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German Pages 308 [298] Year 2023
Margreth Egidi, Ludmila Peters, Jochen Schmidt (Hg.) (Un)verfügbar – Kulturen des Heiligen
BiUP General
Margreth Egidi (Prof. Dr.) ist Professorin für Deutsche Literatur und Sprache des Mittelalters an der Universität Paderborn. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Erzähllogiken vormoderner Texte, die Medialität mittelalterlicher Literatur, den höfischen Liebesdiskurs, Diskursivierungen von Heiligkeit sowie Gaben- und Tauschlogiken. Ludmila Peters (Dr.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Paderborn und seit 2016 Mitredakteurin der Zeitschrift für deutsche Philologie (ZfdPh). Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen das historische Erzählen im Vormärz, Religion und Literatur, Narratologie sowie Gegenwartsliteratur. Jochen Schmidt (Prof. Dr.) ist Professor für Systematische Theologie mit Schwerpunkt Dogmatik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen theologische Anthropologie und theologische Hermeneutik.
Margreth Egidi, Ludmila Peters, Jochen Schmidt (Hg.)
(Un)verfügbar – Kulturen des Heiligen
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Inhalt
Un/verfügbar – Kulturen des Heiligen Einleitung Margreth Egidi/Ludmila Peters/Jochen Schmidt .............................................7
Theoretische Perspektiven Das Heilige – Versuch einer Definition Norbert Otto Eke/Jochen Schmidt ......................................................... 21 Von der Kritik an der Säkularisierungsthese zur Rekonfiguration zeitgenössischer Gesellschaftsverständnisse Was leisten Entwürfe zur Soziologie der Heiligkeit? Jens Jetzkowitz/Oliver Schmidtke ........................................................ 37
Begriffs- und Wortfelder Zum Gebrauch geheiligt Oder: Die kultisch-weltliche Spannung des Heiligen im Judentum Elisa Klapheck ........................................................................... 63 Das Heiligkeitskonzept der synoptischen Jesusüberlieferung im Spannungsfeld von »Unverfügbarkeit« und »Verfügbarkeit« Ein Deutungsversuch Angelika Strotmann ...................................................................... 77 Die Karriere eines substantivierten Adjektivs »Das Heilige« von der Mentelin-Bibel (1466) bis zum Manifest der kommunistischen Partei (1848) Martin Leutzsch .......................................................................... 115
Exemplarische Analysen Menschlicher Körper, heiliger Körper Zur Kreuzigung Christi im Donaueschinger Passionsspiel Marie-Luise Musiol .......................................................................175 Selbstwerdung des Gottes-Lamms Ästhetische Aneignung von Unverfügbarkeit in Friedrich Spees Trvtz-Nachtigal Lothar van Laak......................................................................... 189 Gebaute Heiligung Wie Stadtumbau und Heiligenverehrung des späten 17. und frü hen 18. Jahrhunderts Paderborn in eine heilige Stadt verwandelten Johannes Süßmann ..................................................................... 203 Unzuverlässigkeit und Unverfügbarkeit in der Gegenwartsliteratur Benjamin Steins Poetik des Un-Zuverlässigen Ludmila Peters ...........................................................................221 »Wenn die Heilige Zeit da ist, werde ich […] weggehen« Heilige Zeit in Claudia Llosas Madeinusa Norbert Otto Eke ........................................................................ 237
Interdisziplinäre Perspektiven Transformation durch Vermittlung Das Heilige in der Geschichte pädagogischen und literarischen Wirkens der Jesuiten in Lateinamerika Christine Freitag/Annegret Thiem........................................................ 253 Pop-Ikonen Transformationen des Heiligen in der deutschen Pop(musik)kultur Christoph Jacke/Harald Schroeter-Wittke ................................................ 273
Anhang Beiträger*innen ........................................................................ 303
Un/verfügbar – Kulturen des Heiligen Einleitung Margreth Egidi/Ludmila Peters/Jochen Schmidt
Das Heilige ist aus ihm eigenen Gründen schwer zu fassen. Der vorliegende Band wendet sich dieser Problematik zu; er versammelt Beiträge einer interdisziplinären, kulturwissenschaftlich orientierten Ringvorlesung zum Thema »Kulturen des Heiligen in Geschichte und Gegenwart«, die an der Universität Paderborn stattfand und aus einer langjährigen Forschungskooperation hervorging. Versucht man, grundlegende Strukturen der Rede vom Heiligen zu identifizieren, so wird deutlich, dass funktional ausgerichtete Definitionsversuche das Heilige entweder a) als Abgesondertes oder b) als in Lebensvollzüge Integriertes oder als c) dialektische oder paradoxale Gleichzeitigkeit von Absonderung und Integration konzeptualisieren. Der Band plädiert für die letztgenannte Sichtweise, in der das Heilige als von zwei Polen gekennzeichnet scheint: dem Moment der Absonderung auf der einen und der Integration auf der anderen Seite, oder, abstrakter ausgedrückt, der Unverfügbarkeit auf der einen und dem Verfügbarmachen auf der anderen Seite. Entscheidend ist, dass gemäß dem hier vorgeschlagenen Strukturbegriff immer beide Pole präsent sind, wenn auch in verschiedenen Mischverhältnissen (s.u.), und dass beide Pole spannungsvoll aufeinander bezogen sind: Auch dort, wo das Heilige mit Blick auf seine sinnstiftende Kraft betrachtet wird, verweisen Rhetoriken der Unüberbietbarkeit, Unverrechenbarkeit und Unverfügbarkeit auf das Moment der Absonderung; auch dort, wo das Moment der Absonderung im Vordergrund steht, lässt sich ein Bezug zu einer produktiven gesellschaftlichkulturellen Funktion der jeweiligen Rekurse auf das Heilige herstellen. Gerade kraft seiner Negativität (hier im formalen Sinne) übt das Heilige eine sozial bzw. kulturell produktive Kraft aus. Die Disposition der Beiträge folgt einer an den unterschiedlichen Herangehensweisen und Zugängen orientierten systematischen Aufbaulogik: Eröffnet wird der Band mit zwei konzeptionell-theoretischen Beiträgen. Dem schließen sich Studien zu Begriffs- und Wortfeldern des Heiligen im Judentum und in der synoptischen Jesusüberlieferung sowie ein historischer Längsschnitt durch unterschiedliche Diskurse des 15. bis 19. Jahrhunderts an. Punktuelle Tiefenbohrungen folgen den Spuren des Heiligen anhand so unterschiedlicher Gegenstände und Kontexte wie dem
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spätmittelalterlichen Passionsspiel, geistlicher Lyrik des Barock, politisch imprägnierter Architektur des 17. und 18. Jahrhunderts sowie dem zeitgenössischen Roman und Film der Gegenwart. Den Abschluss bilden zwei Beiträge zu jesuitischer Missionsfrömmigkeit und zur populären Kultur der Gegenwart mit ausgeprägt interdisziplinärem Zugriff. Der an den Anfang gestellte Beitrag von Norbert Otto Eke und Jochen Schmidt (Das Heilige – Versuch einer Definition) nimmt die entsprechenden begrifflichen Grundentscheidungen vor. Innovativ ist der hier vorgestellte Heiligkeitsbegriff insofern, als er strukturell definiert ist und damit sowohl eine übergreifende Klammer bildet als auch auf konkreter Ebene flexibel genug ist, um eine Vielzahl von Disziplinen miteinander ins Gespräch zu bringen und auf ganz unterschiedliche Felder kulturwissenschaftlicher Forschung bezogen werden zu können. Das Heilige wird von den Herausgeber*innen und Beiträger*innen grundsätzlich als Ergebnis von Aushandlungen verstanden, als diskursives bzw. performatives Erzeugnis, das als solches permanentem kulturellem Wandel unterworfen ist. Es soll bewusst keine substantialistische Definition zugrunde gelegt werden, die der Auffassung des Heiligen als einem Produkt diskursiver und performativer Aushandlungen, als einem wandelbaren kulturellen Phänomen, in keiner Weise gerecht werden könnte. Zugleich gibt der gewählte Heiligkeitsbegriff eine Möglichkeit an die Hand, der Gefahr zu begegnen, zum ›Passepartout‹ zu werden, da er als Strukturbegriff angelegt ist: Er bewegt sich, wie oben erläutert, im Spannungsfeld zwischen ›Unverfügbarkeit‹ und ›Verfügbarkeit‹. Damit bietet der Sammelband eine in dieser Form noch nicht gefundene und erprobte Neudefinition des Heiligen als heuristisches Instrument, das eine Vielzahl von Phänomenen neu zu sehen erlaubt. Die vorgeschlagene Definition ermöglicht auch eine präzisierende Relationierung von ›heilig‹ und ›religiös‹: Der im Folgenden entwickelte Heiligkeitsbegriff kann, ohne seine Trennschärfe zu verlieren, sowohl auf religiöse als auch auf nichtreligiöse Bereiche und Gegenstandsfelder bezogen werden – sofern die erwähnte Spannung zwischen ›verfügbar‹ und ›unverfügbar‹ beobachtbar ist. Dies erlaubt nicht zuletzt, auch in Kulturen der Moderne und Spätmoderne Aspekte und Phänomene des Heiligen aufzufinden und den Ansatz auf unterschiedliche Epochen, historische Felder und kulturelle Kontexte zu beziehen. Für die inter- und transdisziplinäre Forschung ist der gewählte Heiligkeitsbegriff äußerst produktiv, da er auch dort aufschlussreiche strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen Forschungsgebieten erkennen lässt, die auf den ersten Blick sehr weit voneinander entfernt liegen, und damit auch für unterschiedlichste Fachdiskussionen, Forschungsgebiete und Gegenstandsbereiche eine integrale Perspektive bietet. Die Beiträge setzen sich mit religiös semantisierten wie nicht-religiösen Dimensionen des Heiligen auseinander; ihre Untersuchungsfelder erstrecken sich zeitlich von der Antike bis zur Gegenwart. Vertreten sind die folgenden Forschungsdisziplinen: Jüdische Stu-
Margreth Egidi/Ludmila Peters/Jochen Schmidt: Einleitung
dien, Katholische und Evangelische Theologie, Soziologie, Erziehungswissenschaft, Geschichte, Germanistik, Romanistik und Popkulturforschung. Der für den Sammelband zentrale Strukturbegriff des Heiligen ist selbst Produkt eines kulturgeschichtlichen Emanzipationsprozesses. In diesem sind – neben den Bedeutungstransformationen in den ästhetischen, philosophischen und anverwandten Diskursen der okzidentalen Neuzeit (vgl. Leutzsch in diesem Band) – insbesondere auch die in den Sozialwissenschaften geführten Diskussionen zum Verhältnis von Religion, Heiligkeit und Gesellschaft von Interesse, die Jens Jetzkowitz und Oliver Schmidtke in ihrem Beitrag Von der Kritik an der Säkularisierungstheorie zur Rekonfiguration zeitgenössischer Gesellschaftsverständnisse – Was leisten Entwürfe zur Soziologie der Heiligkeit? untersuchen. In der Geschichte der Sozialwissenschaften nimmt dabei Max Webers Theorie der universalhistorischen Rationalisierung eine Schlüsselstellung ein, insofern sie die Rekonstruktion von Gesellschaftsentwicklung ohne die in materialistischen Gesellschaftstheorien angelegte Ideologie der Religionskritik ermöglicht. Gleichwohl legt Webers Theorie in der Konsequenz einen Verlust an Sinnstiftung durch Religion nahe – eine immer wieder kritisch diskutierte Annahme. So hat in den 1960er Jahren Luckmanns These der »Invisible Religion« auf die anhaltende Bedeutung der Religion aufmerksam gemacht. Esoterik und New Age-Bewegung in den späten 1970er und 1980er Jahren, deutlicher jedoch noch die fundamentalistischen Strömungen in den Erlösungsreligionen führten in den 1990er Jahren zu kritischen Diskussionen der Säkularisierungsthese. Deren Revision eröffnet verschiedene konzeptuelle Optionen, Sinnstiftungen und den Umgang mit Kontingenzen und Unverfügbarkeiten in zeitgenössischen Gesellschaften in den Blick zu nehmen. Ausgehend von oder in Auseinandersetzung mit Durkheims Versuch, soziologisch mit Hilfe des Begriffs der Heiligkeit eine allen Religionen gemeinsame Grundlage zu bestimmen, haben sich – so die These – bei Caillois, Parsons, Shils, Alexander, Lynch, Mellor/Shilling, Franzmann und anderen Ansätze zu einer Soziologie der Heiligkeit entwickelt, die bei aller Verschiedenheit eine Grundannahme teilen: dass Problemlagen, die in früheren Gesellschaften religiös bearbeitet wurden, durch »den Aufstieg der säkularen Option nicht einfach verschwinden« (Joas 2014). Der Beitrag fragt, was sich aus den verschiedenen Ansätzen für eine Soziologie der Heiligkeit lernen lässt und wie diese zum Verständnis zeitgenössischer Gesellschaftsentwicklungen beitragen. In ihrem Beitrag Zum Gebrauch geheiligt. Oder: Die kultisch-säkulare Spannung des Heiligen im Judentum geht Elisa Klapheck der Spannung zwischen Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit in jüdischer Tradition nach. Das hebräische Wort kadosch (»heilig«) birgt von vornherein eine für die jüdische Tradition typische kultisch-säkulare Spannung. Sie verweist auf ein Unverfügbares, das seinen Ursprung außerhalb der Welt, in Gott als dem eigentlichen Eigentümer allen Lebens hat. Im Wege der ›Heiligung‹ (kidusch) wird jedoch dieses Unverfügbare für seine Anwendung in der Welt ›gewidmet‹ (= hikdisch, abgeleitet von k-d-sch), also verfügbar gemacht. In der Trans-
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formation eines unverfügbaren Heiligen zu seiner geheiligten Anwendung erklärt sich das rabbinische Verständnis des Heiligen. Die innere Spannung des Begriffs ›heilig‹ besteht dabei in einer kultisch-rituellen sowie in einer ethisch-weltlichen Seite. Ihr Ursprung findet sich bereits in der Tora (Pentateuch), etwa in der Mitte des 3. Buch Moses im unmittelbaren Aufeinandertreffen des ›Priestergesetzes‹ (Lev 1–18) und des ›Heiligkeitskodex‹ (Lev 18ff.). Angelika Strotmann problematisiert und revidiert in Das Heiligkeitskonzept der synoptischen Jesusüberlieferung im Spannungsfeld von »Unverfügbarkeit« und »Verfügbarkeit«. Ein Deutungsversuch zwei voneinander unabhängige Thesen in der neutestamentlichen Forschung, die lange Zeit das Thema ›Heiligkeit‹ in der synoptischen Jesusüberlieferung geprägt haben und zum Teil bis heute prägen: 1. Heiligkeit sei als Thema in der Jesusüberlieferung irrelevant und marginal; 2. Heiligkeit werde in der Jesusüberlieferung gegenüber der antiken jüdischen Heiligkeitskonzeption neu definiert, da sie die Verbindung von Abgrenzung und Heiligkeit in Frage stellt und stattdessen Heiligkeit als ethische, grenzüberschreitende Macht behauptet. Dagegen zeigt die vorliegende Untersuchung zum einen, dass das Begriffsfeld ›Heiligkeit‹ in der Jesusüberlieferung eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt, zum anderen, dass die Heiligkeitskonzeption der Jesusüberlieferung auf zentralen jüdischen Traditionen aufruht, die kultische Heiligkeit mit ethischer Heiligkeit in einer spannungsvollen Bewegung verbinden, Absonderung mit Integration, Unverfügbares mit Verfügbarem. Ohne die traditionellen Formen der Unverfügbarkeit des Heiligen in Frage zu stellen, kritisiert die Jesusüberlieferung die Tendenz jüdischer Zeitgenossen, den Formen der Absonderung eine größere Bedeutung zu geben als den Formen der Integration. Die Geschichte des Substantivs ›das Heilige‹ arbeitet Martin Leutzsch in seinem Beitrag Die Karriere eines substantivierten Adjektivs: »Das Heilige« von der Mentelin-Bibel (1466) bis zum Manifest der kommunistischen Partei (1848) auf. Längst bevor ›das Heilige‹ durch Rudolf Ottos gleichnamiges Buch zu einer zentralen Kategorie der Religionsphänomenologie wurde, hatte dieses substantivierte Adjektiv schon eine Geschichte. Der Beitrag skizziert sie erstmals für die Zeit von der ersten gedruckten deutschsprachigen Bibelübersetzung bis zum Jahr 1848. Zwei Stadien der Wortgeschichte zeichnen sich ab: Über knapp zwei Jahrhunderte ist ›das Heilige‹ Element der Bibelsprache und lädt, weil insbesondere auf Tempel und Abendmahl bezogen, zu allegorischen Deutungen ein. Zusätzlich zu diesen von Experten und Laien in religiösen Diskursen genutzten Bedeutungsdimensionen, die auch in der Folgezeit aktiviert werden, wird ›das Heilige‹ ab 1750 in einer Vielzahl von Diskursen verwendet und nimmt zum Teil zentrale argumentative Positionen ein. Das gilt für ästhetische (Literatur, Musik, Malerei, Schauspiel), philosophische, pädagogische, psychiatrisch-medizinisch-psychologische sowie für religiöse und theologische Diskurse. Am Ende des Berichtszeitraums wird der von Zeitgenossen zum Teil als inflationär bewertete Gebrauch des Konzepts ›das Heilige‹ Gegenstand philo-
Margreth Egidi/Ludmila Peters/Jochen Schmidt: Einleitung
sophischer Dekonstruktion und philosophisch-politischer Kontextualisierung und Kritik. Von der für das Heilige konstitutiven Spannung von Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit geht auch der Beitrag Menschlicher Körper, heiliger Körper. Zur Kreuzigung Christi im ›Donaueschinger Passionsspiel‹ von Marie-Luise Musiol aus. Geistliche Spiele des Mittelalters zeichnen sich durch einen besonderen Darstellungsmodus von Gewalt- und Versehrungshandlungen gegen Jesus aus, der sich aufspannt zwischen der Fokussierung der Täterperspektive auf der Handlungsebene und der religiösen Funktionalisierung der Spiele. Vor der Folie dieser gattungsspezifischen Darstellungslogik, die sich mit der literarischen Inszenierung der Jesusfigur in Geistlichen Spielen verbindet, fokussiert der Beitrag am Beispiel eines prominenten Spieltextes des 15. Jahrhunderts, des Donaueschinger Passionsspiels, die Frage nach Zuschreibungen von Menschlichem und Heiligem, die den Körper Jesu betreffen. Der Beitrag geht von der Beobachtung aus, dass in der literarischen Inszenierung von Gewaltund Versehrungshandlungen in mittelalterlichen Geistlichen Spielen unterschiedliche Dimensionen des Körpers Jesu hervorgebracht und gegeneinander abgewogen werden. Anhand der Kreuzigungsszene wird untersucht, wie diese Dimensionen voneinander abgegrenzt oder einander angenähert werden und inwieweit diese Aushandlungsprozesse im Verlauf des Textes ein Spannungsverhältnis erzeugen, das möglicherweise konstitutiv für die Gattung ist. Es wird damit einerseits eine literaturwissenschaftliche Perspektive auf eine vormoderne Konfiguration von Unverfügbarkeit und einer prozessualen Verfügbarmachung entworfen, die sich absetzt von anderen Darstellungsmodi der Heiligkeit Christi. Andererseits schlägt der Beitrag eine disziplinäre Brücke zwischen diskursiven und performativen Implikationen vormoderner Passionsdarstellungen und zeigt, dass auch damit verknüpfte Vorstellungen von Heiligkeit historisch wie kulturell variabel sind und komplexen Aushandlungsprozessen unterliegen. Die subjektive ›Aneignung‹ des Heiligen im Spannungsfeld von Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit fokussiert der Beitrag Selbstwerdung des Gottes-Lamms. Ästhetische Aneignung von Unverfügbarkeit in Friedrich Spees ›Trvtz-Nachtigal‹ von Lothar van Laak. Am Beispiel von Lied Nr. 37 aus Friedrich Spees Trvtz-Nachtigal, das sich mit dem Gleichnis vom verlorenen Schaf auseinandersetzt, untersucht der Beitrag die Transformationsdynamiken des Heiligen näher. Gezeigt wird, dass das Gedicht eine Verwandlung durchspielt, nach der die Leser*innen in ihrer religiösen Imagination selbst zum Heiligen geöffnet werden. Mittels der ästhetischen Imagination wird das Heilige als das Unverfügbare doch verfügbar gemacht. So gewinnt die Selbstwerdung, die das Gedicht modelliert, Züge einer Selbstheiligung, die auch im Blick auf ein häretisches Potenzial mystischer Literatur zu diskutieren ist. An einem weiteren Beispiel, Spees bekanntem Weihnachtslied Zu Betlehem geboren, werden die Konsequenzen dieser Dynamik noch weiter verdeutlicht, die das Verfügen über das Heilige als Inkarnationsmodell Gottes im und als Selbst des Menschen darstellen lässt.
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Mögen Ästhetiken des Heiligen auch immer von Unverfügbarkeit imprägniert sein, das dem Heiligen eignende Spiel von Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit kennt doch Phasen konkretester Materialisierungen. Solchen geht Johannes Süßmann in seinem Beitrag Gebaute Heiligung: Wie Stadtumbau und Heiligenverehrung des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts Paderborn in eine heilige Stadt verwandelten nach. Am Beispiel der Stadt Paderborn führt der Beitrag vor, wie Städtebau (hier: die Errichtung neuartiger, ›extrovertierter‹ Kirchen im Stil des ›Fürstenberger Barocks‹) im Verbund mit veränderten Frömmigkeitspraktiken (Prozessionen, Wallfahrten, Lied- und Gebetsformen) eine Stadt und ihr Umland zur heiligen Landschaft deklarieren konnten. Gezeigt wird, welche konfessionellen und politischen Wirkungen damit erzielt wurden; erklärt wird diese Art der (konfessions-)politischen Kommunikation aus der Not des Fürstbistums Paderborn nach dem Dreißigjährigen Krieg. Während das Heilige im Kontext der Heiligenverehrung zunächst als durchaus verfügbar erscheint, bildet das Unverfügbare die heimliche Pointe: Die (Selbst-)Heiligung durch Heiligenverehrung lief darauf hinaus, das Gemeinwesen unter transzendenten Schutz zu stellen. Der Beitrag vermag den heuristischen Wert des Modells von Heiligkeit zu zeigen, das dem Band zugrunde liegt, indem es für den barocken Stadtumbau Paderborns eine Dimension an den Tag bringt, die von der Forschung bislang nicht wahrgenommen wurde. Ludmila Peters’ Beitrag Unzuverlässigkeit und Unverfügbarkeit in der Gegenwartsliteratur – Benjamin Steins Poetik des Un-Zuverlässigen führt die Reihe ästhetischer Annäherungen an das Heilige fort. Seit den 1990er Jahren sind zahlreiche deutschsprachige literarische Texte erschienen, die sich zu Religion bzw. zum Heiligen verhalten. Von der literaturwissenschaftlichen Rezeption sind sie dabei größtenteils einseitig unter dem Narrativ der Wiederkehr der Religion (Koschorke) subsumiert worden, ohne dass die spezifischen Verflechtungen im diskursiven Feld von Religion(en), Spiritualität, religiöser Erfahrung, Mystik und Säkularisierung problematisiert würden. In diesem Fluchtpunkt findet sich mit Benjamin Stein ein Autor, der in seinen literarischen Texten Judentum/jüdische Mystik, Erkenntnismöglichkeiten und säkulare Gesellschaft verhandelt. Dabei stellen seine fiktionalen Texte – Alphabet des Juda Liva (1995), Die Leinwand (2012) und Replay (2012) – Versuchsanordnungen dar, die die auf normalisierten Wahrnehmungsmustern beruhenden Perspektiven nicht nur hinterfragen, sondern durch Formen des unzuverlässigen Erzählens gezielt aufstören, ohne letztgültige, sichere, sei es religiöse oder säkulare, Positionen zu ›verkünden‹. Der Beitrag plädiert dafür, die Romane, hier am Beispiel von Die Leinwand, nicht, wie es aktuell der Fall ist, inhaltlich nur auf das Thema ›Religion‹ hin zu lesen. Vielmehr wird die These aufgestellt, dass Die Leinwand das Heilige, verstanden im Sinne des hier vorgestellten Strukturbegriffs als Spannung zwischen Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit, ästhetisch-strukturell adaptiert, indem der Text einerseits immer wieder Rezeptions-, Verständnis-, Gattungszuweisungen nahelegt und aufruft, diese aber gleichzeitig im unzuverlässigen Erzählen einer Letztgültigkeit
Margreth Egidi/Ludmila Peters/Jochen Schmidt: Einleitung
und Absolutheit wieder entzogen werden. Die ästhetische Anverwandlung des Heiligen zu einer Poetik des Un-Zuverlässigen positioniert den Roman so als literarischästhetische Störung des dominanten säkularen Diskurses – als ein Plädoyer für eine Öffnung zum Irrationalen. Dass dem Heiligen ein inkommensurables, vorgefundene Ordnung einreißendes Moment innewohnt, verdeutlicht Norbert Otto Ekes Beitrag »Wenn die Heilige Zeit da ist, werde ich […] weggehen«. Heilige Zeit in Claudia Llosas Madeinusa. In ihrem Film Madeinusa (Peru/Spanien 2006) entwirft die Regisseurin Claudia Llosa das Bild eines mundus inversus, einer buchstäblich ›verkehrten‹ Welt, die ihre Mitte findet in einem christlich-abendländische und indigene Kultformen verschmelzenden Fest der Überschreitung: der Tiempo santo (›Heilige Zeit‹). Als kollektive Synthesis ist es einem kulturellen ›misreading‹ im Horizont inter- und transkultureller Hybridisierungsprozesse geschuldet. Als vitalistische Feier des Lebens schafft das Fest der ›Heiligen Zeit‹ einen Raum der Lizenzen, die kathartische Entladungen ermöglichen; es zielt damit auf die in den tieferen Schichten des Unterbewussten abgespeicherte Prähistorie der kulturell überformten Wirklichkeit. Gleichzeitig liegt ihr das Wissen um Verbot und Tabu als Apriori zugrunde. Einerseits folgt das Fest als Ek-stasis in der Abwesenheit des urteilenden Auges (Gottes, des Gesetzes) Strategien einer Profanierung, die das dem »allgemeinen Gebrauch der Menschen« (Agamben) Entzogene, das nicht mehr Regulierbare und Regierbare, in eine Sphäre der Verfügbarkeit und des Gebrauchs zurückholt; andererseits ist es als reines Präsens eingebettet gleichsam in eine chronometrische (d.i.: geregelte) Zeit, die sichtbar ausgestellt wird in Gestalt eines leibhaftigen Chronometers und durch die Rückbeziehung auf die durch Gott in Gang gesetzte Zeit der erlösten Welt (Ostern als Finalpunkt des Ausnahmezustands) in paradoxaler Weise re-ontologisiert ist. Der Beitrag analysiert dieses ambigue Modell eines in der Welt-Praxis anwesenden Heiligen und bezieht es zurück auf die Erfahrung von ›Ex-sistenz‹ (im Wortsinn als das aus sich Heraustretende) als Riss, Fraktur und Spaltung in den sozial und identitär divergenten Ländern Mittelamerikas mit ihren Ungleichheiten und Ungleichzeitigkeiten zwischen Stadt und Land. Dass die Aushandlung des Heiligen mit gesellschaftspolitischen Strategien und Projekten tief verwoben ist, zeigt der Beitrag Transformation durch Vermittlung: Das Heilige in der Geschichte pädagogischen und literarischen Wirkens der Jesuiten in Lateinamerika von Christine Freitag und Annegret Thiem. Der Aufsatz untersucht die missionarischen Vermittlungsbemühungen der Jesuiten gegenüber den indigenen Volksgruppen der Guaraníes, der Tupi und der quechuasprachigen Indigenen Hispanoamerikas aus erziehungswissenschaftlicher und literaturwissenschaftlicher Perspektive. Während der erziehungswissenschaftliche Schwerpunkt Transformationen des Heiligen anhand von Rekonstruktionen der missionarischen Alltagspraktiken zeigt, untersucht die literaturwissenschaftliche Perspektive Formen des jesuitischen Theaters sowie theatralische Inszenierungen
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im Hinblick auf den Nutzen der performativen Praxis missionarischer Alltagspraktiken. Beide Sichtweisen dienen der Darstellung jesuitischer Strategien, wahrgenommene kulturelle Differenz, insbesondere solche, die Werte und Moral betrifft, zu überbrücken oder gar zu nivellieren. Zugleich erschließen sich Räume für Aushandlungen des Heiligen in der gemeinsamen Generierung ›christlicher‹ Sinnhaftigkeit. Während das Heilige sich jedem Verfügen entzieht, wird es doch auch zum Gegenstand populärer Kulturen und Medien. Dies wird in Christoph Jackes und Harald Schroeter-Wittkes Beitrag Pop-Ikonen. Transformationen des Heiligen in der deutschen Pop(musik)kultur deutlich. Er stellt sich– zwischen Popular Music Studies, Theologie und Medienkulturwissenschaft – der Aufgabe, die Geschichten, Diskurse, Bühnen und Figuren deutschsprachiger Popmusikkulturen anhand von vier Pop-Ikonen zu erforschen, die jeweils seit etwa drei Jahrzehnten dauerhaft populär sind: Marius Müller-Westernhagen, Nina Hagen, Andrea Berg und Rammstein. Die bei diesen Stars vorgenommen Spurensuchen des Heiligen, ihre ›Heilig-Sprechungen‹ durch Fans, Medien und (Selbst-)Inszenierungen zwischen ferner Unerreichbarkeit und naher Verfügbarkeit zeigen, wie ihnen der Status von Pop-Ikonen zugeschrieben wird. Der Begriff der Pop-Ikone als Funktion von derartigen Stars kann im Sinne einer Figur aufgefasst werden, die – durchaus auch als Marke verstanden – den Raum ins Jenseits des Alltags öffnet und damit ein ›Dazwischen‹ markiert, das die Lebenswelt der Rezipierenden erleichtert, unterhält, trägt. Produktion, Distribution, Rezeption/Nutzung sowie Weiterverarbeitung benennen dabei unterschiedliche Ebenen der Transformationen des Heiligen in und durch die Texte und Kontexte dieser Figuren (z.B. in Musikvideoclips, Live-Performances, Alben, Autobiographien). Vor diesem Hintergrund wird eine erste Spurenlese an ausgewählten Fallbeispielen vorgenommen: Westernhagens Jesus, Nina Hagens Bekenntnisse, Andrea Bergs Paradies und Rammsteins Feuer, aus denen sich weiterführende Forschungsfragen ergeben, z.B. die Frage nach Männlichkeits-, Weiblichkeits- und allgemein Identitätskonstruktionen, nach Heiligem und Erotik bzw. Sexualität oder nach dem Verhältnis von religiösen und nicht-religiösen Dimensionen des Heiligen im Prozess der Pop-Ikonisierung. Der Versuchung, aus dem Heiligkeitsbegriff, den die an der Forschungskooperation Beteiligten erarbeitet haben, ein Koordinatensystem zu entwickeln und die Präsentation der Beiträge diesem Koordinatensystem unterzuordnen, haben die Herausgebenden nach längeren Beratungen, die bereits das gemeinsame Nachdenken im Rahmen der Forschungskooperation geprägt haben, widerstanden. Sie sind sich der Gefahr bewusst, dass ein Horizont, in dem die äußerst unterschiedlichen untersuchten Gegenstände miteinander in Kontakt treten, zum alles beherrschenden Prinzip erklärt werden kann. Und doch: Das gemeinsame Nachdenken über Semantiken, Praktiken und mediale Inszenierungen des Heiligen hat zu der Erkenntnis ge-
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führt, dass sich entlang des besagten Heiligkeitsbegriffs Beziehungen zwischen den Beiträgen bzw. deren Gegenstandsfeldern erschließen lassen, die unerwartete, einander überkreuzende Perspektiven auf die jeweiligen Forschungsgegenstände eröffnen. Daher soll zum Abschluss der Einleitung das Wagnis unternommen werden, die sehr divergierenden Beobachtungen und Erkenntnisse der Beiträge unterschiedlichen Konfigurationen von Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit zuzuordnen. Entzogenheit kann sich so darstellen, dass das mit der alltäglichen Wirklichkeit Inkommensurable das Alltägliche durchschlägt, wenn es auf dieses trifft. In diesem Fall bricht das Heilige in das Alltägliche verstörend ein. Das Heilige interagiert zwar mit dem Nicht-Heiligen, aber nicht so, dass es mit diesem eine Verbindung einginge, sondern so, dass es dieses geradezu zerreißt. Auf eine solche Präsenz des Heiligen stoßen Ludmila Peters und Norbert Eke in ihren Beiträgen. In Peters’ Überlegungen zu Benjamin Steins Roman Die Leinwand kommt diese verstörende Dimension des Heiligen als Einbruch eines Wunderbaren, einer unfassbaren Gabe in die alltägliche Welt zur Geltung – als Ereignis, das sich in den Grenzen dessen, was vorhandene Kommunikationsweisen abzubilden vermögen, nicht abbilden lässt. Strukturell ähnliche Beobachtungen stellt Eke in seinem Beitrag zu Claudia Llosas Film Madeinusa an. Das von der indigenen Bevölkerung des Ortes, in dem der Film spielt, begangene Fest des Tiempo Santo zelebriert eine Durchbrechung aller etablierten Ordnung, in deren Vollzug Verbote, Tabus und Sanktionen fallen, einen Übertritt in eine andere, dionysische Ordnung, eben jene des Tiempo Santo. Die Beiträge von Eke und Peters fokussieren mithin das Disruptive, Inkommensurable, die Radikalität des Heiligen, das in das Alltägliche nicht sich verbindend eingeht, sondern es vielmehr versehrt. Entzogenheit kann sich jedoch umgekehrt auch so darstellen, dass das zunächst von der Alltagswirklichkeit radikal Unterschiedene mit ihr durch Akte der Vergegenwärtigung in äußerst enge Verbindungen gebracht wird, dass also eine zunächst als solche erscheinende Entrücktheit des Heiligen sich als Verbundensein des Heiligen mit dem Alltäglichen und Verfügbaren entfaltet bzw. erschließt. Eine solche dominant verbindliche und verbindende, erhebende und eben nicht disruptive Dynamik des Heiligen legen die in weit auseinanderliegenden Feldern verorteten Untersuchungen Lothar van Laaks, Elisa Klaphecks und Christoph Jackes/Harald Schroeter-Wittkes dar. Ästhetische Imagination, so van Laak in seiner Untersuchung zu Friedrich Spees Trvtz-Nachtigal, ist eine Verfügbarmachung des Unverfügbaren. Durch ästhetische Praxis vollzieht sich eine Verwandlung des sich ästhetisierenden Subjekts, eine Selbstheiligung, auch verstanden als eine Erweiterung der Haltung der Lesenden. Eine bei aller Differenz des Gegenstandsfeldes ähnliche Bewegungsrichtung steht auch im Fokus der Überlegungen Klaphecks zum Heiligen im Judentum. Heiligung bedeutet aus Sicht des Judentums, dass ein unverfügbares Heiliges im Sinne der kultisch-säkularen Spannung des Begriffs mitten im Leben wirksam wird. Das Heilige durchdringt jene Wirklichkeit, die in
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seinen Bannkreis gerät, anstatt ihr gegenüberzustehen: Mensch und Gott, Gott und Mensch stehen in reziproken Beziehungen. Es wird in der Gegenwart geschichtlichen Lebens präsent und wirksam, die Tora ist kein entrücktes Objekt, sondern ein Gebrauchsgegenstand. Das Heilige durchdringt das, was geheiligt wird, und zwar so, dass es sich mit diesem verbindet, anstatt es zu zerreißen. Dass das Heilige gleichsam in das Höchstpersönliche hineingezogen werden kann, verdeutlichen auch die Überlegungen von Jacke und Schroeter-Wittke zu Pop-Ikonen: Die Autoren legen dar, dass und wie Pop-Ikonen als Medium des Heiligen inszeniert sein können. Aufgrund dieser ihrer Medialität eröffnen Pop-Ikonen einen Transfer des Heiligen in die persönliche Sphäre. Beide Dimensionen – das Disruptive und das Verbindende des Heiligen – können indes auch neben- und gegeneinander stehen, ohne dabei ineinander aufzugehen. Dies verdeutlichen vor allem die Beiträge von Angelika Strotmann, Martin Leutzsch, Johannes Süßmann und Jens Jetzkowitz/Oliver Schmidtke. Strotmann legt im Rahmen der Ausleuchtung der traditionsgeschichtlichen Hintergründe der Thematisierung des Heiligen in den synoptischen Evangelien dar, dass im Zusammenhang der Erforschung des hebräischen Lexems kadosch (»heilig«) einige Exeget*innen die Aussonderung dessen, das als kadosch gilt, in den Vordergrund rücken, während andere genau diese Deutung ausdrücklich zurückweisen – je nachdem, wie stark sie sich an den Schriften priesterlicher Herkunft orientieren. Ob das Heilige eher als Unverfügbares, Desintegriertes oder eher als Verfügbares, Verbundenes erscheint, ist also nicht nur eine Frage des Gegenstandsbereichs, sondern auch eine Frage der Schwerpunktsetzung in der Fokussierung unterschiedlicher Schichten ein und desselben Gegenstands. Dass unterschiedliche Perspektiven auf denselben Gegenstand sich mit sehr unterschiedlichen Einschätzungen gerade mit Blick auf den dargelegten Heiligkeitsbegriff verbinden, legen auch Beobachtungen von Leutzsch nahe. Wenn das Heilige als das ›eigentlich‹ dem Alltäglichen Entzogene verfügbar gemacht wird, etwa durch ästhetische Inszenierung, dann kann dies auf Widerstände stoßen: Die Darstellung der Eucharistie auf der Bühne in Friedrich Schillers Maria Stuart wurde vom regierenden Herzog untersagt, und es entbrannte eine Debatte darüber, ob ›das Heilige‹ auf der Bühne dargestellt werden dürfe. Dasselbe Ereignis konnte jedoch auch die entgegengesetzte Deutung erfahren, wie jene Stimmen verdeutlichen, die die Bühne durch Einführung heiliger Gegenstände selbst geheiligt sahen: Das Heilige wird in dieser Perspektive nicht in den Raum ästhetischer Gestaltung – profanierend – ›hinabzogen‹, sondern zieht diesen – heiligend – zu sich ›hinauf‹. Dass die Unverfügbarkeit und Unantastbarkeit des Heiligen dialektische Wechselverhältnisse kennt, bringt auch Süßmann in seinem Beitrag zu Inszenierungen des Heiligen in der Stadt Paderborn des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts zur Geltung. Heiligenverehrung macht das Heilige verfügbar, bindet es in das Leben der Gemeinschaft ein. Aber dies geschieht so, dass im Ergebnis die mithin geheiligte politische Ordnung unantastbar, unangreifbar
Margreth Egidi/Ludmila Peters/Jochen Schmidt: Einleitung
wird. Entzogenheit ist hier nicht weltentrückt, im Gegenteil, Entzogenheit bietet eine geradezu unüberbietbare ideelle Stabilisierung von Ordnung. Das Heilige wird verfügbar gemacht, trägt aber die Markierung ›unverfügbar‹ gleichsam in den Raum, in dem sich das Verfügbarmachen vollzieht. Dass das Heilige kraft seiner Entzogenheit eigene Möglichkeiten gesellschaftlicher Sinnstiftung eröffnet, bestätigen auch die Überlegungen von Jetzkowitz und Schmidtke, die an die kritische Diskussion der Weber’schen Rationalisierungsthese erinnern und in diesem weiten Feld Versuche einer soziologischen Modellierung des (gerade auch nicht religiös definierten) Heiligen sichten. Zu dem Bild, das die Beiträge zeichnen, gehören jedoch auch Vorgänge der Überwältigung, die sich gegen eine Zuordnung zu den bisher erörterten Konfigurationen sperren, wenngleich sie sehr wohl Aspekte des dem Band zugrunde gelegten Heiligkeitsbegriffs in Anspruch nehmen: Entzogenheit kann sich so darstellen, dass durch die Integration einer als profan wahrgenommenen Zeichenwelt in eine vorausgesetzte Grammatik des Heiligen jene durch diese überwältigt wird. So beobachten Christine Freitag und Annegret Thiem eine instrumentalisierende Inanspruchnahme indigener religiöser und heiliger Motive durch die Jesuiten im Kontext von Missionstätigkeiten in Lateinamerika, in deren Zuge traditionelle ästhetische Praktiken der Indigenen in den Dienst des Jesuitentheaters gestellt wurde, so dass das vormals aus Sicht der Jesuiten Profane mit dem Heiligen amalgamierte. Hier dringt das Heilige in das – aus Sicht der Missionare – Profane und imprägniert dieses mit seiner Grammatik. Die Aushandlung des Heiligen in ästhetischen Inszenierungen kann aber auch umgekehrt auf die Entmächtigung des Heiligen selbst zielen: In ihren Überlegungen zu Körperinszenierungen im Passionsspiel diagnostiziert Marie-Luise Musiol, wie der menschliche Körper Jesu Christi in der literarischen Darstellung seiner Vernichtung verfügbar gemacht, zugleich damit aber im Modus der Versehrung der heilige Christuskörper performativ hervorgebracht wird, so dass die Entzogenheit des Heiligen durchbrochen wird. Die Arbeitsgruppe hat sich, wie mehrfach betont, keinen substanzontologischen Begriff des Heiligen zu eigen gemacht. Ob es ›das Heilige‹ jenseits der Deutungen als eine Dimension alles Wirklichen oder über allem Wirklichen ›gibt‹, was immer das bedeuten würde, ist eine Frage, die bewusst offen gelassen wird. Damit ist eine Deutung, die unterstellt, alles Reden vom Heiligen gründe in einer einzigen allumfassenden und in ihrem Wesen immer gleichen Wirklichkeit des Heiligen, ausgeschlossen. Dieser Verzicht eröffnet aber gerade die Möglichkeit, auf Beziehungen zu stoßen, wo man sie nicht vermutet hätte, und den unterschiedlichen Diskursivierungen des Heiligen gemeinsame Strukturen offenzulegen – Strukturen, aus denen zumindest in heuristischer Hinsicht Impulse hervorgehen, das jeweilige Material im Lichte der gemeinsamen Überlegungen anders zu befragen, als zuvor geschehen. Das erreichte Zwischenstadium gemeinsamen Nachdenkens,
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(Un)verfügbar – Kulturen des Heiligen
das in unterschiedlichen Konstellationen fortgesetzt wird, dokumentieren die im Band versammelten Beiträge. Für tatkräftige Unterstützung bei der Vorbereitung der Beiträge zur Drucklegung danken wir Sarah Eulitz, Michelle Ginder, Jennifer Lange, Sophia Mondry und Benjamin Osthaus.
Das Heilige – Versuch einer Definition Norbert Otto Eke/Jochen Schmidt
1. Vom Heiligen sprechen, heißt, sich tief hineinzubegeben in ein Feld anhaltender Definitions- und Positionskämpfe. Ausgetragen wurden und werden sie vor dem Hintergrund eines als krisenhaft empfundenen Wechsels technischer, ökonomischer, politischer, sozialer, wissenschaftlicher und kultureller Transformationen als Streit um Legitimations- und Machtansprüche, um Meinungsführerschaft und Aufmerksamkeit zwischen einzelnen Autor*innen (auch Autor*innengruppen) und auch zwischen Autor*innen und Institutionen. Dabei hatte das Heilige über Jahrhunderte hinweg die Funktion einer ›starken‹, nicht mehr hinterfragbaren Setzung, die in säkularen Gesellschaften ihre Bedeutung an andere diskursive Formierungen gesellschaftlicher Selbstverständlichkeiten verloren zu haben schien oder sie zumindest mit diesen geteilt hat. Im Horizont des »Megatrends«1 einer (vermeintlichen oder tatsächlichen) ›Wiederkehr der Religion‹ bzw. des Religiösen haben Konzepte und Vorstellungsmodelle des Heiligen im Nachgang zu der in den Kulturkämpfen des europäischen 19. Jahrhunderts entstandenen und von hier aus universalisierten2 grand récit der säkularen Moderne3 in den zurückliegenden Jahren eine erstaunliche Re-Aktualisierung oder auch Re-Vitalisierung erfahren. Die Herausbildung informeller religiöser Praktiken, Orientierungen und Organisationen jenseits der »›offiziellen‹ autoritären religiösen Codes«4 – konkret heißt
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Matthias Horx, Megatrends für die späten neunziger Jahre, Düsseldorf 1995. Manuel Borutta, Religion und Zivilgesellschaft. Zur Theorie und Geschichte ihrer Beziehung, Berlin 2005. Vgl. zur Säkularisierungsdebatte Manuel Franzmann/Christel Gärtner/Nicole Köck, Religiosität in der säkularisierten Welt, Wiesbaden 2006; Charles Taylor, A Secular Age, Cambridge/ Mass. 2007; Detlef Pollack/Gergely Rosta, Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich, Frankfurt a.M./New York, NY 2015. Shmuel N. Eisenstadt, Die neuen religiösen Konstellationen im Rahmen gegenwärtiger Globalisierung und kultureller Transformation, in: Ulrich Willems et al. (Hg.), Moderne und Religion. Kontroversen um Modernität und Säkularisierung, Bielefeld 2013, 355–377, 357.
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Theoretische Perspektiven
das: das auffallend gesteigerte Interesse an Erfahrensmomenten des Spirituellen5 – ist nur ein Ausdruck dieses Trends, mit dem der »eurozentrische Mythos einer modernen Gesellschaftsentwicklung der Vernunft, Wissenschaft und Technik ohne religiöse ›Hinterwelt‹«6 nachhaltig in Frage zu stehen scheint. Zu Recht ist allerdings auch darauf hingewiesen worden, dass das Narrativ der ›Wiederkehr‹ die Selbsterzählung der säkularen Moderne nicht wirklich revidiere, sondern vielmehr gleichsam auf dieses aufsattele.7 Es setzt das aus der Aufklärung stammende »concept of modernity«8 voraus und suggeriert die Tatsächlichkeit einer der ›Wiederkehr‹ der Religion vorgängigen säkularen Phase ihres Niedergangs. Allein die im 19. Jahrhundert zu beobachtende spezifische ›Kirchwerdung‹9 und das Fortleben von Frömmigkeitstraditionen der Aufklärung im Protestantismus bis weit in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein10 machen dieses Erklärungsmodell fraglich.11 Ungeachtet der »säkularen Option«12 (Charles Taylor) haben Menschen stets
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Paul M. Zulehner, Spiritualität – mehr als ein Megatrend, Ostfildern 2004; Regina Polak, Spiritualität – neuere Transformationen im »religiösen Feld«, in: Wilhelm Gräb (Hg.), Individualisierung – Spiritualität – Religion. Transformationsprozesse auf dem religiösen Feld in interdisziplinärer Perspektive, Berlin/Münster 2008, 89–109; Karl Baier/Josef Sinkovits, Spiritualität und moderne Lebenswelt, Münster 2006; Christoph Bochinger/Martin Engelbrecht/ Winfried Gebhardt, Die unsichtbare Religion in der sichtbaren Religion. Formen spiritueller Orientierung in der religiösen Gegenwartskultur, Stuttgart 2009, 158; Heinz Streib/Barbara Keller, Was bedeutet Spiritualität? Befunde, Analysen und Fallstudien aus Deutschland, Göttingen 2015. Annette Wilke, Säkularisierung oder Individualisierung von Religion? Theorien und empirische Befunde, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 21 (2013), 29–76, 34. Albrecht Koschorke, ›Säkularisierung‹ und ›Wiederkehr der Religion‹. Zu zwei Narrativen der europäischen Moderne, in: Willems et al. (Hg.), Moderne und Religion (Anm. 4), 237–260, 247. Callum Brown, The Secularisation Decade. What the 1960s Have Done to the Study of Religious History, in: Hugh MacLeod/Werner Ustorf (Hg.), The Decline of Christendom in Western Europe, 1750 – 2000, Cambridge 2003, 29–46, 39f. Martin Friedrich/Horst F. Rupp, Kirche im gesellschaftlichen Umbruch. Das 19. Jahrhundert, Göttingen 2006, 19. Kurt Nowak, Geschichte des Christentums in Deutschland. Religion, Politik und Gesellschaft vom Ende der Aufklärung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, München 1995, 95f.; weiterführend Wolfgang Bunzel/Norbert Otto Eke/Florian Vaßen (Hg.), Der nahe Spiegel. Vormärz und Aufklärung, Bielefeld 2008; Olaf Briese/Martin Friedrich (Hg.), Religion – Religionskritik – religiöse Transformation im Vormärz, Bielefeld 2015. Zur Kritik am Säkularisationstheorem vgl. weiterführend Pollack/Rosta, Religion in der Moderne (Anm. 3). Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, übers. von Joachim Schulte, Frankfurt a.M. 2009. Siehe dazu auch Hans Joas, Die säkulare Option. Ihr Aufstieg und ihre Folgen, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 57 (2009), 293–300.
Norbert Otto Eke/Jochen Schmidt: Das Heilige – Versuch einer Definition
»gleichwohl Sakrales« gehabt und »bestimmte Dinge als unbezweifelbar und letztgültig«13 angesehen. Im Heiligen findet so eine anhaltende Sehnsucht nach Transzendenz, Ordnung und Struktur Ausdruck. Sie ist zentriert in der Idee eines Heilenden und Unantastbaren als einer unverfügbaren und unergründlichen Dimension der Wirklichkeit, die immer wieder auch in menschlicher Erfahrung fundiert und dabei mit einer spezifischen Transzendenzerfahrung in einen Zusammenhang gebracht wird. Heidegger beispielsweise hatte entsprechend von der religiösen Erfahrung als einem Moment des »Betroffen- und Getroffenseins im innersten Selbst« gesprochen;14 Waldenfels fasst das Religiöse als hyperbolischen Erfahrungstyp, als das Sich-Zeigen von etwas, »das unseren Erwartungen zuvorkommt, die Bedingungen unserer Erfahrung übersteigt und sich unserem Zugriff entzieht«.15 Habermas hatte dem mit seinem immer wieder verkürzt zitierten Theorem der postsäkularen Gesellschaft insofern Rechnung getragen, als er damit auf die Notwendigkeit einer Neubestimmung des Verhältnisses von Religion und Moderne, ›Glauben und Wissen‹, angesichts des »Fortbestehen[s] religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend säkularisierenden Umgebung«16 hatte hinweisen wollen; er hat damit allerdings auch en passant eine Grundannahme des Säkularisierungstheorems in Frage gestellt: die Gegensatzbildung zwischen Vormoderne und Moderne, und zwar sowohl in ihrer kulturoptimistischen (progressive Rationalisierung bzw. Modernisierung) als auch in ihrer kulturpessimistischen (Modernisierung als Verfalls- und Verlustgeschichte im Blick auf das Heilige, die Gemeinschaft, das Reale) Variante bzw. Wertrichtung.17 Entscheidende Impulse für diese weit über die Religionswissenschaft und Religionssoziologie hinaus geführten Diskussionen gingen von dem 1989/90 einsetzenden Umbruch der politischen und sozialen Systeme und der seit den 1990er Jahren zu beobachtenden verstärkten Indienstnahme von Heiligkeit als »prinzipiell
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Hans Joas, Diskussionsbeitrag, in: Michael Reder/Matthias Rugel (Hg.), Religion und die umstrittene Moderne (Globale Solidarität – Schritte zu einer neuen Weltkultur 19), Stuttgart 2010, 224 – 230, 224. Martin Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie. Frühe Freiburger Vorlesung. WS 1919/20, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 58, hg. von Hans-Helmuth Gander, Frankfurt a.M. 1993, 68. Bernhard Waldenfels, Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, Berlin 2012, 364. Jürgen Habermas, Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001. Laudatio Jan Philipp Reemtsma, Frankfurt a.M. 2009, 24. Zur Kritik an Habermas’ Begriffsbildung ›postsäkular‹ Hans-Joachim Höhn, Postsäkular. Gesellschaft im Umbruch – Religion im Wandel, Paderborn 2007; Markus Knapp, Glaube und Wissen bei Jürgen Habermas. Religion in einer ›postsäkularen‹ Gesellschaft, in: Stimmen der Zeit 226 (2008), 270–280; Willems et al. (Hg.), Moderne und Religion (Anm. 4); Michael Reder, Religion in der politischen Philosophie. Am Beispiel von Richard Rorty und Jürgen Habermas, in: Reder/Rugel (Hg.), Religion und die umstrittene Moderne (Anm. 13), 176–194.
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unendliche[r] Ressource«18 in politisch-religiösen Auseinandersetzungen aus. Mit dem Zusammenbruch der staatssozialistischen Systeme begann der Zerfall der auf Europa zentrierten Nachkriegsordnung, in deren Konsequenz die Herausbildung neuer hegemonialer Ordnungssysteme und Machtzentren stand;19 zugleich schien mit dem hier ansetzenden Transformationsprozess utopisches Denken vorübergehend jeden Kredit verloren zu haben,20 was einem Markt der religiösen Angebote Türen öffnete, der mit der »Dauerpräsenz des alternativen ›Fremden‹« als der »kultur- und religionsspezifische[n] Variante« der Globalisierung in Verbindung gebracht wurde.21 Mit dem Einbruch einer offensiv-militanten Inanspruchnahme des ›Heiligen‹ in diejenigen Gesellschaften, die sich weitgehend im Konsens eines ›nachmetaphysischen Denkens‹ eingerichtet hatten,22 wurden dann nicht nur die in Europa und Nordamerika teils selbstgefälligen, teils intellektuell abgehobenen Debatten über die Konzepte von Staat, Anarchie, Widerstand und Terrorismus erschüttert; auch das Selbstverständnis einer (Welt-)Bürgergesellschaft, die sich auf die universale Gültigkeit der Aufklärung und ihrer Leitideen berufen zu können geglaubt hatte, begann seine Bindungskraft zu verlieren. Weder die »retrospektive Heiligung der Welt«23 noch die prospektive Heiligung der Vernunft wollten mehr verfangen. Der 11. September markiert, was das angeht, eine Zäsur im Denken der westlichen Hemisphäre insofern nicht allein, als sich mit ihm Totalitätskonzeptionen 18 19
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Koschorke, ›Säkularisierung‹ und ›Wiederkehr der Religion‹ (Anm. 7), 256. Shmuel N. Eisenstadt, The Transformations of the Religious Dimension in the Constitution of Contemporary Modernities – The Contemporary Religious Sphere in the Context of Multiple Modernities, in: Brigitte Luchesi/Kocku von Stuckrad (Hg.), Religion im kulturellen Diskurs/ Religion in Cultural Discourse, Berlin 2004, 337–355; ders., Die neuen religiösen Konstellationen (Anm. 4). Richard Saage, Hat die politische Utopie eine Zukunft?, Darmstadt 1992. Volker Drehsen, Zur Blasphemie der Bricolage. Literarische Sakralisierungsstrategien der beat generation, in: Klaus J. Antoni et al. (Hg.), Heilige Texte. Literarisierung von Religion und Sakralisierung von Literatur im modernen Roman, Berlin 2013, 122–148, 124; zum Problem der Zäsur von 1989 und dem neuen Interesse am Religiösen Axel Schalk, Gott heißt Elvis Presley. Zur religiösen Motivik in der zeitgenössischen deutschen Prosa, in: Julian Ernest Preece/ Frank Finlay/Sinéad Crowe (Hg.), Religion and Identity in Germany Today. Doubters, Believers, Seekers in Literature and Film, Bern 2002, 99–115. José Casanova, Public Religions in the Modern World, Chicago 1994; Habermas, Glauben und Wissen (Anm. 16); Rodney Stark, Exploring the Religious Life, Baltimore, Md 2004; Martin Riesebrodt, Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der »Kampf der Kulturen«, München 2001; Ulrich Beck, Der eigene Gott. Von der Friedensfähigkeit und dem Gewaltpotential der Religionen, Frankfurt a.M. 2008; Detlef Pollack, Rückkehr des Religiösen?, Tübingen 2009; Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a.M. 1993; Peter L. Berger, Dialog zwischen religiösen Traditionen in einem Zeitalter der Relativität, Tübingen 2011. Koschorke, ›Säkularisierung‹ und ›Wiederkehr der Religion‹ (Anm. 7), 245.
Norbert Otto Eke/Jochen Schmidt: Das Heilige – Versuch einer Definition
wie der Hegelsche Weltplan zum Besseren und zugleich auch all die anderen Denkfiguren einer ›kommenden Welt‹ der Vernunft, ihrem In-der-Welt-Sein oder ihrem Werden erledigt zu haben schienen; der 11. September markiert eine Zäsur auch, insofern er einer politischen Ausschließungslogik neuen Auftrieb gegeben hat, die schon immer säuberlich zwischen ›richtig‹ und ›falsch‹, ›gut‹ und ›böse‹ zu unterscheiden wusste – womit der westliche Liberalismus dem binären Denken des Fundamentalismus in die Falle ging – mit der debattenleitenden Konsequenz der Konzeptualisierung des Islam als »abject«.24 Die umstrittene rhetorische Konstruktion einer Zeitenwende25 (die im Zuge des Kriegs in der Ukraine eine Wiederauflage erfahren sollte) ist eine Konsequenz dieser Entwicklung, die ihrerseits zeigt, in welchem Maße in den zurückliegenden Jahren die Metaerzählung der säkularen Moderne als gleichzeitig nach außen wie nach innen gerichtetem »Distinktionsmittel« der »abendländischen Zivilisierungsmission«26 an normativer Kraft eingebüßt hat; »Secularization, R.I.P.« hat Rodney Stark bereits 1999 einen im Journal for the Scientific Study of Religion veröffentlichten Artikel überschrieben.27
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Julia Kristeva, Powers of Horror. An Essay on Abjection, New York, NY 1982; vgl. dazu auch Martin Treml/Daniel Weidner, Zur Aktualität der Religionen. Einleitung, in: dies. (Hg.), Nachleben der Religionen. Kulturwissenschaftliche Untersuchungen zur Dialektik der Säkularisierung, München 2007, 7–22; Thomas Auchter et al. (Hg.), Der 11. September, Gießen 2003; Ronald Hitzler/Jo Reichertz (Hg.), Irritierte Ordnung. Die gesellschaftliche Verarbeitung von Terror, Konstanz 2003; Sandra Poppe/Sascha Seiler (Hg.), 9/11 als kulturelle Zäsur, Bielefeld 2009; Thomas Jäger, Die Welt nach 9/11. Auswirkungen des Terrorismus auf Staatenwelt und Gesellschaft, Wiesbaden 2011; bezogen speziell auf die Literatur: Matthias N. Lorenz, Narrative des Entsetzens, Würzburg 2004; Matteo Galli/Heinz-Peter Preußer (Hg.), Mythos Terrorismus, Heidelberg 2006; Ingo Irsigler/Christoph Jürgensen (Hg.), Nine eleven, Heidelberg 2008; Ann Keniston/Jeanne Follansbee Quinn (Hg.), Literature after 9/11, New York, NY 2011; Stephan Packard/Ursula Hennigfeld (Hg.), Abschied von 9/11?, Berlin 2013; Ursula Hennigfeld, Poetiken des Terrors, Heidelberg 2014; Jesko Bender, 9/11 erzählen. Terror als Diskursund Textphänomen, Bielefeld 2017. Slavoj Žižek, Willkommen in der Wüste des Realen, Wien 2004; Jacques Derrida, Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, Frankfurt a.M. 2006; zur diskursiven Konstruktion von 9/11 als Zäsur und narrativem Ordnungsmodell Jesko Bender, Zum Denkmuster der ›Zäsur‹ im deutschen ›Terrorismus‹-Diskurs nach dem 11. September 2001, in: Inge Stephan/Alexandra Tacke (Hg.), NachBilder der RAF, Köln 2008, 268–286; Thorsten Schüller, Modern Talking – die Konjunktur der Krise in anderen und neuen Modernen, in: Sascha Seiler (Hg.), Von Zäsuren und Ereignissen. Historische Einschnitte und ihre mediale Verarbeitung, Bielefeld 2010, 13–29. Koschorke, ›Säkularisierung‹ und ›Wiederkehr der Religion‹ (Anm. 7), 238f. Rodney Stark, Secularization, R.I.P., in: Journal for the Scientific Study of Religion 60 (1999), 249–273.
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2. So vielfältig die Präsenz des Heiligen in der Gegenwartskultur ist, so schwierig erscheint es, das Heilige auf den Begriff zu bringen. Auch wenn sich kein abschließender Konsens darüber wird erzielen lassen, wie das Heilige zu definieren ist, ist doch immerhin augenfällig, dass das Nachdenken immer wieder aufs Neue ausgeht von einem begrenzten, jeweils verschieden arrangierten Bündel von Merkmalen, wobei die Bestimmungen des ›Heiligen‹ oft in einem unklaren Verhältnis zum Begriffsfeld der ›Religion‹ stehen. »Bei dem Heiligen«, so Carsten Colpe, »denken wir zuerst an Religion.«28 Das Verhältnis zwischen Religion und dem Heiligen wird in den Diskussionszusammenhängen unterschiedlich bestimmt: (a) Insbesondere im englischen Sprachraum werden religion und the sacred (bzw. religiöse Sinngebung und Sakralisierung) häufig synonym verwendet.29 (b) Heiligkeit wird als Teilbereich von Religion verstanden, wenn Heiligkeit im Rahmen einer verfassten Religion definiert wird. Wenn Charles Taylor »sacred in the strong sense« von einem »laïque sacred« unterscheidet, schwebt ihm wohl eine solche Verhältnisbestimmung vor.30 Andere Autor*innen widersprechen und betonen, dass wichtige Aspekte des Heiligen aus dem Blick geraten, wenn Heiligkeit auf verfasste Religion begrenzt wird.31 (c) Die Religion wird umgekehrt begriffshierarchisch dem Heiligen untergeordnet, wenn z.B. eine Erfahrung des Heiligen als konstitutiv für Religion32 verstanden, wenn Religion als »cosmization in a sacred mode«33 konzeptualisiert oder wenn das
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Carsten Colpe, Über das Heilige. Versuch, seiner Verkennung kritisch vorzubeugen, Frankfurt a.M. 1990, 12. Ähnlich Ronald Dworkin, Die Grenzen des Lebens. Abtreibung, Euthanasie und persönliche Freiheit, Reinbek bei Hamburg 1994, 38f. Vgl. z.B. David Jaspers »Trilogie«: David Jasper, The Sacred Desert. Religion, Literature, Art, and Culture, Malden, MA 2004; ders., The Sacred Body. Asceticism in Religion, Literature, Art, and Culture, Waco, Tex. 2009; ders., The Sacred Community. Art, Sacrament, and the People of God, Waco, Tex. 2012. Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, übers. von Joachim Schulte, Berlin 2012, 813. Stephen B. Bush, Torture and the Politics of the Sacred, in: Soundings. An Interdisciplinary Journal 97 (2014), 75–99, 79; Gary Laderman, Sacred Matters. Celebrity Worship, Sexual Ecstasies, the Living Dead, and Other Signs of Religious Life in the United States, New York, NY 2009, xiv. Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, mit einer Einführung zum Leben und Werk Rudolf Ottos von Jörg Lauster und Peter Schüz und einem Nachwort von Hans Joas, München 2014; Gustav Mensching, Art. Religion. 1. Begriff, in: RGG, 3. Aufl., 5 (1961), 961–964; Daniel C. Maguire, The Moral Core of Judaism and Christianity. Reclaiming the Revolution, Minneapolis, MN 1993, x. Peter L. Berger, The Sacred Canopy. Elements of a Sociological Theory of Religion, Garden City, NY 1967, 25.
Norbert Otto Eke/Jochen Schmidt: Das Heilige – Versuch einer Definition
Heilige als das »Worin und Woraufhin«34 des religiösen Verhältnisses bezeichnet wird. Repräsentativ hierfür ist die geradezu klassische Beschreibung Nathan Söderbloms: Heiligkeit ist das bestimmende Wort in der Religion; es ist sogar noch wesentlicher als der Begriff Gott […]. Von allem Anfang an stellt das Heilige den wesentlichen Zug des Göttlichen in religiösem Sinne dar. Der Gottesgedanke ohne den Begriff des Heiligen ist keine Religion.35 Diese Verhältnisbestimmungen sollen hier keine Rolle spielen. Vielmehr erfolgen die weiteren Überlegungen unter der Prämisse, dass: (d) Heiligkeit und Religion als teilweise überlappende, allerdings nicht notwendig identische Bereiche zu verstehen sind.36 Vorschläge zur inhaltlichen Definition des Heiligen wiederum sind Legion. Aus kultursoziologischer Perspektive wird das Heilige verstanden als das, was einen kollektiven Anspruch an die Lebensführung des Menschen begründet,37 als Glaube, dass Gottes Macht irgendwie in bestimmten Zeiten, Orten, Handlungen konzentriert ist,38 aus religionssoziologischer Perspektive – etwa von Peter Berger im Anschluss an Rudolf Otto – als mysteriöse Macht,39 aus religionswissenschaftlicher Perspektive als Einbruch des Unverfügbaren, als Erscheinungsform unverfügbarer Macht,40 aus religionsphilosophischer Perspektive als »absolute Entzogenheit und Unverfügbarkeit«, aus ethischer Perspektive als das Perfekte in einem moralischen
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Ludwig Wenzler, Das Phänomen des Heiligen in der Korrelation von Noesis und Noema, in: Klaus Kienzler/Josef Reiter/Ludwig Wenzler (Hg.), Das Heilige im Denken. Ansätze und Konturen einer Philosophie der Religion. Zu Ehren von Bernhard Casper, Münster 2005, 13–32, 15. Nathan Söderblom, Das Heilige (Allgemeines und Ursprüngliches), übers. von Carsten Colpe, in: Carsten Colpe (Hg.), Die Diskussion um das »Heilige«, Darmstadt 1977, 67–116. Bryan S. Turner, Introduction. Mapping the Sociology of Religion, in: ders. (Hg.), The New Blackwell Companion to the Sociology of Religion, Chichester, West Sussex/Malden, MA, 1–29, 20: »We can conceptualize the religious and the sacred as two spheres of social reality that overlap but are yet separate and distinct.« Vgl. auch die Überlegungen zum Verhältnis von Religion und Heiligkeit im Beitrag von Jens Jetzkowitz und Oliver Schmidtke in diesem Band. Vgl. Gordon Lynch, The Sacred in the Modern World. A Cultural Sociological Approach, Oxford 2014, 29, 47. Vgl. Taylor, A Secular Age (Anm. 3). Peter L. Berger, The Social Reality of Religion, London 1969, im ausdrücklichen Anschluss an Rudolf Otto. Vgl. Albrecht Diehle, Art. Heiligkeit, in: RAC 24 (1988), 1–63.
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Sinne,41 als das, was uns am meisten am Herzen liegt,42 das unbedingt verteidigt werden sollte,43 als ›Überspanntheit‹ (exaltation) bestimmter Werte.44 Diese materiellen bzw. inhaltlichen Bestimmungen haben den Nachteil, dass sie jeweils verschiedene bestimmte Bereiche der (sozialen) Wirklichkeit herausgreifen und mithin in einer ungelösten Konkurrenz zueinander stehen. Nun finden sich neben und teils parallel zu diesen materialen Bestimmungen des Heiligen auch Versuche, das Heilige funktional zu umschreiben. Hier ansetzende Beschreibungsmodelle bestimmen das Heilige a) als Abgesondertes, b) als in Lebensvollzüge Integriertes oder als c) dialektische Gleichzeitigkeit von Entzug und Präsenz.
Alle drei Auffassungen sollen kurz skizziert werden, es folgt ein Plädoyer für die letztgenannte Sichtweise. Daran anschließend soll ein Strukturbegriff des Heiligen entwickelt werden. Dieser wird es erlauben, von Heiligkeit auch dort zu sprechen, wo der Ausdruck selbst nicht fällt, wo aber semantische Strukturen begegnen, die für die Rede von Heiligkeit typisch sind.
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Paul Heelas, Theorizing the Sacred. The Role of the Implicit in Yearning »Away«, in: IMRE 15 (2013), 477–521, 480. Jeffrey Stout, Democracy and Tradition, Princeton 2009; Jeffrey Stout, Blessed are the Organized. Grassroots Democracy in America, Princeton, NJ ³2013, 211. Zu Heiligkeit und Unantastbarkeit vgl. z.B. Antje Kapust, Das Unantastbare. Menschenwürde im Diskurs der Philosophie, in: Rolf Gröschner (Hg.), Das Dogma der Unantastbarkeit. Eine Auseinandersetzung mit dem Absolutheitsanspruch der Würde, Tübingen 2009, 269–313, v.a. 278; zur Heiligkeit als Entzogenheit des anderen Menschen vgl. Emmanuel Lévinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, übers. von Thomas Wiemer, Freiburg/München ²1998, 140f. Timothy Fitzgerald, The Ideology of Religious Studies, New York, NY 2000, 18. Zu Heiligkeit und Menschenwürde vgl. Jochen Schmidt, Erzählte Heiligkeit. Über Unverfügbarkeit und Menschenwürde, in: ZEE 61 (2017), 120–125. Craig J. Calhoun, Time, World, and Secularism, in: Philip S. Gorski (Hg.), The Post-Secular in Question. Religion in Contemporary Society, New York, NY 2012, 355–364, 356. Zu Wert(en) und Heiligkeit vgl. ferner z.B. Edward Shils, Center and Periphery. Essays in Macrosociology, Chicago 1975, 138. Zum Verhältnis des Heiligen zur Moral vgl. auch Thomas M. Schmidt, Das Heilige als Grund der Moral, in: Thomas Schreijäck/Vladislav Serikov (Hg.), Das Heilige interkulturell. Perspektiven in religionswissenschaftlichen, theologischen und philosophischen Kontexten, Ostfildern 2017, 117–128.
Norbert Otto Eke/Jochen Schmidt: Das Heilige – Versuch einer Definition
3. a) Programmatisch versteht der Soziologe Matthew Evans in einem luziden Aufsatz das Heilige als das Abgesonderte, er verweist dabei auf ein viel rezipiertes Wort von Émile Durkheim: »Heilige Dinge sind, was die Verbote schützen und isolieren. Profane Dinge sind, worauf sich diese Verbote beziehen und die von den heiligen Dingen Abstand halten müssen.«45 Durkheims Überzeugung nach lässt sich das Heilige nicht mit dem Profanen vermengen, ohne aufzuhören, es selbst zu sein.46 Carsten Colpe beschreibt das Heilige als das dem gewöhnlichen Gebrauch Entzogene.47 Franz Rosenzweig sieht in der Diastase von Heiligem und Profanem ebenfalls den Sinn von Heiligkeit: »Heiligkeit ist nur, solange es noch Unheiliges gibt. Wo alles heilig ist, da ist Heiliges nicht mehr heilig, da ist es einfach da.«48 Ähnliche Auffassungen finden sich z.B. beim Politikwissenschaftler Vine Deloria, Jr.49 und bei Friedrich W. Graf.50 b) Diese Sichtweise wird von anderen Autor*innen teils implizit und teils explizit zurückgewiesen. So betonen etwa der Religionssoziologe Malcom Hamilton und der Theologe Berndt Hamm die moralische, orientierende Kraft des Heiligen.51 Dietmar Kamper und Christoph Wulf grenzen sich in der Einleitung ihres Bandes zu den Spuren des Heiligen in der Moderne ausdrücklich von Émile Durkheim und
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Émile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, übers. von Ludwig Schmidts, Frankfurt a.M. 2007; vgl. Matthew T. Evans, The Sacred. Differentiating, Clarifying and Extending Concepts, in: Review of Religious Research 45 (2003), 32–47. Vgl. zur Entzogenheit des Heiligen ferner: Herbert Bronstein, Art. Sanctification (Heb. qiddush), in: R.J. Zwi Werblowsky (Hg.), The Oxford Dictionary of the Jewish Religion, New York, NY 1997, 606. Vgl. Émile Durkheim, Entgegnungen und Einwände, in: ders., Soziologie und Philosophie, Frankfurt a.M. 1967, 118–136. Colpe, Über das Heilige (Anm. 28). Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Haag 4 1976. Vine Deloria, Sacred Space, in: Gary Laderman/Luis León (Hg.), Religion and American Cultures, Bd. 2, Santa Barbara, CA 2003, 565–572. Friedrich Wilhelm Graf, Götter global. Wie die Welt zum Supermarkt der Religionen wird, München 2014. Malcolm Hamilton, The Sociology of Religion. Theoretical and Comparative Perspectives, London u.a. ²2001; Berndt Hamm, Die Stellung der Reformation im zweiten christlichen Jahrtausend. Ein Beitrag zum Verständnis von Unwürdigkeit und Würde des Menschen, in: JBTh 15 (2000), 181–220; vgl. ferner Richard Rorty, Anticlericalism and Atheism, in: ders. (mit Gianni Vattimo/Santiago Zabala), The Future of Religion, New York 2005, 29–41, 39f.: »My differences with Vattimo come down to his ability to regard a past event as holy and my sense that holiness resides only in an ideal future […]. His sense of the holy is bound up with recollection of that event and of the person who embodied it. My sense of the holy, insofar as I have one, is bound up with the hope that someday, any millennium now, my remote descendants will live in a global civilization in which love is pretty much the only law.«
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Max Weber ab, indem sie die Untrennbarkeit der Bereiche des Heiligen und des Profanen behaupten: »Das Profane ist vom Heiligen überlagert und das Heilige vom Profanen durchzogen.«52 Der Soziologe Paul Heelas wiederum weist mit Blick auf Durkheim darauf hin, dass der Schlussteil von Durkheims Die Elementaren Formen des religiösen Lebens das Heilige im Unterschied zu der oben zitierten Passage nicht als set apart beschreibt, sondern als das Ideale, Vollkommene.53 Auch der Religionswissenschaftler William Paden betont, dass sich in Durkheims Bestimmung des Heiligen verschiedene Strömungen beobachten lassen. Das Heilige bei Durkheim ist, so Paden, nicht allein dasjenige, das nicht verletzt werden darf, sondern auch eine Kraft, die in individueller und gemeinschaftlicher Ekstase emotional erlebt wird.54 Tatsächlich kann das Heilige nicht als vollkommen Entzogenes beschrieben werden, wenn die Verwendung des Ausdrucks ›heilig‹ in der Rede davon, dass ›uns etwas heilig ist‹, mitbedacht sein soll.55 Theologisch wiederum drückt Bernd Hamm diesen Gedanken folgendermaßen aus: Wo Gott Menschen als Heilige in seinen Dienst nimmt, führt er sie nicht in abgegrenzte Heiligungsräume, sondern in die Alltagsbereiche des Berufs, der Politik, der Familie und Nachbarschaft und läßt sie hier, inmitten der unheiligen Welt, zu tätigen Zeugen seiner schenkenden Liebe [werden] […]. Es ist eine unerhört unheilige Heiligkeit […], eine bestürzende Entgrenzung von Heiligkeit.56 c) Neben auf Abgrenzung und auf Integration fokussierenden Voten gibt es auch dialektisch konfigurierte Definitionsversuche des Heiligen. So führt Hans Joas aus, dass »sakrale Dinge« in den meisten Fällen durch Verbote und Restriktionen im Zugriff gekennzeichnet seien, dass aber eine andere Dimension entscheidend sei, nämlich dass das Heilige als Ort einer Kraft und Energie erfahren werde, die sich auf das Profane auswirke.57 Diese Dialektik stellen auch Wolf-Eckart Failing und Hans-Günter Heimbrock in den Vordergrund: Das Heilige scheint im Alltäglichen
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Dietmar Kamper/Christoph Wulf, Einleitung, in: dies. (Hg.), Das Heilige. Seine Spur in der Moderne, Frankfurt a.M. 1987, 1–30, 5. Heelas: Theorizing the Sacred (Anm. 41). William E. Paden, Reappraising Durkheim for the Study and Teaching of Religion, in: Peter B. Clarke (Hg.), The Oxford Handbook of the Sociology of Religion, Oxford 2009, 31–47. Vgl. Bryan S. Turner, Post-Secular Society. Consumerism and the Democratization of Religion, in: Gorski (Hg.), The Post-Secular in Question (Anm. 44), 135–158, 155. Hans Waldenfels, Was ist uns heute noch heilig, in: Schreijäck/Serikov (Hg.), Das Heilige interkulturell (Anm. 44), 25–38. Hamm, Die Stellung der Reformation (Anm. 51). Vgl. ähnlich Andreas Rössler, Die Heiligkeit Gottes und die Heiligkeit des Lebens, in: Werner Zager (Hg.), Was ist (uns) heilig? Perspektiven protestantischer Frömmigkeit, Leipzig 2019, 131–153, 149. Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011.
Norbert Otto Eke/Jochen Schmidt: Das Heilige – Versuch einer Definition
als das ganz Andere hervor, es bricht den Alltag auf und schafft so eine Weltdistanz, die Weltverhältnis überhaupt erst ermöglicht.58 In einer ähnlichen Weise beschreibt Luhmann einen »Doppelzug«, der sowohl die »sakrale und mythische« Welt kennzeichnet wie auch die Religion. Dieser Doppelzug besteht darin, dass der Umgang mit heiligen Dingen situationsbestimmt ist und »Absonderung und Geheimhaltung als Signale des Numinosen« setzt, dies jedoch schützt gerade die Ernsthaftigkeit der Kommunikation über heilige Dinge.59 Im Anschluss an Luhmann betont Peter Strohschneider den paradoxen Status einer Verfügbarmachung des Unverfügbaren: »Die Rede vom Heiligen ist stets ein Einschließen des unvertrauten Ausgeschlossenen als Ausgeschlossenes ins Vertraute.«60 Wolfhart Pannenberg beschreibt die Zuordnung von heiligem und profanem Lebensbereich ebenfalls als ein dialektisches Verhältnis: Die Zuordnung zu bestimmten heiligen Orten und zu heiligen Zeiten beschränkt die Gottheit und den Dienst an ihr auf die so ausgegrenzten Lebensbereiche. Durch die Ausgrenzung sakraler Bezirke werden die übrige Lebenswelt und das alltägliche Verhalten profan. Wie aber verhalten sich der sakrale und der profane Lebensbereich zueinander? Einerseits bildet der Kultort das Zentrum der Lebenswelt religiös geprägter Gesellschaften, und die kultischen Feste sind die Höhepunkte des Jahres und gliedern seinen Ablauf. Von ihnen her empfängt das ganze Leben des religiösen Menschen seinen Sinn. Andererseits aber erfüllt damit das sakrale, kultische Leben eine Funktion für die profane Lebenssphäre, und so wird es möglich, die Götter zu verehren nicht um ihrer selbst willen, sondern wegen ihrer Funktion für den Bestand des Staates und für das Wohlergehen des einzelnen.61 Im Bereich der Moral reflektiert sich dies wiederum in einer bemerkenswerten Passage aus Durkheims Aufsatz Der Individualismus und die Intellektuellen:
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Wolf-Eckart Failing/Hans-Günter Heimbrock, Das Heilige, in: dies./Thomas A. Lotz (Hg.), Religion als Phänomen. Sozialwissenschaftliche, theologische und philosophische Erkundungen in der Lebenswelt, Berlin 2001, 192–207. Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3, Frankfurt a.M. 2004. Peter Strohschneider, Inzest-Heiligkeit. Krise und Aufhebung der Unterschiede in Hartmanns ›Gregorius‹, in: Christoph Huber (Hg.), Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters, Tübingen 2000, 105–133, 105, mit Bezug auf Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Teilbde., Frankfurt a.M. 1997, 230ff., 232. Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie. Gesamtausgabe, neu hg. von Gunther Wenz, Göttingen 2015, 201.
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Theoretische Perspektiven
Diese menschliche Person […] wird als heilig betrachtet, sozusagen in der rituellen Bedeutung des Wortes […]; man betrachtet sie so, als wäre sie mit dieser mysteriösen Eigenschaft ausgestattet, die um die heiligen Dinge herum eine Leere schafft, die sie dem gewöhnlichen Kontakt und dem allgemeinen Umgang entzieht. Und genau daher kommt der Respekt, der der menschlichen Person entgegengebracht wird. Wer auch immer einem Menschen nach dem Leben trachtet, die Freiheit eines Menschen oder seine Ehre angreift, erfüllt uns mit einem Gefühl der Abscheu, in jedem Punkt analog zu demjenigen Gefühl, das der Gläubige zeigt, der sein Idol profanisiert sieht.62 Peter Berger beschreibt die Funktion der Religion in den einleitenden Worten zu Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft. Elemente einer soziologischen Theorie (The Sacred Canopy) ähnlich: Auf einer bestimmten Sinnebene ist das Profane der Gegensatz des Heiligen. Es läßt sich schlicht als Nichtvorhandensein des Status der Heiligkeit bezeichnen. Alle Phänomene, die von anderen nicht als heilig ›abstechen‹ [›stick out‹], sind profan. Das Alltagsleben ist profan, es sei denn, es erweise sich sozusagen als anders, nämlich in irgendeiner Weise von der Macht des Heiligen durchdrungen (die ›Heiligkeit‹ der Arbeit z.B.). Aber selbst in diesen wie in den anderen Fällen behält die Qualität der Heiligkeit, die den gewöhnlichen Ereignissen des Lebens zugeschrieben wird, ihren außergewöhnlichen Charakter, meistens durch eine Art Rückversicherung in der Form der Riten.63 Volkhard Krech und Magnus Schlette definieren Sakralisierung als einen Vorgang, der dann vorliegt, wenn von den Mitgliedern der besagten Religionsgemeinschaft bestimmte, vormals religiös insignifikante Sachverhalte übereinstimmend erstens als heilig thematisiert, zweitens als Vergegenwärtigung von Transzendenz gedeutet und bewertet sowie drittens als verbindlicher Grund entsprechender Verhaltensvorschriften und Handlungsnormen akzeptiert werden.64 Hier wird deutlich: Das Heilige ist gleichzeitig unverfügbar und doch wirksam in der (normativen) Konstruktion des Gemeinwesens.
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Émile Durkheim, Der Individualismus und die Intellektuellen (1898), in: Hans Bertram (Hg.), Gesellschaftlicher Zwang und moralische Autonomie, Frankfurt a.M. 1986, 54–70; dazu: Joas, Die Sakralität der Person (Anm. 57), 82f. Peter L. Berger, Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft. Elemente einer soziologischen Theorie, übers. von Monika Plessner, Frankfurt a.M. 1988, 27. Volkhard Krech/Magnus Schlette, Sakralisierung, in: Detlef Pollack et al. (Hg.), Handbuch Religionssoziologie, Wiesbaden 2018, 437–463, 441.
Norbert Otto Eke/Jochen Schmidt: Das Heilige – Versuch einer Definition
Die zuletzt zitierten Passagen lassen sich als Versuche einer Integration gegensätzlicher Positionen in einer dialektischen Begriffsfassung verstehen. Das Heilige erscheint als von zwei Polen gekennzeichnet: dem set apart auf der einen und der Integration auf der anderen Seite, oder, abstrakter ausgedrückt, der Unverfügbarkeit auf der einen und dem Verfügbarmachen auf der anderen Seite. Entscheidend ist, dass immer beide Pole präsent sind (1), wenn auch in verschiedenen Mischverhältnissen, und dass beide Pole, mehr noch, dialektisch aufeinander verwiesen sind (2). Ad 1: Der Pol der Verfügbarkeit kann ganz im Vordergrund stehen, aber von Heiligkeit würde eben nicht zu sprechen sein, wenn dabei nicht doch auch ein Rest von Unverfügbarem, Inkommensurablem usw. bliebe; der Pol der Unverfügbarkeit mag ganz im Vordergrund stehen, mit Blick auf das als unverfügbar Prätendierte würde man nicht von Heiligkeit sprechen, wenn dem als unverfügbar Prätendierten nicht auch eine (wenn auch liminale) Rückwirkung auf soziales Handeln und auf Ausdruckshandeln bzw. soziale Prozesse und Ausdrucksprozesse und die sich in diesen herausbildendenden Medien ausdrücklich oder implizit zugesprochen würde. Ad 2: Entscheidend ist mithin die wechselseitige Verwiesenheit der für das Heilige charakteristischen Pole Verfügbarkeit/Einschließung und Unverfügbarkeit/ Ausschließung: Auch dort, wo das Heilige mit Blick auf seine sinnstiftende Kraft betrachtet wird, verweisen Rhetoriken der Unüberbietbarkeit, Unverrechenbarkeit und Unverfügbarkeit auf das Moment der Absonderung; auch dort, wo das Moment der Absonderung im Vordergrund steht, lässt sich ein Bezug zu einer produktiven gesellschaftlichen Funktion der jeweiligen Rekurse auf das Heilige herstellen. Gerade kraft seiner Negativität (hier im formalen Sinne) übt das Heilige eine produktive, das Gemeinwesen orientierende Kraft aus. Exemplarisch verdeutlichen lässt sich dies an Sprachfiguren wie Unverfügbarkeit und Unantastbarkeit.65 Das Unverfügbare teilt mit dem Heiligen, dass es dem alltäglichen Gebrauch entzogen ist, jedoch in einer Art und Weise, die orientierend in die Lebenswelt zurückstrahlt. So hält Hans Vorländer zutreffend fest, dass als unverfügbar solche Sachverhalte gelten, »die in der Perspektive von Akteuren der unmittelbaren, alltäglichen Lebenswelt entzogen, quasi entrückt erscheinen, die gleichwohl aber auf sie zurückwirken und ihr Sinn und Geltung verleihen […].«66 Nicht erst, aber gerade in jüngerer Zeit ist eine Proliferation des Begriffs Unverfügbarkeit festzustellen: Von
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Schmidt, Erzählte Heiligkeit (Anm. 43); Was erwartet der Staat von der Religion? Ein Versuch über Tugend und Religion, in: ders./Rüdiger Althaus (Hg.), Staat und Religion. Aspekte einer sensiblen Verhältnisbestimmung, Freiburg i.Br., 134 – 149. Hans Vorländer, Einleitung. Wie sich soziale und politische Ordnungen begründen und stabilisieren. Das Forschungsprogramm, in: ders. (Hg.), Transzendenz und Gemeinsinn. Themen und Perspektiven des Dresdner Sonderforschungsbereiches 804, Dresden 2011, 6–15, 10.
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Theoretische Perspektiven
Unverfügbarkeit ist z.B. in soziologischen,67 bildungswissenschaftlichen,68 politikwissenschaftlichen bzw. politisch-philosophischen,69 rechtsphilosophischen,70 phänomenologischen,71 ethischen72 und fundamentaltheologischen73 Zusammenhängen die Rede. Wenn im vorliegenden Band auf Unverfügbarkeit Bezug genommen wird, dann steht immer der genannte dialektische Sinn im Fokus.74
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Vgl. Hartmut Rosa, Unverfügbarkeit, Wien/Salzburg 2018; Hartmut Rosenau, Auf der Suche nach dem gelingenden Leben. Religionsphilosophische Streifzüge, Neukirchen-Vluyn 2000, 87: »So ist also auch der Mensch als Bild des unverfügbaren Gottes selbst unverfügbar.« Dietlind Fischer/Volker Elsenbast, Kompetenzmodell der Expertengruppe am Comenius-Institut. Zur Entwicklung des evangelischen Religionsunterrichts durch Bildungsstandards für den Abschluss der Sekundarstufe I, Münster 2006, 11, 14, 22; Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.), Religiöse Orientierung gewinnen, Gütersloh 2014, 43. Vgl. Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung, in: Hans-Joachim Höhn/Karl Gabriel (Hg.), Krise der Immanenz. Religion an den Grenzen der Moderne, Frankfurt a.M. 1996, 93–111, 160–178. Vgl. v.a. Stephan Rixen, Würde des Menschen als Fundament der Grundrechte (§ 9), in: Sebastian Heselhaus/Carsten Nowak (Hg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, München/ Wien/Bern 2006, 335–361, 346. Vgl. Katharina Block/Henrike Lerch, Doppelaspektivität und Unergründlichkeit. Figuren des Unverfügbaren im Anschluss an Helmuth Plessner, in: AZP 47 (2022), 5–12; Thomas Alkemeyer, Bedingte Un/Verfügbarkeit. Zur Kritik des praxeologischen Körpers, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 44 (2019), 289–312. Vgl. z.B. Diskurse über die Unverfügbarkeit der Menschenwürde: Dietmar von der Pfordten/ Philipp Gisbertz (Hg.), Menschenwürde. Zur Frage ihrer Unverfügbarkeit (Perspektiven der Ethik 17), Tübingen 2022; Ulrich H.J. Körtner, Unverfügbarkeit des Lebens? Grundfragen der Bioethik und der medizinischen Ethik, Neukirchen-Vluyn 2001; Tine Stein, Himmlische Quellen und irdisches Recht. Religiöse Voraussetzungen des freiheitlichen Verfassungsstaates, Frankfurt a.M. 2007, v.a. 315–335; Wolfgang Huber, Art. Menschenrechte/Menschenwürde, in: TRE 22 (1992), 577–602, 592f. Vgl. Rudolf Bultmann, Die Bedeutung der »dialektischen Theologie« für die neutestamentliche Wissenschaft, in: ders., Glaube und Verstehen, Bd. 1, Tübingen 1966, 114–133, 118; ders., Theologische Enzyklopädie, hg. von Eberhard Jüngel, Tübingen 1984, 55; Jörg Lauster, Prinzip und Methode. Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart (HUTh 46), Tübingen 2004, 147, 234f.; Joachim Track, Art. Erfahrung. III/2 Neuzeit, in: TRE 10 (1982), 116–128, 121, 126; Ulrich H.J. Körtner, Theologie des Wortes Gottes. Positionen, Probleme, Perspektiven, Göttingen 2001, 329 (Unverfügbarkeit des Wortes); Ulrich Barth, Herkunft und Bedeutung des Menschenwürdekonzepts, in: ders., Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 80–83, 341. Die Verwendung dieses Begriffs im vorliegenden Band legt sich als nicht auf eine bestimmte Sinnschicht, die der Begriff im Zuge seiner Genese angenommen hat, fest. Der Artikel »Unverfügbarkeit« im Historischen Wörterbuch der Philosophie sieht den Ursprung dieses Ausdrucks bei Bultmann. Vgl. Hans Vorster/Red., Art. Unverfügbarkeit, in: HWPh 11 (2001), 334–336; vgl. zum Ausdruck Unverfügbarkeit bei Bultmann v.a. Wilfried Härle, Rudolf Bultmanns Theologie der Unverfügbarkeit, in: Christof Landmesser/Andreas Klein (Hg.), Rudolf Bultmann (1884–1976) – Theologe der Gegenwart. Hermeneutik – Exegese – Theologie – Phi-
Norbert Otto Eke/Jochen Schmidt: Das Heilige – Versuch einer Definition
4. Nicht selten bestimmen Quasi-Evidenzen, die vorderhand keiner Plausibilisierung zu bedürfen scheinen, die Rede vom Heiligen und seiner Rückbindung in die Sphären menschlicher Erfahrung. Semantiken des Heiligen können vor diesem Hintergrund als Bedeutungserzeugungen beschrieben werden, die sich dadurch auszeichnen, dass Negationen (Un-verfügbarkeit etc.) in den Dienst konstruktiver moralischer Orientierung gestellt werden, wobei diese Semantiken wiederum an bestimmte subjektive Einstellungen (Wertbindungen etc.) appellieren und/oder moralische Gefühle evozieren sollen, die möglicherweise eine analoge Struktur haben.75 Dynamisch und prozessual, d.h. ein Phänomen in Bewegung, ist das Heilige dabei aus drei Gründen. Es ist erstens prozessual, weil die beiden Elemente, aus denen es besteht – Ausschließung (Unverfügbarkeit/set appart) und Hereinnahme (Verfügbarkeit/Widmung) –, selbst bereits Bewegungen darstellen. D.h. das Heilige ist niemals auf einer dieser Seiten allein zu finden; vielmehr ergibt es sich stets aus ihrer gegenstrebigen Bewegung bzw. als eine Variable aus zwei Bewegungen. Zweitens ist das Heilige prozessual, insofern seine beiden Bestandteile der Ausschließung und der Hereinnahme als kulturelle Zuschreibungen zu verstehen sind. Diese Zuschreibungen wechseln unweigerlich mit den Akteur*innen, ihren sozialen Konflikten, ihrer historischen Veränderung. Insofern wird das Heilige nach diesem Verständnis stets auch von außen in Bewegung gehalten. Drittens ist das Heilige prozessual, weil es als kulturelle Leitkategorie dem Transformationsprinzip von Kultur insgesamt unterliegt. Wird die Spannung zwischen Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit nach der einen oder der anderen Seite hin aufgelöst, verliert es so auch seine Kraft. In der absoluten Fremdheit/Ferne kann das Heilige nicht erfahren werden, in der universellen Verfügbarkeit verliert es seine Begründung und Legitimität. Diese Perspektive auf das Heilige erlaubt es, aus unterschiedlichen kulturwissenschaftlichen Disziplinen gemeinsam über das Heilige in einem kategoriell nicht immer scharf profilierten Feld zu sprechen. Das bietet die Grundlage für das Ge-
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losophie, Neukirchen-Vluyn 2010, 69–86; Anne-Maren Richter, »Unverfügbarkeit«. Die (technik-)ethische Anwendung des Begriffs und der Inhalt der Begriffsprägung bei Rudolf Bultmann, in: Anne-Maren Richter/Christian Schwarke (Hg.), Technik und Lebenswirklichkeit. Philosophische und theologische Deutungen der Technik im Zeitalter der Moderne, Stuttgart 2014, 127–161. Das dürfte jedenfalls insoweit zutreffen, als Bultmann mit dem semantischen Feld »verfügbar – unverfügbar« wohl so intensiv gearbeitet hat wie niemand vor ihm. Belegen lässt sich der Ausdruck allerdings lange vor dem Wirken Bultmanns. Vgl. hierzu Jochen Schmidt, Kultur der Heiligkeit. Über theologische Rede vom Unverfügbaren in einem säkularen Zeitalter, in: ZThK 113 (2016), 279–290, 280, Anm. 4f. Zu Unverfügbarkeit und Heiligkeit vgl. Jochen Schmidt, Kultur der Heiligkeit (Anm. 73).
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spräch, das die an dem vorliegenden Band Beteiligten über die zurückliegenden Jahre und über die Fächergrenzen hinweg gesucht haben.
Von der Kritik an der Säkularisierungsthese zur Rekonfiguration zeitgenössischer Gesellschaftsverständnisse Was leisten Entwürfe zur Soziologie der Heiligkeit? Jens Jetzkowitz/Oliver Schmidtke
1. Einleitung: Die Säkularisierungsthese, das Wiederaufleben von Religion und die Religionssoziologie Dass moderne, zeitgenössische Industriegesellschaften weitgehend säkularisiert sind, scheint uns heute eine Selbstverständlichkeit zu sein. Jedenfalls, wenn unter ›Säkularisierung‹ die rechtliche Garantie verstanden wird, dass die Position, die ein Gesellschaftsmitglied in der Gesellschaftsstruktur einnehmen kann, nicht von seiner Mitgliedschaft in einer religiösen Gemeinschaft abhängig ist. Noch in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts konnten Theoretiker die Prognose für plausibel halten, dass in »the 21st century, religious believers are likely to be found only in small sects, huddled together to resist a worldwide secular culture«.1 Die Entkoppelung von Gesellschaft und Religion ist lange als ein linearer Entwicklungsprozess betrachtet worden, in dem Religion an Einfluss verliert und – bestenfalls – Vernunft und Wissenschaft an Einfluss gewinnen. Religion versus Vernunft – das ist ein klassisches bipolares Deutungsmuster der okzidentalen Aufklärung, in der sich wissenschaftliches Denken gegen die Hegemonie spezifischer christlicher Deutungen durchkämpfen musste. Die Erfahrungen haben ganze Epochen der okzidentalen Kulturgeschichte geprägt. Mal schwang das Pendel zum einen, mal zum anderen Pol – und man kann nicht behaupten, dass der Konflikt heute gänzlich stillgestellt ist. Dass die Frage, ob man der Evolutionstheorie oder dem biblischen Schöpfungsbericht glaube, nicht nur Einzelne zu Stellungsnahmen herausfordert, sondern auch Institutionen der Gesetzgebung, der Bildung, der öffentlichen Meinung und der Rechtsprechung, ist hierfür ein anschauliches Beispiel. 1
Peter Berger in einem Interview mit der New York Times 1968, zit.n. Rodney Stark, Secularization, R.I.P, in: Sociology of Religion 60 (1999), 249–273, 250.
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Die Religionssoziologie ist als integraler Bestandteil der Soziologie im Allgemeinen im Zuge der gesellschaftlichen Umbrüche entstanden, die sich durch fortschreitende Industrialisierung und Demokratisierung einstellten. Während Urahnen der Soziologie wie Karl Marx und Auguste Comte noch der Religionskritik verpflichtet waren, blickten Émile Durkheim, Max Weber und Georg Simmel auf Religion als ein gesellschaftliches Phänomen, das sie wissenschaftlich untersuchten. Dass beobachtbare grundlegende gesellschaftliche Entwicklungen und Umbrüche ganz wesentlich auch im Verhältnis von Religion und Gesellschaft gründeten, erschien ihnen offensichtlich. Die Implementierung einer zu religiöser Neutralität verpflichteten Rechtsordnung änderte die gesellschaftlichen Spielregeln. In welchen Bereichen jedoch sich die Spielpraxis tatsächlich änderte und die Macht etablierter Religionen bei der Gestaltung gesellschaftlichen Lebens schwand, ist kulturell und durch spezifische historische Ereignisse durchaus unterschiedlich. Die religionssoziologische Forschung hat nicht nur diese Entwicklungen nachgezeichnet, sondern mit der These einer notwendig zum gesellschaftlichen Entwicklungsprozess gehörenden Säkularisierung auch ein verallgemeinertes Narrativ erzeugt, mit dem der gesellschaftliche Wandel wissenschaftlich-distanziert und unbeteiligt beobachtet, die einzelnen Beobachtungen analysiert und Zukunftserwartungen abgeleitet werden konnten. Inzwischen entgeht jedoch keine Soziologie mehr der Frage, welche Position die Wissenschaft selbst in dem von ihr beobachteten Prozess einnimmt. An Max Webers Theorie einer universalhistorischen Rationalisierung wird nachvollziehbar, dass sich die religionssoziologische Forschung nicht ihrer Positionierung im bipolaren Kraftfeld von Vernunft und Religion entziehen kann. Unter ›Rationalisierung‹ versteht Weber das kulturell stimulierte Konstruieren von Ordnungszusammenhängen in der natürlichen und sozialen Welt, das einhergeht mit der Abweisung irrationaler, d.h. nicht in den jeweiligen Ordnungsschemata eingefügter außerweltlicher Mächte.2 Im Ergebnis wird dadurch die Welt für Menschen berechenbarer und beherrschbarer. Im Vergleich verschiedener Kulturen entdeckt Weber, dass diese über verschiedene Potentiale verfügen, um Rationalisierungen freizusetzen. Im asketischen Protestantismus wurde die Rationalisierung am weitesten getrieben.3 So weit, dass sich in dessen Weiterentwicklung zunehmend der Einzelne
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Die Grundidee von Webers Rationalisierungskonzept bringt sich sehr deutlich in seiner Musiksoziologie (Max Weber, Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik, Tübingen 1972) zum Ausdruck, vgl. Wolfgang Schluchter, Religion und Lebensführung, Bd. 2, Studien zu Max Webers Religions- und Herrschaftssoziologie, Frankfurt a.M. 1991, 70–72; Dirk Käsler, Max Weber, in: ders. (Hg.) Klassiker des soziologischen Denkens, Bd. 2, Von Weber bis Mannheim, München 1978, 40–177, 139. Vgl. Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 9 1988.
Jens Jetzkowitz/Oliver Schmidtke: Was leisten Entwürfe zur Soziologie der Heiligkeit?
in den Mittelpunkt der sozialen Ordnung stellt und die Person zelebriert wird. Zugleich etablieren sich zunehmend unpersönlichere Rationalisierungen in der Ökonomie, der Wissenschaft, in Politik und Recht, ordnen das weltliche Geschehen und disziplinieren auf diese Weise die Massen.4 Die verschiedenen gesellschaftlichen Lebensbereiche zerfallen, Webers Analyse zufolge, in zwei unterschiedliche Wertsphären. In der einen wird die Welt geordnet, in der anderen das menschliche Zusammenleben. Menschen können unter diesen Bedingungen nicht mehr zu einer autonomen Sittlichkeit finden, die dem gesellschaftlichen Zusammenleben zuträglich ist. Stattdessen sieht Weber ein Zeitalter des »Gehäuses [d]er Hörigkeit«5 heraufdämmern, in dem sich »Fachmenschen ohne Geist« und »Genußmenschen ohne Herz« tummeln.6 Mit dieser Diagnose beansprucht Weber, die Tiefenströmungen in den gesellschaftlichen Umbrüchen seiner Zeit herausgearbeitet zu haben. Eingebettet in zeitlich weit gespannte Entwicklungen und gestützt durch kulturvergleichende Untersuchungen ist die Theorie der Rationalisierung gleichwohl eine Verlustgeschichte. Nicht zuletzt an seinen pessimistischen, zivilisationskritischen Äußerungen wird deutlich, dass Weber das Entweichen der geistvollen Kraft religiös begründeter Ethik als ein Problem gesellschaftlicher Entwicklung apostrophiert. Auch wenn seine Diagnose ohne Vorstellungen davon auskommt, wie Gesellschaft sein soll, ist sie in dem bipolaren Begriffsfeld von Vernunft und Religion positioniert. Einen emphatischen Begriff von Vernunft sucht man bei Weber jedoch ebenso vergebens wie eine explizite Parteinahme für oder gegen Religion. Einer solchen Parteinahme bedarf es auch nicht, denn es ist ausreichend, nach den Folgen der beobachteten gesellschaftlichen Umbrüche und dabei eingeschlossen: des Verlustes an Sinnstiftung durch Religion zu fragen. Inzwischen wird vielfach bestritten, dass die universalhistorische Annahme einer fortschreitenden Überwindung oder Auflösung von Religion den realen gesellschaftlichen Verhältnissen gerecht wird.7 Problemlagen, die in früheren Gesellschaften religiös bearbeitet wurden, verschwinden durch »den Aufstieg der säkularen Option nicht einfach«.8 In den 1960er Jahren hatte Thomas Luckmanns
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Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5., rev. Aufl. Tübingen 1980, 681–687. Max Weber, Gesammelte Politische Schriften, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1988, 332. Weber, Religionssoziologie (Anm. 3), 204. Vgl. hierzu Manuel Franzmann, Säkularisierter Glaube. Fallrekonstruktionen zur fortgeschrittenen Säkularisierung des Subjekts, Weinheim 2017, 15–33. Hans Joas, Säkulare Heiligkeit. Wie aktuell ist Rudolf Otto?, in: Jörg Lauster et al. (Hg.), Rudolf Otto. Theologie – Religionsphilosophie – Religionsgeschichte, Berlin, Boston 2014, 59–77, 64.
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These der »Invisible Religion«9 auf die Beschränkungen der Theorie der Überwindung der Religion aufmerksam gemacht. Mit dem Aufkommen der Sinnsuche in Esoterik und New Age-Bewegung in den späten 1970er und in den 1980er Jahren, deutlicher jedoch noch mit der zunehmenden Präsenz fundamentalistischer Strömungen in den Erlösungsreligionen, ist das Modell universalhistorischer Entwicklung in eine Krise geraten. Grundlegende Revisionsbemühungen wurden spätestens in den 1990er Jahren unternommen. Peter L. Berger beispielsweise, der, wie erwähnt, noch Ende der 1960er Jahre eine weltweit säkulare Kultur für das 21. Jahrhundert prognostizierte,10 formulierte später dezidierte Kritik an der Säkularisierungsthese.11 Befeuert wurde die kritische Diskussion der Säkularisierungsthese12 durch einschlägige Studien, die sich mit dem Vergleich des säkular erscheinenden Europas mit den USA befassten.13 Überdies ließ die verstärkte Aufmerksamkeit für die Vitalität von Religiosität in Lateinamerika, Afrika und Asien14 die These einer universalhistorischen Entwicklung grundsätzlich fraglich erscheinen. Die Diskussion um die Säkularisierungsthese und das Wiederaufleben von Religion wird unseres Erachtens wesentlich erzeugt durch das bipolare Deutungsmuster ›Religion vs. Vernunft‹. Dieses erweist sich aber als wenig fruchtbar, wenn man ein Verständnis von Sinnstiftung erarbeiten möchte, das empirische Befunde zu erklären vermag und insofern realen gesellschaftlichen Verhältnissen angemessener ist als eine rein theoretische Diskussion.
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Vgl. Thomas Luckmann, The Invisible Religion. The Problem of Religion in Modern Society, New York 1967. Vgl. Stark (Anm. 1), 250. Vgl. Peter L. Berger (Hg.), The Desecularization of the World. Resurgent Religion and World Politics, Washington 1999. Vgl. Detlef Pollack, Säkularisierung – ein moderner Mythos?, Tübingen 2003; Jay N. Demerath III, Secularization and Sacralization Deconstructed and Reconstructed, in: James A. Beckford/ Jay N. Demerath III (Hg.), Handbook of the Sociology of Religion, Los Angeles u.a. 2007, 57–80; Hubert Knoblauch, Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft, Frankfurt a.M./New York 2009; Albrecht Koschorke, ›Säkularisierung‹ und ›Wiederkehr der Religion‹. Zu zwei Narrativen der europäischen Moderne, in: Ulrich Willems et al. (Hg.), Moderne und Religion. Kontroversen um Modernität und Säkularisierung, Bielefeld 2013, 237–260. Vgl. z.B. Rodney Stark/William Sims Bainbridge, The Future of Religion, Secularization, Revival and Cult Formation, Berkeley u.a. 1985; Steve Bruce, God is Dead. Secularization in the West, Oxford 2002; ders., What the Secularization Paradigm Really Says, in: Manuel Franzmann/Christel Gärtner/Nicole Köck (Hg.), Religiosität in der säkularisierten Welt. Theoretische und empirische Beiträge zur Säkularisierungsdebatte in der Religionssoziologie, Wiesbaden 2006, 39–48. Vgl. z.B. Paul Freston, Evangelicals and Politics in Africa, Asia and Latin America, Cambridge 2004; David Martin, Pentacostalism. The World Their Parish, Oxford 2001.
Jens Jetzkowitz/Oliver Schmidtke: Was leisten Entwürfe zur Soziologie der Heiligkeit?
Orientiert man sich an der 1912 erschienenen Studie »Les formes élémentaires de la vie religieuse« Émile Durkheims15 , so scheinen schon früh Zweifel an der Säkularisierungsthese vorgeprägt zu sein. Durkheim problematisiert zwar nicht die Annahme, dass es einen Säkularisierungsprozess gibt, als solche, aber es ging ihm – anders als Weber – unter anderem darum, soziologisch eine allen Religionen gemeinsame Grundlage zu bestimmen, und der für ihn zentrale Begriff der ›Heiligkeit‹ eröffnet mindestens die Möglichkeit, die Fortsetzung von Praktiken in den Blick zu nehmen, die sich auch in der heutigen Gesellschaft nicht dem Modell der religionsfreien Rationalisierung fügen. Diese Perspektive ergibt sich jedenfalls, wenn gesellschaftliche Umbrüche mit einem Begriffssystem für Sinnstiftung beobachtet und analysiert werden, das nicht auf Religion fokussiert ist. Hierfür eignet sich, so unsere Überlegungen, eine differenzierte Konzeption des Heiligen, die Sinnsetzungen für Kollektive und für Individuen als Verweise auf Unverfügbares, Außeralltägliches oder andere letzte Referenzgrößen für menschliche Existenzerfahrungen in den Blick nimmt. Wenn in dieser Weise das Heilige nicht als Unterbegriff des Religiösen16 und Gegenbegriff zum Säkularen und Profanen entwickelt wird, lassen sich gesellschaftliche Zusammenhänge und Transformationen untersuchen, die als Ergebnisse von ebenso differenziert ablaufenden Säkularisierungs- und Rationalisierungsprozessen17 anzusehen sind, ohne sie als Geschichten vom Verlust religiöser Sinnstiftung oder vom Wiedererstarken der Religion18 erzählen zu müssen. Hier könnten eben auch außerreligiöse Phänomene der Sinnstiftung einbezogen werden, ohne dass sie per se an religiösen Formen und deren Wandel abgeglichen werden müssen. Im Folgenden stellen wir unsere Überlegungen in zwei Schritten vor: Erstens sichten wir verschiedene Stränge des soziologischen Diskurses, in denen eine Soziologie der Heiligkeit skizziert und ggf. ausprobiert wurde. Zweitens diskutieren wir die Leistungsfähigkeit eines solchen Begriffssystems für Sinnstiftung anhand von Überlegungen für die empirische Forschung.
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Vgl. Émile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Übers. von Ludwig Schmidts, Frankfurt a.M. 1994. Selbst Rudolf Otto, der dem Begriff der Heiligkeit in der deutschen Religionswissenschaft und der evangelischen Theologie zu erheblicher Aufmerksamkeit verholfen hat, betont: »Etwas als ›heilig‹ erkennen und anerkennen, ist in erster Linie eine eigentümliche Bewertung, die so nur auf religiösem Gebiete vorkommt« (Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 1991, 5 [Herv. i.O.]). Vgl. José Casanova, Public Religions in the Modern World, Chicago 1994; ders., Rethinking Secularization. A Global Comparative Perspective, in: The Hedgehog Review 8 (2006), 6–23. Vgl. Koschorke (Anm. 12).
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2. Begriffsstrategien der Soziologie der Heiligkeit Anders als Religion ist das Heilige bislang kaum ein gesonderter soziologischer Gegenstand. Das Wort ›Heiligkeit‹ wird vielfach als Unterbegriff des Religiösen und Gegenbegriff zum Säkularen und Profanen verwendet, oder es wird im Alltag genutzt, um eine besondere Wertschätzung zum Ausdruck zu bringen, ohne dabei aber trennscharf ein für Gesellschaften konstitutives Phänomen oder Strukturelement zu bezeichnen. Deutlich andere Akzentuierungen finden sich allerdings in Theorietraditionen und Forschungssträngen, die in der deutschen Soziologie weniger prominent Beachtung finden. So ist der Begriff des Heiligen in der Durkheim-Schule (insbesondere bei Marcel Mauss, Henri Hubert, Robert Hertz, Roger Caillois und Georges Bataille) aus dem engeren religionssoziologischen Korsett gelöst und zu einer eigenständigen soziologischen Kategorie weiter entwickelt worden.19 Ebenso wurde in der Schule der funktionalistischen Handlungstheorie (Talcott Parsons, Edward Shils, Jeffrey Alexander) auf diese Kategorie zurückgegriffen, um dezidiert außerreligiöse Praktiken in den Blick zu nehmen. Schließlich verwenden auch einige angelsächsische Soziologen den Begriff prominent (Gordon Lynch, Philip A. Mellor, Chris Shilling). Bei allen Unterschieden ist diesen Ansätzen gemeinsam, dass sie über die Kategorie des Heiligen nicht nur Religion und Religiosität untersuchen, sondern die Kategorie in einer Weise entfalten, die es erlaubt, das Spannungsfeld von Integration, Ausschließung und Orientierungsstiftung vielschichtig und realitätsnah in den Blick zu nehmen.
2.1 Die Durkheim-Schule Ein Anliegen der Theoretiker des 1937 gegründeten Collège de Sociologie, die sich auf Durkheim und seine Schüler Mauss, Hertz und Hubert beriefen, bestand darin, dass
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Vgl. hierzu Stephan Moebius, Marcel Mauss, Konstanz 2006, 78–88; ders., Das Sakrale, die Gabe und die Wirkungen der Durkheim-Schule. Die Aufhebung des kulturellen Unterschieds zwischen fremder und eigener Kultur am Collège de Sociologie, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede. Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München, Frankfurt a.M. 2006, 3249–3259. URL: htt p://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-142989 [letzter Zugriff: 17.03.2021]; ders., Über die kollektive Repräsentation des Lebens und des Sakralen. Die Verknüpfung von Durkheim und Nietzsche in Geschichte und Gegenwart der Soziologie und Kulturanthropologie, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006, Frankfurt a.M. 2008, 4673–4683. URL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-154678 [letzter Zugriff: 17.03.2021]; Renata Hejduk, Step into liquid. Rites, transcendence and transgression in the modern construction of the social sacred, in: Culture and Religion 11 (2010), 277–293.
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sie düster-pessimistischen Gegenwartsdiagnosen à la Weber positivierte Vorstellungen entgegenstellten, mit denen moderne Handlungssubjekte auf maligne Folgen der Rationalisierung und kapitalistischer Produktion reagieren können.20 Sie sahen es daher als eine Aufgabe an, Alternativen zu formulieren, und gelangten im Zuge dessen zu einer Neubestimmung der Kategorie des Sakralen. Insbesondere Roger Caillois’ 1939 erschienener Theorieentwurf »L’homme et le sacré« ist in diesem Zusammenhang von Interesse.21 Caillois befasst sich zwar ebenfalls schwerpunktmäßig mit religiösen Sakralpraktiken, formuliert jedoch zum Ende seines Buches hin eine Überleitung zur Bestimmung des modernen sozialen Lebens als geprägt von den Routinen und der Uniformität des ›profanen Lebens‹, dem Sakralvorstellungen entgegengesetzt werden: […] the word ›sacred‹ is used outside the properly religious domain to designate that to which each devotes the better part of himself, that which is of utmost value and is venerated, that for which he sacrificed his life. Such is, in fact, the decisive touchstone that permits the unbeliever to distinguish between the sacred and the profane. That being, object, or idea is sacred for which man departs from routine, that he does not allow to be discussed, scoffed at, or joked about, that which he would not deny or surrender at any price. For the lover, it is the woman he loves; for the artist or scholar, the work that he pursues; for the miser, the gold that he amasses; for the patriot, the welfare of the state, the security of the nation, and the defense of its territory; and for the revolutionist, the revolution.22 Schon in seinen Betrachtungen zu Heiligkeit in religiösen Praktiken dynamisiert Caillois den Begriff, da er ihn nicht lediglich im Rahmen der Bestätigung vorhandener Ordnungen, die einer symbolischen Evidenzsicherung bedürfen, verortet, sondern auch im Rahmen einer kontrollierten Infragestellung dieser Ordnungen in Festivitäten (z.B. dem Karneval), in denen der Kontakt mit dem Heiligen gerade in der Auflösung geordneter Strukturen gesucht wird.23 Bataille radikalisiert diese Auffassung, wenn er schreibt: »Das Heilige ist das verschwenderische Aufbrausen des Lebens, dem, um zu dauern, die Ordnung der Dinge Fesseln anlegt und das die Fesselung in Entfesselung, mit anderen Worten in Gewalt verwandelt«.24 Das Heilige bleibt in dieser Theorierichtung als Kategorie ambigue,25 da mit ihm nicht nur eine Vorstellung des Heils, sondern der Kontakt mit Mächten und Kräften gesucht wird,
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Vgl. Moebius, Das Sakrale (Anm. 19), 3250f. Robert Caillois, Man and the Sacred, Urbana, Chicago 2001. Ebd., 132f. Vgl. ebd., 97–127. Georges Bataille, Theorie der Religion, München 1997, 46. Vgl. Caillois (Anm. 21), 33–59.
