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German Pages 90 [96] Year 1976
DE PROPRIETATIBUS LITTERARUM edenda curat C.H. VAN SCHOONEVELD Indiana University Series
Practica,
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Untersuchungen zum E T. A. Hoffmanns
by
ILSE WINTER
1976 MOUTON THE HAGUE • PARIS
© Copyright 1976 Mouton & Co. B.V., Publishers, The Hague No part of this book may be translated or reproduced in any form, by print, photoprint, microfilm, or any other means, without written permission from the publishers.
ISBN 9 0 2 7 9 3 4 3 4 7
Printed in the Netherlands
INHALTSVERZEICHNIS
Einleitung
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I
Die Vorbedingungen serapiontischen Erzahlens
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II
F o r m m e r k m a l e serapiontischen Erzahlens 1. Die Wohlgerundetheit 2. Die Lebendigkeit 3. Die Mystifikation
19 19 28 54
III Die Gestaltung des Rahmens
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IV Das serapiontische Prinzip und Callots Manier 1. Callots Manier. 2. Das ' Eckfenster-Prinzip 1
75 75 83
Literaturverzeichnis
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EINLEITUNG
Im Februar 1819 erschienen die e r s t e n zwei Bände der 'Serapions- B r ü d e r ' von E. T. A. Hoffmann. Aus dem Vorwort d i e s e r vierbändigen Sammlung von Erzählungen und Märchen und aus einem Brief Hoffmanns vom 17. Februar 1818 an seinen Verleger Reimer ist zu ersehen, wie es zur Konzeption dieses Werkes kam. ( 1 ) Aus beiden Texten, dem Vorwort und dem Brief, geht eindeutig hervor, dass die Anregung zu dem Zyklus von Reimer ausging. Hoffmann war nach dem Erscheinen der 'Fantasiestücke in Callots Manier', der 'Nachtsttlcke' und den 'Elixieren des Teufels' in den Jahren 1813-1817 eine literarische Berühmtheit geworden; Herausgeber von Journalen und Taschenbüchern bemühten sich eifrig um Beiträge von Hoffmann, und es ist anzunehmen, dass der geschäftstüchtige Reimer sich von der Veröffentlichung eines Sammelbandes einen erheblichen Gewinn versprach. Wie aus dem Brief vom 17. Februar hervorgeht, (2) war sich Hoffmann zu diesem Zeitpunkt weder über den Titel noch die Anlage des Werkes klar; e r erwog zwar eine Rahmengestaltung nach Art des Tieckschen 'Phantasus', war aber bereit, seinem Verleger die endgültige Entscheidung zu überlassen. Eine Woche später j e doch war es Hoffmann, der Reimer vorschlug, das Werk unter dem Titel 'Die Seraphinen-Brüder' erscheinen zu lassen. Unter dieser Bezeichnung wurde es demzufolge im Ostermesskatalog 1818 angekündigt. Im November desselben J a h r e s entschloss sich Hoffmann aber zu einer Änderung des Titels in 'Die Serapions-Brüder'. Welche Bewandtnis hat e s mit beiden mysteriös anmutenden Titeln? Nachdem Hoffmann 1814 Berlin zum Wohnsitz gewählt hatte, b e gann sich ein kleiner Freundeskreis m e h r oder minder regelmässig entweder privat oder in einem Kaffeehaus zu treffen, hauptsächlich um Uber Theater, Musik und Literatur zu diskutieren. In einem Brief des P f a r r e r s und Schulrats J . G. Seegemunds findet sich f ü r diesen Klub die Bezeichnung 'Seraphinenorden'. ( 3) Zu den Mitgliedern des Klubs gehörten unter anderen Chamisso, Koreff, Cont e s s a und Hitzig; auch Fouqu6 und Hoffmanns Jugendfreund Hippel nahmen mitunter a l s Gäste an den Zusammenkünften teil. Nach zwei J a h r e n begann sich der Seraphinenorden allmählich aufzulösen, vor allem wegen Chamissos Aufbruch zu einer Weltreise und Hoffmanns neuer Freundschaft mit dem Schauspieler Ludwig Devrient. ( 4 ) Zu einer Neubelebung des alten Freundeskreises kam es 1818. Im November dieses J a h r e s hatte Hoffmann von seinem Verleger einen Vorschuss auf die 'Seraphinen-BrUder' erhalten und lud daraufhin einige alte Freunde zu sich ein. Im Laufe des Abends stellte sich heraus, dass d e r ägyptische Mönch Serapion d e r Kalenderheilige
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dieses Tages war, und die Anwesenden beschlossen, den ehemaligen Freundschaftsbund zu erneuern und sich als Serapionsbruder wieder regelmässig zu treffen. ( 5 ) Damit war für Hoffmann die Frage des Titels und auch die Frage der Struktur gelöst. Wie aus dem Vorwort des Zyklus zu entnehmen ist, beabsichtigte Hoffmann, der ein lebhaftes, geistreiches Gespräch im vertrauten Kreiseüber alles schätzte, den Serapionsabenden in den Rahmenunterhaltungen ein Denkmal zu setzen. Die Unterhaltungen, welche die einzelnen Erzählungen miteinander verknüpfen, sollten das Zusammensein der Freunde, und zwar gleichgesinnter Freunde, wie Hoffmann ausdrücklich bemerkt, getreu reflektieren. (6) Daneben war jedoch ein zweites Motiv für die Struktur des Zyklus ausschlaggebend. Schon in seinem Antwortbrief auf Reimers Vorschlag erwähnt Hoffmann Tiecks 'Phantasus'; im Vorwort weist er auf formale Parallelen zu Tiecks Werk hin. Der 'Phantasus' ist eine Sammlung von Dramen, Erzählungen und Gedichten, die durch breit angelegte Gespräche einer Gruppe junger Männer und Frauen zusammengehalten wird. Im Rahmen dieser Gespräche werden unter anderem Fragen der Kunst und der modernen Literatur erörtert. Es ist anzunehmen, dass Hoffmanns Bewunderving für Tieck ihn zum Teil bewog, seine eigene Erzählungssammlung ähnlich einzukleiden. ( 7) Vor allem mag ihn aber die Idee fasziniert haben, nicht nur seine verstreuten Erzählungen, sondern auch seine Gedanken Uber kunstästhetische Probleme nach fast siebenjähriger schriftstellerischer Tätigkeit zu sammeln und zu ordnen. Schon in seinen Frühwerken besonders in den 'Kreisleriana' und 'Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza' finden sich aufschlussreiche Äusserungen Uber Wesen und Wirkung der Kunst, die Bestimmung des Künstlers, den dichterischen Schaffensprozess, das Verhältnis von Musik und Poesie usw., aber immer nur vereinzelt und oft nur als Nebenprodukt. In einem Rahmenzyklus wie 'Die Serapions-BrUder' bot sich Hoffmann die Möglichkeit, ausfuhrlicher zu poetologischen Fragen Stellung zu nehmen und das Besondere seiner eigenen E r zählweise zu erläutern. (Damit soll allerdings nicht gesagt werden, dass ihm eine in sich geschlossene systematische Poetik vorschwebte). Als wichtigstes und fUr alle seine Erzählungen verbindliches Prinzip erkannte Hoffmann das 'innere Schauen' des Dichters. Um diesen Begriff zu erläutern, dichtete er die Geschichte vom Mönch Serapion und bestimmte so zugleich den Titel des Zyklus. (8) Der Serapion dieser Erzählung ist eigentlich der Graf P . , der als liebenswürdiger Weltmann und talentierter Dichter eine bedeutende Rolle im öffentlichen Leben spielte, der dann jedoch dem Wahnsinn verfiel und sein Leben als Einsiedler im Walde beendete. In seinem Wahnsinn war er davon Uberzeugt, der frühchristliche Märtyrer Serapion zu sein und in der Thebaischen Wüste zu leben. Cyprian, dem die Erzählung in den Mund gelegt ist, berichtet, wie bei einem Besuch der Einsiedler ihm eine Novelle erzählte, angelegt, durchgeführt, wie sie nur der geistreichste, mit der feurigsten Fantasie begabte Dichter anlegen, durchfuhren kann...
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Alle Gestalten traten mit einer plastischen Rtlndung, mit einem glühenden Leben hervor, dass man fortgerissen, bestrickt von magischer Gewalt wie im Traum daran glauben musste, dass Serapion alles wirklich von seinem Berg erschaut. (S. 26) Wegen dieser besonderen Fähigkeit, das innerlich Geschaute, also das Eingebildete, so anschaulich zu gestalten, dass es Wirklichkeitscharakter annimmt, erheben die Freunde Serapion zum Schutzpatron ihres Vereins. Das ungewöhnliche Dichtertalent dieses 'falschen' Serapion soll sie zu Werken mit ähnlich hoher dichterischer Aussagekraft anspornen; sein Wahnsinn dagegen soll ihnen als W a r nung dienen, Mass und Ziel nicht zu Uberschreiten und ihre E r z ä h lungen fest in der Wirklichkeit zu verankern. J e d e r der Freunde verpflichtet sich also, das Bild, das ihm im Innern aufgegangen, recht zu e r f a s s e n mit allen seinen Gestalten, Farben, Lichtern und Schatten, und dann, wenn e r sich recht entzündet davon fühlt, die Darstellung ins ä u s s e r e Leben zu tragen. (S. 55) Diese Verpflichtung wird dann in humoristischer Weise zur Formel 'serapiontisches Prinzip' abstrahiert. Während die ä l t e r e Hoffmann-Forschung dem serapiontischen Prinzip nur eine periphere Bedeutung zugestand, haben neuere Untersuchungen immer wieder die Schlüsselstellung des serapiontischen Prinzips f ü r Hoffmanns Weltverständnis und Kunstauffassung betont. Es folgt ein g e r a f f t e r Überblick über die wichtigsten Arbeiten, die sich mit dem serapiontischen Prinzip auseinandersetzen. Es soll d a mit keine Wertung vorgenommen, sondern nur die Vielfalt der Definitionen und Standpunkte skizziert werden. In seinem Nachwort zur Winkler-Ausgabe bezeichnet Walter Müller-Seidel das serapiontische Prinzip als die Formel, mit der Hoffmann seine gesamte Kunstauffassung darzustellen versuchte. Es gehe dabei um die angemessene 'Ubersetzung' eines Inneren ins Äussere, eines Geistigen ins Wirkliche und eines seelenhaften Seins in die körperliche Welt. (S. 1004/1005) Wulf Segebrecht beschäftigt sich mit d e r Frage, wie erlebte Wirklichkeit Dichtungscharakter gewinnen könne. E r bezeichnet das serapiontische Prinzip als 'eine Art immanenter Werkpoetik' und sieht darin eine von fünf V e r fahrensweisen, biographisches Material so zu gestalten, dass e s Uberpersönliche, also dichterische Bedeutung gewinnt. ( 9) Auch Hans-Georg Werner bezeichnet das serapiontische Prinzip a l s dichterische Verfahrensweise; e r f a s s t e s als ein typisch romantisches Mittel auf, den L e s e r aus der Wirklichkeit herauszulösen und in eine Ubersinnliche Welt zu versetzen. (10) Nach Wolfgang P r e i s e n danz stellt das serapiontische Prinzip a l s 'die innige Verbindung von Schauen und Verkünden, von Vision und Sprache' die höchste Norm dichterischer Gestaltung dar. (11) Kenneth Negus bezeichnet das serapiontische Prinzip als 'principle of envisionment' und betont, dass dieses Prinzip für das gesamte Werk Hoffmanns Gültigkeit b e sitzt. (12)
10 Eine Reihe von Kritikern findet in Hoffmanns Erzählkunst zwei polare Gestaltungsprinzipien verwirklicht. Johannes Klein sieht das serapiontische Prinzip als 'das Prinzip der gestalterischen Phantasie', welches 'das eigentlich Romantische' vertritt, das 'Eckfenster-Prinzip' dagegen als Manifestation des Realistischen. (13 ) Weit häufiger werden das serapiontische Prinzip und Callots Manier als die beiden polaren Erzählweisen einander gegenübergestellt. Thomas Cramer spricht im Zusammenhang mit seiner Untersuchung Uber Elemente des Grotesken von zwei 'poetischen Prinzipien' Hoffmanns: Callots Manier als Prinzip der Erkenntnis (d. h. hinter der verzerrten Wirklichkeit wird eine höhere Harmonie offenbart) und das serapiontische Prinzip als Prinzip des poetischen Schaffens (d. h. eine neue phantasiegeschaffene Welt entsteht aus der Anschauung der Wirklichkeit). (14) Auch H. A.Korff stellt zunächst Callots Manier und das serapiontische Prinzip als Antithesen dar. Er bezeichnet die 'Fantasiestücke in Callots Manier' als phantastische Wirklichkeit, in der die Wirklichkeit das Primäre ist, das serapiontische Prinzip dagegen als realistische Phantastik, in der die Phantasie sich ihre eigene Wirklichkeit schafft. In der Praxis hebt sich jedoch, wie Korff betont, der Gegensatz auf, da es sich in beiden Fällen um eine Synthese von Realität und Phantasie handelt. (15 ) Trotz der grossen Unterschiedlichkeit in der Formulierung und Akzentuierung stimmen alle genannten Interpreten darin Uberein, dass die Synthese von Phantasie und Wirklichkeit die Essenz des serapiontischen Prinzips ist. In den meisten Abhandlungen ist das serapiontische Prinzip der Ausgangspunkt für grundlegende Erörterungen von Hoffmanns dualistischem Weltbild. Hoffmann war Uberzeugt, dass nicht nur die sinnlich wahrnehmbare, materielle Welt, sondern auch eine höhere Welt, 'ein fernes Geisterreich', auf das menschliche Leben einwirkte. Es ist dieses Konzept von der 'Duplizität des Seins' und das daraus resultierende Miss Verhältnis zwischen dem Innenleben eines Menschen und der faktischen Realität, was die meisten Kritiker an der Geschichte von Serapion und der sich anschliessenden Unterhaltung der Serapionsbruder in erster Linie interessiert; in den meisten Untersuchungen richtet sich das Hauptaugenmerk auf die weltanschaulichen Implikationen des serapiontischen Prinzips. (16) Es ist bisher wenig beachtet worden, so scheint es, dass Hoffmann das serapiontische Prinzip zugleich als Massstab zur Bewertung rein formaler Kriterien verstanden haben wollte. Ein bisher vernachlässigter Aspekt des serapiontischen Prinzips ist die Verpflichtung zu hoher künstlerischer Qualität in formaltechnischem Sinne. Theodor bemerkt während der ersten Serapionsversammlung ganz nüchtern, das serapiontische Prinzip bedeute nichts weiter, als dass die Freunde übereingekommen seien, 'sich durchaus niemals mit schlechtem Machwerk zu quälen'. (S. 56 ) Hoffmann sah die problematische Aufgabe des Künstlers darin, die eigene innere Vision sprachlich so zu gestalten, dass sie für den Leser farbige Plastizität annehmen konnte, und dieses Ziel war nur zu erreichen durch das fortgesetzte Bemühen um ein hohes künstlerisches Niveau. Die in den Rahmengesprächen so zahlreich enthaltenen kritischen Bemerkungen zu den einzelnen Erzählungen, die
11 sich ganz konkret auf die Wirkung bestimmter Passagen, die Darstellung von Personen, den Aufbau, das Verhältnis von Gehalt und sprachlicher Form usw. beziehen, müssen verstanden werden als das bewusste Bestreben, 'schlechtes Machwerk' rigoros zu enthüllen. (17) Es soll in dieser Arbeit versucht werden, zunächst die im Zyklus der 'Serapions-BrUder' verstreuten kunsttheoretischen Äusserungen Hoffmanns, soweit sie um das serapiontische Prinzip kreisen, zusammenzustellen und zu bestimmen, welche besonderen Formmerkmale eine 'echt serapiontische Erzählung' ausmachen. An einzelnen Erzählungen des Zyklus soll jeweils aufgezeigt werden, inwieweit Hoffmann selbst die geforderten 'serapiontischen' Gestaltungskriterien verwirklicht hat. Anschliessend soll durch einen Vergleich der Erzählpraxis und der kunsttheoretischen Äusserungen in den 'Serapions-Brüdern' und den 'Fantasiestücken' festgestellt werden, ob und wie sich das serapiontische Prinzip und Callots Manier voneinander unterscheiden. ANMERKUNGEN ( 1 ) E. T. A. Hoffmann. Sämtliche Werke in fünf Einzelbänden. (Winkler Dünndruck-Ausgabe) München 1960-65, S. 7. Alle folgenden Zitate beziehen sich auf diese Ausgabe. ( 2 ) E. T. A. Hoffmanns Briefwechsel. Herausgegeben von Friedrich Schnapp. München 1967, Band II, S. 156. (3 ) Dieser unveröffentlichte Brief befindet sich im Besitz Friedrich Schnapps. Vgl. dazu Anmerkung 10 in'Briefwechsel', Band II, S. 100. Schnapp nimmt als Gründungstag den 12. Oktober 1814 an, den Namenstag des katholischen Heiligen Seraphinus von Montegranaro. Vgl. zu dieser und den folgenden Datierungen Friedrich Schnapps Artikel 'Der Seraphinenorden und die Serapionsbruder E. T. A. Hoffmanns'. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft. Neue Forschung 3, 1962, S. 99-112. ( 4 ) Harich meint, dass nach der Bekanntschaft mit dem genialen Devrient Hoffmann seine 'Seraphinenfreunde' fade und uninteressant erscheinen mussten. Walther Harich, E. T. A. Hoffmann. Das Leben eines Künstlers. Berlin 1920, S. 98 und 134. ( 5) Hoffmanns erster Biograph, sein Freund Hitzig, schreibt in seinen Erinnerungen 'Aus Hoffmanns Leben und Nachlass' (Berlin 1823): 'Am Abende eines Tages, der nach dem von Hoffmanns Gattin herbeigebrachten polnischen Kalender den Namen des heiligen Serapion führte, wurde die Gesellschaft eingeweiht, nach jenem Heiligen genannt und gedieh fröhlich...' ( Zitiert nach Wulf Segebrechts Anmerkung zu den 'Serapions-Brudern', S. 1043 ). Friedrich Schnapp weist nach (Anmerkung 3 ), dass die Zusammenkünfte der Serapionsbruder in die Zeit vom November 1818 bis zum Februar 1820 fielen. Aus künstlerischen Erwägungen habe Hoffmann im Zyklus die Anzahl dieser Abende auf acht reduziert. Die sechs
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Teilnehmer an den Serapionsabenden treten in der Dichtung unter den Namen Lothar, Cyprian, Theodor, Ottmar, Vinzenz und Sylvester auf. ( 6 ) Ellinger bemerkt dazu, dass die Rahmengespräche ein zwar idealisiertes, aber im wesentlichen wahres Abbild der Serapionsabende darstellen. In: Georg Ellinger, E. T. A. Hoffmann. Sein Leben und seine Werke. Hamburg 1894, S. 129. ( 7) Hoffmanns hohe Einschätzung Tiecks kommt z. B. darin zum Ausdruck, dass er ihn mit Goethe und Shakespeare auf eine Ebene stellt. Vgl. dazu u.a. S. 978; 928. ( 8 ) FUr die Gestalt und das Schicksal des historischen Mönchs und Märtyrers Serapion bekundete Hoffmann kein Interesse. Sowohl aus den einleitenden Rahmengesprächen als auch aus der Bemerkung seines Freundes Hitzig (Anmerkung 5) geht eindeutig hervor, dass die Wahl des Namens ausschliesslich auf Zufall beruhte: der Mönch Serapion war der Kalenderheilige für den 14. November 1818. Eine echte und bedeutungsvolle Beziehung besteht nur zwischen den Mitgliedern des Kreises und dem fiktiven, Hoffmanns eigener Phantasie entsprungenen Serapion, dem Grafen P. ( 9) Wulf Segebrecht, Autobiographie und Dichtung im Werk E. T. A. Hoffmanns. Stuttgart 1967, S. 133ff. (10) Hans-Georg Werner, E. T. A. Hoffmanns Darstellung und Deutung der Wirklichkeit im dichterischen Werk. Weimar 1962, S. 47. (11) Wolfgang Preisendanz, Humor als dichterische Einbildungskraft. München 1963, S.48f. (12) Kenneth G. Negus, E. T. A. Hoffmann's Other World. The Romantic Author and his New Mythology. Philadelphia 1965, S. 75. (13) Johannes Klein, Geschichte der deutschen Novelle von Goethe bis zur Gegenwart. Wiesbaden 1954, S. 75f. (14) Thomas Cramer, Das Groteske bei E. T. A. Hoffmann. München 1966, S. 81-84. (15) Herrmann August Korff, Geist der Goethezeit. Leipzig 1953, Band IV, S. 594f. (16) Dazu bemerkt Horst Daemmrich in seinem Artikel ' Zu E. T. A. Hoffmanns Bestimmung ästhetischer Fragen', in der Hoffmann-Forschung herrsche die Tendenz vor, seine Werke vom Existenziellen zu interpretieren. In: Weimarer Beiträge 14, 1968, S.640. Vgl. dazu auch Helmut Müllers Bemerkung, es gebe in der Hoffmann-Forschung eine 'unangemessene Betonung, ja Verherrlichung seiner 'Metaphysik' oder seiner 'mythischen Botschaft'. In: Untersuchungen zum Problem der Formelhaftigkeit bei E. T. A. Hoffmann. Bern 1964, S. 7. (17) Auf diesen Aspekt des serapiontischen Prinzips weist Karl Ochsner flüchtig hin. In einer Fussnote bemerkt er (anscheinend bedauernd), dass Hoffmann im Laufe der Rahmengespräche den B e griff der serapiontischen Dichtung durch die zahlreichen werkkritischen Äusserungen erweitert und ihm dadurch seine Eindeutigkeit genommen habe. Karl Ochsner, Hoffmann als Dichter des Unbewussten. Frauenfeld 1936, S. 139.
I
DIE VORBEDINGUNGEN SERAPIONTISCHEN ERZÄHLENS
Durch Hoffmanns gesamtes dichterisches Werk zieht sich als konstantes Grundthema seine Vorstellung von der Duplizität des Seins, d. h. von d e r Existenz zweier Welten. In polarer Spannung stehen sich gegenüber die Realität des Hier und Jetzt, d e r Bereich des Alltags, die bürgerliche Welt eines Konrektors Paulmann oder Geheimen Kanzleisekretärs Tusmann und das Reich der Träume, ein zeitloses Nirgendwo, sei nun sein Name Atlantis oder Dschinnistan. In den 'Serapions-BrUdern' bezeichnet Hoffmann die beiden Bereiche einfach als Aussenwelt und Innenwelt. In welchem Verhältnis sie zueinander stehen, wird gleich in d e r e r s t e n Serapions Sitzung klar a u s gesprochen: Es gibt eine innere Welt, und die geistige Kraft, sie in voller K l a r heit, in dem vollendetsten Glänze des regensten Lebens zu schauen, aber es ist u n s e r irdisches Erbteil, dass eben die Aussenwelt . . . als Hebel wirkt, der jene Kraft in Bewegung setzt. (S. 54) Der Einsiedler Serapion ignorierte die Duplizität, e r erkannte die Aussenwelt nicht an, sondern behauptete, dass der Geist unbeeinflusst von äusseren Anlässen oder Anregungen sich in f r e i e r Willkür eine absolute Welt schaffe. Nicht so die Serapionsbruder. Sie erkennen, dass e s gerade Anstösse der Aussenwelt sind, welche die geistigen Kräfte zur Sichtbarmachung der inneren Welt freisetzen. Die Welt d e r Realität liefert e r s t das Material, die Bausteine, aus denen die Phantasie ihre Gebilde formen kann. Diese Einwirkung des Aussen auf die schöpferische Kraft des Geistes bezeichnet Hoffmann a l s Hebelwirkung, eine Formel, die das Verhältnis von Wirklichkeit und Dichtung u m r e i s s t . Welche Forderungen ergeben sich daraus f ü r den Dichter? E r darf sich keinesfalls wie Serapion vom Leben abkehren und in die Einsamkeit fluchten, sondern e r muss 'in der Welt leben, in d e r buntesten Welt, um schauen und auffassen zu können ihre unendlich mannigfachen Erscheinungen'. (S.403) So bekennt zum Beispiel Sylvester seinen Freunden, dass ihm nichts Uber ein ruhiges Leben auf dem Lande gehe, da die hastige Geschäftigkeit der Grossstadt Berlin seinem innersten Wesen widerstrebe, d a s s e r a b e r nur in dem Fluidum B e r l i n s die Anregungen zu künstlerischem Schaffen finde. E s wäre allerdings falsch zu schliessen, dass der Dichter alles selbst
14 erleben müsse, um es gestalten zu können. Die Betonung in dem vorhergehenden Zitat liegt nicht auf dem Wort 'leben', sondern auf 'schauen und auffassen', obwohl natürlich auch ein persönliches E r lebnis die Gestaltung eines Werkes veranlassen kann. Die kurze Erzählung 'Erscheinungen' mit all ihrer Phantastik basiert auf Hoffmanns persönlichen Erlebnissen während der Belagerung Dresdens. 'Die Fermate' und 'Die Automate' enthalten Episoden aus seinem Leben. Der Baron von B . und Rat Krespel sind historische Figuren, deren exzentrisches Wesen Hoffmann als Hebel für die gleichnamigen Erzählungen benutzte. Jedoch sind Werke mit autobiographischem Hintergrund in den 'Serapions-Brüdern' in der Minderzahl. Weit häufiger dienen Gemälde und alte Chroniken als Hebel. Die Anregungen zu 'Die Fermate', 'Doge und Dogaresse', 'Meister Martin der KUfner und seine Gesellen' und 'Der Artushof' gehen von Bildern aus. Auf Eintragungen in Chroniken basieren 'Die Bergwerke zu Falun', 'Der Kampf der Sänger', 'Das Fräulein von Scuderi', 'Nachricht aus dem Leben eines bekannten Mannes' und 'Die Brautwahl'. Im Verlauf einer Serapionsversammlung erklärt Lothar, dass gerade alte Chroniken die schönsten, reichsten Fundgruben für literarische Werke aller Art darstellten. Bei mehreren Erzählungen wird in der Beurteilung gerade die historische Basis, das Schreiben nach konkreten Vorlagen als besonders serapiontisch hervorgehoben. (1)
Von den Erzählungen der 'Serapions-Bruder' bezeichnet Hoffmann drei als Märchen: 'Nussknacker und Mausekönig', 'Das fremde Kind' und 'Die Königsbraut'. Selbst diese Märchen nehmen ihren Ausgang von einer ganz konkreten Situation der Wirklichkeit: der Bescherung am Weihnachtsabend, einem Verwandtenbesuch und dem Aufziehen von Mohrrüben im Gemüsegarten. Im weiteren Verlauf findet dann wie in allen Märchen Hoffmanns eine enge Verzahnung des Märchenhaften mit dem Wirklichen statt. Anlässlich einer Diskussion Uber Märchen findet sich in den 'Serapions-BrUdern' folgender Ausspruch: 'Ich meine, dass die Basis der Himmelsleiter, auf der man hinaufsteigen will in höhere Regionen, befestigt sein mUsse im Leben, so dass jeder nachzusteigen vermag'. (S. 599) Dieser Satz besagt im Wesentlichen dasselbe wie das Prinzip von der Hebelfunktion der Aussenwelt. In treuer Befolgung jenes Prinzips spielen die oben e r wähnten Märchen (auf der realen Ebene) in der Gegenwart und an genau fixierbaren Orten, d. h. in der wirklichen anschaubaren Welt und nicht in einem zeitlos fernen, exotischen Zauberreich. Eine Reihe von Erzählungen im Zyklus sind durch Hoffmanns Faszination fUr naturwissenschaftliche Phänomene angeregt worden (z. B. 'Die Automate', 'Der Unheimliche Gast' und 'Vampirismus' ).Die Rahmengespräche enthalten zahlreiche Ausführungen Uber die neu entdeckte Wissenschaft des physiologischen Magnetismus, Uber Somnambulismus, zeitgenössische psychiatrische Theorien und mechanische Erfindungen aller Art. G.H.Schuberts 'Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaften' ist eines der am häufigsten von Hoffmann zitierten Werke. Anregungen aus diesem Buch und ähnlichen Veröffentlichungen verwendet er bewusst als Hebel, um die Ein-
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bildungskraft in Bewegung zu setzen. Fast alle Erzählungen des Zyklus beginnen damit, dass der Verfasser den versammelten Serapionsbrtldern mitteilt, durch welchen besonderen Hebel der dichterische Schaffensvorgang jeweils ausgelöst wurde. ( 2 ) Nach der Anregung durch die Aussenwelt folgt als nächste Phase im Prozess des dichterischen Gestaltens das Schauen. Es sei hier nochmals an Lothars Bemerkung erinnert, der Dichter müsse in der buntesten Welt leben, um die mannigfachen Erscheinungen der Welt schauen und auffassen zu können. Der Begriff ' schauen' setzt zunächst eine gewisse Distanz und eine kontemplative Haltung des Dichters voraus, die es ihm ermöglicht, Eindrucke und Anregungen der Aussenwelt von allen Seiten zu betrachten und das Wesentliche daran zu erkennen. Die vielleicht beste Darstellung solchen Schauens findet sich in der nicht zum Zyklus gehörenden Erzählung 'Des Vetters Eckfenster'. Im Mittelpunkt dieser Erzählung steht ein kranker Schriftsteller, der von seinem Eckfenster aus das Treiben auf einem Berliner Wochenmarkt beobachtet. Mit seinem Fernglas sucht er das dichte Menschengewimmel nach einzelnen markanten Gestalten ab und erkennt durch scharfe Beobachtung Details und Besonderheiten, die seinem im Schauen ganz ungeübten Vetter völlig entgehen. 'Schauen' bedeutet hier also zunächst ein sehr intensives visuelles Wahrnehmen. Dann tritt im Geiste des Dichters etwas ein, was von Hoffmann meistens mit der Formel 'aufgehen im Innern' (S. 54, 55, 274, 641) oder auch 'erschauen' (S. 54, 404 , 766) bezeichnet wird. Es bedeutet die Aufhebung der Distanz und ein Entzündetwerden oder Ergriffenwerden durch das Geschaute. An die Stelle des äusseren visuellen Anschauens tritt ein inneres visionäres Erschauen - es beginnt das Wirken der Phantasie. Am ' Fragment aus dem Leben dreier Freunde' lässt sich der Schritt vom Schauen zum Erschauen, von rein optischer Wahrnehmung zu subjektiv-intuitiver Vorstellung besonders gut erkennen. In einem Berliner Gartenlokal wird einem hübschen Mädchen von einem jungen Mann verstohlen ein Zettel in die Hand gedrückt, ohne dass die Eltern des Mädchens es bemerken. Heimlich liest sie die Nachricht, bricht daraufhin in Tränen aus und zerreisst das Papier. Auf eine Frage des Vaters antwortet sie klagend, zieht ein Tuch hervor und drückt es an ihr Gesicht. Das ist die reale Begebenheit, die von drei Freunden am Nebentisch beobachtet und vom Erzähler sehr anschaulich beschrieben wird. Die Phantasie der Freunde wird durch den Vorgang sogleich entzündet (Hebelwirkung): nur eine heimliche unglückliche Liebe kann die Ursache des Tränenstroms sein, und jeder der drei entwickelt daraufhin seine eigenen phantastischen und romantischen Vorstellungen Uber die besonderen Umstände jener unglücklichen Liebe. Die Einbildungskraft Marzells und Severins ist so mächtig, dass sie ihnen Liebesempfindungen vortäuscht, die in Wirklichkeit nicht vorhanden sind. Sie leben während der folgenden Wochen in einer selbstgeschaffenen Illusionswelt, in der sie den unglücklichen Liebenden spielen und an dieser Rolle grossen Gefallen finden, ohne sich dessen bewusst zu sein. Marzeil gelingt es, den Namen des Mädchens - Pauline - herauszufinden und mit ihr bekannt zu werden. Fast täglich trifft er sie,
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hält zärtlich ihre Hand, küsst sie sogar einmal und leidet brennende Qualen, da er sich vorstellt, dass sie die Braut eines anderen ist. Im Geiste sieht er schon, wie er an Paulinens Trauungstag halbversteckt hinter einem Kirchenpfeiler steht, wie er nach dem 'Ja' der Braut vor lauter Verzweiflung ohnmächtig zu Boden sinkt und wie mitleidige Bürger ihn hinaustragen. Als er jedoch erfährt, dass Pauline weder verlobt noch verliebt ist und dass sie damals im Tiergarten nur weinte, weil der Bote eines Modesalons die Nachricht Uberbrachte, dass ihr neuer Hut nicht rechtzeitig geliefert werden könne, erkaltet Marzells 'glühende Liebe' schlagartig, und er schliesst sich dem nächstbesten Trupp Freiwilliger an, um seine blamable Selbsttäuschung in kriegerischen Unternehmungen zu vergessen. Severin erlebt Ähnliches wie Marzell; nur Alexander errichtet keine Scheinwelt um Pauline und keinen imaginären Nebenbuhler, sondern verliebt sich wirklich in Pauline und heiratet sie. ' Fragment aus dem Leben dreier Freunde' behandelt auf humoristische Weise in mehreren Variationen das Verhältnis von Wahn und Wirklichkeit. Das Einwirken der Aussenwelt auf die Innenwelt, die Verwandlung der wahrgenommenen Realität durch die Phantasie wird dem Leser gerade in dieser Erzählung plastisch vor Augen geführt. Hoffmann hat es mehrfach unternommen, den komplexen Vorgang des dichterischen Schaffens in konkreten Worten auszudrücken. In der schon einmal zitierten 'Vereinssatzung' hiess es: Jeder prüfe wohl, ob er auch wirklich das geschaut, was er zu verkünden unternommen . . . Wenigstens strebe jeder recht ernstlich danach, das Bild das ihm im Innern aufgegangen recht zu e r fassen mit allen seinen Gestalten, Farben, Lichtern und Schatten, und dann, wenn er sich recht entzündet davon fühlt, die Darstellung ins äussere Leben zu tragen. (S. 55) Acht Jahre vorher hatte Hoffmann in 'Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza' geschrieben: Ich möchte immer etwas aufsuchen, wodurch erklärt würde, wie das was der Dichter verkündet, von aussen hineingegangen sei und den Samen gestreut habe, den nur der lebhafte Geist, das regbare Gemüt zur Blüte und Frucht reifen lässt. (I, S. 138) Ein Vergleich zeigt, dass beide Formulierungen einen Vorgang in vier sich genau entsprechenden Phasen beschreiben: 1. das Hineingehen von aussen - das Schauen 2. die Streuung des Samens - das Aufgehen im Innern 3. das Reifen zur Blüte und - das Erfassen des Geschauten mit allen Gestalten Frucht durch lebhaften und Farben, Lichtern und Geist und regbares Gemüt Schatten 4. Das Verkünden des Dichters - das Hineintragen ins äussere Leben
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Die beiden mittleren Phasen fallen in den Bereich der Phantasie, nach Hoffmann die conditio sine qua non allen dichterischen Schaffens. Ohne Phantasie ist es überhaupt unmöglich, im Sinne Serapions zu dichten. Es sei noch einmal hingewiesen auf die 'feurige Fantasie' Serapions und auf die Ablehnung Leanders als Serapionsbruder, weil bei ihm der Verstand an die Stelle der Phantasie tritt. Es bleibt zu klären, welchen Anteil Hoffmann der Einbildungskraft an der Schaffung eines Werkes zuerkennt. Eine der landläufigen, sich hartnäckig behauptenden Vorstellungen Uber Hoffmann ist das Klischee vom halbwahnsinnigen, fast ständig im Rausch lebenden Künstler, dessen kraus wuchernde Phantasie keine Grenzen kennt. Frühe Urteile und Rezensionen (-unter anderen die von Goethe in 'The Foreign Quarterly Review') und Offenbachs Oper haben derlei Vorstellungen begründen helfen. Stellvertretend sei hier Börnes Urteil Uber die 'Serapions-BrUder' angeführt, der schreibt, es sei Phantasie darin, aber ohne den regelnden Verstand - die ganze Sammlung sei eine Epopee des Wahnsinns. (3) Hoffmann jedoch plädiert wiederholt in eindringlichen Worten für Mass und Ziel, für Besonnenheit und gesunde Vernunft im dichterischen Kunstwerk. Er versichert, dass es dem Autor gar wenig helfe, wenn ihm wie im wirren Traum allerlei Fantastisches aufgehe, sondern dass dergleichen, ohne dass es der ordnende, richtende Verstand wohl erwäge, durcharbeite und den Faden zierlich und fest daraus spinne, ganz und gar nicht zu gebrauchen. (S. 254) In dem schon einmal erwähnten Brief an den Herausgeber der Zeitschrift 'Der Zuschauer', in dem Hoffmann das serapiontische Prinzip verteidigt, spricht er von dem ehelichen Bund, den Phantasie und Verstand eingehen müssten, wenn etwas Ordentliches herauskommen solle. (V, S. 674) In diesen und anderen Zitaten ist ein klares Bekenntnis Hoffmanns zur bewussten künstlerischen Gestaltung enthalten. Wie später aufzuzeigen sein wird, sind es zumeist formale Mängel, die an den vorgelesenen Erzählungen gerügt werden und nur in seltenen Fällen ein Mangel oder ein Ubermass an Phantasie. Dem Verstand fällt also im künstlerischen Schaffens Vorgang die Kontrollund Ordnungsfunktion zu. Ein Dichter kann nur überzeugen, wenn er das Wesentliche kritisch auswählt und es in klar strukturierter Form darstellt, ohne dabei die Lebendigkeit des Geschauten und Erschauten zu beeinträchtigen. In diesem Kapitel wurden die Hebelfunktion der Aussenwelt, die dichterische Phantasie und die Ordnungsfunktion des Verstandes als Vorbedingungen serapiontischen Erzählens herausgestellt. In den folgenden Kapiteln sollen die besonderen Merkmale eines solchen Erzählstils im einzelnen untersucht werden.
