiert werden, die Handlungen aber denselben moralischen Gehalt aufweisen, gibt es zwei Möglichkeiten. Eine von beiden soll aus Konsistenzgründen wahrgenommen werden. Entweder die moralisch begründete Norm wird aufgegeben oder die rechtliche Würdigung der anderen Handlungen wird angepasst. Insofern ist diese Untersuchung nicht positivistisch, denn auf der Ebene des positiven Rechts kann ein Zoophilie-Verbot widerspruchsfrei mit der Erlaubnis (d.h. Straffreiheit) der Fleischproduktion koexistieren. Es muss die Annahme getroffen werden, dass die Ebene der moralischen Begründung selbst Teil des Rechts ist und somit die Konsistenzkritik als „interne Kritik“ aufgefasst werden kann. Sobald eine Form der moralischen Rechtfertigung für die Begründung einer bestimmten Norm verwendet wird, bestehen durch die moralischen Gründe, welche der Rechtfertigung zugrunde liegen, inhaltliche Einschränkungen für andere Normen. Der letzte Teil der Untersuchung, Kap. VIII bis Kap. X, besteht in einer solchen rechtsethischen Auseinandersetzung mit der Frage nach der Begründung unveräußerlicher Rechte. Gemäß von der Pfordten können vier rechtsethische Ansätze bezüglich der Relation zwischen ‚Recht‘ und ‚Moral‘ bzw. zwischen ‚Recht‘ und ‚Gerechtigkeit‘ unterschieden werden.12 Erstens kann ein „rechtsethischer Nihilismus“ vertreten werden. In diesem Fall wird die These aufgestellt, dass eine ethische Begründung rechtlicher Normen unmöglich ist.13 Die These wird hier, wie bereits gezeigt, explizit abgelehnt. Zweitens besteht die Möglichkeit eines „rechtsethischen Reduktionismus“. Dieser Position gemäß ist eine ethische Rechtfertigung rechtlicher Normen zwar möglich, allerdings ist eine solche Begründung nicht Aufgabe der Rechtslehre. Die Rechtfertigung einer Norm soll lediglich rechtsintern gegeben werden. Die moralische Beurteilung des Rechts obliege hingegen der Politik, der Ökonomie oder einem gesellschaftlichen Diskurs. Kelsens Reine Rechtslehre14
12
von der Pfordten, D. (2001): Rechtsethik, München: C. H. Beck, S. 113. Ebd. S. 115. 14 Op. cit. Fn. 7. 13
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Kapitel I: Einleitung
kann als Versuch gedeutet werden, die Rechtswissenschaft in diesem Sinne von ethischen Erwägungen zu „befreien“.15 Ein dritter Ansatz wird „rechtsethischer Normativismus“ genannt. Ein solcher anerkennt, dass eine ethische Begründung rechtlicher Normen grundsätzlich möglich ist und sie in der rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Normen eine wesentliche Rolle spielt. Allerdings wird nicht vorausgesetzt, dass das Recht und die Moral einen logischen Zusammenhang besitzen. Es besteht demzufolge keine begriffliche Korrelation.16 Dies ist auch das Verständnis der Rechtsethik, das dieser Abhandlung zugrunde liegt. Rechtliche Gegebenheiten, wie diejenige der Existenz unveräußerlicher Rechte, können, so wird hier angenommen, rein deskriptiv festgestellt werden, ohne dass damit bereits eine Wertung impliziert wird. Die Ethik ist zwar als „rechtsexterne Beurteilung“ zu verstehen. Die ethische Rechtfertigung der Gegebenheit unveräußerlicher Rechte wird allerdings als sinnvoll und notwendig erachtet. Diese Auffassung richtet sich gegen eine vierte Betrachtungsweise – den sog. „rechtsethischen Essentialismus“. Gemäß einem solchen Ansatz besteht ein notwendiger (begrifflicher) Zusammenhang zwischen ‚Recht‘ und ‚Moral‘. So gesehen können rechtliche Normen rechtsintern ethisch beurteilt werden.17 Die berühmte „Radbruch’sche Formel“ mit seinen zwei Bedingungen für die Geltung von Rechtsnormen, dass erstens eine Norm grundsätzlich „Gerechtigkeit anstreben“ soll und dass zweitens eine Norm nicht „unerträglich ungerecht“ sein soll,18 beinhaltet die Idee, dass den Rechtsnormen ein Gerechtigkeitsbezug immanent sein muss, um Geltung entfalten zu können.19 Der logische Zusammenhang zwischen ‚Recht‘ und ‚Moral‘ wird in dieser Untersuchung jedoch nicht vorausgesetzt. Erstens wird der Schluss nicht voreilig gezogen, dass die Existenz eines Rechts impliziert, dass es dieses Recht auch geben soll. Zweitens wird akzeptiert, dass es normative Gegebenheiten im Recht gibt und geben kann, die nicht ethisch gerechtfertigt sind (bzw. keinen Bezug zur Gerechtigkeit aufweisen oder die gar ungerecht sind). Dem rechtsethischen Normativismus entsprechend werden aber bestimmte rechtliche Gegebenheiten als ethisch rechtfertigungspflichtig angesehen und, wie sich zeigen wird, sind unveräußerliche Rechte solche Gegebenheiten.
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Ebd. S. 141. Vgl. ebd. S. 168. 17 Ebd. S. 182. 18 Radbruch, G. (1990): „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“, orig. 1946, in: Hassemer, W. (Hrsg.): Gesamtausgabe, Bd. 3: Rechtsphilosophie III, Heidelberg: C. F. Müller, S. 89. 19 Vgl. hierzu auch Fuller, L. A. (1969). The Morality of Law, New Haven: Yale University Press, S. 41 ff. Die sog. „inner morality of law“ richtet sich gemäß Fuller nach bestimmten Prinzipien der Legalität. 16
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2. Aufbau 2.1 Fragestellungen Der Untersuchung liegen vier philosophische Fragen in Bezug auf unveräußerliche Rechte zugrunde: Erstens muss eine Analyse des Begriffs eines subjektiven Rechts vorliegen, auf dessen Grundlage dann der Begriff eines unveräußerlichen Rechts bestimmt und abgegrenzt werden kann. Die Frage lautet: Was sind überhaupt Rechte und was sind unveräußerliche Rechte? Zweitens ist zu prüfen, ob ein Recht überhaupt die Eigenschaft besitzen kann, die Rechtsträgerin in ihrer Freiheit einzuschränken. Üblicherweise versteht man unter einem subjektiven Recht nicht etwas, das der Besitzerin zum Nachteil gereicht. Ein unveräußerliches Recht beschränkt nun aber die möglichen Handlungen der Rechtsträgerin. Wie sind diese beiden Tatsachen miteinander zu vereinbaren? Drittens ist zu erörtern, inwiefern diese freiheitsbeschränkende Wirkung des Rechts moralisch gerechtfertigt sein kann. Hierbei liegt die liberale Annahme zugrunde, dass die Einwilligung einer Person einen Eingriff in ihre Rechtssphäre grundsätzlich rechtfertigen kann. Weshalb können aber Rechte unveräußerlich sein? Es muss geprüft werden, ob es sich bei der Unveräußerlichkeit eines Rechts nicht um eine bevormundende Einschränkung handelt, d.h. ob es sich nicht um einen paternalistischen Eingriff in die Privatsphäre des Individuums handelt. Viertens stellt sich die Frage nach der Konsistenz verschiedener moralischer Überzeugungen. Bestimmte Rechte werden durch unser Rechtssystem als unveräußerliche Rechte gehandhabt und bestimmte nicht. Es muss nach den Gründen gesucht werden, weshalb bestimmte Rechtsgüter des speziellen Schutzes durch Unveräußerlichkeit bedürfen bzw. weshalb andere Rechte veräußerbar sein dürfen. Es soll sich daraus ein widerspruchsfreies System moralischer Überzeugungen ergeben. Es lassen sich also vier Fragen formulieren, denen in dieser Untersuchung nachgegangen werden soll:
10 F1: F2: F3: F4:
Kapitel I: Einleitung Was sind unveräußerliche Rechte? Ist die Existenz unveräußerlicher Rechte mit dem Verständnis des Konzeptes eines subjektiven Rechts vereinbar? Wie kann die mit unveräußerlichen Rechten einhergehende Einschränkung der individuellen Freiheit moralisch gerechtfertigt werden? Inwiefern ist die moralische Rechtfertigung der Unveräußerlichkeit bestimmter Rechte mit anderen moralisch und rechtlich gefestigten Überzeugungen vereinbar?
Kurz zusammengefasst beinhaltet die Auseinandersetzung mit dem Konzept also vier Elemente: erstens eine begriffliche Rekonstruktion unveräußerlicher Rechte, zweitens eine Argumentation für die logische Konsistenz des Begriffes, drittens eine Erläuterung der möglichen Ansätze zur Rechtfertigung der normativen Implikationen von unveräußerlichen Rechten und viertens die kritische Auseinandersetzung mit den angesprochenen Ansätzen, woraus schlussendlich normative Konklusionen für die Ausgestaltung unseres Rechtssystems abgeleitet werden können. Zu F1: Begriffliche Rekonstruktion In einem ersten Schritt wird der Begriff unveräußerlicher Rechte definiert. Hierfür müssen zunächst die Grundbegriffe erläutert werden, anhand derer subjektive Rechte analysiert werden können. Es gilt dann das Phänomen unveräußerlicher Rechte zu erläutern und abzugrenzen. Eine Frage, die sich aufdrängt, ist diejenige nach der positiven Existenz unveräußerlicher Rechte. Wo im positiven Recht findet sich ein unveräußerliches Recht? Der Ausdruck ‚unveräußerliches Recht‘ kommt selten explizit in Gesetzestexten vor. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es so etwas wie unveräußerliche Rechte selten oder gar nicht gibt. Tatsächlich können wir durch Analyse des positiven Rechts auf bestimmte Rechte schließen. Aus Beobachtungen des positiven Rechts wird eine abstrakte deontologische Entität hergeleitet – ein subjektives Recht –, das aufgrund der normativen Einschränkungen durch das positive Recht als unveräußerlich bezeichnet werden kann. Zu F2: Logische Konsistenz Auf der Ebene einer Theorie der Rechte wird danach gefragt, ob es so etwas wie ein unveräußerliches Recht überhaupt geben kann. Die Frage stellt sich nach der logischen Konsistenz der beiden Konzepte ‚unveräußerlich‘ und ‚Recht‘. Es ist möglich (und je nach Theorie der Rechte wird dies auch behauptet), dass sich die Konzepte gegenseitig ausschließen, wodurch notwendigerweise kein Objekt unter den Begriff eines unveräußerlichen Rechts fallen kann. Es wird also eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Konzeptionen des Begriffes ‚Recht‘ notwendig, und eine Prüfung der Vereinbarkeit mit dem in der Untersuchung hergeleiteten Begriff eines unveräußerlichen Rechts vorgenommen. Dieser Ansatz beschränkt sich auf eine Beschreibung von Rechtssystemen und nimmt keine Wertung der bestehenden Normen vor.
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Zu F3: Rechtfertigung Auf der Ebene der gängigen moralischen Überzeugungen, der momentanen Rechtpraxis und unserer sog. „moralischen Intuitionen“ wird die ethische Begründung der Unveräußerlichkeit bestimmter Rechte mit den daraus folgenden normativen Implikationen umrissen. Dabei wird auf diejenigen Rechte Bezug genommen, die wir nach unserem Rechtsverständnis als unveräußerlich bezeichnen würden, ohne dass bereits geklärt wird, welche Rechte als unveräußerlich gelten sollen. So gesehen ist die moralische Untersuchung in einem ersten Schritt „rekonstruktiv“. Ausgehend vom positiven Recht und von einer gegebenen Moral wird die mögliche Begründung für die Unveräußerlichkeit eines Rechts hergeleitet. Es werden verschiedene ethische Ansätze skizziert, welche Gründe dafür liefern können, dass gewisse mit unveräußerlichen Rechten einhergehende Einschränkungen moralisch gerechtfertigt sind. Zu F4: Kritik Die Vorgehensweise der ethischen Beurteilung ist grundsätzlich eine Überprüfung der Kohärenz moralischer Überzeugungen mit den normativen Implikationen eines unveräußerlichen Rechts. Es wird dafür argumentiert, dass gewisse Formen moralischer Rechtfertigung unveräußerlicher Rechte verworfen werden müssen, wobei andere Rechtfertigungsansätze stichhaltig sind. Aus dieser ethischen Argumentation ergibt sich dann ein normativer Anspruch an die Ausgestaltung unseres Rechtssystems. Es wird gezeigt, welche Rechte unveräußerlich sein sollen und entsprechend rechtlich gewürdigt werden sollten. Das Ziel ist es also, auf der Grundlage der rekonstruierten moralischen Überzeugungen normlogisch zu argumentieren. Moralische Überzeugungen – so die Annahme – sollen sich in ein kohärentes, nicht-widersprüchliches System einfügen können. 2.2 Thesen Sowohl die methodische Herangehensweise und die gewählten Kategorien zur Analyse subjektiver Rechte als auch die liberale Grundhaltung bei der moralischen Untersuchung unveräußerlicher Rechte basieren auf Annahmen. Diese werden in den jeweiligen Kapiteln noch ausführlich erläutert und plausibilisiert. Somit wird in dieser Abhandlung eine Vielzahl unterschiedlicher Thesen vertreten, die hier nicht alle vollständig aufgeführt und erläutert werden können. Die einschlägigsten Thesen dieser Untersuchung beziehen sich jedoch auf die oben gestellten Fragen.
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Kapitel I: Einleitung
These zu F1: Der Begriff ‚unveräußerliches Recht‘ wird anhand grundlegender Konzepte analysiert, die erstmals mit hinreichender Klarheit vom amerikanischen Rechtstheoretiker Hohfeld voneinander abgegrenzt wurden. Unveräußerliche Rechte werden als „normative Vorteile“ bestimmt, die mit der sog. „rechtlichen Unmöglichkeit“ einhergehen, den normativen Vorteil freiwillig aufzugeben oder zu transferieren. Dieser Begriff eines unveräußerlichen Rechts kann für die Analyse ganz unterschiedlicher Rechtsbereiche angewandt werden. Ein unveräußerliches Recht kann so gesehen sowohl im Strafrecht als auch im Privatrecht vorkommen. Eine zentrale These besteht darin, dass unveräußerliche Rechte nicht notwendigerweise fundamentale Rechte sind und umgekehrt: Fundamentale Rechte sind nicht notwendig unveräußerliche Rechte. Der Begriff wird also explizit von demjenigen der Grundrechte und von demjenigen der Menschenrechte bzw. der „natürlichen Rechte“ abgegrenzt. These zu F2: Das Konzept unveräußerlicher Rechte stellt ein wichtiges Bezugsobjekt des Theorienstreits zwischen der sog. „Willenstheorie“ und der „Interessetheorie“ von Rechten dar. Die Willenstheorie geht davon aus, dass es für ein Recht wesentlich ist, dass die Rechtsträgerin über ihr eigenes Recht verfügen kann. Der Vorwurf seitens der Anhängerinnen einer Interessetheorie besteht in der Behauptung, dass die Willenstheorie nicht fähig sei, gegebene unveräußerliche Rechte begrifflich zu erfassen. Aufgrund bisheriger Ausformulierungen einer Willenstheorie ist dieser Einwand durchaus berechtigt. Es wird aber ein Verständnis der Willenstheorie verteidigt, welches die zentralen Eigenschaften der Theorie (v.a. ihre zugrundeliegende Werthaltung) beibehält, welches aber mit der Existenz unveräußerlicher Rechte vereinbar gemacht werden kann. Somit wird die These vertreten, dass nach einem plausiblen Verständnis der Willenstheorie unveräußerliche Rechte erfasst werden können. Thesen zu F3 und F4: Unveräußerliche Rechte stellen ein Problem für liberale Theorien der Gerechtigkeit dar. Die Unveräußerlichkeit beinhaltet eine Freiheitseinschränkung, die rechtsethisch gerechtfertigt werden muss. Es werden unterschiedliche Argumente zur Rechtfertigung unveräußerlicher Rechte vorgestellt, die mit grundsätzlich liberalen Überzeugungen vereinbar sind. Alle Formen der Rechtfertigung, so wird argumentiert, sind kritisch zu hinterfragen. Eine Bezugnahme auf sog. „objektive Werte“ zur Rechtfertigung unveräußerlicher Rechte, wird aufgrund liberaler Grundüberzeugungen abgelehnt. Es muss bei der Rechtfertigung unveräußerlicher Rechte auf die „subjektiven Interessen“ der Individuen abgestützt werden.
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2.3 Übersicht In Kap. II werden die Konzepte erläutert, anhand derer subjektive Rechte analysiert werden. Dabei wird starker Bezug auf die sog. „Hohfeld’schen Positionen“ genommen. Ein möglichst breites Verständnis von Rechten bestehend aus unterschiedlichen normativen Verhältnissen zwischen Individuen wird vorgeschlagen, um der Bedeutungsvielfalt des Begriffs eines subjektiven Rechts angemessen zu begegnen. Auf dieser Grundlage kann dann im Kap. III der Begriff eines unveräußerlichen Rechts formal bestimmt werden. Es wird nötig sein, den Begriff abzugrenzen, um verschiedene Verständnisse und Konzeptionen unveräußerlicher Rechte vom Untersuchungsgegenstand auszuschließen. In diesem Sinne wird auch in Kap. IV die Idee unveräußerlicher Rechte einerseits vom Begriff natürlicher Rechte und andererseits demjenigen von Menschenrechten abgegrenzt. Die Konzepte sind nicht deckungsgleich und sie können nicht aufeinander reduziert werden. Es stellt sich also die Frage, in welchem Rechtsbereich das Konzept unveräußerlicher Rechte Anwendung findet. Das Kapitel endet mit einer Ausführung darüber, wo wir im positiven Recht unveräußerliche Rechte antreffen. Unveräußerliche Rechte spielen eine zentrale Rolle in Bezug auf die Frage nach der Angemessenheit einer Theorie der Rechte. Bei diesem Diskurs handelt es sich primär um eine Auseinandersetzung zwischen Anhängerinnen der Interessetheorie mit jenen der Willenstheorie. Letztere kann, wie sie gemeinhin konzipiert wird, unveräußerliche Rechte nicht erfassen. Kap. V liefert eine systematische Einordnung dieser Kritik. Es wird zudem erläutert, welches metatheoretische Verständnis einer Theorie der Rechte zugrunde liegen soll. In Kap. VI wird dann ein modifiziertes Verständnis der Theorie vorgeschlagen, welches einerseits ebendiesem Verständnis gerecht wird und andererseits gewisse unveräußerliche Rechte in sich begreifen kann. Die Existenz unveräußerlicher Rechte ist nur unter bestimmten Voraussetzungen rechtfertigungspflichtig. Im Kap. VII werden die moralischen Grundannahmen der darauffolgenden normativen Untersuchung über die Rechtfertigung unveräußerlicher Rechte offengelegt. Es soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern eine Freiheitseinschränkung der Unveräußerlichkeit eines Rechts legitimiert werden kann. Ein sehr prominenter Ansatz zur Rechtfertigung unveräußerlicher Rechte wird in Kap. VIII vorgestellt. Das Rechtsgut eines unveräußerlichen Rechts kann aufgrund seines „objektiven Wertes“ als so grundlegend erachtet werden, dass die rechtstragende Person nicht darüber verfügen darf. Es werden jedoch Gründe angegeben, weshalb ein solcher Begründungsversuch entweder zu kurz greift oder mit einem sehr grundlegenden liberalen Rechtsverständnis unvereinbar ist. Ein grundsätzliches Problem des Rückgriffs auf objektive Werte für die Begründung unveräußerlicher Rechte besteht darin, dass dadurch sehr be-
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Kapitel I: Einleitung
vormundende Einschränkungen der individuellen Freiheit gerechtfertigt werden können. In Kap. IX werden dann aber Formen staatlicher Bevormundung diskutiert, die aus einer liberalen Sicht gerechtfertigt sein können. Diese beziehen sich nicht auf objektive Werte, sondern auf ein Konzept der Autonomie. Das vorletzte Kap. X zeigt dann weitere Argumente auf, die mit dem liberalen Verständnis vereinbar sind. Zur Erläuterung wird dabei auf unterschiedliche Debatten der angewandten Rechtsethik Bezug genommen, in denen das Konzept eines unveräußerlichen Rechts implizit angenommen wird. Die Argumente zur Begründung einer Einschränkung der individuellen Verfügung über ein Recht werden kritisch durchleuchtet und mit Einwänden konfrontiert.
Kapitel II
Der Begriff eines subjektiven Rechts Ein subjektives Recht muss als eine soziale Begebenheit verstanden werden. Es beinhaltet eine Beziehung zwischen mindestens zwei Individuen. Als „soziale Tatsachen“ sind Rechte nicht so einfach zu beobachten wie Tatsachen in den Naturwissenschaften, z.B. Moleküle oder Zellen. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir die Existenz von Rechten nicht feststellen können. Es handelt sich bei sozialen Tatsachen nicht um metaphysische Träumereien, sondern um reale Gegebenheiten. Dies lässt sich am Beispiel des Wertes von Geld illustrieren. Auch dabei handelt es sich schlussendlich um eine Summe von Erwartungen und Überzeugungen, die die Mitglieder eines Währungsraums besitzen. Die Tatsache, dass Individuen daran glauben, gegen ein Stück Papier z.B. einen Laib Brot kaufen zu können und der Umstand, dass Bäckerinnen bereit ist, einen Laib Brot gegen ein Stück Papier einzutauschen, sind dadurch zu erklären, dass sie alle jeweils davon überzeugt sind, dass das Stück Papier einen Tauschwert besitzt und erwarten, dass es dies in Zukunft immer noch tut. Nun kann man auf den Wert des Geldes nur indirekt Rückschluss nehmen. Keine Instanz besitzt die Möglichkeit, den Wert vollkommen willkürlich zu bestimmen oder festzuschreiben. Dennoch handelt es sich um eine feststellbare Größe. So ähnlich ist auch ein Recht zu verstehen. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Individuen Rechte besitzen und wir wissen grundsätzlich, was ein Recht ist und wie ein bestimmtes Recht unser Handeln beeinflusst. Es braucht aber viel Interpretation desjenigen, was man beobachtet, um ein Recht eindeutig identifizieren zu können. Zudem wird dasjenige, was man zu wissen glaubt, infrage gestellt, sobald man nach der genauen Bedeutung des jeweiligen Rechts fragt. Wird ein Recht als soziale Tatsache beschrieben, wird dadurch zugleich eine zentrale Einschränkung bzgl. der Methode der Untersuchung gemacht. Die Vorgehensweise ist aufgrund des rein beobachtenden und beschreibenden Ansatzes positivistisch. Um dies zu erläutern, müssen zwei verschiedene Bedeutungen des Satzes „jemand besitzt ein Recht“ unterschieden werden. Zum einen beschreibt der Satz eine normative Tatsache. So ist es der Fall, dass sich Individuen aufgrund ihrer Einsicht, dass ein Recht besteht, motiviert fühlen, dieses Recht nicht zu verletzen („positive Moral“).1 Oder sie anerkennen, dass 1
Zur Unterscheidung zwischen „positiver Moral“ und „kritischer Moral“ siehe Hart, H. L. A. (1963): Law, Liberty, and Morality, Stanford, CA: Stanford University Press, S. 17.
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Kapitel II: Der Begriff eines subjektiven Rechts
der Staat den Individuen ein Recht gewährt, das man aufgrund des Gesetzes nicht verletzen soll („positives Recht“). Der Satz „jemand besitzt ein Recht“ kann zum anderen aber auch eine normative Forderung sein. So hört man z.B. den Ausdruck „Auch Tiere haben Rechte“ nicht als Beschreibung unserer gängigen Moral und nicht als Beschreibung unseres Rechts, sondern vielmehr mit einem moralischen Anspruch an unser Verhalten. Man soll, so die Idee hinter der Parole, zur Einsicht gelangen, dass auch Tiere respektiert und geschützt werden sollen. Entsprechend kann die folgende Frage: „Besitzt eine Person ein Recht auf etwas?“ auf zwei verschiedene Arten gedeutet werden. Einerseits ist es eine empirische Frage über die Beschaffenheit unserer Gesellschaft und unseres Rechtssystems.2 Andererseits kann die Frage auch in einem moralisch wertenden Sinn verstanden werden: Ist es gut oder ist es richtig, dass die Person ein Recht auf etwas besitzt? Soll sie ein solches Recht besitzen? Diese Frage wird aber zunächst nicht gestellt. Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass diesem Kapitel stets die Frage nach der positiven Beschaffenheit von Rechten zugrunde liegt. Rechte werden hier beschrieben, wie sie tatsächlich sind und nicht, wie sie sein sollten oder wem sie zukommen sollten. Zunächst liegt der Fokus auf „juridischen Rechten“, da deren Existenz (als soziale Tatsache) einfacher festzustellen ist als diejenige „moralischer Rechte“. Der Untersuchung liegt aber eine bestimmte Prämisse zu Grunde, die es letztlich (d.h. in den darauf aufbauenden Kapiteln) erlaubt, eine moralische Bewertung von normativen Einschränkungen durch Rechte vorzunehmen. Es wird angenommen, dass sich juridische Rechte der Form nach nicht von moralischen Rechten unterscheiden. Wir können eine Analyse der Bestandteile von Rechten im positiven Recht mutatis mutandis für die Analyse moralischer Rechte verwenden.3 Diese Annahme ist deswegen nicht restriktiv, weil es sich hier um eine formale Bestimmung des Begriffes ‚Recht‘ handelt und nicht um eine inhaltliche.
2
Oder auch eine logische Frage, inwiefern aus einer anderen normativen Tatsache folgt, dass jemand ein Recht auf etwas besitzt. 3 Vgl. Kramer, M. H. (1998): „Rights Without Trimmings“, in: Kramer, M. H./Simmonds, N. A./Steiner, H. (Hrsg.): A Debate Over Rights: Philosophical Enquiries, New York: Oxford University Press.
1. Rechtsträgerin, Rechtsadressatin, Rechtsgut
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In der Folge werden die Grundbegriffe für die Analyse von Rechten erläutert, die dann auch für den Rest der Untersuchung verwendet werden. Diese Grundbegriffe gehen auf den amerikanischen Rechtstheoretiker Wesley Hohfeld zurück. Er schlägt in seinem Werk Fundamental Legal Conceptions eine sehr einschlägige Unterscheidung unterschiedlicher deontischer Kategorien vor, die vom Begriff eines subjektiven Rechts umfasst sein können.4 Der Ansatz wird daraufhin gegenüber Einwänden und anderen Bestimmungen von subjektiven Rechten verteidigt.
1. Rechtsträgerin, Rechtsadressatin, Rechtsgut Rechte sind also soziale Tatsachen: Sie beschreiben Beziehungen zwischen mehreren Individuen. Es wird hier angenommen, dass der Satz: „Eine Person A besitzt ein Recht“, ein dreistelliges Prädikat enthält, das immer (mindestens) einer anderen Person B die Rolle der Rechtsadressatin zuweist und sich auf ein bestimmtes Objekt O bezieht.5 Der Satz lautet also präziser ausgedrückt: R:
A hat ein Recht gegenüber B auf O.
Diese drei Variablen sollen der Reihe nach erläutert werden. Als Rechtsträgerin A kommt nur eine Entität in Frage, die auch ein Recht besitzen kann. Man könnte hier zur Aussage geneigt sein, dass ein Recht nur einer Person zukommen kann und nicht einem Gegenstand oder Sachverhalt. Es scheint eindeutig, dass Personen Rechte besitzen können. Es gibt aber auch sprachliche Formulierungen, bei denen Rechte bestimmten Wesen, Entitäten oder Sachverhalten zugeschrieben werden, denen wir den Personenstatus nicht zugestehen würden. Es soll an diesem Punkt der Untersuchung nicht ausgeschlossen werden, dass z.B. ein Kind weitgehende Rechte gegenüber seinen Eltern und der Gesellschaft besitzt, obwohl es noch nicht wie eine Person für seine eigenen Handlungen verantwortlich gemacht werden kann. Die Fähigkeit zu einer rationalen Entscheidungsfindung kann nicht ausschlaggebend dafür sein, dass einem Individuum Rechte zugeschrieben werden. Auch einem Fötus können bestimmte Dinge zustehen, die (je nach Verständnis) Rechte darstellen. Ein Fötus ist aber zu gar keiner Entscheidung fähig. Dasselbe ist wohl der Fall bei Tieren. Aufgrund von „Rechten für Tiere“ werden z.B. minimale Haltungsstandards von Zuchttieren definiert oder gewisse tierquälerische Handlungen verboten.
4
Hohfeld, W. N. (1917): „Some Fundamental Legal Conceptions as Applied in Judicial Reasoning“, Yale Law School: Faculty Scholarship Series 4378, S. 710–70. 5 Vgl. z.B. Thomson, J. J. (1990): The Realm of Rights, Cambridge, MA: Harvard University Press, S. 41–3. Koller, P. (2007): „Die Struktur von Rechten“, in: Stepanians, M. (Hrsg.): Individuelle Rechte, Paderborn: Mentis, S. 87.
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Kapitel II: Der Begriff eines subjektiven Rechts
Die Frage, ob Nicht-Personen auch Rechte besitzen können, wird weiter unten wieder aufgegriffen. Um sie zu beantworten, müssen unterschiedliche Theorien von Rechten in Betracht gezogen werden. Vorerst soll dies aber als grundsätzlich möglich erachtet werden.6 Bezüglich der Bestimmung, wer als Rechtsträgerin infrage kommen kann, wird somit ein eher offenes Kriterium vorgeschlagen. Die Bedingung für die Möglichkeit, eine Rechtsträgerin zu sein, ist der Besitz eines gewissen „Interesses“. Sowohl einer erwachsenen mündigen Person als auch einem Kleinkind oder einem Tier ist die moralisch signifikante Eigenschaft gemein, Bedürfnisse, Wünsche, Lust- und Unlustgefühle haben zu können, die durch ein Recht geschützt werden können.7 Als Rechtsträgerin müssen zudem nicht nur einzelne Individuen in Betracht gezogen werden. Rechte können sowohl einem einzelnen Individuum (Föten und Tiere miteingeschlossen) als auch einer Gruppe von Individuen oder der gesamten Gesellschaft bzw. allen Individuen gleichsam zukommen. Die begriffliche Unterscheidung ist hierbei diejenige von „individuellen“ und „allgemeinen“ Rechten.8 Diejenigen, gegen die sich ein Recht richtet, B, müssen jedoch zwingend Personen sein. Unter dem Begriff einer Person wird ein Individuum verstanden, das Verantwortung für seine eigenen Handlungen besitzen kann. Es wäre bspw. absurd zu behaupten, A habe ein Recht gegenüber einem Hund, nicht gebissen zu werden. Denn der Hund kann für seine Handlung keine Verantwortung tragen. Er kann sich nicht vernünftigerweise für oder gegen die Handlung entscheiden. Ebenso kann ihm kein Vorwurf gemacht werden, wenn er sich nicht so verhält, wie man es von ihm wünscht. Deswegen ist es unmöglich, Rechte gegenüber einem Hund zu besitzen. Die Bedingungen des Begriffes ‚Rechtsadressatin‘ sind somit strenger. Das Konzept umfasst Personen, die sich grundsätzlich frei entscheiden können und zurechnungsfähig sind. Dies ist deshalb der Fall, da ein Recht einen normativen Gehalt aufweist. Ein Recht weist einen für die Rechtsadressatin handlungsanleitenden Gehalt auf und eine solche Handlungsanleitung kann wiederum nur an eine Person gerichtet sein, welche sich dazu entscheiden kann, dieser Anleitung Folge zu leisten.
6
Siehe Kap. V, 3.1. Hiermit wird ausgeschlossen, dass Pflanzen oder unbelebte Gegenstände Rechtsträgerinnen sein können. Dementgegen könnte man z.B. behaupten, der Eiffelturm besitze ein Recht, nicht abgerissen zu werden und dass er deshalb denkmalgeschützt ist. Für den Zweck dieser Untersuchung können jedoch solche Entitäten grundsätzlich als mögliche Rechtsträgerinnen ausgeschlossen werden. Wie noch gezeigt wird, kann einem unbelebten Gegenstand ohnehin kein unveräußerliches Recht zukommen. Siehe Kap. III, 2.2. 8 Mit anderer Terminologie aber inhaltlich deckungsgleich, vgl. Koller, P. 2007, S. 87 f. 7
1. Rechtsträgerin, Rechtsadressatin, Rechtsgut
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Auch diese Annahme ist nicht so unumstritten, wie es den Anschein machen könnte. In der Debatte über die Legitimität von Abtreibung wird u.a. dafür argumentiert, dass die schwangere Frau ein „Notrecht“ gegenüber dem Fötus geltend machen kann.9 Der Fötus besitzt ursprünglich zwar ein Recht auf Leben, dieses kann aber missachtet werden. Die Frau ist unter bestimmten Umständen von der Pflicht befreit, den Fötus am Leben zu lassen. Je nach Begriff von Rechten ist eine Abwesenheit einer Pflicht in diesem Fall ein Recht.10 Wird also Abtreibung als subjektives (Not-)Recht legitimiert, ist der Fötus Rechtsadressat. Diese Möglichkeit soll hier aber der Einfachheit halber per Annahme ausgeschlossen werden. Rechtsadressatinnen sind Personen. Wie die Rechtstragenden A, muss auch die Adressatin B nicht zwingend ein einzelnes Individuum sein. Eine Person kann ein Recht gegenüber einer einzelnen Person oder einer bestimmten Gruppe von Personen besitzen. In diesem Fall sprechen wir von „spezifischen Rechten“. Oder aber ein Recht besteht gegenüber allen Individuen einer Gesellschaft. Wir sprechen dann von „generellen Rechten“.11 Wenn eine Gruppe von Menschen Rechtsadressatin ist, dann muss diese ebenfalls aus Personen bestehen, die moralische Verantwortung tragen können. Anders ausgedrückt muss sich die kumulierte moralische Verantwortung der Gruppe oder der Institution aus den individuellen Verantwortungsbereichen der einzelnen Personen konstituieren. Nun aber zum eigentlichen Kern der Aussage: „A besitzt ein Recht auf O“. Worauf besitzt ein Wesen A ein Recht? Um dieses Bezugsobjekt O eines Rechts bestimmen zu können, muss zunächst etwas mehr darüber gesagt werden, was unter einem Recht verstanden werden kann. Es handelt sich dabei um einen grundlegenden Begriff innerhalb normativer Theorien. Sowohl in der Ethik als auch im objektiven Recht ist die Definition der zentrale Schritt zur Ableitung von normativen Konsequenzen. Etwas oder jemand besitzt ein Recht aufgrund gewisser rechtlich oder moralisch signifikanter Eigenschaften. Ein Recht bezieht sich auf diese und begründet sich durch diese. So gesehen ist ein Recht also eine Aussage über die Entität, welche das Recht besitzt. Bestimmte Eigenschaften derselben werden einerseits als rechtlich (moralisch) relevant 9 Siehe Thomson, J. J. (1971): „A Defense of Abortion“, Philosophy & Public Affairs 1 (1), S. 47–66. 10 Diesem Einwand könnte entgegnet werden, dass der Fötus kein Recht auf Leben besitzt und dass das Notrecht – verstanden als die Freiheit, abtreiben zu dürfen – keine Adressatin besitzt. Es ist grundsätzlich möglich, sog. „Privilegien“ so zu konzipieren, dass keine Rechtsadressatin involviert ist, da eine Handlung der Rechtsträgerin das Rechtsobjekt darstellt. Sie selbst darf etwas tun oder unterlassen. In diesem Fall ist das Recht sodann keine soziale Beziehung. Wenn es aber kein Gegenüber gibt, an das sich ein Recht richtet, macht es wenig Sinn, von einem Recht zu sprechen. Vgl. Sumner, L. W. (2013): „Rights“, in: LaFollette, H./Parsson, I. (Hrsg.): The Blackwell Guide to Ethical Theory, Somerset: Wiley Blackwell, S. 357. 11 Vgl. Koller, P. 2007, S. 87 f.
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Kapitel II: Der Begriff eines subjektiven Rechts
anerkannt. Andererseits bestimmt das Recht aber auch, wie sich die Adressatinnen zu verhalten haben, um diese Eigenschaft zu schützen und zu respektieren. Die Funktion eines Rechts ist also zweiteilig. Erstens bestimmt es die grundsätzliche Legitimität von Interessen, Handlungen und Freiheiten von Individuen. Es deklariert diese als schützenswert. Zweitens impliziert es normative (d.h. handlungsanweisende) Konsequenzen. Und um diese normative Dimension von Rechten soll es in der Folge gehen. Was genau folgt aus der Tatsache, dass jemand ein Recht besitzt? Ein bestimmtes Recht wird oft nach einem Gegenstand benannt. So besitzt man bspw. als Eigentümerin eines Lastwagens ein Recht auf das Fahrzeug. Das Objekt O jedoch als einen Gegenstand zu definieren, wäre irreführend. Was der Satz „jemand besitz ein Recht auf etwas“ eigentlich ausdrückt, sind normative Propositionen. Bestimmte Handlungen sind erlaubt, verboten, geboten o.a. So darf die Eigentümerin von diesem Lastwagen Gebrauch machen, sie kann ihn verschenken, verkaufen, ausleihen, vermieten. Sie kann andere vom Gebrauch ausschließen. Man darf ihn nicht stehlen, nicht beschädigen usw. In einem Satz, der ein Eigentumsrecht zuschreibt, sind also normative Aussagen über bestimmte Handlungen enthalten. Rechte werden demgemäß nicht als Rechte in rem aufgefasst. Sie werden zwar gerne nach einem Gegenstand benannt, ihre Bedeutung erschließt sich aber nicht durch den Verweis auf den Gegenstand.12 Rechte werden als in personam konzipiert. Ein Recht, so die These, lässt sich durch unterschiedliche „normative Beziehungen“ zwischen Individuen ausdrücken. Ebenso irreführend wäre die Sichtweise, dass das Objekt des Rechts ein Zustand sei. Wenn die Lastwagenbesitzerin auf der Straße fährt, dann kann sie legitimerweise behaupten, dass sie ein Recht darauf besitzt, dies in dem Moment auch zu tun. Das Recht besteht jedoch auch unabhängig von der Tatsache, ob im Moment oder in der Zukunft tatsächlich davon Gebrauch gemacht wird. Sie könnte den Lastwagen auch ihr Leben lang in einer Garage stehen lassen und das Recht, damit herumzufahren, würde dadurch nicht erlöschen. Die Ausübung der Handlungen, auf die sich ein Recht (in diesem Fall die Erlaubnis, einen Gegenstand zu benutzen) richtet, muss nicht notwendig getätigt werden. Die erlaubte Handlung muss nicht, kann jedoch getätigt werden.
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Kritisch dazu Raz, J. (1980): The Concept of a Legal System, orig. 1970, 2. Aufl., Oxford: Clarendon, S. 180.
1. Rechtsträgerin, Rechtsadressatin, Rechtsgut
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Grundsätzlich beinhaltet O einen Bezug zu Handlungen oder Unterlassungen von Handlungen der Rechtsadressatinnen.13 Das Objekt des Rechts O besteht aus einer Norm über die Handlung. Das Recht beinhaltet für die Rechtsadressatinnen daher einen gewichtigen rechtlichen Grund (bzw. moralischen Grund), sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten. Sowohl moralische als auch juridische Rechte räumen diesen Gründen eine bestimmte Priorität gegenüber anderen Erwägungen ein. Rechte gelten unabhängig von der Nützlichkeit ihrer Erfüllung für das rechtstragende Individuum und v.a. unabhängig von der Nützlichkeit für die Allgemeinheit.14 So werden Rechte gerne auch als „Trümpfe“ bezeichnet,15 welche ein Individuum gegenüber gesellschaftlichen Interessen besitzt. Ein Recht darf grundsätzlich nicht ausgehebelt oder missachtet werden, auch wenn die Allgemeinheit davon profitieren würde. Mittels Zuschreibung eines Rechts wird also nicht bloß eine Wertaussage über einen Gegenstand gemacht, sondern es wird zugleich bestimmt, welche Handlungen erlaubt, verboten oder geboten sind. Rechte definieren Handlungsgründe. Sie stellen handlungsanleitende soziale Beziehungen dar. Durch die Fokussierung auf bestimmte Handlungen (im Gegensatz zur Idee von Rechten in rem) können die einzelnen normativen Beziehungen zwischen Individuen, die in einem Recht enthalten sind, identifiziert und als solche gesondert betrachtet werden. Das Recht kann in seine Einzelteile zergliedert werden und einzelne Rechtsadressatinnen können identifiziert werden. Rechte implizieren immer (mindestens) eine normative Proposition über eine Handlung (mindestens) einer anderen Person. Es wurde jedoch oben bereits erwähnt, dass Rechte neben spezifischer auch genereller Natur sein 13 Der Gebrauch des Begriffes ‚Recht‘ lässt verschiedentlich vermuten, dass es sich beim Objekt O auch um eine Charaktereigenschaft oder eine Einstellung handeln könnte. So gibt es z.B. bestimmte Rechte auf Anerkennung. So u.a. bei sog. „Statusrechten“. Bei Anerkennung handelt es sich nicht primär um eine Handlung, sondern um eine Einstellung (allenfalls um eine Handlungsdisposition). Allerdings stellt sich bei der Konzeption des Objektes als Einstellung die Frage, inwiefern es sich überhaupt um eine normative Anforderung an die Rechtsadressatin handeln kann. Kann das Recht von einer Person oder Institution verlangen, dass sie eine bestimmte Einstellung gegenüber der Rechtsträgerin besitzt? Dies scheint m.E. nicht der Fall zu sein. Es kann einer Person oder Institution nur dann ernsthaft ein Vorwurf gemacht werden, wenn ihre Handlungen einen Rückschluss auf die zugrundeliegenden verwerflichen Einstellungen erlauben. Z.B. sind rassistische Äußerungen einer Person in einer Hasspredigt verboten. Das Recht, aufgrund der Ethnie nicht diskriminiert oder beleidigt zu werden, wird deshalb durch die Unterlassungspflicht für rassistische Äußerungen in der Öffentlichkeit geschützt und nicht durch eine Bestrafung der rassistischen Ideologie (verstanden als Einstellung). Zum Begriff ‘Statusrechte‘ siehe Schulev-Steindl, E. (2008): Subjektive Rechte: Eine rechtstheoretische und dogmatische Analyse am Beispiel des Verwaltungsrechts, Wien: Springer, S. 125 ff. 14 Koller, P. 2007, S. 86. Sumner, L. W. 2013, S. 356 f. 15 Dworkin, R. (1978): Taking Rights Seriously, New York: Harvard University Press, S. xi.
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Kapitel II: Der Begriff eines subjektiven Rechts
können, wobei es mehr als eine Rechtsadressatin gibt bzw. die Allgemeinheit Rechtsadressatin ist. Eine solche Möglichkeit wird hierbei nicht ausgeschlossen, da gemäß der hier vertretenen Auffassung ein und dasselbe Recht immer auch ein „Bündel“ verschiedener normativer Beziehungen darstellen kann. Das Recht ist somit eine Ansammlung verschiedener Relationen einer Rechtsträgerin zu unterschiedlichen Rechtsadressatinnen.16 Dieses Verständnis von Rechten als komplexes Bündel ist, wie sich noch zeigen wird, zentral für die Analyse unveräußerlicher Rechte.
2. Begriffsbestimmung Ein Recht enthält also normative Propositionen über Handlungen. Die Rede wird in der Folge von „normativen Vorteilen“ sein, welche primär der Rechtsträgerin A zukommen. Sie profitiert von der Tatsache, dass andere Individuen ein bestimmtes Verhalten ihr gegenüber zeigen sollen bzw. nur bestimmte Handlungen ausüben können oder dürfen. Ein Recht ist somit grundsätzlich etwas, das der Rechtsträgerin „zugutekommt“. Mit dem Recht gehen zugleich „normative Nachteile“ für die Rechtsadressatinnen B einher. Ein Nachteil besteht darin, dass das Recht entweder dazu auffordert, ein bestimmtes Verhalten gegenüber den Rechtsträgerinnen an den Tag zu legen, oder es bestimmt, was die Rechtsadressatin nicht tun kann und was die Rechtsträgerin nicht erdulden muss.17 Das Recht motiviert die Rechtsadressatinnen zu Handlungen und Unterlassungen; entweder, indem es mit Hilfe der Androhung von Zwang „extern“ durchgesetzt wird oder, indem seine moralische Anerkennung die Rechtsadressatinnen „intern“ motiviert. Wie gezeigt werden soll, besteht eine logische Beziehung zwischen normativen Vorteilen und normativen Nachteilen. Ein ‚Vorteil‘ kann jeweils durch einen ‚Nachteil‘ ausgedrückt werden. Ein Recht ist, wie in der Folge gezeigt wird, dann gegeben, wenn mindestens ein normativer Vorteil mit einem (im Vorteil enthaltenen) Nachteil eines Gegenübers vorliegt.18 Bevor jedoch die unterschiedlichen Arten solcher normativen Beziehungen erläutert werden können, muss geklärt werden, wie das Konzept eines Vorteils verstanden wird. ‚Vorteil‘ ist hier nicht mit „Wohlfahrt“ oder „Nutzen“ gleichzusetzen. Es ist nicht der Fall, dass ein Recht notwendig zum Wohlergehen der Rechtsträgerin beiträgt. In einer liberalen Gesellschaft besitzen die Mitglieder viele Freiheiten, die sogar schädlich für ihr Wohlergehen sein können. So führt u.a. die Tatsache, dass man das Recht (die rechtlich garantierte Freiheit) besitzt, Ex16
Vgl. Kelsen, H. 1985, S. 135 ff. Vgl. das Verständnis von rechtlichen Normen von ebd. S. 73. 18 Wenar, L. (2011): „Rights“, in: Zalta, E. N. (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy, http://plato.stanford.edu/entries/rights. 17
2. Begriffsbestimmung
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tremsportarten auszuüben, jährlich zu vielen Verletzungen und Todesfällen und es ist nicht klar, ob das positive Erlebnis bei der Ausübung des Sports dieses Leid „kompensieren“ kann. Es wird hier also ein anderes Konzept eines Vorteils zugrunde gelegt, das nicht im Sinne einer Steigerung des Wohlergehens zu verstehen ist. Ein Recht kommt grundsätzlich dann zum Zug, wenn bestimmte Ansprüche, Bedürfnisse und Freiheiten der Individuen oder Institutionen miteinander in Konflikt stehen.19 Ein Recht ist ein Vorteil gegenüber einer anderen Partei.20 Man kann es durchsetzen, geltend machen, bestreiten o.a. oder es kann durch den Staat durchgesetzt werden. Es ist somit eher als ein potentieller Vorteil zu verstehen, der in bestimmten Fällen zur Anwendung kommen kann – ein Vorteil in einer Auseinandersetzung mindestens zweier Parteien mit gegenteiligen Ansprüchen. Ein Recht ist also in den meisten Fällen kein aktueller Vorteil, sondern ein möglicher. Erstens kann man von einem Recht auch nicht Gebrauch machen. Zweitens (und viel wichtiger) können Leute von ihren Rechten zwar Gebrauch machen, ohne dass es jemals zum Konflikt mit den Handlungen von anderen Individuen oder mit Institutionen kommt. In dem Fall besteht zwar ihr Recht, der Nutzen daraus wird aber nie sichtbar. Dies zeigt sich z.B. beim Recht auf freie Meinungsäußerung. Es wird in einer offenen Gesellschaft als selbstverständlich wahrgenommen. Nur selten geraten Individuen mit dem Staat durch Äußerungen bestimmter Inhalte in Konflikt, bei denen Vorbehalte der Allgemeinheit oder einer bestimmten Gruppe von Individuen bestehen. Wie oben bereits dargelegt, beinhaltet ein Recht mindestens einen normativen Vorteil. Angesichts dessen stellt sich die Frage, ob ein Recht ausschließlich aus normativen Vorteilen bestehen muss. Dies wird hier jedoch bestritten. Für die Analyse unveräußerlicher Rechte ist die Annahme zentral, dass ein Recht nicht notwendigerweise nur aus normativen Vorteilen besteht, da unveräußerliche Rechte ansonsten nicht konzipiert werden können. Ein unveräußerliches Recht schränkt die Rechtsträgerin darin ein, das Recht aufzugeben oder zu transferieren. Mit dieser Einschränkung geht, wie noch gezeigt wird, ein normativer Nachteil einher. Wenn ein Recht nun ausschließlich aus normativen Vorteilen bestehen würde,21 dann würde es sich beim Ausdruck ‚unveräußerliches Recht‘ um ein Oxymoron handeln. Damit das Konzept ‚unveräußerliches 19
Der hier verwendete Begriff ‚Anspruch‘ (im engl. „entitlement“) ist nicht mit dem im nächsten Abschnitt eingeführten terminus technicus ‚Anspruch‘ (im engl. claim) zu verwechseln. Letzterer bezeichnet eine spezifische Gruppe von Ansprüchen im ersteren Sinn. Siehe unten (a). 20 So auch Wellman, C. (1982): Welfare Rights, Totowa, NJ: Rowman & Allanheld, S. 10; Sumner, L. W. (1987): The Moral Foundation of Rights, New York : Oxford University Press, S. 32. 21 So z.B. Nelson, J. O. (1989): „Are There Inalienable Rights?“, Philosophy 64 (250), S. 521; als Reaktion darauf Leavitt, F. J. (1992): „Inalienable Rights“, Philosophy 67 (259), S. 115–8.
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Kapitel II: Der Begriff eines subjektiven Rechts
Recht‘ logisch möglich ist, muss also diese Prämisse akzeptiert werden, dass ein Recht auch normative Nachteile mit sich ziehen kann. Es scheint aber auch keine konzeptuelle Notwendigkeit zu bestehen, den Begriff ‚Recht‘ in diesem ausschließlichen Sinn zu verstehen. Zwar verstehen wir Rechte als etwas, was der Rechtsgutträgerin grundsätzlich „zugutekommt“, dies impliziert aber nicht, dass es ihr ausschließlich und immer zum Vorteil gereicht. Nun aber zur Frage, welche normativen Beziehungen in einem Recht enthalten sein können. Hierbei scheint unter angelsächsischen Rechtstheoretikerinnen eine weit verbreitete Einigkeit zu bestehen, dass die Basis einer Analyse von Rechten von Wesley Hohfeld geschaffen wurde.22 Seine Begrifflichkeit ermöglicht die Definition von Rechten durch Zerlegung in ihre Einzelteile, da er ihre elementare Struktur von Rechten mit einer einmaligen Klarheit aufgeschlüsselt hat. Eine Erläuterung der verschiedenen Begriffe, die Hohfeld eingeführt hat, liefert somit das Werkzeug, mit dem in dieser Untersuchung die Rechte analysiert werden können.23 Im Folgenden werden seine Grundpositionen vorgestellt, darunter die vier möglichen normativen Vorteile, die in einem Recht begriffen sein können. Sie definieren jeweils eine spezifische Art von Rechten, indem sie jeweils das Rechtsobjekt O als normative Proposition spezifizieren.24 (a) Anspruch (claim) Besitzt ein Individuum einen Anspruch gegenüber einer oder mehreren anderen Personen, dann ist dieser dadurch charakterisiert, dass die anderen Personen eine Pflicht gegenüber dem Individuum besitzen, etwas Bestimmtes zu tun oder zu unterlassen.25 Anspruchsrechte implizieren also Pflichten der Rechtsadressatin B gegenüber der Rechtsträgerin A. Es kann per Definition festgelegt werden, dass ein Anspruch nur dann gegeben ist, wenn eine andere Person eine Pflicht besitzt. Der Begriff ‚Anspruch‘ wird somit sehr technisch als etwas beschrieben, das notwendig mit einer Pflicht einhergeht. Hohfeld würde behaupten, dass, wann immer eine Person eine Pflicht besitzt, der Person, welcher die Erfüllung derselben geschuldet ist, ein Anspruch zukommt.
22 Kritisch gegenüber Hohfelds Analyse sind u.a. MacCormick, N. (1977): „Rights in Legislation“, in: Hacker, P. M. S./Raz, J. (Hrsg.): Law, Morality, and Society: Essays in Honour of H. L. A. Hart, Oxford: Clarendon, S. 189–209; Raz, J. 1980, S. 68–86. 23 Dabei wird weniger auf Hohfelds Thesen Bezug genommen, sondern hauptsächlich seine Begrifflichkeit übernommen. 24 Für eine erstmalige Darstellung der Hohfeld‘schen Positionen in der deutschsprachigen Literatur siehe Alexy, R. (2011): Theorie der Grundrechte, orig. 1986, 6. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 159–228. 25 Zum Ganzen ebd. S. 171–94.
2. Begriffsbestimmung
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Diese Aussage ist streitbar. Nicht jede Pflicht impliziert ein zugehöriges Anspruchsrecht.26 So gibt es z.B. „Wohltätigkeitspflichten“, bei denen eine Person eine bestimmte gutmütige Handlung ausüben soll. Wobei aber die Behauptung, die begünstigte Person besitze ein Recht darauf, von der gutmütigen Handlung zu profitieren, nicht angemessen scheint. Ebenso stellt sich z.B. bei bestimmten „Bürgerpflichten“ die Frage, wem sie geschuldet sein könnten. Man besitzt u.a. eine Pflicht, Steuern zu zahlen und es lässt sich hierbei keine Person oder Instanz identifizieren, welche einen Anspruch auf diese Steuern besitzt.27 Bspw. kann eine Sozialhilfeempfängerin bei einer wohlhabenden Steuersünderin nicht die Bezahlung der Steuern einfordern. Es wäre aber auch seltsam zu sagen, der Staat habe das Recht auf diese Steuern. Ähnlich gestaltet es sich bei einer allgemeinen Wehrpflicht. Die sog. „Korrelativitätsthese“ besagt, dass Pflichten und Ansprüche miteinander äquivalent sind. Sie wird hier abgelehnt. Ansprüche stellen einen paradigmatischen Fall von Rechten dar. Individuen besitzen den Vorteil gegenüber anderen Personen oder Institutionen, dass diese etwas Bestimmtes tun (oder unterlassen) sollen. Wir werden später sehen, dass die philosophische Diskussion über unveräußerliche Rechte starken Bezug auf Anspruchsrechte nimmt. In Abgrenzung zu Privilegien, welche im folgenden Absatz beschrieben werden, ist es wichtig zu sehen, dass das Objekt O eine verpflichtete Handlung einer anderen Person B beinhaltet. Jene soll etwas tun oder unterlassen. (b) Privileg, Freiheit (privilege, liberty) Ein „Privileg“ ist grundsätzlich die Freiheit einer Rechtsträgerin A, etwas zu tun oder zu unterlassen. Immer dann, wenn eine Person ein Privileg in Bezug auf eine Handlung (Unterlassung) innehat, dann besitzen andere Personen B keinen Anspruch auf die Nicht-Handlung (Handlung).28 Aus der Tatsache, dass andere Personen keinen Anspruch besitzen, folgt wiederum, dass die Rechtsträgerin keine Pflicht besitzt, dasselbe nicht zu tun (zu tun). Es handelt sich hier also um einen normativen Vorteil, der die Freiheit bestimmter Entscheidungen gegenüber normativen Ansprüchen anderer Personen deklariert. Das Rechtsobjekt O ist hierbei eine Handlung der Rechtsträgerin A selbst. Sie besitzt somit ein Privileg auf ihre eigene Handlung. D.h. keine Handlung der Rechtsadressatin B ist im Objekt enthalten. Die Rechtsadressatin besitzt lediglich ein Nicht-Recht. Streng genommen bezieht sich ein Privileg immer bloß auf eine Handlung. Ein Individuum ist frei etwas zu tun; was noch nicht bedeutet, dass es auch frei ist, die Handlung zu unterlassen. Wenn nun ein Individuum eine bestimmte 26 Siehe Feinberg, J. (1966): „Rights, Duties, and Claims“, American Philosophical Quarterly 3 (2), S. 140 ff. 27 Sumner, L. W. 2013, S. 358. 28 Zum Ganzen Alexy, R. 2011, S. 195–210.
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Kapitel II: Der Begriff eines subjektiven Rechts
Pflicht besitzt, etwas zu tun, dann besitzt es i.d.R. auch das Privileg, diese Handlung auszuüben, es besitzt jedoch nicht das Privileg, die verpflichtete Handlung nicht auszuüben (dies folgt logisch aus der Pflicht). In diesem Fall besteht eine „unilaterale Freiheit“, etwas zu tun. Der Gegensatz dazu bildet eine „bilaterale Freiheit“, etwas zu tun oder nicht zu tun.29 Auf diesen Unterschied wird noch vermehrt Bezug genommen. Als klassisches Beispiel für ein Privileg kann das Recht auf freie Meinungsäußerung dienen:30 Wenn eine Person ein solches Recht besitzt, haben andere Personen kein Recht darauf, dass Meinungsäußerungen nicht gemacht werden. A besitzt keine Pflicht, ihre Meinung nicht zu äußern. Privilegien sind allerdings auch sonst allgegenwärtig in unserem Alltagsleben und nur selten können sie in einem liberalen System durch andere Personen oder vom Staat gerechtfertigterweise beschnitten werden. Man darf sich z.B. frei bewegen, sich niederlassen, wo man will. Man darf eine Beziehung führen, mit wem man will (solange es sich um eine mündige Person handelt, die nicht verwandt ist) und diese Person heiraten usw. Es ist wichtig, sich den Unterschied zwischen einem Anspruch und einem Privileg vor Augen zu halten.31 Ein Anspruch bedingt Pflichten anderer Personen gegenüber der Rechtsträgerin. Wenn eine Person A bspw. ein Eigentum auf ein Fahrzeug besitzt, dann darf Person B ihr dieses nicht entwenden, es sei denn sie erhält die Erlaubnis dazu. Person B hat also eine Unterlassungspflicht. Ein Privileg hingegen beschreibt lediglich eine rechtliche Freiheit. Die Rechtsträgerin besitzt keine Pflicht etwas Bestimmtes nicht zu tun. Will eine Person A mit ihrem Fahrzeug zur Arbeit fahren, dann hat eine Person B kein Recht, dass A dies nicht tut (und A besitzt keine Pflicht, dies nicht zu tun). Der logische Unterschied zwischen Ansprüchen und Privilegien ergibt sich auch mit Blick auf das Bezugsobjekt O. Ein Anspruch von A besteht in einer verpflichteten Handlung von B. Bei einem Privileg von A ist O eine Handlung der Rechtsträgerin A selbst. So kann ein Privileg auch als „aktives Recht“ bezeichnet werden. Die Rechtsträgerin kann aufgrund des Rechts etwas Bestimmtes tun. Dies steht im Gegensatz zu „passiven Rechten“, wie bspw. einem Anspruch, durch welchen es der Rechtsträgerin weder erlaubt noch verboten ist selbst eine bestimmte Handlung auszuüben. Sie profitiert lediglich von normativen Einschränkungen anderer Individuen.32
29 Vgl. Hart, H. L. A. (1982): „Legal Rights“, orig. 1973, in: Hart, H. L. A. (Hrsg.): Essays on Bentham: Studies in Jurisprudence and Social Philosophy, New York: Clarendon, S. 167; Sumner, L. W. 2013, S. 356 f. 30 Das Recht auf freie Meinungsäußerung kann m.E. nicht hinreichend durch ein Privileg beschrieben werden. Es enthält zusätzlich auch sog. „Immunitäten“. Siehe weiter unten. Vgl. dazu auch Lyons, D. (1970): „The Correlativity of Rights and Duties“, Noûs 4 (1), S. 50 f. 31 Wellman, C. 1982, S. 8. 32 Zu dieser Unterscheidung siehe Wenar, L. 2011.
2. Begriffsbestimmung
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Rechte, die hauptsächlich aus bilateralen Privilegien bestehen, werden gemeinhin „Erlaubnisrechte“ genannt. Allerdings ist hier darauf hinzuweisen, dass Erlaubnisrechte in der Literatur meistens nicht als „reine Privilegien“ konzipiert werden. Oftmals werden Erlaubnisrechte zusätzlich als Rechte, an einer Handlung nicht gehindert zu werden, verstanden. Eine solche Position ist allerdings als ein Anspruch zu verstehen und nicht als Privileg. Ein Hohfeld’sches Privileg, etwas zu tun, beinhaltet für sich genommen nicht die Pflicht anderer Personen, die privilegierte Person nicht daran zu hindern. Z.B. besitzt eine Person das Recht auf freie Meinungsäußerung. Sie kann (darf) von dem Privileg Gebrauch machen, indem sie z.B. auf einem Podium ihre Meinung kundtut. Bei dieser Freiheit handelt es sich aber lediglich um einen Nicht-Anspruch der anderen, dass sie dies nicht tut. Die Person besitzt keine Unterlassungspflicht, ihre Meinung nicht kundzutun. Die anderen Individuen dürfen sie aber durchaus daran hindern (solange sie nicht andere Rechtspflichten verletzen), z.B. indem sie durch laute Zwischenrufe die Rednerin stören. Sie besitzen diesbezüglich keine Unterlassungspflicht.33 Tatsächlich gehen Privilegien oftmals mit Ansprüchen einher. Beim Recht auf freie Meinungsäußerung besteht eine Reihe von Ansprüchen, welche die Freiheit in gewisser Weise schützen. So darf die Polizei die Rednerin nicht für das Gesagte verhaften. Sollte ihre Rede zudem in einer Zeitung abgedruckt werden, darf der Artikel nicht vom Staat zensiert werden. Die Rednerin darf auch von anderen Personen nicht physisch daran gehindert werden, aufs Podium zu stehen. Diese Ansprüche sind u.a. Teil des komplexen „Bündels“ des Rechts auf freie Meinungsäußerung.34 Sie sind aber logisch unabhängig vom Privileg. Sie können erstens nicht aus einem solchen abgeleitet werden (aus einem Privileg folgt keine Pflicht jemanden nicht zu hindern) und zweitens kann das Privileg nicht aus einem anderen Anspruch abgeleitet werden (aus einem Anspruch nicht gehindert zu werden folgt nicht das Privileg etwas zu tun).35 (c) Befugnis, Kompetenz, Rechtsmacht (power) Eine „Kompetenz“ oder „Befugnis“ („power“) ist ein normativer Vorteil zweiter Ordnung. Sie beinhaltet nicht direkt eine Erlaubnis, ein Gebot oder Verbot einer Handlung. Sie bezieht sich auf eine rechtliche Position: Das Konzept einer Befugnis bezeichnet die Möglichkeit, normative Nachteile zu erschaffen, aufzuheben, zu verändern.36 Eine Befugnis beinhaltet somit die Freiheit, neue rechtlich-normative Gegebenheiten zu erzeugen. Durch Befugnisse können
33 34
Vgl. Kramer, M. H. 1998, S. 11. Oder sie erwachsen aus anderen (vom spezifischen Recht unabhängigen) Rechtspflich-
ten. 35 36
Vgl. u.a. ebd. S. 14 f. Zum Ganzen Alexy, R. 2011, S. 211–20.
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Kapitel II: Der Begriff eines subjektiven Rechts
Personen mit Pflichten belegt werden oder ihnen können Rechte zugesprochen werden. Eine Person A besitzt dann eine Befugnis über einen normativen Vorteil auf O, wenn sie diesen erstellen, aufheben, transferieren kann. Einhergehend mit der Befugnis besitzen die Rechtsadressatinnen B eine sog. „Subjektion“ (liability) gegenüber A. Die Adressatinnen sind in Bezug auf bestimmte mögliche Verpflichtungen der Rechtsträgerin „unterworfen“. Die Rechtsträgerin A besitzt die Möglichkeit, ihre Ansprüche und Pflichten zu generieren, Privilegien aufzulösen usw. Grundsätzlich besteht jeder Vertrag in einer Ausübung einer Befugnis, da es sich bei Verträgen immer um die Übertragung oder die Neuerschaffung von Rechten und Pflichten handelt. Befugnisse werden in einem modernen Rechtssystem verschiedentlich auch durch staatliche Instanzen erteilt und neuverteilt. Hierbei werden Befugnisse durch Befugnisse geschaffen. Wenn eine Politikerin gewählt wird, dann erhält sie von der wählenden Bevölkerung gewisse Befugnisse. Wenn eine Arbeitnehmerin einen Arbeitsvertrag unterzeichnet, erteilt sie der Arbeitgeberin bzw. der Vorgesetzten die Befugnis, ihr bestimmte Pflichten aufzuerlegen. Hier muss die Unterscheidung zwischen Privilegien und Befugnissen deutlich gemacht werden.37 Es handelt sich bei der Ausübung einer Befugnis nicht bloß um eine Freiheit. Folgendes Beispiel mag dies erläutern. Wenn z.B. ein Sekretär das Recht besitzt, über die Finanzen des Betriebes zu walten und er in einem schwachen Moment auf die Idee kommt, seine private Rechnung im Restaurant mit der Kreditkarte des Betriebes zu begleichen, dann besitzt er zwar die Befugnis dies zu tun, da er mit der Möglichkeit ausgestattet wurde, Zahlungen über die Kreditkarte zu tätigen. Allerdings besitzt er nicht das Privileg (oder besser die Freiheit) dies zu tun. Er besitzt nämlich eine Pflicht, das Geld nicht zu veruntreuen. Der Betrieb kann das Geld zurückfordern oder den Sekretär entlassen, weil er ein Recht des Betriebes missachtet hat. Rechte, die hauptsächlich aus Befugnissen bestehen (zudem keinen Anspruch enthalten), werden mit dem Begriff ‚Gestaltungsrechte‘ bezeichnet.38 Anspruchsrechte, die mit Befugnissen der Rechtsträgerin zu deren Erschaffung, Durchsetzung („Klagebefugnis“) und Abänderung gegenüber allen anderen Individuen einhergehen, werden in der deutschsprachigen Literatur mit dem Terminus ‚absolute Rechte‘ bezeichnet, sie stehen im Gegensatz zu „rela-
37
Vgl. Wellman, C. 1982, S. 9. Vgl. Adomeit, K. (1969): Gestaltungsrechte, Rechtsgeschäfte, Ansprüche: Zur Stellung der Privatautonomie im Rechtssystem, Berlin: Duncker & Humblot. 38
2. Begriffsbestimmung
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tiven Rechten“,39 welchen die Befugnis zur Erschaffung und Durchsetzung nur in Bezug auf spezifische Personen zukommt.40 (d) Immunität (immunity) Eine Immunität ist ebenso ein normativer Vorteil auf zweiter Ebene. Eine Person A ist dann in Bezug auf verschiedene Handlungen (und Sachverhalte) immun, wenn es einer anderen Person B „unmöglich“ ist, den rechtlichen Status von A zu verändern. Es handelt sich dabei um das Gegenstück einer Befugnis. Person A besitzt dann eine Immunität, wenn eine andere Person B keine Befugnis besitzt, die normative Beziehung zu verändern. Normative Nachteile können A nicht aufgebürdet werden. Klassische Beispiele für Immunitäten sind vorzufinden, wenn eine Person Trägerin eines Amtes ist. So besitzt eine Diplomatin weitreichende Immunitäten, da sie für viele Vergehen nicht strafrechtlich belangt werden kann. Aber auch Privatpersonen besitzen sehr zentrale Immunitäten v.a. gegenüber dem Staat, so kann z.B. einer Person grundsätzlich das Wahlrecht nicht entzogen werden. Sie ist, sofern sie nicht straffällig wird, immun gegenüber der Veränderung des rechtlichen Status als Wählerin. Der Staat besitzt keine Befugnis, diesen zu ändern. Eine Immunität impliziert eine „rechtliche Unmöglichkeit“ („Unfähigkeit“) der Rechtsadressatin. Der Begriff der Unmöglichkeit ist, wie wir noch sehen werden, zentral für die Analyse unveräußerlicher Rechte. Es handelt sich dabei um einen normativen Nachteil auf zweiter Stufe. Eine Person oder Institution, welche eine Unmöglichkeit besitzt, kann über Rechte und die dadurch implizierten Nachteile anderer Personen nicht frei verfügen. Es handelt sich also um das Gegenteil einer Befugnis. Hierbei ist es wichtig zu sehen, dass es sich um eine rechtliche oder moralische Unmöglichkeit handelt und nicht um eine „faktische“. D.h. innerhalb eines Normensystems können Pflichten und Privilegien nicht verändert werden. Wenn z.B. behauptet wird, dass es für eine Person unmöglich ist, vor einer Abstimmung das Stimmrecht an eine andere Person zu verkaufen, dann bedeutet dies nicht, dass es in einem bestimmten Land keinen Schwarzmarkt für Stimmen geben kann (bzw. dass es faktisch unmöglich ist). Es ist jedoch der Fall, dass ein Transfer des Rechts innerhalb eines Rechtssystems nicht rechtlich anerkannt wird: Der Verkaufsvertrag ist ungültig und die Käuferin (macht sie von der Stimme Gebrauch) kann z.B. für Urkundenfälschung belangt werden. Sie kann also niemals das Recht auf das Rechtsgut erlangen, rein faktisch aber die Kontrolle darüber. 39
Koziol, H./Welser, R. (2014): Grundriss des Bürgerlichen Rechts, orig. 1970, Kletečka, A. (bearb.), 14. Aufl., Wien: Manz, S. 49. 40 Diese Terminologie wird hier nicht verwendet, weil weiter unten jene Rechte als „absolut“ bezeichnet werden, die der Staat unter keinen Umständen verletzen darf kann. Siehe Kap. IV, 3.1.
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Kapitel II: Der Begriff eines subjektiven Rechts
Anhand der hier eingeführten Positionen ist es nun möglich, den Begriff eines subjektiven Rechts zu bestimmen. Ein Recht beinhaltet immer mindestens einen normativen Vorteil: einen Anspruch, ein Privileg, eine Befugnis oder eine Immunität. Dieser wiederum ist dadurch charakterisiert, dass er einen normativen Nachteil einer anderen Person beinhaltet: eine Pflicht, einen NichtAnspruch, eine Verbindlichkeit oder eine Unmöglichkeit. Somit wird folgendes Hohfeld’sches Verständnis eines Begriffs von Rechten der Abhandlung zugrunde gelegt: R:
Ein Recht enthält einen Anspruch, ein Privileg, eine Befugnis oder eine Immunität (oder eine Kombination derselben normativen Vorteile).
Mit diesem Begriff soll in der Folge gearbeitet werden. Im nächsten Kapitel wird das Konzept eines unveräußerlichen Rechts auf dieser Grundlage definiert. Im Verbleib dieses Kapitels soll nun die Frage gestellt werden, ob dieser Begriff eines subjektiven Rechts angemessen ist. Sind die Bestandteile für die Beschreibung von Rechten notwendig und kann die Summe der Bestandteile alle möglichen Rechte hinreichend erfassen?
3. Diskussion Der Hohfeld’sche Rahmen für die Betrachtung von Rechten besitzt bestimmte methodische Vorteile. Der wohl einschlägigste Vorteil liegt darin, dass sich Rechte und somit sehr komplexe Gegebenheiten auf einfachere normative Beziehungen zwischen zwei oder mehreren Individuen zurückführen lassen. Hohfelds Analyse von Rechten liefert eine Identifikation der einfachen Bausteine, aus denen komplexe Rechte zusammengesetzt sein können. Zugleich wagt sie eine These über den logischen Zusammenhang der einzelnen normativen Beziehungen zueinander, von der aus argumentiert werden kann. Rechte werden zudem durch mehrere unterschiedliche normative Beziehungen charakterisiert, die sich einerseits nicht gegenseitig ausschließen, die andererseits aber auch nicht aufeinander reduzierbar sind. Dadurch ergibt sich ein sehr breites Verständnis von Rechten. Andere Ansätze zur Beschreibung subjektiver Rechte versuchen, wie wir sehen werden, in allen möglichen Rechten jeweils bloß eine der möglichen Hohfeld’schen Positionen zu sehen.
3. Diskussion
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3.1 Reine Anspruchsrechte Hierzu ist zunächst Buchers Konzeption subjektiver Rechte zu nennen.41 Er stellt sich das objektive Recht als ein Gefüge von Normen vor, das hierarchisch strukturiert ist. Eine Norm sei immer ein Sollens-Satz, der sich auf das Verhalten einer Person richtet. Die logische Struktur der Norm sei derjenigen eines Befehls gleich, wobei es bei einer rechtlichen Norm grundsätzlich einer zur Normsetzung ermächtigten Instanz bedarf.42 Das objektive Recht, so Buchers These, sei durch dieses Gefüge vollständig beschrieben.43 Es stellt sich nun die Frage, wie der Begriff eines subjektiven Rechts als ein Teil des so konzipierten Rechtssystems verstanden werden kann.44 Buchers Idee besteht darin, subjektive Rechte als die unterste Stufe des Normgefüges zu definieren, auf welcher die Individuen untereinander „normsetzend“ agieren können. Ein Recht sei die Befugnis eines Individuums, Ansprüche zu generieren und somit andere Individuen zu einer bestimmten Handlung zu verpflichten.45 So besteht nach dieser Auffassung bspw. ein Recht einer Gläubigerin gegenüber einer Schuldnerin darin, die Schulden einfordern zu können. Solange die Gläubigerin dies nicht tut, besteht für die Schuldnerin demgemäß keine Pflicht. Der Anspruch wird erst durch eine Zahlungsaufforderung oder Mahnung generiert.46 In Hohfelds Termini besteht die These darin, dass Rechte ausschließlich Befugnisse sind.47 Insofern können Rechte auf diese Befugnisse reduziert werden. Es gibt nach diesem Verständnis somit keinen einfachen Anspruch, der für sich genommen ein Recht darstellt. Die Tatsache allein, dass eine Person zu etwas verpflichtet ist, impliziert noch kein Recht. Die Pflicht muss durch eine befugte Person generiert worden sein. Einfache Ansprüche, die nicht durch die Willensäußerung eines Individuums generiert werden, begründen keine Rechte.
41
Bucher, E. (1965): Das subjektive Recht als Normsetzungsbefugnis, Tübingen: Mohr Siebeck. 42 Zum Ganzen ebd. S. 46 f. 43 Vgl. ebd. S. 42. 44 Vgl. ebd. S. 7. 45 Ebd. S. 17. Es muss erwähnt werden, dass sich Bucher nicht auf Hohfeld bezieht und somit u.U. sein Verständnis von ‚Befugnis‘ nicht Deckungsgleich mit demjenigen von Hohfeld ist. Für die vorliegende Skizzierung seiner Theorie führt die Übersetzung in das Hohfeld‘sche Raster m.E. nicht zu Verwirrungen. 46 Vgl. Larenz, K. (1977): „Zur Struktur ‚subjektiver Rechte‘“, in: Baur, F./Larenz, K./Wieacker, F. (Hrsg.): Beiträge zur europäischen Rechtsgeschichte und zum geltenden Zivilrecht, FS J. Sontis, München: C. H. Beck, S. 132 f. 47 Der Unterschied zur klassischen Willenstheorie von Rechten, wie sie weiter unten genauer ausgeführt wird, besteht darin, dass ein Anspruchsrecht bei Bucher erst dann bestehen kann, wenn es durch die Befugnis des Individuums quasi ins Leben gerufen wird. Ein Recht nach der besagten Willenstheorie hingegen bedarf nicht eines solchen Aktes der Anspruchserhebung, wobei aber bei jedem Recht eine Befugnis besteht, dieses aufzulösen oder zu transferieren. Siehe Kap. V, 1.1.
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Es zeigt sich hierbei, dass hier Rechte in einem sehr engen Sinn verstanden werden.48 Sie existieren nur dann, wenn die Rechtsinhaberin vom Recht Gebrauch macht, d.i. wenn sie einer anderen Person eine Pflicht aufbürdet. Nun gehen wir aber z.B. davon aus, dass wenn eine Person Eigentum an einem Gegenstand besitzt, für andere Individuen eine Pflicht besteht, Sachbeschädigungen an diesem Gegenstand zu unterlassen. Das Eigentumsrecht, so unser Verständnis, ist hier durch das Strafrecht geschützt. Es bedarf hierbei keiner Willensäußerung der Eigentümerin, dass diese Unterlassungspflicht und damit der Anspruch bestehen soll. Es gibt also entgegen der These Buchers Anspruchsrechte, die nicht durch die Rechtsträgerin erschaffen werden, sondern als solche von einer Anspruchserhebung unabhängig bestehen. Ebenso können nach Buchers Auffassung Privilegien49 nicht als Rechte gelten. Bei Privilegien, so auch Hohfelds Auffassung, handelt es sich um die Abwesenheit eines rechtlichen Anspruches der Rechtsadressatinnen auf das Rechtsobjekt. Da allerdings das Recht durch Normen abschließend beschrieben wird, ist die Abwesenheit einer Norm aus dieser Perspektive eben nicht Teil des subjektiven Rechts. 3.2 Reine Privilegien Gegen die Idee, dass Rechte als Privilegien beschrieben werden können, richtet sich auch die Theorie von Aicher.50 Seiner Meinung nach sind Rechte auf Rechtspflichten reduzierbar, wobei zusätzlich (im Gegensatz zu sonstigen rechtlichen Pflichten), das Individuum bei Nichterfüllung der Pflicht eine „Klagebefugnis“ besitzt.51 Somit wird dem Individuum die Durchsetzung des Rechts delegiert, indem ihm die Befugnis zugestanden wird, das Recht einzufordern. Insofern können durch diesen Ansatz sowohl zivilrechtliche Ansprüche als auch durch strafrechtliche Antragsdelikte geschützte Ansprüche als Rechte erfasst werden. Der Ansatz unterscheidet sich zu Buchers Idee v.a. darin, dass es Anspruchsrechte geben kann, ohne dass Individuen diese Ansprüche selbst generieren. Auch Aichers Ansatz versucht dem subjektiven Recht einen eigenen Stellenwert einzuräumen. Rechte werden als nicht (auf Pflichten) reduzierbare Gegebenheiten aufgefasst. Der Grund, weshalb es einer eigenständigen Kategorie ‚subjektives Recht‘ bedarf, liegt ihm gemäß darin, dass die Klagebefugnis dem Individuum zukommt und nicht dem Staat.
48 Zum Folgenden Kasper, F. (1967): Das subjektive Recht: Begriffsbildung und Bedeutungsmehrheit, Karlsruhe: C. F. Müller, S. 146 ff. 49 Die Rede ist bei Bucher von einem rechtlichen „Dürfen“. Bucher, E. 1965, S. 187. 50 Aicher, J. (1975): Das Eigentum als subjektives Recht: Zugleich ein Beitrag zur Theorie des subjektiven Rechts, Berlin: Duncker & Humblot, S. 53 f. 51 Vgl. ebd. S. 24 f.
3. Diskussion
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Sowohl Buchers als auch Aichers Ansatz haben den Anspruch, das Konzept eines Rechts mit einer sog. „Befehlstheorie“ (oder „Imperativ-Theorie“) des Rechts zu vereinen. Eine solche Theorie reduziert das Recht auf Normen im Sinne von Pflichten, die von einer rechtsstaatlich legitimierten Institution erlassen wurden.52 Bei Bucher wird aus der Idee subjektiver Rechte Sinn gewonnen, indem die rechtliche Generierung der Pflichten auf der Stufe der Individuen (im Gegensatz zu derjenigen der rechtsstaatlich legitimierten Instanz) als Teil des Rechts begriffen wird. Bei Aicher werden Rechte als grundsätzlich aus Pflichten bestehende Entitäten gedacht, die zusätzlich aber die Eigenschaft besitzen, den Individuen die Verfügungsgewalt über die rechtliche Einforderung und Durchsetzung zu gewähren. Beide Ansätze werden der selbst gestellten Aufgabe gerecht, Rechte in diesem befehlstheoretischen Rahmen zu konzipieren. Die Angemessenheit der befehlstheoretischen Beschreibung des subjektiven Rechts wird hingegen als Prämisse für die Analyse von Rechten vorausgesetzt. Wenn man diese Vorstellung des objektiven Rechts nicht teilt,53 dann besteht aber auch keine Notwendigkeit, Rechte in derartiger Weise auf bestimmte normative Beziehungen zu reduzieren.54 Im Gegensatz zu Hohfelds begrifflichem Rahmen, sind die beiden Theorien enger. Es empfiehlt sich daher aus methodischen Gründen eine solche Reduktion nicht vor der Analyse unveräußerlicher Rechte zu vollziehen, um eine möglichst breite Palette möglicher unveräußerlicher Rechte in Betracht ziehen zu können. Eine befehlstheoretische Reduktion ist somit nicht sinnvoll. Nun muss aber die Frage beantwortet werden, ob Hohfelds Rahmen für die Betrachtung von Rechten möglicherweise zu unterbestimmt ist. Wie der Begriff ‚subjektives Recht‘ oben mit R definiert wurde, braucht es seiner Konzeption gemäß lediglich mindestens einen der genannten normativen Vorteile (Anspruch, Privileg, Befugnis, Immunität). Verschiedentlich wird ein Erlaubnisrecht allerdings so aufgefasst, dass mit einem solchen notwendig immer auch eine Pflicht der Rechtsadressatin einhergeht. Entsprechend kann man zur Annahme verleitet sein, dass Ansprüche ein notwendiges Element von Erlaubnisrechten darstellen. Ein Recht (so die Vermutung) kann nicht bloß aus der Freiheit bestehen, etwas zu tun oder zu unterlassen. Diese Freiheit muss auch geschützt werden; z.B. durch eine Pflicht, die Rechtsträgerin nicht an der Ausübung der Freiheit zu hindern. Da es aufgrund der oben gemachten Definition von Rechten genügt, dass mindestens einer der Hohfeld’schen normativen Vorteile besteht, kann man sich ein Recht vorstellen, das ausschließlich aus einem Privileg besteht. Ein solches Recht wird hier als „bloßes Erlaubnisrecht“ („naked liberty“) bezeich52
Vgl. Kunz, K.-L./Mona, M. 2015, S. 92. Für eine ausführliche Kritik an der Befehlstheorie von John Austin siehe nur Hart, H. L. A. (1961): The Concept of Law, Oxford: Clarendon, S. 45 ff.; mit Bezug auf Austin, J. (2011): The Province of Jurisprudence Determined, orig. 1832, London, John Murray. 54 Larenz, K. 1977, S. 138. 53
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net.55 So gesehen ist jede Freiheit, etwas zu tun (oder zu unterlassen), ein Recht, solange keine andere Person einen Anspruch darauf hat, dass man etwas nicht tut (oder unterlässt) bzw. man keine Pflicht besitzt, es zu unterlassen (oder zu tun).56 Der Begriff ‚Recht‘ wird u.U. also sehr „inflationär“ gebraucht, da bei fast allen alltäglichen Handlungen eine solche reine Freiheit besteht. Wenn man bspw. morgens aufsteht, frühstückt, auf die Toilette geht und die Zähne Putzt, hat man dann bereits vier Rechte ausgeübt. Diese Freiheiten scheinen für sich genommen aber noch kein Recht zu begründen, da wir uns den Begriff ‚Recht‘ für moralisch und rechtlich zentrale normative Beziehungen vorbehalten wollen. Wenn schlussendlich jede Handlung eines Individuums als Recht bezeichnet werden kann, besteht die Gefahr, dass der Ausdruck ‚Recht‘ seine rhetorische Kraft in rechtlichen und politischen Diskursen verliert. Ein Begriff von Rechten als reine Freiheiten wird u.a. von Hobbes vertreten.57 In einem vorstaatlichen Urzustand besitzen die Individuen ihm gemäß das natürliche Recht, alles zu tun oder zu unterlassen, was sie für ihren eigenen Selbsterhalt als notwendig empfinden. Sie besitzen einzig die Pflicht sich nicht selbst zu gefährden.58 Hobbes kann hier vorgeworfen werden, dass dasjenige, was er als natürliches Recht bezeichnet, kein Recht ist, da es auf keine Weise geschützt ist. So ist denn auch der von ihm beschriebene Urzustand ein Zustand des „Krieges eines jeden gegen jeden“, weil keine natürlichen Pflichten bestehen, die Freiheiten der anderen nicht zu gefährden. Bei Hobbes wird der Begriff ‚natürliches Recht‘ in einem deskriptiven Sinne zur Beschreibung des Urzustandes verwendet: Die Individuen sind in einem solchen Urzustand grundsätzlich frei. Der Begriff ‚Recht‘ wird somit aber nahezu ad absurdum geführt. Die Individuen genießen eigentlich keine Vorteile, da ihre Freiheiten nicht durch Unterlassungspflichten geschützt sind. Sie können faktisch von ihren natürlichen Rechten kaum Gebrauch machen. Denn sie werden permanent von allen anderen Individuen daran gehindert. Insofern ist die Frage berechtigt, ob bloße Privilegien tatsächlich Rechte sind. Dies ließe nämlich den Hobbes’schen Schluss zu, dass selbst in einem Urzustand des Krieges eines jeden gegen jeden, natürliche Rechte bestehen. Die folgenden Überlegungen müssen hierbei aber in Betracht gezogen werden. Erstens ist die isolierte Betrachtung einer rechtlichen Position des Privilegs (verstanden als nicht Pflicht, etwas zu unterlassen) von großem analytischem Wert. Oftmals, wenn wir auf Rechte Bezug nehmen, ist nicht in erster 55
Auch „unbewehrte Freiheit“ genannt vgl. Alexy, R. 2011, S. 205 ff. Siehe dazu auch Hart, H. L. A. 1982, S. 172 f. 57 Vgl. Martin, R. (2013): „Rights“, in: LaFollette, H. (Hrsg.): The International Encyclopedia of Ethics, http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/9781444367072.wbiee228/ full. 58 Hobbes, T. (1999): Leviathan, orig. 1651, Fetscher, I. (Hrsg.)/Euchner, W. (Üb.), 9. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp, Kap. 14, S. 99. 56
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Linie eine Summe bestehender Pflichten gemeint. Vielmehr wird eine wertende Aussage über die Existenz einer bestimmten Freiheit gemacht, die einem Individuum zukommt oder zukommen soll. Z.B. besitzen Personen in modernen Rechtsstaaten ein Recht auf freie Partnerwahl. Sie besitzen die Freiheit zu wählen, wen sie heiraten wollen. Dabei handelt es sich zunächst um ein Privileg. Diese Freiheit ist erst in einem zweiten Schritt durch Unterlassungspflichten geschützt; u.a. dadurch, dass Zwangsehen verboten sind oder dadurch, dass der Gemeinderat, die Pfarrerin, die Standesbeamtin, die Eltern und Verwandten usw. ein zukünftiges Ehepaar nicht an ihrem Eheschluss hindern dürfen. Hart motiviert zur Erläuterung folgendes Bild von Rechten: Sie bestehen meist aus Privilegien, die aber durch einen „Schutzwall“ von Ansprüchen (und damit einhergehenden Pflichten) geschützt werden.59 Nun kommen diese Pflichten anderer Personen und Institutionen tatsächlich kaum (d.h. nur im Konfliktfall) zum Zug. Viel zentraler ist bei einem Recht, dass die Freiheit ausgeübt werden kann. Die Freiheit befindet sich sozusagen im Zentrum eines Rechts und liefert den rechtlichen oder moralischen Grund für die Anerkennung eines Rechts.60 Eine Reduktion von Rechten auf Ansprüche und Pflichten wäre insofern verkürzt, als dass sie das Element des Privilegs übersieht, welches das Recht in erster Linie begründet. Viele Rechte ermöglichen Aktivitäten der Rechtsträgerin. Erst wenn diese Aktivitäten mit denjenigen anderer Individuen konfligieren, muss ihre Ausübung geschützt werden. Der Vorwurf des inflationären Gebrauchs des Begriffes ‚Recht‘ kann zudem einfach in Kauf genommen werden. So gesehen besteht bereits ein Recht, wenn eine Freiheit ausgeübt werden darf, bei der niemand einen Anspruch besitzt, dass sie nicht ausgeübt wird. Wenn man am Morgen aufsteht, die Zähne putzt usw. übt man also tatsächlich bereits eine Rechte aus. Für den Moment ist eine Festlegung auf die Behauptung, ein Privileg sei alleine noch kein Recht, nicht notwendig, da ein inflationärer Gebrauch des Begriffes ‚Recht‘ für sich genommen kein Problem für die Analyse von Rechten darstellt. Die vorgeschlagenen Bedingungen des Begriffs ‚Recht‘ sind somit zwar u.U. zu weit gefasst, da auch alltägliche Handlungsfreiheiten als Rechte anerkannt werden. Jedoch kann die rechtliche Position eines Privilegs durchaus normative Beziehungen erklären, die in Rechten enthalten sind. Der Verweis auf einen möglichen inflationären Gebrauch ist somit kein Totschlagargument. Man könnte aber auch argumentieren, dass Erlaubnisrechte immer nur in einem Bündel normativer Beziehungen bestehen. Ein Privileg geht dieser Auffassung gemäß immer mit einer Reihe von Anspruchsrechten einher, welche das Privileg schützen. Die Definition R müsste somit angepasst werden:
59 60
Hart spricht von einem „protective perimeter“ Hart, H. L. A. 1982, S. 171 ff. Vgl. Sumner, L. W. 2013, S. 357.