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die das menschliche Vermögen der Kontrolle übersteigen, an die sich die Menschen jedoch gebunden fühlen.26 Vorgeprägt sind diese Auffassungen unter anderem in der Theorie der Magie, die Marcel Mauss – Lehrer der Angehörigen des Collège de Sociologie – zusammen mit Henri Hubert 1904 vorlegte.27 Die Magietheorie ist deshalb im vorliegenden Zusammenhang eine relevante Bezugstheorie, weil Mauss und Hubert Magie als »soziales Phänomen« bestimmen, das sich einer Triangulation verdankt: Wir können uns kein magisches Urteil denken, das nicht Gegenstand einer kollektiven Affirmation wäre. Immer sind es mindestens zwei Individuen, die das Urteil fällen: Der Magier, der den Ritus aufführt, und der Teilnehmer, der daran glaubt […]. Dieses irreduzible theoretische Paar ist durchaus schon eine Gesellschaft. Normalerweise allerdings findet das magische Urteil die Bestimmung ausgedehnter Gruppen und Gesellschaften und von ganzen Zivilisationen. Wo ein magisches Urteil vorliegt, gibt es eine kollektive Synthesis, in einem gegebenen Augenblick und in einer bestimmen Gesellschaft gibt es einen einhelligen Glauben an die Wahrheit bestimmter Ideen und an die Wirksamkeit bestimmter Gebärden.28 Dreistellig wird die Relation, in der magische Urteile entstehen, deshalb, weil der Magier, um Gefolgschaft zu finden, sich auf die Wirksamkeit eines Dritten, einer Kraft beruft, des mana. Der Begriff des mana gehört laut Mauss und Hubert »derselben Ordnung an […] wie der Begriff des Heiligen«.29 Die Qualität des mana oder des Heiligen haftet an Dingen, die in der Gesellschaft eine ganz speziell definierte Position einnehmen, so daß sie häufig den Eindruck erwecken, als fielen sie aus der Alltagswelt heraus und entzögen sich dem alltäglichen Gebrauch. Dinge dieser Art nun nehmen in der Magie einen beträchtlichen Raum ein, sie sind ihre lebendigen Kräfte.30 In dieser triangulierten Perspektive magischer Praktiken ist auch ein Modell für die soziologische Theorie des Heiligen enthalten, so dass eine Soziologie der Heiligkeit sich mit dem Verhältnis von Heiligem und Magie befassen muss. Hier ergibt sich ein Forschungsdesiderat, das inzwischen erkannt worden ist. Bernd-Christian Otto etwa rekonstruiert die Geschichte des Magiebegriffs und weist mit Blick auf die Harry-Potter-Romane und die Herr-der-Ringe-Trilogie auf eine »kaum bemerkte Diskre26 27 28 29 30
Vgl. hierzu auch Bataille (Anm. 24), 33. Vgl. Marcel Mauss/Henri Hubert, Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie, in: Marcel Mauss (Hg.) Soziologie und Anthropologie I, München 1974. Ebd., 157. Ebd., 151. Ebd., 152 [Herv. i.O.].
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panz zwischen dem gegenwärtig hohen Rezeptionsniveau eines positiv konnotierten Magiebegriffs in zahlreichen Sparten moderner Popularkultur auf der einen und seiner überwiegend negativ konnotierten Rezeption im Laufe seiner etwa 2500 Jahre umspannenden Begriffsgeschichte auf der anderen Seite« hin.31 Ähnliches lässt sich auch bezogen auf den Heiligkeitsbegriff behaupten. In einer soziologischen Begriffsfassung ist allerdings dessen klassische binäre Codierung, wie sie in der Unterscheidung von ›heilig‹ und ›profan‹ mit Bezug auf Eliade32 gepflegt wurde (und z.T. auch noch wird), zu überwinden und – ähnlich zur Magiekonzeption von Mauss und Hubert33 – das Heilige als dreistellige Relation zu erfassen.
2.2 Der Ansatz der funktionalistischen Handlungstheorie Parsons hat schon früh, nämlich 1929, Zweifel an der Weber’schen Generalisierung des Rationalisierungsprozesses angemeldet, »he denies any possibilities other than that either the spiritual forces (charisma) or the material conditions (in this case the rational bureaucratic machine) must dominate society«.34 Er stellt die Frage, ob es nicht möglich sei, dass statt der strikten Dichotomisierung von materiellen Bedingungen der Rationalisierung und charismatischen Mechanismen »all manner of combinations between them are possible«.35 Er vertritt die Auffassung, dass sich die Mechanismen der Rationalisierung speziellen Umständen verdanken, »which do not involve the necessity for its continued dominance over life, but leave the possibility open that it may again be made to serve ›spiritual‹ aims«.36 Rationalität sei kein gleichsam natürlicher Zustand, sondern müsse als normative Handlungsanforderung auf komplexe Weise erst hergestellt werden: It should be noted that rationality in this sense is institutional, a part of a normative pattern: it is not a mode of orientation which is simply ›natural‹ to men. […] The fact is that we are under continual and subtle social pressures to be rationally critical, particularly of ways and means.37
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Bernd-Christian Otto, Magie. Rezeptions- und Diskursgeschichtliche Analysen von der Antike bis zur Neuzeit, Berlin/New York 2011, 5. Vgl. Mircea Eliade, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt a.M. 1998. Vgl. Mauss/Hubert (Anm. 27). Talcott Parsons, ›Capitalism‹ in Recent German Literature. Sombart and Weber (Concluded), in: Journal of Political Economy 37 (1929), 31–51, 47. Ebd. Ebd., 48. Talcott Parsons, The Professions and Social Structure, in: ders. (Hg.), Essays in Sociological Theory, New York 1954, 34–49, 37.
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Obwohl der Begriff der Heiligkeit bei Parsons keine zentrale Rolle spielt, ist sein soziologisches Werk von der Annahme geprägt, dass soziologische Theorien, die utilitaristische und rationalisierte Erklärungen betonen, den Bedingungen, die gesellschaftliches Handeln beeinflussen, nicht gerecht werden. Trotz seiner abstrakten funktionalistischen Handlungstheorie hat er nicht aus dem Auge verloren, dass auch eine funktionale Analyse die Annahme voraussetzt, dass »situations must be subjectively defined, and the goals and values to which action is oriented must be congruent with these definitions, must, that is, have ›meaning‹«.38 Heiligkeit konstituiert sich – mit Parsons gedacht – als Symbolisierung solcher Bedeutungen im Handlungsprozess selbst39 und wird nicht erst in der säkularisierten Gesellschaft, sondern auch schon in religiösen Zusammenhängen relevant, wenn der Ausgang von Situationen nicht rational kontrolliert werden kann: »The combination of a strong emotional interest with important factors of uncertainty, which on the given technical level are inherent in the situation, produces a state of tension and exposes the actor to frustration«.40 Parsons interpretiert mit Hilfe von Durkheim die Weber’sche Charismatheorie, indem er Charisma – ähnlich dem Durkheim’schen Heiligkeitsbegriff – als »set apart« fasst: »a quality of things and persons by virtue of which they are specifically set apart from the ordinary, the everyday, the routine«.41 Die spezifische Qualität der Heiligkeit werde in der Weber’schen Charismatheorie einzelnen Personen zugesprochen. Über die Gefolgschaft werde die von diesen Personen vertretene moralische Ordnung legitimiert. Indem das Charisma bzw. die Qualität der Heiligkeit von diesen Personen auf die Regeln der Ordnung selbst übertragen wird, »which carry the same quality of sanctity, of charisma, as the person of the ruler«,42 werde das Charisma traditionalisiert. In der rationalisierten Gesellschaft schließlich werde die Qualität des Heiligen gänzlich von Personen abgelöst und Legitimität durch Legalität erzeugt.43 Neben dieser Deutung des Charismabegriffs kann für eine Soziologie der Heiligkeit Parsons’ Unterscheidung von diffusen und spezifischen Sozialbeziehungen fruchtbar sein: Ähnlich wie Mauss und Hubert bezogen auf ihren Gegenstand der
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Talcott Parsons, The Theoretical Development of the Sociology of Religion. A Chapter in the History of Modern Social Science, in: Journal of the History of Ideas 5 (1944), 176–190, 188; vgl. hierzu auch Jeffrey Alexander, The Meanings of Social Life. A Cultural Sociology, New York 2003, 184. Vgl. Parsons, Sociology of Religion (Anm. 38), 184. Ebd., 182. Talcott Parsons, The Structure of Social Action. A Study in Social Theory with Special Reference to a Group of Recent European Writers, Glencoe, Ill. 1949, 662. Ebd., 664. Vgl. hierzu auch Sigrid Brandt, Religiöses Handeln in moderner Welt, Frankfurt a.M. 1993, 70–72.
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Magie hebt Parsons die »peculiar sociological structure«44 der Erzeugung beruflich professioneller Autorität hervor. Die Ausdifferenzierung von Berufsrollen führe dazu, dass z.B. Ärzte und Ärztinnen nicht primär deshalb Autorität zugeschrieben oder Vertrauen entgegengebracht wird, weil ihr Handeln als »a manifestation of superior ›wisdom‹ in general or of higher moral character«45 angesehen werde, sondern weil man ihnen eine professionelle Problemlösungskompetenz zuschreibt. Nur so lässt sich erklären, dass ein Arzt/eine Ärztin oder ein Jurist/eine Juristin »often exercises his authority over people who are, or are reputed to be, his superiors in social status, in intellectual attainments or in moral character«.46 Die Anknüpfung an solche professionssoziologischen Überlegungen erlauben gänzlich neue Perspektiven. So sind gerade im Kontext der medizinischen Profession Praktiken der Heiligung anzusetzen, die nicht religiös sind, sondern in Rollenverhältnisse eingebettet sind. Mit der Unterscheidung von diffusen und spezifischen Sozialbeziehungen setzt Parsons die Berufssphäre47 ins Verhältnis zur ursprünglich traditionalen Sphäre von Familie, Verwandtschaft und Gemeinschaft. »Absolute insulation of these other structures from that of the occupational sphere is impossible since the same concrete individuals participate in both classes«.48 Praktiken des Heiligen lassen sich somit nicht auf diffuse Sozialbeziehungen beschränken, sondern sind auch in den spezifischen Sozialbeziehungen zu erwarten. Professionalisierungsprozesse lassen sich daher nicht mit Weber allein als Rationalisierungen deuten, sondern in professionalisierten Praktiken werden Sinnstiftungen integriert (als Beispiel kann hier der hippokratische Eid bzw. die Deklaration von Genf für die medizinische Profession dienen49 ), zu deren soziologischer Rekonstruktion eine Soziologie der Heiligkeit beitragen kann. Ähnlich wie die Angehörigen des Collège de Sociologie setzt Edward Shils – mehrfacher Ko-Autor von Parsons – einer eher pessimistischen Sicht auf die Situation des Individuums in der rationalisierten, säkularisierten Gesellschaft eine optimistischere Auffassung entgegen:
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Parsons, The Professions (Anm. 37), 38. Ebd. Ebd. »occupational sphere«, ebd., 46. Ebd., 46f. In einem solchen Eid geht es nicht um Fragen der juristischen Bearbeitung von Normverletzungen, sondern um die Formulierung eines gemeinsamen Verständnisses der Sinnstiftungsgrundlagen der spezifischen beruflichen Handlungspraxis. Insofern findet sich eine Entsprechung zur religiösen Glaubensbekenntnissen im Zusammenhang einer prinzipiell als säkular konzipierten Profession. So ließe sich etwa die Orientierung an weltanschaulichen oder religiösen Kriterien bei der Behandlung von Patientinnen und Patienten als eine Verletzung eines entsprechenden Eides thematisieren.
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modern society is no lonely crowd, no horde of refugees fleeing from freedom. It is no Gesellschaft, soulless, egotistical, loveless, faithless, utterly impersonal and lacking any integrative forces other than interest or coercion. It is held together by an infinity of personal attachments, moral obligations in concrete contexts, professional and creative pride, individual ambition, primordial affinities, and a civil sense which is low in many, high in some, and moderate in most persons.50 Shils hat zwar selbst bekundet, die Durkheim’schen Schriften nicht genügend gewürdigt zu haben,51 seine Anleihen sind inhaltlich jedoch inzwischen gut belegt.52 Die Bedeutung des Begriffs der Heiligkeit wird von Shils in seiner Studie zur Krönungszeremonie Elisabeth II. 1953 zusammen mit Michael Young entfaltet. An einigen Stellen beziehen sich er und Young direkt auf Durkheim, wenn sie aus dessen Religionsschrift den Hinweis zitieren,53 dass es keine Gesellschaft gebe, »die nicht das Bedürfnis fühlte, die Kollektivgefühle und die Kollektivideen in regelmäßigen Abständen zum Leben zu erwecken und zu festigen«.54 Gesellschaften seien darauf angewiesen, dass Menschen, die ihnen angehören, gemeinsame moralische Werte teilen: What are these moral values which restrain men’s egotism and which enable society to hold itself together? A few can be listed illustratively: generosity, charity, loyalty, justice in the distribution of opportunities and rewards, reasonable respect for authority, the dignity of the individual and his right to freedom. Most people take these values so much for granted that argument about them seems neither necessary nor possible. Their very commonplaceness may seem to place them at the very opposite pole from the sacred. Yet these values are part of the substance of the sacred, and values like them have sacred attributes in every society.55 Das Heilige moralischer Werte leite sich ab aus ihrem Verhältnis zu »forces and agents which men regard as having the power to influence their destiny for better or for worse«.56 Daneben ergibt sich aus der Theorie von Shils für eine Soziologie der Heiligkeit auch eine Reflexion des Verhältnisses der Begriffe ›Heiliges‹ und ›Charisma‹, da Shils auch letzteren Begriff unter Rückgriff auf Weber’sche Argumente
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Edward Shils, Center and Periphery. Essays in Macrosociology, Chicago/London 1975, 112 [Herv. i.O.]. Vgl. ebd., xxviii. Vgl. Thomas Schneider, Der sakrale Kern moderner Ordnungen, Berlin 2016, 308–331. Vgl. Shils (Anm. 50), 139. Durkheim (Anm. 15), 571. Shils (Anm. 50), 138. Ebd.
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zur Analyse moderner Gesellschaften heranzieht.57 In diesem Zusammenhang ist auch das Konzept der Zivilreligion von Robert Bellah, der bei Parsons studierte, zu erwähnen, in dem ›Heiligkeit‹ eine zentrale Rolle spielt.58 Schließlich leistet die Soziologie Jeffrey Alexanders, die der funktionalistischen Schule der Handlungstheorie verpflichtet ist und sich sowohl auf die Theorien von Parsons und Shils bezieht als auch auf Caillois, einen wichtigen Beitrag zur Klärung des Heiligkeitsbegriffs. Alexander verwendet den Begriff des Heiligen in kultursoziologischer Zurichtung auf vielfältige Weise: bei der Analyse gesellschaftlicher Traumata wie dem Holocaust, dem Umgang mit dem Bösen,59 aber auch bei der Rekonstruktion der Bedeutung der Demokratie z.B. in der Watergate-Affäre60 bis hin zur Analyse der Zuschreibung von Heiligkeit zu Computern.61 So arbeitet er etwa heraus, wie die Informationstechnologie Beschreibungen und Vorstellungen hervorbringt, die den religiösen Heiligkeitsvorstellungen entsprechen, z.B. die Zuschreibung der außergewöhnlichen Fähigkeit zu Computern, dass diese gesellschaftliche Missstände überwinden könnten.62
2.3 Neuere Ansätze zur Soziologie der Heiligkeit Gordon Lynch, Philipp Mellor und Chris Shilling gehören neben Jeffrey Alexander zu den wenigen Soziologen, die die Kategorie des Heiligen zu einer zentralen Kategorie für die Analyse der Gegenwartsgesellschaft jenseits einer religionssoziologischen Perspektive ausgearbeitet haben, und die Konzepte dieser Autoren bilden einen in Deutschland noch kaum rezipierten Pfad, der für empirische Analysen hilfreich sein kann. Lynch beruft sich auf Durkheim, Bellah und Alexander und formuliert eine komplexe Definition der Kategorie der Heiligkeit, in der er die historische Kontingenz der Inhalte dessen, »what people collectively experience as absolut, noncontingent realities which present normative claims over the meanings and conduct of social life«,63 berücksichtigt wissen möchte. Das Heilige ist für ihn einerseits auf
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Vgl. ebd., 127–134; dazu Magnus Schlette, ›… das Charisma auf seinem schicksalsreichen Wege‹. Max Webers und Edward Shils’ Beiträge zu einer Soziologie des Heiligen, in: Héctor Canal et al. (Hg.), Das Heilige (in) der Moderne. Denkfiguren des Sakralen in Philosophie und Literatur des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2013, 141–159. Vgl. Robert N. Bellah, Civil Religion in America, in: Daedalus. Journal of the American Academy of Arts and Sciences 96 (1967), H. 1, 1–21; dazu Jens Jetzkowitz, Recht und Religion in der modernen Gesellschaft, Münster 2000, 120–123; Gordon Lynch, The Sacred in the Modern World. A Cultural Sociological Approach, Oxford 2014, 36–40. Vgl. Alexander (Anm. 38), 109–119. Vgl. ebd., 155–177. Vgl. ebd., 179–192. Vgl. ebd., 190. Lynch, The Sacred in the Modern World (Anm. 58), 47.
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das ›Profane‹ bezogen, das er als im Heiligen implizierte Vorstellung eines ›Bösen‹ begreift. Andererseits ist das Heilige bei Lynch kontrastiv dazu auf das ›Mundane‹ bezogen, mit dem für ihn eher neutrale alltägliche Routinen bezeichnet sind: »Much of our life is lived in a messy, mundane world of petty negotiations, in which our activities, desires and self-presentation shift depending on what is going on around us. But when we encounter the sacred, we experience this as something that is not contingent on the vagaries of our lives«.64 Er versteht seine Konzeption nicht als »objective account of social reality, but as a framework within which particular ways of thinking and acting in relation to society become possible«.65 Gerade seine Konzeption des Heiligen als einer kommunikativen Struktur66 ist für eine Soziologie der Heiligkeit von Interesse. Seine explizit geäußerte Auffassung, es sei »impossible to imagine a society in which the communicative structures of the sacred are entirely absent«,67 überwindet eine Fokussierung des Begriffs des Heiligen auf Religion. Philipp Mellor und Chris Shilling arbeiten ähnlich wie Lynch und Alexander die Kategorie des Heiligen als eigenständige Kategorie zur Analyse der Gegenwartsgesellschaft aus. Sie entwerfen ein Schema von vier »modalities of the sacred […]: The Transcendent Sacred (religious), The Socio-Religious Sacred (religious), The BioEconomic Sacred (non-religious), The Bio-Political Sacred (non-religious)«.68 Für eine Soziologie der Heiligkeit sind besonders die dritte und vierte Modalität interessant, die sich auf nicht-religiöse Formen des Heiligen beziehen. Während Lynch das Heilige als kommunikative Struktur bezeichnet, ist besonders der Begriff der Verkörperung (Embodiment) soziologisch fruchtbar, den Mellor und Schilling in den Fokus rücken. Angelehnt ist dieser Begriff an das Bourdieu’sche Habituskonzept, und er wird von beiden als eine Basis entwickelt, »upon which processes of secularization or the revitalization of religion are enacted«.69 Mit der dritten, biopolitischen Modalität des Heiligen etwa interpretieren sie – ähnlich wie oben bei Parsons bereits umrissen – die bei Weber noch als Gegensatz zum Religiösen gedachte rationalisierte Technologie selbst als »an exceptionally powerful and prized incarnation of the extraordinary«.70 Die vierte, bio-ökonomische Modalität des Heiligen schließlich sehen sie als »grounded in the consumerization of the sacred in which there exists a proliferation of re-enchantment options available to individuals and groups within a broad, socially differentiated market«.71 64 65 66 67 68 69 70 71
Gordon Lynch, On the Sacred, New York 2014, 25f. Lynch, The Sacred in the Modern World (Anm. 58), 46. Vgl. ebd., 125–128. Ebd., 127. Philip A. Mellor/Chris Shilling, Sociology of the Sacred. Religion, Embodiment and Social Change, Los Angeles u.a. 2014, 24. Ebd., 16. Ebd., 32. Ebd., 36.
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3. Auf dem Weg zu einer empirisch gehaltvollen Soziologie der Heiligkeit Bei der empirischen Untersuchung der Transformationen des Heiligen in Gegenwartsgesellschaften geht es nicht primär darum, Säkularisierungsprozesse zu verstehen. Im Kern ist Heiligkeit als Zuschreibung von Bedeutungen zu rekonstruieren, mit denen Menschen – kollektiv wie individuell – existentielle Fragen beantworten und existentielle Herausforderungen zu meistern versuchen. Wie sich Heiliges konstituiert und wandelt, ist das zentrale Forschungsanliegen einer Soziologie der Heiligkeit. Säkularisierung ist in dieser Perspektive eine Verschiebung von Heiligkeitszuschreibungen. In diesem Prozess werden auf die vormals durch religiöse Symbole und Praktiken bearbeiteten existentiellen Fragen und Herausforderungen zunehmend nicht-religiöse Antworten gefunden. Eine empirische Soziologie der Heiligkeit untersucht, wie sich dieser Prozess in welchen Bereichen gesellschaftlichen Lebens vollzieht. Entsprechende empirische Studien sind allerdings bislang rar. Zwar haben, ausgehend von Daten der World Values Surveys, Pippa Norris und Ronald Inglehart in ihrer Studie Sacred and Secular einen Versuch in globalisierter Perspektive unternommen.72 Dieser war aber eher darauf fokussiert, die Säkularisierung religiöser Praxis darzustellen und nicht darauf, deren Substitution durch außerreligiöse Heiligkeitszuschreibungen zu analysieren.73 Qualitative empirische Studien, in denen die Konstitution und Transformation des Heiligen systematisch untersucht werden, liegen bislang nicht vor, auch nicht in den oben referierten Theorietraditionen und Forschungssträngen. Zu erwähnen ist aber, dass Alexander seine Argumente mit Verweisen auf die Interpretation von Dokumenten untermauert.74 Systematisch hat Jetzkowitz Textinterpretationen durchgeführt,75 und zwar von Verfassungsgerichtsentscheidungen zum Thema ›Religion‹, die zwar mit den Konzepten von »Kult des Individuums« (Durkheim)76 und »institutionalisierter Individualismus« (Parsons)77 arbeiten, aber keinen Bezug zur Soziologie der Heiligkeit herstellen. Studien, die qualitative Interviewdaten oder ethnographische 72 73
74 75 76 77
Pippa Norris/Ronald Inglehart, Sacred and Secular. Religion and Politics Worldwide (Cambridge Studies in Social Theory, Religion and Politics), Cambridge 2011. Vgl. Gert Pickel, Pippa Norris/Ronald Inglehart. Sacred and Secular. Religion and Politics Worldwide, in: Samuel Salzborn (Hg.), Klassiker der Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2016, 420–423. Vgl. Alexander (Anm. 38). Vgl. Jetzkowitz (Anm. 58). Émile Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1996, 478. Talcott Parsons/Gerald M. Platt, Die amerikanische Universität. Ein Beitrag zur Soziologie der Erkenntnis. Übersetzt von Michael Bischoff, Frankfurt a.M. 1990, 11.
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Beobachtungen auswerten und die erwähnten theoretischen Argumente für die Kategorie der Heiligkeit qualitativ empirisch überprüfen, sind uns nicht bekannt. Um die Schließung dieses Forschungsdesiderates vorzubereiten und Studien anzuregen, die mit qualitativen und quantitativen Verfahren die Konstitution und Transformation des Heiligen insbesondere in außerreligiöser Praxis rekonstruieren, setzen wir uns im Folgenden zunächst mit Manuel Franzmanns Analyse säkularisierter Glaubensformen78 auseinander. Dabei wird deutlich, wie sich Glaubenspraktiken rekonstruieren lassen, die sich selbst nicht als inhaltlich religiös ausweisen. Im Anschluss daran systematisieren wir unsere Überlegungen zu einer empirisch ausgerichteten Soziologie der Heiligkeit.
3.1 Manuel Franzmanns Analyse säkularisierter Glaubensformen und die Grenzen der empirischen Religionssoziologie Manuel Franzmann79 untersucht in einer umfangreichen qualitativen Studie mit Hilfe von objektiv-hermeneutischen Sequenzanalysen Glaubenspraktiken, die sich selbst nicht als inhaltlich religiös ausweisen. Um seinen Gegenstand zu erfassen, beruft er sich auf das Strukturmodell von Religiosität von Oevermann.80 Entsprechend versteht er die Kategorie des Glaubens als Gegenbegriff zu der des Wissens. Zentral ist die Überlegung, dass in der praktischen Lebensbewältigung Subjekte ununterbrochen vor Entscheidungssituationen gestellt sind, in denen diese nicht routinemäßig ›wissen‹ können, wie zu handeln ist, sondern ihre jeweiligen Entscheidungen nur mit einem Glauben an das Gelingen oder die Richtigkeit bis zum Beweis des Gegenteils begründen können. Das gilt auch, so Franzmann im Anschluss an Oevermann, in der säkularisierten, rationalisierten Gesellschaft. Oevermann entwickelte dieses – von ihm so genannte – Strukturmodell von Religiosität, indem er sich an einem an William James81 angelehnten Begriff der Lebenspraxis orientiert und sich mit der Kategorienlehre von Charles Sanders Peirce auseinandersetzt,82 die er konstitutionstheoretisch wendet.83 Die Unmöglichkeit,
78 79 80
81 82 83
Vgl. Franzmann (Anm. 7). Ebd. Vgl. Ulrich Oevermann, Ein Modell der Struktur von Religiosität. Zugleich ein Strukturmodell von Lebenspraxis und von sozialer Zeit, in: Monika Wohlrab-Sahr (Hg.), Biographie und Religion. Zwischen Ritual und Selbstsuche, Frankfurt a.M. 1995, 27–102; ders., Strukturelle Religiosität und ihre Ausprägungen unter Bedingungen der vollständigen Säkularisierung des Bewußtseins, in: Christel Gärtner/Detlef Pollack/Monika Wohlrab-Sahr (Hg.), Atheismus und religiöse Indifferenz, Opladen 2003, 339–387. Vgl. William James, The Will to Believe, Harvard 1896. Vgl. Charles Sanders Peirce, Lectures on Pragmatism – Vorlesungen über den Pragmatismus, Hamburg 1973. Vgl. Oevermann, Struktur von Religiosität (Anm. 80), 54f.
Jens Jetzkowitz/Oliver Schmidtke: Was leisten Entwürfe zur Soziologie der Heiligkeit?
sich nicht entscheiden zu können, setze das Handlungssubjekt unentwegt unter Bewährungsdruck, und zwar unabhängig von der Frage, ob es inhaltlich religiös gebunden ist oder nicht. Diese Situation bilde eine conditio humana, auf die mit religiösen Praktiken reagiert werden kann. Sie ereile ungebrochen aber auch das moderne säkularisierte Subjekt. Mit dem Verweis auf das für den Menschen spezifische Bewusstsein seiner eigenen Endlichkeit ergebe sich für ihn notwendigerweise die Sinnfrage, deren Beantwortung das eigene endliche Leben auch noch nach dem Tod (das heißt aus verallgemeinerter Perspektive) als sinnvoll erscheinen lässt. Und zwar, indem sie dieses Leben, und sei es bloß auf vermittelte Weise, glaubhaft als sinnvoll im Hinblick auf etwas Weiterexistierendes darstellt. Unter den Vorzeichen der Säkularisierung sind dies insbesondere: andere Menschen, die Familie, Gemeinschaften, das Gemeinwesen, dem man angehört, die Menschheit. Sie fungieren gewissermaßen als Bezugspunkte eines säkularen Jenseits.84 Eine schlichte Verweigerung der Beantwortung der Sinnfrage habe Franzmann zufolge »potenziell verheerende Konsequenzen für die Lebensmotivation«, da das Subjekt damit »dem Tod als Skandalon und Inbegriff von Negativität nichts entgegenzusetzen« habe.85 Da für religiöse Beantwortungen der Sinnfrage ebenso wie für säkulare gilt, dass die Subjekte nicht um ihre Bewährungen »wissen« können, spricht Franzmann von »säkularisiertem Glauben«.86 Mit diesem Forschungsansatz bildet Manuel Franzmanns Studie einen Referenzpunkt für unsere Überlegungen zu einer empirisch gehaltvollen Soziologie des Heiligen. Ihre Stärke besteht darin, genuin außerreligiöse Praktiken in Begriffen zu analysieren, die auch auf religiöse Praktiken angewendet werden können. Mit Hilfe des Strukturmodells von Religiosität können die säkularisierten Umgangsformen und Lösungen mit dem Bewährungs- und Autonomieproblem von dezidiert areligiösen Interviewten rekonstruiert werden. Hierin liegt aber andererseits auch ein zentrales Problem der Studie. Denn dieses Modell ist so konstruiert, dass es die Weber’sche Rationalisierungstheorie bestätigt und kritisch weiterführt, ohne einen eigenständigen und offenen Begriff für die Bedeutungszuschreibungen zu entwickeln, der aus der kulturpessimistischen Aporie Webers hinausführt. Eine Bestätigung der Rationalisierungstheorie ist darin insofern angelegt, als – Franzmann und Oevermann zufolge – der Säkularisierungsprozess religiöse Inhalte als Lösungen für das Bewährungsproblem vielfach tatsächlich obsolet werden lässt.
84 85 86
Franzmann (Anm. 7), 418f. Ebd., 419. Ebd.
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Dies entbinde aber das Handlungssubjekt keineswegs davon, dann eben außerreligiöse Lösungen für das Bewährungsproblem finden zu müssen. Das genannte Wiederaufleben religiöser Traditionen z.B. in Esoterik oder New Age erscheint im Lichte dieses Strukturmodells nur als Rückfall und Autonomieverweigerung gegenüber dem Bewährungsproblem. Gleiches gilt für die Delegation von Handlungsentscheidungen an eine rationalisiert-verwissenschaftlichte Technokratie. Damit werden letztlich alle Antworten auf existentielle Sinnfragen und Herausforderungen ausschließlich im Lichte einer weberianisch gedachten Teleologie beleuchtet. Oevermann umschifft das Problem einer genaueren Verhältnisbestimmung von Religion und Säkularisierung, indem er von »Inhalten der Religion« und »Struktur von Religiosität« spricht.87 Somit bleibt in seinem Begriffsrahmen das säkularisierte Subjekt stets ein religiöses, nur eben nicht unbedingt inhaltlich, sondern strukturell. Franzmann kritisiert zwar die implizite Gleichsetzung von Säkularisierung und Profanisierung bei Charles Taylor88 und lehnt die Vorstellung, dem säkularisierten Subjekt sei »nichts mehr heilig«, explizit ab.89 Fragen danach, was jeweils ›das Heilige‹ der säkularisierten Subjekte ist und wie das zur Entwicklung einer autonomen Persönlichkeit unabdingbare Charisma für diese Subjekte erhalten bleibt, werden nicht explizit adressiert. Es bleibt also festzustellen, dass Franzmanns Studie außerreligiöse Antworten auf existentielle Sinnfragen und Herausforderungen empirisch untersucht. Ihre enge Bindung an die Weber’sche Rationalisierungstheorie und ihre Verwendung eines entgrenzten Begriffs von Religion bedingen aber, dass sie den Unterschieden in den religiösen und den nicht-religiösen, säkularisierten Lebenswelten begrifflich nur eingeschränkt gerecht wird. Ihr zentrales Problem liegt aus unserer Perspektive darin, dass die Potenziale von Begriffen wie Charisma, Opfer, Magie und des Heiligen im Oevermann’schen Strukturmodell unausgeschöpft bleiben.
3.2 »Was dem säkularisierten Subjekt heilig ist« – Systematische Überlegungen zur Erforschung von Konstitution und Transformation des Heiligen Empirische Studien zur Soziologie der Heiligkeit stehen vor einigen Herausforderungen: Sie müssen zeigen, dass sie (a.) einen abgrenzbaren Gegenstand oder eine klar identifizierbare Gemeinsamkeit verschiedener Phänomene erfassen und analysieren können. Dieser Gegenstand bzw. diese Gemeinsamkeit von Phänomenen sollte (b.) klar abgegrenzt sein von Religion. Welche Optionen eröffnet 87 88 89
Oevermann, Struktur von Religion (Anm. 80), 29. Vgl. Franzmann (Anm. 7), 435. Ebd.
Jens Jetzkowitz/Oliver Schmidtke: Was leisten Entwürfe zur Soziologie der Heiligkeit?
diese Forschungsperspektive gegenüber einer entgrenzten Verwendung des Religionsbegriffs, wie er beispielsweise in der an Luckmanns »Invisible Religion« anschließenden, phänomenologisch-wissenssoziologischen Tradition der Religionssoziologie oder auch im Strukturmodell von Religiosität von Oevermann begegnet? Hieran anknüpfend skizzieren wir schließlich (c.) Überlegungen, welche neuen Forschungsfragen sich aus diesem Perspektivenwechsel ergeben können. a. Ein für die empirische Forschung tragfähiger Begriff der Heiligkeit muss zeigen können, was Heiligkeit ist und wie diese von ihrem logischen Gegenbegriff, der Nicht-Heiligkeit, unterschieden werden kann. Zentral hierfür ist zu verstehen, dass ›Heiligkeit‹ eine triadische Struktur aufweist: Etwas – ein Ding, eine Erfahrung, eine vielleicht ritualisierte Handlung – ist heilig für eine bestimmbare Anzahl von Menschen. Wenn dieses Etwas als Verweis auf eine Größe gilt – sei es etwas »Unverfügbares«90 oder »das, was uns unbedingt angeht«,91 sei es eine Kraft wie das mana92 oder als die »außeralltäglichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräfte oder Eigenschaften«93 –, die in angebbaren gesellschaftlichen Zusammenhängen anerkannt ist und über die kommuniziert werden kann, dann liegt ein Fall vor, der für die Soziologie der Heiligkeit von Interesse ist: z.B. die kultische Verehrung eines Fußballvereins oder einer Marienstatue, das Sich-Bestimmen-Lassen durch die Kraft der Natur in verschiedenen Traditionen der Naturbegeisterung, die Erfahrung eigener ›übermenschlicher‹ Leistungsfähigkeit in einer sportlichen Aktivität oder auch in einer kriegerischen Konfrontation, das Sich-Einfügen in eine biblische oder literarische Geschichte über den Sinn des Lebens im Angesicht von Leid und Tod. Der Bereich der Phänomene, die auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede untersucht werden können, ist zwar nicht durch eine Fixierung auf den Religionsbegriff eingeengt, sondern durchaus breit. Gleichwohl bleibt der Gegenstand scharf abgrenzbar, denn nicht jede Transzendenzerfahrung94 und nicht jede als existentiell erlebte und thematisierte Erfahrung ist ein Fall für die Soziologie der Heiligkeit. Mit Bezug auf ein von Hans Joas berichtetes Beispiel soll versucht werden, diese Überlegung zu verdeutlichen:95 Joas berichtet von einer kleinen Indianerfigur, 90 91 92 93 94 95
Vgl. Jochen Schmidt, Kultur der Heiligkeit. Über theologische Rede vom Unverfügbaren in einem säkularen Zeitalter, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 113 (2016), 279–290. Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. 1, 3., überarb. Aufl. Stuttgart 1956. Vgl. Mauss/Hubert (Anm. 27). Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (Anm. 4), 140. Vgl. Alfred Schütz/Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1984, 139–177. Vgl. Hans Joas, Was ist uns noch heilig? Interview geführt von Merle Schmalenbach, Die ZEIT online (2017). URL: https://www.zeit.de/2017/52/hans-joas-soziologe-heilige-sakralisierung /komplettansicht [letzter Zugriff: 01.04. 2020].
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die er in seinem Berliner Arbeitszimmer aufbewahrt, weil sie ihn an einen besonderen Teil seiner Kindheit erinnert, und die er als »heiligsten Gegenstand« betrachtet.96 Für eine empirische Soziologie der Heiligkeit, die sich auf den oben skizzierten Begriff bezieht, bleibt eine solche intime Zuschreibung von Heiligkeit zunächst eine Idiosynkrasie, deren Relevanz für einen weiteren sozialen Zusammenhang offen ist. Die Erfahrung kann zunächst allein als eine individuelle Transzendenzerfahrung und als ein Stabilisierungsmechanismus im Rahmen einer Persönlichkeitsentwicklung gedeutet werden.97 Ein Bezug der Indianerfigur auf eine »starke außeralltägliche Kraft ohne Reflexion«98 mit soziologisch relevanten Folgen wäre u.E. erst ersichtlich, wenn in die Heiligung dieser Figur auch andere Personen involviert wären. Dies wäre z.B. dann der Fall, wenn der »heiligste Gegenstand« an die eigenen Kinder oder Enkel weitergegeben wird. Wenn sich Hans Joas in dem Interview, in dem er von dieser Indianerfigur erzählt, der Nachfrage, warum er diese so liebe, mit dem Verweis entzieht, dass dies »eine sehr persönliche Geschichte« sei, und dies vom Interviewer respektiert wird, so scheint eine allgemeine Dimension des Schutzes der Persönlichkeit und des Privaten auf, der hier eingefordert wird. Dies ließe sich dann mit Joas als ein Verweis auf die »Sakralität der Person« interpretieren.99 b. Damit die Unterscheidung von Heiligkeit und Religion neue Optionen für die empirische Forschung eröffnet, ist zu klären, in welchem Verhältnis die beiden Begriffe zueinander stehen. Während ›Heiligkeit‹ als systematischer Begriff im oben skizzierten Sinne Symbole und Praktiken erfasst, mit denen Menschen existentielle Fragen beantworten und ebensolche Herausforderungen bearbeiten, ist ›Religion‹ ein historischer Begriff.100 Religionen sind im Verlaufe von Gesellschaftsentwicklungen erst entstanden, und der Begriff selbst hat sich als Reflexionsbegriff für diese besonderen Formen von Sinnstrukturen etabliert. ›Heiligkeit‹ hingegen antwortet auf ein Orientierungsproblem, das Teil der conditio humana ist. In der Kreuztabelle (siehe Tabelle 1) sind die Kombinationsmöglichkeiten dieser beiden Begriffe dargestellt. Demnach ist davon auszugehen, dass Heiligkeit sowohl in religiösen als auch in nicht- bzw. außerreligiösen Symbol- und Praxiszusammenhängen auffindbar ist. Ebenso gibt es sinnhafte Orientierungen, die aus soziologischer Perspektive weder als religiös noch als heilig zu klassifizieren sind, und in religiösen Symbol- und Praxiszusammenhängen
96 97 98 99
Ebd., 1. Vgl. z.B. Erik H. Erikson, Der vollständige Lebenszyklus, Frankfurt a.M. 1988. Joas, Was ist uns noch heilig (Anm. 95), 1. Vgl. Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Frankfurt a.M. 2011. 100 Vgl. Ernst Feil, Religio. Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs vom Frühchristentum bis zur Reformation, Göttingen 1986.
Jens Jetzkowitz/Oliver Schmidtke: Was leisten Entwürfe zur Soziologie der Heiligkeit?
kommen auch nicht-heilige Sinnorientierungen vor. Dabei ist der Begriff der Heiligkeit hier als Oberbegriff konstruiert, der auch Magie, Charisma und rituellen Gabentausch aufnehmen kann. In der empirischen Forschung muss sich diese Begriffsstruktur aber erst bewähren. Es ist durchaus damit zu rechnen, dass weitergehende begriffliche Unterscheidungen notwendig sein werden.
Tabelle 1: Kombinationsmöglichkeiten der Begriffe ›Religion‹ und ›Heiligkeit‹ Religion
Nicht-Religion
Heiligkeit Nicht-Heiligkeit
c. Die Entkoppelung von Religions- und Heiligkeitsbegriff eröffnet neue Sichtweisen auf zeitgenössische und historische Gesellschaftsentwicklungen. In zivilgesellschaftlichem Engagement und in Freizeitaktivitäten, aber auch in verschiedenen beruflichen Praktiken können sinnstiftende Elemente und Konstellationen aufgesucht werden, in denen auf Unverfügbares Bezug genommen wird oder der Einfluss einer außeralltäglichen Macht erlebt wird. Solche Bezüge können in diesem Forschungsfeld thematisiert werden, ohne auf tendenzielle oder negativ konnotierte Begriffe wie »religionsähnlich«,101 »quasi-religiös«102 oder »religioid«103 zurückgreifen zu müssen. Und Phänomene wie die Fitness- und Gesundheitsbewegungen müssen nicht als »Diesseitsreligion«104 und Fernse-
101
Vgl. Kurt Weis, Religionsähnliche Phänomene im Sport, in: Beatrix Vogel (Hg.), Spuren des Religiösen im Denken der Gegenwart. Otterfinger Gesprächskreis 1997–2001, München 2004, 342–364; Manuel Becker, Religionsähnliche Züge im Marxismus-Leninismus der DDR. Anmerkungen zu einem Forschungsdesiderat, in: Deutschland Archiv 43 (2010), H. 1, 127–133. 102 Vgl. Beate Flath/Christoph Jacke, Das Quasireligiöse im Kontext von Massenevents der Popmusik. Eine Spurensuche, in: Richard Janus/Florian Fuchs/Harald Schroeter-Wittke (Hg.), Massen und Masken. pop.religion. lebensstil – kultur – theologie, Wiesbaden 2017, 25–46; Thorsten Benkel, Der Körper als Medium der Transzendenz. Spurensuche in den Sinnwelten von Religion und Sport, in: Robert Gugutzer/Moritz Böttcher (Hg.), Körper, Sport und Religion, Wiesbaden 2012, 49–72, 59. 103 Vgl. Hartmann Tyrell, Das Religioide und der Glaube. Drei Überlegungen zu einer Religionssoziologie der Zeit um 1900, in: Rüdiger Lautmann/Hanns Wienold (Hg.), Georg Simmel und das Leben in der Gegenwart, Wiesbaden 2018, 347–362. 104 Vgl. Karl Gabriel, Von der Jenseits- zur Diesseitsreligion? Zur religiös-kirchlichen Lage und der Virulenz der Diesseitsreligion Gesundheit/Fitness, in: Christian Spieß (Hg.), Freiheit – Natur – Religion. Studien zur Sozialethik, Paderborn 2010, 497–512.
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hen nicht als »implizite Religion«105 klassifiziert werden, um auf individuelle Heilserlebnisse und kollektive Wertevermittlung aufmerksam zu machen. Genealogisch ist zu fragen, ob diese Entwicklungen als Formenwandel oder Refiguration der Religion106 zu betrachten sind oder als eigenständige Entwicklungen. Körpertechniken und rituelle Feste sind nicht erst in zeitgenössischen modernen Gesellschaften aus religiösen Kontexten entkoppelt, sondern haben ihre Ursprünge in Populärkulturen und in magischen Praktiken (worauf oben bereits hingewiesen wurde107 ). Für die historische Forschung wird daher durch diese Begriffsbildung die Perspektive gestärkt, nicht nur zwischen hoch- und populärkulturellen Diskursen zu unterscheiden, sondern auch damit zu rechnen, dass selbst in vormodernen Gesellschaften nicht-religiöse Heiligkeitsbezüge artikuliert und praktiziert wurden, jenseits oder abseits der Machtansprüche von religiösen Institutionen.
4. Schlussbemerkungen Die Ausformulierung einer dezidierten Soziologie der Heiligkeit, die sich einer empirischen Überprüfung stellt, erscheint uns als dringlich. Ansätze hierfür sind vorhanden, und das sogar in verschiedenen begrifflich-theoretischen Strängen der Soziologie. Diese umreißen in ihren jeweiligen Theoriesprachen, dass fundamentale Sinnsetzungen in Gesellschaften eine eigene Klasse sozialer Tatbestände sind. Es wäre ein Fehler, sie unter Voraussetzung der Säkularisierungsthese abzutun als »dispersal of religion into religiousness, so that non-religious cultural aspects are filled with religious meaning«.108 Die Umrisse einer eigenständigen Soziologie der Heiligkeit, die wir hier vorlegen, sollen idealerweise empirische Studien anregen, die systematisch gesellschaftliche Entwicklungen im Lichte dieser Begriffe betrachten. Dass sich empirische Forschung nicht darin erschöpfen kann, einfach »über Phä-
105 Vgl. Günter Thomas, Medien – Ritual – Religion. Zur religiösen Funktion des Fernsehens, Frankfurt a.M. 1998. 106 Vgl. Luckmann (Anm. 9); Hubert Knoblauch, Die Refiguration der Religion – Perspektiven der Religionssoziologie und Religionswissenschaft, Weinheim 2020. 107 Vgl. Mauss/Hubert (Anm. 27); Caillois (Anm. 21). 108 Wilhelm Gräb, The Transformation of Religious Culture within Modern Societies. From Secularization to Postsecularizm, in: Justin Beaumont/Christoph Jedan/Arie L. Molendijk (Hg.), Exploring the Postsecular. The Religious, the Political and the Urban, Leiden/Boston 2010, 113–129, 122.
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nomene der wirklichen Welt«109 zu sprechen, sondern auf der methodischen Erhebung und Auswertung von Daten aufbauen muss, um Erkenntnisse zu sichern, ist eine Selbstverständlichkeit. Grundsätzlich sind alle methodischen Zugänge der empirischen Sozialforschung als anwendbar zu betrachten, um eine Soziologie der Heiligkeit zu entwickeln. Beim gegenwärtigen Forschungsstand sind allerdings zunächst explorative, qualitative Verfahren zu präferieren. Da in okzidentalen Gegenwartsgesellschaften die Wahrnehmung von Heiligkeit insbesondere weitgehend durch Religionsbezüge vorstrukturiert ist, können in ihren Bevölkerungen keine etablierten Sprach- und Reflexionsformen über außerreligiöse Sinnstiftungen als bekannt vorausgesetzt werden. Das erschwert den Einsatz von quantitativen Verfahren, insbesondere von standardisierten Befragungen. Zumindest so lange, bis typische Semantiken oder auch typische Konflikte oder Dilemmata entdeckt werden, in denen Verweise auf Unverfügbares verallgemeinert abgefragt werden können.
109 Hans Joas, Max Weber und die gefährlichen Prozessbegriffe. Interview geführt von Sylvia Terpe/Stefan Schwendtner, in: Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung (2017), 11. URL: https://www.eth.mpg.de/4637839/Joas_Interview_2017_12_DE.pdf [letzter Zugriff: 01.04.2020].
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Zum Gebrauch geheiligt Oder: Die kultisch-weltliche Spannung des Heiligen im Judentum Elisa Klapheck
1. Keduscha In der Schabbat-Liturgie des jüdischen Gottesdienstes findet sich eine eigenartige Frage. Eigentlich sollte es der liturgische Höhepunkt sein – die Keduscha. Sie ist die dritte Segnung innerhalb eines speziellen Gebetes für den Schabbat, des Mussaf.1 Die Segnung trägt den Namen Keduscha oder auch Keduschat ha-Schem. Übersetzt wird dies zumeist mit »Heiligung des göttlichen Namens«.2 Das ist an sich schon ambivalent. Wer heiligt den göttlichen Namen? Die Gemeinde? Tatsächlich heißt es in der einleitenden Formel »nakdisch’cha« – »wir heiligen dich«.3 Aber ist Gott nicht schon an sich heilig? Braucht er noch eine Heiligung vonseiten der Menschen, die ihn – oder zumindest seinen Namen – heiligen? Die jüdische Tradition versteht die Mensch-Gott-Beziehung tatsächlich als eine reziproke Beziehung, in der nicht nur der Mensch auf Gott, sondern in einem gewissen Maße auch umgekehrt, Gott auf den Menschen angewiesen ist. Die Rolle des Menschen, durch die Gott erst geheiligt wird – beziehungsweise die Vorstellung, dass Gott erst durch das Handeln der Menschen zu seiner Wirkung kommt, ist bereits in der Tora ausgedrückt.4 So findet sich im Buch Levitikus die Formulierung »auf dass ich geheiligt werde (we-nikdaschti) in der Mitte der Kinder Israels« (Lev 22,2); 1 2
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Siddur Schma Kolenu, Textbearbeitung Albert Richter, Redaktion und Konzept Edouard Selig, neu bearbeitet, Basel 2011, 408f. Z.B. Ha’awoda schebalew (Gottesdienst im Herzen), Gebetbuch für Wochentage, Schabbatot und Feiertage, Jüdische Liberale Gemeinde »Or Chadasch« Zürich 1998, 119. Der in Anm. 1 aufgeführte Siddur Schma Kolenu nennt nur den hebräischen Begriff Keduscha. Na’ariz’cha we-nakdisch’cha […] – Übers. Siddur Schma Kolenu: »Wir wollen Dich verehren und heiligen […]«, (Anm. 1), 409. Ähnlich in der Keduscha des regulären Gebetes: Nekadesch et Schim’cha ba-Olam […]« – Übers. Siddur Schma Kolenu: »Wir wollen Deinen Namen in der Welt heiligen […]«, (Anm. 1), 355. Hugo Bergmann, Die Heiligung des Namens (Kiddusch Haschem), in: Hans Kohn (Hg.), Vom Judentum. Ein Sammelbuch, Leipzig 1913, 32–43; auch in: Schalom Ben-Chorin/Verena Len-
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Begriffs- und Wortfelder
oder im Buch Exodus: »Sie sollen mir machen ein Heiligtum (Mikdasch), auf dass ich wohne in ihrer Mitte.« (Ex 25,8) Die rabbinische Exegese erläutert: »Und wenn ihr also tut, spricht Gott, wenn ihr zu einem Bunde werdet, in derselben Stunde steige ich empor, werde ich erhöht.«5 In den drei Textstellen müssen die Menschen etwas tun, ein Heiligtum bauen, zu einem Bund werden oder schlicht heiligen, damit die Präsenz Gottes, die Schechina, zur Wirkung kommen und aufsteigen kann. Genau das will auch der liturgische Moment der Keduscha im Schabbat-Gottesdienst. Der göttliche Name wird geheiligt, damit die Präsenz Gottes, die der jeweilige Gottesdienst ermöglicht, aufsteigen kann.6 Im Wechsel singen und wiederholen die Gemeinde und der oder die Vorbeter*in die folgenden Passagen. Wir wollen dich verehren und heiligen, gemäß dem Geheimnis, dem Spruch der heiligen Serafim, die in Heiligkeit deinen Namen heiligen, wie es durch deinen Propheten geschrieben wurde: und es ruft einer dem anderen zu und sagt: Heilig, heilig, heilig (kadosch, kadosch, kadosch) ist der Ewige der Heerscharen, die ganze Erde ist voll von seiner Herrlichkeit (Kawod). Seine Herrlichkeit (Kawod) erfüllt die Welt, seine Diener fragen einander: Wo ist die Stätte seiner Herrlichkeit? (Aje Mekom Kewodo?) Die ihnen gegenüber, sprechen: Gesegnet (Baruch). Gesegnet ist die Herrlichkeit (Kawod) des Ewigen von seiner Stätte (Makom) aus. Von seiner Stätte (Makom) aus wende er sich mit Erbarmen, begnade das Volk, das die Einzigkeit seines Namens verkündet, abends, und morgens, jeden Tag beständig zweimal in Liebe, das »Höre Israel« sagen: »Höre Israel der Ewige ist unser Gott, der Ewige ist einzig.« Er ist unser Gott, er ist unser Vater, er ist unser König, er ist unser Helfer. Er wird uns in Seiner Barmherzigkeit ein zweites Mal, vor den Augen aller Lebenden hören lassen: Euch zum Gott zu sein. Ich bin der Ewige euer Gott. Und in deiner heiligen Schrift steht so geschrieben: Der Ewige wird in Ewigkeit regieren, dein Gott, Zion, in allen Generationen, Halleluja. In allen Generationen wollen wir deine Größe verkünden, und in allen Ewigkeiten deine Heiligkeit heiligen; und dein Lob, unser Gott soll niemals von unserem Mund
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zen (Hg.), Lust an der Erkenntnis. Jüdische Theologie im 20. Jahrhundert (Serie Piper 879), München u.a. 1988, 161–171. Midrasch Wajikra Raba, Kap. 30 – auch Auslegung zu Psalm 68:35: »Gebet Gott Kraft!«, hierzu Midrasch Jalkut I 743, B. 224a, Sp. 2: »Die Gerechten fügen Kraft hinzu zur oberen Gewalt.«, Midrasch Bereschit Raba, Par. 69: »Die Bösen bestehen durch ihren Gott; aber die Gerechten – da besteht Gott durch sie, denn es ist gesagt worden: Siehe der Herr steht auf ihm […]« – Nach der Übersetzung von Hugo Bergmann (Anm. 4), 34f. Siehe My People’s Prayer Book. Traditional Prayers, Modern Commentaries, Vol. 2: The Amidah, hg. von Rabbi Lawrence A. Hofman, Woodstock/Vermont 1998, 85–93, vor allem die Kommentare von Marc Brettler, Lawrence Kushner/Nehemia Polen und Daniel Landes.
Elisa Klapheck: Zum Gebrauch geheiligt
weihen, denn ein großer und heiliger Gott und König bist du. Gesegnet (Baruch) bist du, Ewiger, heiliger Gott.7 Die liturgischen Formulierungen zitieren hier die Prophetenschriften. So sah der Prophet Jesaja in einer großen Himmelsschau, wie sich Chöre von Engeln gegenseitig die Wörter kadosch – kadosch – kadosch/heilig – heilig – heilig zuriefen (Jes 6,3). Die jüdische Gemeinschaft tut es ihnen nach, indem sie in der Keduscha ebenfalls kadosch – kadosch – kadosch exklamiert. Bei jedem kadosch erhebt man sich kurz auf die Zehenspitzen. Die Liturgie fährt fort mit der Feststellung, dass die Welt voll von seiner Kawod (ehrenvolle Präsenz Gottes) sei. Hierauf folgt nun die eigenartige Frage: Aje Mekom Kewodo? »Aber wo ist die Stätte seiner Kawod?« Der liturgische Höhepunkt des Gottesdienstes setzt mit dieser unerwarteten Frage plötzlich ein leeres Zeichen. Ja – wo ist der Ort seiner Heiligkeit? Hierauf gibt die Liturgie keine eindeutige Antwort. Es ist eine kryptische Stelle. Die Liturgie fährt vielmehr fort: »Die ihnen gegenüber sagen: Baruch!« »Die ihnen gegenüber« – gemeint ist ein der ersten Engelgruppe gegenüber befindlicher Engelschor. Ist aber das, was er sagt – »Baruch« –, die Antwort? Man könnte es als Aufforderung verstehen, Baruch (»Gesegnet«) zu sagen – so wie eben kadosch. Das würde bedeuten, Gott als »gesegnet« zu bezeichnen – beziehungsweise Gott zu segnen. Es könnte weiter bedeuten, dass sich durch die Segnung Gottes von selbst der Ort der Segnung als die Stätte der göttlichen Kawod erweisen wird. Die Liturgie fährt fort und zitiert eine weitere Engelsgruppe nunmehr aus der Himmelsschau des Propheten Ezechiel: Baruch Kewod mi-M’komo. »Gesegnet ist seine Kawod von seinem Ort aus!« (Ez 3,12) Im Folgenden werden diejenigen jüdischen Getreuen gepriesen, die zweimal am Tag das »Höre Israel« sprechen – das heißt diejenigen, die in Gottesdiensten die Einheit Gottes bekennen und damit den göttlichen Namen heiligen. Der Ort der Heiligkeit ist also mit einem Fragezeichen behaftet. Offenbar lässt er sich nicht eindeutig benennen – nicht im Himmel, nicht als Berg Sinai, auch nicht als Tempel … Vielleicht ist er diese Synagoge? Vielleicht erschafft ihn diese Gemeinschaft erst hier und jetzt, indem sie Gott segnet, also »Baruch« sagt? Vielleicht entsteht Heiligkeit überhaupt erst durch eine segnende Gemeinschaft?8 7
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Siehe Anm. 1, 409 (Herv. EK), hierauf basierend habe ich die Übersetzung der »Keduscha zu Mussaf am Schabbat« leicht überarbeitet, insbesondere Baruch mit »gesegnet« und nicht mit »gelobt« übersetzt. Marcel Poorthuis hat darauf verwiesen, dass die Vorstellung von heiligen Orten, heiligen Stätten, ja heiligen Dingen zurückgedrängt wird zugunsten von heiligenden Handlungen. Siehe Alberdina Houtman/Marcel Poorthuis/Joshua Schwartz (Hg.), Sanctity of Time and Space in Tradition and Modernity (Jewish and Christian perspectives series 1), Leiden u.a. 1998.
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Begriffs- und Wortfelder
2. Segnen, lobpreisen, heiligen Auch wenn die meisten jüdischen Beter*innen das irritierende liturgische Fragezeichen in der Keduscha kaum bemerken, passt es doch in jenes Unbehagen, das viele Juden*Jüdinnen heute beim Wort »Heiligkeit« empfinden. Das Wort verweist auf unbequeme Fragen: Was tut man eigentlich im Gottesdienst? Was bedeutet es, Heiligkeit herzustellen? Was heißt »heiligen«? Und wie verhält es sich zu den anderen gottesdienstlichen Handlungen – »segnen« – »lobpreisen« – oder »beten«? Auf Hebräisch sind das ganz verschiedene Wörter, die offensichtlich ganz Verschiedenes bezeichnen. Zu »segnen« (ba-re-ch) bedeutet, etwas bewusst zu machen – einer Sache einen teleologischen Sinn zu geben – sie für eine messianische Ausrichtung im jüdischen Bewusstsein zur Wirkung zu bringen. Das Schabbat-Licht wird zu Beginn des Schabbat »gesegnet«. Es wird nicht durch Preisung »gelobt« (ha-le-l). Es wird vielmehr durch eine Bracha, durch einen Segensspruch »gesegnet«. Dieser Unterschied ist wichtig. Bei einer Lobpreisung spricht der/die Lobende nur etwas aus – mit großer Emphase natürlich – trotzdem wird nur etwas gepriesen, was man aber selbst nicht hergestellt hat. Mit dem Segen hingegen stellt die segnende Person etwas her – es geht um eine aktivierende Handlung. Erst indem zwei ursprünglich profane Kerzen am Freitagabend angezündet und gesegnet werden, entsteht das Schabbatlicht. Eine Steigerung hiervon ist die »Heiligung«. Das kausative Verb le-hak-disch heißt »widmen«. Es geht um die Widmung für den Gebrauch – für den geheiligten, das heißt messianisch ausgerichteten Gebrauch. Es ist ein Weihen. So wird am Schabbat der Wein nicht nur gesegnet, sondern geheiligt. Die Handlung heißt Kidusch, was wörtlich übersetzt »Heiligung« bedeutet. Der Wein wird geheiligt, geweiht, um im messianischen Rahmen des Schabbat konsumiert, also getrunken zu werden. Wenn etwas geheiligt wird, bedeutet dies auch, dass damit etwas getan wird – und es hierfür zuvor gewidmet wurde. Die Teilnehmer*innen jüdischer Gottesdienste sind zumeist geneigt, gottesdienstliche Momente wie segnen, lobpreisen oder heiligen hinzunehmen, ohne sich ihrer unterschiedlichen Intentionen bewusst zu sein. In den deutschen Übersetzungen amalgamieren sie ohnehin soweit, dass ihre unterschiedlichen Bedeutungen gar nicht mehr erkannt werden können. – Baruch, was eigentlich »gesegnet« heißt, wird in den Übersetzungen fast durchgängig zu »gelobt«. Auch die aktive Rolle des Menschen in der Segnung ist in den Übersetzungen stark zurückgedrängt. So beginnt der jüdische Gottesdienst zwar mit dem Bar’chu – dem Aufruf des Vorbeters oder der Vorbeterin: »Segnet!«: Bar’chu et Adonai ha-Meworach – wörtlich übersetzt: »Segnet den Ewigen, den Gesegneten«. Die verlangte Handlung, Gott zu segnen, wird den Anwesenden offenbar jedoch kaum zugetraut. In den Übersetzungen steht zumeist: »Lobet den Ewigen, den Hoch-
Elisa Klapheck: Zum Gebrauch geheiligt
gelobten«.9 Gott zu segnen ist jedoch mehr als ihn zu loben. Loben heißt Gutes über ihn zu sagen, segnen heißt, ihn im religiösen Bewusstsein zur Wirkung zu bringen. Auch dass Gott von sich aus »heilig« sei, wird einfach angenommen. Natürlich: Ohne Gott gäbe es aus jüdischer Sicht keine Heiligkeit. Die jüdische Auffassung von heilig setzt jedoch von vornherein die Mensch-Gott-Beziehung voraus. Um Gottes Heiligkeit in der Welt zu konkretisieren, bedarf es einer Heiligung auch durch die Menschen. Obwohl die althebräischen liturgischen Formulierungen das zum Ausdruck bringen, kommt es in den heutigen Übersetzungen der jüdischen Liturgie so gut wie nicht vor. Es scheint, dass im modernen Zeitalter die Herausgeber*innen jüdischer Gebetsbücher mit deutscher Übersetzung das den Menschen nicht zutrauen. Gott muss nach der allgemeinen Vorstellung auch ohne die Menschen heilig sein – der Heilige – und die einzige Haltung, die dem Menschen danach zustehe, sei in Ehrfurcht vor der göttlichen Heiligkeit zu erschauern. Aber das stößt ihn in eine größere Distanz, als die liturgische Sprache es selbst formuliert und untergräbt zugleich sein religiöses Potential – seine Fähigkeit, die verschiedenen Facetten des Lebens zu heiligen.
3. Heilig und weltlich – kadosch und chol Heiligkeit, wie sie die jüdische Religion formuliert, ist verknüpft mit einer messianischen Ausrichtung. Durch sie haben die Dinge ihren teleologischen Sinn innerhalb der Zeit. Durch Heiligung werden unzählige Momente des Lebens teleologisch konkretisiert. Spricht man unter Juden*Jüdinnen über »heilig«, wird schnell das Begriffspaar »heilig« und »profan« genannt – kadosch und chol. Die gängige Vorstellung besagt, dass »heilig« ein anderes Wort für »abgesondert« sei. Das, was »geheiligt« wird, sei vom Profanen »unterschieden« und sogar von ihm räumlich »getrennt«. Genauer betrachtet bedeutet Heiligkeit im Judentum jedoch gerade keine Absonderung. Durch die Heiligung wird vielmehr der jeweilige Aspekt inmitten des Lebens zur Wirkung gebracht.10 9
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Sidur Sefat Emet, mit deutscher Übers. von Rabbiner S. Bamberger, Basel 1982, 104; Siddur Schma Kolenu: »Lobt den Ewigen, den Gelobten« (Anm. 1), 335; Seder ha-Tefillot. Gebete für Schabbat, Wochentage und Pilgerfeste: »Lasst uns Gott preisen; Gott gebührt unsere Ehre!«, übers. von Annette Böckler, Gütersloh 1997, 87. Es stimmt zwar, dass sich jüdische Religiosität durch die in der Bibel formulierte Forderung »Ihr sollt nicht sein wie die anderen Völker« als Unterscheidung von den anderen Völkern versteht und Formen der Absonderung hervorgebracht hat. Aber diese Absonderung beruht nicht auf einer negativen Einstellung zu chol/»profan«, um sich davon zu distanzieren und in fortgesetzter Heiligkeit zu leben. Auch das gesetzestreue Judentum wendet sich den »profanen« Dingen zu, indem es diese heiligt. Interessanterweise richtet sich die Aufmerksamkeit
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Dies zeigt sich beispielsweise markant beim Umgang mit der Torarolle. Bekanntermaßen ist die Tora heilig – nicht so sehr als Gegenstand, sondern als Medium, welches die Reziprozität zwischen göttlicher Offenbarung und menschlicher Auslegung ermöglicht. Sobald die Torarolle aus dem Aaron ha-Kodesch – dem »Schrein« oder dem »Schrank, der das Heilige beherbergt« – herausgenommen wird, weicht alle Distanz. Jemand, der im Gottesdienst speziell diese Aufgabe hat, nimmt die Torarolle auf den Arm und trägt sie entlang allen Anwesenden des Gottesdienstes. Die Anwesenden küssen sie symbolisch, indem sie die Tora mit dem Ende ihres Tallit, des Gebetsschals, berühren, Sobald der Tora-Träger an allen Reihen entlanggegangen ist, wird sie auf die Bima, auf das Lesepult gelegt, entkleidet und aufgerollt. In einer ausgeklügelten Choreographie werden nun nacheinander Menschen nach vorne gerufen; sie berühren jeweils die Textstelle mit ihrem Tallit, heiligen die Lesung durch einen entsprechenden Segensspruch, während andere das Podest wieder verlassen. Von oben gesehen, nimmt die Torarolle die Position der Mitte ein. Um diesen Mittelpunkt ›dreht sich‹ im wahrsten Sinne des Wortes der Gottesdienst. Die einen kommen, weil sie gerade zur Lesung aufgerufen wurden und beugen sich über den Text, um ihn zu segnen oder sich auf die Lesung zu konzentrieren, die anderen gehen. Es ist ein Kommen und Gehen, in das viele Gemeindemitglieder einbezogen werden. Die jeweiligen Textstellen werden in einem gesungenen Modus vorgetragen, wobei der oder die Vorleser*in einen »Zeiger« entlang der Zeilen führt. Der Moment größter Heiligkeit, die Toralesung selbst, ist zugleich der Moment größter Nähe – wenn nicht sogar Intimität. Die Tora ist dabei kein Objekt der Anbetung, sondern ein Gebrauchsgegenstand – für einen geheiligten Gebrauch. Ein weiteres Beispiel, das ganz offensichtlich zeigt, dass die jüdische Vorstellung von »heilig« gerade nicht »abgesondert«, sondern der Mitte des Lebens zugeführt und einem messianischen Verständnis von Gebrauch »geweiht« bedeutet, ist die Hochzeitszeremonie. Auf Hebräisch heißt das Ritual Kiduschin – »Heiligungen«. In der traditionellen Liturgie gibt der Mann der Frau einen Ring oder etwas anderes von Wert und sagt ihr: Harej at medudeschet li be-Tabat su ke-Dat Mosche wveeJisrael. »Somit bist du mir geheiligt durch diesen Ring entsprechend der Religion von Moses und Israel.« In modernen Hochzeitszeremonien gibt auch die Frau dem Mann einen Ring und spricht eine vergleichbare Formel. Worauf es ankommt, ist jedoch nicht, ob allein der Mann die Frau heiligt – oder sich beide gegenseitig – sondern, dass der oder die Ehepartner*in für ein aktives Leben im Rahmen der Ehe geheiligt wird. Selbstverständlich wird der geheiligte, hier der/die geheiratete Partner*in zu jemand Besonderem. Die Heiligung macht den jeweils Geheirateten zu einem herausgehobenen – einem erwählten Menschen, aber damit ist er/sie keineswegs vom Rest des Lebens der rabbinischen Literatur nicht auf die Beschaffenheit von kadosch, sondern wie chol in den heilsgeschichtlich teleologischen Prozess gehoben werden kann.
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abgesondert, sondern genau umgekehrt: in die Mitte des eigenen Lebens gestellt – aber das nicht in einem profanen Sinne, sondern einem geheiligten, teleologisch ausgerichteten Sinne. Nun wird oft gesagt, dass die Heiligung der Ehefrau zugleich ihre Separierung bedeutet. Mit der Hochzeit werde sie zugleich allen anderen Männern »verboten«. Aber das ist kein Einwand, da sie auch vorher nur theoretisch eine geschlechtliche Verbindung mit allen anderen Männern hätte eingehen können. In vergangenen Jahrhunderten war es vom religiösen Standpunkt her undenkbar, dass junge Frauen vor der Ehe »profane« Beziehungen mit anderen unverheirateten Männern eingingen und erst durch die Kiduschin, die Heiligung der Ehe all diesen Anderen verboten gewesen wären. Vielmehr stellte die Heiligung überhaupt erst die geschlechtliche Verbindung zu einem Mann her. Der jüdische Umgang mit Heiligkeit bedeutet nicht nur nicht, dass das Geheiligte vom Leben abgesondert wird, sondern vielmehr, dass es der Mitte des Lebens zugeführt wird – er bedeutet darüber hinaus auch, dass die jüdische Vorstellung von »heilig« dem Weltlichen von vornherein ein heiliges Potential zumisst. Chol, das zumeist als »profan« übersetzt wird, ist auch das hebräische Wort für den Werktag. Als Substantive sind der Schabbat Kodesch und der Werktag der Chol. Abgeleitet von chol wird chiloni – das modern-hebräische Wort für »weltlich« oder »säkular«. Heilig und weltlich – beziehungsweise kadosch und chol sind dabei keine wirklichen Gegensätze. Vielmehr ist chol das noch Unbestimmte, das aber das Potential von kadosch enthält. Chol ist das Vorhandene – kadosch ist das für eine teleologische, also messianische Ausrichtung aus dem Vorhandenen Gewidmete. »Profan« ist darum eine unglückliche, wenn nicht sogar irreführende Bezeichnung für chol. Denn chol ist nicht negativ zu verstehen. Schon in der Tora und noch mehr im Talmud besteht zwischen kadosch und chol kein Gegensatz. Das meiste, das als chol gilt, kann heilig werden – indem es zu einem teleologischen Gebrauch geweiht wird. Der profane Wein, das profane Brot, das profane Essen, die profanen Dinge des Lebens – all das lässt sich zum Gebrauch, das heißt zum messianischen Gebrauch hin heiligen. Mehr noch: kadosch kann ohne chol nicht bestehen. Die sechs weltlichen Werktage der Woche und der geheiligte siebte Tag empfangen gegenseitig ihren Sinn voneinander. Die Werktage, in denen Juden viele einzelne Handlungen segnen und heiligen, erhalten auf diese Weise eine heiligende Ausrichtung auf den Schabbat. Der Schabbat aber ist nur deshalb geheiligt, weil durch ihn die weltliche Dimension der Werktage in einem heilsgeschichtlichen Prozess steht.
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4. Diaspora und Heiligung Die Schabbat-Liturgie, wie wir sie heute kennen, ebenso wie die Heiligung des Weines oder die Heiligung der Ehepartnerin, sind Kompositionen des rabbinischen Judentums.11 Im Talmud, in Traktaten wie Brachot (Segnungen) oder Kiduschin (Hochzeit) finden sich die rabbinischen Diskussionen über die jeweiligen Formeln der Heiligung sowie ihre konkrete Ausgestaltung. Jacob Neusner hat in seinen Talmud-Studien nachgezeichnet, wie die ursprünglich auf den Tempel und das Land bezogene biblische Vorstellung von Heiligkeit und Heiligung im rabbinischen Schrifttum auf die jüdischen Lebensbedingungen in der Diaspora übertragen wurde.12 Neusner zufolge beschäftigten sich die talmudischen Rabbinen als Reaktion auf die Tempelzerstörung im Jahre 70 obsessiv mit den fortgesetzten Möglichkeiten der Heiligung. Sie verbanden die Idee der Heiligung grundsätzlich mit einer aktiven, das heißt allen Juden*Jüdinnen obliegenden Handlung. Aus dieser Zeit stammt auch die Umschreibung für Gott als ha-Kadosch baruch hu (»Der Heilige, er ist gesegnet«), ebenso wie die von religiösen Juden*Jüdinnen vor der Ausübung einer heiligenden Handlung gesprochene Segensformel: […] ascher kid’schanu be-Mizwotaw we-ziwanu […] lehadlik Ner schel Schabbat] (»[…] der uns mit seinen Geboten geheiligt hat und uns auftrug« [hierauf folgt die Nennung der jeweiligen Handlung, z.B.: das Schabbatlicht anzuzünden]). Neusner sieht in den talmudischen Auseinandersetzungen mit den Möglichkeiten aktiver Heiligung in der Diaspora zugleich auch ein neues Selbstverständnis als »heiliges Volk« (holy Israel). Indem Gott sein Volk mit immer mehr Geboten »heiligte«, kann es wiederum umgekehrt die Einzelheiten des Lebens – gerade auch in der Diaspora, unter den anderen Völkern – heiligen. Auch wenn die jüdische Idee der Heiligung ihre Konkretisierung unter den Bedingungen der Diaspora entfaltete, lässt sie sich dennoch auf die Bestimmungen in der Tora zurückverfolgen. Hierfür bedarf es allerdings einer detaillierten Auseinandersetzung mit der Gestaltung der Tora, beziehungsweise der Platzierung ihrer verschiedenen Kodizes. Wie schon oben gesagt, verweist Heiligung in eine Mitte – die Mitte des Lebens, die religiös verstanden auch derjenige Punkt ist, in dem das Göttliche und das Ir11
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Mit »rabbinisch« ist die nachbiblische Ära gemeint, das heißt eine Epoche zwischen dem 2. Jahrhundert v.d.Z. bis etwa dem 7./8. Jahrhundert n.d.Z., in der die klassische rabbinische Literatur entstanden ist. Ihre zwei Hauptgenres sind die exegetischen Midraschim zur Tora (Fünf Bücher Moses, Pentateuch) und der im Zeichen von Gesetzesdebatten stehende Talmud. Beide griffen die in der Hebräischen Bibel verankerten Vorstellungen von »heilig« auf und übertrugen sie in ihre eigene Zeit. Jacob Neusner, Introduction to Rabbinic Literature, New York u.a. 1994; siehe auch ders., Rabbinic Political Theory. Religion and Politics in the Mishnah, Chicago u.a. 1991, und ders., The Four Stages of Rabbinic Judaism, London u.a. 1999.
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dische zusammentreffen. Das war einmal die Mitte des Tempels, Ort der rituellen Mensch-Gott-Beziehung, in der sich das Kodasch Kodaschim – das Allerheiligste befunden hat. Im Ersten Tempel bis zu seiner Zerstörung im 5. Jahrhundert v.d.Z. soll sich im Allerheiligsten die Bundeslade mit den zwei Tafeln der Zehn Gebote befunden haben. Im Zweiten Tempel hingegen soll der Raum des Allerheiligsten leer gewesen sein – worin die Frage der Engel anklingt: Aje Mekomo? – Aber wo ist die Stätte seiner Kawod? Einmal im Jahr, an Jom Kippur, dem jüdischen Sühnetag, öffnete der Hohepriester dieses leere Allerheiligste, den innersten Ort des Tempels, und sprach darin den Gottesnamen aus. Es war eine echte Keduschat ha-Schem – eine Heiligung des göttlichen Namens durch den Menschen. Dieses Ritual in der Tempelmitte, das seit der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahre 70 nicht mehr praktiziert werden konnte, steht gleichwohl in einer inneren Beziehung zu einer anderen Mitte – der Mitte der Tora. Das mittlere 3. Buch Moses, das Buch Levitikus, besteht aus zwei Hälften. Die erste ist die ›Priesterschrift‹. Sie beschreibt die kultische Seite der altisraelitischen Religion, insbesondere den Opferkult im Heiligtum und die Aufgaben der Priester. Die Priesterschrift umfasst die Kapitel 1–18 des Buches Levitikus. Unmittelbar auf die Priesterschrift folgt ab Kapitel 19 der ›Heiligkeitskodex‹. Er umfasst die zweite Hälfte des mittleren Buches Levitikus. Die Priesterschrift enthält Bestimmungen der Heiligung durch kultische Handlungen gegenüber Gott; der Heiligkeitskodex wiederum verlangt Heiligung auch in den sozialen Beziehungen der Menschen untereinander. Er beginnt mit den Worten Kedoschim tih’ju: »Heilig sollt ihr werden, denn heilig bin ich, der Ewige, euer Gott […]«.13 Verlangt werden soziale Verhaltensweisen, die teilweise wie selbstverständlich klingen, aber hier die Kriterien für Heiligkeit – einer Heiligkeit im weltlichen Leben – vorgeben: Heilig sollt ihr werden, denn heilig bin ich, der Ewige, euer Gott. […] Du sollst deinen Nächsten nicht bedrücken und nicht berauben, behalte nicht den Arbeitslohn des Mietlings bei dir bis an den Morgen. Fluche nicht einem Tauben und vor einem Blinden lege keinen Anstoß, und fürchte dich vor deinem Gott. Ich bin der Ewige. (3. Buch Moses/Lev 19,2; 13f.) Ich sagte eben, auf das Priestergesetz folgt der Heiligkeitskodex. Doch für die TextKomposition der Tora stimmt diese lineare Darstellung nicht. Vielmehr gestaltet sich
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Zumeist übersetzt als »Heilig sollt ihr sein.« – Die Futurform, die zugleich als Imperativ möglich ist, wurde in der rabbinischen Literatur als messianische Ausrichtung interpretiert. Siehe hierzu den bis heute für religiöse Juden*Jüdinnen autoritativen mittelalterlichen Kommentar von Raschi (Salomo ben Isaak, 1040–1105) – Raschi – Kommentar zum Pentateuch, übers. von Selig Bamberger, Basel 1994 – zu Lev 19,2.
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die Tora, gestalten sich die Fünf Bücher Moses in einer kreisförmigen Struktur.14 Das gilt sowohl für ihre Gesamtkomposition, als auch für die Gestaltung der einzelnen Bücher und großer Text-Passagen. Die entscheidende Aussage, das heißt das intensivste Moment in den kreisförmigen Kompositionen befindet sich oftmals in der Mitte.15 Diese kreisförmige Kompositionsstruktur erklärt, warum es in der Tora immer wieder zu Wiederholungen von bereits genannten Themen oder Geschichten kommt: Sie liegen von der jeweiligen Mitte aus gesehen auf einem äußeren Kreis und kommen darum mehrmals vor.16 So spiegeln sich unmittelbar um die Mitte von Levitikus die Bestimmungen für das Eheleben und die Sexualität. In Lev 18 sind die Vorschriften im Rahmen kultisch-priesterlicher Reinheit zu lesen, in Lev 20,9-21 sind sie Teil einer ethischgesellschaftlichen Vorstellung.17 Beide zusammen beschreiben die Vorstellung von Heiligkeit bis in die Sexualität. Auch in Bezug auf den Umgang mit dem »heiligen« Land spiegeln sich die Vorschriften in der Priesterschrift und dem Heiligkeitskodex. So wird beispielsweise in den ersten Kapiteln von Levitikus unter den verschiedenen Sorten von Opfern auch
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Israel Knohl hat eine Debatte angestoßen, die erneut über die Beziehung bzw. Nicht-Beziehung zwischen der ›Priesterschrift‹ und dem ›Heiligkeitskodex‹ im 3. Buch Moses/Levitikus nachdenkt (Israel Knohl, The Sancturary of Silence. The Priestly Torah and the Holiness School, Winona Lake [1992], 2007). Knohl geht von einem Konflikt zwischen beiden aus. Seiner These zufolge spiegelt die Priesterschrift die Normen einer von der sozialen und politischen Realität gänzlich abgesonderten kultischen Elite. In unüberbrückbarer Opposition hierzu stehe der Heiligkeitskodex, der die israelitische Bevölkerung insgesamt als eine »Nation von Priestern« ansieht und sozialethische Verhaltensregeln als das Instrument der »Heiligung« beschreibt. Indem beide Kodizes unmittelbar in der Mitte des Pentateuchs aufeinander folgen, stehen sie für einen innerbiblischen Konflikt zwischen kultischen und sozialethischen Heiligkeitsauffassungen. Einige Judaist*innen und Bibelwissenschaftler*innen haben Knohls These als überzeichnet kritisiert und darauf hingewiesen, dass die kultische Seite zugleich politische und ethische Aspekte enthält, wie auch die sozialethische Seite kultische, das Konfliktfeld selbst jedoch haben sie bestätigt. Z.B. Hanna Liss, The Concept of the Holy One in First Isaiah and in the Priestly Code, in: Scriptura. International Journal of Bible, Religion and Theology in Southern Africa 87 (2004), 288–295; auch Marcel Poorthuis, Rudolph Otto Revisited. Numinosity Vis-à-Vis rabbinic, Patristic and Gnostic Interpretations of Scripture, in: M.J.H.M. Poorthuis/Joshua Schwartz (Hg.), Purity and Holiness. The Heritage of Leviticus, Leiden u.a. 2000, 107–127. Siehe z.B. Jacob Milgrom, The JPS Torah Commentary. Numbers, Philadelphia 1990; Mary Douglas, Leviticus as Literature, New York 2000 (1999) und dies., The Doctrine of Defilement in the Book of Numbers, New York 2004 (1993). So etwa unmittelbar um das mittlere Kapitel 19 die sexuellen Verbote in Lev 18,6-20 und 20,921. Die großen Sühneopfer, die in der ersten Hälfte von Levitikus für gesellschaftliche Vergehen verlangt werden, beziehen sich auf die in der zweiten Hälfte von Levitikus aufgezählten Sünden im sozialen Leben. Siehe darum auch schon Lev 19,29.
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die Darbringung der Erstlinge sowie der Speiseopfer genannt (Lev 2,12; 14). In einem der letzten Kapitel in Levitikus geht es um die Erträge der Landwirtschaft, aus denen die Erstlinge genommen werden. Es geht in diesem späten Kapitel des Heiligkeitskodex um das Prinzip des Schabbat, das hier den Umgang mit dem Land als heilsgeschichtlich aufgefasste Nutzung erlaubt. Doch alle sieben Jahre hat die Erde, haben die Felder, Recht auf einen Schabbat. Kapitel 25 enthält genaue Vorschriften für das Schabbatjahr des Landes und damit eng verbunden, wie mit den Feldern und Bäumen in einem heiligenden Sinne landwirtschaftlich umzugehen ist. Es mag von Gott her gesehen bereits ein heiliges Land sein, aber erst durch den heiligenden Umgang zur Gewinnung von Erträgen verwirklicht sich seine Heiligkeit von den Menschen her. Wenn nun das Zusammentreffen von Priesterschrift und Heiligkeitskodex im 3. Buch Moses/Levitikus, also dem mittleren Buch, die ›Mitte der Mitte‹ bildet, sind die Themen der beiden Kodizes innerlich verbunden. In dieser Verbindung, die ich als eine kultisch-weltliche Spannung bezeichne, liegt ein Ursprung des jüdischen Heiligkeitsbegriffs. Das bedeutet, dass der Begriff »heilig« sowohl eine rituelle, gottesdienstliche Seite enthält, die in der Priesterschrift angelegt ist – als auch eine sozialethische, weltliche, die vom Heiligkeitskodex ausgeht. Diese Doppelseitigkeit erzeugt eine für das Judentum typische kultisch-weltliche Spannung, die sich in den Heiligungen durch die Menschen ausdrückt. Sie ist letztlich in allen Momenten von Heiligung anwesend. Jede Kulthandlung ist zugleich eine weltliche, eine säkulare Konkretisierung einer geheiligten Ingebrauchnahme. Es war die Leistung des rabbinischen Judentums, die Konkretisierung vom Tempel zu lösen und in die jüdische Wirklichkeit der Diaspora hineinzutragen.
5. Aje Mekomo? Wo ist die Stätte? Die Mitte – die Stätte, in der Gott wohnt – ist also kompositorisch gesehen nicht mit etwas Bestimmten bezeichnet, sondern wird als das Zusammengehen von zwei großen Kodizes, der Priesterschrift und dem Heiligkeitskodex hergestellt. Man hätte für die Mitte das Heiligtum/den Tempel als Wohnstätte Gottes erwarten können. Doch durch die kreisförmige Struktur geraten die Vorschriften für den Tempel in eine Spannung zu den Vorschriften für das zwischenmenschliche Leben. Die Kulthandlung gerät auf diese Weise in die Verbindung zum weltlichen Verhalten. Diese kultisch-säkulare Spannung erklärt, warum sich die jüdisch-rabbinische Vorstellung des Heiligen nie allein auf den Kult beschränkte, sondern immer weiter auf säkulare (soziale, ethische) Bereiche beziehen konnte. Die in der Tora aufgeführten kultischen und sozialethischen Vorschriften, die die alt-israelitische Welt sowie die nachexilische jüdische Gemeinschaft zur Zeit des Zweiten Tempels bestimmten, wurden in der rabbinischen Epoche in die neuen religiösen und weltlichen Le-
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bensbedingungen der Diaspora übertragen. Hieraus erwuchs eine immer ausgedehntere Lebensbereiche umfassende jüdische Praxis der Heiligung, ausgedrückt in einer unendlichen Vielzahl von rituellen, sozialen, ökonomischen, gottesdienstlichen, pädagogischen, politischen und anderen Bestimmungen – das heißt eine immer weiter verzweigte und an den einzelnen Details des täglichen Lebens orientierte Kultur der Heiligung. Neusners Analysen beschreiben in der Ausweitung der zu heiligenden Bereiche in einer Welt ohne Heiligtum und ohne heiliges Land eine Neuverhandlung des Heiligen, das nunmehr ungeachtet historischer Erfahrungen durch menschliche Heiligung bewahrt bleibt.18 Mit Neusner zeigt sich auch das politische Potential in der rabbinischen Vorstellung des Heiligen. Heiligung ist nicht nur eine Sache zwischen dem Individuum und Gott, sondern drückt die soziale, gemeinschaftliche, politische Verbindung mit den anderen Juden*Jüdinnen aus. Darüber hinaus bezieht sie sich auf ein Leben unter den anderen Völkern. Die Zugehörigkeit zum »heiligen Volk« bedeutet somit, im Wege heiligender Handlungen alle Aspekte des Lebens in die heilsgeschichtliche Zeit zu stellen und damit die Welt insgesamt für das messianische Zeitalter vorzubereiten. Die jüdische Tradition hat mit der kultischen Seite der Heiligkeit, ebenso wie mit ihrer gleichzeitigen säkularen Seite nie gebrochen.19 Nach der rabbinischen Vorstellung lässt sich so gut wie jede weltliche Sache in den teleologischen Horizont stellen. So zeigt sich die messianische Ausrichtung der Kiduschin in der Hochzeitszeremonie. Einerseits erhält die Frau mit ihrer Trauung einen konkreten weltlichen Status mit Rechten und Pflichten, andererseits wird das mit ihrer Ehe gegründete jüdische Haus für eine messianische Ausrichtung geweiht. Während der Zeremonie wird die Ketuba, der weltliche Ehevertrag vorgelesen, in dem sich die Ehepartner*innen für die materiellen und alltäglichen Seiten der Ehe verpflichten, zugleich wird in derselben Zeremonie die Ehe mit entsprechenden Segnungen in die messianische Dimension gestellt, ähnlich der Kidusch des Weins am Schabbat. Einerseits erlaubt der Kidusch von der Schöpfung, den Weinreben, in der
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Jacob Neusner, Introduction to Rabbinic Literature, New York u.a. 1994. Interessanterweise hatten aber auch die Vordenker*innen der jüdischen Aufklärung und Emanzipation im 18. und 19. Jahrhundert in Deutschland, nicht zuletzt Moses Mendelssohn selbst, an der kultisch-säkularen Spannung festgehalten. In seinem wegweisenden Werk Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (1783) lehnte Mendelssohn die Erlangung der bürgerlichen Gleichberechtigung für die Juden*Jüdinnen um den Preis ihrer Aufgabe des ›Zeremonialgesetzes‹ ab. Mendelssohn entwickelte in diesem Werk eine eigene Theorie zum Zeremonialgesetz. Er sah den kultischen Rahmen des Zeremonialgesetzes als die Gewähr für soziale Handlungen. Auch wenn das in der Folge entstandene liberale Reformjudentum in Deutschland bereit war, das Zeremonialgesetz nur noch in seiner ethischen Diktion gelten zu lassen, blieb der kultische Untergrund im jüdischen Selbstverständnis gerade auch in gesellschaftspolitischer Hinsicht fortbestehen.
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weltlichen Gegenwart zu genießen, zugleich verknüpft er diesen Genuss mit der messianischen Zukunftserwartung. Zu den traditionellen Beispielen kommen heute moderne Erweiterungen hinzu. Im liberalen Judentum heiligt die Frau in der Hochzeitszeremonie auch den Mann durch eine entsprechende Formel, wodurch männliche Geschlechtlichkeit in einem neuen Spannungsfeld von Heiligkeit wahrgenommen wird. Im Unterschied zu einem traditionellen, vormodernen jüdischen Verständnis, als Männer außerhalb der geheiligten Ehegemeinschaft sexuelle Beziehungen zu unverheirateten Frauen haben »durften«, ohne dass dies die Heiligkeit ihrer Ehe gebrochen hätte, wird im heutigen modernen Judentum, da auch die Frau bei ihrer Hochzeit, den Kiduschin, ihren Ehepartner heiligt, der Ehebruch des Mannes auf eigene Weise als ein Bruch der Heiligkeit wahrgenommen. Das Thema macht jedoch nicht am traditionellen Eheverständnis halt.20 Die veränderte Einstellung zu Homosexualität hat auch im Judentum zu einer Diskussion über die Heiligkeit gleichgeschlechtlicher Beziehungen geführt. Inzwischen hat das liberale Judentum Zeremonien für gleichgeschlechtliche Kiduschin entwickelt und der jüdischen Auffassung von Heiligkeit in geschlechtlichen Beziehungen eine weitere Dimension hinzugefügt.21 Ebenso scheint die kultisch-weltliche Spannung, die aus dem Kidusch spricht, auch in heutigen Diskursen über die Heiligung der Schöpfung in der Konsumgesellschaft und der globalisierten Wirklichkeit auf. Eine Neuinterpretation der jüdischen Speisegesetze als »Öko-Kaschrut« sowie Auseinandersetzungen anhand der biblisch-talmudischen Vorschriften über den Umgang mit dem Land, den sozialen Verpflichtungen, bis hin zu den Regeln des Handels zeigen die kultisch-säkulare Spannung als ein fortgesetzt produktives Prinzip. Aje mekomo? – Wo ist die Stätte der Heiligkeit? Da, wo dieses Prinzip aktiv am Werk ist.
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Rachel Adler, Engendering Judaism. An Inclusive Theology and Ethics, Boston 1998; Daniel Boyarin, Carnal Israel. Reading Sex in Talmudic Culture, Berkeley u.a. 1993. Tatsächlich erlebt die jüdische Gemeinschaft ein Revival an kultischer Praxis. So erfahren ganze Lebensbereiche im Wege kultischer Heiligung neue heilsgeschichtliche Bedeutung. Längst hat z.B. die jüdische Frauenbewegung die Mikwe, das Ritualbald, für sich entdeckt, um durch neue Weise, das heißt auch neue Rituale, den weiblichen Körper zu heiligen und Genderaspekte in den heilsgeschichtlichen Prozess zu stellen. Siehe z.B. Naomi Marmon, Reflections on Contemporary Miqveh Practice, in: Rahel R. Wasserfall (Hg.): Women and Water. Menstruation in Jewish Life and Law, Hannover u.a. 1999, 232–254.
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Das Heiligkeitskonzept der synoptischen Jesusüberlieferung im Spannungsfeld von »Unverfügbarkeit« und »Verfügbarkeit« Ein Deutungsversuch Angelika Strotmann
1. Ein kurzer Überblick: Zum Vorkommen von Heiligkeitsbegriffen in der Jesusüberlieferung Das Neue Testament übernimmt in allen seinen Schriften mit dem griechischen ἅγιος (hagios = »heilig«) und seinen Derivaten den vorherrschenden Heiligkeitsbegriff der Septuaginta (LXX). Mit 273 Mal ist er die mit Abstand am häufigsten begegnende Begriffsvariante für »heilig/Heiligkeit« im Neuen Testament.1 Im Vergleich zu den 842 Vorkommen der Wurzel ( קד ׁשqdš – qadasch)2 in der ca. dreimal so umfangreichen hebräischen Bibel ist das nicht wenig und widerspricht zumindest quantitativ der häufig von christlichen Theolog*innen vertretenen These, dass dem Thema Heiligkeit im Neuen Testament eher eine Randbedeutung zukomme.3 1
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Zum Vorkommen des Lexems im Neuen Testament vgl. Horst Balz, Art. ἅγιος κτλ, in: EWNT I (1980), Sp. 38–48, 39. Eine etwas andere Zahl, nämlich 276, nennen Horst Seebass/Klaus Grünwaldt, Art. Heilig/rein – ἅγιος, in: TBLNT, Wuppertal 1997, 887–892, 890. Vermutlich orientieren sie sich an der Computerkonkordanz zum Novum Testamentum Graece, 2. Aufl., Berlin/New York 1985, Sp. 20–27, und rechnen auch ἅγιος-Vorkommen dazu, die nicht von allen neutestamentlichen Handschriften bezeugt werden (vgl. Balz, 39). Zum Vorkommen des Lexems in der hebräischen Bibel vgl. Walter Kornfeld/Helmer Ringgren, Art. קד ׁשqdš, in: ThWAT 6 (1989), Sp. 1179–1201, 1185. Leider gibt es keine genauen quantitativen Angaben zum Lexem ἅγιος samt Derivaten in den LXX-Schriften, zumal hier auch die Schriften hinzugerechnet werden müssen, die kein Äquivalent in der hebräischen Bibel haben. Nach Seebass/Grünwaldt (Anm. 1), 887, können wir mit ca. 1000 bis 1100 Vorkommen rechnen. Vgl. beispielhaft die Äußerungen Michael Lattkes dazu, wonach im Unterschied zur Religionswissenschaft »die neutestamentliche Wissenschaft weder Heiligkeit noch Heiligung zu zentralen Themen erklären [kann]«. Für Lattke geraten die Begriffe im Gegenteil »in die radikale theologische Kritik« Jesu und des Paulus, so dass ihnen allenfalls eine Randbedeutung zukommt (Michael Lattke, Art. Heiligkeit. III. Neues Testament, in: TRE 14 (1985), 703–708,
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Festzuhalten ist jedoch die ungleiche Verteilung des Lexems auf die verschiedenen neutestamentlichen Schriften. Während ἅγιος und seine Derivate in den sieben authentischen Paulusbriefen allein 65 Mal vorkommen und im Hebräerbrief sogar 27 Mal, begegnen sie in den drei sehr viel umfangreicheren synoptischen Evangelien nur 41 Mal. Da nicht alle »heilig«-Vorkommen in den Synoptikern zur Jesusüberlieferung im engeren Sinn gerechnet werden, reduziert sich die für unsere Fragestellung infrage kommende Anzahl von relevanten Stellen noch einmal deutlich. Hinzu kommt, dass von den 41 Vorkommen allein 22 eine feste Verbindung mit πνεῦμα (»Geist«) eingehen, zu τὸ πνεῦμα [τὸ] ἅγιον (»der Heilige Geist«), was in dieser Häufung viele Forscher*innen von einer formelhaften Wendung sprechen lässt. Die oft vertretene Ansicht, dass der synoptische Jesus Heiligkeitsterminologie gemieden habe,4 eine Ansicht, die sich auch in der geringen Zahl an Literatur zum Thema wiederspiegelt, könnte dadurch bestätigt werden. Nun beschränkt sich das Begriffsfeld »heilig« im griechischen Sprachraum nicht auf das im Neuen Testament am häufigsten verwendete Lexem ἅγιος. Seine Synonyme ὅσιος (hosios – »heilig, fromm«), ἁγνός (hagnos – »heilig, rein, unberührt, lauter«) sowie das Antonym »profan« (griech. βέβηλος)5 sind in der Jesustradition aber so selten, dass sie in dieser Untersuchung nicht berücksichtigt werden.6 Eine Ausnahme bildet das Lexem ἱερός (hi’eros – »heilig«), das in der Jesustradition mit drei Formen, die sich auf den Jerusalemer Tempel und seinen Tempelkult beziehen, in größerem Umfang vertreten ist: das Substantiv ἀρχιερεύς (archiereus – »Hoherpriester«) mit 62 Mal, das substantivierte Adjektiv τὸ ἱερόν (hi’eron – »Heiligtum«) als vorherrschende Bezeichnung für den Jerusalemer Tempel mit 34 Mal und das Substantiv ἱερεύς (hi’ereus – »Priester«) mit zehn Mal. Die Häufigkeit von ἀρχιερεύς, das übrigens meistens im Plural steht, ist der Tatsache geschuldet, dass die Evangelien
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703). Die forschungsgeschichtliche Randbedeutung des Themas konstatiert auch Wolfgang Weiß, »Heilig« in ethischen Kontexten neutestamentlicher Schriften, in: Dieter Sänger (Hg.), Heiligkeit und Herrschaft. Intertextuelle Studien zu Heiligkeitsvorstellungen und zu Psalm 110 (BThS 55), Neukirchen-Vluyn 2003, 44–64, 44. So z.B. John Riches, Art. Heiligung, in: TRE 14 (1985), 718–737, 720. Das griech. βέβηλος übersetzt das hebr. חל ֹ (chol = »profan«), das nur sieben Mal im Tanach vorkommt, davon viermal bei Ezechiel und zweimal im 2. Samuelbuch. Zentral für das Heiligkeitsthema sind die beiden Weisungen an die Priester in Lev 10,10: »Ihr sollt zwischen heilig und profan, zwischen unrein und rein unterscheiden«, und in Ez 44,23: »Sie sollen mein Volk den Unterschied zwischen heilig und profan lehren und sie den Unterschied zwischen unrein und rein erkennen lassen.« Wesentlich häufiger wird in Texten priesterlicher Herkunft (Levitikus, Ezechiel) eine Form der Verbwurzel ( חללz.B. Perf. Pi. ִחֵּלל/chilel = »entweihen, profanieren«) verwendet. ἁγνός samt seinen Derivaten fehlt in den synoptischen Evangelien vollständig, während ὅσιος einmal in Form seines Derivates ὁσιότης (hosiotes – »Heiligkeit, Frömmigkeit«) im Lobgesang des Zacharias (Lk 1,75) begegnet. Ebenfalls nur einmal, in Mt 12,5, kommt das Verb βεβηλόω (bebeloo – »profanieren, entweihen«) vor.
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die Hohepriester neben den Römern als hauptverantwortlich für den Tod Jesu darstellen.7 Für das Heiligkeitsverständnis der Jesustradition hat der Begriff höchstens implizite Bedeutung, so dass ich ihn nicht näher untersuchen werde.8 Eine besondere Rolle in der Jesustradition spielt dagegen der Jerusalemer Tempel, der bis auf wenige Ausnahmen nur »Heiligtum« (ἱερόν) genannt wird und dadurch, wie durch seine narrative Einbindung in die synoptischen Jesuserzählungen, das Heiligkeitsverständnis der Jesustradition entscheidend mitprägt. Zum Begriffsfeld »heilig« gehört schließlich das in engster Beziehung zur kultischen Heiligkeit stehende Lexem καθαρός (katharos – »rein, kultisch tauglich«) zusammen mit seinen Gegenbegriffen ἀκάθαρτος (akathartos – »unrein«) und κοινός/κοινόω (koinos – »gemein, gewöhnlich, unrein«). Denn in der hebräischen Bibel, die keine Synonyme für »( קד ׁשheilig«) kennt, hat das Lexem ( טהרtaher – »rein, kultisch tauglich«) die stärkste inhaltliche Verbindung zu qadasch,9 wie überhaupt in den Kulturen der Alten Welt Reinheits- und Heiligkeitsterminologie nicht voneinander getrennt werden können.10 Mit 61 Mal kommen die genannten Begriffe in der synoptischen Jesusüberlieferung nicht nur öfter vor als das Lexem ἅγιος, sondern häufen sich auch in einzelnen Textabschnitten (Perikopen). Neben der vorgestellten expliziten Heiligkeitsterminologie werde ich zu guter Letzt auch Texte der Jesusüberlieferung untersuchen, die »Heiligkeit/Reinheit« implizit, also ohne die entsprechende Reinheits- bzw. Heiligkeitsbegrifflichkeit thematisieren. Im Fokus stehen dabei Wundererzählungen, die sich mit Faktoren und Umständen beschäftigen, die traditionell jüdisch als unrein gelten (Blut, Tod, Gräber, Schweine).
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Der Plural »Hohepriester« verwundert zunächst, da es immer nur einen amtierenden Hohepriester gab. Er ist kein Fehler der Evangelisten, sondern hat damit zu tun, dass ab Herodes dem Großen die Hohepriester von den gerade Regierenden regelmäßig ausgetauscht wurden. Die abgesetzten Hohepriester – übrigens stammten alle Hohepriester aus nur sehr wenigen reichen und einflussreichen Priesterfamilien – übten aber weiterhin im Synhedrium großen politischen Einfluss aus und wurden daher als eine gemeinsam agierende Gruppe wahrgenommen. Das bedeutet nicht, dass er im narrativen Kontext der Evangelien nicht doch eine gewisse Rolle für das jeweilige Heiligkeitskonzept spielen könnte: der bzw. die Hohepriester als Vertreter eines »falschen« Heiligkeits- und Tempelverständnisses und damit als mögliche Antipoden Jesu. Zur Beziehung der Oppositionen »heilig – profan/holy – common« und »rein – unrein/pure – impure« sowie der von »heilig – rein« und »profan – unrein« vgl. den zusätzlich mit Diagrammen versehenen, instruktiven kurzen Beitrag von Jacob Milgrom, The Dynamics of Purity in the Priestly System, in: Marcel J.H.M. Poorthuis/Joshua Schwartz (Hg.), Purity and Holiness. The Heritage of Leviticus, Leiden 2000, 29–32. Vgl. z.B. Martin Vahrenhorst, Kultische Sprache in den Paulusbriefen (WUNT 230), Tübingen 2008, 75–113, zu den sogenannten »Leges Sacrae«, Gesetzen aus dem griechischsprachigen paganen Raum, die den Zugang zu verschiedenen Heiligtümern und ihrem Kult regelten.
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Eine Reihe weiterer Texte und Motive mit zumindest implizitem Bezug zum Heiligkeitsverständnis der Jesustradition kann ich leider aus Platzgründen nicht behandeln. Dazu gehören Texte, die sich zu Sünde und Sündern äußern und Jesu Umgang mit Sünder*innen thematisieren,11 dazu gehört auch die Auseinandersetzung um Jesu Sabbatverständnis, insbesondere die um seine Sabbatheilungen.12 Schon hier wird deutlich, dass die These von der Randbedeutung des Heiligen im Neuen Testament und speziell in der Jesusüberlieferung nicht aufrechterhalten werden kann. Auf dem vorgestellten Hintergrund ist es wahrscheinlich, dass auch weitere zentrale Themen und Inhalte der Jesusüberlieferung, wie z.B. die Verkündigung der βασιλεία τοῦ θεοῦ (basileia tou theou), des Königtums Gottes, auch wenn sie keine Heiligkeitsterminologie benutzen, mit Heiligkeitsvorstellungen verbunden sind. Ziel des Aufsatzes ist es, das Begriffsfeld »heilig« in der synoptischen Jesustradition mit seinen relevanten Texten systematisch zu erfassen, die mit ihm verbundenen Auslegungsprobleme und Forschungsdesiderate zu benennen und erste Überlegungen zu seiner Bedeutung in der Jesustradition zu formulieren. Dafür ist es im Vorfeld notwendig, sowohl den Stand der Forschung vorzustellen als auch einen knappen Überblick über das Heilig-Verständnis in unterschiedlichen Schriften der hebräischen (Tanach) und griechischen (LXX) Bibel zu geben.13 Das Heiligkeitsver-
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Vgl. dazu die Diskussion in der Forschung, ob Sünde und Unreinheit zwei gänzlich verschiedene Themen sind, oder ob Sünde auch als eine Form der Unreinheit verstanden werden kann. Die Diskussion ist allein deshalb sehr schwierig, weil nicht immer klar ist, was denn genau Sünde meint und in welcher Beziehung sie zu Schuld steht. Auf jeden Fall verdunkelt Sünde die Heiligkeit Gottes und gefährdet seine Präsenz im Heiligtum. Sie ist allerdings nicht ganz so einfach an äußeren Merkmalen festzustellen wie permanente kultische Unreinheit. Vgl. auch die Diskussion in den Schriften von Qumran und in ihnen nahestehenden Schriften, die zwischen kultischer und moralischer Unreinheit unterscheiden. Einen guten Überblick dazu gibt: Jonathan Klawans, Purity, Sacrifice, and the Temple. Symbolism and Supersessionism in the Study of Ancient Judaism, Oxford 2006, 145–174. So beginnt das Sabbatgebot in beiden Dekalogvarianten (Ex 20,8-11; Dtn 5,12-15) mit der Aufforderung, den Sabbat zu heiligen: »Gedenke an den Tag des Sabbats, um ihn zu heiligen« (Ex 20,8) und »Halte den Tag des Sabbats, um ihn zu heiligen« (Dtn 5,12). Am Ende der Sabbatweisung Ex 20,11 wird sogar wortwörtlich an die Heiligung des Sabbats am Beginn der Schöpfung durch JHWH selbst erinnert (»Und Gott segnete den siebten Tag und heiligte ihn« Gen 2,3), so dass die menschliche Sabbatheiligung als Nachahmung der göttlichen Sabbatheiligung verstanden werden kann. Vgl. auch die Verbindung zum Tempelkult in der Erzählung vom Ährenraufen (Mk 2,23-28 parr). Die hebräische Bibel wird im heutigen Judentum TaNaK (sprich: Tanach) genannt – entsprechend den Anfangsbuchstaben ihrer drei Hauptkorpora (Tora, Neviim/Propheten, Ketuvim/ Schriften). Die griechische Übersetzung der hebräischen Bibel inklusive weiterer griechischjüdischer Schriften und Grundlage des christlich-abendländischen Alten Testaments wird Septuaginta (abgekürzt: LXX) genannt. Im Folgenden werde ich auch die Abkürzungen immer mal wieder benutzen.
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ständnis der zahlreichen jüdischen Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit kann aus unterschiedlichen Gründen nur ansatzweise berücksichtigt werden.14
2. Stand der Forschung 2.1 Zur Diskussion über Heiligkeitsterminologie und Heiligkeitsverständnis in der synoptischen Jesusüberlieferung Wer verschiedene einschlägige deutschsprachige Lexika zu den Begriffen »heilig«, »Heiligkeit« oder »Heiligung« im Neuen Testament konsultiert, wird in der Regel keine expliziten Informationen zur Heiligkeitsterminologie und Heiligkeitskonzeption der synoptischen Jesustradition finden.15 Selbst Hinweise auf die dichte Heiligkeitsterminologie der paulinischen Briefliteratur oder auf die von Einzelschriften des Neuen Testaments wie des ersten Petrusbriefes und des Hebräerbriefes, die auf eine je eigene Heiligkeitskonzeption schließen lassen, fehlen vielfach.16 Einzig John Riches äußert sich 1985 in der Theologischen Realenzyklopädie (TRE) zum selte-
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Nennenswerte wissenschaftliche Untersuchungen zum Heiligkeitsverständnis dieser frühjüdischen Schriften gibt es nur für die Schriften aus Qumran. Eine Zusammenstellung älterer Arbeiten zu ihrem Heiligkeitsverständnis findet sich bei Kornfeld/Ringgren (Anm. 2), Sp. 1204. In jüngerer Zeit interessiert die Forschung besonders die Selbstbezeichnung der Qumran-Gemeinschaft als ›heilig‹, vgl. z.B. Eyal Regev, Abominated Temple and a Holy Community. The Formation of the Notions of Purity and Impurity in Qumran, in: DSD 10 (2003), 243–278; Cecilia Wassen, Do You Have to Be Pure in a Metaphorical Temple? Sanctuary Metaphors und Construction of Sacred Space in the Dead Sea Scrolls and Paul’s Letters, in: Carl S. Ehrlich/Anders Runesson/Eileen Schuller (Hg.), Purity, Holiness, and the Identity in Judaism and Christianity. Essais in Memory of Susan Haber (WUNT 305), Tübingen 2012, 55–86. Ausführliche Überblicke zu den Begriffen »heilig«, »rein« und »unrein« bietet das dreibändige Theologische Wörterbuch zu den Qumrantexten. Überblicke zur neutestamentlichen Heiligkeitsterminologie finden sich u.a. bei Lattke (Anm. 3), 703–708; Hans-Winfried Jüngling, Art. Heilig, das Heilige (H.) III. Biblisch-Theologisch, in: LThK 4 (1995), 1271–1273; Ruth Scoralick/Walter Radl, Art. Heilig, in: NBL II (1995), 86–89; Jens-Wilhelm Taeger, Art. Heilig und profan. II. Neues Testament, in: RGG, 4. vollst. neu bearb. Aufl., 3 (2000), Sp. 1532–1533; Reinhard G. Kratz, Art. Heiligkeit, in: Angelika Berlejung/Christian Frevel (Hg.), Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament (HGANT), Darmstadt 2006, 242–243; Manfred Sitzmann, Art. Heilig, Heiligkeit, in: Calwer Bibellexikon I, Stuttgart 2003, 524–527. Selbst Horst Balz im Exegetischen Wörterbuch zum Neuen Testament untersucht das Lexem hagios (heilig) nur unter bestimmten Gesichtspunkten, nicht nach neutestamentlichen Schriften bzw. Schriftengruppen (Anm. 1). Ausnahmen sind die Lexikonartikel von Riches (Anm. 4); Seebass/Grünwaldt (Anm. 1) und Udo Schnelle (Art. Heiligung. II. Neues Testament, in: RGG, 4., vollst. neu bearb. Aufl., 3 [2000], Sp. 1572–1573).
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nen Vorkommen von Heiligkeitsterminologie in Jesusworten.17 Danach meide Jesus diese, weil »er die priesterliche Vorstellung von Heiligkeit, die der zeitgenössischen Verwendung zugrunde liegt, ablehnt und seinerseits deutlich davon unterschiedene Vorstellungen von Gott formuliert.«18 Insbesondere Reinheitsvorstellungen lehne Jesus ausdrücklich ab, wie Mk 7,15 zeige, ein Vers, den Riches für authentisch jesuanisch hält.19 Dieser Befund entspricht der Beobachtung, dass die Frage der Heiligkeit im Neuen Testament bis in jüngerer Zeit und in Abhebung von ersttestamentlicher und frühjüdischer Literatur in der Forschung tendenziell als marginal und kaum für relevant angesehen wurde. Größere Untersuchungen existieren bisher nur zur paulinischen Heiligkeitskonzeption unter Einschluss von Tempel- und Kultmetaphorik, wobei die Häufung von Monographien dazu in jüngster Zeit auffällt.20 Demgegenüber ist die Literatur zu Heiligkeitsterminologie und Heiligkeitsvorstellungen in der Jesusüberlieferung sehr überschaubar. Neben einer relativ knapp gehaltenen Monographie von Kent E. Brower zur Heiligkeitsvorstellung in den kanonischen Evangelien21 gibt es noch einige wenige Aufsätze in Zeitschriften und Sammelbän-
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Riches (Anm. 4), 720 und 734. Der Absatz zur »synoptischen Tradition« bei Seebass/ Grünwaldt (Anm. 1), 891, behandelt nur die problematische Anrede Jesu als »Heiliger Gottes« durch Dämonen und reflektiert die damit verbundene Heiligkeit Jesu, die als »Gott zugehörig und von Gott legitimiert« verstanden wird, »so dass die Auflehnung gegen Jesus gleichbedeutend ist mit der Auflehnung gegen Gott.« Riches (Anm. 4), 720. Noch radikaler formuliert Michael Ernst, Art. Heilig/Heiligkeit/ Heiligung, in: Herders Neues Bibellexikon, Freiburg i.Br. 2008, 302–303. Für ihn hat Jesus als der Heilige Gottes die Sicht des Alten Testaments, dass der Mensch, um Zugang zur Sphäre des Heiligen zu erhalten, sich reinigen müsse, überwunden und dadurch jede kultische und rituelle Heiligung überflüssig gemacht. Vgl. Riches (Anm. 4), 720. In Mk 7,15 heißt es: »Nichts, was von außerhalb des Menschen in ihn hineinkommt, kann ihn unrein machen [wörtlich: »gemein machen«], sondern das, was aus dem Menschen herauskommt, macht den Menschen unrein [wörtlich: »gemein«].« U.a. Vahrenhorst (Anm. 10); Maren Bohlen, Sanctorum Communio. Die Christen als »Heilige« bei Paulus (BZNW 183), Berlin/New York 2011;Stephan Hagenow, Heilige Gemeinde – Sündige Christen. Zum Umgang mit postkonversionaler Sünde bei Paulus und in den weiteren Texten des Urchristentums (TANZ 54), Tübingen u.a. 2011; Hanna Stettler, Heiligung bei Paulus. Ein Beitrag aus biblisch-theologischer Sicht (WUNT 268), Tübingen 2014. Die Monographie von Albert L.A. Hogeterp, Paul and God’s Temple. A Historical Interpretation of Cultic Imagery in the Corinthian Correspondence (Biblical Tools and Studies 2), Leuven 2006, untersucht zwar wichtige Aspekte biblischer Heiligkeitsvorstellungen wie Tempelkult und Reinheitsvorstellungen, verbindet sie aber nicht mit dem Thema Heiligkeit. Zur älteren Forschung vgl. Weiß (Anm. 3), 44, sowie die ausführlichen Literaturverzeichnisse bei Lattke (Anm. 3), 706–708, und Seebass/Grünwaldt (Anm. 1), 910–912. Kent E. Brower, Holiness in the Gospels, Kansas City 2005. Die Monographie hat 160 Seiten und ist in Schriftgröße 14pt gedruckt.
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den.22 Zu unterscheiden sind Aufsätze, die das Heiligkeitskonzept eines einzelnen Evangeliums untersuchen, und solche, die die Jesusüberlieferung als Ganze in den Blick nehmen. Zu letzteren gehören der Aufsatz von James D.G. Dunn aus dem Jahr 2003 und der von Hanna Stettler ein Jahr später.23 Während sich Dunn über Jesu Auseinandersetzung mit den Rein-Unrein-Konzepten seiner jüdischen Zeitgenossen, vor allem der Essener und der Pharisäer, einen Zugang zur jesuanischen Heiligkeitsvorstellung erhofft, setzt Stettler breiter an und erkennt, ausgehend von der Heiligung des Namens Gottes in der ersten Vaterunserbitte, in zahlreichen weiteren Texten und Motiven der Jesustradition Hinweise auf Jesu Heiligkeitsverständnis (neben dem Thema Reinheit gehören dazu u.a. die Sammlung Israels und die Berufung der Zwölf; Jesu messianisch-prophetisches und wundertätiges Wirken; seine Einstellung zum Sabbat und zum Tempelkult). Dunn ist insgesamt vorsichtiger und genauer. Er legt nicht nur seinen Heiligkeitsbegriff offen, sondern begründet auch seinen Ansatz beim Thema Reinheit/Unreinheit. Anders als Stettler bezieht er die Vorstellungen der frühjüdischen Umwelt Jesu zu »rein und unrein« in seine Untersuchung ein, vernachlässigt aber gegenüber Stettler das prophetischmessianische Heiligkeitsverständnis. Leider behandelt Stettler das gesamte Thema eher eklektisch und assoziativ, so dass ihr breiter Heiligkeitsansatz zwar anregend ist, aber nur bedingt überzeugt. Überhaupt bleibt ihr Heiligkeitsbegriff ungeklärt. Gemeinsam ist beiden Aufsätzen die Erkenntnis, dass Heiligkeit und Reinheit zum selben Begriffsfeld gehören, so dass Jesu Heiligkeitsverständnis ohne sein Reinheitsverständnis nicht zu erheben ist. Ebenfalls gemeinsam ist ihre problematische Interpretation von »rein und unrein«. Wie in den meisten Arbeiten zum Thema wird kaum unterschieden zwischen der Reinheitstora der hebräischen Bibel und ihren zahlreichen frühjüdischen Weiterentwicklungen. Dunn zeigt immerhin Ansätze in diese Richtung,24 während Stettler keine Probleme hat zu behaupten, dass 22
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Das bedeutet nicht, dass es nicht auch interessante Überlegungen in anderen Formaten gibt. Dazu gehört z.B. die These von Christian Duquoc, Heiligkeit Jesu und Heiligkeit des Geistes, in: Concilium (D) 15 (1979), 601–606: »Jesu prophetisches Wort öffnet einen neuen Raum, durchschneidet die Nabelschnur, reißt aus der vermutternden Religion der Auserwählung heraus, ist Tat des heiligen Geistes, zu dessen Aufgabe das Trennen gehört. Der Geist ist heilig, weil er trennt.« (604f.) Leider wird diese Trennungs-Metapher dann im Folgenden antijudaistisch gewendet und nur systematisch-theologisch, nicht exegetisch aus den neutestamentlichen Texten entwickelt. James D.G. Dunn, Jesus and Holiness. The Challenge of Purity, in: Stephen C. Barton (Hg.), Holiness Past and Present, London 2003, 168–192; Hanna Stettler, Sanctification in the Jesus Tradition, in: Bib. 85 (2004), 153–178. Wie schon gesagt, ist Dunn viel vorsichtiger in seinen Formulierungen als Stettler. Auch der Aufbau seines Aufsatzes suggeriert, dass er zwischen schriftlicher und mündlicher Tora bzw. Halakhot zu unterscheiden weiß (z.B. Purity in Second Temple Judaism; Purity in Common Judaism; Purity among the Pharisees). Im Text selbst kippt jedoch dieser Eindruck immer wieder; vgl. z.B. die Beispiele auf 186f., die in folgendem Satz gipfeln: »Jesus was evidently
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Jesus durch sein Kommen die wörtliche Umsetzung der Reinheitstora überflüssig gemacht habe, da allein Liebe und Barmherzigkeit für ihn das Wesen der Heiligkeit ausgemacht hätten.25 Mit Ausnahme eines Aufsatzes von Karen J. Wenell26 beschäftigen sich alle weiteren Arbeiten zum Thema, einschließlich der Monographie von Kent E. Brower, mit dem Heiligkeitsverständnis einzelner Evangelien. Dazu gehören zwei Aufsätze aus dem 2007 erschienenen Sammelband »Holiness and Ecclesiology in the New Testament«:27 Richard P. Thompson untersucht das Heiligkeitsthema im Lukasevangelium,28 Kent E. Brower das im Markusevangelium.29 Ein weiterer Aufsatz zum Heiligkeitskonzept im Markusevangelium stammt von Pieter G.R. de Villiers (2016).30 Allen diesen Arbeiten ist gemeinsam, dass sie wie Dunn und Stettler zum einen Heiligkeit und Reinheit verbinden, zum anderen Jesus als denjenigen verstehen, der das jüdische Heiligkeitskonzept neu definiert (»re-defining holiness«)31 . Beispielhaft seien de Villiers Ergebnis und das von Brower kurz vorgestellt. Nach de Villiers zeichnet sich Jesus dadurch aus, dass er zwar den Heiligkeitscode seiner Zeit mit allen Konsequenzen bestätigt (z.B. Mk 1,40-45),32 ihn dann aber doch in dreifacher Weise verändert: »Jesus reinterprets holiness when he interiorises purity« (vgl. Mk 7,1-23); er »radicalises holiness«, weil er Heiligkeit demokratisiert, wenn er sie de-
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clearly remembered as one who sat loose to many of the purity restrictions which regulated social behaviour and communication.« (187), oder: »By ignoring purity and food laws to the extent that he did, he certainly indicated that he did not regard them as indispensable« (191). Stettler (Anm. 23), 177: »Therefore, there is no longer any need for the literal keeping of the Purity Torah«, und auf 178: »[…] he emphazises love and mercy as the essence of holiness.« Karen J. Wenell, Kingdom, Not Kingly Rule. Assessing the Kingdom of God as Sacred Space, in: Biblical Interpretation 25 (2017), H. 2, 206–233. Kent E. Brower/Andy Johnson (Hg.), Holiness and Ecclesiology in the New Testament, Grand Rapids, Michigan/Cambridge 2007. Nicht berücksichtigt wurde der Aufsatz von Donald A. Hagner, Holiness and Ecclesiology. The Church in Matthew, in: Brower/Johnson, 40–56, da er sich nur mit dem Begriff ›Gerechtigkeit‹ beschäftigt: »Matthew’s word for the conduct of believers is not ›holiness‹ but dikaiosynē ›righteousness‹.« (44). Richard P. Thompson, Gathered at the Table. Holiness and Ecclesiology in the Gospel of Luke, in: Brower/Johnson (Anm. 27), 76–94, 76: »It is unlikely that one would find either holiness or ecclesiology included in anyone’s ›top ten list‹ of characteristics of the Gospel of Luke.« Kent E. Brower, The Holy One and His Disciples. Holiness and Ecclesiology in Mark, in: Brower/Johnson (Anm. 27), 57–75. Pieter G.R. de Villiers, Mystical Holiness in Mark’s Gospel, in: HTS Teologiese Studies/ Theological Studies 72/4 (2016), 1–7. URL: https://hts.org.za/index.php/HTS/article/view/36 97 [letzter Zugriff: 31.8.2023]. Brower, The Holy One (Anm. 29), 70. Vgl. auch Thompson (Anm. 28), 92: »The Lukan Jesus redefined the Jewish concept of holiness«, und de Villiers (Anm. 30), 5–6. De Villiers, Holiness (Anm. 30), 5.
