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German Pages 225 [228] Year 1990
Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 55
Untersuchungen zum von Frauen um 1800
Herausgegeben von Helga Gallas und Magdalene Heuser
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1990
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Untersuchungen zum Roman von Frauen um 1800 / hrsg. von Helga Gallas u. Magdalene Heuser. - Tübingen : Niemeyer, 1990 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte ; Bd. 55) NE: Gallas, Helga [Hrsg.]; GT ISBN 3-484-32055-9
ISSN 0083-4564
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1990 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz, Druck, Buchbinder: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten
Inhalt
EINLEITUNG
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Probleme des Romans von Frauen um 1800 RUTH KLÜGER
Zum Außenseitertum der deutschen Dichterinnen
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ERICH SCHÖN
Weibliches Lesen: Romanleserinnen im späten 18. Jahrhundert
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HELGA BRANDES
Der Frauenroman und die literarisch-publizistische Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert
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M A G D A L E N E HEUSER
»Ich wollte dieß und das von meinem Buche sagen, und gerieth in ein Vernünfteln«. Poetologische Reflexionen in den Romanvorreden
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HELGA G A L L A S
Ehe als Instrument des Masochismus oder >Glückseligkeits-Triangel< als Aufrechterhaltung des Begehrens? Zur Trennung von Liebe und Sexualität im deutschen Frauenroman des 18. Jahrhunderts
66
Zu einzelnen Romanautorinnen HELGA M E I S E
Das Werk von Maria Anna Sagar - Konstitutionsbedingungen und Probleme des Romans von Frauen im 18. Jahrhundert
79
B A R B A R A BECKER-CANTARINO
Freundschaftsutopie: Die Fiktionen der Sophie La Roche
92
LYDIA SCHIETH
»Elisa oder das Weib wie es seyn sollte«. Zur Analyse eines Frauen-Romanbestsellers
114
VI
Inhalt
SUSANNE ZANTOP
Aus der Not eine Tugend ... Tugendgebot und Öffentlichkeit bei Friederike Helene Unger
132
JEANNINE BLACKWELL
Die verlorene Lehre der Benedikte Naubert: die Verbindung zwischen Phantasie und Geschichtsschreibung
148
DONATELLA GIGLI
Die goldne Welt der Täuschung: Traum und Wirklichkeit in Karoline von Wolzogens Roman »Agnes von Lilien«
160
UTA TREDER
Sophie Mereau: Montage und Demontage einer Liebe
172
ΑΝΓΤΑ RUNGE
Wenn Schillers Geist einen weiblichen Körper belebt. Emanzipation und künstlerisches Selbstverständnis in den Romanen und Erzählungen Caroline Auguste Fischers
184
BRIGITTE LEUSCHNER
Therese Huber als Briefschreiberin
203
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
213
BIOGRAPHISCHE ANGABEN ZU DEN ROMANAUTORINNEN
214
VERZEICHNIS DER MITARBEITERINNEN
218
. . . "
Einleitung
Das 18. Jahrhundert ist für die Entwicklung der deutschen Literatur ein entscheidendes Jahrhundert. Mit Spätaufklärung, Klassik und Romantik gelang ihr der Durchbruch zu europäischer Geltung. Das ist durch eine lange Forschungstradition gut aufgearbeitet und dokumentiert. Dieses Jahrhundert ist aber auch entscheidend für die Herausbildung einer Literaturtradition von Frauen, die jedoch von der Forschung bisher kaum berücksichtigt worden und daher nur noch schwer zugänglich ist.1 Im 18. Jahrhundert treten Frauen zum ersten Mal verstärkt und unter ausdrücklicher Berufung aufeinander als Schriftstellerinnen auf. Noch an den Bemühungen um eine deutschsprachige Kunstdichtung im 17. Jahrhundert hatten Frauen so gut wie keinen Anteil. Zwar gab es die Gedichte einer Catharina Regina von Greiffenberg, aber diese Frau steht innerhalb der deutschen Barockliteratur isoliert. Erst mit dem Beginn der Aufklärung und der Wiederaufnahme der Nationalliteraturbewegung durch Johann Christoph Gottsched änderte sich die Situation. Gottscheds ehrgeizige Literaturbestrebungen in der ersten Jahrhunderthälfte zielten auf den Nachweis ähnlich berühmter Autorinnen für die deutsche Literatur, wie sie in der französischen bereits im 17. Jahrhundert hervorgetreten waren.2 Leben und Werk der zu ihrer Zeit als Autorinnen anerkannten Christiana