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ANMERKUNGEN ( 1 ) W. MUller-Seidel schliesst daraus, es handele sich beim serapiontischen Prinzip auch um das Verfahren der Mimesis, jedoch nicht mehr als Nachahmung der Natur, sondern als Nachahmung des in der Kunst schon einmal Gewesenen. (Nachwort, S.1005) (2 ) Vgl. dazu u. a. Hans Mayer: 'Die Phantasie zeugt und nährt ihr Gebilde nur aus der vorhergehenden Anschauung der Wirklichkeit'. (Die Wirklichkeit E. T. A. Hoffmanns. Ein Versuch. In: Von Lessing bis Thomas Mann. Pfullingen 1959, S. 236.) Kenneth Negus: 'Thus no matter how fantastic a serapiontic story may become, its point of departure must be in actual experience'. ( E . T. A. Hoffmann's Other World, a. a. O., S. 74) Herbert Cysarz: ' . . . es ist stets Wirklichkeit, die er in Überwirklichkeit verwandelt'. (Die Phantasie E. T. A. Hoffmanns. Ein weltliterarisches Phänomen. In: Ostdeutsche Monatshefte 27, 1961, S.27.) ( 3 ) Ludwig Börne, Sämtliche Schriften. Neu bearbeitet und herausgegeben von Inge und Peter Rippmann. Düsseldorf 1964, Band II, S. 560, 562.
II
FORMMERKMALE SERAPIONTISCHEN ERZÄHLENS
1. Die Wohlgerundetheit Ein Merkmal, durch das sich eine echt serapiontische Erzählung nach Hoffmanns Meinung auszeichnen sollte, ist Wohlgerundetheit. Dieser Ausdruck ist nicht von ihm selbst geprägt worden; er bietet sich jedoch an zur Bezeichnung eines bestimmten Strukturprinzips, das in den Rahmengesprächen mehrfach angedeutet und diskutiert wird. So nimmt man es Ottmar tlbel, dass er in 'Signor Formica' statt einer 'in allen Teilen sich rundenden Erzählung' nur eine Reihe Bilder geliefert hat. Derselbe Vorwurf trifft auch 'Die Brautwahl' und den 'Unheimlichen Gast'. In beiden Geschichten werden einzelne gute Momente anerkannt, während die mangelnde Einheitlichkeit des Ganzen beanstandet wird. In der Besprechung von 'Nussknacker und Mausekönig' dagegen werden 'die feinen Fäden, die sich durch das Ganze ziehen und in seinen scheinbar völlig heterogenen Teilen zusammenhalten' besonders gelobt. In den Schlussworten wird darauf hingewiesen, dass nur grösste Besonnenheit ein in sich gehaltenes gerundetes Werk erzeugen könne. Aus den angeführten Zitaten wird ersichtlich, dass es sich bei der Wohlgerundetheit um das ausgewogene Verhältnis der verschiedenen Motive in einer Erzählung handelt. Das Ganze soll in sich ruhen, nicht zerfallen in einzelne Momente oder Bilder - es soll auch mehr sein als eine blosse Addition von Einzelteilen. Der Begriff der Rundheit weist auf eine fest geschlossene Struktur, in der die einzelnen Elemente so angeordnet sind, dass es im idealen Fall ein Zentralmotiv gibt, um das sich die übrigen Motive in enger Verzahnung sowohl mit dem Zentralmotiv als auch untereinander dann 'runden'. Hoffmann bezeichnet ein solches Zentralmotiv in sehr bildlicher Weise als 'festen Kern' des Ganzen. Er schreibt z.B. über Märchen, dass gerade ein Werk, wie in regelloser spielender Willkür von allen Seiten ins Blaue hinausblitzend doch einen festen Kern in sich tragen solle und müsse'. (S. 254) Diese Bemerkung bezieht sich auf das Märchen 'Nussknacker und Mausekönig', in dem das Strukturprinzip der Wohlgerundetheit besonders gut verwirklicht ist. In der anschliessenden Analyse soll zu zeigen versucht werden, wie die Geschichte um einen festen Kern herum wächst, wie bei immer grösserer Ausweitung der Zusammenhang mit dem Kern doch erhalten und noch verstärkt wird, so dass trotz der Fülle an Eindrücken und trotz der scheinbaren Verwirrung ein Gebilde von grosser Durchsichtigkeit entsteht. Der 'feste Kern' dieses Märchens ist der Nussknacker, ein Weihnachtsgeschenk des Obergerichtsrats Drosselmeier an die Kinder des Medizinalrats
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Stahlbaum. Die siebenjährige Marie hat ihn als e r s t e auf dem Gabentisch entdeckt. Zunächst bemerkt sie sein Ä u s s e r e s , besonders die missgestaltete Figur: einen langen, starken Oberleib, der nicht recht zu den dünnen Beinen passt, und einen bei weitem zu grossen Kopf. Trotzdem schliesst sie ihn gleich ins Herz; fUr sie ist e r nicht wie f ü r ihren Bruder Fritz ein lebloses Ding, ein Werkzeug zum NUsseknacken allenfalls, sondern ein Wesen voller Gutmütigkeit, Freundschaft und Wohlwollen. Als Nussknacker beim Nüsse beissen ein paar Zähne einbüsst, weint sie vor J a m m e r , wickelt ihren Schützling in ein Tuch und wiegt den a r m e n Kleinen, der sehr b l a s s und e r s c h r o c ken aussieht, in ihren Armen. Auf die Bemerkung i h r e s Paten Drosselmeier, 'wie sie denn mit einem grundhässlichen kleinen Kerl so schön tun könne', r e a g i e r t sie sehr heftig, indem sie dem Paten seine eigene Hässlichkeit vorhält. Um den Nussknacker also dreht sich die ganze Geschichte. Gleichwohl ist nicht e r die Hauptgestalt des Märchens, sondern die sensible und t r ä u m e r i s c h veranlagte Marie. Die Aufregungen des Heiligen Abends, ihre Freude Uber den Nussknacker und ihr Schmerz Uber seine Verletzung sind die Hebel, die ihre Einbildungskraft in B e wegung setzen und den wunderbaren Traum auslösen vom Kampf der Puppen mit dem siebenköpfigen Mausekönig und seinem Volk. Der Traum endet damit, d a s s Marie dem vom Mausekönig hart bedrängten Nussknacker zu helfen versucht, dabei mit dem Arm eine Scheibe des Spielschrankes durchstösst und in Ohnmacht fällt. Die Anlage und die Durchführung dieses ersten Teils sind b e m e r kenswert straff und klar. Die Akteure und Requisiten d e r Schlacht werden bis auf eine Ausnahme schon in den e r s t e n Kapiteln eingeführt: Maries Puppen, insbesondere Madame Clärchen und Trutchen, eine Reihe Pfefferkuchenmänner, Fritzens Zinnsoldaten und alles militärische Zubehör sowie der grosse gläserne Spielschrank d e r Kinder. Neu hinzu kommen die Mäuse und ihr siebenköpfiger König, die um Mitternacht vor Maries Augen ein e r b i t t e r t e s Gefecht gegen die Puppen und Soldaten austragen. (Eine rationale Erklärung f ü r dieses Ereignis hat die Mutter bereit: eine aus dem Schrank h e r v o r springende Maus habe die schläfrige Marie so erschreckt, d a s s sie m i t dem Arm durch die Glasscheibe gestossen sei und sich verletzt habe). Auch die Emotionen des Traums lassen sich ohne weiteres erkennen a l s Wiederholung und Intensivierung der Gefühle und A f fekte, die in den Eingangskapiteln vorherrschen: die starke Zuneigung Maries zum Nussknacker und das merkwürdig gespannte V e r hältnis zwischen Marie und ihrem Paten Drosselmeier. Drosselmeier gehört zu der Reihe seltsam s k u r r i l e r , zwiespältiger Figuren Hoffmanns, von denen später noch die Rede sein wird. Einerseits ist e r durchaus rational und i n t e r e s s i e r t sich f ü r Automaten und alles Mechanische, z . B . das Reparieren von Uhrwerken; a n d r e r s e i t s beweist e r mit dem Erzählen des Märchens von der harten Nuss seinen Hang zum Phantastischen und Humoristischen. Die Ursache f ü r das gespannte Verhältnis zwischen ihm und Marie ist sein Verdruss darüber, dass die Kinder mehr Freude am Nussknacker bekunden a l s an dem kunstvoll gebastelten Schloss, das e r ihnen geschenkt hat. Marie i h r e r s e i t s wird erzürnt Uber die schon
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erwähnte abfällige Bemerkung des Praten Uber Nussknackers Hässlichkeit. Dieses Motiv der Rivalität erscheint wieder in Maries Traum. Sie erblickt statt der vergoldeten Eule, die gewöhnlich auf der Wanduhr sitzt, die Gestalt Drosselmeiers, der mit seinen langen, gelben Rockschössen die Uhr verdeckt. Marie beschuldigt ihren P a ten deshalb am nächsten Tag, ein Verbündeter des Mausekönigs zu sein, da er, anstatt den Nussknacker zu unterstützen, die Wanduhr am lauten Schlagen hinderte und damit den Mäusen Hilfestellung leistete. Um Marie zu versöhnen, erzählt Drosselmeier den Kindern dann das Märchen von der harten Nuss Krakatuk. In diesem Märchen, das den Mittelteil der Erzählung ausmacht, liegen, wie Ottmar in der Werkkritik richtig bemerkt, die Bindeglieder des Ganzen. Verbindungslinien ziehen sich in zwei Richtungen, sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft. Einmal wird durch den Fluch der alten Mausekönigin die Feindschaft zwischen dem Volk der Mäuse und dem Nussknacker motiviert; gleichfalls wird eine Erklärung für Nussknackers Hässlichkeit gegeben. Eine andere Linie verbindet den Hofastronomen Drosselmeier alias Obergerichtsrat Drosselmeier mit Nussknacker und macht sie zu Verwandten, nämlich Onkel und Neffen. Ausser diesen rein äusserlichen Verknüpfungen von Motiven gibt das eingeschobene Märchen der E r zählung eine neue Dimension: Nussknacker erhält ein Schicksal. Er ist der verwunschene Märchenprinz, dessen Erlösung von zwei Faktoren abhängig ist: von der Vollbringung einer kühnen Tat (dem Sieg Uber den Mausekönig) und der Liebe eines Mädchens. Dieses Verwünschungs- und Erlösungsmotiv sind die Linien, die in die Zukunft führen. Das Märchen gibt Marie die Gewissheit, dass Nussknacker ein lebendiges Wesen ist, und sie denkt an nichts anderes als an Möglichkeiten, dem Ärmsten in seiner misslichen Lage beizustehen. Durch ihren Glauben und ihre Standhaftigkeit verhilft sie schliesslich dem Nussknacker zu seinem Sieg Uber den Mausekönig. Die Beschreibung dieses Kampfes und Maries Reise in das Puppenreich machen den dritten Teil der Erzählung aus. Die Geschichte endet damit, dass aus dem hässlichen Nussknacker ein schöner Jüngling wird, der Marie zum Dank für ihre Treue zu seiner Frau und Königin macht in einem Land funkelnder Weihnachtswälder und durchsichtiger Marzipanschlösser. Selbst dieser phantastische, typisch märchenhafte Schluss wirkt nicht Uberraschend und forciert. Wie schon vorher erwähnt wurde, Uberträgt Maries rege Einbildungskraft Gestalten, Gegenstände und Stimmungen ihrer alltäglichen Umgebung in die Sphäre des Wunderbaren und Phantastischen. Drosselmeier bemerkt dazu, nachdem er das Märchen von der Nuss Krakatuk erzählt hat, dass Marie mit dichterischer Sehkraft begabt ist: Ei, dir liebe Marie ist ja mehr gegeben, als mir und uns allen; du bist, wie Pirlipat, eine geborene Prinzessin, denn du regierst in einem schönen blanken Reich. - Aber viel hast du zu leiden, wenn du dich des armen missgestaltenen Nussknackers annehmen willst, da ihn der Mausekönig auf allen Wegen und Stegen verfolgt. - Doch nicht ich, du du allein kannst ihn retten, sei standhaft und t r e u . ' (S.234)
22 Im Anschluss daran heisst es, d a s s Marie nicht 'wusste', was D r o s selmeier mit diesen Worten sagen wollte, ihr lebhafter Geist jedoch projektiert den Ausspruch von der Prinzessin in die Traumwirklichkeit: sie wird am Ende Prinzessin im Puppenreich. Bei einer Untersuchung des Aufbaus wird eine symmetrische Anlage der Erzählung offenbar. Auf den ersten Teil entfallen 21 Seiten, auf den Zwischenteil (das Märchen von der harten Nuss) 13 Seiten und auf den Schluss 20 Seiten. Der Erzählablauf wird dabei bestimmt durch ein allmähliches Ubergehen vom Realen, Alltäglichen zum rein Phantastischen. Im ersten Teil liegt das Schwergewicht auf der D a r stellung des Wirklichkeitsbereichs (das Warten auf den Heiligen Abend, die Bescherung, Nussknackers Verletzung), im dritten Teil auf der Darstellung des Überwirklichen (Maries Gang über Kandiswiese und durch den Weihnachtswald, der Besuch Bonbonhausens, die Fahrt im Muschelwagen Uber den Rosensee, usw.). Die B e s c h r e i bung der Schlacht im e r s t e n Teil entspricht der Beschreibung des Sieges im dritten Teil; die beiden Kapitel, die Maries Reise durch das Puppenland beschreiben, bilden das Gegengewicht zu den g r a u s i gen 'Wunderdingen' des e r s t e n Teils. Die Fülle an Eindrücken, das Verweilen bei Einzelheiten und die schillernde Buntheit der B e s c h r e i bungen in den letzten Kapiteln veranschaulichen, wie Marie allmählich heimisch wird im Reich der Träume. So kann sie sich im Schlusskapitel ohne weiteres entscheiden, Nussknackers Braut zu werden. Unähnlich den beiden anderen Märchen des Zyklus endet also ' N u s s knacker und Mausekönig' im Bereich des Wunderbaren. Die Kommentare der Serapionsbruder zu dem Märchen sind im Vergleich zu anderen Erzählungen recht zahlreich und vielseitig. Es geht hauptsächlich um die Frage, ob es ein echtes Kindermärchen sei, was schliesslich zu einer Diskussion Uber wesentliche Kriterien d e r Gattung 'Märchen' führt. In dieser Untersuchung ging es a u s schliesslich um strukturelle Kriterien. In der Figur des Nussknackers ist ein k l a r erkennbarer ' f e s t e r Kern' vorhanden. Obwohl e r auf der Wirklichkeitsebene der Erzählung völlig passiv ist, bringt e r doch das Geschehen in Gang und bestimmt die Weiterentwicklung der Handlung. E r steht sowohl mit Marie als auch mit Drosselmeier, den wichtigsten Personen der Erzählung, in Beziehung und beeinflusst ihre Entscheidungen, ihre Gedanken und Emotionen. Durch das ganze Märchen geht die Sicht auf den 'festen Kern' nie verloren; die v e r schiedenen Motive sind sowohl mit dem Kern a l s auch untereinander geschickt verflochten, es gibt keine überflüssigen Schnörkel und blinden Motive, so dass hier der Eindruck eines wohlausgewogenen, g e rundeten Ganzen entsteht. Es gibt im Zyklus eine Reihe von Erzählungen, die vielversprechend beginnen und einige sehr serapiontische Elemente enthalten, die aber nur als zweitrangig einzustufen sind, da es ihnen an Wohlgerundetheit mangelt. An den folgenden Beispielen sollen verschiedene Gründe d a f ü r aufgezeigt werden. In 'Signor Formica' ist es die Absicht des E r zählers, das Bild des römischen Malers, Dichters und Musikers Salvator Rosa von allen missgünstigen Verfälschungen seiner Zeitgenossen zu befreien und den Künstler a l s einen Mann darzustellen, dessen ' i n n e r e r Genius sich kundtat in h e r r l i c h t e r Strahlenbrechung'.
23 Das Hauptthema ist also, wie man aus den einleitenden Bemerkungen des E r z ä h l e r s schliessen darf, die Rehabilitierung eines Kunstlers. Im Mittelpunkt soll die Figur des Salvator Rosa stehen; es soll gezeigt werden, wie e r a l s Maler von den Römern verkannt und v e r u r teilt, wie e r aber in Gestalt des Signor Formica von denselben Römern allabendlich umjubelt wird. Im Verlauf der Erzählung schiebt sich jedoch sehr bald neben den ersten 'festen Kern' ein zweiter in Gestalt des Don Pasquale Capuzzi. Neben Salvators Problem, sein Ringen um künstlerische Anerkennung, t r i t t das Problem des jungen Malers Antonio, sein Ringen um Capuzzis Nichte Mariana, die dieser selbst zu heiraten gedenkt. Nun ist die Verbindung einer Ktlnstlergeschichte mit einer Liebesgeschichte bei Hoffmann nicht ungewöhnlich, und e r ist gewandt genug, die beiden Kerne nicht unverbunden nebeneinanderzustellen. Hoffmann arbeitet in diesem Fall mit dem Mittel des Kontrastes bei Parallelsituationen. So wirkt der eitle Möchte-gern-KUnstler Capuzzi, der sich selbst f ü r g r o s s a r t i g hält und keine Gelegenheit versäumt, sich in den Vordergrund zu drängen, als komischer Kontrast zu Salvators bescheidenem Wesen und s e i nem echten Ktlnstlertum. Die Gestalt des Antonio ist nicht nur ein f o r m a l e s Bindeglied zwischen Salvator und Capuzzi, sondern zugleich Parallelfigur zu Salvator: wie dieser nur a l s Signor Formica Anerkennung erreicht, so findet Antonio nur a l s angeblich v e r s t o r bener neapolitanischer Maler Aufnahme in die römische Kunstakademie. Im Verlauf der Erzählung wird jedoch das Grundthema, der Konflikt zwischen Künstler und Gesellschaft, immer mehr zurückgedrängt zugunsten der um Mariana und Capuzzi kreisenden Handlung. Der Grund mag darin zu suchen sein, dass die bunten, burleskoperettenhaften Elemente der Liebesgeschichte den Erzähler mehr zur Gestaltung und breiten Ausmalung reizten als das e r n s t e r e und auch abstraktere Thema künstlerischer Anerkennung. Hauptsächlich wegen der Verlagerung des Schwerpunktes auf das Nebenthema m a n gelt e s der Erzählung an Wohlgerundetheit. Aber selbst wenn man die Liebesgeschichte f ü r sich allein betrachtet, erhält man nicht den Eindruck eines in sich geschlossenen Ganzen. Die Serapionsbruder bemerken richtig, dass der E r z ä h l e r nur eine Reihe Bilder geliefert habe. Es liegt keine innere Notwendigkeit dafür vor, dass es Antonio e r s t beim dritten Versuch gelingt, Mariana zu entfuhren. Es ist offensichtlich, d a s s die Freude an derben Spässen, P r ü g e l szenen, Verwechslungen usw. der Grund f ü r die lose Aneinanderreihung dieser Bilder war, die man wegen ihres dramatischen Charakters treffender als Szenen bezeichnen könnte. Sie haben die starke Tendenz, sich zu verselbständigen und gefährden dadurch die Einheit des Ganzen. Wie der E r z ä h l e r Ottmar selbst eingesteht, ist seine Geschichte weitschweifig geworden. Wegen dieser Weitschweifigkeit, der lose aneinandergefügten, unnötig aufgebauschten Episoden und wegen der mangelnden Konzentration auf den festen Kern des Hauptthemas wird in 'Signor Formica' eine Wohlgerundetheit nicht erreicht. Die nächste Untersuchung befasst sich mit dem Wirklichkeitsmärchen 'Die Brautwahl', einer Erzählung, die ein paar recht serapiontische Züge enthält, der es aber ebenfalls an Wohlgerundetheit m a n -
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gelt. Die Braut ist die hübsche Albertine Vosswinkel, deren Hand sowohl der ältliche Geheime Kanzleisekretär Tusmann als auch der junge Maler Edmund Lehsen zu gewinnen hoffen. Albertines Vater, der Kommissionsrat Vosswinkel, hat sie schon seinem alten Freund Tusmann versprochen, ohne allerdings Albertine, die sich in den Maler verliebt hat, ein Wort von der bevorstehenden Hochzeit zu sagen. Das ist die verhältnismässig einfache Ausgangssituation mit gut sichtbaren Konfliktstellen. Der Leser erwartet, dass es dem Liebespaar mit geschickter Diplomatie und ein wenig Glück gelingen wird, den Widerstand des Vaters zu uberwinden und Tusmann zum Verzicht zu bewegen. Aber nur wenige Erzählungen Hoffmanns zeichnen sich durch jene Geradlinigkeit und Einfachheit aus, die er an Kleists Novellen so bewundert. (1) Der Personenkreis wird zunächst erweitert durch das Hinzutreten des Goldschmieds Leonhard und des Juden Manasse, bei denen es sich nicht um normale Sterbliche handelt, sondern um Revenants aus dem sechzehnten Jahrhundert. Manasse war der MUnzmeister des Kurfürsten Johann Georg und wurde wegen Zauberei und Betrügerei hingerichtet; Leonhard war zur selben Zeit Alchimist und Astrolog am Hofe und musste, weil man auch ihn der Zauberei verdächtigte, aus Berlin fliehen. Mit dem Auftreten der beiden Revenants ist allem möglichen Zauberwesen die Tür geöffnet, und Leonhard ist es, der in echt zauberkünstlerischer Manier den Gang der Ereignisse lenkt. Zunächst verkompliziert sich die Ausgangssituation durch das Auftreten eines dritten Freiers, des Barons DUmmerls. Der alte Manasse präsentiert ihn plötzlich wie ein Zauberer das Kaninchen aus dem Zylinder - wo und wann sich Dümmerl in Albertine verliebt hat und warum er sie heiraten will, in welcher Beziehung eigentlich Manasse und auch Leonhard zu dem Kommissionsrat stehen, wird nicht erwähnt. Mit dem Auftreten des Barons ergeben sich gleich zwei neue Motive: Die Entscheidung in der Brautwahl erfolgt, da keiner freiwillig auf Albertine verzichten will, durch eine Kästchenwahl; das zweite Motiv ist die Auseinandersetzung zwischen Leonhard und Manasse. Rein äusserlich vertreten beide nur die Interessen ihrer Schützlinge; Manasse steht auf Seiten seines Neffen, Leonhard auf Seiten Edmunds (motiviert durch eine alte Frevindschaft zwischen Leonhard und Edmunds Vater). Tatsächlich stehen sich jedoch in dem Goldschmied und dem Juden zwei einander feindliche Prinzipe gegenüber: Manasse treibt sein Zauberwesen des materiellen Gewinnes wegen, Leonhard dagegen nur aus Wissensdurst. Eine Andeutung der bestehenden Feindseligkeit wird schon im ersten Kapitel gegeben, in dem beide eine Probe ihrer magischen Künste abgeben: Die Goldstücke, die der alte Münzjude aus Rettichscheiben stanzt und dem Goldschmied zuwirft, zerstäuben zu knisternden Funken, sobald dieser sie berührt. Die Szene ist eine Vorausdeutung der Niederlage Manasses im letzten Kapitel, wo sich Leonhard des Barons Dümmerl bedient, um seinem alten Widersacher 'endgültig den Garaus zu machen'. In typisch märchenhafter Weise siegt also das gute Prinzip über das böse. Zu den schon erwähnten, sich überschneidenden Motiven tritt schliesslich noch das der Künstlerliebe. Bei der Brautwahl gewinnt Edmund durch Leonhards Einwirken Albertine; er hat jedoch vorher dem Goldschmied versprechen
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müssen, vor der Heirat nach Italien zu reisen, um sich dort ein Jahr ernsthaft dem Kunststudium zu widmen, da nach den Worten Leonhards nur das Verliebtsein einen Künstler inspirieren könne, nicht dagegen eine feste eheliche Bindimg. Das Thema der KUnstlerliebe wird in den 'Serapions-Brüdern' mehrfach behandelt, unter anderen in 'Rat Krespel', 'Die Fermate', 'Der Artushof', 'Der Kampf der Sänger'. In der 'Brautwahl' ist es nur eine der zahlreichen Ingredienzen. Verglichen mit anderen Künstlergestalten Hoffmanns ( z . B . Anseimus in 'Der goldene Topf', Traugott in 'Der Artushof', Berthold in 'Die Jesuiterkirche in G . ' ) besteht bei Edmund Lehsen von vornherein kein ernsthafter Konflikt zwischen seiner irdischen Liebe und seiner Liebe zur Kunst. Man kann hier sogar von einem blinden Motiv sprechen, da gegen Ende der Erzählung unvermittelt festgestellt wird, dass der Briefwechsel zwischen Edmund und Albertine immer seltener und kälter werde und dass Albertine wahrscheinlich einen artigen Referendarius heiraten werde. Die zwei kunsttheoretischen Gespräche zwischen Edmund und Leonhard wirken aufgepfropft; sie tragen nichts Wesentliches bei, weder zur Vertiefung der Charaktere noch zur Motivierung von Edmunds Italienreise, zu der er sich bereits vorher entschlossen hatte. In der Werkkritik vergleicht Ottmar die Geschichte mit einem 'aus allerlei bunten Steinen willkürlich zusammengefügten Mosaik, die das Auge verwirrt, so dass es keine bestimmte Figur zu erfassen vermag'. (S. 598) Vielleicht sollte man nicht zuviel Gewicht darauf legen, dass Hoffmann in diesem Zusammenhang von Mosaik spricht. Ein Mosaik muss nicht notwendigerweise verwirrend wirken. Das Wesentliche daran sind die sichtbaren Leimstellen; man sieht, wo und wie die einzelnen Stücke zusammengefügt sind. Insofern ist der Vergleich mit einem Mosaik fllr die 'Brautwahl' sehr zutreffend, denn es ist offensichtlich, dass ein Teilstück an das andere gesetzt wurde, allerdings ohne Rücksicht auf die Gesamtwirkung. Zusammengefügt wurden ein Stück Liebesgeschichte, ein Stück Spukgeschichte, ein Stück brandenburgische Chronik (im ersten Kapitel), ein Stück talmudische Sage (im fünften Kapitel), ein wenig Künstlertum und ein wenig Philistertum, und nach der Beimischung von etwas Lokalkolorit, Ironie und Empfindsamkeit ergab sich fUr alle Beteiligten ausser dem alten Manasse ein 'happy ending'. In anderen Erzählungen ist, wie es am Beispiel von 'Nussknacker und Mausekönig' erläutert wurde, jeder neue Schritt im Handlungsablauf vorbereitet und mit den übrigen Teilen verbunden. In der Werkkritik wird diese Technik meistens mit dem Verflechten von Fäden verglichen. So ist möglicherweise der Ausdruck 'Mosaik' hier nicht rein zufällig, sondern in bewusster Differenzierung gebraucht worden,um die 'Brautwahl' von anderen Erzählungen mit besserer formaler Ausgewogenheit abzusetzen. Der Hauptgrund fUr die Verworrenheit der Erzählung ist jedoch darin zu suchen, dass es keinen echten Kern gibt. Die Brautwahl ist eine Farce, sie scheint nur ein Vorwand, um die Lächerlichkeit des Geheimen Kanzleisekretärs Tusmann ins Licht zu rücken. Die Wirkung dieser Satire verpufft jedoch bald (etwa nach dem dritten Kapitel), weil Tusmann bei jeder der folgenden Konfron-
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tationen mit dem Goldschmied und den übrigen Personen auf dieselbe philisterhafte Weise r e a g i e r t . Bei allzu häufiger Wiederholung v e r fluchtigt sich die Komik. Die beiden Revenants i h r e r s e i t s wirken nur als Katalysatoren, denn a l s Gestalten haben sie zu wenig Substanz, um den festen Kern ausmachen zu können. Trotz einzelner guter Szenen ist 'Die Brautwahl' ein Sammelsurium verschiedener Motive, die zu heterogen sind, um ein einheitliches wohlgerundetes Ganzes zu bilden. Abschliessend soll am Beispiel des 'Unheimlichen Gastes' gezeigt werden, wie eine Erzählung mit vielversprechendem Beginn m i s s lingt, weil Hoffmann die guten Ansatzpunkte im weiteren Verlauf nicht voll entwickelt, sondern die Erzählung in einer tour de force zuende fuhrt. 'Der Unheimliche Gast' ist eine der spukhaftesten Geschichten in der ganzen Sammlung und wird hauptsächlich wegen ihres Inhalts von den meisten Kritikern abgelehnt. In besonderer Weise gilt f ü r diese Erzählung, was H. Pongs ganz allgemein Uber die r o mantischen 'StimmungsnoVellen* Hoffmanns schreibt: Mit virtuoser Kunst überführt e r Gesellschaftsgespräche durch Gespensteranekdoten in die Stimmung des Grausigen, die sich dann bestätigt im wirklichen Eintritt schauerlichen Geschehens. (2 ) Die bei der Obristin von G. versammelten Freunde erzählen einander, während draussen ein Unwetter tobt, a l l e r l e i unheimliche E r s c h e i nungen und Erlebnisse, an die sie sich erinnern. In der sich entspinnenden zwanglosen Unterhaltung werden d r e i Motive eingeführt, die f ü r die weitere Abwicklung der Handlung entscheidend sind. E r s t e n s die Eifersucht Marguerites, die in den Rittmeister Moritz verliebt ist, der jedoch seinerseits Angelika, die Tochter des Obristen, liebt; zweitens der Traum Angelikas, von dem ihr aber nur ein lähmendes Grauen, keine konkrete Einzelheit im Gedächtnis geblieben ist; und drittens die Geschichte von Moritz' Freund Bogislav, der unter einem rätselhaften Schicksal leidet. Während Moritz von Bogislav erzählt, vernimmt man einen dröhnenden Schlag an die Saaltür, und herein t r i t t ein bleicher, schwarz gekleideter Mann, den niemand kennt. E r s t später, als d e r Obrist zurückkehrt, stellt d i e s e r den Fremden a l s seinen Freund, den Grafen von S., vor. Es wird vom E r z ä h l e r betont, dass der Fremde selbst nach der Erklärung des Obristen auf alle Anwesenden eine unheimliche Wirkung ausübt mit Ausnahme von Marguerite, die unmittelbar nach dem Erscheinen des Grafen ein ä u s s e r s t exaltiertes Wesen zur Schau trägt. So wird schon im e r s t e n Teil ein geheimes Einverständnis zwischen Marguerite und dem Grafen angedeutet, dessen Aufklärung man sich im zweiten Teil erhofft. Auch die spontane Feindseligheit zwischen dem Rittmeist e r und dem Grafen verlangt nach einer Aufhellung. Damit ist eine Anzahl Ubersichtlicher Fäden gespannt, man erwartet, d a s s im folgenden Teil die Fäden miteinander verflochten werden, dass Bezüge zwischen den verschiedenen Motiven hergestellt werden und d a s s schliesslich der Sinn des Ganzen erhellt wird. Was ist die Grundidee der Erzählung? Es ist das Einwirken eines fremden psychischen Prinzips auf die menschliche Natur. Der un-
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heimliche Graf entpuppt sich am Ende als Magnetiseur, dem es mit Hilfe seiner geheimen Künste fast gelungen wäre, Angelika zu verfuhren. Die Durchführung des zweiten Teils ist ausgesprochen schwach und muss vor allem deshalb als misslungen betrachtet werden, weil Hoffmann zuviele Anleihen beim Zufall macht und die Hintergründe einiger wesentlicher Ereignisse zu wenig aufhellt. Einige Beispiele mögen das zeigen: Es ist unglaubhaft, dass der Obrist seiner Frau nie etwas von der Freundschaft mit dem Grafen, 'dem er Ehre, Freiheit, und vielleicht das Leben verdankt', erzählt hat, obwohl diese Freundschaft schon mindestens vier Jahre besteht. Es wirkt ungeschickt, dass Angelika erst in dem Moment eine Verbindung zwischen ihrem Angsttraum und dem Grafen herstellt, als ihr Vater von der Werbung des Grafen spricht. Da die hypnotische Ausstrahlung von den Augen des Grafen ausgeht, wäre ein Erinnern oder Erkennen bei einem Begegnen ihrer Blicke viel wahrscheinlicher und auch wirkungsvoller. Es ist unglaubhaft, dass ausgerechnet Marguerites Onkel den Rittmeister nach dem Uberfall rettet und bei sich aufnimmt. Es wäre denkbar, dass der Graf bei dem Uberfall seine Hände im Spiel hatte, aber darüber erfährt der Leser nichts. Der Zufall führt Moritz ausgerechnet seinen alten Freund Bogislav in die Arme, der ihm die Nachricht bringt, dass der Feldzug beendet ist. Durch Zufall findet Dagobert seinen Freund Moritz gleich zu Anfang seiner Nachforschung; zufällig kehrt Moritz am Tag der geplanten Hochzeit zurück, nachdem er zufällig in dem einzigen Gasthaus, wo er einkehrt, Marguerite angetroffen hat. Die schaurige Stimmung des ersten wird im zweiten Teil der Erzählung nicht aufrecht erhalten; an ihre Stelle tritt eine oberflächliche Spannung, die eigentlich schon in dem Augenblick zusammenbricht, als Angelika und Moritz wieder vereint sind. Die folgenden acht Seiten, welche die nötige Aufklärung in Form dreier Berichte und eines Briefes enthalten, wirken wie angehängte Fussnoten, die zudem nur eine unzureichende Aufklärung aller Zusammenhänge geben. Von den Serapionsbrüdern wird die Erzählung sowohl wegen ihres Inhalts als auch wegen der erwähnten formalen Mängel abgelehnt. Zum Hauptvorwurf macht man es Ottmar, dass er sein Werk um einen einzelnen frappanten Augenblick, das Erscheinen des unheimlichen Gastes, herum gebaut habe. Da aber, . . . ein einzelner Moment, eine Situation noch lange keine Erzählung ist, vielmehr diese in ihrem ganzen Umfange, mit allen Einzelheiten, Beziehungen u. s. fix und fertig hervorspringen muss wie Minerva aus Jupiters Haupt, so konnte das Ganze nicht besonders geraten. (S. 641) Dieser Kritik ist nicht vorbehaltlos zuzustimmen. Das Auftauchen des Grafen von S. und die wachsende unerklärliche Angst, die sein Erscheinen auslösen, könnten durchaus den Knotenpunkt einer wohlgerundeten Erzählung bilden, in dem die verschiedenen Handlungsstränge zusammenlaufen. (Eine ähnliche Funktion erfüllen der Auftritt Paulines in 'Fragment aus dem Leben dreier Freunde' und die zu lang ausgehaltene Fermate in der gleichnamigen Erzählung.) Der
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Hauptvorwurf, den man dem 'Unheimlichen Gast' machen muss, ist mangelnde Sorgfalt bei der Ausführung. Ein wenig mehr Ausführlichkeit und Breite, wie wir sie bei 'Signor Formica' fanden, wäre dieser Erzählung, besonders im zweiten Teil, zuträglich gewesen. Hier hat man den Eindruck, dass zuviel ausgelassen wird, dass es dem Erzähler mehr auf äussere Effekte ankommt als auf den inneren Zusammenhang. 'Der Unheimliche Gast' ist in dieser Hinsicht kein Einzelfall, auch anderen Werken kann man denselben Vorwurf machen, ( z . B . 'Ignaz Denner', 'Die Marquise de la Pivardiöre', 'Das Gelübde' ). Hans Mayer geht sogar soweit zu sagen, dass im allgemeinen Hoffmanns Erzählungen ohne abschliessende Deutung und Rundung blieben und dass es selten einen formalen Aufbau gäbe, der alles abschliesse. (3) Dieses Urteil scheint etwas hart, allein im Zyklus der 'Serapions-Bruder' gibt es mehrere Erzählungen, an Hand derer man Mayers Behauptung widerlegen könnte ( z . B . 'Das Fräulein von Scuderi', 'Nussknacker und Mausekönig', 'Meister Martin der Küfner und seine Gesellen', 'Der Zusammenhang der Dinge'). Wahr ist jedoch, dass die Mehrzahl seiner Werke sich nicht durch ihre Formvollendetheit auszeichnen, sondern durch ihre Visionskraft und ihren Stimmungswert. Dies sind die wesentlichen Merkmale serapiontischen Erzählens, die unter dem Begriff der'Lebendigkeit' zusammengefasst und im folgenden Kapitel analysiert werden.