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R’:
Ein Recht enthält ein Privileg und mindestens einen Anspruch, eine Befugnis oder eine Immunität (oder eine Kombination derselben normativen Vorteile).
Obwohl diese Definition enger gefasst ist als oben, schließen sich die beiden Definitionen nicht aus. Der weiter oben bestimmte Begriff R enthält alle Entitäten, welche unter R’ fallen. Allerdings scheint, die Diskussion über die Möglichkeit der Existenz reiner Erlaubnisrechte darauf hinzuweisen, dass für die Bestimmung, was Rechte sind, weitere Einschränkungen gemacht werden können. Die ursprünglich formulierte Definition ist nicht hinreichend, sondern bestimmt zunächst, was notwendig für ein Recht gegeben sein muss. Um genauer zu bestimmen, was ein Recht ist, muss gefragt werden,61 was das verbindende Element eines Rechts sein kann bzw. welche weiteren Eigenschaften Rechten zugeschrieben werden können. Diese Frage kann nur durch eine Theorie der Rechte beantwortet werden. Dazu kommen wir jedoch erst in Kap. V. 3.3 Spezifische Privilegien Das Problem des inflationären Gebrauchs der Bezeichnung ‚Recht‘ für jedwede Freiheiten erkennt auch Schmidt, der davon ausgeht, dass ein Recht immer ein Konglomerat aus Privilegien und Ansprüchen darstellen muss.62 Ein Recht habe eine sog. „Right-privilege-Struktur“. Am Anfang seiner Konzeption steht die Idee, dass eine bloße Freiheit etwas zu tun, welche gleichsam alle Individuen (man könnte sagen „von Natur aus“) besitzen, kein Recht begründet. Erlaubnisrechte (reine Privilegien) seien hingegen „relative Freiheiten“, welche eine Person im Gegensatz zu anderen Personen besitzt. Die bloße Negation der Pflicht, wie Hohfeld ein Privileg bestimmt, sei also nicht hinreichend. Es müsse sich um ein Privileg handeln, das andere nicht besitzen.63 Damit also eine Freiheit, etwas zu tun oder zu unterlassen, zu einem Recht würde, müssten andere Individuen, welche nicht mit demselben Recht ausgestattet sind, die Pflicht besitzen, diese Freiheit nicht auszuüben. Schmidt nimmt somit die Konklusion der beiden (von der Befehlstheorie inspirierten) Theorien von Bucher und Aicher auf: Die Rede von einem Recht als bloße Freiheit erscheine hier gar „überflüssig, sinnlos“.64 Er wendet sich aber insofern gegen die Imperativtheorie,65 als er Privilegien als gleichrangige Klasse normativer Beziehungen ansieht, wie Ansprüche. So besteht Schmidts These darin, dass es sich bei Privilegien, die allen zukommen, nicht um Rechte handeln kann, da ein Recht ein relativer Vorteil einer Person gegenüber anderen Personen sein muss. Reine Freiheiten können somit nicht als Rechte gewertet werden. Es scheint nachvollziehbar, dass z.B. 61
Vgl. ebd. S. 360. Schmidt, J. (1969): Aktionsberechtigung und Vermögensberechtigung: Ein Beitrag zur Theorie des subjektiven Rechtes, Köln: Carl Heymanns, S. 32 ff. 63 Zum Ganzen ebd. S. 17 ff. 64 Vgl. nur Bucher, E. 1965, S. 53 f.; Aicher, J. 1975, S. 53 f. 65 Schmidt, J. 1969, S. 25 ff. 62
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eine Freiheit zu atmen, die jeder Mensch wohl von Natur aus besitzt, nicht ein Recht auf Atmen beinhaltet. Es stellt sich aber m.E. die Frage, ob die Tatsache, dass eine bestimmte Freiheit allen Mitgliedern einer Gesellschaft zukommt, ein Recht ausschließt. So gesehen wären auch Grundrechte (wie bspw. die Glaubensfreiheit oder die Niederlassungsfreiheit) keine Rechte, weil sie allen Individuen gleichsam zukommen.66 Ein Privileg – verstanden als eine Freiheit etwas zu tun und die Nicht-Pflicht etwas zu unterlassen – bedingt somit nicht, dass andere Personen eine Pflicht besitzen müssen, dasselbe nicht zu tun. Die Voraussetzung, dass Rechte notwendig Pflichten anderer Personen enthalten, ist insofern zu stark. 3.4 Weitere rechtliche Positionen Hohfelds analytischer Rahmen besitzt gegenüber den Theorien von Bucher und Aicher erstens den Vorteil, dass anhand der unterschiedlichen Positionen eine Vielzahl unterschiedlicher Rechte erfasst werden kann. Zweitens ist Hohfelds Ansatz nicht von einer bestimmten Theorie des objektiven Rechts (in diesem Fall der Befehlstheorie) abgeleitet. Wie bereits erwähnt wurde, scheint ein engeres Konzept eines Rechts nur dann notwendig, wenn es dadurch mit einer zugrundeliegenden Theorie des Rechts in Einklang gebracht werden kann. Dem Hohfeld’schen Ansatz kann aber ebenso vorgeworfen werden, er sei zu eng. In einer sehr ausführlichen Auseinandersetzung mit dem Begriff subjektiver Rechte erweitert Schulev-Steindl das Schema Hohfelds um eine weitere Form von Rechten bzw. rechtlicher Positionen. Sie definiert sog. „Subjektionsrechte“, die aus einer oben erläuterten Subjektion (einer Nicht-Immunität) bestehen, welche allerdings die betroffene Person „begünstigt“.67 So sei z.B. das Recht auf Eheschließung damit verbunden, dass eine Standesbeamtin die Befugnis besitze, den rechtlichen Status der Heiratswilligen zu verändern, d.h. ihnen Rechte und Pflichten aufzuerlegen. So gesehen besteht das Recht zu heiraten in einer Subjektion. Die Personen, die rechtlich ermächtigt sind, zu heiraten, „unterwerfen“ sich quasi der Befugnis der Standesbeamtin. Eine minderjährige Person hingegen besitzt dieses Recht nicht und ist dadurch gegenüber volljährigen Personen benachteiligt.68 Es scheint sich also bei dieser Subjektion um etwas zu handeln, das Personen zugutekommt, das allerdings keinen normativen Vorteil (im Hohfeld’schen Sinn) darstellt.
66 Vgl. Kritik an einer solchen „Privilegien-Theorie“ in Adomeit, K. 1969, S. 12.; mit Bezug auf Seckel, E. (1954): Die Gestaltungsrechte des Bürgerlichen Rechts: Festgabe für Richard Koch, orig. 1903, Berlin: Wissenschaftliche Buchgemeinschaft, S. 211. 67 Schulev-Steindl, E. 2008, S. 115 ff. 68 Vgl. Wellman, C. (1985): A Theory of Rights: Persons under Laws, Institutions, and Morals, Totowa, NJ: Rowman & Allanheld, S. 86 f.
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Ein weiteres Beispiel sieht Schulev-Steindl im sog. „passiven Wahlrecht“.69 Eine Person, die nicht staatsangehörig ist, besitzt meistens kein Recht darauf, vom Volk als Abgeordnete ins Parlament gewählt zu werden. Dies bedeutet, dass die Mitglieder der Gesellschaft nicht befugt sind, der Person das Recht zu erteilen, ihnen als Mitglied der Legislative Gesetze aufzuerlegen. Ist die Person jedoch staatsangehörig, besitzt sie das passive Recht, gewählt zu werden. Das passive Wahlrecht kann somit als eine begünstigende Subjektion verstanden werden. Wenn Subjektionen nun aber Rechte begründen könnten, würde dies erstens bedeuten, dass die vier vorgeschlagenen Hohfeld’schen Positionen nicht abschließend alle Rechte beschreiben können. Zweitens würde dies auch bedeuten, dass ein Recht nicht notwendigerweise aus einem normativen Vorteil bestehen muss. Der Begriff des Rechts müsste also um eine Position erweitert werden. R’’:
Ein Recht enthält einen Anspruch, ein Privileg, eine Befugnis, eine Immunität oder eine Subjektion (oder eine Kombination derselben normativen Beziehungen).
Zunächst muss festgehalten werden, dass nicht jede Subjektion notwendig auch ein Recht darstellt. Wenn bspw. die Polizei befugt ist, die Persönlichkeitsrechte einer Person zu verletzen, indem sie aufgrund eines Verdachts ihr Haus durchsucht, dann ist die Subjektion der Polizei gegenüber nicht als Recht zu verstehen. Die Subjektion muss also weiter qualifiziert werden, damit sie ein Recht darstellen kann. Es darf zudem nicht der Fall sein, dass eine Subjektion quasi als Nebenprodukt einem anderen Recht anhaftet; so z.B. beim Recht auf Staatsbürgerschaft, wobei die Ansprüche und Privilegien usw. mit der Subjektion unter ein bestimmtes Rechtssystem einhergehen. Eine solche mit einem anderen Recht „verknüpfte Subjektion“ wäre nicht unvereinbar mit der oben gemachten Definition R, da ein Recht nicht ausschließlich aus normativen Vorteilen bestehen muss, sondern auch normative Nachteile mit sich bringen kann (wobei aber mindestens ein solcher Vorteil gegeben sein muss). Wir konzentrieren uns also auf Fälle, bei denen ein Recht prima facie aus einer Subjektion besteht. Dies scheint beim passiven Wahlrecht der Fall zu sein. Wenn es das Ziel der Analyse von Rechten ist, möglichst die juristische Gebrauchsweise des Ausdrucks ‚Recht‘ nachzuempfinden, dann ist eine Bezeichnung des passiven Wahlrechts als Recht sicher sinnvoll. Das Beispiel des Rechts zu heiraten, führt m.E. aber nicht zwingend zu Konklusion, dass Subjektionen Rechte sein können. Die Standesbeamtin wird zunächst von den Heiratswilligen beauftragt, ihren rechtlichen Status zu ändern. Vor diesem Auftrag sind sie ihr noch nicht subjiziert. Insofern ist dieses Recht eher so zu verstehen, dass die Rechtsträgerinnen eine Möglichkeit besitzen, die Standesbeamtin dahingehend zu befugen, ihren rechtlichen Status zu ändern. Sie begeben sich freiwillig in eine Subjektion hinein. Insofern scheint die Ü69
Schulev-Steindl, E. 2008, S. 117.
3. Diskussion
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bertragung von Rechten nicht anders zu verlaufen, als bei einem Arbeitsvertrag, in dem eine Arbeitnehmerin der Arbeitgeberin Befugnisse erteilt. Das Beispiel des passiven Wahlrechts ist einschlägiger. Ein solches kann tatsächlich weder als Anspruch noch als Privileg konzipiert werden. Die Wählerinnen sind nicht verpflichtet, die Person zu wählen. Ebenso besteht die Wahl nicht in einem Privileg. Denn die zu wählende Person kann sich nicht alleine Befugnisse verschaffen. Es handelt sich also um eine Subjektion tout court. Die Qualität, welche gemäß Schulev-Steindl einem passiven Wahlrecht neben der Subjektion zukommt, ist nun diejenige, dass es sich für die zu wählende Person um eine „begünstigte Position“ handelt.70 Das Kriterium der Begünstigung ist aber sehr schwammig. Es scheint nicht der Fall zu sein, dass alle normativen Beziehungen, die eine Person in gewisser Weise begünstigen, immer ein Recht darstellen. Die Begünstigung durch eine normative Relation (Vorteil oder Nachteil) ist also nicht hinreichend für ein Recht. Es ergibt sich sodann das Problem, dass man sich auch andere normative Nachteile denken kann, die begünstigend wirken, die aber nicht als Rechte gelten.71 Es ist dann nicht klar, weshalb nur begünstigende Subjektionen Rechte darstellen und nicht auch andere normative Nachteile. Wie Schulev-Steindl aufzeigt, besteht grundsätzlich die Möglichkeit, den Begriff von Rechten durch Subjektionen zu erweitern. Das Kriterium der Begünstigung ist allerdings zu unterbestimmt. Es müssen im Falle des passiven Wahlrechts weitere Bedingungen angegeben werden, die es als Recht qualifizieren. Aufgrund der analytischen Klarheit werden hier normative Nachteile nicht als Rechte aufgefasst. Rechte implizieren gemäß der vertretenen Konzeption immer mindestens einen normativen Vorteil. Diese Einschränkung wird hier auch gewählt, zumal es schwierig ist, gedanklich ein unveräußerliches Subjektionsrecht zu konstruieren. Somit ist die Existenz solcher Rechte für diese Untersuchung unerheblich.
70
Der Einfachheit halber wird angenommen, dass die Möglichkeit, in ein Amt gewählt zu werden, eine begünstigende Position ist. In manchen Vereinen und Organisationen sind bestimmte Ämter und Aufgaben nicht beliebt, weshalb ein passives Wahlrecht eher als unangenehm empfunden werden kann. Die Person, welche sich der Wahl stellt, tut dies u.U. nur deshalb, weil jemand die Funktion wahrnehmen muss und somit als Gefallen gegenüber den anderen Mitgliedern. 71 Vgl. Kramer, M. H. 1998, S. 20.
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Kapitel II: Der Begriff eines subjektiven Rechts
4. Zusammenfassung Rechte werden als soziale Beziehungen aufgefasst. Sie bestehen zwischen Individuen und sind somit eine intersubjektive Gegebenheit. Rechte beschreiben ein Verhältnis zwischen einer Rechtsträgerin und einer Rechtsadressatin in Bezug auf ein Objekt. Dieses Objekt ist nicht notwendigerweise ein Gegenstand oder Zustand. Es bezieht sich vielmehr auf Handlungen der Rechtsträgerin oder Handlungen der Rechtsadressatin. Ein Recht beschreibt, welche Handlungen verboten, geboten, erlaubt oder rechtlich möglich sind. Somit werden Rechte als deontische Gegebenheiten erachtet. Anhand eines Hohfeld’schen Schemas wurde zwischen normativen Vorteilen und Nachteilen unterschieden. Erstere sind durch „Ansprüche“, „Privilegien“, „Befugnisse“ oder „Immunitäten“ gegeben. Diese Vorteile korrelieren der Reihe nach jeweils mit normativen Nachteilen: „Pflichten“, „Nicht-Ansprüche“, „Subjektionen“ und „Unmöglichkeiten“. Ein Recht beinhaltet mindestens einen normativen Vorteil, welcher der Rechtsträgerin zukommt. Ein und dasselbe Recht besteht aber meistens aus einem Bündel solcher Vorteile. Es muss sich zudem nicht ausschließlich um Vorteile handeln, die der Rechtsträgerin zukommen. Das Recht kann auch normative Nachteile der Rechtsträgerin mit sich bringen. In der Folge wird nun geklärt, was ‚Unveräußerlichkeit‘ eines Rechts bedeutet, d.h. welche normative Beziehung die Unveräußerlichkeit eines Rechtes bezeichnen kann. Des Weiteren muss erläutert werden, welche Formen unveräußerlicher Rechte möglich sind. Bei dieser Bestimmung werden ausschließlich die hier definierten Hohfeld’schen Positionen verwendet.
Kapitel III
Der Begriff eines unveräußerlichen Rechts Anhand der Hohfeld’schen Positionen kann nun der Begriff ‚unveräußerliches Recht‘ analysiert werden. In diesem Kapitel wird gezeigt, dass es sich bei einem unveräußerlichen Recht um einen „normativen Vorteil“ handelt, der mit einer „Unmöglichkeit“ zur Veräußerung des Vorteils einhergeht. Zunächst wird die Idee der Veräußerung eines Rechts erläutert und abgegrenzt. Der Begriff der Unveräußerlichkeit wird dann bestimmt und in Abgrenzung zu anderen möglichen Konzeptionen der Unveräußerlichkeit von Rechten verteidigt. Es werden zudem mögliche Formen unveräußerlicher Rechte dargestellt. Erneut ist darauf hinzuweisen, dass in dieser Untersuchung eine Analyse der Form unveräußerlicher Rechte vorgenommen werden soll und dass keine substantiell wertende Aussage über die Richtigkeit oder Werthaftigkeit bestimmter unveräußerlicher Rechte gemacht wird. Wenn ein spezifisches juridisches Recht als Beispiel für ein unveräußerliches Recht verwendet wird, bedeutet dies noch nicht, dass dieses Recht auch in einem normativen Sinn unveräußerlich sein soll.
1. Begriffsbestimmung Der Begriff ‚unveräußerliches Recht‘ enthält zwei Bedingungen: Es impliziert erstens mindestens einen normativen Vorteil und zweitens die Unmöglichkeit, den normativen Vorteil aufzugeben. Umgekehrt besteht die Unmöglichkeit, andere Personen von den normativen Nachteilen, die das Recht beinhaltet, zu befreien. Ein unveräußerliches Recht ist somit ein Komplex Hohfeld’scher Positionen. UVR: Ein unveräußerliches Recht beinhaltet mindestens einem normativen Vorteil (Anspruch, Privileg, Befugnis oder Immunität) und die Unmöglichkeit diesen freiwillig aufzuheben.
Drei zentrale Eigenschaften des Begriffs müssen hervorgehoben werden: (1) Bei der Erläuterung unterschiedlicher Veräußerungsformen wird sich zeigen, dass eine Veräußerung notwendigerweise die Aufgabe eines Rechts mit sich bringt. Die Veräußerung kann entweder im Verzicht auf ein Recht oder in einem Transfer des Rechts bestehen. Auch im letzteren Fall ist eine Aufgabe des Rechts gegeben.
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Kapitel III: Der Begriff eines unveräußerlichen Rechts
(2) Das Bezugsobjekt der Unmöglichkeit ist eine Rechtshandlung – der potentielle Verzicht oder eine Übertragung der normativen Vorteile des Rechts. Die Unmöglichkeit bezieht sich auf das Recht selbst. Es handelt sich somit nicht um eine rechtliche Unmöglichkeit, die sich nicht auf das eigene Recht bezieht. (3) Das unveräußerliche Recht wird als ein „Bündel“, bestehend aus mehreren Hohfeld’schen Positionen, konzipiert. Die Unmöglichkeit zur Aufgabe der normativen Vorteile ist Teil dieses Bündels und somit Teil des subjektiven Rechts. Sind mehrere normative Vorteile in einem Recht zusammengefasst, besteht die Unveräußerlichkeit in Bezug auf die Gesamtheit dieser Vorteile und somit auf das Recht als Ganzes. (4) Die beiden Bedingungen (dass einerseits ein normativer Vorteil und andererseits die Unmöglichkeit besteht, diesen normativen Vorteil freiwillig abzutreten) können nicht als eine hinreichende Definition für des Begriffs ‚unveräußerliches Recht‘ gesehen werden. Es bedarf zusätzlich einer Idee davon, welche normativen Vorteile ein und demselben Recht angehören. Um dies zu erläutern, müssen drei mögliche Formen der Bestimmung eines Rechts unterschieden werden. Erstens ist eine „atomistische Bestimmung“ von Rechten möglich. In diesem Fall besteht ein Recht jeweils aus nur einem normativen Vorteil. Eine solche Herangehensweise würde allerdings die Möglichkeit unveräußerlicher Rechte von vornherein ausschließen, da jenes immer aus mindestens zwei Hohfeld’schen Positionen besteht (einem normativen Vorteil und einer Unmöglichkeit). Des Weiteren wird hier aber auch die These vertreten, dass eine atomistische Betrachtungsweise von Rechten grundsätzlich nicht fähig ist, subjektive Rechte in all ihren Dimensionen zu erfassen.1 In der Diskussion über die Bedeutung von Eigentumsrechten (innerhalb eines Hohfeld’schen Schemas) wird die Vielfältigkeit eines Rechts augenscheinlich. Ein Eigentumsrecht besteht nicht bloß in einem Privileg zur Nutzung einer Sache, sondern auch in Ansprüchen (dass andere Personen die Sache nicht nutzen, entwenden, beschädigen etc. dürfen) und in einer Vielzahl von Befugnissen zur Übertragung und zur Auflösung der Ansprüche.2 Zweitens besteht die Möglichkeit, die Gegebenheit einzelner normativer Vorteile (und ggf. Nachteile) als hinreichende Bedingungen für ein Recht zu erachten. Wie bereits angedeutet, besteht bei einer solchen Analyse das Problem, dass nicht bestimmt werden kann, welche normativen Relationen zu einem bestimmten Recht zusammengefasst werden können und welche nicht. Die Zusammengehörigkeit der normativen Relationen kann dadurch nicht aufgezeigt werden. Eine Aussage über das Bestehen einer Hohfeld’schen Position 1
Dazu einschlägig Wellman, C. 1985, S. 58 ff. Vgl. z.B. Honoré, A. M. (1961): „Ownership“, in: Guest, A. G. (Hrsg.): Oxford Essays in Jurisprudence, London: Oxford University Press, S. 107–47. 2
1. Begriffsbestimmung
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enthält für sich genommen keine Informationen darüber, mit welchen anderen Positionen sie zu ein und demselben Recht zusammengefasst werden. Wie weiter unten noch ausgeführt werden muss, ist der Zusammenhang zwischen den normativen Vorteilen und der Unmöglichkeit der Aufgabe dieser Vorteile nicht als „einfache Koexistenz“ zu verstehen. Es gibt Unmöglichkeiten der Veräußerung eines Rechts, die aufgrund bestimmter rechtlicher Einschränkungen gelten, die aber mit dem Recht selbst nichts zu tun haben. Es gibt sog. „de jure“ Unmöglichkeiten,3 ein Recht unter bestimmten Umständen zu veräußern. Ebenso kann einer Person aufgrund von Inkompetenz temporär die Befugnis, ein Recht zu veräußern, abhandenkommen. Die Koinzidenz eines normativen Vorteiles mit der Unmöglichkeit der Veräußerung desselben ist in diesen Fällen nur kontingenterweise gegeben. Die Unmöglichkeit ist nicht Teil des subjektiven Rechts. Es braucht also ein umfassendes Verständnis eines Rechts, bestehend aus allen seinen möglichen normativen Positionen. Die Unmöglichkeit muss sich auf die Aufgabe aller (oder zumindest der wesentlichen Elemente) dieses Rechts beziehen. Die reine Zerlegung eines Rechts in seine einzelnen normativen Relationen kann unveräußerliche Rechte nicht hinreichend erfassen. Drittens muss deshalb angenommen werden, dass einem Recht jeweils ein bestimmter substantieller Kern immanent ist, welcher das Recht definiert. Ein solcher könnte auch das „Rechtsgut“ genannt werden. Um ein Recht als solches identifizieren zu können bzw. bestimmte normative Relationen als dem Recht zugehörig zu bestimmen und gewisse davon auszuschließen, bedarf es einer Interpretation der rechtlichen (und moralischen) „Intuitionen“, anhand welcher die Annahme eines substantiellen Kerns des Recht gerechtfertigt werden kann. Der Vorwurf liegt hier zwar nahe, dass ein solcher Kern des Rechts eine „mystische“ Entität darstellt, deren Existenz anhand von Beobachtungen des objektiven Rechts nicht verifiziert werden kann. Wie allerdings das Beispiel des Eigentumsrechts zeigt, setzt sowohl ein alltagssprachlicher als auch juristischer Gebrauch des Begriffes ‚Recht‘ bereits die Zusammengehörigkeit mehrerer normativer Relationen voraus. Es besteht grundsätzlich die Idee, dass es sich dabei nicht um eine bloße Koinzidenz dieser Positionen handelt. Die Annahme eines substantiellen Kerns des Rechts scheint deshalb eine Voraussetzung für das Verständnis von Rechten darzustellen. Sie kann als eine minimale „ontologische Verpflichtung“ verstanden werden.4
3
Unter 3.1. Siehe Quine, W. V. (1948): „On What There Is“, The Review of Metaphysics 2 (1), S. 33 f.; zur Erläuterung Gibson, R. F. (1999): „Ontological Comitment“, in: Audi, R. (Hrsg.): The Cambridge Dictionary of Philosophy, 2. Aufl., New York: Cambridge University Press, S. 631. 4
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Kapitel III: Der Begriff eines unveräußerlichen Rechts
Damit muss nicht ausgeschlossen sein, dass sich eine intuitive Zusammengehörigkeit über die Zeit ändern kann bzw. kulturell unterschiedlich wahrgenommen werden kann. Die Vorstellung des Rechts, welches in einem reflexiven Prozess bestimmt wird, ist also von unseren (positiven) rechtlichen und moralischen Überzeugungen abhängig und damit einem Wandel dieser moralisch-rechtlichen Einstellungen unterworfen. Nichtsdestotrotz sind wir aber grundsätzlich fähig, über bestimmte Rechte zu sprechen und diese klar zu definieren und abzugrenzen. Die oben vorgeschlagene Analyse UVR bestimmt also zwei notwendige Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, damit ein unveräußerliches Recht vorliegt. Damit nun ein Verständnis der Bedeutung dieser Bestimmung hergestellt werden kann, bedarf es nun weiterer Ausführungen darüber, was wir unter ‚Veräußerung‘ verstehen und was der Begriff ‚rechtliche Unmöglichkeit‘ beinhaltet bzw. wovon er sich abgrenzt. Zunächst sollen aber die unterschiedlichen Formen unveräußerlicher Rechte anhand der Hohfeld’schen Grundbegriffe dargestellt werden. 1.1 Mögliche Formen unveräußerlicher Rechte Die einfachsten Formen unveräußerlicher Rechte bestehen jeweils aus einem normativen Vorteil und der Unmöglichkeit, denselben aufzugeben oder zu transferieren. (a) Unveräußerlicher Anspruch In unserem Rechtssystem sind Ansprüche jene Positionen, die am ehesten als Kandidat für ein unveräußerliches Recht infrage kommen können. Ein unveräußerlicher Anspruch ist gegeben, wenn es der Rechtsträgerin unmöglich ist, denselben freiwillig aufzugeben. D.h. es ist der Rechtsträgerin unmöglich, die Rechtsadressatinnen von Pflichten zu entbinden.5 Bei einem unveräußerlichen Anspruchsrecht kann eine Person die Einschränkung, Verletzung oder Missachtung. eines Rechts nicht durch Einwilligung rechtfertigen. Ein klassisches Beispiel dafür kann im Recht auf Leben gesehen werden. Eine Person besitzt grundsätzlich ein Recht darauf, nicht getötet zu werden. Dieses impliziert eine Unterlassungspflicht (das Tötungsverbot), welche nicht durch Einwilligung aufgelöst werden kann. Somit ist nicht nur die Tötung verboten, sondern auch die Tötung auf Verlangen, was wiederum eine Entbindung von der Unterlassungspflicht verunmöglicht. Auf dieses Beispiel wird in dieser Untersuchung noch vermehrt Bezug genommen.
5
Vgl. Meyers, D. T. (1985): Inalienable Rights: A Defense, New York: Columbia University Press, S. 28.
1. Begriffsbestimmung
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(b) Unveräußerliches Privileg Unveräußerliche Privilegien sind hingegen nicht einfach zu konzipieren. Da in einem liberalen Staat die meisten Freiheiten durch Vertrag auflösbar sind, soll hier ein eher fiktives Beispiel für die Erläuterung eines unveräußerlichen Privilegs herangezogen werden. Man kann sich z.B. eine Person vorstellen, die freiwillig ins Gefängnis gehen will und dadurch ein „Recht auf Bewegungsfreiheit“ aufgibt. Grundsätzlich besitzt das Individuum die rechtlich anerkannte Möglichkeit, sich frei zu bewegen.6 Durch eine freiwillige Inhaftierung würde die Person dieses Privileg hingegen aufgeben und der Strafvollzugsanstalt den Anspruch verleihen, sie festzuhalten; d.i. sich selbst die Pflicht auferlegen, das Gefängnis nicht zu verlassen. Ein solcher Verzicht auf die Freiheit gegenüber der staatlichen Institution wäre wohl in den meisten Rechtsstaaten nicht gültig. Insofern geht die Bewegungsfreiheit (verstanden als Privileg) mit einer Unmöglichkeit der Veräußerung einher.7 Eine Person kann zwar auf unterschiedliche Weisen ihr Recht auf Bewegungsfreiheit teilweise vertraglich oder rechtsgeschäftlich auflösen. Dies bedeutet aber noch nicht, dass das grundlegende Recht auf Bewegungsfreiheit veräußerbar ist. Die Inhaftierung, wie sie in diesem Beispiel beschrieben wird, ist ein gänzlicher Verzicht auf das Recht, welches verschiedene Bewegungsfreiheiten in sich begreift. Einzelne dieser Freiheiten sind veräußerlich, nicht aber ihre Gesamtheit. Gewisse Grundrechte können ebenso als unveräußerliche Privilegien interpretiert werden; so bspw. ein Recht auf Niederlassungsfreiheit, ein Recht auf Glaubens- und Gesinnungsfreiheit u.a.m.8 Sofern man auf diese Freiheiten nicht verzichten kann (indem man sich selbst rechtlich zur Nicht-Ausübung verpflichtet), handelt es sich dabei um unveräußerliche Rechte.9
6 Solange niemand einen Anspruch darauf besitzt, dass sich die Person nicht an einem Ort aufhält (z.B. bei Privatgrundstücken oder Betretungsverboten), besteht ein Nicht-Recht darauf, dass die Person dies nicht tut. 7 Wenn nun eine Person inhaftiert werden will, dann kann sie dies nicht durch Äußerung ihres Willens tun, sondern muss straffällig werden und ihr Recht auf Bewegungsfreiheit dadurch „verwirken“. Es handelt sich dabei aber nicht um eine Veräußerung. Mehr zu diesem Unterschied unter Kap. IV, 3.1. 8 Z.B. ist Frances Hutcheson ein Vertreter einer unveräußerlichen Gesinnungsfreiheit. Vgl. Hutcheson, F. (1755): A System of Moral Philosophy, Bd. 1, https://archive.org/ details/systemmoralphilo01hutc, S. 261 9 Vgl. Kap. IV, 5.3.
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Kapitel III: Der Begriff eines unveräußerlichen Rechts
(c) Unveräußerliche Befugnis Es gibt aber auch unveräußerliche Hohfeld’sche Positionen zweiter Ordnung. So kann es auch Befugnisse geben, die man nicht freiwillig aufgeben kann. Bspw. Wird ein Wahlrecht gemeinhin als eine solche Befugnis konzipiert. Die Wahlberechtigten können durch den Akt des Wählens gemeinsam den rechtlichen Status einer Person verändern. Sie können ihr die Kompetenz erteilen, Pflichten auferlegen und Privilegien einräumen. Die Wahlberechtigten können diese Befugnis bzw. ihren Anteil an der gemeinsamen Befugnis aller Berechtigten (der Wahlbevölkerung) aber nicht transferieren. Sie können ihre Stimme weder verschenken, noch verkaufen. Es ist ihnen somit nicht möglich, einen rechtlich gültigen Vertrag abzuschließen, der die Übertragung der Stimme oder des Wahlzettels beinhaltet. So gesehen kann das Wahlrecht als ein unveräußerliches Recht konzipiert werden, da eine Befugnis mit einer Unmöglichkeit einhergeht, diese zu transferieren. Es stellt sich jedoch die Frage, ob ein Wahlrecht freiwillig aufgegeben werden kann bzw. ob eine Person eine rechtlich gültige Verzichtserklärung unterzeichnen kann. Sollte dies der Fall sein, so wäre auch ein Wahlrecht ein teilweise veräußerliches Recht, welches zwar nicht übertragen, dennoch aber aufgegeben werden kann. Konsequenterweise ist aber auch diese Möglichkeit durch die Unveräußerlichkeit des Rechts ausgeschlossen.10 Dieser Sachverhalt ist überdies nicht damit zu verwechseln, dass eine Person nicht wählen geht. In diesem Fall macht sie von ihrer Befugnis keinen Gebrauch, sie behält diese jedoch und tritt sie dadurch nicht ab. (d) Unveräußerliche Immunität Es gibt auch Immunitäten, die unveräußerlich sein können. Z.B. kann die „Freiheit vor Sklaverei“ als eine solche Immunität konzipiert werden.11 Eine Person besitzt hierbei keine Befugnis, den rechtlichen Status einer anderen Person derart zu verändern, dass sie in Bezug auf alle ihre Handlungen verpflichtet werden kann, zu gehorchen. Die Individuen in unserer Gesellschaft sind immun gegen eine solche Form der Unterwerfung. Sie können eine solche Immunität nicht freiwillig aufgeben, da ein Vertrag, in dem eine Person sich selbst versklavt, nicht gültig ist. Auf dieses Beispiel wird weiter unten noch zurückzukommen sein.12 Da aber ein Recht auf Freiheit vor Sklaverei sehr komplex ist und aus unterschiedlichen Immunitäten, Privilegien und Ansprüchen besteht, soll hier ein anderes Beispiel zur Illustration herangezogen werden. In einem Arbeitsvertrag verleiht die Arbeitnehmerin für gewöhnlich der Arbeitgeberin Befugnisse, ihr Pflichten aufzuerlegen. Nun ist aber nicht jede einzelne Dienstpflicht in einem Arbeitsvertrag spezifiziert, sondern nur der grundsätzliche Aufgaben10
Ebd. Vgl. z.B. MacCormick, N. 1977, S. 195. 12 Siehe 3.2. 11
1. Begriffsbestimmung
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bereich, in dem Pflichten entstehen können. Wenn man sich nun einen Arbeitsvertrag vorstellt, Kraft dessen die Arbeitgeberin z.B. die Befugnis besitzt, die Arbeitnehmerin jederzeit zum Geschlechtsverkehr zu verpflichten, ist der Vertrag in modernen Rechtsstaaten ungültig. Die Arbeitnehmerin besitzt nicht die Möglichkeit, ihre Immunität in Bezug auf sexuelle Handlungen aufzugeben.13 Die Freiheit (die Immunität) vor einer solchen Subjektion stellt ein unveräußerliches Recht dar, bestehend aus der Immunität und der Unmöglichkeit, diese mittels vertraglicher Vereinbarung aufzugeben. Zusammengefasst kann also festgestellt werden, dass unveräußerliche Rechte aus allen genannten Hohfeld’schen normativen Vorteilen bestehen können. Diese unterschiedlichen Arten unveräußerlicher Rechte bilden somit die Grundformen. Auf sie wird bei der Beschreibung und Interpretation spezifischer Rechte vermehrt Bezug genommen. 1.2 Unveräußerliche Rechte und Immunitäten Wenn ein unveräußerliches Recht eine Unmöglichkeit der Aufgabe oder des Transfers eines Rechts darstellt, dann geht nach Hohfeld’scher Logik damit notwendig eine Immunität einher. Ist es einer Person B unmöglich, den rechtlichen Status einer Person A abzuändern (d.i. ihre normativen Vor- oder Nachteile aufzulösen bzw. neue Vor- oder Nachteile zu schaffen), dann ist die Person A gegenüber B immun. Es stellt sich sodann die Frage, wem diese Immunität im Falle eines unveräußerlichen Rechts zukommt. Ein Vorschlag für die Zuordnung der Immunität soll hier kurz diskutiert werden. Thomson behauptet, ein unveräußerliches Recht stelle eine Immunität der Rechtsträgerin gegenüber sich selbst dar.14 Dies erscheint zunächst plausibel, da bei unveräußerlichen Rechten der rechtliche Status der Rechtsträgerin nicht angetastet werden kann. Es ist der Person unmöglich, sich selbst Pflichten, Nicht-Rechte, Subjektionen und Unmöglichkeiten durch einen freiwilligen Akt der Veräußerung aufzuerlegen. Zu einer ähnlichen These verpflichtet sich auch Wellman. Er argumentiert umgekehrt, dass eine Person eine Befugnis gegenüber sich selbst besitzen kann. Sein Beispiel bezieht sich auf die Einwilligung in die „schwere Körperverletzung“ im Falle eines medizinischen Eingriffs. Die Person, die einwilligt, gibt ein Anspruchsrecht auf körperliche Unversehrtheit auf bzw. stellt die Chirurgin von ihrer Unterlassungspflicht frei.15 Sie verändert somit ihren eigenen
13
Dieser Vertrag entspricht nicht gewöhnlicher Prostitution, wobei eine prostituierende Person einmalig den Geschlechtsverkehr „duldet“ (in diesem Fall gibt sie einmalig den Anspruch auf, dass die Freierin keine sexuellen Handlungen mit ihr ausübt). Vielmehr könnte dieser Arbeitsvertrag wohl als eine Form der „Sex-Sklaverei“ beschrieben werden. 14 Thomson, J. J. 1990, S. 59. „[I]f there are inalienable rights, then each of us have some immunities against ourselves.“ 15 Vgl. Wellman, C. 1985, S. 24 f.
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Kapitel III: Der Begriff eines unveräußerlichen Rechts
rechtlichen Status. Zugleich ist sie quasi ihrem eigenen freien Willen unterworfen, sobald sie einwilligt. Stellen wir uns nun eine Operation vor, in die man rechtlich nicht einwilligen kann (d.h. man kann die Körperverletzung nicht durch Einwilligung rechtfertigen); z.B. eine Genitalverstümmelung. Wenn wir hier die entgegengesetzte Argumentation Wellmans anwenden, dann kann der Fall wie folgt analysiert werden: Die Patientin besitzt das Gegenteil einer Befugnis – eine Unmöglichkeit – den eigenen rechtlichen Status zu verändern. Sie kann das Anspruchsecht auf körperliche Unversehrtheit auflösen und sie kann die Chirurgin nicht von der Pflicht zur Unterlassung der Körperverletzung befreien. Der Anspruch auf körperliche Unversehrtheit im Genitalbereich ist somit ein unveräußerliches Recht. Wellman wäre aufgrund des hier dargelegten Zusammenhangs also gezwungen, Thomsons These zu unterstützen, dass ein unveräußerliches Recht eine Immunität gegenüber sich selbst begründet. Nun ist aber nicht klar, ob eine Person sich selbst gegenüber immun sein kann. Dies wäre wohl nicht im Sinne vieler Rechtstheoretikerinnen. Wie wir im vorangehenden Kapitel bei der Festlegung auf die Definition eines Rechts R angenommen haben,16 ist ein Recht (und somit bereits eine einfache Hohfeld’sche Position) eine Relation zwischen mindestens zwei Individuen; einer Rechtsträgerin A und einer Rechtsadressatin B. Die Rechtsadressatin fiele aber im Falle einer Immunität gegenüber sich selbst mit der Rechtsträgerin zusammen. Dies entspricht einerseits nicht der Ansicht von Hohfeld und widerspricht andererseits der grundlegenderen Idee, dass Rechte notwendig interpersonell aufzufassen sind. Da eine Immunität aus der hier vorgeschlagenen Logik der Rechtspositionen folgt, muss also geklärt werden, wem sie zukommt. Betrachten wir das umgekehrte Beispiel von Wellman. Hier kann ebenso die These vertreten werden, dass die Chirurgin gegenüber der Patientin immun ist: Die Pflicht zur Unterlassung der Körperverletzung kann nicht missachtet werden; was zugleich bedeutet, dass die Chirurgin das Privileg nicht erlangen kann, die Körperverletzung gerechtfertigterweise durchzuführen. Insofern kann durch Einwilligung der rechtliche Status der Chirurgin nicht geändert werden. Die Chirurgin ist gegenüber einer solchen Änderung immun. Wenn umgekehrt die Patientin bei einer normalen Operation die Befugnis besitzt, die Chirurgin durch Einwilligung von ihrer Unterlassungspflicht zu erlösen, dann ist sie nicht notwendigerweise gegenüber sich selbst subjiziert. Der rechtliche Status der Chirurgin kann dadurch verändert werden, dass die Patientin einwilligt. Sie erhält ein Privileg, den Eingriff durchzuführen und sie wird von der Pflicht entbunden. So gesehen unterliegt sie einer Subjektion.17
16 17
Kap. II, 2. So auch Schulev-Steindl, E. 2008, S. 119 f.
2. Der Begriff der Veräußerung
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Dies ist deshalb möglich, weil bei einer Immunität nicht notwendigerweise eine Unmöglichkeit besteht, normative Vorteile aufzulösen oder Nachteile aufzuerlegen. Es ist auch denkbar, dass es der Rechtsadressatin unmöglich ist, normative Vorteile zu verleihen oder Nachteile aufzuheben. Befugnisse wurden hier als Möglichkeiten beschrieben, den rechtlichen Status zu verändern; dies unabhängig davon, ob normative Vor- oder Nachteile geschaffen werden.18 Im Falle eines unveräußerlichen Rechts muss der Rechtsträgerin also nicht notwendigerweise eine Immunität zukommen.
2. Der Begriff der Veräußerung Bei einer Veräußerung handelt sich grundsätzlich um eine Handlung der Rechtsträgerin. Diese ist bis zu einem bestimmten Grad bewusst und beabsichtigt. Wir verstehen unter einer Veräußerungshandlung somit nicht den Verlust oder Entzug eines Rechts. Es ist prinzipiell nicht unmöglich, dass man ein nicht-veräußerliches Recht verliert oder dass es gerechtfertigterweise missachtet wird. Denn wenn ein Recht missachtet oder einer Person entzogen wird, handelt es sich um eine Handlung von Drittpersonen oder Institutionen und nicht um eine Handlung der Rechtsträgerin selbst. Wesentlich für eine Veräußerungshandlung ist der Aspekt der Freiwilligkeit.19 Eine Veräußerung geschieht durch einen Akt des Einverständnisses, wobei dies entweder ausdrücklich oder stillschweigend sein kann. Eine Veräußerungshandlung kann zudem nur durch eine Person ausgeübt werden und somit kommen unveräußerliche Rechte nur Personen zu. Die Handlung der Veräußerung bewirkt eine Änderung der normativen Beziehungen zwischen zwei oder mehreren Individuen. Parallel zur Beschreibung Beziehungen subjektiver Rechte kann hier zwischen „spezifischer“ und „genereller“ Veräußerung unterschieden werden. Erstere geschieht vornehmlich durch Vertrag. Z.B. kann eine Grundstückseigentümerin einer spezifischen Person erlauben, ihren Garten zu betreten. Dem entgegen kann sie aber auch ihr Grundstück der Allgemeinheit vermachen, damit es z.B. als öffentlicher Park genutzt wird. In letzterem Fall veräußert sie generell das Anspruchsrecht auf die Unterlassung des Betretens des Grundstückes.
18 So ist vergleichsweise das Stimm- und Wahlrecht eine Befugnis in zweierlei Hinsicht. Ein Ausübung generiert nicht nur Ansprüche und Privilegien, Befugnisse und Immunitäten, sondern auch Pflichten, Nicht-Ansprüche, Subjektionen und Unmöglichkeiten für die gewählte Person. 19 Zum Ganzen Moser, E. (2016): „Unveräusserliche Rechte und objektive Werte: Erläuterungen zum Begriff, zur moralischen Dimension und zum Problem der Rechtfertigung“, in: Abraham, M./Zimmermann, T./Zucca-Soest, S. (Hrsg.): Vorbedingungen des Rechts, Stuttgart: Steiner, S. 147 f.
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Kapitel III: Der Begriff eines unveräußerlichen Rechts
2.1 Bedeutung und Formulierungen Findet eine Veräußerung statt, löst sich ein Recht auf oder es wechselt die Besitzerin. Es gibt hierbei verschiedene Beschreibungen desjenigen, was die vormalige Rechtsadressatin nunmehr tun oder unterlassen kann bzw. darf. Man könnte den Sachverhalt so beschreiben, dass das ursprüngliche Recht, indem es veräußert wurde, nun „verletzt werden darf“. Eine solche Ausdrucksweise legt nahe, dass der Rechtsadressatin eine grundsätzlich verwerfliche Handlung ermöglicht wird, dass diese jedoch durch den Akt der Veräußerung gerechtfertigt wurde. In Bezug auf Veräußerung von Eigentumsrechten ist diese Formulierung unglücklich, da eine Übernahme von Eigentum nur in Ausnahmefällen verwerflich ist. Man würde nicht sagen, dass eine Person durch einen Kaufvertrag, die Erlaubnis besitzt das Recht einer anderen Person zu verletzen. McConnell spricht von einer „Beeinträchtigung“ bzw. einem „Eingriff“ („encroachment“) in das Recht einer anderen Person.20 Diese spezielle Formulierung wird gewählt, um zum Ausdruck zu bringen, dass die Individuen grundsätzlich ein Recht behalten können, obwohl sie einer anderen Person die Erlaubnis erteilen, dieses nicht zu beachten.21 Ebenso wird manchmal der Ausdruck: „ein Recht darf missachtet werden“, verwendet. Diese Formulierung suggeriert eine einmalige Handlung, die durch Veräußerung erlaubt ist, deren Wiederholung jedoch untersagt bleibt. Durch die Veräußerung eines Rechts ist eine andere Person also gerechtfertigt, das Recht zu missachten, zu verletzen, es zu beeinträchtigen usw. Es wird ihr erlaubt, bestimmte Handlungen zu tätigen, die vormals durch das Recht und damit die normativen Nachteile verboten oder unmöglich waren. Diese und weitere Formulierungen wechseln sich in dieser Untersuchung gegenseitig ab und werden je nach Kontext (teils äquivok) gebraucht, um den Sachverhalt angemessen zu beschreiben. Es ist allerdings wichtig, sich vor Augen zu halten, dass in Bezug auf die Veränderung der normativen Verhältnisse, die bei einer Veräußerung eines Rechts vonstattengeht, kein substantieller Unterschied besteht. Eine Veräußerung ist immer eine Änderung der normativen Beziehungen.22 Normative Nachteile der Rechtsadressatinnen werden durch Veräußerung aufgelöst, normative Vorteile der Rechtsträgerinnen werden aufgegeben. Unter ‚Veräußerung‘ verstehen wir das Aufheben oder den Transfer eines Anspruchs,
20 McConnell, T. (2000): Inalienable Rights: The Limits of Consent in Medicine and the Law, New York: Oxford University Press, S. 10 f. 21 Ebd. Kap. 1. 22 Vgl. zum Ganzen Imhof, E. (2003): Obligation und subjektives Recht: Eine analytische Untersuchung als Beitrag zur Theorie des subjektiven Rechts, Basel: Helbing & Lichtenhahn, S. 48 ff.
2. Der Begriff der Veräußerung
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Privilegs, einer Befugnis oder Immunität, wodurch gleichzeitig eine Pflicht, ein Nicht-Recht, eine Subjektion oder Unmöglichkeit erlischt.23 Der zentrale Aspekt einer Veräußerung ist die Veränderung des rechtlichen Status der Rechtsträgerin und der Rechtsadressatin. Damit jemand eine Veräußerung tätigen kann, muss sie eine Befugnis besitzen, die normativen Beziehungen aufzuheben oder zu transferieren. Diese Änderung der normativen Relationen muss von einem Nicht-Gebrauch eines Rechts abgegrenzt werden. Ein Recht zu veräußern bedeutet nicht, ein Recht nicht wahrzunehmen. Bei gewissen Rechten kann diesbezüglich Verwirrung bestehen. Betrachten wir folgende Ausnahme: Wenn z.B. eine Grundstückbesitzerin ihren Nachbarn über Jahre hinweg stillschweigend erlaubt, ihren Garten zu durchqueren (bzw. nie opponiert) dann ist es möglich, dass sie nach einer gewissen Zeit auch kein Recht mehr besitzt den Nachbarn die Durchquerung zu verbieten oder ein Verbot rechtlich durchzusetzen. Ihr NichtEingreifen kann als Einverständnis zur Aufgabe des Rechts interpretiert werden. Somit wird ihr konstanter Nicht-Gebrauch des Rechts als implizite Veräußerung gewertet. Es entsteht somit ein Privileg (verstanden als Gewohnheitsrecht), den Garten zu durchqueren. Durch den Nicht-Gebrauch wird so quasi ein Recht veräußert. Dies ist aber weder eine Handlung, noch eine freiwillige Entscheidung und dennoch haben sich die normativen Beziehungen verändert. Ein Nicht-Gebrauch ist jedoch nicht notwendig eine Veräußerung und eine Veräußerung ist nicht bloß ein Nicht-Gebrauch. Dadurch, dass z.B. eine Wahlberechtigte nicht an die Urne geht, gibt sie das zugrundeliegende Recht nicht auf, sie macht davon lediglich im Moment keinen Gebrauch. Durch die Tatsache, dass bei Wahlen jeweils ein großer Teil der Bevölkerung nicht aktiv wird, kann das Wahlrecht nicht grundsätzlich in Frage gestellt.
23 Vgl. Meyers, D. T. 1985, S. 26 f. Im Falle eines Transfers wird der normative Vorteil nicht bloß aufgegeben, sondern auch der veräußernden Person selbst auferlegt. Bei einer Übertragung gibt die Rechtsträgerin das Recht ab und besitzt von nun an kein Recht mehr. Zugleich wird sie selbst zur Rechtsadressatin. Die ursprüngliche Adressatin hingegen wird zur Rechtsträgerin und übernimmt den normativen Vorteil gegenüber der ursprünglichen Trägerin.
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Kapitel III: Der Begriff eines unveräußerlichen Rechts
2.2 Joel Feinberg: Temporär beschränkte Veräußerung Nun soll ein Argument von Feinberg genauer betrachtet werden, das einen relevanten Unterschied zwischen temporär beschränkter und zeitlich unbegrenzter Veräußerung identifiziert.24 Diese Unterscheidung trifft er hauptsächlich um zu zeigen, dass die Unveräußerlichkeit des Rechts auf Leben die Erlaubnis von Sterbehilfe nicht ausschließt.25 Er spricht einerseits von „Aufhebung“ („waiver“), andererseits von „Verzicht“ („relinquishment“). Er illustriert die Differenzierung anhand der drei grundlegenden Rechte, die von der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung als unveräußerlich anerkannt wurden: Leben, Freiheit und Eigentum. Sein Ziel ist, zu zeigen, dass alle diese Rechte temporär, niemals aber zeitlich unbegrenzt veräußerbar sein sollten. So könne ein einzelnes Eigentumsrecht ohne weiteres transferiert oder abgetreten werden. Nicht aufgegeben werden könne hingegen das grundlegende Recht, Eigentum auf bestimmte Güter zu erwerben und zu besitzen. Ein solches Recht ist aus einer plausiblen naturrechtlichen Perspektive ein unveräußerliches Recht. Die Veräußerbarkeit von Freiheitsrechten ist demgemäß ebenso zeitlich beschränkt. Man kann einerseits zwar z.B. einen sehr freiheitsbeschränkenden Arbeitsvertrag unterzeichnen, aus dem Pflichten über den Aufenthaltsort und die Dauer und eine Vielzahl von Handlungen und Unterlassungen erwachsen können. Man kann sich andererseits aber nicht freiwillig in Sklaverei begeben. Letztere Freiheitsaufgabe ist gemäß Feinberg dadurch charakterisiert, dass sie zeitlich endlos ist und alle Freiheiten umfasst (somit auch die Freiheit, aus dem Sklaverei-Verhältnis auszutreten). Insofern sei das Recht auf Freiheit zwar temporär abtretbar, es könne darauf aber nicht gänzlich verzichtet werden. Dieselbe Unterscheidung lässt sich auf das Recht auf Leben anwenden. Hierbei gestaltet sich die Argumentation allerdings komplizierter. Die Veräußerung des Rechts auf Leben durch die individuelle Erlaubnis einer Tötung führt (ob nun bloß temporär oder gänzlich veräußert) immer zu einer kompletten Auflösung des Rechts. Um seinen Ansatz aber zu rechtfertigen, zeigt Feinberg in einem Beispiel auf, dass die temporäre Veräußerung nicht zwangsläufig einen Verzicht darstellen muss.26 Man kann sich eine Gesellschaft vorstellen, in der die Mitglieder einander bei einem jährlich stattfindenden Ritual mit Waffen gegenseitig auf den Tod bekämpfen dürfen. Das Ziel der Teilnehmenden ist es, möglichst viele andere Personen zu töten. Sie einigen sich auf eine zeitlich begrenzte Aufgabe des Rechts auf Leben und entbinden sich gegenseitig von der Pflicht, nicht zu töten. Dieses temporäre Aufgeben sei nun damit vereinbar, dass außerhalb dieses rituellen Kontextes das Recht auf Leben und des24
Vgl. Feinberg, J. (1978): „Voluntary Euthanasia and the Inalienable Right to Life“, Philosophy & Public Affairs 7 (2), S. 114 ff.; siehe auch Midtgaard, S. F. (2015): „NonRenounceable Rights, Paternalism and Autonomy“, Utilitas 27 (3), 250 f. 25 Vgl. ebd. S. 118 ff. und 123. 26 Vgl. ebd. S. 117.; mit Bezug auf Don E. Scheid.
2. Der Begriff der Veräußerung
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sen Unveräußerlichkeit intakt blieben. Ein angemessenes Verständnis des Rechts auf Leben beinhalte deshalb eine normative Differenzierung zwischen der temporären Aufgabe und dem gänzlichen Verzicht. Insofern wäre auch das Recht auf Leben ein unveräußerliches Recht, wobei Sterbehilfe erlaubt sein könnte. Dies wäre auch im Sinne des Schutzes des Rechts, da die Individuen bei der Sterbehilfe stets die Verfügungsgewalt über ihr Recht behielten. Würde man hingegen dafür argumentieren, dass das Recht auf Leben gänzlich veräußerbar sein sollte, nähme man dadurch in Kauf, dass sich jede Person von ihrem Tötungsverbot entbinden lassen könnte. Die „Kontrolle“ über das Recht würde den Individuen abhandenkommen.27 Die Unterscheidung zwischen temporärer Aufhebung und gänzlichem Verzicht erlaubt es Feinberg also, die Idee der Unveräußerlichkeit der Rechte auf Eigentum, Freiheit und Leben mit der Behauptung zu vereinen, dass dieselben Rechte teilweise veräußerbar sind.28 Die Argumentation übersieht jedoch verschiedene zentrale Unterschiede in Bezug auf die Rechte. Erstens wird hier das „Recht auf Eigentum“ mit einer Ansammlung von Eigentumsrechten verwechselt. Ersteres ist eine Befugnis, Eigentum zu erwerben. Eine Person kann sich durch Handel oder Arbeit eine Sache aneignen, wodurch Pflichten für andere Individuen entstehen. Letztere sind hingegen jeweils ein Bündel verschiedener rechtlicher Positionen, wie z.B. Pflichten zur Unterlassung einer Enteignung oder die Befugnis zum Transfer. Wenn eine Person einen Gegenstand besitzt, dann hat dies nur insofern mit dem Recht auf Eigentum zu tun, dass letzteres eine Voraussetzung ersteren ist. Es handelt sich um zwei unterschiedliche Rechte: Das Recht auf Eigentum ist weder temporär, noch gänzlich veräußerbar. Eigentumsrechte sind aber sowohl temporär als auch zeitlich unbegrenzt veräußerbar. Feinbergs Unterscheidung ist somit nicht hilfreich. In Bezug auf das Recht auf Freiheit besitzt die Argumentation eine gewisse Plausibilität. Tatsächlich ist die Zeitspanne, in der gewisse Freiheiten veräußert werden können, rechtlich restringiert. So sind bspw. gewisse Verträge ungültig, weil sich dadurch eine Person „übermäßig bindet“.29 Eine Person kann z.B. bei Verlassen eines Arbeitsgebers nur für eine bestimmte Zeit (gegen eine einmalige Entschädigung) einen Vertrag für ein Konkurrenzverbot unterzeichnen, da sie ansonsten in ihrer Freiheit zu stark eingeschränkt wäre. Eine temporäre Veräußerung von Freiheiten ist hingegen rechtlich möglich. Aber auch hier besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen dem „Recht auf Freiheit“ und der Summe spezifischer Freiheitsrechte. Ersteres besteht hauptsächlich aus einem Bündel von Immunitäten gegenüber dem Staat, der 27
Vgl. ebd. S. 117 f. Für eine pointierte Zusammenfassung und Kritik siehe auch McConnell, T. (1984): „The Nature and Basis of Inalienable Rights“, Law and Philosophy 3 (1), S. 35 ff. 29 Die Verträge sind „sittenwidrig“ oder „übervorteilend“. Siehe Kap. IV, 5.1. 28
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Kapitel III: Der Begriff eines unveräußerlichen Rechts
Gesellschaft und anderen Individuen. Bestimmte Pflichten können einer Person nicht auferlegt werden und gewisse Privilegien können nicht aufgehoben werden. So kann ein moderner Rechtsstaat einer Person bspw. nicht vorschreiben, wen sie zu heiraten hat, welche Arbeit sie ausübt oder welche Ziele sie in der Freizeit verfolgt. Letztere Form von Rechten besteht zumeist in einem Privileg und aus Unterlassungsansprüchen gegenüber anderen Individuen. Die meisten dieser Freiheitsrechte sind veräußerlich, ob temporär beschränkt oder nicht. Feinbergs Argument ist dann schlüssig, wenn das Recht auf Freiheit ausschließlich aus einzelnen Freiheitsrechten besteht, wobei deren Gesamtheit unveräußerlich ist (d.h. nicht gänzlich aufgegeben werden kann, sondern nur temporär beschränkt). Erstens ist aber das Recht auf Freiheit nicht auf einzelne Freiheitsrechte reduzierbar, da es zusätzlich bestimmte Immunitäten enthalten muss. Zweitens ist die These, dass jedes einzelne Freiheitsrecht nicht gänzlich aufgegeben werden kann, zu stark. In Bezug auf das Recht auf Leben scheint die Kategorie einer temporären Veräußerbarkeit eines unveräußerlichen Rechts zudem kaum Sinn zu machen. Wenn eine Person ihr Recht auf Leben (und das Tötungsverbot anderer Personen ihr gegenüber) auflöst, dann ist diese Veräußerung endgültig, sobald die vormalige Rechtsadressatin ihr neu gewonnenes Privileg ausübt. Die Person kann ihr Recht auf Leben nicht zurückerlangen. Deshalb besteht kein Unterschied zwischen der temporären und gänzlichen Veräußerung.30 Das Beispiel, das Feinberg verwendet, um zu zeigen, dass eine temporär beschränkte Veräußerung unter Beibehaltung der grundsätzlichen Unveräußerlichkeit möglich ist, kann auch so gedeutet werden, dass das Recht auf Leben in der beschriebenen Gesellschaft eben nicht unveräußerlich ist und deshalb das Ritual auch keinem solchen Grundrechtsgedanken widerspricht. In unserer Gesellschaft sind solche Rituale hingegen verboten. So wird zum Vergleich in modernen Rechtssystemen die Tradition des Duells auf den Tod nicht mehr fortgeführt. Dies ist sehr wahrscheinlich gerade deshalb der Fall, weil dies nicht mit der Idee der Unveräußerlichkeit des Rechts auf Leben vereinbar ist.
3. Unveräußerlichkeit als rechtliche Unmöglichkeit In der Folge muss nun der Begriff der rechtlichen Unmöglichkeit genauer erläutert werden und von anderen Formen der Unmöglichkeit abgegrenzt werden. Ein unveräußerliches Recht beinhaltet wörtlich verstanden eine normative Anforderung an die Rechtsträgerinnen, dass sie das Rechtsgut nicht veräußern kann oder soll.31 30 31
Vgl. ebd. S. 37. Zum Folgenden Moser, E. 2016, S. 145 f.
3. Unveräußerlichkeit als rechtliche Unmöglichkeit
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Im Kontrast dazu können unveräußerliche Rechte von Eigentumsrechten abgegrenzt werden.32 Eine Person, die ein rechtmäßiges Eigentum an einem Objekt besitzt,33 kann und darf dieses Objekt zu ihren eigenen Zwecken verwenden. Sie besitzt bestimmte Privilegien zur Nutzung. Alle anderen Personen besitzen hingegen keine solchen Privilegien und somit bestimmte Pflichten; so z.B. die Pflicht, ihr dieses Objekt nicht streitig zu machen oder es zu beschädigen. Die Person kann nun aber das Eigentum freiwillig an eine spezifische Person übertragen. Sie kann auch bestimmte Personen von den besagten Pflichten befreien. Sie besitzt also grundsätzlich die Befugnis zum Transfer und zum Verzicht.34 Hierbei geht das Recht auf Besitz an eine andere Partei über oder es erlischt im Falle eines Verzichts vollständig.35 Eine rechtmäßige Eigentümerin ist also durch das Recht in keiner Weise eingeschränkt.36 Ein unveräußerliches Recht ist somit als Gegensatz zu einem Eigentumsrecht zu verstehen. Der mögliche Transfer und der freiwillige Verzicht auf ein unveräußerliches Recht sind durch das Recht selbst eingeschränkt. Die normativen Implikationen, welche zum Schutze der Interessen, Bedürfnisse oder Freiheiten der Inhaberin eines unveräußerlichen Rechts dienen, betreffen also auch die Person, die es besitzt, negativ. Ihr kommt ein normativer Nachteil zu – die rechtliche Unmöglichkeit. Dieser Begriff soll in der Folge weiter abgegrenzt werden. 3.1 Faktische Unmöglichkeit Eine Unmöglichkeit ist als normative Gegebenheit zu verstehen. Eine Person kann gewisse Handlungen innerhalb eines Rechtssystems nicht rechtfertigen bzw. zulassen oder erlauben. Damit ist nicht eine faktische Unmöglichkeit gemeint.
32
Honoré, A. M. 1961, S. 113 f. Für gewöhnlich wird ein Eigentumsrecht nach einem Objekt oder Gegenstand benannt, wobei normative Relationen zwischen Personen bzgl. dessen Besitz, Verwendung, Gebrauch usw. im Recht enthalten sind. Eigentumsrechte werden hier aber deswegen nicht als Recht in rem verstanden. Es handelt sich um ein Bündel Hohfeld‘scher Positionen, die auf Handlungen Bezug nehmen. Siehe dazu Stepanians, M. (2005): „Die angelsächsische Diskussion: Eigentum zwischen ‚Ding‘ und ‚Bündel‘“, in: Eckl, A./Bernd, L. (Hrsg.): Was ist Eigentum? Philosophische Positionen von Platon bis Habermas, München: C. H. Beck, S. 232–45. 34 Ein Eigentumsrecht wird deshalb auch als „Herrschaftsrecht“ bezeichnet siehe u.a. Koziol, H./Welser, R. 2014, S. 48 f. 35 Damit einhergehend werden die vormaligen Pflichten transferiert. Die Person, welche das Recht übernimmt, besitzt nun keine Pflicht mehr, das Gut nicht zu beschädigen und kann es benützen und darüber frei verfügen. Die ursprüngliche Rechtsträgerin übernimmt dieselben Pflichten und gibt ihre Privilegien auf. 36 Unveräußerliche Rechte und Eigentumsrechte werden hier als zwei sich gegenseitig ausschließende Konzepte verstanden, da die rechtliche Möglichkeit zur freiwilligen Aufgabe oder zum Transfer des Rechtsgutes m.E. für ein Eigentumsrecht konstitutiv ist. Ein Eigentumsrecht kann nicht unveräußerlich sein. 33
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Kapitel III: Der Begriff eines unveräußerlichen Rechts
Zur Erläuterung soll erneut das Beispiel des Wahl- und Stimmrechts dienen. Eine wahlberechtigte Person kann ihre Stimme z.B. faktisch an eine korrupte Politikerin verkaufen. Allerdings kann sie dies nicht rechtwirksam tun. Der Vertrag ist nicht gültig und die Politikerin wird, wenn der Kauf publik wird, sanktioniert. Der Begriff ist also nicht mit einer tatsächlichen Unmöglichkeit einer Veräußerung gleichzusetzen. Es ist durchaus der Fall, dass auch in demokratischen Staaten Stimmen verkauft und gekauft werden. Dies stellt aber die rechtliche Unverkäuflichkeit der Stimme nicht in Frage. Es gibt Rechte, bei denen man sich a priori nicht vorstellen kann, dass sie veräußert werden. Z.B. besitzt eine Nobelpreisträgerin ein Recht auf ihren Preis, welches sie nicht übertragen kann. Es ist zwar möglich, das Preisgeld zu verschenken, dadurch kann aber keine andere Person die Anerkennung erlangen, welche der Preisträgerin rechtmäßig zusteht. Ebenso kann die Preisgewinnerin, die Annahme des Preises verweigern, wodurch sie von vornherein nicht zur Rechtsträgerin wird. Besitzt aber eine Person einmal den Status einer Nobelpreisträgerin, kann sie diesen nichtmehr aufgeben. Solche „de facto“ unveräußerlichen Rechte sind für die Frage nach der Rechtfertigung einer Unveräußerlichkeit irrelevant, weil es sich bei der Unveräußerlichkeit um eine normative Einschränkung handeln muss. Nach Hohfeld’scher Logik ist bereits die Abwesenheit einer Befugnis mit einer Unmöglichkeit gleichzusetzen. Diese These wird hier aber nicht vertreten. Damit eine solche als normative Einschränkung der Rechtsträgerin verstanden werden kann, muss davon ausgegangen werden, dass es grundsätzlich möglich wäre, über das Recht zu verfügen. Aus zwei Gründen ist es nicht hinreichend, dass eine bloße Abwesenheit einer Befugnis besteht. Erstens, wird dies bspw. einsichtig, wenn man davon ausgeht, dass Tiere Rechte besitzen. Tiere sind nicht fähig, ihren Willen zum Verzicht eines Rechts zu äußern. Es ist ihnen daher nicht möglich, ihren rechtlichen Status zu verändern. Tiere besitzen aufgrund dieser faktischen Einschränkung auch keine Befugnis, ihr Recht zu veräußern. Es wäre aber absurd Tiere als Trägerinnen unveräußerlicher Rechte anzusehen. Das Prädikat ‚unveräußerlich‘ würde hierbei dem Begriff des Rechts keinerlei Bedeutung hinzufügen. Das Konzept wäre somit zu breit gefasst. Zweitens stellte sich die moralische Frage nach der Rechtfertigung der Unveräußerlichkeit von Rechten nicht, wenn es sich dabei nicht um eine Einschränkung der Rechtsträgerin handeln würde. Wenn sich bspw. zwei Personen verabreden, um einen Kaufvertrag zu unterzeichnen und die Verkäuferin zu diesem Treffen nicht erscheinen kann, weil ihr Zug ausfällt, würde man dies nicht als moralisch rechtfertigungspflichtige Einschränkung der Freiheit ansehen. Faktisch werden aber der Vertrag und dadurch die Veräußerung eines Rechts verunmöglicht.
3. Unveräußerlichkeit als rechtliche Unmöglichkeit
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Die Unmöglichkeit wird somit als normative Einschränkung verstanden. Das bedeutet zunächst, dass sie real existierende oder mögliche Optionen (Rechtshandlungen) einschränkt. Somit wird angenommen, dass eine Unmöglichkeit ein „Können“ impliziert. Der Einfachheit halber soll hier zudem noch eine weitere Einschränkung des Untersuchungsgegenstandes getroffen werden. Viele Rechte, die Kindern zukommen, sind aufgrund von Unmündigkeit unveräußerlich. Die Einwilligung des Kindes in die Aufgabe eines Rechts entfaltet in diesen Fällen keine rechtliche Gültigkeit.37 Insofern sind viele Rechte von Kindern unveräußerlich, da Kinder diese sinnvollerweise nicht rechtswirksam auflösen können. Im Fokus dieser Abhandlung stehen allerdings die rechtlichen Beziehungen erwachsener Personen untereinander (oder gegenüber Institutionen). Diese Einschränkung ist v.a. mit Blick auf die moralische Untersuchung der Freiheitseinschränkung durch unveräußerliche Rechte in Kap. VII–X zielführend. Die Begründung der Unveräußerlichkeit der Rechte von Kindern konzentriert sich (im Gegensatz zu derjenigen bei Erwachsenen) auf die Interpretation des Begriffs der Mündigkeit bzw. die gerechtfertigte Annahme der Gegebenheit der Unmündigkeit. Eine Abhandlung darüber würde erstens aber den Rahmen der Untersuchung sprengen. Zweitens ergibt sich die moralische Brisanz der Freiheitseinschränkung durch unveräußerliche Rechte gerade dadurch, dass grundsätzlich mündige Personen rechtlich eingeschränkt sind. Der Begriff der rechtlichen Unmöglichkeit der Veräußerung eines Rechts soll hier zudem von einer Idee einer logischen Unmöglichkeit der Veräußerung abgegrenzt werden. Man könnte aufgrund der oben vorgeschlagenen Hohfeld’schen Bestimmung eines Rechts zu folgender Analyse verleitet sein: Aufgrund des Diebstahlverbots besitzt jedes Individuum einen Anspruch darauf, nicht bestohlen zu werden. Die Einwilligung, bestohlen zu werden, ist logisch unmöglich, da ein Diebstahl bereits begriffslogisch, das Nicht-Einverständnis der bestohlenen Person in sich enthält. Man könnte somit das Recht (nicht bestohlen zu werden) als unveräußerliches Recht verstehen, da es nicht denkbar ist, den Anspruch freiwillig aufzugeben.38 Ein solcher Anspruch, der unmöglich veräußert werden kann, wird allerdings nicht als unveräußerliches Recht verstanden. Die im Beispiel der Norm des Diebstahlverbots vorgenommene Abstraktion des zugrundeliegenden Rechts ist m.E. mangelhaft. Die Norm sollte als Bestandteil eines komplexen Rechts auf Eigentum gedeutet werden. Das Eigentum einer Person wird durch Unterlassungspflichten geschützt. 37 Kinder können gewisse finanzielle und erzieherische Sorgepflichten ihrer Eltern nicht auflösen. Sie können eine Vielzahl von Verträgen nicht abschließen; Kaufverträge, Arbeitsverträge usw. Strafrechtliche Unterlassungspflichten von Handlungen gegenüber Kindern sind ebenso (im Vergleich zu jenen gegenüber Erwachsenen) in vielen Fällen nicht auflösbar; dies v.a. in Bezug auf sexuelle Handlungen aber auch Körperverletzungen. 38 Mehr dazu in Kap. IV, 5.2.
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Kapitel III: Der Begriff eines unveräußerlichen Rechts
Ein Eigentumsrecht ist hingegen grundsätzlich ein veräußerliches Recht, es kann freiwillig aufgegeben oder transferiert werden. Der Tatbestand ‚Diebstahl‘ manifestiert diese grundsätzliche Veräußerbarkeit des Rechts, indem er einen Sachverhalt beschreibt, in dem zwar ein faktischer Transfer geschieht, wobei aber eine Einwilligung zum Transfer nicht gegeben ist. Anders ausgedrückt: die Einwilligung ist „tatbestandsausschließend“. Zuletzt sind auch normlogische Einschränkungen der Veräußerung von Rechten zu nennen, die für sich genommen ein Recht nicht zu einem unveräußerlichen Recht machen. Z.B. können Verträge mit „widerrechtlichem Inhalt“ keine rechtlichen Beziehungen begründen. Wenn sich eine Person A freiwillig verpflichtet, den Befehlen einer anderen Person B bedingungslos zu gehorchen und die andere Person von ihr verlangt, die Rechte einer Person C zu verletzen, ist A dazu von vornherein nicht verpflichtet. Sie würde die (bereits vor der Vereinbarung bestehenden) Pflichten gegenüber C durch die Erfüllung des Vertrages verletzen.39 Die beiden Rechtspflichten, die vertragliche Pflicht und die Rechtspflicht gegenüber C, schließen sich somit gegenseitig aus. Die Abmachung ist nicht normativ bindend.40 Diese rechtliche Unmöglichkeit wird hier als „de jure“ Unmöglichkeit bezeichnet. Sie ist aber nicht Teil des Rechts einer Person A, sondern ergibt sich aus dem Umstand, dass C ihrerseits Rechte besitzt. Die Unmöglichkeit kommt A nur kontingenterweise zu. Sie ist nicht Teil des Bündels von normativen Positionen, die in einem Recht von A enthalten sind. Die Einschränkungen sowohl de facto, logisch als auch de jure unmöglicher Verträge begründen jeweils kein unveräußerliches Recht. In dieser Untersuchung ist die moralisch-rechtliche Frage nach der Rechtfertigung unveräußerlicher Rechte relevant und deshalb sind nur jene Fälle interessant, in denen eine Veräußerung grundsätzlich möglich ist und nicht im normlogischen Konflikt mit Rechten von Drittpersonen steht. Eine Verwechslung der rechtlichen Unmöglichkeit mit einer faktischen Unmöglichkeit und somit die Gleichsetzung einer Unveräußerlichkeit mit einer solchen „deskriptiven“ Unmöglichkeit ist zu vermeiden. Allerdings gibt es prominente Beispiele für eine solche Gleichsetzung in moralischen Diskursen über unveräußerliche Rechte. Exemplarisch dafür soll hier eines erläutert werden.
39 Vgl. z.B. Barnett, R. E. (1986): „Contract Remedies and Inalienable Rights“, Philosophy of Law 4 (1), S. 186 ff. 40 Die Unveräußerlichkeit (des Privilegs, die Rechte von C nicht zu verletzen) folgt hier normlogisch aus den Implikationen der Rechte von anderen Personen C.
3. Unveräußerlichkeit als rechtliche Unmöglichkeit
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3.2 Jean-Jacques Rousseau: Freiwillige Versklavung Die Verwechslung logischer und faktischer Unmöglichkeit mit einer Unveräußerlichkeit eines Rechts ist nicht so trivial, wie dies aufgrund der vorangehenden Abschnitte den Anschein machen könnte.41 Verschiedene Theorien unveräußerlicher Rechte argumentieren mit dem Nachweis der Unmöglichkeit einer freiwilligen Aufgabe bestimmter Rechte. Sie beziehen sich u.a. auf die Unmöglichkeit zur Selbstversklavung bzw. die Begründung eines sog. unveräußerlichen „Rechts auf Autonomie“. Es sei unmöglich, dieses Recht zu veräußern, ohne dass dadurch ein Widerspruch entstünde.42 Die Veräußerung eines solchen Rechts impliziere die Aufgabe des Status als Person.43 Das Argument der Unmöglichkeit der freiwilligen Veräußerung der eigenen Autonomie soll in der Folge anhand von Rousseaus Argument gegen Sklaverei aufgeschlüsselt werden. Während der Aufklärung wurde im philosophischen Diskurs über die Legitimität der Sklaverei zwischen eher liberalen und konservativen Denkerinnen diskutiert, ob es möglich sei, dass sich eine Person freiwillig selbst versklaven kann. Konservative Verteidigerinnen des Sklaverei-Regimes führten diese Möglichkeit als Argument ins Feld, um dadurch aufzuzeigen, dass Sklaverei nicht notwendigerweise illegitim sein müsse. Sie nahmen dadurch auf die zentrale liberale Annahme Bezug, dass die Einwilligung einer Person in die Veräußerung seiner Rechte grundsätzlich die Aufgabe der Rechte legitimieren kann. Die philosophische Herausforderung der Gegnerinnen der Sklaverei bestand somit darin zu zeigen, dass eine Einwilligung in die Selbstversklavung (bzw. ein gültiger Sklaverei-Vertrag) nicht möglich sei.44 Rousseau fasst in einer einschlägigen Passage des Gesellschaftsvertrags die Argumente unterschiedlicher Autorinnen zusammen, welche eine solche Unmöglichkeit begründen sollten. Die Behauptung, ein Mensch verschenke sich unentgeltlich, ist eine unbegreifliche Albernheit; eine solche Handlung ist schon um deswillen ungesetzlich und nichtig, weil derjenige, der sich zu ihr hergibt, nicht bei gesunder Vernunft ist.
41 Vgl. nur Stern, C. A./Jones, G. M. (2008): „The Coherence of Natural Inalienable Rights“, UMKC Law Review 76 (4), S. 25 ff. 42 Vgl. z.B. Ellerman, D. P. (1992): Property and Contract in Economics: The Case for Economic Democracy, Oxford: Blackwell, S. 124 ff. 43 Hierzu Kuflik, A. (1984): „The Inalienability of Autonomy“, Philosophy & Public Affairs 13 (4), S. 285 ff. 44 Vgl. Ellerman, D. P. (2010): „Inalienable Rights: A Litmus Test for Liberal Theories of Justice“, Law and Philosophy 29, S. 571 ff.
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Kapitel III: Der Begriff eines unveräußerlichen Rechts
Auf seine Freiheit verzichten, heißt auf seine Menschheit, die Menschenrechte, ja selbst auf seine Pflichten verzichten. Wer auf alles verzichtet, für den ist keine Entschädigung möglich. Eine solche Entsagung ist mit der Natur des Menschen unvereinbar, und man entzieht, wenn man seinem Willen alle Freiheit nimmt, seinen Handlungen allen sittlichen Wert. Kurz, es ist ein nichtiger und mit sich selbst in Widerspruch stehender Vertrag, auf der einen Seite eine unumschränkte Macht und auf der andern einen schrankenlosen Gehorsam festzusetzen. Ist es nicht klar, dass man gegen den, von welchem man das Recht hat, alles zu verlangen, zu nichts verpflichtet ist? Zieht diese einzige Bedingung ohne Entschädigung, ohne Gegenleistung nicht die Nichtigkeit des Übereinkommens nach sich? Denn welches Recht könnte mein Sklave gegen mich geltend machen, da alles, was er besitzt, mir gehört, und dadurch, dass sein Recht das meinige ist, dieses mein Recht wider mich selbst, ein Wort ist, das keinen Sinn hat.45
In diesen beiden Absätzen sind gleich drei Begründungen der Unmöglichkeit freiwilliger Versklavung enthalten. Erstens sei die Idee „eine unbegreifliche Albernheit“. Eine Person mit gesundem Menschenverstand würde niemals in die Sklaverei einwilligen. Zweitens impliziere ein Vertrag notwendig eine Gegenleistung. Eine solche würde aber bei einer Versklavung nicht geleistet werden können, da die Sklavenhalterin die Sklavin jederzeit wieder enteignen kann. Drittens entstünde dadurch, dass sich die Person selbst versklavt, ein Widerspruch. Sie würde ihre Eigenschaft als moralisches Wesen, somit ihren eigenen Personenstatus verlieren. Dies stelle eine Kontradiktion dar und sei deshalb eine unmögliche Handlung. Die ersten beiden Argumente sind zwar einleuchtend aber nicht zwingend. Erstens kann man sich eine mündige, wohlinformierte und vernünftige Person grundsätzlich vorstellen, die sich freiwillig in eine Sklaverei begibt. Die freiwillige Selbstversklavung ist zwar unwahrscheinlich aber nicht a priori ausgeschlossen. Der Inhalt des Vertrages enthält keinen Verweis auf die Inkompetenz oder Unmündigkeit einer Person, die ihn abschließen will. Zweitens impliziert ein Vertrag nicht notwendig eine Gegenleistung. Es kann also einen solchen Vertrag geben auch wenn kein Entgelt dafür vereinbart wird oder werden kann. Zudem könnten auch die Angehörigen der Sklavin entlohnt werden. Die Schlüssigkeit der Begründung Rousseaus ist somit von der Gültigkeit des dritten Arguments abhängig. In der Folge soll jenes deshalb genauer untersucht werden. Die darin enthaltene Schlussfolgerung scheint z.B. auch Cassirer zu ziehen, wenn er schreibt:
45 Rousseau, J.-J. (2011): Vom Gesellschaftsvertrag, orig. 1762, Brockard, H. (Üb.)/Pietzcker, E. (bearb.), Stuttgart, Reclam, Buch I, Kap. 4, S. 11 f. Siehe auch weiter unten Kap. IV, 2.
3. Unveräußerlichkeit als rechtliche Unmöglichkeit
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There is, at least, one thing that cannot be ceded or abandoned: the right to personality […] If a man could give up his personality he would cease being a moral being […] There is no pactum subjectionis, no act of submission by which a man can give up the state of free agent and enslave himself. For by such an act of renunciation he would give up the very character which constitutes his nature and essence: he would lose his humanity.46
Es geht also um die Unmöglichkeit zur Aufgabe des eigenen Personenstatus.47 Bevor dieses Argument untersucht werden kann, muss aber genauer erläutert werden, wie man sich eine freiwillige Versklavung als eine Veränderung der normativen Relationen und als Veräußerungsvertrag vorstellen muss. Sklaverei wird hier als eine allumfassende Subjektion einer Sklavin gegenüber einer Sklavenhalterin verstanden. Letztere besitzt dadurch weitreichende Befugnisse gegenüber der Sklavin, diese zu all jenen Handlungen zu verpflichten, die sie befiehlt.48 Des Weiteren besitzt die Sklavenhalterin die Befugnis, das Verhältnis aufzulösen und die Befugnis, es auf eine andere Person zu übertragen. Ein solches Verständnis lässt viele Freiräume offen, wie diese Beziehung konkret ausgestaltet sein kann. Es ist nicht unmöglich, dass die Sklavin aufgrund der Beziehung keinerlei Pflichten gegenüber der Sklavenhalterin besitzt und vollkommen frei ist, zu tun oder zu unterlassen, was sie will. Die Sklavenhalterin hat aber jederzeit die Möglichkeit, sie zu einer Handlung zu verpflichten und die Erlaubnis, sie im Falle einer Nichterfüllung zu bestrafen. Es ist also höchstwahrscheinlich der Fall, dass die Sklavin in ihrer Freiheit stark eingeschränkt wird. Ein Recht auf Freiheit vor Sklaverei sollte also nicht als Privileg oder als Summe von Privilegien aufgefasst werden, sondern vielmehr als Immunität gegenüber einer potentiellen Sklavenhalterin: Keine Person besitzt die Befugnis, eine andere Person zu alle erdenklichen Handlungen zu verpflichten. Eine freiwillige Versklavung kommt nun der Auflösung dieser Immunität gegenüber einer Sklavenhalterin gleich. Zur Erläuterung kann hier eine Parallele zu einem Lohnarbeitsverhältnis gezogen werden. Eine Arbeitnehmerin überträgt bei der Unterzeichnung eines Arbeitsvertrages der Arbeitgeberin gewisse Befugnisse und gibt dadurch gewisse Immunitäten ihr gegenüber auf. Der Arbeitsvertrag spezifiziert nicht jede einzelne Pflicht, die durch das Arbeitsverhältnis entstehen kann. Er definiert einen Aufgabenbereich, innerhalb dessen die Arbeitgeberin befugt ist, Aufträge (also Pflichten) zu erteilen. Die 46 Cassirer, E. (1963): The Myth of the State, orig. 1946, New Haven: Yale University Press, S. 175. 47 Siehe hierzu ausführlich Moser, E. (2018): „Unveräußerliche Rechte“, in: Gutmann, T. (Hrsg.): Enzyklopädie zur Rechtsphilosophie, http://www.enzyklopaedie-rechtsphilosophie.net/inhaltsverzeichnis/19-beitraege/115-unveraeusserliche-rechte, Rn. 61 ff. 48 Je nach Rechtsstaat sind aber unterschiedliche Handlungen von einer Verpflichtung ausgeschlossen. Eine Sklavin kann z.B. nicht zu einer kriminellen Handlung verpflichtet werden. Die Sklavenhalterin besitzt keine Befugnis dazu, da sie dadurch die Sklavin als mittelbare Täterin verwendet, um eine verbotene Handlung zu begehen.
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Kapitel III: Der Begriff eines unveräußerlichen Rechts
Subjektion der Arbeitnehmerin durch einen Arbeitsvertrag bewegt sich allerdings in bestimmten Grenzen. In diesem beschränkten Rahmen ist eine freiwillige Subjektion rechtlich möglich (und wie es scheint auch moralisch gerechtfertigt). Es stellt sich somit die Frage, weshalb eine vollständige Subjektion nicht möglich sein sollte.49 Rousseau gibt hier mindestens drei mögliche Antworten. (1) Nach Rousseau impliziert die Möglichkeit zur Erfüllung von Pflichten gegenüber der Sklavenhalterin die „moralische Verantwortlichkeit“ der Sklavin. Eine Versklavung sei nun aber eine Aufgabe der Freiheit und (dies ist die implizite Annahme) moralische Verantwortung setzt Freiheit voraus. Somit verliert die Sklavin die moralische Verantwortung, indem sie sich versklavt. Sie ist also nicht für die Erfüllung der Pflichten gegenüber der Sklavenhalterin verantwortlich und kann ihr die Erfüllung der Pflichten nicht schuldig sein. Da es sich somit um einen Widerspruch handle, sei die freiwillige Versklavung nicht möglich.50 Diesem Argument liegt allerdings eine Äquivokation zugrunde; diejenige der sog. „Willensfreiheit“ mit der (durch die Immunität, nicht versklavt zu werden) garantierten Freiheit einer Person. Ersterer Begriff der Freiheit beinhaltet die Idee, dass eine Person für die Resultate ihrer Handlung kausal verantwortlich sein kann. Letzterer Begriff impliziert die Unmöglichkeit, zu bestimmten Handlungen verpflichtet zu werden. Moralische Verantwortung setzt Willensfreiheit voraus, jedoch beinhaltet sie nicht die Freiheit, welche durch eine Immunität geschützt ist. Die Person, welche durch eine Sklavenhalterin verpflichtet wird, bestimmte Dinge zu tun, kann für die Erfüllung der Pflichten immer noch verantwortlich sein.51 Durch freiwillige Versklavung wird die moralische Verantwortung also nicht aufgegeben. Wenn zum Vergleich eine Arbeitnehmerin durch die Arbeitgeberin verpflichtet wird, Überstunden zu leisten, dann ist sie für die Leistung der Überstunden auch verantwortlich. Das Argument beinhaltet somit eine irreführende Gleichsetzung. (2) Der Widerspruch, den Rousseau vor Augen hat, kann auch in Bezug auf eine conditio humana, einen notwendigen Wesenszug aller Menschen, verstanden werden. Das Argument sieht Menschen als notwendig freie Wesen an. Sklaverei impliziere hingegen die Nicht-Freiheit. Also sei man zur Konklusion gezwungen, dass Sklavinnen keine Menschen sind. Da dies einen offensichtlichen Widerspruch darstellt, muss dieser aufgelöst werden, indem hier eine Annahme aufgegeben wird: Entweder sind Sklavinnen frei oder nicht alle Menschen sind frei. Deskriptiv verstanden sind beide Aussagen möglich. Erstens 49 Das Gedankenexperiment einer freiwilligen Versklavung wird bspw. auch in einem Kurzfilm mit Jean Reno als Hauptdarsteller durchgeführt. Siehe Al Kaabi, A. (2010): The Philosopher, Oursinfilms, VAE, 16 min. 50 Vgl. die sog. „substantive contradiction“ von Ellerman, D. P. 1992, S. 126. 51 Vgl. Frederick, D. (2016): „The Possibility of Contractual Slavery“, The Philosophical Quarterly 66 (262), S. 57.