Angelika Strotmann: Das Heiligkeitskonzept der synoptischen Jesusüberlieferung
nen schenkt, die am Rande der Gesellschaft stehen, wie Kranken und Sünder*innen, und er embodies and is the fulfilment of holiness […]. He is the Holy One in whom holiness can be recognized and through whom holiness is shared. Holiness can be seen, touched and celebrated in Jesus. It is no longer merely a theological concept. Holiness is incarnated and has become flesh. […] In a radical revision, holiness is transferred from space to person and integrated in relations.33 Noch etwas deutlicher auf dem Hintergrund eines jüdischen Heiligkeitskonzeptes, das Heiligkeit als Trennung vom Nicht-Heiligen, Profanen und Unreinen versteht, fasst Browers die Ergebnisse seiner Einzeluntersuchungen zum Heiligkeitsverständnis der Evangelien zusammen: The redefinition of holiness is probably the most important lesson learned from the Gospels. In bluntest terms, Jesus calls into question the whole connection between holiness and separation. In doing so, Jesus returns the conception of holiness to its source in the very being of God. The result is that holiness is no longer to be misconstrued as separation from neighbor but is to be expressed as love of neighbor […] For Jesus, holiness is contagious, outgoing, embracing, and joyous. It transforms and brings reconciliation. […] This holiness is a dynamic power emanating from the source of holiness, the Holy One. It is stronger than any acquired impurity.34 Mehrere Probleme sind mit diesen Arbeiten und ihren Ergebnissen verbunden: 1) In der Regel liegt ihnen ein reduziertes alttestamentlich-jüdisches Heiligkeitskonzept zugrunde, das weder das prophetische Heiligkeitsverständnis angemessen berücksichtigt, noch das des priesterlichen Heiligkeitsgesetzes (Lev 17–26) mit seiner Verbindung von ethischer und kultischer Heiligkeit (u.a. im Nächstenliebeund im Fremdenliebegebot Lev 19,18.34). 2) Es gibt eine Reihe von Begriffsunklarheiten. In der Regel wird z.B. nicht zwischen (kultischer) Unreinheit und Sünde unterschieden. Hochproblematisch ist die pauschale Verbindung von Krankheit/ Behinderung und Sünde sowie von Krankheit/Behinderung und Unreinheit. Weder wurden Kranke/Behinderte pauschal als unrein verstanden,35 noch wurden sie
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Ebd., 6. Brower, Holiness (Anm. 21), 129. Als grundsätzlich unrein und damit nicht fähig zur Teilnahme am Opferkult wurden nur Menschen mit krankhaftem genitalem Ausfluss und Menschen mit schuppenden Hautkrankheiten angesehen.
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pauschal als Sünder*innen qualifiziert.36 So durften z.B. behinderte Priester nach Lev 21,16-23 zwar nicht den Altardienst ausüben und sich nicht im Priestervorhof und im Inneren des Tempelgebäudes aufhalten, wohl aber in den beiden anderen, für Laien vorbehaltenen Aufenthaltsorten im Tempelbezirk.37 3) Keine der Arbeiten untersucht systematisch die doch relativ überschaubare Heiligkeitsterminologie der Evangelien; keine legt eine Hermeneutik der Heiligkeit vor, mit deren Hilfe sie die Evangelientexte, in denen keine Heiligkeitsterminologie vorkommt, begründet als relevant oder nicht relevant für den antik-jüdischen Heiligkeitsdiskurs bestimmt.4) Bei dem durch Jesus angeblich neu definierten Heiligkeitsverständnis fehlt in beinahe allen Arbeiten die gefährliche Seite der Heiligkeit und damit ein Bewusstsein dafür, dass Gott als der ganz Andere die kontinuierliche Verletzung seiner Heiligkeit wie deren selbstverständliche Vereinnahmung für egoistische menschliche Interessen ahndet. Entsprechend werden die Gerichtsworte Jesu und die zahlreichen Gleichnisse mit Gerichtsthematik völlig ausgeblendet. Eine explizite Verbindung zwischen Heiligkeit/Heiligung Gottes und der zentralen Größe der Verkündigung Jesu, der basileia Gottes, zog 2017 Karen J. Wenell mit ihrer These vom Königreich Gottes als »sacred space«.38 Wenell setzt in ihrem Aufsatz aber nicht bei der Frage der Heiligkeit an, sondern sie interessiert in erster Linie das Verständnis des griechischen Syntagmas βασιλεία τοῦ θεοῦ als Raum. Diesen Raum bestimmt sie nicht nur als »sacred space«39 , sondern auch als »bounded«40 , »particular/universal«41 und als »perfomative kingdom ›come near‹«42 . Forschungsgeschichtlich gesehen ist die Raumhypothese zwar nicht neu, aber für die Interpretation der βασιλεία τοῦ θεοῦ als theologischer Größe lohnend, da die basileia Gottes mit wenigen Ausnahmen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis in die 36
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Das schließt aber nicht aus, dass die Krankheit einer konkreten Person auf eine Sünde zurückgeführt werden konnte. So z.B. auch von Jesus in Mk 2,5, der dem Gelähmten zuerst die Sünden vergibt und ihn anschließend heilt. Völlig unverständlich ist auf diesem Hintergrund die Verbindung, die Thompson (Anm. 28), 89, Anm. 62, zwischen Lev 21,16-23 und der Aufforderung Jesu in Lk 14,13, unterprivilegierte Gäste zu einem privaten Mahl einzuladen, herstellt. Mit Lk 14,13 wendet sich Jesus nicht gegen jüdische Reinheitsbestimmungen, sondern gegen die weitverbreitete Tendenz, nur Gäste aus dem eigenen sozialen und familiären Umfeld zu einem Festmahl einzuladen. Abgesehen davon, dass in Lev 21,16-23 behinderten Priestern ausdrücklich erlaubt wird, von den hochheiligen und heiligen Speisen zu essen, die nur Priestern und ihren Familien zu essen erlaubt ist, kommt das Lexem »unrein« in diesem Text gar nicht vor. Vgl. Wenell (Anm. 26); sie hat sich auch schon vorher mit Raumkonnotationen in der synoptischen Tradition beschäftigt, zuerst in ihrer Dissertation: Karen J. Wenell, Jesus and Land. Sacred and Social Space in Second Temple Judaism, London 2007. Wenell (Anm. 26), 210–216. Ebd., 216–221. Ebd., 221–225. Ebd., 225–229.
Angelika Strotmann: Das Heiligkeitskonzept der synoptischen Jesusüberlieferung
jüngste Zeit nur als dynamische Größe verstanden und eine räumliche Konnotation abgelehnt wurde.43 Seit einigen Jahren – sicher auch im Zuge des spatial turn in den Kulturwissenschaften – gewinnt die Raumkonnotation des Syntagmas jedoch zunehmend an Bedeutung.44 Wenells Ansatz könnte für eine Weiterentwicklung unseres bisher eher rudimentären Verständnisses des jesuanischen Heiligkeitskonzepts sehr hilfreich sein. Leider beschäftigt sie sich weder mit dem Begriffsfeld des Heiligen, noch mit den Charakteristika von »sacred spaces«. Damit kommt auch die Frage nach der Reinheit als Zugangsvoraussetzung zum Heiligen – für einen Ansatz, der sich mit heiligen Räumen beschäftigt, eigentlich zentral – in diesem Aufsatz nicht in den Blick. Aus ihren älteren Arbeiten lässt sich aber schließen, dass für sie Reinheitskonzepte im Königreich Gottes keine Rolle mehr spielen, da die basileia Gottes von Jesus als ein Raum konstruiert werde, der nicht um den Tempel mit seinen Hierarchien und Reinheitspraktiken zentriert sei.45
2.2 Zur Diskussion über Reinheitskonzepte in der synoptischen Jesusüberlieferung und im Frühjudentum Anders als zur Heiligkeitsterminologie gibt es zum Thema »rein und unrein« in der Jesusüberlieferung eine Fülle an Literatur.46 Das hängt zum einen damit zu43
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Zu den Gründen vgl. Wenell (Anm. 26), 207–210, und Volker Gäckle, Das Reich Gottes im Neuen Testament. Auslegungen – Anfragen – Alternativen (BThSt 176), Göttingen 2018, 36–38. Gäckle stellt in Anm. 139 und 140 eine ganze Reihe von Vertretern des dynamischen Verständnisses zusammen. Den Weg zum räumlichen Verständnis des Syntagmas basileia Gottes haben vor allem norwegische Exegeten gebahnt (vgl. dazu Gäckle [Anm. 43], 39; er nennt in Anm. 150 weitere Vertreter des räumlichen Verständnisses aus Nordamerika und Europa). Im deutschsprachigen Raum hat sich besonders Ludger Schenke für ein solches Verständnis stark gemacht (Die Botschaft vom kommenden »Reich Gottes«, in: L. Schenke et al. [Hg.], Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen, Stuttgart 2004, 106–147, 106–110). Vgl. weiter Maren Bohlen, Die Einlasssprüche in der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu, in: ZNW 99 (2008), 167–184; Patrick Schreiner, The Body of Jesus. A Spatial Analysis of the Kingdom in Matthew, London u.a. 2016; Hildegard Scherer, Access Prohibited? Spacing the Kingdom of God in Synoptic Traditions, in: J. Flebbe (Hg.), Holy Places in Biblical and Extrabiblical Tradition. Proceedings of the BonnLeiden-Oxford Colloquium in Biblical Studies (BBB 179), Göttingen 2016, 147–161, und zuletzt Volker Gäckle (Anm. 43). Karen J. Wenell, Contested Temple Space and Visionary Kingdom Space in Mark 11–12, in: Biblical Interpretation 15 (2007), 323–337; vgl. auch Wenell (Anm. 38), 61–103. In diesen Arbeiten definiert sie die basileia Gottes noch nicht als heiligen Raum. Für einen solchen ist es nur schwer denkbar, dass er ohne Zugangsvoraussetzungen betretbar sein sollte. Wenn die Reinheit ausgeschlossen wird, müsste etwas anderes an ihre Stelle treten. Das ist auch deutlich an den einschlägigen Lexikonartikeln zu erkennen, die (fast) alle Jesu Einstellung zur Reinheitsfrage thematisieren. Beispielhaft seien hier genannt: Christian Dietzfelbinger, Art. Reinheit IV. Neues Testament, in: TRE 28 (1997), 487–493, 2. »rein und
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sammen, dass es in den synoptischen Evangelien mehrere Textkomplexe gibt, die Reinheit und Unreinheit nicht nur thematisieren, sondern auch gehäufte Reinheitsterminologie zeigen. Neben Mk 1,40-45 parr, der Reinigung eines Aussätzigen,47 steht vor allem Mk 7,1-23 einschließlich seiner Parallele Mt 15,1-20 im Fokus der Forschung, ein komplexer, schwieriger Text zum Thema mit einer hohen Dichte an Reinheitsterminologie.48 Zum anderen interessiert sich die neutestamentliche Forschung seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts verstärkt für Jesu Verhältnis zum Gesetz/zur Tora. In allen Arbeiten dazu wird auch das jesuanische Reinheitsverständnis bzw. das Reinheitsverständnis der Evangelien behandelt.49 Auf christlicher Seite ist das große Interesse am Problem von »rein und unrein« zum Teil bis heute mit einer Abwertung des Judentums verbunden, die der skandinavische Exeget Thomas Kazen treffend folgendermaßen zusammenfasst: The synoptic Jesus’ questioning or relativization of purity practices, and his interactions with impure people, have often been interpreted as a criticism of Jewish law in general and taken as evidence for the merciless character of the Jewish purity paradigm. The background for such an understanding lies, in addition to the general tendency to construe »the other« in opposition to one’s own ideals, in an equation of impurity and sin, which suggests that impure people were social and religious outcasts.50
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unrein« bei Jesus und in der Jesustradition (URL: https://www.degruyter.com/view/TRE/TR E.28_473_35?pi=0&moduleId=common-word-wheel&dbJumpTo=Reinheit. [letzter Zugriff: 1.9.2023]); Knut Backhaus, Reinheit IV. Neues Testament, in: LThK, 3. völlig neu bearb. Aufl., 8 (1999), Sp. 113f.; Dorothee Erbele-Küster/Elke Tönges, Art. Reinheit/Unreinheit, in: Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, Gütersloh 2009, 471–475; Christian Wetz, Art. Reinheit/ Unreinheit/Reinigung (NT), in: Wibilex 2011. Permanenter Link: https://www.bibelwissensc haft.de/stichwort/53921/ [letzter Zugriff: 31.8.2023]. Die einzige Ausnahme ist der Artikel im Neuen Bibellexikon, der sich ausschließlich auf die hebräische Bibel bezieht: Theodor Seidl, Art. Rein und unrein (I) AT, in: NBL III (2001), Sp. 315–321. Die Anlage des Artikels weist aber darauf hin, dass ursprünglich auch zum Neuen Testament und/oder Frühjudentum Beiträge geplant waren (s. Zitation »(I) AT«). Das Lexem καθαρίζω kommt viermal bei Markus (1,40-45), dreimal bei Matthäus (8,2-4) und zweimal bei Lukas (5,12-16) vor. In Mk 7,1-23 kommt einmal καθαρίζω vor, siebenmal das Lexem κοινός (»gemein, unrein, gewöhnlich«); bei Matthäus (15,1-20) fehlt καθαρίζω, das Lexem κοινός hat er fünfmal. Eine Zusammenstellung der einschlägigen monographischen Literatur dazu findet sich bei Angelika Strotmann, Hat das Markusevangelium ein Problem mit der Tora? Einige Gedanken zur Diskussion um das markinische Gesetzesverständnis, in: Dies./Monika Schrader-Bewermeier (Hg.), Grenzen überschreiten – Verbindendes entdecken – Neues wagen. FS Hubert Frankemölle (SBB 77), Stuttgart 2019, 130–144, 143f. Thomas Kazen, Scripture, Interpretation, or Authority? Motives and Arguments in Jesus’ Halakic Conflicts (WUNT 320), Tübingen 2013, 113.
Angelika Strotmann: Das Heiligkeitskonzept der synoptischen Jesusüberlieferung
Nach Meinung von Kazen hat sich das Blatt mittlerweile gewendet und der genannte Blick auf die Reinheitsdebatte der Jesustradition wird mehr und mehr als übertrieben oder gar als falsch kritisiert.51 Aber: Das mag vielleicht im englischsprachigen Raum der Fall sein.52 Im deutschsprachigen Raum sind bisher allenfalls Ansätze, aber noch keine grundsätzliche Tendenzwende zu entdecken.53 Vielleicht wird ja das im Jahr 2017 erschienene umfangreiche »Jesus Handbuch« eine Wende einläuten, in dem ein Beitrag Kazens aufgenommen wurde, der die Tora-Treue Jesu ins Zentrum seiner Ausführungen stellt.54 Nach Kazen gibt es keinen Beleg, dass Jesus sich gegen die Tora, einschließlich die Reinheitstora, gewendet hat: Der Standpunkt Jesu verweist auf eine traditionelle Haltung gegenüber dem Gesetz, für die es keinen echten Konflikt zwischen den Leitlinien der Tora und ihrer pragmatischen Anwendung gibt, welche sich an einem prophetisch inspirierten Interesse an menschlichem Wohlergehen und sozialer Gerechtigkeit orientiert. Die Vision Jesu vom Gottesreich gründet sich also auf dem Gesetz und dessen dem Menschen dienlichen Anliegen.55 Doch auch Kazen behauptet in Bezug auf die synoptischen Evangelien, dass »sie trotz ihrer unterschiedlich ausgeformten Jesusbilder einig in der Ambiguität der Haltung Jesu zum Gesetz [sind]«.56 Besonders das Markusevangelium wird in der Forschung und eben auch von Kazen selbst als gesetzeskritisch angesehen.57 Eine große Rolle spielt immer wieder die vermeintlich grundsätzliche Kritik des markinischen Jesus an den Reinheitsgeboten der Tora.58 Hierbei werden von christlich51 52
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Ebd. Vgl. dagegen z.B. Dunn (Anm. 23) und Stettler (Anm. 23). Möglicherweise bezieht sich Kazen aber nur auf Arbeiten, die in den letzten fünf bis sechs Jahren erschienen sind. Ein grundsätzlich ideologisches Problem der christlichen Forschung mit der Interpretation der Beziehung zwischen Judentum und Christentum im neutestamentlichen Kontext und noch einmal speziell im Markusevangelium stellt James G. Crossley fest: »in Marcan studies and NT scholarship in general, scholars have tended to fill in gaps in knowledge with their own cultural interests dictating, unintentionally no doubt, the results.« (Mark 7.1-23: Revisiting the Question of ›All Foods Clean‹, in: Michael Tait/Peter Oakes [Hg.], The Torah in the New Testament, London 2009, 8–31, 9.) Das kann ich nur bestätigen. Vgl. dazu Strotmann (Anm. 49). Vgl. Thomas Kazen, 3.6. Jesu Interpretation der Tora, in: Jens Schröter/Christine Jacobi (Hg.), Jesus Handbuch, Tübingen 2017, 402–416. Ebd., 416 Ebd., 404. Vgl. den Überblick über die Forschungspositionen zur Gesetzeskritik des markinischen Jesus bei Strotmann (Anm. 49), 130–134, sowie die Position von Kazen (Anm. 54), 403. Zuletzt noch Boris Repschinski, Nicht aufzulösen, sondern zu erfüllen. Das jüdische Gesetz in den synoptischen Jesuserzählungen (FzB 120), Würzburg 2009: Das Markusevangelium habe zwar noch »ein gewisses Interesse an jüdischen Traditionen wie der Tora und anderen Über-
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exegetischer Seite nicht selten wesentliche Aspekte außer Acht gelassen, die die Kenntnis der frühjüdischen und rabbinischen Gesetzesdiskussionen betreffen: angefangen von der Beobachtung, dass der Begriff »Gesetz« im Frühen Judentum sehr flexibel verstanden wurde, so dass unterschiedliche halachische Gesetzesauslegungen kursierten, ja sogar neue Gesetze ohne Anhalt in der schriftlichen Tora aufgestellt werden konnten,59 bis dahin, dass in Bezug auf die Reinheitsdiskussion Reinheitstora und Speisentora gerade nicht gleichgesetzt werden.60 Doch unabhängig davon, ob und wie exegetische Literatur das Reinheitsverständnis des historischen Jesus oder der synoptischen Evangelien behandelt, wird das Thema »rein/unrein« so gut wie nie unter dem Aspekt der Heiligkeit untersucht.61 Das betrifft leider auch die lebhafte Debatte um die Reinheitsfrage im antiken Judentum insgesamt, die mit ihren teilweise innovativen spannenden Thesen auch für das Reinheitskonzept der neutestamentlichen Jesusüberlieferung von Interesse ist. In seinem Forschungsüberblick von 2018 zu Reinheit im Frühjudentum identifiziert Will Rogan vier Themenbereiche innerhalb der gegenwärtigen Forschung: 1) die Konzeptualisierung von Reinheit als symbolisches System; 2) die Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten von Reinheit (rituell, moralisch und genealogisch); 3) die Beziehung von Reinheit zum Tempel, und darüber hinaus zu Raumkonzepten; 4) die Funktion von Reinheit für die Konstruktion und Aufrechterhaltung von Identität.62 In keinem der vier Bereiche spielt Heiligkeit eine besondere Rolle. Rogan erwähnt sie nur beiläufig, was sicher nicht nur auf eine eventuell einseitige Darstellung zurückzuführen ist, sondern die Diskussion selbst spiegelt. Am ehesten findet sich eine Verbindung zur Heiligkeit im dritten Bereich, in dem die Frage im Zentrum steht, ob die auf Laien ausgeweiteten Reinheitsvorschriften im Frühen Judentum den Tempel- bzw. Opferkult samt Priesterdienst imitieren wollen (z.B. Neusner), oder ob sie für sich selbst stehen (z.B. Sanders). In der Diskussion werden von unterschiedlichen Forscher*innen Begriffe wie
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lieferungen« (150), doch letztlich »geht es Markus um ethische und moralische Richtlinien; zeremonielle und kultische Gebote verlieren völlig an Bedeutung.« (151). Vgl. dazu meine Ausführungen: Strotmann (Anm. 49), 136–140; zum Verhältnis von Schrift und nicht-priesterlichen Reinheitsvorschriften im Frühjudentum vgl. Eyal Regev, Non-priestly Purity and its Religious Aspects according to Historical Sources and Archaeological Findings, in: Marcel J.H.M. Poorthuis/Joshua Schwartz (Hg.), Purity and Holiness. The Heritage of Leviticus, Leiden 2000, 223–244, 242–242. Darauf verweist Peter J. Tomson, Jewish Food Laws in Early Christian Community Discourse, in: Athalya Brenner/Jan Willem van Henten (Hg.), Food and Drink in the Biblical Worlds (Semeia 86), Atlanta GA 1999, 193–211, 198–201; zur Unterscheidung beider Torot s. ebd. Das trifft selbst für den Artikel von Seebass/Grünwaldt (Anm. 1) zu, der als einziger deutschsprachiger exegetischer Lexikonartikel die Begriffe »heilig und rein« zusammen behandelt. Will Rogan, Purity in Early Judaism. Current Issues and Questions, in: Currents in Biblical Research 16 (2018), 309–339, 309f.
Angelika Strotmann: Das Heiligkeitskonzept der synoptischen Jesusüberlieferung
»Heiligkeit, sanctity, holy« ins Spiel gebracht, um Ziel und Motivation der nichtpriesterlichen Reinheitsbestrebungen zu erklären.63
3. Heiligkeitsbegrifflichkeit in Tanach und Septuaginta 3.1 Das hebräische Lexem ( קד ׁשqdš) und seine Derivate im Tanach Dem deutschen Lexem »heilig« und seinen Derivaten entspricht in der hebräischen Bibel die dreiradikale Grundform ( קד ׁשqdš/qadasch) mit ihren verschiedenen Derivaten, die z.B. den deutschen Verbformen »heiligen«, »geheiligt werden«, »heiligen lassen« oder den Nominalformen »heilig«, »Heiligkeit«, »Heiligung« entsprechen.64 Die 842 Vorkommen finden sich überproportional oft in Schriften priesterlicher Herkunft wie in Lev (152), Ez (105) und im chronistischen Geschichtswerk (1 und 2 Chr: 120) oder in solchen mit großen Passagen priesterlicher Themen wie in Ex (102) und Num (80). Auch wenn קד ׁשin diesen Texten erwartbar häufig im Kontext des (Tempel-)Kults begegnet, kann es nicht auf die kultische Ebene reduziert werden, da auch die soziale Ebene – am Deutlichsten im Heiligkeitsgesetz (Lev 17–26) – eine wichtige Rolle spielt. Relativ oft verwenden auch der Prophet Jesaja (73) und die Psalmen (65) das Lexem qdš, während es in der Weisheitsliteratur (Ijob fünfmal, Buch der Sprichwörter dreimal, Kohelet einmal) nur selten vorkommt. Gar nicht belegt ist es in den Büchern Nahum, Rut, Hohelied und Ester. Die Frage nach der etymologischen Herkunft der Wurzel qdš ist nicht mehr zu klären. Festzuhalten ist jedoch, dass in allen altsemitischen Sprachen, wie z.B. akkadisch, ugaritisch, westsemitisch, die qdš-Derivate religiösen Inhalts sind. »Es geht bei sämtlichen Verwendungsfällen nicht um sittliche Zielsetzungen, wohl aber um einen Akt des Weihens, Hingebens, Widmens an eine Gottheit.«65 Umstritten ist eine Grundbedeutung von qdš im Sinne von »scheiden, trennen«, »aussondern, abgrenzen«, ähnlich dem griechischen τέμενος oder dem lateinischen sacer.66 Hans-
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Vgl. Ebd., 323–330. Ähnlich auch Regev (Anm. 59), 238–242, der in der nicht-priesterlichen Reinheitspraxis den Wunsch erkennt, die heiligen Aktivitäten im Alltag, wie z.B. die Rezitation des Sche ma, Gebet und Tora-Lesung bis hin zum gemeinsamen Essen, in einem Zustand der Heiligkeit durchzuführen, um damit Gott, dem Heiligen, näher sein zu können. Ein kurzer instruktiver Überblick über die Derivate von קד ׁשqdš findet sich bei Kornfeld/ Ringgren (Anm. 2), Sp. 1185–1186. Die am häufigsten belegten qdš-Derivate sind das Abstraktum qodæš (Heiligkeit) und das Adjektiv qādȏš (heilig). Kornfeld/Ringgren (Anm. 2), Sp. 1184. Großen Einfluss hatte Wolf Wilhelm Graf Baudissin mit seinem Versuch, diese Grundbedeutung für qdš linguistisch zu untermauern (I Der Begriff der Heiligkeit im Alten Testament. II Heilige Gewässer, Bäume und Höhen bei den Semiten, insbesondere bei den Hebräern [Studien zur semitischen Religionsgeschichte 2], Leipzig 1878, 1–142).
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Winfried Jüngling schreibt 1995 im Lexikon für Theologie und Kirche: »Das Postulat einer Grundbedeutung für die gemeinsemit. Wurzel [( קד ׁשqdš], v. einer Wurzel [ קדqd] »aussondern«, »ausscheiden«) ist heute aufgegeben. Die Bedeutung des Wortes qādōš ist vielmehr dem literar. Zshg. zu entnehmen.«67 Nur wenige Jahre später, 1998, behauptet Thomas Podalla im renommierten RGG-Lexikon wie selbstverständlich das Gegenteil: »H., d.h. die Aussonderung (vgl. lat. sacer) von Raum, Zeit, Sachen und Personen im Sinne einer Sakralisierung, ist im Alten Testament durch das Verbum ( קד ׁשqdš) Piel/Nifal, sein Antonym חלל/ḥll I Piel חל/ḥl und das Oppositionspaar ›rein-unrein‹ טמא-ָטהר/ṭhr-ṭm‹ […] konzipiert.«68 Die Ursachen für diese unterschiedlichen Bedeutungszuschreibungen des hebräischen Lexems qdš sehe ich in der unterschiedlichen Schwerpunktsetzung bei der Auswahl der Textgrundlagen. Diejenigen Exeget*innen, die das Heiligkeitsverständnis der Schriften priesterlicher Herkunft ins Zentrum ihrer Überlegungen stellen, tendieren zu einem »kultischen« Verständnis von Heiligkeit, und hier spielt tatsächlich oft Aussonderung und Abgrenzung eine Rolle.69 Diejenigen, die auch andere als priesterliche Traditionen und Schriften der hebräischen Bibel berücksichtigen, lehnen ein für alle biblischen Texte grundlegendes Verständnis von ( קד ׁשqdš) als Aussonderung und Abgrenzung explizit ab.70 Insgesamt favorisiert die Forschung aber bis heute den priesterlichen Heiligkeitsbegriff im Tanach mit der Fokussierung des Heiligkeitsverständnisses auf kultische Heiligkeit und Reinheit. Das dem zum Teil widersprechende priesterliche Heiligkeitsgesetz in Lev 17–26 wird dabei nur am Rande oder gar nicht wahrgenommen.71 67
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Jüngling (Anm. 15), 1271; ähnlich Dieter Kellermann, Art. Heiligkeit II. Altes Testament, in: TRE 14 (1985), 697–703, 698; Scoralick/Radl (Anm. 15), 86–89. Unterstützend auch Kornfeld/ Ringgren (Anm. 2), 1181, wonach Baudissins methodisches Vorgehen heute mehrheitlich in der Forschung abgelehnt wird, so dass die »qdš-Derivate im jeweiligen Kontext zu überprüfen sind« (ebd.). Thomas Podalla, Art. Heiligung I. Altes Testament, in: RGG, 4., vollst. neu bearb. Aufl., 3 (2000), 1571–1572, 1571; ähnlich Kratz (Anm. 15), 242: »›Heilig‹ (hebr. qds) bezeichnet den Gegensatz zu ›profan‹ und meint die aus rel. Gründen vollzogene Absonderung und Ausgrenzung bestimmter Bereiche – Räume, Zeiten, Personen und Gegenstände – zu Zwecken der kultischen Verehrung.« So neben Podalla und Kratz z.B. auch Jacob Milgrom, Art. Heilig und profan II. Altes Testament, in: RGG, 4., vollst. neu bearb. Aufl., 3 (2000), Sp. 1530–1532, der ausschließlich das priesterliche System berücksichtigt. So z.B. Jüngling (Anm. 15) und Scoralick (Anm. 15). Eine in diesem Sinn grundlegende Untersuchung des biblischen Heiligkeitsverständnisses hat John G. Gammie vorgelegt: Holiness in Israel, Minneapolis 1989. Er unterscheidet priesterliche, prophetische, weisheitliche und apokalyptische Heiligkeitsvorstellungen. Die Hilflosigkeit im Umgang mit der im Heiligkeitsgesetz (H) engstens verbundenen kultischen und sozial-ethischen Dimension von Heiligkeit zeigt besonders eindrücklich die folgende Formulierung von Kornfeld/Ringgren (Anm. 2), Sp. 1192: »Lev 19 (H) zieht daraus die Folgerung: ›Ihr sollt heilig sein, denn ich JHWH, euer Gott, bin heilig‹ (v. 2). Merkwürdigerwei-
Angelika Strotmann: Das Heiligkeitskonzept der synoptischen Jesusüberlieferung
3.2 Die griechische Übersetzung des hebräischen ( קד ׁשqdš) in der Septuaginta (LXX) Auf Grund einer sich in den griechischen Sprachraum ausweitenden Diaspora mit immer mehr Juden*Jüdinnen, die des Hebräischen nicht mehr mächtig waren, wurden ab dem 3. Jahrhundert v. Chr. die Schriften der hebräischen Bibel nach und nach ins Griechische übersetzt. Entsprechend ihrer Dignität wurde vermutlich mit der Tora begonnen. Nach einer Legende, in der 70 Gelehrte an der Übersetzung der Tora beteiligt waren, wird sie Septuaginta genannt und mit dem römischen Zahlzeichen für 70 abgekürzt. Den Verfassern der LXX standen für die Übersetzung des hebräischen קד ׁשverschiedene Begriffe der griechischen Sprache zur Verfügung. Sie entschieden sich mit wenigen Ausnahmen für das relativ seltene griechische Lexem ἅγιος (hagios) und seine Derivate und nicht für das im klassisch-hellenistischen Griechisch vorherrschende ἱερός (hi’eros).72 Gottlob Schrenk vermutete, dass der Begriff ἱερός auf Grund seiner heidnisch-kultischen Prägung von den Übersetzern der LXX vermieden wurde.73 Tatsächlich lässt seine Untersuchung des Lexems im Gemeingriechischen aber auf zwei andere Gründe für dessen Vermeidung in der LXX schließen. Denn ἱερός wurde für Sachen benutzt, die zur göttlichen Sphäre gehören, in enger Beziehung zu ihr stehen (z.B. Olymp) oder der Gottheit, vor allem im Kultus, geweiht sind (z.B. Tempel, Altar, Festzeiten, Opfer, aber auch Chöre). Auch wurden Personen als ἱερός bezeichnet, die unter dem besonderen Schutz einer Gottheit stehen (z.B. Könige und Helden),74 oder solche, die in die Mysterien eingeweiht sind.75 Dagegen wurde ἱερός nie auf eine Gottheit bezogen, geschweige denn auf eine ihr inhärente Qualität. Schließlich fehlt ἱερός jede ethische Konnotation, und das auch da, wo das Lexem auf Personen bezogen ist. Denn Kaiser oder Könige sind
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se folgen hier nicht kultische Reinheitsvorschriften, sondern ethische Gebote, was im Alten Testament ziemlich eigenartig ist […].« Selbst Gammie (Anm. 70) beschäftigt sich im Kapitel über das priesterliche Heiligkeitsverständnis ausschließlich mit kultischen Regelungen, um dann am Ende des Kapitels völlig überraschend auch »inner integrity (Gen. 17:1)« und »humanitarian conduct (Leviticus 19)« neben die Forderungen einer »ritualistic purity« durch den heiligen Gott zu stellen (44). Vgl. auch seine Behauptung, dass für die Propheten – im Gegensatz zu den Priestern Israels (!) – die Heiligkeit Gottes die Reinheit sozialer Gerechtigkeit forderte (100). Vgl. dazu die Übersetzung der von קד ׁשabhängigen Wortbildungen in der LXX bei Kornfeld/ Ringgren (Anm. 2), Sp. 1201. Gottlob Schrenk, Art. ἱερός κτλ, in: ThWNT III (Studienausgabe 1990. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe 1933–1979), 221–284, 226. Ihm folgen Kornfeld/Ringgren (Anm. 2), Sp. 1202 u.a. So wurde z.B. der römische Kaiser Augustus als hieros sebasmos bzw. hierotatos kaisar verehrt, als einer, der sakrosankt ist und damit unter dem Schutz der Götter steht. Schrenk (Anm. 73), 223–226.
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nicht auf Grund ihrer Verdienste heilig, sondern von Amts wegen, weil sie sich unter den Schutz einer bestimmten Gottheit gestellt haben, ihr opfern etc. Beide Aspekte, der theologische und der ethische, sind jedoch wesentlich für das Heiligkeitsverständnis Israels und damit auch seiner Bibel: Schlechthin heilig ist allein der Gott Israels, von ihm ist alle Heiligkeit abgeleitet, und seine Heiligkeit ist in der Geschichte Israels – im Unterschied zu den Nachbarkulturen (s.o.) – grundlegend mit ethisch-sozialen Konnotationen verbunden. Hier boten sich den Übersetzern ἅγιος und seine Derivate an, die nicht nur relativ selten in antiken griechischen Texten vorkommen, sondern auch erst spät nachgewiesen sind (das erste Mal im 5. Jahrhundert v. Chr. bei Herodot) und inhaltlich nicht so festgelegt waren wie ἱερός und seine Derivate. Etymologisch ist ἅγιος mit hazomai (»ehrfurchtsvoll scheuen, sich fürchten, ehren«) verwandt, einem Verb, das in den biblischen Texten nicht vorkommt. Dass die heidnisch-kultische Prägung wohl kaum Grund für die Zurückdrängung von ἱερός in der LXX war, bestätigt schließlich die Beobachtung, dass in hellenistischer Zeit ἅγιος als Epitheton für orientalische Götter gebraucht wurde, besonders für Göttinnen und Götter mit eigenen Mysterienkulten wie Isis oder Serapis.76 Nicht nur die ins Griechische übersetzten hebräisch(-aramäischen) Schriften der LXX, sondern auch die weit überwiegende Mehrheit frühjüdischer Schriften, die von Anfang an auf Griechisch abgefasst wurden, verwenden ἅγιος und seine Derivate statt ἱερός und sie geben ἅγιος – soweit ersichtlich – auch denselben Sinn.77 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die ansonsten in Bezug auf den Heiligkeitsbegriff äußerst zurückhaltende kanonische Weisheitsliteratur ihn in den griechischsprachigen deuterokanonischen Weisheitsbüchern Sir (17) und Weish (13) etwas öfter benutzt.78
3.3 Zusammenfassung des biblischen Heiligkeitsverständnisses Obwohl es das Heiligkeitsverständnis der hebräischen Bibel bzw. der LXX nicht gibt, sehe ich doch drei Tendenzen, die für die weitere Entwicklung von besonderer Bedeutung sind und damit auch für das mögliche Heiligkeitsverständnis der Jesustradition:
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Vgl. Otto Procksch, Art. ἅγιος κτλ, in: ThWNT I (Studienausgabe 1990. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe 1933–1979), 87–116, 87f. Eine umfassende Untersuchung des ἅγιος-Begriffs in der LXX und weiteren griechisch frühjüdischen Schriften steht noch aus. Darunter fällt auch die gegenüber der LXX etwas andere und z.T. zurückhaltendere Verwendung von ἅγιος bei Philo von Alexandrien und Flavius Josephus. Vgl. ansatzweise dazu Procksch (Anm. 76), 95–97. Vgl. dagegen das schon erwähnte seltene Vorkommen von קד ׁשin den hebräischen Weisheitsbüchern (Ijob fünfmal, Sprichwörter dreimal, Kohelet einmal).
Angelika Strotmann: Das Heiligkeitskonzept der synoptischen Jesusüberlieferung
1) JHWH, der Gott Israels, ist der Heilige schlechthin; Jesaja nennt ihn den »Heiligen Israels«79 . Heiligkeit ist damit eine nur Gott ganz und gar zukommende Qualität, die ihn in seiner absoluten Andersheit und Transzendenz, seiner überwältigenden Macht und Größe gegenüber allem Nichtgöttlichen begrifflich zu fassen sucht. Entsprechend kann sich auch nur JHWH als vollkommen heilig erweisen und als solcher erfahrbar werden. Für den Menschen ist eine Begegnung mit dem absoluten Heiligen grundsätzlich gefährlich, so dass der in nachexilischer Zeit immer stärker sich ausdifferenzierende Tempelkult als eine Art Einhegung dieser Gefahr verstanden werden kann.80 In der prophetischen Tradition wird die überwältigende Heiligkeit JHWHs sowohl im Gericht über Israel (z.B. Jes 5,24) als auch in Barmherzigkeit, Rettung und Zuwendung zu Israel erfahren (z.B. Hos 11,8-9). 2) Da JHWH der Heilige ist, ist alles, was in seiner Nähe bzw. unmittelbaren Umgebung ist, ebenfalls heilig (z.B. Engel, Himmel, sein Geist, sein Name); gleiches gilt für alles, was auf Erden mit ihm in Berührung kommt, was von ihm als heilig erklärt wurde oder ihm geweiht wird. Dazu gehören: Zeit (Feste und Sabbat); Raum (Land Israel); Personen (Priester, Hohepriester, Leviten, in bestimmten Heiligkeitskonzepten ganz Israel); Dinge (Heiligtum in Jerusalem, die Geräte des Heiligtums wie Schaubrotetisch, Brandopferaltar etc.).81 Wenn der Mensch in einen vorübergehenden Kontakt mit dem Heiligen treten will – vor allem im Kult, muss er sich auf diese Begegnung vorbereiten und sich heiligen, um vom Zustand der kultischen Unreinheit in den der Reinheit zu wechseln.82 Diesen Zustand erreicht er u.a. durch Waschungen, Wechseln der Kleidung, sexuelle Enthaltsamkeit. Weil das Heilige und das Unreine dynamische Kategorien sind, sind sie ansteckend, wobei die Macht der Unreinheit größer scheint als die der dinglichen Heiligkeit, so dass selbst die Gegenstände im Tempel, ja der Tempel selbst entheiligt und d.h. unrein werden können.83 3) Das biblische Heiligkeitsverständnis hat nicht nur und in erster Linie eine kultische, sondern auch eine fundamental ethisch-soziale Dimension. Diese Di-
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25 Mal kommt das Syntagma in Jesaja vor. Der »Heilige Israels« ist dabei sowohl der furchterregende und Israels Verfehlungen strafende Gott (z.B. 1,4; 5,24), als auch der rettende und helfende Gott (z.B. 10,20; 17,7), der sich besonders für die Armen einsetzt (vgl. 12,6; 29,19). So z.B. Kornfeld/Ringgren (Anm. 2), Sp. 1192. Zum Antonym »profan« (hebr. חל/ḥl) im Tanach vgl. (Anm. 5). Die Übersetzungen des hebräischen antithetischen Begriffspaares ָטֵמא – ָטהֹורtahor – tame in die modernen Sprachen mit »rein – unrein« (s. aber auch schon die Septuagintaübersetzung ab dem 3. Jahrhundert v. Chr.) orientieren sich vermutlich an der Waschung als häufigster Form der kultischen Reinigung. Das hebräische Begriffspaar dagegen kennt keine Konnotation »sauber – schmutzig«, sondern meint »kultisch tauglich – untauglich«. Zum Konzept von »rein und unrein« im biblischen Kontext vgl. z.B. Milgrom (Anm. 9); im deutschsprachigen Kontext vgl. Erbele-Küster/Tönges (Anm. 46), 471–475; Kratz (Anm. 15), 348–351; sehr konzise auch Hannah K. Harrington, Art. ָטֵֽהרṭāher, in: Theologisches Wörterbuch zu den Qumrantexten 2 (2013), Sp. 1–11, 1f.
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mension, wiewohl in besonderer Weise in prophetischen Büchern und den Psalmen nachweisbar,84 kommt überraschenderweise auch an zentralen Stellen in Schriften priesterlicher Tradition vor. Am bekanntesten ist das so genannte Heiligkeitsgesetz H (Lev 17–26) im Buch Levitikus. Seine inhaltliche Mitte ist Kapitel 1985 u.a. mit Nächstenliebe- und Fremdenliebegebot (19,18.33-34), das in Vers 2 mit dem folgenden Auftrag an Mose eingeleitet wird: »Rede zu der ganzen Gemeinde der Söhne und Töchter Israels und sage zu ihnen: Ihr sollt heilig sein; denn ich, JHWH, euer Gott, bin heilig.« Diese erstmals hier in H vorkommende Heiligkeitsforderung verbindet nach Matthias Köckert aufs Engste Kultus und Ethos.86 Das kompositorische Zentrum von Lev 19, die Verse 11–18 mit dem Gebot der Gottesfurcht in der Mitte und dem Nächstenliebegebot am Ende, weist darauf hin, dass die Missachtung jedes einzelnen Verbots, das das Verhältnis zum Mitmenschen betrifft, gleichzeitig das Gottesverhältnis trifft.87 Gottes Heiligkeit, die für Israel im Exodus als Erwählung zum Eigentumsvolk JHWHs erfahrbar wurde, soll das soziale Miteinander in Israel grundlegend prägen.
4. Das Begriffsfeld »heilig« in der Jesustradition 4.1 ἅγιος und seine Derivate in der Jesustradition Dass sich die Jesustradition im Vergleich zu den Paulusschriften bei der Verwendung von ἅγιος und seinen Derivaten eher zurückhält, zeigt sich vor allem daran, dass von 41 Vorkommen (37 Mal ἅγιος; viermal ἁγιάζω = »heiligen«) allein 22 auf die
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Einen guten Überblick dazu gibt Gammie (Anm. 70), 71–124, der meiner Meinung nach zu Recht der biblischen Exegese des 20. Jahrhunderts vorwirft, die prophetische und insbesondere die jesajanische Heiligkeitstheologie vernachlässigt zu haben. Danach lehrten die Propheten, »that the holiness of God required the cleanness of social justice.« (100). Darauf weist u.a. Matthias Köckert hin: Gottesfurcht und Nächstenliebe. Die Zusammenfassung der Willensoffenbarung Gottes am Sinai in Lev 19, in: ders. (Hg.), Leben in Gottes Gegenwart. Studien zum Verständnis des Gesetzes im Alten Testament (FAT 43), Tübingen 2004, 155–166; vgl. auch Ansgar Moenikes, Der sozial-egalitäre Impetus der Bibel Jesu und das Liebesgebot als Quintessenz der Tora, Würzburg 2007, bes. 115–169. Köckert (Anm.85), 158. Mehr noch, es fungiert gar als »Klammer für die vielfältigen Materialien und verbindet den kultischen mit dem zwischenmenschlichen Bereich.« (165) Wenig hilfreich ist in diesem Zusammenhang der Aufsatz von Antony Cothey, Ethics und Holiness in the Theology of Leviticus, in: JSOT 30 (2005), 131–151, der das Verhältnis zwischen ethischen und kultischen Weisungen in Levitikus untersucht, ohne – wie der Titel erwarten lässt – die Beziehung dieser beiden Gruppen von Weisungen zum Heiligkeitsbegriff zu klären. »Heiligkeit« spielt nur am Rande eine Rolle. Vgl. auch die drei anderen Stellen in Lev 17–26 zur Gottesfurcht (Köckert [Anm. 85], 163).
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attributive Verbindung τὸ πνεῦμα (τὸ) ἅγιον (pneuma hagion = »heiliger Geist«) entfallen. Am häufigsten begegnet diese Verbindung mit 13 Vorkommen im Lukasevangelium, davon allein sechsmal in der lukanischen Kindheitserzählung. Zusammen mit den 41 Vorkommen in der Apostelgeschichte enthält das lukanische Doppelwerk etwas mehr als 60 % des gesamten neutestamentlichen Bestandes von πνεῦμα (τὸ) ἅγιον, so dass die Forschung gerne von einer eher formelhaften und abgeblassten Verwendung der Verbindung spricht.88 Vielleicht hängt mit dieser Voreinstellung zusammen, dass m.W.n. keine der zahlreichen Arbeiten zum lukanischen Geistverständnis die Bedeutung des »heilig« in πνεῦμα ἅγιον näher untersucht.89 Trotzdem könnte eine solche Untersuchung lohnen, denn zum einen ist die Attributivverbindung, die in der hebräischen Bibel nur zweimal vorkommt (Ps 51,13; Jes 63,11f.), nicht erst eine Erfindung des Neuen Testaments, sondern gewinnt generell im Frühjudentum an Bedeutung, nicht zuletzt in den Qumranschriften.90 Zum anderen steht die Konstruktion πνεῦμα ἅγιον in der synoptischen Jesustradition mit Ausnahme der lukanischen Kindheitserzählung (Lk 1,15; 1,35; 1,41 u.ö.) fast immer im Dienst der Christologie. In diesen Zusammenhang gehört auch die Opposition »heiliger Geist« – »unreine Geister«, die auf der erzählerischen Ebene als Kampf zwischen dem mit heiligem Geist erfüllten Jesus von Nazaret und den im jüdischen Kontext als unreine Geister attribuierten Dämonen geschildert wird. Diesem von göttlichem Geist »Besessenen« müssen die Dämonen weichen.91 In der zentralen Beelzebulepisode (Mk 3,22-30 parr) werden die verschiedenen Fäden dieses Kampfes in der 88
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So Balz (Anm. 1), Sp. 46; vgl. auch Lattke (Anm. 3), 705, der sich mit der banalen Erkenntnis begnügt, dass der Geist heilig ist, weil er Gottes Geist ist; keine Berücksichtigung findet das Attribut »heilig« umgekehrt auch in einschlägigen bibeltheologischen Wörterbüchern zu πνεῦμα, z.B. bei Jacob Kremer, Art. πνεῦμα κτλ, in: EWNT 3 (2 1983), Sp. 279–291; Eberhard Kamlah/Walter Klaiber, Art. πνεῦμα, in: TBLNT, Wuppertal 1997, Sp. 698–712; Marius Reiser, Art. Geist II. (NT), in: NBL I (1991), Sp. 769–773; Klaus Scholtissek, Art. Geist (G.) II. NT, in: HGANT, Darmstadt 2006, 206–207. Ähnlich: Jörg Frey, Vom Windbrausen zum Geist Christi und zur trinitarischen Person. Stationen einer Geschichte des Heiligen Geistes im Neuen Testament, in: Martin Ebner et al. (Hg.), Heiliger Geist (JBTh 24), Neukirchen-Vluyn 2011, 121–154. Aus der Fülle der Veröffentlichungen vgl. z.B. William H. Shepherd, The Narrative Function of the Holy Spirit as a Character in Luke-Acts (SBL.DS 147), Atlanta, GA 1994; Ju Hur, A Dynamic Reading of the Holy Spirit in Luke-Acts (JSNT.S 211), Sheffield 2001; Heidrun Gunkel, Der Heilige Geist bei Lukas. Theologisches Profil, Grund und Intention der lukanischen Pneumatologie, Tübingen 2015. Wissenschaftliche Untersuchungen zum Geistverständnis bei Markus und Matthäus fehlen. Vgl. die Übersicht bei Gudrun Holtz, Art. ָקַד ׁשqādaš, in: Theologisches Wörterbuch zu den Qumrantexten 3 (2016), Sp. 463–494, 484f. In jüngster Zeit deuten einzelne Forscher den Herabstieg des Geistes auf Jesus in der Tauferzählung als positive Geistbesessenheit. Vgl. z.B. Richard E. DeMaris, Die Taufe Jesu im Kontext der Ritualtheorie, in: Wolfgang Stegemann et al. (Hg.), Jesus in neuen Kontexten, Stuttgart 2002, 43–52. Die Idee ist interessant, müsste aber gerade in Abgrenzung von dämonischer Besessenheit noch gründlicher untersucht werden.
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Auseinandersetzung Jesu mit seinen Gegnern, die ihm selbst dämonische Besessenheit vorwerfen, zusammengeführt. Hier begegnet uns auch die rätselhafte Rede von der Lästerung des Heiligen Geistes, die in Ewigkeit nicht vergeben wird (Mk 3,28-30 parr). Eine weitere Verbindung in der Jesusüberlieferung zwischen Jesus als von heiligem Geist erfüllten Menschen und den unreinen Geistern besteht im Wissen dieser Geister über sein wahres Wesen. Gleich bei Jesu erstem großen Auftritt nach seiner Geistbegabung in unmittelbarem Anschluss an die Taufe provoziert seine machtvolle Lehre in der Synagoge von Kafarnaum (Mk 1,21-28 par Lk 4,31-37) einen dort in einem Menschen wohnenden unreinen Geist, Jesus anzugreifen und ihn als ὁ ἅγιος τοῦ θεοῦ, als »den Heiligen (Mensch) des Gottes«, zu outen.92 Die Bedeutung und Herkunft dieser Zuschreibung ist in der Forschung höchst umstritten.93 Vom Kontext her könnte die Selbstbezeichnung Simsons in Ri 16,17 LXX B auf Jesus übertragen worden sein.94 Simson war von Geburt an Gott geweiht und vom Geist JHWHs erfüllt (Ri 13,25; 14,6.19 u.ö.), seine Heiligkeit wurde jedoch ab dem Augenblick angreifbar, als er sich als Heiliger Gottes seiner philistäischen Frau Delila offenbart. Die unreinen Geister wissen, dass das Heilige in Jesus ihre Vernichtung bewirken wird (»Bist du gekommen, uns zu vernichten?«; Mk 1,24 par) und versuchen daher Jesus, wie Delila ihren Mann Simson, aufs Glatteis zu führen, indem sie ihn zu einer von Dämonen initiierten Selbstoffenbarung zu verführen suchen. Der Angriff des Dämons scheitert, muss scheitern, weil er nicht weiß oder nicht wissen will, dass dieser Jesus von Nazaret der von Johannes dem Täufer in Mk 1,8 angekündigte kommende Stärkere ist, der als Geisterfüllter mit Heiligem Geist taufen wird und der anders als Simson sogar die Versuchungen des Satans bestanden hat (Mk 1,13). Wir haben hier am Anfang des Markusevangeliums ein ungemein dichtes Netz von Bezügen zwischen Heiligem und Unreinem bzw. heiligem Geist und unreinen Geistern, das dann in der Beelzebulepisode und in weiteren Dämonenaustreibungen weitergeknüpft wird. Eine Analyse dieser Bezüge würde sich allemal lohnen, zumal das Heilige hier – im neutestamentlichen Kontext durchaus ungewohnt – auch als – für die Dämonen – vernichtende Macht konnotiert wird. Die übrigen Vorkommen von ἅγιος in der Jesustradition sind breit gestreut und verteilen sich auf Erzähl- und Redenstoff. Mit einer Ausnahme haben sie keine Parallele in den jeweils anderen synoptischen Evangelien. Dazu gehören im Markusevangelium die Rede über Johannes den Täufer als »heiligen und gerechten Mann« 92
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Der Jesus zugeschriebene Titel kommt neben den drei erwähnten Stellen nur noch einmal im Mund des Simon Petrus in Joh 7,69 vor. Bei Matthäus, der die Bedeutung der Dämonenaustreibungen Jesu gegenüber Markus und Lukas reduziert, fehlt die gesamte Perikope. Vgl. Max Botner, The Messiah Is »the Holy One«. ὁ ἅγιος τοῦ θεοῦ as a Messianic Title in Mark 1:24, in: JBL 136 (2017), H. 2, 417–433, 419. Leider habe ich Botners Aufsatz erst nach Abschluss dieses Beitrags gelesen, so dass ich dessen neue und interessante These über den messianischen Hintergrund des Titels nicht berücksichtigen konnte. LXX A, die Variante, die dem hebräischen Text nähersteht, liest: »der Naziräer Gottes«.
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(Mk 6,20) und im Munde Jesu die Rede von den »heiligen Engeln« (8,38). Das Matthäusevangelium nennt Jerusalem zweimal ἁγία πόλις, »heilige Stadt« (4,5; 27,53; vgl. auch den Kontext von »heiligen« in Mt 23,17.19), und warnt davor, das Heilige den Hunden vorzuwerfen (Mt 7,6), während Zacharias in der lukanischen Kindheitserzählung betend von »seinen (Gottes) heiligen Propheten« (Lk 1,70) und »seinem (Gottes) heiligen Bund« (Lk 1,72) spricht. Festzuhalten ist, dass keine dieser »heilig«-Stellen auf den ersten Blick in irgendeiner Weise vom frühjüdischen Heiligkeitsverständnis abweicht oder positiv formuliert ein individuelles, für Jesus und die Jesusüberlieferung typisches Heiligkeitsverständnis erkennen lässt. Die bekannteste »heilig«-Stelle der Jesusüberlieferung ist sicherlich die erste Vaterunserbitte, die bei Lukas und Matthäus in identischer Formulierung vorkommt: ἁγιασθήτω τὸ ὄνομά σου, »geheiligt werde dein Name« (Lk 11,2 par Mt 6,9). Da die Bitte um Namensheiligung nach der Gottesanrede »Vater« der Anfang des einzigen Gebets ist, das uns von Jesus überliefert ist und das in der Folgezeit zum zentralen christlichen Gebet aufstieg, ist ihre Bedeutung für Jesu Heiligkeitsverständnis nicht zu unterschätzen. Ihr folgt in beiden Fassungen asyndetisch die zweite Bitte, die das Kommen des Königreiches Gottes erfleht. Inhaltlich wie formal zeigt das Vaterunser mit diesen beiden Bitten eine große Nähe zu den ersten beiden Bitten des Kaddisch, einem vollständig nur auf aramäisch vorliegenden jüdischen Gebet, dessen älteste Teile – und dazu gehören auch die beiden zusammenhängenden Bitten um Namensheiligung und Kommen der Königsherrschaft Gottes – vermutlich ins 1. Jahrhundert zurückgehen.95 Die Vorstellung einer Heiligung des göttlichen Namens begegnet jedoch schon in der hebräischen Bibel. Auf Grundlage ihrer nächsten Parallelen in Ez 36,23; Jes 29,23 und Lev 22,32 wird in der Forschung daher diskutiert, wer in der ersten Vaterunserbitte Subjekt der Namensheiligung ist, Gott selbst und/oder die Menschen, und ob die Heiligung eschatologisch und/oder ethisch zu verstehen sei.96 Das inhaltliche Verständnis von Heiligung kommt dabei häufig zu kurz,97 obwohl es für die Heiligungs- bzw. Heiligkeitstheologie bei Ezechiel, Jesaja und Levitikus zentral
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Zum Kaddisch und seiner möglichen Entstehung vgl. Annette Steudel, Die Heiligung des Gottesnamens im Vaterunser. Erwägungen zum antik-jüdischen Hintergrund, in: Lutz Doering/ Hans-Günther Waubke/Florian Wilk (Hg.), Judaistik und neutestamentliche Wissenschaft. Standort – Grenzen – Beziehungen (FRLANT 226), Göttingen 2008, 242–256, 253–255; dort ist auch eine deutsche Übersetzung abgedruckt. So z.B. der wichtige Matthäus-Kommentar von Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1–7) (EKK I/1), 4. durchges. Aufl. Zürich u.a. 1997, 342-344; Michael Wolter, Das Lukasevangelium (HNT 5), Tübingen 2008, 406; Klaus Wengst, Das Regierungsprogramm des Himmelreiches. Eine Auslegung der Bergpredigt in ihrem jüdischen Kontext, Stuttgart 2010, 154. Vgl. z.B. auch die relativ knappen Angaben zu den Inhalten der Heiligung im Tanach bei Steudel (Anm. 95), 243f. und 247.
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ist.98 Ausgangspunkt der prophetischen Heilsankündigung bei Ezechiel und Jesaja ist die gegenwärtige selbstverschuldete desolate Situation Israels als Folge der Entweihung/Profanierung des heiligen Gottesnamens vor den Völkern.99 Entsprechend kann die Heiligungsinitiative nur von Gott selbst ausgehen und zielt auf ein neues Gottesverhältnis Israels, zu dem wesentlich ein dem »Heiligen Israels« angemessenes Verhalten gehört. Mit ihr einher geht eine völlig neue, geheilte Gesellschaft mit Auswirkungen auf Menschen, Gemeinschaft und Natur, die mit den Worten des Vaterunsers als basileia/Königsherrschaft Gottes bezeichnet werden könnte. Für unsere Frage interessant ist besonders die erste Hälfte von Ez 36,16-38, die nicht nur von Heiligkeitsbegrifflichkeit geprägt ist, sondern in der die Heiligung Israels mit seiner Reinigung von allen Unreinheiten und Götzen durch JHWH beginnt und mit der Gabe eines neuen, fleischlichen Herzen und eines neuen Geistes, des Gottesgeistes selbst, abschließt. Die Unreinheiten sind dabei vom Kontext her deutlich als moralische und religiöse Verfehlungen zu deuten, nicht als kultische.100 Ein weiterer wichtiger Aspekt für die Interpretation von Heiligung/Heiligkeit im Tanach wie in der Jesusüberlieferung hängt mit dem Objekt der Heiligung zusammen. Nicht Gott selbst soll geheiligt werden, sondern sein Name. »Der Name« steht als Abstraktbegriff für die Gottheit selbst und schafft eine Distanz zwischen Mensch und Gott. So verdeutlicht er sprachlich, dass über die Gottheit nicht verfügt werden kann wie über Irdisches und sich ihr Wesen letztlich menschlichem Denken und Wollen entzieht.101 Damit wird m.E. ein Riegel vor ein zu vertrautes, familiäres »Vater«verständnis Gottes geschoben, so dass die Namensheiligung Gottes eben 98
Relativ ausführlich behandelt Hubert Frankemölle, Vater unser – Awinu. Das Gebet der Juden und Christen, Paderborn/Leipzig 2012, 98–103, die Heiligkeitstheologie der beiden Schriftpropheten. Zum Kaddisch und dem Achtzehnbittengebet s. ebd., 81–87. 99 Der entsprechende Vers in Ez 36,23 LXX lautet: καὶ ἁγιάσω τὸ ὄνομά μου τὸ μέγα τὸ βεβηλωθὲν ἐν τοῖς ἔθνεσιν ὃ ἐβεβηλώσατε ἐν μέσῳ αὐτῶν καὶ γνώσονται τὰ ἔθνη ὅτι ἐγώ εἰμι κύριος ἐν τῷ ἁγιασθῆναί με ἐν ὑμῖν κατ᾽ ὀφθαλμοὺς αὐτῶν. (»und ich werde meinen großen unter den Völkern entweihten Namen heiligen, den ihr mitten unter ihnen entweiht habt, und die Völker werden erkennen, dass ich der Herr bin, indem ich unter euch vor ihren Augen geheiligt werde.«). 100 Interessant ist in diesem Zusammenhang die klarere Sprache des hebräischen Textes. Danach hat Gott Israel vor allem wegen seines Blutvergießens, d.h. wegen seiner Gewalttaten im eigenen Land, und seines Götzendienstes aus diesem Land vertrieben (36,18b). Dieser Versteil fehlt in der Septuaginta, stattdessen wird in V. 19 der hebr. Begriff ֲעִליָלהPl. (alilah = »Tat«) durch den griech. Begriff ἁμαρτία »Sünde« ersetzt; ähnlich schon V. 17, wo die LXX alilah durch »Sünde« und »Unreinheiten« ersetzt. Vgl. zu Ez 36,16-38 (H) insgesamt Franz Sedlmeier, Das Buch Ezechiel. Kapitel 25–48 (NSK-AT 21/2), Stuttgart 2013, 191–202. 101 Nach Francois Bovon, Das Evangelium nach Lukas (Lk 9,51-14,35) (EKK III/2), Zürich/ Düsseldorf 1996, 126, bezeichnet »der Name« »anders als ›Vater‹, kein menschliches Wort, sondern nach einer biblischen Tradition und einem orientalischen Umfeld, in dem es noch keinen Nominalismus gibt, die Wirklichkeit Gottes selbst. Und zwar mit der Präzision, dass es sich um Gott in Kommunikation mit dem Außen handelt.« Vgl. auch den seit der Antike
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auch auf die bleibende Unterscheidung zwischen Mensch/Kreatürlichem und Gott verweist.
4.2 Die mit dem Jerusalemer Tempel und seinem Kult verbundene Heiligkeitsterminologie Im Unterschied zum Großteil der LXX-Schriften, die verschiedene Formen von ἅγιος als Bezeichnung für den Jerusalemer Tempel verwenden, bevorzugen die vier kanonischen Evangelien und die Apostelgeschichte das substantivierte Adjektiv τὸ ἱερόν (to hi’eron).102 In den synoptischen Evangelien, den drei Hauptquellen der Jesustradition, begegnet uns der Begriff schwerpunktmäßig im letzten Teil der Jesuserzählung, zwischen der Ankunft Jesu in Jerusalem und seiner Verhaftung in Getsemani (Mk 11,1-14,48 parr). Außerhalb des Jerusalemaufenthalts Jesu kommt ἱερόν noch je einmal in den beiden Varianten der Versuchungserzählung vor (Mt 4,5 par Lk 4,9), dreimal in der Kindheitserzählung des Lukasevangeliums (Lk 2,27.37.46) und an drei bzw. vier weiteren Stellen (Mt 12,5-6; Lk 18,10; 24,53). Überall ist mit τὸ ἱερόν der Tempelkomplex bzw. der Tempelbezirk insgesamt gemeint, nicht jedoch das innere Tempelgebäude, das sogenannte Tempelhaus mit dem Allerheiligsten, das kein Laie betreten durfte. Das Tempelhaus des Jerusalemer Tempels wird wie auch das innere Gebäude paganer Tempel der Antike ναός (naos) genannt. Eindeutig zuzuordnen ist das für Lk 1,9.21f., wo der Engel Gabriel dem Priester Zacharias erscheint, als dieser das Räucheropfer auf dem Rauchopferaltar darbringt, der sich im Tempelhaus befindet. Gleiches trifft für ναός im Weisheitswort (Mt 23,35) zu und in Mk 15,38 parr, wo alle Synoptiker das Zerreißen des Tempelvorhangs mit dem Tod Jesu verbinden. Es ist zu vermuten, dass auch an den anderen Stellen, an denen ναός in der Jesustradition verwendet wird, das Tempelhaus gemeint ist,
bis heute üblichen Ersatz-Namen ha-schem (»der Name«) für den im Judentum nicht ausgesprochenen Gottesnamen JHWH. 102 Nur einmal wird der Begriff im Neuen Testament für einen heidnischen Tempel gebraucht, konkret für den Tempel der Artemis in Ephesus (Apg 19,27). Theologisch sollte in die unterschiedliche Begrifflichkeit von LXX und Neuem Testament nicht zu viel hineininterpretiert werden, da nicht nur Philo und Josephus, sondern auch ursprünglich auf Griechisch verfasste frühjüdische Schriften der LXX wie 1 Esdras oder 2 Makk den Jerusalemer Tempel als τὸ ἱερόν bezeichnen. Letzteres wird z.B. von Wenell (Anm. 45), 325 und 330, die nur die griechische Übersetzung schon vorliegender hebräischer Schriften berücksichtigt, nicht gesehen. Sie leitet aus dieser, m.M.n. falschen Beobachtung ab, dass für den markinischen Jesus der Jerusalemer Tempel aufgehört habe, ein besonderer Ort im Vergleich zu anderen Tempeln der Antike zu sein, und behauptet mit einer problematischen Verknüpfung von Mk 15,38 (Zerreißen des Tempelvorhangs) mit Mk 7,1-23 (Rede über »rein und unrein«, s. dazu unten 3.3), »that Jesus breaks with the ›thinking of the temple‹ and distinctions between pure and impure, sacred and profane.« (330).
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nicht zuletzt im sogenannten Tempelwort in Mk 14,58 par Mt 26,61; Mk 15,29 par Mt 27,40, das in der Forschung mehrheitlich auf Jesus selbst zurückgeführt wird. Was tragen nun die genannten Begriffe inhaltlich für das Heiligkeitsverständnis der Jesustradition aus? Könnte es sich bei ihnen nicht einfach nur um termini technici für den Ort des JHWH-Kultes in Jerusalem handeln? Dass das nicht der Fall ist, zeigen die jeweiligen Begriffskontexte und weiteren Termini zum Wortfeld Tempel/ Tempelkult in der Jesustradition. Das Ziel des Wirkens und der Verkündigung Jesu ist nicht Jerusalem als Hauptstadt Judäas, sondern der Tempel. In der synoptischen Tradition ist der Tempel nicht nur der zentrale, sondern der einzige Ort seiner Verkündigung in Jerusalem (Mk 11–12; Mt 21–23; Lk 19,45-21,38). Im Markusevangelium führt Jesu hochsymbolisch konnotierter Einzug in die Stadt direkt in den Tempel: Καὶ εἰσῆλθεν εἰς Ἱεροσόλυμα εἰς τὸ ἱερὸν καὶ περιβλεψάμενος πάντα (Mk 11,11: »und er ging nach Jerusalem hinein in den Tempel und schaute sich alles an«). Selbst die Endzeitrede (Mk 13 par Mt 24) nimmt Bezug auf den Tempel, indem sie vom Ölberg mit Blick auf die Stadt gehalten wird und mit der Prophezeiung der Tempelzerstörung beginnt.103 Als zentral für Jesu Verhältnis zum Tempel gilt in der Forschung die sogenannte Tempelaktion in Mk 11,15-18 parr als eindrucksvoller Auftakt des jesuanischen Aufenthalts und Wirkens im Jerusalemer Tempel. In dieser Erzählung, in der der Begriff ἱερόν dreimal kurz hintereinander vorkommt, treibt Jesus Verkäufer, Käufer und Geldwechsler aus dem Tempelareal und kommentiert diese Aktion mit einer Zitatenkombination aus Jesaja und Jeremia: »Mein Haus wird ein Haus des Gebetes genannt werden für alle Völker. Ihr aber habt es zu einer Räuberhöhle gemacht.« (Mk 11,17 par Mt 21,13 par Lk 19,46) Die exegetischen Untersuchungen zur Tempelaktion Jesu, fälschlicherweise oft Tempelreinigung genannt, und zu ihrer Bedeutung sind kaum zu überblicken.104 Sie drehen sich mehr oder weniger alle um die 103 Noch zentrierter auf den Tempel erzählt das Lukasevangelium über die letzten Tage Jesu in Jerusalem. Vom Einzug Jesu in die Stadt ist nirgends die Rede, stattdessen wird der Weg vom Ölberg bis zur Stadt als ἀπάντησις (apantesis), als Einholung eines antiken Herrschers/des römischen Kaisers durch die Bevölkerung der von ihm besuchten Stadt beschrieben (zum Brauch der ἀπάντησις in römischer Zeit vgl. Stefan Schreiber, Der erste Brief an die Thessalonicher [ÖTK 13/1], Gütersloh 2014, 257–259, mit Hinweis auf die zentrale Arbeit dazu von Joachim Lehnen, Adventus Principis. Untersuchungen zu Sinngehalt und Zeremoniell der Kaiserankunft in den Städten des Imperium Romanum, Frankfurt a.M. 1997). Danach hält sich Jesus tagsüber nur noch im Tempel auf. Selbst die Zerstörung des Tempels zusammen mit weiteren Endzeitereignissen kündigt der lukanische Jesus im Tempel an (Lk 21,5-36). 104 Einen guten Überblick über die verschiedenen Forschungshypothesen und -positionen gibt Jostein Ådna, Jesus and the Temple, in: Tom Holmén/Stanley Porter (Hg.), Handbook for the Study of the Historical Jesus Bd. 3. The Historical Jesus, Leiden u.a. 2011, 2637–2675, 2654–2672. Vgl. auch – allerdings wesentlich knapper – Markus Tiwald, 5.1. Einzug in Jerusalem, Tempelreinigung (Jesu Stellung zum Tempel), in: Jens Schröter/Christine Jakobi (Hg.),
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Frage, ob Jesus mit dieser Aktion den Tempelkult endgültig für obsolet erklärt habe oder ob er nur auf die Gefahr eines veräußerlichten Kultes hinweise, also ein prophetisches Zeichen setzt, um auf die Dringlichkeit einer Änderung in der Einstellung zum Tempel und damit zur Verehrung Gottes hinzuweisen. Während bis vor kurzem die erste Deutungsmöglichkeit in der Forschung überwog, wird mittlerweile die zweite Möglichkeit favorisiert.105 Hintergrund ist die Beobachtung, dass am Ende der synoptischen Jesuserzählungen die negativen Konnotationen als Ausdruck des Konflikts Jesu mit den führenden jüdischen Gruppen seiner Zeit um die Deutung des Tempelkults zwar zunehmen und im Zerreißen des Tempelvorhangs bei Jesu Tod ihren Höhepunkt finden, dass aber Tempel und Tempelkult von Jesus vor seinem Aufenthalt in Jerusalem kaum kritisiert werden, sondern im Gegenteil, als selbstverständlich akzeptiert werden. Das zeigen die Anweisung Jesu an den geheilten Aussätzigen, sich dem Priester zu zeigen und ein Opfer für seine Reinigung darzubringen (Mk 1,44 parr; vgl. auch Lk 17,14), die Weisung des matthäischen Jesus, vor der Darbringung einer Opfergabe im Tempel sich mit dem Bruder zu versöhnen (Mt 5,23-24), oder das von Jesus als vorbildlich dargestellte Verhalten der armen Witwe, die ihren ganzen Lebensunterhalt in einen der im Tempel befindlichen Opferkästen wirft (Mk 12,42-44 parr). Besonders hervorzuheben ist die große Bedeutung der Tempelfrömmigkeit in der Kindheitserzählung des Lukasevangeliums (Lk 1–2) bis hin zur Erzählung vom zwölfjährigen Jesus im Tempel (Lk 2,41-52). Auffällig ist jedoch, dass die Frage nach den mit dem Tempel verbundenen Heiligkeitsvorstellungen in der synoptischen Jesusüberlieferung selbst bei den Forscher*innen, die von einer anfänglich positiven Einstellung Jesu zum Tempel ausgehen, keine Rolle spielt.106 Nirgends lesen wir in der exegetischen Literatur, Jesus Handbuch, Tübingen 2017, 460–467. Das Standardwerk zum Thema ist immer noch Jostein Ådna, Jesu Stellung zum Tempel. Die Tempelaktion und das Tempelwort als Ausdruck seiner messianischen Sendung (WUNT 2. Reihe, 119), Tübingen 2000. 105 Die vorgeschlagenen Lösungen variieren jedoch selbst für die Erwägung der letzten Möglichkeit stark. So nimmt z.B. Ådna an (I [Anm. 104], 2654), dass Jesus die Tempelaktion mit den von Mk 11,17 überlieferten Worten kommentiert habe und das Tempelwort, das die Zerstörung des mit Händen gemachten Tempels und den Aufbau eines nicht mit Händen gemachten geistlichen Tempels ankündigt hätte, erst gesprochen habe, als er erkannte, dass die religiösen Führer Israels zur Annahme seiner basileia-Botschaft nicht bereit waren. Tiwald (Anm. 104), 463f., nimmt dagegen weiterhin eine ursprüngliche Zusammengehörigkeit von Tempelaktion und -wort an, aber eben nicht im Sinne einer Abrogation des Tempelkults, sondern als »eine Integration des Tempelinstituts in die Idee des nun anbrechenden Gottesreiches.« 106 Eine Untersuchung aller Äußerungen der Jesustradition oder doch zumindest eines Evangeliums zum Verständnis von Tempel und Tempelkult fehlt weiterhin. Die Monographie von Timothy C. Gray, The Temple in the Gospel of Mark. A Study in its Narrative Role, Tübingen 2008, beschäftigt sich ausschließlich mit Mk 11–15, dem letzten Teil des Evangeliums. Sie vertritt die These, dass Jesus bei Markus als Herr des Tempels dargestellt wird, dessen tödliche Ablehnung durch die führenden Autoritäten Israels letztlich zur Zerstörung des Tempels
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dass Jesu Tempelaktion möglichweise die Heiligkeit des Tempels gegen seine Profanierung zu verteidigen sucht. Nirgends wird gefragt, was für Jesus überhaupt die Heiligkeit des Tempels ausgemacht haben könnte bzw. im Umkehrschluss und warum und unter welchen Bedingungen diese Heiligkeit auch verloren gehen kann.107 Selbst Texte, die die Bedeutung der Heiligkeit von Tempel und Brandopferaltar gegen eine kasuistisch verengte Gesetzlichkeit verteidigen wie Mt 23,16-22, werden in der Diskussion um Jesu Verhältnis zum Tempel allenfalls gestreift.108 Das Forschungsdesiderat zu diesem gesamten Komplex ist immens. Eines scheint aber klar zu sein, dass Jesus und die Jesustradition bloß äußerlich vollzogene heilige Handlungen wie z.B. in Bezug auf das Opferwesen, ganz egal ob private oder öffentliche, freiwillige oder Pflicht-Opfer dargebracht werden, ablehnt, wenn sie dem Gebot der Nächstenliebe widersprechen. Oder anders formuliert: Gottesliebe und Gottesverehrung ist nicht auf Kosten der Nächstenliebe zu haben, oder noch anders: wem sein/ihr Nächster nicht heilig ist, verletzt die Heiligkeit Gottes. Zwei Texte aus der Jesustradition verdeutlichen diese Beziehung der beiden Gebote beispielhaft: Wenn du also deine Gabe zum Altar bringst und dich dort erinnerst, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, lass deine Gabe dort vor dem Altar und gehe zuerst um dich mit deinem Bruder zu versöhnen, und dann komm und bringe deine Gabe dar. (Mt 5,23f.) Nachdem Jesus auf die Frage des Schriftgelehrten nach dem größten Gebot mit dem Doppelgebot der Liebe antwortet, kommentiert der Schriftgelehrte diese Antwort wie folgt:
führt. Dass mit dieser Konzeption ein bestimmtes Heiligkeitsverständnis verbunden sein könnte bzw. ein anderes abgelehnt wird, wird nicht erkannt. 107 Von Wenells Aufsatz zu Mk 11–12 aus dem Jahre 2007 (Anm. 45) hatte ich am ehesten erste Antworten auf die gestellten Fragen erwartet. Doch bleibt er ganz an der Oberfläche. Weder geht er auf die widersprüchlichen Einstellungen zum Tempelkult im Markusevangelium ein, noch diskutiert er auch nur ansatzweise unterschiedliche frühjüdische Positionen zum Jerusalemer Tempel, die bis zur Ablehnung des gegenwärtigen Tempels und seines Kultes gehen konnten (z.B. Qumran: dazu genauer Klawans [Anm. 11], 145–174). Zu verschiedenen messianischen Tempeltraditionen im Tanach und im Frühjudentum, allerdings ohne jegliche Diskussion von Heiligkeitsvorstellungen vgl. Ådna II (Anm. 104), 26–89; nur sehr knapp Tiwald (Anm. 104), 462. 108 So bei Ådna I (Anm. 104), 2638. Wenig zum Heiligkeitsverständnis des Tempels in Mt 23,1622 tragen auch die Kommentare bei. Vgl. z.B. nur Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 18–25) (EKK I/3), Zürich u.a. 1997, 325–329; Peter Fiedler, Das Matthäusevangelium (ThKNT 1), Stuttgart 2006, 352 und Anm. 7.
Angelika Strotmann: Das Heiligkeitskonzept der synoptischen Jesusüberlieferung
Gut, Lehrer, du hast wahr gesprochen, denn »einer ist er, und es gibt keinen anderen außer ihm«; und »zu lieben ihn aus ganzem Herzen und aus ganzem Verstand und aus ganzer Kraft« und »zu lieben den Nächsten wie sich selbst« ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer. (Mk 12,32f.) Dass das so beschriebene Verhältnis zwischen Gottesliebe und Nächstenliebe nicht von Jesus oder der Jesustradition erfunden wurde, zeigt die über Jesu Antwort noch hinausgehende Antwort des Schriftgelehrten. Und diese steht fest auf dem Boden der hebräischen und griechischen Bibel: angefangen von Lev 19 über die prophetische Kultkritik eines Amos und Jesaja bis hin zur Kult- und Sozialkritik des Weisheitslehrers und Schriftgelehrten Jesus Sirach aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. (Sir 34,21-35,22).
4.3 Reinheitsterminologie und Heiligkeitsterminologie in der Jesusüberlieferung 4.3.1 Explizite Reinheitsterminologie in der Jesustradition Wie in der Einleitung angedeutet, spielt das jüdische Konzept von »rein und unrein« in der Jesustradition eine wichtige Rolle. Das wird durch die Häufigkeit von Perikopen bestätigt, für die Reinheitsfragen zentral sind. Diese finden sich: a) in der von allen drei Synoptikern wiedergegebenen Wundererzählung über die Reinigung eines Aussätzigen, die nicht mit der erfolgreichen Heilung endet, sondern mit der Aufforderung Jesu an den Gereinigten, seine Reinheit vom Priester im Tempel bestätigen zu lassen und ein Brandopfer darzubringen (Mk 1,40-45 par Mt 8,1-4 par Lk 5,12-16); b) in der nur von Lukas berichteten Reinigung von zehn Aussätzigen (Lk 17,11-19), in der Jesus ebenfalls die Geheilten auffordert, ihre Reinheit durch den Priester bestätigen zu lassen; c) in Mt 11,5 par Lk 7,22, wo die Reinigung von Aussätzigen zu einem Teil der Antwort Jesu auf die Täuferfrage nach den Taten des Christus/Messias gehört; d) in der bei Markus wie bei Matthäus ausführlich wiedergegebenen Diskussion mit Pharisäern über die Notwendigkeit bestimmter Waschungen von Händen, Töpfen und sonstigen Behältern nach dem Marktbesuch, um nicht in unreinem Zustand zu essen bzw. Speisen zu sich zu nehmen (Mk 7,1-23 par Mt 15,1-20); e) in den aus der Logienquelle stammenden Weherufen über Schriftgelehrte und Pharisäer, wonach sie zwar das Äußere von Bechern und Schüsseln reinigen, nicht aber ihr eigenes Inneres, das aus Raub und Bosheit bestehe (Lk 11,39-41 par Mt 23,25-26); f) in der typisch jüdischen Bezeichnung von Dämonen als πνεύματα ἀκάθαρτα »unreine Geister« (insgesamt 19 Mal bei den Synoptikern).109
109 S. auch oben 4.1 zur antithetischen Verbindung von Heiligem Geist und unreinen Geistern. In der deutschen Übersetzung »unrein«, »unrein sein« muss jedoch auf die zugrunde liegenden griechischen Begriffe geachtet werden: »Unreinheit« im Kontext von Essen wird mit
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Auffällig ist, dass mit Ausnahme der unreinen Geister, die nicht gereinigt, sondern nur ausgetrieben werden können, zu reinigende Unreinheit explizit nur mit Aussatz und mit ›kontaminierten‹ Speisen verbunden wird. Beide Formen der Unreinheit werden vom synoptischen Jesus jedoch völlig unterschiedlich behandelt und unterschiedlich bewertet. Auch für die Jesustradition scheint Aussatz (griech: λέπρα; hebr. )ָצַרַעת, zu dem nach Lev 13 verschiedene schuppende Hautkrankheiten gehören110 und der nicht zu verwechseln ist mit der hochansteckenden Hansenschen Krankheit, der heutigen Lepra,111 den Zugang zum Heiligen zu gefährden, so dass Aussätzige weiträumig vom Jerusalemer Tempel ferngehalten werden müssen.112 Den Betroffenen wird damit nicht nur die Begegnung mit dem Heiligen verunmöglicht, sondern sie werden auch in ihren sozialen Beziehungen stark beschnitten. Eine Diskussion um das Für und Wider von Aussätzigenreinigungen gibt es in der Jesustradition nicht, im Gegenteil, die gereinigten Aussätzigen werden von Jesus sogar noch direkt zum Priester geschickt, der als einziger die Reinigung feststellen kann und damit dem bisher Unreinen wieder Zugang zum Heiligen, konkret zum Tempelkult, gewähren kann. Der synoptische Jesus scheint damit ganz in der auf die schriftliche Tora zurückgehenden Deutungstradition von Aussatz als unrein zu stehen. Genau anders bewertet die Jesustradition die anscheinend besonders von Pharisäern geforderte Reinigung von Händen, Geschirr und Töpfen.113 In den beiden Texten dazu, einschließlich ihrer Varianten (s.o., d) und e)), geht es nicht um die sogenannte Speisentora aus Lev 11,1-41 und Dtn 14,3-21, die bestimmte Tiere als
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einem anderen Lexem bezeichnet (κοινός/κοινόω) als die Unreinheit von Dämonenwesen (ἀκάθαρτος). Eine übersichtliche Zusammenstellung dieser Hautanomalitäten und -krankheiten aus Lev 13 findet sich bei Thomas Staubli, Die Bücher Levitikus, Numeri (NSK.AT 3), Stuttgart 1996, 114–119. Vgl. den knappen Überblick über die historische Entwicklung der mit dem ›Lepra‹-Begriff verbundenen Inhalte bei Michael Wohlers, »Aussätzige reinigt« (Mt 10,8). Aussatz in antiker Medizin, Judentum und frühem Christentum, in: Stefan Maser/Egbert Schlarb (Hg.), Text und Geschichte. FS Dieter Lührmann (MThSt 50), Marburg 1999, 294–304. Vgl. z.B. die Anweisungen in der in Qumran gefundenen Tempelrolle, die Aussätzigen nicht nur den Tempelbesuch verbietet, sondern auch den Aufenthalt in der heiligen Stadt Jerusalem (11Q19 Kol. 45,18). Aussätzige durften nach diesem Dokument jedoch in den übrigen Städten, neben anderen unreinen Menschen wie z.B. Ausflussbehafteten, in eigens für sie eingerichteten Plätzen wohnen (11Q19 Kol. 48,15-17). Keine Beschränkungen gab es für ihren Aufenthalt in nicht ummauerten Dörfern. Zum Problem der Ausweitung des Reinheitskonzeptes im antiken Judentum zwischen dem 2. Jahrhundert v. und dem 1. Jahrhundert n. Chr. vgl. oben Kap. 2.2 und die dort genannte Literatur.
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nicht koscher und damit als nicht für den Verzehr geeignet bestimmt.114 Vielmehr geht es um die »Überlieferung der Menschen«, die παράδοσις τῶν ἀνθρώπων (Mk 7,8), die Gottes Wort antithetisch gegenübergestellt wird (Mk 7,9.13). Es handelt sich um Vorschriften, die nicht in der schriftlichen Tora stehen, sondern aus der mündlichen Überlieferung stammen und ständig weiterentwickelt werden. In Mk 7,1-23 geht es z.B. um die Möglichkeit, auch für Laien priesterliche Reinheit beim Essen, selbst fern des Tempels, zu wahren.115 Gegen diese Vorschriften polemisiert Jesus in Mk 7,1-23 par und in Lk 11,39-41 par. Für ihn sind sie rein äußerliche Vorschriften, die Menschen letztlich davon abhalten, »Gottes Gebot« zu tun und die sie nicht vor dem Bösen bewahren, das aus dem eigenen Herzen bzw. Inneren kommt (Mk 7,20-23 par; Lk 11,39 par). Nach Mk 7,20-23 par machen aber gerade diese bösen Gedanken und Taten den Menschen unrein, so dass die moralisch-ethische Reinheit, die schon in prophetischen und weisheitlichen Texten des Tanach einen besonderen Stellenwert hat, gegenüber einer rein körperlich-gegenständlich verstandenen Reinheit nicht nur aufgewertet, sondern an die erste Stelle gesetzt wird.
4.3.2 Implizites Vorkommen des Rein-Unrein-Themas in der Jesustradition Die Jesustradition kennt eine Reihe Erzählungen, in denen eine explizite Rein-Unrein-Terminologie zwar fehlt, das Motiv über die Inhalte aber präsent ist, wie z.B. in den Erzählungen über die Heilung einer blutflüssigen Frau, die Auferweckung eines toten Mädchens (Mk 5,21-43 parr) oder die eines jungen Mannes (nur Lk 7,11-17). Besonders spektakulär inszeniert ist die Austreibung eines Dämons namens »Legion« aus einem Besessenen, der in einem Gräberfeld lebt. Jesus schickt die »Legion« in eine riesige Schweineherde, die sich daraufhin in den See stürzt und ersäuft (Mk 5,120 parr). Auch die Begegnung Jesu mit Nichtjuden, mit einer Syrophönizierin, die ihn bittet, ihre Tochter von einem Dämon zu befreien (Mk 7,24-30 par Mt 15,21-28), oder mit einem römischen Hauptmann, der bittet, seinen Knecht zu heilen (Mt 8,513 par Lk 7,1-10), gehört hierher. Umstritten ist dagegen die Reinheitsthematik bei Jesu Mählern mit Zoll- bzw. Abgabepächtern und Sündern (u.a. Mk 2,13-15 parr).
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Entsprechend setzt sich in der neutestamentlichen Exegese mehr und mehr die Ansicht durch, dass sich Mk 7,19b: »erklärend alle Speisen für rein« (καθαρίζων πάντα τὰ βρώματα) nicht auf die Speisentora bezieht, sondern auf die das tägliche Essen angeblich kontaminierenden Verunreinigungen der Hand, des Geschirrs, der Töpfe, Schüsseln etc. Vgl. dazu u.a. Crossley (Anm. 52); Tomson (Anm. 60), 205f.; Gudrun Guttenberger, Das Evangelium nach Markus (ZB NT 2), Zürich 2017, 162–175. Auffällig ist das besonders im Bereich der Reinheit, für den es nach Thomas Kazen gegen Ende des zweiten Tempels (1. Jahrhundert n. Chr.) »signs of an influential expansionist trend« gab (Jesus and Purity Halakhah. Was Jesus Indifferent to Impurity?, Stockholm 2002, 343). Ähnlich auch Regev (Anm. 59).
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In der Forschung wird immer wieder gerne betont, wie sehr Jesus sich in diesen Erzählungen über Reinheitsgebote hinwegsetze oder wie wenig Berührungsängste er gegenüber unreinen Menschen zeige, um daraus die geringe Bedeutung der Reinheitsfrage für Jesus zu konstatieren. Festgemacht wird diese These an Jesu Berührung unreiner Personen in den drei zuerst genannten Wundererzählungen und in seinen Aussätzigenreinigungen. Dagegen ist zunächst einmal festzuhalten, dass der unbeabsichtigte körperliche Kontakt mit ständig unreinen Personen auch für die frommsten Juden*Jüdinnen der Antike nie völlig auszuschließen war, es sei denn, man gehörte einer Gruppe wie der Qumrangemeinschaft an, die sich von der Außenwelt vollständig abschottete. Die Berührung Jesu durch die blutflüssige Frau oder andere unreine Personen mitten in einer großen Menschenmenge konnte er – selbst wenn er gewollt hätte – gar nicht verhindern.116 Nun wurde Jesus aber nicht nur berührt, sondern er berührte auch bewusst zwecks Heilung oder Totenerweckung unreine Menschen bzw. Leichname (nach Mk 1,41 parr einen Aussätzigen, nach Mk 5,41 parr eine Tote oder nach Lk 7,14 eine Totenbahre). Doch selbst eine solche bewusste Berührung war für reine Menschen grundsätzlich kein Problem, denn z.B. der Umgang mit gerade Verstorbenen und ihren Leichnamen war in der Antike kaum zu vermeiden. Allerdings mussten sich jüdische Menschen zur Zeit Jesu nach einem solchen Kontakt einer entsprechenden Reinigung unterziehen. Weil nun in den Evangelien nirgends von einer solchen Reinigung Jesu zu lesen ist – so die Argumentation – weise das auf eine sorglose, ja sogar indifferente Einstellung Jesu zu den jüdischen Reinheitsvorschriften seiner Zeit hin.117 Was dabei übersehen wird, ist – abgesehen davon, dass mindestens die Totenerweckungen historisch nicht nachweisbar sind – die prophetisch-messianische Bedeutung dieser Wundererzählungen. Jesus wird mit diesen und weiteren spektakulären Wundererzählungen in die Tradition der beiden großen Wunderpropheten der hebräischen Bibel gestellt, Elija und Elischa, von denen ebenfalls Aussätzigenreinigungen und Totenerweckungen überliefert werden. Insbesondere Elija spielt in der prophetischapokalyptischen Tradition zudem die Rolle dessen, der in der Endzeit Israel zurück zu gegenseitiger Solidarität und Liebe führt (z.B. Mal 3,23f.). Und schließlich: Die Totenerweckungen Elijas (1 Kön 17,17-24) und Elischas (2 Kön 4,32-37) werden in ihrem Körpereinsatz viel drastischer beschrieben als die Jesu. Beide legen sich jeweils drei- bzw. zweimal mit ihrem ganzen Körper auf den toten Knaben. Elischa berührt 116 117
Vgl. auch die Reaktion seiner Jünger in Mk 5,31 auf die Frage Jesu, wer sein Gewand berührt habe. Selbst Kazen in seiner sorgfältigen Untersuchung der drei genannten Typen von Wundererzählungen (Ausätzigenreinigung, Blutflüssigenheilung und Totenerweckungen, s.o. Anm. 115, 89–198) betont diesen Aspekt, zieht daraus aber einen etwas vorsichtigeren Schluss als die Forschungsmehrheit: »To say that Jesus was indifferent to impurity, however, is to take an interpretative leap which is not fully substantiated. Jesus’ attitude was apparently understood as seemingly indifferent in his contemporary context.« (198)
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sogar mit seinem Mund den Mund des Toten. Im Zentrum steht hier wie bei Jesus die von Gott geschenkte prophetische Vollmacht, die physisch wie sozial Toten neue Lebenskraft überträgt und Unreinheit verdrängt. Selbstredend wird weder bei Elija noch bei Elischa von einer anschließenden Reinigung erzählt. Warum sollte das bei Jesus anders sein? Wir haben es in diesen Erzählungen ja nicht mit Reportagen oder Berichten zu tun. Selbst Erzählungen mit impliziter Rein-Unrein-Thematik, die Jesus nicht in die Tradition großer Propheten stellen, sehen ihn ganz auf dem Boden des damaligen Judentums. So ist die Erzählung über den Besessenen von Gerasa (Mk 5,1-20 parr) voll von Motiven, in denen sich jüdische Identität gegenüber äußeren und inneren Gefährdungen durchsetzt: Jesus kommt bei seinem Aufenthalt im heidnischen Umfeld von Gerasa von den Grabhöhlen her, die er selbst nicht betritt, ein völlig verwahrloster Besessener entgegen, dessen unreiner (!) Geist sich als »Legion« offenbart, als schlagkräftige römische Militäreinheit. Jesus vertreibt diesen Geist und schickt ihn in eine riesige Schweineherde, für jüdische Ohren die potenzierte Unreinheit, die daraufhin sofort in den See rast und dort ertrinkt. Dass die heidnischen Bewohner der Gegend Jesus daraufhin bitten, ihr Gebiet zu verlassen, wundert nicht (Mk 5,17). Auch die zwei Fernheilungen an Heid*innen stehen in frühjüdischer Unreinheitstradition, die in der schriftlichen Tora fehlt, nämlich die Weisung im Land Israel als frommer Jude die Häuser von Nichtjuden nicht zu betreten, weil diese zum Götzendienst verführen könnten.118 Die Thematik kultischer Reinheit bleibt mit diesen Texten auch für die Jesustradition der synoptischen Evangelien ein nicht einfach zu vernachlässigender Aspekt. Dass Jesus die Reinheitstora bzw. die kultische Tora für überflüssig erklärt hätte, wie z.B. Hanna Stettler behauptet,119 ist den Texten nicht zu entnehmen. Eine rein körperlich-gegenständliche Reinheit, die auf Kosten eines solidarischen Verhaltens zum Mitmenschen bzw. moralisch-ethischer Reinheit ausgeweitet wird, wird jedoch als Gottes Geboten widersprechend kritisiert.120 Es bleibt die Frage, was und in welcher Weise das jesuanische Reinheitverständnis mit seinem Heiligkeitsverständnis zu tun hat bzw. wie sich beides beeinflusst. Mit Ausnahme von James Dunn 118
Näheres zum frühjüdischen Hintergrund und zur Aufnahme dieser Vorstellung in der Jesustradition bei Peter J. Tomson, Jewish Purity Laws as Viewed by the Church Fathers and by the Early Followers of Jesus, in: Marcel J.H.M. Poorthuis/Joshua Schwartz (Hg.), Purity and Holiness. The Heritage of Leviticus, Leiden 2000, 73–91, 83f. und 87–90. 119 Stettler (Anm. 23), 159–161 und 166–171 mit dem schon zitierten Fazit auf S. 177, dass ein wörtliches Halten der Reinheitstora nicht mehr nötig sei, da Jesu Kommen, Wirken und Tod letztendlich [allein] sein Volk heilige; vgl. auch Repschinski (s.o. Anm. 58). 120 Das bestätigt auch die hier nicht näher behandelte Parabel vom barmherzigen Samaritaner (Lk 10,25-37), bei der angenommen werden darf, dass der Levit und der Priester, die übrigens vom Tempeldienst nach Hause gingen und nicht umgekehrt, auch deshalb dem unter die Räuber Gefallenen nicht halfen, weil sie eine Verunreinigung fürchteten.
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und Hanna Stettler äußert sich die Forschung dazu nicht. Auf Dunns interessante Doppelthese, dass Jesus a) die Anwendung von Reinheitsregeln ablehnte, wenn damit unreine Personen aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wurden, ohne etwas für sie zu tun, und dass er sich b) gegen einen Gebrauch wandte, der denjenigen das Recht auf Zugang zum Heiligen absprach, die nicht die Interpretation der Reinheitsvorschriften durch die eigene Gruppe teilten,121 kann ich an dieser Stelle nicht näher eingehen. Meiner Meinung nach ist sie von den Texten selbst nicht gedeckt.
5. Fazit 5.1 Grundsätzliches zur Heiligkeitsdiskussion in den biblischen Wissenschaften Der vorliegende Überblick über das Begriffsfeld »Heiligkeit« in der synoptischen Jesusüberlieferung konnte zeigen, dass das »heilig«-Thema kein zu vernachlässigendes Randthema der Jesusüberlieferung ist, wie immer noch gerne behauptet wird. Warum es für die synoptische Überlieferung insgesamt wie für die einzelnen kanonischen Evangelien nur eine einzige, sehr knappe Monographie zum Thema gibt und – wie wir gesehen haben – nur eine sehr überschaubare Zahl an Aufsätzen, ist nach dieser Untersuchung kaum mehr nachzuvollziehen. Erstaunlich ist allenfalls, dass auch für die viel breiter nachgewiesenen Heiligkeitskonzeptionen der hebräischen Bibel kaum monographische Arbeiten existieren, geschweige denn für die der Septuaginta.122 Selbst die Schriftengruppen des Tanach sind in der exegetischen Literatur sehr uneinheitlich repräsentiert. Die meisten Beiträge beschäftigen sich mit der priesterlichen Heiligkeitskonzeption in Levitikus und der einzelner weiterer einschlägiger Texte der Tora, während die prophetische Heiligkeitskonzeption eher vernachlässigt wird. Es wundert daher nicht, dass für die doch recht umfangreiche Literatur des Frühjudentums (3. Jahrhundert v. bis 2. Jahrhundert n. Chr.) nur das Heiligkeitsverständnis der Qumranschriften bisher näher untersucht wurde. Ein grundsätzliches Problem jeder Untersuchung zum Heiligkeitsverständnis der Jesusüberlieferung ist die fehlende formale wie inhaltliche Klärung dessen, was unter Heiligkeit zu verstehen ist. Das deutsche Lexem »heilig« einschließlich seiner griechischen und hebräischen Äquivalente wird in der Regel unreflektiert und unkritisch verwendet und mit den entsprechenden eigenen Vor-Urteilen, oder etwas vorsichtiger formuliert, mit den eigenen Vor-Stellungen gefüllt. Anders ausgedrückt: Es fehlt ein auch nur annähernd stimmiges Konzept von Heiligkeit, das 121 122
Dunn (Anm. 23), 192. Die einzige übergreifende Monographie ist das Büchlein von Gammie aus dem Jahr 1989 (Anm. 70).
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als Basis der Auseinandersetzung mit den einschlägigen jüdischen und christlichen Texten der Antike benutzt werden kann: sowohl bezogen auf das Begriffsfeld »heilig« selbst, als auch darüber hinaus bezogen auf Texte, in denen zwar keine »heilig«Terminologie nachweisbar ist, die aber auf Grund bestimmter Merkmale vermuten lassen, dass sie sich mit Heiligkeitsvorstellungen auseinandersetzen. Die Diskussion in den Religionswissenschaften bzw. den Geistes- und Kulturwissenschaften um Heiligkeitsvorstellungen scheint an der neutestamentlichen Exegese vorbeigegangen zu sein.
5.2 Das Begriffsfeld »heilig« in der synoptischen Jesusüberlieferung – erste Eindrücke Angesichts der erwähnten Schwierigkeiten und abseits von immer noch gängigen antijudaistischen Klischees in der neutestamentlichen Exegese ist es nur möglich, erste Eindrücke vom Heiligkeitsverständnis der untersuchten Texte zu formulieren. Die feste Verbindung »heiliger Geist« kann nicht grundsätzlich als formelhafte Wendung von der Untersuchung ausgeschlossen werden. Es gibt mehrere Hinweise, dass diese Wendung in der Jesustradition mit Jesu Wirken als Exorzist verbunden ist. Da nach der synoptischen Tradition auf Jesus bei der Taufe der Geist Gottes herabgekommen ist und ihn von da an erfüllt bzw. auf ihm ruht, wird er zum Gegenspieler der unreinen Geister, die als Helfershelfer Satans verstanden werden. Er wird von diesen nicht nur als »Heiliger Gottes« erkannt, sondern sie wissen auch, dass er sie aus ihren menschlichen »Wirten« vertreiben und letztlich vernichten wird. Die Heiligung des Namens Gottes in der ersten Vaterunserbitte verweist zum einen auf eine unüberbrückbare Distanz zwischen Gott und den Menschen, die dem Menschen vor Augen führt, dass er über Gott nicht verfügen kann, zum anderen erinnert es unter Aufrufung prophetischer Verkündigung an die bisherige Geschichte Gottes mit Israel, in der dieser Gott die Entweihung seines Namens durch Gewalttat und Götzendienst zwar entsprechend ahndet, sich Israel aber immer wieder neu zuwendet, um es zu heiligen. Bis kurz vor seinem Tod ist für Jesus keine Ablehnung des Tempels als Ort der besonderen Gegenwart Gottes, von Jesaja als »Heiliger Israels« bezeichnet, zu erkennen. Das gilt auch für den am Tempel durchgeführten Opferkult, vermutlich einschließlich seiner Sühneriten. Selbst die kultische Reinheit als Zugang zum Heiligen stellt er nicht in Frage. Im Unterschied zur priesterlich-levitischen Tempelhierarchie und vermutlich auch im Unterschied zur pharisäischen Bewegung ist der Zugang zum Heiligen für ihn aber wesentlich durch ethisch-moralische Reinheit bedingt. Tempelaktion wie Tempelwort weisen darauf hin, dass der Jerusalemer Tempel wie Heiligkeitssysteme überhaupt ihre Funktion als Ort der Präsenz des Heiligen in dieser
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Welt123 verlieren können, wenn unter dem Mantel der Gottesliebe gleich ob im Opferkult oder in der Heiligung des Alltags (z.B. Händewaschen vor dem Essen) die eigene Integrität wie die Nächsten- (und Fremden-)liebe aufgegeben wird. Einen Vorrang des Religiös-Kultischen auf Kosten des Sozial-Ethischen akzeptiert Jesus, und mit ihm die Jesusüberlieferung, nicht. Er steht damit in der Tradition eines prophetischen Heiligkeitsverständnisses, das auch bestimmte priesterliche Traditionen beeinflusst hat (H in Levitikus und Sirach). Die Jesusüberlieferung in den untersuchten Texten verbindet Heiligkeit, und das bedeutet in erster Linie die Heiligkeit Gottes, mit drei Aspekten: der erste Aspekt betont die vernichtende und für Menschen wie Dämonen gefährliche Seite von Heiligkeit; der zweite Aspekt betont das aus dem ersten Aspekt erwachsende Bewusstsein einer angemessenen und respektvollen Distanz zwischen dem Heiligen und dem Nicht-Heiligen, das vom Menschen eine Vorbereitung in der Begegnung mit dem Heiligen bzw. einen bestimmten Weg zum Heiligen fordert; der dritte Aspekt betont gegenüber einer in der damaligen jüdischen Gesellschaft übermäßigen Beschäftigung mit dem kultischen Zugang zur Heiligkeit, die soziale Dimension von Heiligkeit, die nicht nur als Forderung an menschliches Handeln zu verstehen ist, sondern als imitatio [dei] eines Gottes, der durch die Geschichte hindurch und trotz der Entweihung seines heiligen Namens durch Israel immer wieder einen neuen Anfang in seiner Beziehung zu Israel setzt.
5.3 Un/verfügbar – die Heiligkeitskonzeption der synoptischen Jesusüberlieferung Anders als lange Zeit in der neutestamentlichen Exegese behauptet wurde, zeigt der vorliegende Beitrag, dass das Thema Heiligkeit in der synoptischen Jesustradition keineswegs marginal und irrelevant ist. Auch unterscheidet sich das Heiligkeitsverständnis der Jesusüberlieferung – wenn es denn doch als relevant angesehen wird – keineswegs grundlegend von zentralen jüdischen Heiligkeitskonzepten, sondern baut auf der Tradition des priesterlichen Heiligkeitsgesetzes (H in Lev 17–28) wie auf prophetischen Heiligkeitsüberlieferungen (Jesaja, Jeremia) auf und führt sie aktualisierend weiter. Die beliebte »christlich« wertende Gegenüberstellung: hier Jesus als Vertreter einer menschlich dynamischen, zugewandten Heiligkeit, dort die Vertreter der jüdischen Religion, die Heiligkeit als starres Korsett mit Abgrenzung und Absonderung von Unreinem und Sündigem verstehen, hat sich als einseitig und obsolet gezeigt. Der synoptische Jesus teilt die Heiligkeitskonzeptionen seiner Kultur und lehnt weder das Konzept von Rein und Unrein ab, noch den eng damit verbundenen Tempelkult. Beides ist für ihn Ausdruck der Unverfügbarkeit des heiligen Gottes, von dem alle menschlich-weltliche Heiligkeit abgeleitet ist. 123
Zu Tempelkonzepten im Frühjudentum vgl. Klawans (Anm. 11), 111–144.
Angelika Strotmann: Das Heiligkeitskonzept der synoptischen Jesusüberlieferung
Zugleich ist Jesu Heiligkeitsverständnis wie das des Heiligkeitsgesetzes oder prophetischer Heiligkeitsvorstellungen aufs Engste mit der Welt, mit dem Alltag und den ihm begegnenden Menschen verbunden. Denn der Gott Israels fordert sein jüdisches Volk auf, Gottes Heiligkeit nachzuahmen und in Leben und Alltag zu integrieren (»Heilige sollt ihr sein, denn heilig [bin] ich, JHWH, euer Gott.«; Lev 19,2). Eine Absonderung auf Kosten des Mitmenschen lehnt der synoptische Jesus auf Grundlage seiner Tradition ab (vgl. das Nächstenliebegebot in Lev 19,18124 und das Fremdenliebegebot in Lev 19,34). Entsprechend dieser Tradition (vgl. den Beitrag von Elisa Klapheck in diesem Band) ist auch das Heiligkeitsverständnis der Jesusüberlieferung von der Spannung zwischen Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit des Heiligen geprägt. In der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen jüdischen Heiligkeitsvorstellungen, die Abgrenzung und Distanz betonen, weist der synoptische Jesus auf die Notwendigkeit einer Integration des Heiligen in ethisch-moralisches Handeln hin, ohne Formen der Absonderung grundsätzlich zu kritisieren.
124 Zu Lev 19,18 als Basis der Jesustradition vgl. Angelika Strotmann, Die Offenheit des Nächstenliebegebotes in Lev 19,18. Mit einem Blick auf die Jesusüberlieferung, in: dies./Heinz Blatz (Hg.), »Edler Ölbaum und wilde Zweige« (Röm 11,16-24). Christlich-jüdischer Dialog auf neutestamentlicher Grundlage. Zur Erinnerung an Maria Neubrand MC (SBB 84), Stuttgart 2023, 19–42.
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Die Karriere eines substantivierten Adjektivs »Das Heilige« von der Mentelin-Bibel (1466) bis zum Manifest der kommunistischen Partei (1848)1 Martin Leutzsch
In vielen Disziplinen der Kulturwissenschaften hat »das Heilige« Konjunktur. Seit 1962 ist jährlich mindestens ein Sammelband erschienen, der »das Heilige«, »le sacré«, »il sacro«, »the sacred« zum Thema macht.2 Wann hat diese Karriere »des Heiligen« angefangen? Seit wann gibt es dieses substantivierte Adjektiv? Welche Geschichten und Diskurse verbinden sich damit? Für diese Fragen bieten die einschlägigen sprachgeschichtlichen Wörterbücher keine Information.3 Wie andere Substantivierungen hat auch das substantivierte Adjektiv »das Heilige« dort bislang keinen Platz gefunden.4 Spezialuntersuchungen
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Für Hinweise und Diskussion danke ich herzlich Margreth Egidi, Norbert Eke, Gabriele Jancke und Johannes Süßmann. – Hervorhebungen und Orthographie innerhalb von Zitaten folgen den jeweiligen Originalen. – Grammatisch maskuline soziale Rollenbezeichnungen im vorliegenden Text beziehen sich ausschließlich auf männliche Personen, innerhalb von Zitaten kann mit Unschärfen gerechnet werden, die offen lassen, ob Frauen mitgemeint oder nicht gemeint sind. Beteiligt sind Religionswissenschaft, Theologie, Philosophie, Ethnologie und Sozialanthropologie, Kunstgeschichte, Literaturwissenschaften, Medienwissenschaft, Gay and Lesbian Studies, Rechtswissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, Altertumswissenschaften, Soziologie, Archäologie. Das Deutsche Wörterbuch bringt im Eintrag »heilig« Hinweise auf »das Heilige« in deutscher Bibelübersetzung sowie ein Goethezitat (Moriz Heyne, heilig, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Vierten Bandes zweite Abtheilung 1 [1877], 827–837); eine Neubearbeitung des Buchstabens H ist für das Deutsche Wörterbuch nicht vorgesehen. Das Mittelhochdeutsche Wörterbuch (Kurt Gärtner et al. [Hg.], Mittelhochdeutsches Wörterbuch, Bd. 1: a – êvrouwe, Stuttgart 2013) ist noch nicht beim Lemma »heilig« angelangt. Unergiebig ist das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch (Ulrich Goebel/Anja Lobenstein-Reichmann/ Oskar Reichmann [Hg.], Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, bearb. von Oliver Pfefferkorn, Bd. 7, Lieferung 3: handel – heimkuh, Berlin/New York 2007). Zur Substantivierung im Deutschen vgl. Vladimir Pavlov, Deutsche Wortbildung im Spannungsfeld zwischen Lexikon und Syntax. Synchronie und Diachronie, Frankfurt a.M. u.a. 2009, 235–266, zur lexikographischen Problematik ebd., 248.
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existieren nicht.5 Fachlexika bieten zu »das Heilige« nur gelegentlich einen Eintrag.6 Ich habe daher selbst ein Corpus von Belegen erstellt und trage Vorläufiges vor. Dabei beschränke ich mich auf den deutschen Sprachraum. Epochenkonstruktionen sind immer willkürlich. Ich beginne mit den vermutlich ältesten Belegen für »das Heilige« im deutschsprachigen Buchdruck, der zugleich der Beginn des deutschsprachigen Bibeldrucks ist, und schließe mit Belegen aus dem Revolutionsjahr 1848, das politische und sozialgeschichtliche Umbrüche markiert. Wortgeschichtlich kommen um diese Zeit die Turbulenzen um »das Heilige« in den konkurrierenden Philosophien des Idealismus und seiner Ausläufer zur Ruhe.
1. »Vorhof – das Heilige – das Allerheiligste« – »das Heilige« in der Bibelübersetzung (Religiöse Vorgabe I) »Das Heilige« begegnet im Untersuchungszeitraum zuerst als Übersetzungsphänomen, das die Wortgeschichte lange Zeit dominiert. 1466 wird erstmals eine deutschsprachige Bibelübersetzung gedruckt. Der Straßburger Drucker Johannes Mentelin greift dabei auf eine Bibelübersetzung des 14. Jahrhunderts zurück. Deren Ausgangstext ist eine lateinische Bibelübersetzung vom Anfang des 5. Jahrhunderts, die Vulgata. In der Mentelin-Bibel begegnet an drei Stellen »das heilig«, jeweils als Übersetzung für sanctum (Jer 31,40; Mt 7,6; Lk 1,357 ).
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Isabella Papmehl-Rüttenauer, Das Wort HEILIG in der deutschen Dichtersprache von Pyra bis zum jungen Herder, Weimar 1937, bietet eine Handvoll Belege, ohne die Substantivierung als solche zu untersuchen. Keinen Eintrag bieten die drei Auflagen der Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, die Erstauflage von Die Religion in Geschichte und Gegenwart, die Ästhetischen Grundbegriffe. Das Stichwort »Heilig, Heiligkeit« im Historischen Wörterbuch der Philosophie konzentriert sich für die Zeit bis einschließlich Schleiermacher auf »Heiligkeit«; für »das Heilige« wird (bezogen auf den im vorliegenden Aufsatz anvisierten Berichtszeitraum) ein von Hegel rezipiertes Goethezitat gebracht (Norbert Wokart, Heilig, Heiligkeit, in: Joachim Ritter [Hg.], Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3: G–H, Darmstadt 1974, 1034–1037). Carsten Colpe, Das Heilige, in: Hubert Canik et al. (Hg.), Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Bd. 3: Gesetz – Kult, Stuttgart 1993, 80–99, 84, Anm. 7, vermutete (mit Bezug auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel, System der Wissenschaft. Erster Theil, die Phänomenologie des Geistes, Bamberg/Würzburg 1807, 74f.), Hegel habe, »[d]es deutschen Begriffes des Heiligen bewußt«, »wohl zuerst« von »dem Heiligen« gesprochen. Jer 31,40: »Das heilig des herren wirt nit ausgereutet: es wirt nit zersto(e)rt fúrbaß ewiglich.« Mt 7,6: »Nichten welt geben das heilig den hunden noch legt ewer mergriessel fur die schwein.« Lk 1,35: »Vnd dorumb das heilig das von dir wirt geborn: wirt geru(o)ffen der sun gotz.«
Martin Leutzsch: Die Karriere eines substantivierten Adjektivs
Die Wittenberger Reformatorenbibel unter Luthers Leitung (ab 1522) nutzt neben der Vulgata und anderen lateinischen Übersetzungen griechische und hebräische Ausgangstexte.8 In ihr begegnet »das Heilige« über zwanzigmal, meist da, wo die Mentelin-Bibel »heili(g)keit« bietet. Die Mentelin-Bibel gibt sanctum (oder sancta) sanctorum meist mit »heiligkeit der heiligen« wieder, die Wittenberger Reformatorenbibel hat dafür »das Allerheiligste«.9 »Das Heilige« und »das Allerheiligste« beziehen sich auf den Jerusalemer Tempel, auf einzelne Elemente der Tempelausstattung und auf Anteile an Tieropfern, die den israelitischen Priestern zum Verzehr zustanden. In den Lesungs- und Predigttexten des evangelischen Gottesdiensts taucht »das Heilige« im 16. bis 19. Jahrhundert üblicherweise nicht auf.10 Rezipiert werden konnte »das Heilige« durch außergottesdienstliche Lektüre lutherischer, reformierter und katholischer Bibelübersetzungen. Ein Fokus der Rezeption ist deutlich auszumachen: der Jerusalemer Tempel (und sein Vorbild während des Exodus, die Stiftshütte). Die Übersetzungen des 16. Jahrhunderts geben die Dreigliederung des Tempelraums (hebräisch ›ulam, hejkhal, de vir) in Anlehnung an die griechischen und lateinischen Übersetzungen mit »Vorhof«, »das Heilige« und »das Allerheiligste« wieder. Der von Salomo erbaute Tempel beschäftigt vom Hochmittelalter an die Imagination Vieler. Nur mit Hilfe der biblischen Beschreibungen, nicht archäologisch rekonstruierbar begegnet der Tempel in Bildern mit biblischen Szenen, in Plänen, in Architekturmodellen, die ausgestellt und zu denen Informationsbroschüren veröffentlicht werden. Salomos Tempel beschäftigt die Architekturtheorie und gibt Impulse für die Errichtung von Kirchen, Klöstern, Gartenanlagen.11 Seit der Antike werden die biblischen Beschreibungen und Visionen des Tempels kommentiert und interpretiert. Das Ganze und viele Einzelheiten werden allegorisch gedeutet. Dies gilt auch für die Dreiteilung »Vorhof – Heiliges – Allerheiligs8
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Zur Wittenberger Reformatorenbibel vgl. Martin Leutzsch, Luthers Bibelübersetzung. Mythen und Fakten – Strukturen und Funktionen – Verharmlosungen, in: Richard Faber/Uwe Puschner (Hg.), Luther zeitgenössisch, historisch, kontrovers, Frankfurt a.M. u.a. 2017, 447–464. »Das Allerheiligste« ist eines von vielen mit »aller-« gebildeten Komposita in Luthers Wortschatz; vgl. Philipp Dietz, Wörterbuch zu Dr. Martin Luthers deutschen Schriften. Erster Band (A–F), Leipzig 1870. Das Mittelhochdeutsche Wörterbuch kennt nur Belege, die sich auf den kirchlichen Feiertag »Allerheiligen« beziehen (Gärtner et al. [Hg.] [Anm. 3], 154). Zur Geschichte der gottesdienstlichen Perikopenordnungen vgl. Herwarth von Schade, Perikopen. Gestalt und Wandel des gottesdienstlichen Bibelgebrauchs, Hamburg 1978. Vgl. dazu u.a. Michael Korey/Thomas Ketelsen (Hg.), Fragmente der Erinnerung. Der Tempel Salomonis im Dresdner Zwinger. Facetten und Spiegelungen eines barocken Architekturmodells und eines frühen jüdischen Museums, Berlin/München 2010; Paul von Naredi-Rainer, Salomos Tempel und das Abendland. Monumentale Folgen historischer Irrtümer, Köln 1994; Helen Rosenau, Vision of the Temple. The Image of the Temple of Jerusalem in Judaism and Christianity, London 1979; Bernd Vogelsang, »Archaische Utopien«. Materialien zu Gerhard Schotts Hamburger »Bühnenmodell« des Templum Salomonis, Köln 1981.