2. Die Lebendigkeit Wie wir im Eingangskapitel aufgezeigt haben, war Serapion wegen seiner 'feurigen Fantasie' und wegen seiner dichterischen Gestaltungskraft zum Schutzpatron des Serapionsklubs erhoben worden. Von seiner Erzählweise heisst es: Alle Gestalten traten mit einer plastischen Rundung, mit einem glühenden Leben hervor, dass man fortgerissen, bestrickt von magischer Gewalt wie im Traum daran glauben musste. (S. 26 ) Er galt den Serapionsbrüdern als wahrhafter Dichter, weil er Herz und Gemüt zu ergreifen und den Leser aus der dürftigen, alltäglichen Welt in höhere Regionen zu entrücken vermochte. Für unsere Untersuchung ist die entscheidende Frage, durch welche sprachlichen Mittel es einem serapiontischen Dichter möglich ist, den Leser so in seinen Bann zu schlagen, dass er sich in eine andere Sphäre versetzt glaubt. Den Schlüsseibegriff in obigem Zitat muss man in der von Hoffmann auch an anderer Stelle benutzten Wortverbindung 'glühendes Leben' sehen. Die Häufigkeit, mit der das Wort 'Leben' und damit geformte Komposita in den Werkkritiken und den übrigen kunsttheoretischen Erörterungen der 'Serapions-BrUder' gebraucht wird, ist geradezu auffällig. Einige wahllos herausgegriffene Beispiele mögen das zeigen: Die Geschichte 'Der Baron von B . ' wird 'der grösseren Lebendigkeit halber' in der ersten Person erzählt; 'Der Zusammenhang
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der Dinge' zeichnet sich aus durch 'eine besondere Lebensfarbe'; Heinrich von Kleist ist ein herrliches Beispiel dafür, 'wie ein Stoff lebendig gestaltet werden kann'; an 'Meister Martin der Küfner und seine Gesellen' wird beanstandet, dass der Erzähler 'keine Situationen in lebendiger Bewegung' geschaffen hat; nur ein 'mattes schielendes Scheinleben' wird erreicht, wenn der Dichter ungeschickt im Benutzen historischen Materials ist; das 'Fragment aus dem Leben dreier Freunde' wird wegen seiner 'Lebendigkeit und Frische' gelobt; Theodor ist die Geschichte vom 'Bergwerk zu Falun' in den 'lebendigsten Farben aufgegangen'; gewisse Zuge geben den Märchen aus 'Tausendundeiner Nacht' 'Leben und Wahrheit'; manches im 'Unheimlichen Gast' 'mag für lebendig gelten'; einem Roman einer sonst geistreichen Frau mangelt es durchaus 'an aller Lebendigkeit'; Walter Scott hat die Gabe, seine Figuren so hinzustellen, dass sie 'alsbald lebendig herausschreiten aus dem Rahmen des Gemäldes'. Ausserdem finden sich immer wieder die Wendungen 'lebendig erschauen' und 'lebendig im Innern aufgehen'. Was ist unter 'Lebendigkeit' zu verstehen? Was bedeutet dieser Begriff hinsichtlich der Darstellungstechnik Hoffmannscher Erzählungen? Sind seine Werke tatsächlich durch Lebendigkeit gekennzeichnet, und in welcher Form kommt sie zum Ausdruck? Vor der Beantwortung dieser Fragen bedarf es zunächst der Feststellung, dass Lebendigkeit nicht gleichzusetzen ist mit Realismus im Sinne einer photographisch genauen Wiedergabe der äusseren Wirklichkeit. Lebendigkeit ist zunächst und vorwiegend ein Ausdruck poetischer Wahrheit (S. 924, 600). Hoffmann selbst gibt keine exakte Bestimmung dieses Begriffs; seine Bemerkungen dazu lassen jedoch e r kennen, dass poetische Wahrheit oder innere Wahrheit mit der Sichtbarmachung des Rein-Idealen, des Ewigen oder Eigentlichen identisch ist. (4) Im Anschluss an die Lesung der 'Brautwahl' bezeichnet Hoffmann die Märchen aus Tausendundeinder Nacht als 'ewiges Buch', ein Werk, das Leben und Wahrheit ausstrahle, weil die Darstellung darin vom allseits Bekannten, Typischen, Gewöhlichen ausgehe und nicht von zufälligen Besonderheiten der Sitte oder der Zeit. Diese Auffassung korrespondiert im wesentlichen mit Hoffmanns Ausführungen in 'Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes B e r ganza'. Poetische Wahrheit, so heisst es dort, offenbare sich nur, wenn der Dichter die zahlreichen Erscheinungen des Lebens nicht als von einander unabhängige Einzelheiten darstelle; alle Einzelheiten sollten vielmehr auf das dahinter stehende Ganze verweisen, auf das Allgemeine, das nicht ständigem Wechsel unterworfen sei. Der Dichter müsse nicht sowohl die Menschen als den Menschen kennen. Das Durchscheinen der inneren poetischen Wahrheit ist also eine wesentliche Voraussetzung für die Lebendigkeit eines Kunstwerks. (5) In dieser Untersuchung geht es um die Frage, durch welche sprachlichen Mittel ein serapiontischer Dichter eine solche Lebendigkeit der Darstellung erreichen kann, dass seine Leser ähnlich wie die Zuhörer des Einsiedlers Serapion 'bestrickt von magischer Gewalt wie im Traum daran glauben müssen'. Hoffmann vertritt die Ansicht, dass lebendige Personengestaltung ein wichtiges Ingrediens
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serapiontischen Erzählens sei. Einem Dichter, der nicht in s e r a piontischer Weise erschaut, was e r darstellen will, m i s s r a t e n s e i ne Gestalten zu 'trllgersichen Puppen, aus fremdartigen Stoffen mühsam zusammengeleimt 1 . (S. 54) An anderer Stelle heisst es-, . . . andere Leute glauben ebenfalls, dass sie, haben sie die P e r sönlichkeit dieses, jenes unbedeutenden Subjects . . . genau abgeschrieben, ins Leben greifende Charaktere aufstellten. Mit dem besonderen Zopf, den dieser, jener alte Mann trägt, mit d e r F a r be, in die sich dieses, jenes Mädchen kleidet, ist es noch gar nicht getan. Es gehört ein eigner Sinn, ein durchdringender Blick dazu, die Gestalten des Lebens in i h r e r tiefen Eigentümlichkeit zu erschauen.(S.404 ) Schon in dem Frühwerk 'Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza' macht Hoffmann eine ähnliche Aussage: Aus dem getreuen Beobachten und Auffassen der individuellen Züge einzelner Personen kann höchstens ein ergötzliches P o r t r ä t entstehen, das eigentlich nur dann zu i n t e r e s s i e r e n vermag, wenn man das Original kennt und durch den Vergleich damit in den Stand gesetzt wird, die praktische Fertigkeit des Malers zu beurteilen, . . . Der Blick des wahren Dichters durchschaut die menschliche Natur in i h r e r innersten Tiefe . . . (I, S. 133 ) In beiden Passagen wird hervorgehoben, dass es bei der P e r s o n e n gestaltung auf das Wesentliche des betreffenden Charakters ankomme, auf den 'inneren Menschen' und nicht auf zufällige Besonderheiten d e r äusseren Erscheinung. Bei einer Betrachtung der Hauptgestalten in den Erzählungen der 'Serapions-Brüder' fällt auf, dass A u s s e r lichkeiten des Gesichts, der Gestalt und der Kleidving eine völlig untergeordnete Rolle spielen. Von Elis Fröbom, dem Hauptcharakter aus 'Die Bergwerke zu Falun' e r f ä h r t man nur, dass e r hübsch, schlank, von kräftigem Gliederbau und zwanzig J a h r e alt ist. Von Euchars Äusserem im 'Zusammenhang der Dinge' werden lediglich seine Apollo-Stirne, die scharf gebogen, gebietenden Brauen, die d ü s t r e s Feuer sprühenden Augen und sanft aufgeworfenen Lippen erwähnt. Traugott aus dem 'Artushof', Salvator Rosa aus 'Signor Formica' und die Scuderi werden nicht einmal andeutungsweise b e schrieben; auf Cardillac, den Gegenspieler des Fräuleins, entfallen knapp sieben Zeilen. Breit ausgemalte Beschreibungen von Gestalt, Kleidung und Gebaren finden sich fast ausschliesslich bei Nebenfiguren. Eindrucksvolle Beispiele dafür sind das Trio Capuzzi, Splendiano and Pitichinaccio aus 'Signor F o r m i c a ' : E r (Capuzzi) war hoch in den Jahren, gross, d ü r r wie eine Spindel, bleichen Angesichts, mit langer spitzer Nase, mit ebenso langem Kinn, das überdies in einen kleinen Bart sich zuspitzte, und grauen, blitzenden Augen. Auf die dicke, hellbonde Perücke hatte e r einen hohen Hut mit einer stattlichen Feder gesetzt, e r
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trug ein kleines, dunkelrotes Mäntelchen mit vielen blanken Knöpfen, ein himmelblaues, spanisch geschlitztes Wams, grosse, mit silbernen Fransen besetzte Stulphandschuhe, einen langen Stossdegen an der Seite, hellgrüne Strümpfe Uber die spitzen Knie gezogen, und mit gelben Bändern gebunden, und ebensolche gelben Bandschleifen auf den Schuhen. Diese seltsame Figur stand nun wie entzückt vor dem Bilde, e r hob sich auf die Zehen, duckte sich ganz klein nieder, - hUpfte dann mit beiden Beinen zugleich auf - stöhnte - ächzte - kniff die Augen fest zu, dass die Tränen hervorperlten, riss sie dann wieder weit auf, schaute unverwandt hin nach der lieblichen Magdalena, seufzte, lispelte mit feiner, klagender Kastratenstimme: 'Ah carissima benedetissima - ah Mariana - Mariannina - bellissima* etc. (S. 783-84) Die obige Beschreibung des Signor Pasquale Capuzzi ist mehr als eine systematische Aufzählung von Einzelheiten in der Reihenfolge 'von Kopf bis Fuss'. Der Alte wird lebendig durch die Technik der Kontrastierung. Der Eindruck des Farblosen und Blutleeren im ersten Teil, bezogen auf sein natürliches Aussehen (bleich, dürr, lang, spitz, grau) steht in krassem Gegensatz zur grellen Farbigkeit seines 'künstlichen' Aufzugs (dick, stattlich, dunkel rot, himmelblau, silbern, gelb). Das Närrisch-Seltsame seines Äusseren wiederholt sich in seinem Gebaren: er hupft auf beiden Beinen, stöhnt, weint, seufzt, lispelt. So gelingt es Hoffmann, auf dem engen Raum von neunzehn Zeilen Capuzzi als einen wunderlichen alten Gecken einzuführen, dem man wenig Sympathie entgegenbringen kann. Alle folgenden Episoden ergänzen nur noch das schon zu Anfang klar umrissene Bild dieser Gestalt. Eine ebenso lächerliche Figur wie Capuzzi ist dessen Freund Doktor Splendiano. Auch bei ihm begnügt sich Hoffmann nicht mit einer Aufzählung äusserer Merkmale. Er lässt Splendiano sozusagen vor den Augen des Lesers heranwachsen, indem er andeutet, wie aus dem 'caro puppazetto' der römischen Damen, 'dem niedlichen Männlein mit dem zierlichsten Gliederbau' durch zuviel 'Makkaronifutter' der beleibte Pyramidendoktor mit dem unförmigen Kopf, den dicken Backen und dem Doppelkinn wurde. Lebendigkeit erreicht Hoffmann hier durch den häufigen Gebrauch von Vergleichen, die ausserdem noch den Anschein der Objektivität tragen, da sie zum Teil aus dem Munde Dritter stammen. Nach der Aussage eines deutschen Malers sah Splendiano aus, als sei ein baumstarker, sechs Fuss hoher Kerl unter seinem eigenen Kopf davongelaufen, und der sei auf den Körper eines kleinen Marionetten-Pulcinells gefallen, der ihn nun wie seinen eigenen herumtragen müsse. Vergleiche beherrschen auch den letzten Abschnitt der Beschreibung, der sich auf die Kleidung Splendianos bezieht. Seine Kopfbedeckung
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gleicht dem Obelisk auf dem Petersplatz, seine schneeweisse Perükke einem wirren, zerzausten Gewebe, 'dem Kokon, aus dem der schone Seidenwurm herausgekrochen'. Die letzte Metapher ist doppelsinnig zu verstehen: eine eindeutige Beziehung besteht zu dem grossgeblümten, damastnen Schlafrock des Doktors; er wird gesehen als eine im Grunde hässliche Kreatur, die sich mit einer schönen, kostbaren Hülle umgibt. 'Der schöne Seidenwurm' wäre aber auch denkbar als Symbol für die 'Gefrässigkeit' Splendianos, ftlr seine unersättliche Gier, sich Kunstgegenstände anzueignen. Es ist nicht mit Sicherheit zu sagen, ob Hoffmann sich dieser Doppeldeutigkeit bewusst war. Er herrscht unter den Hoffmann-Forschern im allgemeinen die Ansicht, dass Hoffmann kein sehr bewusster Sprachgestalter war, so dass man die Metapher vom schönen Seidenwurm nicht unbedingt als ersten subtilen Hinweis auf die Habgier des Pyramidendoktors auffassen sollte. Splendiano und Capuzzi sind aus dem Rahmen des Gewöhnlichen herausfallende, karikaturhaft-groteske Figuren, die wegen ihrer Exzentrik besonders lebendig erscheinen. Als Kontrast zu diesen komischen Charakteren mag die Beschreibung einer ausgesprochen durchschnittlichen, alltäglichen Gestalt gelten, der Tochter des Elias Roos aus dem 'Artushof': Denke dir, lieber Leser! ein mittelgrosses wohlgenährtes Frauenzimmer, von etwa zwei- bis dreiundzwanzig Jahren, mit rundem Gesicht, kurzer ein wenig aufgestülpter Nase, freundlichen lichtblauen Augen, aus denen es recht hübsch jedermann anlächelt: Nun heirate ich bald! - Sie hat eine blendendweisse Haut, die Haare sind gerade nicht zu rötlich - recht kussige Lippen - einen zwar etwas breiten Mund, den sie noch dazu seltsam verzieht, aber zwei Reihen Perlenzähne werden dann sichtbar. Sollten etwa aus des Nachbarn brennendem Hause die Flammen in ihr Zimmer schlagen, so wird sie nur noch geschwinde den Kanarienvogel futtern und die neue Wäsche verschliessen, dann aber ganz gewiss in das Comptoir eilen und dem Herrn Elias Roos zu erkennen geben, dass nunmehro auch sein Haus brenne. Niemals ist ihr eine Mandeltorte missraten, und die Buttersauce verdickt sich jedesmal gehörig, weil sie niemals links, sondern immer rechts im Kreise mit dem Löffel rührt! (S. 149) In dieser Beschreibung Christinas verfährt Hoffmann nach demselben darstellerischen Prinzip wie bei der Einführung Capuzzis. Nach der Aufzählung rein äusserlicher Merkmale wie Gesichtsform, Augenund Haarfarbe, usw., wobei die eingestreuten einschränkenden Wörter wie 'zwar, gerade nicht, noch dazu' das Mädchen in den Augen des Lesers fast unmerklich herabsetzen, umreisst Hoffmann in wenigen Sätzen ein paar der fllr Christina bezeichnenden Verhaltensweisen. Gerade diese exakten Beobachtungen ihres Tuns, nicht die vorangehende Beschreibung des Äusseren sind es, die Christina als pedantisch, hausbacken und völlig unpoetisch erscheinen lassen. Hoffmann ist sich der Wirkung dieses Stilmittels durchaus bewusst. Er bemerkt dazu, dass Gesinnung, Tun und Treiben die äussere Gestalt modeln und formen und dass daraus die wunderbare, nicht zu erklärende, sondern nur zu fühlende Harmonie eines Charakters entstehe. (S. 149)
33 In seinem Bemühen, dem L e s e r Wesen und Gesinnung s e i n e r Gestalten recht lebendig vor Augen zu führen, bedient sich Hoffmann verschiedener d a r s t e l l e r i s c h e r Mittel. Eines, das e r m e i s t e r h a f t b e h e r r s c h t , ist die Charakterisierung durch den extensiven Gebrauch d e r direkten Rede. Ein sehr gutes Beispiel bietet das e r s t e Kapitel der 'Brautwahl', in dem etwa zwei Drittel des Textes auf den Dialog zwischen d r e i Personen entfallen. Das Hauptaugenmerk in diesem Kapitel richtet sich auf die Gestalt des Geheimen K a n z l e i s e k r e t ä r s Tusmann, d e r hier durch die Begegnung mit den beiden Revenants Leonhard und Manasse aus d e r Geordnetheit und Sicherheit seines bürgerlichen P h i l i s t e r d a s e i n s aufgerüttelt w i r d . Es folgen ein p a a r Bieispiele d e r Tusmann c h a r a k t e r i s i e r e n d e n Redeweise: 'Mein b e s t e r H e r r ' , wandte sich d e r Geheime Kanzleisekretär gutmütig zu dem Mann, 'mein b e s t e r Herr, Sie i r r e n sich, dort oben in dem Turm wohnt keine menschliche Seele, ja, nehme ich wenige Ratten und Mäuse und ein p a a r kleine Eulen aus, kein lebendiges Wesen. Wollen Sie von dem H e r r n Warnatz einiges Vortreffliche in Eisen oder Stahl erstehen, so müssen Sie sich morgen wieder h e r b e m ü h e n . ' (III, 532) 'Bitte, bitte', w i m m e r t e Tusmann, 'wollen Sie m i r nicht meinen schlichten Titel vergönnen. Ich bin Geheimer Kanzleisekretär, und zwar in diesem Augenblick ein höchst a l t e r i e r t e r , ja wie ganz von Sinnen gekommener. Bitte ergebenst, mein w e r t e s t e r Herr, gebe ich ihnen selbst nicht den gebührenden Rang, so geschieht das lediglich in völliger Unbekanntschaft mit I h r e r werten P e r s o n ; aber ich will Sie Geheimer Rat nennen, denn deren gibt e s in u n s e r m lieben Berlin so gar absonderlich viele, d a s s man mit d i e sem würdigen Titel selten i r r t . Bitte also, H e r r Geheimer Rat mögen e s m i r nicht länger verhehlen, was fUr eine B r a u t Sie hier zu d e r unheimlichen Stunde zu schauen gedachten'. (533/34) 'Was raten, was helfen', u n t e r b r a c h Tusmann den Goldschmied, 'ei b e s t e r H e r r P r o f e s s o r . Sie m ü s s e n mich f ü r ungemein leicht sinning und unverständig halten, wenn Sie glauben, d a s s ich blindlings ohne Rat und Überlegung zu handeln imstande w ä r e . Jeden Schritt, den ich tue, erwäge und bedenke ich weislich, und als ich mich in der Tat von dem Liebespfeil des losen Gottes, den die Alten Cupido nannten, getroffen fühlte, sollte da nicht all mein Dichten und Trachten dahin gegangen sein, mich f ü r diesen Zustand gehörig auszubilden? - Wird jemand, d e r ein schweres Examen zu überstehen gedenkt, nicht emsig alle Wissenschaften studieren, aus denen e r b e f r a g t werden soll? - Nun, v e r e i n t e s t e r H e r r P r o f e s s o r , meine Heirat ist ein Examen, zu dem ich mich gehörig v o r bereite, und wohl zu bestehen glaube. Sehen Sie, b e s t e r Mann, d i e s e s kleine Buch, das ich, seit ich mich zu lieben und zu h e i r a ten entschlossen, beständig bei m i r trage, und unaufhörlich studiere, sehen Sie e s an, und überzeugen Sie sich, d a s s ich die Sache gründlich und gescheut beginne, und keineswegs a l s ein Unerfahrner erscheinen werde, ungeachtet m i r , wie ich gestehen will, das ganze weibliche Geschlecht b i s dato f r e m d geblieben', ( i n , 537)
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Dreierlei fällt an Tusmanns Redeweise auf: Erstens eine ausgesuchte Höflichkeit, die durch die häufige Verwendung des Superlativs in der Anrede und durch das Bestehen auf dem vollen Titel zum Ausdruck kommt, (mein bester Herr - bitte ergebenst - mein wertester Herr verehrtester Herr Professor - usw. ) Zweitens eine besondere Umständlichkeit des Ausdrucks, die sich in dem hypotaktischen, verschnörkelten Satzbau äussert und ebenfalls in einer Preziosität der Wortwahl (wollen Sie einiges Vortreffliche 'erstehen' statt 'kaufen', was für eine Braut Sie 'zu schauen gedachten' statt 'sehen wollten', als ich mich 'von dem Liebespfeil des losen Gottes . . . getroffen fühlte' statt 'als ich mich verliebte' usw. ) Drittens eine besondere Vorliebe für eine Doppelung des Ausdrucks: (ohne Rat und Überlegung - jeden Schritt erwäge und bedenke ich - all mein Dichten und Trachten - ungemein leichtsinnig und unverständig). Ein Glied in diesen Wortpaaren ist überflüssig, es wirkt nicht differenzierend und trägt nicht zum besseren Verständnis bei. Diese Doppelformen haben lediglich eine aufbauschende Wirkung; Tusmanns Wortschwall steht in keinem Verhältnis zum Inhalt des Gesagten, es sind zum grossen Teil leere Phrasen, die er von sich gibt. In seinem Komplimentierstil offenbart sich der subalterne Beamte, dessen geschwollene Redeweise, Uberkorrekte Höflichkeit und lexikalische Gelehrsamkeit komisch wirken, weil man dahinter eine innere Starre, einen Mangel an Vitalität spürt. Die Bemerkungen im dritten Kapitel Uber Tusmanns Äusseres, Uber seine altmodische Kleidung, seine seltsame Art zu gehen, seine Leseleidenschaft und seine Gutmütigkeit sind wie dekorative Akzente in einem Charakterbild, das allein durch die Redeweise den hohen Grad seiner Lebendigkeit ausmacht. Hoffmann beweist bei der Gestaltung von Philister typen eine e r staunliche Fähigkeit zu variieren. Gemeinsam ist allen Philistern, dass ihnen der Sinn für das Wunderbare abgeht, dass sie zu sehr in ihrer Alltäglichkeit befangen sind. Abgesehen davon findet man unter ihnen die verschiedensten Ausprägungen mit sehr eigenartigen Zügen. Im Gegensatz zu dem recht ausführlich dargestellten Tusmann wird der Kaufmann Elias Roos im 'Artushof' nur mit wenigen Strichen angedeutet. Wieder greift Hoffmann zu seinem beliebten Mittel, die Person durch direkte Rede einzuführen und zu charakterisieren. Endlich wurde Traugott Herrn Elias Roos gewahr, der mit zwei fremden Herren auf ihn zuschritt. 'Was spintisieren Sie noch in später Mittagszeit, werter Herr Traugott', rief Elias Roos, 'haben Sie den Aviso richtig abgeschickt?' - Gedankenlos reichte Traugott ihm das Blatt hin, aber da schlug Herr Elias Roos die Fäuste Uber den Kopf zusammen, stampfte erst ein klein wenig, dann aber sehr stark mit dem rechten Fusse und schrie, dass es im Saale schallte: 'Herr Gott. ' - Herr Gott! Kinder streiche ! - dumme Kinderstreiche ! - Verehrter Traugott - korrupter Schwiegersohn - unkluger Associé. - Ew. Edlen sind wohl ganz des Teufels? - 'Der Aviso - der Aviso o Gott! die Post!' - Herr Elias Roos wollte e r sticken vor Ärger . . . ( ni, 147)
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Es ist nicht schwer, sich nach diesen Worten einen korpulenten Choleriker mit rot angelaufenem Gesicht vorzustellen, der wegen der verlorenen Geldsumme vor Arger fast zu ersticken droht. Wodurch entsteht dieser Eindruck? Zunächst dadurch, dass Roos nicht in zusammenhängenden Sätzen spricht, sondern nur stossweise einzelne Exklamationen hervorbringt. Das Verhalten Traugotts macht ihn im wahrsten Sinne des Wortes fassungslos. Diese Fassungslosigkeit äussert sich in der Wiederholung ( Gott - Herr Gott - der Aviso der Aviso - o Gott ) und in der Häufung ( verehrter Traugott - korrupter Schwiegersohn - unkluger Associé ). Komisch wirkt auch hier ähnlich wie in der 'Brautwahl' die der Situation unangemessene Höflichkeit (Ew. Edlen sind wohl ganz des Teufels! ); sie bezeugt die ausserordentliche Konventionalität der Philister, die sich auch bei höchster emotionaler Erregung nicht von äusseren Gewohnheiten lösen können. Die Lebendigkeit des oben zitierten Abschnitts wird noch durch zahlreiche Gebärde symbole unterstrichen: ' . . . da schlug Herr Elias Roos die Fäuste Uber den Kopf zusammen, stampfte erst ein klein wenig, dann aber sehr stark mit dem rechten Fusse; - der zupfte aber die runde Perücke hin und her, stiess mit dem Rohrstock auf den Boden; - Er blies durch die Finger und weinte dann wieder: 'Zehntausend Mark! 1 ' Hoffmann betont in einer Apostrophe an den 'günstigen Leser', dass er Uber Herrn Elias Roos nichts mehr hinzuzufügen habe, denn nachdem er gesprochen, stehe er dem Leser schon deutlich vor Augen. ( IH, 148 ) Er benutzt also bewusst die Form der direkten Rede als Mittel der Charakterisierung. Als letztes Beispiel für diese Technik ein Ausschnitt aus 'Der Baron von B. ': Diese kurze Erzählung ist eine der zahlreichen Charakterskizzen im Zyklus, die von den Serapionsbrüdern als Studien zu grösseren Entwürfen angesehen werden und die ausserdem dazu beitragen sollen, die langen Zeitspannen konzentrierten Zuhörens bei längeren Erzählungen zu unterbrechen. Im Gegensatz zu Tusmann und Elias Roos gehört der Baron nicht zu den Philistern, sondern ähnlich wie Rat Krespel und Kapellmeister Kreisler zu den zwiespältigen und exzentrischen Künstlerfiguren mit dem Unterschied, dass die Zwiespältigkeit bei dem Baron kein tragisches Moment enthält, sondern sich nur in liebenswürdiger Verschrobenheit äussert. Bevor der Baron selbst auftritt, wird die Erwartung des Lesers durch zwei sich widersprechende Ansichten Uber ihn geweckt: einerseits rühmt man seine geschmackvollen musikalischen Soirées, seine Grosszügigkeit und seine Kennerschaft alter Musik, andererseits spricht man häufig hinter vorgehaltener Hand mit herablassendem, zuweilen sogar sarkastischem Lächeln Uber ihn. Der folgende Abschnitt enthält des Barons Urteil Uber die bekanntesten Violinspieler seiner Zeit: Corelli ( so sprach der Baron ) bahnte zuerst den Weg. Seine Kompositionen können nur auf Tartinische Weise gespielt werden, und das ist hinlänglich, zu beweisen, wie er das Wesen des Violinspielens erkannt. Pugnani ist ein passabler Geiger. Er hat Ton und viel Verstand, doch ist sein Strich zu weichlich bei ziemlichem Appoggiamento. Was hatte man mir alles von Geminiani gesagt!
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Als ich ihn zum letzten Mal vor dreissig Jahren in Paris hörte, spielte er wie ein Nachtwandler, der im Traume herumsteigt, und es wurde einem selbst zumute, als läg man im Traume. Lauter tempo rubato ohne Stil und Haltung. Das verdammte ewige tempo rubato verdirbt die besten Geiger, denn sie vernachlässigen darüber den Strich. Ich spielte ihm meine Sonaten vor, er sah seinen Irrtum ein und wollte Unterricht bei mir nehmen, wozu ich mich willig verstand. Doch der Knabe war schon zu vertieft in seine Methode, zu alt darüber worden. Er zählte damals einundneunzig Jahre. - Gott möge es dem Giardini verzeihen und es ihm nicht entgelten lassen in der Ewigkeit, aber er war es, der zuerst den Apfel vom Baum des Erkenntnisses f r a s s und alle nachfolgende Violinspieler zu sündigen Menschen machte. Er ist der erste Schwebler und Schnörkler. Er ist nur bedacht auf die linke Hand und auf die springfertigen Finger, und weiss nichts davon, dass die Seele des Gesanges in der rechten Hand liegt, dass in ihren Pulsen alle Empfindungen, wie sie in der Brust erwacht sind, alle Herzschläge ausströmen. Jedem Schnörkler wünsch ich einen tapfern Jomelli zur Seite, der ihn aus seinem Wahnsinn weckt durch eine tüchtige Ohrfeige, wie es denn Jomelli wirklich tat, als Giardini in seiner Gegenwart einen herrlichen Gesang verdarb durch seine Sprünge, Laufe, närrische Triller und Mordenten. Ganz verrückt gebärdet sich Lolli. Der Kerl ist ein fataler Luftspringer, kann kein Adagio spielen und seine Fertigkeit ist allein das, weshalb ihn unwissende Maulaufsperrer ohne Gefühl und Verstand bewundern. Ich sage es, mit Nardini und mir stirbt die wahrhafte Kunst der Geiger aus. Der junge Viotti ist ein herrlicher Mensch voll Anlagen. Was er weiss, hat er mir zu verdanken, denn er war mein fleissiger Schüler. Doch was hilft's! Keine Ausdauer, keine Geduld! - Er lief mir aus der Schule. Den Kreuzer hoff ich noch anzuziehen. Er hat meinen Unterricht fleissig genützt und wird ihn nützen, wenn ich zurückgekehrt sein werde nach Paris. Mein Konzert, das Ihr jetzt mit mir einübt, Haak, spielte er neulich gar nicht übel. Doch zu meinem Bogen fehlt ihm immer noch die Faust. - Der Giarnovichi soll mir nicht mehr Uber die Schwelle, das ist ein unverständiger Hasenfuss, der sich erfrecht, Uber den grossen Tartini, Uber den Meister aller Meister die Nase zu rümpfen und meinen Unterricht zu verschmähen. (III, 748/49) Auf den ersten Blick fällt nichts Besonderes an dieser Redeweise auf. Es entsteht der Gesamteindruck, dass hier ein in seiner Kritik sehr sicherer, sogar Überlegener Fachmann spricht. Bei näherer Analyse zeigt sich jedoch, dass der Baron mit fast jeder Bemerkung seine eigene Person in den Blickfang rückt. Mit jeder Anerkennung, die er ausspricht, ist ein Lob auf sich selbst verbunden; der Grund für jedes negative Urteil liegt darin, dass der Betreffende den Unterricht des Barons verschmähte oder sich seinen Ansichten widersetzte. Gegen Ende der Rede häufen sich die Symptome, es gibt keinen Satz, in dem nicht mindestens eine Form von 'ich' oder 'mein' erscheint. So spricht kein objektiver, distanzierter Kunstkritiker, sondern eher ein leicht erregbarer, überheblicher und egozentrischer Künstler.