3. Unveräußerlichkeit als rechtliche Unmöglichkeit
63
impliziert die Abwesenheit einer Immunität nicht, dass eine Person nicht frei ist (im Sinne der Willensfreiheit) und zweitens ist es nicht eine notwendige Eigenschaft der Menschen, dass sie frei sind.52 Ein deskriptives Verständnis des Arguments scheint also sinnlos. (3) Das Argument wird deshalb sehr wahrscheinlich normativ aufgefasst: „Alle Menschen sollen frei sein!“ Den Menschen kommt aufgrund ihrer Eigenschaft als Mensch das Recht zu, frei zu sein. Sklavinnen sind zwar Menschen, aber sie sind nicht frei und deshalb soll es keine Sklavinnen geben. Dieses Argument ist nun sehr einleuchtend und beinhaltet die Idee eines Menschenrechts als normative Eigenschaft, die jedem Menschen zukommen soll. Es ist aber nicht überzeugend, sofern man seine Prämissen nicht teilt. Hier wird bereits ein substantielles moralisches Urteil als Annahme dem Argument zugrunde gelegt, nämlich dasjenige über die Existenz eines Menschenrechts. Das Argument zeigt somit nicht die Unmöglichkeit zur Selbstversklavung, sondern dessen Illegitimität. Wenn wir zudem davon ausgehen, dass jedem Menschen ein Recht auf Freiheit zukommt, dann ist Sklaverei ohnehin nicht gerechtfertigt; dies unabhängig davon, ob die freiwillige Selbstversklavung möglich ist oder nicht. Das Rousseau’sche Argument der Unmöglichkeit einer Selbstversklavung und ähnliche Argumente zur Begründung unveräußerlicher Rechte stellen einen Versuch dar, deren moralische Begründung durch die Herleitung einer „faktischen Unmöglichkeit“ der Veräußerung zu liefern. Dies ist aber schon deshalb ein Kategorienfehler, da es sich bei der Unveräußerlichkeit um eine normative Einschränkung der Rechtsträgerin handelt. Ist ein Recht faktisch nicht voraussehbar, dann bedarf es der Einschränkung nicht. 3.3 Pflichten gegen sich selbst Des Weiteren stellt sich die Frage, ob die Einschränkung der Veräußerungsmöglichkeit nicht ausschließlich als rechtliche Unmöglichkeit, sondern auch als eine andere Form rechtlicher Einschränkung gedacht werden kann. Ein naheliegender Versuch, die Einschränkung der Veräußerung zu konzeptualisieren, besteht darin, sie als eine Pflicht aufzufassen.53 Die Person, welche ein unveräußerliches Recht besitzt, hat dieser Konzeption gemäß eine mit dem Recht einhergehende Pflicht, dieses Recht nicht zu veräußern. In der Folge soll aber gegen diese Auffassung argumentiert und so die Idee der Unveräußerlichkeit als rechtliche Unmöglichkeit verteidigt werden. Zwei Interpretationen einer solchen Pflicht wären möglich. Entweder die Pflicht besteht gegenüber einer anderen Person, der Allgemeinheit oder dem 52
Vgl. ebd. S. 57 f. Vgl. u.a. Hardin, R. (1986): „The Utilitarian Logic of Liberalism“, Ethics 97 (1), S. 57; Hill, T. E. (1991): Autonomy and Self-Respect, Cambridge, MA: Cambridge University Press, S. 15; Schaber, P. (2010): „Unveräußerliche Menschenwürde“, Zeitschrift für Menschenrechte 1, S. 118–129. 53
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Kapitel III: Der Begriff eines unveräußerlichen Rechts
Staat. Oder aber eine Rechtsträgerin besitzt die Pflicht gegenüber sich selbst.54 Letztere Interpretation wurde zwar bereits durch die oben eingeführte Bestimmung einer normativen Beziehung definitorisch ausgeschlossen.55 Ein Satz, der den Begriff ‚Pflicht‘ enthält, bezeichnet eine dreistellige Relation zwischen einer Besitzerin einer Adressatin und bestimmten Handlungen, die verpflichtet sind. Bei einer Pflicht gegenüber sich selbst würden die Besitzerin und die Adressatin zusammenfallen. Die Rechtsträgerin wäre zugleich auch Trägerin eines Anspruches gegenüber sich selbst. Die Unveräußerlichkeit des Rechts wäre somit aber keine soziale Gegebenheit mehr. Aber auch wenn es solche Pflichten geben kann, ist die Idee aus rechtsphilosophischen Gründen sehr fragwürdig.56 Die Vorstellung eines Rechtssystems, das nicht bloß die Aufgabe besitzt, die gegenseitigen Interessen und Freiheiten der Individuen zu koordinieren, sondern auch dem Individuum vorschreibt, wie es sich privat zu verhalten hat, ist diejenige eines sehr interventionistischen und bevormundenden Staates.57 Die Idee, dass unveräußerliche Rechte solche Pflichten begründen, würde somit ein sehr voraussetzungsreiches Rechtsverständnis beinhalten. Eine Person hätte aufgrund der Existenz dieser Pflichten einen rechtlichen Anspruch an sich selbst, gewisse Rechte nicht zu veräußern, welcher mittels staatlichen Zwangs durchgesetzt werden könnte. Dies widerspricht einem breit akzeptierten Kantischen Verständnis des objektiven Rechts. Ihm gemäß kommt das objektive Recht kommt bloß da zum Zug, wo die Handlung eines Individuums die Freiheiten und Interessen anderer Individuen beeinträchtigt bzw. beeinflussen kann.58 Die Verteidigung der Möglichkeit von Pflichten gegenüber sich selbst müsste dieses Rechtsverständnis verabschieden, um so das Konzept unveräußerlicher Rechte als Pflichten, die dem Selbst geschuldet sind, aufrechtzuerhalten.59
54
Vgl. hierzu von der Pfordten (2010): Normative Ethik, Berlin: de Gruyter, S. 272. Dies folgt aus der Beschreibung eines Rechts als dreistelliges Prädikat. Kap. II, 1. 56 Für eine Verteidigung der Möglichkeit solcher Pflichten siehe Hill, T. E. 1991, Kap. 10. Ein prominenter Vertreter von Rechtspflichten gegen sich selbst in der deutschsprachigen Rechtsphilosophie ist Christian von Wolff. Er spricht von einer „Pflicht, sich selbst zu vervollkommnen“. Siehe von Wolff, C. (1754): Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, G. S. Nicolai (Üb.), http://www.deutschestextarchiv.de/book/show/ wolff_voelckerrecht_1754, § 43. 57 Zur Geschichte der Idee von Pflichten gegen sich selbst in der Deutschen Rechtsphilosophie siehe Gutmann, T. (2005): „Paternalismus: Eine Tradition deutschen Rechtsdenkens?“, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 122 (1), S. 155 ff. 58 Kant, I. (1990): Metaphysik der Sitten, orig. 1797, H. Ebeling (hrsg.). Stuttgart: Reclam, §§ A–E, [229–233]. 59 Vgl. zum Ganzen Moser, E. 2018, Rn. 20 ff. 55
3. Unveräußerlichkeit als rechtliche Unmöglichkeit
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Es soll also die Idee weiterverfolgt werden, dass Unveräußerlichkeit eine Pflicht gegenüber anderen Personen (gegenüber der Allgemeinheit oder dem Staat) impliziert.60 Aus folgenden zwei Gründen wird aber auch dies abgelehnt. Erstens ist die Veräußerung eines unveräußerlichen Rechts in den meisten Fällen nicht mit rechtlichen Sanktionen (Strafe oder Busse) gegen die Rechtsträgerin verbunden. Unveräußerliche Rechte werden rechtlich nicht wie Veräußerungsverbote gehandhabt. Es besteht ein signifikanter Unterschied zwischen einer rechtlichen Unmöglichkeit und einer Unterlassungspflicht. Wenn es z.B. einer Regierung nicht möglich ist, ein Gesetz zu erlassen, das gegen zwingendes Völkerrecht verstößt, dann ist das Gesetz von vornherein kein Gesetz. Da eine rechtliche Unmöglichkeit besteht, das Gesetz zu erlassen, ist es nicht Bestandteil des geltenden Rechts. Die Regierung besitzt keine Befugnis, dem Gesetz rechtliche Geltung zu verleihen. Dennoch kann sie das (nicht-geltende) Gesetz durch staatlichen Zwang durchsetzen. Wenn eine Person, die gegen dieses Gesetz verstößt, dafür verurteilt wird, dann kann sie das Urteil vor dem internationalen Gerichtshof anfechten. Dieses wiederum wird das Urteil als ungültig erklären. Die Regierung wird dafür aber nicht bestraft. Bei unveräußerlichen Rechten besteht die Rechtsfolge ebenso nicht darin, die veräußernde Person zu bestrafen. Verträge, welche die Veräußerung eines unveräußerlichen Rechts zum Gegenstand haben, sind nicht gültig, nichtig oder unverbindlich. Die Person, gegenüber welcher das Recht nicht veräußert wurde, bleibt dem normativen Nachteil unterworfen. Je nach Sachlage wird sie bestraft und nicht die Rechtsträgerin, wenn sie das weiterhin bestehende Recht verletzt. Zweitens entspricht die moralische Reaktion im Falle einer Veräußerung eines (vermeintlich) unveräußerlichen Rechts nicht derjenigen, die bei einer Pflichtverletzung besteht. Üblicherweise impliziert die Wahrnehmung einer Handlung als Pflichtverletzung sog. „negative reaktive Einstellungen“61 gegenüber der Person, welche die Handlung ausübt. Tut eine Person etwas, das sie nicht sollte, dann kann sie dafür gerügt, kritisiert, beschuldigt, verurteilt werden usw. Die angemessene Reaktion gegenüber einer Person, die ein Veräußerungsverbot verletzen wollte, würde also in einem Vorwurf (in einer retributiven Einstellung) bestehen. Es bestehen jedoch nicht notwendigerweise solche reaktiven Einstellungen gegenüber der Person, welche ein unveräußerliches Recht veräußert. Die moralischen Einstellungen in Bezug auf unveräußerliche Rechte unterscheiden sich somit wesentlich von denjenigen, die im Falle von Verletzungen von Verboten bestehen. Nun kann dieses Argument zwar insofern jene Personen nicht überzeugen, welche diese Intuition nicht teilen. Allerdings ist anzu60
Vgl. McConnell, T. 2000, S. 27 und 31. Der Begriff geht zurück auf Strawson, P. F. (2008). Freedom and Resentment: And other Essays, orig. 1974, London: Routledge, Kap. 1. 61
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Kapitel III: Der Begriff eines unveräußerlichen Rechts
merken, dass das Konzept unveräußerlicher Rechte, das Unveräußerlichkeit als Veräußerungsverbot auffasst, jene Fälle nicht erfassen kann, in denen der Rechtsträgerin üblicherweise kein Vorwurf gemacht wird. Insofern ist der moralische Begriff der Unveräußerlichkeit als Veräußerungsverbot in Bezug auf eine Rekonstruktion moralischer Überzeugungen nicht adäquat. Es wird also einem Begriff der Unveräußerlichkeit zugrunde gelegt, der nicht durch Gebote oder Verbote charakterisiert ist. Die freie Entscheidung ist bei unveräußerlichen Rechten so gesehen nicht hinreichend, einer anderen Person die Erlaubnis zu erteilen, das Recht zu missachten oder zu verletzen.62 Es ist einer Person nicht möglich, eine andere Person von ihren normativen Nachteilen, die durch das Recht begründet sind, zu befreien. Die Einwilligung einer Person in einen Verzicht oder einen Transfer besitzt bei einem unveräußerlichen Recht keine normative Signifikanz. 3.4 Verbindliche Rechte Es gibt aber auch bestimmte Rechte, die man zwingend ausüben muss. Solche Rechte können auch „verbindliche Rechte“ („mandatory rights“) genannt werden.63 Sie sind von unveräußerlichen Rechten abzugrenzen. Gehen wir, um ein Beispiel eines verbindlichen Rechts zu konstruieren, davon aus, dass ein Kind ein Recht darauf besitzt, zur Verbeugung vor viralen Erkrankungen geimpft zu werden. Dieses Recht kann nun besser dadurch geschützt werden, wenn alle Kinder geimpft werden und wenn somit eine Impfpflicht besteht. In diesem Fall muss das Recht auf eine Impfung ausgeübt werden. Hier scheint mit dem Recht also eine Pflicht zu dessen Nutzung einherzugehen. Aufgrund der oben gemachten Hohfeld’schen Analyse begründet so gesehen allerdings fast jede Rechtspflicht indirekt ein verbindliches Recht. Denn wenn eine Person eine Pflicht besitzt, dann besitzt sie üblicherweise auch die zugehörige Freiheit, die Pflicht erfüllen zu können64 (es sei denn, es besteht eine konfligierende Rechtspflicht, welche die Freiheit verunmöglicht).65 Eine Person hat somit ein Privileg, der Pflicht nachkommen zu können. Wenn nun reine Privilegien bereits Rechte sind, dann geht mit jeder Rechtspflicht, bei der 62
McConnell, T. 1984, S. 31. „[I]f a right is inalienable, then the mere fact that a person has consented is never sufficient to justify encroaching that right.“ 63 Vgl. z.B. Golding, M. P. (1968): „Towards a Theory of Human Rights“, The Monist 56 (4), S. 546; Feinberg, J. (1980): Rights, Justice and the Bounds of Liberty: Essays in Social Philosophy, Princeton: Princeton University Press, NJ, S. 157. 64 Eine sog. „unilateral liberty“ nach Hart, H. L. A. 1982, S. 167 und 173 f. 65 Nach Hohfeld‘scher Logik impliziert eine Pflicht nicht das Privileg, der Pflicht nachkommen zu können. Siehe Kramer, M. H. 1998, S. 19 f.; mit Bezug auf Sumner, L. W. 1987, S. 26; entgegen Feinberg, J. (1973): Social Philosophy, Prentice-Hall: Englewood Cliffs, S. 69.
4. Zusammenfassung und Ausblick
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eine Freiheit besteht, der Pflicht nachzukommen, auch ein verbindliches Recht einher. Es ist nun unklar, welcher Zusammenhang zwischen verbindlichen Rechten und unveräußerlichen Rechten besteht. Ein verbindliches Recht, so scheint es, muss ausgeübt werden. Deshalb ist es auch nicht freiwillig abzutreten. Es ist eine Tatsache, dass, sofern die Pflicht besteht, das Recht unmöglich aufgegeben werden kann. Allerdings scheint dieser Gebrauch des Begriffes ‚unveräußerliches Recht‘ für eine Beschreibung dieser Einschränkung irreführend. So gesehen gäbe es eine Vielzahl von unveräußerlichen Rechten; nämlich überall da, wo Pflichten ohne konfligierende Unterlassungspflichten bestehen. Eine solche Interpretation der Unveräußerlichkeit als Pflicht ist zu breit und erfasst nicht bloß unveräußerliche Rechte, sondern auch Rechte, welche mit Pflichten einhergehen, das Recht in bestimmten Situationen nicht auszuüben. Dies würde bedeuten, dass man viele Rechte, die man für gewöhnlich nicht als unveräußerliche Rechte bezeichnen würde, ebenso als unveräußerlich interpretieren müsste. Bspw. kann eine Person aufgrund ihrer Tauglichkeit die Möglichkeit (das Privileg) besitzen, Militärdienst leisten zu können; zugleich aber auch die Pflicht besitzen, einzurücken.66 Dieses Recht scheint jedoch kein unveräußerliches Recht darzustellen. Diese Ansicht, dass verbindliche Rechte unveräußerliche Rechte sind, wird somit aus zwei Gründen abgelehnt. Erstens ist die Unmöglichkeit der Veräußerung so gesehen nur eine „Reflexwirkung“ der Pflicht. Jede Pflicht zusammen mit einer unilateralen Freiheit,67 diese Pflicht zu erfüllen, impliziert demgemäß bereits ein unveräußerliches Recht. Eine solche Interpretation wird allerdings der spezifischen Natur eines unveräußerlichen Rechts nicht gerecht. Zweitens handelt es sich hier um eine de jure Unmöglichkeit zur Veräußerung des Rechts, die m.E. keine philosophische (d.h. weder begriffliche noch ethische) Brisanz besitzt.
4. Zusammenfassung und Ausblick Es soll zum Schluss kurz festgehalten werden, was mit unveräußerlichen Rechten in der Folge gemeint ist. Unveräußerliche Rechte beinhalten notwendig mindestens einen normativen Vorteil (Anspruch, Privileg, Befugnis, Immunität) und die rechtliche Unmöglichkeit, diesen Anspruch freiwillig aufzugeben oder an eine andere Person zu übertragen. Unter Veräußerung wird eine Handlung einer Person verstanden. Die Veräußerung ist von einem Nicht-Gebrauch des Rechts abzugrenzen. Es handelt sich dabei um einen gänzlichen Verzicht 66 Dieses Recht wird dann als solches sichtbar, wenn eine Person als untauglich eingestuft wird und deshalb Ersatzleistungen bezahlen muss, obwohl sie lieber Dienst geleistet hätte. 67 Siehe Kap. II, 2(b).
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Kapitel III: Der Begriff eines unveräußerlichen Rechts
auf den normativen Vorteil und nicht um die einmalige Nicht-Ausübung eines Privilegs. Diese rechtliche Unmöglichkeit ist sodann von anderen Konzepten der Unmöglichkeit abzugrenzen. Sie stellt keine faktische Unmöglichkeit dar. Ebenso ist nicht eine de jure Unmöglichkeit gemeint. Des Weiteren ist eine rechtliche Unmöglichkeit zur Veräußerung eines Rechts nicht als eine Unterlassungspflicht zu verstehen. Es handelt sich dabei nicht um etwas, das eine Person nicht soll, sondern um etwas, das eine Person nicht mit rechtlicher Wirksamkeit tun kann. Sie kann den normativen Status, der durch das Recht begründet ist, nicht aufheben oder transferieren. Der normative Vorteil der Rechtsträgerin bleibt ebenso wie der normative Nachteil der Rechtsadressatin bestehen. Die in diesem Kapitel vorgetragene Analyse und Erläuterung des Begriffes ‚unveräußerliches Recht‘ bestand in einer formalen Beschreibung. Es wurde nicht versucht, eine abschließende Liste entweder positiv-rechtlicher oder moralischer unveräußerlicher Rechte zu erstellen. Das folgende Kapitel beschäftigt sich nun mit substantiellen Ansätzen zur Bestimmung, welche Rechte unveräußerlich sind oder sein sollen. Einerseits wird sowohl die Idee von natürlichen Rechten als auch diejenige von Menschenrechten erläutert. Es wird gefragt, welcher Zusammenhang zu unveräußerlichen Rechten besteht. Im letzten Teil, werden dann unveräußerliche Rechte im positiven Recht als solche identifiziert.
Kapitel IV
Natürliche und positive unveräußerliche Rechte Fragt man danach, wo der Begriff ‚unveräußerliches Recht‘ explizit in Rechtstexten vorkommt, wird gemeinhin auf die Erklärung der Menschenrechte, auf verschiedene Unabhängigkeitserklärungen oder Verfassungstexte verwiesen. Der Ausdruck ‚unalienable right‘ taucht z.B. prominent in der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung auf. We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.1
Ebenso wird der Begriff in der Erklärung der Ersten Republik Frankreichs, der Déclaration des Droits de l‘Homme et du Citoyen, in den ersten beiden Artikeln verwendet: Les Représentants du Peuple Français, constitués en Assemblée Nationale, considérant que l‘ignorance, l‘oubli ou le mépris des droits de l’Homme sont les seules causes des malheurs publics et de la corruption des Gouvernements, ont résolu d‘exposer, dans une Déclaration solennelle, les droits naturels, inaliénables et sacrés de l‘Homme… Le but de toute association politique est la conservation des droits naturels et imprescriptibles de l‘Homme. Ces droits sont la liberté, la propriété, la sûreté, et la résistance à l‘oppression.2
Die Idee, welche sich in den beiden Rechtstexten verbirgt, ist diejenige der Einschränkung staatlicher Gewalt. Diese „natürlichen Rechte“ bestimmen, was der Staat tun darf, was er nicht tun soll und wozu er rechtlich nicht befugt ist. Beide Erklärungen postulieren die Existenz unveräußerlicher Rechte. Sie beziehen sich dabei implizit auf die grundlegenden politischen Schriften von John Locke, der die Rechte auf Leben, Freiheit und Eigentum als natürliche Rechte festlegt.3 Es handelt sich ihm zufolge um Rechte, welche allen Menschen aufgrund ihres Wesens zukommen. Es sind Rechte, die den Individuen bereits vor der Existenz eines durch Menschen errichteten Rechtssystems zukommen. Nach Locke kann staatliche Gewalt dadurch legitimiert werden, dass 1 Congress of the United States of America: The Declaration of Independence, DOI, 04.07.1776 [meine Hervorhebung]. 2 Assemblée Nationale de la France: Déclaration des Droits de l‘Homme et du Citoyen, DDHC, 26.08.1789 [meine Hervorhebung]. 3 Vgl. Adomeit, K. (2002): Rechts- und Staatsphilosophie II: Rechtsdenker der Neuzeit, 2. Aufl., Heidelberg: C. F. Müller, S. 68.
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Kapitel IV: Natürliche und positive unveräußerliche Rechte
die Mitglieder einer Gesellschaft freiwillig dazu bereit sind, gewisse Rechte an einen zentralisierten Staatsapparat abzutreten.4 Sie legitimieren den Staat durch einen Vertrag, den sie untereinander abschließen. Die Argumentation für die Einschränkung staatlicher Macht ist somit vor dem Hintergrund eines solchen Gesellschaftsvertrages zu verstehen. Geht man von einer sog. „kontraktualistischen Begründung“ des Staates aus, dann stellen unveräußerliche Rechte die Grenzen desjenigen dar, was legitimerweise an Befugnissen und Rechten an einen zentralisierten Staatsapparat übertragen werden kann. Das Abtreten unveräußerlicher Rechte kann nicht Inhalt eines Gesellschaftsvertrags sein, da dies (moralisch) unmöglich ist. Unveräußerliche Rechte definieren somit die Grenzen staatlicher Gewalt. Ihre Anerkennung als ist die zentrale Forderung. Die unveräußerlichen natürlichen Rechte spielen somit eine zentrale Rolle in den vertragstheoretischen politischen Theorien der frühen Neuzeit. Auch in Bezug auf Konzeptionen von Menschenrechten fällt der Ausdruck ‚unveräußerliches Recht‘ bemerkenswert oft. In der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wird als erstes folgender Beweggrund festgehalten: Da die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet...5
Man ist aufgrund dieser Feststellung also zur Auffassung geneigt, dass die Frage nach der Konzeption und der Existenz unveräußerlicher Rechte mit derjenigen nach der Existenz universeller natürlicher Rechte der Menschen zusammenfällt.
1. Abgrenzung unveräußerlicher Rechte Dieses Kapitel verfolgt nun aber das Ziel, den Diskurs über unveräußerliche Rechte von der Debatte über natürliche Rechte und derjenigen über Menschenrechte loszulösen. So wie der Begriff in Kap. III spezifiziert wurde, sind unveräußerliche Rechte in unterschiedlichen Rechtsbereichen anzutreffen. Den Untersuchungsgegenstand auf Grundrechte einzuschränken, wäre aus unterschiedlichen Gründen nicht sinnvoll. Erstens legen kontraktualistische Theorien unveräußerliche Rechte als Axiome fest. Somit sind die Rechte die jeweils nicht hinterfragten Prämissen der Theorie. Natürliche Rechte kommen einer Person qua Person zu. Sie sind als 4 Vgl. Hofmann, H. (2000): Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 157. 5 UNO: Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, AEMR, 10.12.1948, Präambel.
1. Abgrenzung unveräußerlicher Rechte
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notwendige Eigenschaften gedacht und somit kann ihre Existenz weder faktisch noch normativ infrage gestellt werden. Die Aufgabe einer moralischen Untersuchung der Rechtfertigung unveräußerlicher Rechte, besteht nun aber gerade darin, die Existenz unveräußerlicher Rechte und die moralische Richtigkeit ihrer Existenz zu begründen. Aus methodischer Sicht wäre eine von vornherein gegebene Prämisse, dass gewisse Rechte unveräußerlich sind und dass sie es auch sein sollen, nicht zielführend. Zweitens sind natürliche Rechte innerhalb eines kontraktualistischen Ansatzes grundsätzlich Rechte, welche ein Individuum gegenüber dem Staat besitzt. Sie werden ‚unveräußerlich‘ genannt, weil man sich die Staatsgründung als einen Veräußerungsvertrag zwischen Individuen und dem Staat vorstellt. Wenn man hingegen nicht davon ausgeht, dass ein Staat durch einen Gesellschaftsvertrag entsteht (bzw. begründet ist), dann sind die Gesetze eines Staates auch nicht durch eine derartige Veräußerungshandlung legitimiert. Entsprechend sind die moralischen Einschränkungen der staatlichen Gewalt von der Unmöglichkeit zur Veräußerung von Rechten unabhängig. Drittens wird in folgender Abhandlung aufgezeigt, dass der Begriff ‚unveräußerliche Rechte‘ vom Begriff ‚Menschenrechte‘ logisch unabhängig ist. Es ist weder der Fall, dass alle Menschenrechte unveräußerlich sind noch, dass alle unveräußerlichen Rechte Menschenrechte sind. Es handelt sich bei Grundrechten gegenüber dem Staat, wie gezeigt wird, entweder um „absolute Rechte“ oder um „Immunitäten“, nicht notwendig aber um unveräußerbare Rechte. Viertens sollte aus den Erörterungen klar hervorgehen, dass die Unveräußerlichkeit eines Rechts nicht mit dem moralischen Gewicht des Rechtsgutes zusammenhängt. Unveräußerliche Rechte sind nicht aufgrund ihres Begriffes fundamentalere Rechte als andere.6 Es können zwar durchaus moralische Gründe für die Unmöglichkeit der Veräußerung eines Rechts gefunden werden. Es ist aber nicht der Fall, dass ein Verweis auf den Wert des Rechtgutes bereits genügt, um die Unveräußerlichkeit des Rechts zu rechtfertigen. Ganz allgemein kommt es häufiger vor, dass Individuen untereinander Rechte veräußern als Individuen gegenüber dem Staat.7 Ist ein Recht unveräußerlich, dann beschränkt dies nicht nur die Freiheit des Individuums in Beziehung zu staatlichen Institutionen, sondern auch in Beziehung zu anderen Individuen. Somit muss v.a. die normative Beziehung von Individuum zu Individuum untersucht werden, um unveräußerliche Rechte zu identifizieren.
6 Black’s Law Dictionary stellt den Zusammenhang zwischen ‚inalienable rights‘ und fundamentalen Rechten her: „…the term given to fundamental rights accorded to all people.“ Siehe http://thelawdictionary.org/inalienable. 7 Vgl. 5.3.
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Kapitel IV: Natürliche und positive unveräußerliche Rechte
2. Unveräußerliche Rechte in kontraktualistischen Theorien Der Grund, weshalb der Ausdruck ‚unveräußerliches Recht‘ stets in einem Atemzug mit natürlichen Rechten oder mit Menschenrechten genannt wird, liegt (wie erwähnt) darin, dass der Begriff in den kontraktualistischen politischen Theorien der Aufklärung eine wichtige Rolle gespielt hat. Die Unabhängigkeitserklärungen und Verfassungstexte, welche bei der Gründung von bürgerlich-liberalen Rechtsstaaten verfasst wurden, nehmen sehr starken Bezug auf diese Theorien. Dieser Abschnitt soll zur Klärung beitragen, welche Relevanz dem Begriff unveräußerlicher Rechte in kontraktualistischen Theorien zukommt. Es wird dem aber entgegnet, dass die moralische Auseinandersetzung mit unveräußerlichen Rechten nicht auf der Ebene einer politischen Theorie stattfinden sollte. 2.1 Unveräußerliche Rechte als Axiome Eine kontraktualistische politische Theorie beabsichtigt die normative Rechtfertigung staatlicher Gewalt auf der Grundlage des Einverständnisses der Rechtsunterworfenen. Die Theorie geht von der kontrafaktischen Überlegung eines „Urzustandes“ aus, in dem sich die Gesellschaft befindet, wenn es keine staatliche Institutionen und keinen zentralisierten staatlichen Sanktionsapparat gibt. Die Individuen, so die These, würden sich in einem solchen Urzustand auf eine bestimmte Form staatlicher Gewalt einigen. Sie wären bereit, gewisse Freiheiten aufzugeben und somit staatlichen Zwang in Kauf nehmen, um ihr Zusammenleben zu ordnen und durch die Implementierung rechtlicher Regeln zu sichern. Sowohl liberal-demokratische Denker wie Locke und Rousseau als auch nicht-demokratische politische Denker wie Hobbes und Grotius nahmen dieses Argumentationsmuster in Anspruch, um ihre Vorstellung von gerechtfertigter staatlicher Gewalt zu begründen. Unabhängig vom Resultat besitzen die Theorien aber die Gemeinsamkeit, dass sie von „natürlichen Freiheitsrechten“ ausgehen, die jedem Individuum in einem Urzustand zukommen.8 Folgende drei Annahmen liegen einer kontraktualistischen Theorie zugrunde.
8
So z.B. Hobbes, T. 1999, Kap. 18. Locke, J. (1980): The Second Treatise of Government, orig. 1690, McPherson, C. B. (Hrsg.), Indianapolis: Hacklett, Kap. 2, § 4 ff.
2. Unveräußerliche Rechte in kontraktualistischen Theorien
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Erstens gehen sie davon aus, dass der Urzustand die Natur des menschlichen Zusammenlebens darstellt. Der Staat ist hingegen ein künstliches,9 von Menschen erschaffenes Konstrukt. Zweitens sehen die Theorien im staatlichen Zwang eine Einschränkung der von Natur gegebenen Freiheit. Die Vorstellung besteht darin, dass Individuen ohne Staat bestimmte Freiheiten genießen, die sie in einer Gesellschaft mit staatlichen Institutionen nicht besitzen. Diese Freiheiten werden drittens als Rechte gesehen und somit als grundsätzlich schützenswerte Güter. Der Staat ist zusammengefasst also eine kontingente Erscheinung, welche die Freiheiten der Individuen einschränkt, die ihnen aufgrund ihrer Natur als Rechte zustehen. Es stellt sich deshalb in Bezug auf die Einschränkung der Rechte der Individuen durch einen Staat die Frage nach der Rechtfertigung. Wie der Name zum Ausdruck bringt, konzipieren die kontraktualistischen Theorien, die Rechtfertigung staatlicher Institutionen als eine vertragliche Übereinkunft der Individuen untereinander – als Gesellschaftsvertrag. Ein solcher ist nichts anderes als eine Veräußerung bestimmter natürlicher Freiheitsrechte. Bestimmte Rechte werden allgemein aufgegeben, andere werden an eine staatliche Instanz übertragen. Nun gelangen die verschiedenen Theorien wie angedeutet jeweils zu einem völlig unterschiedlichen Schluss darüber, welche Staatsform gerechtfertigt ist. Während Hobbes im Gesellschaftsvertrag einen vollständigen Verzicht auf alle Rechte (außer das Recht zum Selbsterhalt) sieht und somit ein absolutistisches politisches System als gerechtfertigt erachtet, können in Lockes Theorie nur wenige Rechte gerechtfertigterweise an einen Staat übertragen werden, wobei die Hauptaufgabe des Staates v.a. im Schutz und der Durchsetzung der gegebenen natürlichen Rechte besteht. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den so gegensätzlichen politischen Theorien liegt in der Annahme über die Form der natürlichen Freiheitsrechte. Der mögliche Inhalt des Gesellschaftsvertrages (d.h. die Veräußerung der Rechte) ist durch die Veräußerbarkeit der Rechte bestimmt und somit durch die in den natürlichen Rechten enthaltenen Befugnisse.10 Handelt es sich bei bestimmten Rechten um unveräußerliche Rechte, dann kann ihre Aufgabe oder ihr Transfer nicht Vertragsgegenstand bilden. Die in der Theorie abgeleitete gerechtfertigte Staatsform darf unveräußerliche Rechte nicht einschränken, beschneiden oder missachten.11
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Vgl. nur Hobbes, T. 1999, Kap. 17; mit Bezug auf Aristoteles (2012): Politik, Schütrumpf, E. (Üb.), Hamburg: Meiner, Buch I, Kap. 2. 10 Siehe zum Ganzen bspw. Waldron, J. (2011): „Dignity, Rights and Responsibilities“, Arizona Law Journal 43, S. 1127 ff. 11 Vgl. Ellerman, D. P. 2010, S. 571–99.
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Kapitel IV: Natürliche und positive unveräußerliche Rechte
Exemplarisch für den Diskurs unter Vertragstheoretikerinnen kann die Position von Grotius derjenigen von Rousseau gegenübergestellt werden. Grotius schreibt: Jeder Mensch kann, nämlich wenn er will, sich in Privatsklaverei begeben, wie das jüdische und das römische Gesetz ergibt. Weshalb sollte es also einem selbständigen Volke nicht erlaubt sein, sich einem oder mehreren so zu überlassen, dass es ihm die Regierungsrechte über sich ganz überträgt und nichts davon zurückbehält?12
Mit direktem Bezug zu dieser Stelle in Grotius‘ Werk urteilt Rousseau:13 In diesem Satz kommen viele zweideutige Worte vor, die erklärt werden müssten. Halten wir uns aber zunächst an dem Ausdruck „veräußern“. Veräußern heißt verschenken oder verkaufen. Ein Mensch der sich zum Sklaven eines anderen macht, verschenkt sich nun aber nicht, sondern verkauft sich wenigstens seines Unterhaltes wegen; wofür verkauft sich aber ein Volk? Weit davon entfernt, dass ein König jemals seinen Untertanen den Lebensunterhalt gewähren würde, bezieht er den seinigen vielmehr nur von ihnen [...]. Verschenken denn die Untertanen ihre Person nur unter der Bedingung, dass man ihnen auch noch ihr Vermögen nimmt? Ich begreife nicht, was ihnen dann noch zu bewahren übrigbleibt. Die Behauptung, ein Mensch verschenke sich, stellt etwas Absurdes und Unbegreifliches dar; eine solche Handlung ist allein deswegen ungesetzlich und nichtig, weil derjenige, der dies tut, nicht bei Verstand ist. Dasselbe von einem ganzen Volk anzunehmen, bedeutet, ein Volk von Verrückten vorauszusetzen: Verrücktheit verleiht kein Recht.14
Aus diesem Zitat geht Rousseaus Idee unveräußerlicher Rechten hervor. Er kritisiert Grotius auf dieser Grundlage, dass eine Einwilligung in einen pactum subjectionis nur aufgrund von „Verrücktheit“ oder nur unter Zwang möglich sei. Insofern sei der Vertrag als nichtig zu erachten. Unveräußerliche Rechte spielen also eine zentrale Rolle in Bezug auf die Frage, welche Rechte in einem Gesellschaftsvertrag an eine herrschende Instanz übertragen werden können und damit einhergehend, welche Befugnisse der Staat haben kann, gewisse Gesetze zu erlassen und welche nicht.15
12 Grotius, H. (1950): De jure belli ac pacis: Libri tres, orig. 1625, Schätzel, W. (Üb.), Tübingen: Mohr Siebeck, S. 91. 13 Es handelt sich dabei um dasselbe Kapitel, in dem für die Unmöglichkeit der freiwilligen Versklavung argumentiert wird. Siehe Kap. III, 3.2. Die Parallele wird beim Zitat augenscheinlich, da die Versklavung eines ganzen Volkes, nach Rousseau, ebenso unmöglich ist, wie die Selbstversklavung einer einzelnen Person gegenüber einer anderen. 14 Rousseau, J.-J. 2011, Buch I, Kap. 4. 15 Vgl. Tuck, R. (1979): Natural Rights Theories: Their Origin and Development, Cambridge: Cambridge University Press, S. 54 ff.
2. Unveräußerliche Rechte in kontraktualistischen Theorien
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2.2 Unabhängigkeit von kontraktualistischer Theorie In einer kontraktualistischen Theorie bilden unveräußerliche Rechte somit die moralischen Grundannahmen für die Einschränkung der Macht gewisser politischer Institutionen.16 Alle Individuen in einer Gesellschaft besitzen diese Rechte und können sie sowohl in einem hypothetischen Urzustand, in dem sie die Prinzipien des politischen Ausgestaltung der Gesellschaft bestimmen, als auch in der aktuellen politischen und rechtlichen Gemeinschaft, deren Institutionen durch diese Prinzipien gerechtfertigt sind, nicht veräußern. Sie können diese Rechte also weder bei der Verhandlung um den Gesellschaftsvertrag, noch im normalen bürgerlichen Leben abtreten. Die Existenz unveräußerlicher Rechte ist hierbei eine metaphysische Annahme. Zur Begründung der Annahme wird nicht auf gesellschaftliche Konventionen oder das bestehende Rechtssystem Bezug genommen. Die Rechte werden als ‚natürliche Rechte‘ in dem Sinne konzipiert, dass sie von konkreten sozialen Gegebenheiten unabhängig bestehen und jedem Individuum aufgrund seiner Natur notwendig zukommen. Als Annahmen in einem kontraktualistischen Kalkül sind unveräußerliche Rechte Teil einer Theorie. Die Rechtfertigung der Annahmen wird nicht dadurch gegeben, dass sie mit unseren moralischen Einstellungen (bzw. Intuitionen) übereinstimmen; ebenso nicht dadurch, dass die Ausgestaltung und Anwendung rechtlicher Regelungen die Annahme der Existenz der Rechte plausibilisiert. Unveräußerliche Rechte fungieren in der Theorie als Axiome (ihre Existenz und ihre moralische Richtigkeit wird nicht hinterfragt). Solange die Theorie gerechtfertigt ist, sind ihre Annahmen als Teil der Theorie gerechtfertigt. Die Frage nach der moralischen Rechtfertigung einzelner unveräußerlicher Rechte kann somit nur auf der Ebene der Theorie als Ganzes beantwortet werden. So verstanden löst sich die Diskussion über die Rechtfertigung eines bestimmten unveräußerlichen Rechts in einer Debatte über die Angemessenheit einer politischen Theorie auf. Eine solche Konsequenz sollte aber vermieden werden. Um dies zu illustrieren, betrachten wir folgendes Beispiel: Nehmen wir an, eine kontraktualistische politische Theorie zeigt auf, weshalb das Leben einer einzelnen Person niemals für das Wohl der Gemeinschaft geopfert werden darf. Die Begründung wird dadurch gegeben, dass es den Individuen einer Gesellschaft in einem hypothetischen Urzustand nicht möglich ist, ihr Recht auf Leben aufzugeben. Das Leben der einzelnen Person ist somit nicht Verhandlungsgegenstand. Niemand kann in einen Gesellschaftsvertrag einwilligen, in dem jemand für das Erreichen gesellschaftlicher Ziele getötet werden darf. Wenden wir nun die Annahme der Unveräußerlichkeit des Rechts auf Leben auf die rechtsethische Debatte über die Legitimität der Sterbehilfe an.17 Würde man anhand dieses An16
Siehe Locke, J. 1980, Kap. XI, §135. Sterbehilfe, dies folgt aus der Analyse in Kap. III, stellt eine Veräußerung des Rechts auf Leben dar. Eine Person löst durch Einwilligung die Tötungsunterlassungspflicht einer anderen Person auf. 17
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Kapitel IV: Natürliche und positive unveräußerliche Rechte
satzes nun für die Liberalisierung der Sterbehilfe argumentieren wollen, müsste man auf die politische Theorie, welche die Unveräußerlichkeit des Rechts auf Leben postuliert, Bezug nehmen müssen, um zu zeigen, weshalb diese Theorie nicht angemessen ist.18 Eine Frage der angewandten Ethik wird so von der zugrundeliegenden politischen Theorie abhängig gemacht. Das Problem besteht nun darin, dass die Unveräußerlichkeit bestimmter Rechte als theoretische Vorannahme gesetzt wird und nicht selbst als variable Größe auf die moralische Rechtfertigung hin überprüft wird. Ein solcher „Top-down-Ansatz“ einer kontraktualistischen Theorie ist also ungeeignet, um die Frage nach der moralischen Rechtfertigung einzelner unveräußerlicher Rechte in Anwendung auf konkrete rechtsethische Probleme zu beantworten. 2.3 Kritik an der Voraussetzung natürlicher Rechte Unter einem natürlichen Recht verstehen wir also ein Recht, das Rechtsträgerinnen aufgrund ihrer Natur notwendig zukommt. Darunter können zwei unterschiedliche Sachverhalte gefasst werden. Einerseits kann mit dem Prädikat ‚natürlich‘ eine Ursprünglichkeit gemeint sein. Eine Rechtsträgerin ist mit einem Recht von Geburt an ausgestattet. Das muss nicht bedeuten, dass das Rechtsgut einer Person notwendig auch geschützt sein muss. Rechte bestehen als normative Beziehungen. Ihre Wahrung oder ihr Schutz muss nicht faktisch gegeben sein, damit das Recht besteht. So kann bspw. auch eine politisch verfolgte Person in einem diktatorischen System ein Recht auf freie Meinungsäußerung besitzen, obwohl ihr dieses Recht in ihrer aktuellen Situation nicht gewährt wird. Die Tatsache, dass ein Recht missachtet wird, impliziert nicht, dass das Recht nicht existiert. Andererseits kann ein natürliches Recht auch als ein Recht aufgefasst werden, das immer besteht; unabhängig davon, was die Rechtsträgerin tut. Wenn ein Recht als eine notwendige Eigenschaft einer Person angesehen wird, dann ist es nicht möglich, das Recht auf irgendeine Weise zu verlieren, ohne den Personenstatus zu verlieren. Das bedeutet, dass, solange jemand eine Person ist, er oder sie das Recht auch nicht freiwillig abtreten oder transferieren kann.19 Das natürliche Recht ist also unveräußerlich, da es für eine Person nicht möglich ist, das Recht aufzugeben. Versteht man also natürliche Rechte in diesem Sinn, sind sie auch notwendigerweise unveräußerliche Rechte.
18
Vgl. z.B. Feinberg, J. 1978. Siehe auch Kap. III, 2.2. Siehe Kap. III, 3.2. Hier wird die normative Gegebenheit, dass eine Person ein natürliches Recht besitzt, angenommen und daraus gefolgert, dass das Recht unveräußerlich ist. 19
2. Unveräußerliche Rechte in kontraktualistischen Theorien
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Wenn also die Existenz natürlicher Rechte begründet werden kann, wird dadurch auch die Unveräußerlichkeit der natürlichen Rechte begründet. Inwiefern ist aber die Begründung unveräußerlicher Rechte auf diejenige einer Theorie natürlicher Rechte reduzierbar? Zwei Gründe legen es nahe, dass unveräußerliche Rechte unabhängig von der Idee natürlicher Rechte untersucht werden können und sollten. Erstens ist es zwar möglich, dass jedes natürliche Recht auch ein unveräußerliches Recht ist. Dies bedeutet jedoch nicht, dass jedes unveräußerliche Recht auch ein natürliches Recht ist. Zahlreiche bereits genannte Beispiele haben gezeigt, dass es unveräußerliche Rechte geben kann, die nicht als notwendige Eigenschaften einer Person gedacht werden können. Die Unmöglichkeit der Veräußerung eines Rechts kann auch eine künstliche Gegebenheit zwischenmenschlicher Beziehungen sein. Es ist also nicht der Fall, dass ein unveräußerliches Recht immer auch ein natürliches Recht darstellt. Zweitens ist die Frage nach der Existenz natürlicher Rechte schwer zu beantworten. Wenn man das „natürliche“ Verhalten von Individuen (z.B. im Gedankenexperiment des Urzustandes) bestimmen will und daraus ableiten will, welche Rechte die Individuen von Natur aus besitzen, dann ist dies aus zwei sehr prominenten philosophischen Gründen höchst problematisch.20 Einerseits kann die Natur des Menschen nicht wirklich beobachtet werden. Menschen bewegen sich überall auf der Welt bereits in sozialen Strukturen, die rechtlichen Charakter aufweisen. Ein „Urzustand“ muss a priori konstruiert werden und ist somit geprägt von einem bestimmten vorherrschenden strukturellen Blick auf den Menschen und durch einen bestimmten Begriff seiner Natur. Insofern kann ein Naturzustand (wenn es ihn überhaupt geben kann) nicht unverfälscht bestimmt werden. Die Natur des Menschen kann nicht beschrieben werden, ohne dass man Gefahr läuft, bestimmte Eigenschaften des Menschen aufgrund momentaner sittlicher Vorstellungen oder aufgrund geltender politischer Vorstellungen als naturgegeben zu interpretieren. Andererseits kann aus einer Beobachtung über die Natur des Menschen nicht die Existenz einer normativen Entität, eines Rechts, hergeleitet werden. Eine solche Ableitung stellt einen sog. „naturalistischen Fehlschluss“ dar.21 Von einer deskriptiven wird auf eine normative Begebenheit geschlossen. Der Schluss ist logisch ungültig. Die Naturrechte können somit als normative Gegebenheit nur vorausgesetzt und nicht durch empirische Beobachtungen fundiert werden.22 Man muss nun nicht so weit gehen, zu behaupten, dass natürliche Rechte „Unsinn auf Stelzen“ 20
Zum Ganzen Kunz, K.-L./Mona, M. 2015, S. 76 ff. Vgl. Moore, G. E. (1996): Principia ethica, orig. 1903, Wisser, B. (Üb.), Stuttgart: Reclam, § 10 Abs. 3, S. 65. 22 Vgl. nur Höffe, O. (1979): „Grundzüge einer Theorie politischer Gerechtigkeit“, in: Heintel, E. (Hrsg.): Philosophische Elemente der Tradition des politischen Denkens, München: R. Oldenbourg, S. 52. 21
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Kapitel IV: Natürliche und positive unveräußerliche Rechte
seien,23 bzw. dass es solche Rechte nicht geben kann. Allerdings ist eine gewisse Skepsis gegenüber diesem Konzept angebracht. Diese Untersuchung soll in Bezug auf die Existenz natürlicher Rechte möglichst neutral sein. Es wird weder angenommen, dass es sie gibt, noch wird vorausgesetzt, dass es sie nicht gibt. Der hier verfolgte Ansatz bestimmt die Existenz unveräußerlicher Rechte aufgrund von Gegebenheiten im positiven Recht, um dann die Frage danach zu stellen, ob ihre Unveräußerlichkeit gerechtfertigt ist.24 Insofern besteht die Gefahr eines naturalistischen Fehlschlusses nicht und die Herleitung positiver unveräußerlicher Rechte durch Beobachtungen des objektiven Rechts kann überprüft und falsifiziert werden.
3. Beziehung zu Menschenrechten Natürliche Rechte sind also ein wesentlicher Bestandteil einer naturrechtlichen Theorie. Die Idee der Menschenrechte hingegen beinhaltet nicht notwendigerweise einen Verweis auf eine solche Theorie.25 Unter natürlichen Rechten verstehen wir Rechte, die den Menschen aufgrund ihrer Natur (als Eigenschaft) zukommen. Unter Menschenrechten verstehen wir hingegen Rechte, die allen Menschen gemein sind und somit „universell“ gegeben sind. Es bedarf aber keiner Idee der Natur des Menschen, da es sich bei der universellen Eigenschaft, Menschenrechtsträgerin zu sein, auch um eine sozial und kulturell konstruierte Eigenschaft aller Menschen handeln kann oder um eine allgemeine Übereinkunft.26 Die Unabhängigkeit von einer naturrechtlichen politischen Theorie macht den Begriff der Menschenrechte insofern weniger angreifbar und dessen Verwendung attraktiver.27 Den beiden Konzepten ‚natürliches Recht‘ und ‚Menschenrecht‘ ist jedoch gemein, dass sie Gegebenheiten bezeichnen, die unabhängig von der konkreten Ausgestaltung des positiven Rechts rechtliche und moralische Gründe beinhalten, bestimmte Freiheiten zu schützen und die Befriedigung von Interessen zu ermöglichen.28 In vielerlei Hinsicht sind also Menschenrechte nicht von der Idee von natürlichen Rechten zu trennen.
23
Bentham, J. (1962): „Anarchical Fallacies“, orig. 1843, in: Bowring, J. (Hrsg.), Works, Bd. 2, Edinburgh: William Tait, Kap. 2., § 501. „Natural rights is simple nonsense: natural and imprescriptible rights, rhetorical nonsense, – nonsense upon stilts.“ 24 Vgl. Kap. I, 1. 25 Vgl. Cranston, M. (2002): „Human Rights, Real and Supposed“, orig. 1967, in: Wellman, C. (Hrsg.): Welfare Rights and Duties of Charity, New York: Taylor & Francis, S. 44 f. 26 Donnelly, J. (2013): Human Rights: In Theory and Practice, London: Cornell University Press, S. 13 ff. 27 Vgl. Meyers, D. T. 1985, S. 2. 28 Siehe Cranston, M. 2002, S. 49 ff.
3. Beziehung zu Menschenrechten
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Auch Menschenrechte werden vermehrt als unveräußerlich angesehen.29 Der erste Satz in der Präambel der AEMR lässt den Schluss jedenfalls zu.30 Unveräußerliche Rechte und Menschenrechte sind, wie gezeigt wurde, auch zwei historisch sehr eng beieinanderliegende Ausdrücke und werden in der Rhetorik über Rechte oft gemeinsam verwendet. Es soll aber argumentiert werden, dass dieser Zusammenhang nicht zwingend ist. In der Folge wird deshalb die Abhängigkeit des Begriffes unveräußerlicher Rechte von demjenigen der Menschenrechte infrage gestellt. Es wird dafür argumentiert, dass eine solche Abhängigkeit nicht besteht und dass es methodisch nicht sinnvoll ist, eine solche Abhängigkeit der Untersuchung als Annahme zugrunde zu legen. Es wird gezeigt, dass es sich um logisch unabhängige Konzepte handelt. Weder kann das eine auf das andere reduziert werden, noch kann das eine das andere vollständig in sich begreifen. Erstens sind nicht alle unveräußerlichen Rechte auch Menschenrechte. Zweitens ist es fraglich, ob auch jedes Menschenrecht, das als solches bspw. in der AEMR formuliert wurde, notwendig die Form eines unveräußerlichen Rechts annimmt. Menschenrechte besitzen meist die Form von Anspruchsrechten.31 Es ist zwar nicht der Fall, dass alle normativen Positionen, welche durch ein Menschenrecht begründet werden, Ansprüche mit korrelierenden Pflichten sind. So handelt es sich beim Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit primär um Privilegien.32 Menschenrechte implizieren aber primär bestimmte negative Pflichten (so z.B. der „Schutz vor willkürlicher Verhaftung“).33 Sie beinhalten auch Ansprüche auf „positive Pflichten“ (so z.B. derjenige auf „rechtliches Gehör“,34 durch welchen dem Individuum ein faires Verfahren in einem gerichtlichen Prozess zusteht). Menschenrechte können sowohl zwischen Individuen,35 als auch zwischen einem Individuum und dem Staat bestehen. Der Einfachheit halber wird die Untersuchung aber auf individuelle Rechte gegenüber einem Staat oder gegenüber internationalen Institutionen beschränkt.36
29
Vgl. z.B. Donnelly, J. (2003): International Human Rights, 4. Aufl., Boulder, CO: Westview, S. 19. 30 Op cit. Fn. 5. 31 Vgl. Stepanians, M./Hinsch, W. (2006): „Human Rights as Moral Claim Rights“, in: Martin, R./Reidy, D. A. (Hrsg.): Rawls‘ Law of Peoples: A Realistic Utopia?, Oxford: Wiley Blackwell, S. 119 ff. 32 AEMR Art. 19. 33 AEMR Art. 9. 34 AEMR Art. 10. 35 Bei der sog. „Drittwirkung“ von Menschenrechten. 36 Vgl. Pogge, Thomas W. (1998): „Menschenrechte als moralische Ansprüche an globale Institutionen“, in: Gosepath, S./Lohmann, G. (Hrsg.): Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 147–164.
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Kapitel IV: Natürliche und positive unveräußerliche Rechte
Bei den sehr unterschiedlichen Konzeptionen von Menschenrechten gibt es meistens drei Gegebenheiten, durch welche diese Rechte charakterisiert sind. Erstens sind sie etwas, das grundsätzlich allen Menschen zukommt (1). Jeder Mensch besitzt sie aufgrund dessen, dass er ein Mensch ist. Menschenrechte sind somit universell.37 Sie sind zweitens entweder absolut. Das bedeutet, dass sie unter keinen Umständen von staatlichen Instanzen missachtet werden dürfen (2). Oder sie sind unveräußerlich (3).38 Das bedeutet, dass sie zwar unter bestimmten Umständen missachtet werden dürfen, aber nicht freiwillig abgetreten werden können. Alle Menschenrechte sind notwendig durch (1) und entweder durch (2) oder (3) charakterisiert.39 3.1 Unveräußerliche Rechte und absolute Rechte Zunächst soll der Zusammenhang zwischen (2) und (3) geklärt werden. Es wird einerseits die These verteidigt, dass absolute Rechte nicht notwendig auch unveräußerliche Rechte sind. Andererseits wird argumentiert, dass unveräußerliche Rechte nicht notwendigerweise auch absolute Rechte sind. Zunächst zur ersten These: T1:
Es ist möglich, dass ein unveräußerliches Recht kein absolutes Recht ist.
Unveräußerliche Rechte werden oftmals mit „absoluten Rechten“ gleichgesetzt.40 Ein absolutes Recht verbietet dem Staat (und anderen Individuen) als Rechtsadressatin, das Recht zu verletzen, zu missachten oder zu beschneiden. Absolut ist das Recht deshalb, weil die Adressatinnen das Recht unter keinen Umständen beschneiden dürfen. Es gibt nun aber Umstände, unter denen einer Person, welche ein unveräußerliches Recht besitz, das Recht gerechtfertigterweise entzogen werden kann oder es missachtet werden darf. Eine Person kann einerseits ihr Recht „verwirken“. Z.B. verliert eine Person durch das Begehen eines kapitalen Verbrechens gerechtfertigterweise ihr Recht auf Bewegungsfreiheit.41 Andererseits gibt es rechtfertigende Umstände zur Missachtung des Rechts; z.B. ein Notstand. In diesem Fall bestehen „überwiegende Gründe“, welche die Missachtung von Rechten rechtfertigen. Die Unveräußerlichkeit eines Rechts verunmöglicht also nicht jede Form eines Verlustes des Rechts. Die Einschränkung besteht lediglich in Bezug auf die freiwillige Handlung der Rechtsträgerin, ihr Recht abzugeben oder es zu 37
Nickel, J. W. (2014): „Human Rights“, in: Zalta, E. N. (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy, https://plato.stanford.edu/entries/rights-human. 38 Vgl. Meyers, D. T. 1985, S. 2. 39 Oder (2) und (3). 40 Siehe u.a. Ellerman, D. P. 1992, S. 125 ff. 41 Richards, B. A. (1969): „Inalienable Rights: Recent Criticism and Old Doctrine“, International Phenomenological Research 29 (3), S. 398 f.
3. Beziehung zu Menschenrechten
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transferieren.42 Eine Person kann ein unveräußerliches Recht nicht freiwillig aufgeben oder an eine andere Person übertragen. Das bedeutet, dass das Einverständnis einer Person eine Veräußerung (normativ) nicht erwirken kann.43 Eine Gleichsetzung unveräußerlicher Rechte mit absoluten Rechten ist also nicht angezeigt. Es scheint hingegen aber (zumindest auf den ersten Blick) der Fall zu sein, dass ein absolutes Recht immer auch ein unveräußerliches Recht darstellt. Dementgegen wird aber folgende These vertreten: T2:
Es ist möglich, dass ein absolutes Recht veräußerbar ist.
Zunächst muss festgehalten werden, dass es nur wenige Rechte gibt, die wir aufgrund positiven Rechts wirklich als absolute Rechte bezeichnen können. Als ein Beispiel für ein absolutes (Anspruchs-)Recht könnte ein „Recht auf Schutz vor Folter“ gehandelt werden.44 Aufgrund der AEMR besitzen Staaten und Institutionen die absolute Pflicht, inhaftierte Personen nicht zu foltern. Für die Missachtung dieses Verbots gibt es keine Rechtfertigung. Die Folter darf nicht als Strafmethode verwendet werden. Die Menschenrechte schließen somit aus, dass es sich bei der Folter um ein Mittel zur Herstellung „ausgleichender Gerechtigkeit“ handeln kann. Eine Person darf zudem auch nicht in einem Strafverfahren zum Zwecke der Rechtsfindung gefoltert werden. Ebenso darf sie nicht im Strafvollzug zum Zwecke der Repression oder zur Abschreckung gefoltert werden. Folter darf v.a. nicht als Mittel zum Erreichen gewisser politischer Ziele verwendet werden. D.h. die Folter kann nicht eingesetzt werden, um dadurch z.B. die allgemeine Wohlfahrt oder Sicherheit zu befördern. Spioninnen dürfen nicht gefoltert werden, um ihre Komplizinnen ausfindig zu machen. Feindliche Soldatinnen dürfen nicht mit dem Ziel gefoltert werden, Kriege frühzeitig zu beenden. Wenn wir also davon ausgehen, dass die Unterlassungspflicht (nicht zu foltern) ein Recht beinhaltet, dann folgt daraus, dass ein Individuum dieses nicht verwirken kann. Das Recht bleibt unabhängig davon bestehen, was das Individuum getan hat. Ebenso ist die sog. „Rettungsfolter“ nicht erlaubt. Eine Person (ob eines Verbrechens schuldig oder nicht) darf nicht gefoltert werden, um dadurch die Sicherheit anderer Individuen zu gewährleisten. So darf bspw. eine Terroristin nicht gefoltert werden, um dadurch an Informationen über einen möglichen Anschlag zu gelangen; dies, obwohl der Unwert der Anzahl zukünftiger Terror42 Siehe u.a. Meyers, D. T. (1981): „The Rationale for Inalienable Rights in Moral Systems“, Social Theory and Practice 7 (2), S. 128; Nickel, J. W. (1982): „Are Human Rights Utopian?“, Philosophy & Public Affairs 11 (3), S. 251. McConnell, T. 1984, S. 28 ff. 43 Ebd. S. 31 „[I]f a right is inalienable, then the mere fact that a person has consent is never sufficient to justify encroaching that right.“ 44 AEMR Art. 5.
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Kapitel IV: Natürliche und positive unveräußerliche Rechte
opfer das Unglück der gefolterten Einzelperson weit überwiegen könnte. Es gibt aufgrund der Menschenrechte keine überwiegenden Gründe, die Folter erlauben würden. Absolute Rechte sind nun aber nicht notwendig unveräußerliche Rechte. Dies kann am selben Beispiel aufgezeigt werden. Eine Einwilligung in die Folter schließt u.U. bereits tatbestandsmäßig das Vorliegen von Folter aus. Somit besteht eine de jure Unmöglichkeit der Veräußerung des Anspruches, nicht gefoltert zu werden. Es ist tatsächlich schwierig, sich Folter vorzustellen, welche freiwillig geschieht. Möglicherweise könnten aber „sadomasochistische“ Sexualpraktiken dahingehend interpretiert werden: Eine Person kann hierbei in die Folter einwilligen (solange die Foltermethoden keine schwere Körperverletzung beinhalten). Den Anspruch, nicht gefoltert zu werden, durch Einwilligung aufzugeben, befreit also unter diesen Umständen andere Personen von der Pflicht, sie nicht zu foltern. Insofern kann ein Recht auf Schutz vor Folter zwar ein veräußerliches Recht zwischen zwei Individuen sein, dennoch aber ein absolutes Recht eines Individuums gegenüber dem Staat. Die Rechtsträgerin kann ihr Anspruchsrecht freiwillig aufgeben. Entweder liegt bei Einwilligung keine Folter vor oder die Folter wird durch Einwilligung gerechtfertigt. Weiter unten wird sich zeigen, dass Grundrechte (wobei Menschenrechte als eine spezifische Form von Grundrechten angesehen werden können) ebenso gegenüber einem Staat veräußert werden können. Dies ist dann möglich, wenn ein Individuum einen „öffentlich-rechtlichen“ Vertrag mit einer staatlichen Institution abschließen kann, der einen „Grundrechtsverzicht“ enthält. Ein Individuum gibt in dem Fall freiwillig gewisse Rechte gegenüber dem Staat ab.45 Entsprechend ist es nicht unmöglich, sich ebenso individuelle „Menschenrechtsverzichte“ vorzustellen und wenn dies möglich ist, sind absolute Menschenrechte nicht notwendigerweise unveräußerlich. 3.2 Universelle Rechte und unveräußerliche Rechte Es besteht somit nicht notwendigerweise ein Zusammenhang zwischen absoluten Rechten und unveräußerlichen Rechten. Die oben aufgestellte Bedingung (2) enthält die Bedingung (3) nicht. Nun soll aber geprüft werden, ob der Begriff der unveräußerlichen Rechte auf denjenigen der Menschenrechte reduziert werden kann. Denn wenn jedes unveräußerliche Recht ein universelles Recht ist, liegt dennoch der Schluss nahe, dass es sich bei unveräußerlichen Rechten immer um Menschenrechte handelt. Hierbei ist zu prüfen, welcher Zusammenhang zwischen (3) und (1) besteht.
45
Siehe unten 4.3.
3. Beziehung zu Menschenrechten
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Menschenrechte sind grundsätzlich universelle Rechte, die allen Menschen aufgrund ihres Mensch-Seins zukommen. Es wird also nicht infrage gestellt, ob (1) eine notwendige Bedingung darstellt. Vielmehr soll überprüft werden, ob die Bedingung (3) bereits impliziert, dass das Recht die Bedingung (1) erfüllt. Umgekehrt soll auch geprüft werden, ob alle Menschenrechte unveräußerlich sind. Folgende These wird diesbezüglich verteidigt: T3:
Nicht jedes unveräußerliche Recht ist ein Menschenrecht.
Im Falle des Rechts auf Leben, liegt es zwar nahe, ein solches sowohl als unveräußerliches Recht anzusehen als auch als Menschenrecht, das einem Individuum qua Person zukommt. Ein unveräußerliches Recht kann hingegen aber auch kontingenterweise in einer Gesellschaft vorkommen und aufgrund eines bestehenden moralischen Konsenses (also nicht universell) gegeben sein. Die formalen Kriterien der Unveräußerlichkeit eines Rechts beinhalten keine inhaltlichen Einschränkungen, was als unveräußerliches Recht gelten kann. Somit können auch ganz unbedeutende Rechte durch die staatlichen Institutionen als unveräußerliche Rechte gehandhabt werden. Als Beispiel hierfür kann die vertragsrechtliche Einschränkung durch „übermäßige Bindung“ fungieren.46 Hier wird das Individuum, welches bestimmte Freiheitsrechte besitzt (in diesem Fall die Vertragsfreiheit), daran gehindert, diese Freiheiten durch Abschluss eines stark und über lange Zeit verpflichtenden Vertrags zu veräußern. Ein solcher Vertrag ist nicht bindend und es bestehen keine rechtlichen Möglichkeiten, seine Erfüllung zu erzwingen. Der Begriff der übermäßigen Bindung und seine Extension unterscheiden sich nun aber von Gesellschaft zu Gesellschaft stark. Zudem ist die vertragsrechtliche Einschränkung in gewissen Ländern rechtlich gar nicht verankert. So liegt es nahe, die vertraglichen Freiheitsrechte, welche durch diese Regelung geschützt werden, nicht als universelle Rechte zu behandeln, obwohl sie Unveräußerlichkeiten begründen. Nun aber zu der weit verbreiteten Ansicht, dass jedes Menschenrecht ein unveräußerliches Recht ist. Die Präambel der AEMR lässt ebendiese Schlussfolgerung zu: ein Menschenrecht ist per Definition unveräußerlich. Im Sinne der Abgrenzung des Untersuchungsgegenstandes unveräußerlicher Rechte von jenem der Menschenrechte wird aber die Gegenthese vertreten:
46
Vgl. auch weiter unten 5.1(c).
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Kapitel IV: Natürliche und positive unveräußerliche Rechte
T4:
Nicht jedes Menschenrecht ist ein unveräußerliches Recht.
Ein Beispiel für ein veräußerliches Menschenrecht kann wiederum im Recht, nicht gefoltert zu werden, gesehen werden. Es wurde oben bereits als absolutes aber veräußerbares Recht beschrieben. Man könnte nun bestreiten, dass es sich dabei um ein Recht handelt. Dies wäre zu behaupten, dass das Folterverbot eine Pflicht ist, welche nicht mit einem Anspruch korreliert. Somit ist durch das Beispiel des absoluten Folterverbots noch nicht gezeigt, dass es Menschenrechte geben kann, die veräußerbar sind. Zur Verteidigung der These T4 kann im Grunde aber jedes postulierte Menschenrecht auf seine Form hin geprüft werden, um zu zeigen, dass die Idee der Unveräußerlichkeit der Menschenrechte nicht so eindeutig ist. Betrachtet man bspw. die in Art. 10 formulierte Norm, dass alle Menschen das Recht auf „rechtliches Gehör“ besitzen,47 so stellt man fest, dass es sich hierbei nicht um ein unveräußerliches Recht handeln kann. Eine Person kann jederzeit darauf verzichten. Liegt bspw. ein Strafbefehl vor, dann kann dadurch, dass keine Einsprache erhoben wird, die Strafe in Kauf genommen werden, ohne dass die Möglichkeit besteht, von einer Richterin angehört zu werden. Die These, dass jedes Menschenrecht ein unveräußerliches Recht sein muss, ist somit zu stark. Aus diesen Gründen setzt sich eine rechtstheoretische und moralische Untersuchung über unveräußerliche Rechte nicht ausschließlich und nicht primär mit Menschenrechten auseinander. Prinzipiell kann jedes Recht unabhängig von seinem Inhalt ein unveräußerliches Recht darstellen. Wenn die Unveräußerlichkeit eines Rechts moralisch gerechtfertigt ist, bedeutet dies noch nicht, dass es sich bei diesem Recht um ein Menschenrecht handelt (oder dass es als solches anerkannt werden soll). Wenn die Unveräußerlichkeit eines Rechts moralisch fragwürdig ist, wird dadurch nicht seine Existenz als Menschenrecht in Frage gestellt. Diese Loslösung der Untersuchung unveräußerlicher Rechte vom Diskurs über Menschenrechte soll im folgenden Abschnitt aber noch durch einen weiteren Grund motiviert werden.
4. Moralische Signifikanz unveräußerlicher Rechte Die in Kap. III vorgeschlagene Analyse des Begriffes ‚unveräußerliches Recht‘ verfolgte das Ziel, dessen „Intension“ zu bestimmen. Es wurde nach Bedingungen gesucht, welche ein Recht besitzen muss, um als unveräußerlich zu gelten; unabhängig von der Frage, welche spezifischen Rechte unter den Begriff fallen. Dabei wurde die Annahme getroffen, dass im Prinzip jedes Recht unveräußerlich sein kann – sei dies ein sehr grundlegendes Recht, wie bspw. dasjeni47
AEMR Art. 10.
4. Moralische Signifikanz unveräußerlicher Rechte
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ge auf freie Meinungsäußerung oder z.B. ein sehr spezifisches und moralisch wenig bedeutendes Eigentumsrecht. Es wurde somit primär nach formalen Kriterien gesucht, welche einem unveräußerlichen Recht zukommen könnten. Es bestand nicht die Absicht inhaltlich eine abschließende „Liste von Rechten“ zu erstellen, welche tatsächlich unveräußerlich sind oder sein sollen. Sobald die formalen Kriterien bestimmt sind, kann nach der moralischen Rechtfertigung der Unveräußerlichkeit bestimmter Rechte gefragt werden. Es besteht dann die Möglichkeit, zu zeigen, dass bestimmte Rechte nicht unveräußerlich sein sollen. Als Menschenrechte und natürliche Rechte kommen hingegen nur ganz bestimmte Rechte in Frage – dies sind moralisch signifikante Rechte. Wenn nun aber von vornherein der Untersuchungsgegenstand auf jene Rechte eingeschränkt wird, besteht die Gefahr, dass erstens eine substantielle Vorstellung von universellen Rechten vorausgesetzt werden muss, bevor die normative Analyse angestrebt werden kann. Zweitens wird der Untersuchungsbereich auf bestimmte Rechte eingeengt. Andere Rechte, die der Form nach unveräußerliche Rechte sein könnten, werden ausgeklammert. Eine formale Bestimmung des Begriffes ‚unveräußerliches Recht‘ sollte somit unabhängig vom moralischen Gewicht der Rechte, die unter den Begriff fallen, möglich sein. Wie bereits angedeutet, beinhaltet die Proposition, dass ein Recht gerechtfertigterweise unveräußerlich ist bzw. dass ein Recht unveräußerlich sein soll, keine Aussage darüber, wie wichtig ein Recht ist. Diese moralisch neutrale Betrachtung des Begriffs steht im Gegensatz zu Theorien, welche einen Zusammenhang der Unveräußerlichkeit eines Rechts mit dessen moralischen Signifikanz postulieren. Eine solche Theorie vertritt bspw. Meyers.48 Sie geht in ihrer ausführlichen Auseinandersetzung über unveräußerliche Rechte davon aus, dass die „Möglichkeit, ein Recht zu verlieren“49 („form of rights loss“) bei Rechten graduell unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Gewisse Rechte, wie z.B. das Recht auf Schutz vor Folter sind absolute Rechte, die unter keinen Umständen missachtet werden dürfen und die ein Individuum nicht verwirken kann. Andere Rechte wiederum sind zwar verwirkbar aber nicht veräußerlich, wie z.B. ein Recht auf Niederlassungsfreiheit. Wiederum andere sind vollkommen veräußerbar, wie bspw. Eigentumsrechte. Es gibt also nach Meyers verschiedene Abstufungen der Möglichkeit, ein Recht zu verlieren. Gemäß Meyers korreliert der Grad der Möglichkeit, ein Recht zu verlieren, mit der moralischen Signifikanz des Rechts. Je grundlegender ein Recht ist, desto stärker soll die Möglichkeit, das Recht zu verlieren, eingeschränkt sein. Somit können Rechte in drei verschiedene Kategorien eingeteilt werden: veräußerliche, unveräußerliche und absolute. Bei veräußerlichen Rechten handelt es sich um Rechte, die moralisch weniger gewichtig sind, absolute Rechte hingegen sind so zentral, dass ein Individuum sie unter keinen Umständen 48 49
Meyers, D. T. 1985, S. 9 ff. Sie spricht von „form of rights loss“, ebd. S. 9.
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Kapitel IV: Natürliche und positive unveräußerliche Rechte
verlieren darf. Die Gegebenheit, dass ein Recht unveräußerlich ist, impliziert somit einen bestimmten Wert des Rechtsgutes, der relativ größer zu demjenigen veräußerbarer Rechte ist. Aus zwei Gründen ist Meyers‘ Ansatz jedoch problematisch. Einerseits macht die graduelle Abstufung der Restriktion der Möglichkeit des Verlustes von Rechten nur bedingt Sinn. Bei einem Recht auf körperliche Unversehrtheit bspw. gestaltet sich die Abstufung umgekehrt. Man kann zwar durch Einwilligung eine Körperverletzung rechtlich rechtfertigen, indem man sich z.B. ein Tattoo stechen lässt, man kann allerdings das Recht nicht oder nur beschränkt verwirken: Es ist den Institutionen in modernen Rechtssystemen nicht erlaubt, Personen durch Anwendung körperlicher Gewalt zu sanktionieren.50 Andererseits impliziert gemäß Meyers die Behauptung, dass ein Recht unveräußerlich ist, einen bestimmten moralischen Status des Rechts. Ein unveräußerliches Recht, so die These, ist wichtiger als ein veräußerliches Recht. Wird also eine Liste mit (moralisch gerechtfertigten) unveräußerlichen Rechten erstellt, ist dadurch bereits impliziert, dass es sich dabei um moralisch signifikantere Rechte handelt. Diese substantielle Wertung und Gewichtung verschiedener Rechte muss dann wiederum verteidigt werden.51 Erstens besteht aber das Problem, dass dieser Aufgabe ein großer „moraltheoretischer Ballast“ anhaftet. Z.B. müsste die moralische Signifikanz unterschiedlicher Rechte miteinander vergleichbar sein. Somit wird eine „Kommensurabilität“ der Werte der Rechtsgüter unterstellt. Nur so könnte man eine Rangordnung des moralischen Gewichts der Rechte vornehmen, um so die Voraussetzungen für Meyers‘ Theorie zu erfüllen. Der Ansatz ist aber zweitens auch aus skeptischen Gründen schwierig zu verteidigen. Vergleichen wir als Beispiel das Stimm- und Wahlrecht mit einem Eigentum auf ein Grundstück. Ersteres ist unveräußerlich, letzteres ist es nicht. Beide Rechte sind m.E. jedoch zentrale Rechte für unser politisches und gesell50 Bei Meyers‘ Abstufung wird nun auch ein ganz grundlegendes Kuriosum im Zusammenhang mit unveräußerlichen Rechten augenscheinlich: Es ist u.U. möglich, dass Individuen ein Recht durch Einwilligung nicht aufgeben können, der Staat aber die Möglichkeit besitzt, es zu missachten. Dieser Umstand ist bei unveräußerlichen, nicht absoluten Rechten gegeben. Die Vergeltung durch Strafe besitzt, nach Meyers Theorie, bei unveräußerlichen Rechten einen rechtlich (evtl. auch moralisch) triftigeren Grund zur Missachtung und Verletzung des Rechts als die Einwilligung der Rechtsträgerinnen. Es ist unklar, ob das moralische Gewicht eines Rechts nicht viel eher die Einschränkung der Möglichkeit der staatlichen Beschneidung des Rechts begründet. Die Reihenfolge wäre dann umgekehrt: Unveräußerliche Rechte wären moralisch signifikanter als absolute Rechte. Es wurde auch dafür argumentiert, dass wenn ein Recht verwirkbar ist, es auch veräußerlich sein muss. Dies würde umgekehrt bedeuten, dass wenn ein Recht nicht veräußerlich ist, es auch nicht verwirkt werden kann. Jedes unveräußerliche Recht wäre somit ein absolutes Recht. Siehe z.B. DeVeer, D. (1980): „Are Human Rights Alienable?“, Philosophical Studies 37, S. 168. Nickel, J. W. 1982, S. 253. Diese These wird hier jedoch nicht vertreten. 51 Dazu ausführlich Stern, C. A./Jones, G. M. 2008, S. 33 ff.
5. Unveräußerliche Rechte im positiven Recht
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schaftliches System. Wenn man nun die Wahl hätte, sich aufgrund des Wertes des Rechtsgutes für die Geltung bloß eines der beiden Rechte zu entscheiden (wobei das andere keine Geltung besitzen würde) gäbe es hierzu unterschiedliche Ansichten. So würden Sozialdemokratinnen wohl eher die Geltung eines Stimm- und Wahlrechts vorziehen, während „libertäre“ Denkerinnen eher die Geltung eines Grundstücks-Eigentums herausstreichen würden. Auf den ersten Blick ist nicht ersichtlich, welches von beiden Rechten für unsere Gesellschaft zentraler ist. Die positive Tatsache allein, dass das eine Recht als unveräußerliches Recht gehandhabt wird und das andere nicht, hilft uns nicht diese substantiell moralische Wertung verschiedener Rechte vorzunehmen (sollte sie überhaupt sinnvoll sein). Zudem ist eine Auflösung dieses Konflikts zwischen unterschiedlichen Wertungen von Rechten schwer vorstellbar. Es ist also nicht einfach, dafür zu argumentieren, dass unveräußerliche Rechte moralisch gewichtiger sind als veräußerliche. Um nun zurück zur Frage nach dem Zusammenhang unveräußerlicher Rechte mit Menschenrechten zu kommen, soll hier neben den oben genannten Bedingungen (1)–(3) eine weitere wichtige Eigenschaft der Menschenrechte festgehalten werden: Es handelt sich bei Menschenrechten um moralisch äußerst signifikante Rechte.52 Bei unveräußerlichen Rechten hingegen kann es sich aber auch um weniger zentrale Rechte handeln. Die Unveräußerlichkeit sagt an sich noch nichts über den Wert des Rechtsgutes aus. Eine Untersuchung unveräußerlicher Rechte als Menschenrechte würde also zu kurz greifen. Deshalb soll im Verbleib dieses Kapitels nun die Frage gestellt werden, welche Rechte wir aufgrund von Betrachtungen des positiven Rechts als unveräußerliche Rechte beschreiben können.
5. Unveräußerliche Rechte im positiven Recht Wie in der Einleitung in den Erläuterungen über die Herangehensweise hervorgehoben wurde,53 sind Rechte etwas, worauf man durch die Analyse des Rechtssystems und der rechtlichen Normen schließen kann. Sie werden selten explizit im positiven Recht genannt und deshalb bedarf es eines reflexiven Prozesses zur Identifikation dieser Rechte. Es soll nun aufgezeigt werden, wo sich im geschriebenen Recht (möglicherweise) unveräußerliche Rechte verbergen. Die folgenden Ausführungen versuchen einen Eindruck zu vermitteln, welche Rechtsbereiche die Kategorie unveräußerlicher Rechte aufwiesen, sofern man die im letzten Kapitel aufgestellten Bedingungen UVR anwendet.
52 53
Cranston, M. 2002, S. 51. Kap. I, 1.
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Kapitel IV: Natürliche und positive unveräußerliche Rechte
Es wird somit eine Auslegeordnung gemacht. Im Privatrecht wird Unveräußerlichkeit durch die inhaltlichen und formalen „Schranken der Vertragsfreiheit“ definiert. Im Strafrecht werden durch Deliktstypen, bei denen ein Opfer (oder die betroffene Person) die Handlung nicht durch Einwilligung rechtfertigen kann, unveräußerliche Anspruchsrechte bestimmt. Im öffentlichen Recht gibt es Schranken in Bezug auf die Möglichkeit eines sog. „Grundrechtsverzichts“, die den Rückschluss auf unveräußerliche Rechte zulassen. Drei Einschränkungen müssen zunächst jedoch erwähnt werden. Erstens kann auf länderspezifische Gegebenheiten im Einzelfall nicht Rücksicht genommen werden. Es handelt sich im Folgenden nicht um eine rechtsvergleichende Studie. Es wird exemplarisch v.a. auf das das deutsche Recht Bezug genommen, wobei ähnliche rechtliche Einschränkungen in verschiedenen modernen Rechtssystemen existieren. Zweitens können hier nicht alle bestehenden rechtlichen Normen, die den Rückschluss auf unveräußerliche Rechte zulassen, vollständig aufgeführt werden. Es wird versucht einige einschlägige Beispiele solcher Rechtsnormen zu nennen und so die Gegebenheit unveräußerlicher Rechte sichtbar zu machen. Drittens ist die Identifikation unveräußerlicher Rechte als rein deskriptive Interpretation unterschiedlicher Rechtsnormen zu verstehen. Durch diese Auslegung wird weder ausgedrückt, dass ein bestimmtes Recht unveräußerlich sein soll, noch, dass ein bestimmtes Recht, weil es im positiven Recht veräußerbar ist, nicht als unveräußerliches Recht infrage kommt. 5.1 Mögliche unveräußerliche Rechte im Privatrecht Unveräußerliche Rechte beinhalten eine Unmöglichkeit der Aufgabe oder des Transfers von Rechten. Durch Einwilligung kann das Recht nicht veräußert werden. Insofern sind bestimmte Verträge (die per Definition in einer gegenseitigen Willensbekundung zweier Parteien bestehen) durch unveräußerliche Rechte restringiert. Um also zu erkennen, durch welche rechtlichen Normen unveräußerliche Rechte begründet werden, müssen die rechtlichen Einschränkungen der Gestaltung von Verträgen genauer betrachtet werden.
5. Unveräußerliche Rechte im positiven Recht
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Die Einschränkung der Vertragsfreiheit ist in modernen Rechtsstaaten durch Bestimmungen der „Nichtigkeit“ bzw. der „Ungültigkeit“ oder der „Unverbindlichkeit“ gegeben.54 Die folgenden Formen der Nichtigkeit oder Unverbindlichkeit kennt jedes Privatrecht eines modernen Rechtssystems in der einen oder anderen Form.55 Sie sollen hier genannt und erläutert werden. Ziel ist es, vorwiegend zu unterscheiden, welche Formen der Einschränkung der Vertragsfreiheit unveräußerliche Rechte implizieren können und welche nicht. Deshalb ist es nicht entscheidend, wie sich die konkreten Rechtsfolgen der verschiedenen länderspezifischen Normen unterscheiden. (a) Unmögliche Erfüllung von Verträgen Nicht alle Einschränkungen der Vertragsfreiheit lassen den Rückschluss auf unveräußerliche Rechte zu. In Kap. III, Abs. 3.1 wurde festgehalten, dass es dem Individuum als Bedingung für den Besitz einer Unveräußerlichkeit faktisch möglich sein sollte, das Recht zu veräußern. Deshalb lassen unmögliche Verträge keinen Rückschluss auf unveräußerliche Rechte zu. Verträge sind nichtig, wenn die Erfüllung aufgrund spezifischer Umstände unmöglich ist (impossibilum nulla est obligatio). Durch die Nichtigkeit erhält die Rechtsadressatin (gegenüber der das Recht nicht veräußert wurde) keine Befugnis, die Erfüllung des Vertrages rechtlich einzufordern. Die Nichtigkeit eines Vertrages impliziert jedoch keine rechtliche Unmöglichkeit der Veräußerung. Es handelt sich hierbei um eine „de facto Unmöglichkeit“, ein Recht zu veräußern.56 Die Einschränkung besteht also nicht in einem normativen Sinn, sondern ist durch die spezifischen Umstände gegeben.57 Dies verhindert die Veräußerung des Rechts bereits vor der rechtlichen Unmöglichkeit. Somit sind auch die Freiheiten der Rechtsträgerin nicht beschnitten. 54
Es gibt zwischen den verschiedenen Rechtssystemen in Bezug auf die Nichtigkeit, Ungültigkeit und die Unverbindlichkeit von Verträgen natürlich erhebliche Unterschiede, denen hier nicht mit hinreichender Präzision Rechnung getragen werden kann. Grundsätzlich kann zwischen der Nichtigkeit und der Unverbindlichkeit (vgl. ‚Unwirksamkeit‘) differenziert werden. Erstere beinhaltet die Nicht-Übertragung von Rechten ex tunc: Ein Recht kann durch einen nichtigen Vertrag nicht veräußert werden. Letztere beinhaltet Nichterfüllungsprivilegien und Rückzugsprivilegien nach der Vertragsschließung ex nunc: Die vormalige Rechtsträgerin übernimmt im Falle eines unverbindlichen Rechtsveräußerungsvertrages durch den Vertrag entweder keine Pflichten oder sie behält die Befugnis, die Veräußerung rückgängig zu machen. Das Recht wird zwar veräußert, nicht aber transferiert. Aus beiden Einschränkungen der Vertragsfreiheit (Nichtigkeit und Unverbindlichkeit) kann auf die Unveräußerlichkeit des zugrundeliegenden Rechts geschlossen werden. 55 Vgl. u.a. Zweigert, K./Kötz, H. (1996): Einführung in die Rechtsvergleichung: Auf dem Gebiete des Privatrechts, 3. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck, S. 374 f. 56 Kap. III, 3.1. 57 Sie wird auch nicht durch den Rechtsstaat auferlegt, sondern ergibt sich aus den Umständen der tatsächlichen Möglichkeit zur Erfüllung eines Vertrages. Somit ist die Einschränkung auch nicht moralisch rechtfertigungspflichtig. Vgl. Kap. VII, 1.
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Kapitel IV: Natürliche und positive unveräußerliche Rechte
(b) Widerrechtlicher Inhalt von Verträgen Verträge sind zudem nichtig, wenn sie einen „widerrechtlichen Inhalt“ aufweisen.58 Zwei verschiedene Formen solcher Verträge können unterschieden werden. Einerseits kann ein solcher Vertrag eine Pflichtverletzung gegenüber Drittpersonen beinhalten. So wird bspw. ein Auftragsmord als nichtiger Vertrag angesehen, da er die strafrechtliche Tötungsunterlassungspflicht verletzt. Hier besteht eine „de jure Unmöglichkeit“ des Vertrages.59 Dies wird nicht als eine Regelung angesehen, die ein unveräußerliches Recht impliziert. Die Erfüllung des Vertrages ist durch eine rechtliche Pflicht verhindert und nicht durch das Recht der Auftragsnehmerin. Die Gegebenheit, dass eine Person keine Befugnis besitzt, die Missachtung der Pflicht einer anderen Person zu beauftragen und die daraus entstehende rechtliche Unmöglichkeit, entstehen indirekt durch die rechtliche Norm des Tötungsverbotes. Andererseits kann ein nichtiger Vertrag hingegen eine Pflichtverletzung gegenüber der vertragschließenden Partei beinhalten. In diesem Fall haben wir es mit einem unveräußerlichen Recht zu tun. Z.B. ist ein Vertrag nichtig, der die Tötung auf Verlangen beinhaltet. Dieses Beispiel unterscheidet sich vom Auftragsmord darin, dass ein und dasselbe Recht durch zweierlei normative Positionen geschützt ist. Zum einen die strafrechtliche Pflicht, Tötung auf Verlangen (aber auch Tötung generell) zu unterlassen. Diese Pflicht korreliert mit einem Anspruch einer vertragschließenden Partei. Zum anderen besteht eine vertragsrechtliche Unmöglichkeit (die Nichtigkeit des Vertrages) die ebenso der vertragschließenden Partei zukommt. Zusammengenommen bilden diese beiden normativen Relationen ein unveräußerliches Recht als Bündel normative Positionen – das Recht auf Leben. Die Widerrechtlichkeit des Vertrages ergibt sich somit aus der Tatsache, dass die vertragschließende Person ein unveräußerliches Recht auf Leben besitzt. Gewisse Unmöglichkeiten zur Veräußerung eines Rechtsgutes durch Widerrechtlichkeit sind somit als Normen zum Schutze unveräußerlicher Rechte aufzufassen. (c) Sittenwidriger Inhalt von Verträgen In verschiedenen Rechtssystemen gibt es Einschränkungen der Vertragsfreiheit durch „Sittenwidrigkeit“ (ein Verstoss gegen die boni mores).60 Verträge, die gegen die Sitten verstoßen, werden als nichtig erachtet.61 58
Bürgerliches Gesetzbuch (Deutschland), BGB, 400-2, 18.08.1896, § 138. Vgl. Kap. III, ebd. 60 BGB § 139. 61 Sowohl aus rechtswissenschaftlicher als auch philosophischer Perspektive ist eine solche Norm problematisch. Sie enthält entweder einen Bezug zu einer objektiv wahren Moral, welche als solche wissenschaftlich nicht zwingend begründet werden kann. Bei der 59
5. Unveräußerliche Rechte im positiven Recht
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Bei einer Einschränkung der Vertragsfreiheit durch Sittenwidrigkeit ist es möglich, dass diese ein unveräußerliches Recht impliziert. So wird z.B. ein Kaufvertrag für eine Niere wohl als sittenwidrig eingestuft und der Vertrag ist von vornherein nichtig. Die Käuferin kann die Bereitstellung der Niere rechtlich nicht einfordern und so die Erfüllung des Vertrages nicht durchsetzen. Jedoch beinhalten nicht alle Verträge, welche als sittenwidrig erachtet werden (und somit einer Vertragspartei rechtliche Unmöglichkeiten auferlegen), unveräußerliche Rechte, sondern nur diejenigen Verträge, welche die Veräußerung eines Rechts beinhalten (wobei die Veräußerung als sittenwidrig erachtet wird). So gibt es u.a. auch nicht-widerrechtliche aber sittenwidrige Schädigungen von Drittpersonen, z.B. bei Verträgen zur Beihilfe zur „Erbschleicherei“. Hier besteht, ähnlich der Einschränkung von Verträgen mit widerrechtlichem Inhalt, kein unveräußerliches Recht, da die rechtliche Unmöglichkeit logisch nicht mit einem Recht der Vertragspartei in Verbindung steht. Vielmehr wird sie indirekt durch eine „sittliche Pflicht“ gegenüber einer Drittperson begründet. Die Sittenwidrigkeit kann auch in einer „Übervorteilung“ einer Vertragspartei („Wucher“) bestehen. In dem Fall besteht ein „offensichtliches“ Missverhältnis zwischen einer Leistung und der Gegenleistung.62 Die Übervorteilungsnorm begründet jedoch kein unveräußerliches Recht. Restringiert sind durch diese Norm nicht grundsätzlich die Veräußerung, d.h. die Abgabe oder der Transfer eines Rechts, sondern die Umstände einer spezifischen Veräußerung des Rechts im Einzelfall. Es geht hierbei um die Angemessenheit des Entgelts (iustum pretium). Wenn man bspw. ein Kunstwerk weit unter seinem Marktwert verkauft, weil man sich nicht mit der Materie auskennt, dann mag dies eine Übervorteilung der Käuferin darstellen, welche sich wohl des Wertes bewusst ist. Jedoch kann daraus nicht folgen, dass das Eigentumsrecht auf das Kunstwerk grundsätzlich unveräußerlich ist. Die Gestaltung von Verträgen kann, wie angedeutet, auch formal, d.h. nicht aufgrund des Inhaltes, eingeschränkt sein. So sind u.a. Verträge, die eine „übermäßige Bindung“ beinhalten, ungültig, können im Nachhinein angefochten oSittenwidrigkeit ist so verstanden eine starke Bezugnahme zu „objektiven Werten“ erkennbar. Diese wird weiter unten im Kap. VIII kritisiert. Oder aber die Norm der Sittenwidrigkeit bezieht sich auf eine „positive Moral“, also auf ein allgemein gängiges Verständnis der guten Sitten. Ein solches ist zeitlich und kulturell stark beeinflusst von den momentanen Werten der Mehrheit der Bevölkerung (man denke nur an die vorherrschende Sexualmoral). Zudem stellt sich auch die moralphilosophische Frage, inwiefern das positive Moralverständnis, die Einschränkung der Vertragsfreiheit rechtfertigen kann. Wenn man davon ausgeht, dass durch die Sittenwidrigkeit einer Handlung selbst die rechtliche Einschränkung bereits gerechtfertigt ist, wird von einem Sein auf ein Sollen geschlossen. Die Norm enthält dann die implizite Annahme: Dasjenige, was allgemein als unsittlich gilt, soll vertragsrechtlich verunmöglicht werden. Der richtige Umgang mit der Einschränkung durch Sittenwidrigkeit besteht wohl darin, den Begriff positivistisch, d.h. ohne kritisch moralischen Gehalt, zu verstehen. 62 BGB, § 138.