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tes«. Sie beinhaltet eine zunehmende Zugangsbeschränkung: Der Vorhof ist für die Israeliten reserviert, das Heilige für die Priester; das Allerheiligste wird einmal im Jahr vom Hohenpriester betreten. Die dreiteilige räumliche Struktur des Tempels konnte anthropologisch, kosmologisch, ekklesiologisch, theosophisch umgedeutet werden.12 Sie konnte Leib, Seele und Geist des Menschen symbolisieren13 oder die äußerliche, die streitende und die triumphierende Kirche14 oder die Welt, Christus und die Menschheit;15 die Kirche als Vorhof führt zum Heiligen, Christus, und dieser zu Gott und zur himmlischen Welt.16 »Das Heilige« konnte mit dem Gewissen identifiziert werden.17 Räumliche Sakralität wird in andere Formen von Sakralität transformiert. Solche allegorischen Deutungen werden in unterschiedlichen Textsorten vorgetragen, unter anderem in Predigten.18
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Eine frühe kosmologische Deutung bietet Flavius Josephus, Antiquitates Iudaicae 3, 181, für den das Heilige das allen Menschen zugängliche Land und Meer, das den Priestern vorbehaltene Allerheiligste den Himmel symbolisiert. Vgl. Martin Luther, Das Magnificat Vorteutschet und außgelegt, Vuittemberg 1521, bij(v). Rezeption u.a. bei Philipp Jacob Spener, Theologische Bedencken / Und andere Brieffliche Antworten auf geistliche / sonderlich zur erbauung gerichtete materien / zu unterschiedenen zeiten aufgesetzet / endlich auf langwieriges Anhalten Christlicher Freunde in einige Ordnung gebracht / und nun zum dritten mal heraus gegeben. Erster Theil, Halle 1712, 180; ders., Der Evangelische Glaubens-Trost / aus den Göttlichen wolthaten und schätzen der seligkeit in Christo / in einem jahr-gang der predigten über die ordentliche Sonn-und Fest-tägliche Evangelia in der furcht des Herrn gezeiget und vorgetragen / auch auf mehrer gottseliger hertzen verlangen zum truck überlassen, Franckfurt am Mäyn 1695, 182f. Vgl. Vuolfgangus Sedelius, De templo Salomonis mystico tractatus insignis. St. Victor prope Moguntiam 1548; Salomon van Til, Commentarius de Tabernaculo Mosis, Ad Exod. XXV.–XXX. Et Zoologia sacra […], Dordraci/Amstelodami 1714. Vgl. Valentinus Weigelius [= Benedikt Biedermann], Moise Tabernacvlvm cum suis tribus partibus Zum ΓΝΩΘΙ ΣΕΑΥΤΟΝ Führende / auß Rechten Apostolischen Fundament tractirt vnnd erkelret [sic!] […], Newstatt 1618. Den Verfasser dieses pseudoweigelianischen Traktats identifizierte Fritz Lieb (Valentin Weigels Kommentar zur Schöpfungsgeschichte und das Schrifttum seines Schülers Benedikt Biedermann. Eine literarkritische Untersuchung zur mystischen Theologie des 16. Jahrhunderts, Zürich 1962, 47–152) als Weigels Schüler Benedikt Biedermann. Vgl. Johannes Majer, ΧΡΙΣΤΟΓΝΩΣΙΑ: Das ist: Wer GOTT erkennt / JESUM bekennt / Dem will GOTT geben / Das Ewig Leben. Aus den Worten vnsers Heylands / Joh: 17.V.3. Das ist das Ewige Leben / daß sie dich / daß du allein warer Gott bist / vnd den du gesandt hast / Jesum Christ / erkennen. Inn einer ProbPredigt einer Christlichen Gemein zu Geildorff einfältig erklärt, Nördlingen 1636, 14–16. Vgl. Paul Felgenhauer, Das Geheymnus Von Tempel des Herrn in seinem Vorhof, Heyligen vnd Allerheyligsten. In drei vnterschieden theilen […]. [Amsterdam] (3 Teile mit jeweils eigener Paginierung) 1631, 118 (zweite Paginierung). So Majer (Anm. 16).
anthropologisch
Luther 1521; Sturm (bei Rieger 1732)
Leib
Seele; Gewissen
Geist; Seele
Beleg z.B.
Vorhof
das Heilige
das Allerheiligste
Tabelle 1
triumphierende Kirche
streitende
äußerliche
van Til 1714; auch Sedelius (Seydel) 1548
ekklesiologisch I
Menschheit
Christus
Welt
Pseudo-Weigel (1618) (= Biedermann)
theosophisch I
Gott
Christus
Kirche
Majer 1636
soteriologisch
höchster Sinn
innerer Sinn
Buchstabensinn
Swedenborg 1749ff.
hermeneutisch
pneumatische Welt
intellektuelle Welt
Körperwelt
Eckartshausen 1796
theosophisch II
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Begriffs- und Wortfelder
Die Hermeneutik der Aufklärung distanziert sich von allegorischen Deutungsverfahren. Deshalb findet ein pietismuskritischer Pfarrer Ende des 18. Jahrhunderts die anthropologische Tempeldeutung einer 1730 verstorbenen Pietistin unplausibel.19 Doch bis weit ins 19. Jahrhundert werden Stiftshütte und Tempel weiter allegorisiert: in Esoterik,20 erbaulicher Literatur21 und Universitätstheologie.22
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22
Vgl. Christian Friedrich Duttenhofer, Würtembergische Heiligen-Legende oder das Leben der heiligen Tabea von Stuttgard, als ein Belege zu Herrn Pred. Duttenhofers Untersuchungen über Pietismus und Orthodoxie. Nebst einem Anhang von der heiligen Paula, Halle 1789, 98–105, 103, Anm. g. Die Kritisierte ist Beata Sturm, deren Tempelallegorie Rieger abdruckt. [Georg Conrad Rieger,] Die Würtembergische Tabea, Oder Das Merckwürdige äussere und innere Leben und seelige Sterben Der Weyland Gottseeligen Jungfrauen / Beata Sturmin, Welche den 11. Jan. 1730. zu Stuttgardt im Hertzogthum Würtemberg durch einen seeligen Tod ist vollendet worden, Aus eigenem Umgang und Erfahrung wahrgenommen, in der Furcht des HErrn unpartheyisch abgefaßt, zur Offenbahrung der herrlichen Gnade GOttes und Preiß des Nahmens JESU CHristi, wohlmeynend mitgetheilet. Von Etlichen der Seeli-gen wolbekanten Freunden, Stuttgart 2 1732, 142–147 [Paginierung z.T. fehlerhaft]. Vgl. z.B. Immanuel von Swedenborg, Himmlische Geheimnisse, welche in der Heiligen Schrift oder in dem Worte des Herrn enthalten, und nun enthüllt sind. Hier, was in dem Ersten Buche Mosis. Zugleich die Wunderdinge, welche gesehen und gehört worden sind in der Geisterwelt und im Himmel der Engel. Aus der lateinischen Urschrift übersetzt. Sechster Band, Basel/Ludwigsburg 1866, 84 (Buchstabensinn, innerer Sinn, höchster Sinn); Karl von Eckartshausen, Die wichtigsten Hieroglyphen fürs Menschen-Herz, Leipzig 1796, 227f. (Körperwelt, intellektuelle Welt, pneumatische Welt). Knapp z.B. bei Friedrich Reinhold Hasert, Leben, Seele, Gott in ihrem innersten Heiligthume aufgesucht und in ihren wesentlichsten Offenbarungen zusammenhängend dargestellt, Nürnberg 1839, viiif. (Lutheraner); sehr ausführlich Georg Karch, Die mosaische Stiftshütte als Abbild des Himmels in den acht Seligkeiten nach den vier Gesetzen des Sabbath- und Jubeljahres dargelegt. Erster Theil: Bisherige Auffassung der acht Seligkeiten; Reihefolge derselben; die vier Gesetze des Sabbathjahres verdoppelt nach den höheren und niederen Ständen; die messianisch-politische Bedeutung dieser Jahre, Würzburg 1875; ders., Die mosaische Stiftshütte als Abbild des Himmels in den acht Seligkeiten nach den vier Gesetzen des Sabbath- und Jubeljahres dargelegt. Zweiter Theil: Die Stiftshütte an sich; Würdigung der verschiedenen, verfehlten Auslegungen darüber; das christliche Gotteshaus; der Tempel Gottes im Herzen; ob und wie das Eine Heiligthum mit dem Vorhofe, dem heiligen und Allerheiligsten auf die heil. Dreifaltigkeit hinweisen könne, Würzburg 1876; ders., Die mosaische Stiftshütte als Abbild des Himmels in den acht Seligkeiten nach den vier Gesetzen des Sabbathund Jubeljahres dargelegt. Dritter Theil: Der altar des Vorhofs und das Heilige der Hütte, umschrieben in den ersten vier Seligpreisungen, Würzburg 1876; ders., Die mosaische Stiftshütte als Abbild des Himmels in den acht Seligkeiten nach den vier Gesetzen des Sabbath- und Jubeljahres dargelegt. Vierter Theil: Das Allerheiligste im II. Theile der Seligkeiten nebst dem Becken des Vorhofes und mit bezüglichen Exkursen über Salomons Tempel, über die Opfer und die Priesterkleidung, Würzburg 1876 (Katholik). Vgl. z.B. Carl Christian Wilhelm Felix Bähr, Der Salomonische Tempel mit Berücksichtigung seines Verhältnisses zur heiligen Architectur überhaupt, Karlsruhe 1848, 65–90 (Überblick über verschiedene Deutungen).
Martin Leutzsch: Die Karriere eines substantivierten Adjektivs
Das ist nicht zufällig. Denn zeitgleich mit Deallegorisierungsstrategien wird der Tempel im 18. und frühen 19. Jahrhundert symbolisch und allegorisch neu aufgeladen. Er kann nun Modell für sukzessive Initiation23 oder Symbol für Barrieren gesellschaftlichen Fortschritts sein.24 Die Freimaurer verbreiten sich im christlichen Europa des 18. Jahrhunderts schnell und weit. Sie beziehen sich in ihrem Ursprungsmythos auf den Salomonischen Tempel und seine Bauleute.25 In maurerischen Ritualen spielt der dreigliedrige Tempelraum eine wichtige Rolle. »Das Heilige« begegnet in maurerischen Liedern, Reden und Publikationen. Zahlreiche Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts, die »das Heilige« verwenden, sind Freimaurer. Einer von ihnen, ein dichtender Jurist, veröffentlicht 1797 den ersten mir bekannten Text, in dessen Titel »das Heilige« begegnet. Mit der Unterscheidung von Heiligem und Heiligstem greift er die salomonische Tempelstruktur auf und formt sie um: Das Heilige und das Heiligste. Was ist heilig? das ists, was viele Seelen zusammen Bindet, bänd es auch nur leicht, wie die Binse den Kranz. Was ist das Heiligste? das, was heut und ewig die Geister Tiefer und tiefer gefühlt, immer nur einiger macht.26 23
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25
26
Vgl. z.B. Wilhelm Martin Leberecht de Wette, Vorlesungen über die Sittenlehre. Erster Theil. Die allgemeine Sittenlehre, Berlin 1823, 99f. (Gang vom Vorhof der Sittenlehre ins Heilige [Tugendlehre] und dann ins Allerheiligste [Frömmigkeit]). Vgl. Christian Friedrich Daniel Schubart, Originalien, Augsburg 1780, 197: »Der Adel war vormals die Brustwehr gegen den Despotismus, den Grössere einführen wollten. Der Adel ist jezt nur noch die Scheidewand zwischen Thron und Volkshütten, oder Vereinigungsband, Communikationsbrücke, das Heilige im Tempel des Staats, durch das man ins Allerheiligste den nächsten Weg kommt. Der Adel, der die Rechte des Volks und der Fürsten auf gleicher Wage wiegt, gleicht einer goldnen Achse, um die sich die öffentliche Glückseligkeit dreht.« Vgl. Alex Horne, King Solomon’s Temple in the Masonic Tradition, Wellingborough 1972; Wolfgang Kelsch, Der Salomonische Tempel. Realität – Mythos – Utopie, in: Quatuor Coronati Jahrbuch 19 (1982), 107–197; Dieter A. Binder, Das Symbol des salomonischen Tempels in der Freimaurerei. Einige Anmerkungen, in: Gerhard Larcher (Hg.), Gott-Bild. Gebrochen durch die Moderne? Für Karl Matthäus Woschitz, Graz/Wien/Köln 1997, 173–181; ders., Die Freimaurer. Geschichte, Mythos und Symbole, Wiesbaden 2009, 12–18, 105, 108; Bibliographie: August Wolfstieg, Bibliographie der freimaurerischen Literatur, Bd. 2, Burg b.M. 1912, Nr. 32785–32790, 32793–32852. Johann Wolfgang von Goethe, Das Heilige und das Heiligste, in: Friedrich Schiller (Hg.), Musen-Almanach für das Jahr 1797 (Tübingen), 41. Verortung im Freimaurer-Kontext: Gotthard Deile, Goethe als Freimaurer, Berlin 1908, 137. Freimaurerische Rezeption: Gustav Hecke, Modern-freimaurerische Bekenntnisse. Beiträge zur Welt- und Lebensanschauung, Braunschweig 1906, 221. Zur Rezeption von Hegel s.u. Eine weitere Rezeption bietet Christian August Heinrich Clodius, Christus und die Vernunft oder Gott in der Geschichte und im Bewußtsein allgemeinfaßlich dargestellt. Zweyter Theil. Gott im Bewußtseyn (Zweiter Abschnitt), Leipzig 1822, 863. Goethe kann auch den Tempel der Athene (bei Goethe: Minerva) in Athen metaphorisch nutzen (vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Einleitung, in: ders. [Hg.], Propy-
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2. »Das Heilige den Heiligen« – »das Heilige« als Sakrament (Religiöse Vorgabe II) Seit der Antike wird das Abendmahl in christlichen Texten als »das Heilige« bezeichnet.27 Im Berichtszeitraum teilen Geistliche und Laien konkurrierender Konfessionen diesen Sprachgebrauch,28 der auch auf andere Sakramente ausgeweitet werden kann.29 In Zürich sorgt 1776 vergifteter Abendmahlswein für einen Skandal und europaweit für Aufsehen.30 Aus diesem Anlass schleudert ein reformierter Prediger vor Ort dem unbekannten Täter von der Kanzel entgegen: Dein Angesicht erröthe, so oft du deinen Namen nennen, und das Mark deiner Gebeine zittere, wenn du von Wein, oder Kelch, oder Eßig, oder Laim, oder Kanne, oder Abendmahl – oder von etwas reden hörst – was du entheiligtest, oder, womit du das Heilige entheiligtest.31
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läen. Eine periodische Schrifft. Ersten Bandes Erstes Stück, Tübingen 1798, iii–xxxviii, iiif.), wobei er mit Stichworten wie »Vorhöfe« und »innerstes Heiligthum« zugleich Assoziationen zum biblischen Tempelmodell herzustellen erlaubt. Vgl. inhaltlich Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Berlin 1799, 237: »Euch angeregt haben zu einem innigeren Anschaun unsres Seins und Werdens; ob Ihr aus dem höheren Standpunkt, den ich Euch gezeigt habe, in jener so sehr verkannten erhabneren Gemeinschaft der Geister, wo Jeder den Ruhm seiner Willkühr, den Alleinbesiz seiner innersten Eigenthümlichkeit und ihres Geheimnisses Nichts achtend, sich freiwillig hingiebt um sich anschauen zu laßen als ein Werk des ewigen und Alles bildenden Weltgeistes – ob Ihr in ihr nun das Allerheiligste der Geselligkeit bewundert, das ungleich Höhere als jede irdische Verbindung, das Heiligere als selbst der zarteste Freundschaftsbund sittlicher Gemüther; ob also die ganze Religion in ihrer Unendlichkeit in ihrer göttlichen Kraft Euch hingerißen hat zur Anbetung; darüber frage ich Euch nicht, denn ich bin der Kraft des Gegenstandes gewiß der nur frei gemacht werden durfte, um auf Euch zu wirken.« Zuerst Anfang des 2. Jahrhunderts in der Mt 7,6-Rezeption in Didache 9,5. Vgl. weiter z.B. Brigitte Proksch, Christus in den Schriften Cyprians von Karthago, Wien/Berlin 2007, 219f. (für Cyprianus). Katholischer Laie: Adamus à Lebenwaldt, Land-Stadt- Und Hauß-Artzney-Buch […], Nürnberg 1695, 100. Reformierter Theologe: Jacob Christoff Iselin, Neu-vermehrtes Historisch-und Geographisches Allgemeines Lexicon […]. Erster Theil, Basel 1726, 106. Katholischer Theologe: Joh[ann] Bapt[ist] Lüft, Liturgik oder wissenschaftliche Darstellung des katholischen Cultus. Zweiter Band, Mainz 1847, 435. Vgl. den lutherischen Theologen Jeremias Homberger, Senffkörnlein vnsers Herren Jesu Christi / Das ist: Kurtzer vnterricht / von allen Hauptstücken der Christlichen Lehre / wie die ordentlich zusam(m)en gefasset / vnd in die drey Artickel vnsers Christlichen Glaubens bekanntniß / Symbolum Apostolicum genannt / richtig vnnd füglich eyngetheilt / vnd nach notturfft erkläret sind […], Franckfurt am Mayn 1588, 180v–181r (Taufe). Vgl. Jeffrey Freedman, A Poisoned Chalice, Princeton/Oxford 2002. Johann Caspar Lavater, Der Verbrecher ohne seines gleichen, und sein Schicksal. über Psalm XXXVII. v. 10–15. den 29 Herbstmonat 1776. auf Hochobrigkeitlichen Befehl, bey Anlaß der
Martin Leutzsch: Die Karriere eines substantivierten Adjektivs
Als Heiliges kommt das Abendmahl nur den dafür hinreichend Vorbereiteten zugute: ta hagia tois hagiois – diese spätantike Kurzformel32 wird im 16. Jahrhundert als »das Heilige den Heiligen« eingedeutscht.33 Sie steht noch um 1800 im Zentrum katholischer und evangelischer Abendmahlspredigten. Im Abendmahl wird Materie in Leib und Blut Christi verwandelt34 oder dient als Symbol dafür. Die Geschichte der Kirchenspaltungen ist immer auch eine Geschichte konkurrierender Abendmahlspraktiken und -deutungen. Mit Häretikern, religiösen Feinden im eigenen Lager, will man nicht gemeinsam essen, schon gar nicht das heilige
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in der Nacht am 12 Herbstmonat vor dem allgemeinen Buß- und Bethtage in der Großmünster-Kirche verübten Greuelthat, der Vergiftung des heiligen Nachtmahlweins, Schaffhausen 1776, 43. Vgl. Kyrillos von Jerusalem, Mystagogicae Catecheses 5,19 (ders., Catéchèses mystagogiques. Introduction, texte critique et notes [Sources Chrétiennes 126], hg. von Auguste Piédagnel, Paris 2 2009, 168); Constitutiones Apostolicae 8,13,12 (Franciscus Xaverius Funk [Hg.], Didascalia et Constitutiones Apostolorum. Volumen 1, Paderbornae 1905, 516f.). Deutsch bei den Lutheranern Erasmus Sarcerius, Hausbuch Fur die Einfeltigen Hausueter / von den vornemesten Artickeln der Christlichen Religion / darinnen der Evangelischen Christen / vnd der Gottlosen Papisten lehren gegen einander gehalten werden / vnd beider beweis / aus der Schrifft / vnd aus der Veter sprüchen / mit widerlegunge der Papistischen Lehre / Schrifften vnd Spru(e)che […], o.O. 2 1555, ccv(v), und Christofferus Vischer, Auslegung der fünff Heubtstück des heiligen Catechismi, Schmalkalden 1573, unpaginiert (50. Predigt), sowie bei dem Katholiken Mauritius Nattenhusanus, Homo simplex et rectus, Oder / der alte redliche Teutsche Michel / Das ist: Sittliche / auß Göttl. H. Schrifft / mit anmuthigen Historien / schönen Gleichnussen / nutzlichen Moralien, und Sprüchen der HH. Vättern verfaßte Fest- und Feyrtägl. Predigen. Von Allen lieben Heiligen Gottes durch das gantze Jahr / sambt einer gantzen Octav von dem hochwürdigisten Sacrament des altars / wie auch von den 7. Worten Christi des HErrn an dem Creutz / und unterschidlichen Ordens-Stifftern. Allen und jeden der Alten teutschen Einfalt und Redlichkeit Liebhabern zu Trost / und dann allen eifrigen Seelen-Hirten und Predigern des Worts Gottes zum Beyhilf zusamen getragen. Erster Theil. Vber die Fest / und Feyrta(e)g des gantzen Jahrs, Augspurg 1701, 489. Vgl. auch Osvaldus Crollius, Basilica Chymica oder Alchymistisch Königlich Kleynod: Ein Philosophisch / durch sein selbst eigne erfahrung confirmirte und bestättigte Beschreibung vnd gebrauch der aller fürtrefflichsten Chimischen Artzneyen so auß dem Liecht der Gnaden vnd Natur genommen / in sich begreiffent. Beneben angehengtem seinem newen Tractat von den innerlichen Signaturn oder zeichen der dinge, Franckfurt 1623, 4 (das Heilige den Heiligen = Osualdus Crollius, Basilica Chymica continens. Philosophicam propriâ laborum experientiâ confirmatam descriptionem et usum Remediorum Chymicorum Selectissimorum é Lumine Gratiae et naturae desumptorum. In fine libri additus est Autoris ejusdem Tractatus Nouus de Signaturis Rerum Jnternis, o.O. 1609, 6: ta hiera hierois). Die mittelalterliche Theologie nannte diesen Vorgang zunächst transformatio. Dann setzte sich transsubstantiatio dafür durch. Im Prozess der westlichen Kirchenspaltungen des 16. Jahrhunderts verwendeten reformierte Theologen erneut transformatio, um sich gegen den nun konfessionell verstandenen Transsubstantiationsbegriff abzugrenzen.
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Essen,35 weil die Häretiker es falsch praktizieren und interpretieren. Im 16. Jahrhundert treten römisch-katholische, lutherische und reformierte Abendmahlsdeutungen zueinander in Konkurrenz. Der gegenseitige Vorwurf ist: Das Heilige wird falsch verstanden, behandelt, prozessiert. Katholische Predigt betont, das außerhalb der katholischen Kirche gespendete Heilige sei unwirksam und anmaßend, weil die Austeilenden nicht geweiht seien.36 Die katholische Kirche ist es auch, die im Konzil von Trient festgelegt hatte, dass das Heilige heilig verwaltet werden müsse (sancta sancte administrari).37 Dies wird in der Folgezeit Priestern und Gemeindegliedern immer wieder als Verhaltensanforderung vorgehalten.38 35 36
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Vgl. Manfred Josuttis/Martin Gerhard Marcel (Hg.), Das heilige Essen. Kulturwissenschaftliche Beiträge zum Verständnis des Abendmahls, Stuttgart/Berlin 1980. Vgl. Lucianus Montifontanus, Geistliches Kinder-Spill / Das ist: Drey hundert Sechs und zwaintzig Neue Predigen Uber den kleinen Catèchismum R. P. Petri Canisii S. J. in vier Theil abgetheilt. Ersten Theils Drey und achtzig Predigen uber das erste und andere Haupt-Stuck des Catechismi von dem Glauben und siben H. H. Sacramenten. Allen Seelsorgeren zu verlangendem Gebrauch / jungen und alten Zuhöreren zu sonderem Underricht gestellt, Constanz 1707, 469f. Vgl. Heinrich Denzinger/Peter Hünermann (Hg.), Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum. Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, Freiburg u.a. 37 1991, 564, Nr. 1745 (22. Sitzung, 17. September 1562: Lehre und Kanones über das Messopfer, Kap. 4: Der Kanon der Messe): »Et cum sancta sancte administrari conveniat, sitque hoc omnium sanctissimum sacrificium: Ecclesia catholica, ut digne reverenterque offerretur ac perciperetur, sacrum canonem multis ante saeculis instituit, ita ab omni errore purum [can. 6], ut nihil in eo contineatur, quod non maxime sanctitatem ac pietatem quandam redoleat mentesque offerentium in Deum erigat. Is enim constat cum ex ipsis Domini verbis, tum ex Apostolorum traditionibus ac sanctorum quoque Pontificium piis institutionibus.« Entsprechend im Catechismus Romanus (Pius Quintus (Hg.), Catechismus, Ex Decreto Concilii Tridentini, ad parochos. Romae 1566, 94f.) : »Sancta enim, quod semel atque iterum ac saepius admonere oportet, sancte, & religiose tractanda sunt.« Vgl. z.B. Leo Wolff, Rugitus Leonis, Geistliches Löwen-Brüllen. Das ist: Lob-schuldigste Ehren-Predigen / Auf alle Fest-Täg / So in der Römisch-Catholischen Kirchen durch das gantze Jahr feyerlich begangen werden. In welchen (und zwar meistentheils zweyen Predigen) das Wunder-heilige Leben / Christ-Ritterliche Kämpffen / glorwürdige Obsiegen im Leyden und Sterben der außerwöhlten Heiligen Gottes vorgetragen wird. Umb alle Christglaubige zur tapfferen Nachfolg im Streiten wider die allgemeine Seelen-Feind / Welt / Fleisch / Teuffel und die Sünd auffzumuntern. Auch mit klaren Stellungen der H. Schrifft / Lehr-reichen Sprüchen der HH. Vätter: Raren Antiquitäten: schönen Symbolischen Gleichnussen: bewährten Historien wohl eingerichtet; Und mit sechs unterschiedlichen Registern versehen. Erster oder Winter-Theil, Augspurg 1705, 255–257; Casimirus Moll, Concionator dominicalis, catechetico-moralis. Das ist: Der Glaub- und Sitten-lehrende Sonntags-Prediger. Der anderte Jahr-Gang / In sich begreiffend Das vierte und fünffte Haupt-stuck Deß allgemeinen Catholischen Catechismi Petri Canisii. Soc. Jesu. Nemlich: Vom Heil. Vatter Unser: mit angehenckten Englischen Gruß, und von Christlicher Gerechtigkeit. In welchem Der Ordnung nach auf
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3. »Das Heilige« oder »das Fromme«? – Theosophische Verwendungsweisen und weitere Übersetzungsimporte Ich übergehe die vom 16. bis zum 19. Jahrhundert punktuell begegnenden Verwendungsweisen von »das Heilige« in der esoterischen, insbesondere der theosophischen Literatur, die in der Regel auf Bibelauslegung beruhen, weil ihre Komplexität im Rahmen dieser Skizze nicht angemessen entfaltet werden kann. Ein einflussreicher Autor – Emmanuel Swedenborg – wurde aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt, wobei aus sanctum »das Heilige« wird.39 Über die Bibelübersetzung hinaus kommt »das Heilige« auch sonst in Dutzenden von deutschen Übersetzungen aus anderen Sprachen vor.40 Wortgeschichtlich interessant ist ein Dialog Platons, Euthyphron, in dem es um die Definition des griechischen Substantivs hosiotes geht.41 Von 1778 bis 1811 wird dieser Text sechsmal ins
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einen jeden Sonntag deß Jahrs die in obbenennten unsern allgemeinen Teutschen Catechismo begriffene so wohl nothwendig, als nutzliche Glaubens-Puncten / klar / gründlich und ordentlich außgeführet / und mit eingemischten Moral- oder Sitten-Lehren / nebst vorgehender kurtzer Außlegung deß Heil. Evangelii in einer gestalteten Predig vorgetragen. Zu Hilff nit allein deren Pfarr-Herren / Vicarien / Seel-Sorgern / und Predigern: sondern auch zu besondern Nutz und Guten beyderley Geschlechts frommer Christglaubig-Catholischer Hertzen anfänglich auf der Cantzel vorgetragen; nachgehends mit sonderm Fleiß verbessert / zusamm getragen / und auf Begehren in Druck gegeben […], Augspurg 1738, 46f.; Bernard Galura, Die Ehre der heiligen Messe, oder der richtigste Begriff vom beständigen Opfer des neuen Testamentes. Für Christen, welche dem Andenkensopfer des Todes Jesu mit Verstande und Nutzen beywohnen wollen, Augsburg 1799, 149; Andre Reichenberger, Pastoral-Anweisung zum akademischen Gebrauche. Zweyter Theil, Wien 1812, 160f.; Joseph Valentin Paur, Vorschule der Aesthetik, nebst einigen Vorlesung in Leipzig über die Parteien der Zeit. Erste Abtheilung, Hamburg 1834, 17. Vgl. z.B. Immanuel Swedenborg, Göttliche Offenbarungen, bekannt gemacht durch […]; aus der lateinischen Urschrift verdeutscht von D. Johann Friedrich Immanuel Tafel. Zweiter Band, oder zweites bis fünftes Werk, und zwar: 2.) Die Lehre des Neuen Jerusalems von der heiligen Schrift, 3.) die Lebenslehre für das Neue Jerusalem, 4.) die Lehre des Neuen Jerusalems vom Glauben, und 5.) Vom Jüngsten Gericht und dem zerstörten Babylonien; nebst einer Vorrede, Anmerkungen, Registern und Beilagen vom Uebersetzer, Tübingen 1824, 55–57, 113, 169, 173, 199, 254, 372. Für den Berichtszeitraum kenne ich (ohne systematische Suche) derzeit etwa 50 einschlägige deutsche Übersetzungen aus griechischen, englischen, niederländischen, lateinischen, italienischen, französischen, arabischen, dänischen, schwedischen Texten. Zur Analyse von hosios/hosiotes im klassischen Griechisch vgl. jetzt besonders Saskia Peels, Hosios. A Semantic Study of Greek Piety, Leiden/Boston 2016 (mit wichtigen Korrekturen gegenüber der bisherigen Forschung, allerdings ohne kritische Reflexion des von ihr benutzten Konzepts piety). Für den Sprachgebrauch der Septuaginta vgl. die Bibliographie in Johan Lust/Erik Eynikel/Katrin Hauspie (Hg.), Greek-English Lexicon of the Septuagint, Stuttgart 2 2003, 447f. Für die römische Kaiserzeit vgl. Marijana Ricl, Hosios kai Dikaios, Bonn 1992. –
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Deutsche übersetzt. Dabei wird bis 1803 die Wiedergabe von hosiotes mit »das Heilige« bevorzugt,42 und diese Interpretation inspiriert einen Gymnasiasten zu einer Euthyphron-Imitation.43 Schleiermacher und eine anonyme Übersetzung wechseln zu »das Fromme«.44
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Der Schriftsteller Raoul Schrott bezieht hosios in seine Ausführungen über »das Heilige« ein: Raoul Schrott, Weissbuch, München/Wien 2004, 9; seine Gewissheit bezüglich der Etymologie von hosios folgt einer von zwei Hypothesen, die in der Forschung erwogen werden; Peels (s.o., 1 mit n. 2.) führt den Nachweis, dass beide Hypothesen nicht stichhaltig sind. hosiotes = »das Heilige«: [Johann Friedrich Kleuker (Übers.)] Werke des Plato. Erster Band, der eine Anzahl philosophischer Gespräche enthält, Lemgo 1778 (= Sämmtliche Gespräche des Platon, übers. von Herrn Kleuker, Vierter Theil, Wien/Prag 1804; nachgedruckt von Fri[e]dr[ich] Wilh[elm] Jon[athan] Dillenius, Platonianische Chrestomathie, Griechisch und Deutsch, mit Critischen und Philologischen Anmerkungen. Ein Lesebuch für Jünglinge, Winterthur 1782); Friederich Ludwig Röper, Blumenlese aus den Weisen des Alterthums für Freunde der Religion und der Tugend. Zweiter Band, Neustrelitz 1797; Friedrich Ast, Euthyphron. Ein platonisches Gespräch, übersetzt mit Anmerkungen, in: Philologie, Eine Zeitschrift. Zweites Stük, Stuttgart 1803, 219–263 (eine handschriftliche Fassung von Asts Übersetzung befindet sich im Nachlass von Friedrich Schlegel, vgl. Hermann Patsch, Friedrich Asts ›Euthyphron‹-Übersetzung im Nachlaß Friedrich Schlegels. Ein Beitrag zur Platon-Rezeption in der Frühromantik, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1988, 112–127). – Die Vulgata hatte das hosios der Septuaginta und des griechischen Neuen Testaments mit sanctus wiedergegeben, weshalb die Übersetzung von hosios mit »heilig« im 16. Jahrhundert z.B. bei Martin Luther und Georg Witzel begegnet. Ungedruckte Euthyphron-Imitation (De constantia sermo Socraticus) des späteren lutherischen Theologen Carl Immanuel Nitzsch von 1804: Übersetzung in Willibald Beyschlag, Karl Immanuel Nitzsch. Eine Lichtgestalt der neueren deutsch-evangelischen Kirchengeschichte, Berlin 1872, 22f. Das Manuskript befindet sich in Nitzschs Nachlass in der Universitätsbibliothek Halle. URL: http://sundoc.bibliothek.uni-halle.de/nachlaesse/nitzsch/manus.htm [letzter Zugriff: 14.05.2023]. – Vgl. auch die »das Heilige« thematisierende Imitation eines platonischen Dialogs bei Georg Heinrich Ludwig Nicolovius, Sokrates. An E*** S**, in: Johann Georg Jacobi (Hg.), Ueberflüßiges Taschenbuch für das Jahr 1800, Hamburg 1800, 115–122. hosiotes = »das Fromme«: Friedrich Schleiermacher (Übers.), Platons Werke. Ersten Theiles zweiter Band, Berlin 1805 (»fromm« und »Frömmigkeit« sind zentrale Konzepte in Schleiermachers Der christliche Glaube, vgl. ders., Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Erster Band, Berlin 1821, 8–22, 173–175 u.ö.; dazu Christian Albrecht, Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit. Ihr wissenschaftlicher Ort und ihr systematischer Gehalt in den Reden, in der Glaubenslehre und in der Dialektik [Schleiermacher-Archiv 15], Berlin/New York 1994); [anonym übers.], Platons Euthyphron, in: Neues Attisches Museum. Dritter Band. Drittes Heft (1811), 85–148; Wilhelm David Fuhrmann (Handbuch der Classischen Literatur der Griechen, oder Anleitung zur Kenntniß der Griechischen Classischen Schriftsteller, ihrer Schriften und der besten Ausgaben und Uebersetzungen derselben. Zum Gebrauche der Schullehrer, der Studierenden auf Gymnasien und Universitäten, und aller Freunde der class. Literatur. Zweiten Bandes erste Abtheilung, Halle 1807, 284f.) sieht in Platons Dialog die Frömmigkeit erörtert und betont, dem Verfasser sei es »nicht um die philosophische Bestimmung des Begriffs vom Heiligen zu thun« (285). Doch sehen Clodius (Anm. 26, 864) und Karl Moriz Eduard Fabritius (Über den herrschenden Un-
Martin Leutzsch: Die Karriere eines substantivierten Adjektivs
Tabelle 2
hosios
»das Heilige« in anderen Texten des Übers.
Euthyphron oder vom Heiligen
das Heilige
1786; 1818
Friedrich Wilhelm Jonathan Dillenius 1782 (= Kleuker)
Euthyphron, oder vom Heiligen
das Heilige
Johann Georg Schlosser 1787
Euthyphron
Gottselig
Friederich Ludwig Röper 1797
Eutyphron oder von dem Heiligen und dem Gottesdienste
das Heilige
Friedrich Ast 1803
Euthyphron
das Heilige
1804; 1809; 1813; 1817
Friedrich Schleiermacher 1805
Euthyphron
das Fromme
1799, 1800, 1815, 1824/25 (ediert 1843)
Anonym 1811
Euthyphron
das Fromme
Text
Euthyphron ou peri hosiotetos
Johann Friedrich Kleuker 1778 = 1804
1788
4. »Das Heilige sei mein Wort« – Literatur, Malerei, Musik (Ästhetische Diskurse I) Die Euthyphron-Übersetzungen stammen aus einer Zeit, in der »das Heilige« über den Bezug auf Tempel und Abendmahl hinaus christliche Mythen und Themen, christliche Rituale, Symbole und Räume oder das Ganze der christlichen Religion bezeichnen kann. Diese Bedeutungsdimension spielt eine große Rolle in ästhetischen Diskursen, die gegen 1750 einsetzen. Hier geht es darum, was bestimmte literarische Verfahrensweisen und Gattungen dürfen, sollen und nicht dürfen. Später wird diese Debatte auf Malerei und Musik ausgedehnt. 1755 druckt der Herausgeber eines wirtschaftswissenschaftlichen Periodikums eine Satire gegen den Geiz ab. In einer Vorbemerkung hält er das für begründungsbedürftig. Denn:
fug auf teutschen Universitäten, Gymnasien und Lycäen, oder: Geschichte der akademischen Verschwörung gegen Königthum, Christenthum und Eigenthum, Mainz 1822, 5) in Euthyphron »das Heilige« bzw. »die Heiligkeit« thematisiert. – J[ohann] G[eorg] Schlosser (Euthyphron II. Ueber die Gottseeligkeit. Nebst einer Uebersetzung des Euthyphron aus dem Plato, Basel 1787) bevorzugt in seiner Euthyphron-Übersetzung »Gottseeligkeit«.
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Die spöttischen so genannten grossen Geister haben offt das Heilige, die wahre Religion selbst, nicht verschonet. Bey dieser Bewandniß nun ist uns die Satyre immer sehr gefährlich vorgekommen […].45 Die wahre Religion ist hier identisch mit dem Christentum; Christentum und Heidentum verhalten sich wie das Heilige zum Unheiligen.46 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird die antike griechische Kultur und Religion zu einer Leitkultur in Konkurrenz (oder abgeschwächt: komplementär) zum Christentum aufgebaut.47 Ihr kann dann ebenfalls zugestanden werden, dass in ihr »das Heilige« präsent sei.48 »Das Heilige« wird in den ästhetischen Diskursen von 1750–1850 in verschiedenen Hinsichten und Zusammenhängen verwendet. Ästhetik und Ethik konvergieren dabei. Ein Übersetzer setzt bei den Kennern das Einverständnis voraus, »daß Shakspeare in allen seinen Werken sittlich sey, und daß dieses große Gefühl, welches
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[Georg Heinrich Zincke], Satyre auf das unwirtschafftliche Laster des Geitzes und der übertriebenen Gewinnsucht, in: Leipziger Sammlungen von Wirthschafftlichen, Policey- Cammer- und Finantz-Sachen Eilfter Band Nebst Einer Vorrede Von allerhand wirtschafftlichen und policeymäßigen alten Sprüchwörtern und Regeln der Teutschen Und nöthigem Register vom hundert und ein und zwanzigsten bis hundert und zwey und dreißigsten Stück versehen, Leipzig 1755, 429–475, 432. Vgl. Johann Joachim Winckelmann, Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst, o.O. 1755, 22 (zu Raffaels Fresko Die Begegnung Papst Leos I. mit Attila [1514, Vatikan]): »Die beiden Apostel schweben nicht wie Würge-Engel in den Wolcken, sondern wenn es erlaubt ist, das Heilige mit dem Unheiligen zu vergleichen, wie Homers Jupiter, der durch das Wincken seiner Augenlieder den Olympus erschüttern machte.« Vgl. weiter Johann Gottfried Herder, Kritische Wälder. Oder Betrachtungen über die Wissenschaft und Kunst des Schönen. Zweites Wäldchen über einige Klotzische Schriften, o.O. 1769, 62f.; Karl von Knoblauch, Ueber Faunen, Satyrn, Panen und Silenen. Einige Gespräche, Berlin 1790, 133f. (Winckelmann-Rezeption); [Anonym], – k –, Rez. Joachim Chr. Gaß, Ueber den christlichen Cultus, 1815, in: Archiv für die Theologie und ihre neuste Literatur 2 (1818), 440–481, 477; Joh[ann] Christ[ian] Aug[ust] Grohmann, Aesthetik als Wissenschaft, Leipzig 1830, 169. Vgl. u.a. Marlene Meuer, Polarisierungen der Antike. Antike und Abendland im Widerstreit – Modellierungen eines Kulturkonflikts im Zeitalter der Aufklärung, Heidelberg 2017. Dies wird u.a. am attischen Drama festgemacht, vgl. z.B. Friedrich Gottlob Wezel, Ueber Aufführung des kirchlichen Cultus auf der Bühne, in: Abend-Zeitung, Nr. 66, 16. August 1806, 261f.; Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling, System der gesammten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere. (Aus dem handschriftlichen Nachlaß) 1804, in: ders., Sämmtliche Werke. Erste Abtheilung. Sechster Band, hg. von K.F.A. Schelling, Stuttgart/ Augsburg 1860, 131–536, 573; Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 2: Die bestimmte Religion, neu hg. von Walter Jaeschke (Philosophische Bibliothek 460), Hamburg 1994, 557f.
Martin Leutzsch: Die Karriere eines substantivierten Adjektivs
ihn niemals das Heilige verletzen läßt, ihn in seiner Vollendung charakterisirt.«49 Ein Dichter, an dessen Grab gesagt wird: »Nie hat sein Spott das Heilige dort oben berührt«,50 erhält damit Lob für verantwortlichen Umgang mit dem Witz, der ihm zur Verfügung steht. Nicht immer gibt es hier Konsens. Jean Paul wird gegensätzlich beurteilt. Einer seiner Kollegen, der davon überzeugt ist, »daß das Heilige nicht nur der höchste, sondern der eigentliche Gegenstand der Poesie sei«,51 bewundert Jean Paul nicht uneingeschränkt; er findet es »ekelhaft und ärgerlich […], wie er das Heilige nach muthwilliger Willkür bald als Folie seinen unächten Steinen unterlegt, bald zu gemeinen, ja profanen Anspielungen mißbraucht; bald es verhöhnt, bald ihm huldigt.«52 Ein Zensurgutachten, das den Druck von Jean Pauls Werken in Österreich befürwortet, bescheinigt ihm hingegen: »Das Heilige ehrte er mit tiefer Ehrfurcht; ihm schwebte es stets klar vor, daß das Heilige als solches nie ein Gegenstand des Komischen werden könne, weil es als solches nicht erscheinen könnte ohne eine vorhergegangene Selbstvernichtung des Dichters und Lesers.«53 Der Dichter wird nicht nur in seiner Beziehung zum Heiligen bewertet. Die Dichterrolle kann als eine religiöse Sonderrolle verstanden werden. Als Götterbote54 oder als Priester hat der Dichter privilegierten Zutritt zum Heiligen55 und
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Ludwig Tieck, Einleitung, in: Friedrich Ludwig Schröders dramatische Werke, Bd. 1, hg. von Eduard von Bülow, Berlin 1831, XIX. [Carl] Grüneisen, Rede nach Wilhelm Hauff’s Beerdigung am 21. Nov. 1827, in: Wilhelm Hauff’s sämmtliche Schriften geordnet und mit einem Vorwort versehen. Erstes Bändchen. Hg. von Gustav Schwab, Stuttgart 1830, 37–48, 40 (über Wilhelm Hauff). Friedrich Leopold zu Stolberg im Brief vom 26. Dezember 1809 an seinen Bruder Christian zu Stolberg, zitiert nach Johannes Janssen, Friedrich Leopold Graf zu Stolberg. Größtentheils aus dem bisher noch ungedruckten Familiennachlaß. II. Band: Friedrich Leopold Graf zu Stolberg seit seiner Rückkehr zur katholischen Kirche. 1800–1819, Freiburg 1877, 171. Stolberg im Brief vom 14. August 1799 an Julia von Reventlow, zitiert nach Janssen (Anm. 51), 488. Franz Fickers Gutachten vom 25. März 1826, abgedruckt in Karl Glossy, Jean Pauls Werke und der Nachdruck in Österreich, in: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 20 (1911), 182–208, 189. Vgl. Johann Gottfried Herder, Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Fragmente, als Beilagen zu den Briefen, die neueste Litteratur betreffend. Dritte Sammlung, Riga 1767, 215: »Wenn da, wo der Weltweise nur von fern furchtsam lauschen muß, der Dichter, als Bote der Götter, als Vertrauter der Geheimnisse des Geistes, mit kühnen Schritten fortginge, um in das Heilige zu dringen: was würde er sehen? Von keinem Auge gesehene Dinge! Was würde er hören? Heilige und geweihte Worte, die niemand gehöret! Und was sprechen? Geflügelte Sprüche, die keine Zunge vor ihm wagte.« So, verbunden mit Anspielungen auf den Jerusalemer Tempel der Bibel, bei Jakob Michael Reinhold Lenz, Abgerissene Beobachtungen über die launigen Dichter, in: Deutsches Museum 1782, 195–196, 196: »Die heiligen Augenblicke des Gefühls bleiben aller Laune auf ewig verschlossen. Ich verstehe aber hierunter nur das Heilige und Allerheiligste desselben, in welches die Priester und der Hohepriester mit entblößtem Haupte treten – nicht den Vorhof, wo die Wechsler und Verkäufer sitzen.« Vgl. weiter Wilhelm Waiblinger, Lieder aus Sor-
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die Aufgabe, das Heilige darzustellen.56 Analog zum Seher hat er anderen voraus, dass er das Heilige ahnen kann.57 Ein Dichter lässt das lyrische Ich seiner Gedichte sagen, das Gedicht sei »das Heil’ge, das am / Herzen mir liegt«,58 und betonen: »das Heilige sei mein Wort«.59 Die zuletzt zitierten Äußerungen zeigen, dass »das Heilige« nicht nur auf die Dichter bezogen wird, sondern auch auf die Dichtung. Dichtung kann das Heilige kommunizieren, in Themen und Inhalten und auch in der Darstellungsweise. Die Darstellung kann gelingen oder auch nicht.60 Dafür können literarische Textsorten
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rent [1829], in: ders., Werke und Briefe. Textkritische und kommentierte Ausgabe in fünf Bänden, Bd. 1: Gedichte, hg. von Hans Königer. Stuttgart 1980, 447: »Denn im Tempel der Weltgeschichte, dünkt mir, / Ist der Dichter ein Priester, und den Vorhang / Vor dem Heiligsten wahret seine Obhut.« Vgl. Max Schenkendorf, Gedichte, mit einem Lebensabriß und Erläuterungen hg. von A[ugust] Hagen, 3. Aufl. Stuttgart 1862, 53–55 (vollständig in Max von Schenkendorf, Gedichte, hg. mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Edgar Groß, Berlin u.a. 1912, 160–162). Vgl. Frid[ericus] Albertus Steinbeck, De Musices atque Poëseos vi salutari operis prodromus. Dissertatio inauguralis psychologico-medica, Berolini 1836, 242f.: »Unser innerstes Gefühl stimmt freudig, jubelnd und vertrauungsvoll bei, da wir die Ueberzeugung im Innern tragen, daß der Dichter nur das Wort der Wahrheit gesprochen habe, während derselbe im Zustande des begeisterten höheren Erkennens den unbezwinglichen Drang fühlte, die deutlich erkannte Wahrheit und Göttlichkeit im Heiligen mit der Würde des sprachlichen Ausdrucks dem Menschen als Warnung oder als Trost ins Herz hineinzurufen! Und so ist es auch beim Seher, der im Zustande des höchsten Aufschwunges und der Freiwerdung seines Geistes einen Blick in das Heilige hineinwirft, das er nur flüchtig schauen und fühlen, aber nicht aussprechen kann; und der christliche Liederdichter spricht auch nur Ahnungen aus, da das Höchste unaussprechbar ist, aber es sind Ahnungen, die im Herzen erwachend wiedertönen und deren Wahrheit gewiß jeder wahrhafte Christ bekräftigt.« Friedrich Hölderlin, An die Parzen, in: Taschenbuch für Frauenzimmer von Bildung auf das Jahr 1799, hg. von Christian Ludwig Neuffer, Stuttgart 1799, 166: »Nur Einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen! / Und Einen Herbst zu reifem Gesange mir, / Daß williger mein Herz, vom süssen / Spiele gesättiget, dann mir sterbe! / Die Seele, der im Leben ihr göttlich Recht / Nicht ward, sie ruht auch drunten im Orkus nicht; / Doch ist mir einst das Heil’ge, das am / Herzen mir liegt, das Gedicht gelungen; / Willkommen dann, o Stille der Schattenwelt! / Zufrieden bin ich, wenn auch mein Saitenspiel / Mich nicht hinabgeleitet; Einmal / Lebt’ ich, wie Götter, und mehr bedarf’s nicht.« Friedrich Hölderlin, Wie wenn am Feiertage, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1: Gedichte, hg. von Jochen Schmidt, Frankfurt a.M. 1992, 239 (Hymne, Str. 3; nach Jochen Schmidt [ebd., 656] spätestens erste Jahreshälfte 1800 verfasst): »Jetzt aber tagts! Ich harrt und sah es kommen, / Und was ich sah, das Heilige sei mein Wort. / Denn sie, sie selbst, die älter denn die Zeiten / Und über die Götter des Abends und des Orients ist, / Die Natur ist jetzt mit Waffenklang erwacht, / Und hoch vom Äther bis zum Abgrund nieder / Nach festem Gesetze, wie einst, aus heiligem Chaos gezeugt, / Fühlt neu die Begeisterung sich, / Die Allerschaffende wieder.« Ludwig Friedrich Franz Theremin schreibt am 22. Juli 1819 an Friedrich de la Motte Fouqué (Briefe an Friedrich Baron de la Motte Fouqué […]. Mit einer Biographie Fouqué’s von Jul. Ed.
Martin Leutzsch: Die Karriere eines substantivierten Adjektivs
unterschiedlich gut geeignet sein.61 Bestimmte Textsorten können als »das Heilige« bezeichnet werden, das, was dem Dichter das Wichtigste ist.62 Motivationen und Wirkabsichten des Dichters, die mit dem Heiligen einer Textsorte nicht vereinbar sind, können eine Dichtung beeinträchtigen.63 Gelegentlich behauptet ein Dichtungstheoretiker pauschal, die Künste »sollten nur das Heilige und Göttliche verherrlichen, sonst sind sie wohl verwerflich«.64 Andere nehmen für bestimmte Textsorten und Verfahrensweisen wie z.B. die Burleske nicht in Anspruch, das Hei-
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Hitzig und einem Vorwort und biographischen Notizen von Dr. H. Kletke, hg. von Albertine Baronin de la Motte Fouqué, Berlin 1848, 444f.): »Warum ist doch Klopstocks Einfluß so früh verschwunden! Vielleicht versah er es darin, daß er das Heilige zu nackt darstellte, und daß seine Poesie nicht eine umhüllte Theologie, sondern eine eigentliche war. Doch gehört für mich der Tod Adams immer zu dem Höchsten, das jemals geschrieben worden.« Heinrich von Kleist schreibt am 10. Oktober 1801 an seine damalige Verlobte Wilhelmine von Zenge (Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe. Zweiter Band, hg. von Helmut Sembdner, 6. Aufl. München 1977, 695): »Die Romane haben unsern Sinn verdorben. Denn durch sie hat das Heilige aufgehört, heilig zu sein, und das reinste, menschlichste, einfältigste Glück ist zu einer bloßen Träumerei herabgewürdigt worden.« Vgl. Hölderlin (Anm. 58). Vgl. Gottlieb Wilhelm Rabener, Daß die Begierde, Uebels von andern zu reden, weder vom Stolze, noch von der Bosheit des Herzens, sondern von einer wahren Menschenliebe, herrühre. Eine Abhandlung, welche den von der Königlichen Academie zu Pau in Bearn, aufgesetzten Preis gewiß erhalten wird, o.O. 1754, 13: »Sie wollen etwan sagen: Ich haette einen deutlichern Unterschied feste setzen sollen, zwischen der nothwendigen Verbindlichkeit, andern ihre Fehler liebreich vorzuhalten, und zwischen der boshaften Neigung, die Uebereilungen anderer auszubreiten, oder gar denen, die unschuldig sind, Fehler anzudichten; ich haette das Heilige einer vernünftigen und bessernden Satyre mit dem niedertraechtigen Splitterrichten, und den Pasquillen des Poebels nicht vermengen sollen […].« Friedrich Schlegel, Zur Poesie und Litteratur, in: ders., Friedrich Schlegel. Kritische Ausgabe seiner Werke, Bd. 17: Fragmente zur Poesie und Literatur. Zweiter Teil. Mit Einleitung und Kommentar, hg. von Ernst Behler, Paderborn u.a. 1991, 289 (nicht veröffentlichte Notizen, 1811): »Statt die Religion in der Aesthetik [zu] suchen, hätte man umgekehrt die wahre Aesthetik in der Religion suchen sollen. – Schmuck, Schein, Spiel sollten nur das Heilige und Göttliche verherrlichen, sonst sind sie wohl verwerflich.« – Ähnlich Stolberg (bei Anm. 51).
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lige artikulieren zu sollen.65 »Das Heilige« kann auch als normatives Rezeptionsziel verstanden werden: Die Lieder für das Herz, denen der Gesang vorzüglich eigen ist, müssen so beschaffen seyn, daß sie uns alles, was erhaben und rührend in der Religion ist, fühlen lassen; das Heilige des Glaubens, das Göttliche der Liebe, das Heldenmüthige der Selbstverleugnung, das Große der Demuth, das Liebenswürdige der Dankbarkeit, das Edle des Gehorsams gegen Gott und unsern Erlöser, das Glück, eine unsterbliche, zur Tugend und zum ewigen Leben erschaffne und erlöste Seele zu haben […].66 Die Risiken künstlerischer Produktion, Gestaltung, Vermittlung, Rezeptionslenkung des Heiligen werden in Reinheitskategorien konzeptualisiert.67 Vermischung gilt als problematisch, sei es die Vermischung von Heiligem und Unheiligem (im Anschluss an Luthers Übersetzung von Leviticus 10,10)68 oder die von Heiligem und
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Johann Georg Hamann, Fünf Hirtenbriefe das Schuldrama betreffend [1763], in: ders., Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 2: Schriften über Philosophie, Philologie, Kritik 1758–1763, hg. von Josef Nadler, Wien 1950, 367: »Wenn Diderot das Burleske und Wunderbare als Schlacken verwirft: so verlieren göttliche und menschliche Dinge ihren wesentlichsten Character. Brüste und Lenden der Dichtkunst verdorren. Das μωρον der homerischen Götter ist das Wunderbare seiner Muse, das Saltz ihrer Unsterblichkeit. Die Thorheit der ξενων δαιμονιων, die Paulus den Atheniensern zu verkündigen schien, war das Geheimniß seiner fröhlichen Friedensbothschaft. Das σοφωτερον des ganzen Newtons ist ein kindisches Possenspiel gegen den Päan eines Morgensterns; und das Burleske verhält sich zum Wunderbaren, das Gemeine zum Heiligen, wie oben und unten, hinten und vorn, die hole zur gewölbten Hand.« C[hristian] F[ürchtegott] Gellert, Geistliche Oden und Lieder, Leipzig 1757, XVII. Ethnologische Untersuchungen, wie sie Mary Douglas für Struktur und Funktion der Opposition rein vs. unrein in der antiken israelitischen Kultur angestellt hat (Mary Douglas, Purity and Danger. An Analysis of the Concepts of Pollution and Taboo, 2. Aufl. London/Boston/Henley 1985 [zuerst 1966]; Mary Douglas, Leviticus as Literature, Oxford 1999), wären für bürgerliche Kulturen Mitteleuropas zwischen 1650 und 1850 aufschlussreich. Dabei wären nicht nur ästhetische und religiöse Diskurse zu berücksichtigen, sondern auch sprachpolitische (Sprachpurismus), rhetorische, ethnische, (proto)rassistische, ebenso Favorisierungen von Mischung (in der politischen Theorie durch Rezeption der antiken Mischverfassungstheorie, in der romantischen Ästhetik); vgl. auch die interkonfessionelle (evangelisch-katholisch) und interreligiöse (christlich-jüdische) Mischehenkontroverse der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Vgl. Jean Paul, Vorschule der Aesthetik, nebst einigen Vorlesung in Leipzig über die Parteien der Zeit. Erste Abtheilung, Hamburg 1804, 165f.: »Werke, worin der satirische Unwille und der lachende Scherz, wie oft in der Philosophie Vernunft und Verstand, in einander gemengt und verwirret sind, z.B. Youngs Satiren und Pope’s Dunciade, quälen mit dem gleichzeitigen Genusse entgegengesetzter Tonarten. Lyrische Geister werden daher leicht satirisch, z.B. Tacitus, J.J. Rousseau, Schiller in Don Carlos, Herder; aber epische sind leichter komisch, besonders für die Ironie und die Komödie. Die Vermengung beider Gattungen hat eine moralische
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Profanem (im Anschluss an Horatius, Epistolae I 16,54: miscebis sacra profanis69 ).70
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Seite und Gefahr. Belacht man das Unheilige, so macht man es mehr zu einer Sache des Verstandes; und das Heilige wird dann auch vor diesen unächten Richterstuhl gezogen. Züchtigt die Satire den Unverstand, so muß sie in Ungerechtigkeit übergehen und dem Willen das schuld geben, was der Zufall und Schein verbricht. Hier sündigen englische Satiriker; dort deutsche und gallische Komödienschreiber, welche den Ernst des Lasters in ein Lustspiel verkehren.« – Christian Friedrich Daniel Schubart, Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, hg. von Ludwig Schubart, Wien 1806, 347f. (bezogen auf die Tonkunst): »Zum Kirchenstyle gehört tiefe Kenntniß des Contrapuncts, genaues Studium der Menschenstimme, und sonderlich die größte Unterscheidungskraft, um das Heilige vom Unheiligen zu sondern.« – Vgl. Gottlieb Weis, Versuch einer Theorie und geschichtlichen Uebersicht des Kirchenliedes nebst einer vergleichenden Kritik des Breslauer und Jauerschen Gesangbuches, Breslau 1842, 2 (bezogen auf das Kirchenlied der Aufklärung): »Leider wurde hierbei oft die Sache mit der Person verwechselt und das Heilige mit dem Unheiligen dem Spotte preisgegeben; leider ging man in dieser Neuerungssucht manchmal zu weit, und verwarf alles ungeprüft nur allein deshalb, weil es alt war. Dieses Schicksal erfuhr auch der herrliche Schatz der alten Kirchenlieder.« Ebd., 49: »Wir wollen den Spöttern nicht Gelegenheit geben, das Heilige und Ehrwürdige wegen seines unheiligen Gewandes zu verunehren.« Vgl. weiter Eduard Krüger, Beiträge für Leben und Wissenschaft der Tonkunst, Leipzig 1847, 219. In der Übersetzung von Passow: Quintus Horatius Flaccus, Episteln. Über das Leben und Zeitalter des Dichters. Critisch berichtigter Urtext, hg. und übers. von Carl Passow, Leipzig 1833, 55, von Leviticus 10,10 her verstanden: »du vermengst Unheil’ges mit Heil֦’gem«; ebenso die Übersetzung von Horatius, Epistolae II 3,397 (ars poetica): secernere, sacra profanis durch Karl Wilhelm Ramler (Dichtkunst des Horaz, Freyburg im Breisgau 1777, 123). Vgl. Johann Gottfried Herder, Briefe zu Beförderung der Humanität. Siebente Sammlung, Riga 1796, 127f.: »Der Geschmack dieser Moralitäten, in denen sich das Heilige und Profane sonderbar mischen, ist bekannt; sie hießen Jeux des pols pilés, Spiele zerstoßener Erbsen, und blieben es so lange, bis aus ihnen die französische Comödie hervorging, in welcher denn, so wie auf dem französischen Theater überhaupt, Repräsentation von jeher der Hauptgesichtspunkt gewesen und geblieben ist, nach welchem sich Alles ordnet.« Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden. Zweytes Buch, in: ders., Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. Zwey und zwanzigster Band, Stuttgart/Tübingen 1829, 228 (2. Aufl. der Wanderjahre, Erweiterung des zweiten Buchs um »Betrachtungen im Sinne der Wandernden«): »Die Musik ist heilig oder profan. Das Heilige ist ihrer Würde ganz gemäß, und hier hat sie die größte Wirkung auf’s Leben, welche sich durch alle Zeiten und Epochen gleich bleibt. Die profane sollte durchaus heiter seyn. Eine Musik die den heiligen und profanen Charakter vermischt ist gottlos, und eine halbschürige, welche schwache, jammervolle, erbärmliche Empfindungen auszudrücken Belieben findet, ist abgeschmackt. Denn sie ist nicht ernst genug, um heilig zu seyn, und es fehlt ihr der Hauptcharakter des Entgegengesetzten: die Heiterkeit. Die Heiligkeit der Kirchenmusiken, das Heitere und Neckische der Volksmelodien sind die beiden Angeln, um die sich die wahre Musik herumdreht. Auf diesen beiden Puncten beweis’t sie jederzeit eine unausbleibliche Wirkung: Andacht oder Tanz. Die Vermischung macht irre, die Verschwächung wird fade, und will die Musik sich an Lehrgedichte oder beschreibende und dergl. wenden, so wird sie kalt.«
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Das für die Gegenwart gültige Mischungsverbot konnte historisch und kulturell relativiert, die dabei ausschlaggebende Kategorie des Geschmacks historisiert71 oder ethnisiert,72 das Naive im Unterschied vom Erhabenen davon ausgenommen werden.73 Wer Mischung legitimieren wollte, griff zu einer Textilmetapher und sprach
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Vgl. Herder (Anm. 46), 62: »Zweitens, auch die Zeiten und Länder muß man unterscheiden, in denen ein Dichter lebte, in denen und für welche er schrieb. Die meisten der gerügten Poeten sind Italiener, aus dem Lande der Alterthümer also, aus oder vor den Zeiten, da der Geschmack des alten Gräciens und Latiums wieder auflebte: Wer wird nun einen Dante, Petrarca, Sannazar, Vida, Ariosto, Tasso, Marino aus allen diesen Zeitverbindungen rücken, und so schlechthin vor das Gericht einer fremden Zeit, eines fremden Landes fodern; daß sie das Heilige mit dem Unheiligen vermischet?« Vgl. [Anonym] F., Ist das Lächerliche – dumm?, in: Friedensblätter. Eine Zeitschrift für Leben, Literatur und Kunst 1 (1814), 253–255, 255: »Wo man aber nur seiner Sachen recht gewiß ist, wo nur ein wahrer, entschiedener Glaube, eine unüberwindliche Wahrheit herrschend ist, dort kann man über alles ohne Schaden lachen und spotten, über Heiliges und Unheiliges, über Edles und Gemeines, Weises und Dummes, über Wahres und Falsches, und das Lachen über das Verehrteste wird der Verehrung und Andacht nicht schaden. So konnte der Spanier, für dessen Rechtgläubigkeit schon die Inquisition bürgt, Heiliges und Profanes in seinen Dramen und Kirchen vermischen, und unter den Augen dieser Inquisition in einem Augenblick über Gegenstände lachen, die im andern, und durch sein ganzes Leben die Gegenstände seiner tiefsten Verehrung waren. Wo aber diese Verehrung nicht so gewurzelt ist, dort darf man es mit dem Lachen nicht wagen, und so kann man aus der Verbannung des Lachens auf tiefe Uebel der Gesellschaft schließen.« Vgl. Paul Henry, Das Leben Johann Calvins des großen Reformators; mit Benutzung der handschriftlichen Urkunden, vornehmlich der Genfer und Züricher Bibliothek, entworfen, nebst einem Anhang bisher ungedruckter Briefe und anderer Belege. Erster Band, Hamburg 1835, 17 Anm. 1 (über die Werke Marguerites von Navarra): »Diese sonderbaren Werke, in welchen das Heilige mit dem Profanen vermischt ist, sind nicht erhaben aber naiv geschrieben.«
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von »Verweben«.74 Schleiermetaphorik wurde gebraucht, um zu bestimmen, dass das Heilige besser verhüllt als unverhüllt dargestellt würde.75
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Vgl. Friedrich Schlegel, Studien des classischen Alterthums. Erster Theil, in: ders., Sämmtliche Werke. Dritter Band, Wien 1822, 20: »Nur muß man die zarte Stimmung dieses schönen Gesprächs nicht so grob nehmen, wie gewöhnlich; und wer es weiß, wie die Sokratische Ironie das Heiligste mit dem Fröhlichen und mit dem heitersten geistigen Scherz zu verweben pflegt, wer mit der Platonischen Denkart vertraut ist, wird nicht verkennen, wie sehr es ihm mit dieser Lehre Ernst war. Vergleicht er doch selbst die sittliche Begeisterung des Sokrates mit dem Enthusiasmus der Korybanten. Und ist nicht der ganze Phaedros voll mystischer Anspielungen, wo er über die heilige Trunkenheit der echten Liebenden mit Attischem Geist so lieblich philosophirt, und mit jener sokratischen Mischung von Scherz und Ernst, welche für viele geheimer und dunkler ist, als alle Mysterien?« Beachtung schenkt der Mischung von Heilig und Profan Schleiermacher (Anm. 26), 299f.: »Wie nun die ursprüngliche Anschauung desselben, aus welcher alle diese Ansichten sich ableiten, den Charakter seiner Gefühle bestimmen, das werdet Ihr leicht finden. Wie nennt Ihr das Gefühl einer unbefriedigten Sehnsucht die auf einen großen Gegenstand gerichtet ist, und deren Unendlichkeit Ihr Euch bewußt seid? Was ergreift Euch, wo Ihr das Heilige mit dem Profanen, das Erhabene mit dem Geringen und Nichtigen aufs innigste gemischt findet? und wie nennt Ihr die Stimmung, die Euch bisweilen nöthiget diese Mischung überall vorauszusezen, und überall nach ihr zu forschen? Nicht bisweilen ergreift sie den Christen, sondern sie ist der herrschende Ton aller seiner religiösen Gefühle; diese heilige Wehmuth – denn das ist der einzige Name, den die Sprache mir darbietet – jede Freude und jeder Schmerz, jede Liebe und jede Furcht begleitet sie; ja in seinem Stolz wie in seiner Demuth ist sie der Grundton auf den sich Alles bezieht. Wenn Ihr Euch darauf versteht aus einzelnen Zügen das Innere eines Gemüths nachzubilden, und Euch durch das Fremdartige nicht stören zu lassen, das ihnen Gott weiß woher beigemischt ist: so werdet Ihr in dem Stifter des Christenthums durchaus diese Empfindung herrschend finden; wenn Euch ein Schriftsteller der nur wenige Blätter in einer einfachen Sprache hinterlaßen hat, nicht zu gering ist um Eure Aufmerksamkeit auf ihn zu wenden: so wird Euch aus jedem Worte was uns von seinem Busenfreund übrig ist dieser Ton ansprechen; und wenn ja ein Christ Euch in das Heiligste seines Gemüthes hineinbliken ließ: gewiß es ist dieses gewesen.« Vgl. Friedrich Schiller, Das verschleierte Bild zu Sais, in: Die Horen 1795, Neuntes Stück, 94–98; Friedrich Bouterwek, Der Schatten des Parmenides. Ein Gedicht, in: Neues Museum der Philosophie und der Litteratur. Ersten Bandes Erstes Heft (1803), 123–128, 127f.; Hans Ahlmann, Andeutung des Irr- und Wirrwissens in den ersten 68 Thesen des Archidiakonus Harms. Ein Beitrag aus dem Stifte Fyen, Hamburg 1818, 29; Carl Witte, Die Verlobung der heiligen Katharina von Andrea del Sarto, in: Die Harfe 8 (1819), 221; [Anonym], Bruno Bauer und die protestantische Freiheit. Ein politisches Votum, Leipzig 1842, 20f.; auch C[arl] A[ugust] Eschenmayer, Mysterien des innern Lebens; erläutert aus der Geschichte der Seherin von Prevorst, mit Berüksichtigung der bisher erschienenen Kritiken, Tübingen 1830, XIf. – Hüllenmetapher: Theremin (Anm. 60).
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5. »Herrliche Natur? bin ich würdig, bin ich rein und unschuldig genug, in das Allerheiligste deines Tempels zu treten?« – Sakralisierung der Natur, Sakramentalisierung des Naturgefühls Die Erweiterung der Bezüge von »das Heilige« über das Heilige verfügbar machende Orte und Rituale organisierter Religion hinaus und der Transfer von Zuschreibungen und Gefühlsreaktionen werden besonders deutlich in der Reisebeschreibung Labyrinten (1793; deutsch Das Labyrinth, 1795) des dänischen Schriftstellers Jens Immanuel Baggesen, der seine Ankunft in Basel so schildert: Wir näherten uns dem Thore von Basel, dem Eingange zur Schweiz – ich zitterte, wie da ich mich zum erstenmal dem Kirchenaltare näherte des Sacramentes theilhaftig zu werden; – ich hätte gern den Postillon stillhalten lassen, wofern er zum Stillhalten zu bringen gewesen wär. Das Erhabne, das Heilige [dänisch: det Hellige] in der hier sich zeigenden Naturphysiognomie, das mich so gewaltig hingerissen hatte, begann jetzt, da ich dem Glanze in ihrem Antlitze näher kam, und immer mehr und mehr majestätische Züge in ihren offenen Angesichte entdeckte, gleichsam mich zurückzuscheuchen. Vorher hatte meine Phantasie über diesem Vorhofe der Alpen gelesen: ›Tritt herein! hier ist der Gottheit Tempel!‹ [Anm. a: Introite, nam & heic Dei sunt!] Jetzt las sie bebend: ›Zurück! Unheilige! flieht!‹ [Anm. b: Procul, o! procul este, profani!] Zum Glücke löschte diese letzte Inschrift die erste nicht aus. Hinreißendes Zurückstoßen! […] wie soll ich das wunderbare, lockende, schreckende Gefühl nennen, das sich meiner Seele, beym Anblick des nähern Jura, bey der Einfahrt in Basel, bemächtigte? – unwillkührlich faltete ich meine Hände – tief, innig tief fühlte ich: eine Revolution sey meinem Leben, meinem Geiste, meinem Herzen nahe; – innig fühlte ich: das wichtigste, wo nicht das letzte Blatt im Buche meines Schicksals, würde für mich auf den Altären jenes Tempels aufgeschlagen werden. Dreymal habe ich mit vollem Bewußtseyn mich am Rande des Grabes geglaubt, und den Todesengel im Begriff gesehen, die umgestürzte Fackel auszulöschen; nie aber war meine Stimmung feyerlicher. Die ganze Entzückung der Hoffnung, und die ganze Wehmut der Erinnerung, wechselten unaufhörlich in meinem klopfenden Herzen. Bin ich vorbereitet, bin ich reif zu deinem hohen Himmel, herrliche Natur? bin ich würdig, bin ich rein und unschuldig genug, in das Allerheiligste deines Tempels [dänisch: dit Tempels Allerhelligste] zu treten, allmächtiger Schöpfer der Erde? Trifft nicht dein Blitz mich Unheiligen [dänisch: Vanhellige], auf dem ersten Alpengipfel, den ich besteige? Darf ich meinen niedrigen [Anm. * (mit usle Stöv.) Wir haben nur: arm, elend, niedrig, keines dieser Wörter paßt hier; es degradirt Baggesens Begriff; sein Staub will nur demüthig seyn, nicht sich verächtlich darstellen. Die Dänen haben auch: arm, elendig, niedrig, aber auch: usle! Hier das einzige Wort: O Sprachnuancen!] Staub höher wagen, als ich ihn schon gewagt habe? Ich zitterte, – denn ich sah die Erde in diesem feyerlichen Nu nicht als die Woh-
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nung der Menschen, sondern als den Fußschemel der Gottheit an; – und wer zittert nicht sich dem zu nähern? – Und doch – Ich war schon auf Schweizergrunde, wir rollten nach Basel herein.76 Baggesen beschreibt seine Gefühlsreaktion beim Anblick der Alpen mit Hilfe einer Erinnerung an das erste Abendmahl; als Lutheraner dürfte er es bei seiner Konfirmation empfangen haben. Das dreimal erwähnte Zittern, in biblischen Zusammenhängen oft eine menschliche Reaktion auf Gottes Präsenz, wird seit Beginn des 16. Jahrhunderts in katholischen, reformierten und lutherischen Texten mit der Eucharistie in Zusammenhang gebracht: Sie wird als mysterium tremendum verstanden.77 76
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Jens Immanuel Baggesen, Baggesen oder Das Labyrinth. Eine Reise durch Deutschland, die Schweiz und Frankreich. Viertes Stück, Altona/Leipzig 1795, 518–521 (Übersetzung Carl Friedrich Cramer). Von den Zusätzen in eckigen Klammern stammen die Anm. a und b von Baggesen, die Anm. * vom Übersetzer Cramer, die Hinweise auf den dänischen Ausgangstext von mir. Der Ausdruck mysterium tremendum scheint zum erstenmal in der von dem Benediktiner Lucas Bernardus Brixianus (d.h. aus Brescia) unternommenen lateinischen Übersetzung der griechischen Homilien des Johannes Chrysostomos zu begegnen. Bernardus’ ChrysostomosÜbersetzung wurde zuerst 1503 in Venedig gedruckt und vielfach nachgedruckt. In der Übersetzung der 69. Homilie an die Antiochener (Quod peccatores lugendi sunt viventes et mortui […]) ist von tremendis mysteriis die Rede (Johannes Chrysostomus, [Accipe candissime lector opera Divi Joannis Chrisostomi archiepiscopi Constantinopolitani], Venetiis 1503, 123r). Dass heutige Chrysostomos-Ausgaben eine 69. Homilie an die Antiochener nicht enthalten, erschwert die Suche nach dem griechischen Original. Zu finden ist der von Bernardus übersetzte Text als unselbstständiger Abschnitt in Chrysostomos’ vierter (nach anderer Zählung dritter) Homilie zum Philipperbrief (Frederik Field (Hg.), Sancti patris nostri Joannis Chrysostomi archiepiscopi Constantinopolitani In divi Pauli epistolas ad Philippenses, Colossenses et Thessalonicenses homiliae. Editio nova ad fidem codicum mss. et versionum antiquarum diligenter castigata (Bibliotheca Patrum Ecclesiae Catholicae qui ante Orientis et Occidentis Schisma floruerunt, Sancti patris nostri Joannis Chysostomi archiepiscopi Constantinopolitani Interpretatio omnium epistolarum Paulinarum per homilias facta 5), Oxonii 1855, 37), wo mit Bezug auf die Eucharistie von tōn phriktōn mysteríōn die Rede ist (diese Chrysostomosstelle kann den von Quasten 1951 gesammelten Belegen für die Verbindung des Furchtmotivs mit der Eucharistie bei Kirchenschriftstellern des vierten Jahrhunderts hinzugefügt werden; vgl. Johannes Quasten, Mysterium tremendum. Eucharistische Frömmigkeitsauffassungen des vierten Jahrhunderts, in: Anton Mayer/Johannes Quasten/Burkhard Neunheuser (Hg.), Vom christlichen Mysterium. Gesammelte Arbeiten zum Gedächtnis von Odo Casel OSB, Düsseldorf 1951, 66–75); die lateinische Übersetzung, die der nichtkritischen Ausgabe MPG 62, 204 beigegeben ist, gibt das mit horrificiis mysteriis wieder. Die von Bernardus in seiner Übersetzung verwendete Wiedergabe mit mysteria tremenda wurde im 16. Jahrhundert vielfach zitiert, und zwar von katholischen Geistlichen und Theologen (z.B. Patroclus Boeckmann, Gerhard Lorich) ebenso wie von evangelischen Theologen (z.B. Jean Calvin). Auch abgekoppelt von direkten Zitaten wurde die Eucharistie mit oder ohne Verweis auf Chrysostomos in katholischen (z.B. Johannes von Deventer, Johann Eck) und evangelischen Texten (z.B. Timo-
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Redeweisen der Abendmahlsfrömmigkeit (»bin ich vorbereitet […]?«, »bin ich würdig […]?«) begegnen auch im weiteren Verlauf der Schilderung der Gefühlsreaktion.78 Auch der Gebetsgestus des Händefaltens entstammt protestantischer Frömmigkeitspraxis. Die ›Templisierung‹ der Natur folgt der durch neuzeitliche Bibelübersetzungen vermittelten Aufteilung des biblischen Heiligtums in Vorhof (hier die Alpen), eigentlichen Tempel mit Altären und Allerheiligstes (hier der der Besteigung harrende Berggipfel). Mit der Imagination einer Inschrift über dem Tempeleingang greift die Phantasie des Ich-Erzählers in das Gebiet quasi-paganer Religion über – quasi-pagan, weil der Wortlaut der Inschrift Introite, nam et heic Dei sunt! das Motto auf der Titelseite von Gotthold Ephraim Lessings Drama Nathan der Weise wiedergibt, das dort als Gellius-Zitat deklariert wird, aber weder bei Gellius noch sonst in einem antiken lateinischen Text nachweisbar ist;79 das Zitat kündigt den in Les-
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theus Kirchner) im 16. Jahrhundert als tremendum mysterium bezeichnet, am prominentesten im Decretum de observandis et evitandis in celebratione missae der 22. Sitzung des Konzils von Trient vom 17. September 1562. Dieser auf die Eucharistie bezogene Gebrauch von tremendum mysterium wurde bis in das 19. Jahrhundert beibehalten und fand sich dort in Monographien (David Friedrich Strauss) und Lehrbüchern (Karl Hase). Lutherische Theologen (Philipp Marheineke, Henrik Nicolai Clausen) verwendeten den Ausdruck zur Kennzeichnung des katholischen Eucharistieverständnisses. In der lutherischen Aufklärungstheologie wurde gelegentlich bestritten, dass das Abendmahl ein mysterium tremendum sei (so Gottfried Less), doch genau dies war von anderen Lutheranern (z.B. Johann Friedrich Cotta und Georg David Hefelen) behauptet worden. Neben der dominierenden Bezugnahme auf die Eucharistie wurde mysterium tremendum gelegentlich auch in anderem Zusammenhang verwendet: Die Straßburger Konkordie vom 18. März 1563, auf die evangelische Theologen des 17. und 18. Jahrhunderts sich mehrfach bezogen, bezog den Ausdruck auf die Prädestination. Auch die auf biblische Sprache (z.B. Psalm 103,14) zurückgreifende Selbstdemütigung des redenden Ich als Staub, die dem Übersetzer Mühe bereitete, taucht in Zeugnissen evangelischer Abendmahlsfrömmigkeit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf; vgl. z.B. den Tagebucheintrag der Auguste Friederike zu Ysenburg-Büdingen vom 23. Oktober 1774 ([Anonym (Hg.)], Briefe und Journale der Fürstin Louise Ferdinande zu Anhalt-Cöthen, gebornen Gräfin zu Stolberg-Wernigerode, der Gräfin Auguste Friederike zu Ysenburg-Büdingen, gebornen Gräfin zu Stolberg-Wernigerode, und der Gräfin Auguste Eleonore zu Stolberg-Wernigerode, gebornen Gräfin zu Stolberg-Stolberg, aus den Jahren 1764–1784. Dritter Theil 1774, Dresden 1882, 163): »O herrliches Abendmahl Jesu! Was genoß ich, Staub! Als eine Gottlose, so gerecht und selig zu werden!« oder das erste von Christian Daniel Schubarts Liedern nach dem Abendmahl (Christian Friedrich Daniel Schubart, Gedichte aus dem Kerker, Zürich 1785, 124). Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise. Ein dramatisches Gedicht, in fünf Aufzügen, o.O. 1779, 379–410, Titelseite; zu diesem Pseudo-Gellius-Zitat vgl. Hendrik Birus, Introite, nam et heic Dii sunt! Einiges über Lessings Mottoverwendung und das Motto zum Nathan, in: Euphorion 75 (1981), 400–410; Jan Erik Antonsen, Text-Inseln. Studien zum Motto in der deutschen Literatur vom 17. bis 20. Jahrhundert, Würzburg 1998, 51–53. Zu Baggesens Nathan-Rezeption vgl. Horst Nägele, Der deutsche Idealismus in der existenziellen Kategorie des Humors. Eine Studie zu Jens Baggesens idiolinguistisch orientiertem Epos Adam und Eva, Neu-
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sings Schauspiel propagierten Religionspluralismus an und unterstützt ihn. Das als Kontrast daneben gesetzte Zitat Procul, o! procul este, profani! stammt aus der Schilderung der Epiphanie der Göttin Hekate in Vergilius’ Epos Aeneis (6,258, in Imitation von Kallimachos, Hymnoi 2,2) und ist dort der warnende Ruf der Sibylle, Unbefugte mögen sich von heiligen Hain fernhalten. Auf Antike und Antikenrezeption beziehen sich auch weitere Elemente von Baggesens Text. Die »umgestürzte Fackel« und der »Todesengel« greifen auf Formulierungen aus Lessings Kontrastierung griechischer und christlicher Todesvorstellungen in Wie die Alten den Tod gebildet zurück.80 Der vom Ich-Erzähler befürchtete Blitzschlag nimmt die in griechischer und römischer Mythologie verbreitete Vorstellung vom Blitztod als Strafe der Gottheit auf,81 der gerade auch Himmelsstürmer treffen kann.82 Das »Buch des Schicksals«, das im Heiligtum befindlich imaginiert wird, nutzt eine für das 18. und frühe 19. Jahrhundert charakteristische Variante der Buchmetaphorik.83 Ebenfalls im 18. Jahrhundert zu verorten ist Baggesens Übertragung des ästhetischen Begriffs des Erhabenen auf Naturphänomene, die in zeitgenössischen Kunsttheorien erörtert84 und in Schilderungen des Naturerlebens vollzogen wurde. Kardinalbeispiel für die Erhabenheit der Natur wurde die Bergwelt.85 Wenn Baggesen sowohl seine Stimmung als auch den Augenblick des ersten Anblicks der Alpen als »feyerlich« qualifiziert, nutzt er einen Begriff, der im Erscheinungsjahr der dänischen Erstausgabe seiner Reisebeschreibung von Franz Volkmar Reinhard und Friedrich Schiller in den Mittelpunkt
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münster 1971, 31, 124 Anm. 412. Inschriften über Tempeleingängen scheinen vor allem im antiken Ägypten belegt zu sein (vgl. die Notiz von Plutarchos, De Iside et Osiride 354c, über die Inschrift am Isistempel von Sais). Zur umgestürzten Fackel vgl. Gotthold Ephraim Lessing, Wie die Alten den Tod gebildet, Berlin 1769, 9,13, 14, 33, 76, 83–85, zum Engel des Todes ebd., 87. Vgl. Wolfgang Speyer, Gewitter, in: Reallexikon für Antike und Mittelalter 10 (1978), 1107–1172, 1126; zur Rezeption dieser (in der Bibel nicht belegten) Vorstellung in der antiken christlichen Literatur ebd., 1157–1160. Vgl. Q. Horatius Flaccus, Carmen I 3, in: ders., Opera, hg. von Friedrich Klingner, 3. Aufl. Leipzig 1959, 4–6, V 37–40. Vgl. Rolf Engelsing, Das Buch-Gleichnis, in: Archiv für Kulturgeschichte 60 (1978), 363–382, 367ff. Vgl. Christian Begemann, Erhabene Natur. Zur Übertragung des Begriffs des Erhabenen auf Gegenstände der äußeren Natur in den deutschen Kunsttheorien des 18. Jahrhunderts, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 58 (1984), 74–110. Vgl. Jacek Woźniakowski, Die Wildnis. Zur Deutungsgeschichte des Berges in der europäischen Neuzeit, Frankfurt a.M. 1987, 50–67; Ruth Groh/Dieter Groh, Von den schrecklichen zu den erhabenen Bergen. Zur Entstehung ästhetischer Naturerfahrung, in: Heinz-Dieter Weber (Hg.), Vom Wandel des neuzeitlichen Naturbegriffs, Konstanz 1989, 53–95; Michael Jakob, Das Gebirge, das Heilige, das Erhabene, in: Stephan Kunz/Beat Wismer/Wolfgang Denk (Hg.), Die Schwerkraft der Berge 1774–1997, Basel/Frankfurt a.M. 1997, 75–81.
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ästhetischer Theorien des Feierlichen gestellt wurde.86 Die Mehrzahl dieser Theorien verknüpfte das Feierliche mit dem Erhabenen, sei es als dem Erhabenen untergeordnete oder mit ihm verwandte Kategorie.87 Die ausführlichste Erörterung, Christian Friedrich Böhmes Materialien zu einer Theorie des Feyerlichen, definierte das Feierliche als »die Erscheinung des Heiligen«.88 In Baggesens Erzählung offenbart sich die Gottheit nicht nur in der Kirche, teilt sich nicht nur im Sakrament mit, sondern auch in der Natur. Natur wird zur Sphäre der Präsenz der Gottheit, was Baggesen dadurch zu plausibilieren versucht, dass er im Rückgriff auf biblische Sprache und Vorstellungswelt (Jesaja 66,1, zitiert in Apostelgeschichte 7,49, aufgegriffen in Matthäus 5,35) die Erde als »Fußschemel der Gottheit« qualifiziert.
6. »Ueber die Darstellung des Heiligen auf der Bühne« – Drama, Theater (Ästhetische Diskurse II) Friedrich Schillers Drama Maria Stuart stellt die letzten Lebenstage der von ihrer protestantischen Konkurrentin gefangen gesetzten katholischen Königin dar. Wenige Tage vor ihrer Hinrichtung begehrt sie die Eucharistie, und zwar die konfessionell korrekt vermittelte: »Des Sakramentes heil’ge Himmelspeise / Verschmäh‹ ich aus den Händen falscher Priester.«89 Marias Gesprächspartner gibt sich als katholischer Priester zu erkennen und spendet ihr nach vollzogener Beichte die Eucharistie.90 So der Text des Dramas. Für die Uraufführung hatte Schiller die Rolle des Geistlichen mit einem katholischen Schauspieler besetzt und dem religiösen Ritual besondere Sorgfalt gewidmet.91 Doch zwei Tage vor der Uraufführung im Juni 1800 weist der regierende Her86
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Vgl. Franz Volkmar Reinhard, Predigten. Zweyter Theil, Wittenberg/Zerbst 1793, 343–362; Friedrich Schiller, Über Anmuth und Würde, in: Neue Thalia, Dritter Theil, 2. Heft (1793), 1–220, 218–220. Untergeordnet: z.B. Friedrich Bouterwek, Aesthetik, Wien/Prag 1807, 136–138. Verwandt: z.B. Wilhelm Traugott Krug, System der theoretischen Philosophie. Dritter und letzter Theil. Geschmackslehre, 2. Aufl. Königsberg 1823, 143–145. Die genaue Zuordnung konnte kontrovers sein: Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Aesthetik für gebildete Leser. 1r. Theil, Leipzig 1807, 195–197, verstand das Feierliche als eine Abart des Erhabenen; dagegen wandte sich Grohmann (Anm. 46), 127–129, für den das Feierliche »das Erhabene in seiner ersten Entfaltung zur Unendlichkeit« war. [Christian Friedrich] Böhme, Materialien zu einer Theorie des Feyerlichen, in: Liturgisches Journal 8 (1809), 1–35, 6f. Ebd., 14 und 30, reflektiert Böhme über die auch von Baggesen benutzte Kategorie »Stimmung«. Friedrich Schiller, Maria Stuart ein Trauerspiel, Tübingen 1801, 211 (V 7). Vgl. ebd., 219 (V 7). Es handelt sich um den seit 1793 in Weimar tätigen Schauspieler Friedrich Haide (1771–1840); vgl. dessen von Robert Boxberger (Rez. Wilhelm Fielitz, Studien zu Schillers Dramen, in: Ar-
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zog den Direktor des Weimarer Hoftheaters an, die Darstellung dieser Szene zu verbieten.92 Für spätere Aufführungen wurde die Szene in eine Beichte ohne Eucharistie abgeändert.93 Bald nach der Uraufführung wurde Schiller von einem alten Freund dafür gelobt, die Eucharistieszene geschrieben zu haben: Es ist kein Grund vorhanden, religiöse Gegenstände vom Gebiete der dramatischen Kunst auszuschließen; und daß man so etwas auf dem Theater nicht verträgt, beweist bloß die noch herrschenden unwürdigen Begriffe von der Schauspielkunst. So lange diese aber noch dauern, ist es recht, eine solche Scene für das Theater abzuändern. Was irgend jemandem heilig ist, hat man jetzt doppelt zu schonen, da es für so wenige Menschen irgend etwas Heiliges giebt.94
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chiv für Litteraturgeschichte 6 (1876), 261–275, 275) edierte Notizen vom 22. Juni 1812: »Mit warmer Vorliebe legte mir Schiller die Scene im 5. Akte ans Herz. Als Katholik mußte ich ihm den ganzen kirchlichen Ritus der Ohrenbeichte und des Abendmahls mittheilen. Er gab mir auf, so weit es mit den Worten übereinstimme, die übliche Priestermanier der Administration beider Sacramente genau darzustellen, die Absolution mit dem ein dreifaches Kreuz bildenden Gest deutlich zu bezeichnen und das Abendmahl unter zweierlei Gestalt zu reichen, indem zu dem Kelche – dem Vorzug der katholischen Priester, auch die Könige berechtigt seien. Nach einer Vorprobe wurde der Herzog von dieser – Profanation nanntens einige unterrichtet; er schrieb Schillern einen ausnehmend artigen eigenhändigen Brief, und bat ihn: die öffentliche Feier einer religiösen Weihe vom Theater wegzulassen, indem er und die besseren wohl mit ihm einverstanden seien, allein die gemeine Masse dürfte daran wohl Anstoss nehmen. Schiller liess mich rufen: er war so aufgebracht, dass er leidenschaftlich ausfiel: Ich will ein Stück schreiben, worin genothzüchtigt wird und – sie müssenzusehen. Allein er änderte meine Rolle: Ciborium und Kelch blieben weg, und er schloss mit der Absolution.« Den Brief von Karl August von Sachsen-Weimar-Eisenach an Johann Wolfgang von Goethe edierte Carl Vogel (Hg.), Briefwechsel des Großherzogs Carl August von Sachsen-WeimarEisenach mit Goethe in den Jahren von 1775 bis 1828. Erster Band, Weimar 1863, 259 Nr. 157, vgl. auch Goethes daraus folgenden Brief an Schiller vom 12. Juni 1800 [723], in: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Fünfter Theil vom Jahre 1799 und 1800, Stuttgart/Tübingen 1829, 277. Vgl. Friedrich Schiller, Werke. Nationalausgabe, Bd. 9.1 N: Maria Stuart, hg. von Nikolas Immer, Weimar 2010, 341–350, 370f., 375f., 378f., 385f. Christian Gottfried Körner, Brief vom 9. Juli 1800, in: Schillers Briefwechsel mit Körner. Von 1784 bis zum Tode Schillers. Vierter Theil. 1797–1805, hg. von Karl Goedeke, 2. Aufl. Leipzig 1859, 179f. – Eine andere positive Reaktion erfuhr Schiller auch durch seinen Schwager Wilhelm Friedrich Hermann Reinwald, der sich beim Autor von Maria Stuart am 15. Januar 1803 für einen Almanach, der Kupferstiche u.a. zu Maria Stuart enthielt, bedankte (Schiller’s Briefwechsel mit seiner Schwester Christophine und seinem Schwager Reinwald, hg. von Wendelin von Maltzahn, Leipzig 1875, 240f): »Indeß hat mich die Abendmahlsscene, so anstößig sie hier u. da gewesen seyn mag, nicht wenig gerührt. Es foderte überhaupt Kunst von einem Protestanten sich in den religiösen Enthusiasmus eines Katholiken so ganz zu versetzen, als wenn es ihm Ernst seyn könnte.«
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Für die Öffentlichkeit wurde der Unterschied zwischen dem, was sie im gedruckten Drama lesen konnten, und dem, was ihnen bei Aufführungen vorenthalten blieb, zum Anlass einer bald grundsätzlich werdenden Debatte: Kann, soll, darf »das Heilige« auf der Bühne dargestellt werden? Darf ein Autor so etwas dichten? Darf ein Dramaturg es auf die Bühne bringen? Ist die Schauspielerrolle für das Spielen einer heiligen Handlung geeignet? Was kann misslingen, wenn die Rolle des Priesters einem schlechten Schauspieler anvertraut wird?95 Verträgt es das Publikum? Ist die Bühne ein möglicher Ort für eine solche performance? Zu diesen Fragen gab es in der Folgezeit gegensätzliche Ansichten – und Ambivalenzen.96 Eine frühe Rezension zu 95
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Ludwig Bechstein fordert im Brief vom 10. Dezember 1835 an den Direktor des Meininger Theaters Karl Freiherr von Stein anlässlich einer Inszenierung von Maria Stuart, dass »künftig Scenen, in welchen heilige Gebräuche auf der Bühne zur Anschauung gebracht werden, wie die […] des Abendmahls in Maria Stuart, möglichst vermieden werden, so wie daß […] kein Cruzifix, sondern an dessen Stelle, wo es absolut nöthig ist, ein einfacher Kranz ohne Christusbild aufgestellt und gebraucht werde, da von unserer Seite her dergleichen anstößig gefunden wird. Die Abendmahlszene in Maria Stuart bleibt umso besser dann hinweg, wenn ein schlechter Schauspieler als Melvil durchs Nichtkönnen seiner Rolle und üblen Sprache und daher schlechten Darstellung das gute Spiel der Maria verdirbt und den tragischen Eindruck stört, wie es hier der Fall war.« Zitiert nach Hans-Peter Mederer, Die Hoftheater Meiningen und Coburg-Gotha 1831–1848. Ludwig Bechsteins Briefe an Friedrich Wilhelm von Kawaczynski, 2. Aufl. Bad Langensalza 2007, 23. So etwa bei dem Dramatiker und Dramaturgen Ernst August Friedrich Klingemann; vgl. August Klingemann, Kunst und Natur. Blätter aus meinem Reisetagebuche. Erster Band, Braunschweig 1819, 153–155: »Zuletzt sei es mir erlaubt, noch einen Augenblick bei einer Szene zu verweilen, auf die Schiller ganz besonderen Werth legte, und um welcher er, als poetischer Eiferer, in Zwiespalt mit der höheren Polizei in Weimar und seinem Freunde Herder gerieth: ich meine nämlich die Beicht- und Abendmahlsszene im fünften Acte. Die Frage: ob die Darstellung des Heiligen auf der Bühne zuzulassen sei? kann nur durch die Beantwortung einer anderen, nämlich: ob die Bühnendarstellung überhaupt zu der höheren Kunst gehöre? zugleich mit erledigt worden [sic!]. Erfolgt auf diese letztere übrigens ein Ja, so fällt die erstere an sich selbst hinweg, da die Darstellung des Heiligen in jeder Form von jeher die höchste Aufgabe aller Kunst gewesen ist. Eine andere Frage aber ist die: ob das Abendmal, als höchste christliche Mysterie und eigentliches Sacrament, auf der Bühne zum Scheine gereicht werden dürfe? und die Beantwortung derselben erfordert allerdings eine genauere Berücksichtigung. Alle Kunst ist ihrer Absicht nach wahrhaft, und sie realisirt das von ihr erschwungene Ideale hinwiederum, so weit es ihr nur möglich ist. Der Maler, der Bildhauer und der Dichter kann das Sakrament des abendmals, jeder in seinem bestimmten Kunstkreise, bis zu der von ihm zu erreichenden höchsten Wahrheit darstellen; der Schauspieler dagegen entsagt der letzteren in dieser Hinsicht in einem wesentlichen Theile, indem er das Sacrament nur scheinbar genießt, und mit einer höheren Mysterie offenbare Täuschung treibt; aus diesem Grunde aber, und nur aus diesem, halte ich die Szene selbst für verwerflich und sie erscheint mir anstößig, weil in ihr die Wahrheit zum Spiele, nicht aber, wie es sein sollte, das Spiel zur Wahrheit wird. Wollte der Künstler übrigens ein höheres Ziel verfolgen, und das Sacrament als solches genießen, so würde die Bühne sich sofort in die Kirche selbst verwandeln, und die Scheidewand zwischen Kunst und Religion eingestürzt sein. Diese Ansicht ist übrigens nicht a priori,
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Maria Stuart betonte: »Alles wahrhaft Heilige ist wahrhaft schön«,97 und fuhr fort, dass der Großteil des Publikums »des religiösen Kunstsinnes am meisten ermangelt« und die Obrigkeit daher »die Darstellung jener Scene auf der Bühne bedenklich findet, um nicht das Heilige für den großen Haufen zum Spielwerke zu machen.«98 Bald verbanden sich Gegenwartsdiagnosen mit der Debatte Ueber Aufführung des kirchlichen Cultus auf der Bühne: »Ein charakteristischer Zug unsers Zeitalters ist die Vermengung aller Lebens- und Weltelemente, des Heiligen und Profanen.«99 Schillers Freund hatte gemeint, das Publikum sei für die Darstellung des Heiligen auf der Bühne noch nicht reif. Gut zwanzig Jahre später war ein angehender junger Dichter frustriert, dass die Kommunionszene, auf die er sich gefreut hatte, bei einer von ihm besuchten Aufführung weggelassen wurde. Wilhelm Waiblinger diagnostizierte, dass seine Zeit nicht mehr für ein Sakrament auf der Bühne empfänglich sei: Spottlieder, Possen, Blasphemien über das Heiligste werden gelesen und gebilligt, und ein Sakrament auf der Bühne, die doch mittelbar eine Bildungsschule für Herz und Geist sein soll, mit einer Feierlichkeit, in einer Situation darzustellen, wie’s in keiner Kirche im Lande gefeiert wird, das soll eine Entweihung, eine Sünde, das soll verboten sein. O was ist unser Theater geworden? War es bei den Alten nicht ein religiöser Akt?100 Nicht nur Waiblinger beschwor die Antike, um Kriterien für gegenwärtige Schauspielpraxis zu gewinnen. Die griechischen Dramatiker – so eine Gegenposition –
sondern unmittelbar aus der Erfahrung selbst für mich hervorgegangen; ich wagte nämlich einst vor einer kleinen sehr ausgewählten Zahl von Zuschauern diese Szene unabgekürzt und ganz im Sinne des Dichters auf der Bühne ausführen zu lassen, die darstellenden Personen waren ganz von der Wichtigkeit des Moments erfüllt, und Melvil führte die heilige Handlung selbst mit ächt priesterlicher Weihe aus. Eine tiefe Stille herrschte in der Versammlung, und man wagte es kaum zu athmen; aber diese Stille hatte etwas Aengstliches und Gepreßtes und ich fühlte, daß, um dieses zu entfernen und dem erhabenen Auftritte sein ganzes Recht zu verschaffen, noch etwas mehr erfordert werde, welches jedoch an diesem Orte nicht statt finden könne, weshalb also hier ein Grenzpunkt eintrete, wo der Schein sein Recht verliere, und die Wahrheit selbst an ihren Platz treten wolle.« 97 [Anonym], Rez. Schiller, Maria Stuart, ein Trauerspiel, in: Allgemeine Literatur-Zeitung 1802, 1–16, 15. 98 Ebd., 16. 99 Wezel (Anm. 48), 261. Verfasser ist Friedrich Gottlob Wetzel; zur Identifikation vgl. Helmut Sembdner, Die Berliner Abendblätter Heinrich von Kleists, ihre Quellen und ihre Redaktion, Berlin 1939, 50. 100 Wilhelm Waiblinger, Tagebücher 1821–1826. Textkritische und kommentierte Ausgabe in zwei Bänden, Bd. 1: Hugo Thorwalds Lehrjahre, 1.–8. Teil, hg. von Hans Königer, Stuttgart 1993, 547.
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[…] wußten wohl, daß die Poesie ein höheres Ideal habe, als den Volksglauben dieser Zeit, dieses einzelnen Volkes: denn dann wäre sie vergänglich, wie die beschränkte Gestalt, in der das Heilige jedermann öffentlich erscheinen muß: sie soll vielmehr aussprechen, was allen Zeiten, allen Völkern vom Anbeginn bis ans Ende das Heiligste ist und bleiben wird: nicht der Volks- und Zeitreligion soll die Göttliche dienen, sondern ein Organ seyn der ewigen Weltreligion. Was soll man nun zu Dichtern sagen, welche dem Beispiel der Alten und der allgemeinen innerlichen Verehrung des Heiligen zum Trotz die Mysterien der Religion nach kirchlichem Brauch auf dem Theater feiern? Fehlte es ihnen an Religion? Oder an Poesie? Oder vielleicht an beiden?101 Andere argumentierten damit, dass »die Bühne selbst […] durch Einführung der erhabensten Gegenstände geheiligt, und, wie sie es bey den Alten war, zum religiösen Kunsttempel erhoben« werde.102 Die Bühnenpraxis der Spanier und der Franzosen wurde angeführt und behauptet: »haben denn wir Deutsche uns je geweigert, dem Erhabenen und Heiligen auf der Bühne unser Ohr und Herz zu öffnen?«103 1815 erschien die erste selbstständige Veröffentlichung zu dieser Frage. Sie ist zugleich die erste mir bekannte selbstständige Veröffentlichung, in der »das Heilige« im Titel begegnet: Ueber die Darstellung des Heiligen auf der Bühne. Auf 46 Seiten wird das Problem von vielen Seiten beleuchtet, und »das Heilige« wird definiert: Was nennen wir nun das Heilige? […] Der Ausdruk: Heiliges, befaßt viel. Im weitesten Sinne gehört in diesen magischen Kreis das ganze höhere Menschenleben mit all‹ seinen zarten und tiefen Mysterien; die Liebe, die Tugend, der Heldenmuth, die Pietät, die Treue, die Selbstverläugnung, der Kampf der Pflicht gegen Verhältnisse, und ihr Sieg über das Schiksal. Im engeren Sinne heißt uns das Heilige alles, was zunächst und ausdrüklich auf die Gottheit hinweiset, von ihr ausgeht, mit ihr verbindet. Heilig also ist vorzugsweise die Gottheit selbst. Heilig nicht minder das ihr Geweihte, Eigne, die Oerter, Personen, Gebräuche, Handlungen, Opfer, Begebenheiten, bei welchen sie gegenwärtig, durch die sie sich offenbarend gedacht wird.104
101 Wezel (Anm. 48), 261. 102 [Johann Carl Christian] Fischer, Die heilige Komödie (Ein Vorschlag zu einer neuen Mode), in: Wiener-Moden-Zeitung 1 (1816), 77–83, 83. Der Autor lässt sich unter Berücksichtigung von Wilhelm Hebenstreit, Das Schauspielwesen. Dargestellt auf dem Standpunkte der Kunst, der Gesetzgebung und des Bürgerthums, Wien 1843, 274, als Johann Karl Christian Fischer (1765–1816) identifizieren. 103 Fischer [Anm. 102], 78. 104 J[ohann] H[einrich] Bernhard Dräseke, Ueber die Darstellung des Heiligen auf der Bühne. Eine Vorlesung am 4ten September im Museum zu Bremen, Bremen 1815, 16f.
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Auch hier bildet Maria Stuart den Ausgangs- und Hauptbezugspunkt.105 Im Ergebnis plädierte die Abhandlung für die Darstellbarkeit des Heiligen auf der Bühne. Der Verfasser war ein evangelischer Geistlicher, Bernhard Dräseke. Auch in der Folgezeit waren es Kollegen von Dräseke, die der Bühne hier Spielräume einräumten.106 Schleiermacher sah hier vor allem eine Gewissensfrage, die nur individuell zu beantworten sei.107 Dräsekes Schrift fand erwartungsgemäß bei Theaterleuten großen Anklang108 und wurde bis Mitte des 19. Jahrhunderts beachtet.109 Die ausführlichsten Gegenargumente kamen von einem Philosophen und einem Kulturjournalisten.110 Letzterer, Wilhelm Hebenstreit, war wohl auch der der erste, der »das Heilige« als Stichwort in ein Lexikon aufnahm.
105 Vgl. ebd., 3: »Seit Schiller, der unvergeßliche, seine Maria Stuart schrieb, ist der Gegenstand, für welchen ich mir Ihre wohlwollende Aufmerksamkeit erbeten habe, in starke Anregung gekommen. Später erschienene Werke der dramatischen Kunst, z.B. Werner’s Weihe der Kraft, Klingemann’s Moses, und ganz neuerlich Krummacher’s Johannes, geben der Sache ein fortwährendes Interesse.« Joh[ann] Christ[ian] Aug[ust] Grohmann (Ueber die Darstellung des Heiligen auf der Bühne. Eine kleine Nachlese zu der Vorlesung über denselben Gegenstand von J.H.B. Dräseke, Hamburg 1816, 23–28) bezieht sich außer auf Maria Stuart auf Werner und Klingemann, übergeht Krummacher und nimmt Schillers Jungfrau von Orleans hinzu. Die ausführlichste Liste bietet Eduard Devrient, Geschichte der deutschen Schauspielkunst. Dritter Band, Leipzig 1848, 412; er nennt als weitere, Maria Stuart vergleichbare Dramen Weihe der Kraft (Zacharias Werner, 1806), Der standhafte Prinz (Pedro Calderón de la Barca, 1629; deutsch von August Wilhelm Schlegel 1809), Andacht zum Kreuz (Pedro Calderón de la Barca, 1634; deutsch von August Wilhelm Schlegel 1803), Saul (Vittorio Alfieri, 1782; deutsche Übersetzungen von Wilhelm von Lüdemann u.a. 1825 und von Carl Ludwig von Knebel 1829), Moses (Ernst August Friedrich Klingemann, 1812), Johannes (Friedrich Adolf Krummacher, 1815), Die Tochter Jephtas (Ludwig Robert, 1811). 106 Vgl. Heinrich Alt, Theater und Kirche in ihrem gegenseitigen Verhältniß historisch dargestellt, Berlin 1846, 662: »Ebenso wenig würde man von einer Profanation des Heiligen oder der Kirche sprechen dürfen, wenn bei guten Stücken der Art im Verlauf der Handlung Gebete oder wie in Schillers ›Maria Stuart‹ eine sacramentliche Handlung vorkäme. Denn jeder verständige Christ weiß, daß nicht der Ort, sondern der fromme Sinn diese Handlungen heiligt.« 107 Vgl. Friedrich Schleiermacher, Literarischer Nachlaß. Zur Theologie. Siebenter Band: Die christliche Sitte nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, in: ders., Sämmtliche Werke. Erste Abtheilung. Zur Theologie. Zwölfter Band, Berlin 1843, 683–685. 108 Vgl. Devrient (Anm. 105), 408–412. 109 Vgl. Alt (Anm. 106), 32.660-662. 110 Vgl. Grohmann (Anm. 105); Hebenstreit (Anm. 102), 273–283, 304f.
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7. »Ich verstehe unter dem Heiligen alles dasjenige […]« – Definitionen des Heiligen Hebenstreit formulierte in seiner Wissenschaftlich-literarische[n] Encyklopädie der Aesthetik folgende Definition: »Heilig, das Heilige; das Untadelhafte, Unsträfliche, das moralisch Vollkommenste außer dem Kreise des Menschlichen liegend.«111 Darin ist ein Differenzkonzept des Heiligen impliziert: In Hebenstreits Verständnis ist das Heilige nicht verfügbar und soll deshalb auch außerhalb der Kirche nicht zur Schau gestellt werden, weder auf der Bühne noch im Wirtshaus. Dass für das substantivierte Adjektiv »das Heilige« 1843 ein Lemma in einem Lexikon reserviert wird, ist ein Indikator für den Stellenwert, den das Konzept in bestimmten Diskursen bis dahin erhalten hat. Hebenstreits Definition war nicht die erste, wie die eben zitierte Definition von Dräseke zeigt. Anders als Hebenstreit hatte Dräseke ein Präsenzkonzept des Heiligen vertreten, indem er neben der Gottheit auch Settings, Funktionsträger und Rituale organisierter Religion darin einschloss. Einige Jahre vor Dräseke hatte Christian Friedrich Böhme, wie Dräseke ein lutherischer Geistlicher, das Heilige im Kontext seiner Materialien zu einer Theorie des Feyerlichen, einem aktuellen Teilgebiet ästhetischer Theorie um 1800, definiert. Ich verstehe unter dem Heiligen alles dasjenige, was allen Vernünftigen Huldigung auferlegt, und es ist offenbar, daß diese Huldigung der Vernunft nur durch Anerkennung eines Gesetzes möglich ist, welches alles vernünftige Weltwesen verbinde. Das Heilige, von dem wir reden, und welches, wie man leicht gewahr wird, innerlich und an sich ein solches ist, gründet sich jederzeit auf das Moralische, oder vielmehr ist dieses selbst in seiner Achtbarkeit und Kraft für das vernünftige Individuum. Als Idee betrachtet, was es eigentlich ist, befindet es sich demnach immer nur in uns selbst, aber zum Ideal gebildet, wo es in seiner höchsten Vollkommenheit die Gottheit ist, versetzen wir es, weil wir dieses nicht an uns selbst finden, nothwendig außer uns.112 Dass das Heilige zugleich in uns und außer uns existiert, teilt mit Böhme der von Kant geprägte katholische Aufklärungsphilosoph Kajetan Weiller, der 1804 die älteste mir bekannte Definition von »das Heilige« veröffentlichte:
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Wilhelm Hebenstreit, Wissenschaftlich-literarische Encyklopädie der Aesthetik. Ein etymologisch-kritisches Wörterbuch der ästhetischen Kunstsprache, Wien 1843, 339. Böhme (Anm. 88), 9.