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Weitere Anzeichen für den emotionalen Charakter der zitierten P a s sage sind die Kraftausdrucke, die man eigentlich von einem 'gebildeten Kenner' nicht erwartet und die der Rede einen zwar pikanten, aber störenden Ton geben. Auffallend ist schliesslich die Uneinheitlichkeit in den Satzformen. Neben Ausrufen des Affekts gibt es Reihen knapper, fast spröde wirkender Aussagesätze und dann wieder lange, rhythmisch gegliederte Perioden von fast lyrischem Charakter. Die Art des Barons, in kurzen abgerissenen Sätzen und dann wieder in lang ausgehaltenen, verschlungenen Perioden zu sprechen, erinnert fast an das von ihm selbst so sehr verabscheute tempo rubato. Im Ganzen wirkt der sprachliche Ausdruck des Barons flussig und gewandt; man gewinnt den Eindruck, dass er noch lange mit derselben spielerischen Leichtigkeit fortplaudern könnte. Sein Wesen wird jedoch im Gegensatz zu Tusmann und Elias Roos in seiner Redeweise nicht rein reflektiert. Das Charakteristische seiner Persönlichkeit ist gerade der Widerspruch zwischen Reden und Tun. Als der Baron dem verwunderten Erzähler auf der Violine vorspielt, sieht dieser mit ungläubigem Staunen, wie der angebliche Virtuose mit zitterndem Bogenstrich nur schnarrende, pfeifende, quäkende und miauende Töne hervorbringt. Das Unausgewogene, Disharmonische im Wesen des Barons wird veranschaulicht durch den Widerspruch zwischen dem sicheren, glatten Ton seiner Worte und dem zitternden, kläglichen Ton seiner Musik. Die genannten Störungssymptome in seiner Sprache sind allerdings schon ein Hinweis darauf, dass irgend etwas mit ihm nicht 'stimmt'. Neben der reinen Diktion sind Mimik und Gestik die wichtigsten Faktoren der lebendigen Personengestaltung in Hoffmanns Erzählungen. In dieser Hinsicht kommt seine visuelle Begabung, sein Zeichentalent, besonders zum Tragen. (6) Hoffmann prägt in der Einleitung zur 'Königsbraut' den Ausdruck: 'mimisch-plastische Gestaltung der Figuren'. Eine Erzählung, in der die Personen ausschliesslich durch Mimik und Gestik lebendig werden, ist 'Des Vetters Eckfenster'; hier kann der Erzähler die Marktbesucher, die er beschreibt, nur sehen, aber nicht hören. Im Rahmen der 'Serapions-Bruder' ist Rat Krespel eine der Figuren, die sich durch eine besonders eindrucksvolle 'mimisch-plastische' Gestaltung auszeichnet. Krespels Wesen könnte man mit der Formel 'äussere Tollheit und Schroffheit bei innerer Wärme und Herzlichkeit' umreissen. Hoffmann hat die Erzählung so angelegt, dass sich der Charakter des Rats in seiner ganzen Vielseitigkeit und WidersprUchlichkeit allmählich vor den Augen des Lesers entfaltet. Er realisiert die serapiontische Forderung nach Lebendigkeit, indem er mehrere kurze Episoden aus Krespels Leben 'inszeniert'. Der Leser sieht ihn als grossztlgigen und freigebigen Bauherrn und Baumeister seines Hauses - und als Hausherrn, der seinen Gästen in unmissverständlicher Weise die TUr weist; als Gast, der durch seine schroffen Bemerkungen die E r wachsenen vor den Kopf stösst - und den Kindern aus abgenagten Knochen die schönsten Spielsachen drechselt. Er wird vorgestellt als sensibler Künstler, dessen ausdrucksvolles Violinspiel gerühmt wird, der aber andererseits die wertvollsten, klangschönsten Geigen mit
38 wissenschaftlicher Präzision zerlegt und auf ihre Konstruktion hin untersucht. E r wird gezeigt als jähzorniger Ehemann und als z ä r t licher, besorgter Vater. In allen genannten Situationen erscheint Krespel als Mensch voller Spannungen und Widersprüche, in dem Extreme so stark aufeinanderprallen, dass seinen Handlungen der Anschein von Wahnsinn anhaftet. Nach aussen hin manifestiert sich die Widersprüchlichkeit auf d r e i e r l e i Weise: in seinen Körperbewegungen, in seinem sprachlichen Ausdruck und in der Architektur seines Hauses. Dieses Haus wirkt von aussen betrachtet abweisend und missgestaltet in seiner Unregelmässigkeit; die innere Einrichtung dagegen e r r e g t 'eine ganz eigene Wohlbehaglichkeit'. Von s e i n e r Sprechweise heisst es, dass sie niemals zu dem passt, was er sagt. Bei zorniger Erregung spricht e r leise in einem gedehnten, singenden Tonfall und bildet lange, verschachtelte, mit vielen Höflichkeitsfloskeln durchsetzte Perioden; bei innerer Rührung ist sein Ton schroff und aggressiv. Am auffälligsten jedoch ä u s s e r t sich seine ' Anormalität' in seinen Bewegungen: Verwunderlicheres als Krespels Betragen kann man nicht erfinden. Steif und ungelenk in der Bewegung glaubte man jeden Augenblick, e r würde irgendwo anstossen, irgendeinen Schaden anrichten, das geschah aber nicht, und man wusste es schon, denn die Hausfrau e r b l a s s t e nicht im mindesten, a l s e r mit gewaltigem Schritt um den mit schönsten Tassen besetzten Tisch sich herumschwang, a l s e r gegen den bis zum Boden reichenden Spiegel manövrierte, als er selbst einen Blumentopf von herrlich gemaltem Porzellan e r griff und in der Luft herumschwenkte, als ob e r die Farben spielen lassen wolle. Überhaupt besah Krespel vor Tische alles in des P r o f e s s o r s Zimmer auf das genaueste, e r langte sich auch wohl, auf den gepolsterten Stuhl steigend, ein Bild von d e r Wand herab, und hing e s wieder auf. Dabei sprach e r viel und heftig, bald (bei Tische wurde es auffallend) sprang e r schnell von einer Sache auf die a n dere, bald konnte e r von einer Idee gar nicht loskommen, i m m e r sie wieder ergreifend, geriet e r in allerlei wunderliche Irrgänge, und konnte sich nicht wieder finden, bis ihn etwas anders e r f a s s t e . (S. 33) Alles, was Krespel unternimmt, scheint toll und missgestaltet und wirkt auf den ersten Blick komisch, so zum Beispiel, wenn e r nach dem Begräbnis seiner Tochter in martialischem Aufzug die s e l t s a m sten, wildesten Tänze vollführt und dabei lustige Lieder singt. Im Grunde aber offenbart sich in d i e s e r Diskrepanz zwischen seelischem Empfinden und körperlichem Ausdruck das Leiden eines feinfühligen Menschen an der UnVollkommenheit der Welt. Es ist kennzeichnend f ü r Hoffmanns Erzählkunst, dass die Darstellung innerlich z e r r i s s e ner, dämonischer Naturen besonders eindrucksvoll ist. In d e r Hoffm a n n - L i t e r a t u r ist diese Eigenart mehrfach hervorgehoben worden. ( 7) Hoffmann selbst bekennt in den 'Serapions-Brüdern' wiederholt seine Faszination f ü r Menschen, die mit sich selbst entzweit und von unbekannten, unheimlichen Mächten bedroht sind. ( z . B . S.29; 197) Innerhalb dieser Gruppe gelingt Hoffmann eine gute Differenzierung,
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seine Exzentriker sind nicht wie die meisten seiner Mädchengestalten und jugendlichen Liebhaber beliebig austauschbar. Eine interessante, zugleich fesselnd und befremdend wirkende Gestalt ist Heinrich von Ofterdingen aus dem 'Kampf der Sänger' „ Hoffmann zeigt in ihm einen Künstler, der ähnlich wie Krespel, Kapellmeister Kreisler und andere an seiner innern Zerrissenheit leidet. Verzweifelt fragt er: Weiss ich's denn selbst, welches höllische Ungeheuer mich mit glühenden Krallen gepackt hat und mich emporhält zwischen Himmel und Erde, so dass ich dieser nicht mehr angehöre und vergebens durste nach den Freuden Uber m i r ? (S. 281) Wie tritt dieser innere Konflikt nach aussen in Erscheinung? Rein äusserlich sind das bleiche Gesicht und der düstere, unstete Blick Anzeichen für die innere Qual Heinrichs. Interessanter sind jedoch die Bilder, die Hoffmann zur Kennzeichnung der gequälten Gemütsverfassung verwendet; sie entstammen fast sämtlich dem Vorstellungsbereich von Verwundung, Krankheit und Tod. 'Seine Lieder glichen dem jammernden Wehlaut des auf den Tod Wunden'; 'ein wütender Schmerz zerriss meine Brust'; 'die Todeswunde in der blutenden Brust'; 'wie ein giftiges Insekt' hatte sich Hohn 'in dem wunden zerrissenen Gemüt angesiedelt'; 'wie angehaucht von giftigen Dünsten' müsse er 'dahinwelken'; seine Liebe zu Mathilde ist 'unaussprechlich bis zum Tode'; er vergleicht sich mit den Schatten Verstorbener aus der griechischen Mythologie, die am Ufer des Acheron vergeblich um Erlösung flehen. Die später eintretende tatsächliche Krankheit Ofterdingens sowie die verstaubte Laute mit den zerrissenen Saiten Uber dem Krankenbett sind Symbole seiner totalen inneren Zerrüttung. Nach seiner Rückkehr an den Hof des Landgrafen ist er nur scheinbar geheilt - es wird schnell offenbar, dass seine Anwesenheit die vorher so friedliche, harmonische Atmosphäre auf der Wartburg 'vergiftet'. Mathilde wird durch seinen Einfluss 'verdorben' , sie beginnt in Heinrichs Art zu dichten und verliert allen weiblichen Charme; bezeichnenderweise vergleicht der Landgraf ihren Zustand mit einer bösen Krankheit. Während im ersten Teil der Erzählung Heinrichs Todesbedrohung durch Bildsymbole ausgedrückt wird, kommt es im zweiten Teil zu einer Konfrontation mit dem Tode selbst in der Gestalt des Scharfrichters. (Die Lösung dieser Grenz Situation mit Hilfe eines deus ex machina muss aber als misslungen angesehen werden.) Als Ganzes betrachtet hat 'Der Kampf der Sänger' viele Schwächen. Besonders nachteilig wirkt es sich aus, dass Hoffmann das Schwergewicht von der Gestalt Heinrichs auf Wolffram von Eschenbach und dessen Auseinandersetzung mit Klingsohr und Nasias verlagert. Die Darstellung Heinrichs von Ofterdingen jedoch sowie der Vorbericht, über den später noch zu sprechen sein wird, sind echt serapiontische Elemente innerhalb der Erzählung. Oft gelingt Hoffmann eine lebendig-plastische Menschengestaltung, wenn es gilt, in einer Erzählung mehrere Personen in gleichen oder ähnlichen Umständen voneinander abzuheben. Solche Situationen finden sich z . B . im 'Fragment aus dem Leben dreier Freunde', wo drei
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junge Männer sich in dasselbe Mädchen verlieben, in 'Die Fermate', wo zwei Schwestern versuchen, einen jungen Musiker ihren eigenen Interessen dienstbar zu machen, und in 'Meister Martin der KUfner und seine Gesellen', wo drei junge Männer entgegen ihrer Neigung als KUfnergesellen bei Meister Martin in den Dienst treten, weil sie hoffen, die Tochter des Meisters zu gewinnen. Conrad alias Ritter von Spangenberg mit seiner Herkulesgestalt, den bärenstarken Kräften und der dröhnenden Stimme, mit seiner Vorliebe für wilde Jagdlieder und ritterliche Kampfspiele ist ein wenig klischeehaft geraten. Nicht zu Unrecht meint Lothar in der Werkkritik, der Erzähler hätte mit Conrad 'jene wunderlichen Personen ironieren wollen, die ein Gemisch von Tölpelei, Galanterie, Barbarei und Empfindsamkeit in manchen von unseren neuen Romanen Hauptrollen spielen'. Lebendigkeit kann man der Gestalt Conrads nicht absprechen, es mangelt ihr jedoch an Glaubwürdigkeit. Besser gelungen ist die Darstellung der zwei anderen Gesellen, Friedrich und Reinhold. Schon bei ihrer ersten Begegnung tritt trotz der starken Gleichgeartetheit (die vor allem in ihrem harmonischen Gesang symbolhaft zum Ausdruck kommt), der Unterschied zwischen ihnen deutlich zutage. Friedrich ist der stillere von den beiden, er ist in sich gekehrt, schüchtern und lässt vor lauter Kleinmütigkeit leicht den Kopf hängen. Seine sehnsuchtsvollen Blikke, sein Tränenausbruch und sein gefühlvolles Lied im Eingangsbild stempeln ihn von vornherein zum Schwärmer und Träumer. Reinhold dagegen wirkt, obwohl auch ihm die Tränen locker sitzen, viel selbstbewusster und lebhafter. Das zeigt sich in seiner kraftvollen Redeweise und besonders in seinen raschen, oft stürmischen Bewegungen, (er 'reisst' sein Reisebündel auf, er 'schlingt' seinen Arm um Friedrich, er drückt ihn 'stürmisch' an seine Brust, er greift 'stürmisch' in die Saiten der Laute, er 'schwenkt' sein Barett in der Luft, er 'springt' ausgelassen hin und her, usw. ) Am anschaulichsten zeigt sich die Verschiedenheit der zwei bei ihrer ersten Einkehr in Meister Martins Haus. Der Meister nimmt sie bei der Hand und fuhrt sie an die Festtafel, wo alle Handwerksmeister von Nürnberg versammelt sind. Friedrichs Scheu, seine Sensibilität, sein mangelndes Selbstvertrauen äussern sich in Gebärdesymbolen: er schlägt die Augen nieder, dreht seine Mütze in den Händen, würgt an seinen Bissen, seine Hand zittert beim Heben des Trinkglasses, und glühende Röte überzieht sein Gesicht, als er die ersten Worte an Rosa richtet. Reinhold dagegen wird innerhalb kurzer Zeit, obwohl er ein Fremder in diesem Kreis ist, kraft seiner geistigen Gewandtheit und seines natürlichen Charmes der Mittelpunkt der Gesellschaft. Noch einen weiteren Kunstgriff benutzt Hoffmann, um die drei Gesellen voneinander abzuheben: im ersten Teil des achten Kapitels streicht Frau Marthe unter dem Vorwand, Rosa auszuhorchen, welcher der drei ihr als Freier am besten gefalle, die wesentlichen Charakterzüge jedes einzelnen sicher und treffend heraus und ermöglicht dem Leser in dieser verkappten Zusammenfassung und Gegenüberstellung nochmals, sich die Gestalten zu vergegenwärtigen. In den bisherigen Ausführungen ging es um verschiedene Mittel der Personengestaltung, ein fundamentales Ingrediens serapiontischen
41 Erzählens. Als Ideal schweben Hoffmann jene wunderbaren Personen vor, 'die ohne Rücksicht auf Ort und Zeit ein jeder kennt, mit denen jeder befreundet ist, die fort und fort lebendig unter uns wandeln'. (S. 404) Er denkt dabei vor allem an die Gestalten Shakespeares, aber auch an Charaktere bei Cervantes, Kleist und Scott. (S.404; 925) Die Frage, ob Hoffmann selbst die von ihm angestrebte lebendige, mimisch-plastische Darstellung der Figuren gelungen ist, muss nach den vorangehenden Untersuchungen bejaht werden. H. A. Korff allerdings behauptet, dass Hoffmanns Gestalten gar keine wahren Menschen seien, sondern 'Phantasieprodukte eines sozusagen naturlosen Geistes'. Er spricht weiterhin von der Marionettenhaftigkeit der Gestalten und glaubt, dass sie nicht menschlich als Individuen interessieren, sondern lediglich in ihrer Funktion als Schicksalsträger. ( 8 ) Es ist zwar richtig, dass in zahlreichen Erzählungen ein 'romantisches Schicksal' im Mittelpunkt steht, aber sehr oft besteht eine besondere Korrelation zwischen Charakter und Lebensschicksal. Das Schicksal der wohl markantesten Gestalt Hoffmanns, des Kapellmeisters Kreisler, wird dadurch bestimmt, dass'seinem Uberreizbaren Gemüte, seiner bis zur zerstörenden Flamme aufglühenden Fantasie zu wenig Phlegma beigemischt war'. (I, S. 25) Auch Elis Fröbom, Heinrich von Ofterdingen, Nathanael ('Der Sandmann'), Don Juan und andere wirken nicht wegen ihres ungewöhnlichen Schicksals so lebendig und interessant, sondern ihre einmalige psychologische Konstitution bedingt erst ihr besonders ungewöhnliches Schicksal. Was Korff von der Charakternovelle im allgemeinen sagt und dann besonders auf Kleists Erzählungen bezieht, dass nämlich das Interesse daran ein spezifisch menschliches ist und sich nicht auf die Rätsel des Weltlaufes, sondern auf diejenigen der 'Menschenbrust' konzentriert, trifft auch auf Hoffmanns Erzählungen zu. Zwar gibt es im Gesamtwerk eine Reihe von Geschichten, in denen sich das Augenmerk vornehmlich auf die ungewöhnliche Begebenheit, auf ein rätselvolles Phänomen richtet ( z . B . 'Vampirismus', 'Das Gelübde', 'Ignaz Denner'), aber diese Erzählungen gehören nicht zu den Glanzleistungen Hoffmanns. Die interessantesten und gleichzeitig künstlerisch hochrangigen Werke Hoffmanns sind diejenigen, in denen nicht papierene, marionettenhafte Wesen, sondern durch die Kunst der Gestaltung echt und lebendig wirkende Menschen sich mit ihrem Schicksal auseinandersetzen. Das von Hoffmann geforderte Kriterium der Lebendigkeit gilt nicht allein für die Personengestaltung, sondern ebenfalls für die Darstellung des Geschehens. In der Werkkritik werden bestimmte Szenen einiger Erzählungen ausdrücklich als serapiontisch bezeichnet, auch wenn das Gesamturteil negativ ausfällt. Beispiele sind die Klingsohr- und Nasiasszenen im 'Kampf der Sänger', der Überfall auf Signor Capuzzi und die spätere Rauferei vor seinem Haus in 'Signor Formica' sowie der Streit in 'Meister Martin der KUfner und seine Gesellen', in dessen Verlauf der in seiner Ritterehre gekränkte Conrad fast die ganze Werkstatt kurz und klein schlägt. Die angeführten Beispiele bekunden nicht, wie es den Anschein erwecken könnte, eine ausgesprochene Vorliebe der Serapionsbruder für derbe PrUgelsze-
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nen. Alle Szenen zeichnen sich vielmehr durch ihren hohen Grad an lebendiger Bewegung, ihren Handlungsreichtum und ihr rasches Tempo aus, durch ihren dramatischen Charakter also. Die Darstellung von Capuzzis angeblichem Beinbruch etwa ist gekennzeichnet durch eine äusserst detaillierte Beschreibung aller Vorgänge: das Gepolter auf der Stiege, das Fluchen des Betrunkenen, Capuzzis Sturz auf die Strasse, sein erbärmliches Geschrei, der anklagende Redefluss der Frau Caterina, das Bandagieren des Fusses, Salvators und Antonios heuchlerische Besorgnis, dazwischen Capuzzis ständiges Lamentieren, - diese zahlreichen Impressionen ftlr Auge und Ohr aus allernächster Perspektive nehmen den Leser so gefangen, dass er kaum zur Besinnung kommt. Durch den häufigen Wechsel des Schauplatzes, durch Rede und Gegenrede und durch das ständige Kommen und Gehen von Personen wird der Eindruck von Dynamik und gedrängter Fülle hervorgerufen. Es sind vor allem die humoristisch gefärbten Erzählungen, die eine Vielfalt derartig lebendiger Szenen aufweisen. Besonders gelungen ist das Kapitel aus der 'Königsbraut', in dem die Ankunft des Gemüsekönigs Daucus Carota in Dapsulheim geschildert wird. Hoffmann bedient sich in dieser Szene vornehmlich einer Technik der schnellen Abwechslung: die possierliche Erscheinung des Kuriers, seine AkrobatenkunststUcke zur BegrUssung, die Fassungslosigkeit Dapsul von Zabelthaus, der von Musik begleitete Einzug des GemUsekönigs mit seinem zahlreichen farbenprächtigen Gefolge, die stürmische BegrUssung der Braut, der wilde Tanz des kleinen Volkes - alle diese Vorgänge werden in einem sehr gedrängten Stil erzählt. Es gibt keine Passagen besinnlicher Betrachtung; optische und akustische Wahrnehmungen wechseln miteinander ab, ein Eindruck jagt den nächsten, - der Leser hat das Gefühl, als liefen die Vorgänge in dem atemberaubenden Tempo einer Zirkusvorstellung vor ihm ab. Zu einem ähnlich turbulenten Geschehen kommt es gegen Ende der Erzählung bei der Machtprobe zwischen dem Kabbalisten und dem Gemüsekönig in der Zabelthauschen Küche: aus Töpfen, Tiegeln und Schmorpfannen brodelt und zischt es, und man vernimmt das klägliche Geschrei der zerhackten Mohrrüben. Der Zweikampf der beiden Gegner endet mit einem Blitzsieg des GemUsekönigs und seiner Vasallen, die aus Rache den armen Kabbalisten mit einer Sauce aus gehackten Eiern, Petersilie und geriebener Semmel übergiessen. Der dramatische Charakter der 'Königsbraut' beruht nicht allein auf der Turbulenz und Vehemenz einzelner Szenen, sondern ebenso auf der Gegensätzlichkeit der zwei einander feindlichen Bereiche und den sich daraus ergebenden Konfliktsituationen. In der Gegenüberstellung des hageren, grau in grau gekleideten Kabbalisten mit der hohen weinerlichen Stimme und des quicklebendigen Daucus Carota mit dröhnendem Organ und farbenprächtigem Anzug tritt die Spannung zwischen den zwei widerstreitenden Bereichen ebenso zutage wie in der Verschiedenheit der Schauplätze; der Leser fragt sich beunruhigt, ob der astronomische Turm Dapsuls mit der verstaubten, idyllischen Atmosphäre einer Rumpelkammer sich behaupten kann gegen das ekelerregende, unterirdische Schlammreich des Gemüse-
43 königs. Ein Mittel, das Hoffmann gern zur Erzielung eines dramatischen Effektes verwendet, ist die Unvermitteltheit der Erzählungsanfänge. Es ist eine Technik, die er schon in seinen Frühwerken gekonnt anwendet ( z . B . in 'Don Juan', 'Der Goldene Topf', und 'Die Abenteuer der Silvester-Nacht') und die er an den Romanen Walter Scotts bewunderte. (S. 924 ) Der Leser wird dabei ohne viel Umschweife in medias res versetzt und in den Handlungsgang einbezogen. Es bleibt ihm keine Müsse, reflektierend abseits zu stehen und sich allmählich einzufühlen. Zur Verdeutlichung sei der Beginn des 'Fragments aus dem Leben dreier Freunde', zitiert: Am zweiten Pfingstsonntag war das sogenannte Webersche Zelt, ein öffentlicher Ort im Berliner Tiergarten, von Menschen allerlei Art und Gattung, so überfüllt, dass Alexander nur durch unablässiges Rufen und Verfolgen dem verdriesslichen, durch die Menge hin- und hergedrängten Kellner einen kleinen Tisch abzutrotzen vermochte, den er unter die schonen Bäume hinten heraus auf den Platz am Wasser stellen liess und woran er mit seinen beiden Freunden Severin und Marzeil, die unterdessen, nicht ohne strategische Künste, Stuhle erbeutet, in der gemütlichsten Stimmung von der Welt sich hinsetzte. (S. 105) Dieses hypotaktische Satzgefüge erinnert in seiner Gedrängtheit an den Stil Kleists. So wie Alexander sich durch das Gedränge im Weberschen Zelt hindurchlavieren muss, bevor er sich setzen kann, ist auch der Leser gezwungen, sich konzentriert durch die ineinandergeschachtelten Satzteile hindurchzuarbeiten, bevor ihm eine Pause zur Besinnung gegeben wird. Im Gegensatz zu den vorher besprochenen Szenen der 'Königsbraut' und 'Signor Formica' geschieht hier nichts Aussergewöhnliches; allein durch die sprachliche Formulierung gelingt es Hoffmann, den Leser sogleich zu packen und ihn mitten in das Geschehen hineinzustellen. Ein entscheidender Anteil an der Dynamik einer Erzählung kommt der direkten Personenrede zu. Sie dient nicht nur der Charakterisierung, wie schon vorher aufgezeigt wurde, sondern ist bei Hoffmann auch ein Mittel, den Erzählerbericht aufzulockern und die Begebenheiten gleichsam zu inszenieren. So werden z . B . im 'Fräulein von Scuderi' die Ereignisse, welche die Giftmorde und später die RaubÜberfälle betreffen, vom Erzähler in sachlich nüchterner und distanzierter Weise berichtet. An einer einzigen Stelle jedoch unterbricht Hoffmann diese Technik und schafft einen dramatischen Höhepunkt, indem er vom Präteritum ins historische Präsens überwechselt und die missglückte Ergreifung des Mörders in Form eines Dialogs schildert, in welchem die Wut und Enttäuschung des Polizeikommissars Uber das Entkommen des Täters gekonnt eingefangen ist. Fast immer gelingt es Hoffmann, durch die Gesprächsform einer E r zählung lebendige Dynamik zu verleihen und selbst eine handlungsarme Erzählung wie z . B . 'Des Vetters Eckfenster' zu beleben.
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Obwohl Hoffmann selbst nur ein einziges (und nicht besonders gutes) Drama geschrieben hat - 'Prinzessin Blandina' - haben die meisten seiner Erzählungen dramatischen Charakter; sie zeichnen sich aus durch echte Konfliktsituationen, Handlungsreichtum und Spannung. ( 9 ) Die dramatische 'Färbung' seiner Werke ist jedoch nicht verwunderlich, wenn man sich vor Augen hält, dass Hoffmann in Bamberg nicht nur Kapellmeister, sondern auch Theaterassistent war. Auch später in Berlin stand er auf Grund seiner rezensorischen Tätigkeit und seiner Freundschaft mit Devrient in enger Verbindung zu Oper und Theater. (Wie gut er sich auf dramaturgische Probleme verstand, zeigt sein Dialog 'Seltsame Leiden eines Theaterdirektors', der zur selben Zeit entstand wie der Zyklus der 'Serapions-Brüder'.) Hoffmann strebt keineswegs eine Vermischung der Gattungen an, wie sie etwa von den Frtlhromantikern propagiert wurde. Er unterscheidet genau zwischen den Bedingnissen von Drama und Erzählung und meint, dass sie in ihren Grundelementen so voneinander verschieden seien, 'dass selbst der Versuch, den Stoff einer Erzählung zu einem Drama zu verarbeiten, oft misslingt und misslingen muss'. (S. 711) Es ist jedoch unverkennbar, dass gewisse dramatische Techniken in Hoffmanns Werk Eingang gefunden haben, und es ist wohl kein Zufall, dass in den 'Serapions-BrUdern' von allen Romantikern gerade Kleist, der einzige bedeutende Dramatiker der Periode, als leuchtendes Vorbild hingestellt wird. Die Kritik der Serapionsbruder richtet sich gegen Weitschweifigkeit und das blosse Aneinanderreihen von Bildern ohne 'lebendige Bewegung' (S. 766; 471; 842 ), also gegen undramatische Züge, die keine echte Spannung aufkommen lassen. In vielen Erzählungen Hoffmanns wird Spannung durch ein Kompositionsprinzip erzeugt, das Korff als 'Technik des durchbrochenen Satzes' bezeichnet. (10) Damit ist gemeint, dass Hoffmann seine Geschichten nicht in ihrem natürlichen, chronologischen Ablauf erzählt, sondern auffallend häufig mit Unterbrechungen und RUckwendungen a r beitet. Sehr eindrucksvoll ist diese Technik im 'Fräulein von Scuderi', 'Rat Krespel' und 'Der Zusammenhang der Dinge' durchgeführt. Die letzte Erzählung beginnt mit dem schon erwähnten unvermittelten, spannungsgeladenen Einsatz des Geschehens in Form eines hitzigen Arguments. 'Nein', sprach Ludwig zu seinem Freunde Euchar, 'nein, es gibt gar keinen solchen ungeschlachten tölpischen Begleiter der holden Glücksgöttin, . . . Nein, es gibt keinen Zufall'. (S. 876 ) Das dreifache 'nein' wirkt wie die ersten kraftvollen Töne einer Ouvertüre und erregt wie diese schlagartig die Aufmerksamkeit und Erwartung des Lesers. Erst im folgenden Absatz erhält man die notwendigen Informationen Uber das Wann und Wo des Gegenwartsgeschehens. Im restlichen Teil des ersten Kapitels wird ausführlich die B e gegnimg Euchars und Ludwigs mit Emanuela beschrieben. Die fremdartige Erscheinung der spanischen Tänzerin und ihres Begleiters, die an die Gestalten Mignons und des Harfners erinnern, lösen eine gespannte Erwartung aus, die im weiteren Verlauf des Geschehens gesteigert und bis zur letzten Seite der Erzählung aufrecht erhalten
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wird. Im gesamten Handlungsablauf gibt es drei entscheidende Rückwendungen. Die erste findet sich am Anfang des zweiten Kapitels und zeigt, wie die verschiedene Veranlagung der beiden Freunde schon in ihrer Kindheit zutage trat. Der weitaus grössere Teil des Kapitels enthält den schwärmerisch-pathetischen Bericht Ludwigs Uber seine diversen Missgeschicke während des letzten Balls. Das ganze Kapitel wirkt als retardierendes Element; der Leser ist zwar streckenweise amüsiert, besonders Uber die versteckte Gesellschaftskritik, wartet aber ungeduldig auf das Ende dieser langatmig vorgetragenen Banalitäten, um weiteres Uber die geheimnisvolle Spanierin zu erfahren. Die zweite RUckwendung bildet den Hauptteil des dritten Kapitels; sie enthält Euchars Erzählung von den Abenteuern seines Freundes Edgar in Spanien. Schon ihrer Natur nach haben diese Erlebnisse einen spannenden Charakter; sie wirken doppelt aufregend im Gegensatz zu Ludwigs seichten Trivialitäten und der unmittelbar vorangegangenen pathetischen Deklamation eines abgeschmackten Trauerspiels. Ausserdem bilden die abenteuerlichen Erlebnisse Edgars in Spanien einen wirksamen düster-exotischen Kontrast zur dünnen, gekünstelten Salonatmosphäre und erhöhen dadurch die Spannung. Als nach Beendigung der Erzählung Emanuela und ihr Begleiter hereintreten und spanische Lieder und Tänze zum Besten geben, ahnt der Leser, dass ein Zusammenhang besteht zwischen den beiden und dass Euchar nicht alles berichtet, sondern recht abrupt seine Erzählung beendet hat. Mit Spannung warten die Gesellschaft und der Leser am nächsten Abend auf die Fortsetzung, die sich jedoch wegen Euchars plötzlicher Abreise um zwei Jahre verzögert. Erst auf den letzten Seiten der Erzählung erfolgt wieder in der Form einer RUckwendung die Auflösung des Geheimnisses um Emanuela. Dieser Schluss ist ebenso dramatisch wie der Anfang: Nachdem Euchar die Geschichte seines Freundes Edgar zuende erzählt hat, öffnen sich die Türen des Saales und . . . hinein trat eine prächtig gekleidete Dame, hinter ihr ein alter Mann, von hohem stolzen Ansehen. Die Präsidentin eilte ihnen entgegen, führte die Dame in den Kreis - alle waren von ihren Plätzen aufgestanden - und sprach: 'Donna Emanuela Marchez, die Gemahlin unseres Euchar - Don Rafaele Marchez.' 'Ja', sprach Euchar, . . . ja es blieb wirklich nur noch übrig zu sagen, dass der, den ich Edgar nannte, niemand anders ist als ich selbst'. (S. 923) Die Szene hat starke Anklänge an ein Opernfinale: alle Hauptpersonen sind versammelt, umgeben vom Chor der Statisten (in diesem Fall die beim ästhetischen Tee anwesenden Gäste), der wahre Zusammenhang der Dinge ist aufgedeckt, und das Publikum kann sich gelöst der Rührung oder der Verwunderung Uber die FUgung der 'ewigen Macht' hingeben. Durch das Thema der Erzählung ist von vornherein ein Moment der Spannung gegeben: Zwei gegensätzliche Weltanschauungen stehen sich gegenüber: die Überzeugung von der Existenz eines mechanistischen