Mariana von Ziegler, Luise Adelgunde Victorie Gottsched und Sidonia Hedwig Zäunemann sind ohne die Förderung und Ermutigung Gottscheds nicht denkbar. Auf seine Anregung hin entstanden Briefe, Gedichte, Reden, Komödien und Übersetzungen. Er setzte sich für die Aufnahme einer Frau in die Deutsche Gesellschaft in Leipzig ein, was Zugang zu literarischen Fachgesprächen bedeutete. Durch Vorschläge für Dichterkrönungen verhalf er Autorinnen zu öffentlicher Bekanntheit und Anerkennung. Die Moralischen Wochenschriften mit den Lektüreempfehlungen der sogenannten Frauenzimmerbibliotheken sollten darüber hinaus das weibliche Publikum insgesamt zu Leserinnen erziehen und zu eigener literarischer Produktion wie zum Beispiel zum Briefeschreiben anregen. Daß Gottsched und andere führende Männer in der ersten Jahrhunderthälfte sich für größere Bildungsmöglichkeiten der Frauen einsetzten, hing mit ihrer Erkenntnis zusammen, daß ohne Einbeziehung der Familien- und Kindererziehung eine Anhebung der deutschsprachigen gei1 Überblicke und Einzelstudien zur geschichtlichen Entwicklung der Literatur von Frauen bieten: Frauen Literatur Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. von Hiltrud Gnüg und Renate Möhrmann. Stuttgart 1985 (auch: st 1603); Barbara BeckerCantarino: Der lange Weg zur Mündigkeit. Frau und Literatur (1500-1800). Stuttgart 1987 (auch: dtv 4548); Deutsche Literatur von Frauen. Bd. 1.2. Hg. von Gisela Brinker-Gabler. München 1988; sowie die Monographie von Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, (es 921) Frankturt/M. 1979. 2 Gottsched setzt so die Querelle des Femmes fort, und zwar als Befürworter von Frauenbildung. Vgl. Elisabeth Gössmanns Einleitungen in: Archiv für philosophie- und theologiegeschichtliche Frauenforschung. Hg. von Elisabeth Gössmann. Bd. iff. München 1984ÍF.
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Einleitung
stigen Kultur auf breiter Ebene nicht möglich war. Die Bemühungen um eine deutsche Nationalliteratur und Literatursprache — gegen das Latein der Gelehrten und vor allem gegen das Französisch der Höfe — würden also bei einem Ausschluß der Frauen unvollständig bleiben. Allerdings wurden gleichzeitig mit der Bereitschaft zur Frauenförderung auch deren Grenzen klar gesetzt: Produktion und Rezeption von Literatur sowie überhaupt alle Frauenbildung sollten den weiblichen Hauptaufgaben funktional untergeordnet bleiben, nämlich für Ehemann, Kinder und Haushalt gesellschaftlich verantwortungsvoll und auf angenehme Weise zu sorgen. Eine Ambivalenz ist also schon in den Bildungsbestrebungen der Frühaufklärung angelegt; ihre negativen Aspekte kommen nur entschiedener zum Durchbruch, wenn bereits um die Jahrhundertmitte »das gelehrte Frauenzimmer« eher abgelehnt oder gar zum Schimpfwort wird. So formulierte zum Beispiel Christian Fürchtegott Geliert, ein weiterer wichtiger Befürworter von Frauenbildung, seine entsprechenden Vorstellungen folgendermaßen: »Gelehrte Frauenzimmer braucht die Welt, denke ich, nicht sehr; aber ein Frauenzimmer, das [...] sich durch das Lesen guter Bücher, den Verstand, das Herz und den Geschmack bildet, ist ihrem Hause, ihren Freunden, einem künftigen Manne, Vergnügen, Glück und Ruhe. Sie wird schreiben, ohne ihre andere Pflichten zu vergessen, und dadurch, daß sie gut zu denken weis, wird sie ihren übrigen Verrichtungen, auch den geringem, noch einen gewissen Reiz, und ihren Tugenden eine größre Anmuth geben.«3 Nach den Anfängen einer literarischen Produktivität von Frauen in der Frühaufklärung sind zwei weitere Phasen und literarische Genres zu nennen, an deren Entwicklung Frauen wesentlich beteiligt waren: die Brief-Literatur besonders ab der Jahrhundertmitte und die Romane des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Seit den fünfziger Jahren verlagerte sich die schriftliche Betätigung der Frauen auf das Schreiben von Briefen und damit auf eine subjektiv-private Äußerungsform. Briefe zu schreiben und zu empfangen stand, im Unterschied zur Schriftstellerei, im Einklang mit der weiblichen Bestimmung und den häuslich-familiären Verpflichtungen. Darüber hinaus aber wurden literarische Traditionen und Neuerungen wichtig, an die die Briefschreiberinnen der zweiten