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Kapitel IV: Natürliche und positive unveräußerliche Rechte
der gerechtfertigterweise nicht erfüllt werden.63 Hierbei handelt es sich um Normen, die v.a. die Unveräußerlichkeit bestimmter Freiheitsrechte beinhalten. Die Selbstverpflichtung in Bezug auf bestimmte Handlungen ist durch Vertrag unmöglich. Somit besitzt die Rechtsträgerin eines Freiheitsrechts keine Befugnis, ihre Privilegien aufzugeben.64 Die drei Einschränkungen der Gestaltung von Verträgen, die Unmöglichkeit, die Widerrechtlichkeit und die Sittenwidrigkeit, können je nach Rechtssystem auch für nicht-vertragliche Rechtsgeschäfte bspw. ein Testament gelten.65 Eine in Bezug auf unveräußerliche Rechte interessante Beschränkung widerrechtlicher Inhalte von (nicht-vertraglichen) Rechtsgeschäften besteht beim Verfassen einer „Patientenverfügung“. In einer solchen kann der Wunsch nicht rechtswirksam ausgedrückt werden, dass man im Falle eines schweren Unfalles, der starke körperliche und psychische Behinderungen der Verunfallten nach sich zieht, aktive Sterbehilfe in Anspruch nimmt. Diese Patientenverfügung kann in den meisten Rechtssystemen keine Ärztin oder Pflegeperson dazu verpflichten, (aktive) Sterbehilfe zu leisten, da es sich hierbei um einen widerrechtlichen Inhalt handelt. Diese privatrechtliche Einschränkung geht hier zusammen mit der strafrechtlichen Einschränkung des Verbotes der Tötung auf Verlangen einher. 5.2 Mögliche unveräußerliche Rechte im Strafrecht Das Strafrecht definiert sowohl sog. „absolute“ als auch sog. „relative Pflichten“.66 Erstere gelten unabhängig von der Einwilligung der Person, der die Pflicht geschuldet ist. Die Pflicht bleibt trotz einer Einwilligung bestehen. Durch Einverständnis, kann die Handlung nicht gerechtfertigt bzw. erlaubt werden. Bei letzteren Pflichten kann eine Einwilligung hingegen die Handlung rechtfertigen. Entweder die strafrechtliche Pflicht wird aufgehoben oder die Verletzung der Pflicht wird „entschuldigt“. 63
In der Schweiz ZGB Art. 27/II. Dies kann unterschiedliche Formen der Selbstverpflichtung betreffen. Z.B. kann sich eine Person vertraglich nicht dazu verpflichten, bestimmten politischen Parteien nicht beizutreten oder bestimmte Handlungen nicht auszuüben, die aufgrund einer religiösen Überzeugung erlaubt sind. Zudem können gewisse Freiheiten in Bezug auf die eigne Gesundheit, den eigenen Körper oder die eigene Sexualität nicht freiwillig mittels Vertrags aufgegeben werden. Des Weiteren gibt es Einschränkungen der Selbstverpflichtung in Bezug auf Konsum und Angebot von Gütern. Z.B: Exklusivitätsverträge für den Bezug von Gütern oder Konkurrenzverbote für Arbeitnehmer können mit Verweis auf übermäßige Bindung angefochten oder gerechtfertigterweise nicht erfüllt werden und deren Einhaltung kann damit nicht rechtlich durchgesetzt werden. Viertens können bestimmte Verträge auch aufgrund der unangemessenen Laufzeit bzw. der zeitlichen Dauer der vertraglichen Verpflichtung als unverbindlich oder ungültig erklärt werden. 65 So in Deutschland, Zweigert, K./Kötz, H. 1996, S. 375. 66 Siehe unten Kap. V, 3.2. 64
5. Unveräußerliche Rechte im positiven Recht
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Durch strafrechtliche Einschränkungen begründete unveräußerliche Rechte setzen absolute Pflichten voraus. Eine erste Bedingung für die positive Gegebenheit unveräußerlicher Rechte im Strafrecht, ist somit die Unmöglichkeit, die Pflicht durch Einwilligung aufzuheben. Gewisse Pflichten sind nun aber deshalb absolut, weil bereits der propositionale Gehalt der Pflicht eine Einwilligung logisch ausschließt. Eine Einwilligung ist dann bereits begrifflich durch die Definition des Straftatbestandes unmöglich. Die gültige Einwilligung ist tatbestandsauschließend. Diese „logische Unmöglichkeit“ zur Veräußerung eines Rechts impliziert keine Unveräußerlichkeit desselben.67 Dies kann am Beispiel von Eigentumsrechten und des strafrechtlichen Schutzes derselben illustriert werden. So ist es bspw. für Diebstahl notwendig, dass die bestohlene Person nicht einwilligt. Sobald sie einwilligt, handelt es sich nicht mehr um Diebstahl, sondern ggf. um eine Schenkung.68 Die Eigentumsrechte, welche durch das Strafrecht geschützt sind, sind somit grundsätzlich veräußerlich. Ähnlich verhält es sich mit Normen zum Schutze der Handlungsfreiheit.69 Die Strafnormen schließen grundsätzlich die Einwilligung aus. Es ist somit davon auszugehen, dass Rechte auf bestimmte Handlungsfreiheiten ebenso im Grunde veräußerlich sind. Der Tatbestandsausschluss durch Einwilligung weist darauf hin, dass das durch die Norm geschützte Recht veräußerbar ist. Eine zweite Bedingung für die Unveräußerlichkeit eines Rechts im Strafrecht besteht somit darin, dass die Einwilligung den Tatbestand der Pflicht nicht ausschließt. Es gibt des Weiteren aber auch absolute strafrechtliche Pflichten, die keine unveräußerlichen Rechte begründen können, weil sie nicht mit einem Anspruchsrecht einer Gegenpartei korrelieren. Wie wir bei der Analyse von Rechten gesehen haben, ist die Korrelativitätsthese (von Rechten und Pflichten) sehr restriktiv.70 Nicht jede Pflicht, so scheint es, korreliert mit einem Recht. Die These wurde deshalb abgelehnt. Pflichten korrelieren dann nicht mit Rechten, wenn eine Rechtsträgerin nicht eindeutig identifiziert werden kann. Die strafrechtlichen Pflichten, welche nicht mit einem Anspruch einer anderen Person oder Institution korrelieren, können keine unveräußerliche Rechte begründen, da sie auf kein Recht verweisen. Z.B. besteht die strafrechtliche Pflicht, keinen falschen Alarm bei der Feuerwehr auszulösen. Es handelt sich dabei um ein „abstraktes Gefährdungsdelikt“. Hierbei ist nicht eindeutig, wer einen entsprechenden Anspruch besitzen 67
Siehe Kap. III, 3.1. So bspw. auch bei der „unrechtmäßigen Verwendung von Vermögenswerten“ oder bei „Einbruch“. Strafgesetzbuch (Deutschland), StGB, 450-2, 15.05.1871, § 242 und § 249. 69 „Freiheitsberaubung“ StGB § 244, Abs. 1. „Entführung“ StGB § 239a. „Geiselnahme“ StGB § 239b. 70 Siehe Kap. II, 2(a). 68
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Kapitel IV: Natürliche und positive unveräußerliche Rechte
könnte: die Feuerwehr, die Steuerzahlenden (weil sie einen unnötigen Einsatz bezahlen müssen) oder der Staat. Eine dritte Bedingung dafür, dass eine strafrechtliche Norm ein unveräußerliches Recht begründet, besteht also darin, dass die strafrechtliche Norm ein sog. „Individualrechtsgut“ schützt.71 Ansonsten wäre eine Einwilligung von vornherein de facto (oder de jure) unmöglich, da die vermeintlich einwilligende Person das dadurch aufzulösende Recht gar nicht besitzt. Nun könnte man auch die These vertreten, dass der Staat oder die Allgemeinheit einen Anspruch auf die Erfüllung der Pflicht besitzt. Dadurch ließe sich die Korrelativitätsthese aufrechterhalten. Es gibt durchaus Gründe, welche für eine solche These sprechen könnten. So ist es auch die Staatsanwaltschaft, welche (als Vertreterin der Allgemeinheit), eine Bestrafung für die Nichterfüllung der Pflicht gerichtlich einfordert. Durch das Strafrecht wird so gesehen immer eine Beziehung zwischen dem Staat und dem Individuum abgebildet. Diese Sichtweise wird hier allerdings nicht vertreten. Die Behauptung, dass bei allen strafrechtlichen Pflichten ausschließlich der Staat einen Anspruch auf deren Erfüllung besitzt, ist intuitiv nicht gut nachvollziehbar.72 Wenn eine Person bspw. getötet wird, dann scheint es sinnvoll, dass man der getöteten Person ein Recht zuschreibt, das verletzt wurde: Sie hatte ein Recht auf Leben. Die Person, welche sie getötet hat, hat dieses Recht verletzt. Zu behaupten, der Staat besitze ein Recht darauf, dass seine Bürgerinnen nicht getötet würden, führt zu einer starken Dehnung unseres Sprachgebrauchs. Eine solche ist unnötig, solange man nicht um jeden Preis die Korrelativitätsthese beibehalten will. Die strafrechtsdogmatische Verwendung des Begriffes ‚Individualrechtsgut‘ würde dadurch obsolet und je nach Deutung auch der Begriff eines strafrechtlich geschützten „Rechtsgutes“ als Ganzes. In Bezug auf die Frage, wie durch das Strafrecht unveräußerliche Rechte begründet werden, müssen also erstens jene Normen genauer betrachtet werden, die absolut gelten. Zweitens darf eine Einwilligung nicht bereits tatbestandsmäßig ausgeschlossen sein. Drittens müssen die Pflichten mit einem Anspruch einer Person korrelieren (somit ein Individualrechtsgut schützen). Erfüllt eine strafrechtliche Norm diese Voraussetzungen, beinhaltet sie ein unveräußerliches Recht. (a) Recht auf körperliche Integrität Eine der zentralen Aufgaben eines jeden Strafrechtsregimes ist der Schutz der „körperlichen Integrität“ von Individuen. Wenn man zwar eine Person bloß berührt oder ihr einen Klapps auf den Rücken gibt, wird man dafür wohl in 71 Stratenwerth, G. 2011, § 10, Rn. 13, S. 227 f. „…ob mit dem betroffenen Rechtsgut ausschließlich Individualinteressen geschützt werden.“ 72 Vgl. Moser, E. (2019): „Rights in Criminal Law in the Light of a Will Theory“, Criminal Justice Ethics 38 (3), S. 7 ff.
5. Unveräußerliche Rechte im positiven Recht
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keinem Rechtssystem strafrechtlich belangt werden können. Allerdings kann alles darüber hinaus möglicherweise bestraft werden. Sobald man bspw. eine „Tätlichkeit“ ausübt, kann man belangt werden. Schwerer wiegen u.a. Körperverletzungen. Hierbei werden unterschiedliche Körperverletzungen nach einem Grad der „Schwere“ unterschieden.73 Z.B. Knochenbrüche, Schlag- und Stichwunden oder Verstümmelungen können durch Einwilligung eher nicht gerechtfertigt werden. Jedes Strafrecht räumt den Rechtsträgerinnen aber in Bezug auf die körperliche Integrität weitreichende Befugnisse ein, diese Körperverletzungen durch Einwilligung zu rechtfertigen. Man kann sich freiwillig leichte Verletzungen zufügen lassen. Grundsätzlich gibt es in jedem Strafrecht aber eine bestimmte Grenze, ab welcher die Einwilligung die Handlung nicht mehr rechtfertigen kann.74 Es besteht dann eine absolute Pflicht zur Unterlassung derselben und die Pflicht beinhaltet einen unveräußerlichen Anspruch der Rechtsträgerin. Das Kriterium der Schwere ist aber nicht allein ausschlaggebend für die Möglichkeit der Rechtfertigung durch Einwilligung. So darf z.B. eine Ärztin einer Patientin durch einen chirurgischen Eingriff sehr schwere Verletzungen zufügen, sofern sie eingewilligt hat.75 Es gibt auch bestimmte absolute Unterlassungspflichten für Körperverletzungen, die durch andere Gründe gerechtfertigt werden als die Schwere, so z.B. in Deutschland bei der „weiblichen Genitalverstümmelung“.76 In eine solche kann grundsätzlich nicht eingewilligt werden, auch wenn der Eingriff keiner schwerwiegenden Körperverletzung gleichkommt. Hierbei ist das Kriterium für die Unveräußerlichkeit des Rechts auf körperliche Unversehrtheit durch die Sittenwidrigkeit gegeben: Die Einwilligung in eine Tat kann diese nicht rechtfertigen, „…wenn die Tat trotz der Einwilligung gegen die guten Sitten verstößt.“77 Das Recht auf körperliche Integrität ist also grundsätzlich veräußerlich, dennoch kann man in bestimmte Praktiken der Körperverletzung nicht einwilligen bzw. die Handlung durch Einwilligung nicht rechtfertigen.
73
StGB § 226. Bspw. ist in der Schweiz die Unterscheidung zwischen schwerer und einfacher Körperverletzung wesentlich für die Möglichkeit einer wirksamen Einwilligung. Schweizerisches Strafgesetzbuch – CH-StGB, 311.0, 21.12.1937, Art. 123. 75 Unter bestimmten Umständen auch ohne explizite Einwilligung; in bestimmte Notsituationen oder mit Verweis auf einem mutmaßlichen Willen. 76 StGB § 226a. 77 StGB § 228. 74
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Kapitel IV: Natürliche und positive unveräußerliche Rechte
(b) Recht auf sexuelle Integrität Eine wichtige Funktion eines Strafrechts ist zudem der Schutz der sexuellen Integrität einer Person. So kann bspw. sexuelle Belästigung durch Worte und Taten strafrechtlich belangt werden.78 Es gibt v.a. aber die Tatbestände einer sexuellen „Nötigung“, „Vergewaltigung“ oder „Schändung“,79 bei welchen jeweils ein Einverständnis zu einer sexuellen Handlung entweder durch Zwang herbeigeführt wird oder es von vornherein nicht vorliegt. Alle diese Unterlassungspflichten sind zwar absolut. Die gültige Einwilligung ist allerdings tatbestandsausschließend. Die durch Einwilligung gerechtfertigte sexuelle Belästigung ist nicht möglich, da es in der Natur der Belästigung liegt, einer Person unfreiwillig zugefügt zu werden. Eine Nötigung setzt seinerseits voraus, dass ein Einverständnis durch eine Zwangssituation herbeigeführt wird. Dieses ist dann nicht als eine gültige Veräußerung zu sehen, da es nicht freiwillig erteilt wird. Alle diese Unterlassungspflichten korrelieren somit nicht mit unveräußerlichen Rechten. Der Schutz der sexuellen Integrität ist gerade dadurch charakterisiert, dass die Freiheit einer Person zur sexuellen Selbstbestimmung gewährt wird. Die Befugnis, Anspruchsrechte zum Schutze der eigenen Sexualität aufzugeben und somit andere Personen von Verboten von Eingriffen zu entbinden, geht in liberalen Rechtssystemen sehr weit. So können durch Einwilligung auch „sadomasochistische“ Sexualhandlungen gerechtfertigt werden und damit einhergehend verschiedene Formen von Körperverletzungen. Das Sexualstrafrecht moderner Rechtsstaaten schützt somit grundsätzlich den Willen der Rechtstragenden. Dies beinhaltet die Idee, dass die strafrechtlichen Unterlassungspflichten durch die Pflichtadressatin aufgehoben werden können. Es gibt allerdings auch Sexualhandlungen in die man nicht eigenwilligen kann. Nicht alle Sexualstraftatbestände schützen die sexuelle Selbstbestimmung.80 Z.B. ist Inzest absolut verboten.81 Allerdings kann bei diesem Verbot auf den ersten Blick keine Rechtsträgerin identifiziert werden. Es scheint nicht der Fall zu sein, dass die eine Hälfte eines inzestuösen Paares das Recht besitzt, dass sie keinen Geschlechtsverkehr mit dem Gegenüber haben muss.82
78
StGB § 184i. StGB § 177. 80 Vgl. Lautmann, R. (1980): „Sexualdelikte: Straftaten ohne Opfer?“, Zeitschrift für Rechtspolitik 13 (2), S. 44. 81 StGB § 173. 82 Es ist zudem höchst fragwürdig, ob die Allgemeinheit ein Recht darauf besitzt, dass verwandte Personen keinen Geschlechtsverkehr haben. Man könnte z.B. argumentieren, dass ein zukünftiges Kind, das aufgrund des inzestuösen Zeugungsaktes behindert auf die Welt kommen würde, ein Recht darauf besäße, dass das inzestuöse Paar den Zeugungsakt unterließe. Selbst wenn dies zutreffen würde, würde das Recht keine normative Unveräußerlichkeit beinhalten, da es sich hier um eine de facto Unveräußerlichkeit handelt: Das nicht-geborene Kind kann das Recht faktisch nicht veräußern, da es nicht einwilligen kann. 79
5. Unveräußerliche Rechte im positiven Recht
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(c) Recht auf Leben Zuletzt soll noch das durch das Strafrecht geschützte Recht auf Leben erläutert werden. In jedem Rechtssystem sind Mord, Totschlag, vorsätzliche83 und fahrlässige Tötung84 sowohl durch Handlungen als auch durch Unterlassungen85 verboten. Wie bereits mehrfach angedeutet, ist auch die „Tötung auf Verlangen“86 in den meisten Rechtssystemen verboten. Dies impliziert nun die Tatsache, dass das Recht auf Leben unveräußerlich ist. Eine Person besitzt einen Anspruch gegenüber anderen Personen, dass sie nicht getötet wird und sie besitzt keine Befugnis, diesen Anspruch aufzulösen. Die Pflicht zur Unterlassung der Tötungshandlung bleibt ungeachtet der Einwilligung bestehen. In verschiedenen Rechtssystemen ist jedoch die sog. „Sterbehilfe“ erlaubt.87 Ist dies der Fall, dann ist das Recht auf Leben hingegen nicht (ganz) unveräußerlich. Eine Person besitzt die Befugnis, die Ärzte von ihrer Unterlassungspflicht zu befreien. Hierbei entsteht eine Inkonsistenz in Bezug auf das Verbot der Tötung auf Verlangen, zumal das Recht sowohl als veräußerlich als auch als unveräußerlich normiert ist. Wenn hingegen Suizid rechtlich erlaubt ist, bedeutet dies noch nicht, dass das Recht auf Leben veräußerlich ist. Das Recht auf Leben ist als ein bilaterales Privileg, zu leben, konzipiert. Man kann von dem Privileg Gebrauch machen oder nicht. Wenn Suizid hingegen verboten wäre bzw. versuchter Suizid strafbar, dann bestünde eine Unterlassungspflicht. Das Recht auf Leben würde dann ein „verbindliches Recht“ darstellen.88 Entsprechend würde dem Recht auf Leben nur der Status eines unilateralen Privilegs zukommen, von dem zwingend Gebrauch gemacht werden muss. Durch die Selbsttötung werden andere Personen aber nicht von ihren Unterlassungspflichten befreit. Die Rechtsträgerin macht von ihrem Recht auf Leben zwar nicht Gebrauch, dies ist aber nicht als eine Veräußerung (eine Auflösung der Tötungs-Unterlassungspflicht) zu werten. Der Suizid tangiert das Recht als normative Relation zwischen Individuen nicht. Das Tötungsverbot bleibt bestehen, solange die Person noch am Leben ist. Es scheint grundsätzlich schwierig beim Verbot von Inzest ein Individualrechtsgut zu identifizieren. Vgl. hierzu Roxin, C. 2006, § 2 C, S. 43 ff. 83 D-StGB, §§ 211–213. Auf die Unterschiede der verschiedenen Tatbestände muss hier nicht eingegangen werden. 84 StGB § 222. 85 Unter bestimmten Umständen z.B. „Garantenpflichten“. 86 StGB § 216. 87 So z.B. in den Niederlanden, teilweise in der Schweiz. Unterschiede der rechtlichen Handhabung beziehen sich jeweils auf die Natur der Handlung. Sterbehilfe geschieht entweder durch Unterlassung ärztlicher Hilfeleistungen „passiv“, durch die Inkaufnahme des Todes durch Behandlungsmethoden „indirekt“ oder durch „aktive direkte“ Tötung. Vgl. zum Ganzen Kap. IX, 1.1. 88 Siehe Kap. III, 3.4.
98
Kapitel IV: Natürliche und positive unveräußerliche Rechte
5.3 Mögliche unveräußerliche Rechte im öffentlichen Recht Die Wissenschaft des öffentlichen Rechts untersucht rechtliche Beziehungen entweder von staatlichen Institutionen zu anderen staatlichen Institutionen oder die Beziehung von Staat zu den Individuen. Für die Identifikation unveräußerlicher Rechte im öffentlichen Recht ist letztere Relation von Bedeutung. Der Fokus liegt hierbei auf den verfassungsmäßigen Grundrechten oder den Grundrechten aufgrund von übergeordnetem internationalem Recht, z.B. der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Von Interesse ist in diesem Abschnitt daher diese „vertikale Beziehung“ zwischen Individuum und Staat. Grundrechte werden ausschließlich als Rechte gegenüber dem Staat verstanden. Es kann sich dabei um Ansprüche, Privilegien, Immunitäten und um Befugnisse handeln. Diese Rechte, sind durch Einschränkungen der staatlichen Gewalt in der Verfassung geschützt. Der Staat muss bspw. in demokratischen Rechtssystemen weitgehende Freiheiten garantieren, so z.B. die Religionsfreiheit, die freie Meinungsäußerung und Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Niederlassungsfreiheit usw. Er kann keine verbindlichen Gesetze erlassen, die es ihm erlauben, diese Freiheiten zu beschneiden. Es ist aber nicht der Fall, dass es sich bei solchen Grundrechten zwingend um unveräußerliche Rechte handelt. Nicht alle Grundrechte können als unveräußerliche Rechte verstanden werden. Die zwei oben erläuterten Abgrenzungen, sollen erneut erwähnt sein. Erstens besteht ein Unterschied zwischen absoluten Rechten und unveräußerlichen Rechten. Diese beiden Formen von Rechten lassen sich jeweils nicht aufeinander reduzieren. Zweitens sind Grundrechte auch v.a. als Immunitäten zu verstehen. Die Mitglieder einer Gesellschaft genießen zum einen, wie dargelegt wurde, absolute Rechte.89 Es handelt sich dabei um Rechte, die nicht verwirkt (d.h. aufgrund strafbaren Verhaltens gerechtfertigterweise beschnitten) werden können. Zudem können sie nicht durch überwiegende moralische oder rechtliche Gründe (wie bspw. Nutzenüberlegungen oder zum Schutze anderer Rechtsgüter) außer Kraft gesetzt werden. Ein Recht kann absolut sein, aber dennoch nicht unveräußerlich. Dies wurde am Beispiel des Folterverbots sichtbar gemacht.90 Ebenso sind unveräußerliche Rechte nicht notwendig absolute Rechte. Die Proposition, dass man ein Recht nicht freiwillig aufgeben kann, beinhaltet nicht, dass dieses Recht nicht verwirkt werden kann. Absolute Rechte definieren, einfach ausgedrückt, dasjenige was der Staat nicht tun darf. Zum anderen besitzen die Individuen aufgrund der Verfassung und den ihr übergeordneten Rechtstexten bestimmte Immunitäten gegenüber dem Staat. Ein Staat kann keine rechtswirksamen rechtlichen Normen zur Beschneidung 89 90
Abs. 3.1. Ebd.
5. Unveräußerliche Rechte im positiven Recht
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dieser Rechte erlassen. So ist es bspw. Den Institutionen in einem liberalen Rechtssystem nicht möglich geltende Gesetze zur Beschneidung der Pressefreiheit zu erlassen. Z.B. ein „Zensur-Gesetz“, das von einer Regierung erlassen wird, um die Pressefreiheit zu beschneiden, mag zwar faktische Geltung besitzen, indem es durch staatlichen Zwang durchgesetzt wird, es besitzt aber aufgrund bestimmter Verfassungsnormen keine juridische Geltung. Und eine Bestrafung zur Durchsetzung einer solchen (Un-)Rechtsnorm kann vor dem Verfassungsgericht angefochten werden. Bei solchen Immunitäten handelt es sich wiederum nicht notwendig um unveräußerliche Rechte. Ein einzelnes Individuum kann unterschiedliche Immunitäten gegenüber dem Staat faktisch nicht veräußern. Im Beispiel der Pressefreiheit scheint es kaum vorstellbar, davon auszugehen, dass eine Zeitung sich freiwillig einer Zensur unterwirft (die Zensur beinhaltet gewissermaßen die Unfreiwilligkeit der Zensierten). Ebenso kann eine einzelne Zeitung nicht eine Aufhebung der Pressefreiheit für alle Medien erwirken. Es handelt sich also um eine faktisch nicht veräußerte Immunität und nicht um ein unveräußerliches Recht. Die rechtliche Unmöglichkeit zum Erlassen eines Gesetzes kommt hierbei dem Staate zu. Solche Immunitäten spezifizieren anders ausgedrückt dasjenige, was der Staat rechtlich nicht tun kann. Er besitzt die Befugnis nicht gewisse Normen zu erlassen. Die Schranken der staatlichen Freiheiten und Befugnisse beinhalten für sich genommen also noch keine unveräußerlichen Rechte. Sie bestimmen einen rechtlichen Rahmen für staatliche Handlungen und die Setzung rechtlicher Normen. Die Tatsache, dass ein Recht als Grundrecht bezeichnet wird, ist somit nicht hinreichend für die Schlussfolgerung, dass es sich bei diesem Recht um ein unveräußerliches Recht handelt. Eine Veräußerung eines Grundrechts besteht dann, wenn ein einzelnes Individuum ein bestimmtes Recht gegenüber dem Staat abtritt. Eine solche Handlung wird auch als „Grundrechtsverzicht“ bezeichnet. Ist ein solcher Verzicht grundsätzlich möglich, handelt es sich beim Grundrecht um ein veräußerliches Recht. Ist hingegen ein solcher Verzicht ausgeschlossen, ist das Recht unveräußerlich. Sog. „verzichtsfeindliche“ Grundrechte stellen unveräußerliche Rechte dar. Sie tauchen da auf, wo ein Individuum als Einzelperson gegenüber einer staatlichen Institution auf ihre Grundrechte verzichten will, dies aber nicht rechtwirksam tun kann.91 91 Es handelt sich nicht um einen Grundrechtsverzicht, wenn die Mehrheit der Individuen einer Gesellschaft als Stimm- und Wahlbürgerinnen bereit sind, gewisse Grundrechte an der Urne aufzugeben. Wenn eine Abstimmung dadurch verhindert wird, dass bestimmte Grundrechte durch das Resultat verletzt würden, dann bedeutet dies noch nicht, dass diese Grundrechte unveräußerlich sind. Die Grundrechte verstehen sich in diesem Fall als eine Immunität der Gesamtheit der Bevölkerung gegenüber der Mehrheit. Unveräußerliche Rechte
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Kapitel IV: Natürliche und positive unveräußerliche Rechte
Ein solcher Verzicht ist wiederum nicht mit einem Nicht-Gebrauch zu verwechseln.92 Es bedarf einer Veräußerungshandlung. Handelt es sich beim Recht um ein Privileg, besteht der Verzicht darin, dass ein Individuum eine rechtlich verbindliche Erklärung zur Nichtausübung desselben gegenüber einer staatlichen Behörde äußert. Insofern kann der Grundrechtsverzicht auch die Form eines Vertrages zwischen staatlicher Behörde und Individuum annehmen.93 Dies betrifft sog. „öffentlich-rechtliche Verträge“, die eine individuelle Rechtsveräußerung beinhalten. Ein Grundrechtsverzicht kann unterschiedliche Formen annehmen. So kann er zeitlich begrenzt sein oder nicht. Er kann sich bloß auf einzelne Rechtspositionen beschränken oder einen globalen Verzicht auf ein Recht und alle in diesem Recht begriffenen rechtlichen Positionen beinhalten.94 Nun kann bezweifelt werden, dass ein zeitlich unbeschränkter Verzicht „im engeren Sinn“, bei dem das Recht in toto abgegeben wird, für Grundrechte überhaupt möglich ist.95 Wenn der Zweifel berechtigt ist, handelt es sich bei allen Grundrechten um unveräußerliche Rechte, da sie als Ganzes nicht veräußert werden können. Es sollen bloß einige Beispiele für Einschränkungen öffentlich-rechtlicher Verträge genannt werden, die einen möglichen Grundrechtsverzicht enthalten. Bspw. ist es einer Person in säkularen demokratischen Rechtsstaaten nicht möglich, gegenüber dem Staat eine bindende Verzichtserklärung zur Ausübung ihres religiösen Glaubens zu formulieren. Der Staat tritt hierbei als Vertragspartei auf. Es handelt sich somit um eine vertikale Beziehung zwischen einem Individuum und dem Staat. Das Individuum ist die Rechtsträgerin und besitzt ein Privileg (zur Ausübung ihres Glaubens), welches mit der Unmöglichkeit einhergeht, dieses Privileg aufzugeben bzw. sich zur Nicht-Ausübung des Glaubens zu verpflichten. Der Staat ist Rechtsadressat, welchem gegenüber das Recht veräußert würde. Ein weiteres Beispiel eines solchen unveräußerlichen Privilegs ist dasjenige der Niederlassungsfreiheit. Die Individuen dürfen sich in liberalen Rechtsstaaten grundsätzlich frei dafür entscheiden, wo sie wohnen wollen.96 Eine Person kann sich nun gegenüber einer bestimmten Gemeindeverwaltung nicht verbeschreiben im öffentlichen Recht hingegen eine bilaterale rechtliche Beziehung zwischen Individuum und Staat. 92 Vgl. Robbers, G. (1985): „Der Grundrechtsverzicht: Zum Grundsatz ‚volenti non fit iniuria‘ im Verfassungsrecht“, Juristische Schulung 25 (12), S. 925. Dreier, H. (2013): „Vorbemerkungen vor Artikel 1 GG“, in: Dreier, H. (Hrsg.): Grundgesetz Kommentar, Bd. I, Art. 1–19, Tübingen: Mohr Siebeck, Rn. 130, S. 134. 93 Vgl. Malacrida, R. (1992): Der Grundrechtsverzicht, Zürich: Schulthess, S. 9. 94 Ebd. S. 11 ff. 95 Dreier, H. 2013, Rn. 131, S. 134. 96 Dies gilt nicht für alle Individuen; Migrantinnen, straffällige Personen, Sozialhilfeempfängerinnen, Arbeitslose u.a. sind teilweise in ihrer Niederlassungsfreiheit stark eingeschränkt.
5. Unveräußerliche Rechte im positiven Recht
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pflichten, sich nicht in der Gemeinde niederzulassen. Sie kann ihr Recht auf Niederlassungsfreiheit nicht aufgeben. Insofern ist diese Freiheit unveräußerlich.97 Eine unveräußerliche öffentlich-rechtliche Befugnis kann zudem im Wahlrecht gesehen werden. Die Rechtsträgerin ist befugt, den rechtlichen Status einer Person (einer Politikerin) zu verändern, d.h. ihr durch die Wahl Rechte und Pflichten aufzuerlegen. Die Person kann nun durch Vertrag mit einer staatlichen Institution weder grundsätzlich auf die Ausübung des Wahlrechts verzichten, noch sich verpflichten, eine bestimmte Politikerin zu wählen. Es liegt auf der Hand, dass dieses Recht ein unveräußerliches Recht sein muss, damit sich die Wahlberechtigten nicht durch freiwillige Aufgabe ihres Rechts selbst entmachten können. Wäre ein solcher Vertrag gültig, könnte eine Obrigkeit von dieser Möglichkeit Gebrauch machen und sich durch rechtlich bindende Kaufverträge ihre Machtposition sichern.98 Politik würde somit zu einem Markt und ein demokratisches System würde dadurch ausgehöhlt. Sofern ein Grundrechtsverzicht durch einen öffentlich-rechtlichen Vertrag unmöglich ist, ist das Grundrecht als unveräußerliches Recht zu interpretieren. Verzichtsfeindliche Grundrechte stellen somit rechtliche Einschränkungen dar, die unveräußerliche Rechte begründen. Die Verfügung über Rechte gegenüber dem Staat kann also insofern eingeschränkt sein, als dass die Individuen keine Befugnis besitzen, bestimmte Freiheiten aufzugeben und staatliche Institutionen von Pflichten zu entbinden. Allerdings ist es nicht grundsätzlich unmöglich, auf Grundrechte zu verzichten. Die Unveräußerlichkeit der Grundrechte muss im Einzelfall geprüft werden.
97 Für weitere interessante Beispiele siehe Pietzcker, J. (1978): „Die Rechtsfigur des Grundrechtsverzichts“, Der Staat 17 (4), S. 528 f. 98 Vgl. Malacrida, R. 1992, S. 129.
Kapitel V
Theorien subjektiver Rechte Ein Recht stellt grundsätzlich einen Vorteil für die Rechtsträgerin dar. Eine Unveräußerlichkeit eines Rechts schränkt hingegen, wie wir gesehen haben, mögliche Rechtshandlungen der Trägerin ein. Es stellt sich somit die Frage, wie und ob diese Rechte in einem rechtstheoretischen Rahmen überhaupt konzipiert werden können. Dies ist gleichbedeutend mit der Frage, ob eine Theorie subjektiver Rechte unveräußerliche Rechte „erfassen“ kann. Eine Theorie subjektiver Rechte befasst sich grundsätzlich mit den folgenden Fragen: Was sind Rechte (welche normativen Relationen sind in Rechten enthalten)? Wer besitzt Rechte? Welche Rechte sollen diejenigen Wesen besitzen, welche Rechte besitzen können? Und wie sollten die Rechte gesichert und geschützt werden?1 In diesem Kapitel sollen die beiden prominentesten Ansätze dazu, die „Willenstheorie“ und die „Interessetheorie“,2 dargestellt werden. Im deutschsprachigen Raum ist die Diskussion über eine angemessene Theorie subjektiver Rechte seit Anfang des 20. Jahrhunderts eher abgeflacht. Dies hat unter anderem mit der weit verbreiteten Auffassung zu tun, dass eine sog. „Kombinationstheorie“3 die wesentlichen Unterschiede zwischen den Theorien und ihre jeweiligen Mängel beseitigen kann.
1
Campbell, T. (2006): Rights: A Critical Introduction, London: Routledge, S. 43. Für eine Willenstheorie in der deutschen Rechtsphilosophie siehe von Savigny, F. C. (1840): System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, http://www.deutschestextarchiv.de/book/show/savigny_system01_1840, S. 7 ff.; die Interessetheorie wurde vertreten von von Jhering, R. (1858): Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Bd. 1, Teil 3, http://www.deutschestextarchiv.de/book/show/jhering_recht0202_1858, S. 327 ff.; im angelsächsischen Raum von Bentham, J. (1970): Introduction to the Principles of Morals and Legislation, orig. 1780, Burns, J. H./Hart, H. L. A. (eds.), London: Athlone, Kap. XVI. 3 So bereits Jellinek, G. (2011): System der subjektiven öffentlichen Rechte, orig. 1905, Kersten, J. (Hrsg.), 2. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck, S. 44. „…die von der Rechtsordnung anerkannte und geschützte, auf ein Gut oder Interesse gerichtete menschliche Willensmacht.“; zuletzt Enneccerus, L./Nipperdey, H. C. (1959): Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, orig. 1929, 15. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck, S. 427 ff. 2
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Kapitel V: Theorien subjektiver Rechte
Allerdings besitzt die Auseinandersetzung zwischen Willens- und Interessetheorie nach wie vor aus drei Gründen eine gewisse philosophische Brisanz.4 Erstens gibt es logische Unvereinbarkeiten und semantische Differenzen zwischen den jeweils aus der Theorie abgeleiteten Begriffen eines Rechts. Die Theorien widersprechen sich. Zweitens gibt es fundamentale Unterschiede in Bezug auf die moralische Grundlage der Theorien. Sie gehen jeweils von unterschiedlichen Werte- und Gründe-Systemen aus, welche die Zuschreibung und die Ausgestaltung von Rechten moralisch rechtfertigen. Drittens kann eine Kombination der Willens- mit der Interessetheorie diese Widersprüche und Unterschiede nicht auflösen. Eine Kombinationstheorie ist entweder in sich widersprüchlich oder sie ist ungenau. In der angelsächsischen Auseinandersetzung zwischen Willens- und Interessetheorien stellen unveräußerliche Rechte einen Streitpunkt dar. Sie werden seitens der Interessetheoretikerinnen oft als Beispiele für sehr zentrale subjektive Rechte herangezogen, welche eine Willenstheorie nicht erfassen könne. Inwiefern und weshalb dies der Fall ist, soll sich in der folgenden Untersuchung herausstellen. Auf die Kombinationstheorie wird im nächsten Kapitel noch Bezug genommen. Im ersten Abschnitt werden die beiden Theorien von Rechten vorgestellt und formal analysiert. Es wird aufgezeigt, dass eine Willenstheorie, wie sie häufig und prominent konzipiert wurde, die Möglichkeit unveräußerlicher Rechte definitorisch ausschließt. Im Anschluss wird dann der Diskurs zwischen Anhängern und Anhängerinnen der Willens- und Interessetheorie metatheoretisch analysiert, um aufzuzeigen, welcher Anspruch an eine Theorie der Rechte bestehen muss, um die oben genannten Fragen beantworten zu können. Die Willenstheorie, wie sie gemeinhin konzipiert wurde, wird im zweiten Abschnitt kritisiert. Es wird dafür argumentiert, dass v.a. ein Element der Theorie, die sog. „Kontrollthese“ den Ansatz unplausibel macht und sie deshalb aufgegeben werden sollte. Im nächsten Kapitel wird dann auf der Grundlage der Kritik an der Willenstheorie ein modifiziertes Verständnis der Theorie als Vorschlag unterbreitet.
1. Willenstheorie und die Interessetheorie 1.1 Die Willenstheorie Rechte können so aufgefasst werden, dass ihr Zweck einzig darin besteht, den Willen von Individuen zu wahren und zu schützen und seine Durchsetzung zu fördern. Der ‚Wille‘ einer Person ist so gesehen das zentrale Rechtsgut. Unter 4 Siehe dazu bspw. Auer, M. (2008): „Subjektive Rechte bei Pufendorf und Kant: Eine Analyse im Lichte der Rechtskritik Hohfelds“, Archiv für die civilistische Praxis 208 (5), S. 597 f.
1. Willenstheorie und die Interessetheorie
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diesem Begriff sind verschiedene Auffassungen subsumiert. Es kann sich beim ‚Willen‘ um die freie Entscheidung eines Individuums handeln oder aber der Wille bezieht sich auf die Freiheit der Selbstbestimmung. Es ist für die Existenz des Rechts unwesentlich, ob die Freiheit bzw. die Ausübung des durch das Recht geschützten Willens für die Rechtsträgerin von Nutzen ist. Im Fokus der Willenstheorie steht also grundsätzlich dieser Wille der Rechtsträgerin. In diesem Sinn wird bspw. Wellmans „Herrschaftstheorie“ als Willenstheorie verstanden. Sie besteht primär aus folgenden beiden Thesen: Eine Person, die ein Recht besitzt, hat eine Herrschaft über das Recht.5 Jedes Recht beinhaltet immer aktive Rechte, d.h. mindestens ein Privileg und eine Befugnis.6 Eine weitere von Willenstheoretikerinnen oft vertretene Ansicht beinhaltet die Forderung, dass der Rechtsträgerin weitreichende „Kontrolle“ über die eigenen rechtlichen Positionen zugestanden werden soll, um dadurch die Freiheit und die Umsetzung des Willens der Rechtsträgerin zu wahren und zu schützen. Unter diesem Aspekt ist z.B. Harts „Entscheidungstheorie“ zu verstehen: Pflichten implizieren dann Rechte, wenn die Pflichtadressatin ausschließliche Kontrolle über die Pflichten besitzt. Grundsätzlich sind die unterschiedlichen Bestimmungen der Willenstheorie homogener als jene der Interessetheorie. Zudem ist die Menge der normativen Beziehungen, welche unter den Begriff eines Rechts gemäß der Willenstheorie fallen, kleiner als bei der Interessetheorie. Der Begriff ‚Recht‘ wird klarer und enger definiert. Ein für Willenstheoretikerinnen zentrales Element wird im Folgenden die „Kontrollthese“ genannt. Eine Rechtsträgerin, so die zugrundeliegende Idee, soll „Kontrolle“ über ihr eigenes Recht besitzen. Das bedeutet, dass sie selbst entscheiden kann (oder können soll), ob und wie ihr Recht durchgesetzt oder geschützt wird bzw. ob es aufgelöst wird oder die Besitzerin wechselt.7 Hart schreibt: [D]uties with correlative rights are a species of normative property belonging to the right holder, and this figure becomes intelligible by reference to the special form of control over a correlative duty which a person with such a right is given by the law.8
Der Fokus liegt hier also auf Anspruchsrechten, die Pflichten anderer Personen gegenüber der Rechtsträgerin beinhalten. Diese sollen, so die Vorstellung Harts, notwendig mit der Kontrolle über die Pflichten einhergehen. Somit muss
5 Wellman, C. 1985, S. 95 f. und Wellman, C. (1995): Real Rights, New York: Oxford University Press, S. 107. 6 Ebd. S. 108. 7 Vgl. u.a. Sumner, L. W. 1987, S. 42 f.; Steiner, H. (1994): An Essay on Rights, Oxford: Blackwell, S. 56 f.; Simmonds, N. A. (1998): „Rights at the Cutting Edge“, in: Kramer, M. H./Simmonds, N. A./Steiner, H. (Hrsg.): A Debate Over Rights: Philosophical Enquiries, New York: Oxford University Press, S. 218. 8 Hart, H. L. A. 1982, S. 185.
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Kapitel V: Theorien subjektiver Rechte
ein Recht auch die Kompetenz der Rechtsträgerin implizieren, über dieses Recht zu verfügen. Diese Kompetenz nimmt nach Hart dreierlei Formen an: − die Befugnis, das Recht freiwillig aufzulösen und die Adressatin von ihren Pflichten zu entbinden, − die Befugnis, das Recht gegenüber der Adressatin durchzusetzen − und die Befugnis, auf die Kompensation für eine Rechtsverletzung (Vergeltung, Schadensersatz usw.) freiwillig zu verzichten.9
In Bezug auf unveräußerliche Rechte soll nun der Fokus auf die Befugnis zur Veräußerung des Rechts bzw. zur Befreiung einer Pflichtadressatin von ihrer Pflicht gelegt werden. Die zentrale Idee einer Willenstheorie ist hierbei, dass ein Individuum nur dann Kontrolle über ihr eigenes Recht besitzt, wenn sie die rechtliche Möglichkeit besitzt, das Recht aufzugeben oder zu transferieren. Die Willenstheorie beinhaltet demnach den Grundsatz der hier als Kontrollthese bezeichnet wird. Diese These ist folgendermaßen bestimmt: KT:
Ein Anspruchsrecht enthält notwendig die Befugnis, einen Anspruch aufzulösen oder zu transferieren.
Der zentrale Einwand seitens einer Interessetheorie richtet sich gegen diese These. Die Kritik besteht v.a. darin, dass ein solcher Begriff von Rechten zu eng gefasst ist. Durch die Einschränkung, dass Anspruche notwendig mit diesen Befugnissen einhergehen müssen, werden bestimmte Arten von Rechten von der Theorie ausgeschlossen. Und eine Gruppe von Rechten, welche durch eine solche Willenstheorie nicht erfasst werden können, sind unveräußerliche Rechte. 1.2 Die Willenstheorie und unveräußerliche Rechte Damit der Rechtsträgerin Kontrolle über ihr Recht gewährt ist, muss sie gemäß der Willenstheorie v.a. Befugnisse über ihre Ansprüche besitzen.10 Die Rechtsträgerin muss über die Pflichten anderer Personen ihr gegenüber frei verfügen können. Aber nicht jede normative Relation, die als Recht bezeichnet werden kann, muss notwendigerweise mit einer solchen Befugnis einhergehen, damit die Kontrolle gewährleistet ist. Nach der in Kap. III getroffenen Unterscheidung gibt es vier verschiedene Formen unveräußerlicher Rechte: Erstens unveräußerliche Ansprüche, zweitens unveräußerliche Privilegien, drittens unveräußerliche Befugnisse und viertens unveräußerliche Immunitäten. Durch die Kontrollthese sind unveräußerliche Ansprüche ausgeschlossen. Entsprechend bliebe die Möglichkeit bestehen, dass innerhalb einer Willenstheorie andere unveräußerliche Rechte
9
Vgl. ebd. S. 183 f. Vgl. z.B. Campbell, T. 2006, S. 44 f.; Wenar, L. 2011.
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1. Willenstheorie und die Interessetheorie
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konzipiert werden können11 – nämlich Privilegien, Befugnisse und Immunitäten.12 Es stellt sich nun die Frage, inwiefern die Verfügungskompetenz eines Individuums über ihr eigenes Recht (also das Kernanliegen der Willenstheorie) bei solchen unveräußerlichen Positionen nicht durch die Unmöglichkeit der Veräußerung eingeschränkt ist. Das Problem der Unvereinbarkeit einer Willenstheorie mit der Existenz unveräußerlicher Rechte soll in der Folge zusätzlich verschärft werden: Nicht bloß unveräußerliche Ansprüche sind mit der Theorie inkompatibel. Es ist nämlich nicht klar, weshalb die Einschränkung der Verfügungskompetenz bei unveräußerlichen Privilegien, Befugnissen und Immunitäten für eine Willenstheorie nicht problematisch ist. Von Anhängerinnen der Willenstheorie könnte auch eine breitere Form der Kontrollthese KT‘ vertreten werden: KT‘:
Ein Recht enthält notwendig die Befugnis, einen normativen Vorteil (Anspruch, Privileg, Befugnis oder Immunität) aufzulösen oder zu transferieren.
Die hier dargestellte Willenstheorie wird in der Folge in diesem Sinn verstanden. Die Befugnisse, welche als zentrale Elemente subjektiver Rechte aufgefasst werden, kommen nach dieser Form der Willenstheorie nicht nur Anspruchsrechten zu, sondern grundsätzlich allen normativen Vorteilen. Aus verschiedenen Gründen konzentriert sich der Diskurs zwischen Interessetheorie und Willenstheorie über unveräußerliche Rechte auf unveräußerliche Anspruchsrechte. Andere Formen unveräußerlicher Rechte werden z.T. außer Acht gelassen oder von Willenstheoretikerinnen (in Bezug auf die Vereinbarkeit mit einer Willenstheorie) als unproblematisch erachtet. In der Folge sollen aber die drei zusätzlichen Positionen – Privilegien, Befugnisse und Immunitäten – einzeln betrachtet werden. Es werden Gründe gesucht, weshalb diese normativen Vorteile entweder nicht mit einer Unmöglichkeit zur Veräußerung einhergehen können oder, wie eine solche Unmöglichkeit mit einer Willenstheorie vereinbar sein könnte. Es wird argumentiert, dass eine Unveräußerlichkeit dieser Vorteile erstens möglich und zweitens mit einer Willenstheorie (wie sie hier skizziert wurde) nicht vereinbar ist. Eine konsequent gedachte Willenstheorie – verstanden als Kontrolltheorie der Rechte – beinhaltet die strengere Kontrollthese KT‘. (a) Unveräußerliche Privilegien In Bezug auf Privilegien könnte man behaupten, dass entweder ein Privileg begriffslogisch mit einer Befugnis zur Veräußerung einhergeht oder, dass die Rechtsträgerin für die Ausübung ihres Willens keine spezifische Kompetenz
11 Es sei denn man geht davon aus, dass Rechte immer mindestens einen Anspruch beinhalten, wie bspw. Steiner, H. 1994, S. 55. 12 Siehe UVR in Kap. III, 1 und 1.1(b)–(d).
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Kapitel V: Theorien subjektiver Rechte
benötigt, dieses Recht zu veräußern. In beiden Fällen wäre eine Unmöglichkeit der Veräußerung eines Privilegs gemäß einer Willenstheorie sinnlos. Man könnte davon ausgehen, dass Freiheitsrechte immer „bilateral“ sind,13 d.h. dass ein Individuum frei ist, eine bestimmte Handlung sowohl auszuüben als auch zu unterlassen. In diesem Fall besteht immer die Möglichkeit, von einem Recht nicht Gebrauch zu machen.14 Ein Freiheitsrecht wäre also notwendig ein Privileg, etwas zu tun oder nicht zu tun.15 Um Kontrolle über normative Vorteile zu besitzen, würde es genügen, dass diese bilaterale Freiheit besteht. Insofern kann und muss die Rechtsträgerin keine Änderung an der normativen Beziehung vornehmen, um die Freiheit „loszuwerden“. Eine Befugnis zur Veräußerung wäre somit bei Privilegien überflüssig.16 Dem ist jedoch zu entgegnen, dass es auch bei bilateralen Privilegien einen Unterschied macht, ob eine Befugnis zur Veräußerung gegeben ist oder nicht. Dies lässt sich an folgendem Beispiel illustrieren: Wenn eine Person ein Recht auf freie Meinungsäußerung besitzt und dieses veräußerbar ist, dann kann sie bspw. einen Vertrag unterzeichnen, in dem sie sich verpflichtet, ihre Meinung zu einem bestimmten Thema nicht zu äußern. Dies ist aber nicht dasselbe, wie von der freien Meinungsäußerung nicht Gebrauch zu machen. Es geht hierbei um einen Verzicht auf die Ausübung des Privilegs und somit um die Verleihung eines Anspruches an eine andere Person. Man kann sich nun bspw. eine Politikerin der Grünen Partei vorstellen, die von der Atomlobby angefragt wird, gegen Bezahlung nicht über die Risiken eines Atomreaktorunfalles zu sprechen. Wenn hierbei das Recht nicht veräußerbar ist (wenn dies z.B. als Bestechung gewertet wird), kann sich die Politikerin vertraglich nicht dazu verpflichten. Der Vertrag wäre nun nichtig und keine Schweigepflicht könnte daraus erwachsen. Die einseitige Nichtausübung (der Nicht-Gebrauch) des Privilegs macht die Politikerin aber noch nicht zu einer für die Atomlobby verlässlichen Bestochenen. Insofern fehlt der Politikerin durch die Unveräußerlichkeit die Kontrolle darüber, sich rechtswirksam bestechen zu lassen. Es gibt verschiedene solche Verträge zur Nichtausübung eines Privilegs, die rechtlich unmöglich sind und welche für eine Willenstheorie problematische unveräußerliche Rechte darstellen; so z.B. auch unzulässige Konkurrenzverbote. Deshalb wird hier die Kontrollthese auch auf Privilegien angewandt.
13
Siehe Kap. II, 2(b). Vgl. hierzu Hart, H. L. A. 1982, S. 173 f. 15 Vgl. Campbell, T. 2006, S. 44. 16 Sinnlos wäre eine Befugnis zur Durchsetzung der Einhaltung eines Nicht-Rechts der Rechtsadressatin und die Befugnis zum Verzicht auf Kompensation, da ein Privileg nicht verletzt oder missachtet werden kann. 14
1. Willenstheorie und die Interessetheorie
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(b) Unveräußerliche Befugnisse Bei Befugnissen handelt es sich ähnlich den Privilegien um aktive normative Vorteile. Wiederum werden Befugnisse typischerweise als bilaterale normative Vorteile gedacht. Sie können sowohl ausgeübt als auch unterlassen werden. Insofern scheint es der Fall zu sein, dass eine Befugnis (ob unveräußerlich oder nicht) immer die Kontrolle der Rechtsträgerin erhöht. Bzw. vermindert die Tatsache, dass eine Befugnis nicht freiwillig aufgegeben oder transferiert werden kann, nicht die Kontrolle der Rechtsträgerin. So könnte beim Stimm- und Wahlrecht17 argumentiert werden, dass die Unmöglichkeit zur Veräußerung die Rechtsträgerin nicht einschränkt. Die Rechtsträgerin kann das Recht entweder nicht ausüben oder einer anderen Person versprechen, jene Politikerin zu wählen, die sie wählt (bzw. für dasjenige zu stimmen, wofür sie stimmen würde). So gesehen stellt eine Unveräußerlichkeit keinen Kontrollverlust dar. Das einzige, was die Rechtsträgerin nicht kann, ist, das Recht gegen Entgelt übertragen. Es muss sich hierbei aber nicht um eine Unveräußerlichkeit handeln, die dem Recht selbst zugeschrieben werden kann. Eine solche Einschränkung kann auch als Unmöglichkeit durch Widerrechtlichkeit und somit als „de jure“ Unmöglichkeit konzipiert werden. Diese Argumentation ist prima facie plausibel. Es gibt jedoch unveräußerliche Befugnisse, die für eine Willenstheorie problematisch sein könnten. Um zu zeigen, dass die Unmöglichkeit der Abgabe oder des Transfers von Befugnissen einer Willenstheorie widerspricht, soll hier ein moralisches Dilemma als Beispiel dienen: Wenn bspw. ein Schiff untergeht, das nicht für alle Passagiere Rettungsboote bereithält, dann besitzt die Kapitänin des Schiffs die Befugnis zu entscheiden, wer auf das Boot darf und wer nicht. Sie besitzt gegenüber den Passagieren zwar eine Rettungspflicht (und die Passagiere einen Anspruch auf die Bereitstellung eines Platzes in einem Rettungsboot). Die Kapitänin hat nun aber aufgrund der unglücklichen Situation die Befugnis, diesen Anspruch bestimmter Individuen aufzulösen. Diese Befugnis ist unilateral, sie kann und soll ausgeübt werden, ansonsten entsteht eine chaotische Situation, in der sich die Passagiere aufs Leben gegenseitig bekämpfen. Zudem ist diese Befugnis unveräußerlich, sie kann nicht an eine Passagierin abgetreten werden. Die Kapitänin muss über Leben und Tod entscheiden.18 Sehr wahrscheinlich möchte also niemand in ihrer Haut stecken und es ist anzunehmen, dass die Kapitänin diese Bürde gerne auf eine andere Person übertragen wollen würde.
17
Das bereits in Kap. III, 1.1 als unveräußerliche Befugnis beschrieben wurde. Nun kann man sich zusätzlich vorstellen, dass unter den Passagieren weder Kinder, noch ältere Personen, noch Frauen, noch Angehörige oder Freunde der Kapitänin sind, wodurch sich das Dilemma verschärft. 18
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Kapitel V: Theorien subjektiver Rechte
In diesem Beispiel widerspricht die Einschränkung der Kontrolle über die Befugnis dem Willen der Rechtsträgerin. Es ist also möglich, sich unilaterale Befugnisse vorzustellen, die mit einer Unmöglichkeit zur Veräußerung einhergehen und die die Kontrolle über die Befugnis einschränken. Unveräußerliche Befugnisse stellen also auch eine Einschränkung der Freiheit des Individuums dar, die aus Sicht einer Willenstheorie problematisch sein kann. Es ist somit sinnvoll, die Kontrollthese in einem erweiterten Sinn KT‘ zu verstehen und auch unveräußerliche Befugnisse als durch eine Willenstheorie nicht erfasste normative Beziehungen sehen. (c) Unveräußerliche Immunitäten Bei Immunitäten ist unklar, ob solche innerhalb einer Willenstheorie überhaupt konzipiert werden können.19 Simmonds argumentiert, dass dies grundsätzlich möglich ist. Immunitäten, so seine Vorstellung, schützen die Entscheidungen einer Person in einem „negativen“ Sinn, indem die rechtliche Stellung einer Person nicht (in Form einer Änderung ihres rechtlichen Status) affiziert werden kann. Die Entscheidungsfreiheit der Person ist deshalb nicht gefährdet, auch wenn es ihr unmöglich ist, die Immunität freiwillig aufzugeben. Denn unabhängig davon, ob sie auf eine Immunität verzichten kann oder nicht, besitzt sie die Privilegien, welche durch die Immunität geschützt werden. Anders ausgedrückt: Ihre „positive Freiheit“ ist von der Veräußerbarkeit der Immunität unabhängig.20 So gesehen können Immunitäten mit einer Veräußerungsbefugnis einhergehen oder nicht. In beiden Fällen sind sie demgemäß aber mit einer Willenstheorie vereinbar. Simmonds sieht die These KT‘ nicht als Element einer Willenstheorie, da Immunitäten nicht notwendig mit der Befugnis zur Veräußerung einhergehen müssen, um mit der Willenstheorie vereinbar zu sein. Dies ist allerdings aus Sicht der Willenstheorie nicht eindeutig. Wenn man sich bspw. einen Vertrag vorstellt, in dem nicht nur Ansprüche und Pflichten transferiert werden, sondern auch Befugnisse, dann schränkt eine Begrenzung der Vertragsfreiheit (zum Transfer der Befugnis) und somit eine unveräußerliche Immunität die Freiheit der Vertragsparteien erheblich ein und verringert die Kontrolle der Rechtsträgerinnen. Man kann sich z.B. eine arbeitsrechtliche Regulierung vorstellen, die Überstunden verbietet. Eine Arbeitgeberin besitzt in dem Fall keine Befugnis, die Arbeitnehmerin zu Überstunden zu verpflichten. Die Arbeitnehmerin kann also keinen Vertrag abschließen, in dem flexible Arbeitszeiten möglich sind. Sie besitzt eine unveräußerliche Immunität gegenüber der Arbeitnehmerin.21 Dies schränkt ihre Entscheidungsfreiheit stark ein 19
Vgl. Hart, H. L. A. 1982, S. 190 f.; als Reaktion darauf siehe MacCormick, N. 1977, S. 195. 20 Simmonds, N. A. 1998, S. 228. 21 Es handelt sich bei der vertraglichen Regulierung um eine Immunität und nicht um einen Anspruch, da nicht eine Unterlassungspflicht, sondern eine Unmöglichkeit zur
1. Willenstheorie und die Interessetheorie
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und reduziert ihre Kontrolle. Es zeigt sich also, dass die Abwesenheit der Befugnis zur Veräußerung einer Immunität auch die positive Entscheidungsfreiheit beeinträchtigt und somit unveräußerliche Immunitäten ein Problem für die Willenstheorie darstellen können. In der Folge wird daher davon ausgegangen, dass erstens Immunitäten unveräußerlich sein können und zweitens unveräußerliche Immunitäten nicht mit der Willenstheorie vereinbar sind. Aufgrund dieser Erläuterungen ist es nicht verständlich, weshalb sich der Diskurs zwischen der Willenstheorie und der Interessetheorie allein auf unveräußerliche Anspruchsrechte konzentriert. Grundsätzlich ist aus Sicht der Willenstheorie die Kontrolle über alle Hohfeld’schen normativen Vorteile wesentlich für ein Recht. Deshalb soll die modifizierte Kontrollthese KT‘ als konstitutives Element für die bis anhin beschriebenen Willenstheorien gesehen werden. Da sich die Diskussion allerdings auf unveräußerliche Ansprüche beschränkt, ist es einfacher, sich auf diese als paradigmatische Beispiele unveräußerlicher Rechte zu konzentrieren. In der Folge wird also der Begriff der unveräußerlichen Rechte zunächst im engeren Sinn (unveräußerliche Anspruchsrechte) aufgefasst. Es genügt also der Fokus auf unveräußerliche Anspruchsrechte und deren Unvereinbarkeit mit der engeren Form der Kontrollthese KT. Unveräußerliche Rechte werden, wie gesagt, von Interessetheoretikerinnen als ein Einwand gegen Willenstheorien verwendet bzw. als eine Kategorie von Rechten aufgefasst, welche eine Willenstheorie nicht in sich begreifen kann (eine Interessetheorie hingegen schon). Der Begriff unveräußerlicher Rechte UVR mit seinen zwei Bedingungen22 beinhaltet notwendig die Unmöglichkeit, das Recht aufzulösen. Nach Harts Kontrolltheorie der Rechte impliziert ein Recht die Befugnis zur Entbindung der Rechtsadressatin von den Pflichten, die durch das subjektive Recht selbst bedingt werden (KT). Ein unveräußerliches Anspruchsrecht hingegen beinhaltet die Unmöglichkeit, die Rechtsadressatin von den Pflichten zu befreien. Somit sind unveräußerliche Rechte mit einer so konzipierten Willenstheorie nicht vereinbar. Diesen vermeintlichen Mangel einer Willenstheorie weist eine Interessetheorie nicht auf. Die Interessetheorie formuliert ein grundsätzlich breiteres Konzept von Rechten, das unveräußerliche Rechte in sich begreifen kann. Die Vereinbarkeit unveräußerlicher Rechte mit einer Interessetheorie wird in dieser Untersuchung vorausgesetzt. Es besteht zudem auch nicht Anlass zur Sorge, dass eine Interessetheorie, solche Rechte nicht erfassen kann. Deshalb ist es das Ziel dieser Untersuchung, die Möglichkeit einer Vereinbarkeit mit der Willenstheorie zu prüfen. Verpflichtung zu Überstunden spezifiziert ist. Es ist der Arbeitgeberin unmöglich, mit Verweis auf die vertragliche Vereinbarung das Leisten von Überstunden einzufordern. 22 Kap. III, 1.
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Kapitel V: Theorien subjektiver Rechte
1.3 Die Interessetheorie Bei einer Bestimmung der Interessetheorie von Rechten bestehen größere Differenzen als bei der Willenstheorie. Die unterschiedlichen Formen einer Interessetheorie gehen z.T. von jeweils unterschiedlichen begrifflichen Voraussetzungen aus. So verwenden nicht alle Interessetheoretikerinnen eine Hohfeld’sche Analyse. Ziel ist es hier aber, einen gemeinsamen Kern der Interessetheorien zu identifizieren. Dabei soll v.a. die Stoßrichtung hinter einer solchen Theorie zugänglich gemacht werden. Es wird weder versucht, alle Theorien auf gemeinsame notwendige Bedingungen zu reduzieren, noch eine eigene Form der Interessetheorie zu erarbeiten. Die folgenden drei Formulierungen der Interessetheorie gehören in der angelsächsischen Literatur zu den bekanntesten und einschlägigsten. Erstens, Lyons‘ “Qualified Beneficiary-Theory”: Eine Person besitzt ein Recht, wenn sie die direkte und beabsichtigte Begünstigte einer Pflicht ist.23 Die Existenz einer Pflicht sieht Lyons als nicht hinreichend für ein Recht an. Damit eine Pflicht ein Recht einer Person beinhaltet, muss es eine Nutznießerin der Pflicht geben, zu deren Gunsten die Pflicht besteht. Zweitens, Raz’ Interessetheorie: Rechte sind dann gegeben, wenn das Interesse einer Person einen hinreichenden Grund dafür liefert, dass andere Personen eine Pflicht besitzen, etwas zu tun oder nicht zu tun.24 Drittens, Kramers Interessetheorie: Eine Person besitzt ein Recht, wenn das Interesse einer Person hinreichend ist, eine Verletzung eines Rechts nachzuweisen.25 Bei beiden Ansätzen, sowohl von Raz als auch Kramer, ist augenscheinlich, dass das Interesse einer Person einen Grund dafür liefert, dass rechtliche Pflichten entweder entstehen oder, dass eine Verletzung von Rechten vorliegt. Es zeigt sich, dass der Schutz und die Wahrung von Interessen der Rechtsträgerinnen nicht bloß als eine Bedingung eines Rechts festgelegt werden, sondern auch den Zweck der bestehenden Pflichten und des damit korrelierenden Rechts bestimmen. Eine Interessetheorie sieht das zentrale Element von Rechten also darin, dass diese dem Individuum zum Vorteil gereichen. ‚Interesse‘ kann wiederum auf verschiedene Weisen aufgefasst werden. Es kann sich dabei um Nutzen, Bedürfnisbefriedigung, Wunscherfüllung oder allgemein um Wohlfahrt handeln. Dass ein Recht die Interessen seiner Trägerin schützt, ist eine notwendige Bedingung für ein Recht; nicht aber eine hinreichende. Nicht jedes Interesse liefert einen Grund dafür, durch Pflichten geschützt zu werden. Das individuelle Interesse muss somit eine bestimmte Signifikanz aufweisen. 23 Lyons, D. (1969): „Rights, Claimants, and Beneficiaries“, American Philosophical Quarterly 6 (3), S. 176. 24 Raz, J. (1986): The Morality of Freedom, Oxford: Clarendon, S. 166. 25 Kramer, M. H. 1998, S. 81 f.
1. Willenstheorie und die Interessetheorie
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Es gibt nun drei Missverständnisse, die zunächst ausgeräumt werden müssen, um die Interessetheorie richtig zu verstehen.26 Erstens profitiert die Rechtsträgerin nur dann davon, wenn das Recht auch gewahrt und eingehalten wird. Im Falle von Anspruchsrechten bedeutet dies, dass die korrelierende Pflicht einer anderen Person auch wahrgenommen werden muss. Im Falle einer Missachtung würde das Interesse der Rechtsträgerin nicht verfolgt. Zweitens kann die Einhaltung eines Rechts auch letzten Endes dazu führen, dass die Rechtsträgerin einen Nachteil erleidet, dies allerdings aus irrelevanten Gründen. Wenn eine Person B z.B. die Schulden einer anderen Person A zurückbezahlt erhält, A jedoch das Geld alsbald dazu verwendet, sich zu betrinken, mag der Erhalt des Geldes unter dem Strich nicht von Vorteil gewesen sein. Dennoch würde eine Interessetheorie nicht bestreiten, dass die Gläubigerin A ein Recht auf das Geld besitzt.27 Drittens kann der Nutzen, durch die Einhaltung des Rechts auch darin bestehen, dass Schaden vermieden wird. Somit erhöht sich durch das Recht die Wohlfahrt einer Person u.U. nicht, sondern bleibt konstant. Ebenso ist der Sachverhalt, dass eine beliebige Person von einem normativen Nachteil profitiert, nicht hinreichend, dass der dazugehörige normative Vorteil für eine Interessenstheorie als Recht gilt. Es muss sich dabei um die durch das Recht vorgesehene und unmittelbar begünstigte Person handeln. Es handelt sich also um das Interesse der Rechtsträgerin, das gewahrt und befördert werden muss. Man könnte hingegen zur Auffassung geneigt sein, dass Rechtspflichten wie z.B. die allgemeine Wehrpflicht mit einem Recht korrelieren. Die Gesellschaft profitiert davon, dass junge Männer28 ihre Zeit für die Verteidigung des Landes opfern. Es besteht also eine Pflicht und gewisse Leute profitieren von dieser Pflicht. Allerdings ist die Aussage, die Gesellschaft besitze ein Anspruchsrecht auf die Erfüllung der Wehrpflicht, streitbar, da eine konkrete Rechtsträgerin nicht identifiziert werden kann. Zu einer solchen Aussage ist eine Interessetheorie aber nicht gezwungen. Erstens ist die Theorie nicht zur Annahme verpflichtet, dass alle Pflichten Rechte implizieren. Die Korrelativitätsthese muss nicht zwingend vorausgesetzt werden. Zweitens sind eine Pflicht und der Nutzen irgendeiner Person oder Gruppe von Personen zusammengenommen noch nicht hinreichend dafür, dass ein Recht besteht. Die Pflicht (der normative Nachteil) muss gegenüber einer bestimmten Person oder Gruppe von Personen bestehen.29
26
Zum Ganzen Lyons, D. 1969, S. 175 f. Ein Recht muss nicht in jedem Fall, in dem es zur Geltung kommt, den Interessen der Rechtsträgerinnen dienlich sein. Es kann ihr auch im Durchschnitt zum Vorteil gereichen. 28 Z.B. in Israel auch Frauen. 29 Vgl. ebd. S. 178. 27
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Kapitel V: Theorien subjektiver Rechte
Verschiedentlich ist die Interessetheorie dem Vorwurf ausgesetzt, dass sie zu breit gefasst ist und normative Vorteile als Rechte bezeichnet, welche gemäß eines juristischen oder politischen Verständnis nicht als solche gesehen werden. Es geht dabei um den Einwand der sog. „Begünstigten Dritten“ („third-party-beneficiaries“).30 Bei verschiedenen normativen Relationen profitieren Personen, die scheinbar keinen rechtlich geschützten Anspruch auf diesen Nutzen besitzen sollen. Bspw. kann eine Person B einer Person A vertraglich zusichern, einer Person C monatlich eine bestimmte Summe Geld zu überweisen. C profitiert von der Erfüllung der Pflicht von B. Allerdings besitzt C kein Recht auf die Bezahlung, sondern A. Eine Interessetheorie wäre nun aber zur Aussage gezwungen, dass C einen Anspruch auf die Erfüllung der Pflicht besitze. Somit scheint es der Fall zu sein, dass eine Interessetheorie zu breit ist, indem sie auch einer Person C ein Recht zuschreiben würde. Nun ist es der Fall, dass die Erfüllung von Pflichten meistens irgendeinem Individuum von Nutzen ist. Das Interesse eines Individuums an der Erfüllung von Pflichten ist also einerseits keine hinreichende Bedingung für ein Recht.31 Andererseits profitiert im Beispiel Person A auch nicht wesentlich von der ihr zugesicherten Erfüllung der Pflicht. A besitzt aber nach gängigem Verständnis einen Anspruch, da sie einen Vertrag abgeschlossen hat und dessen Erfüllung einfordern kann. Insofern ist die Dienlichkeit einem Interesse auch keine notwendige Bedingung für ein Recht.32 Eine Interessetheorie, so der Einwand, könne nicht unterscheiden, welche Pflichten Rechte begründen und welche nicht. Der Begriff eines Rechts sei „redundant“. Rechte seien auf Pflichten reduzierbar, da die Nützlichkeit eines Rechts kein signifikantes Kriterium der Unterscheidung liefert. Die Theorie sei zudem zu breit gefasst, indem sie Profiteurinnen von Rechtspflichten als Rechtsträgerinnen qualifiziert. Aufgrund ihrer Unterbestimmung sei die Theorie also gezwungen, Nutznießerinnen einer sog. „Reflexwirkung“33 einer Pflicht als Rechtsträgerinnen anzuerkennen. Die Theorie umfasst deshalb zu viele Rechte, weil sie Situationen miteinschließt, in denen ein Vorteil für eine Person besteht, diese aber nicht im eigentlichen Sinne ein Recht auf diesen Vorteil besitzt. Dieses Problem einer Interessetheorie wird hier jedoch nicht weiter untersucht, da es für die Argumentation nicht wesentlich ist. Ob eine Interessetheorie zu breit gefasst ist oder nicht, ist unwesentlich für die Frage nach einer rechtstheoretischen Fundierung unveräußerlicher Rechte. Tatsache ist, dass eine Interessetheorie breit genug ist, um unveräußerliche Rechte zu erfassen. 30
Siehe dazu Hart, H. L. A. 1982, S. 174 ff. und 187 f.; als Reaktion auf Lyons, D. 1969, S. 173–85. 31 Hart, H. L. A. 1982, S. 187. 32 Ebd. S. 187. 33 Das Problem der Reflexwirkung geht zurück auf von Jhering, R. 1858, S. 351 ff.
1. Willenstheorie und die Interessetheorie
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Das Ziel des Schutzes und der Wahrung des Interesses einer Person kann damit vereinbar sein, dass eine Rechtsträgerin keine Befugnis besitzen soll, das Recht zu veräußern. Dies ist dann der Fall, wenn eine Veräußerung nicht im Interesse der Person liegen kann oder diesem nicht zuträglich ist. Für den Moment genügt also folgende Beschreibung der Interessetheorie: Es ist für ein Recht gemäß der Interessetheorie nicht wesentlich, dass die Rechtsträgerin über das Recht verfügen kann. Ein Recht und die damit einhergehenden Vorteile (Wohlfahrt, Nutzen usw.) für die Person, welche es besitzt, bestehen unabhängig von der Kontrolle über das Recht. Eine Person kann von einem Recht profitieren, auch wenn sie es nicht auflösen kann. Es ist zwar möglich, dass z.B. ein Anspruchsrecht mit der Befugnis einhergeht, diesen Anspruch und die korrelierenden Pflichten aufzulösen. Es ist aber für ein Recht nicht notwendig. Somit trifft die Kontrollthese (sowohl KT als auch KT‘) nicht auf eine Interessetheorie zu. Zudem wird hier die Frage ausgeklammert, inwiefern eine Interessetheorie einerseits die Befugnis zur Durchsetzung des Anspruches und andererseits die Befugnis zum Verzicht auf Kompensation bei einer Anspruchsverletzung als notwendig erachtet. Der für die Untersuchung wesentliche Unterschied zwischen der Interesse- und der Willenstheorie ergibt sich vielmehr in Bezug auf Harts Idee der Befugnis zur freiwilligen Auflösung oder zum Transfer des Rechts. Da nun nicht bloß selbstbewusste und vernünftige Individuen ein Interesse besitzen, sondern auch Tiere, Kleinkinder evtl. Föten und behinderte Menschen, ist eine Interessetheorie auch in Bezug auf die möglichen Rechtsträgerinnen breiter gefasst als die Willenstheorie. Für die Frage nach der Möglichkeit unveräußerlicher Rechte ergibt sich dadurch aber kein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Theorien. Wie gezeigt wurde, setzt die Unveräußerlichkeit eines Rechts eine normative Einschränkung voraus. Tiere, Kleinkinder, Föten usw. besitzen faktisch keine Veräußerungsmöglichkeit, da sie ihren Willen nicht oder nur beschränkt äußern können. Bei de facto Unmöglichkeiten zur Veräußerung handelt es sich aber nicht um unveräußerliche Rechte.34 Insofern können unveräußerliche Rechte ohnehin nur Personen zukommen. 1.4 Die Differenz zwischen den Theorien Der Konflikt zwischen den beiden Theorien ließe sich, so könnte man meinen, durch eine Reduktion der einen auf die andere Theorie lösen. Dies könnte durch eine begriffliche Bestimmung von ‚Wille‘ oder ‚Interesse‘ bewerkstelligt werden. Es gibt dazu zwei Möglichkeiten: Entweder wird (1) der Begriff der Interessen oder (2) derjenige des Willens jeweils so aufgefasst, dass sich die beiden Theorien auf eine Theorie reduzieren lassen. 34
Siehe Kap. III, 3.1.
116
Kapitel V: Theorien subjektiver Rechte
(1) Wenn man davon ausgeht, dass das Interesse einer Person ausschließlich dasjenige ist, wofür sich ein Individuum entscheidet, dann entspricht eine Interessetheorie der Willenstheorie.35 Dies würde auch die Möglichkeit unveräußerlicher Rechte innerhalb einer Interessetheorie erschweren, da eine Veräußerungsentscheidung so gesehen immer im Interesse der veräußernden Person liegt. (2) Wenn man davon ausgeht, dass Individuen sich immer nur für dasjenige entscheiden, was in ihrem Interesse liegt, ist eine Interessetheorie in der Willenstheorie enthalten. Dies würde die Notwendigkeit einer rechtlichen Unmöglichkeit zur Veräußerung bestimmter Rechte beseitigen, da es gar nie der Fall wäre, dass eine Person ein Recht veräußern wollte, dessen Veräußerung nicht in ihrem Interesse liegt. Beide Prämissen sind sehr restriktiv und werden deshalb abgelehnt. Erstere geht davon aus, dass ‚Interesse‘ mit ‚Wunscherfüllung‘ gleichzusetzen ist bzw. dass ein Interesse ausschließlich in der Wunscherfüllung besteht.36 Letztere geht davon aus, dass die Absicht von Entscheidungen immer das Interesse ist. Es handelt sich aber bei Interessen und dem Willen einer Person um unterschiedliche Konzepte und es besteht ein tatsächlicher Konflikt zwischen den beiden Theorien. Die unterschiedlichen Formen von Interessen werden im nächsten Kapitel noch genauer erläutert. In gewisser Hinsicht sind sog. „subjektive Interessen“ in freien Entscheidungen reflektiert.37 Für den Moment genügt jedoch die Feststellung, dass es sich bei Interessen und dem Willen von Personen um nichtreduzierbare Konzepte handelt. Einige Rechtsphilosophinnen gehen allerdings davon aus, dass eine Einbindung der Willenstheorie in die Interessetheorie grundsätzlich möglich ist. Nach dieser Auffassung ist eine Interessetheorie umfassender als eine Willenstheorie. Die Begründung basiert auf zwei Thesen: 38 Erstens könne eine Interessetheorie, so die Idee, alle jene Rechte in sich begreifen, welche durch eine Willenstheorie definiert werden. Wie wir bei der Analyse gesehen haben, ist eine Fähigkeit zur Verfügung über die normativen Vorteile eine notwendige Eigenschaft dieser Rechte im Sinne der Willenstheorie. Eine Interessetheorie sieht solche Verfügungskompetenzen als möglich, aber nicht notwendig an. Insofern ist die Interessetheorie begrifflich breiter als die Willenstheorie. Sie kann alle von der Willenstheorie erfassten Rechte erklären, zusätzlich aber auch solche Rechte erfassen, bei welchen die Verfügung eingeschränkt ist.
35
Vgl. Steiner, H. 1994, S. 58. Ein „präferenzutilitaristischer“ Nutzenbegriff ein Beispiel hierfür. 37 Siehe Kap. VI, 1. 38 Vgl. Wenar, L. 2011, „The interest theory is more capacious than the will theory.“ 36
1. Willenstheorie und die Interessetheorie
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Zweitens besteht die Möglichkeit, zu argumentieren, dass die Verwirklichung und Durchsetzung der eigenen Entscheidung selbst immer auch ein Interesse einer Person darstellt, das neben anderen Interessen bestehen kann.39 Jene Rechte, welche die Entscheidung der Rechtsträgerin wahren und schützen, sind so gesehen in der Menge aller Rechtsgüter, welche sich auf das Interesse einer Person beziehen, enthalten. Aufgrund der ersten These könnte man nun zu der Auffassung verleitet sein, dass sich Diskussion zwischen den beiden Theorien lediglich auf die Größe der Menge aller Rechte bezieht, welche durch eine Theorie erfasst werden kann. Insofern hätte die philosophische Diskussion über eine Theorie der Rechte kaum Brisanz, da der einzige Unterschied darin bestünde, dass die eine Theorie enger und die andere breiter gefasst ist. Die aus einer Willenstheorie abgeleiteten Aussagen über Rechte würden einer Interessetheorie nicht widersprechen. Allerdings wird auch die zweite Überzeugung hier nicht vertreten. Einerseits kann die Erfüllung von Wünschen der Rechtsträgerin ein Interesse sein, muss es aber nicht. Wenn man bspw. nur an all die Freiheiten zur Selbstschädigung, zur Ausübung riskanter Aktivitäten, ungesunder Gewohnheiten usw. denkt, wird klar, dass ein Individuum in einer liberalen Gesellschaft viele Rechte besitzt, gewisse Dinge zu tun oder zu unterlassen, welche möglicherweise nicht in ihrem Interesse liegen. So besitzen die Individuen (in einem bestimmten Rahmen) das Recht, Extremsportarten auszuüben, auch wenn sie sich dadurch in große Gefahren begeben und das Risiko objektiv gesehen zu groß ist, als dass es im Interesse der Person liegen könnte, diesen Sport auszuüben. Je nach Definition des Begriffes ‚Interesse‘ enthält eine Interessetheorie die Möglichkeit, diese Freiheiten nicht als Rechte zu anerkennen und besitzt somit eine bevormundende Tendenz.40 Andererseits ist es, selbst wenn die Wunscherfüllung ein Interesse darstellt, nicht eindeutig, dass die Wahrung und der Schutz des Willens einer Person aus der Interessetheorie folgen. Der Wille einer Person ist gemäß der zweiten Annahme ein Interesse, das neben anderen Interessen besteht und gegen diese Interessen abgewogen werden kann. In Bezug auf das Beispiel der Freiheit, eine Extremsportart auszuüben, würde dies bedeuten, dass ein Interesse an der Gesundheit der Sportlerin das Interesse an der Wunscherfüllung der Ausübung des Sports überwiegen kann. In einer Willenstheorie, welche Funktion von Rechten darin sieht, die Freiheit der Rechtsträgerin zu wahren, wäre eine Restriktion der Ausübung von Extremsportarten hingegen nie gerechtfertigt. 39 So z.B. Raz, J. 1980, S. 188 ff.; Sumner, L. W. (1987): The Moral Foundation of Rights, New York: Oxford University Press, S. 96. 40 Vgl. dazu Sumner, L. W. (1987): The Moral Foundation of Rights, New York: Oxford University Press, S. 97. Steiner, H. (1998): „Working Rights“, in: Kramer, M. H./Simmonds, N. A./Steiner, H. (Hrsg.): A Debate Over Rights: Philosophical Enquiries, New York: Oxford University Press, S. 286.
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Kapitel V: Theorien subjektiver Rechte
Es wird somit vorausgesetzt, dass sowohl in Bezug auf die Zuschreibung (die Extension) als auch die Ausgestaltung (die normativen Implikationen) von Rechten ein Unterschied zwischen den beiden Theorien besteht: Die Menge der Rechte in einer Willenstheorie ist nicht in der Menge aller Rechte in einer Interessetheorie enthalten. Es gibt einen realen Konflikt zwischen dem Willen und dem Interesse einer Person. Entsprechend kann die gerechtfertigte Normierung zum Schutz verschiedener Rechtsgüter voneinander abweichen. Es ist nicht nur der Fall, dass das Interesse einer Person durch ein Recht geschützt und durchgesetzt werden kann, indem die Entscheidung der Person missachtet wird (dazu weiter unten mehr). Es ist auch möglich, dass der Schutz des Willens und der Entscheidung einer Person gegen die Interessen einer Person laufen kann. Es handelt sich also um einen handfesten Gegensatz.
2. Die Idee einer Theorie subjektiver Rechte Im nächsten Kapitel wird eine angepasste Version der Willenstheorie vorgeschlagen, die unveräußerliche Rechte erfassen kann. Um aber zu verstehen, welche Idee sich hinter einer Willenstheorie verbirgt, muss man einen Schritt zurückgehen und sich die Frage stellen, was generell eine Theorie der Rechte leisten sollte. Eine Theorie der Rechte besteht aus einer bestimmten Menge allgemeiner Aussagen über Eigenschaften des Begriffes ‚Recht‘. Sie trifft bestimmte Annahmen, aus welchen Behauptungen über Rechte abgeleitet werden, die durch die Theorie erklärt werden sollen. Diese Aussagen treffen (idealerweise) auf alle normativen Beziehungen zwischen Personen zu, welche wir als Recht bezeichnen. Es werden Eigenschaften beschrieben, die notwendig allen Rechten zukommen und die im besten Fall hinreichend alle Rechte definieren können. Die Propositionen, welche aus einer Theorie abgeleitet werden können, sollten sich gegenseitig nicht widersprechen. Eine Theorie kann für sich genommen nicht verifiziert oder falsifiziert werden. Theorien sind nicht wahr oder falsch. Bspw. ist die „Relativitätstheorie“ von Einstein ist nicht wahrer als die „Newton’sche Physik“. Der Unterschied liegt hier in der Menge der erklärten Phänomene; erstere kann bspw. die Umlaufbahn des Merkurs erklären und letztere nur ungenügend. Eine deskriptive Theorie ist mehr oder weniger „erfolgreich“ in der Erklärung bestimmter Phänomene. Es kommt dabei auf die Intention an, mit welcher eine Theorie formuliert wird. Grundsätzlich besteht der Erfolg darin, dass aus einer Theorie für die Wissenschaft brauchbare Aussagen abgeleitet werden können, dass sie in Bezug auf ihre Annahmen möglichst schlank ist und dass sie zentrale Eigenschaften des Untersuchungsgegenstandes möglichst gut erfassen kann.