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Das Heilige ist allein ein lebendiges Bestehen durch sich selbst, ein unverändertes immer gleich andauerndes Bestehen, folglich allein ein eigentliches Seyn, das einzige wahre Seyn. Außer ihm ist daher kein eigentliches wahres Seyn mehr.113 Der Sinn dieser Definition erschließt sich durch Weillers vorangegangene Ausführungen: Das Absolute ist – das Heilige. Nicht aber der bloße Begriff des Heiligen, wie es vom Verstande aufgefaßt wird, nicht bloß eine im gewöhnlichen Sinne genommene nur als Regung unserer Vernunft in uns schwebende Idee von Heiligkeit, sondern das von der Vernunft mit ihrer hohen Idee nur bezeichnete, übrigens aber für sich selbst schon lebendige Heilige ist das Absolute. Also nicht bloß ein Denken, oder Fühlen, oder Wollen, nicht bloß eine Regung von uns, sie möchte auch noch so schön und ehrwürdig oder gewaltig seyn, nicht bloß ein Schönes, Gutes, Heiliges, das sich nur durch uns bewegt, sondern das Heilige, das auch ohne uns durch sich selbst lebt, dieses ist das Absolute. Unser Denken, Fühlen, Wollen ist nur ein Mittel für uns, zu ihm zu gelangen, ist aber nicht schon dieses selbst. Dieses für sich selbst ist ein Selbstständiges, ist das Selbstständigste.114
8. »Daß das Wahre und das Gute, das Schöne und das Heilige einander wechselseitig die Hand bieten müssen« – Ästhetische, philosophische und pädagogische Orientierungsgrößen, Ordnungsmuster und Lernziele Dass die Rede vom Wahren, Guten und Schönen im 19. Jahrhundert viel verwendet wurde, ist bekannt.115 Nicht geläufig ist, dass zahlreiche Intellektuelle – Philosophen, Theologen, Pädagogen, Schriftsteller diese Trias um »das Heilige« zu einer Viererreihe erweiterten.116 113 114 115 116
Kajetan Weiller, Anleitung zur freyen Ansicht der Philosophie. Zunächst für seine Zuhörer, München 1804, 348f. Ebd., 327f. Vgl. zuletzt Gerhard Kurz, Das Wahre, Gute, Schöne. Aufstieg, Fall und Fortbestehen einer Trias, Paderborn 2015. Mein frühester Beleg ist Johann Georg Schlosser, Seuthes oder der Monarch. An Jacobi, Straßburg 1788, 117f.: »A. In der That, denn nachdem was du sagtest, ist das Gesetz, das jedem des Seinen versichert, nicht des Menschen, sondern Gottes Gesetz. S. So ist’s! Und dazu, ein Gesetz, auf welchem, wie gesagt, alle Harmonie, alle Glückseligkeit, aller Werth des ganzen menschlichen Geschlechts beruht. Darum siehst du auch, daß unter den Königen, welche sich anmassen für andere zu wollen, alle die Dinge, die von Menschen abhangen, geändert, alle die Triebfedern welche den Menschen antreiben zu wirken, verfälscht werden müssen. Das Schöne das Gute, das Grosse, das Heilige selbst, bekommt eine andere Natur. Es ist nichts von
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Das Verhältnis dieser vier Größen konnte unterschiedlich bestimmt werden: Ihr Zusammenhang kann ebenso betont werden117 wie ihre Unterschiedenheit, die in unterschiedlichen Disziplinen der Philosophie reflektiert werden kann.118 Schönes,
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dem allen mehr, in sich schön gut, groß und heilig, sondern es ist so, weil es der König so will, und wird anders, sobald er anders will. Eben so wenig ist es mehr das gespannte Herz, die volle Seele, der lichtvolle Geist, der Thaten, Gedanken, und Gefühle in dem Menschen zeugt, sondern der Lohn des Königs, oder sein Wille, formt alles das, in scheinbare Gestalten.« Der späteste von mir registrierte Beleg, jenseits des Berichtszeitraums, ist Wilhelm Bölsche, Ernst Haeckel. Ein Lebensbild (Männer der Zeit 8), Dresden/Leipzig 1900, 12f. (über Ernst Haeckels Kindheit): »Bei den Sethes herrschte religiöser Sinn. Aber er war nicht starr traditionell. Er kam aus der Tiefe menschlicher Schicksale, individuellen Erlebens. In dieser Tiefe findet er sich allemal mit der andern Grundeigenschaft menschlichen Erlebens und Innenlebens zusammen: der Achtung vor der Wahrheit. Schleiermacher, der Gute, hatte in den Schranken seiner Zeit, (ja sehr in diesen Schranken) doch versucht, grade an dieser Kreuzungsstelle ein neues, ein gleichsam in sich selbst auferstandenes Christenthum zu gründen. In dieses Christenthum, das nicht historische Geschichtsbücher von mehr oder minder zweifelhafter Beweiskraft für Wunderthaten brauchte, sondern das Heilige in den symbolischen Endwerten und Entwickelungszielen des Schönen, Guten, Wahren prophetisch zu suchen begann, hätte der Darwinismus sich schließlich sehr gut einordnen können. Schleiermacher, – der die ›Natürliche Schöpfungsgeschichte‹ liest […]«. Ersetzungen innerhalb dieser Viererreihe begegnen ebenfalls, vgl. etwa Dräseke (Anm. 104), 178 (das Gute, Schöne, Wahre, Göttliche; Predigt von 1807); Philipp Joseph Rehfues, Reden an das deutsche Volk. Zweyte Rede, Deutschland 1814, 3 (das Gute, Schöne, Große, Heilige); Johann Ernst Osiander, Apologie des Lebens Jesu gegen den neuesten Versuch, es in Mythen aufzulösen, Tübingen 1837, 104f. (das Heilige, Wahre, Erhabene, Schöne); Franz Anton Staudenmaier, Die Philosophie des Christenthums oder Metaphysik der heiligen Schrift als Lehre von den gottlichen Ideen und ihrer Entwicklung in Natur, Geist und Geschichte, Bd. 1: Lehre von der Idee, Gießen 1840, 895f. (Heiliges, Gutes, Recht, Schönheit). Eine Erweiterung auf fünf Begriffe bringt Weiller (Anm. 117), auf sechs Begriffe Ludwig Feuerbach (Ludwig Feuerbach, Der rationalistische oder ungläubige Unsterblichkeitsglaube, in: ders., Sämmtliche Werke, Bd. 3: Gedanken über Tod und Unsterblichkeit, Leipzig 1847, 320–363, 350): »Das Alte ist immer das Gute, das Rechte, das Wahre, das Heilige, das Praktische, das Heilsame, das Neue das direkte Gegentheil.« Vgl. K[ajetan] Weiller, Der Geist der allerneuesten Philosophie der HH. Schelling, Hegel, und Kompagnie. Eine Uebersetzung aus der Schulsprache in die Sprache der Welt. Mit einigen leitenden Winken zur Prüfung begleitet. Zum Gebrauche für das gebildete Publikum überhaupt. Zweyte Hälfte, München 1805, 44: »Das Schöne und Erhabene hangen durch lebendige Fäden mit dem Wahren, Guten und Heiligen zusammen.« Vgl. [Anonym], Stimmen der Weisheit und der Erfahrung. Das Alphabet der Erfahrung und der Lebensphilosophie. Eine Sammlung von zwölfmal sechszig Sätzen und Stellen aus den besten Werken der Schriftsteller Deutschlands, in: Jurende’s Mährischer Wanderer. Ein allgemeiner National-Kalender für alle Provinzen des österreichischen Gesammtreiches auf das Jahr 1819. Allen Freunden der Kultur aus dem Lehr- Wehr- und Nährstande; vorzüglich allen Natur- und Vaterlandsfreunden geweih’t. Als ein Versuch zur Verbesserung des Kalenderwesens zuerst für das Jahr 1809 gegründet, Achter Jahrgang, Brünn 1819, 81–98, 91 Nr. 424: »Die höchsten Beziehungen der Welt und des Menschen, womit sich die Philosophie beschäftigt,
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Wahres und Gutes können Ausprägungen des Heiligen sein,119 Offenbarungen des Unendlichen.120 Zusammen vereinigen sie sich zum Göttlichen.121 Sie sind Ideale,122 Bezugspunkte der Daseins- und Handlungsorientierung.123 Sie sind in der menschlichen Natur niedergelegt;124 das Heilige ist in unseren Gesinnungen und Überzeu-
sind: Das Wahre, das Schöne, das Gute und das Heilige. Darum ist die Philosophie entweder Philosophie der Natur, oder der Kunst, oder der Sittlichkeit und des Rechts, oder der Religion.« 119 Vgl. Weiller (Anm. 113), 326f.: »Das hohe Eine, das schon als Schönes und Erhabenes, und noch mehr als Wahres und Gutes in einer eigenthümlichen von aller Entgegensetzung freyen, Reinheit erscheint, kündigt sich als Heiliges in seiner vollständigsten, weder durch irgend eine innere noch durch irgend eine äußere Entgegensetzung getrübten, Reinheit an. Es ist als solches in aller Hinsicht ohne alle Beschränkung nur ein Schönes, Erhabenes, Wahres, Gutes. Es ist in aller Hinsicht ohne alle Beschränkung nur – ein lebendiges Reelles. Es ist streng genommen zwar ein Namenloses, aber darum nicht auch ein Inhaltloses, sondern gerade darum, weil es unseren beschränkten Namen überlegen ist, das Inhaltvollste. Ihm kann sich das Raisonnement am wenigsten nähern. Der Verstand kann in Rücksicht desselben mehr nicht, als das ihm als Schönes, Erhabenes, Wahres, Gutes angebothene Reelle auffassen, und die Schranken desselben fallen lassen.« 120 Vgl. Friedrich Ast, Grundlinien der Philosophie, 2. Aufl. Landshut 1809, 7: »Das Wahre, Schöne und Gute sind die Elemente der Philosophie. Diese sind aber die Offenbarungen des Unendlichen in seinem Hervortreten aus dem Ewigen und seinem Zurückstreben in das Heilige.« Ebd., 9: »Der Urgrund allen Seyns ist das Ewige, das Ziel alles Lebens das Heilige; ihr Mittelglied dasjenige Wesen, welches in seiner frei gebildeten Schönheit das Wahre mit dem Guten vermählt, und von dieser seiner irdischen Vollendetheit zum Urprincip aller Vollendung, zum Heiligen überstrebt: der Mensch. Darum concentrirt sich das Ewige als geoffenbartes Seyn, d. i., als Natur im Menschen, um sich durch ihn zum Guten zu bilden, und von der frei gebildeten Einheit des Ewigen und Wahren, von der Schönheit, aufzusteigen zur Ureinheit alles Lebens, zum Heiligen.« 121 Vgl. [Ignatius Aurelius] Feßler, Ansichten von Religion und Kirchenthum. Erster Theil, Berlin 1805, 64: »In diesem Glauben und in dieser Hoffnung erhebe ich mit Andacht und Demuth mein Gemüth zu dem heiligsten Willen, in welchem sich Alles, das Sichtbare und Unsichtbare, das Freye und Nothwendige, das Endliche und Unendliche, das Wahre, Gute und Schöne, das Ewige und Heilige zum Göttlichen einiget; zu ihm, dem Vater alles dessen, was da Kind der Menschheit ist im Himmel und auf Erden […].« 122 Vgl. ders., Resultate seines Denkens und Erfahrens als Anhang zu seinen Rückblicken auf seine 70jährige Pilgerschaft, Breslau 1826, 227. 123 Vgl. Bouterwek (Anm. 87), 128: »Das Schöne und Große der Tugend, das Begeisternde in ihr, das den Menschen über sich selbst erhebt, sollte die edleren Gemüther ergreifen, hinreißen, und fesseln. Lieben sollte der Mensch das Gute, und es thun, weil er es liebt. Es sollte das Heilige seyn, an dem man sich, auch ohne an Unterwürfigkeit zu denken, um keinen Preis versündigen wolle.« 124 Vgl. Friedrich Ehrenberg, Handbuch für die aesthetische, moralische und religiöse Bildung des Lebens. Mit besonderer Hinsicht auf das weibliche Geschlecht, Leipzig/Elberfeld 1807, 10f.: »Das Schöne, Erhabene, Gute und Heilige dürfen nicht erst erfunden werden. Ihre Umrisse sind in die menschliche Natur niedergelegt, und kommen überall zum Vorschein. Ihr
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gungen und in unserer sinnlichen Erfahrung präsent,125 nähert sich dem Gemüt,126 das sich ihm hingibt,127 und wird im religiösen Gefühl erkannt.128 Es gibt daher nicht nur die Möglichkeit, sondern die Verpflichtung, sich dem Heiligen anzunähern, nicht zuletzt durch das Gebet.129 Das Verhältnis der Größen ›Gutes‹, ›Wahres‹, ›Schönes‹ und ›Heiliges‹ kann hierarchisch konstruiert werden, mit dem Heiligen an der Spitze.130 Aber die Begeisterung für das Heilige kann auch als Unterart oder Steigerung der Begeisterung für das Gute subsumiert werden.131 Ansehn steht für sich selbst. Wir brauchen nur zu beobachten und zu zergliedern, um zu genügenden Einsichten zu gelangen.« 125 Vgl. Kajetan von Weiller, Grundlegung zur Psychologie, München 1817, 14: »Das Göttliche oder Heilige wird, in wie ferne es in unsern Gesinnungen auftritt, das sittlich Gute genannt. In unsern Ueberzeugungen erscheinend, heißt es das Wahre. Gehüllt in sinnliche Gestalten, und dadurch berührend selbst die edlern unserer äußern Sinne, ist es das Schöne und Erhabene. Nur in allen Beziehungen zugleich genommen, mithin unser ganzes Daseyn umfassend, bleibt ihm der Name des Heiligen.« 126 Vgl. Feßler (Anm. 121), 61. 127 Vgl. ebd., 63. 128 Vgl. Wilhelm Martin Leberecht de Wette, Ueber die Religion, ihr Wesen, ihre Erscheinungsformen und ihren Einfluß auf das Leben. Vorlesungen, Berlin 1827, 71: »Das religiöse Gefühl ist eines Theils mit dem sittlichen Gefühl verwandt, und wohnt im Herzen. Es ist dasjenige, wodurch wir das Gute, Schöne und Heilige erkennen, sowohl in Beziehung auf das Leben und dessen Verhältnisse, als in Beziehung auf die Ewigkeit.« 129 Vgl. Friedrich August Carus, Nachgelassene Werke. Siebenter Theil. Moralphilosophie und Religionsphilosophie, Leipzig 1810, 172: »Der Mensch, der in sich eine übersinnliche Natur trägt, kann allein beten. Ja eben, das Gebet verbürgt nicht blos eine höhere Natur in ihm, sondern zugleich den Beruf sich anzunähern an das Höchste, nicht allein an das idealische Schöne, Wahre und Gute, sondern an das Heilige.« 130 Vgl. das von I[mmanuel] H[ermann] Fichte, Über Gegensatz, Wendepunkt und Ziel heutiger Philosophie. Erster kritischer Theil, Heidelberg 1832, 200f., kommentierte Eschenmayer-Zitat: «,Jede Philosophie (daher), welche das streben nach jenem höhern, was Jeder als Ahnung in sich findet, nicht aufgibt, ist auf dem Wege zur Wahrheit; jede Philosophie dagegen, welche mit einem Begriffe oder einer Idee endigt (?), erstirbt auch in derselben und verschließt sich auf immer den Weg zur Offenbarung. Jede Philosophie ist im Irrthum, wenn sie das Heilige nicht höher setzt, als das bloße Wahre, Schöne und Gute.‹ Wenn wir diese ganz willkührliche Begriffsabtrennung auch gelten lassen, so fragt sich nur, ob das Heilige, oder genauer doch wohl die Eigenschaft des Heiligen – einem andern Objekte beigelegt werden solle, als die Eigenschaft des Urwahren, Schönen und Guten, – nämlich Gott, so daß dieser einmal zwar bloß als das Wahre, Schöne und Gute, dann aber höher auch als das Heilige erkannt würde. Meint Eschenmayer Letzteres mit seinem ›Höher-Setzen‹ des Heiligen, so sind wir zwar damit ganz einverstanden, sehen aber nicht ein, warum die Philosophie nicht Gott als den heiligen soll denken können, und möchten nur fragen, auf welchem andern Wege als dem des Denkens (des begriffsmäßigen Unterscheidens) er selbst zu diesem Begriffe gelangt ist.« 131 Vgl. Wilhelm Traugott Krug, Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, nebst ihrer Literatur und Geschichte. Nach dem heutigen Standpuncte der Wissenschaft bearbeitet und herausgegeben. Erster Band: A bis E, Leipzig 1827, 258: »Es kann
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Die Orientierung am Guten, Schönen, Wahren und Heiligen kann Schülern bei ihrer Entlassung mit auf den weiteren Lebensweg gegeben werden.132 Schüler zu solcher Orientierung auszubilden, kann die Aufgabe des Lehrers beschreiben.133 Nötig ist dazu, dass der Lehrer selbst »das Wahre unablässig sucht, das Rechte treu will, das wahrhaft Schöne herzlich liebt, das Gute innig achtet, das Heilige demüthig verehrt«.134 Die Grundüberzeugung solcher Aufklärungspädagogik ist, »daß der Mensch einer unendlichen Ausbildung fähig ist, daß, das Wahre suchen, das Rechte wollen, das Gute schätzen, das Schöne lieben, das Große bewundern, das Heilige verehren, Merkmale einer edlen menschlichen Natur sind«.135 Neben solchen philosophischen und pädagogischen Nutzungen als anthropologisch fundierte normative Orientierungsgröße und als Bildungsziel kann die Vierergruppe gelegentlich auch in einer Geschichtskonstruktion begegnen: Zuerst ward der Glaube an das Heilige, hierauf der Volksgeist der Heldensage, endlich das Bürgerthum der Gleichheit vor dem Gesetz, in das öffentliche Leben der Griechen verwoben. An diesen drei Gegenständen übte der hellenische Geist
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sich aber die Begeisterung zeigen theils im Gebiete der Erkenntniß – als Begeisterung für das Wahre (logischer Enthusiasmus) – theils im Gebiete der Kunst – als Begeisterung für das Schöne (ästhetischer E.) – theils im Gebiete des sittlichen Handelns – als Begeisterung für das Gute (moralischer E.), wovon die Begeisterung für das Heilige (religiöser E.) nur eine Unterart oder auch eine Steigerung ist.« Vgl. Benedikt Holland, Jahres-Bericht über das Königlich-Baierische männliche Erziehungsinstitut zu München. Erstattet von dem Direktor desselben […] am Schluße des Schuljahres 1811/12, [München] 1812, 11: »Die Überzeugung, daß jede sich entfaltende Blüthe des Geistes den Kranz des Lebens ziere, daß das Wahre und das Gute, das Schöne und das Heilige einander wechselseitig die Hand bieten müssen, macht jede Beschränkung in der Ausbildung der jugendlichen Kräfte verwerflich.« Vgl. Johann Friedrich Wilberg, Aufsätze über Unterricht und Erziehung für Lehrer und Eltern, Essen 1824, 19: »Durch Hülfe der Lehrer sollen die Kinder lernen, das Wahre und Aufmerksamkeit und Nachdenken suchen, das Rechte und Tüchtige redlich wollen, das Gute achten, echt Großes bewundern, das Schöne lieben, das Heilige verehren, und sollen lernen, die ihnen dazu verliehene Kraft in sich zu suchen, recht anzuwenden, zu üben, und dadurch zu vermehren.« Johann Friedrich Wilberg, Der Schulmeister Lebrecht, wie er über sein Amt dachte und darin wirkte. Eine Schrift für Lehrer und Schulfreunde, Elberfeld 1820, 53: »Wenn der Lehrer das Wahre unablässig sucht, das Rechte treu will, das wahrhaft Schöne herzlich liebt, das Gute innig achtet, das Heilige demüthig verehrt, wenn er die Güte des Gemüths und die Reinheit des Herzens höher schätzt, als Sinnengenuß und Wohlstand, wenn er an Gott und das Göttliche glaubt und freudig und getrosten Muthes und mit Besonnenheit seine Lehrerpflicht erfüllt, dann ist er im Stande, als Erzieher in seiner Schule zu wirken.« W[ilhelm] L[udwig] Schmidt, Christian Jacob Salice Contessa. Eine Zeichnung von seinem Freunde, in: Schlesische Provinzialblätter 83 (1826), 15–34, 25f.
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mit jugendlicher Kraft acht Jahrhunderte hindurch seine Schwingen, ehe er durch das Schöne das Wahre errang und das Gute.136
9. »Ja wohl ist es ein unwürdiger Geist der Zeit, der sich durch euer heiliges Hinbrüten über das Heilige, ohne Leben, Kraft und That ausspricht« – (Religions-)Philosophische Kontroversen In der ästhetischen Kontroverse um die Eucharistie-Szene in Schillers Maria Stuart ging es darum, ob das Heilige auf der Bühne angemessen dargestellt werden könne. Wie das Heilige angemessen zu verstehen und zu verorten sei, ist Gegenstand einer ausführlichen Kontroverse, die die Philosophie in den ersten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts polarisierte. Es geht dabei um Fragen der Erkennbarkeit und Benennbarkeit des Heiligen, um den Stellenwert der Moral und ihr Verhältnis zur Religion. Als Kontrahenten stehen einander von Kant geprägte Philosophen einerseits, Vertreter des Idealismus andererseits gegenüber.137 Insbesondere zwei von
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F[riedrich] Ch[ristian] A[ugust] Hasse, Einleitung. Ueber die Entwickelung des höheren geselligen Lebens in Europa, vorzüglich durch das Schriftenthum (die Literatur) in der neueren Zeit, in: Friedrich Arnold Brockhaus/Ludwig Hain (Hg.), Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie für die gebildeten Stände (Conversations-Lexicon). In zehn Bänden. Erster Band. A bis Boy, 5. Original-Aufl. Leipzig 1819, XI–XXXII, XIIIf. Im Rahmen des hier gegebenen Überblicks konzentriere ich mich auf den publizistisch am intensivsten und extensivsten verhandelten philosophischen Grundsatzkonflikt um das Verständnis des Heiligen. Zu den Philosophen, die im Berichtszeitraum »das Heilige« gelegentlich oder wiederholt, en passant oder intensiv thematisieren, gehören Immanuel Kant (1793), Johann Christian Gottlieb Schaumann (ab 1793), Carl Philipp Conz (ab 1794), Carl Christian Erhard Schmid (ab 1794), Johann Gottfried Gruber (ab 1798), Georg Wilhelm Friedrich Hegel (ab 1798), Karl Heinrich Heydenreich (1798), Kajetan Weiller (ab 1798), Johann August Heinrich Tittmann (ab 1799), Johann Gottlieb Fichte (ab 1800), Franz Joseph Molitor (ab 1802), Friedrich Bouterwek (ab 1803), Carl August Eschenmayer (ab 1803), Johann Gottlob Heynig (1803), Friedrich Köppen (ab 1803), Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (ab 1803), Friedrich Ast (ab 1804), Jakob Salat (ab 1804), Jakob Friedrich Fries (ab 1805), Johann Rudolf Wyß (1806), Christian August Heinrich Clodius (ab 1805), Christian Friedrich Böhme (ab 1809), Henrik Steffens (1809), Friedrich August Carus (posthum 1810), Gottlieb Wilhelm Gerlach (ab 1818), Johann Friedrich Herbart (ab 1817), Ferdinand Delbrück (ab 1819), Wilhelm Martin Leberecht de Wette (ab 1822), Andreas Erhard (ab 1826), Friedrich Eduard Beneke (1827), Georg Andreas Gabler (1827), Franz Baader (ab 1828), Bernhard Heinrich Blasche (1831), Immanuel Hermann Fichte (1832), Joseph von Ranson (1833), Karl Rosenkranz (ab 1834), J.H. Wilhelmi (1834), Berthold Auerbach (ab 1836), Franz Hoffmann (1836), Ludwig Feuerbach (ab 1839), Gustav Moritz Redslob (1840), Johann Peter Romang (1841), Samuel Hirsch (1842), Joseph Thürmer (1843), Georg Friedrich Daumer (ab 1845), Friedrich Feuerbach (1845), Karl Marx und Friedrich Engels (ab 1845), Max Stirner (ab 1845).
Martin Leutzsch: Die Karriere eines substantivierten Adjektivs
Kant herkommende katholische Aufklärungsphilosophen, Kajetan Weiller und Jakob Salat, und der mit Schelling verbundene lutherische Mediziner und Philosoph Carl August Eschenmayer halten die Kontroverse mit zahlreichen Veröffentlichungen jahrzehntelang wach. Nach Weiller finden wir das Heilige und Göttliche in uns selbst, und nur deshalb können wir auch das Heilige außer uns denken.138 Das Heilige kann durch Aberglauben transformiert werden.139 Es gilt daher, aus Kopf und Herz alles ›Heidnische‹ wegzuräumen140 und im Moralischen die echte Religion zu suchen, zu finden und zu realisieren.141 Die kantianisch geprägten Aufklärungsphilosophen gehen von der Erkennbarkeit des Heiligen aus, von seiner aktiven Realisierbarkeit in der Praxis und von der untrennbaren Einheit von Moral und Religion. Die idealistische Gegenposition behauptet, das Heilige sei nicht zu erkennen, sondern nur passiv zu ahnen, das Heilige und die Religion stünden über der Moral, über dem Schönen und Wahren.142 Schon der Titel von Eschenmayers Schrift Der Eremit und der Fremdling. Gespräche über das Heilige und die Geschichte deutet an, dass das Heilige hier als Distanzkategorie konzipiert ist. Über das Heilige nachzudenken, gelingt nur in der Einsamkeit, im Zweiergespräch, fern von der Öffentlichkeit. Das Heilige kann nicht benannt, nur gefühlt werden. Es kann nicht besessen, man kann von ihm nur ergriffen werden; das ist Andacht und bezieht sich auf das Unsichtbare und Unerkennbare.143 Die wesentliche Seite der Religion sei das Geheimnisvolle und Mystische.144 Aus Eschenmayers Perspektive trauten Weiller und Salat dem Menschen und seiner Vernunft zu viel zu, das Heilige zu begreifen. Diese wieder warfen Eschenmayer vor, mit der Abkoppelung der Religion und des Heiligen von der Moral moralischem Handeln seinen
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Vgl. K[ajetan] Weiller, Ueber den nächsten Zweck der Erziehung nach Kantischen Grundsätzen, Regensburg 1798, 213: »[…] bedenkt, ob der Mensch nichts Heiliges seye, – ob denn das Ebenbild der Gottheit nichts Heiliges seye, – ob denn ein Wesen, welches das Heiligste denken und ehren, und sich demselben nähern kann, nichts Heiliges seye.« 139 Vgl. Kai[etan] Weiller, Erbauungsreden für Studierende in den höhern Klassen. Zweytes Bändchen, München 1803, 10–12. 140 Vgl. ebd., 150. 141 Vgl. ebd., 158–162, 165f. Der bis dahin ausführlichste Text meines Quellencorpus, der »das Heilige« thematisiert, ist Weiller (Anm. 113), 326–346. Gegen Schelling, Hegel u.a. richtet sich Weiller (Anm. 117), bes. 112–139, gegen Eschenmayer bereits Weiller (Anm. 113), 430. Weillers letzte Erörterung des Heiligen ist Kajetan Weiller, Der Geist des ältesten Katholicismus, als Grundlage für jeden spätern. Ein Beitrag zur Religionsphilosophie, Sulzbach 1824, 15f., 56f., 64f., 89–106, 120. 142 Vgl. C[arl] A[ugust] Eschenmayer, Der Eremit und der Fremdling. Gespräche über das Heilige und die Geschichte, Erlangen 1805, 25f., 65. 143 Vgl. ebd., 23–26. 144 Vgl. ebd., 28f.
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Stellenwert zu entziehen.145 Für den Kantianer Jakob Friedrich Fries »ist es ein unwürdiger Geist der Zeit, der sich durch euer [sc. Eschenmayer und andere] heiliges Hinbrüten über das Heilige, ohne Leben, Kraft und That ausspricht«.146
10. »Ihr sollt an unsrer Hand Menschen werden, wie Euere Natur will, wie das Göttliche, das Heilige, das in Euerer Natur ist, will, daß Ihr Menschen werdet« – Pädagogische Diskurse Nicht nur das Quartett vom Guten, Wahren, Schönen und Heiligen war pädagogisch nutzbar. Auch für sich wird »das Heilige« ab Ende des 18. Jahrhunderts vielfältig pädagogisch reflektiert. »Das Heilige« kann dabei auf Religion und die Vermittlung von Religion im Unterricht bezogen sein.147 Die Vermittler sind Eltern und Lehrer, die »aus wahrer Uiberzeugung Christen sind, die das Heilige, das Tröstliche, das 145
Auch in späteren philosophischen Werken bleibt »das Heilige« zentrales Konzept von Eschenmayers Religionsphilosophie, die er nun in Auseinandersetzung mit Hegel artikuliert, z.B. C[arl] A[ugust] Eschenmayer, Die Hegel’sche Religions-Philosophie verglichen mit dem christlichen Princip, Tübingen 1834, 7f., 12, 25–33, 44–53, 59 u.ö. 146 Jakob Friedrich Fries, Wissen, Glaube und Ahndung, Jena 1805, VIf. Im Zusammenhang (ebd. IV–VII): »Der Zufall hat gewollt, dass meine Entgegensetzung des Wissens, Glaubens und Ahndens bey gewissen, mir ganz entgegengesetzten Philosophen, grossen Beyfall gefunden hat, wodurch ich in den Verdacht kommen könnte, in der neuen frommen Liebe zum Mysticismus, und ähnlichen Süssigkeiten Theil zu nehmen, wogegen ich mich hier feyerlich verwahrt haben will. Am meisten springt dieser von der That abwendende, alle liberale Denkungsart erstickende, entkräftende dumpfe Sinn für mystisch hinbrütende Gefühle in Eschenmayers Eremit und der Fremdling hervor, dieser abgeschmackten Unterhaltung zweyer Mönche, wo die Vernunft den Degen an die intellektuelle Empfindung abgibt, und die vergötterte Schnecke den Apoll und die Athene wohl bald aus dem Olymp verscheuchen wird. Auf welche Albernheiten kommen wir nicht wieder zurück, mit dieser Empfindungs- und Gefühls-Philosophie! Eschenmayer sagt: ›Das geheimnisvolle und mystische ist daher die wesentliche Seite der Religion, und je tiefer sie verborgen und den Augen der Menschen entzogen ist, desto würdiger und lebendiger ist der Glaube an sie. Je öffentlicher hingegen sie gemacht, und je mehr sie der Empfänglichkeit der Völker, und dem zu jeder Zeit unwürdigen Geist der Zeit nahe gelegt werden will, desto mehr sinkt sie zur Moral herab, und verliert ihre ursprüngliche höchste Würde.‹ Ja wohl ist es ein unwürdiger Geist der Zeit, der sich durch euer heiliges Hinbrüten über das Heilige, ohne Leben, Kraft und That ausspricht, und Gott behüte uns nur, dass wir dem zusammengeflikten Lumpenkönig nicht auch einmal zu dienen kommen. Die grosse Ehrfurcht der beyden Mönche vor den heiligen Gefässe, erinnert etwas zur Unzeit an Wielands Mährchen vom Prinzen Biribinker. Was die Götter nicht alles für Einfälle bekommen, wenn sie einmal anfangen, verstecken zu spielen.« 147 So etwa bei Friedrich Heinrich Christian Schwarz, Der christliche Religionslehrer in seinem moralischen Daseyn und Wirken. Ein Lehrbuch der moralischen Bestimmung des christlichen Lehrers in Kirchen und Schulen für sein Leben und seine Amtsführung, Bd. 1, Gießen 1798, 65; ders., Religion, eine Sache der Erziehung, in: Carl Daub/Friedrich Creuzer (Hg.), Stu-
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Göttliche ihrer Religion erkant und erfahren haben«.148 Ziel ist, »mit jedem Tag des Lebens der Idee des Heiligen, die in uns ist, näher zu kommen, und so dem, der heilig ist, immer ähnlicher zu werden.«149 So kann es zur grundsätzlichen pädagogischen Aufgabe werden, »Sinn für das Heilige« zu wecken, wie Schulprogramme betonen, und zwar von der Elementar- und Volksschule an.150 Mahnreden an Mädchen und Jungen151 und Abiturientenentlassungsreden unterstreichen dies.152 Das Heilige ist Thema des Fürstenspiegels153 wie der Jugendliteratur.154 Wie »das Heilige« auf wesentliche Bereiche des Lebensvollzugs im Einzelnen bezogen werden kann, zeigt ein an »deutsche Jünglinge« gerichtetes fiktionales Werk des katholischen Theologen und Pädagogen Johann Michael Sailer: Pietät, im weitesten Sinne des Wortes, ist mir das kindlich zarte, und männlich starke Gefühl für das Heilige. Dies kindlich zarte und männlich starke Gefühl für das Heilige ist [31] 1) in Hinsicht auf Gott, Religion. Dies kindlich zarte, und männlich starke Gefühl für das Heilige ist 2) in Hinsicht auf die Menschen, Humanität. dien, Bd. 1, Frankfurt a.M./Heidelberg 1805, 174–227, 218–220. Schwarz’ Religion ist »moralische Religion« (Der christliche Religionslehrer, s.o., 65). 148 G[eorg] J[oachim] Zollikofer, Abhandlung über die moralische Erziehung, Brünn 1788, 100. 149 Carl Daub, Lehrbuch der Katechetik. Zum Behuf seiner Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1801, 363. 150 Elementarschule: B…, Plan zur innern und äußern Einrichtung der Elementarschulen, in: Neue Bibliothek für Pädagogik, Schulwesen und die gesammte neueste pädagogische Literatur Deutschlands 1811, II (1811), 97–116, 98f.; Volksschulunterricht: Servatius Muhl, Der VolksUnterricht in seiner Nothwendigkeit, so wie in seiner Einwirkung auf die Gesammtbildung des Menschen. Für Volkslehrer, Mainz 1824, 46f.; Unterrichtswerk für Volksschulen: [Christian Friedrich Immanuel] Hallberger, Schul-Kalender. Ein Normal-Handbuch für Volks-Schullehrer entworfen, Bd. 2, Stuttgart 1842, 150f. 151 Vgl. Jakob Glatz, Woldemars Vermächtniß an seinen Sohn. Ein Buch für Jünglinge, zur Bildung und Veredlung ihres Geistes und Herzens, Wien 1815, passim; Jakob Glatz, Rosaliens Vermächtniß an ihre Tochter Amanda; oder Worte einer guten Mutter an den Geist und das Herz ihrer Tochter. Ein Bildungsbuch für Deutschlands Töchter. 2. Aufl. Leipzig 1817, passim. 152 Vgl. M. Schulze, Eine Entlassungsrede, in: Neues Lausitzisches Magazin 6 (1827), 215f. 153 Vgl. Schlosser (Anm. 116). 154 Vgl. Georg Gessner, Heinrich Bullingers Abschied. Geschenk an die lernbegierige Zürchersche Jugend auf das Neujahr 1800. Zwey und zwanzigstes Stük, Zürich 1800, 10: »Jünglinge! auf denen die Hoffnung des Vaterlandes und der Kirche beruhet, lernet durch den Jammer und Schaden, der über Vaterland und Kirche gekommen ist, klug werden. Wenn Ihr einst an die Stelle der Regenten treten werdet, so haltet das Heilige heilig! die Religion Jesu sey Euch theuer! die Wahrheit sey Euch köstlich! die Gerechtigkeit unverletzlich! die Armuth und ihre Versorgung nicht ein heilloses Wortspiel! So nur werdet Ihr das Vaterland seinem Sturz und Verderben, und die Kirchlichen und Armenanstalten ihrem Falle entreissen. Durch Religiosität und Gerechtigkeit nur werdet Ihr wieder aufbauen was Irreligiosität und Ungerechtigkeit niederriß!«
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Dies kindlich zarte, und männlich starke Gefühl für das Heilige ist 3) in Hinsicht auf die politische Einheit des Landes, Vaterlandsliebe. Dies kindlich zarte und männlich starke Gefühl für das Heilige ist 4) in Hinsicht auf Familie, Gatten- Aeltern- Kinder- Verwandten- Liebe. Dies kindlich zarte und männlich starke Gefühl für das Heilige ist 5) in Hinsicht auf die Bedürfnisse der Leidenden, die unsre Hülfe anrufen, und in uns ein Hülfsvermögen vorfinden, Nächstenliebe. Dies kindlich zarte, und männlich starke Gefühl für das Heilige ist 6) in Hinsicht auf die Sphäre des gewählten Standes, Berufstreue. Dies kindlich zarte, und männlich starke Gefühl für das Heilige ist [32] 7) in Hinsicht auf den Widerstreit gegen Neigungen, Reize etc. gegen Lust und Unlust, den uns Religion, Humanität, Vaterlandsliebe, Verwandtenliebe, Nächstenliebe, Berufstreue – gebeut, Tugend. Tugend kann also so wenig ein Kind der Selbstsucht seyn, daß ihr Leben nur aus dem tode der Selbstsucht hervorgehen kann. Tugend ist ihrem Wesen, in ihrem wachsthume, in ihrer Ausbreitung nichts – als Pietät. Und wer ihre Wurzeln nicht in der Pietät, in dem Sinne für das Heilige findet, hat im Gebiete der Wahrheit noch lange nicht tief genug gegraben. Die Pietät, meine lieben Söhne ist da, wo sie ist, Andacht, Innigkeit, Zuversicht, Ergebung gegen Gott; Pietät ist da, wo sie ist, Tapferkeit, Großmuth, Selbstaufopferung für die Menschheit, für das Vaterland, für die Familie, für den Nächsten; Pietät ist da, wo sie ist, Tapferkeit, Großmuth, Selbstaufopferung zunächst in dem Geleise des Berufes.155 Über bestimmte Unterrichtsziele und -gegenstände hinaus geht die Annahme, dass das Heilige anthropologisch zu verorten sei. Insbesondere Pestalozzi spricht immer wieder vom Heiligen in uns, das durch Erziehung und Bildung gefördert werden muss: Es ist ferne von uns, aus Euch Menschen zu machen, wie andere sind. Ihr sollt an unsrer Hand Menschen werden, wie Euere Natur will, wie das Göttliche, das Heilige, das in Euerer Natur ist, will, daß Ihr Menschen werdet.156 155 156
Johann Michael Sailer, Friederich Christians Vermächtniß an seine lieben Söhne. Deutschen Jünglingen in die Hand gegeben von einem ihrer Freunde, Straubing 1808, 30–32. Johann Heinrich Pestalozzi, Am Neujahrstag 1809, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, begr. von Artur Buchenau/Eduard Spranger/Hans Stettbacher, Bd. 21: Schriften aus den Jahren 1808–1809, bearb. von Emanuel Dejung/Herbert Schönebaum, Zürich 1964, 217–230, 225f.
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Lehrpersonen müssen sich hüten, »das Heilige und Göttliche, welches die Jugend wirklich noch ist, mit […] frecher Hand zu fassen«157 – so Ernst Moritz Arndt. Der von der Heiligkeit seines Berufs überzeugte Lehrer weiß um dessen Bedeutung: Das Heilige im Beruf des Lehrers nenne ich also seine Sorge für Bildung des Verstandes der Ihm anvertrauten Schüler, das sittliche Leben, das durch Ihn und sein Beyspiel in ihren Gemüthern angeregt werden soll, und die erhabenen Wahrheiten der Gotteslehre und des Christenthums die durch den Religions-Unterricht begeisternd und erhebend für die ganze Dauer des Lebens fortwirken sollen. Von dieser heiligen Weihe des Lehrer-Berufs werden sich in jeder guten Schule Spuren zeigen […].158
11. »Was und wo ist und befindet sich denn das ihm Heilige im Menschen?« – Psychiatrisch-medizinisch-psychologische Diskurse Medizin, Psychologie und Psychiatrie beschäftigen sich verstärkt seit etwa 1818 mit dem Heiligen. In einer Äußerung, die heute der pädagogischen Psychologie zugeordnet werden würde, die aber in einer Abhandlung Ueber die nähere Wechselwirkung des Leibes und der Seele steht, sagt ein führender medizinischer Psychologe: Wie der Same am schönsten im Frühling aus der Erde keimt, so ist keine Zeit, in welcher das Heilige leichter einwurzelt, als in dem zarten, leicht empfänglichen unschuldigen Gemüthe der Jugend, aus der man am schwersten vergißt.159 Oft bezeichnet oder umschreibt »das Heilige« in diesen Diskursen die Seele. So reflektiert ein Schriftsteller seine Besuche in Irrenhäusern: Mir ist immer, wenn ich in ein Tollhaus trete, als ginge es in ein Allerheiligstes, und ein Schauer, der mehr ist, als das menschliche Gefühl des Mitleids, oder der eigennützige Gedanke der eignen Hinfälligkeit, ergreift mich. O das Heilige im Menschen ist doch wohl sehr unabhängig von aller künstlichen Metaphysik und Manipulation! Warum kann mich eine Leiche, die sichtbare Zerstörung der ganzen Maschine, nicht bewegen, wie diese? wohl nur, weil das, was wir sehen, kleiner ist, als das, was wir ahnden; weil hinter dem Ahnden und Hinüberschauen von unserm Raupenblatte auch was Geahndetes liegen muß. Ich wollte aus dem Gefühl, das bei’m Anblick eines Tollen mich übermannet, trotz dem besten Metaphysikus 157 158 159
Ernst Moritz Arndt, Fragmente über Menschenbildung. Erster Theil, Altona 1805, 250. Johannes Hanhart, Was sollen unsere Schulen seyn? Andeutungen und Winke, Winterthur 1818, 11f. Joseph Ennemoser, Ueber die nähere Wechselwirkung des Leibes und der Seele, mit anthropologischen Untersuchungen über den Mörder Adolph Moll, Bonn 1825, 49.
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vielen gradherzigen und gradköpfigen Leuten die Unsterblichkeit der Seele beweisen, so wie sich alles Seelige (dies schöne Wort hat doch nur der Teutsche in voller heiliger Bedeutung) beweisen läßt.160 Eine zentrale Rolle spielt »das Heilige« in den zahlreichen Publikationen des ersten Lehrstuhlinhabers für Psychiatrie Johann Christian August Heinroth. Die Seele ist nach Heinroth auf Freiheit bezogen; seine zentrale Frage ist: […] ist die Seele als freies Wesen auch schon moralische Kraft? und antworten: im weiteren Sinne; ja! im engeren: nein! Im weiteren Sinne begreift die Freiheit erwiesener Maßen die Heiligkeits-Fähigkeit, und wiefern das Element des Heiligen und des Moralischen dasselbe ist, ist die Seele allerdings moralische Kraft, aber eben nur der Möglichkeit, dem Vermögen nach. Im engeren Sinne aber muß sich die Freiheit zur Verwirklichung der Heiligkeit bestimmt haben, d.h. sie muß wirklich heilig seyn, (was sie kann, wenn sie will); dann ist sie auch wirkliche moralische, d. i. heilige Kraft.161 Die Frage, ob die Seele immateriell sei oder materialistisch erklärt werden könne, führte in den 1830er Jahren zu einer Kontroverse. Einer der Beteiligten warf seinem Gegner vor: Wenn dem Hrn. Blumröder die Seele mehr nicht ist, als eben Hirnhöhlen-Dunst, und wenn er doch wieder ein Heiliges im Menschen im innersten Herzen verehrt, – was und wo ist und befindet sich denn das ihm Heilige im Menschen? Ist ihm der Hirnhöhlendunst das Sublimat, oder ist ihm das Reitzende und Verführerische von Fleisch und Bein, als dem Präcipitat, das Heilige? Oder was und wo könnte es sonst noch seyn? Ist es also nicht entweder mit dem Hirnhöhlendunste eine Fanfarronade, oder mit dem Heiligen im Menschen eine Spiegelfechterei?162 Solche polemischen Fragen waren durchaus nicht eindeutig zu beantworten, hatte doch der kritisierte Arzt Gustav Blumröder seinerseits betont: Wir verehren das Heilige im Menschen im innersten Herzen, wir sind durchdrungen von dem tief Mystischen des Göttlichen, und fühlen unwidersprechlich und
160 Ernst Moritz Arndt, Reisen durch einen Theil Teutschlands, Italiens und Frankreichs in den Jahren 1798 und 1799. Vierter Theil, Leipzig 1802, 183f. 161 Johann Christian August Heinroth, Die Psychologie als Selbsterkenntnißlehre, Leipzig 1827, 129. »Das Heilige« wird z.B. auch in ders., Der Schlüssel zu Himmel und Hölle im Menschen; oder Ueber moralische Kraft und Passivität. Ein Beitrag zur Seelenheilkunde, Leipzig 1829, 33, 39, 43, 48, 52, 55, 68f., 87f., 115, 129, 187f., 190, 195, 214, 220, erörtert. 162 Friedrich Groos, Die geistige Natur des Menschen. Bruchstücke zu einer psychischen Anthropologie, Mannheim 1834, 7.
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innig das göttliche Princip der Liebe; gerade darum aber müssen wir dem Falschen und Unwahren kräftig entgegentreten.163
12. »Immer an Kleinigkeiten hingegeben, woher nähme er [der Mensch, M. L.] den Ernst, den das Heilige fordert!« – Religiöse Diskurse In religiösen Zusammenhängen begegnet »das Heilige« seit Ende des 17. Jahrhunderts in Predigten, seien sie katholisch, lutherisch oder reformiert. Die Häufigkeit der Thematisierung nimmt Ende des 18. Jahrhunderts deutlich zu. Ab 1820 stößt auch die deutschsprachige Predigt des Reformjudentums hinzu.164 Reflektiert wird »das Heilige« in Andachtsbüchern aus der Feder von Geistlichen165 und in Erbauungsliteratur, die auch von Laien verfasst sein kann.166 »Das Heilige« begegnet in Heiligen- und Wallfahrtslegenden,167 auch antijüdischen,168 in Predigthilfen169 und
163 Blumröder, zitiert nach Groos (Anm. 162). 164 Vgl. z.B. Eduard Kley, Predigten in dem neuen israelitischen Tempel. Zweyte Sammlung, Hamburg 1820, 12; ders., Predigten in dem neuen israelitischen Tempel, Hamburg 1826, 81f.; Samuel Holdheim, divrej h‹ Worte Gottes, oder Gottesdienstliche Vorträge gehalten in der Synagoge zu Frankfurt a.O. Erstes Heft, Frankfurt a.O. 1839, 23; ders., divrej h‹ Worte Gottes, oder Gottesdienstliche Vorträge gehalten in der Synagoge zu Frankfurt a/O. Ersten Bandes drittes Heft, Leipzig 1840, 228–230, 235. 165 Z.B. Edilbert Menne, Meine Betrachtungen in mitternächtlichen Stunden über christliche Tugenden. Ein Betrachtungsbuch für denkende Christen aller Stände. Vom Verfasser der neu bearbeiteten Predigt-Entwürfe. 2, Augsburg 1795, 11, 37, 45f., 126f., 137, 139f., 143. 166 Z.B. Thiele von Thielenfeld, Ansichten wichtiger Gegenstände des höhern, geistigen Lebens. Erster Theil, Leipzig 1814, 11f., 22f., 111, 140, 149, 153; ders., Ansichten wichtiger Gegenstände des höhern, geistigen Lebens. Zweiter Theil, Leipzig 1814, 114, 125, 129, 171, 179, 206, 229, 266. 167 Z.B. F[ranz] F[erdinand] Effenberger, Die Legende des heiligen Johannes von Nepomuk. Zum hundertjähigen Jubelfeste seiner Heiligsprechung für seine Verehrer in einer freien Darstellung bearbeitet, Leitmeritz 1829, 43f.; Thomas Wiser, Der Tisch des Herrn oder vollständiger Unterricht über das hochheilige Altarsakrament für Alle, welche im Glauben an dieses göttliche Geheimniß sich stärken und zum Empfange desselben würdig vorbereiten wollen, nebst Kommunion-, Beicht-, Meßandacht und andern Gebeten, München 1845, 46f. (Wisers Quelle, die er in vielen Hinsichten transformiert – »das Heilige« hat dort keine Entsprechung –, ist das Convivium divini amoris des peruanischen Jesuiten Juan de Alloza, vgl. Ioannes de Alloza, Convivium divini amoris, deus hominem amans, Christus in Eucharistiae Sacramento latens, vt latum erga homines mandatum sui patefaciat amoris, Lugduni 1665, 241f.). 168 Vgl. Ignaz Ruland, Das wunderthätige Gnaden-Bildlein der schmerzhaftesten Mutter Gottes zu Buchen im Frankenlande. Eine Sage im Volke, Würzburg 1847, 59. 169 Vgl. Carl Christian Friedrich Siegel, Homiletischer Rathgeber bei dem Meditiren über die evangelischen Perikopen. Zunächst für angehende Kanzelredner. Ersten Bandes zweite Abtheilung, Leipzig 1833, 180–182.
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Predigtlehren,170 in Theorie und Praxis der Pastoraltheologie171 und bezogen auf das Beichtgeheimnis.172 Thematisch gibt es zahlreiche Berührungen mit Facetten des Heiligen, die ich bereits benannt habe. Ich zitiere zwei Beispiele, eines aus einer Predigt von 1807: Im Drange unaufhörlicher Zerstreuungen ist der Mensch weder geneigt noch fähig, an sich selbst zu denken. Beständig mit der Aussenwelt beschäftigt, wie gewönne er Zeit, einmal in die innere einzukehren! Stets im Gewühle versunken, wie fände er die Ruhe, die zu grossen Ueberlegungen nöthig ist! Immer an Kleinigkeiten hingegeben, woher nähme er den Ernst, den das Heilige fordert!173 Das zweite Beispiel ist eine »Warnung vor dem Zweikampf, beim akademischen Gottesdienste den 29sten März 1835 ausgesprochen«, die der Bonner Theologe Carl Immanuel Nitzsch unter dem Titel Das Heilige der Selbsterhaltung veröffentlichte. Anlass waren drei kurz zurück liegende Todesfälle unter Theologiestudierenden, von denen einer an den Folgen eines Duells gestorben war.174 Nitzschs Predigt reiht sich ein in eine Vielzahl veröffentlichter christlicher Duellkritiken.175 Er stellt eingangs die Frage:
170 Vgl. Franz Volkmar Reinhard, Geständnisse seine Predigten und seine Bildung zum Prediger betreffend in Briefen an einen Freund, Sulzbach 1810, 144–146; auch C[arl] G[eorg] H[einrich] Lentz, Geschichte der christlichen Homiletik, ihrer Grundsätze und der Ausübung derselben in allen Jahrhunderten der Kirche. Zweiter Theil, Braunschweig 1839, 21f., 122, 233f. 171 Vgl. Joh[ann] And[reas] Forster, Die Pflichten des Seelsorgers und die Art, sie zu erfüllen. Erster Theil. Die Pflicht und Art, sich selbst zur Seelsorge würdig herzustellen, und immer so würdig zu erhalten, Augsburg 1800, 554f.; Karl Gottlob Willkomm, Blätter aus dem Gedenkbuche eines alten Landpredigers, oder Väterliche Winke über Vorbereitung zum evangelischen Predigtamte und dessen gewissenhafter Verwaltung. Theologie Studirenden, Predigtamtscandidaten und jungen Amtsbrüdern gewidmet, Zittau/Leipzig 1835, 31f. 172 Vgl. G[ottlieb] C[hristian] Breiger, Über das Beichtgeheimniß und das Recht der Obrigkeit dessen Revelation zu fordern. Eine Monographie, Hannover 1827, 11. 173 J[ohann] H[einrich] Bernhard Dräseke, Predigten für denkende Verehrer Jesu. Neueste Ausgabe in zwei Bänden. 1. Die Predigten vom Neujahrstage bis zum Trinitatisfeste, Lüneburg 1836, 184f. 174 Vgl. Carl Immanuel Nitzsch, Das Heilige der Selbsterhaltung. Eine christliche Warnung vor dem Zweikampf, beim akademischen Gottesdienste den 29sten März 1835 ausgesprochen, Bonn 1835, 4f.: »[…] den letzten haben die Folgen des jugendlichen Haders, des weltgesinnten Spiels mit dem Menschenleben, eines gegen göttliche und weltliche Gesetze gekämpften Streites getödtet. Und doch hat über seine Seele und sein besseres Sein noch sichtbarlich Gottes rettende Hand gewaltet.« 175 Zum Duell und zu Duelldiskursen im Deutschland des 19. Jahrhunderts vgl. Ute Frevert, Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1995; Kevin McAleer, Dueling. The Cult of Honor in Fin-de-siècle Germany, Princeton 1994.
Martin Leutzsch: Die Karriere eines substantivierten Adjektivs
Welche Lehre wollen wir nun vom reichen Fruchtbaume göttlicher Wahrheit brechen, und einer dem andern darreichen, daß sie an einem jeglichen ihre Kraft erweise? Soll es eine solche sein, die uns als oftmalige Flüchtlinge vor dem Heiligen und Guten in Strafe und Warnung nehme und uns durch Erkenntniß des Verderbens in Sünde von den Abgründen zurückrufe, an die wir ungesehens gerathen sind, oder eine solche, die ermüdete Pilger erquicke und in das oft verzagte Gemüth redlicher Kämpfer und treuer Arbeiter Muth und Freude zurückbringe?176 Nitzsch nennt dann die Disposition seiner Predigt: Wir werden dieses Heilige der Selbsterhaltung in seinem ganzen Umfange erkennen, wenn uns klar wird: 1. Daß Selbsterhaltung im vollkommnen Sinne nichts anders als die Rettung der Seele durch Glauben an Christum, Flucht vor der Sünde, Heiligung selbst sei; 2. wie wenig die unheilige Selbstliebe irgend eine Pflicht der Selbsterhaltung unübertreten zu lassen wisse; 3. aber, wie bei lebendigen Dienern des Herrn Selbsterhaltung und Selbstaufopferung im wahresten Einklange steht.177
13. »Es ist daher alle Geschichte, sofern sie auf das Heilige bezogen wird, Geschichte des Ausdrucks der Religion« – Theologische Diskurse Über Homiletik und Pastoraltheologie, Religionspädagogik und theologische Religionsphilosophie hinaus spielt »das Heilige« in zwei kurz vor und kurz nach 1800 veröffentlichten theologischen Werken eine Rolle. Das eine sind Friedrich Schleiermachers Reden Über die Religion, eine Apologie des Christentums. Wirkungsgeschichtlich sind seine Formulierungen »Sinn für das Heilige« und »Gefühl für das Heilige« wichtig.178 Sie werden von vielen aufgegriffen, in der Regel ohne erkennbaren Rückbezug auf Schleiermachers Werk. Anders als retrospektiv vermutet werden könnte, spielt Schleiermacher in den zeitgenössischen Konzeptualisierungen des Heiligen und den darauf bezogenen Debatten und Kontroversen keine Rolle. 176 177 178
Nitzsch (Anm. 174), 3. Vgl. ebd., 5. »Sinn für das Heilige«: Schleiermacher (Anm. 26), 18; »Gefühl für das Heilige«: ebd., 21. – Zu Schleiermachers Konzept des Heiligen vgl. Wolfgang Gantke, Der umstrittene Begriff des Heiligen. Eine problemorientierte religionswissenschaftliche Untersuchung, Marburg 1998, 237–245; Giovanni Moretto, »Er hat einen neuen Schleier für das Heilige gemacht.« Der Begriff des Heiligen in Schleiermachers Reden über die Religion, in: Klaus Kienzler/Josef Reiter/ Ludwig Wenzler (Hg.), Das Heilige im Denken. Ansätze und Konturen einer Philosophie der Religion. Zu Ehren von Bernhard Casper, Münster 2005, 221–234.
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Mehr Beachtung fand Philipp Marheinekes Universalkirchenhistorie des Christenthums (1806), wo er einleitend behauptet: Das Heilige im Menschen ist, wie Gott, über alle Zeit erhaben und von ihm selbst giebt es keine Geschichte. Aber es ist nur für den Menschen, sofern es sich durch den Glauben daran offenbart. Dieser Glaube ist mit wundersamen Banden an die Menschheit geknüpft und tritt in der Besinnung schon von selbst heraus. Wo dieser Glaube nun objectivirt, Ausdruck oder Erscheinung geworden ist, hebt die Geschichte an. Es ist daher alle Geschichte, sofern sie auf das Heilige bezogen wird, Geschichte des Ausdrucks der Religion, und es ist klar, eine Geschichte der Religion an sich giebt es so wenig, als eine Geschichte Gottes oder eine natürliche Religion: denn man erkennet und liebt ja Gott nicht anders, als nur allein durch Gott.179 Marheinekes Ehrgeiz bestand darin, Kirchengeschichte konsequent als eine auf das Heilige bezogene Geschichte zu entwerfen. Kritiker entgegneten, dass dabei viel für die Geschichte des Christentums Relevantes ausgeblendet würde.180 Marheineke selbst hat seine Skizze später nicht weiter ausgearbeitet. Eingang in theologische Lehrbücher und Lexika findet die Kategorie »das Heilige« im Berichtszeitraum nicht.
14. »Verdaue die Hostie und Du bist sie los!« – Eine philosophische Dekonstruktion Wer sich bis Mitte des 19. Jahrhunderts zum Heiligen äußerte, schrieb ihm einen hohen positiven Stellenwert zu. Über die inhaltliche Füllung des Heiligen wurde gestritten, über Zugangsmöglichkeiten zu ihm, über das Risiko illegitimer Funktionalisierung, über den Grad der Resonanz, den das Heilige findet – aber dass das Heilige eine zentrale Kategorie der Orientierung sei, darüber herrschte bei denen, die vom Heiligen sprachen, Konsens. Mit einer Ausnahme. Johann Caspar Schmidt ist unter dem Pseudonym bekannt, das er für seine Veröffentlichungen nutzte: Max Stirner. Der einstige Theologiestudent hatte sich philosophisch über Hegel und Feuerbach hinaus entwickelt. Sein Hauptwerk Der Einzige und sein Eigenthum (1845) ist eine Dekonstruktion des Heiligen.181 Wer Religion 179
Philipp Conrad Marheineke, Universalkirchenhistorie des Christenthums. Grundzüge zu academischen Vorlesungen. Erster Theil, Erlangen 1806, 1f. »Das Heilige« begegnet weiter ebd., 3, 13–16, 20f., 56, 64, 79–84, 87, 127f., 202 (fehlpaginiert als 102), 215f., 236, 239, 245, 262, 320–322. 180 Vgl. [Anonym], Rez. Marheinecke [sic!], Universalkirchenhistorie des Christenthums, in: Neue Leipziger Literaturzeitung 1807 I (1807), 97–119. 181 Das von ihm kritisierte Konzept des Heiligen beschreibt Max Stirner, Der Einzige und sein Eigenthum, Leipzig 1845, 52, so: »Heilig also ist das höchste Wesen und alles, worin dieß höchste
Martin Leutzsch: Die Karriere eines substantivierten Adjektivs
vom Standpunkt der Humanität aus kritisiert, so Stirner, bleibt dem Kritisierten strukturell verhaftet. Ob es das Göttliche oder das Menschliche ist, das als externe Orientierungsgröße und Autorität fungiert, macht keinen Unterschied: In beiden Fällen räume ich dem Externen Macht über mich ein.182 Gott durch die Menschheit, die Humanität, zu ersetzen – wie etwa Ludwig Feuerbach dies vorgeschlagen hatte –, verändert diese Struktur nicht.183 Auch »das Menschentum« ist eine fixe Idee, die so lange herrscht und beherrscht, wie sie nicht in Frage gestellt wird.184 An die Stelle der Gottesfurcht tritt Menschenfurcht.185 Nicht nur die Menschlichkeit ist Wesen sich offenbart oder offenbaren wird; geheiligt aber diejenigen, welche dieß höchste Wesen sammt dem Seinen, d.h. sammt den Offenbarungen desselben anerkennen. Das Heilige heiligt hinwiederum seinen Verehrer, der durch den Cultus selbst zu einem Heiligen wird, wie denn gleichfalls, was er thut, heilig ist: ein heiliger Wandel, ein heiliges Denken und Thun, Tichten und Trachten u.s.w.« 182 Vgl. ebd., 48f.: »Das Heilige läßt sich keineswegs so leicht beseitigen, als gegenwärtig Manche behaupten, die dieß ›ungehörige‹ Wort nicht mehr in den Mund nehmen. Werde Ich auch nur in Einer Beziehung noch ›Egoist‹ gescholten, so bleibt der Gedanke an ein Anderes übrige, dem Ich mehr dienen sollte als Mir, und das Mir wichtiger sein müßte als Alles, kurz ein Etwas, worin Ich Mein wahres Heil zu suchen hätte, ein – ›Heiliges‹. Mag dieß Heilige auch noch so menschlich aussehen, mag es das Menschliche selber sein, das nimmt ihm die Heiligkeit nicht ab, sondern macht es höchstens aus einem überirdischen zu einem irdischen Heiligen, aus einem Göttlichen zu einem Menschlichen.« Ebd., 94: »Heilig ist Alles, was dem Egoisten unnahbar sein soll, unberührbar, außerhalb seiner Gewalt, d.h. über ihm: heilig mit Einem Worte jede – Gewissenssache, denn ›dieß ist Mir eine Gewissenssache‹ heißt eben: ›dieß halte Ich heilig‹.« 183 Kritik an Feuerbach: ebd., 63, 119, 450, 455. Für Stirner wäre auch die Reduktion des Stellenwerts des Heiligen, die Ludwig Feuerbach, Ueber Philosophie und Christenthum, in Beziehung auf den der Hegel’schen Philosophie gemachten Vorwurf der Unchristlichkeit, Mannheim 1839, 15, vorgenommen hatte, zu wenig weitreichend gewesen: »[…] die Philosophie ist eine selbstständige Wissenschaft. Wie sie ihre eigene Geschichte, so hat sie auch ihre eigenen Gesetze. Ihr höchstes Gesetz ist die Vernunft. Wahr ist ihr, was sie durch Vernunft- oder Erfahrungsgründe – was auf Eins hinauslauft – bewähren kann. Nicht das Heilige ist ihr wahr, sondern nur das Wahre heilig. Die Autorität gilt hier nicht, das theoretische oder wissenschaftliche Gebiet muß absolut frei sein.« Zu Feuerbach vgl. auch Henri Arvon, Ludwig Feuerbach ou la Transformation du sacré, Paris 1957. 184 Vgl. Stirner (Anm. 181), 59. 185 Vgl. ebd., 242f.: »Die eigentliche Gottesfurcht hat längst eine Erschütterung erlitten, und ein mehr oder weniger bewußter ›Atheismus‹, äußerlich an einer weit verbreiteten ›Unkirchlichkeit‹ erkennbar, ist unwillkührlich Ton geworden. Allein, was dem Gott genommen wurde, ist dem Menschen zugesetzt worden, und die Macht der Humanität vergrößerte sich in eben dem Grade, als die der Frömmigkeit an Gewicht verlor: ›der Mensch‹ ist der heutige Gott, und Menschenfurcht an die Stelle der alten Gottesfurcht getreten. Weil aber der Mensch nur ein anderes höchstes Wesen vorstellt, so ist in der That am höchsten Wesen nichts als eine Metamorphose vor sich gegangen und die Menschenfurcht bloß eine veränderte Gestalt der Gottesfurcht. Unsere Atheisten sind fromme Leute.«
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ein Konzept, dem Heiligkeit zugeschrieben wird oder das Heiligkeit beansprucht. Entsprechendes gilt von Sittlichkeit, Ehrfurcht, Gewissen, Recht, Gesetz, Staat und Liebe:186 »Alles, wovor Ihr einen Respekt oder eine Ehrfurcht hegt, verdient den Namen eines Heiligen […].«187 »Alles Heilige ist ein Band, eine Fessel.«188 Das Heilige ist ein Sozialisationsprodukt: Für kleine Kinder, wie für Thiere, existiert nichts Heiliges, weil man, um dieser Vorstellung Raum zu geben, schon so weit zu Verstand gekommen sein muß, daß man Unterschiede wie: ›gut und böse, berechtigt und unberechtigt‹ u.s.w. machen kann; nur bei solchem Grade der Reflexion oder Verständigkeit – dem eigentlichen Standpunkte der Religion – kann an die Stelle der natürlichen Furcht die unnatürliche (d.h. erst durch Denken hervorgebrachte) Ehrfurcht treten, die ›heilige Scheu‹.189 Um zu sich selbst zu kommen, bei sich selbst zu bleiben und sich nicht einem selbst konstruierten Höheren zu unterwerfen, vollzieht derjenige, der sich als eigener Mensch realisiert, »unbarmherzig die maaßloseste – Entheiligung. Nichts ist ihm heilig!«190 Das Heilige kann nur vernichtet, verdaut und ausgeschieden werden: »Wenn Du das Heilige verzehrst, hast Du’s zum Eigenen gemacht! Verdaue die Hostie und Du bist sie los!«191
15. »Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht« – das Manifest der Kommunistischen Partei als Kritik bourgeoiser Inanspruchnahme des Heiligen Zwei Leser, die sich über Stirners Buch ärgerten, störten sich auch an dessen ständig wiederholter Kritik des Heiligen. Sie verfassten eine ausführliche Stirner-Polemik, unterließen es aber, sie zu veröffentlichen. Unter dem Titel Die deutsche Ideologie wurde Karl Marx’ und Friedrich Engels’ Kritik erst nach beider Tod publiziert.192 Ihre 186 187 188 189
Vgl. ebd., 64, 95 u.ö. Ebd., 95. Ebd., 284. Ebd., 94. Vgl. die unmittelbare Fortsetzung: »Es gehört dazu, daß man etwas außer sich für mächtiger, größer, berechtigter, besser u.s.w. hält, d.h. daß man die Macht eines Fremden anerkennt, also nicht bloß fühlt, sondern ausdrücklich anerkennt, d.h. einräumt, weicht, sich gefangen giebt, sich binden läßt (Hingebung, Demuth, Unterwürfigkeit, Unterthänigkeit u.s.w.). Hier spukt die ganze Gespensterschar der ›christlichen Tugenden.‹« 190 Ebd., 242. 191 Ebd., 128. 192 Die jetzt maßgebliche kritische Ausgabe ist Karl Marx/Friedrich Engels, Gesamtausgabe (MEGA), erste Abteilung: Werke. Artikel. Entwürfe, Bd. 5: Karl Marx/Friedrich Engels. Deut-
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eigene Perspektive auf das Heilige kommt in einer Passage Manifest der Kommunistischen Partei (1848) zum Ausdruck: Die Bourgeoisie kann nicht existiren ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämmtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutioniren. Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeois-Epoche vor allen früheren aus. Alle festen, eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.193 Damit formulieren Marx und Engels eine bis heute nicht überprüfte religionsgeschichtliche und religionssoziologische These: »Das Heilige« sei eine ambivalente Kategorie des Bürgertums, an der sich dessen Widersprüche abarbeiteten.
16. Zusammenfassendes, Ausblick In der Frühen Neuzeit begegnet das substantivierte Adjektiv »das Heilige« ganz überwiegend in biblischen und sakramentalen Zusammenhängen. Diese Gebrauchsweisen werden im gesamten Berichtszeitraum beibehalten und verschwinden nicht. Doch ab Mitte des 18. Jahrhunderts beginnt »das Heilige« von biblischen und gottesdienstlichen Kontexten abgekoppelt in verschiedenen Diskursen eine zum Teil zentrale Rolle zu spielen. Freimaurerische Mythen und Rituale, Ästhetik, Pädagogik, Philosophie, Medizin, Psychologie, Psychiatrie und Theologie beziehen
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sche Ideologie. Manuskripte und Drucke, bearb. von Ulrich Pagel/Gerald Hubmann/Christine Weckwerth, Berlin/Boston 2017; die Stirner-Kritik ebd., 165–511 (vgl. z.B. die Kritik an Stirners Substantivierung des Adjektivs »heilig« ebd., 206). Wie das Sachregister ebd., 1879, zeigt, sind fast alle der zahlreichen Bezugnahmen auf »das Heilige« in der Stirner-Kritik zu finden. Zur Editionsgeschichte der Deutschen Ideologie vgl. Ulrich Pagel, Die Editionen der Deutschen Ideologie im Wechselspiel von politischer Instrumentalisierung und historisch-kritischer Aufarbeitung, in: Matthias Steinbach/Michael Ploenus (Hg.), Prüfstein Marx. Zu Edition und Rezeption eines Klassikers, Berlin 2013, 30–45, zur Auseinandersetzung der Autoren mit Stirner vgl. Wolfgang Eßbach, Gegenzüge. Die Materialisierung des Selbst und seine Ausgrenzung aus dem Marxismus – eine Studie über die Kontroverse zwischen Max Stirner und Karl Marx. Mit einem Anhang. Sexualität und Gesellschaftstheorie, Frankfurt a.M. 1982. [Karl Marx/Friedrich Engels], Manifest der Kommunistischen Partei, London 1848, 5.
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sich auf »das Heilige«, es begegnet in Biographie und Autobiographie und kann nationalistisch besetzt werden.194 In Kirche und Schule wird »das Heilige« religiöses Modewort. Die zunehmende Bedeutung des Konzepts spiegelt sich darin, dass es ab Ende des 18. Jahrhunderts im Titel von Veröffentlichungen auftaucht.
Tabelle 3: »Das Heilige« im Titel von Texten 1797
Johann Wolfgang von Goethe: Das Heilige und das Heiligste (Gedicht, unselbstständig veröffentlicht)
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Friedrich August Schulze: Der Streit für das Heilige (Gedicht, unselbstständig veröffentlicht)
1803
Johann Gottfried Herder: Vom Heiligen in der Epischen Dichtkunst (Zwischentitel in einer literaturgeschichtlichen Abhandlung)
1805
Carl August Eschenmayer: Der Eremit und der Fremdling. Gespräche über das Heilige und die Geschichte
1815
Johann Heinrich Bernhard Dräseke: Ueber die Darstellung des Heiligen auf der Bühne
1816
Johann Christian August Grohmann: Ueber die Darstellung des Heiligen auf der Bühne
1817
Cajetan Weiller/Jakob Salat: Erklärungen über das Heilige. Eine denkwürdige Einheit und Verschiedenheit
1819/1821 Henrich Steffens:C aricaturen des Heiligsten. In zwei Theilen 1835
Carl Immanuel Nitzsch: Das Heilige der Selbsterhaltung. Eine christliche Warnung vor dem Zweikampf
1846
Carl Boetticher: Andeutungen über das Heilige und Profane in der Baukunst der Hellenen
194 Zur nationalistischen Inanspruchnahme von »das Heilige« vgl. die erste Strophe von Theodor Körners 1813 verfasstem und posthum 1814 herausgegebenem Gedicht »Mein Vaterland« (Theodor Körner, Leyer und Schwerdt. Einzige rechtmäßige, von dem Vater des Dichters veranstaltete Ausgabe, Berlin 1814, 23): »Wo ist des Sängers Vaterland? – / Wo edler Geister Funken sprühten, / Wo Kränze für das Schöne blühten, / Wo starke Herzen freudig glühten, / Für alles Heilige entbrannt, / Da war mein Vaterland!« Ernst Christian von Trautvetter bezog seine Reflexionen über »das Heilige« auf das »Volk« und verband pädagogische Überlegungen mit einer Religionstheorie und einem volksbezogenen Religionsprojekt (vgl. Ernst Christian Trautvetter, Der Bardenhain, oder Forschungen zur Reinigung und zu einer neuen Begründung der Lehre von Eigenthümlichkeiten der deutschen Dicht-, Stimm- und Sängerkunst, wie auch über das Verhältniß der Künste, Wissenschaften und Glaubensarten, Berlin 1812, 165–168, 171–173, 178f., und insbesondere die Beilage zu Trautvetters Brief an Johann Bartholomäus Trommsdorff vom 26. Juli 1816, ediert in Hartmut Bettin et al. (Hg.), Der Briefwechsel von Johann Bartholomäus Trommsdorff (1770–1837). Lieferung 10. Sieber – H. Trommsdorff, Halle 2007, 108–112).
Martin Leutzsch: Die Karriere eines substantivierten Adjektivs
Beteiligt an diesen Veröffentlichungen sind Vertreterinnen und Vertreter aller christlichen Konfessionen, spätestens ab 1811 auch Juden. Es sind Männerdiskurse, neben etwa 650 männlichen Publizisten habe ich ein gutes Dutzend Frauen registriert. Ab Ende des 18. Jahrhunderts wird »das Heilige« ein Modewort. Ein Beobachter nennt es 1809 ein »itzt häufig misbrauchte[s] Wort«.195 Differenzen in der Konzeptionierung des Heiligen verlaufen – entgegen zeitgenössischen Annahmen196 – weniger entlang konfessioneller Grenzlinien. Feststellbar ist – und zwar in der philosophischen Kontroverse zwischen Kantianern und Idealisten – die Polarisierung eines Präsenz- und eines Differenzkonzepts des Heiligen. Ist das Heilige präsent, prozessierbar, funktionalisierbar – oder entzieht es sich menschlicher Erkenntnis und menschlichem Zugriff? In der Mehrheit der hier vorgestellten Diskurse wird ein Präsenzkonzept vorausgesetzt oder favorisiert. Gesellschaftlich sind die fast ausschließlich männlichen Protagonisten, die sich zum Heiligen äußern und darüber streiten, ganz überwiegend dem Bürgertum zuzuordnen. Sie nutzen Sphären und Medien bürgerlicher Kultur, Schule, Theater, Zeitung. Es wäre zu überprüfen, inwieweit »das Heilige« von 1745–1848 eine bürgerliche Konstruktion ist, die primär Bedeutung für bürgerliche Selbstund Weltwahrnehmung und bürgerliche Selbst-, Sozialitäts- und Weltentwürfe hat. Zu fragen wäre auch, ob die nicht nur von Karl Marx und Friedrich Engels
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Vgl. E[rnst] Brandes, Ueber das Du und Du zwischen Eltern und Kindern, Hannover 1809, 10f.: »Dieses itzt häufig misbrauchte Wort steht hier an seiner Stelle. Das Heilige in Dir, recht geläutert, wird Dir zeigen, was Du ohne Uebertretung innerer Verpflichtungen sagen darfst; dein Verstand, was Dir äußere Verhältnisse erlauben.« 196 Vgl. Hegels Brief an Niethammer vom 10. Oktober 1816 (Briefe von und an Hegel, Bd. 2: 1813–1822, hg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg 2 1961, 141): »Das Resultat, zu dem eine Menge Züge und Daten gehören, geht darauf hinaus, daß die allgemeine intellektuelle und moralische Bildung für die Protestanten das Heilige ist, für die Katholiken hingegen gleichgültig und ein Belieben ist, weil das Heilige in der Kirche und diese in einem Klerus ausgeschieden ist. – Ich hätte gerne mit Ihnen gesprochen, inwiefern sich dies öffentlich verhandeln ließe.« Stirner (Anm. 181), 120: »Das ist ein sehr wesentliches Moment. Im Katholicismus kann das Weltliche zwar geweiht werden oder geheiligt, ist aber nicht ohne diesen priesterlichen Segen heilig; dagegen im Protestantismus sind weltliche Verhältnisse durch sich selbst heilig, heilig durch ihre bloße Existenz. Mit der Weihe, durch welche Heiligkeit verliehen wird, hängt genau die jesuitische Maxime zusammen: ›Der Zweck heiligt die Mittel.‹ Kein Mittel ist für sich heilig oder unheilig, sondern seine Beziehung zur Kirche, sein Nutzen für die Kirche, heiligt das Mittel. Königsmord wurde als ein solches angegeben; ward er zum Frommen der Kirche vollführt, so konnte er ihrer, wenn auch nicht offen ausgesprochenen Heiligung gewiß sein. Dem Protestanten gilt die Majestät für heilig, dem Katholiken könnte nur die durch den Oberpriester geweihte dafür gelten, und gilt ihm auch nur deshalb dafür, weil der Papst diese Heiligkeit ihr, wenn auch ohne besonderen Akt, ein für allemal ertheilt. Zöge er seine Weihe zurück, so bliebe der König dem Katholiken nur ein ›Weltmensch oder Laie‹, ein ›Ungeweihter‹.«
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diagnostizierte Entweihung des Heiligen197 nicht als eine parallele, komplementäre bürgerliche Praktik zu verstehen wäre. Die Erweiterungen, die das substantivierte Adjektiv »das Heilige« seit Mitte des 18. Jahrhunderts gegenüber den biblischen und liturgischen Vorgaben erfuhr, legen es nahe, einen Zusammenhang mit der von Reinhart Koselleck »Sattelzeit« genannten Epoche in Erwägung zu ziehen, die »einen tiefgreifenden Wandel des Denkens und der sozialen Welt, der sich zwischen etwa 1750 und 1850 im deutschsprachigen Raum vollzogen habe«,198 meint. Die vorliegende Skizze liefert Material für eine »Untersuchung der religiösen Sprache der Sattelzeit«,199 für die Stefan Jordan angesichts der systematischen Ausblendung des Religiösen in den Geschichtlichen Grundbegriffen plädiert und erste Beispiele nennt. Zu korrelieren wäre die wortgeschichtliche Entwicklung von »das Heilige« ab Mitte des 18. Jahrhunderts mit der aufklärungstheologischen Unterscheidung von (organisierter, institutionalisierter) Kirche und (freiem) Christentum200 und der Option für eine Bestimmung von »Religion« als »Privatreligion«.201 Die in dieser Unterscheidung und dieser Option implizierten Trends können sich auch darin äußern, dass um 1800 ein Dichter, der nach dem Theologiestudium entschieden hatte, nicht den Weg ins Pfarramt zu gehen,
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Vgl. z.B. [Christian August Heinrich Clodius], Fedor der Mensch unter Bürgern. Bruchstücke aus dem Leben eines *** Offiziers. Erster Theil, Leipzig 1805, 163: »Die Menschheit ist nicht mehr. Sie ist gestorben, denn Liebe war die Mutter des Menschenlebens, und das Heilige der Liebe haben wir vernichtet. Ich beschwöre dich. Was ist jetzt das Gespenst, welches sich Mensch nennt? Ein Hohngelächter über dem oden Grabe der Natur. Wir sind Karrikaturen aus Erdenklößen geformt und nichts weiter, und spotten darüber, daß wir es sind. Wir sind Helden, wenn es darauf ankommt, das heilige Schöpfungsfeuer zu verlachen, und naschhafter, als die Thiere, wenn es darauf ankommt, von irgend einer flüchtigen Süßigkeit zu kosten. Wir stehn tief unter dem Thiere. Denn das Thier hat kein Bewußtseyn seiner Nichtigkeit.« So die Koselleck-Paraphrase von Stefan Jordan, Die Sattelzeit. Eine Epoche für dieTheologiegeschichte?, in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte/Revue suisse d’histoire religieuse et culturelle/Rivista svizzera di storia religiosa e culturale 105 (2011), 525–535, 525, mit Bezug auf Reinhart Koselleck, Einleitung, in: Otto Brunner/Werner Conze/ders. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, XIII–XXVII, XV. Ich greife im Folgenden die durch diese Paraphrase charakterisierte Variante der Rezeption von Kosellecks SattelzeitKonzept auf; dazu und zu anderen Varianten sowie zur möglichen Bedeutung des Konzepts für Religions- und Theologiegeschichte vgl. insgesamt Jordans Ausführungen. Jordan (Anm. 198), 532. Vgl. z.B. Walter Nigg, Geschichte des religiösen Liberalismus. Entstehung – Blütezeit – Ausklang, Zürich/Leipzig 1937, 217. Vgl. für Johann Salomo Semler: Ernst Feil, Religio, Bd. 4: Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Göttingen 2007, 427–476; Martin Laube, Die Unterscheidung von öffentlicher und privater Religion bei Johann Salomo Semler. Zur neuzeittheoretischen Relevanz einer christentumstheoretischen Reflexionsfigur, in: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte/Journal for the History of Modern Theology 11, 1 (2004), 1–23.
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sich nur gegenüber einer engen Vertrauensperson in der Lage sieht, »ein vollständiges Glaubensbekenntnis abzulegen«, hingegen »die Schriftgelehrten und Pharisäer unserer Zeit, die aus der heiligen lieben Bibel ein kaltes, geist- und herztötendes Geschwätz machen«, »nicht zu Zeugen meines innigen, lebendigen Glaubens machen« mag. Ich weiß wohl, wie jene dazu gekommen sind, und weil es ihnen Gott vergibt, daß sie Christus ärger töten, als die Juden, weil sie sein Wort zum Buchstaben, und ihn, den Lebendigen, zum leeren Götzenbilde machen, weil ihnen das Gott vergibt, vergeb‹ ichs ihnen auch. Nur mag ich mich und mein Herz nicht da bloß geben, wo es mißverstanden wird, und schweige deswegen vor den Theologen von Profession (d.h. vor denen, die nicht frei und von Herzen, sondern aus Gewissenszwang und von Amtswegen es sind) eben so gerne, wie vor denen, die gar nichts von all dem wissen wollen, weil man ihnen von Jugend auf durch den toten Buchstaben und durch das schröckende Gebot, […] zu glauben, alle Religion, die doch das erste und letzte Bedürfnis der Menschen ist, verleidet hat. Liebste Mutter! wenn unter diesen Zeilen ein hartes Wort ist, so ists gewiß nicht aus Stolz und Haß geschrieben, sondern nur, weil ich keinen andern Ausdruck fand, wodurch ich mich so kurz wie möglich hätte verständlich machen können. Es mußte alles so kommen, wie es jetzt überhaupt, und in der Religion besonders ist, und es war mit der Religion fast so wie jetzt, da Christus in der Welt auftrat. Aber gerade wie nach dem Winter der Frühling kömmt, so kam auch immer nach dem Geistestode der Menschen neues Leben, und das Heilige bleibt immer heilig, wenn es auch die Menschen nicht achten. Und es gibt wohl manchen, der im Herzen religiöser ist, als er sagen mag und kann, und vielleicht sagt auch mancher unsrer Prediger, der nur die Worte nicht finden kann, mit seiner Rede mehr, als andere dabei vermuten, weil die Worte, die er braucht, so gewöhnlich und so tausendfältig gemißbraucht sind.202 Die Opposition der Romantik gegen die Aufklärung äußert sich nicht nur in konträren Geschichtsverständnissen,203 sondern auch in der Favorisierung eines Differenzkonzepts des Heiligen gegenüber einem Präsenzkonzept. Das bedeutet indes nicht notwendig, »die Sattelzeit schon viel früher, mit Beginn des 19. Jahrhunderts, enden zu lassen«.204 Vielmehr ist ab 1800 ein Nebeneinander zu beobachten: Zahlreiche Vertreter der Aufklärung in Theologie, Philosophie und Pädagogik traten noch bis ins dritte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts vehement für ein Präsenzkonzept ein.
202 Friedrich Hölderlin, Brief an seine Mutter Johanna Christiana Gock vom Januar 1799, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe, Bd.: Die Briefe. Briefe an Hölderlin. Dokumente, hg. von Jochen Schmidt in Zusammenarbeit mit Wolfgang Behschnitt, Frankfurt a.M. 1992, 336f. 203 Vgl. dazu Jordan (Anm. 198), 530f. 204 Ebd.
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Über eine Kontextualisierung der Wortgeschichte von »das Heilige« in der »Sattelzeit« hinaus kann der seit Mitte des 18. Jahrhunderts bis heute permanent neu verhandelte Bezirk und Stellenwert der Religion als weiterreichender Kontext benannt werden. Die Sicht, die Sigmund Freud 1939 auf die Semantik »des merkwürdigen Begriffs der Heiligkeit« hatte, nimmt eine Grenze zwischen Religiösem und Nichtreligiösem wahr, die so rigide im Berichtszeitraum kaum gezogen worden wäre: Was erscheint uns eigentlich als ›heilig‹ in Hervorhebung von anderem, das wir hochschätzen und als wichtig und bedeutungsvoll anerkennen? Einerseits ist der Zusammenhang des Heiligen mit dem Religiösen unverkennbar, er wird in aufdringlicher Weise betont; alles Religiöse ist heilig, es ist geradezu der Kern der Heiligkeit. Anderseits wird unser Urteil durch die zahlreichen Versuche gestört, den Charakter der Heiligkeit für soviel anderes, Personen, Institutionen, Verrichtungen in Anspruch zu nehmen, die wenig mit Religion zu tun haben.205 Ein Katalog wie der von Johann Michael Sailer (oben, Abschnitt 10) hatte Religion, Humanität, Vaterlands-, Verwandten-, Nächstenliebe, Berufstreue und Tugend unter dem Fokus des Heiligen nicht gegeneinander gestellt, sondern als miteinander vernetzte Tätigkeitsfelder verstanden, in denen sich das »kindlich zarte und männlich starke Gefühl für das Heilige« üben und bewähren soll. Eine weitere Kontextualisierung, auf die in der vorliegenden Skizze auch wegen des höchst unterschiedlichen Forschungsstands verzichtet wurde, kann das Verhältnis der Substantivierung »das Heilige« zu anderen angrenzenden, damit korrelierenden oder konträren Begriffen in den Blick nehmen. Beachtung verdienen »das Absolute«, »Ahnung«, »Andacht«, »Ehrfurcht«, »entheiligen«/»Entheiligung«, »das Erhabene«, »Ernst«, »das Ewige«, »das Feierliche«, »Frevel«, »frivol«, »Gefühl«, »das Gemeine«, »Gemüt«, »Geschmack«, »Gewissen«, »das Göttliche«, »das Hehre«, »Herz«, »das Hohe«/»Höchste«, »das Innere«/»Innerste«/»Innigkeit«, »profan«, »Reinheit«, »das Religiöse«, »Religion«, »Scheu«, »Schleier«, »das Unendliche«, »Weihe«/»Entweihung«, »das Weltliche«, »das Wunderbare«. Eine nähere Erforschung verdient schließlich der Verlauf der weiteren Wortgeschichte von »das Heilige« von 1848 bis 1917, bis zum Erscheinen von Rudolf Ottos bis heute als Standardreferenz benutztem Buch »Das Heilige«. Die Intention von Ottos Werk, eine mit den Mitteln der Religionsphänomenologie unternommene protestantische Christentumsapologie, wird in der Otto-Rezeption zumeist unterschlagen. Die weitgehende Ausblendung von Strukturen, Institutionen, Ritua205 Sigmund Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Drei Abhandlungen, Amsterdam 1939, 212. In der Fortsetzung (ebd., 212f.) will Freud für seine eigene Definition »von dem Verbotcharakter ausgehen, der so fest am Heiligen haftet. Das Heilige ist offenbar etwas, was nicht berührt werden darf.«
Martin Leutzsch: Die Karriere eines substantivierten Adjektivs
len, Funktionen und Funktionären organisierter Religion in Ottos Werk wird meist nicht problematisiert. Beides – die Christentumsapologetik wie die Distanz von vielen Dimensionen organisierter Religion – gehört zu den teils impliziten, teils expliziten Zielen und Schwerpunktsetzungen der Religionsphänomenologie, die von Pierre Daniel Chantepie de Saussaye (1887) an drei Generationen lang eine Wissenschaft dominierte, die sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Universitäten etablieren konnte und in einem komplexen Verhältnis zur Theologie stand: die Religionswissenschaft. Dass Konzepte des Heiligen, Debatten um das Heilige und Forschungen zum Heiligen nicht erst mit der Religionsphänomenologie beginnen, sondern die bürgerliche Gesellschaft seit Mitte des 18. Jahrhunderts beschäftigten und sich in zahlreichen Diskursen niederschlugen, sollte mit der vorliegenden Skizze in Erinnerung gerufen werden.
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Menschlicher Körper, heiliger Körper Zur Kreuzigung Christi im Donaueschinger Passionsspiel Marie-Luise Musiol
1. Einleitung Zu Beginn des Donaueschinger Passionsspiels1 wendet sich ein Knecht des Proclamators mit den Worten Ir werdent ir sehen in menschlicher natur / gar menig schön andächtig figur (V. 44) an das Publikum.2 In diesem Ausspruch scheinen zwei zentrale Bedeutungsaspekte auf, die sich in spätmittelalterlichen Passionsspielen insbesondere mit dem Körper Christi verbinden: erstens die Betonung seiner menschlichen Natur3 und zweitens der Verweis auf seine numinose Einzigartigund Heiligkeit. Geistliche Spiele wie dieses thematisieren die Passion Christi und zeichnen sich durch einen spezifischen Darstellungsmodus von Gewalt- und Versehrungshandlungen aus, in deren Zentrum die Figur Jesus Christus steht.4 Dieser
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Der Text des Donaueschinger Passionsspiels wird im Weiteren zitiert nach der Ausgabe: Das Donaueschinger Passionsspiel, nach der Handschrift mit Einl. und Kommentar neu hg. von Anthonius H. Touber (RUB 8046), Stuttgart 1985. Wenn hier von einem Publikum die Rede ist, wird auf eine in den Text eingeschriebene Dimension rekurriert. Die Frage nach dem medialen und performativen Status der Spiele im Kontext einer realhistorischen und zum Teil gut belegten Aufführungspraxis ist sicher insbesondere mit Blick auf den körperlichen Status der Figur Jesus Christus interessant. Sie steht an dieser Stelle nicht im Zentrum meiner Überlegungen. Es ist deshalb auch nicht beabsichtigt, die von Teilen der Forschung seit längerer Zeit geführte Debatte um das sogenannte Aufführungsparadigma aufzugreifen. Zur Frage nach der historischen Aufführungspraxis vgl. Werner Williams-Krapp, Überlieferung und Gattung. Zur Gattung ›Spiel‹ im Mittelalter. Mit einer Edition von ›Sündenfall und Erlösung‹ aus der Berliner Handschrift mgq 496, Tübingen 1989, und Rolf Bergmann, Aufführungstext und Lesetext. Zur Funktion der Überlieferung des mittelalterlichen geistlichen deutschen Dramas, in: Herman Braet/Johan Nowé/Gilbert Tournoy (Hg.), The Theatre in the Middle Ages, Leuven 1985, 314–351. Auch die im zitierten Vers aufgerufene sinnliche Wahrnehmbarkeit der menschlichen natur Christi im konkreten sehen legt dies nahe. Der Terminus ›Geistliches Spiel‹ wird hier als übergeordnete Gattungsbezeichnung aufgefasst. Passionsspiele sind vor diesem Hintergrund eine Untergattung von Spieltexten, die speziell die Passion Christi fokussieren. Zur Abgrenzung beider Termini voneinander und zur
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Darstellungsmodus ist gekennzeichnet durch die Fokussierung der Täterperspektive auf der Handlungsebene und auf der Ebene der religiösen Funktionalisierung der Spiele.5 Dem Körper kommt dabei eine Schlüsselposition zu. In der Forschung werden bislang zwei kategorial verschiedene Darstellungsformen des Körpers Christi in spätmittelalterlichen Passionsspielen diskutiert: einerseits die Inszenierung von Gewalthandlungen in ihrer performativen Dimension6 und andererseits die Ausstellung des Leidens Christi mit Appell zur compassio.7 Die Darstellung von Gewalt und die Ausstellung von Leiden stehen dabei in einem signifikanten Spannungsverhältnis, das, so eine Auffassung der jüngeren Forschung, konstitutiv für die Gattung ist.8 Aus diesen Perspektiven ergeben sich Fragen zur Logik und zur Ästhetik von Körperinszenierungen in Passionsspielen, die Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen sind. So wird zum einen untersucht, inwieweit der menschliche Körper Christi in der literarischen Inszenierung von zum Teil exzessiven Gewalthandlungen entmächtigt und damit scheinbar verfügbar gemacht wird. Zum anderen sind die Vorgänge von Interesse, die den heiligen Körper Christi hervorbringen. Die im
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damit verknüpften Gattungsdiskussion vgl. Ursula Schulze, Geistliche Spiele im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Von der liturgischen Feier zum Schauspiel. Eine Einführung, Berlin 2012. Geistliche Spiele sind unter anderem als Teil einer spezifischen Form und Praxis der Passionsfrömmigkeit, die insbesondere im Spätmittelalter weit verbreitet ist, untersucht worden. Diesem Aspekt wird hier nicht nachgegangen, vgl. dazu Thomas Lentes, Inneres Auge, äußerer Blick und heilige Schau. Ein Diskussionsbeitrag zur visuellen Praxis in Frömmigkeit und Moraldidaxe des späten Mittelalters, in: Klaus Schreiner (Hg.), Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, München 2002, 179–220, und Caroline Walker Bynum, Fragmentierung und Erlösung. Geschlecht und Körper im Glauben des Mittelalters, Frankfurt a.M. 1996 (engl. 1991). Diesen Aspekt fokussieren die Arbeiten von Jutta Eming: vgl. Jutta Eming, Gewalt im Geistlichen Spiel. Das ›Donaueschinger‹ und das ›Frankfurter Passionsspiel‹, in: The German Quarterly 78 (2005), H. 1, 1–22; dies., Sprache und Gewalt im spätmittelalterlichen Passionsspiel, in: dies./Claudia Jarzebowski (Hg.), Blutige Worte, Göttingen 2008, 31–51; Jutta Eming, Gewalt als Kommunikation im geistlichen Spiel, in: Cora Dietl/Christoph Schanze/Glenn Ehrstine (Hg.), Power and Violence in Medieval and Early Modern Theater, Göttingen 2014, 11–29. Zu diesem Aspekt unter Berücksichtigung des Konzepts von compassio als Rezeptionsziel vgl. Ulrich Barton, eleos und compassio. Mitleid im antiken und mittelalterlichen Theater, Paderborn 2016. Diese Auffassung wird insbesondere von Margreth Egidi vertreten, die dem Geistlichen Spiel eine charakteristische Hybridität und Widerspruchsstruktur zuschreibt, die aus diesem Spannungsverhältnis hervorgeht; vgl. Margreth Egidi, Theatralität und Bild im spätmittelalterlichen Passionsspiel. Zum Verhältnis von Gewaltdarstellung und compassio, in: Hans Aurenhammer/Daniela Bohde (Hg.), Räume der Passion. Raumvisionen, Erinnerungsorte und Topographien des Leidens Christi in Mittelalter und Früher Neuzeit (Vestiga Bibliae 32/33), Bern u.a. 2014, 181–203.
Marie-Luise Musiol: Menschlicher Körper, heiliger Körper
Eingangszitat so genannte menschliche Natur Christi ist in diesem Sinne von seinem heiligen Körper systematisch zu unterscheiden. Der heilige Körper ist in diesem Zusammenhang ein semiotischer Körper, der auf der Rezeptionsebene als der heilige Christuskörper lesbar ist. Vor diesem Hintergrund und der skizzierten Frage nach gattungsspezifischen Darstellungslogiken werden im Folgenden die Relationen von menschlichem und heiligem Körper in der vergleichsweise kurzen Kreuzigungssequenz des Donaueschinger Passionsspiels exemplarisch in den Blick genommen. Im Fokus steht dabei insbesondere die Frage danach, auf welche Weise in dieser Sequenz ein Spannungsverhältnis zwischen menschlichem und heiligem Körper hergestellt und mit diesem möglicherweise experimentiert wird.
2. Die Kreuzigung Christi im Donaueschinger Passionsspiel 2.1 Einschlagen der Kreuznägel Der um 1470/1500 entstandene Text des Donaueschinger Passionsspiels basiert auf älteren Vorlagen und gehört zur alemannischen Spielgruppe.9 Er umfasst 4177 Verse und ist in zwei Aufführungstage strukturiert. Über die Aufführungstage erstrecken sich drei Handlungsteile. Der erste einleitende Teil besteht aus der Eingangsprozession, dem Gesang der Engel und dem sogenannten Judengesang sowie der Darstellung von Maria Magdalena und Christi Lehre und Wunder. Mit dem Judasverrat endet der erste Tag. Der zweite Tag beginnt auch mit dem zweiten Handlungsteil, dem zentralen Passionsgeschehen vom Abendmahl bis zur Grablegung, und endet mit dem dritten Handlungsteil, dem Ostergeschehen.10 Die Kreuzigung Christi markiert den Höhepunkt eines Gewaltgeschehens, das sich nahezu über den gesamten zweiten Tag zuspitzt. Zu Beginn der Szene wird vornehmlich über die Instrumente gesprochen, die zur Kreuzigung benutzt werden sollen. Dies geschieht stets im Rekurs auf den Körper Christi. Zugleich unterscheidet sich diese Szene von den vorausliegenden Erniedrigungs- und Gewalthandlungen gegen den Salvator, da spezifische Wunden, eben die Wundmale erzeugt werden, die für den heiligen Körper im eingangs erläuterten Sinne, das heißt, den des leidenden Jesus am Kreuz, konstitutiv sind. Als Folterer treten zunächst Yesse, Mosse, Manasse, Iechonias, Malchus und Israhel auf. Israhel beschimpft einige der anderen Folterer und weist schließlich Mal-
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Zur Stellung des Donaueschinger Passionsspiels innerhalb der deutschsprachigen Spielüberlieferung vgl. Touber (Hg.) (Anm. 1), 10–16. Als Vorlage gilt das Villinger Passionsspiel, es bestehen zudem teils auch wörtliche Übereinstimmungen mit dem Luzerner Passionsspiel, vgl. ebd., 13. Auf die Struktur des Spiels in Relation zum Bühnenplan vgl. ebd., 15, 31–34.
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chus an, Löcher ins Kreuz zu bohren, während er selbst sich den Kreuznägeln zuwendet: was fullen knechten sind ir docht malche nim ein nepper und bor ein loch ich geb vmb üch all nit ein switz dis nagel sind doch vil ze spitz ich will sy etwas stumpffer machen des selb mag Ihesus nit gelachen (V. 3271–3276) Schon hier werden die leiblichen Kräfte der Folterer zum menschlichen Körper Christi ins Verhältnis gesetzt. Dies ist eine Tendenz, die über die gesamte Kreuzigungssequenz hindurch immer wieder aufgerufen und zum Teil ausgelotet wird. Zunächst wird an dieser Stelle jedoch eine Relationierung der Folterer untereinander erkennbar. So treiben sie einander an, den Kreuzigungsvorgang voranzubringen und reizen sich mehrfach gegenseitig, wenn sie sich als ir fullen knechten (V. 3271; später auch ir fullen man, V. 3289) ansprechen. Diese gegenseitigen Aufforderungen zu Gewalthandlungen stehen dabei wechselseitigen Verweisen auf ihre jeweilige Körperkraft bzw. auf ihr körperliches Unvermögen, den Salvator zu foltern, gegenüber.11 Die Beschreibung der Werkzeuge wie des gezielten Abstumpfens der Nägel in den beiden aufeinanderfolgenden Versen ich will sy etwas stumpffer machen / des selb mag Ihesus nit gelachen (V. 3275f.), eröffnet einen Imaginationsraum, der die Vorstellung eines Gefolterten stimuliert, noch bevor die Kreuzigungshandlungen selbst begonnen haben, denn die stumpfen Nägel zielen auf eine Steigerung des Schmerzes. Hinzu kommt die explizit artikulierte Lust der Folterer an der antizipierten Gewalt, die sich im Verlauf der Szene zuspitzt und in der tatsächlichen Kreuzigung kulminiert. Malchus antwortet Israhel: das will ich tün von hertzen gern (V. 3277), und wendet sich dann an Mosse: mosse du solt ouch nit enbern Sunder vff der ander siten born kein unglück ist an im verlorn bor die löcher vngemessen wir wend dem lugner nit vergessen (V. 3278–3282)
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Jesus Christus als Figur wird in den Spielen häufig als salvator bezeichnet. In den vorliegenden Überlegungen werden die Bezeichnungen ›Salvator‹ und ›Jesus Christus‹ synonym verwendet.
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Indem Israhel Mosse anweist, die Löcher vngemessen zu bohren, also weiter auseinander, als es für die körperlichen Voraussetzungen des Salvators passend wäre, wird die Materialität des menschlichen Körpers betont. Der zuvor erfolgte Verweis auf das Abstumpfen der Nägel evoziert die Vorstellung von der gewaltsamen Durchstoßung der menschlichen Oberfläche, der Haut Jesu.12 Die alltäglich anmutenden Verhandlungen der Folterer um das Ausmessen und Bohren der Löcher verweisen auf den handwerklichen Aspekt eines Kreuzigungsvorganges, in dem versucht wird, den menschlichen Körper Christi zu einem Handwerksmaterial zu machen. Die Gewaltanschläge auf die leibliche Unversehrtheit der Christusfigur wirken im Kontext der Kreuzigungsszene zugleich an der Erzeugung des semiotischen heiligen Körpers mit. Es stellt sich so eine spannungsvolle Gleichzeitigkeit her, die den Kreuzigungsvorgang prägt bis hin zum Lanzenstich, der dem Salvator kurz nach dessen Tod zugefügt wird. Daneben wird über das dialogische Moment, das in der Kommunikation der Folterer untereinander liegt, eine räumliche Komponente im Geschehen betont, wenn es heißt, Mosse möge vff der ander siten bohren. Der menschliche Körper Jesu ist demnach im Zentrum und determiniert die Positionen der Folterer um ihn herum: links, rechts und unten. Auch als sich anschließend Mosse an Yesse wendet, der das Loch für die Füße ebenfalls etwas tiefer bohren soll, als nötig, wird erneut deutlich, dass es zunächst darum geht, den Körper Christi zu einem Material zu machen: yesse mach dich zů den füssen das wir din nit warten müsse bor das loch mitem fůg das es werde nider gnůg wir wend vns mit im wol ergeillen vnd inn zerstrecken mit den seilen (V. 3283–3288) Auch hier messen sich die Fragen nach dem Abstand der Löcher voneinander an der Körperlichkeit des Salvators im Sinne seiner menschlichen Natur. Der noch nicht ans Kreuz fixierte menschliche Körper wird über die Schilderung der Werkzeuge und des Kreuzes bereits in das Geschehen eingeschrieben. Die Frage nach der Passgenauigkeit des Kreuzes und der Löcher stiftet dabei ein Imaginäres dieses noch nicht ans Kreuz fixierten Körpers Christi, denn wenn unpassende Kreuzbohrungen vorgenommen werden können, dann nur unter der Voraussetzung eines Leibes in
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Zu Bedeutungsdimensionen von Haut in Relation zu Körperinszenierungen in literarischen Texten vgl. Claudia Benthien, Haut. Literaturgeschichte, Körperbilder, Grenzdiskurse, Reinbek bei Hamburg 1999, sowie Oliver König, ›Haut‹, in: Christoph Wulf (Hg.), Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Basel 1997, 436–445.
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seinen eigenen Abmessungen. Durch die Beschreibungen der Lochbohrungen werden zudem die Wundmale des Gekreuzigten präfiguriert, bleiben aber noch in Latenz, denn noch hat der Kreuzigungsvorgang nicht begonnen. Diese Leerstelle wird aufgehoben, indem der Salvator nun in das Geschehen einbezogen wird. Iechonias wendet sich an die Gruppe der Folterer und weist sie an, Jesus zu Boden zu werfen, um ihn an das Kreuz zu nageln: es ist nu zit ir fullen man ir müssent Ihesum griffen an werffent inn nider vff die erd das er an daz crütz genaglet werd nit achtend ob er vbel vall er hatz verdienet vmb vns all (V. 3289–3294) Im Modus der Folterhandlungen setzt auch ein semiotischer Prozess ein, denn der Leib des Salvators wird mit dem Kreuz zusammengeführt und auf diese Weise auch die symbolische Konfiguration aus Salvator und Kreuz gestiftet. Die Frage nach der Angemessenheit der einzelnen Gewalthandlungen wird aufgeworfen, wenn Iechonias die Gruppe anweist, keine Rücksicht darauf zu nehmen, wie der Salvator zu Boden kommt. Hinzu kommt der spottende Gestus, mit dem die Folterer Jesus begegnen. So nimmt etwa Yesse dem Salvator dessen Kleider weg und sagt zu ihm: du rümpfft dich fast des muß ich lachen (V. 3304). Das rümpffen Jesu und das lachen von Yesse verweisen als unmittelbare und aufeinander bezogene körperliche Reaktionen auf die jeweilige Subjekthaftigkeit ihrer Körper, das heißt sowohl des Salvators als auch Yesses selbst. Dieses Wechselverhältnis von der menschlichen Körperlichkeit Jesu und der einzelner Folterer bleibt im Verlauf bestehen. Malchus bemerkt, dass der Abstand der Löcher nicht zum Körper des Salvators passt. Er weist Mosse deshalb an, dessen rechten Arm zu strecken, um den ersten Kreuznagel nach Kräften einzuschlagen: wir hand die löcher geboret ze wit doch an dem selben nit vil lit mosse gedenck an dise schand nim in by der rechten hand So bringt dir israhel ein nagel den můstu mit krefften dur hin slahen (V. 3305–3310) Der Verweis auf die Kraft, die Mosse aufwenden soll, um den ersten Nagel durch (dur, V. 3310) den Leib des Salvators zu schlagen, setzt beide Körper in ein unmit-
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telbares Verhältnis zueinander. Die Widerständigkeit des einen menschlichen Körpers wird gegen die des anderen abgewogen. Dabei fällt auf, dass vor allem die Körperlichkeit der Folterer im Fokus steht und nicht der menschliche Körper Christi. Durch den jeweiligen Status als Gefangener einerseits und Folterer andererseits besteht dennoch ein Machtgefüge, in dem die Relationen der Körper zueinander ausgehandelt werden. Dieser Prozess vollzieht sich während der Kreuzigungssequenz in mehreren Schritten, die durch das Auftreten unterschiedlicher Folterer und unterschiedliche Stadien der Kreuzigung gekennzeichnet ist. Israhel bringt kurz darauf Mosse den ersten Nagel und wendet sich an Yesse: iesse du bist ein fuller knecht Setz dich da an den linggen arm streck inn das dir werde warm da mit du mögest daz loch erholen pilatus hat vns daz enpfollen (V. 3320–3324) Hier greifen mehrere Bedeutungsebenen ineinander: Yesse wird aufgefordert, sich dem linken Arm des Salvators zuzuwenden und ihn zu strecken, bis das Loch erreicht wird und er selbst ins Schwitzen kommt. Auch wenn nicht zu vereindeutigen ist, ob sich Yesse an oder auf den Arm des Salvators setzen soll, wird dabei eine Anordnung der beiden Körper zueinander vorgenommen, die das hierarchische Gefälle unterstreicht: Die Gesamtheit des lebendigen Körpers Yesses trifft auf den Arm des liegenden Salvators, also nur einen kleinen Teil dessen Leibes, der weiterhin den Status einer leblosen Materie hat. Mit dem Verweis auf den zu den gebohrten Löchern zu streckenden linken und rechten Arm in den beiden zitierten Textstellen wird zudem die Materialität des Kreuzes als Instrument der Folter erneut mit den materiellen Grenzen des menschlichen Körpers Christi enggeführt. Bereits an dieser Stelle zeigt sich, dass sich der Abbau der menschlichen Körperlichkeit in Korrelation mit dem Aufbau der semiotischen heiligen Körperlichkeit Christi vollzieht, obwohl die für mittelalterliche Passionsspiele typische Betonung der Täterperspektive zentral ist und vergleichsweise wenig über den Körper Christi selbst gesagt wird. Dies zeigt auch die sich unmittelbar anschließende Aufforderung Yesses, man möge ihm eine Zange und ein Seil bringen: […] büt mir bald ein zangen ich mag das loch hie nit erlangen vnd bring ein seil ich muß in strecken damit die hand daz loch müg decken So muß im israhel ein nagel schlahen daz inn das crütz dest bas mag tragen (V. 3325–3330)
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Der linke Arm des Salvators muss, wie zuvor der rechte, gestreckt werden, um das vorgebohrte Loch zu erreichen. Auf diese Weise wird die unveränderbare Materialität des Kreuzes erneut der veränderbaren Materialität des menschlichen Körpers gegenübergestellt. Der hinzugerufene Manasses antwortet Yesse: ich bring dir zang vnd seil ob mir der büt wurd ouch ein teil mag ich niena komen dar zů da mit ich ouch ein zeichen tů mit minem hammer der ist groß ich müsß im dennocht geben ein stoß (V. 3331–3336) Auch an dieser Stelle ist die explizite schaugleiche Betonung der Folterinstrumente auffällig. Manasse gibt Jesus aber einen Stoß. Dies ist in Relation zum Kreuzigungsszenario, das eigentlich im Fokus der Szene ist, eine zusätzliche Misshandlung ohne einen wahrnehmbaren bleibenden Effekt. Dementsprechend wird der Wunsch Manasses, auch ein sichtbares Zeichen auf dem Körper des Salvators zu hinterlassen, nicht erfüllt. Auch wenn sich deshalb die Frage stellt, welche Funktion der Unnötigkeit dieses Stoßes zukommt,13 wird deutlich, dass unterschiedliche Modi der Gewalthandlungen mit Blick auf ihre Wirkung voneinander differenziert werden können. Dem Salvator werden zum einen konkrete Verwundungen zugefügt, die auf die Erzeugung von Zeichen abzielen, wie etwa die Wunden durch die Kreuznägel. Manasses Stoß dagegen läuft ohne bleibende Spuren ins Leere. Der menschliche, aber auch der heilige Körper des Salvators zeigen diesem Anschlag gegenüber eine hohe Widerständigkeit. Das heißt, die Differenz zwischen beiden Modi der Gewalthandlungen ist das Sichtbare und Zeichenhafte. Möglicherweise wird so auch ein Konkurrenzverhältnis zwischen den Folterern angedeutet, das sich letztlich daran ausrichtet, wer von ihnen dem Körper des Salvators die bleibenden Wunden beibringt, die den heiligen Körper konstituieren. Mit dieser Überlegung korrespondiert auch die darauffolgende Aufforderung Mosses, Malchus und Yesse mögen Jesus nach Kräften mit dem Seil ziehen:
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Das Spannungsverhältnis von exzessiver und teils überschüssiger Gewalt und dem erklärten Ziel der Spiele, compassio zu evozieren, hat auch Rainer Warning mehrfach betont, vgl. Rainer Warning, Funktion und Struktur. Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 35), München 1974; ders., Auf der Suche nach dem Körper. Das Imaginäre des geistlichen Spiels, in: Hans-Joachim Ziegeler (Hg.), Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Tübingen 2004, 343–359.
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Bis frisch wir wellen redlich strecken vnd im sin wunden all erwecken wir achtend nit tůt es im we wiltu gern so ziechen wir me ist es gnůg so lasß das blibenn israhel du solt den nagel nit triben (V. 3353–3358) Mit dem Verweis auf bestimmte Wunden des Salvators (sin wunden all, V. 3354) wird auf der Handlungsebene auf einen Wissenshorizont rekurriert, der eigentlich auf der Rezeptionsebene liegt. Die in den Text eingeschriebenen Rezipient*innen, die auch schon zu Beginn des Spiels vom Proclamator und dessen Knechten angesprochen wurden, wissen, um welche Wunden es sich handelt. Diese Stelle ist deshalb als Scharnierstelle zwischen der Folterung des menschlichen und der Hervorbringung des heiligen Körpers aufzufassen. Es wird markiert, dass nun die Kreuzeswunden zugefügt werden und damit auch der Vorgang der Kreuzigung seinem Höhepunkt entgegengeht. Dem gegenüber steht der Hinweis Mosses gegenüber, nicht auf den Schmerz des Salvators zu achten (wir achtend nit tůt es im we, V. 3355), der nicht mehr nur als Aufforderung zur empathielosen Folterung im Sinne einer topischen Täterinszenierung gelesen werden kann. Vielmehr wird der Wechsel von der bloßen Folterhandlung hin zur Erzeugung des heiligen Christuskörpers markiert. Israhel schlägt schließlich den dritten und letzten Nagel in die Füße ein. Er wendet sich dabei zunächst lobend an seine Mitfolterer, die er zugleich auffordert, sich weiter nach Kräften der Leiblichkeit des Salvators entgegenzustellen (ich loben üch ir stoltzen man / hebent vast vnd land nit gan, V. 3360f.). Zudem wird anschließend im Spott Israhels auch die Frage nach der Wahrheit wiederaufgegriffen: die warheit will ich inn leren gigen / ich mein er wird nü schwigen (V. 3362f.). Damit wird ein weiteres erklärtes Ziel der Folter formuliert: den Salvator nicht nur zum Schweigen, sondern zum Verstummen zu bringen, also seiner Selbstäußerungsfähigkeit zu berauben. Es ist zu fragen, welche Bedeutung sich mit dieser Äußerung in unmittelbarer Verknüpfung mit dem Einschlagen des dritten Nagels verbindet. Einerseits kommt die Erzeugung der Kreuzwunden zunächst zum Abschluss. Andererseits wird dabei auch der Vorgang der Folter erneut als Marter perspektiviert.14 Die sich anschließende Erwähnung des stumpfen 14
Die Frage nach der Transformation eines ›profanen‹ in einen heiligen Körper aus einer semiotischen Perspektive wird auch mit Blick auf den Zusammenhang von Strafliturgie und Marter am Beispiel von Märtyrerlegenden diskutiert; vgl. Judith Klinger/Hans-Jürgen Bachorski, Körper-Fraktur und herrliche Marter. Zu mittelalterlichen Märtyrerlegenden, in: Otto Langer/ Klaus Ridder (Hg.), Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur. Kolloquium am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (18.–20. März 1999) (Körper – Zeichen – Kultur 1), Berlin 2002, 301–325.
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Nagels wird wie zuvor zur menschlichen Körperlichkeit Christi ins Verhältnis gesetzt, wenn es heißt: der nagel schlecht im die füß zü rümp / er ist da vornan gross vnd stumpff (V. 3363f.).
2.2 Aufrichtung des Kreuzes und Lanzenstich Das Kreuz wird kurz darauf aufgerichtet und der Salvator der Sonne ausgesetzt: wolher ir liebsten gessellen min griffen dran es muss nü sin er hat die welt nů gnug verraten wir wend in ander sunnen bratten (V. 3373–3376) Mit der Sonne wird eine weitere Zeitdimension in das Martyrium eingezogen, die sich demnach unmittelbar auf den menschlichen Körper auswirken soll. Damit wird die Frage berührt, wie lange ein menschlicher Leib in der Sonne lebendig sein kann, und ein entsprechender Imaginationsspielraum eröffnet. Auch wenn das bratten im Kontext der Täterdarstellung als sprachliche Illustration ihres gewalttätigen Verhaltens zu deuten ist, verbindet sich mit diesem Wort das Erhitzen und damit im weitesten Sinne eine prozesshaft hervorgerufene Änderung eines Zustands von etwas. Stark vereinfacht: Etwas ist gebraten, also nicht mehr fleischlich roh, das heißt nicht mehr lebendig. Mit Blick auf die Figur des Salvators ist diese Stelle insofern interessant, als neben den mittels konkreter Folterwerkzeuge zugefügten Verletzungen eine Form der Versehrung hinzukommt, die einen anderen zeitlichen Rahmen hat und, wie schon zuvor der Stoß Manasses, nicht darauf abzielt, konkrete Wundmale zu erzeugen. Der menschliche Körper soll vielmehr in seiner Verfasstheit destabilisiert werden. Die Sonneneinstrahlung wird, nachdem die Folterer den Salvator ihr aussetzen, zu einem Teil der Täterkonfiguration, ganz ohne dass die Folterer in der Folge weitere aktive Versehrungshandlungen ausführen. Gleichzeitig wird das Bild des unter dem freien Himmel gekreuzigten Jesus aufgerufen. Man könnte noch einen Schritt weitergehen und sagen, dass sich hier die menschliche und die heilige Dimension des Körpers punktuell überlagern, denn der heilige Körper entsteht, während der menschliche weiterhin betont wird. In deutlichem Kontrast zur Stasis, die das Bild des Gekreuzigten prägt, steht die darauffolgende Bühnenanweisung, die das Spielen der Folterer um das Gewand des Salvators zu seinen Füßen beschreibt: nur sitzent sy all vier nider vnder das / crütz und werffent mit würfflen […]. In der Folge entfaltet sich ein dynamisches kommunikatives Gefälle zwischen oben und unten, das heißt zwischen dem am Kreuz unbeweglichen Christus und den spielenden und spottenden Folterern unter dem Kreuz. Nachdem die Folterer das Kleid des Salvators unter sich geteilt haben und der von
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Pilatus herbeigerufene Schreibkundige die Kreuzigung auf einer Tafel bezeugt hat, spricht der Gekreuzigte das sechste der sieben letzten Worte am Kreuz (consummatum est). Insbesondere kurz vor dem Tod verdichtet sich der Wechsel zwischen dem fortwährenden Spott der Folterer und dem Gebet des Salvators. Nachdem Christus spricht: himelscher vater heb vff mich / acht wann alle ding sind nü bracht (V. 3472f.) heißt es in der Bühnenanweisung: Sadoch antwürt dar vff vnder / dem crütz spottlich vnd spricht Er meint er hab es wol geschafft So er vns iemerdar wider clafft ich mein der tüffel red vss im er hat noch gar ein manlich stim (V. 3474–3477) Augenfällig ist in der Rede Sadochs der erneute Bezug zur Selbstäußerungsfähigkeit und zur Stimme des Salvators. Dass der Teufel als mögliche Erklärung aufgerufen wird, steht in deutlichem Kontrast zum Prozess des Sterbens, mit dem sich die vollziehende Transformation eines menschlichen in einen heiligen Körper verbindet. Insbesondere das siebte Kreuzeswort des Salvators verdeutlicht das Spannungsverhältnis, das zwischen den beiden Dimensionen des Körpers besteht: vater es hat nu als ein end / min geist beuilch in dine hend (V. 3478f.). Die Widerständigkeit des menschlichen Körpers gegenüber den Gewaltattacken wird durch ihn selbst per Sprechakt aufgehoben. Indem er seine Seele dem Vater anbefiehlt, erhebt sich der Salvator über die Materialität seines menschlichen Körpers, denn mit diesen Worten stirbt er. Kurz darauf treten die beiden Folterer Sadoch und Barrabas erneut in das Geschehen ein und tun der Bühnenanweisung nach so, als brächen sie den beiden anderen mit Jesus gekreuzigten Schächern Arme und Beine. Barrabas zeigt dann auf den Salvator und fragt Sadoch, ob sie auch ihm die Knochen brechen wollten. Sadoch antwortet: Sönd wir inn noch martern me so tüt es im doch niena we er ist doch tod daz gesich ich wol diese zwen man vergraben sol barrabas das ist min rat Sid es pilatus geheissen hat (V. 3514–3519) Die hier geäußerte Position Sadochs bezieht sich einzig auf den gemarterten menschlichen Körper, an dem nun, da er tot ist und keinerlei Schmerz mehr empfinden kann, weitere Gewalthandlungen wirkungslos würden, weil sie einzig auf
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seine Vernichtung gezielt haben. Es geht Sadoch also nicht darum, Gewalthandlungen auszuführen, die längst über das Maß dessen, was nötig ist, um das Leben des Salvators auszulöschen, hinausgehen. Damit verbindet sich auch die Annahme von einer körperlichen Materie, in die, weil sie ohne Leben ist, durch Gewalthandlungen keine Wahrheit mehr eingeschrieben werden kann. Eine andere Perspektive nimmt dagegen Longinus ein, der sich auf die zuvor geschilderten Wundertaten des Salvators bezieht und nun, da ihm selbst das Sehvermögen nicht wiedergegeben wurde, auf Rache sinnt: ich wil mich rächen ouch an dir du woltest vff erd nie helffen mir vnd hest mich laussen bind beliben min sper müß dir din lib vffschniden vnd dir din sitten noch vff tün wärist noch einist gottes sün Sadoch setz mir min lantzen an da mit ich treff den falschen man (V. 3520–3527) Daraufhin reicht Longinus Sadoch die Lanze, die dieser dem Salvator in die Seite sticht. Anders als in der Rede Sadochs spielt es an dieser Stelle eine untergeordnete Rolle, dass der Salvator bereits tot ist. Das Blut soll, so steht es in der Bühnenanweisung, herausspritzen und über die Lanze auf Longinus’ Hände tropfen. Ein hinzukommender römischer Offizier nimmt eine Mittlerposition ein, wenn er Longinus zuruft, er solle sich mit seinen blutnassen Händen die Augen reiben: Strich das hie an dine ougen gelt du werdest gesehen vnd glouben das diser mensch gewaren crist vnd vmb vnschuld gestorben ist (V. 3530–3533) Longinus folgt dem Rat und kann infolgedessen wieder sehen. Hier verschränken sich die Bedeutungsdimensionen von menschlichem und heiligem Körper erneut. Das Blut als Fluidum hat eine vermittelnde Funktion, ist es doch einerseits Ausdruck der menschlichen Natur und Leiblichkeit Christi. Andererseits verweist die Heilkraft auf die transzendente Wirkmacht, die sich mit dem Körper Christi und dessen Heiligkeit verbindet.15 Der heilige Körper tut im wahrsten Sinne ein Zeichen 15
Zum Bedeutungsspektrum von Blut im Rahmen der spätmittelalterlichen Passionsfrömmigkeit vgl. Bettina Bildhauer, Blood, bodies, Bynum, in: Catrien G. Santing/Jetze J. Touber (Hg.), Blood – Symbol – Liquid, Leuven 2012, 17–36; zur Evozierung von compassio durch Blut: Ursula
Marie-Luise Musiol: Menschlicher Körper, heiliger Körper
und gibt auf diese Weise Auskunft über seine Wundertätigkeit. Darüber hinaus ist ein Zeuge anwesend, der das Blindenwunder bestätigen kann, und so ist damit unmittelbar die Bekehrung aller Anwesenden verbunden, angeführt von Longinus, der klagt: O we was han ich armer getan / an Ihesum disem heiligen man (V. 3534f.).
3. Schluss Das Verhältnis von menschlichem und heiligem Körper in diesem Spiel ist von einem Spannungsverhältnis geprägt, das nicht leicht zu erklären ist. Die Kreuzigungssequenz ist jedoch, wie die Analyse gezeigt hat, trotz ihrer relativen Kürze mit Blick auf die Frage nach Körperkonstruktionen aufschlussreich. Obwohl in dieser Textsequenz vor allem Gewalt- und Versehrungshandlungen fokussiert werden, wird die angesprochene Gleichzeitigkeit von menschlichem und heiligem Körper explizit. Der heilige Körper wird prozesshaft über die Aufbringung der Wundmale hervorgebracht, die Grenzen des menschlichen Körpers werden durch eben diese Handlungen zugleich vermessen und ausgelotet. Er wird durch seine Vernichtung ex negativo hervorgebracht und mittelbar verfügbar gemacht. Man könnte in diesem Zusammenhang auch von einer Konkurrenz zweier verschiedener Formen der Einschreibung sprechen. Einerseits suchen sich die Folterer immerfort dem menschlichen Körper Christi entgegenzusetzen, ihn zu schänden, zu entstellen, zu fragmentieren, um so Spuren auf ihm zu hinterlassen. Diese sollen die juristische Ahndung einer Verfehlung dokumentieren und so der Machtdemonstration dienen. Andererseits bleiben die Anstrengungen, die zur Vernichtung unternommen werden, in Bezug auf den heiligen Körper erfolglos, bringen sie diesen doch so erst hervor. Das heißt, die Einschreibung der Marterzeichen, die die Macht der Folterer spiegeln sollen, gelingt zwar, jedoch wird in der systematischen Vernichtung des Leibes ein memoriales Bild hervorgebracht. Inwieweit sich diese Gleichzeitigkeit zu einem späteren Zeitpunkt des Spiels aufhebt oder in einen anderen Darstellungsmodus verschiebt, wäre mit Blick auf die Szene der Pietà und ganz besonders für die Auferstehung interessant zu untersuchen. So stellt sich die Frage, inwieweit menschlicher und heiliger Körper im Auferstehungsleib kulminieren. In der Auferstehung wird der destruierte menschliche Körper zwar überwunden, jedoch bleiben die Spuren des Martyriums bestehen. Damit rückt auch der Aspekt der Medialisierung als Einschreibungs- und Zuschrei-
Schulze, Schmerz und Heiligkeit. Zur Performanz von Passio und Compassio in ausgewählten Passionsspieltexten (Mittelrheinisches, Frankfurter, Donaueschinger Spiel), in: Horst Brunner/Werner Williams-Krapp (Hg.), Forschungen zur deutschen Literatur des Spätmittelalters. Festschrift für Johannes Janota, Tübingen 2003, 211–232.