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Weltsystems, wie sie von Ludwig vertreten wird, und Euchars Glauben an einen in und Uber dem Menschen waltenden 'höheren Geist', der dem Menschen Handlungsfreiheit zugesteht, aber auch Verantwortung für sein Handeln fordert. Interessant ist, wie Hoffmann die vom Thema vorgegebene Spannung zu einem durchgehenden Gestaltungsprinzip macht. In allen vier Kapiteln lassen sich zwei Teile erkennen, die sich in Form und Gehalt krass voneinander abheben: ein leichter und vordergründiger, der Ludwigs Natur entspricht, und ein ernster und tiefsinniger, der Euchars Wesen und Lebenshaltung widerspiegelt. Die Spannung zwischen diesen zwei Bereichen erhält ihre deutlichste Ausformung auf zwei sehr unterschiedlichen Sprachebenen: eine exaltierte, hyperbolische Sprache als Ausdruck leerer Geschwätzigkeit kennzeichnet Ludwigs Welt. Im Gegensatz dazu steht die sachliche, zügige, nur an den Höhepunkten in einen leidenschaftlichen Gefühlston ausbrechende Sprache der Emanuela- und Euchar/ Edgar-Teile. 'Der Zusammenhang der Dinge' ist eine Erzählung, die durchaus das Prädikat 'serapiontisch' verdient. Trotz der Ungeradlinigkeit im Handlungsablauf ist sie klar, Ubersichtlich und wohlgerundet, da alle Motive glatt miteinander verflochten sind. Die Charaktere, besonders Euchar und Viktorine, sind plastisch und farbig gestaltet, und die Handlung enthält zahlreiche dramatische Situationen und erregende Momente, die das Interesse des Lesers bis zum Schluss gefangen halten. Die zwei wichtigsten Komponenten serapiontischer Lebendigkeit sind nach den bisherigen Ausfuhrungen die Plastizität und Farbigkeit der Personengestaltung sowie die Dichte und Dynamik des Geschehens. Ein drittes Element, das entscheidend zur Lebendigkeit eines Werkes beiträgt, ist die Stimmung. Unter Stimmung ist nach F. O. Bollnow die Zuständlichkeit des gesamtmenschlichen Daseins zu verstehen, eine durchgehende einheitliche Grundverfassung, die allen seelischen Regungen eine bestimmte eigentümliche Färbung verleiht. Als eigentlichen Sitz der Stimmung bezeichnet er das Gemüt. (11) Es handelt sich also um eine gefühlsmässige 'Befindlichkeit', die den Leser erfüllt, die ihn aber nur deshalb erfüllen kann, weil sie ein Bestandteil der Erzählung selbst ist und während der Lektüre auf ihn einströmt. Im folgenden Teil sollen konkrete erzählerische Mittel herausgestellt werden, auf denen in vielen von Hoffmanns E r zählungen die Stimmung beruht. Besonders ergiebig für diese Untersuchung ist die historische E r zählung 'Meister Martin der KUfner und seine Gesellen'. Der Haupthandlung ist eine Einfuhrung in der Form einer Anrede des Autors an den 'geliebten Leser' vorangestellt. Diese Einführung beginnt damit, dass der Erzähler dem Leser seine eigene Stimmung mitteilt und zwar auf eine sehr subtile, unmerkliche Weise: 'Wohl mag dir auch, geliebter Leser! das Herz aufgehen in ahnungsvoller Wehmut, . . . '. Durch das Wörtchen 'auch' wird zwischen Leser und Erzähler sogleich eine innige Vertrautheit hergestellt. Der Erzähler Uberträgt seine eigenen wehmütigen Empfindungen auf den Leser, ja, er sugge-
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r i e r t sie ihm geradezu, indem e r im ersten Absatz nicht von seinen eigenen, sondern nur von den Gemütsbewegungen des L e s e r s spricht. Durch den lockenden Charakter der folgenden Suggestivfragen ( ' I s t es nicht so, a l s t r ä t e s t du in ein verlassenes Haus?', 'Doch ach! geschieht es nicht, dass die holde Traumgestalt . . . entflieht?') weckt e r alsdann im Leser die Sehnsucht, mehr von der schönen v e r gangenen Zeit zu erfahren, zu welcher der Erzähler den Schltlssel zu besitzen scheint. Als weiteres Mittel, den L e s e r in die gewünschte Stimmung zu versetzen, dient Hoffmann die ausgesprochen vage und unkonkrete Sprache der Einführung. Er spricht von den 'herrlichen Denkmälern altdeutscher Kunst', dem 'Glanz, frommen Fleiss, der Wahrhaftigkeit einer schönen vergangenen Zeit', von 'köstlichen Gaben des Kunstfleisses', 'treuherziger Gastlichkeit', den 'alten, f r o m m und kräftig redenden Meistern', der 'Herrlichkeit der alten Reichsstadt' (Nürnberg) usw. Diese Sprache ist wenig anschaulich; die Vision des E r z ä h l e r s verwandelt sich für den Leser nicht in etwas äusserlich Sichtbares. Nicht das bildliche Vorstellungsvermögen wird angeregt, sondern das Gemüt. Der Leser wird in die angemessene seelische Disposition versetzt, e r w i r d ' e i n g e s t i m m t ' , so dass e r gefUhlsmässig teilnehmen kann an dem darauf folgenden Geschehen. Die Kapitel der Haupthandlung wirken auf den ersten Blick ' r e a listisch'; der Leser kann sich einzelne Szenen, z . B . das Festessen in Meister Martins Haus, das Treiben in der Ktlfnerwerkstatt, die Lustbarkeiten auf d e r Allerwiese lebhaft vorstellen, allerdings nicht etwa deshalb, weil Hoffmann eine 'realistische' Schilderung gegeben hätte. (12 ) In mancher Hinsicht berichtet Hoffmann zwar ä u s s e r s t genau: am ersten Mai 1580 halten die Böttcher der Stadt Nürnberg ihre Zunft Versammlung ab - in der Werkstatt Meister Martins a r beiten die Gesellen mit Lenkbeil, Klöbeisen und Gargelkamm - Reinhold und Friedrich singen zusammen ein Lied in der Stieglitzweis Adam Puschmanns - aber diese 'realistischen' Gehalte können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei den erwähnten Szenen gar nicht um 'naturgetreue' Wiedergaben handelt, sondern nur um Staffage. E s geht Hoffmann nicht hauptsächlich um eine detaillierte Schilderung d e r handwerklichen Verrichtungen, sondern darum, das ' B e triebsklima' einzufangen: Friedrich dagegen hobelte und hämmerte f r i s c h darauf los, ohne sonderlich zu ermüden. Was sie aber miteinander gemein hatten, war ein sittiges Betragen, in das vorzüglich auf Reinholds Anlass, viel unbefangne Heiterkeit und gemütliche Lust kam. Dazu schonten sie in voller Arbeit, zumal wenn die holde Rosa zugegen war, nicht ihre Kehlen, sondern sangen mit ihren lieblichen Stimmen, die gar anmutig zusammengingen, manches herrliche Lied. Und wollte dann auch Friedrich, indem e r hinüberschielte nach Rosen, in den schwermütigen Ton verfallen, so stimmte Reinhold sogleich ein Spottlied an, . . . so dass der alte Herr Martin oft den Degsel,
48 den e r schon zum Schlage erhoben, wieder sinken liess und sich den wackelnden Bauch hielt vor innigem Lachen. (S. 443 ) In Meister Martins Werkstatt war e s indessen sehr lebhaft worden. Um alles Bestellte fördern zu können, hatte e r noch Handlanger und Lehrburschen angenommen und nun wurde gehämmert und gepocht, dass man es weit und breit hören konnte. Reinhold war mit der Messung des grossen F a s s e s , das fUr den Bischof von B a m berg gebaut werden sollte, fertig worden und hatte e s mit F r i e d rich und Conrad so geschickt aufgesetzt, d a s s dem Meister Martin das Herz im Leibe lachte und e r ein Mal Uber das andere rief: 'Das nenn ich m i r ein Stück Arbeit, dass wird ein Fässlein, wie ich noch keines gefertigt, mein Meisterstück ausgenommen.' Da standen nun die drei Gesellen und trieben die Bände auf die g e fugten Dauben, d a s s alles vom lauten Getöse der Schlegel widerhallte. Der alte Valentin schabte emsig mit dem K r u m m e s s e r und Frau Marthe, die beiden kleinsten Kinder auf dem Schosse, s a s s dicht hinter Conrad, während die andern muntern Buben schreiend und lärmend sich mit den Reifen herumtummelten und jagten. Das gab eine lustige Wirtschaft . . . (S. 453/454) An beiden Textproben fällt auf, d a s s gerade die Wörter mit b e s c h r e i bender Funktion (Adjektive und Adverbien) gar nichts konkret F a s s b a r e s ausdrücken; statt dessen sind sie stark gefühlsmässig 'getönt' (lieblich, sittig, herrlich, hold, innig, munter, frisch, emsig, l u s tig, usw. ) und zielen darauf ab, den Leser in eine behagliche unbeschwerte Stimmung zu versetzen. Im zweiten Kapitel sitzen Meister Martin, der R a t s h e r r Paumgartner und d e r Junker von Spangenberg in der 'Prungkuchen' an einem 'schweren, mit wunderlichem Schnitzwerk verzierten Tisch', trinken Wein 'aus stattlichen geschliffenen Trinkgläsern' und erzählen 'manchen lustigen Schwank aus f r o h e r Jugendzeit'. Auch in diesem Absatz werden die genannten Gegenstände nicht beschrieben, sondern nur bezeichnet; sie sind Requisiten, die dazu dienen sollen, eine bestimmte Atmosphäre zu beschwören (in diesem Fall Biederkeit, Gediegenheit, Gemütlichkeit), und nur solche Gegenstände werden ausgewählt, die stimmungsträchtig sind. Alle Serapionsbruder rühmen den gemütlichen Ton d e r Kufnergeschichte; Lothar bemängelt jedoch, d a s s es der Erzählung an lebendiger Bewegung fehlt. Vergleicht man eine Erzählung wie z. B. 'Signor Formica' mit 'Meister Martin', so wird deutlich, was unter Lothars Bemerkung zu verstehen ist: 'Signor Formica' ist auf Grund der verwickelten Handlung und der zahlreichen Möglichkeiten zur Situationskomik sehr wirkungsvoll. Die Erzählung l i e s s e sich a l s Schwank oder komische Oper ohne weiteres auffuhren. 'Meister M a r tin' dagegen ist einem Genrebild zu vergleichen, das man vielleicht in einer Serie 'lebender Bilder' darstellen könnte, denn das Geschehen enthält trotz des vorhandenen Konfliktes ( d r e i 'falsche' Küfnergesellen werben um dasselbe Mädchen) zu wenig dramatisches P o tential. Hoffmann beabsichtigte aber, wie e r in d e r Einleitung b e tont, ein Bild mittelalterlichen Bürgerlebens zu entwerfen und im L e s e r die Empfindung von 'Lust und Heiterkeit' zu wecken. FUr die
49 Schaffung eines solchen Bildes ist das Atmosphärische (die Stimmung) wichtiger als das Geschehen selbst. (13 ) Es fällt auf, dass der für Hoffmann typische Zug der Ironie in 'Meister Martin' und anderen Erzählungen mit starkem Stimmungsprofil ('Doge und Dogaresse', 'Das Fräulein von Scuderi', 'Der Unheimliche Gast', 'Der Kampf der Sänger') fast ganz fehlt. Der Grund dafür ist leicht einzusehen: Damit Stimmung entstehen kann, ist es notwendig, dass der Erzähler ein 'ungebrochenes' Verhältnis zu seinem Werk hat, dass er sich nicht reflektierend zwischen Werk und Leser stellt. Nur so kann der Leser mit den Charakteren intim vertraut werden, ihre Gemütsbewegungen nachvollziehen und sich den Empfindungen, die dabei auf ihn überströmen, hingeben. Sobald aber der Erzähler sich von seinen Gestalten distanziert oder gar eine ironische Haltung ihnen gegenüber einnimmt, wird die Stimmung gebrochen oder völlig vernichtet. Der ironische Ton einiger Erzählungen ('Der Artushof', 'Fragment aus dem Leben dreier Freunde', 'Nussknacker und Mausekönig') wird von den SerapionsbrUdern als störend empfunden oder sogar scharf kritisiert. Wegen der desillusionierenden Wirkung muss ironisches Erzählen als geradezu 'unserapiontisch' gelten; Ironie ist ein Ausdruck dafür, dass sich der Erzähler des Missverhältnisses zwischen Phantasie und Wirklichkeit schmerzlich bewusst ist. In 'Seltsame Leiden eines Theaterdirektors' schreibt Hoffmann: Das Gefühl des Missverhältnisses, in dem der innere Geist mit allem äusseren irdischen Treiben um ihn her steht, erzeugt den krankhaften Überreiz, der ausbricht in bittere, höhnende Ironie. Es ist ein krankhafter Kitzel, den das schmerzlich berührte wunde Gemüt empfindet, und das Lachen ist nur der Schmerzenslaut der Sehnsucht nach der Heimat, die im Innern sich regt. (I, S. 658) Serapiontisches Erzählen soll aber gerade das Bewusstsein des Missverhältnisses auslöschen, die Duplizität des Seins soll für die Dauer des Erzählens aufgehoben werden, der Leser soll entzündet und hingerissen werden, so dass er an die heraufbeschworene Welt glaubt. Als besonders serapiontisch wird der Vorbericht in 'Der Kampf der Sänger' von den SerapionsbrUdern hervorgehoben, obwohl die Erzählung als Ganzes keinen grossen Anklang findet. Der Grund fUr die Auszeichnung ist in dem Stimmungswert dieses Abschnittes zu suchen. Hoffmann hat den Vorbericht konzipiert als traumhafte Vision des Erzählers, der gerade in einer alten Chronik Uber die Kunst der Meistersinger gelesen hat. Frühlingsstürme heulen um das Haus, und die Strahlen des Vollmondes werfen seltsame Reflexe auf die Wand, während der Erzähler versunken ins Kaminfeuer starrt und dem eben Gelesenen nachsinnt. Da verwandelt sich für ihn die Aussenwelt; alles um ihn her verschwimmt in dichtem Nebel, - der Rauch des Kaminfeuers mag zu dieser Verwandlung geführt haben - und das Brausen des Sturmes sowie das Knistern des Feuers werden zu einem 'harmonischen Säuseln'. Dann lichtet sich der Nebel, und der Erzähler findet sich auf einer Waldwiese, umgeben von 'murmelnden Quellen', 'rauschenden Büschen', 'lieblichem Sonnenschein'und
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'sanftem Morgenwind', 'klagenden Nachtigallen' und 'neugierig äugenden Hirschen und Rehen'. Zugleich vernimmt e r H ö r n e r - und Harfenklänge, und ein prächtiger Jagdzug zieht vorUber. Darauf folgt ein ( i m a g i n ä r e s ) Gespräch des E r z ä h l e r s mit dem Chronisten, der die Teilnehmer des Jagdzuges vorstellt; ein Wettsingen der sechs Meist e r s i n g e r bildet den Abschluss des Vorberichts. Es stellt sich die Frage, welche Funktion die Naturschilderung in diesem Kapitel hat. Nimmt man an, d a s s d e r Erzähler einen geeigneten anschaulichen Hintergrund fUr den Wettkampf der Sänger schaffen wollte, so muss die Ausführung a l s misslungen bezeichnet werden. Wendungen wie 'blumige Matten', 'schöner dichter Wald', 'murmelnde Bäche', 'rauschende Btlsche und klagende Nachtigallen' zeichnen sich weder durch Originalität noch durch besondere Farbigkeit und Anschaulichkeit aus, sondern wirken eher, zumindest auf heutige Leser, schal und kitschig. Dem in diesem Absatz dargestellten Naturbild kommt jedoch keinerlei Eigenwert zu; e s soll keine genauen bildhaften Vorstellungen auslösen, es hat nur Bedeutung in seiner Funktion a l s 'Ausdruckslandschaft' und 'Stimmungskulisse'. Eine friedliche, heitere, durch keinen Missklang gestörte Stimmung wird heraufbeschworen und der L e s e r somit auf die idyllische, harmonische Atmosphäre im Kreis des Landgrafen von Thüringen eingestimmt. Gegen Ende des Vorberichts ändert sich das Naturbild: bei Heinrich von Ofterdingens fremdartigem, herausforderndem Lied legen sich schwarze Schleier Uber die vorher so friedliche Landschaft und hüllen alles in finstere Nacht. Seltsam gellende Laute ertönen, deren Ursprung ungeklärt bleibt, die Saiten der Laute zerspringen 'mit e i nem laut aufheulenden Angstgeschrei', und der Gesang der Meister ' v e r s a u s t im Widerhall'. Aus diesem Chaos steigt dann ein in milchweissem Licht herrlich funkelnder Stern empor aus der Tiefe und wandelte daher auf d e r Himmelsbahn, und ihm nach zogen die Meister auf glänzenden Wolken singend und ihr Saitenspiel rührend. Ein flimmerndes Leuchten zitterte durch die Flur, die Stimmen des Waldes erwachten aus dumpfer Betäubung und e r hoben sich und tönten lieblich hinein in die Gesänge der Meister. (S.278) Aus der Textprobe geht deutlich hervor, dass das Landschaftsbild ausdrücklich symbolische Funktion hat. Der L e s e r wird vorbereitet auf die künftige Dissonanz zwischen Heinrich von Ofterdingen und den anderen Sängern, aber auch auf den harmonischen Ausgang des Konfliktes. Der ganze Vorbericht ist einer Ouvertüre zu vergleichen, e r hat wie diese programmatischen Charakter. Es ist seine Funktion, eine bestimmte innere Haltung im Leser hervorzurufen und ihn e m p fänglich zu machen für das folgende Geschehen. Im 'Kampf der Sänger' ist es Hoffmann nicht gelungen, eine ähnliche Stimmungsgeschlossenheit wie in 'Meister Martin' hervorzubringen. Zum Teil liegt es daran, dass im 'Kampf der Sänger' das Schwergewicht auf dem Geschehen liegt. Stimmung kann sich nicht recht entfalten, da sich die Antinomie zwischen christlicher Religiosität und heidnischer Sekularität, wie sie von Wolfframb und Hein-
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rieh vertreten wird, zu sehr in den Vordergrund drängt; zum Teil liegt es aber auch an der weniger sorgfältigen Ausarbeitung, dass die zu Anfang heraufbeschworene Stimmung nicht erhalten werden kann. Ebenfalls a l s serapiontisch wird der Anfang des 'Unheimlichen Gastes' bezeichnet. Die faszinierende Wirkung, die von diesem Teil der Erzählung ausgeht, beruht vor allem auf der geglückten Synthese von Spannung und Stimmung. Eine eingehende Analyse des b e t r e f f e n den Teiles mag vor Augen führen,mit welchen Mitteln Hoffmann die Stimmung aufbaut und intensiviert. Der 'Unheimliche Gast' d i e s e r Erzählung ist der Graf S., ein italienischer Offizier mit bleichem, ausdrucksvollem Gesicht und seltsam glühenden dunklen Augen, der während d e r napoleonischen Feldzüge auf deutscher Seite kämpfte. Während eines Besuches bei seinem Freund, dem Obristen von G., verliebt e r sich in die Tochter des Obristen, Angelika, und hält um ihre Hand an. Angelika jedoch, die eine unerklärliche Abneigung g e gen den Grafen empfindet, gesteht, dass sie den Rittmeister Moritz liebt, und der Graf verzichtet grossmutig. Da aber Moritz und der Obrist erneut einberufen werden, bleibt Graf S. zum Schutz der F r a u en (Angelikas, i h r e r Mutter und i h r e r französischen Gesellschafterin Marguerite) auf dem Gut des Obristen zurück. Während kurzer Zeit gelingt e s ihm, durch 'satanische Künste' (Hypnose) und mit Marguer i t e s Hilfe des Rittmeisters Bild aus Angelikas Herzen zu verdrängen und sie für sich zu gewinnen. Kurz vor i h r e r Hochzeit kehrt jedoch Moritz, der in Gefangenschaft geraten war, zurück, der Graf v e r liert die dämonische Herrschaft Uber Angelika und stirbt an einem 'Nervenschlag'. Die Erzählung ist zunächst ausgesprochen handlungsarm. Die Obristin von G., Angelika, Marguerite, der Rittmeister Moritz und sein Freund Dagobert sind beim wöchentlichen Zirkel der Obristin am Kaminfeuer versammelt, während draussen der Herbststurm tobt und Regen und Hagel gegen die Scheiben p r a s s e l n . Diese ä u s s e r e n Umstände bilden einen ganz natürlichen Ausgangspunkt f ü r die Unterhaltung. Dagobert spricht von den heimlichen Schauern, die durch Herbst, Sturmwind, Kaminfeuer und Punsch im Innern e r r e g t werden und skizziert mit diesen Stichworten schon gleich zu Anfang die ' T ö nung' d e r Gefühslage. Die Jüngste im Kreise, die achtzehnjährige Angelika, erklärt in kindlich-naiver Unbefangenheit, sie kenne keine 'hübscheren und angenehmeren Empfindungen' als gerade diese h e i m lichen Schauer, bei denen ein l e i s e s Frösteln durch die Glieder fahre. Ihre Mutter dagegen ä u s s e r t von Anfang an ihr Missfallen am Gesprächsthema, da sie sich a l s aufgeklärte Frau dagegen sträubt, an unnatürliche Vorgänge zu glauben. In diesem Spannungsverhältnis von Empfänglichkeit gegenüber dem Wunderbaren einerseits und seiner Negierung andrerseits, von Erwartung und Skepsis baut Hoffmann allmählich die Stimmung des Unheimlichen und Bedrohlichen auf. Dagoberts Hinweis auf die Existenz einer unsichtbaren und geheimnisvollen Geisterwelt hat die Stimmung ausgelöst; allmählich wird sie durch eine subtile Steigerung verdichtet. Zunächst bewegt sich das Gespräch auf sehr allgemeiner, a b s t r a k t e r Ebene - man versucht, eine Erklärung zu finden für das Grauen
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und Entsetzen, das durch allerlei seltsame Naturtöne im Menschen hervorgerufen wird. Um seinen Argumenten m e h r Gewicht zu geben, erwähnt Dagobert die Luftmusik oder sogenannte Teufelsstimme auf Ceylon und gibt so dem Gesprach eine Wendung vom Allgemeinen zum bestimmten, wissenschaflich belegten Phänomen. Moritz erzählt a n schliessend von den 'herzzerschneidenden Klagetönen', die e r selbst am Vorabend einer Schlacht in Spanien vernahm. Mit diesem Bericht tritt das Unheimliche aus der exotischen Ferne Ceylons näher an den Freundeskreis heran - mit der Verringerung räumlicher und zeitlicher Entfernung verdichtet sich die spukhafte Atmosphäre; das Unheimliche rückt gar in unmittelbare, wahrnehmbare Nähe, a l s Dagobert es im Pfeifen und Zischen des Kaminfeuers und im kläglichen Singen der Teemaschine zu spüren meint. Während die Obristin auf Dagoberts Bemerkung halb belustigt, halb ärgerlich reagiert, zeigt Angelikas Verhalten, d a s s die schauerliche Stimmung schon Fuss gefasst hat: ihr ist so furchtsam zumute, dass sie im Begriff steht, die Teemaschine abzustellen. In diesem Augenblick zerbricht durch Marguerites Verschulden ein Punschglas deutlich ist das Klirren d e r 'tausend Scherben' zu vernehmen. Durch diesen Zwischenfall werden die Anwesenden in die Wirklichkeit zurückgeholt, allerdings nur f ü r kurze Zeit. Eine seltsame innere E r regung hat eingesetzt und kann nicht mehr gebannt werden. Dagoberts Prophezeihung, dass den ersten träumerischen und angenehmen Schauern der Gespensterfurcht bald Grauen und Entsetzen folge, scheint sich zu bewahrheiten: m e h r m a l s versucht die Obristin, jetzt ironisch und stark verärgert, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, aber alle stehen schon zu sehr im Banne des Unheimlichen, a l s d a s s sich die Stimme der Vernunft dagegen behaupten konnte. Der Aufbau des folgenden Gesprächs verläuft genau parallel zum ersten; sogar der Anstoss zur Unterhaltung stimmt fast wörtlich mit dem vorigen uberein. Wieder ist es Angelika, die erklärt, sie möge nichts lieber hören als hübsche Spukgeschichten, die durch alle Glied e r frösteln. Das Gespräch führt wie vorher vom Theoretischen und Allgemeinen zum einmaligen persönlichen Erlebnis. Die e r s t e Unterhaltung begann mit einer Diskussion Uber e r k l ä r b a r e Naturtöne und ihre Wirkung; die zweite dreht sich um Laute, deren Ursache u n e r klärlich ist. Die d r e i folgenden Erlebnisberichte sind so angeordnet, dass sich wiederum der räumliche und zeitliche Abstand zur Gegenwart allmählich verringert. Dagoberts Erlebnis im Gasthof vor einiger Zeit, Angelikas schrecklicher Traum in d e r Nacht ihres v i e r zehnten Geburtstages und die schauerlichen Vorgänge und E r s c h e i nungen, die Moritz von seinem Freund Bogislav erzählt, bilden die Stationen vom Entfernten zum Gegenwärtigen. Im letzten Beispiel liegt nur scheinbar eine Abweichung vor, denn die ächzenden und stöhnenden Laute, die Bogislav ständig verfolgten und die auch Moritz vernahm, rühren eben von dem Mann her, der plötzlich, während die Tür des Saales mit dröhnendem G e r a s s e l aufspringt, hereintritt. Dieser Zwischenfall entspricht dem Zerbrechen des Punschglases im e r s t e n Abschnitt, wieder bricht unvermittelt die Wirklichkeit h e r ein. Aber während sich bei der ersten vergleichsweise harmlosen Störung durch Marguerite die spukhafte Atmosphäre für eine Weile
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verflüchtigte, gelingt es nach dem Eintritt des geheimnisvollen Fremden keinem der Anwesenden, auch nicht der Obristin, sich der bangen, düsteren Stimmung zu entziehen. Denn während in allen bis dahin vorgebrachten Episoden das Unheimliche unsichtbar im Hintergrund blieb, nimmt es jetzt im Grafen von S. zum ersten Mal Gestalt an. Eine Untersuchung des Sprachgebrauchs in diesem Teil ergibt keine Besonderheiten. Der Ton der Unterhaltung wirkt völlig normal und natürlich, man kann dem Erzähler nicht vorwerfen, dass er Stimmung 'produziert', indem er seine Gestalten in besonders stimmungsvoller oder effektheischender Weise reden lässt. Hyperbolik im Ausdruck, eine Kumulation typisch Hoffmannscher affektgeladener Wörter ( z. B. grässlich, entsetzlich, verrucht) und der übermässige Gebrauch von Antithesen und Superlativen, wie wir sie etwa im 'Fräulein von Scuderi' antreffen, finden sich im ersten Teil des 'Unheimlichen Gastes' kaum. Zum Wesen des Unheimlichen gehört, dass man es nicht mit Händen greifen kann, dass man seiner nie gewiss ist. Dieses Phänomen drückt Hoffmann sprachlich sehr geschickt durch zahlreiche Konjunktiv-Konstruktionen aus: 'es war, als schwängen sich die Geister der Verstorbenen - da gab es einen Ton, als wenn ein Regentropfen hinabfiele - vielmehr war es mir, als erwache ich - dann war es, als raffe sich jemand'. Alle diese Wendungen bekunden ein Gefühl der Unsicherheit und verstärken dadurch die gespenstische Stimmung: man graut sich nur vor dem, was undeutlich und nicht genau zu bezeichnen ist. Ausser der Bogislav-Episode, die den Höhepunkt der unheimlichen Erlebnisberichte darstellt, ist der erste Teil arm an ungewöhnlichen, äusseren Begebenheiten. Das Schwergewicht liegt auf der Schilderung psychologischer Vorgänge. Es werden vor allem die körperlichen Reaktionen aufgezeichnet, welche die seelischen Angstvorstellungen begleiten: Bogislav bebt an allen Gliedern - er ist bleich wie der Tod - auf Dagoberts Stirn perlen kalte Schweisstropfen - er taumelt ins Bett und versteckt sich unter der Decke - Eisströme durchgleiten ihn - Angelika schüttelt sich wie im Fieberfrost. Selbst die Tiere reagieren auf den Spuk: die Pferde auf dem Schlachtfeld werden unruhig, schnauben und stampfen; Dagoberts Hund kratzt winselnd und ächzend auf dem Boden und an den Wänden. Auf dem Umweg Uber solche körperlichen Sensationen, die bekannt sind, wird auch der Leser von der Atmosphäre des Unheimlichen und Bedrohlichen ergriffen. Der ganze erste Teil des 'Unheimlichen Gastes' wird lebendig durch die Stimmung, die vom Leser durchaus als echt empfunden wird. Es entsteht nicht der Eindruck, hier würden Spukgeschichten erzählt, um einen angenehmen Nervenkitzel zu erzeugen, sondern der Leser spürt, dass diese Geschichten die Ohnmacht des menschlichen Willens und der menschlichen Vernunft vor unsichtbaren, dämonischen Gewalten demonstrieren, die überall die menschliche Existenz bedrohen. Leider verliert sich die Stimmung nach dem Erscheinen des Grafen von S. völlig und macht einer oberflächlichen, auf grelle Sensationen gerichteten Spannung Platz. Motive der Kolportage (ein Selbstmordversuch aus Eifersucht, Fernhypnose, Entführung) bestimmen den Gang der Handlung und bringen die Erzählung aus dem
54 Gleichgewicht. Hermann Pongs sieht das hervorstechende Merkmal von Hoffmanns Erzählkunst darin, dass ihm Stimmung wichtiger sei als Charaktere; er bezeichnet aus diesem Grunde Hoffmanns Erzählungen als Stimmungsnovellen (im Gegensatz zu Kleists Charakternovellen). Diese Bezeichnung ist jedoch irreführend und zwar deshalb, weil Pongs damit nicht das bezeichnet, was gemeinhin unter Stimmung verstanden wird, nämlich eine bestimmte seelische Befindlichkeit oder Färbimg der GefUhlslage. Wie aus den folgenden Zitaten zu schliessen ist, versteht Pongs unter Stimmung das Vorherrschen des Wunderbaren und Rätselhaften: Was E. T. A. Hoffmann neu mitbringt und hineingiesst in die durch Goethe und Kleist gebildete Novellenform, ist das enthusiastische Bekenntnis zum Romantisch-Wunderbaren . . . Er schildert nicht Charaktere, sondern den Einbruch einer gefährlichen Fremdwelt in die Existenz des sich ihr öffnenden Menschen. Diese Pointe (einer Erzählung) aber läuft bei ihm stets hinaus auf eine Uberwältigende Offenbarung des Wunderbaren und seine rückhaltlose Anerkennung. Demgemäss verschiebt sich die Darstellung von den Charakteren auf die wachsende Stimmung des Wunderbaren und Absonderlichen; . . . entwickelt Hoffmann seine besondere Art der romantischen Stimmungsnovelle, die mit ihrer Öffnung für die Mannigfaltigkeit des Wunderbaren, im Alltäglichen zu einer Auflockerung der Novellenform im 19. Jahrhundert fuhrt, derart, dass sich bei abgeflachter Charakterdarstellung das poetisierte Wunderbare . . . in den Vordergrund drängt. (14) Natürlich ist die Behandlung des Wunderbaren, des Absonderlichen und Unerklärlichen eine wesentliche Komponente in Hoffmanns Erzählungen, kann aber doch nicht mit dem Phänomen der Stimmung gleichgesetzt werden. Wunderbar, geheimnisvoll, unerklärlich ist zum B e i spiel in 'Rat Krespel' die Beziehung zwischen der alten Geige und Antoniens Stimme, aber die Erzählung ist nicht im mindesten stimmungsvoll. 'Meister Martin' dagegen ist eine echte Stimmungsnovelle, ohne dass sie irgendwelche rätselhaften und wunderbaren Züge aufweist. Hoffmanns 'enthusiastisches Bekenntnis zum Romantisch-Wunderbaren' (Pongs) wird in dieser Untersuchung unter dem Gesichtspunkt der Mystifikation, behandelt, dem neben der Wohlgerundetheit und Lebendigkeit dritten wesentlichen Merkmal serapiontischen Erzählens.