Jahrhunderthälfte anknüpfen konnten: das Vorbild der großen französischen Epistolographinnen des 17. Jahrhunderts sowie der Einfluß der Richardsonschen Briefromane und der Gellertschen Briefstilreform. Geliert hatte gegen den bis dahin für Briefe verbindlichen, gedrechselten Stil, gegen die stereotypen Formeln und höflichen Floskeln eine neue Lebendigkeit, Lebhaftigkeit und persönliche Färbung des Stils propagiert. Seine Devise lautete, der Brief solle »eine freye Nachahmung des guten Gesprächs« sein. Und schon Geliert, wie viele andere nach ihm, stellte fest, »daß die Frauenzimmer oft natürlichere Briefe schreiben, als die Mannspersonen«: Die Frauenzimmer sorgen weniger für die Ordnung eines Briefs, und weil sie nicht durch die Regeln der Kunst ihrem Verstände eine ungewöhnliche Richtung gegeben haben: so wird ihr Brief desto freyer und weniger ängstlich. Sie wissen durch eine gewisse gute Empfindung das Gefällige, das Wohlanständige, in dem Putze, in der Einrichtung eines Gemäldes, in der Stel-
3 Zitiert nach Reinhard M. G. Nickisch: Die Frau als Briefschreiberin im Zeitalter der deutschen Aufklärung. In: Wolfenbiittler Studien zur Aufklärung 3 (1976), S. 2 9 - 6 5 . Hier: S. 58f.
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lung des Tischgeräthes leicht zu bemerken und zu finden; und diese gute Empfindung der Harmonie unterstützt sie auch im Denken und Briefschreiben.4
Die literarische Gattung, in der sich Frauen als Schriftstellerinnen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts hauptsächlich artikulierten, war aber der Roman. Die Übung und Anerkennung der Frauen als gute Briefschreiberinnen stellte dafür eine wichtige Voraussetzung dar. In der deutschen Literaturgeschichte war der Roman Anfang des 18. Jahrhunderts noch eine kaum vertretene, zudem ästhetisch abgewertete Gattung, entwickelte sich jedoch innerhalb von fünfzig Jahren zu einer anerkannten und wurde im 19. Jahrhundert die führende. An diesem Aufstieg des Romans haben Frauen einen entscheidenden Anteil, als Leserinnen und als Autorinnen. Daß der Roman so lange keine anerkannte Gattung war — da ihm die Bindung an Metrik und Reim fehlte und auch die antike Tradition, wurde er nicht zur Dichtung, sondern eher zur Geschichtsschreibung gerechnet —, erleichterte den Frauen den Eintritt in die literarische Öffentlichkeit gerade über dieses Genre. Die Bestimmungen des Romans waren, im Unterschied zu den in den Poetiken behandelten hohen Gattungen der Tragödie und des Epos, nicht normativ festgelegt. 5 Zudem lag keine belastende Tradition vor, weder eine antike, noch eine >modernegroßen Welt< mit ihren Fürsten, Prinzessinnen und Staatsaktionen. Es ging um die Darstellung der >kleinen Welt< der bürgerlichen Familie; auch wenn die Personen zum Teil noch dem adligen Milieu entstammten, so waren die von ihnen vorgetragenen Empfindungen, Normen und Wertvorstellungen doch bürgerliche. Und anders als zuvor waren jetzt die psychischen Befindlichkeiten der Helden,
4 Christian Fürchtegott Geliert: Briefe, nebst einer Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. In: Gesammelte Schriften. Hg. von Bernd Witte. Berlin/New York 1989, Bd. 4, S. 105—152, hier: S. i30f., sowie S. 1 1 1 und S. 150: »In der That muß man sich wundem, warum es in unsrer Sprache noch so sehr an guten Briefen und Romanen fehlt [...]«. Seine Theorie einer natürlichen Prosa und seine Begeisterung für Richardsons ersten Briefroman konnte Geliert allerdings nicht in einen neuen, unkonventionellen Roman umsetzen. »Das Leben der Schwedischen Gräfin von G.« (1747/1748) blieb hinter Gellerts eigenen Ansprüchen zurück und war eher ein Rückfall hinter Richardson. 5 1774 erschien Christian Friedrich von Blankenburgs »Versuch über den Roman« (Faks.druck der Originalausgabe von 1774. Mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert, Stuttgart 1965), ein Werk, das zum ersten Mal die positiven Möglichkeiten dieser Gattung hervorhob, ohne, wie bisher üblich, von Regeln aus Ansprüche an Werk und Autor zu deduzieren. Blanckenburgs »Versuch« kann als Beginn der deutschen Romantheorie bezeichnet werden. Von den zeitgenössischen deutschen Romanen würdigte Blanckenburg positiv nur Christoph Martin Wielands »Agathon« (1766).