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bungsprozess in den Blick,16 der für eine weitere Differenzierung einer möglicherweise gattungsspezifischen Logik von Körperkonstruktionen in spätmittelalterlichen Passionsspielen weiterführend sein könnte.
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Zu Fragen der Medialität im Kontext Geistlicher Spiele vgl. Cornelia Herberichs, Lektüren des Performativen. Zur Medialität geistlicher Spiele des Mittelalters, in: Ingrid Kasten/Erika Fischer-Lichte (Hg.), Transformationen des Religiösen. Performativität und Textualität im geistlichen Spiel (TMP 11), Berlin/New York 2007, 169–185; Christian Kiening, Präsenz – Memoria – Performativität. Überlegungen im Blick auf das Innsbrucker Fronleichnamsspiel, in: Kasten/Fischer-Lichte (Hg.) (Anm.16), 139–168.
Selbstwerdung des Gottes-Lamms Ästhetische Aneignung von Unverfügbarkeit in Friedrich Spees Trvtz-Nachtigal Lothar van Laak
Selbstkonzepte, insbesondere ihre Verbindlichkeit und ihr kulturelles und soziales Interaktionspotenzial, haben in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung der letzten Jahre eine wichtige Rolle gespielt. Mit Charles Taylors wegweisenden Arbeiten zur Entstehung der neuzeitlichen Subjektvorstellungen,1 der differenzierten Darstellung der Hybridität (post)moderner Subjektivität durch Andreas Reckwitz2 und der anerkennungstheoretischen Forschung3 haben dabei die Fragen der Praktiken der Selbstkonstitution wieder an Bedeutung gewonnen, auch im Hinblick auf die von der Gendertheorie beförderte Einsicht in die besondere Dynamik und die Performativität von Identitätsbildungsprozessen.4 Dieser Dynamik als einer Dynamik der Selbstwerdung kann man mit dem Blick auf das Wechselverhältnis 1 2 3 4
Vgl. Charles Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a.M. 1994. Vgl. Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006. Vgl. Martin Hartmann, Die Praxis des Vertrauens, Berlin 2011. Vgl. Judith Butler, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt a.M. 1997; Julia Kristeva, Etrangers à nous-mêmes, Paris 2001. Weitere systematische Grundlagen für die Debatte haben philosophische (vgl. Peter Frederick Strawson, Einzelding und logisches Subjekt (Individuals). Ein Beitrag einer deskriptiven Metaphysik. Aus dem Engl. übers. von Freimut Scholz, Stuttgart 1972; Manfred Frank, Die Unhintergehbarkeit von Individualität. Reflexionen über Subjekt, Person und Individuum aus Anlaß ihrer ›postmodernen‹ Toterklärung, Frankfurt a.M. 1986; ders., Selbstgefühl. Eine historisch-systematische Erkundung, Frankfurt a.M. 2002; Sydney Shoemaker/Richard Swinburne, Personal Identity, Oxford 1984) und ethische Untersuchungen (vgl. Zygmunt Bauman, Mortality, Immortality, and Other Life Strategies, Cambridge 1992; Stephanie Waldow, Schreiben als Begegnung mit dem Anderen. Zum Verhältnis von Ethik und Narration in philosophischen und literarischen Texten der Gegenwart, München 2013) und nicht zuletzt die neuere Religionssoziologie (vgl. Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Frankfurt a.M. 2011; ders., Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte der Entzauberung, Berlin 2017) geboten.
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von Selbstkonzepten und den Semantiken des Heiligen in besonderer Weise gerecht werden, wobei sich die Transformationsdynamik dieser Zusammenhänge gerade in ästhetischer Hinsicht als wirksam erweist. Dies will ich im Folgenden an einem Beispiel aus Friedrich Spees Trvtz-Nachtigal näher erläutern und in seinen Konsequenzen an einem weiteren von Spees Liedern verdeutlichen.
1. Friedrich Spees Trvtz-Nachtigal Friedrich Spee, geboren 1591 in Kaiserswerth, heute Düsseldorf, gestorben 1635 in Trier, war in den 1620er Jahren Professor an der Paderborner Jesuitenuniversität, und dabei kein Glaubensbruder ohne Ecken und Kanten. Seine 1631 in der Cautio Criminalis formulierte kritische juristische Befragung der Inquisitionspraxis in den damaligen Hexenverfahren führte zu Friktionen mit seinen Ordensoberen. Nicht minder berühmt als dieses Wirken sind seine geistlichen Lieder und seine Lyrik. Obwohl Spee an mehreren seiner Lebensstationen entschieden gegenreformatorisch wirkte, finden sich noch heute sechs seiner Kirchenlieder im Evangelischen Gesangbuch, z.B. das Adventslied ›O Heiland reiß die Himmel auf‹ oder vier Strophen des Weihnachtsliedes ›Zu Betlehem geboren‹. In der Literaturgeschichte des 17. Jahrhunderts ist Spees Gedichtsammlung der Trvtz-Nachtigal ein Meilenstein. Die Sammlung von 51 bzw. 52 Liedern ist erst posthum erschienen, 1649 in Köln. Der eigentümliche Titel Trvtz-Nachtigal wird durch den vollständigen Titel etwas verständlicher: Trvtz-Nachtigal. Oder GeistlichsPoetisch Lvst-VValdlein, Desgleichen noch nie zuvor in Teutscher Sprach gesehen.5 ›Wälder‹ oder ›Wäldlein‹, Silvae, sind eine beliebte Gattung des 17. Jahrhunderts.6 Spee tritt in diesen barocken Dichterwettstreit also zum einen mit dem Anspruch, auch ein Geistliches Wäldlein könne gefallen; und zum anderen damit, dass dies auch in deutscher Sprache sehr wohl möglich ist, ähnlich wie es Opitz in seinem Buch von der teutschen Poeterey 1624 gefordert hat.7 Die Trutz- oder Gegen-Nachtigall ist also eine geistliche Kontrafaktur auf eine weltliche Gattung, die trotz oder gerade wegen ihrer geistlichen Qualität sowohl als prinzipiell poesiefähig gelten soll als auch statt in der lateinischen in der deutschen Sprache diese Leistung vollbringen kann.
5 6 7
Friedrich Spee, Trvtz-Nachtigal. Kritische Ausgabe nach der Trierer Handschrift (RUB 2596), hg. von Theo G.M. van Oorschot, Stuttgart 1985, Titelblatt. Vgl. zur Gattung: Wolfgang Adam, Poetische und kritische Wälder. Untersuchungen zu Geschichte und Formen des Schreibens »bei Gelegenheit«, Heidelberg 1988. Vgl. Martin Opitz, Buch von der deutschen Poeterey. Studienausgabe, hg. von Herbert Jaumann, Stuttgart 2006.
Lothar van Laak: Selbstwerdung des Gottes-Lamms
Die Gedichte in der Trvtz-Nachtigal sind in Gruppen arrangiert.8 Nach dem Eingangslied (1.) folgen zehn Sponsa-Lieder (2.–11.), in denen die Braut Jesus als ihren Geliebten anruft. Es folgen sieben Lieder, die sich des Themas Reue und Buße annehmen (12.–18.). Einzeln steht das Xaveriuslied (19.), das sich mit Franz Xaver einem bedeutenden jesuitischen Heiligen widmet. Die nächste größere Gruppe (20.–32.) sind Loblieder auf die Schöpfung. Es folgt die größte Gruppe, die sich dem Leben Jesu widmet (33.–50.). Abgeschlossen wird die Anthologie durch das in konfessionell programmatischer Weise katholische Lied auf das Fronleichnamsfest (51.). Das letzte, 52. Gedicht, das sich in der Druckfassung findet, stammt wohl nicht von Spee selbst.
2. Friedrich Spees Perikopen-Dichtung auf das lukanische Gleichnis vom guten Hirten ›Der euangelisch Guter Hirt sucht das Verlohren Schäfflein.‹ (TN 37) Herausgreifen möchte ich das Gedicht 37 der Trvtz-Nachtigal. Es ist im Gesamtarrangement in die Lieder über das Leben Jesu, das von Weihnachten bis zur Auferstehung reicht, eingeordnet, auch wenn es nicht eine konkrete Station aus dem Leben Jesu thematisiert, sondern eines seiner Gleichnisse, als dem Kern seiner überlieferten Lehre. Das Gedicht trägt den Titel ›Der euangelisch Guter Hirt sucht das Verlohren Schäfflein.‹ Damit signalisiert es den Bezug auf das Bibelgleichnis vom verlorenen Schaf, das Lukas erzählt und das vor den Gleichnissen zur verlorenen Drachme und vom verlorenen Sohn steht. Ich will das Gleichnis ganz zitieren, weil Spees Gedicht den Bezug auf die Perikope im Titel so deutlich setzt und damit der Bibel-Text als Resonanzraum für das Gedicht aus der Trvtz-Nachtigal gesehen werden soll: Das Gleichnis vom verlorenen Schaf (Lk 15,1-7): 15,1 Alle Zöllner und Sünder kamen zu ihm, um ihn zu hören. 2 Die Pharisäer und die Schriftgelehrten empörten sich darüber und sagten: Dieser nimmt Sünder auf und isst mit ihnen. 3 Da erzählte er ihnen das Gleichnis und sagte: 4 Wenn einer von euch hundert Schafe hat und eins davon verliert, lässt er dann nicht die neunundneunzig in der Wüste zurück und geht dem verlorenen nach, bis er es findet? 5 Und wenn er es gefunden hat, nimmt er es voll Freude auf die Schultern, 6 und wenn er nach Hause kommt, ruft er die Freunde und Nachbarn zusammen und sagt zu ihnen: Freut euch mit mir, denn ich habe mein Schaf wiedergefunden, das verloren war! 7 Ich sage euch: Ebenso wird im Himmel mehr Freude herrschen
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Hierzu vgl. auch Cornelia Rémi, Philomela mediatrix. Friedrich Spees Trutznachtigall zwischen poetischer Theologie und geistlicher Poetik, Frankfurt a.M. u.a. 2006.
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über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die keine Umkehr nötig haben.9 Eine theologische Deutung des Gleichnisses kann und will ich hier nicht formulieren. Der in der Deutungsgeschichte hochgradig ikonisierte ›Gute Hirte‹ Jesus Christus sucht und rettet sein verlorenes Schaf, und zwar eben deshalb, weil es verloren und weil es erlösungsbedürftig ist. »Ich sage euch: Ebenso wird im Himmel mehr Freude herrschen über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die keine Umkehr nötig haben.« So aber gestaltet dieses Modell von Rettung und Erlösung Spees Perikopen-Dichtung aus: Der Euangelisch Guter Hirt sucht das Verlohren Schäfflein. 1. O Schäfflein vnbeschoren, Du zartes wüllen Kind: Ach wo dan gehst verlohren, Daß Dich so gar nitt find? In holen Wäld vnd Klufften Feld, Wisen, Berg, vnd Thal, Auff müden Bein, vnd Hufften Dich such ich vberall. 2. Mit seufftzen vngezehlet Jch Lufft, vnd Wolcken spalt, Daß Leyd, mitt Leyd vermählet Sich mehret hundertfalt: Die zähr mir han zerschlissen Wol halbe wangen beyd, Weil nie von dir mag wissen; Wer Jrrweg dich verleyt. 3. Vnd ach, was auch muß dencken Der fromme Vatter mein, Sich weil so späth last fencken Das wüllen Wiltpret sein? Das Thierlein er, das Eintzig Kurtzumb wil wider han,
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Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Gesamtausgabe, vollst. durchges. und überarb. Aufl. Stuttgart 2016.
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Ob wol noch NeünvndNeintzig Auff grünem Wasen gan. 4. Wolan, wolan, dort eben Jn ienem BirckenWald, Mich dunckt sichs thut erheben, Ey da, da lieber, halt. Halt, halt, ichs muß ertappen, Wil sehn mirs nitt entspring: Nun soll mirs nicht entschappen, Wil wetten mirs geling. 5. O wee doch meiner lenden! O wee, werd schwach, vnd kranck! Mich streiffen aller enden Die Birckengerten schwanck: Vnd ach der pein, vnd quaalen! Das Thierlein ist entwischt; Mir bleiben allemahlen, Das gluck, vnd spiel vermischt. 6. Doch dort in iener Hecken, Da dennoch duncket mich, Da bleibets gar bestecken; Dort hör ichs regen sich. Ja weger da, da drinnen Da mögts in warheit sein: Wils greiffen da mitt Sinnen, Wil schleichen sanfft hinein 7. Ach aber, ach mitt nichten, Ach aber nein, ach nein, Als vil ichs kan entrichten, Jst nitt nochs Thierlein mein: Vergebens nur verletzet Mich hab in Dörnen spitz, Das Haupt mir gar zerfetzet Jst voller fewr, vnd hitz.
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8. Ey dorten doch, dort oben Auff jener Schedelstatt, Ein Creutzbaum frisch erhoben Die Näst erstrecket hat. Da duncket mich gar eben Dörffts haben seinen gang, Jhm da denck nach zu streben, Hoff dort ichs endlich fang. 9. Doch müd mich auff den beinen Jch mehr mag halten kaum: An Dich dan muß ich leinen, O starcker Eichenbaum. Ach Schäfflein außerkohren, Ach kämest, kämest doch! Mit mir dochs ist verlohren, Muß Jch wol sterben doch. 10. Mitt Armen außgestrecket, Wil deiner warten hie; Mirs leben mehr nitt schmecket, Alweil noch säumest ie. O Vatter, dir zun henden Mein Seel von hinnen reyst; Zu dir wol muß ich senden, Schaw da dan, meinen Geist.10 Die zehn gleichmäßig gebauten Strophen von Spees Gedicht bestehen aus je acht Versen mit Kreuzreim, wechselnder Kadenz und dreihebigem jambischem Metrum. Dies führt zu einer großen formalen Eingängigkeit – »Süßigkeit« ist eine der ästhetischen Qualitäten, die Spee in seiner Vorrede zur Trvtz-Nachtigal besonders herausstellt. Inhaltlich jedoch verblüfft, wie sehr die Perikope in den zehn Strophen mehr und mehr aus dem Blick gerät. Bei Spee wird kein Schaf von seinem guten Hirten gerettet, so sehr dieser sich bei der Suche auch abmüht. Ja, die Dynamik des Evangeliums wird regelrecht umgekehrt: Der suchende Hirt wird so müde, dass er sich am Eichenbaum anbinden, »anleinen«, muss, die Suche einstellt und seine Hände in Gottes Geist befiehlt. Damit endet das Gedicht nicht mit dem Wiederfinden des 10
Spee, Trvtz-Nachtigal (Anm. 5), 197–199.
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Schafs. Es scheint, als ob es der Gute Hirte mit seiner und in seiner Güte gut sein ließe und verlorenes Schaf und Guter Hirte sich auf immer verloren hätten. Doch das ist zu differenzieren. Denn der Text bildet nicht einfach eine theologische dogmatische Wahrheit nur ab. Er erzeugt vielmehr einen dynamisch angelegten, offenen Resonanzraum, der das Heilige selbst generieren soll. Der Text bildet dazu zwei Pole aus, zwischen denen sich die lesende Aneignung des Textes bewegt. In ihr wird das Heilige mit hervorgebracht und in diesem Prozess seiner Hervorbringung zugleich auch schon transformiert. Der eine Pol wird vom Bild der Perikope gebildet, durch das Gleichnis vom Guten Hirten, das mit dem Titel des Liedes aufgerufen wird. Hiermit setzt der Text ein: Der Gute Hirte macht sich auf die Suche nach seinem verlorenen, sündigen Geschöpf. Was Christus tut, ist ihm als Wunsch Gottvaters aufgegeben, wie die dritte Strophe noch einmal besonders hervorhebt. Und Christus sucht, mit Blicken (Strophe 4) und mit Hinhören (Strophe 6), mit allen Sinnen. Doch das Schaf lässt sich weder blicken noch lässt es sich durch Blöken vernehmen. Hier in diese Situation des absolut verlorenen Schafs schiebt sich ein zweiter Pol. Das Bild vom verlorenen Schaf wird neu ausgerichtet hin auf das Lamm, das Gott-Sohn in seinem Erlösungsopfer zeigt. Das vom Erlöser nach Gottvaters Willen zu suchende verlorene Schaf wird im Blick des Textes zum Lamm Gottes, das sich für die Menschen hingegeben hat und am Ende des Gedichts, nachdem es die Marterungen der Geißelung durch die Birkenruten, durch die Dornenkrone und das Kreuz auf sich genommen hat, sich in Gottes Geist empfiehlt: »Um die neunte Stunde schrie Jesus mit lauter Stimme: Eli, Eli, lema sabachtani?, das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«11 Das Gedicht vollzieht eine Verschiebung vom ersten zum zweiten Pol, in der Gottes Suche nach seinem Schaf sich in das Sehen des Kreuzes und in die Selbstwerdung zum Lamm Gottes verwandelt. Der sein Schaf suchende Gott wird sosehr Mensch, dass sich der Blick vom menschlichen, sündigen Schaf zum erlösenden Lamm Gottes wendet. Der sündige Mensch verwandelt sich in ein heiliges Opferlamm, ja in das Opferlamm, in Gott. Das Gedicht spielt diese Verwandlung durch, nach der Lesende12 in der religiösen Imagination selbst zum 11 12
Einheitsübersetzung (Anm. 9), Mt 27,46. Diese imaginative Selbstermächtigung betrifft mögliche Leser*innen gleichermaßen, wie auch Spees Güldenes Tugent-Buch nahelegt (vgl. Friedrich Spee, Güldenes Tugent-Buch. Das ist, Werck und Vbung der dreyen Göttlichen Tugenden. Glaubens, Hoffnung, vnd Liebe. Allen Gottliebenden Seelen sonderlich Geistlichen Persohnen mit mercklichem nutz zugebrauchen, Köln 1656). Über das geistliche Amt der Priesterschaft und der Verortung im geistlichen Elite-Diskurs wird die weibliche Leserschaft gleichwohl zum Teil ausgeschlossen. Ein aufschlussreiches historisches Gegenbeispiel stellen Dichtung und Erbauungsliteratur Catharina Regina von Greiffenbergs dar. Um Spees Auffassung präziser zu erfassen, die die JesusGefolgschaft primär (aber nicht ganz ausschließlich!) männlich konnotiert, wird im Folgenden in diesem Zusammenhang in der Regel vom Leser bzw. Lesenden gesprochen.
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Heiligen, zum Erlöser werden, das sündige Schaf im literarisch gestalteten religiösen Resonanzraum selbst zum Lamm Gottes.
3. Transformationsdynamiken des Heiligen Ist hier ›nur‹ eine religiöse Praxis der Selbstfindung am Werk oder eine Form der Selbstwerdung, die als Selbstermächtigung gar ein häretisches, blasphemisches Potenzial vermuten lässt, nach dem die Sünder sich plötzlich gar selbst erlösen könnten? Offensichtlich eröffnet die ästhetische Gestaltung des Heiligen in Spees Gedicht genau diese Spannung. Ich will dafür, wie diese Spannung austariert werden kann, zwei Deutungen vorschlagen: Nach der ersten, die man die theologisch angemessene nennen könnte, verschiebt sich mit der Verwandlung der Bilder auch die Argumentationsrichtung des Gedichts, von der Wiedergabe des Gleichnisses hin zu seiner Deutung und Applikation. Danach muss das Gleichnis gar nicht zu Ende erzählt werden, im Sinne einer Vervollständigung der histoire. Stattdessen begibt sich das Gedicht auf die Ebene des discours, auf dem nur noch verhandelt wird und verhandelt werden muss, wie die Erlösten zu agieren haben. Und wenn das Schaf gefunden und in die Herde zurückgeführt worden ist, kann es den Kreuzestod Jesu schauen und das Glaubensgeschehen nachvollziehen. Dann ist das verlorene Schaf kein Schaf mehr, erst recht kein verlorenes, sondern es ist in die Heilsgewissheit eingelassen und sogar mit Gott eins geworden. Das vom Du gesuchte Schaf wird zum Ich eines Lamms. Diese theologisch angemessen bleibende Deutung blendet aber aus, dass die Spannung zwischen den beiden Polen vielleicht nicht ohne Bruch wahrzunehmen ist. Ebenso wenig findet die Verzweiflung des suchenden und des sterbenden Gottes eine Sicherheit im Gedicht. Vielmehr schließt dieses ja mit dem Todesmoment, zu dem nur das dem Gedicht externe, perikopische, theologisch geisthafte Wissen hinzutreten muss, dass mit Jesu Tod die Geschichte nicht zu Ende ist. Auf der Textebene des Gedichts wird dieser Wissensstand selbst aber nicht erreicht, es bleibt auf der Ebene des vor seiner Kreuzigung stehenden Menschen-Sohns. Insofern endet das Gedicht mit der Verlassenheit Gottes, aus der eine prinzipielle Gott-Verlassenheit des Schafs folgen würde, wenn es nicht doch noch seine Erlösung fände. Genau das ist in diesem Moment des Gedichts und der gesamten Sammlung der Trvtz-Nachtigal offen. Das Gedicht eröffnet damit eine Karfreitagssituation für das Ich, das in dieser existenziellen Offenheit noch nichts von seiner Erlösung weiß, eine Karfreitagssituation in einer Radikalität, wie sie Jesus als Mensch selbst erfahren musste. Eine zweite Deutung, die man als allegorisch-ästhetische verstehen kann, lässt sich wie folgt formulieren: Beide Pole, Guter Hirt und unerlöstes Schaf, bilden einen Bildzusammenhang, d.h. die Bilder von Schaf und Lamm werden vom Gedicht ineinander geblendet und sie werden so eins, idealiter: ineinander integriert. Mit
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dem Ineinanderblenden beider Bildpole wird in dieser Konzeption die Gottes-Verlassenheit aufgehoben. Dem Karfreitag würde ein Erlösungsgeschehen antworten. Dieses wäre in dem gemeinsamen Bildzusammenhang allegorisch schon immer mit implementiert. Beide Deutungsbewegungen würden sich dann damit schließlich auch überkreuzen, die Bewegung der theologisch erkannten radikalen Erlösungsbedürftigkeit würde durch die imaginativ sich realisierende, bildlich darstellende Erlösungsmöglichkeit beantwortet. Erlösung würde sich zudem vor allem ihrer ästhetischen Ins-Werk-Setzung, ihrer ästhetischen Performanz bzw. Darstellungsleistung verdanken. Wie ist die Dynamik der Verschiebung von Bildpol zu Bildpol bzw. dieses Ineinanderblenden beider Pole genauer zu bestimmen? Wie sind sie zu bewerten? Die Bewegungsdynamik lässt sich zum einen beschreiben als hermeneutische Verschiebung von der Wiedergabe zur Applikation. Die Geschichte vom verlorenen Schaf wird immer weniger erzählerisch wiedergebend vergegenwärtigt, sondern die Applikation, als Anwendung dessen, was die Geschichte für Christen bedeutet, schiebt sich mehr und mehr in den Vordergrund der Darstellung. Diese Form der Dynamik resultiert aus Wissensoperationen, die die Applikation aus der Wiedergabe entfalten. Sie ist mit der theologischen Deutung gut zu verbinden. Die zweite Form der Bewegungsdynamik ist stärker von den sinnlichen Qualitäten geprägt. Auf sie setzt Spee besonders. Es lohnt sich, sich ihr noch etwas ausführlicher zu widmen, weil neben der theologisch deutenden Perspektive und Dynamik mit ihr eine im engeren Sinn ästhetische Dynamik organisiert wird. Strophe 4 thematisiert das Sehen, Strophe 6 das Hören, wie schon erwähnt. Aber die Bewegung reicht noch weiter und über die Hoffnung, das Schaf zu ergreifen (Strophe 8), wird in der Schlussstrophe Gott »zun henden […] von hinnen« gerissen. Dieses existenzielle Er-Greifen führt zum Schluss zur Anschauung: »Schaw da dan, meinen Geist.« Neben der kognitiv orientierten, hermeneutisch auslegenden, theologisch kommensurablen Deutungsdynamik kommt damit eine radikale, ästhetische Vergegenwärtigungsdynamik hinzu. Sie ist es letztlich, die das Gedicht trägt, stärker, weil sinnlich ansprechender, als die nur theologisch argumentativ entwickelten Momente, die nur den Verstand adressieren bzw. die Wissensbestände aktivieren. Beides – theologisch-hermeneutische Erkenntnis- und sinnliche Vergegenwärtigungsdynamik – beansprucht das Gedicht genau auszutarieren. Genau in der Mitte des Gedichts, am Ende der 5. Strophe heißt es in einer etwas eigentümlichen Wendung: »Mir bleiben allemahlen, / Das gluck, vnd spiel vermischt.« Dies kann so verstanden werden, dass dem Jäger des verlorenen Schafs der Fang respektive Fund des Schafs glücken und sich das Erlösungsgeschehen damit realisieren kann; dass aber in diese Möglichkeit »spiel vermischt« ist und damit eine Leistung der Kunst in ihrer Weltlichkeit und mit ihrer Sinnlichkeit von Bedeutung ist, über deren Weltlichkeit Erlösung auch verlorengehen kann.
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Die ästhetische Leistung wird aber trotz dieser möglichen Gefahr durchaus optimistisch eingeschätzt, sie ist es letztlich, die zur Anschauung des Geistes führt. In dieser vollendet sich auch das trinitarische Geschehen, in dem der Sohn den Willen des Vaters erfüllt, das Schaf zu suchen, und dann bei der Suche des Schafs nicht nur in seinen Tod geht, sondern durch diesen letztlich auch den Geist Gottes zur Anschauung in die Welt bringt. Die sinnliche Seite ist also für Spees Darstellung dem theologischen Gehalt mindestens ebenbürtig. Dieses Modell der mystischen Vergegenwärtigungsdynamik hat Ignatius von Loyola in seinen Geistlichen Übungen geprägt. Der Jesuit Spee bewegt sich in diesem Rahmen, und er tut das überaus virtuos. So soll der Leser, der sich auf das Gedicht einlässt, einen Einstellungswechsel erfahren, wenn er den beiden Bewegungsdynamiken des Textes nachgeht. Zuerst blickt er mit dem Gottessohn auf den Menschen. Dann versetzt er sich in die Position des Gottessohns, von dessen Leiden am Ende des Gedichts die Anschauung des Geistes anhebt. Durch das Sich-Hinein-Versetzen in Jesus Christus blickt der Leser anders auf sich als Mensch. Er sieht sich nicht mehr als erlösungsbedürftiges Schaf, in einer Außenperspektive, die in der Gleichnisrede theologisch objektiviert wird; sondern er fühlt sich aufgehoben in der Position des Lamms Gottes. Er fühlt sich, in einer Innenperspektive, mit Gott eins. Aus der theologischen Unterrichtung wird imitatio Christi, die zur Einswerdung mit Christus wird und damit über eine bloße Imitation hinausgeht. Die Leseanweisung am Ende ist schließlich die der Anschauung des Geistes. Damit werden die beiden Bewegungsdynamiken und der Einstellungswechsel synthetisiert. Sub specie Spiritus Sancti lässt das Gedicht des Geistes ansichtig werden.
4. Fazit: Selbstwerdung als Selbstheiligung Aus dieser Transformationsdynamik des Gedichts lassen sich zwei Konsequenzen ziehen. Das Gedicht trägt zu einer Erweiterung der Haltung seines Lesers bei. Er wird eins mit dem Geist im Akt seiner Anschauung. Der Leser ändert aber nicht nur seine Haltung. Er erweitert auch seinen Horizont. Und er erfährt und sieht sich selbst anders. Er bekommt ein neues, erweitertes, angereichertes Konzept seiner selbst. Dieses veränderte Selbstkonzept ist das Ergebnis einer im religiösen Resonanzraum des Heiligen ästhetisch realisierten Selbstwerdung. Sie führt über die Selbst-Betrachtung zur Selbst-Reflexion und kann zu einer Selbst-Veränderung beitragen. Von ganz grundlegender und bisher unterschätzter Bedeutung scheint mir dieses Potenzial zu sein, das in dieser Einübung in veränderte Haltungen des Selbst liegt. Dies bringt in ganz verschiedenen Spielarten neue Varianten von Selbstkonzepten hervor, bei denen das religiöse Sich-Einlassen das Konzept des Selbst bereichert und erweitert, bei dem aber eben auch Spiel und Glück vermischt sein können.
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Die Rede vom Ich in diesem Lied Spees ist hierfür aufschlussreich. Es ist ein Ich-sagen-Können, das zum Einklang mit dem Heiligen Geist führt. Damit zeigt sich eine zweite Konsequenz. Die Erweiterung des Selbst durch das Gedicht und vor allem durch dessen erbauliche Lektürepraxis, die sich bis zum Ende hin steigert, realisiert eine Transformation des Heiligen. Dessen Unverfügbarkeit wird bearbeitet, indem die Lektürepraxis die Differenz zwischen Verfügbarkeit/ Unverfügbarkeit permutiert. So wird ja das Schaf am Anfang des Gedichts vom Göttlichen als nicht verfügbar, als verloren beschrieben. Verfügbar gemacht wird dann aber das Göttliche als Lamm Gottes bzw. dieses macht sich dem Menschen verfügbar, als Heiliger Geist. Dem Menschen macht es sich in dieser mehrfachen Transformationsdialektik damit abschließend insoweit aber auch wieder unverfügbar, weil es den Geist in dessen Anschauung verschiebt und er damit auch wieder nur eine mediale Repräsentation ist, um deren reale Verfügbarkeit man sich dann wieder zu sorgen hat. So stehen die beiden Konsequenzen auch in einem eigentümlichen Wechselverhältnis. Dieses lässt sich zugespitzt so formulieren: Das Ich, das Selbstkonzept, das das Gedicht aufbaut, entspringt aus dem Heiligen, indem es seine eigene Unverfügbarkeit präsupponiert und sich das Heilige dadurch verfügbar macht. Im Akt des Vollzugs der Verfügbarkeit des Heiligen transformiert sich dieses zum Geist, der der Verfügbarkeit des Heiligen dann Unverfügbarkeit neu einschreibt. Diese Spannung bzw. Ambivalenz macht die Leistung und Qualität der Dichtung Spees aus. Nichts Göttliches ist ihm fremd, aber wo es ihm verfügbar scheint, trägt sich ihm Unverfügbarkeit wieder mit ein, ohne aber die Verfügbarkeit des so transformierten Heiligen wirklich einzubüßen oder die besondere – und vor allem ästhetisch gewonnene – Wertigkeit des glaubenden Subjekts preiszugeben. Mit dieser pointierten Deutung von Spees Dichtung vor Augen lassen sich auch Spees Weihnachtslieder anders, weniger harmlos, lesen, wenn es z.B. in ›Zu Betlehem geboren‹ in den Strophen 3 bis 6 heißt: 3. O Kindelein von Hertzen Dich will ich lieben sehr: Jn frewden vnd in schmertzen Je länger mehr vnd mehr Eya / Eya je länger mehr vnd mehr. 4. Darzu dein Gnad mir gebe Bitt ich auß Hertzen grund / Daß ich allein dir lebe Jetzt vnd zu aller stund Eya / Eya jetzt vnd zu aller stund.
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5. Dich wahren Gott ich finde Jn meinem Fleisch vnd Blut / Darumb ich dann mich binde An dich mein höchstes Gut Eya / Eya an dich mein höchstes Gut. 6. Laß mich von dir nicht scheiden / Knüpff zu / knüpff [zu] das band: Die Liebe zwischen beyden Nimbt hin mein Hertz zu pfand Eya / Eya nimbt hin mein Hertz zu pfand.13 Die Strophen 3 und 4 finden sich auch noch im Evangelischen Gesangbuch. Der Appell an die göttliche Gnade ist eine Schlussformel, die jedes lutheranische Herz aufgehen lässt – sola gratia. Strophen 5 und 6 hingegen fehlen dort. Aber auch das katholische Gotteslob verzichtet auf die Strophe 6 und stellt Strophe 4 um an den Schluss, sodass dieser mit der Bitte um Gnade endet. Aber in der von Spee entworfenen Vorstellung vom Heiligen bezieht sich die in der 4. Strophe erbetene Gnade ja gerade auf das, was in dieser 5. Strophe imaginiert wird: Sie stellt eine Inkarnationsphantasie dar, die genau diese an Schaf und Lamm in der Trvtz-Nachtigal herausgearbeitete Transformationsdynamik bzw., wie gerade noch genauer deutlich geworden ist: Umkehrungsdynamik des Heiligen auf den Punkt bringt. Gott ist nicht nur Mensch geworden, er ist nun auch »in meinem Fleisch und Blut« zu finden. Und dies wird zum Grund erklärt, sich an das Heilige zu binden, sowie von ihm als Gnade des Geistes erbeten. Das meint die Aufwertung des menschlichen Selbstkonzepts durch die Arbeit und Aneignung der Unverfügbarkeit in der Transformation des Heiligen. Die Ambivalenz, mit der sich jedes religiöse Gesangbuch schwertun muss (und deshalb in jeder Konfession auf die letzte Strophe verzichten zu müssen glaubt!), drückt sich in der nahezu gleichberechtigten Verbindung der »Liebe zwischen beyden«, Mensch und Gott aus. Sie wird nur etwas durch ihre Pfandnahme durch Gott relativiert, weil das Ich sein Herz dabei ja auch aktiv hingibt: Menschliche Hingabe, in der Liebe, als Verfügbarmachung des Unverfügbaren. Das Schaf schenkt sich seinem Guten Hirten wieder, schenkt ihm, neu, seine Unverfügbarkeit – eine Variante der unio mystica, in der sich das menschliche Selbst selbst heiligt. Ein menschlicher Selbstwert und eine theologische Herausforderung zugleich liegen in dieser Ambivalenz, die uns in 13
Friedrich Spee, »Ausserlesene, catholische, geistliche Kirchengesäng«, hg. von Theo G.M. van Oorschot (Sämtliche Schriften, Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 4), Tübingen/Basel 2005, 377–379.
Lothar van Laak: Selbstwerdung des Gottes-Lamms
Gedicht 37 der Trvtz-Nachtigal das Spiel mit dem Göttlichen und das Glück der Anschauung des Geistes zeigen.
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Gebaute Heiligung Wie Stadtumbau und Heiligenverehrung des späten 17. und frü hen 18. Jahrhunderts Paderborn in eine heilige Stadt verwandelten Johannes Süßmann
1. Stadtumbau
Abbildung 1
Im Jahr 1647 brachte der Frankfurter Verleger Matthäus Merian eine Ansicht von Paderborn heraus.1 Die Entfernung ist so gewählt, dass man das gesamte Gemeinwesen auf einen Blick erfassen kann. Solche Stadtansichten sollten das Besondere
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Matthäus Merian d.Ä., Paderborn. Kupferstich auf Papier, 326 x 97 mm, in: Topographia Westphaliæ. Das ist, Beschreibung der Vornembsten, vnd bekantisten Stätte, vnd Plätz im Hochlöbl: Westphälischen Craiße. An tag gegeben, von Matthaeo Merian, Frankfurt a.M. 1647, nach 56 (2). Dazu Lucas Heinrich Wüthrich, Das druckgraphische Werk von Matthaeus Merian d.Ae., Bd. 4, Die großen Buchpublikationen II. Die Topographien. Hamburg 1996, 222, Nr. 44, und Jochen Luckhardt (Bearb.), Kreis Höxter. Kreis Paderborn, unter Mitarbeit von Michael Schmitt und Birgit Schulte (Westfalia picta. Erfassung westfälischer Ortsansichten vor 1900.5), Bielefeld 1995, Nr. 602 mit Abb. 355.
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Exemplarische Analysen
einer Stadt herausarbeiten, ihr Weichbild, an dem man sie wiedererkennen konnte. Die Stadtansicht diente als Identitätssymbol.2 Von den Verheerungen des Dreißigjährigen Kriegs,3 den sechs Belagerungen Paderborns, der zehnmaligen Übergabe, den fünfundzwanzig Jahren Besatzungsregime ist auf dem Bild keine Spur zu erkennen. Das liegt nicht nur daran, dass Merian eine Vorlage gestochen hat, die lange vor dem Druck entstanden sein muss.4 Der eigentliche Grund dürfte sein, dass die Erschütterung der politischen Identität durch den Dreißigjährigen Krieg nicht darstellbar war, weil sie dem Zweck dieser Stadtansicht widersprach.5 Dabei kann man sich diese Erschütterung nicht massiv genug vorstellen.6 Die eigenen Obrigkeiten hatten nicht vermocht, die Bevölkerung zu schützen. Sobald fremde Truppen nahten, hatte die fürstbischöfliche Regierung die Stadt verlassen, nach jeder Rückkehr hatte sie sich verhalten wie die wechselnden Besatzungsregimes. Seit Christian von Braunschweig das Fürstbistum Paderborn symbolisch säkularisiert, Gustav Adolph es 1632 seinem Verbündeten, dem
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Am Beispiel von Merians Ansicht der Stadt Basel grundsätzlich Lucas Burkart, StadtAnsichten, in: Esther Bauer-Sarasin/Walter Dettwyler (Hg.), Bildgeschichten. Aus der Bildersammlung des Staatsarchivs Basel-Stadt 1899–1999, Basel 1999, 60–63. Vgl. die grundlegenden Aufsätze in Wolfgang Behringer/Bernd Roeck (Hg.), Das Bild der Stadt in der Neuzeit 1400–1800, München 1999. Einen Überblick mit weiterführender Literatur bietet Bettina Braun, Paderborn im Dreißigjährigen Krieg, in: Frank Göttmann (Hg.), Die Frühe Neuzeit. Gesellschaftliche Beharrung und politischer Wandel (Paderborn. Geschichte der Stadt in ihrer Region 2), 2., durchges. Aufl. Paderborn u.a. 2000, 201–266. Vgl. Andreas Neuwöhner (Bearb.), Im Zeichen des Mars. Quellen zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges und des Westfälischen Friedens in den Stiften Paderborn und Corvey (Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte 35), Paderborn 1998; ders., Paderborn vor dem finanziellen Ruin. Der Dreißigjährige Krieg im Spiegel der Paderborner Stadtrechnungen, in: Westfälische Zeitschrift 149 (1999), 263–286. Der Dachabschluss der Busdorfkirche rechts hat nur bis 1629 so ausgesehen; vor diesem Jahr muss die Vorzeichnung der Stadt also entstanden sein, so Luckhardt (Anm. 1), 355. Merians Topographia entstand während der Friedensverhandlungen in Münster und Osnabrück, die aufgrund der Erschöpfung aller Kriegsparteien auf eine Restauration der Reichsverfassung hinausliefen. Der verbreiteten Sehnsucht nach Wiederherstellung lieferte Merian mit seinen Stadtansichten die Bilder; es sind Wunsch- und Traumbilder im Modus der Faktizität. Vgl. Bruno Weber, Merians Topographia Germaniae als Manifestation »von der hiebevorigen Glückseligkeit«, in: Ute Schneider (Hg.), Catalog zu Ausstellungen im Museum für Kunsthandwerk Franckfurt am Mayn […] und im Kunstmuseum Basel […] als Unsterblich Ehren=Gedächtnis zum 400. Geburtstag des hochberühmten Delineatoris (Zeichners), Incisoris (Stechers) et Editoris (Verlegers) Matthaeus Merian des Aelteren […], Frankfurt a.M. 1993, 202–207. Tilman G. Moritz, Mehr Barock wagen. Neuordnungen des Fürstbistums Paderborn aus dem Dreißigjährigen Krieg, in: Christoph Stiegemann (Hg.), Peter Paul Rubens und der Barock im Norden. Katalog zur Ausstellung im Erzbischöflichen Diözesanmuseum Paderborn, Petersberg 2020, 136–147, 137 und 139f.
Johannes Süßmann: Gebaute Heiligung
Landgrafen Wilhelm V. von Hessen-Kassel, als ›Kompensation‹ für dessen Kriegskosten in Aussicht gestellt hatte,7 standen die politische Selbstständigkeit und das katholische Bekenntnis des Landes infrage. Faktisch waren beide während des Krieges suspendiert. Als in den Verhandlungen zum Westfälischen Frieden auf Intervention Frankreichs die Kirchenherrschaft über Paderborn wiederhergestellt wurde, geschah dies gegen alle Erwartungen.
Abbildung 2
Neunzig Jahre später, 1719, zeichnete Johann Conrad Schlaun die Hauptstadt des wiederhergestellten Fürstbistums – aus dem Nordwesten, in Aufsicht und insgesamt detaillierter als Merians Gewährsmann.8 Damit gibt es zwei Versuche, visuell
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Holger Thomas Gräf, Interterritoriale Politik und Konfessionalisierung. Die Hessen-Kasseler Reaktionen auf die Rekatholisierungen in den benachbarten geistlichen Teritorien, in: Zeitschrift des Vereins für Hessische Geschichte und Landeskunde 107 (2002), 105–129, vor allem 120–127; Christian Tacke, Das Eindringen Hessen-Kassels in die Westfälischen Stifter, in: Klaus Malettke (Hg.), Frankreich und Hessen-Kassel zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges und des Westfälischen Friedens (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, Kleine Schriften 5), Marburg 1999, 175–188. Johann Conrad Schlaun, Civitatis Paderbornensis vera et accuratissima delineatio […] Ao 1719. Federzeichnung auf Pergament 265 x 527 mm. Museum für Stadtgeschichte Paderborn, Inv.-Nr. 81–687. Reproduziert u.d.T., Ansicht der Stadt Paderborn 1719 (Paderborner Gelegenheits-Editionen 1), Paderborn u.a. 1970. Dazu Klaus Bußmann (Hg.), Johann Conrad Schlaun
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Exemplarische Analysen
zu bestimmen, was Paderborns Besonderheit ausmacht, einen aus dem ersten Drittel des 17. Jahrhunderts, einen aus dem frühen 18. Was hat sich verändert? Um nur den Punkt zu nennen, den die Stadtsilhouetten hervorheben: Die Zahl der Kirchen hat sich vermehrt. Und sie sind in ein anderes Verhältnis zur Stadt getreten. Das liegt zuerst an der Vogelperspektive und daran, dass die Wohnhäuser bei Schlaun mehr Beachtung finden; sogar einzelne Straßenzüge sind angedeutet. Aber es liegt auch daran, dass die Großbauten auf eine neue Art mit der Stadt kommunizieren. Bei Merian haben die Kirchen Türme, aber keine Fassaden. Lediglich die Seitenansicht des Doms wird angedeutet, ausgeführt ist einzig die des Jesuitenkollegs. Schlaun hingegen arbeitet nicht nur die Seitenfront des Doms und die Westansicht des Domturms klar heraus, er zeigt auch präzise die Schauseiten von drei weiteren Kirchen: der Jesuitenkirche, der Franziskanerkirche und der Kapuzinerkirche. Darauf kommt es ihm offenbar an. Man gewinnt den Eindruck, er habe seinen Blickpunkt eigens dafür gewählt, um mit diesen Fassaden auf Augenhöhe zu kommen. Ihre visuelle Wirkung ist ein zentrales Thema des Blatts. Dass diese Wirkung gewaltig gewesen sein muss, machen erstens schon die Größenverhältnisse klar. Die Fassade der Jesuitenkirche überragt die umgebenden Häuser um das Drei- bis Vierfache. Selbst die schlichte Fassade der Kapuzinerkirche ist noch doppelt so hoch wie ihre Umgebung. Hinzu kommt zweitens die Positionierung der Fassaden. Sie sind so gestellt, dass sie als Blickfänger wirken, sei es, weil sie den Fluchtpunkt von Straßen bilden wie die Franziskanerkirche für die Königstraße, sei es, weil sie optisch ganze Plätze beherrschen wie die Jesuitenkirche gegenüber dem Rathaus. Drittens handelt es sich um vollkommen durchgestaltete Bauglieder. Streng symmetrisch aufgebaut, binden sie all ihre Bestandteile: Portale, Fenster, Schmuckformen, Giebel, in ein großes Ganzes ein. Damit geben sie zu erkennen, dass sie Schaustücke sind, also viertens – Medien.9 Ihre Durchformung macht eine Aussage. Die Fassaden kommunizieren: untereinander; auch mit Vorhalle und Turm der Busdorfkirche, die nach den gleichen Prinzipien gestaltet sind; von ferne gesehen, mit dem Dom; vor allem aber sprechen sie ihre Betrachter in der Stadt an. Keiner kann sie ignorieren oder nicht beachten. Diese Fassaden zwingen dazu, sich zu ihnen zu verhalten. Insofern kann man sie als städtebauliche Dominanten bezeichnen. Da es sich um neue Dominanten handelt, lässt sich daraus schließen, dass die Stadt Paderborn in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts
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1695–1773. Ausstellung zu seinem 200. Todestag […] (Schlaunstudie 1/1-2), Münster 1973, Bildteil Nr. 9.1, und Luckhardt (Anm. 1), Nr. 614 mit Abb. 364. Näher ausgeführt und an Beispielen erläutert ist dieser Gedanke in Johannes Süßmann, Die sprechende Stadt. Stadtumbau in Paderborn um 1600 und in der Gegenwart (Paderborner Universitätsreden 152), Paderborn 2019, 12–18.
Johannes Süßmann: Gebaute Heiligung
massiv umgebaut worden ist.10 Die neuartigen Kirchenfassaden geben ihr eine neue Ausrichtung. Wie ist sie zu verstehen?
2. Barockisierung Alles, was auf Schlauns Zeichnung an den Kirchenfassaden neu und eindrucksvoll erscheint: ihre Größe, ihr Einsatz als Blickfänger, ihre Durchformung und die rhetorische Ansprache der Stadt, sind Merkmale, die von der Architekturgeschichte als »barock« gekennzeichnet werden.11 Wenn es diese Fassaden sind, die Paderborn, jedenfalls in der äußeren Erscheinung, auch als Barockstadt erscheinen lassen, dann hat das, was hier als »Barock« bezeichnet wird, bleibende Spuren hinterlassen. Bis in die Gegenwart ist das Paderborner Stadtbild davon geprägt.12 Diese Feststellung bleibt gültig, obwohl die Schmuckformen der Fassaden alles andere als reiner Barockstil sind. Dies sei an der Jesuitenkirche verdeutlicht.13 Man 10
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Die Forschung hat das bestätigt, vgl. Braun, Paderborn (Anm. 3), 265, und Marianne WittStuhr, »… daß die hochbeschwerte Stadt Paderborn dadurch ganz und gar inficirt«. Krankheit und Gesellschaft während des Dreißigjährigen Krieges in der Stadt Paderborn, in: Westfälische Zeitschrift 155 (2005), 255–291, 274–277. Problembewusst und differenzierend z.B. von Stephan Hoppe, Was ist Barock? Architektur und Städtebau Europas 1580–1770 (Baustile in Europa), 2., unveränd. Aufl. Darmstadt 2010. Allerdings gilt es, hier genau hinzusehen. Denn als eine Sprache, die nach den Regeln der Rhetorik zu gestalten sei, waren Architektur und Städtebau bereits seit Leon Battista Alberti begriffen worden; schon die Bauwerke der Renaissance und des Manierismus hatten den Zeitgenossen als rhetorisch gegolten (vgl. z.B. Hoppe, 183, und Carsten-Peter Warncke, Rhetorik der Architektur in der frühen Neuzeit, in: Klaus Bußmann/Florian Matzner/Ulrich Schulze (Hg.), Johann Conrad Schlaun 1695–1773. Architektur des Spätbarock in Europa [Ausstellungskatalog], Stuttgart 1995, 612–621). Was sich durch den Barock änderte, war jedoch die Art der Rhetorik: Wie in den Lehrbüchern wurde sie nun vom Ziel des emovere her gedacht (vgl. Wilfried Barner, Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen, Tübingen 1970). Auch Bauwerke sollten ihre Nutzer und Betrachter zu bestimmten Handlungen bewegen. Dafür appellierte barocke Architektur primär an die Sinne und Leidenschaften, integrierte Malerei, Skulptur, Stuck, Ornamentik zu einem überwältigenden Gesamteindruck, holte Ferne und Unendlichkeit in ihre Raumgestaltungen herein und erweiterte sich zu einem umfassenden Arrangement, das kein Heraustreten mehr dulden mochte (vgl. Christoph Asendorf, Planetarische Perspektiven. Raumbilder im Zeitalter der frühen Globalisierung, Paderborn 2017, 215–260). Dafür hat nicht zuletzt der Neuaufbau nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs gesorgt. Indem er zahlreiche Vor- und Rücksprünge beseitigte, die Fluchtlinien der neuen Häuserzeilen konsequent auf die Barockfassaden ausrichtete und die Bauhöhen strikt begrenzte, hat er der ursprünglich angestrebten Wirkung erst vollends zum Durchbruch verholfen. Zu ihr Ansgar Köb, Universitäts- und Marktkirche Paderborn (Kunstführer 2602), Regensburg 3 2017, Klaus Hohmann, Vom Theodorianischen Ensemble bis zur Theologischen Fakultät der Gegenwart. Bau und Nutzungsgeschichte, in: Josef Meyer zu Schlochtern (Hg.), Die
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findet dort zwei übereinandergestellte antikisierende Fassaden und eine differenzierte Tiefenschichtung der Wand mit toskanischen Pilastern, plastisch geschmückten Portalen und einem kräftigen Gebälk mit hervorspringendem Sims. Auch die Fenster, die Bänder, die zwischen ihnen verlaufen und die Einfassungen von Giebel und Voluten treten plastisch aus der Wand hervor. Doch bleibt die plastische Staffelung flach und wird insgesamt mehr angedeutet als ausgeführt. Vor allem aber wird der Gedanke der übereinandergestellten Fassaden nicht durchgehalten. Dass ein großes Mittelfenster durch das Gebälk zwischen den beiden Geschossen stößt und das Gesims um den Rundbogen des Fensters herumgeführt wird, bedeutet im Wortsinn eine Durchbrechung des barocken Prinzips. Was eigentlich bestimmend wirken sollte, die Horizontale des Gebälks, tritt in der Fassade der Paderborner Jesuitenkirche zurück hinter die Vertikale eines Fensters mit gotischem Maßwerk. An einer Schlüsselstelle der Fassade, unübersehbar, demonstrativ werden hier also antikisierende barocke Prinzipien mit einem Verweis auf eine gotische Tradition kombiniert. Über die Gründe diskutieren die Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker intensiv.14 Unbestritten ist jedoch, dass die Paderborner Kirchenfassaden des 17. Jahrhunderts insofern »barock« genannt werden können, als sie an den Innovationen des Barocks teilhaben (an den neuen Aufgabenstellungen, dem überwältigungsrhetorischen Architekturverständnis, dem städtebaulichen Anspruch), dass sie in der Formensprache aber davon abweichen und wie andernorts in Westfalen eine eigene Spielart des Barocks ausgeprägt haben. Nach Ferdinand von Fürstenberg, dem
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Academia Theodoriana. Von der Jesuitenuniversität zur Theologischen Fakultät Paderborn 1614–2014, Paderborn 2014, 435–459, sowie demnächst Meinrad von Engelberg, Fürstenberger/Paderborner/Westfälischer Barock? Versuch einer Positionsbestimmung, in: Christoph Ehland/Sabine Schmitz/Johannes Süßmann (Hg.), Aufführungen – Rituale – Bauten. Medieninnovationen im Nordeuropa des 17. Jahrhunderts. Performances—Rituals—Architecture. Media Innovations in 17th-Century Northern Europe (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung), Wiesbaden [in Vorbereitung], jeweils mit weiterer Literatur. Vgl. von Engelberg (Anm. 13); ders., Gotisch = Katholisch? Zur Interpretation der Stilwahl im Zeitalter der Konfessionalisierung und zur Frage des ›Mediencharakters‹ von Architektur, in: Mitteilungen des Instituts für Europäische Kulturgeschichte Augsburg 13 (2004), 26–50; Hermann Hipp, Die ›Nachgotik‹ in Deutschland – kein Stil und ohne Stil, in: Stephan Hoppe/Norbert Nussbaum/Matthias Müller (Hg.), Stil als Bedeutung in der nordalpinen Renaissance. Wiederentdeckung einer methodischen Nachbarschaft, Regensburg 2008, 14–47; ders., Studien zur ›Nachgotik‹ des 16. und 17. Jahrhunderts in Deutschland, Böhmen, Österreich und der Schweiz, 3 Bd.e., Tübingen 1979; Ludger J. Sutthoff, Gotik im Barock. Zur Frage der Kontinuität des Stiles außerhalb seiner Epoche. Möglichkeiten der Motivation bei der Stilwahl (Kunstgeschichte: Form und Interesse 31), Münster 1990; Karl Josef Schmitz, Kunsthistorische Überlegungen zu den Gebäuden der Alma Theodoriana Paderbornensis Academia, in: Theologie und Glaube 79 (1989), 379–388.
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Fürstbischof, der die neuen Paderborner Kirchenfassaden veranlasst und finanziert hat, wird sie als »Fürstenberger Barock« bezeichnet.15 Das ist der formgeschichtliche Befund, und er ist allgemein bekannt. Versteht man Barock jedoch, wie von der Paderborner Forschungsgruppe »Barock im Norden« vorgeschlagen,16 nicht als Stil, sondern als eine mediale Praxis, dann fängt damit die Untersuchung erst an. Sie lässt sich in zwei Richtungen führen: der europäisch-globalen und der lokalen. Im Hinblick auf Europa gilt, dass durch die neuen Kirchen der Barock in Paderborn einzog.17 Das bitterarme, kleine Paderborn trug sich damit in die große Bewegung der Barockisierung Europas und der Welt ein. Damit ist es als Fallbeispiel zu verstehen für jenen Vorgang, den die ältere kunsthistorische Forschung als Ausbreitung des Barocks oder Barock-Rezeption bezeichnet hat.18 Man sah darin eine 15
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So zuerst von Engelbert von Kerckerinck zur Borg und Richard Klapheck, Alt-Westfalen. Die Bauentwicklung Westfalens seit der Renaissance (Veröffentlichungen der Westfälischen Kommission für Heimatschutz 1.1), Stuttgart 1912, v, xixf. Differenzierend dazu von Engelberg (Anm. 13). Vgl. Christoph Ehland et al., Barock im Norden. Kommunikationspraxis und Kulturtransfer, in: Stiegemann (Hg.), Rubens (Anm. 6), 198–215, und Christoph Ehland/Sabine Schmitz/ Johannes Süßmann, Zur Einführung, in: dies. (Hg.), Aufführungen – Rituale – Bauten. Medieninnovationen im Nordeuropa des 17. Jahrhunderts. Performances—Rituals—Architecture. Media Innovations in 17th-Century Northern Europe (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung), Wiesbaden [in Vorbereitung]. Einen aktuellen Überblick zur Verwendung des Barock-Begriffs in den verschiedenen kulturwissenschaftlichen Disziplinen bieten die einschlägigen Beiträge in Alfred Wieczorek/Christoph Lind/Uta Coburger (Hg.), Barock – Nur schöner Schein? [Ausstellungskatalog] (Publikationen der Reiss-Engelhorn-Museen 71), Mannheim 2016. Einen Vorlauf hatte dies in der barocken Innenraumgestaltung des Paderborner Doms, die bereits in den 1650er-Jahren auf Betreiben des Domkapitels erfolgte, zuletzt dazu Christoph Stiegemann: »Im Thumb große Luft und Zierath geben«. Die ›Barockisierung‹ des Paderborner Doms 1652–1661, in: ders. (Hg.), Rubens (Anm. 6), 148–179, mit einem Überblick über die ältere Literatur. Da die Kathedrale als Vorbild auf die Kirchen in der Diözese ausstrahlte, wirkte der Domumbau als mächtiger Impuls für den Barocktransfer, was der zitierte Ausstellungskatalog dokumentiert (a.a.O., 477–497 = Nr. 114–122b). Vgl. Georg Ulrich Großmann, Barock im Paderborner Corveyer Land. Rundfahrten auf den Spuren von Baumeistern, Bildhauern und Malern, Büren 1994, sowie Florian Matzner/Ulrich Schulze, Barock in Westfalen. Ein Reiseführer (Kulturlandschaft Westfalen 3), Münster 1995. Bezogen auf diesen Vorgang wagen die neuen Kirchenfassaden den nächsten Schritt, wenden sie die barocken Innovationen von innen nach außen, gehen sie vom Kircheninterieur zum Städtebau über – auch deshalb werden sie hier als »extrovertiert« bezeichnet. Zu diskutieren wäre, ob sie möglicherweise den gesamten Stadtraum wie einen Kircheninnenraum behandelten, den kommunalen Raum wie das gesamte Land also ebenfalls als Ganzheit und Aufgabe: als etwas vollständig Durchzugestaltendes begriffen. So z.B. Christian Norberg-Schulz, The Diffusion of Baroque Architecture, in: ders., Baroque Architecture (History of World Architecture 8), New York 1971, 174–204; Erich Hubala (Hg.),
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Nachahmung der großen Metropolen, allerdings zur Peripherie hin provinziell-vergröbernd, defizitär. Mit einem aktuellen Forschungsansatz aus der Geschichtswissenschaft kann man den gleichen Vorgang hingegen als ›Kulturtransfer‹ auffassen.19 Koproduktion und Transformation sind diesem Konzept bereits eingeschrieben. An vielen Orten gleichzeitig hat demnach eine hochmobile Gruppe von Auftraggebern und Auftraggeberinnen, Medienexperten und Expertinnen, zwar auch mit Blick auf die fernen Metropolen, vor allem aber mit Blick auf die konkurrierenden Nachbarn, eigensinnig zu einer Bewegung beigetragen, die dadurch im Ergebnis ganz Europa erfasste, durch Anverwandlung in den europäischen Kolonien, etwa in Südamerika oder Indien, sogar die ganze Welt.20 Die Frage ist: Warum? Hier liegt es nahe, funktional zu argumentieren. Was brachte es den Gemeinwesen, mit großen Unkosten in diese Koproduktion einzutreten? Die Hypothese der Paderborner Forschungsgruppe lautet: Die Gemeinwesen schufen eine künstlerische, mediale und politische Sprache, die europaweit verständlich war und erlaubte, durch gezielte Abweichungen die eigene Besonderheit für sich selbst wie für andere zu kommunizieren. Damit knüpft diese Neubestimmung des Barock-Begriffs an Forschungsansätze zur politischen Kommunikation ›unter Anwesenden‹ in der frühneuzeitlichen Stadt an,21 erweitert diese Forschungsrichtung aber um Medien wie hier Architektur und Städtebau, die bislang eher wenig Beachtung gefunden haben. Um dies am Beispiel Paderborn zu verdeutlichen: Einerseits stellte man über die neuen Kirchen Verbindungen zu
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Die Kunst des 17. Jahrhunderts (Propyläen Kunstgeschichte 9), Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1970 u.ö.; Harald Busch/Bernd Lohse (Hg.), Baukunst des Barock in Europa. Einleitung von Kurt Gerstenberg. Bilderläuterungen von Eva-Maria Wagner (Monumente des Abendlandes), Frankfurt a.M. 4 1966. Vgl. die Forschungsberichte von Matthias Middell, Von der Wechselseitigkeit der Kulturen im Austausch. Das Konzept des Kulturtransfers in verschiedenen Forschungskontexten, in: Andrea Langer/Georg Michels (Hg.), Metropolen und Kulturtransfer im 15./16. Jahrhundert. Prag – Krakau – Danzig – Wien, Stuttgart 2001, 15–52, und ders., Kulturtransfer, Transferts culturels, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte (2016). URL: http://docupedia.de/zg/mi ddell_kulturtransfer_v1_de_2016 [letzter Zugriff: 24.04.2023]. So wegweisend die einschlägigen Beiträge in Karl Möseneder/Michael Thimann/Adolf Hofstetter (Hg.), Barocke Kunst und Kultur im Donauraum, 2 Bd.e. Petersberg 2014. Zur Globalisierung des Barock-Begriffs s. z.B. Fernando Checa Cremades (Hg.), El Arte de las naciones. El Barroco como arte global [Ausstellungskatalog], Puebla 2016. Rudolf Schlögl, Vergesellschaftung unter Anwesenden. Zur kommunikativen Form des Politischen in der vormodernen Stadt, in: Rudolf Schlögl (Hg.), Interaktion und Herrschaft. Die Politik der frühneuzeitlichen Stadt (Historische Kulturwissenschaft 5), Konstanz 2004, 9–60. Vgl. Gerd Schwerhoff (Hg.), Stadt und Öffentlichkeit in der Frühen Neuzeit (Städteforschung, Reihe A, Darstellungen 83), Köln 2011. Ein aktueller Forschungsbericht bei Gerd Schwerhoff, Frühneuzeitliche Stadtgeschichte im Cultural Turn – eine Standortbestimmung, in: Julia A. Schmidt-Funke/Matthias Schnettger (Hg.), Neue Stadtgeschichte(n). Die Reichsstadt Frankfurt im Vergleich, Bielefeld 2018, 11–40.
Johannes Süßmann: Gebaute Heiligung
den katholischen Kathedralstädten Köln22 und Münster23 her, in einem weiteren Umkreis auch mit Antwerpen und Brüssel,24 nicht zuletzt mit der Schutzmacht Frankreich, deren Hilfsgelder an Ferdinand von Fürstenberg den Kirchenbau finanzierten, andererseits grenzte man sich sinnfällig von den Kirchen der protestantischen Nachbarn in Hessen-Kassel, Waldeck und Hannover ab. Solche Verbindungen und Abgrenzungen zu erneuern, war für den isolierten, im Dreißigjährigen Krieg um- und umgedrehten, unverhofft wieder katholisch gewordenen, nicht länger aus eigener Kraft existierenden Vorposten Paderborn existentiell. Es ordnete das mindermächtige Fürstbistum in die nordwestdeutsche Germania sacra und darüber hinaus in ein europaumspannendes katholisches Bündnissystem ein und machte dabei sowohl den Verbündeten als auch den Gegnern die eigene Besonderheit deutlich.25
3. Baupolitik Auch nach innen, gegenüber den Mitgliedern des eigenen Gemeinwesens, ergibt sich aus dem hier vertretenen Ansatz die Frage, was die barocken Medieninnovationen politisch bewirkten. Dadurch interessiert weniger ihre Semantik als vielmehr
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Die Fassade der Paderborner Jesuitenkirche verweist auf St. Mariä Himmelfahrt in Köln, die als Vorbild für eine ganze Reihe von Kirchenbauten der Jesuiten im Rheinland und in Westfalen diente – Indiz für die Zentralfunktion des Kölner Jesuitenkollegs innerhalb der niederrheinischen Ordensprovinz, vgl. Jürgen Schmitt, Der Einfluss der Kölner Jesuitenkirche auf die Kollegskirchen im Rheinland und in Westfalen. Mit einem Exkurs auf die niedersächsischen Kollegskirchen in Hildesheim und Osnabrück. Ein Beitrag zur Geschichte der SakralArchitektur des Frühbarocks in Nordwest-Deutschland (Kunstgeschichte 2), Frankfurt a.M. 1979. Die achtzig Jahre ältere Kirche St. Petri des Jesuitenkollegs in Münster macht ebenfalls ein Fenster mit gotischem Maßwerk zum Zentrum der Fassade. So macht Eva-Maria Höper, Ambrosius von Oelde. Ein Kapuzinermönch des Frühbarock im Dienst der westfälischen Fürstbischöfe (Rhenania franciscana antiqua 5), Dülmen 1990 auf Ähnlichkeiten zwischen der Fassade der Paderborner Franziskanerkirche und flämischen Vorbildern aufmerksam, während von Engelberg (Anm. 13) explizit ein Brüsseler Vorbild nennt, nämlich die Jesuitenkirche Nôtre Dame du Bon Secour. Grundsätzlich dazu Christophe Duhamelle, Raum, Grenzerfahrung und konfessionelle Identität im Heiligen Römischen Reich im Barockzeitalter, in: Karin Friedrich (Hg.), Die Erschließung des Raumes. Konstruktion, Imagination und Darstellung von Räumen und Grenzen im Barockzeitalter, Bd. 1 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 51), Wiesbaden 2014, 23–46. Beispiele für vergleichbare Strategien in einem gemischtkonfessionellen Territorium bietet Duane J. Corpis, Mapping the boundaries of confession. Space and urban religious life in the diocese of Augsburg, 1648–1750, in: Will Coster/Andrew Spicer (Hg.), Sacred Space in Early Modern Europe, Cambridge 2005, 302–325.
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ihre kommunikative Pragmatik. Die Hypothese lautet, dass man sich an den Medieninnovationen beteiligte, weil man damit etwas erreichen konnte. Die Quellen bestätigen diese Ansicht. 1664 schrieb Ferdinand von Fürstenberg, als in Körbecke ein Teil der Pfarrkirche einstürzte, an den Offizial, der den Schaden begutachten sollte: Denn wir wünschen, dass die Gotteshäuser unseres Bistums zur Mehrung der Ehre der höchsten Gottheit und zur gedeihlichen Sorge um das Heil der Seelen teils restauriert und wiederhergestellt, teils geweiht und geschmückt werden, jene besonders, die an den Grenzen zu den nicht-katholischen Gebieten liegen – gleichsam als Bollwerk gegen die Irrlehre, als Zuflucht der Katholiken, die sich in jenem Gebiet aufhalten, sowie als Ansporn für die Irrenden, den rechten Glauben anzunehmen.26 Sakralbauten als »Bollwerke«, als »Zuflucht«, als »Ansporn« – Fürstenbergs Metaphern zeigen, dass seine Bautätigkeit nicht ausschließlich kultischen Zwecken diente. Die neuen Kirchen waren vielmehr extrovertiert. Sie sollten wirken. Nach Fürstenbergs Verständnis griffen sie auf ihre Umgebung aus. Ihr Zweck war, die Praxis der Menschen innerhalb wie außerhalb des Fürstbistums Paderborn zu verändern. »Bollwerke«, »Zuflucht«, »Ansporn« sind Metaphern aus dem militärischen Bereich. Somit sind Fürstenbergs Kirchenbauten als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln verstehen. Oder sollte man besser sagen: als Verlagerung des Krieges auf das Gebiet der Architektur, der Kunst, der Medien? Jedenfalls handelte es sich um einen Versuch der Einflussnahme, also um Politik. »Baupolitik« wird man das wohl nennen können.27 Wer waren die Akteure dieser Politik, wer die Adressaten? Die Akteure sind leicht zu bestimmen. Sämtliche neue Kirchen wurden von Ferdinand von Fürstenberg veranlasst und finanziert, was auch daran zu erkennen ist, dass alle Fassaden sein Wappen tragen. Geboren 1626, wurde er 1661 zum Fürstbischof von Paderborn gewählt, 1678 darüber hinaus zum Fürstbischof von Münster; als er 1683 starb, hatte er Paderborn zweiundzwanzig Jahre lang regiert.28 Allerdings hat Fürstenberg die neuen 26
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Im Original: Cupimus enim sacras dioecesis nostrae aedes ad gloriam divini Numinis augendam et animarum salutem commodiis curandam partim restaurari et refici partim consecrari et ornari, illas praesertim quae in finibus versus acatholices ditiones sitae sunt, tamquam adversus haeresin munimenta, refugia Catholicorum qui in illo [?] commorant et errantium ad fidem orthodoxam incitamenta. (AFH 238 fol. 17 vom 16.1.1663 [Kopie]). Original und Übersetzung zitiert nach Jörg Ernesti, Ferdinand von Fürstenberg (1626–1683). Geistiges Profil eines barocken Fürstbischofs (Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte 51), Paderborn 2004, 353. Zu diesem Begriff Johannes Süßmann, Vergemeinschaftung durch Bauen. Würzburgs Aufbruch unter den Fürstbischöfen aus dem Hause Schönborn (Historische Forschungen 86), Berlin 2007, 11 und 278f. Maßgeblich zu ihm Ernesti (Anm. 26).
Johannes Süßmann: Gebaute Heiligung
Kirchen nicht direkt in Auftrag gegeben, sondern über Stiftungen finanziert, die er für diese Zwecke errichtete.29 Als eigentliche Bauherren agierten die geistlichen Gemeinschaften, deren Kirchen teils vollständig neu errichtet wurden (so bei den Franziskanern, den Kapuzinern, den Jesuiten), teils moderne Vorbauten erhielten (wie beim Busdorf-Stift).30 Dabei fällt auf, dass Fürstenbergs Stiftungen ausschließlich Orden und Stifte begünstigten, die aktiv auf das kirchliche und städtische Leben einwirkten, sei es durch das Betreiben von Schulen wie die Jesuiten, sei es durch Seelsorge und Armenpflege wie die Franziskaner, die Kapuziner und das BusdorfStift. Es handelte sich um Gemeinschaften, die nach den Erschütterungen des Dreißigjährigen Kriegs aktiv die Rekatholisierung der Bevölkerung betrieben. Die Benediktiner im Abdinghof wurden nicht bedacht, ebensowenig die Benediktinerinnen an der Gaukirche, weil diese zu selbstgenügsam lebten. Dazu passt, dass die neuen Kirchen alle in der Bürgerstadt lagen, nicht in der Domfreiheit bzw. den Rechtsbezirken der Geistlichen. Man kann die neuen Kirchen also als Ausdruck eines Bündnisses zwischen dem Fürstbischof und den Schul- und Seelsorgeorden verstehen. Dieses Bündnis hatte eine doppelte Stoßrichtung. Einerseits zielte es gegen das Domkapitel und die alteingesessenen kirchlichen Korporationen der übrigen Orden und Stifte. Andererseits richtete es sich auf die Bürgergemeinde der Stadt Paderborn. Gemeinsam war beiden Adressaten, dass sie sich im Dreißigjährigen Krieg von der fürstbischöflichen Regierung verselbstständigt hatten und sich in ihrem Bekenntnis keineswegs festlegen lassen wollten. Offenbar gab es viele Ireniker darunter, möglicherweise auch eine Reihe von Kryptoprotestanten und Protestantinnen sowie andere Abweichler.31 Hier setzte die Arbeit der Schul- und Seelsorgeorden in den neuen Kirchen an. D.h. deren durch die Fassaden demonstrierte Rekatholisierung hatte eine politische Pointe. Sie stärkte den Fürstbischof gegenüber den alteingesessenen kirchlichen und ständischen Korporationen. Man würde zu weit gehen, wollte man dies als ›fürstbischöflichen Absolutismus‹ kennzeichnen. Schließ-
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Eine gute Übersicht bei Ernesti, ebd., 350–376. Bauhistorisch dokumentiert und genau beschrieben sind alle diese Kirchen in Heinrich Otten (Hg.), Stadt Paderborn, hg. von Landschaftsverband Westfalen-Lippe und der Stadt Paderborn (Denkmäler in Westfalen 2 = Kreis Paderborn 1), Petersberg 2018. Dass protestantische Überzeugungen in der Paderborner Bevölkerung weit länger verbreitet waren, als die Meistererzählung von der erfolgreichen Gegenreformation durch Dietrich von Fürstenberg vorsieht, zeigt bereits Gesine Dronsz, Reformation in Paderborn – nur eine Episode?, in: dies./Martin Leutzsch/Harald Schröter-Wittke (Hg.), Evangelisches Paderborn. Protestantische Gemeindegründungen an Pader und Weser (Beiträge zur westfälischen Kirchengeschichte 34), Bielefeld 2008, 11–56. Das lange Fortbestehen altgläubiger, protestantischer und unentschiedener Haltungen war Gegenstand der Tagung von Stefan Kopp, Tilman Moritz und Nicole Priesching zum Thema »Katholische Konfessionalisierung in Paderborn? Religiöse Prozesse in der Frühen Neuzeit«, 27.–28. Juni 2019 an der Theologischen Fakultät Paderborn. Die Beiträge werden 2021 publiziert.
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lich hatte der Fürstbischof sein Amt durch eine Wahl erlangt und blieb auf seine Wähler, das Domkapitel, in vielfältiger Weise angewiesen.32 Dennoch erkennt man im Paderborner Kirchenbau Ferdinands von Fürstenberg ein Bestreben, sich aus dieser Abhängigkeit, wo es ging, zu lösen. Das ähnelt durchaus zeitgleichen Bestrebungen der Päpste, mehr Freiraum gegenüber anderen kirchlichen Gremien wie den Kardinälen und den Bischöfen der Landeskirchen zu gewinnen. Nicht zufällig ist Ferdinand von Fürstenberg der einzige Bischof von Paderborn, der sich nicht im Dom begraben ließ, sondern im Chor der neuen Franziskanerkirche, die er finanziert hatte.33 Das zeigt seine Absetzbewegung aus dem Domkapitel. Und es macht deutlich, wie umkämpft die politische Ordnung der Kirchenherrschaft Paderborn in dieser Zeit war. Vor diesem Hintergrund erweisen die neuen Kirchen sich als Machtmittel in einem Verfassungskonflikt. Sie sollten den Fürstbischof am Domkapitel vorbei über die Schul- und Seelsorgeorden in ein näheres Verhältnis zur Stadtgemeinde bringen. Das führt zum zweiten Adressaten von Fürstenbergs Politik, nämlich der Stadtbevölkerung. Wie der Stadtumbau auf diese wirkte, lässt sich zunächst den Bauten selbst entnehmen. Es kennzeichnet die neuen Fassaden, dass sie Vorplätze zwischen sich und die Straße legen: teils erhöht wie eine Bühne; durch Balustraden oder Gitter abgegrenzt, dennoch gut einsehbar. Am spektakulärsten ist der 1709–14 geschaffene Vorplatz der Jesuitenkirche. Bei den Franziskanern übernehmen die Treppenanlagen vor Kirche und Kloster die gleiche Funktion. Bei der Busdorfkirche liegt der entsprechende Platz an der Seite. In den andern drei Fällen wirken die Vorplätze als Distanzierung. Sie verschaffen den Fassaden einen Auftritt, unterstreichen die rhetorische Anrede, steigern ihre Wirkung. Insofern kann man sagen, sind die Fassaden theatral. Zugleich bilden Vorplätze und Fassaden zusammen eine Bühne mit
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Grundsätzlich dazu Günter Christ, Selbstverständnis und Rolle der Domkapitel in den geistlichen Territorien des alten Deutschen Reiches in der Frühneuzeit, in: Zeitschrift für historische Forschung 16 (1989), H. 3, 257–328, sowie Süßmann (Anm. 27), 49–64 und 279–289, speziell zu Paderborn Hans Jürgen Brandt/Karl Hengst, Das Bistum Paderborn von der Reformation bis zur Säkularisation 1532–1802/21. Mit einem Beitrag von Roman Mensing (Geschichte des Erzbistums Paderborn 2 = Veröffentlichungen zur Geschichte der mitteldeutschen Kirchenprovinz 13), Paderborn 2007, 186–201, und Jürgen Lotterer, Gegenreformation als Kampf um die Landesherrschaft. Studien zur territorialstaatlichen Entwicklung des Hochstifts Paderborn im Zeitalter Dietrichs von Fürstenberg (1585–1618) (Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte 42), Paderborn 2003, 281–301. Valentin Arnrich OFM/Werinhard Einhorn OFM, Das Grabmal Ferdinands von Fürstenberg in der Paderborner Franziskanerkirche, in: Norbert Börste/Jörg Ernesti (Hg.), Friedensfürst und guter Hirte. Ferdinand von Fürstenberg, Fürstbischof von Paderborn und Münster (Paderborner theologische Studien 42), Paderborn u.a. 2004, 125–151 mit weiterer Literatur.
Johannes Süßmann: Gebaute Heiligung
der Fassade als rückwärtiger Schaufront.34 Damit verwandeln sie die Straße in einen Zuschauerraum. Wie wurden diese suggestiven Bühnen bespielt? Ihre wichtigste Nutzung waren kirchliche Feiern, etwa wenn dort Festaltäre für Prozessionen aufgebaut wurden oder von hervorgehobener Stelle der Segen erteilt wurde. D.h. die Fassaden mit ihren Vorplätzen hatten zentrale Bedeutung, um den gemeinschaftsstiftenden Kultus aus dem Innern der Kirchen hinaus in den Stadtraum zu verlagern. Die Kirchenfassaden erweisen sich als Apparaturen der Extraversion. Sie tragen den katholischen Gottesdienst nach außen, der vorher nur innerhalb der Kirchen stattgefunden hatte. Sie besetzen den öffentlichen Raum. Sie beziehen jede und jeden als Teilnehmenden mit ein. Selbst wenn kein Feiertag war und kein Außengottesdienst stattfand, erinnern sie durch ihre monumentale Präsenz an diese Nutzung und stellen sie symbolisch auf Dauer. Wie haben die Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner darauf reagiert? Explizite Aussagen dazu sind rar und wie alle Quellen mit Vorbehalt zu verwerten. Doch es gibt etwas Besseres, nämlich einen Beleg dafür, dass sich mit dem Stadtumbau das Handeln der Menschen in Paderborn veränderte; man darf annehmen, dass dies auch ein Resultat des Stadtumbaus war. Dieser Beleg sind die Gesangbücher, die im 17. und 18. Jahrhundert unter maßgeblicher Beteiligung der Jesuiten in Paderborn entstanden.35 Vergleicht man nämlich die ältesten erhaltenen Gesangbücher aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit dem neuen Gesangbuch, das Ferdinand von Fürstenberg 1682 herausgeben ließ,36 stellt man fest, dass dort vor allem das Kapitel mit den Fürbittgesängen an Heilige stark ausgeweitet wurde – und zwar um Lieder,
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Auch hier muss wieder unterschieden werden zwischen dem seit Alberti verbreiteten Grundgedanken, Kirchenfassaden in Analogie zur Architektur antiker Bühnenrückwände zu gestalten (was in Paderborn allerdings bis dahin nicht angekommen war) und der barocken, ins Monumentale gesteigerten Ausführung dieser Idee. Beispiele für beides finden sich bei Peter Stephan, Der vergessene Raum. Die dritte Dimension in der Fassadenarchitektur der frühen Neuzeit (Eikoniká 1), Regensburg 2009. »Überhaupt scheinen die Väter der Gesellschaft Jesu am Kamp Promotoren der [Paderborner Gesangbuch-]Drucke gewesen zu sein.« Brandt/Hengst (Anm. 32), 485. Christ=Catholisches Gesang Buch/Auff alle Sonn= und Fest=Tage durch das gantze Jahr: Beim Ampt der H. Meß/Processionen und Kinder=Lehr nützlich zu brauchen/jetzo wiederum übersehen und approbirt. Mit Gnad und Freiheit Ihr. HochFürstlich. Gnaden zu Paderborn und Münster/etc. nicht nachzudrucken. Neuhaus 1682. Einziges bekanntes Exemplar Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster, Sign.: K 281. Dazu Erika Heitmeyer/Maria Kohle, Geschichte der Gesangbücher und Kirchenlieder im (Erz-)Bistum Paderborn, Bd. 1: 1600–1720 (Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte 71), Paderborn 2012, 136–142, 183–192, 199–211, 235–246 und 307f. Die Autorinnen vermuten, dass es sich um den Nachdruck eines bezeugten, aber nicht erhaltenen Gesangbuchs von 1671 handelt, vermehrt um einen Zusatz von zweiundzwanzig Seiten mit neuen Fürbittliedern.
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Exemplarische Analysen
die sich nun ausdrücklich an diejenigen Heiligen richteten, denen die verschiedenen Paderborner Kirchen geweiht waren.37 In Verbindung mit anderen Quellen wie Prozessionsordnungen lässt sich daraus schließen, dass in der Stadt Paderborn ein neuer Prozessionsweg entstanden war. Offenkundig führte er durch sämtliche Gemeinde- und Klosterkirchen der Stadt, um in jeder die dort durch Reliquien vorhandenen oder als Kirchenpatrone verehrten Heiligen aufzusuchen und ihre Fürsprache zu erbitten. D.h. die Kirchen waren zu Stationen einer allumfassenden öffentlichen Sakraltopographie geworden.38 Die neue extrovertierte Frömmigkeit hatte die gesamte Stadt erfasst; fortan bestimmte sie deren Praxis. Allumfassend trifft die Sache in mehrfacher Hinsicht. Allumfassend war der Prozessionsweg nämlich nicht nur, weil er erstens sämtliche Kirchen Paderborns einbezog, alle darin verehrten Heiligen, alle Verbindungswege zwischen ihnen, damit schon räumlich die gesamte Stadt. Allumfassend war er auch, weil er zweitens von der Kathedralstadt Paderborn auf das Umland ausstrahlte. Diese weiterreichende Extraversion zeigt sich ebenfalls in den Gesangbüchern. Und zwar führte der barocke Paderborner Prozessionsweg auch zu einer kleinen Wallfahrtskapelle, die vor der Stadt gelegen war, der sogenannten Romskapelle, in der ein wundertätiges Gnadenbild der Mutter Gottes verehrt wurde.39 Dieses Gnadenbild ist erhalten und befindet sich heute in der Marktkirche, die Kapelle wurde beim Bau der Eisenbahn abgebrochen. Sie stand unweit des heutigen Hauptbahnhofs, an der heutigen Bahnhofstraße, damals am Hellweg, der wichtigsten Handelsstraße, die Paderborn mit dem Rhein verband. Unter tätiger Mithilfe der Jesuiten hatte man die dort geschehenen Wunder publik gemacht, dem Gnadenbild hohes Ansehen verschafft und die Marienwallfahrt in ein florierendes Unternehmen verwandelt.40 Nicht nur zu Libori zogen also Menschen aus dem Umland nach Paderborn, auch 37
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Erika Heitmeyer/Maria Kohle: »… dem guthertzigen Volck zu seligmachendem Nutz«. Frömmigkeitspraktische Zielsetzungen in jesuitisch geprägten Gesangbüchern Nordwestdeutschlands im 17. Jahrhundert, in: Westfälische Zeitschrift 158 (2008), 211–226, 215f., und dies. (Anm. 36), 139 und 200. Zu diesem Begriff vgl. den Sammelband von Susanne Rau/Gerd Schwerhoff (Hg.), Topographien des Sakralen. Religion und Raumordnung in der Vormoderne, München/Hamburg 2008, vor allem die Forschungsberichte der Herausgeber und Amanda Eurich, Sacralising space. Reclaiming civic culture in early-modern France, in: Coster/Spicer (Anm. 25), 259–281. Alexander Kuhne, Wallfahrtsstätten im Erzbistum Paderborn, Paderborn 1984, 159f. Vgl. Jürgen Bärsch, Die Rolle der barockzeitlichen Liturgie für die Ausbildung einer katholischen Konfessionskultur. Beobachtungen am Beispiel des Hochstifts Paderborn, in: Stefan Kopp/ Tilman G. Moritz/Nicole Priesching (Hg.), Katholische Konfessionalisierung in Paderborn? Religiöse Prozesse in der Frühen Neuzeit, Münster 2021, 95–112, über die Liturgie der Prozessionen zur Roms-Kapelle 105–108. Dazu demnächst Carolin Pecho, Konfessionelle Neuverortung. Die Paderborner Romswallfahrt auf Bildern und Karten im 17. Jahrhundert, in: Johannes Süßmann (Hg.), Jesuitenuniversitäten als Medienzentren [in Vorbereitung]. Vgl. Stefan Kopp, Die Stadt als heiliger Ort.
Johannes Süßmann: Gebaute Heiligung
an Marienfesten zur Romskapelle. Umgekehrt zogen die Paderborner über die Romskapelle zu weiteren Orten der Marienverehrung und Zielpunkten von Wallfahrten rings um Paderborn: Dalhausen, Dörenhagen, Kleinenberg, Marienloh, Marienmünster, Verne.41 Wer Kleinenberg vor Augen hat, kann ermessen, wie diese Wallfahrtsorte durch land art in Blickpunkte und Wegmarken verwandelt wurden und das umliegende Land auf die Marienverehrung bezogen.42 Nicht nur die Stadt Paderborn, das gesamte Fürstbistum wurde auf diese Weise integriert. Allumfassend war diese Heiligenverehrung schließlich drittens, weil sie nicht nur den gesamten öffentlichen Raum besetzte, sondern auch alle Menschen einbezog. Das barocke Prozessionswesen war eine Form der Mitmachfrömmigkeit; es er-
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Liturgische und sakraltopographische Bezüge zu Jerusalem und Rom, in: ders. (Hg.), Gott begegnen an heiligen Orten (Theologie im Dialog 23), Freiburg 2018, 257–276. Kuhne (Anm. 39) sowie Erika Heitmeyer/Maria Kohle, Einleitung, in: Das Paderborner Gesangbuch 1628. Reprint mit Kommentar, bearb. von dens. (Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte 56), Paderborn 2007, 6–85, 72–82. Zur Bedeutung von Wallfahrten für die konfessionell-politische Abgrenzung vgl. die Arbeiten von Werner Freitag, Volks- und Elitenfrömmigkeit in der frühen Neuzeit. Marienwallfahrten im Fürstbistum Münster (Veröffentlichungen des Provinzialinstituts für Westfälische Landes- und Volksforschung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe 29), Paderborn 1991; ders., Barocke Wallfahrtsjubiläen. Paderborn 1736 und Telgte 1754, in: Winfried Müller et al. (Hg.), Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus (Geschichte, Forschung und Wissenschaft 48), Münster 2003, 157–176; ders., Wallfahrtsbilder im konfessionellen Zeitalter; das Fürstbistum Münster, in: David Ganz/Georg Henkel (Hg.), Rahmen-Diskurse. Kultbilder im konfessionellen Zeitalter (KultBild 2), Berlin 2004, 81–96; ders., Fromme Traditionen, konfessionelle Abgrenzung und kirchliche Strukturen. Religiosität als Faktor westfälischer Identität (16.–18. Jahrhundert)?, in: Wilfried Reininghaus/Bernd Walter (Hg.), Räume – Grenzen – Identitäten. Westfalen als Gegenstand der landes- und regionalgeschichtlichen Forschung (Forschungen zur Regionalgeschichte 71 = Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen, N.F. 9), Paderborn u.a. 2013, 91–104, sowie Georg Henkel, Rhetorik und Inszenierung des Heiligen. Eine kulturgeschichtliche Untersuchung zu barocken Gnadenbildern in Predigt und Festkultur des 18. Jahrhunderts (Kunst- und kulturwissenschaftliche Forschungen 3), Weimar 2004. Vergleichbares hat die Forschung etwa für die Sacri Monti im Piemont herausgearbeitet, vgl. Guido Gentile, Sacri Monti, Turin 2019, und Geoffrey Symcox, Jerusalem in the Alps. The Sacro Monte of Varallo and the Sanctuaries of North-Western Italy, Turnhout 2019. Ein aufschlussreiches Vergleichsbeispiel sind auch Graubünden und das Veltlin, wo die katholische Mission, nachdem sie in den protestantischen Gemeinden gescheitert war, den Grenzraum durch weithin sichtbare Wallfahrtsstätten in eine ›barocke Gnadenlandschaft‹ verwandelte, um das Land auf diese Weise performativ und visuell zu katholisieren, so Philipp Zwyssig, Täler voller Wunder. Eine katholische Verflechtungsgeschichte der Drei Bünde und des Veltlins (17. und 18. Jahrhundert), Affalterbach 2018, 157–296. Vgl. auch Daniel Sidler, Heiligkeit aushandeln. Katholische Reform und lokale Glaubenspraxis in der Eidgenossenschaft (1560–1790) (Campus Historische Studien 75), Frankfurt a.M. 2017.
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Exemplarische Analysen
öffnete eine Fülle von Möglichkeiten, sich zu beteiligen.43 Ob sie ihr Haus schmückten, weil es am Prozessionsweg lag oder Blumenbilder legten, einen Bildstock stifteten oder liedersingend mitzogen, zusammen mit ihren Nachbarinnen und Nachbarn, ihrer Zunft, ihrer Gebetsbruderschaft als Korporation in Erscheinung traten, es gab unzählige Möglichkeiten sich einzubringen, die alle im Wettstreit miteinander lagen. Und es wurde erwartet, dass man sich einbrachte. Beiseite zu stehen, sich zu drücken, sollte unmöglich werden, weil man sich damit selbst aus der Gemeinschaft ausgeschlossen hätte. Die feierliche Durchführung der Festtagsprozessionen entwickelte sich zur wichtigsten Aufgabe der Gemeinschaft: zu derjenigen Unternehmung, die alle verband und zur Gemeinschaft zusammenschloss. Für das gegenreformierte Paderborn gewann die Heiligenverehrung konstitutive, weil gemeinschaftsstiftende Bedeutung.
4. Heiligung Was leistet die Betrachtung diese Fallbeispiels für das Verständnis von ›Kulturen der Heiligkeit‹? »Heiligkeit« bedeutet hier zunächst Heiligenverehrung. Doch diese Heiligenverehrung verwandelte alle, die sie betrieben. Sie formte eine Gemeinschaft, die teilhatte am Heil, durch Heiligenverehrung selbst geheiligt wurde. Dynamisch wirkte diese Heiligenverehrung, insofern sie mehrere, vordem vereinzelte Kultgemeinschaften zu einer allumfassenden Gemeinschaft zusammenführte und diese allumfassende Gemeinschaft mit dem politischen Gemeinwesen des Fürstbistums Paderborn zur Deckung brachte.44 Das Heilige war also nichts Exklusives oder Unverfügbares. Ganz im Gegenteil sollte es so weit wie möglich ausgestreut und zugänglich gemacht werden. Die barocken Kirchenfassaden und die Mitmachfrömmigkeit der Prozessionen dienten als Einrichtungen (oder Medien), um die Teilhabe am Heiligen zu ermöglichen. Das war insofern politisch, als es das Gemeinwesen nach den Verwerfungen des Dreißigjährigen Kriegs über eine neue Gemeinschaftsaufgabe konsolidierte und dem Fürstbischof innerhalb der politischen Ordnung eine herausgehobene Stellung verschaffte. Man kann von einer doppelten Heiligung sprechen: sowohl des Gemeinwesens als Ganzem, wie der fürstbischöflichen Herrschaft, indem beide sich der Heiligenverehrung widmeten.
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Beispiele bei Werner Freitag, Berühren, Bekleiden, Niederknien. ›Wunderthätige Gnadenbilder‹ im Zeitalter der Konfessionalisierung, in: Barbara Stollberg-Rilinger/Thomas Weißbrich (Hg.), Die Bildlichkeit symbolischer Akte, Münster 2010, 199–221. Judi D. Loach, The Consecration of the Civic Realm, in: Andrew Spicer/Sarah Hamilton (Hg.), Defining the Holy. Sacred Space in Medieval and Early Modern Europe, Aldershot 2008, 277–300.
Johannes Süßmann: Gebaute Heiligung
Exklusiv war diese Gemeinschaft trotzdem, weil sie Protestanten und Juden ausschloss. Mit der Heiligenverehrung machte man ein Merkmal zur Gemeinschaftsaufgabe, das die Katholiken signifikant von Andersgläubigen unterschied. Insofern diente die neue Gemeinschaftsbildung auch der sozialen Ausgrenzung entlang von religiös-konfessionellen Trennlinien. Wo aber bleibt hier der zweite Pol, der nach Ansicht der Paderborner Forschungsgruppe das Phänomen des Heiligen konstituiert?45 Wo bleibt das Unverfügbare? Es bildet die heimliche Pointe. Denn was sollte die Heiligung anderes bewirken, als das vorlängst bereits aufgehobene, bis in die Grundfesten erschütterte Fürstbistum Paderborn unantastbar zu machen! Die (Selbst-)Heiligung durch Heiligenverehrung lief darauf hinaus, dieses Gemeinwesen unter transzendenten Schutz zu stellen. Wer immer ein derartig geheiligtes Gemeinwesen angriffe, beginge einen unverzeihlichen Frevel. Er lüde Schuld vor einer höheren Instanz auf sich als vor dem Kaiser, dem Reichskammergericht oder der Garantiemacht Frankreich. Er erwiese sich als jemand, dem nichts heilig ist. Geht es zu weit, dies als eine Neugründung des Fürstbistums Paderborn nach dem Dreißigjährigen Krieg zu deuten? Mit der umfassenden Widmung der Bischofsherrschaft an die Heiligen nahm sie zugleich die Unverfügbarkeit des Heiligen politisch in den Dienst. Was für ein Beweis für die heuristische Fruchtbarkeit des Modells! Es bringt eine Dimension der Barockisierung Paderborns ans Licht, die von der Forschung bislang nicht gesehen worden ist.
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Vgl. den Beitrag von Norbert Otto Eke und Jochen Schmidt, Das Heilige – Versuch einer Definition in diesem Band.
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Unzuverlässigkeit und Unverfügbarkeit in der Gegenwartsliteratur Benjamin Steins Poetik des Un-Zuverlässigen Ludmila Peters
1. Hinführung »Irgendwas an meinen Erzählern ist definitiv fragwürdig«1 – die Problematik seiner Erzähler ist Benjamin Stein, dem Autor der bislang publizierten Romane Das Alphabet des Juda Liva (1995),2 Die Leinwand (2010)3 und Replay (2012)4 explizit bewusst. In all diesen Texten finden sich Ich-Erzähler, die in verschiedenen Situationen und Konstellationen in ihrem Erzählen eine Unzuverlässigkeit aufweisen, von der textexternen empirischen ›Realitäts‹-Konzeption abweichende Weltentwürfe vorlegen sowie religiöse Thematiken aufgreifen – und die dabei aufkommenden Widersprüche und Inkongruenzen nicht auflösen. Besonders in Steins vorletztem Roman, Die Leinwand, der sowohl mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet wurde als auch zahlreiche positive literaturkritische Besprechungen gefunden hat,5 findet sich eine Verflechtung und Interdependenz dieser Aspekte.
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Benjamin Stein, Blogeintrag (9. Mai 2012), in: turmsegler. URL: https://turmsegler.net/categ ory/das-alphabet-des-rabbi-loew/[letzter Zugriff: 29.01.2020]. Vgl. Benjamin Stein, Das Alphabet des Juda Liva, Zürich 1995. Eine überarbeitete Fassung wurde von Stein 2014 publiziert: Vgl. Benjamin Stein, Das Alphabet des Rabbi Löw, Berlin 2014. Vgl. Benjamin Stein, Die Leinwand, München 2010. Die hier verwendete Ausgabe ist: Benjamin Stein, Die Leinwand, München 2012; sie wird im laufenden Text mit der Sigle L sowie der Paginierung des Buches folgend mit Z oder W sowie Seitenzahl wiedergegeben. Vgl. Benjamin Stein, Replay, München 2012. Vgl. u.a. Ijoma Mangold, Religion ist kein Wunschkonzert, in: Zeit online (08.04.2010). URL: http://www.zeit.de/2010/15/Schriftsteller-Benjamin-Stein/komplettansicht; Jakob Hessing, Benjamin Stein und die göttliche Komödie, in: Welt online (04. 12.2010). URL: https://www. welt.de/print/die_welt/vermischtes/article11383042/Benjamin-Stein-und-die-goettliche-Ko moedie.html; Steffen Richter, »Wahrheit, wechsel dich«, in: Der Tagesspiegel (04.04.2010). URL: http://www.tagesspiegel.de/kultur/literatur/benjamin-stein-wahrheit-wechsel-dich/1 783156.html [letzter Zugriff insgesamt: 29.01.2023].
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Exemplarische Analysen
Dabei ist Die Leinwand auf verschiedenen Ebenen unkonventionell: Mit der Anlage als Flipbook und dem paratextuellen Hinweis einer empfohlenen individuellen Lesereihenfolge, die sogar die Wendung kapitelweise in den Raum stellt, finden sich die Leser*innen noch vor der eigentlichen Lektüre bereits mit einem Bruch der normalisierten, linearen Lesegewohnheit konfrontiert und als »gestaltende[] Mitautor[*innen]«6 angesprochen: Zwei Hauptwege und verschlungene Nebenpfade führen durch diesen Roman. Hinter jedem Umschlag befindet sich je ein möglicher Ausgangspunkt für das Geschehen. Es ist Ihnen oder auch dem Zufall überlassen, wo Sie zu lesen beginnen. Sie können der Erzählung bis zur Mitte des Buches folgen, es dann wenden und am anderen Ausgangspunkt weiterlesen. Um einem der Nebenpfade zu folgen, wenden Sie einfach nach jedem Kapitel das Buch und lesen Sie im anderen Strang weiter, wo Sie zuvor unterbrochen haben. Sie können sich jedoch auch Ihren ganz eigenen Weg suchen. (L W 4, L Z 4) Jeder Strang stellt eine Ich-Erzählung dar, für die die Fiktionalisierung des Literaturskandals um den ›Fall Wilkomirski’‹7 den Hintergrund bildet. Der Psychoanalytiker und Psychotherapeut Ammon Zichroni berichtet in autobiographischer, chronologischer Manier von seiner Kindheit im ultraorthodoxen Viertel Mea Shearim in Jerusalem, seiner schulischen, medizinischen und psychotherapeutischen Ausbildung bis hin zu seiner Begegnung mit dem Geigenbauer und (scheinbaren) Shoah-Überlebenden Minsky, dessen Erinnerungen an eine Kindheit im Konzentrationslager von einem Schweizer Schriftsteller und Journalisten, Jan Wechsler, nachrecherchiert und als Unwahrheit ›enttarnt‹ werden. Das Besondere an Zichroni ist die ›Gabe‹, Erinnerungen anderer Menschen sehen und bei Körperkontakt in diese eintauchen zu können. Zum Erzählzeitpunkt lebt Zichroni seit mehreren Jahren nach dem vom Skandal gefolgten Verlust seiner Approbation (in der Schweiz) in Israel und nimmt unter zufälligen Verkettungen Jan Wechsler als Gast auf, der sich allerdings nicht an seine frühere Identität erinnern kann, sondern stattdessen eine Biographie sein Eigen nennt, von der Zichroni weiß, dass sie eigentlich Wechslers
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Alessandro Costazza, Benjamin Steins Die Leinwand oder über die (Un-)Möglichkeit (auto-)biographischen Schreibens, in: Astrid Arndt/Christoph Deupmann/Lars Korten (Hg.), Logik der Prosa. Zur Poetizität ungebundener Rede, Göttingen 2001, 301–333, 306. Vgl. hierzu auch Silke Horstkotte, für die der Roman einen »im hohen Maße mündigen und selbstständige Entscheidungen treffenden Leser« erfordert. Silke Horstkotte, »Ich bin, woran ich mich erinnere.« Benjamin Steins Die Leinwand und der Fall Wilkomirski, in: Torben Fischer/Philipp Hammermeister/Sven Kramer (Hg.), Der Nationalsozialismus und die Shoah in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, New York/Amsterdam 2014, 115–132, 129. Vgl. hierzu Stefan Mächler, Der Fall Wilkomirski. Über die Wahrheit einer Biographie, Zürich 2000. Zur Verarbeitung dieses Skandals bei Benjamin Stein vgl. Costazza (Anm. 6).
Ludmila Peters: Benjamin Steins Poetik des Un-Zuverlässigen
Debütroman entstammt. In einer nächtlichen emotionalen Überreaktion drückt Zichroni, die ihn vor der intensiven Erinnerung anderer schützenden Handschuhe abstreifend, Wechslers Kopf unter das Wasser einer Mikwe, in der letzterer gerade ein rituelles Bad einnimmt – an dieser Stelle bricht die Erzählung von Zichroni ab. Der Großteil von Zichronis Erzählung entspricht dabei der Vergangenheitswiedergabe sowie den Reflexionen des erzählenden Ichs zu seiner ›Gabe‹ und seiner Weltwahrnehmung. Der Bericht über Minsky beginnt erst gegen Ende, Wechsler wird ausführlich auf den letzten zwanzig Seiten thematisiert. Der andere autodiegetische Erzähler ist ebendieser Jan Wechsler, der ein paar Monate nach den Ereignissen an der Mikwe von seiner Identitätsverunsicherung berichtet. Nach der Ankunft eines Koffers, der ihm zu gehören scheint, muss er sukzessive feststellen, dass sein Selbstbild als orthodoxer Jude und seine Erinnerungen an die ehemalige DDR (und die dort begonnene Religionssuche bis hin zur ›Konversion‹ nach orthodoxem Recht) Ergebnisse einer (fiktiven) Fiktionalisierung seines eigenen Romans sind. Denn eigentlich ist Jan Wechsler matrilinear jüdisch, in Israel geboren und mit seiner Mutter in die Schweiz ausgewandert. Wechslers Narration präsentiert eine Identitätssuche, bei der der Erzähler immer mehr an seinen Erinnerungen und seiner Identität zweifelt, sich erneut nach Israel begibt und dort unter Mordverdacht an eben jenem Zichroni gerät, dessen Verbleib seit dem besagten Mikwenbesuch unbekannt ist. Der Versuch, sich an die dortigen Ereignisse zu erinnern, wie auch der Erzählerbericht enden mit dem Sprung Wechslers in eine – jedoch leere – Mikwe. Soweit die komplexe diegetische Struktur des Romans, dazwischen finden sich Berichte über das Leben in ultraorthodoxen bzw. modern orthodoxen jüdischen Vierteln, die Behandlung einer Patientin, ›Erinnerungen‹ an das Leben in der DDR sowie Episoden über die jüdische Mystik, konkret die Kabbala. Die Leinwand entwirft fiktionsintern ein Bild von zwei sich konträr gegenüberstehenden Weltordnungen: Eine religiöse, ›verzauberte‹ Weltsicht, in der das Irrationale nicht ausgeschlossen, sondern konstitutiv ist; und eine ›gottleere‹, ›entzauberte‹, auf Wissenschaft, Technik, Rationalität basierende Ordnung, die alles Irrationale kategorisch ablehnt und in der dessen Auftauchen streng sanktioniert wird, so zumindest die Ansicht von Zichronis Onkel Nathan Bollag (vgl. L Z 77f.), dessen Meinung sich Zichroni anschließt. Diese überzeichneten und so als starr und dogmatisch daherkommenden fiktiven Ordnungen, d.i. die Beschreibung des ›Westens‹ durch Bollag und Zichroni sowie die Schilderung des ›Überwachungs‹-Viertels Mea Shearim werden von Zichroni und seinem Studienfreund Eli Rothestein als »Ideologien« empfunden, die »draußen in der Welt den Ton angeben« (L Z 78). Solche Weltentwürfe werden als in einem konfliktären epistemologischen Verhältnis stehend beschrieben, als zwei sich komplementär entgegengesetzte ontologische Ordnungen. So wird die eine Seite, die westliche, in der Fremdwahrnehmung Bollags und Zichronis, die doch ihr ge-
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samtes Leben in jüdisch orthodoxen Vierteln verbringen und sich nur beruflich bzw. kulturell in der ›westlichen Sphäre‹ aufhalten, als eine Erkenntnismaschinerie dargestellt, die auf einer universalen Wahrheit besteht: Nur halten sie leider ihre ausschnitthaften Vermessungen für eine Kartographisierung des Universums und bestehen darauf, ihre Theorien als verbürgte Wahrheit zu betrachten, solange nicht eine neue Theorie daherkommt, der es gelingt, sich zur nächsten verbürgten Wahrheit aufzuschwingen. (L Z 60) Perfide daran ist nicht, dass sie anderer Ansicht sind. Perfide ist, dass sie fortwährend den Versuch machen, ihre kleine Erkenntnis als Wahrheit in den Schaukasten zu stellen. (L Z 61) Die eigene Weltordnung erscheint hingegen, was den epistemologischen Status anbelangt, als eine der (scheinbar) radikalen Subjektivität bzw. Kulturrelativität: Aber es gibt diese Wahrheit nicht. Sie ist in niemandes Besitz. Wir alle halten nur Bruchstücke davon in den Händen. Und weil wir nicht wissen, was wahr ist, müssen wir uns entscheiden, was für uns zählt. Und ob etwas zählt oder nicht, das hängt nicht von Messungen und Urkunden ab. Es wird auf anderen Waagen gewogen: Sinn gegen Leere beispielsweise, oder die Idee eines ewigen Willens außerhalb von uns gegen das blanke Nichts. (L Z 61) Mit den Polen radikaler Subjektivität von Wirklichkeitskonstruktionen und der Universalität bestimmter Wahrheitssetzungen macht der Roman eine dialektische Spannung dieser im Grunde unvereinbaren Positionen fruchtbar, gleichzeitig sabotiert er beide Positionen, indem Minskys Untergang einer stark voreingenommenen Verurteilung der säkularisierten Ordnung angerechnet wird (vgl. L Z 178); die dogmatische orthodoxe Position hingegen wird u.a. durch die Schilderungen um den Freund Eli Rothstein hinterfragt (vgl. L Z 86). Damit erfüllen die Nebenfiguren eine korrigierende und relativierende Funktion gegenüber den ›starren‹ Weltordnungen. Die Abhängigkeit der Darstellung der beiden Weltentwürfe von einer derart herausstechenden subjektiven Wahrnehmung wirft dabei unvermittelt die Frage nach der Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit dieser Perspektiven auf.
2. Die Frage nach dem unzuverlässigen Erzählen Mit Zichroni und Wechsler findet man dabei zwei Erzähler, die offensichtlich hochgradig unzuverlässig sind: Wechsler lebt eine falsche Identität und Zichronis Narration über die Minsky-Affäre bis zum Wechsler-Bericht kann nur als elliptisch bezeichnet werden, vor allem, wenn man hinzunimmt, dass er seinen Bericht an der
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Mikwe abbricht und relevante Informationen, die auch seine Glaubwürdigkeit betreffen, unterschlägt. Seit der ersten Erwähnung einer narratologischen Kategorie der unreliable narration im Jahr 1961 von Wayne C. Booth hält die Diskussion über diesen Begriff, die mit ihm verbundenen theoretischen Implikationen, die Analysekriterien sowie mögliche Klassifizierungen bis heute an.8 Einigkeit besteht hingegen darüber, dass der unzuverlässige Erzähler fiktional ist, die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit als eine Interpretationsstrategie verstanden wird und Ich-Erzähler als Prototypen für unzuverlässiges Erzählen angesehen werden (ohne es sein zu müssen);9 daneben wurden mittlerweile differenzierte Analyseinstrumentarien für die Identifizierung und Beschreibung der Arten von Unzuverlässigkeit sowie der textinternen und -externen Signale unzuverlässigen Erzählens entwickelt.10 Für den hier vorliegenden Kontext ist besonders die Frage der Interpretationsstrategien von Interesse. Bereits 1981 hat Tamar Yacobi festgestellt, dass Leser*innen fünf verschiedene Deutungsoptionen (»(1) the genetic; (2) the generic; (3) the existential; (4) the functional; (5) the perspectival«) nutzen, um Widersprüche, Inkongruenzen und Bezugsprobleme, auf die sie bei der Lektüre stoßen, aufzulösen.11 Die Deutung der Narration als unzuverlässig ist demnach nur eine Möglichkeit unter anderen, solche Unstimmigkeiten zu erklären und erfordert eine genaue Analyse – sowohl des Textes als auch seines historischen, kulturellen und pragmatischen Kontextes. Darüber hinaus führt die Frage nach Widersprüchen direkt zu der nach dem Bezugssystem, vor dem gerade nun die eine oder andere Aussage des Erzählers unzuverlässig
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Vgl. zu der Problematik einer notwendigen Differenzierung des Begriffs ›unreliable narration‹ die Bandbreite an Beiträgen in: Fabienne Liptay/Yvonne Wolf (Hg.), Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film, München 2005; Ansgar Nünning (Hg.), Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur, Trier 2 2013; die Themenhefte des Journal of Literary Theory 5 (2011), H. 1 und 12 (2018), H. 1. Ein Überblick über die Forschungsdiskussion, die (berechtigte) Kritik am anthropomorphen Konzept des implied author sowie die sich mittlerweile herausgebildeten Forschungsströmungen geben Monika Fludernik (Unreliability vs. Discordance. Kritische Betrachtungen zum literaturwissenschaftlichen Konzept der erzählerischen Unzuverlässigkeit, in: Liptay/Wolf (Hg.) (Anm. 8), 39–59), Ansgar Nünning (Unreliable Narration zur Einführung. Grundzüge einer kognitiv-narratologischen Theorie und Analyse unglaubwürdigen Erzählens, in: ders. (Hg.) (Anm. 8), 3–40) und Vera Nünning (Unreliable narration als Schlüsselkonzept und Testfall für neue Entwicklungen der postklassischen Narratologie. Ansätze, Erklärungen und Desiderata, in: Germanisch-romanische Monatsschrift 63 (2013), H. 1, 135–160). Vgl. hierzu ebd. Vgl. Nünning, Unreliable Narration zur Einführung (Anm. 8), 27f. Tamar Yacobi, Fictional Reliability as a Communicative Problem, in: Poetics Today 2 (1981), H. 2, 113–126, 114.
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sein soll. Ansgar Nünning hat bereits in den 1990er Jahren auf das Problem hingewiesen, dass in der Forschung zu Unzuverlässigkeit dieses Bezugssystem unreflektiert an eine empirische und als ›normal‹ verstandene Weltwahrnehmung angebunden wird.12 Dabei reiche es nicht aus zu konstatieren, dass die »zentrale epistemologische Prämisse […] in dem Glauben an die Möglichkeit [besteht], daß ein Subjekt dazu fähig ist, etwas objektiv zu erkennen und ein Geschehen wahrheitsgetreu wiederzugeben« oder man »stillschweigend von einem als selbstverständlich vorausgesetzten Normalitätsbegriff [ausgeht], der im gesunden Menschenverstand gründet.«13 In der Diskussion um unzuverlässiges Erzählen muss daher mitbedacht werden, dass objektive, ›wahre‹ Bezugsgrößen außerhalb des Textes nicht existieren: Es also keine ›Wahrheit‹ (des impliziten Autors, aber auch der textexternen Leser*innen) oder Objektivität unabhängig von Epistemen gibt.14 Vielmehr führen diskursive Bedeutungsproduktions- und Konstruktionsprozesse und ihre ›Verhärtung‹ (Laclau/Mouffe) zur Etablierung von scheinbar universalen Wahrheiten – zur »Produktion von Realität«.15 Damit wird aber auch die Feststellung der ›Glaubwürdigkeit‹ bzw. ›Zuverlässigkeit‹ als Abgrenzungsanker in Bezug auf eine textexterne ›Realität‹ für unreliable narration problematisch und bringt die Frage nach Unzuverlässigkeit in die Nähe der Frage nach dem Phantastischen, auf die an späterer Stelle eingegangen wird. Unzuverlässigkeit wird literarischen Narrationen anhand von drei Aspekten zugeschrieben: Die Narration ist nicht zuverlässig in Bezug auf (empirisch verstandene) Fakten/Ereignisse/Sachverhalte, hinsichtlich eines ethisch-moralischen Wertemaßstabs (der auf den impliziten Autor, den Gesamttext bzw. die realen Lesenden
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Vgl. Nünning, Unreliable Narration zur Einführung (Anm. 8), 21f. Ebd., 21. »Die fundamentalen Codes einer Kultur, die ihre Sprache, ihre Wahrnehmungsschemata, ihren Austausch, ihre Techniken, ihre Werte, die Hierarchie ihrer Praktiken beherrschen, fixieren gleich zu Anfang für jeden Menschen die empirischen Ordnungen, mit denen er zu tun haben und in denen er sich wiederfinden wird.« Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M. 22 2012, 22. Joscha Wullweber, Konturen eines politischen Analyserahmens. Hegemonie – Diskurs – Antagonismus, in: ders./Iris Dzudzek/Caren Kunze (Hg.), Diskurs und Hegemonie. Gesellschaftskritische Perspektiven, Bielefeld 2012, 29–58, 44. Zur gesellschaftspolitischen Diskurstheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe vgl. dies., Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, 4., durchges. Aufl., Wien 2012; Ernesto Laclau, Was haben leere Signifikanten mit Politik zu tun?, in: ders. (Hg.), Emanzipation und Differenz. Aus dem Engl. von Oliver Marchart. Unver. Nachdr. der Ausg. von 2002, Wien 2002, 65–78. Eine diskurstheoretische Analyse der Religionsdarstellung in der Gegenwartsliteratur u.a. am Beispiel von Die Leinwand findet sich in Ludmila Peters, Religion als diskursive Formation. Die Darstellung von Religion in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Bielefeld 2020. Dieser Beitrag führt einzelne, dort aufgeführte Überlegungen weiter aus.
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referiert) sowie schließlich bezüglich der erzählperspektivisch gebundenen, fehlenden ›Objektivität‹.16 Blickt man auf Jan Wechsler, so treffen hier nun unterschiedliche Dinge zu: Geht man von einem rational-szientistischen Weltbild als Bezugsrahmen sowie einer westlich (da der Roman auf Deutsch in Deutschland erschienen ist) »normalisierten«17 moralisch-ethischen Position aus (wie dies in der gegenwärtigen Forschung zur Unzuverlässigkeit der Fall ist), findet sich mit Jan Wechsler ein eminent unzuverlässiger Erzähler, der bereits zu Beginn seiner Erzählung klarmacht, dass seinen Erinnerungen bzw. seiner Vorstellung von ›Realität‹ nicht zu trauen ist: »Niemand wüsste besser als ich, dass die Grenze zwischen Realität und Fiktion in jeder Erzählung mäandernd inmitten der Sprache verläuft, getarnt, unfassbar – und beweglich« (L W 14). Die Lesenden werden später feststellen, dass die von ihm berichteten Erinnerungen falsch sind, er sich an einem gewissen Punkt eine falsche Identität angeeignet und dies ›vergessen‹ hat: Bis zum Schluss klärt der Text nicht auf, warum dieser Identitätswechsel überhaupt vollzogen wurde, was genau bei dem Tauchbad zwischen ihm und Zichroni vorgefallen ist, warum er sich nicht daran erinnern konnte und wo sich Zichroni befindet. Ja, man fragt sich, wer hier eigentlich berichtet, denn seine Narration endet mit einem Sprung in eine leere Mikwe. Die Leser*innen folgen Wechsler bei dessen Versuch, für sich die Widersprüche zwischen den ihn umgebenden Ereignissen und Fakten (Ausweis, Publikationen, persönliches Erkennen durch Verleger) und seinen Erinnerungen in Einklang zu bringen. Einerseits liegen hier bewusste Falschinformationen vor, die mit einem bewusst getäuschten Identitätswechsel einhergehen. Allerdings wird den Lesenden schnell klar, dass Wechslers Narration von Beginn an problematisiert werden sollte. Dazu zählen die zahlreichen Beteuerungen, sich an etwas nicht erinnern zu können, die Lüge gegenüber seiner Frau über den Koffer u.a.18 sowie die Information, dass diese daran gewöhnt ist, ihm falsche Erinnerungen und Aussagen als ›literarische Irrtümer‹ nachzuweisen (L W 26f.). Während er allerdings sowohl die falschen Erinnerungen als auch die unterschiedlichen Perspektiven der beiden Ehepartner 16
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Vgl. Fludernik (Anm. 8), 39f. In diesem Zusammenhang hat Dorrit Cohn eine Unterscheidung zwischen »unreliability« (Unzuverlässigkeit) und »discordance« (Unglaubwürdigkeit) vorgeschlagen (Dorrit Cohn, Discordant Narration, in: Style 34 (2000), H. 2, 307–316, 307). Damit wird die Einteilung in die Fakten-Ebene und die des Wertemaßstabs und der Objektivität weiter ausdifferenziert. Von besonderer Bedeutung sind Cohns Überlegungen laut Fludernik vor allem für heterodiegetisches Erzählen, weswegen in diesem Beitrag auf eine analytische Differenzierung zwischen den beiden Begriffen verzichtet bzw. vorzugsweise von verschiedenen Arten der Unzuverlässigkeit gesprochen wird. Vgl. Fludernik (Anm. 8), 45. Jürgen Link, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, 2., aktualisierte und erw. Aufl., Opladen 1999. Vgl. für die Textsignale von Wechsler bereits Costazza (Anm. 6).