3. Die Mystifikation Den Anstoss zu den Erörterungen Uber die Mystifikation liefert die fragmentarische Erzählung 'Die Automate'. In dieser Geschichte geht es um die rätselhafte psychische Beziehung zwischen Ferdinand und
55 einer jungen Sängerin. Auf einer Reise war er ihr zufällig begegnet und hatte in ihr sofort die lange erträumte 'Geliebte seiner Seele' erkannt. Zu keinem Menschen hatte er Uber dieses Erlebnis gesprochen und ist deshalb zutiefst erschrocken, als er erfährt, dass eine kunstliche Menschenfigur, der sogenannte redende Türke, von seinem Geheimnis weiss. Spuren, denen er nachgeht, fuhren zu Professor X, einem Experten fUr musikalische Automaten. Aus dessen Garten vernimmt Ferdinand eines Tages die Melodie des Liedes, das die Unbekannte damals sang; auch ihre Stimme erkennt er wieder, ohne dass allerdings weit und breit eine menschliche Gestalt ausser Professor X zu erblicken ist. Am folgenden Tag muss F e r dinand unerwartet eine Reise antreten; während seines Aufenthalts in einem Dorf erfährt er von der bevorstehenden Trauung eines fremden Paares - er erkennt in der Braut die Sängerin, die bei seinem Anblick erbleicht und zu Boden sinkt. Damit hat sich der Orakelspruch des redenden Türken erfüllt; er lautete: 'Unglücklicher! In dem Augenblick, wenn du sie wiedersiehst, hast du sie verloren'. In einem Brief an seinen Freund Ludwig schreibt Ferdinand, dass seitdem 'eine nie erfühlte Ruhe und Heiterkeit in seine Seele gekommen sei'. Ludwig jedoch meint aus dem Brief deutlich Ferdinands zerrütteten Seelenzustand herauslesen zu können. Mit diesem offenen Widerspruch und einem inneren Monolog Ludwigs Uber wunderbare psychische Beziehungen im menschlichen Leben endet 'Die Automa te'. Die Erzählung lässt die Serapionsbruder, besonders Ottmar, unbefriedigt, weil die 'Aufklärung' fehlt. Ottmar tadelt Theodors Vorliebe, ' in allerlei wunderbaren, ja tollen Geschichten mit aller möglichen Kraft die Fantasie anzuregen und dann abzubrechen' und bezichtigt seinen Freund einer 'unartigen Mystifikation'. Was ist unter diesem Begriff zu verstehen? Ottmar will damit nur sagen, dass der Erzähler ihn absichtlich im Ungewissen lässt, dass er ihm z. B. vorenthält, was aus Ferdinand geworden ist, welche Bewandtnis es mit Professor X hat und mit wem die Sängerin getraut werden sollte. 'Mystifikation' in Ottmars Sprachgebrauch ist gleichbedeutend mit Geheimniskrämerei auf seiten des Erzählers. In ähnlichem Sinne wird der Ausdruck gebraucht, wenn im 'Artushof' von der 'Mystifikation des Helden' die Rede ist: Der Held Traugott folgt hier auf der Suche nach Felicitas, der 'Geliebten seiner Seele', einer falschen Spur. Eben diese Felicitas lebt im Landhaus 'Sorrent' in der Nähe Danzigs und heiratet später den Kriminalrat Mathesius, während Traugott in ganz Italien nach ihr sucht. Erst bei seiner Rückkehr in den Norden erkennt er, dass er die ganze Zeit einem Phantom nachgejagt ist und dass seine wahre Liebe Dorina gehört, die er auf der Suche nach Felicitas im italienischen Sorrent fand. Die 'Mystifikation des Helden' endet hier also in einer Pointe, das Rätsel wird gelöst; 'Die Automate' dagegen hat einen offenen Schluss, und deshalb macht Ottmar dem Erzähler Vorwurfe. Theodor jedoch rechtfertigt entschieden seinen Hang zur Mystifikation: Nichts ist mir mehr zuwider als wenn in einer Erzählung, in einem Roman der Boden, auf dem sich die fantastische Welt bewegt hat,
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zuletzt mit dem historischen Besen so rein gekehrt wird, dass auch kein Körnchen, kein Stäubehen bleibt, wenn man so ganz abgefunden nach Hause geht, dass man gar keine Sehnsucht empfindet noch einmal hinter die Gardinen zu kucken. Dagegen dringt manches Fragment einer geistreichen Erzählung tief in meine Seele und verschafft mir, da nun die Fantasie die eignen Schwingen regt, einen lange dauernden Genuss. ( S. 355 ) Vorher hatte Theodor gesagt, die Phantasie des Lesers solle nur ein paar etwas heftige Rucke erhalten und dann sich selbst beliebig fortschwingen. Mystifikation in diesem Sinne könnte man gewissermassen als Hoffmannschen Verfremdungseffekt bezeichnen, der bewirkt, dass der Leser aus einem rein passiven Geniessen herausgerissen wird. Die Phantasie soll nicht nur zum illusionären Mit- oder Nacherleben angeregt werden, sondern auch zum wachen Mitschaffen, indem sie z. B. eine abgebrochene Erzählung zuende führt. Um jedoch die Phantasie des Lesers 'in Schwingungen zu versetzen', bedarf es einer inneren Anteilnahme am Schicksal der vorgestellten Charaktere, und diese Anteilnahme wiederum kann nur erwachsen aus einem Gefühl des Vertrautseins mit den Charakteren. Im 'Automaten'-Fragment überlagern zuviele theoretische Abhandlungen Uber musikalische Mechanik, Naturtöne und das Einwirken Ubersinnlicher Prinzipien auf die Psyche die menschlichen Probleme. Die Charaktere sind zu schemenhaft, sie bleiben dem Leser zu fremd, als dass sie seine Phantasie zu fesseln oder gar zu beflügeln vermöchten. In der fragmentarischen Skizze 'Erscheinungen' ist Hoffmann die Mystifikation wesentlich besser gelungen. Die Erzählung spielt auf einer der ElbbrUcken Dresdens zur Zeit der Befreiungskriege und behandelt die merkwürdigen Erlebnisse des Erzählers in der Nacht, als die eingeschlossenen Franzosen vergeblich einen Ausfall aus der Stadt versuchen. Hoffmann hat die Erzählung Anseimus in den Mund gelegt, dem Dichterjüngling aus dem 'Goldenen Topf', der im Reich der Phantasie heimischer ist als in der alltäglichen Wirklichkeit; aber die 'Erscheinungen' wirken keineswegs wie die Hirngespinste einer allzu lebhaften Einbildungskraft. Die Erlebnisse des Anseimus sind zwar durchaus ungewöhnlich, aber keineswegs unwahrscheinlich. Die vorbeirasselnden Geschütze und Pulverwagen, die verhallenden Marschschritte der französischen Bataillone und die mächtigen Feuer auf den Bergen sind beängstigend real, aber nicht weniger real wirken der alte Bettler auf der Brücke und das aus dem Fluss heraufsteigende Mädchen. Die Mystifikation beginnt erst mit der rätselhaften und widersprüchlichen Doppelnatur der Personen. Der klägliche Bettler St. Pierre pêcheur verwandelt sich innerhalb weniger Augenblicke in den majestätischen Michael Popowicz; das Mädchen Dorothee, das Anseimus jeden Morgen den Kaffee bringt, taucht in der Nacht als Agafia aus den Fluss herauf, küsst und umarmt ihn voll Zärtlichkeit und flüstert ihm dann zu: 'Ich will dich doch lieber ermorden'. Ist sie eine Schwachsinnige, die sich einbildet, die Braut eines schönen Delphins namens Alexei zu sein, oder eine als Dienstmagd verkleidete russische Prinzessin, die für die Belagerer spioniert? Ist der Alte ein armer Irrer,
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wie von den Franzosen angenommen wird, ein religiöser Fanatiker oder ebenfalls ein r u s s i s c h e r Spion? Warum werden beide am folgenden Morgen von den Franzosen verhaftet, und was geschieht mit dem Alten? Es ist unmittelbar nach der Befreiung d e r Stadt, als Anselmus Agafia wiedersieht und von ihr, die 'im Schmuck blitzfunkelnder Diamanten strahlt', das schöne weisse Hochzeitsbrot erhält, das sie ihm vormals versprochen hatte. Wer aber ist der Bräutigam bei dieser Hochzeit, und warum nennt Anseimus Agafia ein 'lieblich f u r c h t b a r e s Geheimnis' ? Alle diese Fragen bleiben ohne eindeutige Antworten; sie sind beabsichtigt a l s Stimuli, die Phantasie des L e s e r s in Schwingungen zu versetzen. Im Gegensatz zur 'Automate' ist hier ein Bezug der einzelnen Motive, ein Fädengeflecht erkennbar, das zur Vervollständigung anreizt. Nur der Ausgang der E r z ä h lung ist vorgezeichnet ( Agafias Hochzeit nach der Befreiung der Stadt), die Art der Verknüpfung und Ergänzung bleibt d e r Einbildungskraft jedes einzelnen Uberlassen. Ausser dem fragmentarischen Charakter der 'Erscheinungen' w i r ken vor allem die Märchen- und Sagenmotive mystifizierend. Der Alte erinnert teils an einen wundertätigen, prophetischen Heiligen ( St. P i e r r e pêcheur ), der den Elementen ( Feuer und Wasser ) g e bieten kann, teils an einen Riesen aus mythischer Vorzeit, d e r im Dienste des Kriegsgottes steht; seine Vision des Krieges hat geradezu apokalyptischen Charakter : mit feurigen Locken und flammendem Bart zieht der Krieg auf Feuersäulen durch das Land. Agafia e r i n nert an die Art Wassergeister, die die Menschen zuerst betören und dann ins Verderben stürzen ( sie will Anseimus mit einem Messer töten) und auch an Prinzessingestalten in Märchen und Mythen, die ein Unglück in die Fremde verschlagen hat, wo sie bis zu i h r e r B e freiung Sklavendienste leisten müssen. Indem e r gewöhnliche Gestalten des täglichen Lebens, nämlich einen alten Bettler und eine etwas einfältige Dienstmagd, f r e m d a r t i g erscheinen lässt, erzeugt Hoffmann die der Mystifikation eigene betroffene Verwunderung des L e s e r s . (15) Anders als im 'Artushof' oder im 'Fragment aus dem Leben d r e i e r Freunde' dient die Mystifikation hier nicht dazu, den Leser zeitweilig zu verwirren und diese Verwirrung dann durch eine ironische geistreiche Wendung aufzulösen, sondern als Mittel, das Augenmerk des L e s e r s auf das Wunderbare zu richten, das 'uns im Leben Uberall entgegentritt'. Diese Art der Mystifikation, die durch das Ineinanderschieben zweier konträrer Bereiche, der alltäglichen Erfahrungswelt und der des Märchens, zustande kommt, findet sich am reinsten in Hoffmanns Märchenerzählungen verwirklicht. Sie dient hier der Erhebung zu dem poetischen Standpunkte, auf dem man . . . auch das gemeine Leben mit seinen mannigfaltigen bunten Erscheinungen durch den Glanz der Poesie in allen seinen Tendenzen verklärt und verherrlicht erblickt. ( I, S. 132 ) Eine mystifizierende Wirkung geht nicht nur von Hoffmanns Märchen und den wenigen fragmentarischen Werken aus, sondern auch von solchen Erzählungen, die sich trotz der rationalen Erklärungen des
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Erzählers und dem Aufzeigen aller Zusammenhänge einem wirklichen Begreifen entziehen. Im 'Fräulein von Scuderi' z . B . wird Cardillacs Leidenschaft für Gold und Edelsteine, die ihn zum vielfachen Mörder werden lässt, auf seiner Mutter 'Begierde nach den funkelnden Steinen' und ihr grässliches Erlebnis während der Schwangerschaft zurückgeführt, aber die Ratlosigkeit des Lesers Uber die seltsame B e sessenheit des Goldschmieds wird durch diese Erklärung nicht aufgehoben. Elis Fröboms Schicksal leitet sich von seiner zwiespältigen Natur her: in seinem Unterbewusstsein stehen Lebenswille und Todessehnsucht im Widerstreit miteinander. Es sind seine eigenen Halluzinationen, die ihn in den Tod treiben, aber gerade das Ausgeliefertsein an die Mächte des Unbewussten bleibt dem Leser trotz der lebendigen Schilderung der Visionen und trotz der klaren Formulierung des Konfliktes im Grunde unbegreiflich. Rat Krespels schroffes, närrisches Wesen wird als Ausdruck seiner höchst sensiblen Natur erklärt, die auf das Miss Verhältnis zwischen innerer Vorstellung und äusserem Leben nur mit Grimassen reagieren kann. Krespel sieht in der alltäglichen Wirklichkeit nur Mittelmässigkeit und menschliche Schwächen, aber er fordert und sucht das absolut Vollkommene, sowohl in der Kunst (aus diesem Grund zersägt er die Geigen) als auch im Leben ( e r kehrt nicht zu seiner Frau zurück aus Furcht, sie werde wieder in ihre alten P r i madonnaallüren verfallen). Erst nach Antoniens Tod erkennt er, dass er selbst schuldig geworden ist, indem er das Vollkommene für sich allein beanspruchte und sich anmasste, wie 'Gott der Vater' Uber Kunst und menschliches Leben verfugen zu können. Mit dieser Erkenntnis löst sich seine innere Spannung, und eine gewisse Ruhe kommt Uber ihn. FUr die Serapionsbruder jedoch sowie für den Leser liegt in diesem Schluss keine Beruhigung, sondern, wie Lothar bemerkt, 'ein Jammer und eine Trostlosigkeit' die er 'abscheulich' findet. Mystifikation wirkt also nicht nur verklärend wie in den Märchen, sondern auch beunruhigend und verstörend. Mit welchen e r zählerischen Mitteln Hoffmann diese Art der Mystifikation erreicht, soll eingehend an der Erzählung 'Doge und Dogaresse' untersucht werden. Es handelt sich um eine Rahmenerzählung. Ein Gemälde mit dem Titel 'Doge und Dogaresse' erregt die Aufmerksamkeit aller B e sucher einer Berliner Kunstausstellung. (16 ) Eine Schar von Betrachtern umringt fast ständig das Bild, und eines Tages erhebt sich unter ihnen ein Streit Uber die Bedeutung des Bildes und die Absicht des Malers. Schliesslich zerstreut sich die Menge bis auf zwei Freunde, die sich weiterhin Uber die dargestellte Szene unterhalten. Zu ihnen gesellt sich ein geheimnisvoller Fremder, sie plaudern zusammen, und der Fremde erbietet sich, ihnen die Geschichte des alten Dogen Marino Falieri und seiner jungen Frau Annunziata zu erzählen. Diese knappe Rahmenhandlung selbst weist darauf hin, was Hoffmann unter Mystifikation verstanden haben will. Von dem Gemälde geht ein besonderer Zauber aus und zwar deshalb, weil es nicht eindeutig verstehbar ist. Von dem Gesicht des Dogen heisst es, es habe 'sonderbar gemischte ZUge, die bald auf Kraft, bald auf Schwäche, bald auf Stolz und Übermut, bald auf Gutmütigkeit deuten'. Wie der Streit
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zeigt, gibt das Bild dem Betrachter Rätsel auf, es verfuhrt ihn zum Verweilen und reizt seine Phantasie. Gerade das will Hoffmann durch die Mystifikation erreichen. Es ist sicher kein Zufall, dass die Diskussion der Serapionsbruder Uber Theodors Neigung zur Mystifikation der Erzählung unmittelbar vorausgeht. Der Hauptteil der Erzählung ist eine kunstvolle Verflechtung vier verschiedener Handlungsstränge: Antonios Geschichte, Margarethas Geschichte, der Liebesgeschichte Antonios und Annunziatas und der Verschwörung des Marino Bodoeri, in die alle Hauptpersonen entweder aktiv oder passiv verwickelt sind. Bis zur Mitte lässt Hoffmann den Leser im Unklaren Uber den Kern der Erzählung. Er erregt eine gespannte Erwartung auf den Zusammenhang der verschiedenen Motive, indem er zunächst mit grosser Regelmässigkeit den Blick des Lesers zwischen dem Geschehen im Umkreis des Dogen und dem Geschehen um Antonio und das alte Bettelweib hin- und herlenkt. Das stärkere Interesse lösen Antonio und die Alte aus. Besonders die Gestalt der Alten ist geheimnisumwittert und wirkt mystifizierend; sie hat zugleich sehr realistische und märchenhafte Züge, man weiss nicht, ob man sie als Wahnsinnige oder als Hexe, als Quacksalberin oder einfach als schrulliges, aber gutmutiges altes Mütterchen ansehen soll. Hier ist ein Beispiel fUr die beliebte Technik Hoffmanns, eine Gestalt zunächst 'verhüllt' auftreten zu lassen; erst im Verlauf der weiteren Handlung tritt allmählich das wahre Wesen der Person zutage. Der Leser ahnt jedoch lange, bevor er Uber die Vergangenheit der beiden Gestalten Näheres erfährt, dass sie nicht das sind, was sie scheinen, und dass eine besondere Beziehung zwischen ihnen bestehen muss: jedes Mal, wenn Antonio in Bedrängnis gerät, ist die Alte wie ein guter Geist zur Stelle; auch wird angedeutet, dass Antonio sich auf unerklärliche Weise zu ihr hingezogen fUhlt. Die Phantasie des Lesers wird in diesem Fall sowohl durch den Kontrast des seltsamen Paares als auch durch das Missverhältnis zwischen ihrem Sein und Scheinen angeregt. Eine solche Mystifikation bei der Personengestaltung ist ein von Hoffmann oft benutztes Mittel, die Einbildungskraft des Lesers von vornherein zu fesseln. In die Reihe der interessanten, zunächst'verhüllten'Gestalten gehören u. a. Rat Krespel, Salvator Rosa alias Signor Formica, der Baron von B., Archivarius Lindhorst sowie die übrigen 'Zauberer' aus den Märchen. Fast genau in der Mitte der Erzählung begegnen Antonio und Annunziata einander und sinken beim gegenseitigen Anblick ohnmächtig zu Boden. Bei diesem 'Signal' weiss der Leser, dass ihre Geschichte im Mittelpunkt steht. Begleitet wird dieses Wissen von der Ahnung, dass ihre Liebe unerfüllt bleiben wird. Es gibt zu viele, keineswegs grelle, sondern eher subtile Anzeichen, die den Leser alarmieren und auf einen unglücklichen Ausgang hinweisen. Besonders mystifizierend wirken die orakelhaften Äusserungen der Alten und die Symbolik der ersten Meeresszene, die den Einzug des neuen Dogen Marino Falieri in Venedig beschreibt. In glänzender Pracht nähert sich die Barke des Dogen der im Abendrot leuchtenden Stadt. Aber plötzlich verwandeln sich die glühenden Strahlen der Abendsonne in einen blutigen Schein, und die vorher ruhigen Wellen steigen wie zischende
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Ungeheuer empor, um alles zu verschlingen. Antonio gelingt es, den Dogen in einem kleinen Kahn sicher ans Land zu bringen, aber in der grossen Verwirrung wird der neue Herr Venedigs ausgerechnet an der Stelle in die Kirche geführt, 'wo gewöhnliche Missetäter hingerichtet zu werden pflegten'. Der Amtsantritt des Dogen steht also unter zwei bösen Vorzeichen, während Antonios Schicksal eine Wendung zum Guten zu nehmen scheint. Der Leser aber erinnert sich, wie die Alte ihm, bevor e r sich zur Rettung des Dogen anschickte, zugerufen hatte, nur noch einmal zu rudern und dann nicht mehr. Man findet sich in stete Alarmbereitschaft versetzt, muss sich b e sorgt fragen, ob die Alte wirklich künftiges Unglück voraussieht oder ob ihre rätselhaften Sprüche nur i h r e r Wunderlichkeit zuzuschreiben sind. Zumal die Widersprüchlichkeit ihrer Prophezeihungen beschäftigt die Phantasie: 'Rudere wacker zu, mein kühner Schiffer, rudere wacker zu', lautet ihr nächster Spruch, in dem Antonio 'Rosen, Myrthen und ein Liebchen mit lilienweissen Armen' verheissen w e r den. Befremdend wirkt nur, d a s s jene Rosen aus Blut entspriessen sollen; man wird daran erinnert, wie vorher aus den schönen Abendsonnenstrahlen ein Blutschein wurde. Es scheint aber, als sollte die Alte mit ihren letzten Worten recht behalten: kein Unglück geschieht während d e r Gondelfahrt, als Antonio das Dogenpaar nach San Giorgo Maggiore hinüberrudert. Die Szene steht in starkem Kontrast zur ersten Meeresszene; das Bild mutet heiter und idyllisch an mit dem prächtigen Panorama Venedigs im Hintergrund, den sanft plätschernden Wellen und der von ferne herüberklingenden Musik. Mit diesem Lied jedoch dringt wiederum etwas Absonderliches, ähnlich wie die verwirrenden Sprüche der Alten, in die Erzählung ein. Die Musik wirkt fast überirdisch, man weiss nicht, woher sie kommt, sie fängt plötzlich wie der Wind zu 'säuseln' an und e r s t i r b t ebenso plötzlich 'wie im Hauch des Windes'. Auffällig ist ferner, dass der Gesang anscheinend weder vom alten Falieri noch den beiden Gondolieren, sondern nur von Annunziata vernommen wird. Nur auf sie übt e r eine magische Wirkung aus, so dass sie, die sonst unbefangen und heiter scheint, 'jetzt sprachlos, den tränenschweren Blick in ein f e r n e s Land gerichtet, wie im T r a u me . . . stand'. Die schwermütige T r a u e r Annunziatas und die optimistischen Voraussagen d e r Alten halten sich an diesem Punkt die Waage; man kann hier mit Sicherheit noch nichts über den Ausgang d e r Geschichte sagen, sondern nur Vermutungen anstellen und gespannt die Lösung des Konfliktes erwarten. Der letzte Teil behandelt die Verschwörung. Damit führt d e r E r zähler ein neues Spannimgselement ein und lenkt das Interesse des L e s e r s zeitweilig vom Schicksal des Liebespaares ab. Nach der Hinrichtung Falieris jedoch scheint einer Verbindving der Liebenden nichts m e h r im Wege zu stehen, und der Leser hofft auf ein Gelingen der Flucht. Nachts treffen sie sich an der Brücke, man denkt an M a r garethas Prophezeihung, dass die Myrthen e r s t um Mitternacht blühen, aber zugleich auch an die e r s t e Warnung, nur noch einmal zu rudern und dann nicht mehr. Welcher der beiden Sprüche wird sich erfüllen? Schon nach den ersten d r e i Sätzen kündigt sich das unglückliche Ende an: Wie sich in der e r s t e n Meeresszene die Sonne verfinsterte,
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so wird hier der Mondschein von dunklen Schatten ausgelöscht; dasselbe seltsame Sausen erfüllt die Luft, und wie damals aus dem Meer zischende Wellen wie Ungeheuer aufstiegen, so steigen jetzt schäumende Wellen wie Riesenarme empor, die die Liebenden samt der alten Margaretha in den Abgrund reissen. Die Mystifikation in 'Doge und Dogaresse' beruht also zum grossen Teil auf Momenten der Spannung, die durch die Technik einer allmählichen Enthüllung sowohl der Personen als auch der sachlichen Zusammenhänge, durch Kontrastwirkungen und durch symbolhaltige Vorbedeutungen erzeugt wird. Spannung ist jedoch nicht mit Mystifikation identisch; Spannung hält nur für die Dauer einer Erzählung an, während Mystifikation, wie sie Hoffmann versteht, eine weitergreifende Wirkung haben soll. Sie soll die Phantasie noch fUr längere Zeit beschäftigen, der Leser soll nicht 'abgefunden nach Hause gehen', sondern das Verlangen spüren, 'noch einmal hinter die Gardinen zu kucken', so wie es im Schluss von 'Doge und Dogaresse' demonstriert wird: die beiden Freunde, denen der Fremde die Geschichte erzählt hat, verlassen daraufhin nicht befriedigt die Kunstausstellung, sondern betrachten ganz verwundert aufs neue das Bild. Vorher hatten sie beim Anblick des Bildes vor allem 'Genuss' empfunden und nur die Gestalten im Vordergrund gesehen. Jetzt dagegen sind sie imstande, auch die im Hintergrunde drohende 'feindliche Macht' wahrzunehmen, die 'Tod und Verderben' bringt. Sie sind zugleich verwundert und von Schauern erfüllt. Auch in dieser Erzählung bleibt wie in 'Rat Krespel', im 'Fräulein von Scuderi' und zahlreichen anderen Geschichten eine befremdende und zugleich faszinierende Undurchsichtigkeit zurück. Warum müssen Antonio und Annunziata ertrinken? Wie ist die Folge von Schicksalsschlägen zu erklären, die Antonios Familie trifft und auslöscht? - Diese Art der Mystifikation ist mehr als ein geistreiches oder scherzhaftes Spiel, das der Autor mit seinem Leser treibt (z. B. im'Artushof', 'Fragment aus dem Leben dreier Freunde', 'Der Baron von B . ' ) , sondern es offenbart sich darin Hoffmanns im Grunde tragische Weltanschauung, seine Vorstellung, dass eine dunkle unerforschliche Macht das Leben des Menschen willkürlich lenkt und ihm ein Schicksal vorzeichnet, dem er trotz aller erdenklichen Anstrengungen nicht entfliehen kann. (17) ANMERKUNGEN ( 1 ) Vgl. dazu die Bemerkungen Uber Kleist, S. 105; S. 531; S. 928. ( 2 ) Hermann Pongs, Das Bild in der Dichtung, Band II. Marburg 1939, S. 174. ( 3 ) Hans Mayer, a. a. O., S. 208. Vgl. dazu auch v. Schenk, der Hoffmann den Drang zur Gestaltung 'um der Freude am Vollendeten willen' abspricht und an anderer Stelle Hoffmanns Formunsicherheit betont. Ernst von Schenck, E. T. A. Hoffmann. Ein Kampf um das Bild des Menschen. Berlin 1939, S. 406; S. 666. ( 4 ) Schon in seiner ersten veröffentlichten Erzählung, dem'Ritter
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Gluck', bezeichnet Hoffmann Wahrheit a l s Affinität mit dem Ewigen, Unaussprechlichen. (I, S. 18) ( 5 ) Vgl. dazu H. Daemmrich: 'Der Begriff der poetischen Wahrheit ist bei Hoffmann ein Relationsbegriff, der sich aus unterscheidbaren Elementen gliedert, aber keinen eindeutig scharf bestimmbaren Sachverhalt u m r e i s s t ' . H. Daemmrich, a. a. O., S. 655. ( 6 ) Ricci bemerkt: ' . . . il a l'oeil du peintre et du caricaturiste; observateur exercé, il reconstitue la réalité au point de pouvoir la d e s s i n e r ; et il bâtit les personnages et les décors de ses r é c i t s a vec la même précision, si bien qu'il a pu i l l u s t r e r certaines de ses oeuvres. Tout, chez lui, a un a i r de vie, de vraisemblance'. Jean F. A. Ricci, E. T. A. Hoffmann. L'homme et l'oeuvre. P a r i s 1947, S. 537. ( 7 ) Vgl. dazu u. a. das Kreisler-Kapitel bei Korff, S. 544ff ; H. Daemmrich, E. T. A. Hoffmann's Tragic Heroes. Germanie Review XLV, 1970, S. 94-104. ( 8 ) H. A. Korff, a . a . O . , S. 607/608. ( 9 ) In der Hoffmann-Literatur finden sich mehrfach Hinweise auf dramatische Elemente in Hoffmanns Erzählungen. Vgl. dazu Richard v. Schaukai, a. a. O., S. 252: 'Hoffmann aber . . . ist dort, wo e r sein Tiefstes, sein Persönlichstes gestaltet, . . . durchaus dramatisch'. Victor T e r r a s schreibt: 'Hoffmanns Erzählungen sind nicht nur weitgehend dramatisch angelegt, sondern beruhen in i h r e r Durchführung zu einem guten Teil auf theatralischen Effekten'. In: E. T. A. Hoffmanns polyphonische Erzählkunst, German Quarterly 39, 1966, S. 562. Ernst von Schenck widmet dem Dramatischen in Hoffmanns Werk ein ganzes Kapitel. Im Mittelpunkt seiner Untersuchung steht jedoch die 'Metaphysik des Dramatischen' ; e r fuhrt die dramatischen E l e mente auf die tragische Lebenshaltung des Dichters zurtlck, geht aber auf formal-technische Phänomene des dramatischen Erzählens nicht ein. E . v . Schenck, a. a. O., S. 455-525. (10) H.A. Korff, a. a. O., S.615. (11) Otto Friedrich Bollnow, Das Wesen der Stimmungen. 2. Aufl., Frankfurt a. Main 1943, S. 19ff. Bollnow lehnt sich bei seiner Definition eng an Heidegger an, der Stimmung oder Gestimmtsein a l s 'Befindlichkeit' bezeichnet. Martin Heidegger, Sein und Zeit. 10. Aufl., Tübingen 1963, S.134ff. (12) Wenn in der Hoffmann-Forschung häufig vom 'Realismus' Hoffmanns die Rede ist, so darf d i e s e r Begriff nicht auf die stiltechnische Verfahrensweise bezogen werden, sondern nur auf Hoffmanns Inter e s s e fllr die Darstellung einer genau fixierbaren, alltäglichen Wirklichkeit im Gegensatz zur Märchenwelt. ( 13 ) Nach Wolfgang Kaysers Definition fiele die KUfnergeschichte in die Kategorie 'Idylle', da Figuren und Geschehen in dieser E r z ä h lung völlig vom Raum her bestimmt sind und ihre Bedeutung als Ausdruck des Raumes gewinnen. Wolfgang Kayser, Das sprachliche Kunstwerk. Bern 1965, S. 355. (14) Hermann Pongs, a . a . O . , Teil II, S. 170ff. ( 15 ) J . Ricci bemerkt dazu: " . . . il souhaite que subsiste toujours
63 un coin d'ombre où le lecteur puisse rêver à sa guise, compléter le récit au gré de son imagination'. Jean F. A. Ricci, Le fantastique dans l'oeuvre d'E. T. A. Hoffmann. In: Etudes Germaniques 6, 1951, S. 105. ( 16 ) Dadurch, dass der Anstoss zu der Erzählung von der Wirklichkeit ausgeht, ist die erste Bedingung serapiontischen Erzählens e r füllt. Maassen hat nachgewiesen, dass Hoffmann tatsächlich durch ein Bild Karl Wilhelm Kolbes mit dem Titel 'Doge und Dogaresse' zu der Erzählung angeregt wurde. Vgl. dazu Maassen-Ausgabe, Band VI, S. XL VI. ( 17 ) In seinem Artikel ' Why Read E. T. A. Hoffmann?' stellt Rene' Wellek Hoffmann in eine Reihe mit Dostojevsky, Kafka, und Becket, da aus seinen Werken dasselbe Bewusstsein der Absurdität des Lebens und der Gefährdung der menschlichen Existenz spreche wie aus jener Richtung der modernen Literatur. Vgl. dazu auch die Abhandlung Uber 'E. T. A. Hoffmann's Tragic Heroes' von H.Daemmrich, a . a . O .
III DIE GESTALTUNG DES RAHMENS
Nachdem im vorhergehenden Teil die Hauptmerkmale serapiontischen Erzählens erläutert und auf ihre Verwirklichung in der Erzählpraxis untersucht worden sind, geht es hier um die Frage, welche Bedeutung das serapiontische Prinzip für den Zyklus als Ganzes einnimmt. Ist das serapiontische Prinzip das Mittel der Verknüpfung, das wie ein roter Faden die verschiedenen Erzählungen zusammenhält, oder anders gefragt, beruht die Einheit des Zyklus auf dem serapiontischen Prinzip? Um diese Frage zu beantworten, muss zunächst geklärt werden, ob der Zyklus der 'Serapions-Brüder' überhaupt als geschlossenes Werk gelten kann. Dagegen spricht die Tatsache, dass die meisten Erzählungen schon vorher in diversen Zeitschriften, Frauentaschenbtlchern und Almanachen erschienen waren. Hoffmann griff bei der Zusammenstellung des Zyklus auf sämtliche Erzählungen bis zum Jahre 1813 zurück, sofern sie noch nicht in die Sammelbände der 'Fantasie- und Nacht stücke' Eingang gefunden hatten. Dieser weitreichende Umfang lässt es von vornherein bedenklich erscheinen, die Einheit in der Thematik suchen zu wollen. Die 'Serapions-Brüder' enthalten in bunter Abwechslung KUnstlergeschichten, Liebesgeschichten, Spukgeschichten, Kindermärchen, Charakterskizzen und essayartige Stücke. In vielen Erzählungen überschneiden sich mehrere Themen. Ein Vergleich mit den vorher erschienenen Erzählungssammlungen zeigt, dass nur die 'Nachtstucke' eine starke thematische Geschlossenheit aufweisen: Hauptthema ist das Abartige und Dämonische in der menschlichen Natur. Die 'Serapions-Brüder' dagegen stellen ein Konglomerat aller Themen dar, die Hoffmann während seines literarischen Schaffens beschäftigten. Im Nachwort der Winkler-Ausgabe macht Müller-Seidel den Versuch, die Einheit des Zyklus auf ganz allgemeine Konzepte zurückzuführen. So sieht er z.B. in der Gesellschaftskritik ein wesentliches verbindendes Element. Es ist natürlich richtig, dass Hoffmann seiner Unzufriedenheit mit gesellschaftlichen Missständen in seinem Werk Ausdruck verlieh und dass seine Kritik oft die Form der Karikatur und Satire annahm. (Man denke etwa an seine Vorliebe, Philistertypen zu ironisieren). Aber in der ganzen Sammlung spielt das gesellschaftskritische Element in nur knapp einem Viertel aller Erzählungen eine (zumeist nur untergeordnete) Rolle, so dass es abwegig erscheint, darin ein wichtiges verbindendes Thema erblicken zu wollen. (1) Ausserdem meint Müller-Seidel, dass die Krankheit in vielfältigen
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Formen, vor allem die Krankheit des Geistes und der Seele, eines d e r Leitmotive des ganzen Zyklus sei (S. 1010). Eine Analyse e r gibt, dass etwa die Hälfte der Erzählungen in irgendeiner Weise das Phänomen der seelischen oder geistigen Krankheit behandelt. (2 ) In nur wenigen Werken jedoch ( z . B. 'Der Einsiedler Serapion', 'Die Bergwerke zu Falun' und 'Der Kampf der Sänger') ist die Krankheit das Hauptmotiv, in den meisten ist sie nur eine Randerscheinung und ä u s s e r t sich in einer Art Spleen oder Schrulligkeit, die eher komisch a l s grauenerregend wirkt ( z. B. in 'Der Baron von B . ' , ' F r a g ment aus dem Leben d r e i e r Freunde', 'Der Artushof ). Hoffmanns Interesse an der Darstellung seelisch und geistig kranker Naturen bekundet sich viel s t ä r k e r in den 'NachtstUcken' und den 'Elexieren des Teufels' als in den 'Serapions-Brtldern'. Gerade in dieser Sammlung liegt der Schwerpunkt nicht auf den Wahnsinns- und Schauergeschichten, - diese werden von den SerapionsbrUdern streng m i s s billigt - sondern es werden Erzählungen bevorzugt, die die heitere Stimmung des Serapionskreises nicht erschüttern. (3 ) Das beherrschende Leitmotiv sieht Müller-Seidel in der 'Erkenntnis des eigenen Selbst', die mit Kunsterkenntnis zusammenfällt (S. 1020). Es finden sich im ganzen Zyklus jedoch nur fünf Erzählungen, auf die diese Behauptung ( zum Teil n u r bedingt) zutrifft: 'Rat K r e s pel', 'Die Fermate', 'Der Kampf d e r Sänger', 'Die Brautwahl'und 'Der Artushof'. In den Rahmengesprächen selbst ist kein einziges Mal die Rede davon, d a s s Erkenntnis des Menschen und Kunsterkennen einander bedingen. E s m u s s ein krampfhaftes und fruchtloses Bemühen bleiben, die Einheit d e r 'Serapions-BrUder' in einer durchgehenden Thematik zu suchen, da diese Sammlung, im Gegensatz etwa zu Goethes 'Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten' und Kell e r s 'Sinngedicht', nicht als geschlossenes Ganzes konzipiert wurde. Ebensowenig erfolgversprechend scheint es, die Einheit des Zyklus von rein formalen kompositorischen Kriterien her bestimmen zu wollen. Der Zyklus enthält vier Bände, die jeweils aus zwei Abschnitten mit d r e i oder vier Erzählungen bestehen. Nur der e r s t e Band zeichnet sich durch eine ungewöhnliche Geschlossenheit und Klarheit der Anlage aus. Deutlich erkennbar sind ein gemeinsames Thema in den Erzählungen (das Verhältnis von Wahn und Wirklichkeit), ein wohl ausgewogenes Verhältnis zwischen Erzählteilen und Gesprächsteilen und eine allmähliche Steigerung des Gefühls s e r a piontischer Verbundenheit. Durch geschickte Zusammenstellung e r reicht Hoffmann eine k l a r e Profilierung mit d r e i Höhepunkten: den ersten Höhepunkt bildet die Gründung des Serapionsbundes, der zweite liegt am Ende des e r s t e n Teils und findet seinen Ausdruck in dem schönen harmonischen Gesang der Serapionsbruder, der dritte Höhepunkt ist das abschliessende Märchen 'Nussknacker und Mausekönig', womit Hoffmann die besondere Bedeutung des Märchens in seiner Kunstauffassung unterstreicht. Zweifellos hat Hoffmann in den drei folgenden Bänden eine Analogie des Aufbaus e r s t r e b t . Der zweite und vierte Band schliessen wie der e r s t e mit einem Märchen. Da aber die ursprünglich für den dritten Band vorgesehene 'Königsbraut' zum Erscheinungstermin nicht f e r t i g gestellt war, wird das Kompositionsprinzip der Parallelität empfind-