2. Die Idee einer Theorie subjektiver Rechte
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Eine Theorie der Rechte kann aber auch eine normative Theorie sein. Sie besitzt dann einen normativen Gehalt. Damit ist nicht gemeint, dass eine Theorie der Rechte normative Sachverhalte beschreibt. Auch deskriptive Theorien von Rechten beziehen sich auf ein normatives Untersuchungsobjekt.41 Unter einer normativen Theorie verstehen wir eine bestimmte Menge an Sätzen. Dies sind zum einen deskriptive Sätze über die Natur von Rechten und zum anderen normative Sätze, wie Rechte ausgestaltet sein sollen und wem sie zukommen sollen. Eine Theorie der Rechte mit einem normativen Gehalt beinhaltet somit auch Sätze der Art: „Rechte sollen eine bestimmte Form besitzen“, „Rechte sollen bestimmten Individuen oder Entitäten zukommen“, „Auf bestimmte Rechtsgüter soll ein Recht bestehen“. Wie gezeigt wird, können beide Theorien, die Interessetheorie und die Willenstheorie, auch als normative Theorien verstanden werden. Üblicherweise besitzt eine Theorie der Rechte einen moralischen Gehalt.42 Somit kann auch ein moralischer Diskurs über die Richtigkeit der Theorie geführt werden. 2.1 Das Ziel einer Theorie subjektiver Rechte Es soll also die Frage gestellt werden, was eigentlich der Anspruch, das Ziel einer Theorie der Rechte sein kann. Die Kritik, dass unveräußerliche Rechte durch eine Willenstheorie nicht erfasst werden kann, setzt hierbei eine bestimmte Auffassung darüber voraus, was die Theorie leisten sollte. Aus den Überlegungen zur Idee hinter einer Theorie der Rechte ergeben sich zum einen die Möglichkeiten der Kritik an der Willenstheorie. Je nachdem, woran man den Erfolg einer Theorie misst, läuft diese Kritik aber ins Leere. Zum anderen ist eine Verteidigung der Willenstheorie gegen die Vorwürfe nur dann möglich, wenn man die Kritik ernst nimmt und dem (von den Kritikern vorausgesetzten) Anspruch an eine Theorie der Rechte gerecht wird. Es soll also gezeigt werden, was eine Theorie der Rechte überhaupt zeigen will. Es besteht die Möglichkeit, dass es sich bei der philosophischen Diskussion über die Angemessenheit einer Theorie der Rechte ausschließlich um ein Missverständnis in Bezug auf den Gehalt der Aussagen handelt und nicht um eine wirkliche Uneinigkeit. Um einem derartigen Missverständnis vorzubeugen, wird in der Folge zwischen vier verschiedenen Ansätzen einer Theorie der Rechte unterschieden. Es geht dabei um die Frage, welcher Art die wissenschaftliche Erkenntnis aus der Theorie sein kann. Daraus ergeben sich schlussendlich die „Erfolgskriterien“ der Theorie. Es gibt grundsätzlich zwei mögliche Ziele, welche mit einer Theorie der Rechte verfolgt werden können. Erstens kann der Erfolg einer Theorie daran gemessen werden, dass sie möglichst die normativen Beziehungen, welche sowohl in der Jurisprudenz als auch in politischen Diskursen als Rechte bezeichnet werden, erfassen kann (d.h. 41 42
Ein Recht ist wie bereits oben dargelegt wurde, eine normative Beziehung. Campbell, T. 2006, S. 43.
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Kapitel V: Theorien subjektiver Rechte
beschreiben, erklären). In diesem Fall kann von einem „rekonstruktiven Ansatz“ (1) gesprochen werden. Zweitens kann eine Theorie mit der Absicht entwickelt werden, systematische Klarheit in die Verwendung des Begriffes ‚Recht‘ zu bringen. In diesem Fall ist die Übereinstimmung der Aussagen über Rechte mit der Verwendung des Begriffes ‚Recht‘ nicht ausschlaggebend für die Qualität der Theorie. Vielmehr wird versucht, die Verwendung des Konzeptes Recht so zu revidieren, dass ein einheitliches Konzept eines Rechts in der Jurisprudenz und der Rechtsphilosophie etabliert wird. Es ist hierbei die Rede von einem „revisionistischen Ansatz“ (2).43 Es geht darum, unsere Begrifflichkeit zu schärfen und somit den Sprachgebrauch anzupassen. In diesem Zusammenhang muss nun aber auch eine weitere Unterscheidung getroffen werden – diejenige zwischen einer „deskriptiven Theorie“ (a) und einer „normativen Theorie“ (b). Es geht dabei um den propositionalen Gehalt der Aussagen, die aus einer Theorie abgeleitet werden können. Erstere enthält ausschließlich Aussagen darüber, wie oder was ein Recht ist. Aus letzterer hingegen können Aussagen darüber abgeleitet werden, wie oder was ein Recht sein soll. (1a) Wenden wir diese Unterscheidung zunächst auf rekonstruktive Theorien an. Hierbei besteht die Absicht darin, alle Fälle, in denen das Wort ‚Recht‘ sinnvoll gebraucht wird, zu erfassen und ausgehend von diesen Daten gewisse allgemeine Eigenschaften von Rechten zu abstrahieren. Die Theorie ist erfolgreich, wenn die induzierten Eigenschaften auf möglichst alle einschlägigen Verwendungen des Ausdrucks ‚Recht‘ zutreffen. Es handelt sich dabei um eine „deskriptiv-rekonstruktive“ Auseinandersetzung mit dem Begriff ‚Recht‘. Ein solches Vorhaben kann als „linguistische“ Herangehensweise bezeichnet werden. Die Philosophie kann allerdings nichts zur Bildung einer solchen Theorie beitragen, da es sich bei deren Prüfung um ein empirisches Unterfangen handelt. Es geht um die Feststellung unseres alltäglichen Sprachgebrauchs. Aussagen, die aus einer solchen Theorie folgen, können nicht a priori falsifiziert werden. (2a) Nun zu revisionistischen Theorien: Durch Begriffsanalyse kann ein Konzept ‚Recht‘ bestimmt werden, anhand dessen verschiedene normative Beziehungen (denen gemeinhin die Bezeichnung ‚Recht‘ zukommt) dahingehend untersucht werden, ob sie unter den Begriff ‚Recht‘ fallen. Umgekehrt können normative Beziehungen, die zwar nicht als Recht bezeichnet werden, aber aufgrund ihrer Eigenschaften unter diese Menge fallen, als Recht bezeichnet werden. Es besteht hierbei die Absicht, die rechtswissenschaftliche Sprache von einer irreführenden Verwendung des Wortes zu befreien.
43
Zu dieser Unterscheidung siehe Cruft, R. (2004): „Rights: Beyond Interest and Will Theory“, Law and Philosophy 23 (4), S. 348 und 380 f.
2. Die Idee einer Theorie subjektiver Rechte
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Dies wird ein „deskriptiv-revisionistischer“ Ansatz genannt, da es nicht darum geht, durch die Zuschreibung von Rechten normative Beziehungen moralisch zu hinterfragen, sondern lediglich um eine begriffliche Klärung. Entweder fassen die aus der Theorie abgeleiteten Propositionen Rechte im Einzelfall breiter oder enger auf, als man dies normalerweise bei einem juristischen oder politischen Gebrauch des Begriffs ‚Recht‘ tut. Der Vorwurf, dass eine solche Theorie die verschiedenen normativen Beziehungen, bei denen von einem Recht die Rede ist, nicht erfassen kann, ist nicht gerechtfertigt, da es einer solchen Theorie um die logisch korrekte Verwendung geht und somit um eine Klärung unserer Sprache. Allerdings besitzt der Ansatz das Problem, dass er kein moralisch kritisches Potential besitzt. Das einzige Ziel besteht darin, durch Definitionen die Präzision unserer wissenschaftlichen Sprache zu verbessern. Aus der Theorie können, wenn sie rein deskriptiv aufgefasst wird, keine moralischen Forderungen resultieren. (1b) Verschiedene Theorien von Rechten werden allerdings mit der Absicht entwickelt, daraus handlungsanleitende und wertende Konklusionen darüber zu gewinnen, wie Rechte ausgestaltet werden sollen und wem sie zukommen sollen. Ist dies der Fall, dann sprechen wir von einer normativen Theorie. Auch hier besteht der grundsätzliche Unterschied zwischen rekonstruktiven und revisionistischen Ansätzen. Im Falle von rein „normativ-rekonstruktiven“ Theorien besteht die Gefahr eines inhärenten „Konservativismus“. Das Ziel einer solchen Theorie besteht darin, möglichst viele Fälle, in denen Personen in unserer Gesellschaft Rechte zugeschrieben werden, zu erfassen. Darüber hinaus werden aber die Schlussfolgerungen über die Existenz und Form von Rechten als normativ erachtet. Das bedeutet, dass aus der Tatsache, wie Rechte gemeinhin aufgefasst werden bzw. wem sie zuteil sind, darauf geschlossen wird, dass dieser Zustand auch gerechtfertigt ist. Die Wissenschaftlichkeit der Theorien, aus denen ausschließlich normativrekonstruktive Sätze folgen, ist fraglich. Es besteht die Gefahr eines „naturalistischen Fehlschlusses“. Es wird von der Beobachtung des Sprachgebrauchs darauf geschlossen, dass ein Recht besteht und dieses geschützt und durchgesetzt werden soll. (2b) Eine rechtsphilosophische Theorie der Rechte enthält daher idealerweise sowohl normative als auch revisionistische Propositionen. Aus ihr können sowohl rechtstheoretische Erkenntnisse als auch politische Forderungen resultieren. Eine Theorie, welche dies anstrebt, wird hier als „normativ-revisionistisch“ bezeichnet. Wissenschaftstheoretisch sind revisionistische Aussagen mit normativem Gehalt eher schwierig zu erfassen. Ihre Richtigkeit kann nicht durch die Beobachtung von Tatsachen im Recht oder durch interne Logik in einem Rechtssystem hergeleitet werden. Es bedarf einer moralischen Argumentation.
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Kapitel V: Theorien subjektiver Rechte
Es besteht unter den Anhängerinnen der gegensätzlichen Theorien oft ein Missverständnis darüber was die Theorie leisten soll. Die dargestellte Unterscheidung unterschiedlicher theoretischer Ansätze besitzt den Zweck, diese Missverständnisse auszuräumen. Bei der philosophischen Auseinandersetzung der Anhängerinnen der Willenstheorie mit den Anhängerinnen der Interessetheorie gibt es unterschiedliche methodische Zugänge. Erstere messen die Vorteile ihrer Theorie v.a. an der theoretischen Klarheit des Konzeptes und verfolgen somit einen deskriptiv-revisionistischen Ansatz (2a). Letztere sehen sich dadurch bestätigt, dass ihre normativen Konklusionen mit der Verwendung des Begriffes Recht übereinstimmt und sie unseren rechtlichen und moralischen Überzeugungen eher gerecht werden. Der Ansatz ist also zum großen Teil normativ-rekonstruktiv (1b). 2.2 Das zugrundeliegende Missverständnis im Diskurs Betrachten wir MacCormicks Argument gegen die Willenstheorie. Wie wir gesehen haben, beschreibt eine Willenstheorie Anspruchsrechte als notwendig auflösbar oder transferierbar. Kinder besitzen jedoch faktisch und rechtlich keine Möglichkeit, sich bestimmter Ansprüche (z. B. auf Unterhalt, Erziehung, Schulbildung usw.) freiwillig zu entledigen. Die Pflichten bleiben unabhängig vom Willen des Kindes bestehen. Nun sei man, so MacCormick, als Anhängerin einer Willenstheorie entweder gezwungen, zu behaupten „Kinder besitzen keine Rechte“ oder man gebe die Willenstheorie auf.44 We are put, as lawyers say, to our election. Either we abstain from ascribing to children a right to care and nurture, or we abandon the will theory. For my part, I have no inhibitions about abandoning the latter.45
Die Kritik MacCormicks besitzt zwei Dimensionen. Ein gültiger Einwand gegen eine Willenstheorie besteht darin, dass diese Rechte für Kinder nicht erfassen kann. Kinder besitzen keine rechtliche Befugnis, die Eltern oder staatliche Institutionen usw. von ihren Pflichten zu befreien. In einem deskriptivrekonstruktiven Ansatz (1a) ist die Theorie somit nicht adäquat. Sie schließt eine bestimmte Verwendungsweise des Begriffes ‚Recht‘ aus. Das Konzept ‚Rechte für Kinder‘ kann also innerhalb einer Willenstheorie nicht bestehen. Aus der Perspektive der Willenstheorie besteht jedoch die Möglichkeit, dieses Problem zu umgehen. Es kann ein deskriptiv-revisionistischer Ansatz vertreten werden. Der Satz: „Kinder besitzen keine Rechte“ ist dann eine Aussage auf rein konzeptueller Ebene. Der Begriff ‚Recht‘ wird enger gefasst und trifft auf die normative Beziehung, die Kinder gegenüber den Eltern oder dem Staat 44 MacCormick, N. (1984): „Children’s Rights: A Test-Case for Theories of Right“, in: MacCormick, N. (Hrsg.): Legal Right and Social Democracy: Essays in Legal and Political Philosophy, Oxford: Clarendon, S. 157 f. 45 Ebd. S. 158.
2. Die Idee einer Theorie subjektiver Rechte
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haben, nicht zu. In Bezug auf Rechte von Kindern und Tieren schreibt Hart bereits in seinem Artikel Are There Any Natural Rights? folgendes: If common usage sanctions talk of the rights of animals or babies it makes an idle use of the expression „a right,” which will confuse the situation with other different moral situations where the expression „a right” has a specific force and cannot be replaced by […] other moral expressions…46
Für Hart steht also die begriffliche Klarheit im Vordergrund. Er fasst den Satz „Kinder haben keine Rechte“ in einem deskriptiven Sinn auf, wobei der Satz gemäß seinem Begriff eines Rechts wahr ist. So gesehen besitzen die Eltern und der Staat zwar Pflichten gegenüber dem Kind.47 Da das Kind jedoch keine Kompetenz hat, diese Parteien von ihren Pflichten zu entbinden und die Willenstheorie (aufgrund der Kontrollthese KT) besagt, dass ein Recht notwendigerweise eine Kompetenz in Bezug auf Pflichten anderer Personen beinhaltet, besitzt es kein Recht. In diesem Fall wird dem Begriff ‚Recht‘ eine Bedeutung zugeschrieben, die enger ist als diejenige der juristischen und politischen Verwendung des Begriffes. Die Aussage „Kinder besitzen keine Rechte“ nun hat aber auch eine gewisse rhetorische Kraft. Der Satz ist nicht mit unseren gängigen Gerechtigkeitsüberzeugungen vereinbar. Viele würden ihn als falsch, d.h. unmoralisch wahrnehmen. Die Berechtigung dieses Vorwurfs ist nun aber davon abhängig, dass man die Proposition nach einem normativ-revisionistischen Verständnis (2b) auffasst. Dies ist zu behaupten, dass entweder keine Pflichten gegenüber Kindern bestehen oder dass Kinder andere Personen freiwillig von ihren Pflichten entbinden können sollen, damit sie Rechte besitzen. Willenstheoretikerinnen würden allerdings weder das eine noch das andere behaupten. MacCormick kritisiert die Willenstheorie auch nicht auf dieser Ebene. Sein Argument besitzt zwar diese rhetorische Dimension allerdings ist seine Kritik rein deskriptiv zu verstehen. Klammert man nun aber diese normative Deutungsweise aus, dann verlieren sowohl das Argument gegen die Willenstheorie als auch der ganze Diskurs erheblich an Brisanz. Durch eine Willenstheorie wird in Bezug auf solche Rechte nichts Anderes gemacht, als der Sprachgebrauch revidiert. Insofern scheint es, als ob die Willenstheorie die Bedeutung des Begriffes ‚Recht‘ in eine engere Form „quetscht“. Die Kritik seitens einer Interessetheorie ist aber rein deskriptiv und beinhaltet lediglich den Vorwurf, dass der Begriff zu eng gefasst ist. Diese konzeptuelle Abhandlung über den Begriff eines subjektiven Rechts besitzt daher keinerlei moralisches Gewicht.
46 Hart, H. L. A. (1955): „Are There Any Natural Rights?“, The Philosophical Review 64 (2), S. 181. 47 Vgl. ebd. S. 181.
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Kapitel V: Theorien subjektiver Rechte
Eine Auflösung des Konflikts zwischen den beiden Ansätzen ist zudem auch auf deskriptiver Ebene nicht zu erwarten, da die Theorien von einem jeweils unterschiedlichen metatheoretischen Ansatz ausgehen. Mit Blick auf unveräußerliche Rechte gestaltet sich die Sachlage aber anders. Der Satz: „Es gibt keine unveräußerlichen Rechte“, folgt ebenso aus der Willenstheorie (mit KT). Es gibt hierbei zwei mögliche Formen, damit umzugehen. Wird die Theorie erstens deskriptiv-revisionistisch aufgefasst, werden die normativen Relationen (welche nicht durch die Rechtsträgerin aufgelöst werden können) nicht als Rechte bezeichnet. Zweitens kann man aber auch moraltheoretisch argumentieren, dass normative Vorteile mit der Befugnis, diese Vorteile freiwillig aufzugeben, einhergehen sollen. Die Willenstheorie wird dann normativ-revisionistisch aufgefasst. Aus der Theorie folgt so gesehen ein normativer Anspruch an die Ausgestaltung des Rechtssystems: Rechte sollen nicht unveräußerlich sein. Man solle entsprechend Verträge ohne jegliche Einschränkung ihres Inhalts abschließen können und in sämtliche Eingriffe in die eigene Rechtssphäre einwilligen und Rechte frei transferieren können. Bestimmte Willenstheoretikerinnen verfolgen explizit das Ziel, aus moralischen Gründen gegen die Existenz unveräußerlicher Rechte zu argumentieren.48 Dazu muss aber die Theorie von vornherein als normative Theorie verstanden werden. Das bedeutet, dass es sich dann um eine Theorie handelt, welche den Anspruch besitzt, zu zeigen, in welchen Fällen eine Person ein Recht besitzen soll und in welchen nicht. Die Kernaussage einer normativ-revisionistischen Willenstheorie ist dann: Eine Person, die ein Anspruchs-Recht besitzt, soll die Kompetenz besitzen, über die Durchsetzung von Pflichten anderer zu verfügen bzw. die Pflichten abzutreten oder zu transferieren. Jede sinnvolle Theorie der Rechte, so die hier vertretene These, soll inhärent normativ sein. Das bedeutet, dass die aus der Theorie abgeleiteten Aussagen über Rechte auch Sollens-Sätze sein können. Hinter einer normativen Theorie der Rechte liegt eine ethische Begründung und grundsätzlich ein bestimmtes moralisches oder politisches Motiv. Eine Theorie der Rechte kann nicht rein deskriptiv aufgefasst werden. Diese Meinung wird deshalb vertreten, weil sonst die philosophische Diskussion über eine Theorie der Rechte an Bedeutsamkeit verliert. Es wird dann zwar über einen moralisch und rechtlich relevanten Begriff diskutiert, es kann sich aber daraus keine normative Konklusion für ein Moral- oder Rechtssystem ergeben.49
48
So z.B. Steiner, H. (2013): „Directed Duties and Inalienable Rights“, Ethics 123 (2), S. 240. 49 Vgl. Gutmann, T. (2006): „Zur philosophischen Kritik des Rechtspaternalismus“, in: Schroth, U./Schneewind, K. A./Gutmann, T. et al. (Hrsg.): Patientenautonomie am Beispiel der Lebendorganspende, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht, S. 203.
3. Kritik an der Kontrollthese
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3. Kritik an der Kontrollthese Die oben getroffene Unterscheidung unterschiedlicher metatheoretischer Ansätze ist mit Blick auf die philosophische Kritik an der Willenstheorie und die möglichen Reaktionen auf die Kritik zentral. Im Verbleib dieses Kapitels werden verschiedene Einwände gegen die Willenstheorie erläutert, welche Bezug auf die Unveräußerlichkeit von Rechten nehmen. Diese Einwände werden nach ihren metatheoretischen Vorannahmen (1a, 1b, 2a, 2b) aufgeschlüsselt. 3.1 Ansprüche mit eingeschränkter Verfügung In der Folge wird die Kontrollthese KT‘ als notwendiges Element einer Willenstheorie infrage gestellt. Auch Willenstheoretikerinnen gehen verschiedentlich davon aus, dass sie nicht notwendig gegeben sein muss. So beinhaltet Simmonds willenstheoretischer Ansatz diese These nicht. Er argumentiert, dass Kontrolle über ein Recht in graduell unterschiedlichen Formen vorkommen kann und bezieht sich dabei auf die drei von Hart unterschiedenen Formen der Kontrolle (zur Durchsetzung, zur Veräußerung und zum Verzicht auf Schadensersatz). Nicht alle dieser Formen der Kontrolle müssen notwendig gegeben sein. Die Verfügungsmacht kann bei einem Recht somit unterschiedlich stark gegeben sein.50 So kann es vorkommen, dass die Veräußerungskompetenz bei einem Recht nicht vorliegen muss. Eine Zurückweisung der Kontrollthese ist für eine Theorie der Rechte mit einem rekonstruktiven Anspruch notwendig und, wie hier gezeigt werden soll, auch aus willenstheoretischer Perspektive sinnvoll. Um dafür zu argumentieren, werden ‚Rechte‘ in den unterschiedlichen Rechtsbereichen Straf- und Zivilrecht genauer betrachtet. 3.2 Durch das Strafrecht geschützte Ansprüche Grundsätzlich ist eine Willenstheorie auf das Zivilrecht fokussiert. Strafrechtliche Pflichten korrelieren gemäß Hart nicht mit juridischen Rechten. Er trifft eine Unterscheidung zwischen „absoluten Pflichten“ und „relativen Pflichten“.51 Erstere gelten unabhängig von den spezifischen Umständen und unabhängig davon, ob eine betroffene Person in die Verletzung einer ihr gegenüber bestehenden Pflicht einwilligt. So stellt z.B. das Verbot einer schwerwiegenden Körperverletzung meist eine absolute Unterlassungspflicht dar.52 Das Strafrecht beinhaltet eine Vielzahl solcher absoluten Pflichten. Da sich eine Person der ihr geschuldeten Pflichten nicht freiwillig entledigen kann, besitzt sie keine Verfügung über diese normative Relation. Nach einer Willenstheorie, welche die Kontrollthese 50
Vgl. Simmonds, N. A. 1998, S. 230 f. Hart, H. L. A. 1982, S. 181 f. Siehe Kap. IV, 5.2. 52 Die Ausnahme kann z.B. eine Einwilligung in einen medizinischen Eingriff bilden. 51
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Kapitel V: Theorien subjektiver Rechte
KT beibehält, können diese absoluten Pflichten keine Rechte implizieren.53 Eine Person hat in diesem Sinne also bspw. kein Recht auf körperliche Unversehrtheit. Es muss erneut erwähnt sein, dass nicht alle strafrechtlichen Normen absolute Pflichten enthalten. So ist es im Gegensatz möglich, eine leichte Körperverletzung durch Einwilligung zu rechtfertigen. Man kann sich z.B. ohne Weiteres ein Tattoo stechen lassen. Es gibt auch vermeintlich absolute strafrechtliche Normen, bei denen die Einwilligung der Normadressatin (der Rechtsträgerin) den Tatbestand ausschließt. Eine Person kann bspw. nicht mit ihrer Einwilligung bestohlen werden, da Diebstahl die Nicht-Einwilligung impliziert. Die Pflicht, nicht zu stehlen, kann also durch Einwilligung nicht aufgehoben werden, da die Einwilligung die Handlung logisch verunmöglicht. Zudem gibt es absolute strafrechtliche Pflichten, die kein Recht begründen, da die Anspruchsträgerin nicht identifiziert werden kann. So bspw. bei „abstrakten Gefährdungsdelikten“, wo kein „Individualrechtsgut“ betroffen ist. Die Willenstheorie kann Rechte im Strafrecht (unter Beibehaltung von KT) nicht erfassen, wenn absolute strafrechtlichen Normen ein Individualrechtsgut schützen und die Einwilligung keinen Tatbestandsausschluss impliziert. Eine rekonstruktive Kritik (1-2a) an der Willenstheorie würde nun auf den Sprachgebrauch sowohl in politischen Diskursen als auch in der Strafrechtswissenschaft verweisen. Tatsächlich sprechen wir beim Schutz von Rechtsgütern durch das Strafrecht oft von Rechten. Vermehrt ist die Rede von einem Recht auf Leben, einem Recht auf körperliche Unversehrtheit, einem Recht auf sexuelle Integrität usw. Diese Verwendungsweisen des Begriffes ‚Recht‘ ist die Theorie nicht fähig einzufangen.54 Allerdings kann eine Willenstheorie darauf reagieren, indem sie für eine Revision des Strafrechts plädiert: Wenn ein durch absolute strafrechtliche Normen begründetes Recht besteht, dann soll es nicht absolut gelten. Die Rechtsträgerinnen sollten mit der Befugnis ausgestattet sein, andere Personen von der strafrechtlichen Pflicht zu entbinden. Absolute strafrechtliche Normen sollen, sofern sie mit einem Recht korrelieren, nicht gelten. Diese normativ-revisionistische Willenstheorie (2b),55 würde somit zur Behauptung gelangen, dass Einwilligung in die Verletzung jedes strafrechtlichen Individualrechtsgutes möglich sein sollte. Dies wäre ein umfassendes volenti non fit iniuria Prinzip für das Strafrecht. 53
Es ist möglich zu argumentieren, dass strafrechtliche Pflichten nicht Rechte von Individuen schützen, sondern Rechte der staatlichen Institutionen bzw. der Gesellschaft. Insofern könnten beide Thesen aufrecht erhalten bleiben: Erstens, dass Pflichten notwendig Rechte implizieren. Zweitens, dass Anspruchsrechte mit der Möglichkeit zur Veräußerung einhergehen. Siehe Steiner, H. 1994, S. 70. ff. 54 MacCormick, N. 1977, S. 197 f. 55 Für einen Versuch siehe in Moser, E. 2019.
3. Kritik an der Kontrollthese
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Diese Schlussfolgerung sind aber nicht viele Willenstheoretikerinnen bereit, in Kauf zu nehmen. Die in der Literatur verteidigten Willenstheorien würden eher die normative Konklusion bestreiten, dass absolute strafrechtliche Normen aufgehoben werden sollen bzw. dass alle durch das Strafrecht geschützte Individualrechtsgüter mit der Einwilligung der Rechtsträgerin beeinträchtigt werden dürfen.56 Die rekonstruktive Kritik liefert grundsätzlich aber kein Totschlagargument. Eine Willenstheorie kann unter Beibehaltung der Kontrollthese KT die scheinbar „bittere Pille“ schlucken, indem sie von vornherein einen revisionistischen Ansatz (2a) zur Beschreibung von Rechten vertritt. Das Strafrecht, so die These, begründet keine Rechte. Eine Willenstheorie geht hier grundsätzlich davon aus, dass Pflichten nicht notwendig Rechte implizieren.57 Deshalb ist es möglich, dass solche strafrechtlichen Normen nicht mit Rechten korrelieren. Die Argumentationslinie kann nun dadurch plausibilisiert werden, dass sich bei einem Strafprozess eine Angeklagte nicht gegenüber dem Opfer einer Straftat verteidigt, sondern gegenüber dem Staat (vertreten durch die Staatsanwaltschaft). Die Pflichtverletzung durch eine Straftat scheint also von vornherein nicht gegenüber einem anderen Individuum zu bestehen, sondern gegenüber dem Staat oder der Allgemeinheit. Somit kann eine Willenstheorie Pflichten im Strafrecht ausklammern, da diese so gesehen keine individuellen Rechte begründen. Den Preis, dass die Theorie den üblichen Gebrauch des Begriffs ‚Recht‘ in verschiedenen Diskursen nicht erfassen kann, sind Willenstheoretikerinnen bereit, zu bezahlen.58 Eine einschlägige Kritik an der Willenstheorie muss sich also auf zivilrechtliche Ansprüche konzentrieren. 3.3 Durch das Zivilrecht geschützte Ansprüche Ein von Interessetheoretikern häufig vorgebrachter Einwand gegen die Willenstheorie bezieht sich auf rechtliche Regulierungen bestimmter Märkte und auf vertragsrechtliche Einschränkungen. Ein bekanntes Argument stützt sich auf eine Beobachtung der rechtlichen Regelung des Arbeitsmarkts, der in entwickelten Industriestaaten durch das Vertragsrecht meist stark reguliert ist.59 Stellen wir uns z.B. das Recht auf ei-
56 So z.B. Simmonds, N. A. 1998, S. 230 ff. Er unterscheidet hier zw. moralischen und juridischen Rechten. Letztere würden durch das Strafrecht nicht begründet. 57 Vgl. Ausführungen zur „Korrelativitätsthese“ in Kap. II, 2(a). 58 Dieser Preis ist m.E. zu hoch. Wie weiter unten argumentiert wird, ist ein normativrevisionistisches Verständnis der Theorie ein gangbarer Weg. Versteht man eine Willenstheorie aber in einem deskriptiv-revisionistischen Sinn, dann sind die Aussagen der Theorie über Rechte nicht falsifizierbar und die Theorie ist für den moralischen, politischen und rechtsethischen Diskurs über Rechte unbrauchbar. 59 Vgl. MacCormick, N. 1977, S. 197 f.
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Kapitel V: Theorien subjektiver Rechte
nen garantierten Mindestlohn vor.60 Es Recht kann als unveräußerliches Recht verstanden werden, da eine Person ihre Arbeit nicht zu einem tieferen Lohn anbieten darf. Sie darf nicht freiwillig auf den Mindestlohn verzichten. Das unveräußerliche Recht auf einen Mindestlohn besitzt die Funktion, die Rechtsinhaberin vor Ausbeutung zu schützen. Denn die Arbeitnehmerin ist sowohl wirtschaftlichen Zwängen konfrontiert als auch u.U. aufgrund der Möglichkeit, arbeitslos zu werden, dazu gezwungen, einen tiefen Lohn zu akzeptieren.61 Das unveräußerliche Recht besitzt hier also die Funktion, Zwangssituationen vorzubeugen. Es handelt sich hierbei wiederum nicht um ein TotschlagArgument gegen die Willenstheorie. Aus einer normativ-revisionistischen Perspektive (2b) kann sehr sinnvoll dafür argumentiert werden, dass ein Mindestlohn nicht gerechtfertigt ist. Ein Blick auf die politische Diskussion in Bezug auf Mindestlöhne zeigt, dass ein solcher sehr umstritten ist. Wer die moralische These, dass ein Mindestlohn berechtigt ist, nicht unterstützt, ist durch einen solchen Einwand nicht gezwungen, die Willenstheorie aufzugeben. Nun kann aber durch die Regulierung des Arbeitsmarktes nicht nur eine untere Lohngrenze als unveräußerliches Recht gehandhabt werden, sondern auch eine Vielzahl anderer Schutzmechanismen. So sind in modernen Rechtsstaaten z.B. eine maximale Anzahl Arbeitsstunden, Bestimmungen zur Kündigungsfrist, Sicherheitsvorschriften am Arbeitsplatz und andere Einschränkungen durch das Vertragsrecht gegeben. Alle diese Regelungen, so könnte man argumentieren, verleihen den Arbeitnehmenden unveräußerliche Rechte, da es ihnen nicht möglich ist, diese Regulierungen freiwillig aufzuheben und da ihnen diese grundsätzlich zugutekommen (d.h. sie beinhalten Ansprüche gegenüber den Arbeitgeberinnen). Eine Willenstheoretikerin, welche die Kontrollthese KT beibehält und gleichzeitig eine Regulierung des Arbeitsmarktes befürwortet, muss nun zeigen, dass es sich bei den durch diese Regulierungen geschützten Gütern nicht um Rechtsgüter handelt bzw. dass hierbei nicht die Rede von Rechten sein kann (2a). Eine erste mögliche Antwort hierauf wäre, dass es sich bei solchen Schutzbestimmungen nicht um Rechte handelt, sondern bloß um einseitige Pflichten seitens der Arbeitgebenden (die nicht mit Ansprüchen korrelieren). Eine zweite Herangehensweise würde darin bestehen, zu bestreiten, dass es sich um unveräußerliche Rechte handelt. Der Arbeitsvertrag ist jederzeit aufkündbar und damit fallen auch die Regulierungen des Arbeitsverhältnisses weg.
60 Es ist hier sinnvoll von einem Recht zu sprechen, zumal es den Arbeitnehmenden grundsätzlich zugutekommt und weil politische Diskussionen über die Einführung eines solchen oft den Ausdruck ‚Recht‘ enthalten. 61 Z.B. im Falle von hoher Arbeitslosigkeit oder eines „Arbeits-Monopsons“ (wenn eine Firma in einer Region die einzige Arbeitgeberin ist).
3. Kritik an der Kontrollthese
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Zum Zeitpunkt vor dem Vertragsabschluss besteht noch kein unveräußerliches Recht. Die Arbeitnehmerin begibt sich durch ihre eigene Entscheidung in die Situation, in der sie das Recht nicht veräußern kann. Sobald sie aber aus dem Vertragsverhältnis austritt, veräußert sie zugleich das Recht. Insofern besitzt sie Kontrolle über ihr Rechtsgut. Neben der vertragsrechtlichen Regulierung bestimmter Bereiche, besteht allerdings noch ein weiteres Problem für die Kontrollthese. Folgendes Beispiel soll illustrieren, dass eine Willenstheorie überdies Probleme damit hat, Eigentumsrechte richtig zu erfassen.62 Nehmen wir an, eine Person A ist Eigentümerin eines Personenwagens. Da sie ein Eigentumsrecht besitzt, kann sie das Recht durch einen Verkaufsvertrag einer anderen Person übertragen. Nehmen wir nun an, sie will das Auto zu einem Zeitpunkt t an eine Person B verkaufen und schließt einen Vertrag zur Übertragung des Rechts ab. Sie ist zum Zeitpunkt des Verkaufs aber betrunken und somit nicht mündig. Sie kann folglich nicht rechtwirksam einen solchen Vertrag abschließen. Dies aus gutem Grund: Zum Zeitpunkt t ist die Person A nicht fähig, die Konsequenzen ihrer Handlung richtig einzuschätzen. Man könnte hier zur Aussage verleitet sein, dass die Person A zum Zeitpunkt t kein Eigentumsrecht besitzt. Strenggenommen beinhaltet die Kontrollthese genau diese Aussage. Ein Recht verlangt ihr gemäß notwendigerweise, dass die Rechtsträgerin die Befugnis besitzt, dieses Recht aufzulösen oder es zu transferieren. In diesem Beispiel ist eine solche Kompetenz jedoch nicht gegeben. Es bieten sich sodann zwei andere Möglichkeiten an, mit dem Beispiel der betrunkenen Autoverkäuferin umzugehen. Erstens kann behauptet werden, dass eine Person A grundsätzlich das Recht auf den Wagen besitzt, sie zum Zeitpunkt t (aufgrund der Umstände) jedoch von diesem Recht entbunden ist. Solange sie das Recht besitzt, hat sie auch die Verfügungsgewalt über das Recht, verliert sie es kurzfristig aufgrund der temporären Unmündigkeit, hat sie in diesem Moment auch kein Recht. Die Existenz von Eigentumsrechten innerhalb einer Willenstheorie und die Kontrollthese sind in diesem Fall gewährleistet. Allerdings ist die Behauptung, A besitzt zu t kein Eigentumsrecht auf das Fahrzeug, irritierend. Nehmen wir zusätzlich an, eine Person C bezahlt A monatlich einen bestimmten Betrag für die gelegentliche Mitbenutzung des Wagens und der Termin zur Bezahlung fällt zufällig auf Zeitpunkt t. Nun ist die Voraussetzung dafür, dass A sich in einem solchen Mietverhältnis mit C befinden kann, ist ihr Eigentum auf dem Wagen. Es wäre aber absurd, zu behaupten, dass C ihr den Betrag zum Zeitpunkt t nicht schuldig ist.
62
Folgende Argumentation findet sich andeutungsweise in Sreenivasan, G. (2005): „A Hybrid Theory of Claim-Rights“, Oxford Journal of Legal Studies 25 (2), S. 260.
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Kapitel V: Theorien subjektiver Rechte
Wenn man zudem annimmt, dass Eigentumsrechte auch durch strafrechtliche Ansprüche geschützt sind,63 ergibt sich daraus folgendes Problem: Nehmen wir an, das Auto wird nicht verkauft, sondern B stiehlt A das Auto. Wir würden aber nicht sagen, dass B die Freiheit besitzt, das Auto für sich zu beanspruchen nur, weil A betrunken ist. Die Pflicht, das Auto nicht zu stehlen, bleibt bestehen. Es ist also unklar, wodurch diese Pflicht begründet ist, wenn nicht durch ein Recht von A. Auf jeden Fall wäre eine Herleitung einer derartigen vom Eigentum losgelösten, bloß temporär gegebenen Pflicht, das Auto nicht zu stehlen, kontraintuitiv. Es scheint somit nicht der Fall zu sein, dass A das Recht zum Zeitpunkt t verliert. Eine zweite Möglichkeit ist ebenso in der Behauptung enthalten, dass A zu t kein Recht besitzt. Man könnte davon ausgehen, dass es sich zum Zeitpunkt t nicht um die Person A handelt, welche den Verkauf tätigt, da die kognitiven Fähigkeiten einer hypothetischen Person A‘ im Vergleich zu denjenigen von A stark beeinträchtigt sind. Insofern besitzt der im Beispiel genannte Mensch, solange er als Person A identifiziert werden kann, auch das Recht mit entsprechenden Veräußerungskompetenzen. Er besitzt es aber nicht als A‘. Die Annahme hinter einer solchen Behauptung ist ein sehr schwaches Konzept „personaler Identität“. Ein solches wird hier als zu restriktiv erachtet. Aus dem Konzept folgen viele sehr einschlägige Veränderungen unseres rechtlichen Verständnisses von Verfügungen und Verträgen. Eine Person kann sich unabhängig von Änderungen ihrer psychischen und physischen Eigenschaften rechtlich binden oder vertraglich verpflichten. So kann bspw. jemand einen Mietvertrag unterzeichnen, der auch dann Gültigkeit besitzt, wenn die Person dement wird. Die Person wird rechtlich immer noch als dasselbe Individuum behandelt, obwohl sich ihre geistigen Fähigkeiten stark verändert haben. Entsprechend ist ein solches Konzept der Identität zu schwach. Angesichts dieses Problems für eine Willenstheorie scheint es nachvollziehbar, anzunehmen, dass die KT nicht notwendig gegeben ist. Wenn eine Theorie, die für das Privatrecht zentrale Rechtsfigur eines Eigentumsrechts nicht erklären kann, da sie Eigentum von unmündigen und urteilsunfähigen Personen nicht erfassen kann, ist sie zum Scheitern verurteilt. Die Kontrollthese ist somit zu stark. Solche Beispiele der Inkompetenz der Rechtsträgerin beschreiben Situationen, in denen sie nicht zu einer autonomen Entscheidung fähig ist. 3.4 Zusammenfassung der Kritik an der Willenstheorie Die Kontrollthese KT besagt, dass ein Anspruchsrecht notwendigerweise mit einer Befugnis der Rechtsträgerin einhergeht, den Anspruch aufzuheben oder zu transferieren. Eine Willenstheorie, welche diese These beinhaltet, besitzt zusammengefasst folgende Probleme:
63
Vgl. Simmonds, N. A. 1998, S. 231.
3. Kritik an der Kontrollthese
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Erstens kann sie viele durch das Strafrecht geschützte Rechte nicht erfassen, da dieses rechtliche Pflichten schafft, die absolut gelten (sofern in eine Handlung nicht eingewilligt werden kann). Die Rechtsträgerin ist nicht befugt, andere Personen von diesen absoluten Pflichten zu befreien. In all jenen Fällen, in welchen wir von einem durch das Strafrecht geschützten Recht sprechen, wie z.B. beim Recht auf Leben oder dem Recht auf körperliche Unversehrtheit, wäre man aufgrund der Willenstheorie also gezwungen, die Redeweise im wissenschaftlichen Diskurs anzupassen und nicht mehr von Rechten zu sprechen. Zweitens sind verschiedene vertragliche Beziehungen, u.a. das Arbeitsrecht und das Mietrecht, stark reglementiert. Diese Einschränkungen der Vertragsfreiheit nehmen bisweilen die Form unveräußerlicher Rechte an, da sie rechtliche Unmöglichkeiten spezifizieren. So sprechen wir z.B. auch von einem Recht auf einen garantierten Mindestlohn. Es ist hier fraglich, ob eine Willenstheorie einen deskriptiv-revisionistischen Ansatz verfolgt und solche im Vertragsrecht niedergeschriebene Normen nicht als Rechte sieht. Oder ob sie die normativ-revisionistische These vertritt, dass es solche vertraglichen Einschränkungen nicht geben sollte. Drittens ist die Veräußerbarkeit der meisten Rechte in unserem Rechtssystem abhängig von der Tatsache, ob ein Individuum mündig und urteilsfähig ist. Es ist im Prinzip immer möglich, dass einer mündigen, erwachsenen Person die Autonomie in Bezug auf eine Handlung abgesprochen werden kann. Dies ist dann der Fall, wenn die Person über die Konsequenzen schlecht informiert ist, an einer psychischen Krankheit leidet, manipuliert, genötigt, durch Druckmittel ausgebeutet wird o.ä. In all jenen Fällen wird ein üblicherweise veräußerliches Recht temporär unveräußerlich. Es bleibt allerdings als Recht bestehen. Indem die Kontrollthese davon ausgeht, dass einer Rechtsträgerin notwendig die Kompetenz zur Veräußerung zukommen muss, schließt sie diese normativen Beziehungen als Nicht-Rechte aus. Es ist festzuhalten, dass es die Kontrollthese ist (welche die Kompetenz zur Veräußerung als notwendige Bedingung eines Rechts ansieht), welche diese Probleme verursacht. Wenn aber nun einem Recht die Möglichkeit zum temporären Verlust der Veräußerungskompetenz zukommen soll, muss die These verabschiedet werden. Es stellen sich nun zwei Fragen, die nicht unabhängig voneinander beantwortet werden können: Ist die Kontrollthese konstitutiv für eine Willenstheorie? Falls nicht, welches ist der normative Gehalt der Theorie? Welches sind seine normativen Kernthesen? Der wissenschaftliche Anspruch an die Theorie ist hierbei normativ-revisionistisch. Es sollen durch eine Theorie der Rechte die zentralen Fragen beantwortet werden, wem Rechte zukommen sollen und wie Rechte ausgestaltet sein sollen. Die folgenden Ausführungen stellen also einen normativen Anspruch an die Theorie und beurteilen eine Theorie der Rechte vor diesem Hintergrund.
Kapitel VI
Die Theorie autonomer Entscheidungen Es wird also die Frage nach dem moralischen Gehalt einer Willenstheorie der Rechte gestellt. Untersucht wird in diesem Kapitel die Idee, welche sich hinter dem normativen Anspruch zur Wahrung und dem Schutz der Freiheit eines Individuums verbirgt, um zu sehen, ob die Beschränkung der Funktion von Rechten auf die Durchsetzung und den Schutz des Willens der Rechtsträgerin angemessen ist oder nicht. Eine rein formale Bestimmung desjenigen, was ein Recht ausmacht, ist für die Beantwortung dieser Frage nicht hinreichend. Es wird in diesem Kapitel nach den Gründen gesucht, die für eine Willenstheorie sprechen. Bei Interessetheorien wird auf einen moralischen Wert der Wohlfahrt, der Bedürfnis- und der Interessenbefriedigung von Individuen Bezug genommen. Die Forderung nach der Wahrung der Interessen beinhaltet die Möglichkeit, dass Rechte die Wohlfahrt ungeachtet der individuellen Wünsche und Präferenzen fördern. Dies widerspiegelt sich in der vorgeschlagenen Struktur von Rechten und beinhaltet eine Aussage darüber, wem welche Rechte zukommen sollen. Bei der Willenstheorie wird hingegen der individuellen Freiheit Gewicht beigemessen. Individuen sollen sich unabhängig davon, ob es ihrem eigenen Interesse dient, für oder gegen eine Handlung entscheiden können. Ein Recht muss wiederum diese Freiheit wahren und kann deshalb nur bestimmte normative Funktionen beinhalten. Die Befugnis zur Verfügung über einen Anspruch (und somit auch die Veräußerbarkeit von Rechten) ist für die Willenstheorie deshalb zentral, weil dadurch die Kontrolle über ein Recht gewährt wird. Es stellt sich nun im Folgenden die Frage, weshalb und ob Kontrolle über ein Recht im Sinne einer Willenstheorie wertvoll ist oder nicht bzw. welche Gründe die Theorie für die Kontrolle über ein Recht liefert. Daraufhin wird geprüft, ob für diesen normativen Anspruch die „Kontrollthese“ notwendig ist oder nicht. Es wird aber nicht versucht, den moralischen Wert von Interessen oder Freiheiten gegeneinander abzuwägen bzw. auf der Ebene der Werte für oder gegen eine Theorie zu argumentieren. Der Anspruch, der an eine Theorie der Rechte gestellt wird (und somit der Standard der Beurteilung der Theorie), ist eine möglichst große Kohärenz der aus der Theorie folgenden Propositionen mit der moralischen Idee, welche sich hinter der Theorie verbirgt.
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Kapitel VI: Die Theorie autonomer Entscheidungen
Es wird dafür argumentiert, dass die Kontrollthese nicht notwendig aus der normativen Begründung der Theorie folgt. Darauf aufbauend wird gezeigt, wie eine Willenstheorie ohne Kontrollthese konzipiert werden kann. Daraus ergibt sich, dass ein modifiziertes Verständnis der Theorie das Konzept unveräußerlicher Rechte erfassen kann.
1. Begriffsbestimmungen Der Willenstheorie, wie sie im vorangehenden Kapitel konzipiert wurde, liegt die Idee zugrunde, dass die Entscheidung einer Person durch Rechte respektiert, gewahrt und geschützt werden soll. Deshalb soll der Rechtsträgerin Kontrolle über ihr Recht gewährleistet werden. Es kann nun aber aufgezeigt werden, dass dem moralischen Anspruch einer Willenstheorie eher entsprochen werden kann, wenn die Entscheidung von Individuen nicht in jedem Fall respektiert wird. Damit die tatsächliche Entscheidung einer Person „ethisch signifikant“ ist, bedarf es bestimmter Bedingungen. Und es bedarf gewisser Einschränkungen, unter welchen es Sinn macht, die Entscheidungsfreiheit durch die normativen Vor- und Nachteile von Rechten zu fördern und zu wahren. Die zentrale Unterscheidung ist hierbei diejenige zwischen ‚Freiheit‘ und ‚Autonomie‘. Nur autonome Entscheidungen, so die These, sind tatsächlich schützenswert; nicht aber sämtliche freien Entscheidungen. 1.1 Der Begriff des Interesses Zunächst soll also der verwendete Begriff ‚Autonomie‘ beschrieben werden. Um dies zu bewerkstelligen, kann zwischen zwei unterschiedlichen Begriffen individueller Interessen unterschieden werden – dem „subjektiven Interessensbegriff“ und dem „objektiven Interessensbegriff“.1 Der Wille einer Person, so die hier vertretene These, ist dann gegeben, wenn eine Entscheidung einer Person ihrem subjektiven Interesse entspricht. Es handelt sich dann um eine ‚autonome Entscheidung‘. Die These besteht also darin, dass Autonomie nach einer Entsprechung der Entscheidung eines Individuums mit seinem subjektiven Interesse verlangt.
1 Zum Ganzen Patzig, G. (1994): „Der Unterschied zwischen subjektiven und objektiven Interessen und seine Bedeutung für die Ethik“, in: Patzig, G. (Hrsg.): Gesammelte Schriften II: Angewandte Ethik, Göttingen: Wallstein, S. 45–50.
1. Begriffsbestimmungen
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(a) Subjektiver Interessensbegriff Das subjektive Interesse ergibt sich aus der Erfüllung von Wünschen, Präferenzen und Bedürfnissen des Individuums. Es ist auf ein bestimmtes Objekt gerichtet; es bezieht sich auf einen Zustand. Dieser Zustand kann bereits realisiert sein oder nicht. Ein Interesse ist zwar nicht mit einer Wunscherfüllung gleichzusetzen. Das Interesse impliziert jedoch immer eine Art Wunsch.2 Wenn der Zustand bereits gegeben ist, besteht der Wunsch darin, ihn möglichst beizubehalten. Wenn dies nicht der Fall ist, wünscht sich eine Person, ihn herbeizuführen. Des Weiteren gehen wir davon aus, dass das Objekt des subjektiven Interesses vom Individuum wertgeschätzt wird. Das Individuum kann dem Objekt entweder einen „instrumentellen“ oder einen „intrinsischen“ Wert beimessen. Im ersten Fall ist das Objekt nur ein Mittel dazu, einen anderen Zustand zu erreichen oder ein Zwischenstadium auf dem Weg zu einem anderen Ziel. Im zweiten Fall richtet sich das Interesse auf einen für sich genommen wertgeschätzten Zustand. (b) Objektiver Interessensbegriff Die Idee objektiver Interessen enthält eine vom Individuum unabhängige Bewertung verschiedener Optionen. Von einer Drittperson-Perspektive (mit Kenntnissen über die relevanten Fakten in Bezug auf die Konsequenzen und die herrschenden Umstände), so die These, ist es sinnvoll, das Interesse an einem bestimmten Gut oder Zustand zu besitzen. Die Konzeption eines objektiven Interesses beinhaltet notwendig ein substantielles Werturteil. Es besteht also die Möglichkeit, dass ein subjektives Interesse nicht mit einem objektiven Interesse übereinstimmt. Geht man von der Existenz objektiver Interessen aus, ist es möglich, dass, auch wenn ein Individuum seine Wünsche und Präferenzen wohlinformiert, rational und in Abwesenheit von Zwang ausbildet, diese Wünsche und Präferenzen nicht mit den objektiven Interessen vereinbar sind. Das Interesse einer Person, so der Ansatz, besteht aus einer von den subjektiven Einstellungen unabhängigen Menge bestimmter Güter oder Zuständen. Hierbei kann es sich z.B. um Güter wie Gesundheit, Bildung, Einkommen handeln. Diese Liste von Gütern und Zuständen trifft auf jedes Individuum zu und beansprucht somit objektive Geltung. Die beiden Begriffe subjektives und objektives Interesse nehmen eine zentrale Rolle in der gesamten Untersuchung ein. Sie bilden u.a. die Grundlage für die Bestimmung des Begriffes ‚Autonomie‘.
2 Es gibt Wünsche, deren Erfüllung nicht möglich ist. Es handelt sich hierbei z.B. um Phantasievorstellungen oder um irrationale Wünsche. Interessen hingegen enthalten Wünsche, deren propositionaler Gehalt grundsätzlich realisierbar ist.
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Kapitel VI: Die Theorie autonomer Entscheidungen
1.2 Der Begriff der Autonomie Ein wesentlicher Unterschied muss also zwischen einer Entscheidung, die den Willen einer Person reflektiert und einer Entscheidung, welche durch bestimmte Umstände während des Entscheidungsprozesses beeinträchtigt ist, getroffen werden. Letztere kann nicht als Anhaltspunkt für die Feststellung des Willens einer Person dienen. Eine solche „kompromittierte“ Entscheidung ist dann gegeben, wenn ein Individuum in Bezug auf die Entscheidung nicht autonom ist. Dies ist dann der Fall, wenn die individuelle Entscheidung nicht dem subjektiven Interesse einer Person entspricht.3 AN:
Eine Person handelt autonom, wenn ihre Entscheidungen mit ihren subjektiven Interessen im Einklang sind.
Die vier naheliegendsten Gründe, weshalb jemand nicht autonom sein kann, sind Folgende: − Ein Individuum besitzt nur beschränkte Informationen über die Folgen seiner Handlungen und über die Wirksamkeit bestimmter Mittel. − Ein Individuum ist in der Willensbildung psychisch stark beeinflusst. Es bildet ein Interesse aus Affekt, steht unter Einfluss von Substanzen o.ä. oder leidet unter einer schweren psychischen Erkrankung, welche die Interessenbildung beeinflusst. − Ein Individuum ist entweder durch Umstände oder durch andere Personen gezwungen oder genötigt ein Interesse zu bilden. − Ein Individuum ist nicht mündig. Es ist nicht oder noch nicht fähig, die Interessen gegeneinander abzuwägen und richtig auszubilden.
In diesen Fällen führen individuelle Entscheidungen aufgrund formaler Gegebenheiten, d.h. aufgrund der spezifischen während des Entscheidungsprozesses vorherrschenden Umstände nicht zu dem, was das Individuum eigentlich will. Wäre das Individuum urteilsfähig, wohlinformiert und stünde nicht unter Zwang, so würde es sich anders entscheiden. Die Entscheidung ist aber nicht aufgrund ihres beabsichtigten Inhaltes nicht-autonom. Liegt eine solche Entscheidung vor, kann diese also eingeschränkt werden, ohne dass dadurch ihr subjektives Interesse missachtet wird. Zentral ist hierbei, dass eine Übereinstimmung durch Behebung der ungünstigen Umstände und durch das Schaffen der richtigen Bedingungen erreicht werden kann. Bspw. kann eine Person daran gehindert werden, einen Kaufvertrag abzuschließen, wenn sie nicht über die relevanten Informationen (Preis, Menge, Qualität) verfügt, ohne dass dies ihrem subjektiven Interesse widerspricht. Die Annahme ist hierbei, dass sie den Vertrag nicht abschließen wollen würde, besäße sie alle relevanten Kenntnisse über den Sachverhalt.
3
Siehe hierzu Amelung, K. (1999): „Über Freiheit und Freiwilligkeit auf der Opferseite der Strafnorm“, Goltdammer’s Archiv für Strafrecht 164 (4), S. 188.
1. Begriffsbestimmungen
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Bei der Einschränkung der Freiheit wird somit nicht auf ein objektives Interesse abgestützt. Der Vertrag wird nicht aufgrund seines Inhaltes beschränkt, sondern nur aufgrund der spezifischen Umstände, unter denen er zustande kommen würde. Denn es besteht stets die Möglichkeit, dass ein subjektives Interesse nicht mit einem objektiven Interesse übereinstimmt. Es ist außerdem möglich, dass sich die beiden Interessenskonzepte in Bezug auf die notwendigen Handlungen, um ein Resultat herbeizuführen oder beizubehalten, widersprechen. Mit Blick auf die rechtliche Unmöglichkeit der Veräußerung bestimmter Rechtsgüter können nun Veräußerungshandlungen identifiziert werden, bei denen die Rechtsträgerin nicht autonom ist. Ein Beispiel hierfür liefert der erläuterte Fall einer betrunkenen Fahrzeug-Verkäuferin.4 Sie ist zum Zeitpunkt der Bildung einer Veräußerungsabsicht urteilsunfähig. Möglicherweise ist sie nicht fähig, ihre eigenen subjektiven Interessen richtig zu erkennen. Eine Einschränkung der Befugnis zur Veräußerung ist zu diesem Zeitpunkt möglich, ohne die subjektiven Interessen der Verkäuferin zu missachten. Bei unveräußerlichen Rechten kann also eine solche rechtliche Unmöglichkeit gegeben sein, wenn die Rechtsträgerin nicht autonom ist. In diesem Fall widerspricht die Einschränkung der Entscheidung (möglicherweise) nicht dem Willen der Rechtsträgerin. Wäre das Individuum autonom, so wird angenommen, würde es das Rechtsgut nicht veräußern wollen. Der Verlust der Kontrolle über das Recht (wie er durch KT‘ impliziert wird) widerspricht dann dem Willen des Individuums nicht. Das hier bestimmte Autonomiekonzept wird in den folgenden Kapiteln wieder aufgegriffen, wenn es um die moralische Rechtfertigung unveräußerlicher Rechte geht. Anhand dieses Konzeptes können liberale Rechtfertigungsstrategien für die Unveräußerlichkeit bestimmter Rechte aufgeschlüsselt werden.5 Einerseits können zwei unterschiedliche Formen staatlicher Bevormundung unterschieden werden, der sog. „sanfte“ und der sog. „harte“ Paternalismus). Andererseits kann ein Konzept des Zwangs als Abwesenheit von Autonomie bestimmt werden. Für den Verbleib dieses Kapitels soll jedoch dieses Konzept verwendet werden, um eine Willenstheorie, wie sie hier verstanden wird, zu erweitern. Das Anliegen besteht darin, zu zeigen, dass gemäß einer normativen Willenstheorie nicht-autonome Entscheidungen nicht notwendigerweise ermöglicht bzw. gewahrt werden sollen. Somit wird eine „Entscheidungstheorie“ bzw. „Kontrolltheorie“ abgelehnt. Der Vorschlag besteht darin, die Willenstheorie als „Theorie autonomer Entscheidungen“ aufzufassen. Eine solche verabschiedet die Kontrollthese im Falle von Autonomiemängeln der Rechtsträgerin und kann so den Einwänden gegen die Willenstheorie begegnen. 4 5
In Kap. V, 3.3. Kap. IX und Kap. X, 1.
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Kapitel VI: Die Theorie autonomer Entscheidungen
2. Rechte zum Schutz autonomer Entscheidungen Wie wir gesehen haben, führt die Kontrollthese zu kontroversen Konklusionen darüber, welche Rechte es geben soll, beziehungsweise wem Rechte zukommen. KT‘:
Ein Recht enthält notwendig die Befugnis, den normativen Vorteil (Anspruch, Privileg, Befugnis oder Immunität) aufzulösen oder zu transferieren.
Bei einer Willenstheorie (die KT‘ enthält) wird die Veräußerungsentscheidung einer Rechtsträgerin unhinterfragt als Ausdruck des Willens einer Person angesehen. Sie darf nicht in ihrer Entscheidung eingeschränkt werden, auch wenn diese Entscheidung nicht-autonom ist. In diesem Fall kann aber die beabsichtigte Änderung der normativen Relationen bei nicht-autonomen Entscheidungen nicht für sich genommen als Ausdruck des Willens der Rechtsträgerin gewertet werden, da dies möglicherweise nicht im subjektiven Interesse der Person liegt. Sowohl das Beispiel der betrunkenen Autoverkäuferin als auch dasjenige der Arbeitnehmerin, die unter ökonomischem Zwang ihr Recht auf einen Mindestlohn zu veräußern bereit wäre, beschreiben Situationen, in denen das Individuum nicht autonom handeln kann. Ebenso können strafrechtliche Einschränkungen (absolute Pflichten), wie die Unmöglichkeit zur Einwilligung in schwere Körperverletzung oder Tötung, so verstanden werden, dass sie durch Nicht-Autonomie begründet sind. Es wird also ersichtlich, dass da, wo die Willenstheorie (welche KT‘ beibehält) scheitert, Rechte als solche zu anerkennen, ein Fall von Nicht-Autonomie vorliegen kann: Der Wille entspricht ggf. nicht dem subjektiven Interesse des Individuums. Die moralische Idee hinter einer Willenstheorie ist aber der Schutz und die Durchsetzung der Autonomie als Ganzes und nicht notwendigerweise der Schutz und die Durchsetzung jeder einzelnen Entscheidung.6 Der Vorschlag für eine angemessene Auffassung der Willenstheorie besteht also darin, das Konzept des Willens als eine autonome Entscheidung zu verstehen. Was Rechte nach einem solchen Verständnis schützen sollen, ist die freie Entscheidung eines Individuums, die seinem subjektiven Interesse entspricht. Die Kontrollthese KT‘ wird deshalb abgelehnt. Folgende „bedingte Kontrollthese“ scheint somit angemessen: KT‘‘:
6
Ein Recht enthält grundsätzlich die Befugnis, einen normativen Vorteil (Anspruch, Privileg, Befugnis oder Immunität) aufzulösen oder zu transferieren. Ist die Rechtsträgerin bei der Veräußerungsentscheidung nicht autonom, besitzt sie keine Befugnis den normativen Vorteil aufzulösen oder zu transferieren
Vgl. dazu Campbell, T. 2006, S. 54 ff.
2. Rechte zum Schutz autonomer Entscheidungen
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Die rechtliche Kompetenz, ein Recht zu veräußern, soll also davon abhängig gemacht werden, dass sich ein Individuum zur Veräußerungsentscheidung autonom entscheidet bzw. dass ihre Entscheidung ihrem subjektiven Interesse dienlich ist. Die Kontrolle über ein Recht wird als zentrales Element des subjektiven Rechts angesehen, aber nicht als notwendige Bedingung. Diese Theorie verabschiedet sich von der Form einer reinen „Kontrolltheorie“ von Hart. Ebenso handelt es sich nicht um eine „Entscheidungstheorie“. Die Theorie autonomer Entscheidungen ist dennoch als Willenstheorie zu verstehen, da in der Wahrung und dem Schutz des Willens der Rechtsträgerin ein für Rechte konstitutives Element gesehen wird. Zudem ist der Ansatz normativ, da dem Willen der Rechtsträgerin eine bestimmte moralische Signifikanz zugeschrieben werden kann. Es gibt nämlich von Seiten der Anhängerinnen einer Willenstheorie gute moralische Gründe, die Interessetheorie abzulehnen. Wenn man sich nur die Frage stellt, welche Rechte Individuen zukommen sollen, dann kann man im Sinne einer Interessetheorie u.a. dafür argumentieren, dass eine Vielzahl von Freiheitsrechten den Rechtsträgerinnen tatsächlich schadet. So gerät man u.U. zum Schluss, dass diese Freiheitsrechte den Individuen nicht zukommen sollten. Als Beispiel dafür soll nur das Erlaubnisrecht dienen, sich selbst zu töten – das Recht auf Suizid. Dieses beinhaltet die Abwesenheit einer Pflicht sich selbst nicht zu töten. Es bedürfte hierbei wohl einer sehr eigenwilligen Interpretation des Begriffes ‚Interesse‘, um behaupten zu können, dass dieses Freiheitsrecht das Interesse der Rechtsträgerin schützt. Es ist also, sofern die Interessetheorie diesbezüglich die individuelle Freiheit verteidigen will, eine Herausforderung für die Interessetheorie darzulegen, weshalb und ob dieses Recht einem Individuum zukommen soll. Es gibt zwar Möglichkeiten, ein solches innerhalb der Theorie als Recht anzuerkennen. Eine Interessetheorie muss nicht zwingend zu einer Restriktion von Erlaubnisrechten führen. Es kann aber auf der Grundlage einer Interessetheorie für ein Verbot von Suizid argumentiert werden. Eine Interessetheorie bietet somit die Möglichkeit dazu, das Recht zu verneinen und diese Möglichkeit eröffnet eine illiberale Haltung gegenüber Freiheitsrechten. Was sich also unter dem philanthropischen Mantel einer Interessetheorie verbirgt, kann insofern sehr gefährlich sein, als dass die Beschneidung von Freiheiten durch die Zuschreibung von Rechten durch den Verweis auf Interessen gerechtfertigt wird. Eine Interessetheorie ermöglicht die Legitimation paternalistischer Ausgestaltung individueller Rechte,7 da sie mögliche Gründe liefert, die Interessen gegen den Willen der Einzelperson zu schützen.8 Durch eine Willenstheorie wird hingegen eine paternalistisch begründete Einschränkung der Freiheiten einer Rechtsträgerin ausgeschlossen. Die Stoßrichtung einer Willenstheorie ist somit vor diesem Hintergrund zu sehen. Sie 7 8
Vgl. Gutmann, T. 2006, S. 203 f. Siehe auch Sumner, L. W. 1987, S. 97; Steiner, H. 1998, S. 286.
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Kapitel VI: Die Theorie autonomer Entscheidungen
anerkennt den Wert individueller Freiheiten und konzipiert Rechte als normative Gegebenheiten, die dazu dienen diese Freiheiten zu schützen. Um dieser Werthaltung gerecht zu werden, bedarf es aber nicht des Schutzes und der Wahrung jeder einzelnen Entscheidung. Grundsätzlich ist die ethisch signifikante Größe durch die Autonomie der Rechtsträgerin gegeben. 2.1 Vereinbarkeit mit unveräußerlichen Rechten Wie aufgezeigt wurde, kann eine Willenstheorie, welche die Kontrollthese KT‘ beinhaltet, das Konzept unveräußerlicher Rechte nicht erfassen und ist (wenn als normative Theorie verstanden) zur Konklusion verleitet, dass es keine unveräußerlichen Rechte geben soll. In einer Theorie autonomer Entscheidungen können unveräußerliche Rechte hingegen dadurch begründet sein, dass Individuen bei ihrer Entscheidung (oder in der Ausbildung ihrer Wünsche, die zur Entscheidung motivieren) nicht autonom sind. Die Theorie autonomer Entscheidungen ist somit eine Form der Willenstheorie, welche die These KT‘ verwirft. Die Vereinbarkeit unveräußerlicher Rechte mit einer solchen Willenstheorie ist also logisch möglich. Nun gilt es zu zeigen, dass unveräußerliche Rechte genau da bestehen, wo Fälle von nicht autonomen Entscheidungen vorliegen. Hierzu kann die Rechtfertigungsgrundlage der Unveräußerlichkeit bestimmter Rechte dahingehend untersucht werden, ob dabei auf nicht autonome Entscheidungen abgestützt wird. Ein solches Unterfangen wird in Kap. IX und X gewagt. Es muss dazu auf die moralische Rechtfertigung unveräußerlicher Rechte im Einzelfall eingegangen und nach den Gründen gesucht werden, welche die Unveräußerlichkeit stützen sollen. Es ist sicher nicht der Fall, dass alle Rechte, welche durch unser Rechtssystem als unveräußerliche Rechte gehandhabt werden, auch deshalb unveräußerlich sind, weil die Veräußerungsentscheidung nicht autonom sein kann. Die Tatsache, dass unveräußerliche Rechte dann mit der Willenstheorie vereinbar sind, wenn eine nicht-autonome Entscheidung vorliegt, liefert also zugleich auch Kriterium zur Kennzeichnung jener unveräußerlichen Rechte, die unabhängig vom theoretischen Zugang (d.h. Wahl zwischen Interesse- und Willenstheorie) gerechtfertigt sein können: Nur dann wenn ein Recht aufgrund der nicht-autonomen Entscheidung unveräußerlich ist, ist diese Unveräußerlichkeit auch mit der Willenstheorie vereinbar. Die Theorie autonomer Entscheidungen kann aus der für die Rechtsphilosophie zentralen Unterscheidung zwischen „sanfter“ und „harter“ Bevormundung Sinn gewinnen. Ebenso sind Einschränkungen der Veräußerungsbefugnis aufgrund von Zwangs- oder Ausbeutungssituationen möglich. Diese Argumente werden noch eingehend diskutiert. Im Verbleib dieses Kapitels wird die Theorie nun aber von anderen Ansätzen abgegrenzt, die den Versuch anstellten, einen Kompromiss zwischen Interesse- und Willenstheorien herzustellen.
2. Rechte zum Schutz autonomer Entscheidungen
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2.2 Vergleich zu Hybrid-Theorien Die Theorie autonomer Entscheidungen ist vergleichbar mit der sog. „Complex-Hybrid-Theorie“ von Sreenivasan.9 Ähnlich der oben vorgeschlagenen Theorie lehnt er die Kontrollthese KT ab. Es ist für ein Anspruchsrecht nicht notwendig, dass die Rechtsträgerin eine Befugnis besitzt, einen Anspruch zu veräußern. Sreenivasan geht zwar davon aus, dass der Rechtsträgerin grundsätzlich die Kontrolle über ein Recht zukommen soll (dies beinhaltet alle drei Formen der Kontrolle nach Hart: die Befugnis, das Recht durchzusetzen oder geltend zu machen, die Befugnis das Recht zu veräußern und die Befugnis auf die Kompensation im Falle einer Rechtsverletzung zu verzichten).10 Die Ausnahme dazu bildet aber der Fall, in dem eine Einschränkung der Kontrolle „im Großen und Ganzen“11 dem Interesse der Rechtsträgerin dienlich ist. Die Theorie beinhaltet sowohl die These der Willenstheorie, dass Kontrolle über ein Recht ein wesentlicher Bestandteil desselben ist oder sein soll als auch einen Bezug auf das Interesse einer Person. Sie ist somit als „Hybrid-Theorie” zu verstehen. Suppose B is duty-bound to ɸ. A has a claim right against B that B ɸ just in case: A’s measure (…) of control over a duty of B to ɸ matches (by design) the measure of control that advances A’s interest on balance.12
Eine Pflicht einer Person B korreliert immer dann mit einem Recht einer Person A, wenn die Kontrolle (die Befugnisse über Durchsetzung, Veräußerung oder Geltendmachung) über die Pflicht seitens B dem Interesse von A im Großen und Ganzen dienlich ist. Das Interesse richtet sich aber nicht auf die Erfüllung einer Pflicht, sondern auf die Verfügbarkeit über das Recht. Die Kontrolle über ein Recht wird somit interessetheoretisch begründet und gleichzeitig eingeschränkt. Nur wenn es im Interesse der Rechtsträgerin liegt, ein Recht zu veräußern, soll das Recht auch veräußerlich sein. Wenn es hingegen nicht dem Interesse entspricht, dann soll es unveräußerlich sein. Sreenivasans Ansatz kann somit sowohl unveräußerliche Rechte als auch Verfügungseinschränkungen durch Unmündigkeit und Verlust von Autonomie erfassen. Die Einschränkung der Befugnisse wird durch das Interesse der Person gerechtfertigt.13 9 Sreenivasan, G. 2005, S. 257–74. Sein Ansatz beschränkt sich auf die Auseinandersetzung mit Anspruchsrechten. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass Sreenivasan der Frage nachgeht, inwiefern bzw. in welchen Fällen Rechte mit Pflichten korrelieren. Es ist m.E. jedoch möglich, den Ansatz auf alle unveräußerlichen Rechte (Privilegien, Befugnisse und Immunitäten) anzuwenden. Vgl. Kap. III, 1.1. 10 Ebd. S. 259. 11 Aus dem Engl. „on balance”. 12 Vgl. ebd. S. 271. [die Buchstaben Y und X ersetzt durch A und B]. 13 Diese solche gemischte Theorie der Rechte kann aber nicht nur unveräußerliche Rechte erfassen, sondern auch das Problem der Begünstigung von Drittpersonen (Siehe Kap. V,
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Kapitel VI: Die Theorie autonomer Entscheidungen
Das Interesse kann nun aber wiederum auf zwei Weisen konzipiert werden. Entweder es handelt sich um einen objektiven Begriff des Interesses oder um einen subjektiven Begriff. Erstgenannter beinhaltet die Gefahr für liberale Rechtstheorien, dass die Kontrolle über ein Recht nur bei wenigen Rechten tatsächlich gegeben sein muss. Man könnte behaupten, dass es im Interesse von Individuen liegt, dass sie bspw. kein Glücksspiel betreiben. Das Eigentum einer Person auf ihr Vermögen wäre somit nicht veräußerlich, sobald die Person eine Wette abschließen will. Ein solcher Ansatz würde somit der grundlegenden normativen Idee einer Willenstheorie zuwiderlaufen, dass eine Person Kontrolle über ihr Recht besitzen soll, um seine Freiheit zu gewährleisten. Eine Vielzahl von Rechten könnte durch eine solche Hybrid-Theorie (die einen objektiven Interessensbegriff beinhaltet) als unveräußerlich bezeichnet werden. Die Theorie ist in diesem Fall zu streng. Letztgenannter Begriff eines Interesses würde auf die Präferenzen und Wünsche der Rechtsträgerin Bezug nehmen. Ein Recht ist dann unveräußerlich, wenn eine Veräußerung nicht ihrem subjektiven Interesse entspricht. Wie wir aber gesehen haben ist dies (konzeptuell durch die Bestimmung des Begriffs der Autonomie) genau dann der Fall, wenn eine Person in Bezug auf ihre Veräußerungsentscheidung nicht autonom ist oder sein kann. Denn in all jenen Fällen, in denen die Person ohnehin nicht den Wunsch (das subjektive Interesse) besitz, das Recht zu veräußern, stellt die Unmöglichkeit keine normative Einschränkung dar. Die Interpretation von Sreenivasans Interessebegriff als subjektives Interesse führt somit dazu, dass die Theorie mit der hier vorgeschlagenen Theorie autonomer Entscheidungen deckungsgleich ist. Sreenivasans Theorie beinhaltet nun aber diesen nicht weiter qualifizierten Bezug auf das Interesse. Die Kontrolle über ein Recht wird vom Interesse der Rechtsträgerin abhängig gemacht. Beide Optionen zur Interpretation des zugrunde gelegten Interessebegriffes bleiben dabei offen: eine sehr restriktive Deutung als objektives Interesse und eine mit der Theorie autonomer Entscheidungen kongruente Deutung als subjektives Interesse. Es ist m.E. also unklar, weshalb hier überhaupt auf das Interesse Bezug genommen werden soll und nicht von vornherein auf die Autonomie. Denn solange dieser Bezug zum Interesse besteht, ist es stets möglich erstere Interpretation der Theorie zu unterlegen. Die Theorie autonomer Entscheidungen schließt eine solche Interpretation aus, da ‚Autonomie‘ eine Entsprechung der Entscheidung mit dem subjektiven Interesse bedingt.
1.3.) vermeiden. Drittpersonen besitzen grundsätzlich keine Kontrolle über das Recht. Zudem ist die Einschränkung über die Verfügung über das Recht nicht dem Interesse der Drittpersonen dienlich. Vgl. ebd. S. 268.
2. Rechte zum Schutz autonomer Entscheidungen
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2.3 Kritik an der Kombinationstheorie In diesem Zusammenhang kann auf die in der deutschsprachigen Literatur über subjektive Rechte promintente „Kombinationstheorie“ Bezug genommen werden, deren bekannteste Formulierung sich in Enneccerus und Nipperdey finden lässt: Das subjektive Recht ist eine Rechtsmacht, die dem einzelnen zur Befriedigung menschlicher Interessen von der Rechtsordnung verliehen ist und deren Geltendmachung allein vom Willen des Berechtigten abhängt.14
Enneccerus und Nipperdey vertreten eine Form der Willenstheorie, indem sie Rechten notwendig Befugnisse zuschreiben, ein Recht geltend zu machen, es durchzusetzen, es abzuändern oder zu veräußern u.a.m. Eine reine „Schutznorm“ sei nicht hinreichend für ein Recht.15 Insofern kommt dem Recht ein Moment der „Willensmacht“ der Rechtsträgerin zu. Die Rechtsträgerin kann oder darf über ihr eigenes Recht verfügen. Gemäß der Theorie bestimmen aber die Befugnisse, welche mit einem Recht notwendig einhergehen, nicht das Wesen des Rechts. Der Zweck des Rechts sei dadurch gegeben, dass es i.d.R. dem Interesse der Rechtsträgerin dient.16 Es handelt sich hierbei zudem ausdrücklich um ein „objektiv anerkanntes Interesse“, nicht also um ein subjektives Interesse der Rechtsträgerin. Der normative Anspruch an Rechte ist also mit demjenigen einer Interessetheorie vergleichbar. Es ist hier weiter zu präzisieren, inwiefern die Kontrolle über das Recht (welche dem Individuum durch die Befugnisse zu dessen Durchsetzung und Auflösung zukommt) aus dem interessetheoretischen normativen Anspruch der Theorie folgen kann. Es scheint aufgrund der bisherigen Ausführungen klar, dass es nicht immer im Interesse (v.a. nicht im objektiven Interesse) des Individuums liegt, Kontrolle über ein Recht zu besitzen. Wie wir gesehen haben, kann ein Individuum urteilsunfähig, schlecht informiert oder unter Zwang handeln. In diesen Fällen dient eine Befugnis möglicherweise nicht dem Interesse des Individuums. Die Theorie kann also nicht erklären, weshalb die Geltendmachung, Durchsetzung, die mögliche Abänderung und Auflösung eines Rechts allein vom Willen der Rechtsträgerin abhängen soll, wenn es doch der Zweck des Rechts ist, das Interesse eines Individuums zu schützen. Somit wird nicht hinreichend klar, inwiefern die Eigenschaften, welche Rechten zugeschrieben werden, aus der Theorie folgen. Hier wird ein willenstheoretischer Begriff von Rechten aus einer Interessetheorie abgeleitet.
14
Enneccerus, L./Nipperdey, H. C. 1959, S. 428 f. Vgl. ebd. S. 430 f. 16 Vgl. ebd. S. 437. 15
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Kapitel VI: Die Theorie autonomer Entscheidungen
Eine Kombinationstheorie ist aber nicht nur aus „theorieästhetischen“ Gründen (der internen Kohärenz) abzulehnen, sondern lädt zusätzlich auch die Nachteile beider Theorien, der Willens- und der Interessetheorie auf sich. Die „Rechtsmacht“ wird hier in Harts Sinn als ein Bündel an Befugnissen, über ein Recht zu verfügen, verstanden. Darunter werden auch Transfer- und Verzichtsbefugnisse gefasst. Sofern sie bestehen, hängt ihre Geltendmachung gemäß der Theorie alleine vom Willen der Rechtsträgerin ab. Allerdings ist ihre Existenz bzw. ihr Einhergehen mit einem Recht davon abhängig, dass sie zur Befriedigung menschlicher Interessen dienlich sind. Einerseits ist die Theorie also nicht fähig unveräußerliche Rechte zu erfassen, sie definiert einen engeren Begriff von Rechten, der aufgrund eines deskriptiv-rekonstruktiven Anspruches an eine Theorie der Rechte nicht genügt. Andererseits gehen mit der Theorie die rechtspaternalistischen Implikationen einher, die mit einer Interessetheorie verbunden sein könnten. Wenn Individuen nur aufgrund ihrer Interessen Rechte zukommen sollen, dann liegt es nahe, ihnen keine Rechte zuzuschreiben, wo die Interessen durch den Schutz und die Garantie bestimmter Freiheiten diesen Interessen schädlich sein könnten. Ebenso wie bei der Interessetheorie liefert die Kombinationstheorie eine Rechtfertigung der Einschränkung persönlicher Freiheiten aufgrund des Interesses des Individuums. Der Zweck eines Rechts wird eben nicht darin gesehen, dass er die Freiheiten der Rechtsträgerin wahrt und schützt. Die Verfügungsmacht über die normativen Relationen wird nur als formales Kriterium angesehen, das ein Recht erfüllen muss, um als Recht zu gelten. Die Form des Rechts folgt nicht aus der normativen Idee der Willenstheorie.
3. Diskussion Anhand der in Kap. III vorgetragenen Analyse wurde der Begriff der Unveräußerlichkeit als rechtliche Unmöglichkeit des freiwilligen Verzichts oder Transfers bestimmt. Eine Willenstheorie, welche die Kontrollthese beinhaltet, kann unveräußerliche Rechte nicht erfassen. Die These besagt, dass mit jedem Anspruchsrecht eine Kompetenz einhergeht, diesen Anspruch freiwillig aufzugeben oder zu transferieren. Es können zwei mögliche Schlussfolgerungen daraus gezogen werden. Entweder sind unveräußerliche Rechte in einem strikten Sinn keine Rechte (deskriptiv-revisionistisch) oder Rechte sollen nicht unveräußerlich sein (normativ-revisionistisch). Wird ersterer Schluss gezogen, besteht die Gefahr, dass aus der Theorie keine politischen oder moralischen Forderungen in Bezug auf die Zuschreibung und Existenz unveräußerlicher Rechte abgeleitet werden können. Wird letzteres gefolgert, kann die Willenstheorie sehr grundlegende Rechte nicht erfassen, die wir für unser Rechtssystem als zentral erachten. Es
3. Diskussion
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wurde gezeigt, dass die Kontrollthese für eine inhärent normative Willenstheorie problematisch ist. Daraufhin wurde ein Vorschlag unterbreitet, wie die Willenstheorie aufgefasst werden kann, ohne die These beizubehalten – die Theorie autonomer Entscheidungen. Unveräußerliche Rechte sind mit einem solchen Ansatz, wie gezeigt wurde, nicht unvereinbar. Eine Theorie der Rechte sollte, wie im vorherigen Kapitel ausgeführt wurde, auf die folgenden Fragen Antworten liefern: Was sind Rechte? Welche normativen Relationen sind in Rechten enthalten? Wer besitzt Rechte? Welche Rechte sollen diejenigen Wesen besitzen, welche Rechte besitzen können? Und wie sollten die Rechte jener Wesen gesichert und geschützt werden?17 Für die Beantwortung der ersten beiden Fragen genügt eine deskriptive Theorie der Rechte. Für die Beantwortung der letzten beiden Fragen muss eine Theorie der Rechte hingegen als normative Theorie aufgefasst werden. Wie wir gesehen haben, können Willenstheorien von Rechten diesbezüglich unterschieden werden. Die Willenstheorie von Hart versucht juridische Rechte durch seine Konzeption zu beschreiben. In zweierlei Hinsicht ist eine solche Theorie aber philosophisch uninteressant. Erstens ist sie revisionistisch. Die Theorie will nicht den juristischen, politischen, moralischen Sprachgebrauch über Rechte abbilden. Es ist somit nicht ersichtlich, wie der Wahrheitswert der Aussagen über Rechte, die aus der Theorie folgen, überprüft werden kann. Der aus der Theorie gewonnene Begriff kann unterschiedliche Formen seiner Verwendung nicht hinreichend beschreiben. Zweitens ist die Theorie deskriptiv. Aus der Theorie können keine Aussagen darüber abgeleitet werden, wer welche Rechte haben soll oder wie diese Rechte geschützt werden sollen. Insofern ist die Theorie ethisch nicht brisant. Die hier vorgeschlagene Form der Willenstheorie als Theorie autonomer Entscheidungen wird dementgegen als normative Theorie der Rechte verstanden, aus welcher Aussagen darüber abgeleitet werden können, wer welche Rechte besitzt und wie sie garantiert werden sollen. Die Kontrollthese wird allerdings verworfen. Rechte können unveräußerlich sein, wenn ihre Trägerinnen nicht autonom sind. Aus der Untersuchung ergeben sich vier mögliche Konklusionen in Bezug auf eine Theorie der Rechte und deren Vereinbarkeit mit unveräußerlichen Rechten. Erstens kann an der Willenstheorie mit Kontrollthese KT‘ festgehalten werden. Aus oben genannten Gründen wird dies abgelehnt. Ein solcher Ansatz ist zu eng und kann wesentliche Einschränkungen von Befugnissen über Rechte nicht erfassen. Zudem wäre die Untersuchung hier bereits abgeschlossen. Denn die Kontrollthese schließt die Existenz unveräußerlicher Rechte kategorisch aus. Die Frage, ob unveräußerliche Rechte moralisch gerechtfertigt sind, wäre somit sinnlos, da es solche Rechte gar nicht geben könnte.
17
Siehe Campbell, T. 2006, S. 43.
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Kapitel VI: Die Theorie autonomer Entscheidungen
Zweites kann eine Willenstheorie als Theorie autonomer Entscheidungen vertreten werden, welche die Kontrollthese nicht beinhaltet, aber dennoch den Schutz und die Garantie freier individueller Entscheidungen als die zentrale Funktion von Rechten anerkennt. Eine solche Theorie kann die Unveräußerlichkeit von Rechten genau dann erfassen, wenn durch die Unmöglichkeit der Aufgabe und des Transfers von Rechten nicht-autonome Entscheidungen verunmöglicht werden. Drittens kann eine herkömmliche Interessetheorie vertreten werden, wodurch sich das Problem der Vereinbarkeit unveräußerlicher Rechte mit der Theorie der Rechte erübrigt. Allerdings kann, sofern die Theorie autonomer Entscheidungen einen möglichen Ansatz bietet (und sie eine denkbare Form einer Willenstheorie darstellt), die Kritik an einer Willenstheorie nicht darin bestehen, dass diese unveräußerliche Rechte nicht konzipieren kann. Viertens kann aber auch keine der beiden Theorien, weder die Theorie autonomer Entscheidungen noch die Interessetheorie vertreten werden. Eine solche Haltung ist möglich, da lediglich die Vereinbarkeit unveräußerlicher Rechte mit einer hier vorgeschlagenen Form der Willenstheorie geprüft wurde. Ob und inwiefern die Theorie angemessen ist, wurde zwar angedeutet, es bedürfte nun aber einer weiterreichenden Untersuchung der Leistungsfähigkeit einer solchen Theorie der Rechte. Es soll für die nachfolgende Untersuchung nicht festgelegt werden, welche Theorie die Richtige ist. Die Beobachtung genügt, dass ein modifiziertes Verständnis der Willenstheorie mit der Existenz unveräußerlicher Rechte durchaus vereinbar sein kann. Die Plausibilität der folgenden Untersuchung über die moralische Dimension unveräußerlicher Rechte sollte insofern nicht von der Theoriewahl abhängig sein.
Kapitel VII
Die Rechtfertigung unveräußerlicher Rechte Erinnern wir uns an die Unterscheidung zwischen der Frage: „Gibt es unveräußerliche Rechte?“ und derjenigen: „Soll es unveräußerliche Rechte geben?“ Auf einer rechtstheoretischen Ebene war bisher zu klären, ob das Konzept unveräußerlicher Rechte mit dem Begriff ‚subjektives Recht‘, der aus einer Theorie der Rechte folgt, vereinbar ist. Wenn dies nicht der Fall ist, so muss die Konklusion lauten: Es kann aus Konsistenzgründen keine unveräußerlichen Rechte geben. Wenn aber die bis anhin verfolgte Argumentation schlüssig ist, dann ist die Unveräußerlichkeit von Rechten theoretisch auch innerhalb einer Willenstheorie konzipierbar. Auf der Ebene der Moral muss nun die Frage gestellt werden, ob und wie solche unveräußerlichen Rechte moralisch gerechtfertigt sein können. Das Problem einer Rechtfertigung ergibt sich aber erst dann, wenn man von bestimmten Prämissen ausgeht. In diesem Kapitel sollen diese einerseits offengelegt und andererseits verteidigt werden. Die folgenden drei zentralen Annahmen werden in der folgenden Untersuchung getroffen: P1: P2: P3:
Die unveräußerlichen Rechte sind keine Axiome. Es ist nicht bereits von vornherein bestimmt, welche Rechte unveräußerlich sind und welche nicht. Unveräußerliche Rechte stellen eine Freiheitseinschränkung dar. Freiheitseinschränkungen sind grundsätzlich rechtfertigungspflichtig.
Es soll also argumentiert werden, dass unveräußerliche Rechte eine Freiheitseinschränkung darstellen und dass diese ein rechtsethisches Problem darstellt. Daraufhin ergibt sich die philosophische Herausforderung, ein unveräußerliches Recht anhand moralischer Argumente zu begründen. Die erste Annahme wurde bereits in Kap. IV verteidigt. Die letzteren beiden Annahmen sollen in der Folge diskutiert werden.