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auf die Welt im späteren Verlauf reflektiert, hinterfragt er bis zum Schluss sein moralisch-ethisches Wertesystem nicht. Er empfindet das Verhalten des früheren Jan Wechsler als ›polemisch‹ und ›zerstörerisch‹ (vgl. L W 45f.), reflektiert aber nicht, dass die Lügen seiner Frau gegenüber, an die er sich erinnern kann, nicht minder problematisch sind; er bereut es sogar, ihr die Wahrheit gesagt zu haben; auch die Begründung der Israelreise differiert zwischen der ›eigentlichen‹, der für die Frau und der für die Freunde. Für die Lesenden ist so stets nicht nur eine Unzuverlässigkeit auf der Fakten- und Perspektivebene zu erkennen, sondern auch in Bezug auf seinen ethisch-moralischen Kompass. Dies bestätigt sich noch, wenn Jan Wechsler in Zichronis Narration – allerdings voreingenommen – als rachsüchtig und neidisch beschrieben wird (vgl. L Z 183f.) Zichronis Narration hingegen erweckt zu Beginn gerade den gegenteiligen Eindruck. Explizit weist er darauf hin, dass Erinnerungen nicht nur die Identität eines Menschen ausmachen, sondern dass sie im Grunde auch nie greifbar sind, weil sie sich permanent durch den Erinnerungsprozess verändern (vgl. L Z 7f.). Gleichzeitig berichtet er von seiner Gabe, Erinnerung anderer mit allen Sinnen wahrnehmen zu können. Im Verlauf seiner Erzählung wird allerdings schnell deutlich, dass seine Wahrnehmung nicht so differenziert ist, wie sie zu Beginn erschien: Menschen, die nicht observant leben, bzw. vor allem dem ›Westen‹ im Allgemeinen begegnet er mit einem negativen, stereotyphaften Feindbild, das ihn seit seiner Erziehung begleitet und von ihm nicht kritisch hinterfragt wird. Vielmehr sieht Zichroni die weltanschaulichen Strukturen des ›Westens‹ nach den Vorfällen um Minsky als (vereinfachtes) Erklärungsmodell für dessen und sein eigenes Scheitern, ohne den Fehler kritisch und reflektiert u.a. bei sich selbst und Minsky zu suchen. Am schwerwiegendsten wird Zichronis Glaubwürdigkeit allerdings beschädigt, wenn er explizit beschreibt, dass er alle sinnlichen Aspekte einer fremden Erinnerung genau wahrnehmen kann, wie sie zu dem Zeitpunkt des Ereignisses erlebt wurden, ja mit der erinnernden Person verschmelzen kann, wenn er mit dieser in Hautkontakt tritt (vgl. L Z 134). Als »reiner Beobachter« (L Z 124) mit Blickkontakt kann er hingegen nur die Erinnerungen anderer wahrnehmen, ohne sich selbst in den Personen zu verlieren. Zu Beginn seines Berichts hat er allerdings zum Status von Erinnerungen genau das Gegenteil behauptet: Erinnerung aber ist unbeständig, stets bereit, sich zu wandeln. Mit jedem Erinnern formen wir um, filtern, trennen und verbinden, fügen hinzu, sparen aus und ersetzen so im Laufe der Zeit das Ursprüngliche nach und nach durch die Erinnerung an die Erinnerung. Wer wollte da noch sagen, was wirklich geschehen ist? (L Z 7f.) Auch die tatsächliche Beschreibung wahrgenommener Erinnerung und die Reaktion Zichronis darauf sind inkongruent: So berichtet Minsky, dass die »Blockowa«,
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die KZ-Aufseherin, Lederstiefel und eine Gerte (vgl. L Z 174f.) getragen habe; Zichroni ›sieht‹ allerdings Gummistiefel und einen Stock/eine Rute. Dieser Widerspruch wird von Zichroni allerdings nicht thematisiert (vgl. L Z 174f), was zu der Frage führt, wie diese Gabe bzw. Zichronis Umgang damit einzuschätzen sind. Ist sie als unsicheres bzw. verunsicherndes Moment einer rational-empirischen Wirklichkeit zu lesen bzw. es stellt sich die Frage, wie mit Texten, die von diesem Weltbild abweichen und bspw. religiöse Themen und Motive aufweisen, umzugehen ist? Klassifizieren wir diese Texte ›automatisch‹ als dem Genre der Phantastik zugehörend, wie dies Silke Horstkotte für Die Leinwand vornimmt?19 Für die Lesenden, die den literarischen Text in ihren eigenen – wie auch immer gearteten – Wissenshorizont als Integrationsstrategie aufnehmen sollen, ergeben sich hieraus bereits Schwierigkeiten: Denn wie soll man eine Figur, hier Wechsler, einordnen, wenn ihre Vita innerhalb der fiktiven Welt bereits (fiktiv-)fiktionalisiert ist und dabei gleichzeitig die fiktionale Kommunikationsvereinbarung mit den realen Leser*innen überschritten wird, indem die Figur autobiographische Züge des realen Autors Stein enthält, und zwar sowohl in dem Romandebüt Wechslers als auch in der Figur des erzählenden Wechsler-Ichs der Erzählzeit.20 Die Leinwand hebt in dieser Figuren- und Erzählkonzeption die festgelegten, Ordnung und Orientierung stiftenden literarischen Kategorien auf, und lässt die Lesenden so in einem Status der permanenten Unsicherheit zurück. Als Leser*in ist man zu einer kritischen und vor allem vergleichenden Rezeption angehalten. Unterstützt wird diese Aktivierung auch durch die Flipbook-Anlage, die dem einen Standpunkt einen anderen entgegensetzt. Darüber hinaus wirft der Text aber auch die grundsätzliche Frage nach der Möglichkeit und den Kriterien von Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit auf: Wessen Position ist die richtige, die ›wahre‹ – gibt es diese überhaupt? Durchgespielt werden diese Unklarheiten anhand der Fragen nach der Zuverlässigkeit, der Erinnerung, der Identität und der nach der Verfügbarkeit von ›Wahrheit‹, die hier an die Dichotomien von real/irreal, rational/irrational gebunden ist und an dem Thema ›Religion‹ durchgespielt wird. Welchen Status kann man religiösen Motiven und Themen aus narratologischer Perspektive zusprechen, wenn es um unzuverlässiges Erzählen geht und das Bezugssystem i.d.R. als ein dem textexternen, rational-empirischen vergleichbar gesehen wird? Die Forderung, »religiöse Zugehörigkeit […] ebenfalls als Faktor[] einzubeziehen, [der] für die Beurteilung der (Un-)Glaubwürdigkeit von Erzählinstanzen«21 relevant ist, hat Vera Nünning explizit aufgeworfen. Die Analyse der Leinwand führt allerdings noch zu weiteren Fragen: Wie verhält es sich mit der
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Vgl. Horstkotte (Anm. 6), 129. Vgl. hierzu auch Costazza (Anm. 6), der die autobiographischen Aspekte in der Leinwand diskutiert. Nünning, Unreliable narration als Schlüsselkonzept (Anm. 8), 159.
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Frage nach der (Un-)Zuverlässigkeit von Erzählern, wenn das Unzuverlässige auf Phänomenen beruht, die man mit dem Genre der Phantastik assoziiert und die sich zusätzlich auf ›Religion‹ beziehen, die nicht einfach unter Phantastik subsumiert werden kann?
3. Phantastik und ›Religion‹ Bezeichnenderweise finden sich die oben angeführten Punkte größtenteils als ebenso problematische in der Phantastikforschung wieder. Monika Schmitz-Emans fasst zusammen, dass in den letzten Jahren eine ›naive‹ Annahme von einer textexternen, empirischen Realität als Gegenbegriff des Phantastischen für obsolet erklärt wurde. Gegenwärtig changieren die Forschungspositionen zwischen einem ausschließlichen Bezug auf die fiktiv entworfenen Welten (und deren implizite, aber nichtsdestotrotz fiktive Gegenentwürfe) und einem kritisch gelesenen Verständnis von Realitätskonzepten (hier wäre Schmitz-Emans selbst anzusiedeln).22 Fundamentaler sieht sie die definitorische Schwierigkeit in einem »Grundkonflikt zwischen Beschreibungssprache und Beschriebenem«,23 der zwar für andere literarische Erscheinungsweisen ebenfalls gelte, aber gerade in der Phantastik neben dem Gegenstand auch auf den Erklärbarkeitsanspruch ziele, der wiederum in der rezeptionsästhetisch begründeten Verunsicherung sein Fundament findet: »Begründungsmodelle konfligieren miteinander – was aber bedeutet, dass Beschreibungssprachen für Dargestelltes selbst zur Disposition stehen.«24 Mit welchen Begriffen kann man also über Phänomene des Phantastischen sprechen, wenn die Begriffe selbst ein bestimmtes Theoriedesign implizieren? Genau diese Frage wirft auch Die Leinwand auf. Wie kann man über Erinnerungen sprechen, wenn das, was erlebt wurde, mit der vorhandenen Kommunikationsweise nicht kommunizierbar ist; wie über die Erfahrung vom Einbruch des Fingierten in die faktisch angenommene Identität; wie über den Einbruch eines ›Wunderbaren‹, nämlich Zichronis Gabe oder die Heilung Rothensteins, in die ›Realität‹? Soll
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Vgl. Monika Schmitz-Emans, Phantastische Literatur. Eine Herausforderung für die Literaturtheorie, in: Klaus Schenk/Ingold Zeisberger (Hg.), Fremde Räume. Interkulturalität und Semiotik des Phantastischen, Würzburg 2017, 13–30, 14–16. Zu aktuellen Diskussion um das Phantastische in der Literatur vgl. auch: Clemens Ruthner/Ursula Reber/Markus May (Hg.), Nach Todorov, Beiträge zu einer Definition des Phantastischen in der Literatur, Tübingen 2006; Renate Lachmann, Erzählte Phantastik. Zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte, Frankfurt a.M. 2002, sowie als Überblick Hans Richard Brittnacher (Hg.), Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2013. Schmitz-Emans (Anm. 22), 17. Ebd.
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man hier von einem »Ärgernis, eine[m] Riß, eine[m] befremdenden, fast unerträglichen Einbruch in die wirkliche Welt«25 – also etwas Phantastischem, das man damit benannt und kategorisiert hat, sprechen? Analytisch sind hier gleich drei Fragen evident, die nicht genau geklärt sind: Für wen stellt der Einbruch einen Riss dar? Warum ist das überhaupt ein Einbruch? Was ist die wirkliche Welt? Auf die Leser*innenwirkung zielt auch der Ansatz von Tzvetan Todorov, der das Phantastische an der Grenze zweier Ordnungen, in der Unentscheidbarkeit ansiedelt: »Das Fantastische liegt im Moment dieser Ungewißheit; sobald man sich für die eine oder andere Antwort entscheidet, verläßt man das Fantastische und tritt in ein benachbartes Genre ein, in das des Unheimlichen oder das des Wunderbaren.«26 Hieran anknüpfend kann die ›Unschlüssigkeit‹ (hésitation) rezeptionsästhetisch ein Ergebnis bzw. wirkungsästhetischer Effekt einer Erzähltechnik sein, die […] Unsicherheiten und Ambivalenzen im Leser systematisch hervorruft und bewirkt, dass dieser sich über die Einordnung der dargestellten Phänomene im Unklaren ist, da letztere in der innerfiktiven Wirklichkeitskonstruktion nicht aufgehen.27 Ein erzähltechnischer Effekt kann dabei das unzuverlässige Erzählen sein;28 ein anderer sich entziehende Gattungsmischungen, das Spiel mit Lektüre-Erwartungen; vor allem aber hebt Simonis die »Markierung der Grenzüberschreitung zwischen der innerfiktiven Dimension des Realen (oder Realitätsnahen) und des Phantastischen« als gattungskonstitutiv hervor.29 25 26 27 28
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Roger Caillois, Das Bild des Phantastischen. Vom Märchen bis zur Science-Fiction, in: Phaicon I (1974), 44–83, 45. Tzvetan Todorov, Einführung in die fantastische Literatur, Berlin 2013 [franz. OA 1970], 34. Annette Simonis, Grenzüberschreitungen in der phantastischen Literatur. Einführung in die Theorie und Geschichte eines narrativen Genres, Heidelberg 2005, 46. Der Hinweis hierzu bereits bei Durst: »Insofern der Erzähler traditionell eine Instanz der Objektivität darstellt, die die Ereignisse der erzählten Welt garantiert, bildet seine Zerrüttung die inszenatorische Grundlage der phantastischen Literatur, weil sich nur auf diesem Weg eine Destabilisierung des Dargestellten erzielen lässt.« Uwe Durst, Theorie der phantastischen Literatur, Berlin u.a. 2 2007, 158. Vgl. ebd. Allerdings ist die theoretische Fundierung dieser These basierend auf den Passagenriten van Genneps und dem Ritualkonzept Turners zu breit, um Grenzüberschreitungen als gattungskonstitutiv zu sehen. Zur Frage des ›Realitätsbegriffs‹ vgl. Marianne Wünsch, Die fantastische Literatur der frühen Moderne (1890–1930). Definition, denkgeschichtlicher Kontext, Strukturen, München 1998, 19–24. Entgegen anachronistischer Gebrauchsweisen hebt Wünsch hervor, dass der »›Realitätsbegriff‹ […] jedenfalls die ›Historizitätsvariable‹ [ist], die in die Definition des Fantastischen bzw. als Basis der Unterscheidung zweier Klassen literarischer Formen eingeführt werden muß, um ihre Anwendbarkeit für beliebige Epochen zu ermöglichen: denn von ihm hängt es offenbar entscheidend ab, ob ein Phänomen unter die ›mimetischen‹ oder die nicht-›mimetischen‹, insbesondere eben die fantastischen Strukturen fällt.« Ebd., 18.
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In der Leinwand finden sich fiktionsintern die Entwürfe zweier Weltordnungen, die in überzeichneter Manier als dogmatische Versionen säkularer und religiöser Welten verstanden werden können und die an die fiktionsexterne, westlich-europäische ›Realität‹ anschließen. Das Phantastische dieses Textes wäre laut Horstkotte das Wunder der Gabe Zichronis und die Heilung in der Mikwe sowie die Ungewissheit über den Ausgang der Ereignisse an diesem Ort.30 Dabei gehört gerade die Rezeption religiöser Aspekte (Themen, Motive, Texte, Symbole etc.) zum grundlegenden Repertoire von phantastischen Texten, das Phantastische (im weitesten Sinne) »rezipiert Religiöses nicht nur, es besitzt selbst religiöse Strukturen in Aspekten seiner Wirklichkeitserfassung«.31 Ausgehend von einem auf Mircea Eliade zurückgehenden Verständnis des Heiligen, verweist Frenschkowski darauf, dass die »verschiedenen Genres des Phantastisch-Imaginativen […] als Ausdruck verschiedener Aspekte des ›Heiligen‹ gedeutet werden [können], das sich im Profanen verhüllt« bzw. als »Ausdruck einer verschleierte[n] Revitalisierung archaisch-magischer u.a. religiöser Diskurse bzw. als Kompensation einer Desakralisierung«.32 Die Leinwand kann jedoch nicht als ein Text gelesen werden, dessen phantastischer Charakter sich ›nur‹ aus der ›Religion‹ ergibt, da die besagte ›Unschlüssigkeit‹ und die Grenzüberschreitungen weitere existenzielle, nicht an ›Religion‹ gebundene Fragekomplexe aufmachen, wie den der Erinnerung, der Identität, der Möglichkeit von ›Wahrheit‹. Am Beispiel der Erinnerung wird bspw. die Konstruktion von Vergangenheit durch einen Akt der Grenzüberschreitung bzw. des Grenzganges aufgezeigt. Sowohl Zichroni, Minsky als auch Wechsler sind in dieser Hinsicht Grenzgänger.33 In ihren Versuchen, sich einer Vergangenheit zu nähern, zu versichern, überschreiten sie die Grenzen dessen, was als erinnerungsmöglich gesetzt ist, auf ganz unterschiedliche Weise: religiös bzw. naturwissenschaftlich (Zichroni), epistemologisch (Wechsler) und erinnerungsdiskursiv bzw. -normativ (Minsky). In allen drei Fällen wird das Erinnern dabei als identitätsstiftender, grenzüberschreitender Akt einer Schwelle markiert, bei der nicht eine Linie überquert wird, sondern man sich gerade auf dem Streifen der Erinnerung bewegt, der sich als Wechselverhältnis von Gegenwärtigem und Vergangenem konstituiert. Im performativen Akt des Erinnerns wird die unverfügbare Vergangenheit als ein sich stets aktualisierendes Vergangenheitskonzept zugänglich, das gleichzeitig an weitere liminale Setzungsprozesse gebunden ist und weitere Überschreitungsformen und deren Sanktionen 30 31
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Vgl. Horstkotte (Anm. 6), 128. Marco Frenschkowski, Phantastik und Religion, in: Brittnacher (Hg.) (Anm. 22), 551–563, 554. Vgl. ausführlicher ders., Ist Phantastik postreligiös? Religionswissenschaftliche Beiträge zu einer Theorie des Phantastischen, in: Ruthner/Reber/May (Hg.) (Anm. 22), 31–51. Frenschkowski, Phantastik und Religion (Anm. 31), 556. Vgl. hierzu Dirk Hohnsträter, Im Zwischenraum. Ein Lob des Grenzgängers, in: Claudia Benthien/Irmela Marei Krüger-Fürhoff (Hg.), Über Grenzen. Limitation und Transgression in Literatur und Ästhetik, Stuttgart/Weimar 1999, 231–244.
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– wie im Fall Minskys und Wechslers gezeigt wird – folgen lässt. Die Leinwand inszeniert Erinnern dabei als einen Grenzüberschreitungsakt verschiedener Wirklichkeitskonstruktionen, gleichzeitig löst sie diese Liminalität im unzuverlässigen Erzählen nicht auf, sondern nutzt die »ethische und ästhetische Dimension«34 des Grenzstreifens, um die hier aufeinander treffenden, konfliktären Positionen für sich nicht nur ›spielerisch‹ sprechen zu lassen, sondern die Unmöglichkeit einer eindeutigen ›Wahrheit‹ als einerseits grundsätzlich unverfügbar, andererseits doch irgendwie zugänglich zu markieren.
4. Das ›Unverfügbare‹ als Analysestruktur Für die hier vorliegende Überlegung, wie ›Religion‹, Unzuverlässigkeit und Phantastik analytisch zusammenwirken, scheinen die Spannung und Ambivalenz der ›Unschlüssigkeit‹, als Effekte der erzählerischen Unsicherheit, sowie Grenzüberschreitungen (sowohl innerfiktiv als auch in Analogie textextern wahrgenommen) weiterführend zu sein. Bezeichnenderweise werden diese Spannungen gerade dann evident, wenn eine eindeutige Zuordnung nicht nur nicht getroffen werden kann, sondern vielmehr unverfügbar ist. In einem existenziellen Sinn werden diese verschiedenen Formen von Unverfügbarkeiten hier nicht zufällig auf einer metaphysischen bzw. auch religiösen Ebene im Roman thematisiert. Unverfügbar sind in Die Leinwand zahlreiche Aspekte: ›wahre‹ Erinnerung, überhaupt ›Wahrheit‹ bzw. erzählerische Zuverlässigkeit, der Zugriff auf die ›Identität‹ einer anderen Person, mystische Erfahrung. Der Begriff der ›Unverfügbarkeit‹ wird häufig im Kontext aktueller, religiös oder ethisch ausgerichteter Forschungsdiskussionen, bspw. in Bezug auf die Menschenrechte, die Würde des Menschen und generell biopolitische Fragestellungen, verwendet.35 Jochen Schmidt geht hier von vier »Figurationen« der Verwendung von Unverfügbarkeit aus: Im ersten Fall sind dabei »Aspekte von Wirklichkeit« gemeint, die dem Menschen faktisch nicht verfügbar sind (bspw. Zugriff auf die Zukunft); im zweiten Fall geht es um die »Unverfügbarkeit der Daseinsbedingungen des Menschen«, also etwa um religiöse Positionen vom ›göttlichen Geschenk‹ des Lebens; drittens meint, dass man nicht über (den anderen) Menschen verfügen könne, über dessen Würde, und zuletzt kommt die metaphysische Position der Unverfügbarkeit Gottes.36
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Ebd., 242. Vgl. hierzu Jochen Schmidt, Kultur der Heiligkeit. Über theologische Rede vom Unverfügbaren in einem säkularen Zeitalter, in: ZThK 113 (2016), 279–290. Vgl. ebd., 280f.
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Exemplarische Analysen
Mit Schmidts Figurationen lassen sich die verschiedenen Ebenen von Unverfügbarkeit des Romans Die Leinwand analytisch näher fassen. Die Unverfügbarkeit einer ›wahren‹ Vergangenheit lässt sich über die szientistische Weltordnung als faktische Unverfügbarkeit verstehen. Diese Weltsicht wiederum wird im Roman als eine von zwei möglichen Daseinsordnungen des Menschen vorgestellt, von denen die andere religiös besetzt ist und die ›göttliche Gabe‹ Zichronis umfasst – diese ist also nicht jedem zugänglich, sondern verdankt sich einer religiös begründeten Position. Mit Rothsteins unerklärlicher Heilung und seiner mystischen Erfahrung in der Mikwe findet sich wiederum eine dritte Form der Unverfügbarkeit, nämlich die des metaphysischen Unverfügbaren als des ganz Anderen, dem Menschen als Menschen nicht direkt Zugänglichen. Schaut man sich diese drei Formen an, so wird deutlich, dass sie in dem Roman als Unverfügbarkeiten dargestellt werden, die einerseits als etwas dem Menschen und seiner Sphäre Entzogenes konzipiert sind, gleichzeitig aber durch bestimmte Formen der Verfügbarkeit bzw. Verfügbarmachung wieder in den Handlungszusammenhang der Figuren eingebunden sind: Die Unverfügbarkeit einer ›wahren‹ Erinnerung wird in jedem erinnerungskonstitutiven Akt evident, bei dem das Erinnerte sich immer wieder neu konstituiert. Die Gabe Zichronis entzieht sich in ihrem willkürlichen Vorhandensein direkt seiner Verfügungsgewalt: Er kann sie kontrollieren, ihr ›entkommen‹ jedoch nicht. Die metaphysische Unverfügbarkeit wird an der Figur Eli Rothstein evident bzw. in dessen unerklärlicher Heilung, in der das ganz Andere erfahrbar wird. Stehen diese Formen der Unverfügbarkeit mit bestimmten Vorstellungen von Welt in Zusammenhang, bezieht sich die übrige auf die Vorstellung vom Menschen und von der Unverfügbarkeit seines Status’ als Mensch. Es geht hier also einerseits darum, dass kein Mensch über einen anderen, aber auch kein Mensch über dessen Status als Mensch ungehindert verfügen kann. Auf der anderen Seite nimmt das Menschsein als solches einen Unverfügbarkeits-Charakter an. Diese doppelte Bewegung findet sich auch in Die Leinwand, und zwar in Bezug auf die individuelle Identität. Der Roman stellt Identität als aus Erinnerungen bestehend vor und verleiht damit identitätsstiftenden Erinnerungen einen strukturellen Charakter des Unverfügbaren, Unantastbaren. Die Bedeutung dieser Ab-Setzung wird in den als Verbrechen und Zerstörung eingeordneten Validationen der individuellen Erinnerungen von Minsky und Wechsler empfunden: Zichroni ist über sein Verbrechen an Wechsler, das mit einer Erinnerungsmanipulation zusammenhängen muss, entsetzt; sein Hass auf Wechsler wiederum entspringt gerade dessen Verletzung von Minskys identitätsstiftenden Erinnerungen; Wechsler selbst ist sich seiner Identität schmerzlich unsicher, nachdem ihm die Unwahrheit seiner Erinnerungen deutlich wird. Der Angriff bzw. die Auflösung der erinnerungskonstitutiven Identität eines Menschen wird so als ein Tabubruch präsentiert.
Ludmila Peters: Benjamin Steins Poetik des Un-Zuverlässigen
Diese verschiedenen Formationen des Unverfügbaren zeigen sich damit als Ergebnisse ihnen zugrunde liegender Grenzziehungs- und Semantisierungsprozesse; sie stehen demnach nicht als vom Menschen losgelöste Entitäten da, sondern sind über Prozesse der Verfügbarmachung an diese rückgebunden, ohne je vollkommen greifbar zu sein: Die Vergangenheit kann in ihrer Unverfügbarkeit als ontologische Entität erfahren werden, in dem man sich der Unzuverlässigkeit und des prozessualen Charakters seiner Erinnerung bewusst ist. Vor allem aber stellt Die Leinwand die individuelle Sicht auf die Welt und damit jedes menschliche Identitätsverständnis in den Status der Unverfügbarkeit und bindet dies zurück an die für jeden erfahrbaren Erinnerungen, die Menschen i.d.R. unabhängig ihrer ideologischen Position haben. Die aufgezählten Aspekte des Unverfügbaren – Erinnerung, Identität, ›Religion‹ – sind allerdings gerade nicht auf der inhaltlich-thematischen Ebene des Romans interessant, sondern auf der literarisch-ästhetischen. Sie erscheinen als unverfügbar, weil sie eine bestimmte Struktur aufweisen, die sich aus einer dialektischen Spannung des Wechselverhältnisses zwischen Unverfügbarkeit und Verfügbarmachung konstituiert, die sich in dem diesem Band zugrunde liegenden Strukturbegriff des ›Heiligen‹37 zeigt. Das für die Analyse Fruchtbare dieses Begriffs lässt sich darin erkennen, dass strukturelle Analogien verschiedener Kontexte, wie in diesem Beitrag, gebündelt werden können, ohne den Begriff religiös lesen zu müssen. Das narrativ-poetologische Verfahren des omnipräsenten unzuverlässigen Erzählens in der Leinwand stellt an verschiedenen ›Themen‹ deren Konstruktionscharakter über Prozesse der Festlegung und Grenzziehung aus: Anhand der immer wieder bemühten Interpretationsstrategie der Leser*innen, die vorgefundenen Widersprüche aufzulösen, ohne dies je abschließend tun zu können, zeigt der Roman einerseits textimmanent auf Figurationen des Unverfügbaren, die sowohl religiös als auch säkular mit dem Begriff des ›Heiligen‹ gelesen werden können, andererseits auf die prekäre dialektische Aushandlung dem Menschen entzogener und ihn doch konstituierender Wirkungsweisen, die im Roman über eine doppelte Metaisierung der Erinnerung umgesetzt ist. Damit lässt sich das unzuverlässige Erzählen in Die Leinwand nicht eindeutig über eine der verschiedenen Interpretationsstrategien auflösen, sondern hinterfragt sowohl die Unzuverlässigkeit der Erzähler als auch grundlegend die Verfügbarkeit von Zuverlässigkeit oder ›Wahrheit‹. Gleichzeitig wird dieses Verfahren unterstützt durch die Situierung im Genre des Phantastischen, für das die Frage nach Verfügbarkeit von ›Realität‹ konstitutiv ist und in dem deren Konstruktionscharakter gerade im Einbruch eines als unverfügbar Ausgegrenzten evident wird. Anschaulich wird diese doppelte Bewegung im Mikwen-Erlebnis Rothensteins. Die Mikwe bezeichnet »zunächst allgemein eine Ansammlung von Wasser, im Wei-
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Vgl. hierzu Schmidt/Eke in diesem Band.
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Exemplarische Analysen
teren ein Sammelbecken für Wasser, konkret ein jüdisches Ritualbad.«38 Durch ein vollständiges Untertauchen (der gesamte Körper mit Haaren muss von Wasser bedeckt sein) bei diesem »Ritualbad«, »Tauchbad« oder der »Tevila« im »lebendigen« Wasser soll eine Reinigung stattfinden. Neben auf rituell-spirituelle Reinheit bezogenen Anlässen gibt es die Tevila als »Reinigung von Sünde und Übertretung«, bei der das Tauchbad den »Entsühnungsvorgang« komplettiert; zudem beseitigt das »Untertauchen in der Mikwe einen trennenden Zustand«, der »Sünde von Reinheit, rituelle Unreinheit von ritueller Reinheit, Profanes von Heiligem [trennt], und er bedeutet letztlich auch die Trennung des Menschen von Gott.«39 Rothenstein widerfährt genau dies. Die Mikwe als heiliger Ort wie auch als Ort der Heil(ig)ung unterliegt einem klar gesetzten Verständnis von etwas ›Göttlichem‹, dem Menschen nicht Verfügbaren, was er an diesem Ort, in diesem Prozess aber doch wieder ›in Gebrauch nehmen‹ kann – eine Struktur der gleichzeitigen Präsenz und Absenz des Unverfügbaren. Und auch das unzuverlässige, phantastische Erzählen in der Leinwand funktioniert nach einem Prinzip, das auf einer übergeordneten Ebene angesiedelt ist, nämlich auf der Ebene der Aushandlung, wie das ›Unzuverlässige‹ und das Phantastische überhaupt bestimmt werden können – weswegen die Interpretationskategorien zuverlässig/unzuverlässig bzw. real/irreal nicht mehr weiterführend sind, weil sie selbst einem bestimmten epistemischen Fundament unterliegen. Fokussiert man diese Erzählverfahren und -themen unter dem Begriffsfeld des ›Heiligen‹ als Unverfügbarem, zeigen sich strukturelle und funktionale Analogien eines auf Störung von konventionellen, ›automatisierten‹ Rezeptionspraktiken zielenden ästhetischen Verfahrens der »Entautomatisierung«,40 das nicht nur Die Leinwand, sondern auch andere Texte von Stein durchzieht. In der komplexen Ausgestaltung von Unzuverlässigkeit und Unsicherheit findet sich eine Poetologie, die Konstruktionen des Unverfügbaren bzw. als unverfügbar Gesetzten kritisch aus- und zur Disposition stellt: sei es ein von ›Unerklärlichem‹ befreites Weltbild, sei es die Vorstellung einer eindeutigen Zuordnung von zuverlässigen Erinnerungen, Erzählungen oder Identitäten. Die ästhetisch-strukturelle Adaption des ›Heiligen‹ als Unverfügbarem im Sinne einer Poetik des Un-Zuverlässigen ruft immer wieder Rezeptions-, Verständnis-, Gattungszuweisungen auf bzw. legt sie nahe, entzieht diesen aber gleichzeitig im unzuverlässigen Erzählen wieder eine Letztgültigkeit und Absolutheit – zurück bleibt ein Feld der Unsicherheit, das es auszuhalten gilt.
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Antje Yael Deusel, Mikwe, in: Bibelwissenschaften. URL: https://www.bibelwissenschaft.de/ fileadmin/buh_bibelmodul/media/wibi/pdf/Mikwe__2018-12-03_21_56.pdf [letzter Zugriff: 29.12.2022]. Ebd. Vgl. zum Aspekt der Störung von Rezeptionsautomatismen Annette Brauerhoch et al., Entautomatisierung. Zur Einleitung, in: dies. (Hg.), Entautomatisierung, Paderborn 2014, 9–18.
»Wenn die Heilige Zeit da ist, werde ich […] weggehen« Heilige Zeit in Claudia Llosas Madeinusa Norbert Otto Eke
Der vielfach preisgekrönte Film Madeinusa der peruanischen Regisseurin, Drehbuchautorin und Produzentin Claudia Llosa1 bietet viele ›Eingänge‹. Man kann ihn zum einen ›lesen‹ in einer entwicklungspsychologischen Perspektive als Comingof-Age-Geschichte eines andigenen Mädchens, das gegen die Verfügbarkeit der Frau in einer traditionell patriarchalischen Gesellschaft rebelliert und aus der Welt des ›Vaters‹ (des Gesetzes) ausbricht. Man kann ihn zum anderen ›lesen‹ in einer ethnopolitischen Perspektive als Sozialstudie eines sozial und identitär divergenten Landes mit starken Ungleichheiten und Ungleichzeitigkeiten zwischen Stadt und Land, in dem ein als Heilbringer ebenso herbeiersehnter wie als Eindringling beargwöhnter Vertreter der urbanen weißen Eliten am ›Rand‹ der (seiner) Welt unter die Räder kommt. Man kann ihn zum dritten ›lesen‹ in einer ästhetischen Perspektive als Fortschreibung der lateinamerikanischen Tradition des magischen Realismus im Medium des Films und damit eines spielerischen Gestaltungsmodus, der darauf abzielt, die Oberfläche der rational (be-)greifbaren Wirklichkeit zu durchstoßen und die Wahrnehmung durch die Verschmelzung von realistischen und traumhaft-halluzinatorischen Elementen zu erweitern. Bei all dem konstruiert der Film die ländliche Andenregion mit ihren seltsam verschobenen, christlich-abendländische und indigene Kultformen verschmelzenden rituellen Praktiken als widerständigen Raum, dessen Präsenz die Gegensatzbildung zwischen Vormoderne und Moderne als gleichzeitig nach außen wie nach innen gerichtetes Distinktionsmittel der christlichen Zivilisierungsmission infrage stellt, und zwar sowohl in seiner kulturoptimistischen (progressive Rationalisierung bzw. Modernisierung) als auch in ihrer kulturpessimistischen (Modernisierung als 1
Madeinusa. Peru/Spanien 2006. Buch und Regie: Claudia Llosa. Trigon Film. Der Film wurde unter anderem beim Tiger Awards Festival Rotterdam mit dem FIPRESCI-Preis, beim Festival Internacional de Cine de Mar del Plata mit dem Roberto Tato Miller Award, beim 14. Hamburger Filmfest mit dem Preis der Hamburger Filmkritik und beim Internationalen Frauenfilmfestival Dortmund/Köln als bester Debütfilm 2006 ausgezeichnet.
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Exemplarische Analysen
Verfalls- und Verlustgeschichte) Wertrichtung.2 Die Welt des in den peruanischen Anden, in einem abgelegenen Bergdorf mit dem sprechenden Namen Manayaycuna (Quechua für »eingeschlossenes Dorf«3 ) spielenden Films ist eine buchstäblich verkehrte Welt, ein mundus inversus oder mundus perversus, dessen Verkehrt- und Verdrehtheit auf gleich mehreren Ebenen in Erscheinung tritt. Diese ›Verkehrung‹ und ›Verdrehung‹ beginnt bei dem Namen der Titelfigur Madeinusa, der in einem Akt des Verlesens gründet (Madeinusa = »Made in USA«) – und natürlich ist auch das mit leicht anzüglichem Doppelsinn nach einem Warenlabel benannte Mädchen nicht in den USA gezeugt (›gemacht‹, ›hergestellt‹) worden, vielmehr das Kind eines von der Außenwelt weitgehend abgeschotteten Sozialraums, in dem Mythos und Moderne ein seltsames Amalgam gebildet haben, es keine Elektrizität und kein Telefon gibt und dessen einzige Verbindung zur Außenwelt hergestellt wird durch einen unregelmäßig verkehrenden Kleinbus, der von einem geschwätzigen Fahrer mit ausgerechnet dem Namen El Mudo, »Der Stumme«, gesteuert wird. Der verballhornte Name der Titelheldin verweist auf die ›große Welt‹ der globalisierten Moderne als dem Anderen der ›kleinen‹ Welt des isolierten Indiodorfes, in dem durch die im Film die gesamte Zeit über als Unheilsbringer präsenten Ratten von vornherein die Drohung des Untergangs steht. Gleich am Anfang des Films sieht man die Titelfigur Madeinusa einen Schutzring aus Gift gegen die allgegenwärtigen Ratten um ihr Elternhaus ausstreuen, einen magischen Ring of Poison der Zivilisation (das Gift ist ja ein Industrieprojekt) gegen den Einbruch einer letztlich unkontrollierbaren und unregierbaren Natur. Die verwunschene Logik der Verkehrungen und Verdrehungen konstruiert das Dorf am Rand der zivilisierten Welt als einen ästhetisch ver-rückten Raum der Fremdheitserfahrung und erzeugt eine Art Irrlauf im Kopf der Rezipient*innen, als deren Stellvertreter im Film ein aus Lima stammender Minen-Ingenieur (sein genauer Beruf ist nicht ganz klar) mit dem ebenfalls sprechenden Namen Salvador (= »Retter, Erlöser, Heiland«) Ariendi auftritt. Ihn führt der buchstäbliche WiderSinn am Karfreitag auf seinem Weg von Lima zu den Minen von Richcane in das abgelegene Dorf, in der das Gesetz des ›Vaters‹ bis in die sexuelle Verfügung über die Töchter herrscht. Der Fluss führt Hochwasser, die Straßen sind gesperrt und die Fahrt mit dem Chauffeur El Mudo, der seinen Fahrgast im Wissen um die Unfortsetzbarkeit des Weges in der Einöde transportiert, geht nicht weiter.
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Zu den Deutungsperspektiven des Films vgl. Juli A. Kroll, Between the »sacred« and the »profane«. Cultural Fantasy in Madeinusa by Claudia Llosa, in: Chasqui. Revista de Literatura Latinoamericana 38/2 (2009), 113–125, 114. Juli A. Kroll übersetzt den Ortsnamen mit »the town that no-one can enter« (ebd., 116).
Norbert Otto Eke: Heilige Zeit in Claudia Llosas Madeinusa
Abb. 1: »Ankunft des ›Erlösers‹«, 15:49
Abb. 2: »Salvador und Madeinusa: Erste Begegnung«, 18:03
Im Dunkeln bleibt, warum Salvador, der als Zeichen seiner Herkunft aus einer Welt der Rationalität eine Polaroidkamera und ein Diktiergerät, Aufzeichnungsgeräte also, mit sich führt, auf keinen Fall mit »El Mudo« nach Lima zurückkehren will und am Ende der (zivilisierten) Welt bleibt. Möglicherweise auf magische Weise herbeigesehnt hat ihn der sehnsüchtig-sirenenhafte Gesang der vierzehnjährigen Madeinusa, mit dem Claudia Llosa ihren Film eröffnet.4 »Wenn die Heilige Zeit da ist, werde ich aufhören und weggehen über Berge und durch Täler«5 singt sie gleich in der ersten Einstellung des Films und gibt damit das Thema vor. Es ist das Erste,
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Die Sirenenhaftigkeit der sexuell erwachenden Madeinusa ist in der Forschung aufmerksam registriert worden. Vgl. Kroll (Anm. 2), 120f. In Entsprechung dazu spricht Kroll von dem Ingenieur Salvador Ariendi als einem »Odysseus-like Limeño« (ebd., 113). Alle Zitate aus dem Film erfolgen nach eigenen Mitschriften.
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was die Zuschauer*innen hören/sehen, während Salvador bei seinem Gang durch die anfänglich menschenleeren Gassen des Dorfes Madeinusa als Mutter Gottes erscheint – sie trägt bei dieser ersten Begegnung das Kostüm der gekrönten Jungfrau, in dem sie bei der Karfreitagsprozession dem am Kreuz gestorbenen Christus folgen wird. Für die Dorfbewohner, die sich auf das dreitägige Fest der Tiempo santo, den alljährlichen Höhepunkt der Karwoche, vorbereiten, ist der Fremde als ›Weißer‹ buchstäblicher Fremdkörper. Für Madeinusa dagegen, die davon träumt, wie ihre Jahre zuvor nach Lima, aus der minoritären Kultur in die majoritäre Kultur, geflüchtete Mutter6 die von ihrem Vater als Bürgermeister ›regierte‹ Enge ihrer dörflichen Lebenswelt zu verlassen, verbindet sich mit dem ›Gringo‹ die Hoffnung auf die Erfüllung ihrer Träume. Lima, Salvadors Heimat, ist das Ziel ihrer Sehnsucht nach Entgrenzung, ein mit dem Versprechen von Modernität, Schönheit und Luxus lockender metonymischer Ort der Andersheit – für den die kleinen ›Schätze‹ (Modezeitschriften, Ohrringe usw.) stehen, die sie in Erinnerung an ihre Mutter in einer Kiste aufbewahrt (und die vom Vater, nachdem er sie durch Zufall entdeckt hat, verbrannt werden). Dass Madeinusa im Pulli des Fremden ihren Namen zu lesen glaubt (Made in USA), wird für das an der Grenze zum Erwachsensein stehende und von den sexuellen Avancen ihres Vaters bedrängte Mädchen zum Zeichen dafür, ›gemeint‹ (auserwählt) zu sein. Der Heranwachsenden erscheint der Fremde so als ›Soter‹, als Repräsentant und Abgesandter der ersehnten Freiheit, von dem sie sich die Erlösung (Befreiung) aus dem archaischen Vater-Prinzip erhofft. Er soll sie, noch bevor das Fest der Tiempo santo am Ostermorgen endet, in die Welt der Moderne (ent-)führen. Bei dem städtischen Rationalisten Salvador stößt sie damit zunächst allerdings nur auf Unverständnis: »Made in USA. Das ist kein Name. […] Es ist kein Name. Du solltest Rosa oder María heißen, nicht Madeinusa.« Letztlich wird hier eine für die Narration des Films zentrale Ambiguität über den Stadt-Land-Konflikt hinaus, der Riss zwischen den Kulturen, deutlich, der prägend ist für die mittelamerikanischen Gesellschaften.
1. Tiempo santo: Zeit und Zeiterfahrung Mit dem Fest der Tiempo santo, der ›Heiligen Zeit‹, erscheint der mundus inversus als kollektive Synthesis. Es handelt sich bei ihm um eine synkretistische Religionspra-
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Möglicherweise handelt es sich bei der Flucht der Mutter lediglich um eine Deckerzählung. Darauf zumindest deutet, dass die Mutter ihre geliebten roten Ohrringe zurückgelassen hat und Madeinusas ältere Schwester Chale auf die Frage nach den Gründen dafür keine befriedigende Antwort hat.
Norbert Otto Eke: Heilige Zeit in Claudia Llosas Madeinusa
xis in der Spur eines kulturellen ›misreadings‹7 . Eingeleitet wird die ›Heilige Zeit‹ durch eine Prozession, die angeführt wird von einem in einer Art ›Miss-Wahl‹ zur ›Heiligen Jungfrau‹ gekürten Mädchen. Sehr zum Missfallen ihrer eifersüchtigen Schwester Chale fällt die Wahl in diesem Jahr auf Madeinusa; ausstaffiert als Heilige Jungfrau führt sie die Prozession durch das Dorf, darf sich an der Kreuzabnahme beteiligen, die Augen des Toten (Gottes/Erlösers) verbinden und dem durch das Dorf getragenen Leichnam Christi folgen.
Abb. 3: »Karfreitagsprozession«, 35:02
Abb. 4: »Der tote Christus wird nach der Kreuzabnahme durch das Dorf getragen«, 47:07
›Heilig‹ ist die Zeit als eine des ausgesetzten Gesetzes zwischen dem Kreuzestod Christi/der Grablegung und dem Ostermorgen. Sie erlaubt es, die ›Normalität‹ zu überschreiten und – interimistisch – kulturkonstituierende, zumindest kulturbestimmende Ein- und Ausschließungsprozesse außer Kraft zu setzen. In der ›Heiligen Zeit‹ ist wie im Karneval alles erlaubt; es gibt keine Sünde bzw. alle Sünden sind vergeben. Einerseits eröffnet die ›Heilige Zeit‹ Möglichkeiten für kathartische Entladungen; andererseits liegt ihr als Praxis der Übertretung das Wissen um Verbot und Tabu als a priori zugrunde. Gesetz und Übertretung, Tabu und Tabubruch stehen in einem dem Verhältnis von Ordnung und Unordnung vergleichbaren Interdependenzverhältnis: das eine verweist auf das andere. Daher möchte man im Dorf bei diesem Fest möglichst unbeobachtet bleiben von dem Repräsentanten der ›weißen‹ (rationalen, europäisch geprägten) Kultur, der darum auch von Madeinusas Vater in seiner Funktion als Bürgermeister zunächst einmal kurzerhand weggesperrt wird
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Ich schließe hier an Harold Blooms Konzept des ›Misreading‹ an, das die Literaturgeschichte zum Schauplatz diskontinuierlicher Selbstbehauptungsansprüche und antithetischer Revisionen anerkannter literarischer Muster für die literarische Produktion erklärt (vgl. Harold Bloom, A Map of Misreading, Oxford 2003; dt.: Eine Topographie des Fehllesens, Frankfurt a.M. 1997).
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mit dem Argument »Das Fest ist nichts für Besucher« – was im Umkehrschluss auch heißt: Es ist nur etwas für Teilnehmende. Die solcherart esoterische Praxis dieses Ineinanders von Tabu und Übertretung, in der Batailles Konzeptualisierung des Heiligen ein fernes Echo findet,8 wird ein Stück weit deutlicher im Horizont moderner Zeitbestimmungen. ›Zeit‹ ist einer der wissenschaftstheoretischen ›umbrella terms‹ oder auch ›Passepartoutbegriffe‹, einerseits ubiquitär, andererseits offen gegenüber terminologischen Differenzen.9 Dass Zeit Natur- und Kulturschöpfung zugleich ist, d.h. mess- und berechenbare Größe und subjektive Erfahrens- und Erlebensform, markiert dabei das erkenntnistheoretische Paradoxon noch jeder Zeitkonzeptualisierung. Norbert Elias spricht von der Zeit so als »Aspekt physikalischer Natur« und als eines »Regulators sozialer Ereignisse« bzw. »Modus menschlichen Erlebens«.10 Zeit ist stets beides: naturgegeben und menschlich konstruiert; als »subjektunabhängige Realität«11 ist sie Absolutes, als subjektabhängige symbolische Konstruktion ist sie Relatives,12 physikalische Entität und historisch sich wandelnder Weltaneignungsmodus »menschlicher Erkenntnis«, damit »kollektiv produzierte und reproduzierte Matrix, in der allein sich menschliche Tätigkeiten, seien sie pragmatischer, symbolischer oder kognitiver Natur, entfalten können.«13 Unterscheidet man mit Ricœur zwischen Naturzeit und Geschichtszeit,14 lässt sich von hier eine Brücke schlagen zu den Phänomenen kultureller Transformationen, was es einmal mehr erlaubt, die Materialität, die Medialität und die Tätigkeitsformen des Kulturellen in den Blick zu nehmen, um die Erscheinungsweisen kultureller Kontingenz zu klären. Die Vorstellung von Zeit als symbolischer Konstruktion wiederum setzt ein Verständnis von Zeitsouveränität als Erbe der Aufklärung15 voraus, die sich mit tätiger Weltan8 9
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Vgl. George Bataille, Der heilige Eros (L’Erotisme). Mit einem Entwurf zu einem Schlußkapitel. Übersetzt von Max Hölzer, Frankfurt a.M., Berlin/Wien 1982. Vgl. dazu Herbert Hörz, Zeit, in: Hans Jörg Sandkühler (Hg.), Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Bd. 4, Hamburg 1990, 969–985; weiterführend ders., Philosophie der Zeit. Zeitverständnis in Geschichte und Gegenwart, Berlin 1989. Norbert Elias, Über die Zeit, Frankfurt a.M. 2004, 148. Mike Sandbothe, Die Verzeitlichung der Zeit in der modernen Philosophie, in: Antje Gimmler/ders./Walther Ch. Zimmerli (Hg.), Die Wiederentdeckung der Zeit. Reflexionen – Analysen – Konzepte, Darmstadt 1997, 41–62, 46. Vgl. Kay Kirchmann, Verdichtung, Weltverlust und Zeitdruck. Grundzüge einer Theorie der Interdependenzen von Medien, Zeit und Geschwindigkeit im neuzeitlichen Zivilisationsprozeß, Wiesbaden 1998, 75. Ebd., 71. Paul Ricœur, Zeit und Erzählung, Bd. 3, München 1991, 147. Zugleich mit dem Bewusstsein der Historizität der je eigenen Kultur war im 18. Jahrhundert die Vorstellung von einer der Gegenwart eigenen evolutionären Dynamik entstanden. Grundlegend dazu nach wie vor Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979; Hans Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, Frank-
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eignung, konkret auch mit derjenigen politischer Handlungsfähigkeit und damit dem Vermögen des Subjekts verbindet, in Erwartung des noch Geschehenden die Zukunft in der Identität von Zeit und Subjekt zur operationalisierbaren Größe in der Gegenwart zu machen. Man könnte in aller Ausführlichkeit über die hier ansetzenden Überlegungen aktueller Zeitphilosophien reden und die Frage von deren Übersetzbarkeit in andere kulturelle Kontexte diskutieren. Ich will das an dieser Stelle aber nicht tun und allein auf eine unter anderem von Richard Rorty vertretene »Tendenz zur Historisierung und Relativierung der Zeit«16 hinweisen, die mir für das Narrativ der ›Heiligen Zeit‹ auch in Madeinusa interessant zu sein scheint. Sie geht aus von dem Gedanken, »daß die Rolle, welche die Zeit für das menschliche Selbst- und Weltverständnis spielt, Aspekt eines kulturell divergierenden und sich innerhalb einer Kultur geschichtlich wandelnden Netzes von praktischen Weisen des Weltumgangs ist«.17 Genau mit dieser kulturellen Divergenz nämlich spielt die Konstruktion des alljährlich in dem Dorf Manayaycuna gefeierten Fests der Tiempo santo. Konstitutiv für das dörfliche Verständnis der Tiempo santo ist eine Differenzsetzung zwischen der Zeit des Gesetzes (Gottes/des Christentums) als unverfügbarem Normalitätsindex und der Zeit des Menschen als utopisch konnotiertem Zeit/Raum der Lizenzen. Grundlegend dafür ist der Glaube, dass der (gemäß dem Apostolischen Glaubensbekenntnis) ›gekreuzigte, gestorbene und begrabene, in das Reich des Todes hinabgestiegene‹ Christus/Gott bis zu seiner Auferstehung nicht sieht, was in der Welt geschieht: Gott/das Gesetz/die Ordnung ist vorübergehend blind, Chronos ruht. Im Umkehrschluss, so die verschobene Logik dieses ›versetzten‹ Glaubens, ist alles durch das Gesetz Eingehegte (was nichts anderes ist als alles, was in der andigenen Kultur durch das Christentum lediglich überformt, überschrieben und ausgegrenzt worden war) erlaubt. Das bedeutet: Die Normal-Zeit unter dem wachen, wachenden und wachsamen Auge des Gottes (des Gesetzes, des Christentums) erscheint so nicht als Vektor des erfüllten Lebens, vielmehr als Freiheit und Selbstbestimmung einschränkendes Hinderungs- und Versagungsprinzip. Sein Diktat ist ausgesetzt im Ausnahmezustand der ›Heiligen Zeit‹, die keinen Letzthorizont des allmächtigen Gottes mehr kennt, stattdessen dem Rausch und der Ekstase Raum gibt: als Modus einer Identität von Handeln und Zeit.
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furt a.M. 1986; Helga Nowotny, Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls, Frankfurt a.M. 1989. Sandbothe (Anm. 11), 44. Ebd.
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Exemplarische Analysen
Abb. 5: »Gott wird blind; das urteilende Auge ist geschlossen«, 38:55 und 47:07
Abb. 6: »Eröffnung des Festes«, 39:49
Als Entgrenzungsritual lusthaft-rauschhafter Aussetzung von Ordnung realisiert sich die Tiempo santo als ek-statische Zeit – ekstatisch hier zu verstehen im Sinne einer elementaren Ek-stasis, eines ›außerhalb Stehens‹ (außerhalb der konventionalisierten Meinungen und Gewohnheiten des Alltagslebens). Hier haben der (mithilfe von reichlich genossenem Maisbier herbeigeführte) Rausch und die sexuelle ›Raserei‹ ihren Platz als Erfahrens- und Erlebensform der Verrückung und Verzückung. Die während des Festes zur Schau gestellten Phallus-Symbole haben hier ebenso ihren Platz wie die am zweiten Festtag durch eine symbolische Selbstkastration (das Abschneiden der Krawatten wie im deutschen Karneval an Weiberfastnacht, das hier allerdings von den Männern selbst vorgenommen wird) eingeleitete freie Auswahl der nächtlichen Sexualpartner durch die Frauen des Dorfes (lizensierte Promiskuität).
Norbert Otto Eke: Heilige Zeit in Claudia Llosas Madeinusa
Die ›Raserei‹ als Weise des ›Außer-sich-Seins‹ ist die sozusagen profane Seite einer Transgression, die als Austritt aus einer Ordnung (der des Gesetzes/Gottes) und als Übertritt in eine andere (die der Tiempo santo) Beziehungen zum ›Dionysischen‹, der ›Trance‹, dem ›Taumel‹ oder ›Schwindel‹ unterhalten, denen gemeinsam ist, »daß sie auf einen (Bewußtseins-)Zustand verweisen, in dem interimistisch ein Modus der ›Normalität‹ überschritten ist, und zwar dadurch, daß eine kontemplative, reflexive oder emotionale Distanz zugunsten einer Steigerung der Intensität eingezogen wird.«18 Das Rausch-Konzept der Tiempo santo bricht mit Vorstellungskraft und Vernunftzentriertheit des wissenschaftlichen Rationalismus und Szientismus; es beschwört die Idee des erfüllten Augenblicks, des Ereignishaften, und zielt auf die in den tieferen Schichten des Unterbewussten abgespeicherte Prähistorie der kulturell überformten Wirklichkeit. Während in der Normal- oder Normzeit die Menschen Zeit als naturalisierte Ordnungsmacht wahrnehmen, deren Gesetze sich gleichsam hinter ihrem Rücken durchsetzen, führt das Entgrenzungsfest der ›Heiligen Zeit‹ das dem allgemeinen Gebrauch der Menschen Entzogene in eine Sphäre der Verfügbarkeit und des Gebrauchs zurück. Als Ek-stasis in der Abwesenheit des urteilenden Auges (Gottes, des Gesetzes) folgt die Praxis der ›heiligen‹ Zeit Strategien einer Profanierung, die das dem »allgemeinen Gebrauch der Menschen«19 Entzogene, das nicht mehr Regulierbare und Regierbare in eine Sphäre der Verfügbarkeit und des Gebrauchs zurückholt. Das Fest entkräftet die Vorrichtungen des Gesetzes, die sich mit dem Regime des christlichen Gottes verbinden; es ist das Einfallstor für den Gebrauch, denn es entkräftet im Sinne Agambens »die Vorrichtungen der Macht und gibt dem allgemeinen Gebrauch die Räume zurück, welche die Macht konfisziert hatte«.20 Als vitalistische Feier eröffnet die ›Heilige Zeit‹ in der rauschhaften Überschreitung der rationalen Ordnung einen Zeit/Raum des absoluten Präsens. Sie gibt in Form einer Überschreitung der rationalen Ordnung den Menschen den Körper zurück, den die Macht konfisziert hat. Der sehend strafende Gott ist tot – und damit das Leben den Menschen zurückgegeben. Ganz nah ist hier das ›Heilige‹ noch an der anderen Bedeutung des Wortstamms sacer, das (zumindest) in der römischen Rechtsgeschichte einen eigentümlichen Doppelsinn aufweist: Es meint das Heilige und das Verfluchte; sacrificium (sacrum facere = »das Heilige/das Verfluchte herstellen«).21
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Thomas Strässle/Simon Zumsteg, Einleitung, in: dies. (Hg.), Trunkenheit. Kulturen des Rausches, Amsterdam/New York 2008, 7–9, 9. Giorgio Agamben, Profanierungen, Frankfurt a.M. 2005, 70. Ebd., 75. Vgl. Giorgio Agamben, Homo Sacer. Souveräne Macht und bloßes Leben, Frankfurt a.M. 2002.
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Das reine Präsens der ›Heiligen Zeit‹ ist eingebettet dabei gleichsam in eine chronometrische (d.i.: geregelte) Zeit; ihre Dauer ist sichtbar begrenzt in Gestalt eines leibhaften Zeitmessers, der mit dem prüfenden Blick auf den Sonnenlauf die Raumzeit des Festes als eine ablaufende – und damit auch zu nutzende – anzeigt. Mit dieser Figur wird der Chronotopos22 der ›Heiligen Zeit‹ (also die Raumzeit des Festes) als Ausnahmezustand einerseits ausgestellt und andererseits gleichzeitig durch seine Rückbeziehung auf die durch Gott in Gang gesetzte Zeit der erlösten Welt (Ostern als Finalpunkt des Ausnahmezustands) in paradoxaler Weise re-ontologisiert.
Abb. 7: »Der Zeitmesser«, 24:08
2. Innen und Außen: Hybridität und Neuanfang Als Modus einer Differenzpraxis, die auf die Erfahrung von ›Ex-sistenz‹ (im Wortsinn als das aus sich Heraustretende) abzielt und den durch die Welt der andigenen Bevölkerung gehenden Riss, die Fraktur und die Spaltung temporär heilt, und als antizivilisatorische Revolte, die den hegemonialen europäisch-christlichen Wirklichkeitskonzepten mit ihren ›kalten‹ (rationalen) Ordnungsprinzipien ein ›heißes‹ Reversbild entgegen hält, steht die ›Heilige Zeit‹ in paradoxer Weise zugleich außerhalb und innerhalb der Ordnung. Die Ausnahme ist als Aufhebung der Norm, was ihr Name sagt: Ausnahme – und als solche bezogen auf die Norm, die sie aussetzt. Im Chronotopos der ›Heiligen Zeit‹ spiegelt der Film von hier aus den Umgang mit
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Zum Konzept des Chronotopos vgl. Michail M. Bachtin, Chronotopos. Aus dem Russischen von Michael Dewey. Mit einem Nachwort von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke, Frankfurt a.M. 2008.
Norbert Otto Eke: Heilige Zeit in Claudia Llosas Madeinusa
dem Eigenen, aber Unterdrückten und Zerbrochenen einer Kultur. ›Heilige Zeit‹ ist die gestockte Zeit eines kulturellen und sakralen Überformungsprozesses, hier der andigenen Kultur mit europäisch-kulturellen und vor allem christlichen Wertvorstellungen. Das »Hybride, die Mischung zwischen Heidentum und Christentum« sei, so die Regisseurin Claudia Llosa in einem Interview, »in Ländern wie Peru Alltag«; interessant zu beobachten sei dabei, »wie es der ersten Kultur gelingt, sich in der zweiten einzunisten, die ihrerseits die Diversität der Urkultur weder schätzt noch anerkennt.«23 Zum Thema der Hybridisierung wiederum vermerkt einer der Begleittexte zum Film selbst: Die spätmittelalterlichen Eroberer der Andenländer konnten es nicht dulden, dass ihre Dreieinigkeit nicht verehrt wurde, und so begann die systematische Zerstörung von allem, was zum Kult der Inkas gehörte. Trotz eifriger Missionierung gelang es den Spaniern aber nicht, den indigenen Glauben gänzlich auszurotten. Vielmehr entstand eine kohärente Vermischung der beiden Religionen, und so findet man heute verschiedene Synkretismen, Verschmelzungen und Synthesen vielfältiger Formen der Religionsausübung.24 Letztlich ist die vor diesem Hintergrund und in Bezug darauf entstandene Feier der ›Heiligen Zeit‹, in dem minoritäre und majoritäre Kultur eine verschoben-verzerrte Verbindung eingehen, als ek-statisches Fest des Außer-sich-Seins ein weltflüchtiges Spiel. ›Heilige Zeit‹, wie sie der Film vorführt, ist Taumel, nicht wirklich Freiheit im Sinne einer zukunftsorientierten Gestaltungssouveränität. Die Freiheit, die Rausch und Taumel versprechen, ist ein ›Schwindel‹ im übertragenen und im wörtlichen Sinn, der im Kater (Katzenjammer) endet. Allein Madeinusa gelingt im Horizont des lizenzierten (und als solchem limitierten) Freiheitstaumels der Ausbruch. Für sie bietet sich mit dem Eintritt des Fremden in den regulierten Mikrokosmos des Dorfes eine doppelte Möglichkeit der Befreiung: aus dem Begehren des Vaters, der die Tochter sexuell bedrängt, aus der Tradition und aus dem Dorf. Madeinusa schläft in Kostüm und Maske der Heiligen Jungfrau mit Salvador – eine symbolisch hoch aufgeladene Verschmelzungs- und Entgrenzungsfantasie –, womit sie in der Hoffnung, von ihrem ›Retter/Erlöser‹ Salvador noch in der Lizenzzeit des Festes (»Sonntag wäre es eine Sünde«) nach Lima geführt zu werden, dem Begehren des Vaters zuvorkommt. Und am Ende, nach ihrer Flucht vom Dachboden, wo sie der eifersüchtige Vater eingesperrt hat, wird sie tatsächlich, wenn auch allein, ohne Salvador, an der Seite El Mudos nach Lima aufbrechen, womit sie das Präsens des Ausnahmezustands gleichsam futurisiert. 23 24
Interview mit Claudia Llosa. Mediendossier. URL: https://www.trigon-film.org/de/movies/M adeinusa/documents/mediendossier[de].pdf [zuletzt aufgerufen: 01.06.2019]. Gedanken zum Film. Mediendossier. URL: https://www.trigon-film.org/de/movies/Madeinu sa/documents/mediendossier[de].pdf [zuletzt aufgerufen: 01.06.2019].
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Exemplarische Analysen
Dieser Auf- und Ausbruch des jungen Mädchens aus der Ordnung des ›Vaters‹ in die Stadt (die Moderne), mit der der Film am Ende kreisförmig zu seinem Anfang zurückkehrt, ist allerdings ethisch gleichsam ›kaltgestellt‹. Seine Voraussetzung ist der symbolische, zuletzt auch praktisch vollzogene Vatermord als Annihilierung des ›falschen‹ Lebens. Während die Ausrufer das Ende der ›Heiligen Zeit‹ verkünden, tötet Madeinusa den eifersüchtigen Vater-Gott, der die Ohrringe der Mutter, den von ihr als Freiheitszeichen im Dorf hinterlassenen utopischen ›Rest‹, zerbrochen hat, mit Rattengift und schiebt die Schuld dafür gemeinsam mit ihrer Schwester Chale dem entsetzten ›Heilsbringer‹ Salvador in die Schuhe, der zuletzt doch noch eingewilligt hatte, das Mädchen nach Lima zu bringen. Der in die archaische Welt des Mythos verschlagene ›Erlöser‹ bezahlt den Eintritt in die ›Stadt, die man nicht betreten kann‹ und auch nicht darf, mit dem (seinem) Leben und entrichtet so mit seinem ›Opfer‹ den Preis für Madeinusas ›Erlösung‹. Er ist, was der zweite Teil seines Namens (Ariendi, von spanisch ›Aries‹ = »Widder«) versteckt bereits andeutet, im klandestinen Rückbezug auf das Isaakopfer auf dem Morijah das gesandte Opfertier, das die Wiederaufnahme der für einen geschichtlichen Augenblick unterbrochenen heiligen Geschichte ermöglicht und das Versprechen auf Zukunft einlöst. Anfänglich als Gegensatzpaar eingeführt – (die fleißige und hübsche [gute] Madeinusa [Engel] und die eifersüchtige, hässliche Chale [Teufel]) –, kommen die Schwestern hier wieder zusammen, auch wenn allein Madeinusa den Schritt aus dem Dorf wagt.
Abb. 8: »Madeinusas Ausbruch aus der Welt des ›Vaters‹«, 1:34:40
Madeinusas Weg in die Zukunft führt so buchstäblich über das Opfer: des Vaters (als dem Repräsentanten des archaischen Gesetzes, damit des Eigenen) und des ›Erlösers‹ (als dem Repräsentanten eines kolonisierenden rational kodierten und als solches seinerseits die körperlich-erotische Emanzipation wieder einhegenden Weltzusammenhangs als dem Außen des Innen). Damit entwirft der Film am Ende
Norbert Otto Eke: Heilige Zeit in Claudia Llosas Madeinusa
eine Freiheits- und Emanzipationsutopie als Chiffre absoluter Differenz, die sich über die hegemonialen Prinzipien von Innen und Außen gleichermaßen erhebt.
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Transformation durch Vermittlung Das Heilige in der Geschichte pädagogischen und literarischen Wirkens der Jesuiten in Lateinamerika Christine Freitag/Annegret Thiem
1. Hinführung: Was ist Vermittlung? Vermittlung ist nicht nur eine – möglicherweise – herausfordernde Tätigkeit, sondern auch ein vielfältig genutzter Begriff. Um ihn für den im Folgenden darzustellenden historischen, regionalen und akteursbezogenen Kontext angemessen beschreibbar zu machen, scheinen insbesondere zwei Begriffsfacetten bedeutsam. Die erste benennt den Grundvollzug jeder didaktischen Bemühung: ›Etwas‹ wird ›von jemandem an jemanden‹ vermittelt; der Begriff zielt auf einen Prozess, der vielfältige Diskussionen darüber ermöglicht, wer oder was Priorität hat: die Vermittelnden, die Adressat*innen oder gar das zu Vermittelnde. Diese Begriffsfacette ist insbesondere erziehungswissenschaftlich diskutiert, und zwar als ›Allgemeine Didaktik‹, die sich theoretischen Sichtweisen auf das Lehren und Lernen verschreibt.1 Die zweite hier relevante Begriffsfacette ist die, welche der mit der Vermittlung einhergehenden Veränderung Ausdruck verleiht. Während ein naheliegendes Vermittlungsziel ist, durch gelingende Vermittlung möge sich Wissen, Anschauung oder gar Leben der Adressat*innen verändern, darf nicht übersehen werden, dass durch Intentionen, besonders aber durch Methoden, also Vermittlungswege, auch die Vermittlungsgegenstände Veränderungen unterliegen. Schließlich, auch dieser Aspekt spielt für den nachfolgend thematisierten Kontext eine Rolle, finden nicht zu unterschätzende Anpassungsleistungen seitens der Vermittelnden statt, seien diese auf Intentionen, Methoden oder in Form eher ungeplanter ›Reflexe‹ auf Situa-
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Angesichts der Fülle der Publikationen seien hier zwei exemplarisch stehende Belege angeführt: Bildungstheoretisch argumentierende Ausführungen über die »Struktur des didaktischen Problemfeldes« finden sich bei Wolfgang Klafki, Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, Weinheim/Basel 5 1996, 114–135. Eine kritische Diskussion bzgl. der Didaktik/ Didaktisierung als Verhinderung autonomer Erkenntnis zeichnet u.a. Andreas Gruschka, Didaktik. Das Kreuz mit der Vermittlung, Wetzlar 2002.
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Interdisziplinäre Perspektiven
tionen im Vermittlungsprozess bezogen. Vermittlungsprozesse bedeuten demnach in dreifacher Hinsicht eine Transformation.
2. Missionarische Vermittlung im Kontext Lateinamerikas Im Kontext missionarischer Vermittlungsbemühungen, historisch wie aktuell, tritt zunächst die didaktische gegenüber der theologisch-kerygmatischen Begründung zurück. Hier steht an erster Stelle der sogenannte biblische Missionsbefehl: »[…] [G]eht zu allen Völkern, und macht alle Menschen zu meinen Jüngern« (Mt 28,19).2 Solchermaßen legitimiert wird die Vermittlung zur Konsequenz ›göttlicher‹ Beauftragung. Aber, so auch die missionstheologische Einschränkung: »Damit das ›objektive Wort‹ des Zeugnisses tatsächlich ›ankommt‹, bedarf es der Übermittlung durch den Zeugen, der mit allem, was er ist und hat, einschließlich des Traditionszusammenhangs, in den er gehört, für sein Zeugnis einsteht«.3 Das Zeugnis braucht den Zeugen, der Missionar wird zum Vermittler – eine Tatsache, die wiederum weitere Aspekte des Vermittlungsbegriffs aufscheinen lässt. Wie in missionspädagogisch relevanter Forschung immer wieder belegt, verknüpft sich nämlich der botschaftsbezogene Missionsauftrag stets mit anthropologischen Grundannahmen,4 mit deren Hilfe Missionar*innen das Menschenbild der zu Missionierenden kontrastiv von dem für ›gottgewollt‹ gehaltenen Menschenbild, das sie sich selbst zuschreiben, abheben. Der als von Gott gegeben unterstellte und sich selbst zugeeignete Auftrag ist demnach, Menschen ›gottgefällig‹ zu wandeln, in allererster Linie also aus ›Heiden‹ ›Christen‹ zu machen. Da aber die Zuschreibungen dessen, was einen Christen oder eine Christin ausmacht, wiederum gebunden sind an Eigenschaften, die kulturellen Eigenerfahrungen und Grundüberzeugungen entstammen, stoßen wir bei der Analyse missionarischer Quellentexte letztlich immer auf kulturanthropologische Wahrnehmungen, Setzungen und daraus abgeleitete vermittlungsbezogene ›Notwendigkeiten‹.
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Neue Jerusalemer Bibel. Einheitsübersetzung mit dem Kommentar der Jerusalemer Bibel, neue bearb. und erweiterte Ausg., deutsch hg. von Alfons Deissler/Anton Vögtler, Freiburg i.Br. 1985. Hans-Werner Gensichen, Missionswissenschaft als theologische Disziplin, in: Karl Müller (Hg.), Missionstheologie. Eine Einführung, Berlin 1985, 1–20, 15. Christine Freitag, Der Rhythmus des Christenmenschen. Rhythmen und Rhythmisierungen als Mittel christlicher Missionspädagogik, in: Alexander Maier et al. (Hg.), Lernen zwischen Zeit und Ewigkeit. Pädagogische Praxis und Transzendenz, Bad Heilbrunn 2018, 17–23; Anton Markmiller, »Die Erziehung des Negers zur Arbeit«. Wie die koloniale Pädagogik afrikanische Gesellschaften in die Abhängigkeit führte, Berlin 1995; Stephan Dignath, Die Pädagogik der Jesuiten in den Indio-Reduktionen von Paraguay (1609–1767), Frankfurt a.M./Bern/Las Vegas 1978.
Christine Freitag/Annegret Thiem: Transformation durch Vermittlung
Die der Missionierungsaufgabe inhärente kulturanthropologische Grundannahme gründet auf der Prämisse, dass die indigene Bevölkerung per se als Mängelwesen einzustufen sei, das einer Angleichung an europäische Werte bedürfe. Diese Annahme zeigt sich schon in den frühen Berichten, die über die ersten Begegnungen zwischen den indigenen Bevölkerungen und den Spaniern nach der Entdeckung durch Kolumbus entstanden sind. In den Tagebüchern des Kolumbus finden wir keine wertfreie Beschreibung der Indigenen, sondern sie werden im Hinblick auf den Nutzen betrachtet, den sie imstande sein können, den Spaniern zu leisten, auch wenn Kolumbus Versuche unternimmt, den ›edlen Wilden‹ vom ›Barbaren‹ zu unterscheiden.5 Ausgehend von diesem Verwertungsgedanken wird die Missionierung nicht nur göttlicher Auftrag, sondern auch Selbstzweck machtpolitischer Interessen des beginnenden spanischen Imperiums. Während Michel de Montaigne die »postulierte Naturnähe des Wilden […] zum Hebel der Kulturkritik«6 erhebt, ist es der spanischen Krone darum zu tun, die Autorität ihrer missionarischen Rechtmäßigkeit mit allen Mitteln umzusetzen. Zu Beginn der Kolonialisierung sind es vor allem die Franziskaner, die auf der Basis der ihnen eigenen Überzeugung einen »verstehenden anthropologischen« Ansatz7 in ihre Missionstätigkeit einbringen. Erst das Verständnis der indigenen Kultur und Wertvorstellungen ermöglicht es den Missionaren, die Schnittstellen zu finden, die für einen Prozess der Veränderung der Sitten und Gebräuche der Indigenen maßgeblich sind, damit diese das Christentum anerkennen. Wichtigstes Zeugnis dieses Vorgehens ist vermutlich die Historia general de las cosas de Nueva España des spanischen Franziskanerpaters Bernardino de Sahagún, die zwischen 1540 und 1585 entstanden ist und in Spanien selbst lange Jahre auf dem Index stand, aus Angst, dass die Begeisterung für die in diesem Fall aztekische Kultur, die aus dem Text heraus erkennbar wird, auf die Bevölkerung Spaniens übergreifen könnte. Das auch als Códice Florentino bzw. Códice Laurentino bekannte Dokument ist mittlerweile als digitale Version online verfügbar und zeigt den Zwiespalt zwischen Faszination und kulturellem Normgefüge, zwischen dem »sensualistischen« Bild »vom Guten Wilden« mit seinen »prononciert erotisch stimmenden Details« und der »Scham in der Form einer Projektion und Bestätigung des eigenen Sittengebots«.8 Die also schon
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Vgl. Cristobal Colón, Los cuatro viajes. Testamento, Madrid 1986, 62–78; Joachim Moebus, Über die Bestimmung des Wilden und die Entwicklung des Verwertungsstandpunktes bei Kolumbus, in: Karl Heinz Kohl (Hg.), Mythen der Neuen Welt. Zur Entdeckungsgeschichte Lateinamerikas. Katalog im Auftrag der Berliner Festspiele, Berlin 1982, 49–56, 50f. Mario Erdheim, Anthropologische Modelle des 16. Jahrhundert. Oviedo (1478–1557), Las Casas (1475–1566), Sahagún (1499–1540), Montaigne (1533–1592), in: Wolfgang Marschall (Hg.), Klassiker der Kulturanthropologie, München 1990, 19–50, 43. Vgl. ebd., 33f. Moebus (Anm. 5), 42.
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bei Kolumbus erkennbare »sinnliche Affiziertheit«9 wird zur Grundlage der Bildung bzw. Umbildung der Indigenen, derer sich auch die Jesuiten für ihre Bildungszwecke bedienen.
3. Mission der Jesuiten unter den Guaraníes Die hier zunächst näher betrachtete Mission der Jesuiten unter den Guaraníes in Paraguay, die auch als Zeitalter der sogenannten Jesuitenreduktionen (1609–1768) in die Geschichte eingegangen ist, wird bis heute unterschiedlich bewertet. Für die einen war es eine Zeit des »glücklichen Christentum[s]« in »christlichen Republiken«, für die anderen schienen die Reduktionen eher für ein Leben in »Kaserne« oder »Gefängnis« zu stehen.10 Fakt ist, dass die Jesuiten bei ihrer Mission unter den Guaraníes einer bereits im 16. Jahrhundert unter Südamerika-Missionaren entstandenen Idee folgten, nämlich die sogenannten ›halbnomadischen Indianervölker‹ in festen Ansiedlungen und unter Ausschluss der Kolonisten zusammenzuführen, weil sie sich dadurch eine gezieltere und also erfolgreichere missionarische Arbeit erhofften.11 Reduktionen gab es auch andernorts in Amerika und dementsprechend auch für Angehörige anderer indigener Gruppen; die paraguayische Guaraní-Mission gibt aber als zahlenmäßig größtes Unterfangen dieser Art ein besonders eindrucksvolles Beispiel.12 Im Folgenden werden die missionarischen Vermittlungsbemühungen der Jesuiten gegenüber den Guaraníes in den Blick genommen, um daran die oben theoretisch dargestellten Transformationen im Vermittlungskontext anhand von exemplarischen Rekonstruktionen der missionarischen Alltagspraktiken zu zeigen.13 Im Fokus steht zugleich die Darstellung jesuitischer Strategien, wahrgenommene kulturelle Differenz, insbesondere solche, die Werte und Moral betrifft, zu überbrücken oder gar zu nivellieren. Zuallererst ist dabei (noch einmal) zu betonen, dass die hier näher betrachteten Jesuiten in der Botschaft der Bibel das Hauptmotiv ihrer Tätigkeit sahen. Diese Botschaft, die sie für eine ›frohe Botschaft‹
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Ebd. Zu den vor allem in Europa zur Zeit der Aufklärung geführten Debatten um die Reduktionen vgl. Renate Dürr, Paraguay als Argument. Die europäische Debatte über Freiheit und Gehorsam, in: Dagmar Bussiek/Simona Göbel (Hg.), Kultur, Politik und Öffentlichkeit, Kassel 1990, 68–83, 74. Eine nicht immer ausgewogene, für die Darstellung der historischen Rahmenbedingungen der Reduktionen jedoch hilfreiche Einführung gibt Peter Claus Hartmann, Der Jesuitenstaat in Südamerika 1609–1768, Weissenborn 1994. So bereits bei Christine Freitag, Musik als missionspädagogisches Instrument, in: Marion Keuchen/Helga Kuhlmann/Martin Leutzsch (Hg.), Musik in Religion – Religion in Musik, Jena 2013, 101–112. Vgl. dazu bereits Freitag, Rhythmus (Anm. 4).
Christine Freitag/Annegret Thiem: Transformation durch Vermittlung
hielten, wollten sie zu denen tragen, die sie noch nicht kannten. Das Vorgehen beruhte schon im Ansatz auf einer Defizithypothese. Die indigenen Botschaftsempfänger galten per se als ›defizitär‹, da ihnen die christliche Botschaft fehlte. In dem hier gewählten kolonialen Kontext waren die missionarischen Zielgruppen zudem Angehörige oraler Kulturen. Ihnen ›fehlten‹ sogenannte Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben. Ihre Wohn-, Kleidungs- und Ernährungsformen waren fremd. Durch die stattgehabte Errichtung der sogenannten Reduktionen liegt eine wichtige theoretische Verortung der Forschung in der Erkenntnis, dass Evangelisierung immer auch auf eine ›Zivilisierung‹ nach europäischem Vorbild zielte, die letztlich das Ziel hatte, ›wilden‹ hispanoamerikanischen Gemeinschaften Strukturen zu verleihen, die den Europäern vertraut und verlässlich schienen. Die so entstehende Relationierung von Religion und Politik ist eine zentrale Säule zum Verstehen der Intentionalität missionarischen Handelns, so dass der politische Kontext der Eroberung für die hier vorgestellte Zugehensweise als wichtiger Bezugs- und Deutungsrahmen in den Blick genommen wird, ohne dabei die Kolonialkritik zum übergeordneten normativen Deutungsmuster werden zu lassen. Innerhalb des politischen Kontextes wird die zweite wichtige Säule, nämlich das anthropologische Selbstverständnis der nach Hispanoamerika gereisten Europäer, als mit dem missionarischen Wirken in Beziehung zu setzende Komponente mit einbezogen. Im Spannungsfeld von Selbst- und Fremddefinition waren es vor allem Jesuiten selbst, die immer wieder bestrebt waren, anthropologische Aspekte in ihre Forschungen einzubringen. Die Jesuiten entwickelten in komplexen Diskussionen einen Völkerstammbaum (etwa im Vergleich der ›Wilden‹ mit den ›Urzeitvölkern‹ in Francois Lafiteaus berühmt gewordenem Werk Mœurs des sauvages amériquains, comparées aux mœurs des premiers temps von 1724), der zu einer Typologisierung und Hierarchisierung von Kulturen und Gesellschaften führte. Daran knüpften aufklärerische Völkerkundler mit ihrem Interesse an einer vergleichenden Zivilisationsgeschichte an. Die solchermaßen ›vorab‹ diskriminierten Zielgruppen wurden nun zum Ziel pädagogischer Bemühungen, galten aber in der Regel als »unvernünftig« und »dumm«.14 So konnten die höhere Schulen und wissenschaftliche Studien gewohnten Jesuiten, nach ihren Maßstäben, den Guaraníes keine Bildsamkeit zuerkennen, entdeckten bei ihnen jedoch andere Eigenschaften, die ihnen pädagogisch bedeutsam erschienen. Vornehmste Eigenschaft schien in diesem Zusammenhang die ›Sinnlichkeit‹: Da dies Volk so sehr sinnlich ist, so verschafft man ihnen solche sinnlichen Gegenstände. Der Glaube muss ihnen durchs Gesicht beygebracht werden.15 14 15
Francisco de Vitoria, zit.n. Dignath (Anm. 4), 51. Bernhard Nußdorfer, Provinzial von Paraguay, 1768, zit.n. Dignath (Anm. 4), 89.
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Hier liegt die Begründung, warum Musik und Kunsthandwerk in den Jesuitenreduktionen eine so große Rolle spielten. Hören, Sehen und Nachahmen schienen die erfolgversprechenden Lernwege der Guaraníes. Anregung zu eben diesen Lernprozessen in Form »mimetischer Impulse«16 wurden daher zu einem wichtigen didaktischen Grundmuster der Missionare. Da die Reduktionen in ihrer Abgeschirmtheit nach außen als besonders erfolgversprechende Missionsräume innerhalb der südamerikanischen Missionsbemühungen galten,17 findet man die Konkretionen solch missionsdidaktischer Grundüberzeugungen weit über klassischerweise unterrichtlich zu nennende Situationen hinaus in den Lebens- und Arbeitsabläufen des Alltags. Sie lassen sich als Rhythmisierungen beschreiben, zu deren Zweck Musik18 bzw. Klang im weiteren Sinne19 breit eingesetzt wurde. Versteht man Rhythmus als die regelmäßige Wiederkehr von Vorgängen und die Gliederung von Abläufen, so wird schnell deutlich, dass Rhythmen potenziell zu (sozialen) Metriken20 werden, über deren Angemessenheit normative Urteile gefällt werden. In einem Kontext, in dem eine erfolgreiche Missionierung das übergeordnete Ziel der Akteure ist, scheint sich ein normatives Verständnis von ›christlichen‹ und damit ›richtigen‹ Rhythmen durchzusetzen, das sich auf verschiedensten Ebenen wiederfinden lässt, so beispielsweise in der Metrik der Tagesstruktur: Wenn Anbau und Erntezeit ist, ruft nach Mittag der indianische Vorsteher, der Alkalde, die Männer der Dorfschaft zusammen. Die Arbeitsleute werden gezählt, und Musikanten geleiten sie mit dem Spiel aus Flöten und Trompeten auf die großen Äcker hinaus. Musik und Lied begleitet selbst die heiße Drescharbeit, bei welcher schwere Ochsen über die dürr und offen ausgelegten Garben im Kreis getrieben werden. Wieder mit Gesang und Musik werden die Getreidespeicher mit Korn für die trockene Jahreszeit gefüllt.21 Die Rhythmisierung durch Glockenklang und Liedgesang scheint die pädagogische Seite eines Regelungsvorgangs zu sein, der das jeweilig etablierte bzw. zu etablierende Gemeinwesen betrifft. Sie zielt aber auf die ›Sinneskanäle‹ der zu Missionierenden, damit die Individuen motiviert werden, die ›neue Gesellschaft‹ zu tragen.
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Christoph Wulf, Bilder des Menschen. Imaginäre und performative Grundlagen der Kultur, Bielefeld 2014, 17. Vgl. Hartmann (Anm. 11). Vgl. Freitag, Musik (Anm. 12). Vgl. Guillermo Wilde, Toward a Political Anthropology of Mission Sound. Paraguay in the 17th and 18th Centuries, in: Music and Politics 1 (2007), H. 2, 1–29. Henri Meschonnic, Rhythmus, in: Christoph Wulf (Hg.), Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim 1997, 609–618, 609. Franz Braumann, 3000 Indianer und ein Tiroler. Sepp von Rainegg, Paraguay (Missionare, die Geschichte machten), Mödling 1977, 79.
Christine Freitag/Annegret Thiem: Transformation durch Vermittlung
Die Rhythmisierung zu Arbeitszwecken hat dabei immer eine besondere Rolle gespielt. Wilde beschreibt, dass solche Phänomene des »Missionsklangs« (»mission sound«) nie rein ästhetisch, sondern immer in ihrer Verknüpfung mit den politisch-sozialen Aushandlungsprozessen der Reduktionen verstanden werden müssen. Eine oft rezipierte ›Anekdote‹ aus den Reduktionen dient ihm dafür als Beispiel: Sound also contributed to the regimentation of indigenous bodily habits and sexual behavior. Thus, for example, we know from an official of the period following the expulsion [gemeint ist die Ausweisung der Jesuiten, d. Vf.] that, during the time of the Jesuits, it was the custom to beat boxes at various junctures during the night, particularly in the early morning. The object was to remind married Indians of their marital obligations, since many returned from their labors so tired that they did not maintain sexual relations with their wives, resulting in a decline of the population.22 Diese nächtliche Erinnerung an das Fortpflanzungsgebot zeugt in höchst eindrücklicher Weise von der Normativität alltäglicher und allnächtlicher Rhythmen und von den Mechanismen der Rhythmisierung, die als die pädagogische Seite einer machtvoll durchgesetzten christlichen Vorstellung einer politisch-sozialen Gemeinschaft zu deuten sind. Durch Klänge und Musik untermalt, findet ein ›Einschwingen‹ in den für die zu Missionierenden neuen Rhythmus statt. Dass Rhythmisierung ein Prozess ist, der offensichtlich Zeit braucht, bis er zur vollen Zufriedenheit der Missionierenden abgeschlossen ist, zeigt sich in vielen Berichten. So etwa, wenn ›barbarische Reste‹ im Leben und Verhalten der zu Missionierenden mit den christlichen Normen nicht vereinbar scheinen, hier am Beispiel von Trauerbezeugungen in den paraguayischen Missionen: They had a well rooted and barbarous custom of crying superstitiously and immoderately over their deceased […]. They have corrected it through the efforts of the Fathers, mixing it with Christian demonstrations and sentiments and pity toward the dead, and, upon hearing the tolling of the bell, they come together, ordinarily more than 1,000 souls, and they accompany the dead until giving them burial […].23 Der von den Jesuiten festgestellte Konflikt zwischen ›barbarischen‹ und ›christlichen‹ Rhythmen des Trauerns wird – zugunsten der christlichen Rhythmen –
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Wilde (Anm. 19), 9. Briefe aus der Jesuitenprovinz 1632–1634, zit.n. Wilde (Anm. 19), 11.
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›korrigiert‹; hier scheint der Prozess des ›Einschwingens‹ in einen neuen Rhythmus die Notwendigkeit mühevollen ›Umlernens‹ in den Mittelpunkt zu rücken. Mimetisches Kulturlernen bei Erwachsenen,24 das die Missionare für die zu Missionierenden anstreben, scheint ungleich schwieriger zu sein, als die Missionare es sich für das Neu-Lernen vorstellten. Gerade Rituale wie Trauer und Bestattung, die sowohl Ein- als auch Ausgrenzung bedeuten können, erfordern aus missionarischer Sicht die Notwendigkeit, Ordnung herzustellen, indem das ›Barbarische‹ unterdrückt wird. Möglich ist aber auch eine Umwidmung des ›Heidnischen‹ zum ›Christlichen‹ (vgl. insbesondere die nachfolgenden Ausführungen zum jesuitischen Theater). Missionspädagogik in kolonialen Settings hat das Lernen und Lehren fremder Kultur und Religion zum Inhalt. Dabei werden anthropologische Grundannahmen über die zu Missionierenden in hohem Maße wirksam. Es scheint, als hielten Missionare solche Missionsstrategien für besonders wirksam, die prozessual das ›Falsche‹, ›Heidnische‹, ›Barbarische‹ ersetzen oder es in ›Gutes‹, ›Christliches‹, ›Heiliges‹ transformieren. Rhythmen und Rhythmisierungen werden in Dienst genommen, um solche Transformationen erfolgreich werden zu lassen. Der Weg zum ›rechten Klang‹ oder zur ›rechten Dauer‹ ist ein pädagogisch inszenierter, der zwar als Aushandlungsprozess gekennzeichnet ist, dennoch höchst asymmetrisch und machtvoll verläuft. Die Missionierenden setzen auf mimetische Formen des Lernens, welche von ihnen durch Rhythmisierungen (Sprache, Klang, Musik, Zeitstruktur etc.) pädagogisch unterstützt werden. So dienen letztlich europäisch-christliche Rhythmen der ›Zivilisierung‹ und ›Christianisierung‹. Klänge wie der Glockenschlag werden zum höchst aufgeladenen Symbol paternalistischer Kontrolle. Diese Deutung wird gestützt durch grundsätzliche Einschätzungen über das Verhältnis von Missionaren und zu Missionierenden, die von den Jesuiten selbst stammen: »Sonsten seynd die Paraquarier […] keinen als unseren Patribus unterworfen/lieben uns nicht anderst/als ein Kind seinen Vatter: werden von uns gekleidet, unterwiesen und erzogen«.25 Das als ›kindlich‹ verstandene ›mimetische Lernen‹ wird arrangiert in Rhythmisierungen und Ritualisierungen. Vor allem letztere dienen der gewöhnenden Wiederholung von »Gesellschaft schaffende[n] integrative[n] Handlungen«.26 Neben den explizit religiösen, insbesondere gottesdienstlichen Ritualen wurden auch für das Erlernen der sogenannten Kulturtechniken (hier am Beispiel des Rechnens) Ritualisierungen inszeniert:
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Vgl. Wulf, Bilder des Menschen (Anm. 16). Sepp von Rainegg, Ein Jesuit in den paraguayischen Reduktionen des 17./18. Jahrhunderts, zit.n. Dignath (Anm. 4), 48. Christoph Wulf, Religion und Gewalt, in: ders./Dietmar Kamper (Hg.), Das Heilige. Seine Spur in der Moderne. Frankfurt a.M. 1987, 245–254, 247.
Christine Freitag/Annegret Thiem: Transformation durch Vermittlung
Da den Guaraní Mathematik, ja sogar das Zählen fremd war, sie praktisch nur die Finger, Hände und Füße als Zählhilfe gebrauchten und alles, was über zwanzig ging, mit ›viel‹ oder ›sehr viel‹ bezeichneten, ließen die Patres die ganze Bevölkerung am Sonntag nach dem Hochamt in Spanisch bis 1000 zählen und die Tagesund Monatsnamen aufsagen. Aber die Erfolge waren gering.27 Es sind Situationen wie diese, in denen die didaktische Hilflosigkeit der Jesuiten besonders zum Ausdruck kommt. Offenbar ist das, was sie in ihrer europäisch-bildungsgewohnten Perspektive vermitteln wollen, zu sehr an Formen des formalen schulischen Lernens gebunden, um – quasi ›voraussetzungslos‹ – zu funktionieren. Die beschriebene Situation bringt aber zugleich zum Ausdruck, wie stark die Maßstäbe des ›Zivilisieren-Wollens‹ an die eigenen lernbiographischen Voraussetzungen der Jesuiten gekoppelt waren.
4. Das Jesuitentheater im kolonialen Lateinamerika Die Fokussierung auf das jesuitische Theater lässt bezüglich der vollzogenen Vermittlungspraxis besonders einen Aspekt in den Blick geraten, nämlich den der Hybridisierung, der bis dahin noch vergleichsweise schwach zum Ausdruck kam: Sichtbar wird zum einen die Ingebrauchnahme ›heidnischer‹ Rhythmen und Rituale, insbesondere auch indigener Feste, um sie in ›christliche‹ bzw. ›heilige‹ Rituale zu wandeln. Sichtbar wird zum anderen aber auch eine ›Indigenisierung‹ ›christlicher‹ Rituale durch die Ingebrauchnahme indigener Kulturelemente und Sprache(n). Sprachliche und auch inhaltliche Umformungen zeigen Transformationen referenzkultureller (jesuitischer) und eigenkultureller (indigener) Lebenswelten, die das Resultat transkultureller und synkretistischer Hybridisierungsprozesse sind, wie es zum Beispiel bei Transformationen indigener Feste oder Rituale in – aus Sicht der Jesuiten – ›heiligen‹ Aufführungen der Fall ist. Hierbei ist jedoch zu differenzieren zwischen dem teatro de jesuitas colegial, dem traditionellen jesuitischen Schultheater, das in Hispanoamerika unter anderem auch in der Region Nordmexikos28 eine große Rolle spielte, und der Theaterproduktion in den Städten und Reduktionen Paraguays, in denen das Theater in ein missionsdidaktisches Evangelisierungskonzept eingebettet ist. In Anlehnung an die oben genannte Idee, Vermittlung sei Konsequenz göttlicher Beauftragung, gerät für die literaturwissenschaftliche Perspektive zunächst 27 28
Philip Caraman, Ein verlorenes Paradies. Der Jesuitenstaat in Paraguay, München 1979, 163f., zit.n. Hartmann (Anm. 11), 46. Zur jesuitischen Theaterproduktion in Mexiko vgl. u.a. Cecilia Elsa Frost, Teatro profesional jesuita del siglo XVII (estudio introductorio de C.E. Frost) (Teatro mexicano – historia y dramaturgía 5), México, D.F. 1992.
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das Theater in den Blick, das seit dem 16. Jahrhundert im Zuge der Kolonialisierungsbestrebungen nicht nur als ästhetisch-literarischer Gegenstand im Sinne der Nachahmung spanischer Theatertraditionen für ein illustres Publikum – vor allem an den Vizekönighöfen – einen großen Stellenwert einnahm, sondern auch als Bildungskonzept für die kreolische Bevölkerung gedacht war. Vor allem aber hat das ›mimetische Lernen‹ Vorteile bei der Missionierung der indigenen Bevölkerungen. Es trägt dazu bei, die heidnischen Bräuche mit Hilfe christlicher Bildung auszumerzen, um zivilisatorische Normen nach europäisch-spanischem Vorbild zu etablieren, die, auf machtpolitische Interessen gerichtet, eine Stabilisierung der gesellschaftspolitischen Situation gewährleisten sollten. So bauen nicht nur die pädagogischen Bemühungen auf »mimetische Impulse«,29 um über die Sinnlichkeit missionarische Erfolge zeitigen zu können, denn das Theater greift ohnehin auf das Sinnenhafte zurück, da es von Natur aus dem Gebot der Mimesis verpflichtet ist, ganz so, wie es Aristoteles30 in seiner Poetik formuliert hat: »Die Nachahmenden ahmen handelnde Menschen nach«.31 Diesen später auch von Freud formulierten Nachahmungstrieb sieht Aristoteles im menschlichen Dasein als etwas durchaus Positives begründet: »Denn sowohl das Nachahmen selbst ist den Menschen angeboren […] als auch die Freude, die jedermann an Nachahmungen hat«.32 So kann das Theater als Vermittlungsinstrument sein Potential voll entfalten und zu einem Medium für die Jesuiten werden, der indigenen Bevölkerung Hispanoamerikas zum Heil im katholischen Glauben zu verhelfen und heidnische Bräuche zu unterbinden. Als erstes bekanntes Theaterstück franziskanischer Prägung ist El juicio final bekannt, das im Jahr 1531 bzw. 1533 in Tlaltelolco aufgeführt wurde und in mittelalterlicher Tradition mit Hilfe allerlei theatralischer Mittel die Zuschauenden in Angst und Schrecken versetzte, um die christliche Botschaft wirksam zu vermitteln. Historischen Quellen zufolge muss die Aufführung die indigene Bevölkerung derart beeindruckt haben, dass diese davon in ihren eigenen Chroniken berichtete und sie sogar in Sahagúns Historia Erwähnung gefunden hat als etwas Wundersames, das geschehen sei und das exemplarisch für den Untergang der Welt stehe.33 Einen vergleichbaren Bildungsansatz nutzten auch die Dominikaner. Als Vorstufe größerer Theaterproduktionen nutzte Bartolomé de las Casas z.B. Erzählungen in Reimen und Versen, um die schon evangelisierten Indigenen zu begeistern und mit Hilfe
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Wulf, Bilder des Menschen (Anm. 16), 17. Aristoteles, Poetik, hg. und übers. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982. Ebd., 7. Ebd. Vgl. Othón Arróniz, Teatro de evangelización en Nueva España, México 1979, 19f.
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kleinerer inszenierter Dialoge die zu vermittelnde Botschaft an die weniger gebildeten oder noch nicht evangelisierten Indigenen weiterzugeben.34 Das zu evangelisierende Feld der spanischen Kolonialgebiete teilten sich die schon länger tätigen Orden mit den Jesuiten, die in den 70er Jahren des 16. Jahrhunderts nach Übersee kamen, um die indigene Bevölkerung zu katechisieren und ihrer präkolumbischen Wurzeln zu entfremden. Erwähnung findet das Treiben der Jesuiten sogar in der mexikanischen Literatur der Kolonialzeit, so z.B. in der Grandeza Mexicana von Bernardo de Balbuena aus dem Jahre 1604. Ähnlich wie auch die Bemühungen Bartolomé de las Casas darauf zielten, ›seine‹ Indigenen von allen nicht religiösen Spanier*innen fernzuhalten, um sie vor Ausbeutung zu schützen,35 perfektionierten die Jesuiten dieses System der Trennung zwischen Indigenen und Spanier*innen mit der Etablierung der Missionen und Reduktionen. In Hispanoamerika finden sich demzufolge zwei Theatertraditionen der Jesuiten. Das traditionelle Modell des jesuitischen Schultheaters mit seinem Bildungsanspruch spielte vor allem im Vizekönigreich Neuspanien, dem heutigen Mexiko, eine große Rolle. Das Theater wird für die Region Nordmexikos und in den Städten zum Austragungsort für Konstruktionen und Inszenierungen des Heiligen als konsequente Differenzierungsprozesse zwischen dem Selbst und dem Anderen, in denen auch das Konfliktpotential der Assimilierungszwänge und die daraus entstehenden Identitätsprobleme der indigenen Bevölkerung erkennbar werden. Die jesuitischen Theaterproduktionen, die die Zuschauer hauptsächlich auf sinnlichemotionaler Ebene ansprechen wollten, zeigen, dass das heute mit dem Begriff der ästhetischen Bildung bezeichnete Vorgehen seine Relevanz für den Vermittlungsprozess christlicher Inhalte hatte. Sprachliche und inhaltliche Umformungen zeigen dabei Transformationen referenzkultureller und eigenkultureller indigener Lebenswelten. Da die jesuitische Theaterpraxis bestrebt war, die Aufführungen möglichst sinnenreich zu gestalten, waren Theateraufführungen oft eine Mischung aus unterschiedlichen künstlerischen Elementen wie Tanz, Musik, Spezialeffekte sowie vielen Schauspieler*innen, um alle Sinne anzusprechen und die Handlung in ein Körpergedächtnis zu übertragen, das die korrekten Werte speichern sollte. Bilder sagen manchmal mehr als nur Worte, zumal die Opposition von Sinnlichkeit und Kognition beispielhaft die Grenzen zwischen Heiligem und Profanem bezeichnet, indem sie die Grenze deutlich spürbar werden lässt.
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Vgl. ebd., 166f. Vgl. José A. Ferrer Benimeli, La expulsión de los jesuitas de las reducciones del Paraguay y de las misiones del Amazonas. Paralelismo y consecuencias humanas, in : Manfred Tietz (Hg.), Los jesuitas españoles expulsos. Su imagen y su contribución al saber sobre el mundo hispánico en la Europa del siglo XVIII. Actas del coloquio internacional de Berlin (7–10 de abril de 1999), Frankfurt a.M. 2001, 295–321, 298.
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Die Forschungen zur Theaterproduktion im Nordwesten Mexikos haben gezeigt, dass in den Chroniken des 16. Jahrhunderts vor allem Inhalte ihren Nachhall fanden, die in Anlehnung an die geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola entwickelt wurden und die bis heute in so manchem Ritual reaktualisiert und damit erinnert werden. Die Sünde mit der Kraft des Gebets in Schach zu halten, war jedoch nicht nur rein christlich motiviert, die Indigenen kannten diese Praktiken aus ihren eigenen Kulturkreisen, was den Jesuiten in ihrem Missionierungsstreben durchaus hilfreich war. Die jesuitischen Unterweisungen bezogen sich jedoch nicht nur auf das Vermitteln des Evangeliums, sie lehrten auch die verschiedenen Künste, so dass der jeweilige Kunstausdruck (z.B. Theater, Musik, Poesie etc.) zum Medium der Vermittlung christlicher Werte und Inhalte wurde. Um Theater und andere Künste also gewinnbringend für die Konversion der ›Wilden‹ einsetzen zu können, legten die Jesuiten den Unterricht der Künste neben dem der Evangelien verpflichtend fest und konnten damit gewisse Erfolge erzielen: […] schon um das Jahr 1620 fand sich diese große Leidenschaft, mit der die neuen Christen auch unter der Woche zur Messe gingen; Jungen und Messdiener lernten singen, lesen und schreiben, ihre Feste und andere [geistliche] Übungen zu feiern, die in den Missionen vorgesehen waren (Übersetzung der Vf.).36 Auf diese Weise vertraten die Jesuiten quasi einen ganzheitlichen Ansatz der Lehre,37 der sich in ihrem »theatralischen Kunstverständnis« (ebd.) spiegelt, das die Aufführungen mit Elementen aus Musik, Tanz, Rezitation und Schauspiel bunt gestaltete. Das religiöse Theater wird zu einem der wichtigsten Ausdrucksmittel für die Ausbildung der Indigenen und Mestizen. Vorbilder für das Theater waren dabei vor allem die großen spanischen Barockdichter Miguel de Cervantes und Calderón de la Barca.38 1575 führten die Jesuiten ihr erstes Theaterstück im Colegio de San Pedro y San Pablo in Mexiko-Stadt auf: »[…] eine Tragikomödie, die sich mit den Unbilden 36
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Originalzitat : »[…] por los años de 1620. Ya en ese tiempo era grande el fervor con que estos nuevos cristianos acudían a doctrina a misa aun los días entre semana; y los muchachos y mozos de las capillas, a aprender canto, leer, y escribir, a celebrar sus fiestas y a los demás ejercicios [espirituales] que se han contado en estas misiones.« (Ebd.). Vgl. Miguel Olmos Aguilera, La herencia jesuita en el arte de los indígenas del noroeste de México, in : Frontera norte 14,27 (2002). URL: http://www.scielo.org.mx/scielo.php?script=sc i_arttext&pid=S0187-73722002000100007 [letzter Zugriff: 18.12.2020]. Zu den Einflüssen der spanischen Theatertradition vgl. u.a. Julio Alonso Asenjo, Teatro colegial colonial de jesuitas de México a Chile, Valencia 2012; ders., Onlineportal zu jesuitischem Schultheater in Spanien und Hispanoamerika. TeatrEsco. Antiguo Teatro Escolar Hispaníco. URL: http://parnaseo.uv.es/Teatresco.htm [letzter Zugriff: 31.08.2017]; Jesús Peláez Menéndez, Los jesuitas y el teatro en el Siglo de Oro. Repertorio de obras conservadas y de referencia, in: Archivum 54–55 (2004-2005), 421–563.
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beschäftigte, die die Ketzer der römischen Kirche zugefügt hatten, allen voran ihr grausamer Feind Selim II.«39 Sultan des Osmanischen Reiches seit 1566 bis zu seinem Tod 1574, wurde er zum theatralischen Widersacher der Kirche stilisiert, um ihre Macht zu demonstrieren. Viele weitere mit Pomp und Gloria inszenierte Theaterstücke behandeln Themen wie z.B. die Geburt Jesu oder erzählen von dem Erzengel Michael, der die durch Luzifer in Versuchung geführten Seelen rettete. Sie zeugen so vom Evangelisierungscharakter der jesuitischen Theaterproduktionen.40 Ähnlich wie schon Bernardino de Sahagún versucht hatte, die Traditionen der Indigenen zu verstehen, um sie dann in christliche Traditionen zu transformieren, haben auch die Jesuiten versucht, zunächst die künstlerische Ader der Indigenen zu nutzen, um sie an die neuen sozialen Strukturen anzupassen. Ordiz Vázquez erkennt im jesuitischen Vorgehen eine sehr viel stärker integrierende Absicht als bei den franziskanischen Mönchen mit ihrer sehr anspruchsvollen Theaterproduktion: »[…] sie hatten einen größeren Willen zur Integration und versuchten, die Indianer durch religiöse Erziehung und das Erlernen der spanischen Sprache in die neue Gesellschaft einzugliedern«.41 Im Bestreben um diese Integration erhielten sich oftmals auch indigene Inhalte in den jesuitischen Theaterstücken und trugen dazu bei, dass sich hybride Formen der Stücke herausbildeten, die sich aus unterschiedlichen kirchlichen und religiösen Ritualen zusammensetzten. Olmos Aguilera sieht darin den Beweis, dass die unter jesuitischer Führung entstandene Kunst in Hispanoamerika erst durch diesen Prozess der Hybridisierung entstanden ist und sich im Zuge der Kolonialisierung des Kontinents durch die bei der Evangelisierung eingesetzten Mittel reproduzierte.42
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Ebd. (Übersetzung der Vf.); Originalzitat: »[…] una tragicomedia que versaba sobre las injurias que inferían los herejes a la Iglesia Romana, principalmente su truculento enemigo Selim II.« »Entre otras piezas de teatro se cuenta con el texto del Triunfo de los santos, representada en 1578 en el Colegio de San Pedro y San Pablo, en la ciudad de México; Diálogo para la visita del padre Antonio de Mendoza; Coloquio por san Juan, representado el 24 de julio de 1582; la Comedia del hijo pródigo, el 24 de junio de 1583; un Coloquio latino, puesto en escena el 18 de octubre de 1596, así como la comedia del Triunfo del glorioso santo san Hipólito, representada el 13 de agosto de 1594.17 De esta manera, la lección evangélica puesta sobre un escenario se convierte en el medio para arrancar las costumbres demoníacas practicadas por los indígenas.« (Olmos Aguilera [Anm. 37]). Vgl. auch Francisco Javier Ordiz Vázquez, El triunfo de los santos y el teatro jesuita del siglo XVI en México, in : Anales de Literatura Hispanoamericana 18 (1989). URL: https://revistas.ucm.es/index.php/ALHI/article/view/ALH I8989110019A [letzter Zugriff: 18.12.2020]. Ebd., 21 (Übersetzung der Vf.); Originalzitat: »[…] tuvieron una voluntad más ›integradora‹ y pretendieron incorporar a los indios a la nueva sociedad mediante la educación religiosa y el adiestramiento en el manejo del español«. Vgl. Olmos Aguilera (Anm. 37).
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Das Missionstheater in der Region Paraguay, die die Territorien Argentinien, Uruguay, Paraguay, Chile und weite Teile Brasiliens und Boliviens umfasste,43 also dem ehemaligen Vizekönigreich Perú zugeordnet war, hatte hingegen einen anderen Ansatz.44 Schon Mitte des 16. Jahrhunderts waren die Jesuiten davon überzeugt, die Indigenen müssten in konkreten Siedlungsgemeinschaften zusammengeführt werden, um sie einerseits zu schützen, andererseits aber auch besser missionieren zu können. So gründeten sie im südlichen Teil des heutigen Brasiliens die ersten sozial organisierten Gemeinschaften, die als Vorläufer der Reduktionen gelten, die sogenannten aldeias. Ein wichtiger Gründer dieser aldeias war neben Manuel da Nobrega, dem jesuitischen Ordensgeneral in Brasilien, José de Anchieta, der als erster Dichter der Kanaren gilt und sein schriftstellerisches Talent in den aldeias einsetzte, um die Missionierung der Indigenen mit Hilfe der Dichtung zu unterstützen. Seine Seligsprechung im Jahre 1980 durch Papst Johannes Paul II. und die Heiligsprechung durch den aktuellen Papst Franziskus im Jahre 2014 zeugen von der bis in die heutige Zeit reichenden Bedeutung seines Schaffens, das im Zeichen der Bekehrung der Tupi stand. Die Übertragung der Feierlichkeiten aus der jesuitischen Kirche San Ignacio in Rom45 wird erklärend untermalt mit den Worten, Anchieta habe eine wichtige Rolle bei der religiösen Bildung und der Konversion der Indigenen zum katholischen Glauben gespielt: »[…] en la formación religiosa y la conversión de los indígenas a la fe católica«. Interessant ist die Zelebration dieses Aktes der »organisierten Unterwerfung«46 im Jahre 2014, im Rahmen der Zweihundertjahrfeier der Restauration des Jesuitenordens.47 Der frühzeitig einsetzende Akkulturationsprozess in diesen Siedlungen Brasiliens im 16. Jahrhundert wurde mit Hilfe der eigenen traditionellen Elemente der Indigenen wie Gesang, Musik, Tanz oder Erzählkunst48 unterstützt, mit denen die Indigenen in spielender oder erzählender Weise Heldentaten ihrer Vorfahren in Szene setzten oder über sie erzählten. Verhaltensweisen, die sich nur wenig von europäischen Theatertraditionen oder Heldengedichten unterschieden: »Die Jesuiten be-
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Vgl. Ferrer Benimeli (Anm. 35), 296f. Zur Theaterproduktion in Paraguay vgl. u.a. Rubén Vargas Ugarte, Historia de la Compañía de Jesús en el Perú, Burgos 1963. Vgl. URL: https://www.youtube.com/watch?v=so2s-3HzEM8 [letzter Zugriff: 18.12.2020]. Teresa Pinheiro, Aneignung und Erstarrung. Die Konstruktion Brasiliens und seiner Bewohner in portugiesischen Augenzeugenberichten 1500–1595, Stuttgart 2004, 124. Vgl. URL: https://www.lne.es/oviedo/2014/03/19/bicentenario-restauracion-jesuita/1558763. html [letzter Zugriff: 18.12.2020]. Vgl. Walter Rela, El teatro jesuítico en Brasil, Paraguay, Argentina, Montevideo 1990, 109.
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obachteten bei den Stämmen, die sie zu evangelisieren suchten, aufmerksam jede dieser Handlungen, und sie nutzten sie in der Praxis als Kommunikationsmittel«.49 Auf der Basis dieser Erfahrungen begannen die Jesuiten, die Evangelisierung mit Hilfe von Inszenierungen unterschiedlicher Art zu unterstützen. In Prozessionen und Lobgesängen präsentierten sie der indigenen Öffentlichkeit christlich-religiöse Inhalte. So trugen z.B. schon christianisierte Indigene während dieser Zeremonien ein Kruzifix, um das Interesse der Nichtchristianisierten zu wecken. Da den Indigenen vergleichbare Rituale aus ihren eigenen kulturellen Traditionen bekannt waren, lag es nahe, den Anreiz der Nachahmung zunächst im Inszenierungscharakter selbst zu begründen. Nach und nach flossen mehr christliche Inhalte in die Inszenierungen ein, und es wurden Heilige oder christliche Tugenden personifiziert dargestellt. So erfolgte durch die Ingebrauchnahme heidnischer Rhythmen und Rituale ihre Transformation in christliche bzw. ›heilige‹ Rituale. Doch dabei sollte es nicht bleiben, denn die Jesuiten griffen auch auf traditionelle Theaterformen zurück, wie z.B. auf die sogenannten auto sacramentales, die die Jesuiten aus der spanisch-portugiesischen Theaterproduktion entlehnten. Diese einaktigen Theaterstücke wurden auf fahrbaren Bühnen traditionell zum Fronleichnamstage aufgeführt und inszenierten meist allegorische Darstellungen religiöser und heiliger Motive. Hierzu zählten u.a. Geschichten aus der Bibel, Heiligenviten, christliche Tugenden oder moralische Zweifelsfälle, die auf diese Weise an die Gläubigen tradiert wurden. Nicht ohne Grund wurden sie im 18. Jahrhundert verboten. Die Übernahme dieser Theaterform folgte den Zielen der Jesuiten. Bei den für Hispanoamerika geschriebenen Theaterstücken religiösen Inhaltes und ihren Inszenierungen spielte die Sprache der Indigenen eine wichtige Rolle, denn wie auch schon Bernardino de Sahagún die Notwendigkeit erkannt hatte, die indigene Bevölkerung über den Weg ihrer eigenen Sprache zu christianisieren, taten es ihm die Jesuiten gleich. Durch die Ingebrauchnahme indigener Sprache(n) kommt es demzufolge zur ›Indigenisierung‹ christlicher Rituale und damit zu einer Hybridisierung der Form der auto sacramentales. Die jesuitische Theaterproduktion, die im weitesten Sinne des Wortes als ›Inszenierung‹, als performatives In-Szene-Setzen von Ritualen verstanden werden kann, lässt sich in drei Bereiche untergliedern: das soeben beschriebene, speziell für die Evangelisierung der Indigenen gedachte Theater, das Stadttheater, das in portugiesischer oder spanischer Sprache geschrieben wurde, um abtrünnige Siedler auf den rechten Weg zu bringen, und das traditionelle jesuitische Schultheater.50
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Ebd., 110 (Übersetzung der Vf.); Originalzitat: »Los jesuitas observaron con atención cada una de estas expresiones en las tribus que tentaron evangelizar, y usaron de ellas como medio de comunicación práctica«. Vgl. ebd., 223.
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Einen erheblichen Anteil an der Theaterproduktion hatte José de Anchieta, der nicht nur als Gründer der brasilianischen Nation in die Geschichte eingegangenen ist, sondern zugleich Schutzpatron der brasilianischen Musik und Literatur ist. Auch José de Anchieta nutzte das Theater als Medium für den Evangelisierungsund Akkulturationsprozess und richtete sein Theaterschaffen nach der portugiesischen Tradition satirisch-kostumbristischer Skizzen aus, in denen die Handlung zu Lasten ästhetischer Überlegungen vorwiegend mit Hilfe von Allegorien verdichtet in Szene gesetzt wurde, um die Aufmerksamkeit der Zuschauer*innen zu erhöhen und ihre Imaginationskraft zu befördern.51 Die von Anchieta geschriebenen Theaterstücke hatten nicht nur eine vierteilige Dramenstruktur, die aus Exposition, steigender Handlung, Klimax und Lösung des Konfliktes bestand, sondern wurden durch Gesang, Musik, Prozessionen oder Tänze ergänzt, um das spielerische Element in den Vordergrund zu rücken. Dabei bevölkerte die Stücke meist ein Figurenensemble, das überwiegend biblischen Vorlagen entlehnt war, aber auch Engel und Dämonen fanden Eingang in die Handlung, um die christliche Botschaft zu vermitteln. Insbesondere die Dämonen hatten es dem Autor Anchieta angetan, da er sie in sokratischer Tradition mit den Engeln diskutieren ließ: Die Engel sind immer christliche Heilige, welche die christliche Lehre vertreten, die aber dennoch ihre Macht demonstrierten, indem sie z.B. das spanische Hinrichtungsinstrument, die Garrotte, mit sich führten. Die Dämonen erhalten hingegen indigene Namen und evozieren den schon von Kolumbus heraufbeschworenen ›bösen Wilden‹, den Kannibalen, der die Indigenen an Ketten hinter sich herzieht. Der Kampf zwischen Engeln und Dämonen nimmt dann durchaus realistische Züge an: Zwischen Gewehrsalven, Pfeilgewittern und allerlei Spektakel werden die Indigenen von der Macht der Christen beeindruckt, die am Ende die Dämonen in die Knie zwingt. Der kleinste Widerstand wird dabei im Keim erstickt, und zwar mit Darstellungen von Gewalt, die den Indigenen durchaus überzeugend erschienen: »¡argumento muy convincente para los indios«.52 Als Beispiel sei das Theaterstück Na Festa de São Lourenço aus dem Jahr 1587 zitiert,53 in dem neben historischen Persönlichkeiten auch Heilige, indigene Götter und Dämonen aus der Kultur der Tupi, aber auch aus der der kriegerischen Tamoio auftreten und der Autor ein Szenario der Alteritäten repräsentiert, in dem die negativen Verhaltensweisen der Indigenen als Sünde
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Vgl. Ebd., 124. Ebd., 125. Vgl. hierzu die Staatsexamensarbeit von Nikolas Wicker, Assimilationstrategien der jesuitischen Missionare im kolonialen Brasilien am Beispiel von José de Anchieta, aus dem Jahr 2015. Nikolas Wicker zeigt anhand von drei Theaterstücken Anchietas eindrucksvoll die skizzierte Allegorisierung in ihrer Opposition zwischen Gut und Böse, zwischen Christentum und indigener Kulturtradition.
Christine Freitag/Annegret Thiem: Transformation durch Vermittlung
angeklagt werden: »Alterität wird dämonisiert«.54 Durch »die Verschränkung des Bösen mit dem Anderen«55 stehen sich Heilige und Dämonen gegenüber, vermischen sich antike historische Stoffe mit christlichen Tugenden, und das Stück, das in sich wenig kohärent ist, gerät mit Hilfe von Gesang, Tanz und Prozessionen zu einem performativen Spektakel,56 das die Rettung des Dorfes São Lourenço, das seinen Namen von dem Heiligen Laurentius erhalten hat und auf Befehl des Indianerhäuptlings Guaixará zerstört werden sollte, zu einem eindrucksvollen Erlebnis stilisiert,57 dabei aber bestimmten Anordnungen treu bleibt: In den Stücken des José de Anchieta waren die Gesänge ähnlich wie die Tänze und Prozessionen ein Element der Performativität und Interaktion bzw. Beteiligung. Immer singen die Tugendhaften (Tugendpersonifikationen, Engel) oder Kinder, […] niemals die Dämonen. Die Musik wird also als berückend und einnehmend (performativ) eingesetzt gegen die Bedrohung durch das Böse.58 Das Bemühen um Vermittlung christlicher Werte mit Hilfe der Theaterproduktionen und ihrer spektakulären Inszenierungen ist offensichtlich, eine kohärente Sinnstiftung bleibt jedoch – vermutlich gerade deswegen – aus, »auf der transkulturellen Schwelle bricht die Geschichte mit ihren Uneindeutigkeiten ein«.59 Insgesamt gesehen zeigen sich in den Theaterstücken von José de Anchieta sprachliche, inhaltliche und kulturelle Umformungen, die über transkulturelle und synkretistische Hybridisierungsprozesse, wie z.B. die Vermischung kultureller Rituale innerhalb der Theateraufführung, zu Transformationen referenzkultureller (jesuitischer) und eigenkultureller (indigener) Lebenswelten führen. Im Bemühen um das Vermittlungsziel im Sinne ›göttlicher‹ Beauftragung verändert sich der Gegenstand auch durch die genannten Assimilationsstrategien der vermittelnden Jesuiten. Insofern ist der Erfolg der Vermittlungsbemühungen kritisch zu bewerten.