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vor allem der weiblichen, Hauptgegenstand der Mitteilung. Damit war eine Veränderung der Rolle der Frau in der Literatur gegeben: Im höfisch-historischen und auch im galanten Roman war die Frau, wie Marion Beaujean schreibt, ein wichtiges Movens, das die Handlung in Bewegung setzt; sie stand »in der Reihe der dramaturgisch notwendigen Requisiten wie Seeräuber und Unwetter, wie hilfreiche Freunde oder das zu gewinnende Königreich« und bedeutete den Lohn für alle Irrfahrten, Leiden und Bewährungen des Mannes.6 Ihre Gefühle und Ideen wurden lediglich von außen, aus der Sicht des männlichen Helden oder des auktorialen Erzählers beschrieben. Dagegen kam es jetzt auf die subjektiven Empfindungen der Heldinnen an, auf ihr Seelenleben, ihr »Herz«. Dies wurde bei Richardson von den weiblichen Protagonistinnen selbst, aus ihrer unmittelbaren Erfahrung heraus, minutiös dargestellt, und zwar in Briefen. Alle Romane Richardsons sind Briefromane, und viele der von Frauen verfaßten Romane folgen dieser Form. Mit dem von Richardson geschaffenen Romantyp waren also günstige Voraussetzungen für das Romanschaffen von Frauen gegeben: wichtig wurden die Psyche weiblicher Helden, der Innenraum der Familie mit Haushaltsführung, Erziehung und Eheleben sowie der Brief. Das waren Bereiche, in denen die Frau sich auskannte. Der erste Roman einer Frau in Deutschland, der ein größeres Publikum erreichte, war zugleich der erste erfolgreiche deutsche Briefroman: Sophie von La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771). Danach setzte eine wahre Flut von Briefromanen ein. Sie folgen fast alle dem Muster des didaktischen Familienromans, der im letzten Jahrhundertdrittel den Hauptanteil an der deutschen Romanproduktion ausmachte. Für die weiblichen Autoren scheint das erste Romanwerk einer Frau wie ein Dammbruch gewirkt zu haben: für den Zeitraum 1 7 7 0 - 1 8 1 0 sind bisher ca. 500 Romane von etwa 80 Autorinnen festgestellt worden. Alle diese Romane berufen sich direkt oder indirekt auf La Roche und stehen in der Tradition von Richardson und Jean Jacques Rousseau der mit seinem Roman La Nouvelle Héloise (1761) eine ähnlich breite Wirkung in Deutschland erreicht hatte wie vor ihm der Engländer. In den letzten Jahren hat sich die Literaturwissenschaft intensiv um die Erforschung des 18. Jahrhunderts bemüht. Während diese Forschungen eine Fülle von Texten und Autoren unterschiedlicher Qualität zutage gefördert und untersucht haben, blieb der Anteil der Frauen an den literarischen Entwicklungen dieser Zeit weiterhin nur ungenügend berücksichtigt. Lediglich im Zusammenhang der Geschichte der Briefliteratur findet die Leistung von Frauen inzwischen die literaturwissenschaftliche und editorische Beachtung, die ihr zweifellos zukommt.7 Für die Geschichte des Romans blieb es bei einigen wenigen Namen, und nur die Geschichte des Fräuleins von Stemheim ist in 6 Marion Beaujean: Das Bild des Frauenzimmers im Roman des 18. Jahrhunderts. In: Wolfenbüttler Studien zur Aufklärung 3 (1976), S. 9 - 2 8 . Hier: S. 12. 7 Vgl. Anm. 3 und inzwischen ζ. B. Barbara Becker-Cantarino: Leben als Text. Briefe als Ausdrucks· und Verständigungsmittel in der Briefkultur und Literatur des 18. Jahrhunderts. In: Frauen Literatur Geschichte. Hg. von H. Gnüg und R. Möhrmann, S. 83 — 103. — Reinhard M. G. Nickisch: Briefkultur: Entwicklung und sozialgeschichtliche Bedeutung des Frauenbriefs im 18. Jahrhundert. In: Deutsche Literatur von Frauen. Hg. von G. Brinker-Gabler. Bd. 1, S. 3 8 9 409. - Barbara Hahn: »Weiber verstehen alles à la lettre«. Briefkultur im beginnenden 19. Jahrhundert. In: Deutsche Literatur von Frauen. Hg. von G. Brinker-Gabler. Bd. 2, S. 13—27. - Die Frau im Dialog. Studien zur Theorie und Geschichte des Briefs. Hg. von Anita Runge und Lieselotte Steinbrügge. Weinheim/Basel 1990.