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Kapitel VII: Die Rechtfertigung unveräußerlicher Rechte
1. Zum moralischen Problem Es wird davon ausgegangen, dass das objektive Recht weitreichende Freiheitsrechte garantiert. Diese besitzen die in Kap. II erläuterte Form Hohfeld’scher „Privilegien“:1 Der Staat besitzt keine Anspruchsrechte gegenüber den Individuen, dass jene bestimmte Handlungen nicht ausüben. Es sei denn, ein Anspruch kann begründet werden. Die Individuen besitzen dementsprechend keine Pflicht, diese Handlungen zu unterlassen. Es sei denn, eine solche Pflicht und ein Anspruch seitens des Staates (oder der Allgemeinheit) werden auf gute Gründe gestützt. Ebenso lassen sich in liberalen Rechtssystemen weitreichende „Immunitäten“ erkennen.2 Der Staat besitzt keine Befugnis, bestimmte Handlungen unter Verbot zu stellen. Er kann den Individuen gewisse Unterlassungspflichten nicht auferlegen. Es sei denn, er besitzt wohlbegründete, durch das Volk oder die Individuen erteilte Kompetenzen. Sofern man keine anarchistische Position vertritt, geht man nicht davon aus, dass eine Begründung von Freiheitsbeschränkungen grundsätzlich unmöglich sei. Eine allgemein anerkannte Rechtfertigung für Freiheitseinschränkungen seitens des Staates liefert das sog. „Nicht-Schädigungsprinzip“ von Mill: Wenn eine Handlung, einer anderen Person Schaden zufügt, darf sie gerechtfertigterweise verhindert oder verboten werden. Gemäß dem Wortlaut Mills ist es zudem nur dann der Fall, dass eine Handlung verboten werden darf, wenn eine Schädigung vorliegt und nachgewiesen werden kann. That the only purpose for which power can be rightfully exercised over any member of a civilized community, against his will, is to prevent harm to others. His own good, either physical or moral, is not a sufficient warrant. He cannot rightfully be compelled to do or forbear because it will be better for him to do so, because it will make him happier, because, in the opinion of others, to do so would be wise, or even right. [...] The only part of the conduct of anyone, for which he is amenable to society, is that which concerns others. In the part which merely concerns himself, his independence is, of right, absolute. Over himself, over his own body and mind, the individual is sovereign.3
Der Ausgangspunkt der folgenden Abhandlung ist durch dieses Nicht-Schädigungsprinzip gegeben. Grundsätzlich wird somit die Gegebenheit individueller Freiheit vorausgesetzt, welche als achtens- und schützenswert gilt. Die Privilegien und Immunitäten der Individuen werden als „Normalzustand“ verstanden, von dem ausgehend jede Einschränkung und Verletzung derselben einer bestimmten Rechtfertigung bedarf. Wer behaupten will, dass der Staat Rechtspflichten erlassen kann oder dass der Staat Handlungen ausüben darf, welche
1
Siehe Kap. II, 2(b). Siehe Kap. II, 2(d). 3 Mill, J. S. 2009, S. 22. Das Prinzip wird durch Mill selbst relativiert, indem er sog. „sanft bevormundende“ Einschränkungen als begründet ansieht. Siehe Kap. IX, 1. 2
1. Zum moralischen Problem
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das Individuum in seiner Rechtssphäre beeinträchtigen, muss dafür einen überzeugenden Grund angeben. Wie steht es nun aber um individuelle „Befugnisse“ zur Aufhebung und zum Transfer von Rechten? Sind solche tatsächlich ein Normalzustand, dessen Veränderung (durch die rechtliche Durchsetzung von Unmöglichkeiten) eine grundsätzlich rechtfertigungsbedürftige Einschränkung ist? Oder sind sie erst durch das Recht erschaffene Möglichkeiten? Die oben genannte Prämisse P2 setzt voraus, dass die Unmöglichkeit zur Veräußerung eines Rechts nicht von Grund auf gegeben ist und dass sie eine durch das objektive Recht erzeugte Beschränkung individueller Freiheit ist. Um die Prämisse zu verteidigen, muss genauer betrachtet werden, worin eine Veräußerung besteht. Wie im Kap. III dargelegt wurde, beinhaltet eine Veräußerungshandlung notwendig die freiwillige Aufgabe von „normativen Vorteilen“ (Privilegien, Ansprüchen, Befugnissen oder Immunitäten). Wenn eine Person ihr Recht bspw. auf einen Apfel veräußert und eine andere Person den Apfel isst, dann liegt keine Pflichtverletzung vor, da die Person den Anspruch (dass die andere Person den Apfel nicht isst) aufgegeben hat. Die in diesem Beispiel beschriebene Veräußerung ist gültig und wird grundsätzlich in einem rechtlichen System als gerechtfertigt anerkannt. Die frühere Rechtsbesitzerin hat von einer ihr gegebenen Befugnis Gebrauch gemacht, das Recht zu veräußern. Die Befähigung, das Recht aufzulösen, d.i. den Anspruch abzulegen und andere Leute von der Pflicht zu befreien, ist zudem eine soziale Tatsache. Sowohl die Gesellschaft als auch der Staat anerkennen die Veräußerung als solche. Innerhalb eines rechtlichen Systems bedeutet dies, dass ein Vertragsschluss stattgefunden hat. Die Vereinbarung ist gültig und wird als bindend erachtet. Man könnte nun zur Auffassung geneigt sein, dass im Falle von unveräußerlichen Rechten (wo ebendiese Befugnis zur Veräußerung nicht besteht), der Person, die das Recht besitzt, eine Möglichkeit nicht gewährt wird. Die Rechtsträgerin kann so gesehen eine „staatliche Dienstleistung“ nicht in Anspruch nehmen.4 Die Möglichkeit, bindende Verträge einzugehen wird demgemäß erst durch ein rechtliches System eröffnet. Die Zuteilung von Rechten und Pflichten, von Ersatzansprüchen, von Klagebefugnissen und die Instanzen zur Einforderung der vereinbarten Leistungen im Falle einer Nichterfüllung der Pflichten (somit eine indirekte staatliche Unterstützung individueller Rechtshandlungen durch Zwang) sind allesamt Güter, die ein Rechtssystem zur Verfügung stellt. Die Gegenthese zur getroffenen Annahme P2 besteht nun in der Behauptung, dass die Veräußerlichkeit von Rechten (die Befugnis zur Aufgabe und zum Transfer des Rechts) keine ursprüngliche Freiheit darstellt, die „normalerweise“ besteht und deren Einschränkung somit auch nicht rechtfertigungspflichtig ist. 4
Vgl. Moser, E. 2016, S. 149.
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Kapitel VII: Die Rechtfertigung unveräußerlicher Rechte
Die staatlichen Institutionen beschränken gemäß dieser Argumentation nicht direkt die Freiheit der Individuen, sondern sie sehen davon ab, die freien Entscheidungen von Individuen zu unterstützen, indem sie einerseits die rechtliche Geltung derselben verunmöglichen und andererseits die Entscheidungen durch staatlichen Zwang verhindern. Da die Möglichkeiten des Individuums durch die Unmöglichkeit einer Veräußerung ihres Rechts beschränkt sind und gewisse Rechtshandlungen nicht möglich sind, sind der Rechtsträgerin dadurch bestimmte Freiheiten verwehrt. Es fragt sich, ob der Staat hierbei bloß die Gewährleistung einer „positiven Freiheit“ unterlässt und nicht eine „negative Freiheit“ verletzt. Der Begriff der positiven Freiheit bezieht sich auf die Anzahl realer Handlungsmöglichkeiten eines Individuums. Die negative Freiheit hingegen verlangt bloß nach einer Abwesenheit äußerer Zwänge. Die Prämisse P2 geht klarerweise von einer „negativen Freiheit“ der Veräußerbarkeit aus.5 Die Veräußerungsbefugnis ist eine grundsätzlich gegebene Abwesenheit der Hindernisse, ein Recht abzutreten. Aus zwei Gründen wird die Befugnis zur Veräußerung von Rechten nicht als eine erst durch den Staat ermöglichte Freiheit erachtet. Erstens kann aufgrund eines Gedankenexperiments für die intuitive Plausibilität der Annahme P2 argumentiert werden. Man kann sich eine Welt W2 jenseits eines Rechtssystems vorstellen, in der die Individuen ähnlich viele und fast dieselben moralischen Rechte besitzen, wie in unserer Welt W1, in der die meisten Rechte durch staatliche Instanzen garantiert werden. Leben, Freiheit, Eigentum usw. werden in dieser fiktiven Welt W2 grundsätzlich anerkannt. Die Individuen besitzen in W2 jedoch keine Befugnis, diese zu veräußern.6 Also sind weder Tauschgeschäfte, Versprechen, Übereinkünfte, noch Erlaubnisse und Einwilligungen möglich, sobald dadurch eine Pflicht aufgelöst oder transferiert wird. Nun muss man sich in einer solchen Welt W2 bspw. ein Recht auf sexuelle Integrität folgendermaßen vorstellen. Während eine Person in dieser Welt W1 das Anspruchsrecht hat, nicht vergewaltigt zu werden und eine Vergewaltigung eine Form des Geschlechtsverkehrs ohne Einwilligung bedingt, könnte eine Person in W2 keinen Geschlechtsverkehr mit einer anderen Person haben, ohne dass dies als Vergewaltigung angesehen würde. Sie besäße die Befugnis nicht, andere Personen von ihren Pflichten zu befreien und sie gerechtfertigterweise in ihre Privatsphäre eindringen zu lassen. Eine solche Welt scheint aber keinen Normalzustand abzubilden und ist wohl kaum wünschenswert.
5
Ebd. Dieses Gedankenexperiment ist inspiriert von Shiffrin, S. V. (2008): „Promising, Intimate Relationships, and Conventionalism“, The Philosophical Review 117 (4), S. 501 f. 6
1. Zum moralischen Problem
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Es ist deshalb durchaus sinnvoll, davon auszugehen, dass den Individuen grundsätzlich zu ihren Rechten die Befugnis zukommt, diese zu veräußern.7 Eine Begrenzung dieser Befugnis durch eine rechtliche Unmöglichkeit stellt also eher eine künstlich auferlegte Einschränkung dar, die moralisch gerechtfertigt werden muss. Dasselbe lässt sich zu anderen grundlegenden Rechten sagen. Die individuelle Verfügung über Leben, Eigentum, Freiheit, körperliche Unversehrtheit usw. scheint bereits in einem vorrechtlichen Zustand der Gesellschaft grundsätzlich möglich zu sein und ist nicht erst eine erst durch einen Staat „erfundene“ Rechtshandlung. Zweitens besitzt die rechtliche Unmöglichkeit einer Veräußerung die Eigenschaft, dass sie Handlungsmöglichkeiten eingrenzt. Das Individuum wird an bestimmten Handlungen gehindert. So beschneidet die Unmöglichkeit der Aufgabe eines durch das Strafrecht garantierten Anspruches indirekt die Freiheit der Rechtsträgerin. Sie wird zwar im Falle einer ungültigen Veräußerung (z.B. bei Einwilligung in eine schwerwiegende Körperverletzung) nicht selbst bestraft.8 Allerdings wird die Person, gegenüber der das Recht veräußert wird, bestraft. Insofern werden durch Abschreckung „negative Anreize“ gesetzt, die das Ziel haben, die Beschneidung des Rechts zu verhindern. Die Einwilligung in einen Verzicht auf das Recht ist somit nur wirksam, wenn das Gegenüber bereit ist, die Sanktion in Kauf zu nehmen. Ist die andere Person dazu nicht bereit, schränkt die mögliche Bestrafung der Rechtsadressatin auch die Rechtsträgerin in ihrer Freiheit ein. Eine Unmöglichkeit der Veräußerung und deren rechtliche Folgen werden somit als Einschränkungen der individuellen Freiheit verstanden, welche gerechtfertigt werden müssen. Die moralische Dimension, d.h. der Rechtfertigungsbedarf unveräußerlicher Rechte ist durch die Einschränkung der Freiheit der Rechtsträgerinnen gegeben. Es wird sich in den folgenden drei Kapiteln zeigen, welche Argumente für die Unveräußerlichkeit eines Rechts ins Feld geführt werden können. Einerseits wird im nächsten Kapitel die Begründung unveräußerlicher Rechte durch objektive Werte dargelegt. Andererseits werden in den letzten beiden Kapiteln (IX und X) liberale Begründungsformen für die Freiheitseinschränkung durch unveräußerliche Rechte erläutert und kritisch hinterfragt.
7 Vgl. Penner, J. (2013): „On the Very Idea of Transmissible Rights“, in: Penner, J./Smith, H. E. (Hrsg.): Philosophical Foundations of Property Law, Oxford: Oxford University Press, S. 263 ff.; siehe auch Fried, C. (1981): Contract as Promise: Theory of Contractual Obligation, Cambridge, MA: Harvard University Press, Kap. 2. 8 Wie wir gesehen haben, besitzt sie keine Pflicht, das Rechtsgut nicht aufzugeben oder zu transferieren. Siehe Kap. III, 3.3.
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Kapitel VII: Die Rechtfertigung unveräußerlicher Rechte
Im Verbleib dieses Kapitels soll nun noch geklärt werden, wie man rechtsethisch eine Freiheitseinschränkung rechtfertigen kann und welcher Ansatz für die Beurteilung unterschiedlicher Rechtfertigungsstrategien verwendet wird. Hierbei werden einige methodische Einschränkungen getroffen, die es erlauben, Antworten auf solche normative Fragen auf wissenschaftliche Weise zu liefern.
2. Rechtsethischer Ansatz Bereits in der Einleitung Kap. I wurde einiges über den methodischen Ansatz gesagt, mit welchem die rechtsethische Frage nach der Rechtfertigung unveräußerlicher Rechte beantwortet werden soll. Nun muss aber noch etwas mehr zur Herangehensweise gesagt werden. Die Methode zur ethischen Beurteilung der Richtigkeit rechtlicher Normen der Unveräußerlichkeit kann als „verfahrensethisch“ bezeichnet werden.9 Es wird gezielt von einer Deduktion bestimmter Propositionen aus einer übergeordneten ethischen Theorie Abstand genommen. Dies kann vorerst auf zwei pragmatische Gründe zurückgeführt werden: Erstens soll die Frage nach der moralischen Richtigkeit der Unveräußerlichkeit von Rechten nicht unnötigerweise auf der Ebene ethischer Theorien behandelt werden. Die Suche nach der Rechtfertigung rechtlicher Normen verschöbe sich dadurch entweder hin zur Frage nach der Angemessenheit der zugrunde gelegten Theorie oder die Aussagen unterschiedlicher Theorien würden einander gegenübergestellt, wobei dann die Antwort auf die Frage nach der Rechtfertigung von der Theoriewahl abhinge. Es bestehen aber weder Sympathien für eine spezifische ethische Theorie, noch wird die Meinung vertreten, dass es für die in der Untersuchung gestellte Frage notwendig ist, sich festzulegen. Zweitens ist eine „kasuistische Herangehensweise“ in den Rechtswissenschaften eine weit verbreitete und sinnvolle Methode zur Kritik an Rechtsnormen. Es wird dabei u.a. auf Gerichtsurteile Bezug genommen, oder es werden Beispiele konstruiert, um die Anwendung der Norm auf Einzelfälle zu prüfen. Diese werden mit rechtlichen Intuitionen (der sog. „Judiz“),10 mit Prinzipien des Rechts (z.B. „Rechtssicherheit“, „Rechtsgleichheit“ o.ä.) gegenübergestellt oder es wird nach dem „Sinn“ einer Norm (z.B. dem geschützten „Rechtsgut“)11 gefragt. 9
Birnbacher, D. (2013): „Analytische Einführung in die Ethik“, 3. Aufl., Berlin: de Gruyter, S. 84 ff. 10 Für eine Erläuterung des Begriffes siehe Gröschner, R. (1987): „Judiz: was ist das und wie lässt es sich erlernen?“, JuristenZeitung 42 (19), S. 904. 11 Vgl. dazu Roxin, C. 2006, § 2.
2. Rechtsethischer Ansatz
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Dadurch wird nicht nur die Bedeutung des objektiven Rechts im Einzelfall geklärt, sondern auch neu gesetzt. Es entsteht ein möglichst widerspruchsfreies System von Überzeugungen. Diese Herangehensweise ist m.E. ebenso für eine rechtsethische Auseinandersetzung mit positiv-rechtlichen Gegebenheiten sinnvoll. Das Recht besitzt im Gegensatz zu anderen Untersuchungsbereichen der Moral eine Vielzahl an positiven Gegebenheiten, aus denen wir bestehende moralische Begründungsformen extrapolieren können. Es soll schrittweise ein konsistentes Netz von Aussagen gebildet werden, das mit dem positiven Recht abgeglichen werden kann. Die Untersuchung beschränkt sich aufgrund dieses Ansatzes auf die „Rekonstruktion“ und die „Konsistenzprüfung“. Folgendes (stark vereinfachtes) wissenschaftstheoretisches Bild liegt der ethischen Auseinandersetzung mit dem Thema zugrunde: Normative Propositionen über die richtige oder gerechte Ausgestaltung des Rechts können aus grundlegenden oder als gegeben vorausgesetzten normativen Annahmen abgeleitet werden. Wenn die Ableitung logisch schlüssig ist, dann ist das Überzeugungssystem „intern kohärent“.12 Die Propositionen können aber auch anhand von Beobachtungen überprüft werden. Deckt sich der Inhalt der Proposition mit den beobachteten Tatsachen ist die Proposition „empirisch adäquat“.13 Umgekehrt können Propositionen aus Beobachtungen hergeleitet werden. Deren Vereinbarkeit mit gegebenen Überzeugungen muss dann wiederum geprüft werden. (a) Ethische Theorie Um die Methode abzugrenzen, ist es hilfreich, kurz den Gegensatz einer Theorie-basierten ethischen Herangehensweise zu erläutern. Wenn man die Ethik in unterschiedliche Theorieformen einteilen müsste, dann böte sich die Unterscheidung folgender drei Ansätze an. Erstens kann eine sog. „Tugendethik“ vertreten werden. Der Ansatz besteht darin, gewisse Charaktereigenschaften oder Handlungsdispositionen als ethisch wertvoll zu erachten. Eine Tugendethik ist akteursbezogen aber nicht notwendigerweise handlungsorientiert.
12 Die interne Kohärenz und die externe Adäquatheit sind nur die zwei naheliegendsten Kriterien für eine gute Theorie. Für eine ausführlichere Auseinandersetzung mit wünschenswerten Eigenschaften einer wissenschaftlichen Theorie siehe z.B. Kuhn, T. S. (1978): „Objektivität, Werturteil und Theoriewahl“, in: Kuhn, T. S. (Hrsg.): Die Entstehung des Neuen: Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 422. 13 Vgl. ebd. S. 423.
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Kapitel VII: Die Rechtfertigung unveräußerlicher Rechte
Zweitens kann eine „konsequentialistische Theorie“ vertreten werden. Die an unterschiedlichen Stellen bereits erwähnte „utilitaristische Theorie“ stellt einen solchen Ansatz dar. Gemäß dieser Betrachtungsweise wird ausschließlich die Konsequenz einer Handlung bewertet. Sind die Konsequenzen einer Handlung positiv, dann ist die Handlung entweder verpflichtet oder (zumindest) erlaubt; sind sie negativ, ist die Handlung verboten. Drittens kann ein „deontologischer Ansatz“ vertreten werden. Ein solcher entspricht am ehesten der zugrunde gelegten ethischen Herangehensweise. Es wird hierbei auf die Richtigkeit bzw. Falschheit der Handlung als solche abgestützt, ungeachtet der Konsequenzen und weitestgehend unabhängig vom Charakter der handelnden Person.14 Dieser Ansatz versucht bestimmte moralische Pflichten und Rechte von Individuen zu identifizieren. Deswegen drängt er sich auch für die ethische Betrachtung und Beurteilung des objektiven Rechts auf, da das Recht grundsätzlich handlungsorientierte Bewertungen von Sachverhalten vornimmt. Es wird hier aber keine spezifische deontologische Theorie vertreten. Eine Theorie-basierte „Top-down-Argumentation“ würde darauf hinauslaufen, dass zunächst die Theorie formuliert und erläutert werden müsste. In einem nächsten Schritt müssten dann tatsächlich bestehende moralischen Überzeugungen, welche dem Resultat widersprechen, kritisiert werden. Anstatt den Untersuchungsgegenstand unveräußerlicher Rechte und seine moralische Rechtfertigung im Einzelfall zu verstehen, bestünde die Beschäftigung v.a. darin, die eigenen theoretischen Grundlagen zu verteidigen. Der Ansatz der Rekonstruktion und der Konsistenzprüfung von Normen zeigt lediglich spezifische Implikationen von Propositionen auf und versucht, Widersprüche zwischen unterschiedlichen moralischen und rechtlichen Normen aufzudecken und zu beseitigen. So entsteht vielmehr „stückweise“ ein Netzwerk von verschiedenen Überzeugungen, die miteinander logisch vereinbar sind. Inwiefern dieses Überzeugungssystem in eine ethische Theorie eingepasst werden könnte, ist eine Frage, die in dieser Untersuchung nicht beantwortet werden kann.
14
Vgl. Larry, A. (2007): „Deontological Ethics“, in: Zalta, E. N. (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy, https://plato.stanford.edu/entries/ethics-deontological.
2. Rechtsethischer Ansatz
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(b) Rekonstruktion Auf der Ebene der gängigen moralischen Überzeugungen, der momentanen Rechtpraxis und der sog. „moralischen Intuitionen“15 können unveräußerliche Rechte identifiziert und ihre normativen Implikationen beschrieben werden. Dabei wird festgehalten, welche Rechte aufgrund von Rechtstatsachen als unveräußerlich gelten und bei welchen Rechten die moralische Überzeugung besteht, dass sie unveräußerlich sein sollten. So kann sich die Argumentation auf Beobachtungen stützen. In der Moraltheorie handelt es sich hierbei um „normative Tatsachen“, die stets eine Interpretationsleistung voraussetzen. Dabei werden das geschriebene Recht, seine Anwendung und Interpretation, aber auch das allgemeine Gerechtigkeitsbewusstsein einer Gesellschaft erfragt und untersucht. Es handelt sich hierbei um die sog. „positive Moral“. Die moralischen Intuitionen können z.B. anhand von Gedankenexperimenten oder Beispielfällen „provoziert“ werden. Durch die Befragung der Intuitionen und Überzeugungen bezüglich einer Handlung, einer Praxis oder einem ethisch relevanten Sachverhalt werden diese erfasst. Es wird also ein sog. „Bottom-up-Ansatz“ zur Herleitung und Begründung der Richtigkeit von Normen und Prinzipien verfolgt, da quasi „von unten“ her, von der Ebene der Beobachtungen, auf die normativen Propositionen geschlossen wird. Ausgehend von rechtlichen Überzeugungen und Intuitionen, werden Normen und Prinzipien induziert. Eine ethische Argumentation kann sich sicherlich nicht auf eine solche Rekonstruktion positiver Gegebenheiten beschränken. Es besteht die Gefahr eines „naturalistischen Fehlschlusses“.16 Die gegebenen moralischen Überzeugungen und die moralischen Intuitionen sind Tatsachen, die wir beobachten oder auf die wir durch Beobachtungen schließen können. Die Erforschung der positiven Moral liefert vornehmlich deskriptive Aussagen. Auch wenn es sich dabei um normative Tatsachen handelt (dass bestimmte Werte in einer Gesellschaft gegeben sind) kann daraus noch nicht geschlossen werden, dass es sich dabei um moralisch richtige Urteile handelt. Die sog. „kritische Moral“ ist u.U. nicht durch die „positive Moral“ reflektiert.17 Der Schluss von den Beobachtungen normativer Tatsachen auf die wertende Aussage (dass bestimmte recht15 Unter moralischer Intuition verstehen wir hier eine nicht von anderen Überzeugungen abgeleitete, phänomenal unmittelbare mentale Einstellung in Bezug auf einen moralisch relevanten Sachverhalt. Vgl. Kekes, J. (1986): „Moral Intuition“, American Philosophical Quarterly 23 (1), S. 85 f. Eine Intuition rechtfertigt ein prima facie Urteil über den moralischen Sachverhalt, das weiter geprüft werden muss. Es wird hier aber nicht davon ausgegangen, dass die Intuition selbst einen bestimmten Wahrheitsgehalt aufweisen kann. Ein sog. „moralischer Realismus“ wird nicht vertreten. Siehe zur Erläuterung Campbell, R. (2015): „Moral Epistemology“, in: Zalta, E. N. (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy, https://plato.stanford.edu/entries/moral-epistemology/. 16 Kap. IV, Fn. 21. 17 Siehe Kap. II, Fn. 1.
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Kapitel VII: Die Rechtfertigung unveräußerlicher Rechte
liche Normen richtig oder gerecht sind) ist nicht ohne weiteres zulässig. Es ist möglich, dass sich die Individuen einer Gesellschaft über bestimmte Werte oder Pflichten irren. Auch ein tatsächlich bestehender Konsens über die Richtigkeit von Normen verbürgt noch nicht deren Richtigkeit. In einem Argument muss stets eine normative Prämisse enthalten sein, damit ein gültiger normativer Schluss hergeleitet werden kann. Es bedarf also mindestens einer Annahme, die nicht durch Erhebung tatsächlicher moralischer Überzeugungen gerechtfertigt werden kann. Die reine Beobachtung der positiven Moral kann somit alleine keine ethischen Propositionen rechtfertigen. Ziel muss es daher sein, auf der Grundlage einer Rekonstruktion nach einer kritischen Moral zu suchen, mit der die positive Moral hinterfragt werden kann.18 (c) Kohärenz Es wird also eine kritische Auseinandersetzung mit den bestehenden Einschränkungen durch unveräußerliche Rechte angestrebt, wobei nach der moralischen Rechtfertigung der bestehenden Normen und Regelungen gefragt wird. Insofern werden verschiedene ethische Ansätze skizziert, welche Gründe dafür liefern könnten, dass die mit unveräußerlichen Rechten einhergehenden Einschränkungen moralisch gerechtfertigt sind.19 Es wird dann dafür argumentiert, dass gewisse Formen der Rechtfertigung unveräußerlicher Rechte verworfen werden müssen, wobei andere Rechtfertigungsansätze stichhaltig sind. Bei der Prüfung der Kohärenz wird rein normlogisch argumentiert. Normative Propositionen müssen sich – das wird vorausgesetzt – in ein kohärentes, nicht-widersprüchliches System einfügen können. Wenn sich zwei Propositionen widersprechen, dann muss vernünftigerweise eine von beiden aufgegeben werden. Wenn eine Überzeugung einer Beobachtung widerspricht, gibt es zwei Möglichkeiten, mit dieser Situation umzugehen.20 Einerseits kann diese Beobachtung als gegebener Wert angesehen werden. Es müssen dann Anpassungen an der Proposition vorgenommen werden.21 Andererseits kann aber auch an der bestehenden Überzeugung festgehalten werden. So wird die „bittere Pille“ einer mit der Proposition nicht vereinbaren Beobachtung geschluckt.22 Basierend darauf kann dann für die Plausibilität der Beobachtung argumentiert werden, indem gegen das festgestellte moralische Urteil argumentiert wird. 18 Vgl. von der Pfordten, D. (2008): „Was ist Recht? Ziele und Mittel“, JuristenZeitung 63 (13), S. 651. 19 Siehe zum Ganzen Rawls, J. (1951): „Outline of a Decision Procedure for Ethics“, Philosophical Review 60 (2), S. 184. 20 Vgl. Rawls, J. (1999): A Theory of Justice, orig. 1971, 2. Aufl., Cambridge, MA: Harvard University Press, S. 18. 21 Vgl. ebd. S. 44. 22 Durch Gegenbeispiele und Gedankenexperimente alleine kann eine Theorie nicht als falsch gekennzeichnet werden. Siehe ebd. S. 45.
2. Rechtsethischer Ansatz
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Dabei kann bspw. in Zweifel gestellt werden, dass es sich bei der Überzeugung, um ein angemessenes und wohlinformiertes moralisches Urteil handelt. Die Argumentationsweise bezieht sich auf die interne Logik eines Überzeugungssystems. Von gegebenen normativen Überzeugungen wird auf weitere Propositionen geschlossen, die notwendig daraus folgen bzw. wird durch den Nachweis eines Widerspruchs mit gegebenen Überzeugungen deren Richtigkeit infrage gestellt. Daraus ergibt sich dann ein revisionistischer Anspruch an unsere normativen Überzeugungen und letztlich an die Ausgestaltung unseres Rechtssystems. Es wird gezeigt, welche Rechte unveräußerlich sein sollen und entsprechend rechtlich gewürdigt werden sollten. Die zentrale Annahme dieses Ansatzes besteht darin, dass die Rechtsethik ein vernünftiges System von normativen Überzeugungen liefern soll. Unterschiedliche Begründungsmuster sollten sich nicht widersprechen und möglichst untereinander kohärent sein.23 Diese Annahme ist klarerweise eine wertende Prämisse, die davon ausgeht, dass es grundsätzlich schlecht ist, wenn sich ethische Überzeugungen widersprechen und dass ein solcher Widerspruch einen Missstand darstellt, den man beheben sollte. Es wird jedoch nicht behauptet, dass ein kohärentes System von ethischen Überzeugungen mehr Wahrheitsgehalt besitzt als ein inkohärentes. Es wird keine „kohärentistische Theorie“ des moralischen Wissens vorausgesetzt. Es ist möglich, dass ein sehr umfangreiches, widerspruchfreies System moralischer Überzeugungen besteht, das zwar (in sich geschlossen) stimmig ist, aber grundsätzlich falsch. Die Kohärenz des Überzeugungssystems beweist nicht seine Wahrheit. Deshalb kann aus dieser Untersuchung auch nicht folgen, was richtig und was falsch ist bzw. welche unveräußerlichen Rechte objektiv gerechtfertigt sind und welche nicht. Es kann nur aufgezeigt werden, dass die Begründung der Unveräußerlichkeit bestimmter Rechte gewissen grundlegenden rechtsethischen Überzeugungen widerspricht; oder umgekehrt, dass aus bestimmten rechtsethischen Überzeugungen die Rechtfertigung der Unveräußerlichkeit von Rechten folgt.
23
Hoersters Ansatz ist in der Stoßrichtung ähnlich. Er geht jedoch nicht von bestehenden moralischen Urteilen aus, die auf die Konsistenz hin geprüft werden sollen, sondern vielmehr von konfligierenden Interessen die miteinander koordiniert werden sollen. Sein Ansatz ist somit im eigentlichen Sinn nicht rechtsethisch, sondern „rechtspragmatisch“, da er nicht die Moral zum Gegenstand hat. Siehe Hoerster, N. (1982): „Rechtsethik ohne Metaphysik: Theodor Viehweg zur Vollendung des 75. Lebensjahres am 30.4.1982“, JuristenZeitung 37 (8), S. 269.
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Kapitel VII: Die Rechtfertigung unveräußerlicher Rechte
3. Zusammenfassung Die eingangs der Untersuchung gestellte Forschungsfrage F3 nach einer möglichen Rechtfertigung unveräußerlicher Rechte ist sehr voraussetzungsreich.24 Sie geht von einem bestimmten philosophischen Problem aus. Dieses Kapitel verfolgte einerseits das Ziel, das Problem zu beschreiben und die Annahmen dahinter aufzudecken. Andererseits wurde der methodische Ansatz zur Behandlung des Problems offengelegt. Es wurden erstens die Prämissen P1–P3 erläutert, unter welchen die rechtsethische Frage nach der Rechtfertigung der Unveräußerlichkeit von Rechten Sinn ergibt: Unveräußerliche Rechte kommen mit Freiheitseinschränkungen einher, die einer Begründung bedürfen. Darauf aufbauend wurde versucht, diese Annahmen zu begründen. Dahinter verbirgt sich zwar eine sehr grundlegende Einstellung gegenüber dem objektiven Recht, die sicher nicht von allen geteilt wird. Wenn man aber das Ziel dieser Untersuchung, die Rechtfertigung unveräußerlicher Rechte zu hinterfragen, als wertvoll anerkennt, dann ist man dazu gezwungen, diese Sichtweise zumindest vorübergehend einzunehmen. Zweitens sollte aufgrund der Beschreibungen zur Methode der gewählte Ansatz klar hervorgehen. Es wird versucht, aufgrund einer adäquaten Rekonstruktion von Rechtstatsachen und von moralischen Überzeugungen ein kohärentes System von Überzeugungen zu erlangen, um daraus normative Schlussfolgerungen über die richtige Ausgestaltung unseres Rechtssystems zu ziehen. Anhand des beschriebenen Ansatzes wird nun zuerst die Idee objektiver Werte als Begründungsansatz für die Unveräußerlichkeit von Rechten untersucht und kritisch gewürdigt. Dann werden unterschiedliche liberale Argumente erläutert, welche für die Einschränkung der Freiheiten einer Rechtsträgerin ins Feld geführt werden können.
24
Kap. I, 2.1, F3:
Kapitel VIII
Objektive Werte Wie im vorangehenden Kapitel argumentiert wurde, schränkt eine Unveräußerlichkeit die Rechtsträgerinnen in ihren Freiheiten ein, indem sie gewisse Handlungsoptionen verunmöglicht. Freiheitseinschränkungen durch das objektive Recht sind grundsätzlich rechtfertigungspflichtig. Es müssen also gute Gründe angegeben werden, weshalb die Befugnis, ein Recht zu veräußern, beschränkt werden darf. Die folgende Untersuchung versucht aufzuzeigen, inwiefern Begründungsansätze für unveräußerliche Rechte verschiedentlich auf „objektive Werte“ Bezug nehmen und weshalb solche Ansätze ungenügend sind. Es wird dabei nicht behauptet, dass es keine objektiven Werte gibt oder geben kann.1 Es wird aber aufgezeigt, dass hier ein erkenntnistheoretisches Problem vorliegt und dass die Existenz objektiver Werte schwer nachgewiesen werden kann, weshalb man einer solchen Begründung mit Vorsicht begegnen sollte. Nichtsdestotrotz gibt es ganz prominente philosophische Ansätze zur Begründung unveräußerlicher Rechte durch objektive Werte. Die Herleitung von Grundrechten aus dem Konzept der Menschenwürde bildet ein Beispiel hierfür. Diese Ansätze sollen erläutert und kritisch gewürdigt werden.
1. Substantielle Begründungsformen Unter objektiven Werten werden diejenigen Werte verstanden, welche unabhängig von Einstellungen (Wünschen oder Präferenzen) eines Individuums bestehen. Sie besitzen eine bestimmte normative Kraft, die nicht dadurch verloren gehen kann, dass ein Individuum in einer konkreten Situation eine andere Wertung vornimmt. Sie stehen somit im Gegensatz zu „subjektiven Werten“, welche sich aus den Einstellungen des Individuums ergeben. Die Rechtfertigung unveräußerlicher Rechte mit Bezug auf objektive Werte besitzt in etwa folgende Form: Ein Individuum darf nicht frei über sein Recht verfügen, es also nicht veräußern, da das (subjektive) Recht einen objektiven Wert schützt oder wahrt. Dahinter steckt die Annahme, dass ein Individuum, sofern es ein objektiv wertvolles unveräußerliches Recht veräußern will, nicht fähig ist, den wahren Wert des Rechts zu erkennen. Somit dürfen die individu1
Dies wäre eine metaphysische Hypothese, die in dieser Untersuchung nicht überprüft werden kann.
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Kapitel VIII: Objektive Werte
ellen Wünsche und Präferenzen durch das (objektive) Recht missachtet werden. In der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Theorien der Rechte wurde bereits der Begriff eines „objektiven Interesses“ erläutert.2 Zur Klärung ist es wichtig den Zusammenhang zwischen objektiven Interessen und objektiven Werten zu erläutern. Objektive Interessen setzen objektive Werte voraus. Damit ein bestimmtes Interesse, das von Wünschen und Einstellungen des Individuums unabhängig ist, gegeben sein kann, muss der Gehalt des Interesses als objektiver Wert existieren. Nicht jeder objektive Wert stellt aber ein objektives Interesse dar. Es gibt auch gemeinschaftliche, kulturelle, nationale, religiöse, familiäre Werte u.a.m., die nicht als Interesse einer Einzelperson und auch nicht als Summe der Interessen einzelner Personen konzipiert werden können. Die Kritik an einer Begründung unveräußerlicher Rechte durch objektive Interessen ist aber in einer Kritik an der Begründung durch objektive Werte enthalten. Zwei Formen der Freiheitseinschränkung mit Bezug auf objektive Werte können sodann unterschieden werden.3 Nimmt eine Begründung der Unveräußerlichkeit Bezug auf objektive Werte (die keine individuellen Interessen darstellen), handelt es sich um eine sog. „rechtsmoralistische“ Argumentation. Wird bei der Begründung einer Freiheitseinschränkung hingegen auf objektive Interessen abgestützt, ist dies ein sog. „rechtspaternalistisches“ Argument.4 Eine solche Begründung unveräußerlicher Rechte ermöglicht rechtliche Freiheitseinschränkungen in der Form von staatlicher Bevormundung. 1.1 Rechtsmoralismus Eine moralistische Begründung für Freiheitseinschränkungen bezieht sich auf eine spezifische in einer Gesellschaft gegebene Moralvorstellung. Es können nicht nur Freiheitseinschränkungen in Form von Unterlassungspflichten hergeleitet werden, sondern auch in Form von rechtlichen Unmöglichkeiten. Unveräußerliche Rechte werden bei einer rechtsmoralistischen Argumentation dadurch begründet, dass einem Recht (bzw. einem dem subjektiven Recht zugrundeliegenden Rechtsgut) ein bestimmter objektiver Wert zukommt. Das Individuum soll daher keine Kompetenz besitzen, das Recht freiwillig aufzugeben.
2
Siehe Kap. VI, 1.1. Siehe zu dieser Unterscheidung Hart, H. L. A. 1963, S. 31. 4 Eine Mischform wird von Feinberg als „moralistic legal paternalism“ bezeichnet Feinberg, J. (1986): Harm to Self: The Moral Limits of the Criminal Law, New York: Oxford University Press, S. xvii. 3
1. Substantielle Begründungsformen
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Die Idee hinter einer rechtsmoralistischen Begründung der Einschränkung der Freiheit beinhaltet nun ein bestimmtes Staats- und Rechtsverständnis.5 Es wird die These vertreten, dass es die Aufgabe eines Rechtssystems ist, bestimmte moralische Normen und Grundsätze rechtlich, d.h. mittels rechtlichem Zwang durchzusetzen.6 Das Recht ist nicht bloß dazu da, Handlungen einzuschränken, die andere Individuen negativ beeinträchtigen (im Sinne einer Schädigung von Drittpersonen), sondern auch Handlungen, die per se von der Gesellschaft als unmoralisch wahrgenommen werden. Um als Begründungsform für unveräußerliche Rechte taugen zu können, bedarf eine rechtsmoralistische Argumentation nun aber weiterer Annahmen. Die Tatsache, dass bestimmte Werte in einer Gesellschaft anerkannt sind, impliziert noch nicht, dass es sich dabei um objektiv richtige Werte handelt. Rechtsmoralistische Argumente anerkennen deshalb entweder die herrschenden Moralvorstellungen einer Gesellschaft (welche die Einschränkungen der Freiheit rechtfertigen) als objektiv richtige Moralvorstellungen. Es wird also von der „positiven Moral“ auf die „kritische Moral“ geschlossen. Eine solche Argumentation ist insofern problematisch, als dass sie einen „naturalistischen Fehlschluss“ enthält.7 Auf der Grundlage von moralischen Tatsachen wird eine objektiv richtige Moral abgeleitet. Es ist aber möglich, dass vorherrschende moralische Vorstellungen falsch sind und wenn dies der Fall ist, dann ist die Funktion des Rechtssystems, diese Vorstellungen durchzusetzen, nicht gerechtfertigt.8 Oder die Gegebenheit bestimmter intersubjektiv anerkannter Werte wird unabhängig vom propositionalen Gehalt der Werte als gesellschaftskonstitutives Element erachtet. Eine Rechtsgemeinschaft, so die These, könne nur bestehen, wenn bestimmte moralische Werte durch rechtlichen Zwang verteidigt und durchgesetzt würden. Diese Argumentation setzt nun aber voraus, dass der „Erhalt der Gesellschaft“ eine an sich wertvolle und schützenswerte Aufgabe ist.9 Beide diesem Argument zugrundeliegenden Prämissen, dass erstens der Erhalt einer Gesellschaft ein verfolgenswertes Ziel darstellt und dass zweitens die Werte gesellschaftskonstitutiv sind, sind streitbar. Das Problem besteht darin, dass hier die rechtliche Durchsetzung von Werten ungeachtet ihres Inhalts als gerechtfertigt angesehen wird. Es wäre so gesehen bspw. auch in einer rassistischen und fremdenfeindlichen Gesellschaft gerechtfertigt, wenn gewisse Ethnien diskriminiert würden, um dadurch die Gemeinschaft von einer Unterwanderung ihres Wertesystems 5
Hierzu Devlin, P. (1965): The Enforcement of Morals, London: Oxford University Press, S. 7–25. 6 Vgl. ebd. S. 9. 7 Siehe Kap. VII, 2(b). 8 Vgl. Stepanians, M. (2009): „Paternalismus in der Rechtsphilosophie: Die moralischen Grenzen des Strafrechts“, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 14 (1), S. 141. 9 Vgl. Devlin, P. 1965, S. 11.
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Kapitel VIII: Objektive Werte
zu bewahren. Der Erhalt einer solchen Gesellschaft scheint aber nicht wünschenswert.10 Eine moralistische Begründung rechtlicher Einschränkungen durch einen umfassenden Rechtsmoralismus ist m.E. höchst problematisch. Erstens verliert ein Staat durch die Implementierung moralistischer Freiheitseinschränkungen seine Neutralität in Bezug auf unterschiedliche Werte.11 In einer Gesellschaft mit unterschiedlichen sich teilweise widersprechenden Werteauffassungen kann es nicht die Auftrag des Staates sein, ein spezifisches System von Werten rechtlich durchzusetzen und die Freiheiten derjenigen Individuen beschränken, welche nicht diesem System entsprechend denken und handeln. Der Rechtsmoralismus ist eine Absage an das Bekenntnis zu einem „Wertepluralismus“ und stellt somit auch grundsätzliche Prinzipien wie die Religions- und Gesinnungsfreiheit infrage. Daher wird auch eine darauf basierende Begründung der Unveräußerlichkeit bestimmter Rechte abgelehnt. Wichtig ist hier auch zu sehen, dass beide Theorien subjektiver Rechte, die Willens- und die Interessetheorie, die rechtsmoralistische Begründung subjektiver Rechte nicht unterstützen. Die Interessetheorie stützt auf das individuelle Interesse einer Person ab. Dieses mag objektiv oder subjektiv sein. Die vom Individuum unabhängige Gegebenheit eines objektiven moralischen Wertes liefert aber keine Grundlage für die Zuschreibung und Ausgestaltung von Rechten. Ein Recht kann gemäß der Interessetheorie nur unveräußerlich sein, um das Interesse der Rechtsträgerin zu schützen. Ebenso lehnt eine Willenstheorie die rechtsmoralische Begründung unveräußerlicher Rechte ab. Denn der Wille einer Person kann einem objektiven Wert widersprechen. Deshalb ist der Rechtsmoralismus nicht Gegenstand der Debatte über Theorien von Rechten. 1.2 Rechtspaternalismus Werden Freiheiten aufgrund eines individuellen objektiven Interesses beschnitten, ergibt sich daraus das moralische Problem des Paternalismus: Wenn rechtliche Normen die Absicht verfolgen, die Freiheiten der Individuen zu ihrem eigenen Nutzen zu beschneiden, dann sind sie bevormundend. Eine paternalistische Einschränkung verfolgt das Ziel, dem Individuum zugutezukommen. Das Recht schützt somit quasi das Individuum vor sich selbst. Die individuelle Wertschätzung eines Rechts kann also mit Verweis auf die unabhängige Gegebenheit eines Interesses missachtet werden. Die freie Entscheidung einer Person wird somit rechtlich verunmöglicht. Der Rekurs auf solche (von der individuellen Beurteilung unabhängige) Interessen beinhaltet 10
Zum Ganzen Stepanians, M. 2009, S. 141 f. Vgl. Kimpel, P. K. (2003): Bevormundung oder Freiheitsschutz? Kritik und Rechtfertigung paternalistischer Vorschriften über das Leben, den Körper und die Sexualität im deutschen Recht, Frankfurt a. M.: Peter Lang, S. 25 f. 11
1. Substantielle Begründungsformen
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die Idee, dass es von einem unbeteiligten Standpunkt her betrachtet, für das Individuum besser sei, bestimmte Dinge nicht zu tun. Nach Dworkin ist eine paternalistische Handlung hauptsächlich durch drei Bedingungen charakterisiert.12 − Eine Handlung bewirkt die Freiheitsbeschränkung einer Person, − diese geschieht ohne die Zustimmung der Person − und die Handlung ist durch die Absicht motiviert, das Wohlergehen des Individuums zu fördern.
Ein paternalistisches Motiv für die Unveräußerlichkeit eines Rechts ist in diesem Kontext wie folgt aufzufassen: Die Unmöglichkeit, ein Recht freiwillig abzutreten oder zu veräußern, beschneidet erstens die Freiheit der Individuen. Eine Veräußerungsentscheidung bzw. der Wille zur Veräußerung kann rechtlich übergangen, missachtet oder verhindert werden.13 Dies wird zweites mit Verweis auf die Interessen der Rechtsträgerin begründet. Wenn rechtliche Normen und Regelungen, welche unveräußerliche Rechte (d.h. die Verunmöglichung von Handlungen der Rechtsträgerin) begründen, diese Bedingungen erfüllen, ist der Vorwurf des Paternalismus gerechtfertigt.14 Das Problem paternalistischer Einschränkungen besteht in deren Unvereinbarkeit mit liberalen Prinzipien des Rechts.15 Eine Rechtfertigung einer Bevormundung steht im Widerspruch zur Beschränkung staatlicher Eingriffe in die individuelle Freiheit nach dem Mill’schen „Nicht-Schädigungsprinzip“. Die Freiheit eines Individuums darf gemäß diesem Prinzip nur dann staatlich eingeschränkt werden, wenn Drittpersonen durch ihre Handlung zu Schaden kommen.16 Die Unveräußerlichkeit verunmöglicht zwar eine freie Verfügung einer Person über ihre eigenen Rechte. Die Handlung der Veräußerung eines Rechts beinhaltet aber nicht notwendig eine Schädigung einer Drittperson. Vielmehr ist die Veräußerung eingeschränkt, um damit die Rechtsträgerin selbst zu schützen. Unveräußerliche Rechte sind somit aus liberaler Perspektive eine problematische Rechtsfigur, wenn zur Begründung die Existenz objektiver Interessen postuliert wird. Wiederum kann zur Erläuterung paternalistische unveräußerlicher Rechte auf die Debatte zwischen Willens- und Interessetheorie der Rechte Bezug genommen werden. Es zeigt sich bei einer ethischen Auseinandersetzung mit unveräußerlichen Rechten, inwiefern eine Interessetheorie Gefahr läuft, paterna12
Dworkin, G. (1972): „Paternalism“, The Monist 56, S. 65. Siehe bspw. auch Arneson, R. J. (1980): „Mill versus Paternalism“, Ethics 90, S. 470 f. 13 Vgl. Stepanians, M. 2009, S. 131. 14 Siehe auch Nozick, R. (1974): Anarchy, State, and Utopia, New York: Basic Books, S. 58. 15 Vgl. dazu Gutmann, T. 2006, S. 192 ff. 16 Siehe VII, 1.
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Kapitel VIII: Objektive Werte
listische Eingriffe in die individuelle Freiheit zu rechtfertigen. Grundsätzlich eröffnet die Begründung unveräußerlicher Rechte durch den Verweis auf Interessen die Möglichkeit, die Freiheit bestimmter Individuen zu ihren eigenen Gunsten zu beschneiden. So gesehen beinhaltet eine Interessetheorie der Rechte die Möglichkeit zu einer paternalistischen Ausgestaltung der Form von Rechten.17 Man muss als Vertreterin einer Interessetheorie nicht zwangsläufig für eine Bevormundung der Rechtstragenden argumentieren. Jedoch ist in der Konzeption der Theorie die Möglichkeit paternalistischer Rechte im Grunde angelegt.18 Eine Interessetheorie öffnet Tür und Tor für staatliche Steuerungsmaßnahmen gegen den Willen von Individuen. Eine Willenstheorie hingegen richtet sich gerade gegen diese Möglichkeit. Sie ist in ihrem Kern eine liberale Theorie der Rechte, welche die Möglichkeit ausschließen will, dass eine Theorie der Rechte ein bevormundendes System von Rechten rechtfertigt. Sowohl rechtsmoralistische als auch rechtspaternalistische Argumente zur Begründung unveräußerlicher Rechte sind somit problematisch. Erstere, weil sie voraussetzungsreiche Annahmen treffen; letztere, weil sie ein illiberales Rechtsverständnis voraussetzen. Aufbauend auf dieser Feststellung wird im letzten Abschnitt dieses Kapitels die liberale Grundhaltung weiter erläutert, welche diesem Urteil zugrunde liegt und die fortan als Maßstab für die rechtsethische Auseinandersetzung mit der Frage nach der Rechtfertigung unveräußerlicher Rechte dienen soll. Zunächst sollen aber zwei sehr prominente Ansätze erläutert werden, welche unveräußerliche Rechte durch Verweis auf objektive Werte begründen.
2. Das Argument der Würde Die wohl bekannteste Form der Rechtfertigung der Unveräußerlichkeit bestimmter Rechte durch objektive Werte, nimmt Bezug auf die „Würde des Menschen“. So lautet bspw. der erste Absatz im ersten Artikel des Deutschen Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“19 Der Ausdruck ‚Unantastbar‘ kann als ‚unveräußerlich‘ gedeutet werden, wobei diese Bedeutungszuschreibung wortwörtlich verstanden nicht zwingend ist. Es kann sich bei dieser moralischen Forderung auch ausschließlich um eine Restriktion von Handlungen des Staates oder Dritter gegenüber der Würdeträgerin handeln. Im zweiten Absatz wird die Unantastbarkeit der Würde dann aber mit Unveräußerlichkeit in Verbindung gesetzt: „Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten…“20 Es liegt 17
Vgl. zum Ganzen Kap. VI, 1.4. Vgl. Simmonds, N. E. 1998, S. 225 f. 19 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, GG, 100-1, 23.05.1949, § 1 Abs. 1. 20 GG § 1, Abs. 2. [Meine Hervorhebung]. 18
2. Das Argument der Würde
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also nahe, eine mögliche Begründung unveräußerlicher Rechte in der Menschenwürde zu sehen. Z.B. wird die Einschränkung der Verfügungsfreiheit über Grundrechte mit einem Bezug auf die Menschenwürde argumentiert.21 Die Würde des Menschen stellt eine zentrale normative Größe dar; sowohl mit Blick auf die Menschenrechte als auch die verfassungsrechtlichen Grundrechte von Personen. Sie kann entweder als Element dieser Rechte (das Recht auf Würde als einzelnes Grundrecht neben anderen)22 oder als Rechtfertigungsgrund für diese Grundrechte überhaupt angesehen werden.23 In diesem kurzen Abschnitt kann das Konzept nicht in all seinen Bedeutungsdimensionen dargestellt werden. Von Interesse ist hauptsächlich, inwiefern mit Bezug auf die Würde des Menschen für die Unveräußerlichkeit bestimmter Rechte argumentiert werden kann und weshalb sich hinter der Idee der Würde ein substantielles Werturteil verbirgt, das aus oben genannten Gründen problematisch ist.24 Die Begründung unveräußerlicher Rechte mit Verweis auf die Menschenwürde besitzt in etwa folgende Struktur: Für ein würdiges Leben benötigt ein Individuum bestimmte Grundgüter und Grundfreiheiten, die von der individuellen Wertschätzung unabhängig gegeben sein müssen. Der Begriff beinhaltet somit eine Festlegung bestimmter objektiver Interessen. Ein Individuum soll, so die Argumentation, nicht über die eigene Würde verfügen können.25 Deshalb soll eine Veräußerung eines Rechts, welche die Würde der Rechtsträgerin verletzen könnte, rechtlich unmöglich sein.26 Zunächst müssen zur Erläuterung zwei Auslegungen eines Würdekonzeptes unterschieden werden. Einerseits besteht ein weitverbreiteter Konsens darüber, dass ein würdevolles Leben persönliche Handlungs- und Gestaltungsfreiheiten voraussetzt.27 Ein würdiges Leben ist ein „selbstbestimmtes Leben“. Andererseits beinhaltet der 21 Vgl. Bleckmann, A. (1988): „Probleme des Grundrechtsverzichts“, JuristenZeitung 43 (2), S. 58.; mit Bezug auf das Schweizer Recht siehe Malacrida, R. 1992, S. 98 f. 22 Dicke, K. (2002): „The Founding Function of Human Dignity in the Universal Declaration of Human Rights“, in: Kretzmer, D./Klein, E. (Hrsg.): The Concept of Human Dignity in Human Rights Discourse, Nijhoff: Brill, 111−120; Enders, C. (2004): „Die Menschenwürde als das Recht auf Rechte: Die missverstandene Botschaft des Bonner Grundgesetzes“, in: Seelmann, Kurt (Hrsg.): Menschenwürde als Rechtsbegriff, Wiesbaden: Steiner, 49−61. 23 Gewirth, A. (1982): Human Rights: Essays on Justification and Applications, Chicago: University of Chicago Press; Bielefeldt, H. (2008): Menschenwürde: Der Grund der Menschenrechte, Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte; für das Verhältnis zwischen Würde und Menschenrechten siehe u.a. auch Düwell, M. (2010): „Menschenwürde als Grundlage der Menschenrechte“, Zeitschrift für Menschenrechte 1, 62−79. 24 Für eine Begründung absoluter Rechte durch einen Bezug auf die Menschenwürde siehe Gutmann, T. (2010): „Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff“, Preprints of the Centre for Advanced Study in Bioethics Münster 7, S. 5 f. und 11. 25 Vgl. dazu Dreier, H. (2013): „Artikel 1 I“, in: Dreier, H. (Hrsg.): Grundgesetz Kommentar, Bd. I, Art. 1–19, Tübingen: Mohr Siebeck, Rn. 149 f., S. 245 f. 26 Vgl. hierzu Schaber, P. 2010, 118 ff. 27 Vgl. zum Ganzen Enderlein, W. (1996): Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, München: C. H. Beck, S. 158 f.
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Kapitel VIII: Objektive Werte
Begriff der Würde aber auch ein bestimmtes Ideal eines „guten Lebens“. Dieses Konzept wird hierbei als ein objektiv gegebenes Ideal erachtet, nach dem jedes Individuum strebt oder streben sollte. Eine Möglichkeit zur seiner besteht also darin, die Würde in der Autonomie der freien Entscheidungen des Individuums und in der Erfüllung seiner eigenen Wünsche und Präferenzen zu sehen. Die normativen Folgen, welche sich in diesem Fall daraus ergeben, sind kongruent mit jenen Normen, die aus einem (liberalen) Konzept der Autonomie folgen. Im Gegensatz dazu kann aber auch ein Würdebegriff vertreten werden, der die individuelle Freiheit, das eigene Leben zu gestalten, als nicht hinreichend erachtet, sondern zusätzlich die Ausstattung mit bestimmten Grundgütern fordert. In diesem Fall geht die Würde einer Person mit objektiven Interessen einher, deren Verfolgung für ein würdevolles Leben wesentlich ist. Wie bereits gezeigt wurde, wird in Bezug auf unveräußerliche Rechte die Rhetorik des Begriffs der Würde oft verwendet. Wenn die Würde eines Menschen bestimmte objektive Interessen in sich enthält, kann darauf rekurriert werden, um bestimmte Rechtsgüter zu definieren, welche ohne Rücksicht auf die freie Entscheidung eines Individuums geschützt werden sollen. Dadurch kann dem Individuum die Kompetenz abgesprochen werden, selbst über den Wert oder Unwert eines Rechtsgutes zu entscheiden.28 Umgekehrt kann aber auch für die weitreichende Verfügungskompetenz eines Individuums über seine Rechte argumentiert werden. Geht man davon aus, dass die Würde einer Person nach Respektierung der Selbstbestimmung verlangt, dann ergibt sich daraus, dass die Rechte des Individuums so ausgestaltet sein sollen, dass das Individuum möglichst umfangreiche Kontrolle über diese Rechte besitzt.29 Eine solche Argumentation richtet sich gerade gegen die Unveräußerlichkeit von Rechten. Je nach Auffassung des Würde-Konzeptes, ist es somit entweder „autonomiefreundlich“ oder nicht. Im ersten Fall kann eine Rechtfertigung der Unveräußerlichkeit nicht ohne weiteres aus der Würde eines Menschen hergeleitet werden. Im letzteren Fall beinhaltet das Würdekonzept objektive Interessen. Nun ist aber eine autonomiefreundliche Definition der Würde, welche keine objektiven Interessen festlegt, redundant.30 Es bedarf keines Rückgriffes auf einen komplexen Begriff wie denjenigen der Menschenwürde, um für die Freiheit eines Individuums zu plädieren. Ein liberaler Begriff der Autonomie ist 28 Hierzu kritisch Hennette-Vauchez, S. (2008): „A Human Dignitas? The Contemporary Principle of Human Dignity as a Mere Reappraisal of an Ancient Legal Concept“, EUI Department of Law: Working Papers 18, http://cadmus.eui.eu/bitstream/handle/1814/9009/ LAW_2008_18.pdf?sequence=1&isAllowed=y, S. 19 ff. 29 Vgl. Waldron, J. (2011): „How Law Protects Dignity“, New York University School of Law, Public Law & Legal Theory Research Paper Series, http://www.pem.cam.ac.uk/wpcontent/uploads/2012/07/1A-Waldron-article.pdf. 30 Macklin, R. (2003): „Dignity is a Useless Concept“, British Medical Journal 327, S. 1419 f.
2. Das Argument der Würde
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hinreichend, um die normativen Forderungen eines autonomiefreundlichen Konzeptes begründen zu können. Wenn also das Konzept nicht auf objektive Werte Bezug nimmt, dann ist es für eine mögliche Rechtfertigung unveräußerlicher Rechte überflüssig. Die Bezugnahme auf die Würde des Menschen stellt somit v.a. ein rhetorisch starkes Mittel zur Untermauerung des moralischen Wertes von Rechten dar. Sie untersagt, wie wir aber gesehen haben, nicht nur Handlungen von Drittpersonen oder Handlungen des Staates gegenüber der Würdeträgerin, sondern auch Handlungen der Würdeträgerin selbst.31 Somit eröffnet sich die Möglichkeit zur Rechtfertigung von Freiheitseinschränkungen zum vermeintlichen Wohl der betroffenen Person. Um diese Funktion des Würdekonzeptes weiter zu erläutern, soll in der Folge ein Beispiel eines Gerichtsfalles erläutert werden, in dem die individuelle Freiheit (die Verfügung über ein Recht) mit Verweis auf die Würde der Person beschnitten wurde. In den 80er Jahren bis in die frühen 90er wurden in unterschiedlichen Ländern v.a. in den USA und in Australien Veranstaltungen organisiert, in denen kleinwüchsige Menschen quasi als Spielgerät für einen Wurf-Wettkampf verwendet wurden.32 Sie wurden von den Teilnehmenden auf Zielscheiben geworfen. Sowohl die Teilnehmenden als auch die kleinwüchsigen Personen nahmen freiwillig an diesem Wettkampf teil. Für letztere war die Teilnahme aus finanziellen Gründen äußerst lukrativ. Menschenrechtsorganisationen konnten aber in verschiedenen Staaten ein Verbot dieser Wettbewerbe erwirken. Die rechtliche Verunmöglichung der Praxis stellt ein unveräußerliches Recht für kleinwüchsige Menschen dar, da sie nicht rechtswirksam einwilligen können, als Wurfobjekt in einem solchen Wettkampf verwendet zu werden.33 Die Rechtfertigung des Verbots bezieht sich primär auf eine Idee der Menschenwürde.34 Die Veranstaltung des Wettkampfes wurde zudem als „sittenwidrig“ bezeichnet.35 Das Konzept der Würde, das der Begründung als Annahme zugrunde gelegt wurde, missachtet die Selbstbestimmung der kleinwüchsigen Personen bzw. die autonome Entscheidung, ihr Geld auf diese Art zu verdienen. Unabhängig 31
Vgl. Hennette-Vauchez, S. 2008, S. 21. Siehe zum Ganzen Bieri, P. (2015): Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde, Frankfurt a. M.: Fischer, S. 23 ff. 33 Sie besitzen also einen Anspruch darauf, nicht als solches Objekt in einem Wettbewerbskontext gebraucht zu werden, den sie nicht abtreten können. 34 Und nur sekundär auf das gesundheitliche Risiko, das für die kleinwüchsige Person durch die Praxis entsteht. 35 Vgl. Jäckel, N./Kroll, B. (2012): Rechtsprechung zu bekannten Grundrechtsfällen: Eine Zusammenstellung zur Vor- und Nachbereitung der AG-Stunden, Enders, C. (Hrsg.), Arbeitsgemeinschaft Staatsrecht II: Grundrechte am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Staats- und Verfassungslehre, http://staatundverwaltung.jura.uni-leipzig.de/sites/unileipzig.de.enders/files/Rechtsprechungsskript.pdf, S. 59 ff. 32
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Kapitel VIII: Objektive Werte
von den Wünschen und Einstellungen der Person – so die Annahme – ist es nicht in ihrem objektiven Interesse, als Wurfobjekt in einem Wettbewerb verwendet zu werden. Als eine kleinwüchsige Person in Frankreich tatsächlich gegen ein solches Verbot klagte, wurden bei der Verhandlung u.a. die Bedeutung des Begriffs ‚Menschenwürde‘ und dessen unterschiedliche Interpretationsformen thematisiert. Die kleinwüchsige Person war der Überzeugung, dass die Würde eines Menschen darin besteht, „einer bezahlten Arbeit nachgehen zu können“. Durch das Verbot der Praxis würde ihr dies hingegen erschwert. Dennoch befand auch die Kommission für Menschenrechte, dass die Würde der Person (und die Würde der Gesamtheit der kleinwüchsigen Menschen) durch die Erlaubnis der Praxis gefährdet würde. Die Beschwerde wurde abgelehnt.36 Die freie Entscheidung der Person, sich für diesen Wettkampf zur Verfügung zu stellen, wurde also mit Verweis auf objektive Werte verunmöglicht. Die Person wurde aufgrund objektiver Moralvorstellungen eines würdevollen Lebens durch das Gesetz bevormundet. Dieses Urteil ist m.E. aber aus zweierlei moralphilosophischen Gründen sehr problematisch. Erstens ist der Bezug auf objektive Werte philosophisch problematisch. Dem Argument unterliegt einerseits die Annahme, dass ein urteilsfähiges und mündiges Individuum nicht fähig ist, im Einzelfall den Wert der eigenen Würde zu erkennen. Zudem wird implizit angenommen, dass die Allgemeinheit, die Gesetzgeberin oder die Richterin besser beurteilen können, welche Güter und Freiheiten wertvoll sind. Diese „epistemische Bevorzugung“ ist rechtfertigungspflichtig. Es obliegt prima facie dem Individuum zu bestimmen, was gut und was schlecht ist bzw. was für das Individuum selbst ein würdevolles Leben darstellt. Zweitens ist die Einschränkung der individuellen Freiheit paternalistisch. Es wird suggeriert, dass das Individuum nicht weiß, was in seinem eigenen Interesse liegt. Somit wird zugleich in gewisser Weise auch ihr Personenstatus missachtet. Dies kann m.E. nicht im Sinne der Verfechterinnen der Menschenwürde sein. Es bedürfte hier einer weiteren Begründung, weshalb eine solche Bevormundung durch Verweis auf die Menschenwürde gerechtfertigt ist. Der Würde-Begriff ist aus oben genannten Gründen nicht nur unterbestimmt und beinhaltet epistemische Probleme, sondern er erweist sich auch potentiell gefährlich, da auf seiner Grundlage die individuellen Freiheiten missachtet werden können. Diese beiden Kritikpunkte werden letzten Abschnitt des Kapitels wieder aufgegriffen. Zunächst soll aber noch ein weiterer philosophischer Diskurs dargestellt werden, in welchem unveräußerliche Rechte mit Verweis auf objektive Werte begründet werden. 36
Manuel Wackenheim v. France, Communication No 854/1999, U.N. Doc. CCPR/C/ 75/D/854/1999 (2002).
3. Das Argument der moralischen Grenzen des Marktes
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3. Das Argument der moralischen Grenzen des Marktes Ausgehend von einer Passage in Michael Walzers einschlägigem Werk „Spheres of Justice“37 hat sich in der politischen Philosophie eine Debatte entfacht, in der eine Kritik am freien Markt als moralisch ungerechtfertigter Allokationsmechanismus diskutiert wird. Inzwischen sammelt sich eine breit gefächerte Literatur, vornehmlich von Autorinnen und Autoren aus dem angelsächsischen Raum, die zwar nicht die freie Marktwirtschaft als Ganzes, aber den freien Markt in bestimmten Teilbereichen der Gesellschaft infrage stellt.38 Ziel ist es dabei, die sog. „moralischen Grenzen des Marktes“ zu definieren. Wo darf der Markt nicht spielen? Es scheint zwar eindeutig, dass Freundschaft und Liebe nicht käuflich sind. Aber wie steht es mit Bürgerrechten oder mit Rechten auf den eigenen Körper? Dürfen solche Güter handelbar sein oder nicht? Eine Ansammlung von aktuellen Problemen in der angewandten Ethik wird in der Debatte gemeinsam unter dem Aspekt betrachtet, dass ein Gut gehandelt wird, das nicht zum Verkauf stehen sollte – das unveräußerlich ist und sein sollte. Die Debatte über die moralischen Grenzen des Marktes ist in zweierlei Hinsicht nicht deckungsgleich mit der moralischen Problematik unveräußerlicher Rechte. Erstens ist sie breiter gefasst. Es werden nicht nur unveräußerliche Rechte, sondern auch unveräußerliche Pflichten untersucht. Es wird nicht ausschließlich danach gefragt, welche Rechtsgüter man nicht veräußern können sollte. Im Fokus stehen z.B. auch Bürgerpflichten. So wird bspw. untersucht, ob die allgemeine Wehrpflicht abgeschafft werden soll und ob sich das Militär aus professionellen Soldatinnen zusammensetzen darf bzw. ob es legitim ist, dass eine Armee von bezahlten Söldnerinnen für die Interessen eines Staates kämpfen darf. Ebenso werden unveräußerliche staatliche Pflichten definiert. Bspw. Wird die Auslagerung des Sicherheitsdienstes auf private Anbieter diskutiert oder die Privatisierung von Gefängnissen. Die Debatte über die Grenzen des Marktes versucht gesellschaftliche Bereiche zu identifizieren, die nicht durch einen marktwirtschaftlichen Allokationsmechanismus reguliert werden sollten. Dabei stellen die Rechte von Individuen nur einen Teil desjenigen dar, was u.U. nicht verkäuflich gemacht werden sollte.
37 Walzer, M. (1983): Spheres of Justice: A Defencse of Pluralism and Equality, Oxford: Robertson, S. 100 ff. 38 Die einschlägigsten Beiträge liefern hierzu Radin, M. J. (1987): „Market-Inalienability“, Harvard Law Review 100 (8), S. 1849–937; Anderson, E. (1990): „The Ethical Limitations of the Market“, Economics and Philosophy 6, S. 179–206; Sandel, M. J. (1998): „What Money Can‘t Buy: The Moral Limits of Markets“, The Tanner Lectures on Human Values, Barenose College Oxford; zuletzt Satz, D. (2010): Why Some Things Should Not be For Sale: The Moral Limits of Markets, New York: Oxford University Press, Kap. 3 und 4.
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Kapitel VIII: Objektive Werte
Zweitens ist die Debatte über die Grenzen des Marktes enger gefasst als die moralische Frage nach der Rechtfertigung unveräußerlicher Rechte. Nicht alle Formen der Veräußerung von Rechten sind von der Kritik an marktwirtschaftlichen Verteilungsmechanismen betroffen.39 Das wesentliche an einem Markt ist die Tatsache, dass den gehandelten Gütern ein Preis zugeschrieben wird. Die Güter erhalten somit einen austauschbaren, instrumentellen Wert. Die Kritik am Markt besteht nun u.a. darin, diese Bewertungsform für bestimmte Rechtsgüter zu kritisieren. Somit werden nur das Abtreten und der Transfer von Rechten gegen Entgelt als problematisch erachtet. Die Idee dahinter ist, dass eine Person sehr wohl ein Rechtsgut freiwillig aufgeben oder transferieren kann, sobald aber die Möglichkeit für die Rechtsadressatinnen besteht, die Rechtsträgerin durch finanzielle Anreize dazu zu bewegen, das Recht zu veräußern, entsteht eine moralisch problematische Situation. Mit Blick auf moralische Intuitionen bezüglich des Organhandels wird dieser Unterschied offenkundig. Die Organspende wird selten als moralisches Problem angesehen. Der Verkauf eines Organs löst hingegen einen bestimmten Unmut aus. Eine Theorie der Grenzen des Marktes kann diese Intuition erfassen, indem sie auf die korrumpierende Wirkung des Geldes aufmerksam macht und zeigt, inwiefern das Zuschreiben eines Preises für ein bestimmtes Rechtsgut moralisch verwerflich sein kann. Exemplarisch für die Debatte über die Grenzen des Marktes wird hier die Argumentation von Sandel nachvollzogen.40 Ihm gemäß sollen bestimmte Güter nicht verkäuflich sein. Gewisse Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und gewisse Interaktionen zwischen Individuen dürfen folglich nicht durch einen marktwirtschaftlichen Allokationsmechanismus koordiniert werden. Es gibt nach Sandel zwei mögliche Argumentationsformen für die Einschränkung von Märkten. Einerseits könne gezeigt werden, dass bestimmte Güter nur unter Zwang veräußert werden können („the argument from coercion“).41 Andererseits seien bestimmte Güter nicht verkäuflich und sollen es auch nicht sein, weil dadurch objektive gesellschaftliche Werte gefährdet würden („the argument from corruption“).42 Sandel argumentiert dafür, dass eine liberale politische Theorie das moralische Problem der Unverkäuflichkeit bestimmter Güter nicht vollständig erfassen könne. Die liberalen Einwände gegen den Markt fokussieren ausschließlich auf Zwang und liefern gemäß Sandel nur die halbe Wahrheit.
39
Vgl. Radin, M. J. 1987, S. 1850. Op. cit. 41 Siehe dazu Kap. X, 1. 42 Siehe zum Ganzen Schulte, P. (2014): Wirtschaftsethik und die Grenzen des Marktes, Tübingen: Mohr Siebeck, S. 100 ff. 40
3. Das Argument der moralischen Grenzen des Marktes
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The Argument from corruption is different. It appeals not to consent but to the moral importance of the goods at stake, the ones said to be degraded by the market valuation and exchange. The argument from corruption is intrinsic in the sense that it cannot be met by fixing background conditions within which market exchanges take place. It applies to conditions of equality and inequality alike.43
Märkte sollen also auch deswegen reguliert oder verboten werden, weil bestimmte Werte gefährdet sind. Bei diesen Werten handelt es sich gemäß Sandel um gesellschaftliche Tatsachen. Die Argumentation ist somit in bestimmter Hinsicht rechtsmoralistisch. Das Verbot der betroffenen Märkte ist eine notwendige Folge. Dies im Gegensatz zu den kontingenten Einschränkungen der Vertragsfreiheit, welche durch Umstände gerechtfertigt sind, dass ein Zwang oder eine Nötigung vorliegt. Gewisse Märkte seien notwendigerweise nicht zulässig, da sie selbst nach einer Beseitigung aller gegebenen Zwangssituationen nicht gerechtfertigt wären. Sandels Argumentation besteht im Wesentlichen darin, auf intuitiver Ebene aufzuzeigen, dass erstens durch die Implementierung von Märkten in bestimmten Bereichen der Gesellschaft das Fortbestehen von Werten, die wir allgemein als solche anerkennen, gefährdet wird und zweitens, dass gewisse Markttransaktionen unabhängig von den konkreten Umständen und somit unabhängig davon, ob eine Person unter Zwang steht, ethisch verwerflich sind. Diese Argumentationsweise stellt klarerweise eine Form der Begründung unveräußerlicher Rechte durch objektive Werte dar. Ein Recht, dem ein objektiver Wert in der Gesellschaft zugeschrieben wird, soll nicht gegen Entgelt veräußert werden können, da durch die Zuschreibung eines Preises dieser objektive Wert unterminiert würde. Eine solche Argumentation wird aus oben bereits genannten Gründen abgelehnt. Allerdings soll in der Folge ein weiterer Einwand genannt werden. Es wird argumentiert, dass durch die Setzung eines Preises für ein Gut ein Wert „ausgehöhlt“ wird. Die oben beschriebene Korrumpierung eines Wertes ist dann gegeben, wenn ein Marktpreis einen objektiven Wert eines Gutes logisch ausschließt. Diese These kann auch „Exklusivitätsthese“ genannt werden. Eine erste Formulierung derselben kann bei Kant gefunden werden: Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.44
In dieser Textpassage wird das ‚oder‘ in einem ausschließenden Sinne zu verstanden. Somit wird Kant die These des Ausschlusses eines intrinsischen Wertes der Würde durch die instrumentelle Bewertung zugeschrieben. Ein und das43
Sandel, M. J. 1998, S. 95. Kant, I. (2000): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, orig. 1785, Valentiner, T. (Hrsg.), Stuttgart: Reclam, Abs. 2, § 67. 44
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Kapitel VIII: Objektive Werte
selbe Gut kann nicht zugleich in einem Markt gehandelt werden und einen von seinem Handelsäquivalent unabhängigen Wert „an sich“ besitzen. Es besteht also die Gefahr, dass die Ausweitung des Marktes auf gesellschaftliche Bereiche, in denen solche intrinsische Werte vorherrschen, zu einer Unterminierung derselben führt. Ein Preis schließt diese Werte aus. Ein „intrinsischer Wert“ ist dann gegeben, wenn man ein Gut an sich wertschätzt unabhängig davon, wozu man das Gut verwenden kann. Die Argumentation beinhaltet also nicht die metaethische These der Ausschließbarkeit von objektiven Werten, sondern setzt lediglich die Ausschließbarkeit von Wertungen voraus (bzw. die Ausschließbarkeit unterschiedlicher subjektiver Bewertungsformen).45 Die These von Sandel besteht sodann darin, dass eine instrumentelle Bewertung eine intrinsische Bewertung ausschließt und dass dieser Ausschluss moralisch problematisch ist. Der sog. „Marktlogik“ liegt gemäß Sandel ein bestimmtes Bewertungsmuster zugrunde, anhand dessen Güter und Dienstleistungen in ihrem Wert geschätzt werden. Ein Preis indiziert eine Wertung. Er zeigt an, womit ein Objekt vergleichbar ist und ermöglicht einen Austausch eines Objektes, indem er das (Handels-)Äquivalent bestimmt.46 Der Wert, der einem Marktgut zukommt, ist somit ein „instrumenteller Wert“.47 Das gehandelte Gut kann als Mittel entweder zur unmittelbaren Befriedigung eines Bedürfnisses oder zum Erlangen eines anderen Gutes durch Tausch verwendet werden. Sandel behauptet nun, dass intrinsische Werte durch den instrumentellen Wert untergraben werden. Es kommt zu einem sog. „Crowding-out-Effekt“. Aus diesem Grund soll ein Gut nicht gegen Entgelt veräußert werden können, weil dadurch ein als wichtig erachteter Wert verringert wird. Das Gut wird quasi zu einem nützlichen Gut degradiert. Gegen die Idee der Unterminierung von intrinsischen Werten lassen sich aber unterschiedliche Einwände formulieren, wovon in der Folge nur einer ins Feld geführt werden soll: Es ist nicht notwendig, dass eine instrumentelle Bewertung eine intrinsische ausschließt.48 Die These ist zu restriktiv. Bei der Exklusivitätsthese handelt es sich nach einer „strengen“ Interpretation um eine logische These der Unmöglichkeit einer Koexistenz instrumenteller und intrinsischer Bewertungen desselben Objektes. Mit der Ausschließbarkeit des einen durch das andere handelt es sich beim gleichzeitigen Auftreten beider Formen demnach um einen Widerspruch. Ein solcher scheint aber nicht notwendig zu sein. Die Tatsache, dass z.B. Kunst gehandelt werden kann, führt nicht zur Wahrnehmung, dass ein bestimmtes Kunstwerk einfach durch ein an45 Vgl. Walsh, A. J. (2001): „Are Market Norms and Intrinsic Valuation Mutually Exclusive?“, Australasian Journal of Philosophy 79 (4), S. 528 f. 46 Vgl. Anderson, E. 1990, S. 182 ff. 47 Vgl. auch Wilkinson, S. (2000): „Commodification Arguments for the Legal Prohibition of Organ Sale“, Health Care Analysis 8, S. 193. 48 Zum Ganzen Walsh, A. J. 2001, S. 525–43.
3. Das Argument der moralischen Grenzen des Marktes
173
deres ersetzt werden kann bzw. dass der Ästhetik eines Werks kein intrinsischer Wert beigemessen wird.49 Die Annahme einer logischen Ausschließbarkeit ist also zu stark. Eine Marktbewertung eines Gutes durch einen Preis muss nicht zwingend zum Ausschluss eines intrinsischen Wertes führen. A priori kann die Ausschließbarkeit somit nicht begründet werden. Die Exklusivität muss also in einem „großzügigen“ Sinn verstanden werden, der es erlaubt, dass erstens ein Ausschluss intrinsischer Werte nicht notwendig mit dem Setzen eines Preises eintreten muss und der es zweitens ermöglicht, dass eine graduelle Unterminierung der intrinsischen Bewertungsform stattfinden kann. Eine solche Exklusivität im großzügigen Sinn muss als kausaler Effekt einer instrumentellen Betrachtungsweise von Gütern interpretiert werden.50 Es handelt sich dabei um eine Art Wahrnehmungsverschiebung oder eine Reduktion der allgemeinen Wahrnehmung auf instrumentelle Werte. Diesem Verständnis der instrumentellen Betrachtungsweise von Gütern in Märkten wird insbesondere in Radins Theorie Rechnung getragen. Es handelt sich ihrem Ansatz gemäß bei der Ausweitung der Marktlogik auf unterschiedliche Bereiche der Gesellschaft um einen schleichenden Prozess, der aber bei gewissen Gütern (noch) nicht vollständig stattgefunden hat. Sie spricht von „incomplete commodification“.51 Als Beispiel nennt Radin unter anderem den Arbeitsmarkt als einen Bereich, der zwar größtenteils durch einen Markt geregelt ist, in dem der Marktpreis der Arbeit (der Lohn) aber nicht alle Motive der Akteurinnen im Markt erklärt. Arbeit ist bis zu einem gewissen Grad auch ein identitätsstiftender Faktor im Leben einer Person. In manchen Fällen ist die Arbeit sogar eine Form der Selbstverwirklichung.52 Käuflich ist insofern nicht die Arbeit („work“), sondern nur die Produktivität einer Person („labour“).53 Die kausale These der Verdrängung intrinsischer Werte durch einen Marktpreis (die großzügige Exklusivitätsthese) kann jedoch nicht deduktiv hergeleitet werden. Es handelt sich um eine empirisch zu verifizierende These, die strenggenommen nicht im Bereich der Philosophie untersucht werden kann. Wenn man davon ausgeht, dass es sich bei der Wahrnehmung von Werten um ein psychologisches Ereignis handelt, kann eine Verschiebung oder eine Reduktion dieser Wahrnehmung theoretisch gemessen werden.
49
Vgl. ebd. S. 530 f. Vgl. „the corrosion thesis” ebd. S. 537. 51 Siehe Radin, M. J. (2001): Contested Commodities: The Trouble with Trade in Sex, Children, Body Parts, and Other Things, orig. 1996, 2. Aufl., Cambridge, MA: Harvard University Press, Kap. 7, insb. 103. Sie geht jedoch nicht von der Idee aus, dass sich die Marktbewertung eines Gutes immer ausweitet und somit intrinsische Werte notwendigerweise gefährdet. Marktwerte sind nicht a priori dominant, sie können jedoch in einzelnen Bereichen die Tendenzen haben, andere Bewertungsformen in den Hintergrund zu drängen. 52 Oder zumindest die Tatsache, dass man arbeitet und nicht vom Staat abhängig ist. 53 Vgl. ebd. S. 104 ff. 50
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Kapitel VIII: Objektive Werte
Der Beweis für die kausale Ausschließbarkeit von Werten ist sodann eine Aufgabe der empirischen Wissenschaften.54 Es ist hierbei aber darauf hinzuweisen, dass die „Beweislast“ für einen solchen kausalen Effekt auf der Seite derjenigen steht, welche für die Einschränkung der Marktfreiheit plädieren.55 Der empirische Nachwies für einen kausalen Crowding-out-Effekt muss zunächst erbracht werden, bevor die Einschränkung gerechtfertigt sein kann. Es ist bei bestimmten Gütern ein durchaus bekanntes Phänomen, dass deren Verkäuflichkeit in gewisser Weise die Wertung des Gutes korrumpiert. So ist es bspw. mit persönlichen Beziehungen, wie Freundschaft oder Liebesbeziehungen. Sobald finanzielle Abhängigkeiten bestehen, wird dadurch die Beziehung verändert. Bei anderen Gütern wiederum scheint die These zu stark. Die Exklusivität der unterschiedlichen Bewertungsformen ist somit nicht notwendig. Aber selbst, wenn die kausale Ausschließbarkeit von Bewertungsformen tatsächlich besteht, ist das Argument noch nicht schlüssig. Die Veränderung der Bewertungsart (die Beimessung eines instrumentellen Wertes) wäre für sich genommen nicht ethisch problematisch, wenn sich dahinter nicht ein objektives Werturteil verbergen würde. Es stellte sich immer noch die Frage, weshalb die Wertschätzung eines Gutes als intrinsisch wertvoll besser ist als die Wertschätzung eines Gutes als instrumentell wertvoll.56 Solange diese Frage nicht beantwortet werden kann, ist das Argument der moralischen Grenzen des Marktes nicht stichhaltig. Aus diesen Gründen wird eine Begründung der Unveräußerlichkeit von Rechten gegen Entgelt aufgrund einer korrumpierenden Wirkung eines Preises abgelehnt. Es gibt unterschiedliche Bereiche der Rechtsethik die von dieser Argumentation betroffen sein könnten. Diese Konklusion betrifft u.a. Argumente zur rechtlichen Restriktion der Prostitution.57 Die Unveräußerlichkeit der Sexualität gegen Entgelt, kann nicht durch die korrumpierende Wirkung des Geldes alleine begründet werden. Entweder wird dadurch auf objektive Werte rekurriert oder es wird implizit eine dubiose Exklusivitätsthese vorausgesetzt. Der Einwand gegen sog. Argumente der moralischen Grenzen des Marktes zur Begründung unveräußerlicher Rechte betrifft zudem auch die Diskussion über sog. „Leihmutterschaftsverträge“.58 Wenn solche Verträge rechtlich unmöglich sind, dann ist eine Frau rechtlich nicht befugt, einem kinderlosen Paar anzubieten, ein Kind für sie auszutragen. Die Begründung der vertragsrecht54
Vgl. Walsh, A. J. 2001, S. 538, Fn. 47. Dies folgt aus der im letzten Kapitel getroffenen Annahme P3. 56 Einen Versuch liefert Anderson, E. (1993): Value in Ethics and Economics, Harvard: Harvard University Press, S. 141 ff. 57 Siehe Anderson, E. 1990, S. 187 f.; Satz, D. 2010, S. 135 ff. 58 Vgl. z.B. Anderson, E. 1993, S. 168 ff.; Satz, D. 2010, S. 115 ff. 55
4. Liberaler Ansatz
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lichen Einschränkungen möglicher Leihmütter, kann nun ebenso nicht auf der Grundlage eines Crowding-out-Effekts hergeleitet werden. Nicht zuletzt wird das Argumentationsmuster auch in der Debatte über die Legitimität eines Marktes für Organe verwendet.59 Es besteht hier ein großer Unterschied zwischen den moralischen Intuitionen bezüglich der Spende eines Organs und dem Verkauf. Ersteres scheint legitim und wünschenswert, letzteres hingegen problematisch. Das Argument der moralischen Grenzen des Marktes kann diesen Unterschied einfangen. Dies allerdings nur zu dem Preis, dass dem Recht auf den eigenen Körper (bzw. dem Recht auf die eigenen Organe) ein objektiver Wert zugeschrieben wird. Eine solche Begründung wird hier entweder als paternalistisch oder als rechtsmoralistisch zurückgewiesen. Im nächsten Kapitel wird ein weiteres Argument untersucht, welches die Unverkäuflichkeit von Organen begründen kann. Der letzte Abschnitt dieses Kapitels geht nun aber einen Schritt zurück und zeigt auf, wie die hier dargelegten Argumente in ein konsistentes System rechtsphilosophischer Überzeugungen eingefügt werden können.
4. Liberaler Ansatz Wenn man davon ausgeht, dass dem Recht die Funktion zukommt, entweder in einer Gesellschaft gegebene moralische Normen durchzusetzen oder die Individuen mittels rechtlicher Einschränkungen zu bevormunden, dann setzt dies gewisse Annahmen voraus, die m.E. sehr kritisch zu hinterfragen sind. Es verbirgt sich dahinter einerseits ein bestimmtes Menschenbild und andererseits eine Werte-epistemologische Idee. Es soll nun offengelegt werden, weshalb beide dieser Prämissen nicht geteilt werden. Das Verständnis eines liberalen Rechtsstaats ist dadurch geprägt, dass wir von mündigen und urteilsfähigen Individuen ausgehen. Die Individuen – so die Annahme – können ihre eigenen Werte und Vorstellungen vom Guten Leben selbst festlegen und wissen, wie sie sie verfolgen können. Eine Person ist prinzipiell dazu in der Lage, Wertefragen für sich zu beantworten. Diese These richtet sich grundsätzlich gegen die Idee, dass Expertinnen, Wissenschaftlerinnen, Politikerinnen, vor allem aber auch die demokratische Mehrheit der Bevölkerung und die staatlichen Institutionen den Wert bestimmter Lebensziele besser einschätzen können als das von einer Entscheidung betroffene Individuum selbst. Es liegt deshalb nahe, eine skeptische Haltung gegenüber einer Objektivierung und Universalisierung von Wertesystemen einzunehmen. Diese klassisch liberale Sichtweise besitzt die argumentative Funktion einer Zuordnung der Beweislast. Wenn man im Einzelfall behauptet, dass das Individuum nicht in der Lage ist, eine sinnvolle Entscheidung für sein eigenes 59
Kritisch hierzu Wilkinson, S. 2000, S. 193 ff.
176
Kapitel VIII: Objektive Werte
Wohl zu fällen, muss man gute Gründe dafür angeben, weshalb es erstens nicht in der Lage ist und zweitens, weshalb jemand anderes besser beurteilen kann, was für das Individuum gut ist. Freiheitseinschränkungen wie diejenige der Unveräußerlichkeit eines Rechts sind rechtfertigungspflichtig. Wenn sich die Begründung einer Freiheitseinschränkung auf einen objektiven Wert bezieht, dann muss dieser nachgewiesen werden. Die rechtssetzende Instanz muss also die objektive Gegebenheit eines Wertes belegen. Eine solche Begründung ist aber in jedem Fall problematisch. Denn der Staat oder die Allgemeinheit sind prima facie nicht eher als die Individuen in der Lage, Wertefragen zu beantworten. Einerseits gibt es keinen Grund, anzunehmen, dass sich der Staat in einer moralepistemologisch günstigeren Position befindet. Andererseits gibt es in jeder Gesellschaft eine Pluralität verschiedener Wertevorstellungen, die sich teils widersprechen. Eine liberale, d.i. wertneutrale Position geht dementgegen von der Annahme aus, dass das Individuum im Vergleich zum Staat oder der Gesellschaft eine „epistemisch privilegierte Stellung“ innehat. Es wird grundsätzlich angenommen, dass ein Individuum am besten weiß, was in seinem eigenen Interesse liegt und welche Werte es für schützenswert erachtet. Die Individuen kennen ihre eigenen Lebensprojekte und können deshalb auch am ehesten ein Urteil darüber fällen, was für die Verwirklichung derselben dienlich ist und was nicht. Diese epistemisch bevorzugte Lage ist nicht bei jeder Entscheidung, die das Individuum fällt (und somit nicht notwendigerweise), vorhanden.60 Sie trifft aber grundsätzlich zu. Auf dieser Grundlage wird ein Rekurs auf objektive Werte abgelehnt. Solange ein Rechtsstaat keine guten Gründe dafür angeben kann, weshalb die Freiheiten eines Individuums beschnitten werden dürfen, ist eine Freiheitseinschränkung nicht gerechtfertigt. Ein liberaler Ansatz geht somit in erster Linie von den subjektiven Interessen, von den Wünschen und Einstellungen der Individuen aus. Denn das Individuum ist grundsätzlich befähigt zu entscheiden, welcher Wert ihrem eigenen Recht zukommt. Es gibt durchaus freie Entscheidungen, die durch einen liberalen Rechtsstaat beschnitten werden dürfen. Liberale Argumente zur Begründung der Einschränkung der individuellen Freiheit und somit auch zur Rechtfertigung der Unveräußerlichkeit von Rechten versuchen primär den Nachweis zu erbringen, dass ein Individuum nicht autonom ist.61 Dabei werden freie Entscheidungen aber nicht aufgrund des Inhalts eingeschränkt. D.h. Entscheidungen werden nicht aufgrund des Gehalts der Absicht missachtet, so wie dies bei der Rechtfertigung von Freiheitsbeschränkungen durch Verweis auf objektive Werte der
60 Mit gegensätzlicher Ansicht u.a. Zamir, E. (1998): „The Efficiency of Paternalism“, Virginia Law Review 84, S. 238. 61 Vgl. Kimpel, P. K. 2003, S. 28.