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lieh gestört. Weiterhin v e r m i s s t man in den letzten Bänden eine Anordnung der Erzählungen nach inneren Gesetzmässigkeiten. M. Thalmann glaubt, dass sich im Zyklus ein durchgehendes Ordnungsschema erkennen lasse. ( 4 ) J e d e r Band, so behauptet sie, beginne mit einer Erzählung aus d e r Ktlnstlerwelt und ende mit einem Märchen. Die Abweichung des dritten Bandes e r k l ä r t sie damit, dass die Erzählung 'Datura fastuosa', die den Abschluss bilden sollte, nicht zustande kam. 'Datura fastuosa' ist jedoch kein Märchen, und die einleitende Erzählung 'Nachricht aus dem Leben eines bekannten Mannes' ist keine Ktlnstlergeschichte. Ausserdem sieht Thalmann eine 'innere Bindung' zwischen Erzählungen an tektonisch paralleler Stelle (z. B. 'Die Bergwerke zu Falun', 'Meister Martin und seine Gesellen', 'Das Fräulein von Scuderi' und ' V a m p i r i s m u s ' ) . Die These eines inneren Bezuges erscheint recht willkürlich, zumal in dem erwähnten Beispiel die Ktlnstlergeschichte ( ' D a s Fräulein von Scuderi') dem (geplanten) Märchen nicht unmittelbar vorausgeht, wie e s nach Thalmanns Theorie der Fall sein mtlsste. Die Notwendigkeit, an bestimmter Stelle eine bestimmte Erzählung anzusetzen, besteht nur selten; meistens ist es ohne weiteres möglich, die Reihenfolge der Erzählungen beliebig zu verändern. Schliesslich macht sich, b e sonders in den zwei letzten Bänden, ein Mangel an Substanz b e m e r k b a r . Man gewinnt den Eindruck, dass Hoffmann das Material ausging und dass e r Banalitäten wie 'Die ästhetische Teegesellschaft', 'Nachricht aus dem Leben eines bekannten Mannes' und den Zacharias Werner-Exkurs, anstatt sie in die Rahmengespräche zu integrieren, nur darum in die Sammlung aufnahm, um quantitativ sein Soll zu erfüllen, das d r e i oder vier Beiträge für jeden Teil verlangte. Auch die verbindenden Rahmengespräche haben nicht Uberall mehr d a s selbe hohe Niveau wie im e r s t e n Band. Gegen Ende ist deutlich der Wunsch zu erkennen, die Pausen zwischen zwei Erzählungen möglichst schnell zu überbrücken. Die Übergänge wirken zum Teil abrupt und f o r c i e r t ; d e r Zwang, das einmal begonnene Verfahren des Rahmenzyklus fortsetzen zu müssen, wird oft nur notdürftig verschleiert. Aus diesen Gründen scheint e s verfehlt, der formalen Anordnung des Zyklus zuviel Bedeutung zuzumessen. Wenn man darauf besteht, die 'Serapions-Bruder' als ein in sich geschlossenes, einheitliches Ganzes zu betrachten, dann darf man diese Einheit sicher nicht in t h e matischen und rein äusserlichen Formprinzipien suchen. Zurück also zum Ausgangspunkt dieses Kapitels, zur Frage n ä m lich, ob die Einheit des Zyklus auf dem serapiontischen Prinzip b e ruht. Sind es die Verpflichtung, 'sich niemals mit schlechtem Machwerk zu quälen', die Schärfung des Formbewusstseins durch gegenseitige Kritik und die sich d a r a u s ergebenden formalästhetischen E r kenntnisse, die dem Zyklus sein ihn bestimmendes Gepräge und s e i nen bei a l l e r Heterogenität der einzelnen Teile doch einheitlichen Charakter geben? Die Antwort auf diese Frage kann nur nein lauten. Das serapiontische Prinzip ist allenfalls als Formel zu v e r stehen sowohl ftlr die beabsichtigte Wirkung a l s auch f ü r bestimmte d a r s t e l l e r i s c h e Mittel des Erzählens und a l s solche viel zu abstrakt, um dem Zyklus als tragendes Gerüst zu dienen. Die sich so häufig wiederholenden stereotypen Mahnungen der Serapionsbruder, ihre
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Werke in wahrhaft oder echt serapiontischer Weise abzufassen, lenken in i h r e r Vordergrtlndigkeit ab vom eigentlich tragenden und die Teile des Zyklus verbindenden Element, dem Ton nämlich oder der Atmosphäre der Rahmenunterhaltungen. ( 5 ) Was sich dem Leser d e r Rahmenteile fest einprägt, ist die angeregte, heitere Stimmung d e r Serapionsabende, die Ungezwungenheit und Lebhaftigkeit der Unterhaltung. Während die Gespräche selbst, die Themen, Äusserungen und Ansichten Uber kunsttheoretische Probleme leicht in V e r gessenheit geraten, durchdringt die Herzlichkeit, der sprühende Geist der Zusammenkünfte wie ein konstanter Grundton die Rahmenteile und hinterlässt einen bleibenden Eindruck; man hat das Gefühl, ein in seinen Teilen zwar ungleichartiges, aber doch in sich z u s a m menhängendes Werk vor sich zu haben. Die Essenz der Serapionsabende wird von Hoffmann mit dem B e griff 'Gemütlichkeit' gekennzeichnet. Er versteht darunter nicht nur das Atmosphärische im Sinne des Unbeschwerten und Anheimelnden, sondern auch und vor allem das Gemütvolle oder Gemüthafte, die innere Gesinnung der Serapionsfreunde. Auch in dieser Hinsicht ist d e r Einsiedler Serapion den Freunden ein nachstrebenswertes Vorbild, da 'reinste, unbefangenste Gemütlichkeit' ihn auszeichneten. Gemütlichkeit ist d e r Ausdruck innerer Wärme und Herzlichkeit, gegenseitigen Vertrauens und wahrhafter Toleranz und Anspruchslosigkeit. Der Begriff der Anspruchslosigkeit, von Hoffmann im Sinne von 'modestia' gebraucht, taucht ebenso wie d e r Begriff 'Gemütlichkeit' an besonders exponierten Stellen der 'Serapions-BrUder' leitmotivisch auf. Spielerisch verflicht Hoffmann beide Begriffe im l e t z ten Satz des Vorworts, wo e r den L e s e r bittet, 'ohne weitere Ansprüche gemütlich das hinzunehmen, was ihm anspruchslos aus t r e u e m Gemüt dargeboten wird'. In seinem Schlusswort rühmt Theodor die gemütliche Anspruchslosigkeit, die das e r s t e Bedingnis allen Dichtens und Trachtens sei (S. 995). Anlässlich der Aufnahme Sylvest e r s in den Serapionsklub spricht Ottmar von der Anspruchslosigkeit, die 'das Eigentümlichste der wahren Dichternatur sein möchte' (S. 260). Eine Voraussetzung dafür, dass sich die vielgerühmte Gemütlichkeit der Serapionsabende entfalten kann, ist die Gleichgesinntheit der Freunde. Wie Hoffmann im Vorwort bemerkt, sollen die Unterhaltungen der Serapionsbruder 'das t r e u e Bild der Gleichgesinnten' aufstellen. Diese Gleichgesinntheit ist bei aller Verschiedenheit der Temperamente gewährleistet durch das literarische Inter e s s e d e r Freunde, ihre Aufgeschlossenheit allen Bereichen des Lebens gegenüber, ihren Widerwillen gegen Zwang, Routine und jegliche Form des ' P h i l i s t r i s m u s ' und nicht zuletzt durch ihre F r e u de an lebhafter Geselligkeit. (6 ) Es ist Hoffmanns grosse Leistung, d a s s e r bei der Gestaltung der Rahmenteile Gemütlichkeit und Gleichgesinntheit nicht nur p r o g r a m matisch konstatiert, sondern dieses abstrakte Konzept dann auch in serapiontischer Weise veranschaulicht. Bei dem starken Umfang des Zyklus und der naturgemässen Handlungsarmut der Rahmenteile bestand die Gefahr der Wiederholung und Monotonie. Hoffmann b e gegnet d i e s e r Gefahr, indem e r das Gegenwartsgeschehen nach Möglichkeit v a r i i e r t . So sind z. B. nicht bei jedem Treffen alle sechs
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Serapionsbruder anwesend. Sylvester und Vinzenz werden erst bei der vierten Zusammenkunft in den Verein aufgenommen, nachdem man im vorangehenden Abschnitt lange und ausführlich Uber ihre Eignung zum Serapionsbruder diskutiert hat. Die Aufnahme eines anderen gemeinsamen Bekannten dagegen, Leander, wird fast einmutig abgelehnt, da er die Voraussetzung der Anspruchslosigkeit nicht erfüllt. Wahrend die Versammlungen gewöhnlich in Theodors Wohnung bei knisterndem Kaminfeuer und aromatisch dampfendem Punsch stattfinden, treffen sich die Freunde am fünften Serapionsabend in einem Gartenrestaurant vor der Stadt. Nur Lothar, Ottmar und der gerade von einer schweren Krankheit genesene Theodor sind anwesend. Als nun Ottmar seine Erzählung vom 'Unheimlichen Gast' vorliest, springt plötzlich die Tür des Gartensaals dröhnend auf, und eine dunkle, verhüllte Gestalt naht sich mit unhörbaren Schritten. Den erschrockenen Freunden stockt der Atem, und erst als der volle Schein der Lampe auf den Unbekannten fällt, erkennen sie ihren Serapionsbruder Cyprian, der gerade von einer Geschäftsreise zurückgekehrt ist und sich diesen zweifelhaften Scherz erlaubt. Auch der sechste Serapionsabend findet im selben Gartenrestaurant statt, wo man Sylvester als erfolgreichen Verfasser eines Theaterstücks feiert. Die Gespräche der Freunde haben keine ausschliesslich literarische Tendenz. Man unterhält sich etwa Uber gemeinsame Erlebnisse und gemeinsame Bekannte, wie z.B. Zacharias Werner, Uber die Phänomene des Somnambulismus und des physiologischen Magnetismus, Uber Teufel und Vampire, Uber den Unterschied zwischen französischem Esprit und deutschem Humor, ja selbst Uber das Wetter. Sehr häufig ist von Musik die Rede, vom Wesen der Oper, von alter Kirchenmusik und den Kompositionen zeitgenössischer Meister, und zweimal enden die Serapionsabende mit einem vergnügten musikalischen 'happening'. Einen wichtigen Beitrag zur Differenzierung der Rahmenteile schafft Hoffmann, indem er den Gesprächsteilnehmern unverkennbare individuelle Züge verleiht. Theodor ist bei den meisten Zusammenkünften der liebenswürdige Gastgeber; wenn die Diskussionen allzu erregt, die Freunde allzu erhitzt und übermütig werden, ist er es zumeist, der vermittelnd oder beschwichtigend eingreift. Er interessiert sich besonders für Musik, komponiert auch selbst und träumt davon, eine romantische Oper zu schreiben. Cyprian hat eine besondere Vorliebe für das Düstere und Abartige in der menschlichen Natur. Oft wirkt er zerstreut, starrt geistesabwesend vor sich hin oder zum Fenster hinaus, weil das tragische Schicksal eines Menschen oder ein unheimliches, entsetzliches Ereignis seine Einbildungskraft gepackt halten. Nur den vereinten Anstrengungen der übrigen gelingt es dann, den 'geisterseherischen' Cyprian auf den Boden der Wirklichkeit zurückzuholen. In Lothar ist Hoffmann eine besonders farbig-plastische Figur geraten. Selten sieht man ihn in ausgeglichen-neutraler Gemütsverfassung. Entweder ist er missmutig und sauertöpfisch, so dass niemand ihm etwas recht machen kann, oder er sprudelt Uber vor guter Laune und skurrilen Einfällen. Er gerät leicht in Harnisch, bildet mit Vorliebe die Opposition, ist aber andererseits treuherzigbieder, fast kindlich in seinem Eifer zu gefallen. Bezeichnenderwei-
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se ist er es, der die beiden Kindermärchen erzählt. Der Arzt Vinzenz ist ein unsteter, exzentrischer Geist. Sein wie 'Brilliantfeuer auflodernder Humor', seine Übermütige Jovialität, seine witzigen Formulierungen sind eine nie versiegende Quelle der Komik. Ohne ihn und Lothar wären die Unterhaltungen zwar weniger kontrovers, dafür aber auch fader und glanzloser. Im Gegensatz zu ihnen ist Sylvester meist still und in sich gekehrt. Er lebt gewöhnlich zurückgezogen auf dem Lande und kommt nur bei seltenen Anlässen in die Grossstadt. Wegen seiner gleichbleibenden Freundlichkeit und seiner 'inneren Poesie' und Anspruchslosigkeit wird er von allen geschätzt und geliebt. Einzig Ottmar entbehrt eines scharfen Profils; er ist zu blass geraten, als dass man sich von ihm eine feste Vorstellung machen könnte. Eine solche, hier nur kurz angedeutete Verschiedenartigkeit der Charaktere ist die Voraussetzung dafür, dass sich ein lebhafter Gedankenaustausch vollziehen kann, dass voneinander abweichende, oft sogar gegensätzliche Meinungen geäussert werden, die dann die interessantesten Diskussionen auslösen. Es würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen, wollte man Hoffmanns Handhabung des Kunstmittels 'Gespräch' in den 'SerapionsBrüdern' im Einzelnen untersuchen. ( 7) Hier sollte es nur darum gehen, aufzuzeigen, wodurch der Eindruck entsteht, eine Atmosphäre angeregter Geselligkeit und Gemütlichkeit durchziehe den ganzen Zyklus. Das hervorstechende charakteristische Merkmal der Rahmengespräche ist ihr leichter, ungekünstelter Plauderstil. Die Unterhaltungen erwecken nicht den Eindruck, sie seien geplant und auf ein vorgegebenes Ziel ausgerichtet, zu dem stufenweise hingeführt werde. Der Ausgang eines Gespräches ist nie mit Bestimmtheit vorauszusagen, ein Thema wird selten 'gründlich' ausgeschöpft. Immer wieder kann man beobachten, wie die Unterhaltung eine völlig unvorhergesehene, 'nicht-konsequente' Richtving einschlägt. Im Anschluss an den ' Zusammenhang der Dinge' erörtern die Freunde Euchars Technik, historische Bräuche, die Lebensgewohnheiten eines fremden Volkes, wahre geschichtliche Begebenheiten usw. zum Zwecke serapiontischer Lebendigkeit in eine Erzählung einzubeziehen. Als rühmliches Vorbild in dieser Beziehung wird Walter Scott genannt; es folgen ein paar Bemerkungen über seine Romane, besonders Uber die darin erscheinenden Frauengestalten. Dann springt das Gespräch Uber auf Lord Byron, und jemand erwähnt dessen Erzählung 'Der Vampir'. Sofort entspinnt sich eine lebhafte Unterhaltung Uber das Phänomen des Vampirismus, die schliesslich in der Streitfrage gipfelt, ob es berechtigt sei, das Grauenhafte in den Mittelpunkt einer Dichtung zu stellen. Die kurze Nachskizzierung des Rahmengespräches zeigt, dass sich in seinem Verlauf ein eklatanter Themawechsel vollzogen hat: anfangs ging es um das geschickte und effektvolle B e nutzen bekannter, nachweisbarer historischer Tatsachen, am Ende um den Reiz des Unerklärlichen und Schauerlich-Gespensterhaften, also das genaue Gegenteil. Dieses 'Treibenlassen' des Gesprächs ist jedoch nicht so zufällig und ungewollt, wie es zunächst den Anschein hat. (In dem eben erwähnten Beispiel leitet Hoffmann vom Realen zum Phantastischen über: die Unterhaltung Uber die sagenhaften Vampire bildet den Auftakt zu Cyprians Geschichte 'Vampi-
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r i s m u s ' ) . Hoffmann beherrscht aber so meisterhaft die Kunst der zwanglosen Gesprächswendung, dass der Leser gar nicht auf den Gedanken kommt, die Gespräche seien bewusst 'komponiert'. Gesprächsanstösse und Gesprächswendungen ergeben sich aus einer der vorgelesenen Erzählungen, aus dem besonderen Interesse eines der Anwesenden (Cyprian spricht sofort auf alles Abgründige und Grausige an, Theodor auf alles, was mit Musik zusammenhängt) oder aus einer ganz konkreten Situation der Erzählgegenwart. Im siebenten Abschnitt z. B. beginnt Cyprian die Unterhaltung mit einer Äusserung Uber das Wetter: 'Welch abscheuliches Wetter', sprach der zuletzt eintretende Cyprian, 'trotz meines Mantels bin ich beinahe ganz durchnässt und nicht viel fehlte, so hätte ein tüchtiger Windstoss mir den Hut entführt'. 'Und das', nahm Ottmar das Wort, 'und das wird lange so währen, denn unser Meteorolog, der, wie ihr wisst, in meiner Strasse wohnt, hat einen hellen freundlichen Spätherbst verkündigt'. 'Recht', sprach Vinzenz, 'ganz recht hast du mein Freund Ottmar. Wenn unser vortrefflicher Prophet seine Nachbaren damit tröstet, dass der Winter durchaus nicht strenge Kälte bringen, sondern ganz südlicher Natur sein würde, so läuft jeder erschrocken hin und kauft soviel Holz als er nur beherbergen kann. So ist aber der meteorologische Seher ein weiser hochbegabter Mann auf den man sich verlassen darf, wenn man nur jedesmal das Gegenteil von dem voraussetzt, was er verkündigt'. 'Mich', sprach Sylvester, 'mich machen diese Herbststurme, diese Herbstregen immer ganz unmutig, matt und krank und dir, Freund Theodor, glaube ich, geht es ebenso?' 'Allerdings', e r widerte Theodor, 'Diese Witterungs-' 'Herrliches', schrie Lothar dazwischen, 'herrliches geistreiches Beginnen unseres Serapions-Klubs! Vom Wetter sprechen wir wie die alten Muhmen am Kaffeetisch!' 'Ich weiss nicht', nahm Ottmar das Wort, 'warum wir nicht vom Wetter sprechen sollen? . . . (S. 757) Nichts wirkt unter den gegebenen Umständen naturlicher als ein paar Bemerkungen Uber das Wetter. Sie signalisieren in diesem Fall keineswegs einen Mangel an Gesprächsstoff oder Verlegenheit, sondern die Vertrautheit von Menschen, die es nicht nötig haben, einander mit grossen Worten zu beeindrucken. Der Reiz des Gespräches liegt in der geistreichen Behandlung eines an sich banalen Themas. Lothars Einwurf ist ungerechtfertigt und wirkt provozierend, da die Bemerkungen der Freunde das Niveau eines Kaffeekränzchens weit Ubersteigen. Am Kaffeetisch 'der alten Muhmen' hätte Cyprians Äusserung wahrscheinlich eine lange Reihe von Schlechtwetteranek-
72 doten ausgelöst, ernst und gewichtig vorgetragen. Ottmars Erwiderung dagegen gibt der Konversation sogleich eine scherzhafte Wendung und jene leicht ironische Färbung, die viele Diskussionen der Serapionsbruder auszeichnet. Lothars gereizter Einspruch veranlasst dann die fällige Gesprächswendung: auf den nächsten Seiten folgt eine angeregte Erörterung Uber das Talent, geschickt ein Gespräch anzuknüpfen, und Uber die Kunst des gesellschaftlichen Gesprächs Uberhaupt. Obwohl die Serapionsbruder Übereingekommen waren, einander auf dichterische Mängel in ihren Werken aufmerksam zu machen, und aus der gegenseitigen Kritik zu lernen, ist nirgendwo in den Rahmenteilen eine didaktische Färbung zu spüren. Die Freunde halten zwar mit ihrer Zustimmung oder Ablehnung nicht zurück, in einzelnen Fällen werden sogar ausdrücklich Belehrungen erteilt (z. B. Ottmars Fehler, den ' Unheimlichen Gast' auf einen einzigen frappanten Moment aufzubauen), aber diese Einwände werden nicht besonders exponiert, sie erfolgen eher beiläufig. Nie nehmen die Argumente und selbst längere Monologe einen trockenen und lehrhaften Charakter an. Die Urteile Uber einzelne Erzählungen sind zum Teil vage und fluchtig, mitunter sogar nichtssagend, und man wünscht, Hoffmann wäre weniger eilig darüber hinweggegangen. Aber gerade die Regellosigkeit in den Werkbesprechungen und das Fehlen jeglicher didaktischer Tendenzen tragen zur Ungezwungenheit und Natürlichkeit der Rahmengespräche bei. ( 8 ) Bemerkenswert ist schliesslich noch der verhältnismässig breite Raum, den die Rahmengespräche einnehmen, was gleichbedeutend ist mit einer langen zeitlichen Ausdehnung der Gespräche. Der Leser gewinnt so den Eindruck, dass die Serapionsbruder sich Zeit lassen, dass ihnen ihre Unterhaltungen, selbst wenn sie nur Anekdoten erzählen oder alte Erinnerungen auffrischen, zumindest so wichtig sind wie die Erzählungen selbst. Hoffmann erreicht dadurch wie auch durch die scheinbare Zufälligkeit oder Absichtslosigkeit des Gesprächsverlaufs, dass die Funktionalität der Rahmenteile ganz in den Hintergrund tritt. Der Leser vergisst, dass der Rahmen nur zur Einkleidung schon vorhandener E r zählungen geschrieben wurde - ein so Uberzeugendes Eigenleben strahlen die Gespräche aus. Der aufrichtige, herzliche Ton der Unterhaltungen und die trotz mancher Spannung gleichbleibende heitere Stimmung der Serapionsabende sind die beiden Kräfte, die dem ganzen Zyklus Kontinuität und Stabilität geben. ( 9 ) ANMERKUNGEN ( 1 ) Im 'Artushof' und in der 'Brautwahl' kritisiert Hoffmann die Kunsteinstellung der bürgerlichen Mittelklasse, der Kaufleute vom Schlage eines Elias Roos oder Kommissionsrats Vosswinkel, die von der Kunst nur Erheiterung und Erholung vom ernsten Geschäft verlangen, für die Kunst lediglich ein käufliches Produkt und der Künstler ein weltfremder Narr ist. Im ' Zusammenhang der Dinge' und der 'ästhetischen Teegesellschaft' macht sich Hoffmann Uber die Kunstbegeisterung der vornehmen Gesellschaft lustig, die zwischen
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echter Kirnst und leerer Pathetik nicht zu unterscheiden vermag. 'Signor Formica' behandelt das Problem eines Künstlers, dem die Gesellschaft ihre Anerkennung versagt. Im 'fremden Kind' schliesslich verurteilt Hoffmann die Erziehungswerte der vornehmen Gesellschaft, die alle naturlichen Regungen und individuellen Anlagen unterdruckt. Das Problem des Verhältnisses zwischen Künstler und Gesellschaft wird in diesem Märchen nicht angeschnitten. Die relevantesten Beispiele für Hoffmanns oft scharfe und bittere Gesellschaftskritik finden sich nicht in den 'Serapions-Brudern', sondern in seinen Spätwerken 'Klein Zaches genannt Zinnober', 'Kater Murr' und 'Meister Floh'. (2 ) Das Thema der Krankheit spielt in den folgenden Erzählungen eine Rolle: 'Der Einsiedler Serapion', 'Fragment aus dem Leben dreier Freunde', 'Der Artushof', 'Die Bergwerke zu Falun', 'Der Kampf der Sänger', 'Spukgeschichte', 'Die Automate', 'Doge und Dogaresse', 'Der Baron von B . ' , ' Zacharias Werner', 'Vampirismus', 'Signor Formica' und 'Rat Krespel'. ( 3 ) L. Köhn befasst sich mit dieser Tendenz der 'Serapions-BrUder'. Er bemerkt im Vergleich zu früheren Werken ' eine Dämpfung und Distanzierung des Grausigen' und eine Lösung anstatt einer Katastrophe. Lothar Köhn: Vieldeutige Welt. Tübingen 1966, S. 117. ( 4 ) Marianne Thalmann: E. T. A. Hoffmanns 'Fräulein von Scuderi'. In: Monatshefte (Wisconsin) 41, 1949, S. 110. ( 5 ) Eingehend hat sich Lothar Köhn mit den Rahmenteilen der 'Serapions-BrUder' beschäftigt. Er bemerkt richtig, dass der 'Geist des Rahmens1 neben der Werkkritik das wichtigste Strukturelement des Zyklus ist. L. Köhn, a. a. O., S. 109ff. Vgl. dazu auch die Dissertation von Christel Schutz, Studien zur E r zählkunst E. T. A. Hoffmanns, Göttingen, 1955. ( 6 ) In dieser Hinsicht sind die Rahmenunterhaltungen dichterisches Zeugnis jener geselligen Lebenskunst, wie sie von den Romantikern in ihren theoretischen Abhandlungen so häufig proklamiert wird. Am Anfang von Schleiermachers 'Versuch einer Theorie des geselligen Betragens' heisst es: 'Freie, durch keinen äussern Zweck gebundene und bestimmte Geselligkeit wird von allen gebildeten Menschen als eins ihrer ersten und edelsten Bedürfnisse laut gefordert'. Besonders aufschlussreich sind auch seine Fragmente und Briefe, ebenfalls die Gespräche in Tiecks 'Phantasus'. (7 ) H. Daemmrich streift diesen Punkt; er stellt fest, dass das Gespräch durch Widerspruch kläre und zu grösserer Objektivität führe, aber nie zur erstarrten Dogmatik einer absoluten Erkenntnis. Erst im lebendigen Gespräch ergeben sich aus Widerspruch und wechselseitiger Spiegelung neue Perspektiven, die zu grösserer Einsicht führen. Horst Deammrich, a. a. O., S. 655. ( 8 ) Ganz negativ beurteilt J. Kunz die Rahmengespräche. Die gesellschaftliche Atmosphäre sei zu künstlich, schreibt er, zu substanzlosnichtig und zu eitel, als dass von da aus eine Begegnung mit den (Uberirdischen) Mächten möglich wäre. Die Gespräche spielten beunruhigt um seelische Vorgänge, die jenseits der Kontrolle des Bewusstseins verliefen. Die ablehnende Haltung Kunz' ist dadurch zu erklären, dass er
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Boccaccio und Goethe als einzig gültige Vorbilder akzeptiert. Er vermisst in den 'Serapions-Brüdern' die ethische Grundhaltung, das Bewältigen des Chaos und eine erkennbare Weltanschauung, die die 'Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten' auszeichnet. J. Kunz, Geschichte der deutschen Novelle. In: Deutsche Philologie im Aufriss, Berlin 1960, Spalte 1739ff. ( 9) Vgl. dazu auch L. Köhns Ausführungen Uber die Probleme des Rahmens. (Kapitel V) Er bezeichnet die Gemütlichkeit der Serapionsabende als feste Wirklichkeit, als 'die Basis ihres Daseins', zu der die Freunde immer wieder zurückkehren nach einem Aufenthalt in der fiktiven Welt der Erzählungen. Lothar Köhn, a. a. O., S. 118-124.
IV
DAS SERAPIONTISCHE PRINZIP UND CALLOTS MANIER
1. Callots Manier Nach den vorausgegangenen Untersuchungen zum Zyklus der 'Serapions-Brüder' gilt es festzustellen, welche Bedeutung dem serapiontischen Prinzip in Hoffmanns Gesamtwerk zukommt. Ist das serapiontische Prinzip die formelhafte Verkürzung für ein dichterisches Verfahren, das ausschliesslich für die Erzählungen der 'Serapionsbruder' Gültigkeit hat, oder ist es auch für andere Werke verbindlich? Hier interessieren besonders die 'Fantasiestucke in Callots Manier', da sich Hoffmann gerade in dieser Erzahlsammlung mehrfach Uber das Charakteristische seiner Kunst geäussert hat. Welches Verhältnis besteht zwischen Callots Manier und dem serapiontischen Prinzip? Handelt es sich dabei wirklich um zwei unterschiedliche, möglicherweise sogar polar entgegengesetzte Verfahrensweisen, wie manchmal behauptet wird, oder haben wir es lediglich mit zwei Formeln für ein und dieselbe Art des Erzählens zu tun? Es bieten sich für die Klärung dieser Frage zwei Wege an: einmal ein Vergleich der kunsttheoretischen Äusserungen Hoffmanns in den 'Fantasiestücken' mit denen in den 'Serapions-BrUdern', zum anderen ein Vergleich der Erzähltechnik in den Erzählungen selbst. Eine Untersuchung der 1814 entstandenen Geschichte 'Die Abenteuer der Silvester-Nacht' mag exemplarisch aufzeigen, mit welchen erzählerischen Mitteln Hoffmann am Anfang seiner Tätigkeit als Schriftsteller arbeitete. 'Die Abenteuer der Silvester-Nacht' sind, wie der Herausgeber in einem Vorwort mitteilt, dem Tagebuch des reisenden Enthusiasten entnommen, eines Menschen, 'der offenbar sein inneres Leben so wenig vom äusseren trennt, dass man beider Grenzen kaum zu unterscheiden vermag'. Der Herausgeber bittet den Leser dann, dem E r zähler willig 'in ein fremdes Zauberreich' zu folgen und sich ganz 'dem wunderbar liehen Treiben seltsamer Gestalten' hinzugeben. Der reisende Enthusiast ist also ein echter JUnger Callots: von den Bildern dieses französischen Kupferstechers heisst es in Hoffmanns Vorwort zu den 'Fantasiestücken', dass 'selbst das Gemeinste aus dem Alltagsleben in dem Schimmer einer gewissen romantischen Originalität' erscheine. Gleichermassen erfüllt aber der reisende Enthusiast die Grundvoraussetzung echten serapiontischen Erzählens, da ihm inneres und äusseres Leben, das heisst also Phantasie und Wirklichkeit, ganz zu einer Einheit verschmelzen. (In der sprachlichen Formulierimg: Innenwelt - Aussenwelt bzw. inneres Leben äusseres Leben steht die Vorrede der 'Abenteuer' den 'SerapionsBrUdern' sogar näher als der 'Jaques Callot'-Skizze in den 'Fantasiestücken' .)
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Der Gebrauch einer Vorrede oder eines Vorberichts ist bei Hoffmann keine Seltenheit. Dieses Kunstmittel wurde schon im Zusammenhang mit 'Meister Martin' und dem 'Kampf der Sänger' behandelt. Ein Vergleich der beiden Vorreden in 'Meister Martin der KUfner und seine Gesellen' und in den 'Abenteuern der Silvester-Nacht' zeigt einen deutlichen Unterschied im handwerklichen Können Hoffmanns. In 'Meister Martin' wurde dem Leser auf sehr subtile Art, fast unmerklich, eine wehmütige, sehnsuchtsvolle Stimmung suggeriert die ganze Vorrede zielte darauf ab, den Abstand zwischen Leser und Erzähler aufzuheben, damit der Leser unmittelbar am Geschehen teilnehmen konnte. In den 'Abenteuern' soll nun keine sehnsüchtige Stimmung heraufbeschworen werden, sondern eher ein prickelnder Nervenkitzel, eine gespannte Neugier auf die seltsamen und tollen Abenteuer des Erzählers. Aber Hoffmann schöpft hier die Möglichkeit einer solchen psychologischen Vorbereitung noch nicht voll aus. Die Vorrede ist zu kurz, um den Leser in die gewünschte Gefühlslage zu versetzen, der Herausgeber macht gar nicht erst den Versuch, dem Leser nahe zu kommen. Zudem erschwert eine umständliche, stark verschachtelte Syntax die Aufnahmebereitschaft, die der Herausgeber erreichen will. Trotz des qualitativen Unterschiedes ist jedoch die Funktion dieser Vorrede unverkennbar dieselbe wie in 'Meister Martin': durch das Verheissen ungewöhnlicher und wunderbarer Ereignisse wird die Aufmerksamkeit und die Erwartung des Lesers in eine bestimmte Richtung gelenkt. Im Mittelpunkt der 'Abenteuer' steht ein Grunderlebnis, das H. Müller als Hoffmannsche 'Konfliktformel' bezeichnet. Diese Formel beschreibt - so formuliert es Müller - 'das Erleben und die Physiognomie des am Wider spiel polarer Mächte leidenden Menschen'. (1) In den 'Abenteuern' bezeichnet der Erzähler diese Mächte abwechselnd als 'feindliche Macht', 'der Feind', 'die fremde dunkle Macht' oder schlicht' der Teufel'. Ein Charakteristikum dieses Feindes ist seine Fähigkeit, in beliebiger Gestalt aufzutreten und den Menschen zu beliebiger Zeit an beliebigem Ort zu konfrontieren. Diese existenzielle Gefährdung des Menschen, die Frage danach, was Schein und was Wirklichkeit ist, beherrscht die ganze Erzählung. Symbol für dieses menschliche Dilemma ist die Maske. (Hoffmann gebraucht die Wendung 'Maskenspiel des irdischen Lebens' (I, S. 263). In Juliens Wesen tritt die schillernde Ambivalenz am deutlichsten zutage: sie ist abwechselnd abweisend und liebevoll, arrogant und anmutig, fremd und vertraut. Verwundert fragt der Leser am Ende des ersten Kapitels nach dem wahren Gesicht Juliens: ist sie die kindliche, hingebungsvolle Geliebte der Vergangenheit oder die kühle, berechnende Mondäne der Gegenwart? Und wer ist der Justizrat? Ist er nur der wohlmeinende, aber ungeschickte Gastgeber, oder ein maliziöser Verbündeter der feindlichen Macht? Zweideutig ist auch die Gestalt des 'Kleinen' alias Erasmus Spikher. 'Mit täppischer Geschwindigkeit', 'schwerfällig hurtig' betritt er die Gaststube. Zu Anfang zeigt er ein gemütlich jugendliches Gesicht, wenig später starrt der Erzähler in das 'todblasse, welke, eingefurchte Antlitz eines Greises mit hohlen Augen'. In der 'Geschichte vom verlorenen Spiegelbild' wird das Motiv der Doppeldeutigkeit ins Extreme ge-
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steigert. Giulietta ist zugleich 'Himmelsbild' und 'Höllengeist', der Wunderdoktor Dapertutto ändert seine Erscheinung gleich dreimal, Erasmus selbst ist bald ein gemütlicher, biederer Familienvater, bald ein rasender Amoroso, und die 'fromme teutsche Hausfrau' verwandelt sich in einen keifenden Hausdrachen. Nichts in dieser Erzählung ist klar und eindeutig, jede Gestalt entzieht sich einem festen Zugriff, einer sicheren Bestimmung. Am Ende erhebt sich sogar ein Zweifel, ob die Silverstergesellschaft beim Justizrat wirklich stattgefunden hat. Das dritte Kapitel, das die Wiederbegegnung des reisenden Enthusiasten mit dem 'Kleinen' im Hotelzimmer beschreibt, schliesst mit einem Traum: der Traum erfasste mich plötzlich und trug mich wieder zum J u s tizrat, wo ich neben Julien auf der Ottomane sass. Doch bald war es mir, als sei die ganze Gesellschaft eine spasshafte Weihnachtsausstellung bei Fuchs, Weide, Schoch oder sonst, der Justizrat eine zierliche Figur von Dragant mit postpapiernem Jabot. Höher und höher wurden die Bäume und RosenbUsche. Julie stand auf und reichte mir den kristallnen Pokal, aus dem blaue Flammen emporleckten. Da zog es mich am Arm, der Kleine stand hinter mir mit dem alten Gesicht und lispelte: 'Trink nicht, trink nicht - sieh sie doch recht an! - hast du sie nicht schon gesehen auf den Warnungstafeln von Breughel, von Callot oder von Rembrandt?' (I, S. 267) Im weiteren Verlauf des Traumes belebt sich die ganze dragantne Teegesellschaft, und der Justizrat versucht, den Erzähler mit seiner Halsbinde zu erwürgen. Der Leser ist geneigt, den wirren Traum als Nachwirkung der schmerzlichen Julia-Begegnung und vielleicht als Folge des 'guten englischen Biers' aufzufassen, aber durch ein Postskript des reisenden Enthusiasten eröffnet sich eine ganz neue Perspektive: Du siehst, mein lieber Theodor Amadeus Hoffmann, dass nur zu oft eine fremde dunkle Macht sichtbarlich in mein Leben tritt, und den Schlaf um die besten Träume betrügend, m i r gar seltsame Gestalten in den Weg schiebt. Ganz erfüllt von den Erscheinungen der Silvester-Nacht, glaube ich beinahe, dass jener Justizrat wirklich von Dragant, sein Tee eine Weihnachts- oder Neujahrs-Ausstellung, die holde Julie aber jenes verführerische Frauenbild von Rembrandt oder Callot war, das den unglücklichen Erasmus Spikher um sein schönes ähnliches Spiegelbild betrog. Vergib mir das! (I, S.283) Der reisende Enthusiast, so hiess es im Vorwort, trennte sein inner e s Leben so wenig vom äusseren, dass man die zwei Bereiche kaum von einander abzugrenzen vermochte. Demnach wäre es möglich, dass die Weihnachtsausstellung einer Konditorei, in der 'eine zierliche Figur von Dragant mit postpapiernem Jabot' den reisenden Enthusiasten faszinierte, sowie ein verführerisches Frauenbild von Rembrandt oder Callot, das seine Phantasie entzündete, die Anregung für die 'Abenteuer' darstellten.