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Dania Schüürmann, Die Dämonen des Anchieta im kolonialen Jesuitentheater Brasiliens. Überlegungen zu performativen und transkulturellen Aspekten, in: Christian Storch (Hg.), Die Musik- und Theaterpraxis der Jesuiten im kolonialen Amerika. Grundlagen, Desiderate, Forschungsperspektiven, Sinzig 2014, 165–180, 165. Ebd. »El teatro jesuita era atractivo no por su contenido o la calidad de las obras, sino por el espectáculo«, Pedro Guibovich Pérez, A mayor gloria de Dios y de los hombres. El teatro escolar jesuítico en el virreinato del Perú, in: Ignacio Arellanos/José Antonio Rodríguez Garrido (Hg.), El teatro en la Hispanoamérica colonial, Madrid 2008, 35–50, 47. Vgl. Rela (Anm. 48), 129. Schüürmann (Anm. 54), 176. Ebd., 178.
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5. Fazit: Wirkungsgeschichte/n – erfolgreich vermittelt? Die Vermittlungsformen des Jesuitenordens wurden bereits im 17. und 18. Jahrhundert innerhalb wie außerhalb des Ordens kontrovers diskutiert, allerdings in hochkulturellen missionarischen Kontexten, wie insbesondere China.60 In der modernen Forschung wird die Frage nach der kulturellen Übersetzbarkeit von Glaubensinhalten vor allem von Theologen diskutiert.61 Für Hispanoamerika liegen erste Untersuchungen zu sprachlichen Begegnungen vor.62 Jesuitische Vermittlungsformen werden in den allgemeinen Übersichten häufig angesprochen,63 sind bislang jedoch vor allem von der Musikwissenschaft in den Fokus gerückt worden.64 Aus missionswissenschaftlicher Perspektive zusammengefasst: Die Erfahrung der missionarischen Praxis liefert eine Fülle von Beispielen, zumal für die Diskrepanz zwischen Absicht und Ergebnis, Bemühung und Wirkung, wie sie im Kontext des interkulturellen Zeugnisses, im Zeichen der ›West-Mission‹ alten Stils, fast unvermeidlich war. Der Missionar tritt in die Arena in der Erwartung, daß die glatten Steine des Evangeliums, wie er sie in seiner Tasche zu haben meint, ihre Wirkung nicht verfehlen können – und er macht sich nicht klar, daß er in Wirklichkeit in der schweren Rüstung eines Goliath daherkommt, die für die Hörer lauter und zugleich unverständlicher redet als das, was der Missionar eigentlich sagen will.65 Der Spielraum für die Beantwortung der Frage, ob die hier dargestellten Vermittlungsprozesse als erfolgreich gekennzeichnet werden können, scheint insgesamt groß zu sein; je nachdem, wie die Urteilenden grundsätzlich der Legitimität missionarischen Handelns gegenüberstehen. Deutlich werden in jedem Fall Extreme bezüglich des pädagogischen Verhältnisses, das per se hierarchisch, hier aber paterna-
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Vgl. David E. Mungello, The Chinese Rites Controversy. Its History and Meaning, Nettetal 1994; George Minamiki, The Chinese Rites Controversy. From its Beginning to Modern Times, Chicago 1985; Johannes Bettray, Die Akkommodationsmethode des P. Matteo Ricci SJ. in China (Analecta Gregoriana. Series Facultatis Missiologicae, Sectio B 76/1), Rom 1955. Vgl. Paulus Gordan, Evangelium und Inkulturation (1492–1992), Graz 1993; Andreas Lienkamp/Christoph Lienkamp, Die ›Identität‹ des Glaubens in den Kulturen. Das Inkulturationsparadigma auf dem Prüfstand, Würzburg1997. Vgl. Edward G. Gray/Norman Fiering, The Language Encounter in the Americas, 1492–1800. A Collection of Essays (European Expansion & Global Interaction 1), New York/Oxford 2000. Z.B. in Robert Lacombe, Guaranis et jésuites. Un combat pour la liberté (1610–1707), Paris 1993; Charles H. Lippy/Robert Choquette/Stafford Poole, Christianity Comes to the Americas 1492–1776 (A Giniger Book), New York 1992. Vgl. Piotr Nawrot, Indígenas y cultura musical de las reducciones Jesuíticas, Bolivia 2000; Storch (Hg.) (Anm. 54). Gensichen (Anm. 3), 15.
Christine Freitag/Annegret Thiem: Transformation durch Vermittlung
listisch genannt werden muss. Das stark hierarchisierende Menschenbild, von dem die Jesuiten offenbar geleitet wurden, weist zudem darauf hin, dass (früh-)aufklärerische Vorstellungen von Bildung nicht zum Tragen kommen konnten, da die Priorisierung christlicher Botschaft und europäischer Kultur keine wahrhaft zielgruppenbezogenen Prozesse ermöglichte. Die beschriebenen Assimilierungs- bzw. Akkommodationsprozesse führten zwar zu hybridisierenden Vorgehensweisen, hatten jedoch, zumindest für das Leben in den Reduktionen, keine nachhaltige Wirkung. Eine konsequent negative Deutung ist zudem, dass nach der Ausweisung der Jesuiten 1768 alle Missions- und ›Zivilisierungsbemühungen‹ abrupt endeten, weil damit auch das Leben in den Reduktionen aufhörte und die Guaraníes wieder in ihre angestammten Lebensräume zurückkehrten. Die hier in den Blick genommene missionarische Vermittlungspraxis verhilft dazu, die pädagogischen Perspektiven hierarchischer Vermittlungslogiken in handlungs- und prozessbezogener Perspektive aufzuzeigen. Sie kann Begründungen aufzeigen, die auf anthropologische und politische Setzungen verweisen, zugleich auch auf deren Relationierungen mit religiösen Vorstellungen. Das hier präsentierte Vorgehen bleibt dabei einer induktiven Logik verhaftet, die nicht zulässt, über das Gezeigte hinaus zu allgemeinen Urteilen über die Vertretbarkeit missionarischen Handelns zu gelangen. Insbesondere für die jesuitische Mission unter den Guaraníes, die historisch immer auch in Zusammenhang mit Motiven des Schutzes indigener Gruppen, etwa vor der Versklavung durch portugiesische Menschenhändler legitimiert66 wurde, lassen sich keine Bewertungen formulieren. Aus der Logik der Performativität heraus kann jedoch aufmerksam gemacht werden auf die Konstitution missionarisch-pädagogisch intendierter Wirklichkeit(en) und auf die Erfahrbarkeit der Alterität zwischen Missionierenden und zu Missionierenden. Festzustellen, wie stark diese in offensichtlichen Assimilierungszwängen und Assimilierungstatsachen erlebbar wurde, macht das Potenzial der oben erfolgten Perspektivierungen aus. Zudem bleibt der Eindruck, die Jesuiten hätten sich einen ›geraderen‹ Vermittlungsweg ihrer Botschaft gewünscht. Da ihre gewohnten Lern-Wege angesichts der ›Andersheit‹ der Adressat*innen unbeschreitbar schienen, verwandten sie ›neue‹ Wege der sinnlichen Wahrnehmung und der Nachahmung. Angesichts der sonstigen Intellektualität jesuitischen Lehrens und Studierens waren dies notwendigerweise Einschränkungen dessen, was ihnen als ideal erschienen wäre. Memorieren und Repetieren wurden ersetzt durch rhythmisiertes Gewöhnen oder auch das sinnhafte Konfrontieren mit dem ›Spektakel‹ des Theaters. Hier schienen die Jesuiten von einer stimulierenden Wirkung überzeugt. Interessant bleibt festzustellen, dass der methodisch für notwendig gehaltene ›Mehraufwand‹ stets Einfluss auf die missionarische Botschaft hatte. Eine religiöse Botschaft an die 66
Umfassend etwa bei Hartmann (Anm. 11) dargestellt.
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Sinne ist eine andere als eine (theologische) Botschaft an den Kopf. Akkulturierende Elemente der Vermittlung verändern das zu Vermittelnde – wenn auch zunächst vor allem in Sprache, Klang, Rhythmus und Symbol. Alle diese Facetten treffen aber am Ende den Kern der Botschaft, so dass sie von ›der‹ christlichen Botschaft zur missionspraktisch transformierten ›Missionsbotschaft‹ wurde. Der Ausgang vom ›indigenen Mängelwesen‹ führte letztlich zu einer reduzierten Botschaft in Ermangelung der eigentlich für notwendig gehaltenen Rezeptoren. Allein aus dieser Sicht muss die Vermittlung immer als – aus Sicht der Jesuiten – eingeschränkt gelungen gelten. Die Sicht der Adressat*innen ist nicht authentisch überliefert, aus den jesuitischen Dokumenten lässt sich zumindest schlussfolgern, dass sie sich über lange Zeit immer neuen Methoden ausgesetzt sahen, mit denen die Missionare ›fruchtbaren Boden‹ zu finden hofften. Es ist davon auszugehen, dass häufig die Methode als Botschaft selbst verstanden werden musste – und daher auch die rezeptorische Seite des Vermittlungsprozesses zu Veränderungen des Vermittlungsinhalts führen musste.
Pop-Ikonen Transformationen des Heiligen in der deutschen Pop(musik)kultur1 Christoph Jacke/Harald Schroeter-Wittke
1. Einleitung In den letzten Jahren lässt sich alltagsempirisch auffallend häufig der Begriff der Ikone finden. Ob in Nachrichtensendungen, in Boulevard-Magazinen, in der Sportberichterstattung oder – erwartbarer – im Zuge von Dokumentationen über Musikoder Filmpreise, zu Jubiläen oder anderen besonderen Anlässen, ob auf Papier, im Radio, TV oder auf den zahllosen Plattformen im Internet: Prominente Figuren und Stars aller möglichen gesellschaftlichen Bereiche scheinen insbesondere im fortgeschrittenen Karrierealter und posthum in den Medien als Ikonen bezeichnet und auch wie diese rezipiert zu werden. Bekannt sind die Bilder von Extrem-Rezipierenden, den Fans, die sich zu Hause oder im virtuellen Raum Plattformen oder sogar Altäre ihrer bewunderten Figuren aufbauen und diese dann mit anderen teilen oder diskutieren. In unserem Beitrag wollen wir zunächst zentrale Aspekte der Erforschung popmusikkultureller Prominenz, Stars und hier vorrangig Ikonen im Zusammenhang mit Transformationen des Heiligen skizzieren, um einen grundlegenden Beobachtungsrahmen für tiefergehende Studien zu schaffen. Anschließend begeben wir uns an Forschungsfragen orientiert auf eine erste Spurenlese zu den vier aus Deutschland kommenden berühmten Popmusikfiguren Marius Müller-Westernhagen, Nina Hagen, Andrea Berg und Rammstein, bei denen wir deren Texte und Kontexte zumindest ansatzweise auf Spuren von ›heilig‹ absuchen. Daraus leiten wir Justierungen und Präzisierungen unserer Forschungsfragen ab, die dann erst noch in umfassenderen Studien empirisch beantwortet werden sollten, um diesen noch sehr wenig beforschten Bereich genauer zu verstehen: Werden diese Figuren von Fans, Journalisten, Promotern als ›heilig‹ bezeichnet, bezeichnen sie
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Das Manuskript wurde im Jahr 2022 eingereicht; die aktuelle Diskussion um Till Lindemann konnte daher nicht mehr berücksichtigt werden.
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sich selbst derart oder finden sich Begriffe, Konzepte oder – allgemeiner – Verwendungen von ›heilig‹? Und lassen sich dadurch (Aus)Richtungen von Transformationen sowohl historisch als auch systematisch finden?
2. Deutsche Pop-Ikonen als Forschungsgegenstand Pop-Ikonen werden hier als das Ergebnis von Prozessen der Imagebildung im Kontext von Popmusikkulturen verstanden. Dabei haben solche Prozesse die »Migration des Heiligen«2 in nicht religiös begründete Bereiche zur Voraussetzung. Die Images solcher Pop-Ikonen werden als öffentlich inszenierte Bilder medial konstruiert durch Lyrics, Bilder, Sounds und Performances3 und dann in konkreten Musik- und Medienangeboten wie Songs, Alben, Musikclips, Musikfilmen, (Auto-)Biographien, Homepages und Live-Auftritten offeriert. Anhand der ästhetisch-medialen Images dieser Figuren wird in den Inszenierungs-Dimensionen der Produktion (Stars, Management, Studios), Distribution (Vertrieb, PR, Journalismus), Rezeption (Konzertbesuchende, Fans/Anti-Fans) und Weiterverarbeitung (Blogs, Fanzines, Coverversionen, Remixes) sowohl diachron als auch synchron nach Spuren von Einschließungs- und Ausschließungsprozessen des Heiligen sowie nach Zuschreibungen von Heiligkeit gesucht. Im Zentrum steht hierbei die deutsche Popmusikkultur, die wissenschaftlich bislang immer noch wenig erforscht ist, obwohl sie einen der weltweit größten Popmusikmärkte darstellt.4 Als konkrete, dauerhaft erfolgreiche Figuren mit entsprechender Fan-Gemeinde,5 die über das engere Feld von Pop hinaus anschlussfähig sind, bieten sich als Quartett folgende vier Pop-Ikonen für eine künftige Untersuchung an: Marius Müller-Westernhagen (*1948), Nina Hagen (*1955), Andrea Berg (*1966) sowie Rammstein (Till Lindemann, *1963). Als PopIkonen sind sie sowohl Medien des Heiligen als auch selbst mediatisiert. Ihre vielschichtigen Image-Konstruktionen6 weisen auf das Spezifische eines das Heilige 2
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Philipp Stoellger, Migration des Heiligen und heilige Migranten oder: Machen Medien Menschen – heilig?, in: Friedrich Balke/Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hg.), Medien des Heiligen (Archiv für Mediengeschichte 15), Paderborn 2015, 176–188. Vgl. Diedrich Diederichsen, Über Pop-Musik, Köln 2014; sowie Christoph Jacke, Popmusikkulturen. Entwicklung und Verständnis, in: Claus Leggewie/Erik Meyer (Hg.), Global Pop. Das Buch zur Weltmusik, Stuttgart 2017, 67–75. Vgl. Michael Ahlers/Christoph Jacke (Hg.), Perspectives on German Popular Music. Ashgate Popular and Folk Music Series, London/New York 2017. Vgl. Lothar Mikos, Der Fan, in: Stephan Moebius/Markus Schroer (Hg.), Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2010, 108–118. Vgl. Markus Schroer, Der Star, in: Moebius/Schroer (Hg.) (Anm. 5), 381–395; Christoph Jacke, Figurenkonzepte in der Popmusik, in: Rainer Leschke/Henriette Heidbrink (Hg.), Formen der Figur. Figurenkonzepte in Künsten und Medien, Konstanz 2010, 133–154; ders., Public Images Unlimited. Multimediale Gesamt-Texte. Imagekonstruktionen von Popmusik-Stars
Christoph Jacke/Harald Schroeter-Wittke: Pop-Ikonen
involvierenden Transformationsprozesses hin. Alle vier Figuren decken seit über 40 Jahren ein weites Spektrum popmusikkultureller Formationen ab und bieten für oftmals flüchtige und wenig dokumentierte populäre Medienkulturen einen langen, mit zahlreichen Quellen ausgestatteten Untersuchungszeitraum an: • • • • • •
Alle vier nehmen in besonderem Maße und dauerhaft verschiedene und z.T. wechselnde Aspekte des Heiligen für ihre Selbstinszenierung in Anspruch. Mit Schlager, Punk, Rock und Industrial/Hardrock repräsentieren sie unterschiedliche Genres. Sie kommen aus West- und Ostdeutschland, mit unterschiedlichen Karriereverläufen. Mit ihrem andauernden Erfolg rangieren sie im Kanon deutscher Popmusik auf Spitzenplätzen. Sie inszenieren verschiedene Formationen von Geschlechtlichkeit und Performativität und spielen mit deren Überschreitungen und Vermischungen.7 Ihre hohe Bühnen- und Mediendiversität zeitigt eine aufschlussreiche Berichterstattung.8
Vor diesem Hintergrund wäre zu analysieren, auf welche Weise sich in den vier Inszenierungs-Dimensionen bei diesen Figuren unterschiedliche Transformationsprozesse des Heiligen gestalten: Wer schreibt wie und warum den jeweiligen Stars Heiligkeit zu und macht sie so zu Pop-Ikonen? Wie werden Nähe und Distanz bzw. Verfügbarkeit und Unantastbarkeit der Pop-Ikonen produziert, distribuiert, rezipiert und weiterverarbeitet?
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in Musikclips und darüber hinaus, in: Thomas Mania/Henry Keazor/Thorsten Wübbena (Hg.), Imageb(u)ilder. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Videoclips, Münster 2011, 72–95; sowie ders., Stars als Erinnerungsanker und Generationsmarker. Medienöffentliche Figuren als Identifikation- und Projektionsflächen in inter- und intragenerationellen Diskursen, in: Lu Seegers (Hg.), Hot Stuff. Gender, Popkultur und Generationalität in West- und Osteuropa nach 1945, Göttingen 2015, 101–117. Vgl. rock’n'popmuseum (Hg.), ShePOP. Frauen. Macht. Musik!, Münster 2013; Christa Brüstle (Hg.), Pop-Frauen der Gegenwart. Körper – Stimme – Image. Vermarktungsstrategien zwischen Selbstinszenierung und Fremdbestimmung, Bielefeld 2015; sowie Stan Hawkins (Hg.), The Routledge Research Companion to Popular Music and Gender, London/New York 2017. Vgl. Jens Ruchatz, Die Individualität der Celebrity. Eine Mediengeschichte des Interviews, Konstanz/München 2014.
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In den im deutschsprachigen Wissenschaftsraum mittlerweile etablierten Popular Music Studies9 sowie Celebrity Studies10 und vor allem ihrer Schnittmengen in Form von medienkultur- und musikwissenschaftlichen Popmusikstar-Analysen11 geriet der konkrete Zusammenhang von Religion und Popmusikkulturen auch als Frage nach »mediale[r] Religion«12 erst allmählich in den Blick. In der deutschsprachigen Theologie werden popmusikkulturelle Phänomene hingegen seit etwa 25 Jahren wissenschaftlich erforscht,13 zumeist mit religionspädagogischem Fokus.14 Ers9
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Vgl. Florian Werner, Rapocalypse. Der Anfang des Rap und das Ende der Welt, Bielefeld 2007; Rupert Till, Pop Cult. Religion and Popular Music, New York 2010; Thomas Bossius/Andreas Häger/Keith Kahn-Harris (Hg.), Religion and Popular Music in Europe. New Expressions of Sacred and Secular Identity, London 2011; Terry Ray Clark/Dan W. Clanton Jr. (Hg.), Understanding Religion and Popular Culture, Oxford/New York 2011; John McClure, Mashup Religion. Pop Music and Theological Invention, Waco 2011; sowie Beate Flath/Christoph Jacke, Das Quasireligiöse im Kontext von Massenevents der Popmusik. Eine Spurensuche, in: Richard Janus/Florian Fuchs/Harald Schroeter-Wittke (Hg.), Massen und Masken. Kulturwissenschaftliche und theologische Annäherungen, Wiesbaden 2017, 25–46. Vgl. Christine Gledhill (Hg.), Stardom. Industry of Desire, London/New York 1991; Werner Faulstich/Helmut Korte (Hg.), Der Star. Geschichte – Rezeption – Bedeutung, München 1997; Richard Dyer, Stars, Neuaufl., London 1998; David P. Marshall, Celebrity and Power, Minneapolis/London 5 2006; Graeme Turner, Understanding Celebrity, London/New Delhi 2 2006; Christoph Jacke, Meta-Stars. Ausdifferenzierung und Reflexivierung von prominenten Medienfiguren als Stars in der Popmusik, in: Caroline Y. Robertson-von Trotha (Hg.), Celebrity Culture. Stars in der Mediengesellschaft, Baden-Baden 2013, 73–101; Peter Rehberg/Brigitte Weingart, Celebrity Cultures. Einleitung in den Schwerpunkt, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 16 (2017), H. 1, 10–20. Vgl. Konstanze Kriese, Rock’n'Ritual. Der Starkult als Kommunikationsstereotyp moderner Musikkulturen und als Gestaltphänomen der Musikindustrie, in: Forschungszentrum Populäre Musik (Hg.), Popscriptum 2. Aufsätze zur Populären Musik, Berlin 1994, 94–120; Christoph Jacke, Medien(sub)kultur. Geschichten – Diskurse – Entwürfe, Bielefeld 2004; Silke Borgstedt, Der Musik-Star. Vergleichende Imageanalysen von Alfred Brendel, Stefanie Hertel und Robbie Williams, Bielefeld 2008; Katrin Keller, Der Star und seine Nutzer. Starkult und Identität in der Mediengesellschaft, Bielefeld 2008; sowie Anja Weller, Die Star-Genese. Entwicklung eines Modells zur Entstehung und Definition des Star-Phänomens, Frankfurt a.M. u.a. 2011. Oliver Krüger, Die mediale Religion. Probleme und Perspektiven der religionswissenschaftlichen und wissenssoziologischen Medienforschung, Bielefeld 2012. Vgl. Peter Bubmann/Rolf Tischer (Hg.), Pop & Religion. Auf dem Weg zu einer neuen Volksfrömmigkeit?, Stuttgart 1992; Ilse Kögler, Sehnsucht nach mehr. Rockmusik, Jugend und Religion, Graz 1994; Rolf Siedler, Feel it in your body. Sinnlichkeit, Lebensgefühl und Moral in der Rockmusik, Mainz 1995; Bernd Schwarze, Die Religion der Rock- und Popmusik, Stuttgart u.a. 1997; sowie Gotthard Fermor, Ekstasis. Das religiöse Erbe in der Popmusik als Herausforderung an die Kirche, Stuttgart u.a. 1999. Vgl. Hubert Treml, Spiritualität und Rockmusik. Spurensuche nach einer Spiritualität der Subjekte. Anregungen für die Religionspädagogik aus dem Bereich der Rockmusik, Ostfildern 1997; Uwe Böhm/Gerd Buschmann, Popmusik – Religion – Unterricht. Modelle und Materialien zur Didaktik von Popularkultur, Münster u.a. 2002; Andreas Obenauer, Too much
Christoph Jacke/Harald Schroeter-Wittke: Pop-Ikonen
te systematisch gesammelte Forschungserträge15 und kulturtheologische Studien zu internationalen Pop-Ikonen16 liegen vor. Die Erforschung von Pop-Ikonen in den deutschen Musikkulturen, Medien und auf den dazugehörigen Märkten befindet sich allerdings noch in den Anfängen,17 wobei hier der Fokus auf dem Zusammenhang von Popmusikkultur und Religion liegt, so dass mit der Analyse der Pop-Ikonen unter dem Aspekt des Heiligen wissenschaftliches Neuland betreten wird.
2.1 Popmusikkulturen und Transformationen Popmusik und die sie rahmende Popkultur stellen einen kommerzialisierten gesellschaftlichen Bereich dar, der Themen industriell produziert und medial vermittelt. Diese werden dann von breiten Bevölkerungsgruppen als »vielzählige […] Publika«18 mit Vergnügen genutzt und weiterverarbeitet. Aufgrund der nahezu unüberschaubaren Ausdifferenzierung wird Popmusik hier nicht als Genre verstanden, sondern mit Popmusikkulturen, populärer Musik etc. gleichgesetzt. Analytisch strukturiert und für Studien systematisiert wird der popmusikalische Kommunikationsprozess in die institutionalisierten und professionalisierten Handlungsdimensionen
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Heaven? Religiöse Popsongs – jugendliche Zugangsweisen – Chancen für den Religionsunterricht, Münster u.a. 2002; Volker Garske, »Er ging auf dem See.« Raumsymbolik in Bibel, Literatur und Popmusik. Analysen und didaktische Perspektiven für den Religionsunterricht in den Sekundarstufen, Essen 2005; Klaus Depta, Rock- und Popmusik als Chance. Impulse für die praktische Theologie, Wiesbaden 2015. Vgl. Kristian Fechtner et al. (Hg.), Handbuch Religion und Populäre Kultur, Stuttgart 2005; sowie Harald Schroeter-Wittke (Hg.), Popkultur und Religion. Best of …, Jena 2009. Vgl. Laurenz Volkmann, Madonna und postmoderne Identitätskonstruktionen. Die Warenlogik der Unterhaltungsindustrie, in: Magazin für Theologie und Ästhetik 23 (2003). URL: h ttps://www.theomag.de/23/lv1.htm [letzter Zugriff: 29.03.2023]; Brigitte Dorner, ,U2 ist ihre Religion, Bono ihr Gott‹. Zur theologischen Relevanz der Rock- und Popmusik am Beispiel von U2, Marburg 2007; Sebastian Berndt, »Gott haßt die Jünger der Lüge«. Ein Versuch über Metal und Christentum. Metal als gesellschaftliches Zeitphänomen mit ethischen und religiösen Implikationen, Hamburg 2012; Matthias Surall, »And God is never far away«. Spannende Theologie im Werk von Nick Cave, Münster 2016; sowie Serina Heinen, »Odin rules« – Religion, Medien und Musik im Pagan Metal, Bielefeld 2017. Vgl. Matthias Schröder, »God is a DJ«. Gespräche mit Popmusikern über Religion, Neukirchen-Vluyn 2000; ders., »Like a Prayer«. Neue Gespräche mit Popmusikern über Religion, Neukirchen-Vluyn 2002; Michael Ganster, Christlich spirituelle Inhalte in zeitgenössischer Popmusik am Beispiel Xavier Naidoos und ihre Rezeption bei Jugendlichen, Konstanz 2003; Matthias Lemme, Die neuen Psalmensänger. Religiosität in deutschsprachiger Popmusik, Jena 2009; sowie Cäcilie Blume, Populäre Musik bei Bestattungen. Eine empirische Studie zur Bestattung als Übergangsritual, Stuttgart 2014. Richard Shusterman, Unterhaltung. Eine Frage für die Ästhetik, in: Christoph Jacke/Eva Kimminich/Siegfried J. Schmidt (Hg.), Kulturschutt. Über das Recycling von Theorien und Kulturen, Bielefeld 2006, 70–96, 71f., Anm. 3.
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der Produktion, Distribution, Rezeption/Nutzung und Weiterverarbeitung, die je eigene, sich teilweise überlagernde Handlungsrollen ausgebildet haben. Erst in diesem kommunikativen Prozess auf Grundlage unterschiedlicher Kulturen und der jeweils aktuellen konkreten Verhältnisse zueinander entsteht Popmusik.19 Innerhalb dieser mediatisierten Popmusikkulturen lassen sich zu den einzelnen Strömungen oder Genres jeweils eigene Subkulturen beobachten, die sich über Aushandlungen sowie An- und Enteignungen an den jeweiligen dominierenden Mainstreams oder Hauptkulturen abarbeiten. Mit den zunehmend in Pop sozialisierten Generationen von Rezipierenden erfolgt eine abgeschwächte Erweiterung dieses durchaus ernsthaften Spiels auf die gesamte Lebenszeit hin, wobei Musik die Funktion der Transformation von sozialer Erfahrung in persönlichen Sinn erfüllt. Weil die Bereiche und Handelnden der Popmusikkulturen besonders sensibel für Differenzsetzungen und für gesellschaftliche Bewegungen zwischen Kommerz und Kunst oder zwischen Innovation/Irritation und Tradition/Normierung sind, stehen sie geradezu seismographisch für gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, so dass sich hier besonders intensiv und frühzeitig übergreifende Wandlungsoder Meta-Prozesse wie Mediatisierung, Digitalisierung, Kommerzialisierung, Individualisierung und Glokalisierung beobachten lassen.20
2.2 Heiligkeit und Religion im Zusammenhang mit Popmusikkulturen In der Forschung liegen erste Untersuchungen zum Zusammenhang von Popmusikkulturen und Religion vor. Inwiefern hingegen das Heilige, das in nicht religiös begründete Bereiche migriert ist, im Bereich der Popmusikkulturen eine zentrale Rolle spielt, ist wissenschaftlich bisher so gut wie gar nicht beleuchtet worden. In Pop-Ikonen lassen sich verdichtete Hinweise auf die bei Charles Taylor im Zusammenhang mit Formen des Religiösen in der Gegenwart genannten Sehnsüchte und Bedürfnisse nach Ordnung, Struktur und Authentizität wie auch nach Chaos, Kontingenz und Ekstase finden.21 In diesen Suchbewegungen zwischen Ordnung und Unordnung sind mannigfaltige Vermischungen, Modifikationen und Transformationen als »Umordnung«22 zu beobachten, die als Erfahrungen von Heiligem einge19 20
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Vgl. ausführlich Christoph Jacke, Einführung in Populäre Musik und Medien, Münster/Berlin 2 2013. Vgl. Peter Wicke, Populäre Musik als theoretisches Konzept, in: PopScriptum 1 (1992), 6–42; Friedrich Krotz, Die Mediatisierung des kommunikativen Handelns. Der Wandel von Alltag und sozialen Beziehungen, Kultur und Gesellschaft durch die Medien, Opladen 2001; sowie Jacke (Anm. 19). Vgl. Charles Taylor, Das Unbehagen an der Moderne, Frankfurt a.M. 1995; sowie ders., Die Formen des Religiösen in der Gegenwart, Frankfurt a.M. 4 2013. Harald Schroeter-Wittke, Musik als Theologie. Studien zur musikalischen Laientheologie in Geschichte und Gegenwart, Leipzig 2010, 246.
Christoph Jacke/Harald Schroeter-Wittke: Pop-Ikonen
ordnet werden können, aber auch als ein für die gegenwärtige deutsche Gesellschaft konstatiertes, von Angst geprägtes »Gefühl der Überlebtheit der Ordnung«.23 Mit Blick auf (popmusikkulturelle) Transformationen24 und Schwellenzustände bzw. Schwellenphasen25 von Heiligkeit lässt sich an einen in der jüngeren Popkulturforschung breit rezipierten kulturwissenschaftlichen Religionsbegriff anknüpfen, der auch gesellschaftliche und individuelle Wertemaßstäbe sowie Formen von »Religion ohne Gott«26 zur Geltung bringt: »Rockmusik ist einer der wichtigsten Mythen unseres Jahrhunderts. Sie ist und will nicht Religion sein. Aber sie ist – auch – ein religiöses Phänomen.«27 Diese Auffassung als Mythos ist valider und sensibler als lediglich normativ geprägte Vergleichsmodelle wie etwa das der Musik als Ersatzoder Pseudo-Religion, wie es in den 1970er und 1980er Jahren oftmals in Anschlag gebracht wurde. So sind Popmusik-Produktionen oder -Rezeptionen zu beobachten, die zunächst nicht als religiös geplant oder gerahmt sind, aber als »implizit«28 oder auch »unsichtbar«29 religiös definiert und so auch auf ihre Zuschreibungen von Heiligem abgesucht werden können. Über die Konstatierung von solcherart Religiösem hinaus ermöglicht die hier vorgenommene Fokussierung auf das Heilige als etwas stets Auszuhandelndes, die Prozesse von ›Heiligsprechung‹ und ›(Ent-)Heiligung‹ genauer zu analysieren, indem das »schmutzige Heilige«,30 das der Popkultur eigen ist, in den Blick genommen wird. Aufgrund der komplexen Mehrfachcodierungen und Lesarten jedes popkulturellen Artefakts, welches bei zerstreuter Rezeption ebenso Vergnügen bereiten kann wie bei konzentrierter,31 ist insbesondere die für diese Ambiguitäten und Dynamiken sensibilisierte Popkulturforschung geeignet, derlei Transformationsprozesse des Heiligen als Ausgehandeltes und Auszuhandelndes zu analysieren. Sie stellen selbst mediale Inszenierungen dar. Dabei führen Medienwandel und Marktorientierung als »Transformation der Kommuni-
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Heinz Bude, Gesellschaft der Angst, Hamburg 2014, 13. Vgl. Thomas Düllo, Kultur als Transformation. Eine Kulturwissenschaft des Performativen und des Crossover, Bielefeld 2011. Vgl. Victor Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Neuaufl., Frankfurt a.M./New York 2005 (1969). Richard Dworkin, Religion ohne Gott, Berlin 2014. Thomas Vogel, Musik als religiöse Erfahrung. Gedanken zu Lärm, Musik, Gott und der Welt, in: Medien Praktisch. Fachzeitschrift für Medienpädagogik 12 (1987), H. 3, 13–15. Günter Thomas, Implizite Religion. Theoriegeschichtliche und theoretische Untersuchungen zum Problem ihrer Identifikation, Würzburg 2001. Thomas Luckmann, Die unsichtbare Religion, Frankfurt a.M. 7 2014 (1967). Robert Pfaller, Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft. Symptome der Gegenwartskultur, Frankfurt a.M. 2008. Vgl. Hans-Otto Hügel, Einführung, in: ders. (Hg.), Handbuch Populäre Kultur, Stuttgart/ Weimar 2003, 1–22; sowie ders., Lob des Mainstreams. Zu Begriff und Geschichte von Unterhaltung und Populärer Kultur, Köln 2007.
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kationsstrukturen« dazu, dass Heiliges »sozusagen ,prozessiert‹«32 wird. Über das explizit religiös begründete Heilige hinaus sind daher auch andere Zuschreibungen von Heiligkeit relevant, um das weite Spektrum der Dimensionen von Heiligkeit abdecken und aktuelle Vermischungen mit erfassen zu können: »By focusing solely on the religious sacred, one may fail to recognize the similar totems, mores, symbols, and activities in social institutions like nation states, the family, race, class, and gender.«33
2.3 Spurensuche des Heiligen Einerseits lassen sich in den Popmusikkulturen Aspekte von ›Heilig-Sprechungen‹ finden.34 Andererseits hat das mittlerweile vielfach in Frage gestellte Säkularisierungsnarrativ Problematisierungen und Verwerfungen des Heiligen als wesentliches Charakteristikum der Moderne aufgefasst. Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich die systematische Herausarbeitung des Heiligen in den genannten Figuren mit ihren Texten und Kontexten. Dazu werden aber nicht nur Zeichen bzw. Offensichtliches gedeutet, sondern dem Unbeabsichtigten, dem Liegengebliebenen wird besonderes Augenmerk geschenkt. So werden Spuren als »Kulturtechnik der Wissenserzeugung«35 gelesen und kommentiert. Denn in ständig dynamischen, häufig flüchtigen und schwer zu dokumentierenden Bereichen von Popmusikkulturen und deren ›Heiligem‹ bleiben oftmals allein Spuren übrig, in denen Performativität klare Repräsentation in unklare Präsenz umschlagen lässt. Dabei geht es weniger um die Ingebrauchnahme popmusikkultureller Figuren, Texte und Kontexte in explizit religiösen Kontexten, obwohl solche Aspekte im Weiteren freilich auch als relevant zu analysieren wären. Vielmehr gilt unser Interesse zunächst dem Absuchen der hervorgehobenen und verehrten Figuren – im Sinne von Ikonen – auf Zuschreibungen von Heiligkeit. Hier zeigt sich der symbolische und insbesondere rituelle Charakter der Inszenierung von Pop-Ikonen nahezu immer über Medialität und Performativität, also Präsenz, Körperlichkeit und Ekstase
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Hubert Knoblauch, Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft, Frankfurt a.M./New York 2009, 270. Matthew T. Evans, The Sacred. Differentiating, Clarifying and Extending Concepts, in: Review of Religious Research 45 (2003), 32–47, 44. Dass und wie – quasi in umgekehrter Richtung zur hier verhandelten Fragestellung – Heiligsprechungen innerhalb der Katholischen Kirche im Kontext von Popkultur geschehen, zeigt sehr eindrücklich die Ausgabe von Eulenfisch, dem Limburger Magazin für Religion und Bildung, Nr. 21 (2018), angesichts der am 14.10.2018 vollzogenen Heiligsprechung der aus dem Westerwald stammenden Heiligen Katharina Kasper (1820–1898), welche mit sehr weitem theologischen und kulturwissenschaftlichen Horizont reflektiert wird. Sybille Krämer, Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt a.M. 2008, 283.
Christoph Jacke/Harald Schroeter-Wittke: Pop-Ikonen
im bereits genannten Sinn: »The live performance of popular music is highly ritualistic, and, like all rituals, its repetition is symbolic of identity, commitment, shared value.«36 Dass diese in ritualisierten Formaten sogar einen entscheidenden Einfluss auf das Erwachsenwerden in der Mediengesellschaft haben und im hier beschriebenen Sinn Spuren des Heiligen aufweisen, hat Ruprecht Mattig mit Hilfe der Ritualtheorie Victor Turners ausgiebig untersucht: »In modernen Gesellschaften hat sich die Liminalität aus den fest institutionalisierten rituellen Zusammenhängen, in die sie in traditionellen Gesellschaften eingebunden ist, gelöst und zerfällt in verschiedene liminoide Genres.«37 Auf Agambens These, »der moderne Mensch« suche »im Spiel, bei Tanz und Festen […] verzweifelt und beharrlich nach dem Gegenteil dessen, was er dort finden kann: […] nach der Rückkehr zum Heiligen und zu dessen Riten, und sei es auch nur in Gestalt der abgeschmackten Zeremonien der neuen Religion der Medienspektakel«,38 ist daher popkulturtheologisch zu erwidern: »Das Heilige? Zurückkehren? Das Heilige haben wir nie gekannt und besessen. Wir halten alle immer nur das Vor-Läufige in den Händen!«39 Oder anders gesagt: Das Heilige gibt es (popkulturell) schlichtweg nicht jenseits von Transformationen.
2.4 Pop-Ikonen als Medien für Transformationen des Heiligen Schon der Begriff der Pop-Ikone beinhaltet eine popkulturelle Transformation des Heiligen. Noch ist offen, inwiefern dieser Begriff an andere Forschungsdiskurse zu Ikonen wie etwa den über das Phänomen der Ikonen der Ostkirchen anknüpfen kann.40 Gleichwohl scheint uns die Begriffsprägung der Pop-Ikone nicht einfach aus der Luft gegriffen:
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David Tetzlaff, Music for Meaning. Reading the Discourse of Authenticity in Rock, in: Journal of Communication Inquiry 18 (1994), 95–117, 109. Ruprecht Mattig, Rock und Pop als Ritual. Über das Erwachsenwerden in der Mediengesellschaft, Bielefeld 2009, 65. Für die Theologie hat vor allem Harald Schroeter-Wittke diese Berücksichtigung des Liminoiden gegenüber dem Liminalen eingefordert: Übergang statt Untergang. Victor Turners Bedeutung für eine kulturtheologische Praxistheorie, in: Theologische Literaturzeitung 128 (2003), 575–588; ders., Schwebende Verfahren. Zur performativen Dimension der Seelsorge, in: Wege zum Menschen 64 (2012), 327–342; ders., Event(uelle) Kirche, in: Janus et al. (Hg.) (Anm. 9), 71–78; sowie ders., Prekäre Situationen. Rituale im Krankenhaus, in: Wege zum Menschen 70 (2018), 358–368. Giorgio Agamben, Profanierungen, Frankfurt a.M. 2005, 74. Frank Thomas Brinkmann, Ergreifende Herzensangelegenheiten und Sympathy for the Devil? Zur Dynamik einer Poptheologie des 21. Jahrhunderts, in: ders. (Hg.), Pop goes my heart. Religions- und popkulturelle Gespräche im 21. Jahrhundert, Wiesbaden 2016, 185–203, 201. Vgl. Helmut Fischer, Die Welt der Ikonen. Das religiöse Bild in der Ostkirche und in der Bildkunst des Westens, Frankfurt a.M./Leipzig 1996; Konrad Onasch, Ikone. Kirche, Gesellschaft, Paderborn u.a. 1996; sowie Hans Belting, Das heilige Porträt. Die Ikone als Manifest, in: Cai Werntgen (Hg.), Szenen des Heiligen, Berlin 2011, 39–56. Hier wäre eine nicht abwertende
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Zum einen eröffnen Ikonen wie Pop-Ikonen einen Zugang zur anderen, für ›Normalsterbliche‹ verschlossenen Welt, die ohne die Ikone hier und jetzt verschlossen bliebe. Sie ist also selbst Medium des Heiligen. Zum anderen sorgen Ikonen wie Pop-Ikonen aufgrund ihrer Medialität dafür, dass das Heilige in die persönliche Sphäre mitgenommen werden kann, sie fungieren so als transportables Medium. Zum dritten deuten die Begriffe ›Ikonen‹ wie ›Pop-Ikonen‹ darauf hin, dass Heiliges nur dann erforscht werden kann, wenn dessen Inszenierungsformen mitberücksichtigt werden.
Schließlich lässt sich in der Popkulturforschung selbst eine Begriffswandlung beobachten: von »Idol«41 im 20. Jahrhundert über die synonyme Verwendung beider Begriffe »Idol/Ikone«42 an der Jahrtausendwende hin zum Begriff der Ikone, die im 21. Jahrhundert den Begriff des Idols weitgehend abgelöst hat.43 In theologischer Konnotation enthält dieser Begriffswandel den Wandel vom Idol als Götzenbild hin zur Ikone als »Fenster zum Absoluten«44 und würde so den Prozess der Popkulturforschung widerspiegeln von einem durch die Erwachsenen- bzw. E-Kultur befehdeten Subphänomen hin zu einem allgemein akzeptierten Kulturphänomen, das nicht mehr reflexartig immer sogleich abgewertet werden muss. Popkultur ist damit zu einer etablierten Kultur und zu einem Teil eines allgemeinen Kanons geworden, wie sich etwa an Schulbüchern, akademischen Studiengängen, Ausstellungen und Museen erkennen lässt – mit all den Ambivalenzen, die dies mit sich bringt.
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theologische Rezeption der Popkultur durch orthodoxe Theologien der Gegenwart als Gesprächspartnerinnen wünschenswert, die uns bislang aber leider noch nicht bekannt ist. Vgl. Bernhard Casper (Hg.), Phänomenologie des Idols, Freiburg/München 1981; Siegfried Schmidt-Joos (Hg.), Idole. 9 Bände, Frankfurt a.M. 1984–1987; Manuela Honsig-Erlenburg (Hg.), Sprachliche Inszenierung von Musikidolen in kommerziellen Jugendzeitschriften. Stars aus Fleisch und Blut oder eine Jugendszene zwischen Markt, Kultur und Medien, Graz 1998. Walter Uka, Idol/Ikone, in: Hügel (Hg.), Handbuch (Anm. 31), 255–259. Dass es im NachfolgeHandbuch von Thomas Hecken/Marcus S. Kleiner (Hg.), Handbuch Popkultur, Stuttgart 2017, zwar einen eigenen Artikel zu »Radio_DJs« (Hans Nieswandt, 129–132) gibt, nicht aber zu dem Lemma Star/Idol/Ikone, was unter »II. Gattungen und Medien« eine eigenständige Kategorie hätte sein müssen, ist ein echtes Dilemma, dem ein weiteres korrespondiert, nämlich das Fehlen von Religionswissenschaft/Theologie unter »IV. Wissenschaft«, wo immerhin 12 Bezugswissenschaften für die Erforschung der Popkultur reflektiert werden. Hier zeigt sich eine gewisse konzeptionelle Einseitigkeit des Popkulturbegriffs in diesem Handbuch. Vgl. Martin Kemp, Christ to Coke. How Image Becomes Icon, Oxford 2012; sowie Gary Laderman, Sacred Matters. Celebrity Worship, Sexual Ecstasies, the Living Dead, and Other Signs of Religious Life in the United States, New York/London 2009, 63–84. Michel Quenot, Die Ikone. Fenster zum Absoluten, Würzburg 1992.
Christoph Jacke/Harald Schroeter-Wittke: Pop-Ikonen
Von mediatisierten Ikonen der Popmusikkulturen aus, die zugleich selbst Medium sind, kann daher eine Kulturgeschichte von populären Heiligkeitskonstruktionen in ihren Facettierungen und Widersprüchlichkeiten skizziert werden. Die vier oben anvisierten deutschen Pop-Ikonen weisen vielfältige Verbindungen zu interund transnationalen Phänomenen auf und eignen sich als Brückenschlag zur anglo-amerikanischen Scientific Community, die seit längerem eine wissenschaftliche Fokussierung auf deutsche Popmusikkultur einfordert.45 Ebenso kann der Bereich der Erforschung des Heiligen hier aus diesem hochaktuellen Feld der Popmusikkulturbeobachtungen justiert werden. So soll der bei Bachmann-Medick erwähnte Übersprung von konkreten Fallstudien neuer »Gegenstandsfelder hinaus auf die Ebene von Analysekategorien« gelingen und sich »gerade dadurch ein transdisziplinäres Potenzial«46 entfalten. Selbstverständlich können hier auch Analysen zu jüngeren Pop-Ikonen und solchen aus anderen Pop-Bereichen oder (Pop-)Kulturkreisen angeschlossen werden, um intergenerationell, international und interkulturell Anschlüsse zu leisten. Zunächst einmal soll jedoch eine erste Spurenlese das Feld erschließen und unsere grundlegenden Konzeptualisierungen am jeweiligen Exempel durchspielen und überprüfen.
2.5 Pop-Ikonen als Drittheit und Dazwischen Das Spiel- und Übungsfeld der Popmusikkulturen dient als massenwirksames Laboratorium für Identitäts- und Differenzaushandlungen. Dementsprechend deutlich lassen sich an dessen Popstars als Pop-Ikonen Phänomene der Konstruktion des Dritten und des Dazwischen beobachten. Die Pop-Ikone fungiert als Botin sowie als Vermittlerin (Medium) von Heiligkeit. Im Bereich der Popmusikkultur werden aufgrund ihres dauerhaften Verlangens nach Differenz Unterscheidungen ebenso wie Vermischungen (um neue Unterscheidungen zu setzen) geradezu prototypisch vollzogen. Pop-Ikonen als Figuren dieses gesellschaftlichen Übungsfeldes, dieser Wahlpflichtveranstaltung mit freilich ernsthaften Interessen und Auswirkungen, changieren zwischen verschiedenen Welten, sie testen Grenzen aus, machen diese porös, überschreiten sie, ziehen sich wieder zurück: Ebenso wie
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Für weitere Belege vgl. Christoph Jacke, German Popular Music Studies as Part of (International) Media Cultural Studies, in: Frontiers of Literary Studies in China 7 (2013), 271–286; sowie Ahlers/Jacke (Hg.) (Anm. 4). Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2 2007, 382.
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Zombies,47 Gespenster48 oder Fantasy-Figuren49 sind sie Medien im Sinne von Vermittlern zwischen den Welten, also Boten, die Kommunikation sichtbar machen (Serres 1991).50 Gleichzeitig werden Pop-Ikonen selbst als Figuren mediatisiert, indem sie in allen Dimensionen des popmusikalischen Kommunikationsprozesses fest an Medien-Komponenten der Technik, der Zeichen, der Institutionen, der Berichterstattungen gekoppelt sind, und fungieren als »Kippfigur des Boten«.51 Allerdings sind sie keinesfalls so bescheiden und sich zurücknehmend, wie Sybille Krämer Boten beschreibt.52 Stattdessen sind Pop-Ikonen schillernde Boten, die (sich) ständig behaupten und vielleicht deswegen ihre eigene Medialität invisibilisieren – oder wiederum damit spielen. Gerade weil sie auf Bühnen agieren und stets so tun dürfen »als ob«,53 können sie ausprobieren – und werden oftmals genau deswegen von ihren Fans mit Identifikation belohnt. Dieses Spiel um die eigene Genese wird mittlerweile selbst wieder in Form von Casting-Shows überaus erfolgreich mediatisiert und kommerzialisiert. Stars der Popmusikkulturen bewegen sich sozusagen per Berufung ständig performativ an Übergängen in beide Richtungen und also in Zwischenräumen: zwischen Ernst und Spiel, Kunst und Kommerz, Innovation und Tradition, Regelbruch und Normierung, Frau und Mann, Inhalt und Form(at), Komplexität und Trivialität, Progressivität und Regressivität, Nähe und Distanz etc. So wie sie medial erst durch ihren Tod unsterblich werden,54 sind an den Pop-Heiligen Zwischenzustände und Bewegungen ablesbar. An ihnen zeigt
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Vgl. Markus Metz/Georg Seeßlen, Wir Untote! Über Posthumane, Zombies, Botox-Monster und andere Über- und Unterlebensformen in Life Science & Pulp Fiction, Berlin 2012. Vgl. Robert Stockhammer, Zur Theorie der Gespenster oder die Un-Logik der Literatur, in: Mario Grizelj (Hg.), Der Schauer(roman). Diskurszusammenhänge – Funktionen – Formen, Würzburg 2010, 43–75; sowie María del Pilar Blanco/Esther Peeren (Hg.), Popular Ghosts. The Haunted Spaces of Every Day Culture, New York/London 2011. Vgl. Peter Frasch, Fantasie als Weg zur Wirklichkeit? Kulturhermeneutische Analyse christlicher Traditionsbestände im modernen Fantasy-Film vor dem Hintergrund religiöser Bildungsprozesse, Berlin 2018. Vgl. Michel Serres, Hermes I. Kommunikation, Berlin 1991. Alexander Zons, Der Bote, in: Eva Esslinger et al. (Hg.), Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma, Frankfurt a.M. 2010, 153–165. S. Krämer (Anm. 35). Vgl. Judith Mair/Silke Becker, Fake for Real. Über die private und politische Taktik des So-tunals-ob, Frankfurt a.M. 2015; Christoph Jacke/Beate Flath, Fakt – Fake – Pop. Kulturelle Dynamiken, Spiele und Brüche, in: Medien & Zeit. Kommunikation in Vergangenheit und Gegenwart 32 (2017), H. 4, 2–8 und alle Beiträge des Hefts; sowie Thomas Düllo, Kulturwissenschaft, in: Thomas Hecken/Marcus S. Kleiner (Hg.), Handbuch Popkultur, Stuttgart 2017, 321–325, der »Pop als Transformation und inkorporiertes Erfahrungswissen im Modus des Als-Ob« (323) versteht. Vgl. Nina Metz/Birgit Richard, R.I.P. Der tote Star als postritueller Märtyrer und düstere Ikone des Internets, in: Robertson-von Trotha (Hg.) (Anm. 10), 103–116.
Christoph Jacke/Harald Schroeter-Wittke: Pop-Ikonen
sich exemplarisch, was der Medienkulturwissenschaftler Sebastian Jünger für Kultur generell als »die Komplementarität von Strukturalität und Prozessualität, von Differenzierung und Vereinheitlichung, von Bestimmtheit und Unbestimmtheit«55 beschrieben hat. Dabei ist aber auch der Spur des vietnamesischen Politikwissenschaftlers Kien Nghi Ha nachzugehen, der im Zuge von Differenzkonsum und spätkapitalistischen Verwertungstechniken vom »Hype um Hybridität« spricht und diese »Vermischung als Symptom von Kulturverfall und Gesellschaftskrise«56 diskutiert.
3. Erste Spurenlese Aus dem Gesagten ergeben sich Forschungsfragen: Welche Spuren des Heiligen lassen sich an Popmusikkultur-Ikonen und ihren Texten und Kontexten erkennen, während das Heilige in einem religiös-institutionellen Sinne einst durch Pop (insbesondere im deutschsprachigen Kontext) oftmals ausgeschlossen oder zumindest kritisiert wurde? Welche Prozesse der ›Heilig-Sprechung‹ oder auch der ›Feindheiligung‹ werden erkennbar? Auf welche Weisen wird das Heilige in den unterschiedlichen Dimensionen des popmusikkulturellen Kommunikations- und Vermittlungsprozesses konstruiert? Oder dient es selbst in Form von Pop-Ikonen als Medium, etwa durch Muster von Verehrung bzw. Bewunderung?57 Wie gestaltet sich in der Inszenierung von Pop-Ikonen die für das Heilige konstitutive Spannung von gleichzeitiger Nähe und Entzogenheit? Wie finden Annäherungen an Muster der ›Profanierung‹ oder ›Heiligsprechung‹ statt? Inwiefern werden popkulturelle Angebote erzeugt, die ihrerseits wieder als Welterklärungsmodelle und mitunter als neue Formen des Heiligen identifiziert werden können, z.B. als »schmutziges Heiliges«?58 Alle vier hier ausgewählten, dauerhaft und massenwirksam erfolgreichen Pop(musik)künstlerinnen und -künstler, die unterschiedliche Genres vertreten, weisen als Pop-Ikonen ein hohes Maß an Intertextualität und Intermedialität auf, so dass sie nicht nur auf den popmusikalischen Aspekt zu beschränken sind. Aufgrund des spielerischen Charakters der Kulturform Popmusik können alle vier Pop-Ikonen als Seismographen für gesamtgesellschaftliche Entwicklungen gelesen werden. Dabei
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Sebastian Jünger, Kognition, Kommunikation, Kultur – Aspekte integrativer Theoriearbeit, Wiesbaden 2002, 141. Kien Nghi Ha, Hype um Hybridität. Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus, Bielefeld 2005, 23. Vgl. Elisabeth Bronfen/Barbara Straumann, Diva. Eine Geschichte der Bewunderung, München 2002. S. Pfaller (Anm. 30).
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wird das spezifisch Deutsche59 im globalen Kontext von Popmusikkulturen sichtbar und kann so auf Aspekte der Glokalisierung von Transkulturalität/Popkulturalität hin beleuchtet werden. Der zeitliche Fokus liegt auf den letzten 40 Jahren, in denen alle genannten Figuren ihre Karriere aufgebaut haben, bis heute sowohl ökonomisch, medial sowie bei großen Publika besonders erfolgreich und aktuell sind und in denen sich insgesamt der Bereich populärer Musik weltweit und insbesondere in Deutschland überhaupt erst gesellschaftlich etabliert hat. Marius Müller-Westernhagen und Nina Hagen lassen sich unter den Aspekten von Geschlechtlichkeit, Schauspiel und Bekenntnis vor allem in den Dimensionen der Produktion und Distribution analysieren, wobei Westernhagens Videoclip »Jesus« (1998) und Hagens Buch »Bekenntnisse« (2010) unsere Ausgangspunkte der Forschung darstellen. Andrea Berg und Rammstein lassen sich gut unter den Aspekten von Geschlechtlichkeit, Heimat(losigkeit), Inszenierung/Performance vor allem in den Dimensionen der Rezeption und Weiterverarbeitung analysieren, wobei Bergs Live-Auftritte und Rammsteins Compilation »Made in Germany (1995–2011)« unsere Ausgangspunkte der Forschung markieren. Alle fünf genannten Artefakte beinhalten signifikante Prozesselemente der Ikonisierung der jeweiligen PopFigur und zeigen in ihrer unterschiedlichen medialen Performativität die Vielfalt möglicher popkultureller Transformationsformate des Heiligen. Im Folgenden stellen wir erste, vornehmlich werkästhetisch orientierte Wahrnehmungen im Dickicht der Fragestellungen als Vorarbeiten für die Erforschung des Ikonisierungsprozesses vor, der seinerseits wiederum empirischer Grundierung bedarf. Mit den sich aus unseren Beobachtungen stellenden Fragen hoffen wir, weitere Forschungen in diesem Bereich anregen zu können.
3.1 Marius Müller-Westernhagens »Jesus«60 1998 veröffentlicht Marius Müller-Westernhagen nach vierjähriger Pause das Album »Radio Maria« mit einer doppelten Cover-Version.61 Beide Male sind zwei Portraits von Westernhagen zu sehen, eines in schwarz-weiß mit Brille und eines in Farbe ohne Brille von Westernhagen, wobei jede Version eines der beiden Portraits voll und das je andere Portrait abgeschnitten zeigt. Schon hier wird deutlich, dass es in diesem Album um Identitäten und Ikonen als Mehrfachcodierungen geht. Das
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Vgl. Dietrich Helms/Thomas Phleps (Hg.), Typisch Deutsch. (Eigen-)Sichten auf populäre Musik in diesem unserem Land, Bielefeld 2014; sowie Ahlers/Jacke (Hg.) (Anm. 4). Marius Müller-Westernhagen, Wunschkonzert (CD + DVD, incl. Jesus), Warner Music Company 2008. Ders., Radio Maria (EAN Code 3984242182 sowie 3984242192), Halleluja Communications 1998.
Christoph Jacke/Harald Schroeter-Wittke: Pop-Ikonen
Album entstand in Italien, wo der Vatikan-Sender Radio Maria zum Alltag gehört. Vier Wochen vor Erscheinen des Albums wurde »Jesus« im Juli 1998 als erste Single ausgekoppelt, die auf Platz 17 der deutschen Charts landete. »Jesus« hat außer bei einigen evangelikalen Kritiken, die es als gotteslästerlich bezeichneten, kaum zu öffentlicher Erregung geführt – ganz anders noch als Madonnas Song und vor allem Musikclip »Like a Prayer« 1989 – und wurde von der deutschsprachigen Kritik u.a. als das schwächste Stück dieses Albums gesehen.62 Das Album »Radio Maria« verkaufte sich 1,25 Millionen Mal, Westernhagen gewann mit diesem Album 1999 den Echo in der Kategorie »Künstler des Jahres national«. Dabei gibt Marius als männliche Namensform von Maria dem ersten Song dieses Albums »Jesus« ein bestimmendes Gepräge, was vor allem auch im dazu gehörigen Videoclip deutlich wird, das als »Concept-Video«,63 als narrativer Clip gestaltet ist. Marius gebiert dort seinen Jesus, der als Leerstelle im Video allgegenwärtig ist, wobei die gesamte Zeit über offenbleibt, ob und inwiefern Marius, der das Video der Länge nach durchschreitet, diese offene Leerstelle Jesus moderiert, begleitet, verkörpert oder nicht. Das Jesus-Video wurde theologisch intensiv wahrgenommen und ausführlich analysiert.64 Dabei werden die zahllosen Verweise auf Bibelstellen, christliche Ikonographie, Kunst- und Theologiegeschichte, Christologie und Nachfolgetheologie sowie Popkulturgeschichte profund herausgearbeitet. Eingerahmt durch ein Vorund Nachspiel durchschreitet Marius sechs Szenen, die als Jesus-Narrative gestaltet sind: 1. Kinder am Stacheldrahtzaun mit Stigmatisierung (Lasset die Kinder zu mir kommen) 2. Motorradunfall mit Pietà 3. Fußwaschung im Bordell (Himmelreich) 4. U-Bahn-Szene mit Alkoholiker (gotischer Schmerzensmann) 5. Gewalt im Supermarkt mit Asylantenfamilie (Umkehrung der Flucht nach Ägypten) 6. Restaurant (Abendmahlsszene mit Verrat)
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So laut Wikipedia-Artikel Radio Maria (Album). URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Radio_M aria_(Album) [letzter Zugriff 23.03.2021] in dem Artikel »Ein ›Affentheater‹ für nachdenkliche Töne«, in: Allgemeine Zeitung aus Mainz (15.08.1998). Gerd Buschmann/Julia Dieter, »Jesus«. Müller Westernhagen ikonographisch. Ein Musikvideo mit religiöser Thematik als modern-mystisches Andachtsbild der Passionsfrömmigkeit, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 52 (2000), 208. Vgl. ebd., 203–217; sowie Klaas Huizing, Ästhetische Theologie. Band II. Der inszenierte Mensch. Eine Medien-Anthropologie, Stuttgart/Zürich 2002, 222–238.
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Dabei enden diese Szenen jeweils mit einem Einfrieren ihres traumatischen Höhepunktes, während Marius durch das Standbild weiter schreitet. Ein solches Einfrieren (Freeze) ist aus der Traumaforschung bekannt,65 was im biblischen Kontext etwa an Lots Frau deutlich wird, die in Gen 19,26 angesichts der Katastrophe von Sodom und Gomorrha zur Salzsäule erstarrt. Gerd Buschmann und Julia Dieter sehen das Video als moderne Fortschreibung eines mystischen Andachtsbilds der Passionsfrömmigkeit. Textlich und bildlich geht es um Tod und Leben, um Abendmahl, Fußwaschung, Sünder*in-Sein, Genderfragen, Asyl-, Gewalt-, Verrat- und Unterdrückungserfahrungen. Systematischtheologisch hat Klaas Huizing das Video unter der Überschrift »Der erregte Christopherus« eindrucksvoll interpretiert, indem er es als Antikonzept zu Madonnas Jesus-Video liest: Der Aufschrei – kein wirklich tanzbares Lied –, das gebetliche Flehen hat eine motivierende Kraft. Diese Musik ist eine Versuchung, sich nicht einverstanden zu erklären. Die Zuhörer und Zuschauer werden nicht geschockt, um sie zur Kapitulation zu zwingen. Vielmehr ein Versuch, sie an die Kandarre zu nehmen und die Unbetrefflichkeitscoolness abzulegen.66 Dies korrespondiert mit Selbstaussagen von Marius Müller-Westernhagen zu seinem Jesus: »Es ist wirklich so gemeint, wie ich’s da singe. Es ist ein Gospel.«67 Ich möchte ›Jesus‹ in keinem Fall blasphemisch verstanden wissen. Ich bin ein gläubiger Mensch. Ich glaube zwar nicht an Gott als Person mit einem langen weißen Bart, aber ich glaube an Gott als universelle Energie. Gott ist allgegenwärtig. Jeder kann Jesus sein. Und in jedem ist göttliche Energie. Ich bin davon überzeugt, dass jede Handlung eines Einzelnen Einfluss auf das gesamte Universum hat.68 In den bisherigen theologischen Wahrnehmungen bleiben die Rahmenhandlung von Song und Video merkwürdig unterbestimmt. Die CD »Radio Maria«69 beginnt mit dem ersten Song »Jesus« mit einer undeutlichen und kaum verständlichen Radioaufnahme einer italienisch-lateinischen Gottesdienstübertragung mit ziemlich viel Kratzen und Pfeifen, bevor der Beat von »Jesus« einsetzt, der Marius im Video durch die sechs Jesus-Szenen trägt. Im Video wird dieser kratzend-pfeifende Beginn als Szene in einem Auto gezeigt, wobei die Kamera ein Autoradio zeigt, das
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Vgl. Thomas Thiel, Geteiltes Leben. Seelsorgliche Begleitung traumatisierter Soldaten, in: Wege zum Menschen 70 (2018), 497–506. Huizing (Anm. 64), 235. Zit. n. Buschmann/Dieter (Anm. 63), 208. Ingrid Böck, Jesus, Maria und Marius, Interview mit Ingrid Böck, in: Focus (10.08.1998). Westernhagen, Radio Maria (Anm. 61).
Christoph Jacke/Harald Schroeter-Wittke: Pop-Ikonen
von einer Hand angeschaltet wird. Die Kamera verfolgt dann von hinten eine Lichtfigur, die zunächst als Engel mit zwei weißen Lichtflügeln erscheint, bevor deutlich wird, dass es sich hier um den schwarz gekleideten Sänger Marius handelt, der mit weißem Hemd und schwarzer Krawatte predigend und betend – anklagend wie aufrüttelnd – durch das Video läuft. Diese Kleidung erinnert an Trauer-, aber auch an eine Predigerkleidung. Das Video endet damit, dass eben diese Figur wieder gezeigt wird, wie sie gen Himmel »Yeah« ruft/schreit/fleht und jemanden ›dort oben‹ zum Mitmachen auffordert. Dann vollzieht die Kamera eine Himmelfahrt, indem sie die Zuschauenden mit raketenartiger Geschwindigkeit gen Himmel entführt, wobei sie deren Blicke auf dieser Lichtfigur belässt, die schließlich als heller Punkt in der Ferne leuchtet bzw. zu verschwinden droht. Sowohl diese Lichtfigur als auch die Zuschauenden werden so zum Stern, zum Star. Damit dreht Westernhagen die Heiligsprechung um,70 indem die Zuschauenden dieser nach oben gerichteten Anrufung zu deren Adressaten werden: »Jesus / Wir sind die Helden / Es geht, du musst nur wollen / Jesus / Sei nicht so feige / Wir werden’s der Welt schon zeigen / Wir werden’s der Welt beweisen«. Vom fernen Himmel fährt die Kamera dann aber schlussendlich in Windeseile71 wieder in das Auto in die erste Kameraeinstellung, wobei das Autoradio nun abgeschaltet wird und noch einmal kurz aufblinkt. Das Auto-, verbunden mit dem Radio-Motiv thematisiert das Selbst und die Frage, wie es Verbindung zur Außenwelt hält. Die Gottesdienstübertragung zu Beginn stellt das Thema der Transformation, die in diesem Video als »Gottesdienst im Alltag der Welt«72 übersetzt wird: Jeder kann Jesus sein. Das wird z.B. besonders deutlich im Mundharmonika-Zwischenspiel, das Marius in der U-Bahn, in der Unterwelt vor einem blau-roten Lichtkreuz73 in einer schmerzverkrümmten Körperhaltung
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Das gilt in gewisser Weise auch für den Prozess, den der Schauspieler Westernhagen als PopIkone für seine Konzerttätigkeit im Interview mit Ingrid Böck (Anm. 68) beschreibt: »Ich sehe mich auf der Bühne als Medium, als Leinwand, auf die das Publikum projiziert. Das heißt, ich muss mich öffnen. Ich muss im wahrsten Sinne des Wortes die Hosen runterlassen. Das ist fast eine schizophrene Situation, weil ich privat ein introvertierter Mensch bin. Auf der Bühne muss ich extrovertiert sein. Ich empfinde auf der Bühne etwas, was man durchaus Liebe nennen könnte. Ich war meinem Publikum gegenüber niemals zynisch. Ich will ihm etwas geben.« Der Wind ist ein wiederkehrendes Motiv in diesem Video und wird von Huizing (Anm. 64), 227, als ruach (hebräisch), als Windhauch, als Geist Gottes gelesen. Ernst Käsemann, Gottesdienst im Alltag der Welt, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen II, Göttingen 6 1970, 198–204. Das Blau als Marienfarbe wird hier verbunden mit dem Rot als liturgische Farbe für das Martyrium, die Zeugenschaft, die auch die vielfältige Blutmetaphorik und -symbolik dieses Videos von den Stigmata über das Abendmahl bis hin zum verschütteten Rotwein beim Verrat anspielt.
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zeigt und so die Kreuzigung armfrei andeutet: »Gott hat keine anderen Hände als unsere.«74
3.2 Nina Hagens »Bekenntnisse«75 Im August 2011 strahlte der TV-Sender ARTE erstmals den Dokumentationsfilm »Nina Hagen – Godmother of Punk« aus: Ihr 1978 veröffentlichtes erstes Album ›Nina Hagen Band‹ machte die damals 23Jährige zum Star und prägte das Frauenbild einer ganzen Generation. Junge Frauen, die Ende der 70er Jahre nach selbstbewussten, weiblichen Vorbildern suchen, finden in Nina das perfekte Role-Model. In ihren unmissverständlichen, provokanten Texten kritisiert sie althergebrachte Rollenklischees für Frauen, singt über Drogentrips, Onanie, lesbische Liebe und Abtreibung. Musikalisch errang sie innerhalb kürzester Zeit internationale Aufmerksamkeit und Anerkennung in ganz Europa, Nordamerika, Japan und Brasilien. […] Sie lebt in Europa, Asien und den USA, zieht zwei Kinder von verschiedenen Vätern groß, heiratet dreimal, ohne sich je dauerhaft an einen Mann zu binden. Auch wenn sie wegen ihres schrillen Auftretens in den deutschen Medien nicht immer verstanden wird – für Nina Hagen ist Showgirl-Sein zwar Berufung, aber sie meint es immer ernst mit ihrer Suche nach Sinn und Weltverbesserung. Immer wieder macht sie sich stark für den Tierschutz und gegen Neonazis, sie unterstützt ein indisches Krankenhaus und Sterbehospiz und erhebt ihre Stimme schon seit den 80er Jahren gegen Atomkraft. […] Nina Hagen lebt ihre Träume und gehört zu den radikalsten populären Musikerinnen Deutschlands. Kommerzielles Interesse stand bei ihrer Musik nie im Vordergrund, und daher war sie auch einige Jahre ohne Plattenvertrag. In jüngster Zeit sorgt Nina Hagen mit ihrem Übertritt zum Christentum wieder einmal für Schlagzeilen. 2009 lässt sie sich christlich taufen und bekennt sich damit offiziell zu einem christlichen Gott, der ihr zum ersten Mal mit 17 Jahren während eines LSD-Trips erschienen ist. Mit ihrem aktuellen Gospel-Album ›Personal Jesus‹, das ihr kommerziell erfolgreichstes Album seit über 20 Jahren ist, hat sie sich selbst einen lang gehegten Traum erfüllt.76
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So Dorothee Sölle in: dies./Fulbert Steffensky, Zwietracht in Eintracht. Ein Religionsgespräch, Zürich 1996, 23. Sölle bezieht sich mit diesem oft von ihr angebrachten Diktum auf Teresa von Avila; vgl. dazu Pietro Selvatico/Doris Strahm, Jesus Christus. Christologie (Studiengang Theologie VI/2), Zürich 2 2011, 282. Nina Hagen, Bekenntnisse, München 2010. Vgl. Bettina Wittke, »Und so werde ich den Gospel für Jesus in meinem ganzen Leben singen…« Nina Hagen, Bekenntnisse, in: Praktische Theologie 46 (2011), 125–127. Die Deutsche »Grammophon« hat Nina Hagens Bekenntnisse 2010 auch veröffentlicht als von der Autorin gelesene gekürzte Hörbuchfassung (4 CDs, 317 Minuten). URL: https://programm.ard.de/TV/arte/nina-hagen---godmother-of-punk/eid_2872466524 66353 [letzter Zugriff: 30.12.2018].
Christoph Jacke/Harald Schroeter-Wittke: Pop-Ikonen
Der Taufe in der evangelisch-reformierten Kirche Schüttorf 2009 folgte 2010 ihr Buch »Bekenntnisse«, in dem sie Rechenschaft gibt über ihren Lebensweg. Hagens Bekenntnisse stehen in einer bedeutenden literarischen Tradition, ohne diese zu erwähnen. Augustins gleichnamige »Confessiones« enthalten in den Büchern 1–9 eine Autobiographie,77 die seinen Weg zur Taufe hin beschreiben und damit stilbildend für das christliche Abendland wurden. Ebenso stilbildend für die Neuzeit wurden Rousseaus »Confessions« – die erste Autobiographie, welche sich nicht an einem explizit christlichen Lebensweg orientiert und als schonungslose Selbstentblößung gilt.78 Wie sich Hagens »Bekenntnisse« zu jenen stilbildenden Bekenntnissen Augustins und Rousseaus verhalten, wäre eine eigene Untersuchung wert, anhand derer sich Transformationen des Heiligen aufzeigen lassen.79 Dabei wären im Falle Nina Hagens insgesamt drei eigene Autobiographien80 sowie eine frühe biographische Skizze81 zu untersuchen, die alle zu ihrer Pop-Ikonisierung beigetragen haben,82 wozu sich noch zwei weitere Autobiographien ihrer Mutter, der berühmten DDRSchauspielerin Eva-Maria Hagen (1934–2022)83 gesellen nebst der Autobiographie ihres Stiefvaters Wolf Biermann (*1936).84
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Zu Recht fragt Paula Frederiksen mit der jüngeren Augustin-Forschung, inwiefern dessen Confessiones überhaupt als Autobiographie verstanden werden können: Die Confessiones (Bekenntnisse), in: Volker Henning Drecoll (Hg.), Augustin Handbuch, Tübingen 2007, 294–309. Vgl. Franz Bockrath, Rousseaus existenzieller Selbstentwurf als Illusion des modernen Selbst, in: Elk Franke/Eva Bannmüller (Hg.), Jahrbuch Bewegungs- und Sportpädagogik in Theorie und Forschung. Bd 2. Ästhetische Bildung, Butzbach 2003, 169–180; Frederick Neuhouser, Pathologien der Selbstliebe. Freiheit und Anerkennung bei Rousseau, Berlin 2012; sowie Robert Walter-Jochum, Vom Bekenntnis zum Plädoyer. Religion, Sexualität und Identität bei Jean-Jacques Rousseau und Josef Winkler, in: Tim Lörke/Robert Walter-Jochum (Hg.), Religion und Literatur im 20. und 21. Jahrhundert. Motive, Sprechweisen, Medien, Göttingen 2015, 367–389. Vgl. Henning Luther, Das unruhige Herz. Über implizite Zusammenhänge zwischen Autobiographie, Subjektivität und Religion, in: Walter Sparn (Hg.), Wer schreibt meine Lebensgeschichte? Biographie, Autobiographie, Hagiographie und ihre Entstehungszusammenhänge, Gütersloh 1990, 360–385. Nina Hagen, Ich bin ein Berliner. Mein sinnliches und übersinnliches Leben, München 1988; sowie die fulminante Bilderbuchautobiographie Nina Hagen/Marcel Feige/Jim Rakete, Nina Hagen. That’s why the Lady is a Punk, Berlin 2002. Kathrin Brigl, Nina Hagen. Die Provokation oder: Ich vertrau‹ meinen außerirdischen Freunden, in: Siegfried Schmidt-Joss (Hg.), Idole 8. Treffpunkt im Nirgendwo. Abba, David Bowie, Can, Nina Hagen, Frankfurt a.M./Berlin 1986, 291–341. Dass die »Godmother of Punk« dabei auch innerhalb der deutschen Punkszenen stets für Reibungen sorgte, zeigt Moritz Baßler, ›White punks on dope‹ in Germany. Nina Hagen’s punk covers, in: Ahlers/Jacke (Hg.) (Anm. 4), 185–189. Eva-Maria Hagen, Eva und der Wolf, München 1998; sowie dies., Eva jenseits vom Paradies, Berlin 2005. Wolf Biermann, Warte nicht auf bessre Zeiten! Die Autobiographie, Berlin 2016.
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In ihren Bekenntnissen integriert Nina Hagen ihre bisherige multireligiöse Vergangenheit.85 Da spielt zum einen ihr Vater Hans Oliva-Hagen (1922–1992) eine Rolle, der von den Nationalsozialisten verfolgt worden war, weil er in deren rassistischem Verständnis ein sog. Vierteljude war; sein Vater Hermann Hagen wurde im KZ Sachsenhausen ermordet. Dieser jüdische Hintergrund ist für Nina Hagen ein wesentlicher Faktor ihrer religiösen Biographie und ihrer Bekenntnisse. Sie versteht ihre Taufe nicht als Abkehr von ihren jüdischen Wurzeln. Aber auch ihre zeitweilige hinduistische Religionspraxis verteufelt sie keineswegs. Diese bunte religiöse Biographie mit ihren vielfältigen Transformationen des Heiligen86 kann mit Nina Hagens »Nachwort vom Himmel« gelesen werden als »Mein liebes Kind […]87 Alles Liebe, Dein [LEERZEILE] Papa, der allmächtige Gott (aus dem Internet)« und erschließt sich mit Joachim von Soostens Überlegung zu Liebe und Kitsch: »Nur wo der Kitsch noch einmal gesteigert wird, etwa in den schrillen Passagen der Bekenntnisse von Nina Hagen, in denen permanent versichert wird, dass Gott die Liebe ist, kippt die Kitschgefahr in ein komplett abgedrehtes Zeugnis, das gerade dadurch sonderbar glaubwürdig wird.«88 Hagens Bekenntnisse stellen eine Übertreibung89 dar, die notwendig ist für religionspädagogische Lernprozesse, für Transformationen des Heiligen. Es gibt allerdings auch Rezeptionen dieser Phänomene, die Hagens Exzentrik im sicheren Gefühl distanzierter politischer Aufgeklärtheit als »markanten Kontrast zu Katharina Thalbach« so deuten – und dabei ihre Taufe sowie ihre Bekenntnisse geflissentlich verschweigen: Doch Nina Hagens Lebensstil und ihre Weltsicht wandeln sich zeitweilig radikal. Seit den 1980er Jahren entwickelt sie einen Hang zur Spiritualität außerhalb der europäischen Tradition. 2000 tritt sie im Berliner Ensemble im Sari in einer ›Indischen Nacht‹ auf. Die Exzentrikerin engagiert sich auch für den Tierschutz und
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Vgl. dazu aus entwicklungspsychologischer Sicht Tina Maria Schweitzer, Autobiographisches Schreiben im 20. und 21. Jahrhundert. Analyse autobiographischer Zeugnisse prominenter Personen im Bezug auf Glaube und Gottesvorstellung, Berlin 2012, 262–317. Anhand der Autobiographie von 1988, Hagen (Anm. 80), wurde dieser Synkretismus theologisch und religionspädagogisch vor allem kritisch gelesen bei Erich Nestler, Mein sinnliches und übersinnliches Leben. Nina Hagens autobiographische Collage, in: Bubmann/Tischer (Hg.) (Anm. 13), 85–100. Hier begegnet eine dreiseitige Zusammenstellung von Bibelstellen. Joachim von Soosten, Die wirkliche Liebe – Paul Tillich Revisited, in: Peter Haigis/Ilona Nord (Hg.), Tillich-Preview 2013. »Theologie der Liebe« im Anschluss an Paul Tillich, Berlin 2013, 5–20, 6. Vgl. Alexander García Düttmann, Philosophie der Übertreibung, Frankfurt a.M. 2004.
Christoph Jacke/Harald Schroeter-Wittke: Pop-Ikonen
in karitativen Projekten. Es scheint, als habe ihre Biografie jener ›Nachholbedarf‹ bestimmt, der alles zu erproben suchte, was in der DDR verboten war.90
3.3 Andrea Bergs »Paradies« Bevor Helene Fischer (*1984) die Bühne des deutschen Pop-Schlager betrat, war Andrea Berg (*1966) diejenige Person in Deutschland, die mit ihrer Musik unter allen Musikschaffenden der deutschen Musikgeschichte das meiste Geld verdient hatte. Vor diesem Hintergrund überrascht es, wie schwer sich die wissenschaftliche Forschung bislang mit dem Schlager tut, was deren kulturelle Verwachsenheit mit dem Bürgertum belegt. Was für den Schlager in einem besonders starken Ausmaß gilt, hat die Popkulturforschung in Deutschland über Jahrzehnte geprägt. Die Trennung von E- und U-Kultur gehört zu den Essentials des gebildeten Bürgertums und hat z.B. wertneutrale Forschungen solch elementarer Phänomene wie der Unterhaltung,91 dem wichtigsten Medium der Popkultur, behindert. »Ein Junge aus Peru« (Katja Ebstein), Julio Mendívil hat hier wissenschaftlich für den Schlager das Eis gebrochen und beschreibt ihn als »ein musikalisches Stück Heimat«,92 »so ein Stückerl heile Welt«.93 Mendívils Erkenntnisse sind auch für die wenigen theologischen Publikationen zum Schlager grundlegend.94 Dabei spielen auch im Schlager Anlehnungen, Adaptionen und vor allem Vermischungen mit anderen ›Welten‹, also Stilen, Genres und im weiten Sinne Kulturen, eine entscheidende Rolle. Wie auch immer die Popmusik-Künstlerinnen und -Künstler im Einzelnen vor allem politisch beurteilt werden mögen, zunächst stehen aktuell in jeder Hinsicht erfolgreiche Stars wie Andreas Gabalier für Vermischungen von Volksmusik mit Rock’n’Roll, Helene Fischer für Mixturen von Schlager mit Techno und Dance und Andrea Berg für eine besondere Integration des Rocks in den Schlager, Motorräder und Lederbe-
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Gabriele Muschter/Rüdiger Thomas (Hg.), Frauen in Deutschland. Eine Geschichte in Bildern, Quellen und Kommentaren (Zeitbilder der Bundeszentrale für politische Bildung), Bonn 2015, 277. Vgl. Harald Schroeter-Wittke, Unterhaltung, in: Theologische Realenzyklopädie 34 (2002), 397–403; ders., Unterhaltung, in: Fechtner et al. (Hg.) (Anm. 15), 314–325. Julio Mendívil, Ein musikalisches Stück Heimat. Ethnologische Beobachtungen zum deutschen Schlager, Bielefeld 2008. Ders., Rocking Granny’s living room? The new voices of German Schlager, in: Ahlers/Jacke (Hg.) (Anm. 4), 100–107, 103, ein Zitat der Volksmusik-Ikone Stefanie Hertel aufgreifend. Vgl. Harald Schroeter-Wittke, Paradise now. Paradiesklänge von Bach bis Berg, in: Magazin für Theologie und Ästhetik 54 (2008). URL: http://www.theomag.de/54/hsw10.htm. 2013/2014 [letzter Zugriff: 29.03.2023]. Es entspann sich in den Heften 85, 86 und 87 des Magazins für Theologie und Ästhetik eine kulturtheologische Kontroverse zum Schlager anlässlich einer kirchlichen Schlager-Tagung, die dokumentiert ist bei Vicco von Bülow/Matthias Nagel (Hg.), Ein bisschen Frieden. Schlager und Kirche im Gespräch, Bielefeld 2014.
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kleidung inbegriffen.95 Mendívil sieht die »rückwärtsorientierte und veränderungsfeindliche Utopie im Schlager als eine Rebellion der Konservativen, eine gewaltlose oppositionelle Haltung gegenüber dem, was Giddens als die Reflexivität der Moderne charakterisiert: die ständige Veränderung der eigenen Prämissen.« Diese Rebellion geht allerdings »den gewaltlosen Weg der Um-Schreibung. Damit das Neue akzeptiert werden kann, muss es zuerst an die alten Werte und Vorstellungen angepasst werden.«96 Dies geschieht, indem Schlager in den eigenen vier Wänden genossen und für diese in den Shows mitsamt des dort freiwillig für diesen Zweck mitwirkenden Publikums produziert werden. So kommt es zu »verpersönlichten Biographien von Liedern«, die in der Fanszene zu einer Schlagergemeinde zusammenwachsen, die sich wiederum als deutsche Familie versteht. Es ist dieser private Bereich, in dem Musik eine reale Bedeutung für die Leute annimmt und in dem die Macht der Medien keinen Einfluss mehr auf den persönlichen Umgang mit ihren Produkten hat. Dies ist der soziale Raum, in dem Konsumenten Musikprodukte in Hoffnungsträger verwandeln, in ein Zeichen für das Erträumen einer besseren Welt, wo alles ist, wie es sein soll. Wie in der Heimat. Das ist der Grund, aus dem ich Nietzsches Urteil über Wagners Musik hier paraphrasieren möchte: Diese Art von Musik drückt am besten aus, was ich von den deutschen Konservativen halte: sie sind von vorgestern und von übermorgen – sie haben noch kein heute.97 So wird mit dem Schlager in Anlehnung an Italo Calvinos Mythosdefinition »das Wünschenswerte einer Zukunft, die noch zu erreichen ist, durch die Erinnerung an eine verlorene Vergangenheit garantiert«.98 Das verlorene und wiederzugewinnende Paradies ist eines der wichtigsten Motive im Oeuvre von Andrea Berg. 2002 erscheint das Album »Wo liegt das Paradies«99 – das Album (Booklet, Front sowie Back Cover) kommt ohne Satzzeichen aus und schillert so gewissermaßen in alle Richtungen offen zwischen Paradise Lost und Reiseführer zum Paradies. Der Smash-Hit »Du hast mich tausendmal belogen« folgt dem Song, der dem Album seinen Namen gibt, und enthält das paradiesische Versprechen: »Ich würd‹ es wieder tun mit dir heute Nacht«. Auch das 2013 erschienene
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Vgl. Christoph Jacke/Julio Mendívil, Heimat 2.0. Über Konstruktionen und Imaginationen von Beheimatung in der deutschsprachigen Schlagermusik, in: Frank Thomas Brinkmann/ Johanna Hammann (Hg.), Heimatgedanken. Theologische und kulturwissenschaftliche Beiträge, Wiesbaden 2019, 45–66. Mendívil (Anm. 92), 348. Ebd., 352f. Ebd., 347. Andrea Berg, Wo liegt das Paradies (CD), Jupiter-Records 2002.
Christoph Jacke/Harald Schroeter-Wittke: Pop-Ikonen
Album »Atlantis«100 enthält diese Mehrfachcodierung: »Der letzte Tag im Paradies« erklingt z.B. neben »Himmel auf Erden«. Die Live-Auftritte inszenieren die Schlager-Ikone als Anzubetende, nicht jedoch in Grenzen sprengender oder provokativer Form, sondern innerhalb der Grenzen freundschaftlich und bürgerlich geprägter familiärer Images, die durchaus ausgeschöpft, aber niemals überschritten werden. Lack und Leder darf getragen, Motorrad gefahren werden, aber gewissermaßen zeitgemäß und homöopathisch, auch erklingt die von Mendívil erwähnte konservative, man könnte sagen, kleinbürgerliche Rebellionssimulation: »Auf zu neuen Abenteuern«101 – aber nicht zu neuen Ufern. Alles geschieht innerhalb familiär geduldeter Gemeinschaftsvorstellungen. Heimat wird nicht verlassen. Dazu passen das soziale Engagement der Pop-Ikone – für ihr Engagement in der Hospizarbeit ist die ehemalige Krankenschwester mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden – ebenso wie die familiäre Nahbarkeit der meisten Schlager-Ikonen zu ihren Fans im Umfeld ihrer öffentlichen Auftritte. »Berg ist ein Superstar, den sich das Publikum selbst gesucht hat.«102
3.4 Rammsteins »Feuer«103 Rammstein erscheint Berg gegenüber als Gegenbild. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob die Pop-Ikonisierung in beiden Fällen nicht auf vergleichbaren Mechanismen beruht. Feuer(werk), Spektakel, Maschinen, Leder und Klischees scheinen für beide Acts insbesondere auch bei ihren Live-Shows eine große Rolle zu spielen. Das entfesselte Feuer jedenfalls stellt die Entstehungs-Ikone des Bandnamens dar,104 der sich auf die Flugzeugkatastrophe auf der US-amerikanischen Air Base Ramstein bei Kaiserslautern bezieht, deren auf das Publikum zurasender Feuerball bis heute zu den Medien-Ikonen des kollektiven Bewusstseins gehört. Drei Flieger der italienischen Kunstfliegerstaffel Frecce Tricolore waren bei der Flug-Figur »Durchstoßenes Herz« in der Luft zusammengestoßen und stürzten brennend in das Publikum hinein. Till Lindemann (*1963 in Leipzig), Dichter,105 Sänger und Kopf der Band, fügt in
100 Dies., Atlantis (Doppel-CD), Sony Music Entertainment Germany/RTL Television 2013. 101 So der erste Song der zweiten CD von »Atlantis«. 102 Christine Kensche, Andrea Berg – Das Erfolgsgeheimnis eines deutschen Phänomens, in: Die Welt (11.01.2013). 103 Rammstein, Made in Germany 1995–2011 (Doppel-CD), Universal Music GmbH 2011. 104 Zur »Biographie« der 1994 gegründeten Band vgl. Gert Hof (Hg.), Rammstein, Berlin 2001; Michael Fuchs-Gamböck/Thorsten Schatz, Bis das Herz brennt. Die inoffizielle Rammstein Biografie, Königswinter 2010; sowie Ulf Lüdeke, Am Anfang war das Feuer. Die Rammstein Story, München 2016. 105 Vgl. Till Lindemann, Die Gedichte. Messer (2002) – In stillen Nächten (2013), Köln 3 2016.
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Unkenntnis der korrekten Schreibweise des Ortsnamens ein »m« hinzu,106 macht so aus seiner Band einen Rolling Stone: Rammstein. Er verleiht dieser Formation des Genres der Neuen Deutschen Härte, welches sich, für Popmusikkulturen ganz typisch, ständig auf gesellschaftlich auszuhandelnden Grenzen zwischen Erlaubtem und Verbotenem bewegt, damit eine Wucht, die sie weltweit – von den USA bis nach Russland – zu einem der bekanntesten deutschen Musikartikel und Exportschlager macht. Rammsteins Texte und Musik bewegen sich beständig auf der Grenze. Künstlerkollegen aus der DDR107 verstehen Rammstein als Gesamtkunstwerk, als Oper.108 Rammstein bringt Lebenswelten und Stimmungen zur Sprache, die vielen Menschen (nicht nur) im weitgehend säkularisierten Osten Deutschlands heilig sind und deren Heiligkeit durch Entheiligung oder Entweihung als bedroht wahrgenommen werden. Rammsteins Spiel mit dem Feuer109 ist Programm in der von Pyrotechnik durchgestylten Show, in den Videos und auch in den Texten, die brandaktuelle Probleme zur Sprache bringen, z.B. die Frage nach dem Aufwachsen von Retortenbabys in dem Song »Mutter« auf dem gleichnamigen dritten Album der Band,110 das auch die Songs »Links 2 3 4«, »Sonne«, »Feuer« und »Halleluja(h)« enthält. Das Album wird eröffnet mit dem Song »Mein Herz brennt«, zu dem zwei unterschiedliche Videos gedreht wurden und das wiederum den Titel für ein Album mit RammsteinSongs im Stile Mahlerscher Orchesterlieder hergibt.111 Neben diesen vielfachen medialen Transformationen, die auch Heiliges konstruieren, verdienen bei Rammstein für die Frage nach Transformationen des Heiligen auch die Live-Acts besondere Aufmerksamkeit,112 weil sie das Kunstwerk 106 Ronald Galenza/Heinz Havemeister, Feeling B. Mix mir einen Drink. Punk im Osten. Ausführliche Gespräche mit Flake, Paul Landers und vielen anderen, Berlin 2002, 376. 107 So z.B. der 1986 im Westen gebliebene Schauspieler Wolfgang Grossmann mündlich; vgl. ders. (Hg.), michael rom – will nicht zu den großohrigen elefanten. gedichte lyrische bilder stücke und, Berlin 2018. Grossmann gehörte als Schlagzeuger der Band Zwitschermaschine zur ersten Punk-Generation der DDR; vgl. Christoph Tannert, Vierte Wurzel aus Zwitschermaschine, in: Ronald Galenza/Heinz Havemeister (Hg.), Wir wollen immer artig sein… Punk, New Wave, HipHop und Independent-Szene in der DDR von 1980–1990, Berlin 1999, 196–200. 108 Auch Gunther Reinhardt schreibt am 13.12.2009 in der Stuttgarter Zeitung über ein Rammstein-Konzert in der Schleyerhalle, es habe sich um eine »pyromanische Oper« gehandelt, bei der jeder Song eine »Minioper« gewesen sei. 109 Vgl. Christian Diemer, Pink Riefenstahl. (Un-)Authentische Inszenierungen von Homophilie und Homophobie im Musikvideo »Mann gegen Mann« von Rammstein, in: Dietrich Helms/ Thomas Phleps (Hg.), Ware Inszenierungen. Performance, Vermarktung und Authentizität in der populären Musik, Bielefeld 2013, 187–209. 110 Rammstein, Mutter, Motor Music 2001. 111 Torsten Rasch, Mein Herz brennt. Orchesterlieder nach Texten und Musik der Gruppe Rammstein (CD), Deutsche Grammophon Gesellschaft 2003. 112 Vgl. Susanne Binas-Preisendörfer, Life is live – Faszination und Konjunktur des Popkonzerts. Überlegungen zur Performativität medienvermittelter musikkultureller Praktiken, in: Christofer Jost/Klaus Neumann-Braun (Hg.), Populäre Musik – mediale Musik. Transdisziplinäre
Christoph Jacke/Harald Schroeter-Wittke: Pop-Ikonen
Rammstein losgelöst von deren Texten für ein weltweites Publikum zugänglich machen – und dies mit riesigem Erfolg: »Germany’s most successful band on an international level«.113
4. Weitere Forschungsfragen Aus diesen ersten analytischen Zugängen zu den vier vorgestellten Pop-Ikonen mitsamt ihrer hier als Ausgangspunkte ausgewählten Artefakte ergeben sich nunmehr eine Vielzahl von neuen Fragen für die weitere Erforschung von Transformationen des Heiligen im Bereich der Popmusikkulturen: 1. Ausgehend von Westernhagen und Hagen stellt sich die Frage, welche Jesusrezeptionsdimensionen diese Artefakte wie aufgreifen? Welche Heiligkeiten werden mit Westernhagens und/oder Hagens Jesus rezipiert und neu produziert? Wie lässt sich Westernhagens und/oder Hagens Jesus innerhalb von deren Gesamtwerk verorten, das sich an vielen Stellen mit religiösen, vornehmlich christlichen Traditionen mal explizit, mal implizit, mal aber auch gar nicht auseinandersetzt?114 Wie wird Jesus hier als Pop-Ikone in Szene gesetzt? Diese Frage muss auch in Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Jesus (dizəs) geschehen, der als Bezugsgröße auch für deutschsprachige Popmusikkultur prägend bleibt, wie etwa die Namensgebung des umstrittenen Hamburger Gangsta Rappers Gzuz der Band Straßenbande 187 und insbesondere Nina Hagens Cover-Version des Depeche Mode-Songs »Personal Jesus«115 zeigen, der auch von anderen Pop-Ikonen gecovert wurde: Johnny Cash, Marilyn Manson, Tori Amos u.a. Die bloße Setzung dieses pop-ikonischen Namens »Jesus« weist auf der anderen Seite auch auf Luthers Freiheitsschrift von 1520 hin, deren Begleitbrief an Papst Leo X. mit dem Satz-Wort beginnt: »IHESUS.«116 Dabei ist von Beginn an die Mehrfachcodierung als Pluralität von Heiligkeits- und Jesuskonzepten innerhalb dieser Artefakte mit zu bedenken, einschließlich des Um-
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Beiträge zu den Medien populärer Musik, Baden-Baden 2011, 131–146; sowie Beate Flath, Popmusikevents, Fakes und die (Wieder-)Verzauberung der Welt, in: Jacke/Flath (Anm. 53), 61–68. Vgl. Susanne Binas-Preisendörfer/Arne Wachtmann, Rammstein under observation, in: Ahlers/Jacke (Hg.) (Anm. 4), 158–164, 158. Allein auf dem Westernhagen-Album »Radio Maria« finden sich Kontexte, etwa bei »Durch deine Liebe«, einem zweiten Jesus-Song, oder bei »Rosamunde«, wo es heißt: »Lass uns beten/Gott ist allmächtig/Höchst verdächtig/Gott ist verboten/Unter den Toten/Gott ist gerecht/Ohne Geschlecht/Genial«. Hier wären auch die beiden völlig verschiedenen Videoclips zu diesem Song von 1990 und 2011 heranzuziehen – auch im Vergleich zu Marilyn Mansons Videoclip. Martin Luther, Lateinisch-deutsche Studienausgabe, Bd. 2, hg. von Wilfried Härle et al., Leipzig 2006, 102 (WA 7,39).
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stands, dass ›Jesus‹ in diesen Artefakten oftmals ikonologisch eine mehrfachcodierte Leerstelle bleibt. 2. Welche Männlichkeitskonstruktionen werden bei Westernhagen117 und/oder Hagen in Auseinandersetzung mit der Männlichkeit Jesu118 erkennbar? Lassen sich Transformationen des Heiligen in diesen Männlichkeitskonstruktionen wahrnehmen? Diese Frage betrifft auch die Männlichkeitskonstruktionen im jeweiligen Gesamt-Oeuvre.119 Martin Leutzsch hat in seinen Forschungen zu Jesus-Transformationen120 gezeigt, dass in diese Frage immer auch andere Jesus-Konstruktionen mit hineinspielen, etwa die Frage nach dem tanzenden,121 dem singenden,122 dem sexuellen,123 dem weiblichen124 und dem arischen125 Jesus bzw. Christus, womit vier der
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Vgl. Martin Loeser, Wann ist ein Mann ein Mann? Männlichkeitsinszenierungen in westdeutscher Rock- und Popmusik am Beispiel von Marius Müller-Westernhagen und Herbert Grönemeyer, in: ders./Marion Gerards/Katrin Losleben (Hg.), Musik und Männlichkeiten in Deutschland seit 1950. Interdisziplinäre Perspektiven, München 2013, 121–140; sowie Dietmar Elflein, Allein gegen den Rest der Welt – Repräsentationen von Männlichkeiten im Deutschrock bei Westernhagen und den Böhsen Onkelz, in: Helms/Phleps, Typisch Deutsch (Anm. 59), 101–126. 118 Vgl. Martin Leutzsch, Konstruktionen von Männlichkeit im Urchristentum, in: Frank Crüsemann et al. (Hg.), Dem Tod nicht glauben. Sozialgeschichte der Bibel. FS Luise Schottroff, Gütersloh 2004, 600–618; ders., Männlichkeiten im Neuen Testament wahrnehmen. Beobachtungen, Problemstellungen, Hypothesen, in: Reiner Knieling/Andreas Ruffing (Hg.), Männerspezifische Bibelauslegung. Impulse für Forschung und Praxis, Göttingen 2012, 121–158; ders., »Jesus der Mann« im Prozess der Differenzierung und Transformation der Männlichkeitsideale 1863–1945, in: theologie.geschichte Beiheft 8 (2014), 33–54; sowie Moisés Mayordomo, Jesu Männlichkeit im Markusevangelium. Eine Spurensuche, in: Ute E. Eisen/Christine Gerber/ Angela Standhartinger (Hg.), Doing Gender – Doing Religion. Fallstudien zur Intersektionalität im frühen Judentum, Christentum und Islam, Tübingen 2013, 359-379. 119 Neben den Filmen, z.B. Theo gegen den Rest der Welt (1980) sind hier auch Printprodukte zu untersuchen, z.B. Marius und Romney Müller-Westernhagen, Mein Herz Dein Blut. Marius Müller-Westernhagen, Göttingen 2003; sowie Marius Müller-Westernhagen/Dieter Eikelpoth/Manfred Bissinger, Versuch dich zu erinnern, Göttingen 2004. 120 Vgl. Richard Janus et al. (Hg.), Jesus-Transformationen. FS Martin Leutzsch, Leipzig 2019. 121 Martin Leutzsch, Christus als Tänzer – Stationen eines Motivs von der Antike bis heute, in: Armin Morich (Hg.), Kosmischer Tanz. Eranos 2015 und 2016, Basel/Berlin 2017, 139–219. 122 Martin Leutzsch, Der singende Christus. Stationen eines Motivs, in: Marion Keuchen/Helga Kuhlmann/Martin Leutzsch (Hg.), Musik in Religion – Religion in Musik, Jena 2013, 291–312. 123 Martin Leutzsch, Ehemann, Liebhaber, Vater. Der heterosexuell aktive Jesus in Geschichte und Gegenwart, in: Jochen Schmidt (Hg.), Religion und Sexualität, Würzburg 2016, 95–188. 124 Martin Leutzsch, Die Vision eines weiblichen Christus, in: Siri Fuhrmann/Erich Geldbach/ Irmgard Pahl (Hg.), Soziale Rollen von Frauen in Religionsgemeinschaften. Ein Forschungsbericht, Münster 2003, 25–38. 125 Martin Leutzsch, Der Mythos vom arischen Jesus, in: Lucia Scherzberg (Hg.), Vergangenheitsbewältigung im französischen Katholizismus und deutschen Protestantismus, Paderborn u.a. 2008, 173–186; ders., Karrieren des arischen Jesus zwischen 1918 und 1945, in: Uwe
Christoph Jacke/Harald Schroeter-Wittke: Pop-Ikonen
wichtigsten Dimensionen von Pop-Ikonisierungen (Tanz, Gesang, Sex, Gender) benannt sind. Darüber hinaus stellt sich aber auch die Frage, inwiefern sich die Männlichkeits-, Weiblichkeits- und diejenigen Konstruktionen eines für Popmusikkulturen nicht unwesentlichen Dritten, Dazwischen oder Unfestgelegten bei allen vier Pop-Ikonen als Aushandlungsprozesse eines Heiligen verstehen lassen. 3. Wie lässt sich das Verhältnis von Heiligem und Erotik bzw. Sexualität beschreiben? Welche Transformationen des Heiligen vollziehen sich im Kontakt mit ›Sex and Drugs and Rock’n’Roll‹, wie der berühmte Song von Ian Dury aus dem Jahr 1977 betitelt war? 4. Gibt es Unterschiede in Zuschreibungen von ›heilig‹, was die Herkunft der Figuren aus Ost- bzw. Westdeutschland und auch was ihre konzeptuelle Ausrichtung betrifft, in der die aus Ostdeutschland stammenden Rammstein und ansatzweise auch noch Nina Hagen auch auf internationale Märkte, die aus Westdeutschland stammenden Marius Müller-Westernhagen und Andrea Berg eher den nationalen Markt bedienen? 5. Welche Rezeptionen haben die jeweiligen Artefakte in welchen Fanszenen erfahren? Lassen sich hier Transformationen des Heiligen wahrnehmen, die mit den theologischen Zugängen überhaupt gar nichts zu tun haben?126 Wie werden die hier beschriebenen Phänomene von einem Fan-Publikum rezipiert, das religiös völlig unmusikalisch ist?127 Lassen sich auch hier Transformationen des Heiligen beobachten, die völlig unabhängig von Religion eine Sprache finden? 6. Anhand einiger dieser Artefakte lässt sich auch die Frage studieren, ob und inwiefern das Konzept der Transformationen des Heiligen auch auf andere Religionen übertragen werden kann, ob und inwiefern die jeweiligen Pop-Ikonen auch von Mehrfachreligiosität und Mehrfachnichtreligiosität gekennzeichnet sind. 7. Schließlich wäre anhand des Moments des Einfrierens traumatischer Höhepunkte im Jesus-Video von Westernhagen weitergehend zu fragen, welchen Anteil Traumatisierungen und deren Artefakte an Transformationen des Heiligen haben. So lässt sich bei Nina Hagen und Andrea Berg das Trauma der Verlustangst benennen, während Rammstein mit seinem namentlichen Bezug auf eine öffentliche Katastrophe und seiner komplexen Pyrotechnik in Konzert und Videos traumatische Bilder und Szenerien evoziert. Inwiefern konstituieren diese Pop-Ikonen in den Trauma-Anteilen ihrer Artefakte als Projektionsflächen für traumatische
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Puschner/Clemens Vollnhals (Hg.), Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte, Göttingen 2 2012, 195–217. Hier wären auch die Biographien zu untersuchen: Wolfgang Spindler (Hg.), Marius MüllerWesternhagen. Bilderbuch einer Karriere, Hamburg 1983; sowie Wolfgang Höbel, MariusMüller-Westernhagen. Deutschlands erfolgreichster Rockstar, München 1994. Vgl. Gert Pickel/Yvonne Jaeckel, Konfessionslose in Deutschland. Empirische Befunde in der Gegenwart, in: Matthias Pöhlmann (Hg.), Abschied von der Religion? Säkularisierung – Konfessionslosigkeit – neuer Atheismus (EZW-Texte 257), Berlin 2018, 7–26.
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Erlebnisse bzw. Erfahrungen ihrer Publika Heiliges als Aushandlungsprozess und bringen es zugleich in Fluss?128
5. Fazit Nach einer ersten Skizze des vielfältigen und bisher in den Wissenschaften, selbst den Celebrity Studies, Popular Music Studies und für Popmusikkulturen sensiblen Theologien und Religionswissenschaften noch so gut wie nicht beforschten Zusammenhangs aus Popmusikkulturen, in Form von Prominenten, Stars und hier vor allem als Ikonen bezeichneten Figuren, wurde anhand der ausgewählten über Jahrzehnte erfolgreichen, kanonisierten und somit besonders relevanten Figuren Marius Müller-Westernhagen, Nina Hagen, Andrea Berg und Rammstein eine erste Spurenlese im Hinblick auf diverse Zuschreibungen von ›heilig‹ geleistet. An ausgewählten Artefakten dieser Figuren der Popmusik wurden vor allem sehr deutliche Anspielungen und Verwendungen von ›heilig‹, mal eher verbal in Songtexten oder Aussagen der Figuren selbst, mal in den Bildern der Musikclips oder Live-Auftritte gefunden. Aus dieser ersten Sichtung wurden vertiefende Fragestellungen abgeleitet, die nunmehr für umfassendere und empirisch abgesicherte Analysen dienen, um so den verschiedenen Aspekten der Transformationen des Heiligen in und aus Popmusikkulturen und Medien eine größere Aufmerksamkeit zu widmen, da diese offenbar seismographisch umfassendere gesellschaftliche Entwicklungen frühzeitig aufzeigen.
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Vgl. Maike Schult, »Ein Hauch von Ordnung« – Traumaarbeit als Aufgabe der Seelsorge, Leipzig 2024, die »Seelsorge als Zeitzeugenschaft« versteht – ein Anliegen, das sich auch in vielen Artefakten der Popmusikkultur finden lässt.
Beiträger*innen
Margreth Egidi ist Professorin für Deutsche Literatur und Sprache des Mittelalters an der Universität Paderborn Forschungsschwerpunkte: Erzähllogiken vormoderner Texte; Medialität mittelalterlicher Literatur; höfischer Liebesdiskurs; Diskursivierung von Heiligkeit; Gaben- und Tauschlogiken. Wichtigste Publikationen: Höfische Liebe – Entwürfe der Sangspruchdichtung. Literarische Verfahrensweisen von Reinmar von Zweter bis Frauenlob, Heidelberg 2002; zus. mit Ludger Lieb u.a. (Hg.), Liebesgaben. Kommunikative, performative und poetologische Dimensionen in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Berlin 2012; Ästhetik und Funktion des Passionsspiels. Zur textperformativen Dimension im Egerer Passionsspiel, in: PBB 144 (2022), S. 214–279; https://doi.org/10. 1515/bgsl-2022-0015. Norbert Otto Eke ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft/Literaturtheorie an der Universität Paderborn. Forschungsschwerpunkte: Literaturtheorie und Ästhetik an der Schnittstelle von Philologie, Theater-, Kultur- und Medienwissenschaft, Automatismenforschung, deutsch-jüdische Literatur. Wichtigste Publikationen: Signaturen der Revolution. München 1997; Wort/Spiele. Drama – Film – Literatur, Berlin 2007; Das deutsche Drama, Darmstadt 2015; mit Feridun Zaimoglu, Durchdrungenheit. Texte und Gespräche, Würzburg 2022. Christine Freitag ist Professorin für Historisch-Systematische und Vergleichende Erziehungswissenschaft an der Universität Paderborn. Forschungsschwerpunkte: Bildung und Erziehung im Länder- und Kulturvergleich, Bildungs- und Erziehungsgeschichte, Pädagogische Friedens- und Konfliktforschung. Wichtigste Publikationen: Schule und Bildungshilfe in den Konzeptionen katholischer Missionsgesellschaften, Köln 1995; Vermittlung – Eine zentrale, aber vernachlässigte Kategorie professionellen Handelns in der internationalen Zusammenarbeit,
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Anhang
Frankfurt a.M. 2006; (Hg.) Methoden des Vergleichs. Komparatistische Methodologie und Forschungsmethodik in interdisziplinärer Perspektive, Opladen, Berlin, Toronto 2014. Christoph Jacke ist Professor für Theorie, Ästhetik und Geschichte der Populären Musik an der Universität Paderborn, journalistische Tätigkeiten u.a. für Kaput, Frankfurter Rundschau, Testcard, Spex, De:Bug, Intro, Rolling Stone und Die Aufhebung. Reihenherausgabe »Transdisziplinäre Popkulturstudien« (transcript). Wichtigste aktuelle Publikationen: mit Beate Flath (Hg.), PopEventKulturen an den Schnittstellen von Management und Politik. Transdisziplinäre Perspektiven. Bielefeld 2022; mit Beate Flath u.a., Druckwellen. Eskalationskulturen und Kultureskalationen in Pop, Gesellschaft und Politik, Bielefeld 2022; mit Beate Flath und Manuel Troike (Hg.), Transformational POP: Transitions, Breaks, and Crises in Popular Music (Studies). ∼Vibes – The IASPM D-A-CH Series. Volume No. 2, 2022: http://vibes-theseries.org/02-2022/. Jens Jetzkowitz lehrt Soziologie an der Helmut-Schmidt-Universität und arbeitet als Wissenschaftler am Thünen-Institut. Forschungsschwerpunkte: Landnutzungskonflikte und Governance von Landnutzung; Sinnformen in Wirtschaft und Gesellschaft; gesellschaftliche Ungleichheit und nachhaltige Entwicklung; Wechselwirkungen von gesellschaftlichen und ökologischen Systemen. Wichtigste Publikationen: Coevolution of Nature and Society, London 2018; mit Jörg Schneider: How to Concretize Research on the Coupling of Ecosystems to Human Activities?, in: Nature and Culture 6,3 (2011), 218–243. Elisa Klapheck ist Professorin für Jüdische Studien an der Universität Paderborn. Forschungsschwerpunkte: Judentum und säkulare Gesellschaft, politische Theologie des Judentums, jüdische Wirtschafts- und Sozialethik, jüdischer Feminismus und Genderstudien. Wichtigste Publikationen: Gott braucht den säkularen Rechtsstaat, Berlin 2020; Margarete Susman und ihr jüdischer Beitrag zur politischen Philosophie, Berlin 2021; Säkulares Judentum aus religiöser Quelle, Berlin 2015; Fräulein Rabbiner Jonas. Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?, Teetz 2000. Lothar van Laak ist Professor für Neuere deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Paderborn. Forschungsschwerpunkte: Literaturtheorie, Ästhetik und Hermeneutik; Literatur, Religion und Ethik; Literatur und Medien. Wichtigste Publikationen: Hermeneutik literarischer Sinnlichkeit. Historisch-systematische Studien zur Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts, Tübingen 2003; Medi-
Beiträger*innen
en und Medialität des Epischen in Literatur und Film des 20. Jahrhunderts: Bertolt Brecht – Uwe Johnson – Lars von Trier, München 2009; zus. mit Kristin Eichhorn (Hg.), Kulturen der Moral. Beiträge zur DGEJ-Jahrestagung in Paderborn, Hamburg 2021. Martin Leutzsch ist Professor emeritus für Biblische Exegese und Theologie an der Universität Paderborn. Wichtigste Publikationen: Die Wahrnehmung sozialer Wirklichkeit im »Hirten des Hermas« (FRLANT 150), Göttingen 1990; Die Bewährung der Wahrheit. Der dritte Johannesbrief als Dokument urchristlichen Alltags (BAC 16), Trier 1994. Marie-Luise Musiol ist wiss. Mitarbeiterin an der Universität Paderborn. Forschungsschwerpunkte: Kleinepik, Recht und Ästhetik; Ecocriticism. Wichtigste Publikationen: Raum und Figur. Effekte erzählerischer Arrangements in der Frauentreue, in: Friedrich Michael Dimpel/Silvan Wagner (Hg.), Prägnantes Erzählen, Oldenburg 2019, 383–410; mit Silke Winst, Pfirsichbaum und dunkler Wald. Pflanzliche Konfigurationen zwischen Dynamisierung und Innehalten in Partonopier und Meliur Konrads von Würzburg, in: Guita Lamsechi/Beatrice Trînca (Hg.), Spiritual Vegetation. Vegetal Nature in Religious Contexts Across Medieval and Early Modern Europe, Göttingen 2022, 97–129. Ludmila Peters ist wiss. Mitarbeiterin an der Universität Paderborn, seit 2016 ist sie Mitredakteurin der Zeitschrift für deutsche Philologie (ZfdPh). Forschungsschwerpunkte: Religion und Literatur, Narratologie, Gegenwartsliteratur. Wichtigste Publikationen: Religion als diskursive Formation: Zur Darstellung von Religion in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Bielefeld: transcript 2020/21; Der zerrissene Körper – Habitus-Inszenierungen bei Christian Kracht (Faserland, 1979, Imperium), in: Religiöse Erfahrung – Literarischer Habitus: Akten des JGG-Kulturseminars 2017/2018, 1/2020, 354–375. Jochen Schmidt ist Professor für Systematische Theologie mit Schwerpunkt Dogmatik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Wichtigste Veröffentlichungen: Was wir uns schulden. Freiheit und Pflichten gegen sich selbst (Alber Thesen 85), Baden-Baden 2022; Wahrgenommene Individualität. Eine Theologie der Lebensführung (Edition Wege zum Menschen 3), Göttingen 2014; Klage. Überlegungen zur Linderung reflexiven Leidens (RPT 58), Tübingen 2011; Vielstimmige Rede vom Unsagbaren. Dekonstruktion, Glaube und Kierkegaards pseudonyme Literatur (KSMS 14), Berlin, New York 2006.
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Oliver Schmidtke ist Privatdozent an der Universität Siegen und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Pädagogische Diagnostik der Erziehungshilfe gGmbH, Siegburg. Forschungsschwerpunkte: Qualitative Sozialforschung, Religionssoziologie, Professionssoziologie, Falldiagnostik und -rekonstruktion. Wichtigste Publikationen: Staatlichkeit, Deliberation und Facework. Eine qualitative Analyse von Interaktionen auf Finanz-, Standes- und Bürgerämtern, Köln 2018. Harald Schroeter-Wittke ist Professor für Didaktik der Evangelischen Religionslehre mit Kirchengeschichte an der Universität Paderborn. Forschungsschwerpunkte: Musik und Religion, Popkultur und Religion, Deutscher Evangelischer Kirchentag, Performative Religionspädagogik, Regionale Kirchengeschichte Wichtigste Publikationen: Kirchentag als vor-läufige Kirche (PTHe 13), Stuttgart u.a. 1993; Unterhaltung. Praktisch-theologische Exkursionen zum homiletischen und kulturellen Bibelgebrauch im 19. und 20. Jahrhundert anhand der Figur Elia, Frankfurt a.M. u.a. 2000; Musik als Theologie. Studien zur musikalischen Laientheologie in Geschichte und Gegenwart, Leipzig 2010. Angelika Strotmann ist Professorin i.R. für Neues Testament am Institut für katholische Theologie der Universität Paderborn. Forschungsschwerpunkte: Ersttestamentlich-frühjüdische Kontexte des Neuen Testaments, historischer Jesus, Markusevangelium, Gender(de)konstruktionen in frühjüdischen und frühchristlichen Texten. Wichtigste Publikationen: »Mein Vater bist du!« (Sir 51,10). Zur Bedeutung der Vaterschaft Gottes in kanonischen und nichtkanonischen frühjüdischen Schriften (FThSt 39), Frankfurt a.M. 1992; Der historische Jesus: eine Einführung (UTB Grundwissen Theologie), Paderborn, 3., ergänzte und aktualisierte Aufl. 2019. Johannes Süßmann ist seit 2009 an der Universität Paderborn Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der europäischen Mächte, Territorialisierung von Herrschaft durch Bauten und im Städtebau, Religionspluralismus der Frühen Neuzeit, Kulturtransfer entlang des westfälischen Hellwegs. Jüngste Publikationen: mit Sabine Meine und Arnold Otto (Hg.), Musiklandschaften zwischen Rhein und Weser. Pluralisierung und Verflechtung entlang des Hellwegs in der Frühen Neuzeit, Würzburg 2023; Franz von Fürstenbergs Konzeption der Universität Münster als aufgeklärte Überbietung Paderborns, in: Jürgen Overhoff/ Sabine Happ (Hg.), Gründung und Aufbau der Universität Münster, 1773–1818. Zwischen katholischer Aufklärung, französischen Experimenten und preußischem Neuanfang, Münster 2022, 87–107.
Beiträger*innen
Annegret Thiem ist apl. Professorin für Romanische Philologie (Literatur- und Kulturwissenschaften) an der Universität Paderborn. Forschungsschwerpunkte: Lyrik und Theater in Spanien und Hispanoamerika, Gendertheorien, Performativität, Übersetzungen. Wichtigste Publikationen: Repräsentationsformen von Subjektivität und Identität in zeitgenössischen Texten lateinamerikanischer Autorinnen. Postmoderne und postkoloniale Strategien, Frankfurt 2003; mit Marion Keuchen und Stephan Müller (Hg.), Inszenierungen der Heiligen Schrift, Paderborn 2009; Rauminszenierungen. Literarischer Raum in der karibischen Prosaliteratur des 19. Jahrhunderts, Münster 2010; Literatur performativ: Spanische Lyrik der Gegenwart. Literatura performativa: Poesía española actual, Münster 2021; Ada Salas. Descendimiento. Kreuzabnahme. Gedichte spanisch/deutsch, Münster 2021.
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WISSEN. GEMEINSAM. PUBLIZIEREN. transcript pflegt ein mehrsprachiges transdisziplinäres Programm mit Schwerpunkt in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Aktuelle Beträge zu Forschungsdebatten werden durch einen Fokus auf Gegenwartsdiagnosen und Zukunftsthemen sowie durch innovative Bildungsmedien ergänzt. Wir ermöglichen eine Veröffentlichung in diesem Programm in modernen digitalen und offenen Publikationsformaten, die passgenau auf die individuellen Bedürfnisse unserer Publikationspartner*innen zugeschnitten werden können.
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