4. Liberaler Ansatz
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Fall ist. Vielmehr wird auf die formalen Bedingungen abgestützt, unter denen die Entscheidung zustande kommt. Dies geschieht mittels der Unterscheidung zwischen autonomer und nichtautonomer freier Entscheidung. Wenn Entscheidungen zwar frei, aber nicht autonom sind, dann kann eine Verhinderung der Entscheidung gerechtfertigt sein. Im nächsten Kapitel werden Argumente vorgestellt, die mit diesen liberalen Grundannahmen vereinbar sein können. Ihnen allen ist gemein, dass sie keine substantiellen Werteannahmen voraussetzen, sondern ihren Fokus auf die Umstände von Transaktionen legen. Drei unterschiedliche Argumente werden erläutert und kritisch gewürdigt. Erstens können bestimmte Formen der Bevormundung durch den Staat auch aus liberaler Sicht gerechtfertigt sein. Zweitens kann durch die Unmöglichkeit des Verzichts oder Transfers eines Rechts der Veräußerung bestimmter Rechte unter Zwang vorgebeugt werden. Drittens besteht die Möglichkeit zu argumentieren, dass eine Veräußerung eines Rechts keine private Handlung ist, sondern dass durch die Veräußerungen Drittpersonen zu Schaden kommen. Trifft dies zu, dann liegt keine Verletzung des Mill’schen Nicht-Schädigungsprinzips vor. Diesem liberalen Ansatz liegt ein Rechtsprinzip zugrunde, das bei der Beurteilung der moralischen Rechtfertigung unveräußerlicher Rechten beachtet werden muss – das volenti non fit iniuria Prinzip.62 Es besteht aus der Überzeugung, dass wenn eine Person freiwillig ein Recht aufgibt, die Missachtung dieses Rechts grundsätzlich kein Unrecht darstellt. Veräußerungshandlungen sind prinzipiell möglich und sollen dies auch sein. Jede Einschränkung der Veräußerungsbefugnis stellt eine zu rechtfertigende Freiheitsbeschneidung des Individuums dar. Ist eine Rechtfertigung nicht gültig, dann soll die Kompetenz des Individuums nicht eingeschränkt werden. Diese Grundhaltung ist auch in einer Theorie autonomer Entscheidungen reflektiert. Denn gemäß der Theorie geht mit einem Recht grundsätzlich die Befugnis einher, es freiwillig abzutreten oder zu übertragen, es sei denn, das Individuum handelt nicht aus freien Stücken. Der Fokus der folgenden Untersuchung liegt somit auf der Freiwilligkeit der Rechtsträgerin.
62
Dig. 47, 10, 1 § 5 a.E. (Ulpian)
Kapitel IX
Liberale Bevormundung Die folgende Diskussion versucht, die verschiedenen möglichen Gründe aufzuzeigen, die für die positive Beantwortung der moralischen Frage nach der Rechtfertigung unveräußerlicher Rechte gegeben werden können. Die methodische Vorgehensweise bei der Beantwortung der Frage, wie unveräußerliche Rechte gerechtfertigt sein können, wurde in Kap. I und Kap. VII dargelegt. Erstens wird die Annahme zugrunde gelegt, dass grundsätzlich jedes Recht unveräußerlich sein kann. Unveräußerliche Rechte werden nicht als axiomatische Gegebenheiten festgelegt (wie dies z.B. in verschiedenen naturrechtlichen Theorien gemacht wird). Zweitens wird zunächst erörtert, welche moralischen Gründe für die Unveräußerlichkeit gegeben werden können. Es werden also die möglichen Gründe genannt, ohne bereits vorwegzunehmen, dass diese Gründe auch schlüssig die (gesollte) Unveräußerlichkeit eines Rechts nachweisen können. Erst im dritten Schritt werden die Gründe auf ihre Stichhaltigkeit geprüft. Dabei wird v.a. eine „Kohärenzprüfung“ der moralischen Überzeugungen vorgenommen. Wenn die (gesollte) Unveräußerlichkeit eines Rechts durch eine bestimmte Begründung gestützt wird, dann gilt es die Behauptungen, welche im Begründungsansatz getroffen werden, konsequent auf alle anderen Rechtsbereiche anzuwenden und zu überprüfen, ob die Behauptungen aufrechterhalten werden können. Unveräußerliche Rechte beinhalten eine Freiheitseinschränkung der Rechtsträgerin. Die Trägerin ist in der Befugnis, das Recht freiwillig aufzugeben oder zu transferieren, eingeschränkt. Aus einer liberalen Perspektive ist diese Freiheitseinschränkung problematisch. Es wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass eine Rechtsträgerin für sich selbst am besten beurteilen kann, ob sie durch ein Recht geschützt werden will oder ob sie einen normativen Vorteil gegenüber anderen Personen abtreten will. Eine Einschränkung der Befugnisse der Rechtsträgerin mit Bezug auf ein objektiv gegebenes Interesse derselben ist deshalb kritisch zu sehen, weil diese Einschränkung die Rechtsträgerin bevormundet. Sie wird für unmündig gehalten und deshalb als entscheidungsunfähiges Individuum erachtet, dessen Handlungsmöglichkeiten durch ein rechtliches System beschränkt werden dürfen.
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Kapitel IX: Liberale Bevormundung
Dies ist der Ausgangspunkt der folgenden moralischen Untersuchung der Rechtfertigung unveräußerlicher Rechte. Wie wir gesehen haben, stellen bevormundende Einschränkungen der individuellen Freiheit ein moralisches Problem dar. Aber nicht jede Form rechtlicher Bevormundung ist aus einer liberalen Perspektive abzulehnen. In der Folge werden zwei Formen eines (möglicherweise) gerechtfertigten Paternalismus erläutert.
1. Sanfter Paternalismus Liberale Ansätze nehmen in unterschiedlichen Formen Bezug auf das NichtSchädigungsprinzip von Mill. Es besteht aber zudem ein weitreichender Konsens darüber, dass die Schädigung von Drittpersonen nicht die einzige Rechtfertigungsgrundlage für staatliche Beschränkungen der Freiheit liefern kann. Eine Form der staatlichen Einschränkung der Freiheit, welche von liberalen Theoretikerinnen als gerechtfertigt angesehen wird, kann in einer speziellen Form der Bevormundung gesehen werden, die im Falle von nicht-autonomen Handlungen Anwendung findet. Mill selbst erläutert sie an einem Beispiel einer Person, die berechtigterweise daran gehindert wird, eine Brücke zu überqueren: If either a public officer or any one else saw a person attempting to cross a bridge which had been ascertained to be unsafe, and there were no time to warn him of his danger, they might seize him and turn him back, without any real infringement of his liberty; for liberty consists in doing what one desires, and he does not desire to fall into the river.1
Zwei Elemente dieser Textpassage sind bemerkenswert. Erstens handelt es sich bei der Hinderung klarerweise um eine bevormundende Handlung. Die Person, welche die Brücke passieren will, schädigt keine anderen Personen, wenn sie nicht daran gehindert wird, sondern nur sich selbst. Wenn eine Beamtin sie von der Brücke fernhält und sie an der Überquerung hindert, handelt es sich also um eine Freiheitseinschränkung mit der Absicht, das Wohlergehen der Person zu wahren. Zweitens ist die Person, welche die Brücke passieren will, nicht hinreichend über die Gefahr informiert. Dieser Umstand führt dazu, dass die Person nicht entsprechend ihrem subjektiven Interesse handelt, „for liberty consists in doing what one desires and he does not desire to fall into the river“.2 Hier wird also nicht auf ein objektives Interesse Bezug genommen, sondern auf die Einschätzung des Individuums, die es teilen würde, wenn es hinreichend über die Sachlage informiert wäre. In Kenntnis des Fakts, dass die Brücke unsicher ist, wäre der Wunsch des Individuums, nicht zu verunfallen, wohl größer als der Wunsch, die Brücke zu passieren. 1 2
Mill, J. S. 2009, S. 117. Ebd.
1. Sanfter Paternalismus
181
Es wäre aber mit dem Argument in Mills Passage durchaus vereinbar, dass wenn eine wohlinformierte Person explizit sagte, sie wolle in den Fluss fallen, eine gerechtfertigte Behinderung der Person ausgeschlossen wäre. Es kann also zwischen gerechtfertigten und ungerechtfertigten Formen der Bevormundung unterschieden werden. Der Unterschied ist hier dadurch gegeben, dass das Individuum nach dem oben erläutertem Verständnis nicht-autonom handelt.3 Eine solche Form der Bevormundung wird gemeinhin auch als „sanfter Paternalismus“ bezeichnet.4 Man kann sich zur Erläuterung dieses Begriffes die Unterscheidung subjektiver und objektiver Interessen wieder vor Augen führen. Parallel dazu gibt es zwei mögliche Arten von Bevormundung. Einerseits kann die Rechtsträgerin dann bevormundet werden, wenn die gewollte Handlung nicht in einem objektiven Sinn ihrem Interesse entspricht. Diese Bevormundung stellt einen „harten Paternalismus“ dar. Die Freiheit eines Individuums wird gegen den Willen zu seinem eigenen Wohl beschnitten. Andererseits ist es möglich, dass das subjektive Interesse des Individuums nicht in dessen Entscheidung reflektiert ist bzw. seine Entscheidung nicht autonom ist. Aus einer liberalen Perspektive kann eine solche Form der Bevormundung gerechtfertigt sein, da der Wille einer Person grundsätzlich nicht missachtet wird, sondern nur die nicht-autonome Entscheidung.5 Das in Kap. VI vorgeschlagene Konzept ‚Autonomie‘ wird hierbei wiederaufgegriffen. AN:
Eine Person handelt autonom, wenn ihre Entscheidungen mit ihren subjektiven Interessen im Einklang sind.
Eine freie Entscheidung kann uninformiert oder irrational sein, sie kann auf psychischem oder physischem Zwang beruhen usw. Unveräußerliche Rechte und die damit einhergehende Beschränkung der Freiheit der Rechtsträgerinnen (durch die Unmöglichkeit der Aufgabe und des Transfers eines Rechts) können somit gerechtfertigt werden, indem die Autonomie der Rechtsträgerinnen infrage gestellt wird.6 Die Argumentation für eine sanfte Bevormundung, welche die Unveräußerlichkeit bestimmter Rechte begründen soll, geht von der Prämisse aus, dass solche Rechte genau in jenen Fällen zur Anwendung kommen, in denen die Rechtsträgerin in Bezug auf eine Veräußerung nicht urteilsfähig 3
Kap. VI, 1.2. Zur Unterscheidung zwischen „soft paternalism“ und „hard paternalism“ siehe Feinberg, J. (1971): „Legal Paternalism“, Canadian Journal of Philosophy 1 (1), S. 123. 5 Vgl. Feinberg, J. 1986, S. 12. 6 Es wird sich noch zeigen, dass Autonomie ein graduelles Konzept ist. Sie liegt im Einzelfall immer nur bis zu einem bestimmten Ausmaß vor. Vgl. Gutmann, T. 2006, S. 223. Es stellt sich also bei der moralischen Bewertung der Rechtfertigung der Unveräußerlichkeit von Rechten die Frage, ob eine veräußerungswillige Person in hinreichendem Ausmaß nichtautonom ist, so dass die Freiheitsbeschränkung gerechtfertigt sein kann. 4
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Kapitel IX: Liberale Bevormundung
sein kann. Sie kann entweder die Folgen der Handlung nicht abschätzen, oder die Möglichkeit besteht, dass sie unter psychischen Störungen leidet, unter Einfluss von Substanzen steht, starkem psychischen Druck ausgesetzt ist o.ä. Insofern darf die freie Entscheidung, das Rechtsgut zu veräußern, rechtlich verunmöglicht werden. Denn es ist (möglicherweise) nicht im subjektiven Interesse der Rechtsträgerin, das Recht zu veräußern. Es wird hier ersichtlich, dass eine sanfte Bevormundung durch unveräußerliche Rechte durch eine „Theorie autonomer Entscheidungen“ erfasst werden kann. Denn die Theorie hält fest, dass Rechte grundsätzlich veräußerlich sein sollen. Sobald aber die Kompetenz der Rechtsträgerin, in ihrem eigenen Interesse zu handeln, ernsthaft in Zweifel gezogen werden kann, kann das Recht in seiner Veräußerbarkeit eingeschränkt werden. Eine harte Bevormundung widerspricht hingegen der Theorie. Insofern liefert der Ansatz ein Kriterium zur Unterscheidung, wann die Bevormundung der Rechtsträgerin durch die Unveräußerlichkeit eines Rechts gerechtfertigt sein kann und wann nicht. Wenn die Unmöglichkeit der Veräußerung vermeintlich objektive Interessen von Individuen wahren soll, ist sie nicht angebracht. Besteht die Unveräußerlichkeit aber deshalb, weil die Befürchtung angebracht ist, dass Veräußerungsentscheidungen nicht-autonom sind, ist sie möglich. 1.1 Urteilsunfähigkeit in der Sterbehilfedebatte Das Argument der sanften Bevormundung findet seine Anwendung u.a. in der Debatte über die Legitimität der Sterbehilfe. An diesem Beispiel soll nun die Leistungsfähigkeit des Arguments überprüft werden. Es wird dabei die Frage gestellt: Soll das Recht auf Leben unveräußerlich sein oder nicht? Auf das Recht auf Leben wurde in dieser Abhandlung bereits einige Male Bezug genommen.7 Es ist durch das Tötungsverbot geschützt. Zudem beinhaltet es eine bilaterale Freiheit: Der Gebrauch des Rechts darf unterlassen werden. So ist es erlaubt, Suizid zu begehen. Die Freiheit zum Nicht-Gebrauch ist zwar nicht durch einen Anspruch, nicht daran gehindert zu werden, geschützt (die „Suizidalverhinderung“ ist erlaubt),8 allerdings besteht keine rechtliche „Suizid-Unterlassungspflicht“. Dennoch ist die Freiheit der Rechtsträgerin, über ihr Ableben zu entscheiden, eingeschränkt. Das Recht auf Leben ist ein unveräußerliches Recht, da die Tötung auf Verlangen verboten ist. Die Rechtsträgerin kann andere Personen nicht vom Tötungsverbot entbinden. Der Akt der Sterbehilfe ist nach Hoerster durch drei Bedingungen charakterisiert:
7
Vgl. Kap. III, 2.1. Kritisch dazu Soland, T. (2011): Suizidalverhinderung als Straftat? Basel: Helbing & Lichtenhahn. 8
1. Sanfter Paternalismus (1) (2) (3)
183
Eine Person befindet sich in einer Situation schweren, unheilbaren Leidens, die Person willigt in die Tötung einer anderen Person ein (die Entscheidung ist aufgeklärt und die Person ist urteilsfähig) und die Tötungshandlung wird durch eine Ärztin durchgeführt.9
Diese zweite Bedingung beschreibt (sofern die Einwilligung rechtswirksam ist) eine Veräußerung eines Anspruchsrechts. Die Patientin entbindet die Ärztin von der Tötungsunterlassungspflicht im Falle der sog. „aktiven Sterbehilfe“. Oder sie entbindet sie von der positiven „Garantenpflicht“, sie am Leben zu halten. Dies nennt sich „passive Sterbehilfe“.10 Aus Konsistenzgründen würde aus dem Verbot der Tötung auf Verlangen auch ein Verbot (zumindest) der aktiven Sterbehilfe folgen. Dies ist deshalb der Fall, da die Veräußerungshandlung bei der Sterbehilfe eine Unterart der Veräußerungshandlungen bei einer Tötung auf Verlangen darstellt, die bloß eingrenzend durch (1) und (3) weiter qualifiziert wird. Die Unveräußerlichkeit des Rechts auf Leben impliziert also eigentlich auch, dass die Sterbehilfe nicht erlaubt sein soll. Die Frage der rechtsdogmatischen Konsistenz wird vorerst aber beiseitegelassen. Vielmehr geht es hier um die moralische Frage, ob die Sterbehilfe liberalisiert werden soll. Diese ist in der Frage enthalten, ob das Recht auf Leben ein veräußerliches Recht sein sollte. Ein mögliches Argument dagegen kann mit Verweis auf die Urteilsunfähigkeit der sterbewilligen Person gemacht werden. Wenn die Person keinen rationalen, wohlinformierten Willen (zu sterben) bilden kann. Dann sollte die Sterbehilfe verboten sein und das Recht auf Leben unveräußerlich. Von Seiten der Gegnerinnen der Sterbehilfe wird sodann argumentiert, dass aufgrund des Zutreffens der Bedingung (2) die Urteilsfähigkeit unwahrscheinlich ist bzw. nicht gegeben sein kann. Um dies zu zeigen wird entweder versucht, aufzuzeigen, dass die Bedingung (1) die Bedingung (2) ausschließt:11 Durch die Situation des schweren, unheilbaren Leidens sei die Person nicht mehr in der Lage, ihre eigenen subjektiven Interessen (am Leben zu bleiben) zu erkennen. Oder es wird unabhängig von (1) argumentiert, dass die Urteilsfähigkeit schon rein deshalb zu bezweifeln sei, weil die Person einen Veräußerungswunsch besitzt. Dieser sei grundsätzlich irrational und basiere nie auf einem wohlinformierten und aufgeklärten Entschluss.
9 Vgl. Hoerster, N. (1998): Sterbehilfe im säkularen Staat, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 37 f. 10 Für das hier nachvollzogene Argument ist eine Unterscheidung der unterschiedlichen Formen der Sterbehilfe nicht zentral. Es ist wichtig zu sehen, dass die Inanspruchnahme von Sterbehilfe einer freiwilligen Aufgabe des Rechts auf Leben gleichkommt. 11 Vgl. „Objection 2“, Young, R. (2012): „Voluntary Euthanasia“, in: Zalta, E. N. (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy, http://plato.stanford.edu/entries/euthanasia-voluntary.
184
Kapitel IX: Liberale Bevormundung
In beiden Fällen ist die Person, welche Sterbehilfe in Anspruch nehmen will, nicht fähig, gemäß ihrem subjektiven Interesse zu handeln. Insofern wird eine Bevormundung durch ein Verbot der Sterbehilfe und durch eine Unmöglichkeit der Rechtfertigung durch Einwilligung als sanfter Paternalismus gerechtfertigt. Bei dieser Argumentation wird aber ein starker Zusammenhang zwischen der Nicht-Autonomie der Rechtsträgerin und dem Veräußerungswillen vorausgesetzt. 1.2 Einwand: Zirkelschluss Die Gegnerinnen der Liberalisierung von Sterbehilfe stützen sich also vermehrt auf die Annahme der Urteilsunfähigkeit der sterbewilligen Person.12 Es wird vermutet, dass in jedem Fall, in dem der Veräußerungswunsch besteht, ein solcher stets aufgrund fehlender Urteilsfähigkeit zustande kommt. Hinter dem Argument der Begründung unveräußerlicher Rechte durch sanft-paternalistische Einschränkungen der Freiheit steckt somit folgende Prämisse: Eine Person würde in einem urteilsfähigen Zustand (wohlinformiert und rational) ihr Recht nie veräußern wollen. Es liegt also die Verdacht zugrunde, dass der Umstand (dass eine Person überhaupt auf die Idee kommt, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen) bereits den Nachweis dafür liefere, dass die Person nicht autonom sein kann. Das unveräußerliche Recht wird dadurch als etwas konzipiert, das keine autonome Person veräußern wollen würde. Es wird implizit ein notwendiger Zusammenhang zwischen dem Veräußerungswillen und der Nicht-Autonomie vorausgesetzt.13 Ein solcher Zusammenhang ist allerdings nur kontingenterweise gegeben. Es ist immer möglich, sich einen Fall vorzustellen, in dem eine Person nachweislich psychisch gesund ist und sich dennoch dazu entschließt, ihr Recht zu veräußern. Somit handelt es sich bei der Urteilsunfähigkeit nicht um einen notwendigen Umstand. Der Zusammenhang zwischen der Urteilsunfähigkeit von Individuen und dem Veräußerungswillen muss also empirisch nachgewiesen werden können.14 Nun kann eine empirische Untersuchung die Gegebenheit dieser Relation nicht beweisen, sondern lediglich die Gegenthese (im Durschnitt) ablehnen. Es ist also grundsätzlich davon auszugehen, dass es Fälle gibt, in denen Personen ihr Recht auf Leben freiwillig aufgeben wollen, die urteilsfähig und in Bezug auf diese Entscheidung autonom sind. In all diesen Fällen stellt die Unveräußerlichkeit des Rechts eine ungerechtfertigte Beschneidung der Freiheit der Rechtsträgerinnen dar.
12
Ebd. Vgl. Moser, E. 2016, S. 153. 14 Vgl. z.B. Callahan, D. (2004): „A Case Against Euthanasia“, in: Cohen, A. I./Wellman, C. H. (Hrsg.): Contemporary Debates in Applied Ethics, Oxford: Blackwell, S. 186 f. 13
1. Sanfter Paternalismus
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Die Prämisse eines notwendigen Zusammenhangs zwischen dem Veräußerungswillen einer Person und deren Nicht-Autonomie ist zudem aus einem weiteren Grund abzulehnen. Der rechtfertigende Umstand für die Restriktion der Freiheit des Individuums tritt beim Argument sowohl als Begründung auf als auch als dasjenige, was durch den Sachverhalt selbst begründet wird. Das Argument besitzt in etwa folgende Form: Die Veräußerung eines Rechtsgutes darf durch das Recht verunmöglicht werden, wenn die Person in Bezug auf die Veräußerungsentscheidung urteilsunfähig ist und immer dann, wenn die Person das Gut veräußern will, ist sie urteilsunfähig. Es handelt sich hierbei also offensichtlich um einen Zirkelschluss. Die Erklärung für die Vermutung des notwendigen Zusammenhangs des Veräußerungswillens mit der Urteilsunfähigkeit kann nun aber auch darin liegen, dass hier eine tieferliegende moralische Begründung vorausgesetzt wird.15 Wenn man davon ausgeht, dass dem Leben einer Person ein substantieller Wert zukommt, ist die Annahme sinnvoll, dass die Person eine solche Entscheidung niemals rationalerweise fällen würde. Die sterbewillige Person würde dadurch gerade diesen Wert des Lebens missachten. Der Rekurs auf einen objektiven Wert bietet somit den Ausweg aus dem Zirkel. Die Handlung ist so gesehen objektiv nicht vernünftig und muss auf einem Autonomiemangel zurückzuführen sein. Solche Argumente, die versuchen die Unveräußerlichkeit eines Rechts dadurch moralisch zu begründen, dass keine Person im nüchternen, wohlinformierten, urteilsfähigen Zustand das Recht veräußern würde, tendieren somit implizit dazu einen objektiven Wert des Rechts vorauszusetzen. Zuletzt ist festzuhalten, dass die rechtliche Unmöglichkeit, die durch ein unveräußerliches Recht gegeben ist, alle Rechtstragenden betrifft. Somit ist das unveräußerliche Recht generalisierend.16 Jede Veräußerungshandlung wird ausgeschlossen, d.h. unabhängig von den kontingenten Umständen im Einzelfall.17 Jene, die ihr Recht veräußern wollen und nicht urteilsfähig sind, werden ebenso in ihrer Freiheit eingeschränkt wie jene, die urteilsfähig sind. Insofern kann eine Freiheitseinschränkung der Rechtsträgerin im Einzelfall ungerechtfertigt sein und es stellt sich daher die berechtigte Frage, ob die Einschränkung der Sterbehilfe nicht zu Unrecht urteilsfähige Sterbewillige in ihrer Freiheit beschneidet.
15 Vgl. hierzu Keown, J. (2002): Euthanasia, Ethics and Public Policy: An Argument against Legislation, Cambridge: Cambridge University Press, S. 40 ff. 16 Dies ist deshalb der Fall, weil durch die Unveräußerlichkeit des Rechts in toto eine Handlung aufgrund ihres Inhalts restringiert wird und nicht aufgrund formeller Mängel der Autonomie. 17 Für eine Verteidigung der rechtlichen Einschränkung angesichts dieses Sachverhaltes siehe Keown, J. (2012): „Against Decriminalising Euthanasia: For Improving Care“, in: Jackson, E./Keown, J. (Hrsg.): Debating Euthanasia, Oxford: Hart, S. 92 ff.
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Kapitel IX: Liberale Bevormundung
2. Paternalismus zur Freiheitsvergrößerung Ein liberales Argument zur Begründung paternalistischer Eingriffe und somit auch der Freiheitseinschränkung durch unveräußerliche Rechte besteht in der Behauptung, dass gewisse Freiheitseinschränkungen zukünftige Freiheiten vergrößern können. Es wird für eine „Freiheitsmaximierung“ durch Einschränkungen argumentiert. Die These besteht in der Behauptung, dass man die Entscheidungen von Personen missachten darf, wenn diese ihre eigene zukünftige Autonomie gefährden.18 Wenn sich bspw. eine Person dazu entscheidet, ihren Finger abschneiden zu lassen, dann ist die Verunmöglichung dieser Entscheidung (also die rechtliche Unmöglichkeit der Rechtfertigung der Körperverletzung durch Einwilligung) so gesehen gerechtfertigt. Dadurch, dass die Person sich körperlich behindern würde, wären ihre zukünftigen Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt. Sie könnte z.B. beim Schreiben von Texten das Zehnfingersystem nicht mehr anwenden und würde dadurch u.U. teilweise arbeitsunfähig. Das Anspruchsrecht (nicht durch eine andere Person verletzt zu werden) wäre demgemäß gerechtfertigterweise unveräußerlich, da die Freiheit der Rechtsträgerin durch die Unmöglichkeit der Veräußerung desselben maximiert wird.19 Eine solche Begründung paternalistischer Einschränkungen durch das subjektive Recht ist intuitiv gut nachvollziehbar. Allerdings liegen dem Argument zwei philosophisch brisante Annahmen zugrunde: Erstens setzt diese Argumentation einen Wert der Autonomie voraus. Damit man behaupten kann, dass mehr Freiheit besser ist als weniger Freiheit, muss man davon ausgehen, dass Freiheit entweder an sich wertvoll ist und somit einen „intrinsischen Wert“ besitzt.20 Oder man muss dafür argumentieren, dass die Autonomie in irgendeiner Weise dem Individuum zu Gute kommt bzw. von Nutzen ist oder seine Wohlfahrt befördert. Freiheit ist in dem Fall „instrumentell wertvoll“. Zweitens setzt die Argumentation ein „aggregatives Konzept“ der Freiheit voraus. Unterschiedliche Freiheiten können quasi summiert bzw. voneinander subtrahiert werden. Dies setzt voraus, dass die Werte unterschiedlicher Freiheiten miteinander vergleichbar sind.21 Beide dieser Vorstellungen über die individuelle Freiheit sind streitbar. Es lohnt sich daher, sie genauer zu erläutern.
18
Vgl. Raz, J. 1986, S. 411. Siehe u.a. Kleinig, J. (1984): Paternalism, Totowa, NJ: Rowman & Allanheld; Enderlein, W. 1996, S. 58 ff.; Husak, D. (2003): „Legal Paternalism“, in: LaFollette, H. (Hrsg.): The Oxford Handbook of Practical Ethics, Oxford: Oxford University Press, S. 402 ff. Ein Beispiel für eine Verteidigung unverzichtbarer Rechte zur Vergrößerung individueller Autonomie liefert z.B. Bou-Habib, P. (2006): „Compulsory Insurance without Paternalism“, Utilitas 18, S. 259 f. 20 Vgl. Enderlein, W. 1996, S. 59 f. 21 Ebd. 54 f. 19
2. Paternalismus zur Freiheitsvergrößerung
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2.1 Wert der Freiheit Unveräußerliche Rechte und ihre normative Einschränkung werden, wie dargelegt, aus einer liberalen Perspektive beurteilt. Dies bedeutet noch nicht, dass die individuelle Freiheit notwendig als ein Wert gesehen werden muss. Das Argument der Bevormundung zur Vergrößerung zukünftiger Freiheiten setzt hingegen einen solchen Wert als notwendige Annahme voraus. Die zukünftige Freiheit einer Rechtsträgerin muss als wertvoller erachtet werden als die zurzeit bestehende Freiheit, das Recht zu veräußern. In der Folge werden die zwei möglicherweise zugrundeliegenden Wertekonzeptionen voneinander unterschieden – die intrinsische und eine instrumentelle Zuschreibung eines Wertes. Das Argument der Freiheitsmaximierung durch unveräußerliche Rechte beinhaltet mindestens eine der beiden Konzeptionen. Beide Wertkonzeptionen sind jedoch fraglich. (a) Intrinsischer Wert Der Begriff ‚intrinsischer Wert‘ bezeichnet etwas, das von Personen als an sich wertvoll erachtet wird. Der Wert existiert unabhängig von seinen kausalen Ursachen oder Folgen. Wenn der Freiheit ein intrinsischer Wert zukommt, dann ist die freie Handlung als solche gut, egal zu welchen Konsequenzen sie führt und unter welchen Umständen sie getätigt wird.22 Ein Gut (eine Handlung, ein Sachverhalt usw.) ist intrinsisch wertvoll, wenn man es nicht als Mittel für das Erreichen eines weiteren Zieles erachtet, sondern es für sich selbst genommen wertschätzt.23 Man kann bspw. Bildung als ein Gut betrachten, das einerseits als Mittel zum Erreichen eines Zwecks dient – so z.B. um das Einkommen nach abgeschlossener Ausbildung zu steigern. Man kann die Bildung andererseits auch für sich genommen, intrinsisch wertschätzen. Dies ist dann der Fall, wenn man ohne Verweis auf einen konkreten Nutzen gerne gebildet ist, Wissen besitzt und unterschiedliche Phänomene erklären und verstehen kann. Es ist hier wichtig zu sehen, dass mit ‚intrinsisch‘ zunächst eine Form der Wertschätzung und nicht eine Eigenschaft der Werte an sich gemeint ist. Ein intrinsischer Wert ist sodann nicht ein Wert, der als metaphysische Entität unabhängig von Personen existiert, sondern vielmehr eine Form der Bewertung seitens der Personen, die den Wert anerkennen.24 Die Argumentation für einen intrinsischen Wert der Freiheit geht sodann aber weiter. Auf der Grundlage des Nachweises einer intrinsischen Bewertung wird ein objektiver Wert der Freiheit abgeleitet.
22
Siehe Kap. IV, Fn. 20. Vgl. Young, R. (1982): „The Value of Autonomy“, The Philosophical Quarterly 32 (126), S. 41 f. 24 Vgl. ebd. S. 41. 23
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Kapitel IX: Liberale Bevormundung
Es gibt verschiedene Möglichkeiten für einen intrinsischen Wert der Autonomie zu argumentieren. In der Folge werden exemplarisch zwei bekannte Argumente aufgezeigt und kritisch hinterfragt: einerseits ein Gedankenexperiment von Hurka25 und andererseits Raz’ Konzeption der Wertsteigerung des Resultats26 durch freie Wahl. Diese Auseinandersetzung kann nicht abschließend aufzeigen, ob und weshalb der Freiheit eines Individuums ein intrinsischer Wert beigemessen werden soll. Vielmehr besteht die Absicht darin, solche substantiellen liberalen Theorien zu erläutern und kritisch zu hinterfragen. Hurkas Gedankenexperiment zielt auf unsere moralischen Intuitionen ab. Man stelle sich eine Welt W1 vor, in der eine Akteurin keine andere Wahl hat, als entweder Option φ auszuüben oder φ zu unterlassen. Nun kann man W1 einer anderen Welt W2 gegenüberstellen, in der dieselbe Akteurin neben φ und nicht-φ noch acht weitere, also insgesamt zehn Optionen, besitzt. Aber in beiden möglichen Welten ist die Option φ die beste und wird auch in jedem Fall durch die Akteurin getätigt. Daraus folgt, dass das Resultat einer Handlung bei mehr verfügbaren Optionen nicht notwendig besser ist. Es besteht die Möglichkeit, wie im Gedankenexperiment gezeigt, dass eine vorgeschriebene Handlung stets genau diejenige Handlung ist, welche das Individuum ohnehin wählen würde. Unabhängig von dieser Tatsache würden wir aber gemäß Hurka intuitiv die Welt W2 als wertvoller erachten. Dies obwohl die Konsequenz in beiden Wahlsituationen dieselbe ist. Der Unterschied besteht hier lediglich in der Anzahl verfügbarer Optionen, nicht aber im Wert des Resultats der jeweils gewählten Option. Diese Vorstellung soll also verdeutlichen, dass der Freiheit gemeinhin ein intrinsischer Wert beigemessen wird. Auch wenn sich die Konsequenzen der freien und der erzwungenen Handlung nicht unterscheiden, ist eine Situation in W2, in der ein Individuum die Wahl zwischen unterschiedlichen Optionen hat, besser.27 Hurkas Gedankenexperiment erweckt somit die Überzeugung, dass (unabhängig von der tatsächlich gewählten Option φ) eine Situation in W2, in der mehr Optionen verfügbar sind, wünschenswerter ist als eine andere Situation in W1. Allerdings beschreibt das Gedankenexperiment die moralische Deliberation bezüglich der Frage, ob Individuen frei sein sollen, dasjenige zu tun oder zu unterlassen, was sie wollen, nicht adäquat. Es ist gerade nicht der Fall, dass jemand mit Sicherheit von außen sagen kann, dass eine bestimmte Option φ die beste ist. Wir sind in beiden Welten nicht in der epistemischen Position, zu beweisen, dass φ die für das Individuum beste Handlung ist. Man kann auf die bestmögliche Option erst dadurch schließen, dass man das Verhalten der mündigen und urteilsfähigen Individuen beobachtet und daraus herleitet, dass diejenige Option, welche ein Individuum wählt, wohl die für das 25
Hurka, T. (1987): „Why Value Autonomy?“, Social Theory and Practice 13 (3), S. 362. Raz, J. 1986, S. 390 ff. 27 Vgl. Carter, I. (1995): „The Independent Value of Freedom“, Ethics 105 (4), S. 830 f. 26
2. Paternalismus zur Freiheitsvergrößerung
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Individuum beste Option sein möge. Man weiß aufgrund der Handlung des Individuums in W2, dass das Individuum diese Handlung auch wählen würde. Dies gibt einen Hinweis auf die tatsächlichen Präferenzen des Individuums. Hingegen kann man in einer Situation in W1, keinen Hinweis darauf besitzen. W2 ist deshalb wünschenswert, weil dadurch der Fehler vermieden werden kann, dem Individuum durch das Schaffen einer Situation W1 eine Handlung χ aufzuzwingen, die nicht die beste ist. Die Zuschreibung eines intrinsischen Wertes der Freiheit ist somit nicht notwendig, um für eine Welt W2 zu plädieren. Mehr Optionen sind deswegen wünschenswerter, weil wir dann sicher sein können, dass die gewählte Option φ auch am ehesten den Wünschen und Präferenzen des Individuums entspricht. Raz sieht den Wert der Freiheit darin, dass sich das Resultat einer Handlung dadurch, dass sie gewählt wird, verändert. Der Wert des Ergebnisses einer Handlungsoption ist ihm zu Folge davon abhängig, dass sie vom Individuum selbst gewählt wird und nicht von außen diktiert. Eine freiwillig getätigte Handlung sei mehr wert als dieselbe Handlung, wenn erzwungen wird. Raz verweist dabei auf ein einleuchtendes Beispiel: In mittelalterlichen Gesellschaften beruhten die meisten Eheschließungen auf sozialem, ökonomischem oder gar rechtlichem Zwang. Der Übergang zu einer Gesellschaft, in der Zwangsehen verpönt und gesetzlich verboten sind, erhöht nicht nur die Freiheit der Individuen in Bezug auf die Partnerwahl, sondern gibt der Ehe eine ganz neue Bedeutung. Eine selbst gewählte Ehe besitzt einen ungleich höheren Wert als eine aufgezwungene.28 Bei Raz’ Beispiel wird also einer bestimmten Option dadurch, dass sie frei gewählt wird, ein zusätzlicher Wert hinzugefügt. Dementgegen können aber auch Beispiele für die entgegengesetzte These gefunden werden. Wenn das Resultat einer Handlung nicht unseren Wünschen entspricht, dann ist u.a. auch die Enttäuschung darüber meist grösser. Wenn sich bspw. eine Person dazu entscheidet, sich nicht gegen Diebstahl zu versichern obwohl sie es sich leisten kann, dann wird sie diese Entscheidung ungemein mehr bereuen, wenn ihr Fahrrad gestohlen wird, als wenn sie eine solche Versicherung von vornherein nie hätte abschließen können, weil ihr die Mittel dazu fehlten.29 Die Alltagserfahrung deutet an, dass es viele Personen gibt, die mit Freiheiten schlecht umgehen können. Sie fühlen sich dadurch überfordert, dass sie für ein Resultat 28 Vgl. Raz, J. 1986, S. 392 f. Er argumentiert nicht eigentlich für einen unabhängigen Wert der Freiheit. Vielmehr will er zeigen, dass eine freie Entscheidung den Wertcharakter der Konsequenz aus der Handlung beeinflusst. 29 Dies erklärt darüber hinaus auch, weshalb man sich in Risiko-Situationen gerne an bestimmte Handlungsregeln hält. Man entscheidet sich zu einem bestimmten Handlungsmuster, nach einer bestimmten Maxime: z.B. „keine Versicherungen abschließen“ und hält an dieser Maxime in ähnlichen Situationen fest, weil man so die einzelne Handlung nicht kritisieren muss, sondern nur die Zweckmäßigkeit der Maxime (in Bezug auf alle Handlungen), die wiederum nicht vom Misserfolg der einzelnen Handlung abhängig ist.
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Kapitel IX: Liberale Bevormundung
selbst verantwortlich sind und präferieren deswegen u.U. einen Zustand, in dem sie weniger Freiheiten besitzen, damit sie bspw. nichts bereuen müssen. Sie auferlegen sich gerne selbst Regeln und berauben sich freiwillig gewisser Optionen. Es mag sein, wie dies am Beispiel der Abschaffung von Zwangsehen gezeigt werden kann, dass bestimmte frei gewählte Handlungen wertvoller sind als dieselben Entscheidungen aus Zwang. Allerdings soll die Beurteilung darüber, dem Individuum obliegen. Von der subjektiven Bewertung des Individuums kann somit nicht auf einen intrinsischen Wert der freien Handlung geschlossen werden. (b) Instrumenteller Wert Es sollen somit diejenigen liberalen Ansätze diskutiert werden, welche einen Wert der Freiheit in deren Nützlichkeit sehen.30 Die gängigste jener Argumentationen geht von der Überzeugung aus, dass ein Individuum selbst am besten weiß, welche Handlung seiner eigenen Wohlfahrt dienlich ist und es diese Handlung dann auch ausführt.31 Wenn ein Individuum frei ist, dasjenige zu tun, was es will, dann befördert es i.d.R. die eigene Wohlfahrt. Die Gesamtwohlfahrt aller Individuen wird entsprechend dadurch gesteigert, dass die Individuen frei sind (Fremdschädigungen sind hierbei ausgenommen). Wenn also für das Individuum mehr Optionen bestehen, dann ist das Resultat der Wahl der Optionen mindestens gleich gut (die Wohlfahrt ist gleich groß), wie in einer Situation, in der eine spezifische Handlung dem Individuum vorgeschrieben wird oder die Auswahl der Optionen verkleinert wird.32 Aufgrund der instrumentellen Bewertung der Freiheit besteht u.a. die Möglichkeit, aus der Warte einer sog. „präferenzutilitaristischen“ Theorie für politische und persönliche Freiheiten zu argumentieren. Bei solchen Theorien wird die Wohlfahrt oder der Nutzen als Wunsch- oder Präferenzbefriedigung gedeutet. Die Idee besteht darin, die Garantie grundlegender Freiheiten und Rechte von Individuen deshalb als erstrebenswert anzusehen, da die freien Entscheidungen den Gesamtnutzen am ehesten steigern. Prinzipiell werden gemäß der These durch freie Entscheidungen die Präferenzen einer Person am besten befriedigt. Das Argument geht von folgenden drei Prämissen aus:
30 Dieses Argument wird prominenter Weise in Mills Werk On Liberty ausformuliert Mill, J. S. (2009): On Liberty, orig. 1859, Stuttgart: Reclam, Kap. 2. 31 Vgl. u.a. Hardin, R. 1986, S. 51. 32 Vgl. zum Ganzen Young, R. 1982, S. 37 f.
2. Paternalismus zur Freiheitsvergrößerung P1: P2: P3:
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Der Nutzen einer Handlung ist der moralisch entscheidende Wert für die Beurteilung des Resultats der Handlung. Der Nutzen besteht in der Erfüllung von Präferenzen. Das Individuum versucht stets, seine Präferenzen bestmöglich zu befriedigen.
Betrachtet werden sowohl individuelle Entscheidungssituationen als auch kollektive Handlungen, in denen mehrere Akteurinnen miteinander interagieren. Letzteres ist vor allem für die Wirtschaftswissenschaften interessant. In der sog. „General Equilibrium Theory“ wird aufgezeigt, dass (unter gegebenen Umständen einer vollkommenen Konkurrenz) eine dezentralisierte Entscheidung unter den Individuen die Präferenzen aller Beteiligten am besten befriedigt. Bereits Adam Smith beobachtet diesen Zusammenhang und argumentiert für die Freiheit der Individuen in einem Markt, da eine „unsichtbare Hand“ die individuellen Entscheidungen optimal koordiniert, so dass für alle der größtmögliche Nutzen resultiert.33 So gesehen impliziert eine utilitaristische Forderung nach der Maximierung des Nutzens unter gewissen Annahmen auch die Forderung nach Freiheit. Sie ist deshalb zu gewähren, weil ein Individuum selbst die Kompetenz besitzt, die beste Möglichkeit von vielen zu wählen. Eine Erhöhung der Anzahl der Optionen erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass das Resultat einer Handlung besser ist. Freiheit besitzt also einen instrumentellen Wert. Die erste Prämisse P1 ist für Nicht-Utilitaristinnen aber grundsätzlich streitbar. Ein Individuum kann durch seine Handlungen unterschiedlichen Werten gerecht werden. Z.B. kann sich eine Person entscheiden, seine Freundin eher nicht zu belügen (weil dies für sie ein wertvolles moralisches Prinzip darstellt), obwohl sie, wenn sie die Wahrheit sagt, einen Streit mit der Freundin in Kauf nimmt, was nicht ihren Präferenzen entspricht. Individuen verfolgen mit ihren Handlungen unterschiedliche Ziele. Nutzen (verstanden als Präferenzbefriedigung) stellt nur einen neben vielen individuellen und kollektiven Werten dar. Aufgrund der Vielzahl unterschiedlicher oder sogar konträrer Werte liegt es auf der Hand, dass keine „wertmonistische“ Prämisse P1 vorausgesetzt werden sollte. Die Annahme eines alleinigen objektiven Wertes des Nutzens, nach dem sich alle Resultate von Handlungen bewerten lassen, ist sehr restriktiv. Aber unabhängig von der Frage, ob Moral darin bestehen soll, Wohlfahrt oder Nutzen zu fördern, können auch die zwei letzteren Prämissen P2 und P3 kritisiert werden. Zum einen ist die zweite Prämisse P2 höchst zweifelhaft. Freie, wohlinformierte und autonome Entscheidungen von Individuen führen, wie die Erfahrung zeigt, oft zu schlechten Resultaten (aus einer Beobachterperspektive und manchmal auch aus der Perspektive der Akteurin selbst). Es ist nicht notwendigerweise der Fall, dass Individuen durch freie Entscheidungen stets ihren 33
Vgl. Smith, A. (2011): The Wealth of Nations, orig. 1776, Skinner, A. (ed.), London: Penguin Books, IX, Kap. 2, § 9.
192
Kapitel IX: Liberale Bevormundung
Nutzen fördern.34 Freie Entscheidungen können eine Vielzahl unterschiedlicher Werte verfolgen, die weder das Glück befördern noch die Wohlfahrt erhöhen und die somit nicht Teil des Nutzens darstellen müssen. In gewisser Weise leistet die Begründung des moralischen Wertes der Autonomie durch die instrumentelle Nützlichkeit, dem liberalen Anliegen einen „Bärendienst“. Es ist ein Einfaches, zu zeigen, dass viele Handlungen von Individuen nicht deren Nutzen dienen. In all diesen Fällen kann mit derselben utilitaristischen Begründung eine Freiheitseinschränkung begründet werden. Zum anderen ist es zwar argumentativ möglich, den Begriff des Nutzens (in einer Theorie des Präferenzutilitarismus jenen der Präferenz) so weit auszudehnen, dass die Annahme P3 immer zutrifft, allerdings verliert die Aussage dadurch an Bedeutung, weil sie nicht falsifizierbar ist. Dies kann wiederum am obigen Beispiel erläutert werden. Man könnte behaupten es entsteht für die ehrliche Freundin ein Nutzen, wenn sie nicht lügt. Es wird hier also vorausgesetzt, dass ein Individuum immer seine eigenen Präferenzen befriedigt. Vermeintlich abweichendes Verhalten wird wiederum als Präferenzbefriedigung gedeutet, weil die Person sich dazu entschieden hat. Somit dient jedes Verhalten einer Person ihrem eigenen Nutzen, weil sie eine Präferenzbefriedigung darstellt. So gesehen, trifft die Annahme P3 zwar immer zu, sie enthält aber keinen Informationsgehalt. Wenn z.B. eine (mündige und urteilsfähige) Person auf die Idee kommt, einen Teller Dreck zu essen, müsste ein solcher Ansatz annehmen, dass es dem Individuum einen Nutzen bringt und dass es deshalb wertvoll ist, dass die Person einen Teller Dreck isst. Es gibt m.E. gute Gründe, dafür zu argumentieren, dass diese Person nicht an ihrem Handeln gehindert werden sollte; dies jenseits eines instrumentellen Wertes der Handlung. Allerdings ist die Begründung der Freiheit aufgrund eines Nutzens der Handlung in diesem Beispiel eher kontraintuitiv. 2.2 Diskussion Ein Wert der Freiheit, sowohl instrumenteller als auch intrinsischer Natur, wird also nicht vorausgesetzt. Somit ist die Bevormundung des Individuums zur Freiheitsvergrößerung nicht hinreichend begründet. Wird nun kein Wert der Freiheit angenommen, ergeben sich daraus zwei Konsequenzen. Erstens kann keine „Rechtsgüterabwägung“ im wortwörtlichen Sinn vorgenommen werden. Die Autonomie der Individuen kann nicht mit anderen Rechtsgütern verglichen werden, um zu entscheiden, welches Gut das „größere Gewicht“ besitzt. Eine solche Vorgehensweise ist nur schon aufgrund der Ver-
34
Vgl. Enderlein, W. 1996, S. 11; vgl. auch Gutmann, T. 2006, S. 199 ff.
2. Paternalismus zur Freiheitsvergrößerung
193
gleichbarkeit („Kommensurabilität“) unterschiedlicher Werte problematisch.35 Z.B. wird in der Debatte über die Legitimität der Sterbehilfe oftmals die philosophisch höchst problematische Frage gestellt, was denn höher gewichtet werden soll: die Autonomie einer sterbewilligenden Person oder der „Wert des Lebens“. Selbst wenn man annehmen würde, dass die Autonomie einen Wert besitzt, führte die Frage in ein Dilemma. Ein Vergleich zweier solcher Werte führt in einen unauflösbaren Streit über deren Gewichtung. Die moralischen Fragen in Bezug auf die Legitimität der Unveräußerlichkeit bestimmter Rechte sollen deshalb nicht durch Rechtsgüterabwägung (wörtlich verstanden) beantwortet werden. Freiheit und Autonomie sind keine Werte, die mit anderen Werten abgewogen oder gegen andere Werte ausgespielt werden können. Die Einschränkung der individuellen Freiheit kann nur entweder mit Bezug auf die Freiheiten anderer Individuen gerechtfertigt sein oder indem gezeigt wird, dass ein Individuum nicht zu einer freien Entscheidung fähig ist. Zweitens wird Autonomie nicht in einem aggregativen Sinn verstanden. Freiheit lässt sich nicht „summieren“. Man kann aus zwei Gründen nicht bestimmte Freiheiten für ein Mehr an anderen Freiheiten austauschen. Einerseits ist unklar, welcher Wert einer bestimmten Freiheit zukommt. Es ist nicht der Fall, dass die Anzahl der Optionen den ausschlaggebenden Faktor zur Bemessung der Größe Freiheit darstellen kann.36 Wenn aber die bloße Anzahl der Entscheidungen nicht ausschlaggebend für die Größe der Freiheit sein kann, muss eine Gewichtung nach der Relevanz bestimmter Entscheidungsfreiheiten vorgenommen werden. Eine solche Gewichtung kann so gesehen nicht dem Individuum obliegen, da ja die individuelle Entscheidung mit Verweis auf zukünftige Optionen beschränkt werden soll. Die Gewichtung der Relevanz freier Entscheidungen (sollte sie überhaupt möglich sein) wäre somit nichts anderes als ein Bezug zu einer Idee eines objektiven Wertes bestimmter Freiheiten. Andererseits besteht die autonome Entscheidung eines Individuums häufig gerade darin, sich selbst zu verpflichten bzw. die eigenen Freiheiten aufzugeben, um dadurch einer bestimmten Option einen größeren (subjektiven) Wert zuzuschreiben.37 So ist bspw. die Partnerwahl dadurch charakterisiert, dass eine Vielzahl zukünftiger Möglichkeiten ausgeschlossen wird. Es mag gute persönliche Gründe gegen eine monogame Partnerschaft geben, allerdings ist eine Person, die sich bewusst für eine bestimmte Partnerin oder einen bestimmten Partner entscheidet, nicht mehr in ihrer Autonomie eingeschränkt als ein 35
Siehe hierzu Chang, R. (1997): “Introduction”, in: Chang, R. (Hrsg.): Incommensurability, Incomparability, and Practical Reason, Cambridge, MA: Harvard University Press, S. 1–34. 36 Ein abgeändertes Beispiel aus Enderlein, W. 1996, S. 54. 37 Zum Ganzen Gutmann, T. 2006, S. 205 f.
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Kapitel IX: Liberale Bevormundung
Single oder eine polygame Person. Wenn eine wichtige Eigenschaft freier Entscheidungen darin besteht, dass zukünftige Optionen durch die Entscheidung eines Individuums ausgeschlossen werden können, dann führt die Theorie der Freiheitsmaximierung zum falschen Resultat. Sie rechtfertigt dort Einschränkungen von autonomen Entscheidungen, wo eine Minimierung der Freiheiten gerade erwünscht ist. Es stellt sich die Frage, ob diese Konsequenz im Sinne der Theorie ist. Die Annahme eines Wertes der Freiheit ist zudem ebenso anfällig auf die oben genannten Einwände gegen die Begründung unveräußerlicher Rechte durch Verweis auf objektive Werte. Es besteht somit auch das Problem, dass die Autonomie bloß einen Wert unter vielen Werten darstellt. So könnte die Autonomie durchaus auch mit anderen objektiven Werten abgewogen und durch solche ausgehebelt werden. Insofern ist diese Begründung aus liberaler Perspektive problematisch. Denn zur Verteidigung einer liberalen Theorie müssten weitere Gründe angeführt werden, weshalb die Freiheiten eines Individuums einen übergeordneten Wert darstellen. Sowohl die intrinsische als auch die instrumentelle Begründung des Wertes der Freiheit sind deshalb überflüssig, weil man aus liberaler Sicht nicht davon ausgehen muss, dass Freiheit einen Wert besitzt, um für die Wahrung und den Schutz der autonomen Entscheidungen der Individuen zu argumentieren. Es kann ebenso auch ein sog. „werteskeptischer“ Ansatz vertreten werden. Denn solange ein liberaler Ansatz auf der Prämisse eines Wertes der Freiheit beruht, kann dem Ansatz eine andere Wertkonzeption gegenübergestellt werden und es entsteht ein unauflösbarer Streit auf der Ebene der metaphysischen Grundannahmen. Um einen solchen Diskurs zu vermeiden, muss eine liberale Theorie eben versuchen, die Einschränkungen der individuellen Freiheiten ohne Rückgriff auf einen Wert der Autonomie zu begründen.38 Die Annahme, dass Freiheit keinen Wert darstellt, hat somit zur Folge, dass erstens Freiheit nicht gegen andere Werte abgewogen werden kann. Zweitens darf eine freie Entscheidung nicht durch Verweis auf ein Mehr an Freiheiten eingeschränkt werden.
38 Vgl. Klug, U. (1990): „Perspektiven einer skeptischen und kritischen Rechtsphilosophie“, in: Denninger, E./Hinz, M. O./Mayer-Tasch, P. C. et al. (Hrsg.): Kritik und Vertrauen, FS P. Schneider, Frankfurt a. M.: Anton Hain.
Kapitel X
Zwang und Schädigung Dritter Liberale Argumente zur Begründung paternalistischer Einschränkungen sind, wie gezeigt wurde, nicht unkontrovers. Wenn man zeigen will, dass man individuelle Entscheidungen missachten darf, um die zukünftige Freiheit zu vergrößern, muss man einen Wert der Freiheit als otologische Annahme voraussetzen. Es muss aber nicht notwendigerweise angenommen werden, dass unveräußerliche Rechte bevormundend sind. Es gibt auch andere Gründe, die die These unterstützen, dass die Veräußerungsbefugnis eines Individuums zu beschränken ist. In diesem Kapitel werden andere Argumente vorgestellt, anhand welcher die Unveräußerlichkeit bestimmter Rechte aus einer liberalen Perspektive verteidigt werden kann. Sie gehen jeweils nicht davon aus, dass Freiheit einen Wert besitzt. Zunächst wird die weit verbreitete Idee erläutert, dass freie Entscheidungen unter Zwang keine normative Geltung entfalten können und deshalb erzwungene Veräußerungsentscheidungen verhindert werden dürfen. Danach werden zwei originelle liberale Ansätze zur Begründung unveräußerlicher Rechte erläutert, die in der Veräußerung bestimmter Rechte eine Schädigung von Drittpersonen identifizieren.
1. Zwang, Nötigung, Ausbeutung Der Verzicht oder Transfer unveräußerlicher Rechte kann mit Zwang verbunden sein. Ein Einverständnis zur Aufgabe oder zum Transfer eines Rechts unter Zwang besitzt keine moralische Gültigkeit und kann somit keine Erlaubnis für die Verletzung des Rechts begründen. Eine Person, welche aufgrund einer Zwangslage in einen Transfer einwilligt, tut dies nur unter der Befürchtung viel schlimmerer Konsequenzen bei Nicht-Einwilligung. Unveräußerliche Rechte können somit dadurch begründet sein, dass Verträge, die typischerweise unter solch „nicht-idealen Bedingungen“ zustande kommen, verunmöglicht werden. Das Argument des Zwangs kommt in mannigfaltiger Weise vor. Es beschreibt unterschiedliche Formen von Zwangssituationen, in denen sich Rechtsträgerinnen befinden können. Z.B. wird das Verbot der Tötung auf Verlangen oftmals mit dem Verweis auf mögliche Nötigungs- und Zwangssituationen gerechtfertigt. Man will mittels Verbots eine Situation vermeiden, in der
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Kapitel X: Zwang und Schädigung Dritter
eine Person zur Einwilligung in die Selbsttötung gezwungen wird. Zwang kann aber auch diffusere Formen annehmen. So wird bspw. In der Sterbehilfedebatte damit argumentiert, dass durch eine Erlaubnis derselben ein „sozialer Druck“ auf alte und schwerkranke Personen entstehen kann, so dass sie zur Einwilligung in die Sterbehilfe gezwungen werden.1 Gerade mit Blick auf ein öffentliches Krankenversicherungssystem können ältere Menschen auch als Kostenfaktor gesehen werden, indem sie relative Kosten für andere Individuen verursachen, je älter sie werden. Sobald nun Sterbehilfe erlaubt würde, so die Befürchtung, könnte die Erlaubnis, davon Gebrauch zu machen, zu einer Form der Pflicht verkommen, um Kosten zu sparen. Ebenso kann mit der Idee von „ökonomischem Zwang“ eine Einschränkung der Vertragsfreiheit, im Sinne einer Unveräußerlichkeit, begründet werden. So können bspw. Leihmutterschaftsverträge als ungültig erklärt werden, weil wir davon ausgehen, dass eine Frau nur unter starken ökonomischen Zwängen einem solchen Vertrag zustimmen würde. Eine mögliche Begründung der Unveräußerlichkeit von Rechten kann somit ganz unterschiedlich auf eine Idee des Zwanges Bezug nehmen. Um die Frage nach der rechtfertigenden Kraft der Gegebenheit von Zwang in Bezug auf unveräußerliche Rechte beantworten zu können, ist es aber notwendig, zuerst zu erläutern, was von einem Konzept des Zwangs erwartet wird bzw. welche normative Arbeit das Konzept leisten soll. Dadurch ergeben sich Einschränkungen für die möglichen Bedingungen des Begriffs. Die folgende Auslegeordnung versucht Zwang als Überbegriff festzulegen. Es geht hier also nicht darum, bestimmte Formen von Zwang aus der Analyse auszuschließen, sondern ein möglichst breites Konzept zu vertreten. Es muss zunächst eine wichtige Unterscheidung getroffen werden. Einerseits kann Zwang eine an sich moralisch verwerfliche und rechtlich verbotene Handlung sein. Allein die Tatsache, dass jemand eine Person unter Druck setzt, sie bedroht oder erpresst, kann als falsche Handlung gewertet werden. Andererseits aber ist Zwang eine Gegebenheit, bei der die Einwilligung einer Person keine Gültigkeit entfalten kann bzw. soll. Eine Person, welche sich zwar freiwillig, im vollen Bewusstsein über die Konsequenzen, aber unter Zwang für eine Handlung entscheidet, ist einerseits nicht verantwortlich für ihr Handeln, andererseits kann das Resultat der Handlung moralisch oder rechtlich nicht durch die Einwilligung gerechtfertigt sein. Es müssen also drei mögliche Bedeutungsdimensionen unterschieden werden:
1 Vgl. Kiener, R. (2010): „Organisierte Suizidhilfe zwischen Selbstbestimmungsrecht und staatlichen Schutzpflichten“, Zeitschrift für Schweizer Recht I, S. 283. Das Argument von Kiener bezieht sich auf die Beihilfe zum Suizid. Es lässt sich aber ohne weiteres auf die Debatte über rechtliche Einschränkung der Sterbehilfe anwenden.
1. Zwang, Nötigung, Ausbeutung (1) (2) (3)
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Jemanden. zu etwas zu zwingen, kann eine moralisch verwerfliche Handlung sein. Eine gezwungene Person ist für das Resultat der Handlung nicht verantwortlich.2 Eine Entscheidung unter Zwang ist nicht autonom und die Einwilligung rechtfertigt nicht das Resultat.
Die letztere Dimension von Zwang ist hier von spezifischem Interesse. Zwang hat einen Einfluss auf die rechtfertigende Wirkung von Einwilligung in eine Veräußerung eines Rechts (3). Der Fokus ist also nicht akteursbezogen (auf die zwingende Person oder Instanz). Es geht nicht darum zu zeigen, dass (1) ein Erzwingen eines Verhaltens eine verwerfliche Handlung ist. Dieses normative Urteil muss ein Begriff von Zwang für die vorliegende Abhandlung somit nicht ermöglichen. Der Begriff von Zwang muss es aber erlauben, zu untersuchen, ob der Veräußerungswille einer Person in gewisser Weise korrumpiert ist, so dass die Veräußerungsentscheidung keine rechtfertigende Kraft für die Missachtung oder die Verletzung des Rechts entfaltet. Die moralische Ebene der Verantwortung (2) ist ebenso nicht von Belang. In Kap. III wurde bereits ausgeschlossen, dass es sich bei der Restriktion der Rechtsträgerin durch Unveräußerlichkeit um eine Pflicht handelt.3 Bei einer Veräußerung eines unveräußerlichen Rechts liegt somit keine Pflichtverletzung vor. Deshalb ist ein Vorwurf gegenüber der zu einer Handlung gezwungenen Rechtsträgerin im Falle einer Veräußerung ohnehin nicht gerechtfertigt; ob sie nun dafür verantwortlich gemacht werden kann oder nicht. Ist eine Veräußerungshandlung unter Zwang herbeigeführt worden, dann ist sie nicht freiwillig und soll nicht rechtswirksam sein. Das Recht kann so gesehen gar nie unter Zwang veräußert werden und die Verletzung des Rechts ist nicht gerechtfertigt. Die These, die hier untersucht werden muss, besteht also darin, dass unveräußerliche Rechte dem Schutz des Individuums vor Veräußerungen aus Zwang dienen sollen. Unveräußerlich sind Rechte demnach genau dann, wenn deren Veräußerung nur aus Zwang geschehen würde. Anders ausgedrückt: Bei gewissen Rechten können wir uns nicht vorstellen, dass Personen diese Rechte jemals freiwillig aufgeben würden, ohne dazu gezwungen zu sein. Wir vermuten einen Zusammenhang zwischen der Veräußerung und dem Vorliegen von Zwang. Dieses Argument zur Einschränkung der Befugnisse einer Rechtsträgerin ist mit einer „Theorie autonomer Entscheidungen“ vereinbar. Ein Individuum handelt unter Zwang nicht autonom und das Resultat der Handlungen steht nicht mit seinen subjektiven Interessen im Einklang. Deshalb lässt ein Begriff des Rechts gemäß der Theorie autonomer Entscheidungen eine Einschränkung der Veräußerungsbefugnis zu. 2 Vgl. die ersten beiden Funktionen des Begriffs ‚Zwang‘ in Berman, M. N. (2002): „The Normative Function of Coercion Claims“, Legal Theory 8, S. 48. 3 Vgl. Kap. III, 3.3.
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Kapitel X: Zwang und Schädigung Dritter
Die Vereinbarkeit ergibt sich aufgrund des Autonomie-Erfordernisses für mögliche Veräußerungshandlungen. Die Veräußerungsbefugnis ist nicht gegeben, wenn eine Person unter Zwang steht. Unveräußerliche Rechte sind so gesehen rechtstheoretisch möglich und können durch Verweis auf Zwang begründet sein. Die Einschränkung ist zudem nicht rechtsmoralistisch. Es wird nicht notwendig auf objektive Werte abgestützt. Ebenso ist die Einschränkung nicht hart paternalistisch, da nicht auf objektive Interessen des Individuums Bezug genommen wird, um sie zu rechtfertigen. 1.1 Der Begriff des Zwangs In der Folge wird eine Auslegung des Begriffs ‚Zwang‘ vorgeschlagen und gezeigt, weshalb sie sinnvoll ist, um das Argument des Zwangs für die Rechtfertigung unveräußerlicher Rechte zu erläutern: Z:
Jemanden zu zwingen, ist eine Beeinflussung der relativen Kosten von Handlungsoptionen, die dazu führt, dass die handelnde Person nicht gemäß ihren subjektiven Interessen handelt und somit nicht autonom ist.
Wenn bspw. eine Person mit der Pistole bedroht wird, um ihr die Geldbörse abzunehmen, dann liegt eine Zwangssituation vor. Die Handlungsalternative, die darin besteht, die Geldbörse nicht auszuhändigen, wird von der zwingenden Person relativ teurer gemacht. Der Preis wird um das Leben, der beraubten Person erhöht. Aufgrund dieser Beeinflussung der Kosten übt sie eine Handlung aus, die nicht in ihrem subjektiven Interesse liegt. Folglich übergibt sie die Geldbörse. Da diese Interpretation aber zunächst sehr eigentümlich scheint, sind einige Erläuterungen notwendig. (1) Zwang ist so gesehen kein normatives, sondern ein deskriptives Konzept. Es wird nicht bereits als Prämisse vorausgesetzt, dass Zwang an sich schlecht ist.4 Denn es soll hier keine normative Behauptung verteidigt werden, dass das Phänomen Zwang möglichst verhindert werden soll. Der Fokus liegt ausschließlich auf der Beeinflussung der Möglichkeit einer gültigen Einwilligung. Zwang muss also nicht „deontologisch“ (als verbotene Handlung) aufgefasst werden. Insofern braucht der verwendete Begriff nicht in dem Sinne „normativ adäquat“ zu sein, dass es keine Handlungen geben kann, die vom Begriff erfasst sind, die jedoch moralisch unbedenklich sind. Es wird hier stipulativ ein möglichst breites Konzept vorgeschlagen, um verschiedene Sachverhalte erfassen zu können. Es ist gut möglich, dass das festgelegte Konzept des Zwangs auch in einem deskriptiven Sinn nicht adäquat ist bzw. dass es bestimmte Situationen umfasst, die in unserer Alltagssprache und 4 Vgl. dazu die Definition von Wertheimer, A. (1987): Coercion, Princeton, NJ: Princeton University Press, S. 7. Ein solcher Ansatz geht nicht davon aus, dass im Begriff des Zwangs bereits ein substantielles moralisches Urteil enthalten ist.
1. Zwang, Nötigung, Ausbeutung
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v.a. in der Rechtssprache nicht als Zwang bezeichnet werden. In diesem Fall ist das Konzept zwar zu breit gefasst. Dies stellt allerdings für die Argumentation kein Problem dar. (2) Zwang wird gerne in absoluten Termini beschrieben. ‚Absolut‘ ist Zwang aber nur dann, wenn einer Person alle Alternativen zur erzwungenen Handlung verunmöglicht werden. Dementgegen kann Zwang aber auch „relativ“ gegeben sein, wenn die Kosten von alternativen Möglichkeiten erhöht bzw. verändert werden. Selbst beim oben erwähnten Fall der Drohung „Geld oder Leben“, liegt ein relativer Zwang vor, weil die Kosten der einen Option (die Geldbörse zu behalten) um das Leben erhöht werden. Nach wie vor besteht jedoch die hypothetische Möglichkeit dem Zwang zu widerstehen und die bedrohte Person kann sich immer noch „frei“ dazu entscheiden.5 Selbst bei so klaren Bedrohungsszenarien liegt also bloß relativer Zwang vor. Zudem wird beim Beispiel ersichtlich, dass die Anzahl möglicher Handlungsalternativen nicht zwangsläufig verringert werden muss. Meistens verringert sich die Menge aller möglichen Handlungen, die eine gezwungene Person ausführen könnte, nicht. Was geschieht, ist, dass die Alternativen mit Hindernissen belegt werden, so dass es sich bei ihnen nicht mehr um realistische Optionen handeln kann. (3) Wenn eine Person zu etwas gezwungen ist, dann handelt sie nicht autonom. Der hier verwendete Zwangsbegriff nimmt auf die oben gemachte Definition von Autonomie AN Bezug.6 Die Entscheidung einer Person kann zwar frei sein, möglicherweise aber nicht autonom. Dies ist dann der Fall, wenn sie nicht mit den subjektiven Interessen im Einklang ist. Die gezwungene Person würde sich (unter „normalen“ Umständen, in denen sie nicht zu entsprechender Handlung gezwungen ist) niemals für die erzwungene Handlung entscheiden. Durch Zwang wird eine Person also an der Verfolgung ihres subjektiven Interesses gehindert.7
5
Vgl. Steiner, H. (1994), S. 10 ff. Kap. VI, 1.2. Dieser Begriff besitzt einige methodische Vorteile. Erstens: Der Begriff der Autonomie wird als Abgrenzung zu Nicht-Autonomie definiert. Es werden aber keine hinreichenden Bedingungen formuliert. Das Konzept ist breit gefasst und kann unterschiedliche Formen annehmen. Zweitens: Der Begriff wird dennoch „positiv bestimmt“ (ohne dass er aber auf einen substantiellen Wert der Autonomie Bezug nimmt). Autonomie ist durch die Entsprechung einer Entscheidung mit dem subjektiven Interesse einer Person gegeben und nicht bloß als die Abwesenheit von Zwang oder Urteilsfähigkeit bestimmt. Würde ‚Autonomie‘ „negativ bestimmt“ werden (als Abwesenheit von Zwang oder Urteilsfähigkeit), käme damit das Problem einher, dass die Definition einer Unrteilsunfähigkeit zirkulär wäre. Drittens: Autonomie ist so gesehen kein normatives, sondern ein deskriptives Konzept. Es beschreibt formal, wie eine Handlung zustande kommt und beinhaltet für sich genommen kein moralisches Urteil über die Handlung und dessen Resultat. 7 Vgl. Amelung, K. 1999, S. 188. 6
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Kapitel X: Zwang und Schädigung Dritter
Durch die Bedingung der Nicht-Autonomie werden somit Fälle ausgeschlossen, in denen zwar die relativen Kosten von Handlungsalternativen beeinflusst oder verändert sind, die betroffene Person aber die vermeintlich erzwungene Handlung ohnehin hätte ausführen wollen. Wenn die im obigen Beispiel bedrohte Person von sich aus die Absicht hätte, die Geldbörse zu verschenken, läge also kein Zwang vor. (4) Das entscheidende Kriterium für Zwang ist also eine Beeinflussung der relativen Kosten der Handlungsoptionen. Weil dies sehr breit gefasst ist, können wir uns eine Vielzahl von Handlungen vorstellen, die unter den Begriff des Zwanges fallen. Da zudem Zwang als ein deskriptives Konzept beschrieben wird, sind auch bestimmte Fälle möglich, die aufgrund dieser Bestimmung unter Zwang fallen, bei denen wir aber nicht davon ausgehen würden, dass sie ein moralisches Problem darstellen. 1.2 Formen von Zwang Eine Begriffsbestimmung von Zwang ist ein philosophisch und nicht zuletzt auch ein rechtlich heikles Unterfangen. Sobald notwendige und hinreichende Bedingungen für den Begriff bestimmt werden, sind dadurch bestimmte Formen von Zwang ausgeschlossen. Das oben vorgeschlagene deskriptive Konzept der nicht-autonomen Handlung aufgrund einer Veränderung der relativen Kosten der Handlungsoptionen ist mit Sicherheit nicht hinreichend. Wie sich in der Folge zudem zeigen wird, betrifft es auch Fälle die intuitiv keinen Zwang darstellen. Eine konzeptuelle Breite ist aber deshalb sinnvoll, weil das Argument der Begründung unveräußerlicher Rechte bei all den erfassten Arten von Zwang dieselbe Form aufweist. Die Problematik der Begriffsbestimmung kann anhand dreier Beispiele illustriert werden. Der wohl nachvollziehbarste Fall einer Zwangssituation kann im folgenden Beispiel gesehen werden: Z1:
Eine Vorgesetzte droht ihrem Angestellten zu kündigen, wenn er mit ihr keinen Geschlechtsverkehr hat.
Hier wird der Wert der möglichen Handlungen durch Zwang verringert.8 Keinen Geschlechtsverkehr zu haben, wird durch den Verlust der Anstellung relativ abgewertet. Die Einwilligung des Arbeitnehmers in sexuelle Handlungen – so die Annahme in diesem Beispiel – wäre nicht autonom. Es handelt sich hierbei um eine Form der „Drohung“ und somit um einen paradigmatischen Fall von Zwang. Folgende Situation wäre jedoch ebenso durch die erläuterten Eigenschaften von Zwang erfasst: 8 Nozick geht davon aus, dass eine Verringerung des Wertes der Optionen im Vergleich zu einem „normalen Verlauf der Dinge“ notwendig vorliegen muss. Siehe Nozick, R. (1969): „Coercion“, in: Morgenbesser, S./Suppes, P./White, M. (Hrsg.): Philosophy, Science and Method: Essays in Honour of Ernest Nagel, New York: St. Martin’s Press, S. 447.
1. Zwang, Nötigung, Ausbeutung Z2:
201
Eine Regisseurin macht einem ambitionierten Schauspielschüler das Angebot, dass er eine Rolle in ihrem Film bekommt, sofern er mit ihr Geschlechtsverkehr hat.
Hier wird der Wert der möglichen Handlungen erhöht. Intuitiv, so scheint es, liegt hier keine Zwangssituation vor. Insofern besitzt die Idee der Bedingung einer Wertverringerung, eine gewisse Plausibilität. Der ambitionierte Schauspielschüler erhält eine Chance. Sie ist zwar an ein sog. „unmoralisches Angebot“ gekoppelt, allerdings verbessert sie seine Situation. Aufgrund der oben gemachten Bedingung der Veränderung der relativen Kosten von Handlungsoptionen ist dieser Fall nun aber ebenso als Zwangssituation zu sehen. Das Konzept scheint so gesehen also zu breit gefasst. Es umfasst auch sog. „Angebote“. Allerdings kann das Konzept so verstanden auch den folgenden Fall erfassen, der wiederum intuitiv auch als Zwangssituation zu deuten ist. Z3:
Eine Arbeitgeberin bietet einem arbeitslosen alleinerziehenden Vater an, ihm eine Stelle in seinem Betrieb zu verschaffen, sofern er mit ihr Geschlechtsverkehr hat.
Hier handelt es sich ebenso um ein Angebot, da die relativen Kosten der Optionen nicht vergrößert werden. Es ergibt sich für den alleinerziehenden Vater eine zusätzliche Möglichkeit. Dennoch würden wir sagen, er wird zum Geschlechtsverkehr gezwungen. Das Kriterium, der Verschlechterung von Handlungsoptionen scheint somit nicht notwendig für Zwang.9 Es gibt auch sog. „Zwangsangebote“, bei welchen die Kooperation für die gezwungene Person vorteilhaft ist. Das Problem im philosophischen Diskurs über Zwang ist gerade dasjenige, dass ein Begriff zwischen Fällen Z2 und Z3 nicht unterscheiden kann, ohne dass die Unterscheidung im Einzelfall zu kontraintuitiven Resultaten führt.10 Sobald definiert werden muss, wann eine Verschlechterung oder Verbesserung der Situation vorliegt, besteht ein Problem. Entweder werden die subjektiven Interessen des Individuums berücksichtigt. In diesem Fall besteht das Problem, dass gewisse Präferenzen von Individuen „expansiv“ sind. Eine sehr eitle oder sehr ehrgeizige Person nimmt u.U. Veränderungen der relativen Kosten eher als Verschlechterung wahr als eine 9 Vgl. z.B. Zimmerman, D. (1981): „Coercive Wage Offers“, Philosophy & Public Affairs 10 (2), S. 131 ff.; als Reaktion darauf siehe Alexander, L. A. (1983): „Zimmerman on Coercive Wage Offers“, Philosophy & Public Affairs 12, S. 160–164; Für eine Diskussion der Möglichkeit nötigender „Angebote“ siehe bspw. Held, V. (1972): „Coercion and Coercive Offers“, in: J. R. Pennock/J. W. Chapman: Coercion, Chicago: Aldine-Atherton, S. 49–62; Stevens, R. (1988): „Coercive Offers“, Australasian Journal of Philosophy 66, S. 83–95; Swanton, C. (1989). „Robert Stevens on Offers“, Australasian Journal of Philosophy 67: 472–475. 10 Es handelt sich dabei um die Diskussion über eine sog. „moral baseline“ von bestimmten Interessen. Vgl. Anderson, S. (2011): „Coercion“, in: Zalta, E. N. (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy, http://plato.stanford.edu/entries/coercion.
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Kapitel X: Zwang und Schädigung Dritter
prinzipiell genügsame und bescheidene Person.11 Aber auch wenn sich der alleinerziehende Vater in Z3 nicht genötigt fühlen würde, zu kooperieren, würden wir intuitiv von Zwang sprechen. Oder eine Verschlechterung der Position wird durch objektive Interessen definiert. Das wäre zu sagen, dass auf der einen Seite das Bedürfnis nach einer Schauspielkarriere in Z2 objektiv kein wesentliches Interesse darstellt und deshalb kein Zwang vorliegt. Auf der anderen Seite impliziert dies, dass eine Arbeitsstelle zu besitzen, für den alleinerziehenden Vater ein objektiv wesentliches Interesse darstellt und somit eine Zwangssituation gegeben ist. Diese Wertung zwischen objektiv wertvolleren und weniger wertvollen Interessen kann hier aber nicht gewagt werden, da es dazu wie oben festgehalten eines substantiellen Werturteils bedarf.12 Sowohl für den ambitionierten Schauspielschüler in Z2 als auch für den alleinerziehenden Vater in Z3 ist die Vermeidung der angedrohten Situation existentiell. Die subjektiven Interessen beider Personen werden durch Zwang ausgenutzt, um ein bestimmtes Resultat zu erzielen. Um das Problem der Wertung zu umgehen, wird dieser Untersuchung also vorsichtshalber ein zu breites Kriterium für Zwang unterlegt. Dieses soll allerdings nicht als normatives Kriterium verstanden werden. Es bedarf einer Erörterung darüber, dass Zwang aufgrund ethischer Überlegungen problematisch ist, so dass eine Einwilligung der Rechtsträgerin in die Veräußerung eines Rechts nicht gültig sein kann. Der Begriff ‚Zwang‘, wie er hier erläutert wurde, ist zudem als eine graduelle Eigenschaft eines Sachverhalts zu verstehen, die mehr oder weniger stark ausgeprägt vorliegt. Die Frage, wann moralisch problematischer Zwang vorliegt und wann die expansiven Präferenzen einer Person ausgenutzt werden, ist Gegenstand eines gesellschaftlichen Diskurses über objektiv richtige und falsche Interessen. Diese Frage kann hier sicher nicht abschließend beantwortet werden. Es muss dabei auf die vorherrschenden moralischen Intuitionen und Überzeugungen rekurriert werden. Es zeigt sich hier, dass das Argument des Zwangs zur Begründung unveräußerlicher Rechte einer „Rekonstruktion“ der moralischen Überzeugungen bedarf, die wiederum auf ihre „Konsistenz“ mit gegebenen moralischen Überzeugungen geprüft werden müssen. Bevor diese ethische Auseinandersetzung mit dem Argument des Zwangs zur Begründung unveräußerlicher Rechte an einem Beispiel durchexerziert wird, sollen aber kurz zwei weitere Formen von Zwang beschrieben werden, die unter den hier vorgeschlagenen Begriff fallen und die zudem eine zentrale Rolle in Bezug auf die Begründung unveräußerlicher Rechte einnehmen. 11 Vgl. z.B. Arnold, D. G. (2001): „Coercion and Moral Responsibility“, American Philosophical Quarterly 38 (1), S. 61 f. 12 Siehe Kap. VI, 1.1.
1. Zwang, Nötigung, Ausbeutung
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(a) Ausbeutung Eine wichtige Eigenschaft der beiden Fälle Z2 und Z3 ist außerdem, dass die Beeinflussung der relativen Kosten nicht durch die Person verursacht wird, welche das Angebot macht. Der Schauspielschüler und der alleinerziehende Vater wurden nicht durch eine (zwingende) Person in ihre missliche Lage versetzt. Vielmehr entsteht durch äußere Umstände eine Notlage, die von einer anderen Person „schamlos“ ausgenutzt wird. Es wird also eine weitere Eigenschaft von Zwangssituationen augenscheinlich: Es ist nicht notwendig, dass Zwang durch die Nutznießerin ausgeübt wird. Die Zwangslage kann auch aufgrund äußerer Umstände bestehen. Wenn diese äußeren Umstände durch eine Person ausgenutzt werden, um sich einen Vorteil zu verschaffen, dann handelt es sich um ‚Ausbeutung‘. Diese Form von Zwang spielt eine wesentliche Rolle im Argument für die Unveräußerlichkeit von Rechten. Es besteht hierbei ein wesentlicher Unterschied zwischen der ausbeutenden und der ausgebeuteten Person in Bezug auf die „Verhandlungsmacht“. Letztere ist zur Annahme eines Angebotes gezwungen und deshalb bereit, einen zu hohen Preis zu bezahlen.13 Aufgrund gegebener Umstände sind ihre alternativen Optionen entweder gering oder sehr kostspielig. Dieser Preis widerspricht hierbei dem subjektiven Interesse des Individuums. Unter normalen Umständen wäre es nicht bereit, das Angebot zu diesen Bedingungen zu akzeptieren. Eine Veräußerungshandlung aufgrund einer Ausbeutungssituation ist nicht autonom und darf deshalb berechtigterweise verunmöglicht werden. Zwei wichtige Eigenschaften einer Ausbeutung sind zu unterscheiden.14 Erstens bilden bestimmte formale Gegebenheiten die Voraussetzung dafür, dass Ausbeutung möglich ist. Die ausgebeutete Person ist aufgrund bestimmter Umstände zur Annahme des Angebots gezwungen. Diese Umstände sind kontingenterweise gegeben und werden nicht durch die ausbeutende Person verursacht.
13 Es muss sich hierbei nicht um Geld handeln. Es kann auch eine Gegenleistung oder ein Tausch stattfinden. 14 Vgl. zum Ganzen Gutmann, T. (2007): „Zwang und Ausbeutung beim Vertragsschluss“, in: Schulze, R. (Hrsg.): New Features in Contract Law, München: Sellier European Law Publishers, S. 53 f. Im philosophischen Diskurs über den Begriff der Ausbeutung wird auch die sog. „prozedurale Unfairness“ (formale Gegebenheiten) von der „substantiellen Unfairness“ (Preisunterschied) abgegrenzt. Vgl. Zwolinski, M./Wertheimer, A. (2017): „Exploitation“, in: Zalta, E. N. (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy, https://plato.stanford.edu/entries/exploitation.
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Kapitel X: Zwang und Schädigung Dritter
Zweitens ist es für eine erfolgreiche Ausbeutungshandlung notwendig, dass ein Preisunterschied zwischen demjenigen, der die ausgebebeutete Person zahlen muss und demjenigen, den sie „normalerweise“ bezahlen würde, festgestellt werden kann.15 Es wird also auf einen objektiv richtigen Preis abgestützt. Bei dieser Idee eines „gerechten Preises“ (iustum pretium) handelt es sich um ein philosophisch anspruchsvolles Konzept. Eine Befragung der ausgebeuteten Person, welchen Preis sie normalerweise zu zahlen bereit wäre, würde nicht das richtige Resultat liefern. Sie würde wohl am liebsten gar keine Gegenleistung erbringen. Ein Vergleich zu einem handelsüblichen Marktpreis ist zudem gerade da problematisch, wo es keinen Markt gibt. Ein Markt besteht zudem aus einer Ansammlung von Einzelhandlungen. Der monetäre Wert eines Gutes ist das Resultat dieser Handlungen.16 Wenn man sich nun einen Markt vorstellt, in dem alle Teilnehmenden ausgebeutet werden, kann nur ein Marktpreis festgestellt werden, der demjenigen entspricht, den die ausgebeuteten tatsächlich bezahlen. Es existiert also kein beobachtbares Missverhältnis der Preise und dennoch ist es möglich, dass die Marktteilnehmenden ausgebeutet werden. Hingegen kann ebenso kein objektiv gerechter Preis ein angenommen werden, der sich nicht aus der Zahlungsbereitschaft der Individuen ergibt.17 Es muss also aufgrund der spezifischen Situation angenommen werden, dass der Preis, den die ausgebeutete Person bezahlt, nicht ihrem subjektiven Interesse entspricht. Somit wird das Zwangselement (die Beeinflussung der relativen Preise, die zu einer nicht-autonomen Entscheidung führt) als konstitutiv erachtet. Ausbeutung wird somit als Zwang gesehen.18 Der Begriff der Ausbeutung, wie er hier verwendet wird, ist dadurch aber weiter qualifiziert, dass äußere Umstände die Ausbeutung ermöglichen und sie nicht durch eine zwingende Person herbeigeführt werden. Es handelt sich bei einer Ausbeutung zudem um ein Angebot und nicht um eine Drohung, da die vorgeschlagene Alternative einer ausbeutenden Person, die ausgebeutete im Grunde besserstellt.
15 Wertheimer spricht von einem „Reservationspreis“, der als kontrafaktische Annahme über die Zahlungsbereitschaft der ausgebeuteten Person verstanden wird. Siehe Wertheimer, A. (1996): Exploitation, Princeton, NJ: Princeton University Press, S. 211 ff. 16 Vgl. ebd. S. 211 f. 17 Bei der Rechtsfindung in Fällen von Übervorteilung (Wucher) ist die Annahme eines bestimmten gerechten Preises notwendig. So kann die Ausbeutung an einer objektiv feststellbaren Größe, dem bezahlten Preis (oder der erbrachten Leistung), festgemacht werden und es muss im Einzelfall nicht hinreichend nachgewiesen werden, dass die Umstände beim Vertragsschluss eine Ausbeutung verursacht haben. 18 D.h. Ausbeutung wird als eine Unterform des Zwangs behandelt unabhängig davon, ob sich dadurch ein ungerechtes Missverhältnis zwischen zwei Vertragsparteien ergibt
1. Zwang, Nötigung, Ausbeutung
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(b) Sozialer Druck Eine soziale Erscheinung, welche ebenso als Zwang gesehen werden kann ist der sog. soziale Druck. Dieser kann verschiedentlich und in sehr diffusen Formen auftreten. Bspw. kann eine Person aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit gezwungen sein, bestimmte Kleider zu tragen oder sich in gewisser Weise zu ernähren. Eine Person kann auch aus familiären Gründen gezwungen sein, eine bestimmte Person zu heiraten. Nicht zuletzt kann eine Person aber auch aufgrund des allgemein vorherrschenden Arbeitsethos gezwungen sein, mehr zu arbeiten, als sie dies wünscht; oder aufgrund der Konsumgesellschaft gezwungen sein, bestimmte kostspielige Produkte zu kaufen. Steht eine Person unter sozialem Druck, dann sind ihre Handlungen und Entscheidungen nicht im Einklang mit ihren subjektiven Interessen.19 Insofern ist eine Person in ihrer Autonomie eingeschränkt. Sie ist weniger autonom, als sie es sein könnte, bestünde der soziale Druck nicht. Autonomie und Zwang sind hier wiederum als graduelle Eigenschaften zu verstehen. Sie sind jeweils unterschiedlich stark vorhanden oder nicht. Faktisch steht eigentlich kein Mensch nicht unter sozialem Druck.20 In Bezug auf das Argument des sozialen Drucks besteht also das philosophische Problem einer Grenzziehung. Ab wann ist eine Person unter hinreichendem sozialem Druck, so dass sie als nicht-autonom gelten kann? Eine Lösung dieses Problems kann hier nicht angestrebt werden. Eine solche Grenzziehung unterliegt einem gesellschaftlichen Diskurs darüber, was als hinreichende Beschränkung individueller Freiheit aufgefasst werden kann. Wenn nun in der Folge aber die Rede von sozialem Druck ist, dann ist damit ‚hinreichender sozialer Druck‘ gemeint. Das Argument für die Unveräußerlichkeit eines Rechts aufgrund sozialen Drucks besitzt nun folgende Form: Jene Rechte, welche Personen nur unter starkem sozialem Druck zu veräußern bereit wären, sollen in der Veräußerbarkeit eingeschränkt sein. Dadurch soll die Rechtsträgerin vor nicht autonomen Handlungen geschützt werden. Diese Art der Rechtfertigung der Unveräußerlichkeit von Rechten zeigt sich verschiedentlich in der Bioethik. So ist es rechtlich unmöglich, bestimmte Rechte auf den eigenen Körper zu veräußern. In gewisse Operationen kann man nicht einwilligen.
19 Um genannte Beispiele wiederaufzugreifen: Eine Person wird entgegen ihrer eigenen Vorlieben dazu gedrängt, sich in bestimmter Weise zu kleiden und zu ernähren, eine Person möchte nicht diejenige Person heiraten, welche die Familie für sie bestimmt, sie möchte weniger arbeiten und weniger konsumieren. 20 Die Argumentation ist inspiriert von Mona, M. (2016): „Optionen als Zwang? Selbstperfektionierung und gesellschaftlicher Druck im Kontext von Human Enhancement“, in: Brudermüller, G./Seelmann, K. (Hrsg.): Erzwungene Selbstverbesserung?, Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 53–67.