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Das Spiel, dass Hoffmann hier mit dem Leser treibt, trägt alle Kennzeichen der 'serapiontischen' Mystifikation. Ahnlich wie in 'Erscheinungen' bleibt hier im Dunkel, wo die Aussenwelt endet und wo die innere Welt beginnt, denn Wirklichkeit und Einbildung, Erlebnis und Dichtung schieben sich ständig ineinander. Zusammenhänge werden nur angedeutet, wichtige Fragen bleiben unbeantwortet: Wer ist Julie wirklich? Wie kommt sie in die Teegesellschaft? Wer ist der spinnbeinige, froschäugige Mann? Ausser diesen ungelösten inhaltsbezogenen Fragen, die auch hier den Leser anreizen, 'noch einmal hinter die Gardinen zu gucken', sind es vor allem Fragen existenzieller Art, die mystifizierend wirken. In den'Fantasiestücken' sind es ausser 'Don Juan' gerade die 'Abenteuer der Silvester-Nacht', die dem Leser die Rätselhaftigkeit des Lebens und die Bedrohtheit der menschlichen Existenz vor Augen stellen. Von diesen Geschichten geht eine ähnlich befremdende und verstörende Wirkung aus wie z . B . von 'Doge und Dogaresse' und dem 'Fräulein von Scuderi' in den 'Serapions-Brüdern'. Auch in Bezug auf das serapiontische Merkmal der Lebendigkeit unterscheiden sich die 'Abenteuer' nicht von den vorher besprochenen Werken. Sowohl in der Personengestaltung als auch in der Darstellung des Geschehens erkennt man Praktiken wieder, die schon an den Erzählungen der 'Serapions-Brüder' beobachtet wurden. Die Handlung in den 'Abenteuern der Silvester-Nacht' entfaltet sich in einer raschen Folge kurzer, aber prägnanter und scharf umrissener Impressionen: Der Empfang durch den wohlwollenden, aber seltsam lächelnden Justizrat, der erste Anblick Juliens inmitten teetrinkender Damen, ihre kalte Begrüssung, das Malheur des Enthusiasten, der den Justizrat mit dampfend heissem Tee Überschüttet, das Klavierspiel des Virtuosen, die durcheinanderwogenden Gäste und die mit Präsentiertellern geschäftig hin und her eilenden Diener - alle diese Momentaufnahmen scheinen wie zufällig hingeworfen und völlig zusammenhanglos. Tatsächlich fängt Hoffmann auf diese Weise nicht nur die Atmosphäre der Teegesellschaft ein, er reizt zugleich das Interesse des Lesers für Julie. In der bunten Menge rückt ihre Gestalt immer wieder ins Blickfeld. Durch die ständige Wiederbegegnung mit Julie bereitet Hoffmann den Höhepunkt des ersten Kapitels vor: das Rendezvous zwischen dem Enthusiasten und Julie im Nebenzimmer. An Callots Kunst rühmt Hoffmann, dass auf kleinem Raum eine Fülle von Gegenständen zusammengedrängt sei, dass aber der B e trachter, ohne verwirrt zu werden, sowohl die Einzelheiten als auch das Ganze erfassen könne. (I, S. 12) Im ersten Kapitel der 'Abenteuer' hat Hoffmann eben diese Wirkung mit dem Medium der Sprache erreicht, indem er auf Weitschweifigkeit, auf eine detaillierte Ausmalung verzichtet und statt dessen eine Vielzahl von Bildern schafft, die er in raschem Tempo aufeinander folgen lässt. Auf Grund derselben Kriterien könnte man jedoch die 'Abenteuer' als serapiontische Erzählung bezeichnen: Situationen in 'lebendiger Bewegung' und buntgemischte bewegte Figurenmassen werden auch von den Serapionsbrüdern einer 'weitschichtigen Breite' vorgezogen; einzelne Motive, und seien sie noch so originell, sollen auch in einer serapiontischen
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Erzählung nicht vom Ganzen ablenken, sondern darauf zurückverweisen. Die 'Abenteuer der Silvester-Nacht' tragen zahlreiche Kennzeichen der dramatischen Handlungsführung, die z.B. auch 'Doge und Dogaresse' und 'Der Zusammenhang der Dinge' aufweisen. Schon hier findet sich der für Hoffmann typische unvermittelte Handlungsbeginn: Ich hatte den Tod, den eiskalten Tod im Herzen, ja aus dem Innersten, aus dem Herzen heraus stach es wie mit spitzigen Eiszapfen in die glutdurchströmten Nerven. Wild rannte ich, Hut und Mantel vergessend, hinaus in die finstre stürmische Nacht! (I, S. 256 ) Hoffmanns Vorliebe für starke Effekte und grelle Antithesen, die im 'Zusammenhang der Dinge' zur Sprache kam, tritt in den zitierten Sätzen sehr deutlich zutage. Besonders auffällig ist auch in den 'Abenteuern' schon die Technik der allmählichen Enthüllung, wodurch der Erzähler beim Leser eine gespannte Erwartung erregt. Julie bleibt fast bis zum Ende der Erzählung ein Rätsel; erst durch die parallele Geschichte vom verlorenen Spiegelbild im letzten Kapitel wird offenbar, dass sie ein Werkzeug der 'feindlichen Macht1 ist. Dramatische Effekte (das Verschütten des Tees, das Erscheinen des froschäugigen, spinnbeinigen Geschöpfes, das Zusammentreffen Schlemihls und Spikhers in der Schenke) und das Hinauszögern der Aufdeckung sind ein wesentliches Strukturelement der Erzählung. Vieles daran erinnert an die Komposition des 'Fräulein von Scuderi'. Beide Geschichten haben einen sehr handlungsstarken und undurchsichtigen Beginn (die merkwürdige Teegesellschaft - das gewaltsame Eindringen des Unbekannten in das Haus der Scuderi). Die folgenden Teile scheinen mit dem Anfang in keinerlei Verbindung zu stehen (die Begegnung des Enthusiasten mit dem 'Kleinen' in der Schenke - die Giftmorde und Raububerfälle in P a r i s ) . Erst der letzte Teil, in dem die rätselhaften Begebenheiten des Anfangs geklärt werden, stellt auch den Zusammenhang des Ganzen her. Ein Vergleich der beiden Erzählungen zeigt jedoch deutlich einen qualitativen Unterschied. Im 'Fräulein von Scuderi' sind alle Teile vollkommen miteinander verknüpft, nichts lässt sich herauslösen und gesondert betrachten wie z.B. die Geschichte vom verlorenen Spiegelbild. Den 'Abenteuern' dagegen mangelt es an einer glatten Integration der einzelnen Teile, obwohl der feste Kern des Ganzen klar zu erkennen ist (Das Zentralmotiv ist die verführerische Frau als Werkzeug einer dem Menschen feindlich gesinnten, unbekannten Macht). Besonders das dritte Kapitel der 'Abenteuer' wirkt wie ein Fremdkörper. Es hätte nahe gelegen, den Kleinen am Ende des zweiten Kapitels die Geschichte vom verlorenen Spiegelbild erzählen zu lassen. Ein mündlicher Erlebnisbericht in der Ich-Form wäre viel unmittelbarer und eindringlicher als die später nachgelieferte schriftliche Fassung in der E r - F o r m . Auch hätte die ganze Erzählung dadurch an Kompaktheit und auch an Wahrscheinlichkeit gewonnen. Hoffmann muss den Zufall bemühen, um den Enthusiasten noch einmal mit dem 'Kleinen' zusammenzuführen. (Der Hotelportier gibt versehentlich beiden dieselbe Zimmernummer). Erst in Ansätzen ist in den 'Abenteuern'
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Hoffmanns serapiontische Forderung verwirklicht, eine Erzählung müsse in ihrem ganze Umfange mit allen Einzelheiten und Beziehungen 'fix und fertig hervorspringen wie Minerva aus Jupiters Haupt'. ( III, S. 641 ) In Bezug auf die Personengestaltung finden sich in den 'Fantasiestücken' auch schon dieselben Mittel, die in den Erzählungen der 'Serapions-Bruder' herausgestelt wurden: sehr viel direkte Rede, die scharfe Akzentuierung von Details, Besonderheiten in Mimik und Gestik, Kontrastwirkungen. Äusserlichkeiten werden nur hervorgehoben, wenn sich in ihnen das Wesen der Person spiegelt. Juliens widerspruchliche Natur z.B. äussert sich vor allem in ihrer Sprache ( ein warmer und sehr persönlicher, ja sogar elegischer Ton wechselt ab mit einem kühl-blasierten Salonton). Das Fremdartige ihres Wesens kommt stärker zum Ausdruck in Kleidung und Haartracht: . . . sie schien mir grösser, herausgeformter in fast üppiger Schönheit, als sonst. Der besondere Schnitt ihres weissen, faltenreichen Kleides, Brust, Schultern und Nacken nur halb verhüllend, mit weiten bauschigen, bis an die Ellbogen reichenden Armein, das vorn an der Stirn gescheitelte, hinten in vielen Flechten sonderbar heraufgenestelte Haar gab ihr etwas Altertümliches, . . . ( I, S. 258/ 259) Hervorgehoben wird ausschliesslich das Exotische und Sinnliche ihrer Erscheinung. Die skizzenhafte Charakterzeichnung Juliens wird durch das Giulietta-Bild des vierten Kapitels nur vervollständigt, aber nicht verändert. Unternimmt man einen Vergleich der Charaktere in den 'Fantasiestücken' und in späteren Werken, so scheint es, dass Hoffmann in den 'Serapions-Brüdern' eine schärfere Profilierung seiner Figuren gelungen ist. Verglichen mit den zahlreichen farbigplastischen, lebenskräftigen Gestalten der 'Serapions-BrUder' (Krespel, Cardillac, Meister Martin, Annchen von Zabelthau, Tusmann usw. ) wirken viele Personen aus den ' Fantasiestucken' schemenhaft und unfertig. (Ausnahmen sind vor allem die Gestalten des 'Goldenen Topfes', einer Erzählung, die Hoffmann selbst noch zur Zeit der Entstehung der 'Serapions-BrUder' für sein unübertroffenes Meisterwerk hielt.) Der Vergleich zeigt jedoch auch, dass Hoffmann in seinen späteren Erzählungen nicht zu neuen Darstellungsmitteln griff, sondern dass er seine eigene Erzähltechnik, wie sie schon in den frühen Werken zutage tritt, nur vervollkommnete. In den'Fantasiestücken' experimentierte Hoffmann noch mit verschiedenen erzählerischen Formen, und man spürt teilweise seine Unsicherheit und Unerfahrenheit im Umgang mit diesen Formen. Zu demselben Ergebnis gelangt man, wenn man Hoffmanns Äusserungen Uber Callots Manier mit seinen dichtungstheoretischen Bemerkungen in den 'Serapions-Brüdern' vergleicht. Die für dieses Verfahren bedeutendsten Fundgruben sind die Erzählung ' Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza' (2 ) und die einleitende Skizze 'Jaques Callot', in der Hoffmann erläutert, was er under Callots Manier verstand und was ihn bewog, dessen zeichne-
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rische Darstellungsweise auf seine eigenen schriftstellerischen Versuche zu Ubertragen. Die tiefe und nachhaltige Wirkung, die von Callots Werken ausgeht, beruht nach Hoffmanns Ansicht im wesentlichen auf drei Kriterien: der Klarheit der Komposition (trotz heterogenster Elemente), der Fülle und Lebendigkeit der Figuren und der sonderbaren Phantastik aller Erscheinungen. Kein Meister habe so wie Callot gewusst, schreibt Hoffmann, in einem kleinen Raum eine Fülle von Gegenständen zusammenzudrängen, die ohne den Blick zu verwirren, nebeneinander, ja ineinander heraustreten, so dass das Einzelne als Einzelnes für sich bestehend, doch dem Ganzen sich anreiht. (I, S. 12 ) Diese Aussage enthält in nuce alle wesentlichen Kennzeichen der Wohlgerundetheit, die bei der Besprechung der serapiontischen E r zählungen dargelegt wurden: eine Mannigfaltigkeit an Stoffen und Motiven bei grosser Durchsichtigkeit und Geschlossenheit und Konzentration auf einen festen Kern. Auch in 'Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza' hebt Hoffmann die Wohlgerundetheit als eines der wesentlichen Merkmale eines wahren Kunstwerks hervor. Er spricht Uber die 'Stupidität', Szenen zu streichen im Werk eines Dichters, das dieser so lange im Innern trug, wovon er jeden Moment wohl überdachte und Uberlegte, ehe er das Ganze gerundet aufschrieb, . . . . Aber gerade in den Werken der grössten Dichter entfaltet sich nur dem poetischen Sinn der innere Zusammenhang; der Faden, der sich durch das Ganze schlängelt, und jeden kleinsten Teil dem Ganzen fest anreiht, . . . (I, S. 129/130) Das zweite Charakteristikum der Callot-Manier, die 'lebensvolle Physiognomie der Figuren', entspricht ganz der Forderung nach serapiontischer Lebendigkeit. Hoffmann schreibt Uber Callot: Schaue ich deine Uberreichen Kompositionen lange an, so beleben sich die tausend und tausend Figuren und jede schreitet, oft aus dem tiefsten Hintergrunde, wo es erst schwer hielt sie nur zu entdecken, kräftig und in den naturlichsten Farben glänzend hervor. (I, S. 12) Die Übereinstimmung dieser Äusserung mit den zahlreichen Kommentaren Uber die 'Lebendigkeit' der Darstellung in den Rahmengesprächen der 'Serapions-BrUder' ist offensichtlich. Exemplarisch sei hier auf den Exkurs Uber Walter Scott verwiesen; Hoffmann rühmt an Scott die 'frische Lebendigkeit aller Gebilde1, durch die man auf wunderbare Weise ergriffen wird. Er fährt fort: 'Dabei besitzt Scott eine seltene Kraft mit wenigen starken Strichen seine Figuren so hinzustellen, dass sie alsbald lebendig herausschreiten aus dem Rahmen des Gemäldes . . . ' (HI, S. 924/925) Das dritte Kriterium in Callots Kunst, das Hoffmann betont, ist die Phantastik aller Erscheinungen. 'Seine Zeichnungen', so heisst es,
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sind nur Reflexe aller der fantastischen wunderlichen Erscheinungen, die der Zauber seiner überregen Fantasie hervorrief. Denn selbst in seinen aus dem Leben genommenen Darstellungen . . . ist es eine lebensvolle Physiognomie ganz eigener Art, die seinen Figuren, seinen Gruppen - ich möchte sagen etwas fremdartig Bekanntes gibt. Selbst das Gemeinste aus dem Alltagsleben erscheint in dem Schimmer einer gewissen romantischen Originalität, so dass das dem Fantastischen hingegebene Gemtlt auf eine wunderbare Weise davon angesprochen wird. (I, S. 12) Auch diese Gedanken werden in den Serapionsgesprächen wieder aufgenommen; sie betreffen vor allem das Prinzip von der Hebelfunktion der Aussenwelt. Sowohl der reisende Enthusiast, der sich Callots Manier zueigen macht, als auch die Serapionsbruder werden durch Eindrücke aus dem Alltagsleben zu künstlerischem Schaffen angeregt. Dass die beobachteten Erscheinungen des gewöhnlichen Lebens dann in der dichterischen Darstellung eine 'lebensvolle Physiognomie ganz eigener Art' annehmen, dass sie 'im Schimmer einer gewissen romantischen Originalität' erscheinen, ist ein besonderes Kennzeichen sowohl der callotschen als auch der serapiontischen Manier. (3 ) Es wird erreicht durch die reiche Phantasie des Künstlers, die ihn dazu treibt, 'seinen Gegenstand fantastisch auszuschmücken und viel von dem Seinigen hinzuzufügen'. (HI, S. 30) Callots Wirkung auf den Betrachter ist derart, dass er sich nicht sattsehen kann an den sonderbaren fantastischen Gestalten, dass sie einen bleibenden Eindruck auf ihn machen. Und dem 'ernsten tiefer eindringenden Beschauer' enthüllen sich dabei 'alle die geheimen Andeutungen, die unter dem Schleier der Skurrilität verborgen liegen'. Diese Sätze scheinen im Kern schon dasselbe zu besagen wie die späteren Ausführungen Uber die Mystifikation. Schon hier fordert Hoffmann, wenn auch indirekt, dass ein Kunstwerk sein Gegenüber ergreifen und ihm eine Uber-reale Dimension erschliessen müsse. Die Erzählungen in den 'Fantasiestucken' sind Hoffmanns erste bedeutende dichterische Versuche, mit denen er an die Öffentlichkeit trat. Obwohl er seine Zugehörigkeit zur herrschenden romantischen Strömung empfand und auch bekannte (bezeichnend sind seine hohe Wertschätzung der romantischen Musik und der Werke Kleists, Tiecks, Novalis' und Fouqu6s), war Hoffmann sich doch der Andersartigkeit und Neuheit seiner eigenen Erzählweise bewusst, die sich von derjenigen anderer Romantiker so auffällig unterschied. Es scheint, dass er sich gleichsam zur Rechtfertigung seines eigenen dichterischen Verfahrens auf den ihm artverwandten Callot berief. Am Schluss der Callot-Skizze heisst es: Könnte ein Dichter oder Schriftsteller, dem die Gestalten des gewöhnlichen Lebens in seinem inneren romantischen Geisterreich erschienen, und der sie nun in dem Schimmer, von dem sie dort umflossen, wie in einem fremden wunderlichen Putze darstellt, sich nicht wenigstens mit diesem Meister entschuldigen und sagen: Er habe in Callots Manier arbeiten wollen? (I, S. 13)
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In der graphischen Kunst Callots fand Hoffmann ästhetische Vorstellungen verwirklicht, die ihm selbst wesentlich schienen, die aber während der Entstehung seiner ersten Werke noch nicht so ausgereift waren, als dass er sie mehr als andeutungsweise zu formulieren wagte. Wie der vorhergehende Vergleich zeigt, finden sich in den 'FantasiestUcken' und den 'Serapions-Brudern' dieselben kunsttheoretischen Ideen. Während aber die Äusserungen in den 'FantasiestUcken' eher den Charakter zufälliger Randbemerkungen haben, (4) sind sie eines der Strukturelemente in den Rahmengesprächen der 'Serapions-BrUder'. Als Neuling auf literarischem Gebiet sucht Hoffmann fUr seine ersten Erzählungen nach Massstäben und Bezugspunkten in der Musik und Malerei ( z . B . Mozart, Gluck, Callot). In den 'Serapions-Brudern' dagegen zieht er zum Vergleich und zur Unterscheidung sowohl klassische als auch zeitgenössische Dichter heran ( z . B . Goethe, Shakespeare, Jean Paul, Novalis, Tieck, Kleist). Während er in den 'FantasiestUcken' mit dem anschaulichen Vorbild callotscher Graphik seine eigene Erzählweise zu charakterisieren sucht, geht es ihm in den 'Serapions-BrUdern' darum, seinen inzwischen erprobten und gefestigten Stil theoretisch zu fundieren und gleichzeitig seine poetologischen Anschauungen gesammelt, wenn auch nicht systematisch niederzulegen. Hoffmanns Äusserungen Uber das serapiontische Prinzip sind also keine Zurücknahme oder Negierung, sondern eine ergänzende und erläuternde Bestätigung von Callots Manier.
2. Das 'Eckfenster-Prinzip' Noch in der letzten zu seinen Lebzeiten veröffentlichten Erzählung 'Des Vetters Eckfenster' gibt Hoffmann deutlich zu verstehen, dass Callots Manier und das serapiontische Prinzip ein und dasselbe bedeuten. Aber häufig hat man gerade 'Des Vetters Eckfenster' als Musterbeispiel zitiert für eine Tendenz zu realistischem Erzählen in Hoffmanns letzter Schaffensperiode. Ellinger bezeichnete diese Erzählung als reinstes Werk der Kunst, das Hoffmann gelungen sei, und zwar deshalb, weil er sich darin um eine objektive Wirklichkeitsschau bemühte. (5) In der neueren Hoffmann-Forschung vertreten u. a. Martini und Langen dieselbe Ansicht. Martini sieht 'Des Vetters Eckfenster' als typischen Ausdruck des bürgerlichen Biedermeier und hebt besonders den 'weltverklärenden Realismus' und den 'weltuberwindenden Humor' der Erzählung hervor. (6) 'Des Vetters Eckfenster' ist eine recht handlungsarme Erzählung, in der der Erzähler berichtet, wie er seinen kranken halbgelähmten Vetter, einen Schriftsteller, besucht, der in einem Eckhaus eines Berliner Marktes lebt. Es ist gerade Markttag, und gemeinsam beobachten sie mit Hilfe eines Fernrohrs das bunte Treiben auf dem Platz. Diese Beobachtungen werden in Dialogform wiedergegeben. Aber nicht die realistische Beschreibung des Marktlebens ist das Hauptanliegen der Erzählung; die Wirklichkeitsdarstellung ist nicht Selbstzweck, sondern Funktion. Zu oft werden der vorwiegend r e -
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flektive Charakter und der existenzielle Unterton der Erzählung Ubersehen. Der Markt ist Symbol für die Vergänglichkeit des Lebens. 'Dieser Markt, sprach der Vetter, 'ist auch jetzt ein treues Abbild des ewig wechselnden Lebens. Rege Tätigkeit, das Bedürfnis des Augenblicks, trieb die Menschenmasse zusammen; in wenigen Augenblicken ist alles verödet, die Stimmen, welche im wirren Getöse durcheinanderströmten, sind verklungen, und jede verlassene Stelle spricht das schauerliche: E s war! nur zu lebhaft aus'. (IV, S.621) Ftlr den kranken Vetter ist das Marktleben ein ebenso deutlicher Hinweis auf die Todesbedrohtheit des Menschen wie der an seinem Bettschirm befestigte Horazvers, der als SchlUsselmotiv Uber der E r zählung steht: 'Et si male nunc, non olim sie erit'. Wenn man allerdings unter 'Realismus' nur das Stoffliche eines Werkes versteht, nämlich die Schilderung der sinnlich wahrnehmbaren, fassbaren Wirklichkeit unter Ausschaltung alles Unwahrscheinlichen, Phantastischen, so ist 'Des Vetters Eckfenster' ähnlich wie 'Meister Martin' oder 'Meister Johannes Wacht' eine realistische Erzählung. In den zahlreichen Beschreibungen einzelner Gestalten und Vorgänge, in der Überfülle dinglicher Eindrucke sieht man gewöhnlich die 'realistischen' ZUge der Erzählung. Zur Veranschaulichimg mag die Beschreibving eines Marktbesuchers dienen, der durch seine ungewöhnliche Erscheinung die Aufmerksamkeit der beiden Beobachter erregt: Wes Geisteskind ist die tolle abenteuerliche Figur? Ein wenigstens sechs Fuss hoher, winddUrrer Mann, der noch dazu kerzengerade mit eingebogenem Rucken dasteht! Unter dem kleinen dreieckigen, zusammengequetschten Hutchen starrt hinten die Kokarde eines Haarbeutels hervor, der sich dann in voller Breite dem Rucken sanft anschmiegt. Der graue, nach längst verjährter Sitte zugeschnittene Rock, schliesst sich, vorne von oben bis unten zugeknöpft, enge an den Leib an, ohne eine einzige Falte zu werfen, und schon erst als er an den Wagen schritt, konnte ich bemerken, dass er schwarze Beinkleider, schwarze Strumpfe, und mächtige zinnerne Schnallen in den Schuhen trägt. Was mag er nur in dem viereckigen Kasten haben, den er so sorglich unter dem linken Arme trägt, und der beinahe dem Kasten eines Tabulettkrämers gleicht? DER VETTER: Das wirst du gleich erfahren, schau nur aufmerksam hin. ICH: Er schlägt den Deckel des Kastens zurück - die Sonne scheint hinein - strahlende Reflexe - der Kasten ist mit Blech gefüttert - er macht der Pflaumenmusfrau, indem er das Hütchen vom Kopfe zieht, eine beinahe ehrfurchtsvolle Verbeugung. - Was für ein originelles, ausdrucksvolles Gesicht - feingeschlossene Lippen - eine Habichtsnase - grosse, schwarze Augen - hochstehende, starke Augenbrauen - eine hohe Stirn - schwarzes Haar - das Toupet en coeur frisiert, mit kleinen steifen Löckchen Uber den Ohren. - Er reicht den Kasten der Bauerfrau auf den Wagen, die
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ihn ohne weiteres mit Pflaumenmus füllt, und, ihm freundlich nickend, wieder zurückreicht. - Mit einer zweiten Verbeugung entfernt sich der Mann - er windet sich hinan an die Heringstonne - er zieht ein Schubfach des Kastens hervor, legt einige erhandelte Salzmänner hinein, und schiebt das Fach wieder zu - ein drittes Schubfach ist, wie ich sehe, zu Petersilie und anderem Wurzelwerk bestimmt. - Nun durchschneidet er mit langen, gravitätischen Schritten den Markt in verschiedenen Richtungen, bis ihn der reiche, auf einem Tisch ausgebreitete Vorrat von gerupftem Geflügel festhält. So wie Uberall, macht er auch hier, ehe er zu feilschen beginnt, einige tiefe Verbeugungen - er spricht viel und lange mit der Frau, die ihn mit besonders freundlicher Miene anhört - er setzt den Kasten behutsam auf den Boden nieder, und e r greift zwei Enten, die er ganz bequem in die weite Rocktasche schiebt. - Himmel! es folgt noch eine Gans, - den Puter schaut er bloss an mit liebäugelnden Blikken - er kann doch nicht unterlassen, ihn wenigstens mit dem Zeige - und Mittelfinger liebkosend zu berühren - ; schnell hebt er seinen Kasten auf, verbeugt sich gegen das Weib ungemein verbindlich, und schreitet, sich mit Gewalt losreissend von dem verführerischen Gegenstand seiner Begierde, von dannen - er steuert geradezu los auf die Fleischerbuden - ist der Mensch ein Koch, der für ein Gastmahl zu sorgen hat? - er erhandelt eine Kalbskeule, die er noch in eine seiner Riesentaschen gleiten lässt. - Nim ist er fertig mit seinem Einkauf; er geht die Charlottenstrasse herauf, mit solchem ganz seltsamen Anstand und Wesen, dass er aus irgendeinem fremden Lande hinabgeschneit zu sein scheint. (IV, S. 609-611) Im ersten Abschnitt werden ausschliesslich Besonderheiten der Gestalt und der Kleidung ins Auge gefasst; die Genauigkeit und Anschaulichkeit der Verben und Adjektive machen die Beschreibung besonders lebendig (winddürr - kerzengerade - mächtige zinnerne Schnallen - die Kokarde starrt hervor - der Haarbeutel schmiegt sich an usw. ). Der erste Teil des folgenden Abschnittes setzt die detaillierte Beschreibung und den sachlichen Ton der Beobachtung fort. Der Schwerpunkt verlagert sich jetzt auf die Erfassving der Körperbewegungen und des Mienenspiels. Sehr überzeugend wirkt hier z. B . , dass der Erzähler die Gesichtszüge des Mannes erst beschreibt, nachdem dieser seinen Hut gezogen hat. Aber ist es wirklich wahrscheinlich - selbst mit dem besten Fernglas - die Augenfarbe festzustellen, besonders da der Mann sich die ganze Zeit der Pflaumenmushändlerin zuwendet? Gegen Ende desselben Abschnittes fällt immer mehr auf, wie der Erzähler allmählich seine distanzierte und sachliche beobachtende Haltung aufgibt. Es mehren sich die zwar möglichen, aber äusserst unglaubwürdigen Beobachtungen: Wie kann der so weit entfernte Erzähler mit Sicherheit den Unterschied zwischen einer gerupften Gans und einer Pute feststellen? Ist es ihm wirklich möglich zu erkennen, dass der Mann mit Zeige- und Mittelfinger den Puter liebkosend berührt? Und ist er ein Experte im Fleischerhandwerk, dass er ohne weiteres versichern kann, der Mann habe eine Kalbskeule erstanden? Es gibt andere Beispiele, welche die
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Unwahrscheinlichkeit der Beobachtungen noch krasser herausstellen: Mit einem Blick erfasst der Erzähler den gesamten Inhalt eines Marktkorbes mit mehr als zehn verschiedenen Dingen (als ob es kein Unten und Oben gäbe), und geradezu als Hellseherei muss man es bezeichnen, dass er in Papier eingewickelte Heringe erkennt. (S. 613) Der technische Fehler des Erzählers in diesen und anderen Abschnitten besteht darin, dass er die Perspektive wechselt; einmal ist er der entfernte Beobachter, der nicht mehr weiss als der Leser, ein andermal ist er der allwissende Autor, der in alles Geschehen eingeweiht ist. Weiter bemerkt man gegen Ende des zitierten Abschnittes, dass der Erzähler die Vorgänge nicht mehr ausschliesslich berichtet, sondern sie bereits interpretiert. 'Himmel! Es folgt noch eine Gans - ' ; dieser spontane Ausruf zeigt zum ersten Mal klar, wie stark der Beobachter an den Vorgängen schon innerlich beteiligt ist. Auch die Bemerkung, der Mann könne es nicht unterlassen, den Puter liebkosend zu berühren, und nur mit Gewalt reisse er sich vom verführerischen Gegenstand seiner Begierde los, ist nicht mehr objektiv beschreibender, sondern schon subjektiv interpretierender Natur. Was sich hier anbahnt, ist der allmähliche Übergang vom rein visuellen Wahrnehmen zum visionären inneren Schauen (oder Erschauen ). Der kranke Vetter hat es in dieser Kunst zur Meisterschaft gebracht. Nachdem er den seltsamen Käufer ausführlich beschrieben hat, deckt er dessen Identität auf: Er sieht in ihm einen geizigen, misstrauischen, zynischen Zeichenmeister, dessen Gier nach gutem Essen sein Leben völlig beherrscht. Einen alten Malkasten verwendet er als Marktkorb, kauft für die halbe Woche Vorräte ein, bereitet seine Mahlzeiten in einer kleinen Küche selbst zu und fällt dann mit tierischem Appetit darüber her. Aber noch eine andere Hypothese hat der Vetter zur Hand: Nicht ein deutscher Zeichenmeister, sondern ein französischer Pastetenbäcker ist der Mann, der zusammen mit einem Fechtmeister, einem Sprachmeister und einem Tanzmeister lustig und sorgenfrei seinen Lebensabend in Berlin verbringt und der, da er fUr die Küche der kleinen Hausgemeinschaft zuständig ist, allwöchentlich in seiner französischen Art die Einkäufe auf dem Markt besorgt. Was der Vetter hier als Hypothese bezeichnet, ist das Ineinandergreifen von Beobachtung und Einbildung, die vollkommene Verschmelzung von Wirklichkeit und Phantasie, also nichts anderes als das in die Praxis umgesetzte serapiontische Prinzip, der Übergang vom Anschauen zum Erschauen. Diese serapiontische Kunst des Schauens, in die er seinen Gast einzuweihen versucht, nennt der Vetter hier in einem Atem mit der Gestalt Callots: mein Geist, ein wackerer Callot, . . . entwirft eine Skizze nach der andern, deren Umrisse oft keck genug sind. Auf Vetter! ich will sehen, ob ich dir nicht wenigstens die Primizien der Kunst zu schauen beibringen kann. (IV, S. 600) Hoffmann spricht also in 'Des Vetters Eckfenster' keine neuen poetologischen Erkenntnisse aus, sondern bestätigt nur Prinzipien, die von
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Anfang an seine eigene einmalige dichterische Verfahrensweise bestimmte. Ob man diese Prinzipien vmter dem Begriff ' Callots Manier' 'serapiontisches Prinzip' oder auch 'Eckfenster-Prinzip' zusammenf a s s e ist für die Erzählpraxis Hoffmanns ohne Belang. Wie im letzten Kapitel dieser Arbeit zu zeigen versucht wurde, ist vom Gesichtspunkt der sprachlichen Gestaltung eine Unterscheidung nach zwei oder gar mehreren ästhetischen Kategorien nicht gerechtfertigt. Hoffmann hat wohl kaum vorausgesehen, welche Verwirrung und Polarisierung er unter seinen späteren Kritikern anrichten würden, indem er zwei seiner Erzählungssammlungen mit einem originellen, humoristischen Titel bezeichnete. Vielleicht sollte man sich darauf einigen, wenn von der Sprachgestalt in Hoffmanns Erzählungen die Rede ist, statt vom callotschen, serapiontischen oder Eckfenster-Prinzip nur schlicht von Hoffmanns Manier zu sprechen. ANMERKUNGEN (1) Mtlller gewinnt diese Bezeichnung aus folgender Textstelle im 'Don Juan': 'Der Konflikt der menschlichen Natur mit den unbekannten grässlichen Mächten, die ihn, sein Verderben erlauernd, umfangen, trat klar vor meines Geistes Augen'. (I, S. 68) Helmut Müller, a. a. O., S. 9. (2 ) Auf bemerkenswerte Übereinstimmungen der Kunstanschauungen in 'Berganza' und den Rahmengesprächen der 'Serapions-Brüder' wurde schon an anderer Stelle dieser Arbeit hingewiesen. Sie betreffen hauptsächlich Fragen der Personengestaltung, der Struktur und des dichterischen Schaffensprozesses. Vgl. dazu S. 16, S. 30. ( 3 ) Korff, der auch Callots Manier und das serapiontische Prinzip miteinander vergleicht, kommt zu dem Schluss, dass bei Callot die Wirklichkeit das Primäre sei, während vom serapiontischen Prinzip das Umgekehrte gelte: hier sei die absolute Phantasie, die sich ihre eigene Wirklichkeit schaffe, das Primäre. Aber es liegt hier ein Trugschluss vor: nur bei dem wahnsinnigen Serapion ist die absolute Phantasie das Primäre. Den Freunden des Serapionskreises hingegen ist nicht die subjektive, ver-rückte Wirklichkeitsschau des Einsiedlers, sondern nur die dichterische Aussagekraft seiner Erzählungen ein Vorbild. H. A. Korff, a. a. O., S. 595. (4) Selbst in 'Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza' steht nicht die allgemeine kunsttheoretische Erörterung im Mittelpunkt, sondern Hoffmanns Kritik an speziellen Misständen des zeitgenössischen Theaters. (5) Georg Ellinger, a. a. O., S. 170. (6) Fritz Martini, Die Märchendichtung E. T. A. Hoffmanns. In: Der Deutschunterricht 7, 1955, Heft 2, S. 65. A. Langen schreibt: 'Eben hier ist in der Beschreibung des Marktlebens die Tradition der Massenszenen im Roman des 18. Jahrhunderts deutlich sichtbar, eine augenhafte Wirklichkeitsfreude und Dinglichkeit, die zur Erzählkunst des späteren 19. Jahrhunderts Uberzuleiten scheint'.
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August Langen, Deutsche Sprachgeschichte vom Barock bis zur Gegenwart. In: Deutsche Philologie im Aufriss, Berlin 1960, Spalte 1256/57. Joh.Klein leitet aus der Erzählung sogar ein 'Eckfenster-Prinzip' ab. Das serapiontische Prinzip, so meint er, vertrete das eigentlich Romantische, das Eckfenster-Prinzip den Realismus. 'Das serapiontische Prinzip und das Eckfenster-Prinzip' stellen die Pole von Hoffmanns Schaffen dar, auch darin echt polar, dass sie aufeinander bezogen sind und eins ohne das andere nicht existieren würde. Johannes Klein, a. a. O., S. 76.
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de proprietatibus litterarum Series Maior 19. 20. 22. 23. 24. 25. 26. 28. 30. 35. 36.
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Dfl. 42,36,24,64,36,98,30,48,48,39,90,-
Series Practica l. ' 2. 5. 6. 7. 12. 15. 17. 18. 19. 20. 21. 23. 26.
COHN, R. G.: Mallarme's Masterpiece. HIEATT, C. B.: The Realism of Dream Vision. The Poetic Exploitation of the Dream-Experience in Chaucer and His Contemporaries. PERLOFF, M.: Rhyme and Meaning in the Poetry of Yeats. CUSAC, M. H.: Narrative Structure in the Novels of Sir Walter Scott. NEWTON, R. P.: Form in the 'Menschheitsdämmerung". FELDMAN, S. D.: The Morality-Patterned Comedy of the Renaissance. BALL, D. L.: Samuel Richardson's Theory of Fiction. RAYMOND, M. B.: Swinburne's Poetics. BLANK, P.E., Jr.: Lyric Forms in the Sonnet Sequences of Barnabe Barnes. POWERS, D. C.: English Formal Satire. SCHICK, E. B.: Metaphorical Organicism in Herder's Early Works. WOOD, H.: The Histories of Herodotus. LAAR, E. Th. M. van de: The Inner Structure of Wuthering Heights. HARDER, W. T.: A Certain Order. The Development of Herbert Read's Theory of Poetry.
24,18,48,24,24,18,36,36,30,30,25,32,40,28,-
de proprietatibus litterarum Series Practica 27. 28. 29. 30. 32. 33. 35. 36. 38. 39. 40. 41. 42. 44. 47. 48. 50. 51. 52. 54. 55. 57. 59. 60. 61. 62. 63. 64.
VERNIER, R.: 'Poésie ininterrompue' et la poétique de Paul Eluard. HENNEDY, H. L.: Unity in Barsetshire. MCLEAN, S. K.: The "Bànkelsang" and the Work of Bertold Brecht. INNISS, K.: D. H. Lawrence's Bestiary. GEORGE, E. E.: Hôlderlin's "Ars Poetica". SAMPSON, H. G.: The Anglican Tradition in EighteenthCentury Verse. JAKOBSON, R. and L. G. Jones: Shakespeare's Verbal Art in Th'Expence of Spirit. SILVERMAN, E. B.: Poetic Synthesis in Shelley's "Adonais". DOUGHERTY, A.: A Study of Rhythmic Structure in the Verse of William Butler Yeats. REES, T. R.: The Technique of T. S. Eliot. EUSTIS, A.: Molière as Ironic Contemplator. CHAMPIGNY, R.: Humanism and Human Racism. A Critical Study of Essays by Sartre and Camus. EISENSTEIN, S. A.: Boarding the Ship of Death: D. H. Lawrence's Quester Heroes. SEBEOK, T. A.: Structure and Texture: Selected Essays in Cheremis Verbal Art. EWTON, R. W„ Jr.: The Literary Theories of August Wilhelm Schlegel. TODD, J. E.: Emily Dickinson's Use of the Persona. METCALF, A. A.: Poetic Diction in the old English Meters of Boethius. KNOWLTON, M. A.: The Influence of Richard RoUe and of Julian of Norwich on the Middle English Lyrics. RICHMOND, H. M.: Renaissance Landscapes. English Lyrics in a European Tradition. CELLER, M. M.: Giraudoux et la métaphore. FLETCHER, R. M.: The Stylistic Development of Edgar Allan Poe. NELSON, T. A.: Shakespeare's Comic Theory. DUGAN, J. R.: Illusion and Reality. A Study of Descriptive Techniques in the Works of Guy de Maupassant. KUBY, L.: An Uncommon Poet for the Common Man: A Study of Philip Larkin's Poetry. COUCHMAN, G. W.: This our Caesar. A Study of Bernard Shaw's Caesar and Cleopatra. RUTTEN, P. M. van: Le langage poétique de Saint-John Perse. SCHULZ, H. J.: This Hell of Stories: A Hegelian Approach to the Novels of Samuel Beckett. DEMING, R. H.: Ceremony and Art. Robert Herrick's Poetry.
Dfl. 25,28,54,28,96,48,10,20,38,52,40,18,24,35,22,22,28,28,28,22,34,18,26,28,32,30,20,32,-
de proprietatibus litterarum Series Practica 69. 70. 71. 72. 74. 75. 78. 79. 81. 82. 83. 84. 86. 88. 89. 91. 92. 93. 96. 97. 98. 100. 101. 108. 114. 116.
GODSHALK, W. L.: Patterning in Schakespearean Drama. JAKOBSON, R. and D. Svjatopolk-Mirskij: Smert' Vladimira Majakovskogo. KOSTIS, N.: The Exorcism of Sex and Death in Julien Green's Novels. WOSHINSKY, B. R.: La Princesse de Cleves. B U E H L E R , Ph. G.: The Middle English Genesis and Exodus. HEWITT, W.: Through Those Living Pillars. Man and Nature in the Works of Emile Zola. F E R R A N T E , J. M.: The Conflict of Love and Honor. JONES, G. H.: Henry James's Psychology of Experience. MEEHAN, V. M. : Christopher Marlowe Poet and Playwright. WAKE, C.: The Novels of Pierre Loti. JONES, L. E.: Poetic Fantasy and Fiction. The Short Stories of Jules Supervielle. BLODGETT, H.: Patterns of Reality: Elizabeth Bowen's Novels. F E R D I N A N D Y , G.: L'oeuvre hispanoaméricaine de Zsigmond Remenyik. WILLSON, R. F., Jr.: 'Their Form C o n f o u n d e d ' : Studies in the Burlesque Play f r o m Udall to Sheridan. PARENT, D. J.: Werner Bergengruen's Das Buch Rodenstein. HAMILTON, R.: Epinikion: General Form in the Odes of Pindar. T A Y L O R , M.: The Soul in Paraphrase. George Herbert's Poetics. V I T Z , E. B. : The Crossroad of Intentions: A Study of Symbolic Expression in the Poetry of François Villon. COPELAND, H. C.: Art and the Artist in the Works of Samuel Beckett. KAY, B.: The Theatre of Jean Mairet. T U E R K , R.: Central Still: Circle and Sphere in Thoreau's Prose. ELIOPOLOS, J.: Samuel Beckett's Dramatic Language. HUDGINS, E.: Nicht-epische Strukturen des Romantischen Romans. DESSNER, L. J.: The Homely Web of T r u t h : A Study of Charlotte Bronte's Novels. CRICHFIELD, G.: Three Novels of Madame de Duras. JAKOBSON, R.: Puskin and His Sculptural Myth.
Dfl. 50,16,22,32,24,32,32,58,28,3 V 20,44,34,48,32,24,24,28,48,28,32,28,44,20,18,24,-
Series Didactica l. 2. 3.
SWAIM, K. M.: A Reading of Gulliver's Travels. B E R K E L E Y , D. S.: Inwrought with Figures Dim. GITTLEMAN, S.: Sholom Aleichem.
38,20,20,-