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Kapitel X: Zwang und Schädigung Dritter
So bspw. in die „weibliche Genitalverstümmelung“. Hier kann eine Rechtsträgerin ihr Recht auf körperliche Integrität (und die damit korrelierende NichtVerletzungspflicht seitens der operierenden Person) nicht freiwillig aufgeben. Zur Begründung wird auf die soziale Zwangslage der Person abgestützt, welche in die Operation einwilligen will. Es wird angenommen, eine Person, welche diese Operation freiwillig über sich ergehen lassen wollte, stehe unter enormem sozialem Druck aus ihrem kulturellen Umfeld bzw. seitens ihrer Familie.21 Aufgrund dieses Drucks ist sie nicht autonom. 1.3 Zwischenfazit Anhand des hier vorgeschlagenen Begriffes von Zwang können also unterschiedliche Phänomene erfasst werden, welche die rechtliche Einschränkung der Verfügung über ein Rechtsgut mit Bezug auf einen Mangel an Autonomie rechtfertigen. Einerseits wurden Drohungen und Angeboteunterschieden, die jeweils Zwangscharakter aufweisen. Andererseits wurde Ausbeutung als eine Form von Zwang identifiziert. Nicht zuletzt können auch subtile Zwänge wie ein sozialer Druck als Zwang aufgefasst werden. Bei all diesen Formen ist das Argument zur Begründung unveräußerlicher Rechte dasselbe: Wenn eine Person unter Zwang steht, handelt sie nicht autonom. Nicht-autonome Veräußerungshandlungen dürfen gerechtfertigterweise verunmöglicht werden. Es wird in dieser Untersuchung also mit diesem breiten Konzept ‚Zwang‘ gearbeitet. Es muss sich weder um eine Verringerung, noch um eine Verschlechterung des Wertes der Handlungsoptionen handeln. Für Zwang ist lediglich eine Veränderung der relativen Kosten von Handlungsoptionen notwendig, so dass eine Person nicht autonom handelt. Eine solche Bestimmung kann nicht hinreichend dafür sein, dass, sobald Zwang vorliegt, die Einwilligung einer Person nicht gültig ist und somit kann anhand dieses Begriffes die moralische Rechtfertigung unveräußerlicher Rechte nicht endgültig begründet werden. Es bedarf einer Unterscheidung zwischen Zwang und ethisch problematischem Zwang, der die Einwilligung einer Person nichtig macht. Dieses breite Konzept liefert aber zwei wichtige Erkenntnisse über Zwang. Erstens unterliegen Individuen immer bestimmten Zwängen. Sie sind nie vollkommen frei, etwas zu tun oder zu unterlassen. Es bestehen familiäre, kulturelle, religiöse und gesellschaftliche Zwänge, die eine Person dazu nötigen, sich auf eine gewisse Weise zu verhalten. Zwang ist somit nicht notwendig ein moralisches Problem. Zweitens ist Zwang ein graduelles Konzept, das in unterschiedlichen Formen und Ausprägungen allgegenwärtig vorhanden ist. Individuen beeinflussen jeweils gegenseitig ständig den relativen Wert ihrer Handlungsoptionen, ohne dass dies als Einschränkung wahrgenommen wird. Es muss im Einzelfall an21
Vgl. Jositsch, D./Mikolasek, A. M. (2011): „Der Straftatbestand der weiblichen Genitalverstümmelung“, Aktuelle Juristische Praxis 10, S. 1291.
1. Zwang, Nötigung, Ausbeutung
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hand der moralischen Intuitionen geprüft werden, wie eine Handlung beurteilt wird und ob eine Einwilligung bzw. eine freiwillige Veräußerung eines Rechts gültig sein sollte. In der Folge wird exemplarisch eine Form der Ausbeutung genauer betrachtet, die in Bezug auf Unveräußerlichkeitsargumente eine wichtige Rolle spielt – der „ökonomische Zwang“. Am Beispiel der rechtlichen Einschränkung des Organhandels soll aufgezeigt werden, inwiefern diese Abgrenzung zwischen moralisch problematischem Zwang und alltäglichem Zwang Probleme beinhalten kann. 1.4 Ökonomischer Zwang beim Organhandel Das Argument zur Begründung der Unveräußerlichkeit eines Rechts zum Zwecke der Vorbeugung von Handlungen aus Zwang taucht in der Debatte über die Legitimität des Organhandels auf. Eine Person, welche ein Organ verkaufen will, würde dies – so die Annahme – nur unter Zwang tun.22 Der Verkauf entspricht deshalb nicht ihrem subjektiven Interesse (weshalb eine Entscheidung zum Organverkauf nicht autonom ist). Der Verkauf von Organen soll also rechtlich verunmöglicht werden. Zwei Aspekte dieses Arguments müssen hervorgehoben werden. Erstens soll nur die Übertragung eines Organs gegen Entgelt rechtlich unmöglich sein. Die Spende soll erlaubt sein. Zweitens haben wir es hier mit einer Form ökonomischen Zwangs zu tun. Die veräußerungswillige Person ist aufgrund ihrer prekären finanziellen Verhältnisse dazu genötigt, das Organ zu verkaufen. Dies ist als eine Ausbeutungssituation zu verstehen, da äußere Umstände die verkaufswillige Person in die missliche Lage versetzen, die sie zum Verkauf drängt. Aus einer rechtstheoretischen Perspektive stellt sich die Frage nach der Unveräußerlichkeit des Rechts auf ein Organ.23 Die Organe und grundsätzlich die körperliche Integrität sind durch Rechte geschützt. Diese Rechte beinhalten u.a. Ansprüche, dass andere Individuen die Organe nicht beschädigen oder ohne Einwilligung der Trägerin entwenden. Sie enthalten ebenso Privilegien. Die Rechtsträgerin darf ihr Organ selbst beschädigen, u.U. sogar ohne Beihilfe freiwillig entfernen (obwohl die Ausübung dieses Privilegs wohl eher hypothetischer Natur ist). Es muss nun geprüft werden, ob ein Recht auf ein Organ 22 Vgl. nur Radcliffe-Richards, J. (1996): „Nephrarious Goings On: Kidney Sales and Moral Arguments“, Journal of Medical Ethics 21, S. 381 ff./383 f. 23 Die Diskussion darüber, ob es sich bei Rechten auf den Körper um Eigentumsrechte handelt, wird hier nicht weiterverfolgt. Eigentumsrechte beinhalten notwendig deren Transferierbarkeit, deshalb sind Eigentumsrechte grundsätzlich veräußerlich. Wenn also ein Eigentum auf den Körper besteht, dann sind Organe veräußerlich. Insofern enthält der Diskurs über Eigentum auf Körperteile die Diskussion über unveräußerliche Rechte auf Körperteile. Vgl. hierzu Munzer, S. R. (1994): „An Uneasy Case Against Property Rights in Body Parts“, Social Philosophy & Policy 11 (2), S. 259–86.
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veräußerlich ist oder nicht. Die Veräußerung dieses Rechts ist faktisch erst seit einigen Jahrzehnten (seit der Entwicklung der medizinischen Möglichkeit zur Organtransplantation) möglich. Zwei Beobachtungen über die rechtliche Handhabung der Organübertragung bieten hier Aufschluss über die Natur des Rechts auf Körperteile. Einerseits ist die Organspende grundsätzlich erlaubt. Eine Person darf freiwillig ihr Organ einer bedürftigen Person verschenken. Andererseits ist der Verkauf von Organen in fast allen Ländern entweder verboten,24 so dass ein Verkauf bestraft wird. Oder er ist rechtlich unmöglich, so dass ein Vertrag nicht gültig ist und eine Käuferin oder eine Makler-Organisation mit einer Strafe rechnen muss. Nun kann aber ein Recht nicht zugleich veräußerlich und unveräußerlich sein. Um diesen Widerspruch aufzulösen gibt es drei Möglichkeiten: (1) die Organspende wird rechtlich verunmöglicht, (2) der Organhandel wird liberalisiert oder (3) die rechtliche Unmöglichkeit zum Transfer des Rechts gegen Entgelt wird begründet, wobei die normative Position der Unmöglichkeit nicht Teil des subjektiven Rechts ist. Ausschließlich letztere beiden Varianten (2) und (3) werden in der bioethischen Debatte diskutiert. Um für (3) zu argumentieren, muss nach den Gründen gesucht werden, welche diese Unmöglichkeit in Abgrenzung zur grundsätzlichen Veräußerbarkeit des Rechts auf ein Organ rechtfertigen. Es muss also nach dem ethisch signifikanten Unterschied zwischen einer Veräußerung und einer Veräußerung gegen Entgelt gefragt werden. In Bezug auf die ethische Beurteilung einer Liberalisierung des Organhandels (2) gibt es grundsätzlich zwei Überlegungen. Erstens kann eine KostenNutzen-Erwägung gemacht werden. Aus einer „konsequentialistischen“ Perspektive wäre eine Liberalisierung des Organhandels wünschenswert, da sich (so die ökonomische These dahinter) durch den Anreiz eines Preises mehr Individuen dazu entschließen würden, ein Organ anzubieten. Dadurch könnten somit mehr Menschenleben gerettet werden.25 Im Fokus steht diesbezüglich einerseits die empirische Hypothese, dass eine Marktallokation zu einer Angebotssteigerung führen würde. Andererseits geht es um die ethische Frage nach der Bewertung einerseits der geretteten Leben und andererseits des Unwertes der durch ökonomische Zwänge genötigten Organverkäufe.26 Zweitens besteht die ethische Dimension aber auch in Bezug auf die Rechte der Individuen. Inwiefern werden die Rechte durch eine Liberalisierung des Organhandels geschützt oder missachtet? Letztere Frage ist hier von spezifischem Interesse: die Einschränkung der individuellen Freiheiten durch die rechtliche Unmöglichkeit des Transfers eines Rechtsgutes. Es stellt sich die 24
Vgl. Malmqvist, E. (2014): „Are Bans on Kidney Sales Unjustifiably Paternalistic?“, Bioethics 28 (3), S. 110. 25 Vgl. nur Kass, L. (1992): „Organs for Sale? Propriety, Property, and the Price of Progress“, The Public Interest 107, S. 66. 26 Vgl. Malmqvist, E. 2014, S. 114 f.
1. Zwang, Nötigung, Ausbeutung
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Frage, inwiefern die Freiheit der potentiell Anbietenden durch die rechtliche Einschränkung beschnitten wird. Der Verweis auf ökonomischen Zwang könnte eine solche Freiheitsbeschränkung der möglichen Verkäuferin rechtfertigen. Eine rechtliche Unmöglichkeit der Veräußerung eines Organs gegen Entgelt verhindert eine nicht-autonome Entscheidung. 1.5 Einwand: Konsistenz und Analogieargumente Ein Rechtssystem sollte gemäß der Annahme aus Kap. I ein möglichst widerspruchfreies System von Normen bilden. Die Begründung, welche für Einschränkungen bestimmter Handlungen gegeben wird, sollte konsequent auch auf andere Handlungen angewendet werden, zu deren Bewertung dieselben Gründe Anwendung finden können. Das moralische Problem der Zulässigkeit einer rechtlichen Unmöglichkeit besteht sodann auf der Ebene der Konsistenz innerhalb eines Systems normativer Überzeugungen. Es gibt hierbei zweierlei mögliche Unvereinbarkeiten. Ein formaler Unterschied besteht im Vergleich zu anderen Rechten. Die Veräußerung von Rechten wird grundsätzlich durch den Staat unterstützt und gutgeheißen. Vertragliche Vereinbarungen können vor Gericht durchgesetzt bzw. deren Einhaltung eingefordert werden. Im Falle einer Nicht-Erfüllung kann Schadensersatz beansprucht werden. Bei unveräußerlichen Rechten ist diese Möglichkeit für die Rechtsträgerin nicht verfügbar. Die Frage bzgl. einer solchen Diskriminierung ist nun die Folgende: Weshalb kann auf gewissen Rechtsgütern ein transferierbares Recht bestehen, während bei anderen Rechtsgütern ein Transfer rechtlich unmöglich ist? Es bedarf hier eines moralischen Kriteriums, welches veräußerbare Rechtsgüter von unveräußerlichen Rechtsgütern hinreichend unterscheidet.27 Eine Form der Kohärenzprüfung moralischer Überzeugungen besteht darin, unterschiedliche Situationen, in denen alle moralisch relevanten Faktoren gleich sind, miteinander in Bezug auf das moralische Urteil zu vergleichen. Beim Organhandel muss also gefragt werden, ob die Überzeugung (dass das Recht auf die eigenen Organe unveräußerlich sein sollte, weil es nur unter Zwang veräußert würde) auch auf andere Veräußerungssituationen angewandt werden muss. Sog. Analogieargumente weisen jedoch darauf hin, dass die Überzeugung nicht kohärent ist. Führt man sich die unterschiedlichen Formen von Zwang vor Augen, dann zeigt sich, dass Zwang nicht nur dann vorkommen kann, wenn ein Preis für das Organ geboten wird. Man kann sich bspw. einen Fall vorstellen, in dem eine Person aufgrund der Nierenerkrankung einer nahen Verwandten und der Tatsache, dass sie die einzig mögliche Spenderin ist, gezwungen ist, die Niere zu
27
Moser, E. 2016, S. 149.
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spenden, obwohl sie das nicht will.28 In diesem Fall handelt sie ebenso nicht autonom. Eine solche Spende, so ist anzunehmen, würde jedoch weder als moralisch noch als rechtlich problematisch eingestuft. In Abgrenzung zu einem Verkauf besteht jedoch das einzig möglicherweise relevante Unterscheidungskriterium darin, dass Geld im Spiel ist. Man müsste hier also wiederum auf ein moralisches Argument der „Grenzen des Marktes“ Bezug nehmen und die „korrumpierende Wirkung“ der Entgeltlichkeit nachweisen.29 Einschlägig ist auch die Analogie zu normaler Lohnarbeit. Sehr treffend bemerkt Savalescu diesbezüglich: If we should be allowed to sell our labour, why not the means to that labour? If we should be allowed to risk damaging our bodies for pleasure (by smoking or skiing), why not for money which we will use to realise other goods in life? To ban a market in organs is, paradoxically, to constrain what people can do with their own lives […]. It is paternalism in its worst form.30
Angesichts der Tatsache, dass ökonomische Zwänge für die meisten Menschen in mehr oder weniger ausgeprägter Form bestehen, ist unklar, ob dieselbe Überzeugung nicht zur marxistischen Konklusion führt, dass jede Lohnarbeit eine Ausbeutung darstellt.31 Es gibt unterschiedliche Faktoren, welche normale Lohnarbeit von Organhandel unterscheiden. Allerdings können sie nicht hinreichend die unterschiedliche moralische Bewertung begründen.32 Es ist z.B. nicht der Fall, dass eine Organtransplantation risikoreicher ist als bestimmte Arbeitsformen (wie bspw. Minenarbeit oder Bergwache).33 Ein für viele Personen einschlägiger Unterschied besteht darin, dass es sich um den Verkauf eines Körperteils handle und dass dem eigenen Körper ein bestimmter Wert innewohne. Erstens müsste hier aber weiter abgegrenzt werden, welche Körperteile einen solchen Wert besitzen.34 So würden bspw. viele davon ausgehen, dass der Verkauf von Haaren zur Herstellung von EchthaarPerücken erlaubt sein sollte.35 Zweitens handelt es sich hier um eine Wertung, 28
Vgl. McConnell, T. 2000, S. 131. Siehe aber Kap. VIII, 3; kritisch auch Wilkinson, S. 2000. 30 Savalescu, J. (2003): „Is the Sale of Body Parts Wrong?“, Journal of Medical Ethics 29 (3), S. 138. 31 Marx, K. (2011): Das Kapital: Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1, orig. 1867, 7. Aufl., Kautsky, B. (Hrsg.), Stuttgart: Körner, Kap. 7, Abs. 1, S. 210 ff. 32 Vgl. hierzu Mona, M. (2004): „Rechtsphilosophische Analyse der Entgeltlichkeit und Vertragsfreiheit in der Nierenspende: Verwerflicher Organhandel oder legitimes Anreizinstrument?“, Archiv für Rechts -und Sozialphilosophie 90, S. 371 ff. 33 Für eine Verteidigung des Arguments gegen Analogieargumente siehe Malmqvist, E. (2015): „Kidney Sales and the Analogy with Dangerous Employment“, Health Care Analysis 23 (2), S. 107–121. 34 Vgl. McConnell, T. 2000, S. 120. 35 In Bezug auf die Frage, ob ein Eigentumsrecht auf Körperteilen bestehen soll, liefert Munzer eine Theorie zur Unterscheidung unterschiedlicher Rechte auf den Körper. Siehe 29
1. Zwang, Nötigung, Ausbeutung
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die u.U. seitens des veräußerungswilligen Individuums nicht geteilt wird. Es ist möglich, sich einen Fall vorzustellen, in dem eine Person bereit ist, ihre Niere auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen, um bspw. für ein Unternehmen Startkapital einzuwerben (die Motivation entspricht derjenigen des ambitionierten Schauspielschülers im Beispiel Z3). Es liegt hier nicht notwendigerweise ein ethisch problematischer Zwang vor. Die Person nimmt in diesem Fall eine Option wahr, um sich besser zu stellen. Der Zwang ist durch die Ambitionen des Individuums gegeben, ein Unternehmen aufzubauen. Um zu zeigen, dass hier eine ungerechtfertigte Veräußerungshandlung vorliegt, müsste man dafür argumentieren, dass die individuelle Wertschätzung des eigenen Organs falsch ist, was wiederum nur mit Bezug auf objektive Interessen bewerkstelligt werden kann. Wie bereits dargelegt wurde, liegt Zwang graduell unterschiedlich stark vor. Es muss also zwischen „problematischem“ Zwang und „unproblematischem“ Zwang unterschieden werden. Erstere Art von Zwang macht eine Einwilligung in die Aufgabe oder den Transfer eines Rechtsgutes ungültig. Letztere Art von Zwang kann keine Rechtfertigungsgrundlage dafür liefern, die Verfügung einer Person über ihre Rechte einzuschränken. Beim Argument des Zwangs zur Bestimmung unveräußerlicher Rechte wird in gewisser Weise unterstellt, dass, wenn immer eine Person ein bestimmtes Recht veräußern will, die Veräußerung eine problematische Zwangslage beinhaltet. Wie am Beispiel des Organverkaufs sichtbar, wird die Tatsache, dass eine Person ein Organ verkaufen will, bereits als hinreichender Grund angesehen, eine problematische Zwangslage zu vermuten. Der Organverkauf soll deshalb kategorisch unmöglich sein. Diese Annahme ist aber zu stark. Es ist stets möglich, sich Situationen vorzustellen, in denen dies nicht der Fall ist. Nicht alle Veräußerungen stellen eine moralisch problematische Zwangslage dar. Das Problem besteht darin, dass unveräußerliche Rechte inhaltlich bestimmen, welche Rechte nicht veräußert werden können und nicht formal; unter welchen Bedingungen ein Recht nicht veräußert werden kann. Die Unmöglichkeit einer Veräußerung kann also nur damit gerechtfertigt werden, dass es sich in der überwiegenden Mehrheit aller Fälle, in denen ein Organ verkauft wird, um eine Veräußerung aus Zwang handelt. Da in den meisten Fällen ein problematischer ökonomischer Zwang vorliege, sei eine kategorische Verunmöglichung des Vertrages gerechtfertigt.36 Die rechtliche Einschränkung ist somit „generalisierend“, was wiederum gewisse Probleme in sich birgt. Erstens handelt es sich dabei um eine empirische These, zweitens muss gezeigt werden, dass eine formale Beschränkung der Vertragsfreiheit und eine Regulierung des Marktes durch vertragsrechtliche Schutzklauseln ungenügend Munzer, S. R. (1990): A Theory of Property, Cambridge: Cambridge University Press, S. 45 ff. 36 Vgl. Malmqvist, E. 2014, S. 114 und 118.
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Kapitel X: Zwang und Schädigung Dritter
sind, um Organverkäufe unter Zwang zu unterbinden. Ein regulierter Organmarkt mit Mindestpreisen und weitgehenden Schutznormen für die anbietenden Personen könnte indes genügen, um moralisch problematische Ausbeutung zu verhindern. Aus dem Argument geht also nicht schlüssig hervor, weshalb ein unveräußerliches Recht auf die eigenen Körperteile die einzige Möglichkeit darstellt, ökonomischen Zwängen zu begegnen.
2. Liberaler Utilitarismus Ein originelles Argument für die moralische Rechtfertigung der Unveräußerlichkeit von Rechten liefert Hardin.37 Sein Ansatz ist utilitaristisch geprägt. Rechten soll grundsätzlich die Funktion zukommen, gesellschaftlichen Nutzen zu befördern bzw. Schaden zu vermeiden. Er erachtet individuelle Freiheiten als instrumentell wertvoll.38 Die Individuen können durch die Garantie von Freiheiten durch Rechte Hardin gemäß am besten ihre eigene Wohlfahrt vergrößern oder erhalten. Deshalb seien den Mitgliedern einer Gesellschaft erstens möglichst weitreichende Rechte zuzuschreiben. Zweitens sollen die Individuen möglichst die Befugnis besitzen, über diese Rechte frei zu verfügen. Unveräußerliche Rechte hingegen, welche die Rechtsträgerinnen in ihren Freiheiten beschneiden, sollte es möglichst wenige geben.39 2.1 Das Argument der kollektiven Handlungen im Arbeitsmarkt Es gibt gemäß Hardin aber gute Gründe, die Rechtsträgerinnen in ihrer Verfügung über das Recht einzuschränken. Dies kann ihm gemäß dadurch gerechtfertigt sein, dass durch unveräußerliche Rechte ein „Problem kollektiver Handlungen“ verhindert werden kann. In Anlehnung an ein Beispiel von Mill argumentiert Hardin folgendermaßen:40 Man kann sich einen Betrieb vorstellen, in dem alle Angestellten aufgrund ihres Arbeitsvertrags neun Stunden pro Tag arbeiten. Dies entspricht auch den Präferenzen der Arbeitnehmenden, welche nicht weniger Freizeit haben wollen. Wenn es nun aber einer Arbeitskraft möglich wäre, der Arbeitgeberin anzubieten, zehn Stunden zum selben Lohn zu arbeiten, dann besäße sie einen relativen Vorteil gegenüber den anderen Arbeitnehmenden. Diese würden dann unter Druck gesetzt, ebenso zehn Stunden zu arbeiten. Wenn also jemand eine Immunität, zu nicht mehr als neun Stunden Arbeit verpflichtet zu werden, freiwillig veräußern will, dann entsteht dadurch eine Art negativer Effekt auf die 37
Hardin, R. 1986; vgl. auch das Bsp. von Benditt, T. M. (1982): Rights, Totowa, NJ: Rowman & Littlefield, S. 15. 38 Vgl. Kap. IX, 2.1(b). 39 Vgl. Hardin, R. 1986, S. 58. 40 Siehe ebd. S. 58 f.
2. Liberaler Utilitarismus
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anderen Arbeitnehmenden. Wenn jene nicht anböten, ebenso viel zu arbeiten, würden sie durch eine andere Arbeitskraft ersetzt. Insofern wählen die Angestellten das kleinere Übel, zehn Stunden für denselben Lohn zu arbeiten. Wenn die besagte Immunität also veräußerbar ist, dann führt dies schlussendlich zum Resultat, dass alle Arbeitnehmenden gezwungen sind, mehr zu arbeiten, als sie dies eigentlich wünschen. Dieses Argument nimmt insofern keinen Bezug auf objektive Interessen, als dass die negative Bewertung durch die individuellen Präferenzen gegeben ist. Diese bewerten das Resultat der kollektiven Handlung negativ. Die Handlung ist nicht autonom und der Zustand, der sich daraus ergibt, ist sowohl aus utilitaristischer als auch (aufgrund des Widerspruchs zum Willen der Individuen) aus liberaler Sicht nicht wünschenswert. Die Umstände, welche dazu führen, dass eine bestimmte Menge individueller Handlungen zusammengenommen zu einem nicht-wünschenswerten Resultat führen, sind auch ein allgemein anerkanntes Phänomen in der politischen Ökonomie. Das bekannte spieltheoretische Modell des sog. „prisoner’s dilemma“ beinhaltet ebenso eine solche Situation, wie die sog. „tragedy of the commons“. Das gesellschaftliche Ziel angesichts solcher Probleme muss es sein, die Freiheiten der Individuen so einzuschränken, dass das Resultat aus der Summe von Handlungen, den subjektiven Interessen der Individuen am ehesten entspricht. Gemäß Hardin kann die dazu nötige Freiheitseinschränkung in der Unveräußerlichkeit eins Rechts bestehen.41 Das Argument kann auch auf andere Phänomene im Bereich arbeitsmarktlicher Regulierungen angewandt werden.42 So gesehen kann auch ein Mindestlohn als unveräußerliches Recht konzipiert werden. Die Arbeitnehmenden besitzen ein Anspruchsrecht auf eine bestimmte Gegenleistung für ihre Arbeit und sie können diesen Anspruch nicht veräußern.43 Auf den ersten Blick ist das Argument aber nicht mit der Theorie autonomer Entscheidungen vereinbar, da die Einschränkung der Befugnis, ein Recht zu veräußern, intuitiv nicht durch einen Mangel an Autonomie gegeben ist. Auf den zweiten Blick hingegen zeigt sich, dass die Veräußerungshandlung per Definition einer nicht-autonomen Handlung entspricht. Das Individuum handelt nicht gemäß den subjektiven Interessen. Dies ist der Fall, weil es sich bei dem Argument eigentlich um eine Ausbeutungssituation handelt, die das Problem der kollektiven Handlung überhaupt erst ermöglicht. Die relativen Kosten von Handlungsoptionen sind dahingehend verzerrt, dass die Arbeitnehmenden im
41
Vgl. ebd. S. 59. Vgl. Kap. IV, 5.1 43 MacCormick verweist auf ein Beispiel bzgl. der Sicherheitsmaßnahmen am Arbeitsplatz, welches er als eine Art unveräußerliches Recht konstruiert. Vgl. MacCormick, N. 1977, S. 197 f. 42
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Kapitel X: Zwang und Schädigung Dritter
Beispiel bereit sind, einen zu hohen Preis (zehn Stunden) für das Angebot (Arbeitsplatz) zu bezahlen. Hardins Argument ist grundsätzlich mit liberalen Prinzipien vereinbar, denn es nimmt weder Bezug auf objektive Werte, noch auf objektive Interessen.44 Es liefert insofern einen möglichen liberalen Ansatz zur Rechtfertigung unveräußerlicher Rechte. Die Unmöglichkeit zur Veräußerung schützt die Individuen davor, in einen Zustand zu geraten, in dem alle schlechter gestellt sind. 2.2 Einwand: Weshalb unveräußerliche Rechte? Aus folgenden zwei Gründen könnte eine solche Begründung unveräußerlicher Rechte problematisch sein. Einerseits kann die erforderliche Freiheitseinschränkung auch als Obligation konzipiert werden und nicht als unveräußerliches Recht.45 Dasselbe Resultat, dass die Arbeitnehmenden bloß neun anstelle von zehn Stunden arbeiten müssten (und so ihre subjektiven Interessen gewahrt würden), ließe sich auch durch eine Pflicht, nicht mehr als neun Stunden zu arbeiten, erwirken. Die rechtliche Unmöglichkeit zur Veräußerung folgt somit nicht aus der Argumentation von Hardin.46 Wenn es tatsächlich der Fall ist, dass eine Veräußerungshandlung einen Schaden für die Gesamtheit der Individuen verursacht, dann kommt die Veräußerung des Rechts einer Person einer „abstrakten Drittschädigung“ gleich. Der veräußernden Person könnte dann auch gerechtfertigterweise ein Vorwurf gemacht werden. So ließe sich das Unterlassen einer Veräußerung auch als Handlung verstehen, die generell gegenüber den anderen Individuen geschuldet ist. Andererseits hängt die Plausibilität des Beispiels stark davon ab, in welchem ökonomischen Umfeld sich die Arbeitnehmenden befinden. Wenn die Arbeitslosigkeit niedrig ist, dann besteht (sofern die Arbeitgeberin nicht bereit ist, Arbeitsverträge mit geringerem Pensum anzubieten) die Möglichkeit die Stelle zu wechseln. Die Mitarbeitenden des Betriebes besitzen dann eine größere Verhandlungsmacht. Sie sind grundsätzlich in der Position des Anbieters eines Produkts (ihrer Arbeit) und können den Preis und die Bedingungen mitbestimmen. In Hardins Beispiel wird jedoch implizit angenommen, dass die Arbeitslosigkeit hoch ist oder dass ein „Arbeitsmonopson“ (ein Nachfrage-Monopol) besteht. In diesem Fall besitzen die Arbeitnehmenden tatsächlich kaum andere Optionen, als die Bedingungen des Vertrags zu akzeptieren. Eine Voraussetzung des Arguments sind also die kontingenten Umstände, die ausgebeutet werden können.47
44
Es ist somit nicht rechtsmoralistisch und nicht rechtspaternalistisch. Hierzu Kuflik, A. (1986): „The Utilitarian Logic of Inalienable Rights“, Ethics 97 (1), S. 78 f. 46 Vgl. ebd. S. 79. 47 Zum Ganzen Steiner, H. 2013, S. 241 f. 45
2. Liberaler Utilitarismus
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Es stellt sich wiederum die Frage, ob ein unveräußerliches Recht die einzige Möglichkeit darstellt, das unerwünschte Resultat der kollektiven Handlung zu vermeiden. Anstatt dessen kann auch argumentiert werden, dass die Umstände, unter welchen die Arbeitnehmenden bereit sind, ihr Recht zu veräußern, beseitigt werden sollten.48 Weshalb sollte ein Rechtssystem zur Vermeidung von Ausbeutungssituationen gerade die Freiheit der Ausgebeuteten beschneiden? Das Argument besitzt jedoch einige Vorteile gegenüber anderen Ansätzen zur Rechtfertigung unveräußerlicher Rechte. Unveräußerliche Rechte können gemäß Hardin eine „pragmatische“ Funktion in der Gesellschaft einnehmen. Durch die Unmöglichkeit der Veräußerung werden die subjektiven Interessen der Individuen bestmöglich befriedigt, da die individuellen Handlungen effizient koordiniert werden. Die Unmöglichkeit zur Veräußerung eines Rechts bietet im Falle kollektiver Handlungsprobleme eine Lösung, um einen großen Schaden für die Gesellschaft als Ganzes zu vermeiden. Eine Veräußerung ist zudem nicht eine Privatangelegenheit und es kann argumentiert werden, dass das Mill’sche „Gebot einer Nichtschädigung“ durch eine rechtliche Einschränkung der Veräußerungsbefugnis verfolgt werden kann. Die Einschränkung ist so gesehen also nicht direkt bevormundend, da sie nicht die Absicht besitzt die Freiheiten des Individuums in seinem eigenen Interesse zu beschneiden. Vielmehr soll ein kollektiver Schaden verhindert werden. Hierbei kann auch auf das Stimm- und Wahlrecht Bezug genommen werden.49 Hardins Argument scheint die Unveräußerlichkeit des Rechts plausibel zu begründen. Durch die Verkäuflichkeit eines solchen Rechts würden diejenigen Individuen, welche ihre Stimme verkaufen würden, die Wahl dahingehend verfälschen, dass eine Politikerin oder eine politische Partei durch Stimmenkäufe ihren Einfluss vergrößern könnte. Es entstünde dadurch ein Schaden für die Gesamtheit aller Individuen einer Gesellschaft, der darin besteht, dass der einen Politikerin mehr Stimmen zur Verfügung stünden, als dies aufgrund einer (fairen) demokratischen Wahl der Fall wäre. Das Resultat eines Urnenganges würde dadurch verfälscht. Es gibt also durchaus Kontexte, in denen Hardins Ansatz für die Rechtfertigung unveräußerlicher Rechte fruchtbar gemacht werden kann.
48 Vgl. Steiner, H. (2010): „Exploitation Takes Time“, in: Vint, J./Metcalfe, J. S./Kurz, H. D. et al. (Hrsg.): Economic Theory and Economic Thought: Essays in Honour of Ian Steedman, London: Routledge, S. 26. 49 Siehe Hardin, R. 1986, S. 59.
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Kapitel X: Zwang und Schädigung Dritter
3. Schädigung Dritter Einschränkungen von Freiheiten können grundsätzlich gerechtfertigt sein, wenn durch die Ausübung der Freiheit andere Personen zu Schaden kommen. Auf den ersten Blick scheint eine Veräußerung eines Rechts keinen Einfluss auf andere, nicht beteiligte Individuen zu haben, jedenfalls nicht im Sinne eines Schadens. Bei einer „spezifischen“ Veräußerung wird eine Rechtsadressatin von ihrem normativen Nachteil entbunden. Bei einer „generellen“ Veräußerung werden alle Mitglieder der Gesellschaft von ihrem Status als Rechtsadressat und Rechtsadressatin befreit. Eine solche Veränderung der normativen Beziehung wurde bisher nicht als Schaden aufgefasst, da die Rechtsadressatinnen i.d.R. bessergestellt werden und unbeteiligte Drittpersonen von der Änderung der normativen Relation nicht betroffen sind. Deshalb bestand bisher die implizite Annahme, dass durch eine Rechtsveräußerung Dritten kein Schaden zukommt. Diese Annahme kann jedoch bezweifelt werden. Eine Möglichkeit, unveräußerliche Rechte zu rechtfertigen, besteht sodann darin, aufzuzeigen, dass durch die Veräußerung eines bestimmten Rechts andere Individuen zu Schaden kommen können. Ist dies der Fall, dann verletzt eine Rechtsveräußerung das Nicht-Schädigungsprinzip von Mill.50 Entsprechend ist eine Freiheitseinschränkung aus liberaler Sicht gerechtfertigt. 3.1 Das Verbot der Tötung auf Verlangen Ein solches Argument wurde prominenterweise von McConnell vertreten. Er bezieht sich auf die soziale Wirkung der Veräußerung eines Rechts. Die These besteht in der Behauptung, dass die Veräußerung einen „negativen externen Effekt“ auf alle anderen Individuen ausübt, welche dasselbe Recht besitzen. Unveräußerlichkeit – so die Annahme – wird als Mittel zum Schutz von Rechtsgütern genau da eingesetzt, wo durch die Veräußerung Dritte empfindlich geschädigt werden können. Im Sinne des Nicht-Schädigungsprinzips wird also die Veräußerung bestimmter Rechte daher rechtlich verunmöglicht.51 Ein Beispiel für die Erläuterung dieser Argumentation liefert das Verbot der Tötung auf Verlangen.52 Gehen wir davon aus, dass eine Person willentlich, urteilsfähig und im Wissen über die Tragweite ihrer Entscheidungen einen Vertrag abschließt, der ihre eigene Tötung beinhaltet. Selbst unter gegebenen Bedingungen ist ein solcher Vertrag grundsätzlich ungültig. Der Vertragspartnerin erwachsen dadurch keine Pflichten. Zudem ist die Ausführung der vertraglich vereinbarten Handlungen strafbar. Die Überlegungen, welche nun einer solchen Restriktion durch das Strafrecht zugrunde liegen, können instrumenteller Natur sein. Einerseits sei der Schaden, der durch eine Erlaubnis der Tötung auf Verlangen für die Gesell50
Vgl. Kap. VII, 1. Vgl. McConnell, T. 2000, S. 37 f. 52 Vgl. ebd. S. 83 ff. 51
3. Schädigung Dritter
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schaft entstehen würde, potentiell groß. Andererseits handle es sich um eine sehr kleine Freiheitseinschränkung, die nur wenige Individuen und nur wenige Handlungsmöglichkeiten betrifft. Sollte Tötung auf Verlangen rechtlich möglich (für die ausführende Person erlaubt) sein könnte sich, so die erste Überlegung, dadurch bspw. die Rechtsfindung bei Tötungsdelikten massiv erschweren. Gilt das Prinzip der „Unschuldsvermutung“ (in dubio pro reo), muss eine Einwilligung durch das Opfer (und falls vorhanden, deren vertragliche Gültigkeit) in jedem Einzelfall ausgeschlossen werden können, um die Person verurteilen zu können.53 Ein solcher Ausschluss ist u.U. sehr schwer aufzudecken. Es besteht also die Befürchtung, dass der Schutz des Rechts auf Leben aller Individuen und nicht nur derjenige der veräußerungswilligen Rechtsträgerin durch eine Erlaubnis gefährdet werden könnte. Die zweite Überlegung ist diejenige, dass die Einschränkung der individuellen Freiheit im Verhältnis zu den möglicherweise vermiedenen Kosten sehr gering ist.54 Wenn auf der einen Seite Suizid rechtlich erlaubt ist, ist die Freiheitseinschränkung auf der anderen Seite durch das Verbot der Tötung auf Verlangen weniger einschneidend. Eine Person hat ähnlich viele Möglichkeiten, über ihr eigenes Ableben zu verfügen, wie ohne die rechtliche Einschränkung. Sie kann jederzeit freiwillig durch Selbsttötung aus ihrem Leben scheiden. Die Freiheitseinschränkung durch Verbot der Tötung auf Verlangen verringert so gesehen die Anzahl der Optionen einer sterbewilligen Person nur geringfügig. Wenn man diese beiden Argumente nun zusammennimmt, kann man eine Kosten-Nutzen-Abwägung vollziehen. Die Veräußerung eines Rechtsgutes verursacht so gesehen einen negativen externen Effekt auf alle anderen Rechtsträgerinnen. Ist ein solcher Effekt gegeben, dann ist eine Einschränkung der Ausübung der Handlung durch das Recht nicht bevormundend.55 Die Unveräußerlichkeit, die durch eine solche Form der Drittschädigung gerechtfertigt ist, entgeht somit dem dargelegten moralischen Problem der Paternalismus. Ein paternalistischer Eingriff in die Freiheit enthält per Definition die Absicht beinhaltet, das (objektive) Wohl der Eingeschränkten Person zu befördern. Diese Absicht ist aber nicht vorhanden, wenn der moralische Grund für die Unveräußerlichkeit eines Rechts in der Verhinderung der Schädigung Dritter liegt. Es handelt sich gemäß dieser Argumentation bei der Veräußerung nicht um eine rein private Angelegenheit, welche nur die involvierten Vertragsparteien betrifft. Das Argument der instrumentellen Nützlichkeit des Verbotes der Tötung auf Verlangen aufgrund der Kosten für die Rechtsfindung ist allerdings sehr schwach. Man könnte auf dieser Grundlage hingegen auch argumentieren, dass die Einwilligung in die Tötung einer bestimmten Formvorschrift unterliegen 53
Vgl. ebd. S. 83 f. Vgl. ebd. S. 84. 55 Vgl. ebd. S. 83. 54
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Kapitel X: Zwang und Schädigung Dritter
soll. Es soll bspw. eine schriftliche Einverständniserklärung vorliegen und nachgewiesen werden, dass diese nicht unter Zwang zustande gekommen ist. Durch Anpassung der Anforderungen an die Form der Einwilligung könnten somit die möglichen Kosten vermeiden werden. Damit wären diese Probleme ausgeräumt. Der Sachverhalt, dass sich durch die Veräußerungsmöglichkeit der Schutz des Rechts für andere Individuen erschwert, ist nur kontingenterweise gegeben. Es ist so gesehen also nicht eindeutig, dass durch die Veräußerungsmöglichkeit ein Schaden für die Gesellschaft entsteht. Zudem ist äußerst fraglich, ob es sich beim Verbot und der rechtlichen Unmöglichkeit zur Veräußerung des Rechts um eine bloß „geringfügige“ Freiheitseinschränkung handelt. Es ist durchaus möglich, dass die Rechtsträgerin der Art und Weise, wie sie stirbt, ein großes Gewicht beimisst; so dass sie gerade nicht Suizid begehen will.56 Der Verweis auf die geringen Kosten des Verbots besteht also aus einer unbegründeten Annahme über die subjektive Gewichtung der Freiheit. Es wird impliziert, dass dem Veräußerungswunsch der Rechtsträgerin kein großesr Wert beigemessen werden soll. Der Wunsch wird ignoriert, da er nicht ernst genommen wird. 3.2 Einwand: Bezug auf objektive Werte McConnells Argument geht sodann auch weiter und stützt sich nicht bloß auf zweckrationale Gründe. Durch eine Legalisierung der Tötung auf Verlangen entstehe ein Schaden für Nichtbeteiligte, weil die Erlaubnis ein Ausdruck der Zustimmung seitens des Rechtssystems sei. Still, in our society if behavior is not legally prohibited, then presumably people will not be forcibly prevented from engaging in such conduct. To that (limited) extent, legally permitted behavior has society’s stamp of approval […] Such a society may eventually take less seriously a genuine violation of a person’s right to life. A legal system cannot, without great difficulty, both claim to place a high value on human life and allow some to kill human beings because those individuals have consented.57
Dieses Argument geht nun wesentlich weiter, indem es eine viel gewichtigere Fremdschädigung durch Veräußerbarkeit des Rechts auf Leben identifiziert. Der Wert des Rechts auf Leben sei in Gefahr. Allerdings enthält das Argument einige implizite Prämissen die nicht unproblematisch sind. Erstens wird rechtlichen Regeln eine Art „kommunikative Wirkung“ zugeschrieben. Das Rechtssystem – so die Annahme – drücke durch Verbote, Erlaubnisse und Befugnisse usw. aus, welche Handlungen erwünscht und welche Handlungen nicht erwünscht seien. Rechtliche Normen haben somit einen 56
Vgl. von Hirsch, A./Neumann, U. (2010): „Indirekter Paternalismus und § 216 StGB: Weitere Bemerkungen zur Bedeutung und Reichweite des Paternalismus-Begriffs“, in: von Hirsch, A./Neumann, U./Seelmann, K. (Hrsg.): Paternalismus im Strafrecht: Die Kriminalisierung von selbstschädigendem Verhalten, Baden-Baden: Nomos, S. 104. 57 McConnell, T. 2000, S. 83.
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Symbolcharakter. Sie zeigen den Rechtsunterworfenen auf, welche Handlungen gut und welche schlecht sind. Zu dieser Annahme soll hier aber nur wenig gesagt werden. Die These, dass einem Rechtssystem die Kompetenz zukommen soll, bestimmte Wertaussagen auszudrücken, ist m.E. höchst fraglich. Ein Recht auf Leben ist v.a. deshalb höchst schützenswert, weil ihm die Individuen selbst einen unschätzbaren Wert beimessen und nicht, weil der Staat dem Recht auf Leben einen Wert zuschreibt. Der symbolische Ausdruck der Wertschätzung ist in diesem Fall überflüssig. Zweitens basiert das Argument auf der Prämisse, dass eine rechtliche Erlaubnis einen kausalen Effekt auf die individuelle Wertbetrachtung bestimmter Rechtsgüter ausübt. Durch die Erlaubnis werde das Recht auf Leben von den Mitgliedern einer Gesellschaft weniger wertgeschätzt. Dies führe wiederum dazu, dass die Individuen das Recht auf Leben eher verletzen. Es entstehe somit eine Gefahr für alle Individuen.58 Die Argumentation nimmt hier also die Form einer „schiefen Ebene“ an (auch „Dammbruch-Argument“ genannt). Es soll kurz erläutert werden. Grundsätzlich wird dieses Argument oft gegen rechtliche Erlaubnisse und nicht gegen rechtliche Verbote angewendet.59 Wenn eine Handlung erlaubt wird, so die These, führt dies zu einer Neubeurteilung anderer Handlungen. Um auf das Beispiel Bezug zu nehmen: Wenn Tötung auf Verlangen erlaubt ist, dann wird das Tötungsverbot als weniger wichtig erachtet. Diese Revision der Bewertung widerspiegelt sich in den Handlungen der Individuen. Es kommt vermehrt zu Tötungshandlungen. Dies wiederum führt zu einem Zustand, der nicht wünschenswert ist. Die Gesellschaft ist nicht mehr hinreichend durch das Tötungsverbot geschützt. Ein solches Argument wird metaphorisch als schiefe Ebene bezeichnet, da eine Erlaubnis einen ersten Schritt eines Weges darstellt, der irreversibel und unausweichlich in Richtung eines moralisch bedenklichen Zustandes führt.60 Es besteht im Grunde aus einer Reihe von kausalen Hypothesen und zuletzt aus einem Werturteil über das Ergebnis der kausalen Ereignisse.61 Bei der zweiten Annahme von McConnells Argument handelt es sich also um eine empirische These zunächst über die Auswirkungen einer rechtlichen Erlaubnis auf die Wertung des Rechtsgutes und zuletzt auf das Verhalten der 58 So spricht von der Pfordten auch von einer „Kultur des Tötens“. Siehe von der Pfordten, D. (2010): „Paternalismus und die Tötung auf Verlangen“, in: von Hirsch, A./Neumann, U./Seelmann, K. (Hrsg.): Paternalismus im Strafrecht: Die Kriminalisierung von selbstschädigendem Verhalten, Baden-Baden: Nomos, S. 201. 59 Vgl. Guckes, B. (1997): Das Argument der schiefen Ebene: Schwangerschaftsabbruch, die Tötung Neugeborener und Sterbehilfe in der medizinethischen Diskussion, Stuttgart: Fischer, S. 5. 60 Für eine ausführliche Analyse des Grundarguments der schiefen Ebene siehe ebd. S. 8. 61 Vgl. ebd. S. 9 ff.
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Kapitel X: Zwang und Schädigung Dritter
Individuen (basierend auf der Veränderung der Wertung). Beide kausale Wirkungen, diejenige auf die subjektive Wertewahrnehmung und diejenige auf das Verhalten, sind empirisch aber schwer nachweisbar. Die Beweislast liegt hier auf der Seite der Befürworter der Freiheitseinschränkung bzw. auf der Seite der Gegner der Erlaubnis der Tötung auf Verlangen.62 Dies ist der Fall, weil die Freiheitseinschränkung rechtfertigungspflichtig ist und nicht die Erlaubnis bzw. die Möglichkeit zur Veräußerung des Rechts.63 Es ist zudem aus zwei Gründen nicht davon auszugehen, dass dieser Effekt zwingend stattfindet. Einerseits führt z.B. die Möglichkeit, Körperverletzungen durch Einwilligung zu erlauben nicht dazu, dass solche bagatellisiert werden. Eine Verletzung wird unabhängig von der rechtlichen Einwilligungsmöglichkeit als verwerflich und strafwürdig angesehen. Dem Recht auf körperliche Integrität wird dadurch nicht ein geringerer Wert zugeschreiben und der Anspruch, nicht verletzt zu werden, wird dadurch nicht aufgeweicht. Die Veräußerlichkeit des Rechts hat also nicht notwendigerweise einen kausalen Effekt auf die Wertschätzung des Rechtsgutes. Andererseits ist es schwer vorstellbar, dass die Tatsache, dass ein Rechtssystem die Rechtfertigung einer Tötung durch Einwilligung anerkennt, einen Einfluss auf die Wertschätzung des Rechts auf Leben haben kann. Das Recht auf Leben genießt bei (fast) allen Individuen eine sehr hohe Wertschätzung. Weder der Wert des eigenen Lebens und noch derjenige des Lebens anderer Personen scheinen durch die Erlaubnis der Tötung auf Verlangen gefährdet. Erneut ist darauf hinzuweisen, dass die Beweislast des empirischen Zusammenhanges auf der Seite der Befürworter einer rechtlichen Einschränkung liegt. Eine Freiheitseinschränkung muss gerechtfertigt werden und nicht die Aufhebung eines Verbotes. Drittens enthält das Argument von McConnell aber auch ein objektives Werturteil. Durch die Erlaubnis der Tötung auf Verlangen, so die These, würde ein solcher objektiver Wert unterminiert.64 Der Wert des Lebens ist so gesehen also unabhängig von der subjektiven Wertschätzung der Individuen. Diese Annahme ist aufgrund der Kritik in Kap. VIII problematisch.
62
Vgl. von Hirsch, A./Schorscher, V. C. (2010): „Nachwort: Indirekter Paternalismus und die normative Basis des Tötung-auf-Verlangen-Verbots: Replik auf Dietmar von der Pfordten“, in: von Hirsch, A./Neumann, U./Seelmann, K. (Hrsg.): Paternalismus im Strafrecht: Die Kriminalisierung von selbstschädigendem Verhalten, Baden-Baden: Nomos, S. 334. 63 Vgl. Kap. VII, 1 und P3. 64 Vgl. auch von der Pfordten, D. 2010, S. 198 f.; erläuternd dazu von der Pfordten, D. (2010): „Duplik auf die Replik von Hirschs und Schorschers“, in: von Hirsch, A./Neumann, U./Seelmann, K. (Hrsg.): Paternalismus im Strafrecht: Die Kriminalisierung von selbstschädigendem Verhalten, Baden-Baden: Nomos, S. 339 f.
3. Schädigung Dritter
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McConnell besitzt ein ganz spezifisches Bild einer Drittschädigung. Er geht davon aus, dass durch die rechtliche Möglichkeit der Veräußerung der Wert eines Rechtsgutes unterminiert werden kann. Die Idee ist, dass durch die vertragliche Veräußerung dem Rechtsgut ein anderer Status zugeschrieben wird als denjenigen, der dem Recht eigentlich zustehen müsste. Dadurch werden unbeteiligte Personen insofern negativ affiziert, als dass ihr eigenes Recht einen geringeren Wert aufweist. Dieser kausale Effekt wurde als empirische These bereits bezweifelt. Aber auch wenn dieser Effekt tatsächlich stattfinden würde und die Individuen ihr eigenes Recht auf Leben nunmehr aufgrund der möglichen Veräußerbarkeit weniger wertschätzen würden, wäre damit noch kein moralisches Problem identifiziert. Die Tatsache, dass bspw. Individuen in der postmateriellen Gesellschaft durch den sog. „Wertewandel“ neuerdings Geld und Besitz weniger wertschätzen, ist für sich genommen ebenso kein moralisches Problem. Damit eine geringere Einschätzung des Werts eines Rechts auf Leben ein Problem darstellen kann, muss ein objektiver Wert des Rechts implizit vorausgesetzt werden. Zu sagen, dass eine Neubewertung des Rechts nicht adäquat sei, setzt voraus, dass es eine objektiv richtige Bewertung des Rechts gebe, die nicht erkannt wird. Im Einzelfall wird das Recht auf Leben durch die Rechtsträgerin jedoch als weniger wichtig erachtet als der Wunsch, durch eine andere Person getötet zu werden.65 Der Veräußerungswunsch ist Ausdruck dieser Präferenz. Die Rechtfertigungsgrundlage der Einschränkung der Freiheit der Individuen (die Schädigung Dritter) beinhaltet also implizit ein Werturteil über den Endzustand der kausalen Ereignisfolge einer schiefen Ebene. Die Schädigung besteht darin, dass ein objektiver Wert unterminiert wird. Das Argument geht in dieser Hinsicht sogar zu weit. Haftet nämlich dem Leben einer Person ein objektiver Wert an, der von der individuellen Einschätzung unabhängig besteht, muss gar keine Schädigung Dritter vorliegen, welche die Freiheitsbeschränkung rechtfertigt. Der Verwies auf die objektive Gegebenheit des Wertes an sich genügt, um einer Person ihre Freiheit entziehen zu dürfen, da sie durch eine Aufgabe des Rechts diesen Wert verletzen würde.66 3.3 Einwand: Weshalb unveräußerliche Rechte? Ein weiteres Problem der Rechtfertigung unveräußerlicher Rechte durch die Schädigung von Drittpersonen liegt darin, dass aus der Begründung nicht hervorgeht, weshalb die Verhinderung einer Drittschädigung durch eine rechtliche Unmöglichkeit bewerkstelligt werden sollte. Eine Schädigung würde grundsätzlich auch ein Verbot rechtfertigen.
65 66
Vgl. von Hirsch, A./Schorscher, V. C. 2010, S. 338. So auch der Vorwurf des Rechtspaternalismus in ebd.
222
Kapitel X: Zwang und Schädigung Dritter
So ist es bspw. der Fall, dass wenn eine Person A mit einer anderen Person B eine Vereinbarung trifft, eine weitere Person C zu töten, sich die beiden strafbar machen, wenn die Handlung ausgeführt wird. Die Tatsache, dass die Vereinbarung keine rechtliche Gültigkeit besitzt, ist für eine Beurteilung des Falles unerheblich. Dementsprechend müsste auch eine Veräußerung rechtlich beurteilt werden, wenn durch sie eine Drittschädigung erfolgt. Ein Veräußerungsverbot wäre wohl zielführender als eine rechtliche Unmöglichkeit. Dies würde zwar noch nicht bedeuten, dass der Personenkreis, welcher durch die Veräußerung negativ affiziert würde, dann einen Anspruch darauf hätte, dass die Rechtsträgerin ihr Recht nicht veräußert. Vielmehr würde es sich bei der Handlung um eine Art „Gefährdungsdelikt“ handeln.67 Wenn die Sachlage so interpretiert wird, könnte man unveräußerliche Rechte als ein Bündel bestehend aus einem normativen Vorteil zusammen mit einer Pflicht ohne konkrete Adressatin konzipieren.68 Die Rechtsträgerin könnte zudem auf der Rechtfertigungsgrundlage der Schädigung von Drittpersonen auch bestraft werden. Die Strafe oder eine rechtliche Sanktion wäre aus „retributiven“ Motiven gerechtfertigt, da sich die veräußernde Person einer schädlichen Handlung schuldig gemacht hätte. Ebenso wäre wohl die „präventive“ Wirkung einer Bestrafung ungleich grösser als jene durch eine rechtliche Unmöglichkeit. Es würde sich also die Frage stellen, weshalb die Unveräußerlichkeit eines bestimmten Rechts nicht durch strafrechtliche Verbote unter Androhung von Sanktionen durchgesetzt würde. Dies entspricht, wie bereits dargelegt wurde, jedoch nicht dem Rechtsgefühl im Falle der Veräußerung bestimmter Rechte. Unveräußerliche Rechte bestehen intuitiv nicht zum Zweck des Schutzes von Drittpersonen, sondern zum Schutz der Rechtsträgerin selbst. Es ist jedoch anzumerken, dass es Fälle gibt, in denen eine Schädigung von Drittpersonen durch eine Veräußerung vorliegt, in denen eine rechtliche Unmöglichkeit sinnvoll ist und ein Verbot zu einem falschen Resultat führen würde. So kann es bspw. der Fall sein, dass eine Firma oder auch eine Privatperson, bewusst vor einem bevorstehenden Konkursverfahren das verbleibende liquide Vermögen an eine nahestehende Person verschenkt. Die Leidtragenden der Schenkung sind die Gläubiger, welche im Konkursverfahren eine geringere Rückerstattung ihres Vermögens erwarten müssen.69
67 Die Unterlassungspflicht würde somit nicht unbedingt mit einem Recht korrelieren, da kein Individualrechtsgut identifiziert werden könnte. Insofern wären die Rechtsträgerinnen nicht die geschädigten Drittpersonen. 68 Siehe dazu die Einwände in Kap. III, 3.3. 69 Vgl. Rose-Ackerman, S. (1985): „Inalienability and the Theory of Property Rights“, Columbia Law Review 85 (5), S. 950.
3. Schädigung Dritter
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Würde man nun diese Veräußerungshandlung anhand eines Verbots und einer rechtlichen Sanktion in Form einer Busse zu verhindern versuchen, wäre dies im Resultat nicht wirksamer als eine rechtliche Unmöglichkeit, bei welcher das Eigentumsrecht am Vermögen nicht die Besitzerin wechseln kann. Sowohl bei einem Verbot als auch bei einer Unmöglichkeit bestünde für das Konkursamt wohl die Möglichkeit, das Vermögen von der beschenkten Person zurückzuverlangen; im ersteren Fall aufgrund der widerrechtlichen Aneignung, im letzteren Fall aufgrund der Nichtigkeit der Übertragung. Die Busse hätte aber weder abschreckende noch vergeltende Wirkung. Die juristische Person könnte die Busse ohnehin nicht bezahlen, da sie bei einer Verurteilung bereits Konkurs gegangen wäre. Somit hätte ein Verbot, das durch Sanktionen durchgesetzt würde, keinen Zweck. Diese und andere Situationen würden somit Fälle darstellen, in dem die Unveräußerlichkeit durch eine Schädigung von Drittpersonen durchaus gerechtfertigt sein könnte. Es handelt sich hierbei aber nicht um zentrale Rechte, die durch solche Unmöglichkeiten geschützt würden und eine Auseinandersetzung mit unveräußerlichen Rechten ist auf dieser Ebene u.U. juristisch, nicht aber moralphilosophisch interessant.
Kapitel XI
Konklusion Unveräußerliche Rechte können nicht freiwillig aufgegeben oder transferiert werden. D.h. sie beinhalten eine Einschränkung der Möglichkeiten der rechtstragenden Personen. Diese Einschränkung wurde in dieser Abhandlung als eine „rechtliche Unmöglichkeit“ beschrieben: Individuen, die ein unveräußerliches Recht besitzen, können dieses nicht mit rechtlicher Wirksamkeit freiwillig aufgeben. Auf der Grundlage dieser rechtstheoretischen Analyse des Konzepts wurde versucht, seine unterschiedlichen philosophischen Implikationen zu erläutern. Die Idee solcher Rechte ist ideengeschichtlich, systematisch und ethisch höchst interessant. Weshalb gibt es unveräußerliche Rechte und kann es sie überhaupt geben? Einige Antworten auf diese Fragen wurden aus unterschiedlichen Perspektiven geliefert.
1. Beziehung zu Grundrechten Wie versucht wurde zu zeigen, ist es sinnvoll, unveräußerliche Rechte als Untersuchungsgegenstand losgelöst von demjenigen der Grundrechte und demjenigen der Menschenrechte zu betrachten. Es ist weder der Fall, dass unveräußerliche Rechte notwendig auch fundamentale, moralisch signifikante Rechte darstellen und dass deshalb die individuelle Verfügung über diese Rechte deshalb eingeschränkt werden sollte. Noch ist es der Fall, dass alle Menschenrechte und Grundrechte unveräußerlich sind oder sein sollten (These zu F1). Die weit verbreitete Überzeugung, dass ein solcher Zusammenhang besteht, ist darauf zurückzuführen, dass Verfassungstexte und Unabhängigkeitserklärungen starken Bezug auf die kontraktualistischen Theorien der frühen Neuzeit nehmen, in denen unveräußerliche Rechte eine zentrale Annahme darstellen. Es sind gemäß diesen Theorien Rechte, welche die Individuen in einem vorstaatlichen Urzustand nicht freiwillig aufgeben können. Ein durch Vertrag gerechtfertigter Staat ist somit nicht befugt, diese Rechte zu beschneiden, da die Individuen auf sie bei der Konstituierung des Staates durch ihr Einverständnis nicht verzichten können. Eine Loslösung des rechtstheoretischen Konzepts unveräußerlicher Rechte von demjenigen der Grund- und Menschenrechte eröffnet nun neue Anwendungsbereiche für das Konzept in Debatten der angewandten Ethik. Ein zentra-
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Kapitel XI: Konklusion
les Anliegen dieser Untersuchung bestand somit darin, die Perspektiven zu erweitern. Speziell mit Blick auf Rechte zwischen Individuen (und nicht bloß Rechten gegenüber dem Staat) beinhaltet die Kategorie unveräußerlicher Rechte rechtsethisch brisante Fragen. Inwiefern kann oder soll die Vertragsfreiheit eingeschränkt werden? Weshalb kann man in bestimmte Rechtsverletzungen nicht einwilligen? Um diese Fragen zu beantworten, bedarf es eines Konzeptes unveräußerlicher Rechte, das über die Idee von Grundrechten hinausgeht. Im positiven Recht sind unveräußerliche Rechte zum einen da zu erkennen, wo Einschränkungen der Vertragsfreiheit bestehen. Es gibt ungültige Verträge, die aufgrund ihres Inhaltes keine rechtliche Wirksamkeit entfalten. Aufgrund dieser Einschränkung besitzen Rechtsträgerinnen keine Befugnis, frei über ihr Recht zu verfügen. Zum anderen gibt es „absolute“ strafrechtliche Unterlassungspflichten, die ein Individuum nicht auflösen kann. Es kann bestimmte Handlungen nicht durch Einwilligung rechtfertigen. Diese rechtlichen Einschränkungen können unter dem Aspekt unveräußerlicher Rechte betrachtet werden, sofern man davon ausgeht, dass nicht nur Grundrechte solche Rechte darstellen können.
2. Vereinbarkeit mit einer Willenstheorie Unveräußerliche Rechte stehen zudem im Fokus des Diskurses über eine angemessene Theorie der Rechte. Die „Willenstheorie“ kann, wie sie bis anhin konzipiert wurde, unveräußerliche Rechte nicht erfassen. Dieser Umstand kann als Kritik an der Theorie geltend gemacht werden. Der Begriff subjektiver Rechte, der aus der Theorie folgt, schließt die Unmöglichkeit der Aufgabe oder des Transfers eines Rechts logisch aus. Das zentrale Element der Willenstheorie wurde mit dem Begriff ‚Kontrollthese‘ bezeichnet. Gemäß der These ist bei einem subjektiven Recht die Befugnis zur Aufgabe und zum Transfer notwendig gegeben, auch wenn eine Person eine nicht-autonome Veräußerungsentscheidung trifft. Die Willenstheorie ist somit dazu verpflichtet, jede Veräußerungsentscheidung unhinterfragt als schützens- und achtenswert zu erachten. Folglich ist es nicht möglich, nicht-autonome Rechtsverzichte zu verunmöglichen. Nun wurde in dieser Abhandlung versucht, eine Willenstheorie so zu modifizieren, dass sie dennoch unveräußerliche Rechte konzipieren kann. Wenn dies gelingen würde, so die Hoffnung, könnte die Existenz unveräußerlicher Rechte unabhängig vom jeweils zugrundeliegenden rechtstheoretischen Ansatz nachgewiesen werden. In einer metatheoretischen Auseinandersetzung darüber, was eine Theorie der Rechte leisten soll, wurden die Beweggründe hinter einer Willenstheorie aufgedeckt. Das liberale Grundverständnis der Theorie verlangt, wie gezeigt
Konklusion
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wurde, nicht notwendigerweise danach, dass eine rechtstragende Person stets Kontrolle über ihre Rechte besitzt. Eine Willenstheorie kann somit ohne besagte Kontrollthese auskommen und dennoch ihrem normativen Ideal gerecht werden. Sofern die hier vorgeschlagene „Theorie autonomer Entscheidungen“ ein möglicher Ansatz ist, stellt sie eine Willenstheorie ohne Kontrollthese dar, welche unveräußerliche Rechte erfassen kann (These zu F2). Die Theorie verlangt als Kriterium für den rechtlichen Schutz einer freien Entscheidung eine bestimmte Qualität derselben. Eine rechtliche Möglichkeit der Veräußerung wird davon abhängig gemacht, dass die Trägerin des Rechts autonom ist und gemäß ihren subjektiven Interessen handelt. Ist die Rechtsträgerin bei einer Veräußerungsentscheidung nicht autonom, kann ein Recht unveräußerlich sein. Diese Theorie wurde verteidigt und sie wurde anderen Ansätzen gegenübergestellt, welche versuchen, eine Willenstheorie mit einer „Interessetheorie“ zu verbinden. Es wurde aber gezeigt, dass eine solche Kombination dem Anspruch einer Willenstheorie nicht genügt.
3. Kritik an der Begründung durch objektive Werte Ein klassisches Argument zur Begründung einer Einschränkung der individuellen Verfügungskompetenz über ein Recht ist dasjenige der „Menschenwürde“. Dieses Konzept beinhaltet eine Bezugnahme auf einen Wert, der unabhängig von der individuellen Wertschätzung besteht. Ein Individuum soll nicht über bestimmte Rechte verfügen können, weil es sonst dadurch seine eigene Würde infrage stellen würde. Dies ist aber bei Weitem nicht das einzige Argument, das versucht, die Unveräußerlichkeit gewisser Rechte mit Verweis auf einen „objektiven Wert“ zu untermauern. Eine Vielzahl von Argumenten enthält eine ähnliche Bezugnahme auf solche Werte. In dieser Untersuchung wurde diese Begründungsform aber als ungenügend zurückgewiesen und kritisiert. Da die Existenz objektiver Werte und objektiver Interessen kaum eindeutig nachgewiesen werden kann, ist auch die Begründung der Freiheitseinschränkung durch solche Werte schwer möglich. Es handelt sich um metaphysische Annahmen. Sie können nicht empirisch verifiziert werden. Insofern kann der Staat, welcher die Veräußerung eines Rechts aufgrund (vermeintlich) objektiver Werte einschränken will, keinen hinreichenden Nachweis für die Wahrheit der Begründung der Einschränkung liefern. In pluralistischen Gesellschaften ist zudem ein Konsens über solche Werte schwer zu erreichen. Die Annahme objektiver Werte beinhaltet somit ein Begründungsproblem: Durch die Voraussetzung von Werten, welche von der individuellen Wahrnehmung unabhängig existieren, wird impliziert, dass ein Individuum in bestimmten Fällen nicht die Kompetenz besitzt, den „richtigen Wert“ eines Rechts zu
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Kapitel XI: Konklusion
erkennen. Es muss seitens der Verfechterinnen der Idee objektiver Werte nun aber gezeigt werden, weshalb dem Individuum diese Kompetenz abgesprochen werden kann oder darf. Darüber hinaus muss auch gezeigt werden, weshalb aus einer objektiven Perspektive ein spezifisches Recht überhaupt einen Wert besitzt. Aus einer Idee, dass das objektive Recht die Aufgabe besitzt, substantielle Werte zu schützen und zu wahren, kann eine Vielzahl sehr illiberaler Folgerungen abgeleitet werden. Einem solchen Rechtssystem könnte einerseits der Auftrag zukommen, gewisse als objektiv vorausgesetzte Werte durchzusetzen. Ein dem zugrundeliegendes Staatsverständnis beinhaltet so gesehen die Befürwortung „rechtsmoralistischer“ Einschränkungen individueller Freiheit, die nicht wertneutral sein können. Andererseits liefert eine Bezugnahme auf objektive Interessen einen Grund, Individuen zu bevormunden. Die Rechtsträgerinnen, so die Vorstellung, sollen vor sich selbst geschützt werden. Eine solche Auffassung wird nicht geteilt und deshalb wurde von einer Begründung unveräußerlicher Rechte durch Verweis auf objektive Werte gezielt Abstand genommen.
4. Liberale Argumente zur Begründung Es gibt nun aber unterschiedliche Formen einer liberalen Argumentation für die Unveräußerlichkeit eines Rechts. Eine erste Möglichkeit besteht darin, die Freiwilligkeit bestimmter Veräußerungshandlungen in Frage zu stellen. Wenn eine Person nicht autonom ist, dann entspricht die Handlung möglicherweise nicht ihrem eigentlichen Willen bzw. ist die Handlung nicht freiwillig. Eine Einschränkung der Freiheit durch die Unmöglichkeit, ein Recht zu veräußern, kann so gerechtfertigt werden, ohne dass auf objektive Interessen oder objektive Werte abgestützt werden muss. Zudem ist der Rechtfertigungsgrund kompatibel mit dem Vorschlag einer autonomen Entscheidungstheorie (Thesen zu F2 und F3). Es wurde mit dem subjektiven Interesse des Individuums argumentiert. Die Handlungsfreiheit darf deshalb eingeschränkt werden, weil eine Veräußerung nicht diesem Interesse entspricht. Zwei Formen solcher Argumente wurden vorgestellt: einerseits das Argument der sanften Bevormundung bei Urteilsunfähigkeit oder Unmündigkeit des Individuums, andererseits das Argument der Vermeidung von Rechtsveräußerungen aus Zwang. Beide Argumente sind in bioethischen Debatten anzutreffen. Deshalb wurden zwei prominente Diskurse aus der Disziplin zur Illustration verwendet, welche auf die Unveräußerlichkeit bestimmter Rechte implizit Bezug nehmen: einerseits die Debatte über die Sterbehilfe und andererseits die Debatte über einen legitimen Organhandel.
Konklusion
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Die Nicht-Autonomie eines Individuums ist grundsätzlich eine kontingente Gegebenheit, die von der spezifischen Situation abhängig ist, in der eine Veräußerung getätigt wird. Zur Begründung der Freiheitseinschränkung aufgrund einer Urteilsunfähigkeit oder aufgrund von Zwang wird nun aber ein notwendiger Zusammenhang zwischen der Nicht-Autonomie der Rechtsträgerin und der Veräußerungsentscheidung bei bestimmten Rechten vorausgesetzt. Diese Annahme ist je nach zugrundeliegendem Rechtsgut sehr restriktiv. Eine Möglichkeit, die sich implizit anbietet, sie zu rechtfertigen, besteht darin, dass wiederum ein objektives Interesse am Rechtsgut unterstellt wird. Die Argumente enthalten u.U. also einen möglichen Bezug zu objektiven Werten, der zuvor abgelehnt wurde. Eine zweite Möglichkeit zur moralischen Begründung unveräußerlicher Rechte kann darin bestehen, die Veräußerung eines Rechtsgutes als „Fremdschädigung“ aufzufassen. Aus liberaler Sicht ist die Freiheitseinschränkung zur Vermeidung von Schäden an Dritten gerechtfertigt. Es bedarf nun aber einer gewissen Interpretationsleistung, um die Veräußerung eines Rechts als Fremdschädigung aufzufassen. Zwei mögliche Formen einer solchen Argumentation wurden vorgestellt: einerseits die Begründung der Unveräußerlichkeit zur Vermeidung „kollektiver Handlungsprobleme“, andererseits das Argument der „negativen externen Effekte“ der Veräußerung. Diese beiden Begründungsmuster besitzen den Vorteil, dass auf ihrer Grundlage die Unveräußerlichkeit gewisser Rechte jeweils sehr pragmatisch (d.h. aus „instrumentellen“ Nützlichkeitserwägungen) gerechtfertigt werden kann. Zur Vermeidung kollektiven Schadens einerseits und zur Vermeidung des Schadens für die übrigen Rechtsträgerinnen andererseits können Unveräußerlichkeiten dienlich sein. Bei beiden Ansätzen scheint es jedoch nicht notwendig, dass eine rechtliche Unmöglichkeit bestehen muss. Schädigungen an Drittpersonen durch Veräußerungen können durch Beseitigung der konkreten Umstände, unter welchen eine Veräußerung schädlich ist, ausgeschlossen werden. Eine offene Frage bleibt auch, ob zur Erreichung der in diesen Argumenten vorausgesetzten gesellschaftspolitischen Ziele die Unmöglichkeit der Veräußerung eines Rechts das geeignete Mittel darstellt. Wenn durch eine Veräußerung ein Schaden entsteht, dann ist eine Vermeidung des Schadens denjenigen Personen geschuldet, die vom Schaden betroffen sein könnten. Auf der Grundlage beider Argumente könnte somit auch für eine Pflicht zur Unterlassung der Veräußerung des Rechts argumentiert werden. Es zeigt sich, dass eine liberale Rechtfertigung unveräußerlicher Rechte eine philosophische Schwierigkeit darstellt. Die Freiheitseinschränkung des Individuums durch die Unmöglichkeit, ein Recht zu veräußern, ist grundsätzlich rechtfertigungspflichtig.
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Kapitel XI: Konklusion
Die Bezugnahme auf objektive Werte zur Begründung unveräußerlicher Rechte wurde abgelehnt. Eine solche Argumentation kann berechtigterweise kritisiert und hinterfragt werden. Wer jedoch die Annahme teilt, dass Werturteile nicht durch den Staat oder durch das Recht auferlegt werden sollen bzw. dass die Kompetenz zur Werte-Bildung dem Individuum obliegt, muss auf die genannten liberalen Argumente zur Begründung der Unveräußerlichkeit von Rechten eingehen. Die hier erläuterten Begründungsansätze für die Unveräußerlichkeit bestimmter Rechte sind, wie gezeigt wurde, nicht ohne Probleme. Ziel muss es daher sein, sich bei der moralischen Begründung unveräußerlicher Rechte, diese Argumente und die möglichen Einwände gegen sie vor Augen zu halten. Eine Auseinandersetzung mit den hier festgestellten Problemen ist unumgänglich. Wer also aus einer wertneutralen Perspektive die Existenz unveräußerlicher Rechte als moralisch gerechtfertigt erachtet, sieht sich vor die Herausforderung gestellt, den hier erläuterten Argumenten zu begegnen.
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Index
Abtreibung 18 aggregativ 182, 189 akteursbezogen 151, 193 Alltagssprache 194 alltagssprachlich 43 Analogieargument 205 f. anarchistisch 146 Anspruchserhebung 30 f. Antragsdelikt 31 Arbeitsethos 201 Arbeitslosigkeit 125, 210 Arbeitsmonopson 210 Ausbeutung 125, 191, 199 ff., 207 Autonomie 201 Befehlstheorie 32, 35 f. Behaviorismus 4 Beihilfe 90, 192 Betrug 57 Bevormundung 2, 135, 138, 157, 165, 174, 176 ff., 180, 224 Beweislast 171, 173, 215 f. boni mores 90 Bottom-up-Ansatz 152 conditio humana 61 Dammbruch-Argument 215 Deduktion 150 deontisch 16, 39 deontologisch 10, 151, 194 deskriptiv-rekonstruktiv 118, 120, 142 deskriptiv-revisionistisch 118 ff., 125, 128, 142 Diebstahl 57, 92, 123, 185 Drittschädigung 210, 213, 216 f. Einverständnis 2, 51, 57, 72, 80, 95, 191
Einverständniserklärung 213 Einwilligung in − Folter 81 − Körperverletzung 47 f., 56, 85, 94, 123, 136, 149, 182 − medizinischen Eingriff 123 − pactum subjectionis 74 − Selbsttötung 192 − Selbstversklavung 59 − Sterbehilfe 192 − Tötung 213 empirisch 4, 118, 151, 170, 180, 207, 215 f., 223 epistemisch privilegiert 173 Erfolg 116 f. Erfolgskriterien 117 Essentialismus 8 Ethik 8, 19, 75, 151, 166 − angewandte 75, 166 − Bio- 201 − Rechts- 8, 13, 149, 154, 171 − Tugend- 151 − Verfahrens- 150 Exklusivitätsthese 168 ff. Extension 83, 115 extensional 3 externer Effekt 212 f., 225 Freiheitsmaximierung 182, 189 Garantenpflicht 96, 179 Gedankenexperiment 61, 77, 148, 152, 183 f. Geltung 5, 8, 64, 86, 98, 133, 147 General Equilibrium Theory 186 Gerechtigkeit 4 ff., 12, 70, 81 Gerechtigkeitsbewusstsein 152 Gesellschaftsvertrag 1, 59, 70 ff.
242 Grundrechtsverzicht 87, 98 ff. Imperativtheorie 36 impossibilum nulla est obligatio 88 in dubio pro reo 213 Intension 84 intensional 3 Interesse − objektives 132 ff., 140, 157, 163, 176, 198, 225 − subjektives 12, 114, 132 f., 136, 140 f., 173, 176 ff., 193 ff., 198 ff., 209 ff., 224 Interessetheorie 12 f., 101 ff., 108 ff., 119, 121, 137, 141 f., 144, 159 f. interne Logik 119, 154 interventionistisch 63 intuitiv 43, 93, 148, 168, 182, 184, 196 ff., 218 − kontra- 127, 188, 197 Inzest 95 f. irrational 177, 179 iustum pretium 91, 200 Judiz 150 kasuistisch 150 Klagebefugnis 28, 31, 147 kohärentistisch 154 kollektive Handlung 186, 208 ff. Kombinationstheorie 101 f., 140 ff. Kommensurabilität 86, 188, 190 Konkursverfahren 218 konsequentialistisch 151, 204 Konservativismus 119 Konsumgesellschaft 201 kontrafaktisch 72 kontraktualistisch 70 ff. Kontrollthese 102 ff., 107, 109, 113, 121 ff., 131, 135 ff., 142 f. Korrelativitätsthese 24, 93, 124 Kosten-Nutzen-Abwägung 213 Leihmutterschaft 171, 192 libertär 86 linguistisch 118 Lohnarbeitsverhältnis 61, 126
Index Marktlogik 169 f. marxistisch 206 Menschenwürde 156, 161, 163 ff. metaethisch 169 metaphysisch 4, 15, 75, 183, 190, 223 metatheoretisch 102, 121 f. Monopson 125 Moral 7, 11, 15, 122, 145, 150, 152 ff., 158, 187 − kritische 153, 158 − positive 11, 15, 152 f., 158 moralepistemologisch 173 moralische − Begründung 5 ff., 10, 62, 102, 150, 181, 225 − Frage 56, 166, 175, 179 − Gründe 6, 21, 71, 78, 137, 213 − Intuition 10, 65, 75, 119, 152 f., 172, 198, 202 − Rechtfertigung 7, 9, 11, 71, 75 f., 84, 135, 138, 145, 152 f., 174, 202, 208 − Signifikanz 84, 86, 137 − Überzeugung 5, 9 ff., 44, 65, 151, 152 ff., 175, 198, 205 − Verantwortung 18 f., 61 Moraltheorie 152 mündig 17, 126, 128, 165, 172, 184, 188 naturalistischer Fehlschluss 77 f. , 119, 153, 158 naturrechtlich 51, 78, 175 neoklassische Ökonomie 4 Nichtigkeit 59, 88 f., 218 Nicht-Schädigungsprinzip 160, 176, 212 Nihilismus 7 normative Beziehung 20 ff., 28, 29, 30, 32 ff., 49 ff., 63, 71, 76, 106 f., 116 ff., 120, 129, 212 normativer Nachteil 22 f., 27 ff., 37 ff., 64, 67, 111, 212 normativer Vorteil ... 11, 21 ff., 32 f., 35, 37 ff., 41 ff., 47 f., 50, 67, 105 f., 109, 111, 114, 121, 136, 147, 175, 218 Normativismus 8 normativ-rekonstruktiv 119 normativ-revisionistisch 119, 121 f., 124 f., 128 f., 142
Index normlogisch 11, 57, 153 Normsetzung 30 Nötigung 95, 168, 191 Notrecht 18 Notstand 80 ontologisch 43 Organhandel 167, 203 ff., 224 Organspende 167, 204 pactum subjectionis 60 Paternalismus 135, 159 f., 176 f., 180 f. − harter 135, 138, 177 f., 180 − sanfter 135, 138, 176 ff., 180, 224 Patientenverfügung 91 personale Identität 127 Pflicht − absolute 81, 83, 92, 94 f., 123, 128 − Bürger- 24 − negative 79 − positive 79 − Rechts- 26, 31, 57, 65 f., 112 − relative 92, 123 − Schweige- 106 − Unterlassungs- 20, 26, 31, 33, 44, 47, 48, 56 f., 64, 66 f., 81, 89, 94 f., 97, 108, 123, 146, 157, 178, 218 − unveräußerliche 166 − Wohltätigkeits- 24 pluralistische Gesellschaft 223 positive Freiheit 108 Positivismus 4 − Gesetzes- 5 − Rechts- 4 f. positivistisch 4, 5, 7, 15 Präferenz 132, 140, 156 f., 162, 184, 186 ff., 197, 208, 217 − expansive 197 f. prisoner’s dilemma 209 Proposition .....84, 116, 118 f., 121, 131, 150 f., 154 − falsifizierbar 125, 188 − normative 20 f., 24, 152 f. Prostitution 171 Radbruch’sche Formel 8 rational 133, 179 f., 214 reaktive Einstellung 64
243 Recht (objektiv) − Arbeits- 108, 128 − Gewohnheits- 5 − öffentliches 87, 97, 99 − positives 16, 67, 77 f., 81, 87, 150 − Privat- 11, 87 f., 128 − Straf- 6, 11, 31, 87, 92 ff., 123 f., 128, 149, 212 − Vertrags- 125 f., 128 − Völker- 64 − Zivil- 123, 125 Recht (subjektiv) − absolutes 28, 71, 80 ff., 85, 97 f. − aktives 26, 103, 106 − Anspruchs- 24, 28, 30 f., 35, 44, 47, 49, 79, 82, 87, 92, 95, 103 ff., 108 ff., 123, 128, 138 f., 142, 145, 182, 209 − Eigentums- 20, 31, 42, 49, 51 ff., 84 ff., 91 f., 126 f., 203, 206, 218 − Erlaubnis- 26, 32 f., 35 − Freiheits- 51, 53, 72 f., 83, 91, 106, 137, 145 − generelles 19 − Gestaltungs- 28 − Grund- 1, 3, 12, 36, 45, 97 ff., 161 f. − Herrschafts- 54 − in personam 20 − in rem 20, 21, 54 − Menschen- 1, 3, 12, 59, 62, 67, 69 ff., 78 ff., 86 f., 97, 161, 165 − natürliches 12, 33, 69 ff., 76 f., 84 − passives 26, 37 − Persönlichkeits- 37 − spezifisches 19 − Status- 20 − Subjektions- 36, 38 − verbindliches 65 f., 97 − Wahl- 2, 28, 37 f., 45, 46, 48, 86, 100, 107, 211 Recht auf − Autonomie 2, 58 − Bewegungsfreiheit 45, 80 − Eheschließung 36 − Eigentum 3, 53, 57 − freie Meinungsäußerung 23, 25 f., 76, 84, 97, 106 − Freiheit vor Sklaverei 46, 60 − Glaubens- und Gewissensfreiheit 3, 45
244 − körperliche Integrität 47 f., 85, 94, 123, 128, 201 − Leben 2, 3, 18, 44, 52 ff., 75, 89, 93, 96 f., 128, 178 ff., 214 ff. − Mindestlohn 125, 128, 136, 209 − Niederlassungsfreiheit 36, 45 − Pressefreiheit 97 − Privatsphäre 2 − Religionsfreiheit 97 − Schutz vor Folter 81 f., 85 − sexuelle Integrität 95, 148, 216 Rechtsfindung 5, 81, 200, 212 f. Rechtsgleichheit 150 Rechtsgut 6, 17, 29, 43, 54 f., 71, 76, 85 f., 89, 93, 102, 126, 135, 150, 157, 163, 167, 178, 181, 202, 204, 207, 213, 215 f., 225 − Individual- 93 f., 96, 124, 218 Rechtsgüterabwägung 188 f. Rechtsmacht 27, 141 rechtsmoralistisch 157 ff., 161, 168, 172, 194, 209 rechtspaternalistisch 142, 157, 161, 209 Rechtssicherheit 150 rechtsstaatlich 32 rechtswirksam 56, 91, 98, 106, 164, 179, 193 rechtswissenschaftlich 8, 118 Reduktionismus 7 Reflexwirkung 66, 112 Rekonstruktion 9, 10, 65, 150, 152 f., 155, 198 rekonstruktiv 11, 117 ff., 123, 124 retributiv 64, 218 Rettungsfolter 81 revisionistisch 117 ff., 143, 154 Sachbeschädigung 31 sadomasochistisch 81 Sanktion 64, 218, 219 sanktionieren 6, 55, 85 Schändung 95 Schenkung 92, 218 schiefe Ebene 215, 217 sexuelle Nötigung 95 sexuelle Selbstbestimmung 95 Sittenwidrigkeit 90 f., 94 skeptisch 86, 172 Sklaverei 46 f., 52, 58 ff., 62
Index Sollens-Satz 30, 122 soziale Tatsache 15 f., 147 sozialer Druck 192, 201 f. Sterbehilfe 51 f., 75, 96, 178 ff., 188, 224 Subjektion 27, 36 ff., 48, 50, 60 f. Suizid 2, 96, 137, 178, 192, 213 f. Suizidalverhinderung 178 Symbolcharakter 214 Tatbestand 92, 123 Tatbestandsausschluss 92, 95, 124 Testament 91 Theorie autonomer Entscheidungen 131, 135, 138, 140, 142 ff., 178, 209 Top-down-Ansatz 76, 151 Tötung 2, 52, 96, 136, 179, 215 f. Tötung auf Verlangen 2, 44, 89, 91, 96, 178 f., 191, 212 ff. tragedy of the commons 209 Trennungsthese 5 übermäßige Bindung 83, 91 Übervorteilung 90, 200 überwiegende Gründe 80, 81, 98 Ungültigkeit 3, 88 Unmöglichkeit − faktische 55, 58, 62, 67 − rechtliche 11, 28, 44, 54 f., 57 f., 62 ff., 67, 88 ff., 98, 113, 135, 142, 148, 157, 171, 181 f., 204 f., 210, 214, 217 f., 225 Unmündigkeit 56, 59, 127, 139, 175, 224 unsichtbare Hand 187 Unverbindlichkeit 88 Urteilsfähigkeit 165, 172, 177, 179 f., 184, 188, 195, 224 Urteilsunfähigkeit 128, 178 ff. Urzustand 33, 72, 74 f., 77 Utilitarismus − liberaler 208 − Präferenz- 114, 186, 188 utilitaristisch 151, 187, 208 f. Verbindlichkeit 29 Verbot − Betretungs- 45 − Folter- 83, 98
Index − Konkurrenz- 53, 91, 106 − Tötungs- 89, 97, 178, 215 − Veräußerungs- 64 f., 217 Verfügung 128 Verhandlungsmacht 199, 210 Vertrag − Arbeits- 27, 38, 46, 51, 61, 126, 208, 210 − bindender 100, 147 − Exklusivitäts- 91 − gültiger 46, 59, 147 − Kauf- 50, 56, 90, 134 − nicht bindender 2, 57, 83 − nichtiger 59, 64, 88 ff., 106 − öffentlich-rechtlicher 99 − sittenwidriger 3, 90 − ungültiger 2, 29, 46, 53, 55, 64, 91, 192, 204, 212 − unmöglicher 58, 88 − unverbindlicher 64, 88, 91 − Verkaufs- 2, 29, 126 − widerrechtlicher 57, 89 ff., 107 Vertragsfreiheit 3, 83, 87 f., 90, 108, 128, 168, 192, 207 Verzichtserklärung 46, 99 volenti non fit iniuria 124, 174 Wahrheitswert 143 weibliche Genitalverstümmelung 47, 94, 201 Wert − instrumenteller 133, 166, 169 ff., 187 f. − intrinsischer 133, 169 f., 182 ff., 186 − objektiver 12 f., 149 ff., 163, 165, 168 ff., 174, 181, 183, 194, 209, 214, 216 f., 223 ff. − substantieller 167
245 Wertekonzeption 183, 190 Wertepluralismus 159 werteskeptisch 190 wertmonistisch 187 wertneutral 173, 224, 226 Wertschätzung 159, 162, 171, 183, 207, 215 f. Wertung 8, 10, 86, 156, 169, 171, 198, 206, 215 Werturteil 171, 198, 215 ff., 225 Widerspruch 58 f., 61, 154, 160, 169, 204 widerspruchsfrei 7, 9, 150 Wille 102, 113, 115, 132, 136, 159, 160, 177 Willensäußerung 31 Willensfreiheit 61, 62 Willenstheorie 12 f., 30, 101 ff., 113 ff., 119 ff., 131 f., 135 ff., 159, 161, 174 wissenschaftlich − Anspruch 129 − Diskurs 128 − Erkenntnis 117 − Methode 4 − Sprache 118 wissenschaftstheoretisch 4, 119, 150 Wohlfahrt 22, 81, 110 ff., 131, 182, 186, 187, 208 Wucher 90, 200 Würde 70, 161, 163 ff., 169, 218 Zirkelschluss 80, 181 Zoophilie 6, 7 Zwang − ökonomischer 136, 192, 203 ff. − physischer 177 − staatlicher 63 f., 72, 98, 147 Zwangsehe 34, 185 f.