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der Literaturwissenschaft immer berücksichtigt worden. 8 Dazu haben sicher die Herausgabe durch Wieland und sein Vorwort erheblich beigetragen. Überhaupt hatten diejenigen Autorinnen am ehesten eine Chance zum Weiter- und Überleben in der Literaturgeschichte, die mit berühmten Männern in Verbindung standen; das erwies sich sowohl für die Möglichkeiten des geistigen Austausche und der Protektion in der Öffentlichkeit als auch für das Interesse an der Überlieferung der Texte als förderlich. Von solch begünstigten Ausnahmeerscheinungen abgesehen sind die von Frauen verfaßten Werke oft wenig sorgfältig aufbewahrt und katalogisiert, zudem oft falsch zugeordnet worden, so daß die Quellenlage hier besonders schwierig ist. Das liegt auch daran, daß fast alle Romane von Frauen anonym oder unter (in der Regel) männlichem Pseudonym erschienen. Allerdings unterscheidet sich diese Quellenlage nur graduell, nicht grundsätzlich von der, die für den überwiegenden Teil der Texte des 18. Jahrhunderts gilt, die nicht durch die Literaturgeschichtsschreibung kanonisiert worden sind. Entscheidend für die Vernachlässigung der Romanautorinnen dürfte sein, daß ihre Werke fast unterschiedslos dem Schillerschen Verdikt vom hoffnungslosen Dilettantismus der Weiber zugeordnet wurden und in der Folge eine emsthafte wissenschaftliche Bearbeitung nicht zu lohnen schienen.9 Auch die schon in den 60er Jahren einsetzende Trivialliteraturforschung hat den von Frauen verfaßten Romanen des 18. Jahrhunderts vorerst nur ungenügend Beachtung geschenkt. Eine Ausnahme machen hier die Arbeiten von Marion Beaujean. 10 Das ist um so erstaunlicher, als auch diese Romane im 18. Jahrhundert hohe Auflagen erreichten, viel gelesen und rezensiert wurden; als diese Forschungsrichtung davon ausgeht, daß gerade den trivialen Texten eine meinungsbildende und erfahrungsvermittelnde Funktion zukommt, die oft weit über die der sogenannten hohen Literatur hinausgeht. Immerhin aber hat die Trivialliteraturforschung mit ihren Untersuchungen zur Dichotomie von hoher und niederer Literatur die starre Kanonisierung innerhalb der Literaturwissenschaft revidiert, und durch Einbeziehung eines breiten Spektrums von Texten, von Entstehungsbedingungen und Wirkungszusammenhängen ist das Bild der Literatur um 1800 vielschichtiger und differenzierter geworden. Das sind Ergebnisse, die den späteren Untersuchungen der Texte von Frauen des 18. Jahrhunderts zugute kamen. Eine gezielte Hinwendung zum Roman von Frauen um 1800 erfolgte erst im Zusammenhang der literaturwissenschaftlichen Frauenforschung seit etwa 1980. Grundlage dabei war die verdienstvolle und materialreiche Arbeit von Christine Touaillon
8 Dieter Kimpel: Der Roman der Aufklärung. (SM 68) Stuttgart 1967, S. 87-90, macht im Abschnitt »Sophie von La Roche und der deutsche Frauenroman im 18. Jahrhundert« bibliographische Angaben zu 11 Autorinnen mit 19 Werken. Etwas umfangreicher, aber kaum kenntnisreicher sind die entsprechenden Ausführungen von Dennis F. Mahoney: Der Roman der Goethezeit (1724-1829). (SM 241) Stuttgart 1988, S. 90-99: »Der Frauenroman im Umfeld der Klassik und Frühromantik«. 9 Vgl. dazu Christa Bürger: Leben Schreiben. Die Klassik, die Romantik und der Ort der Frauen. Stuttgart 1990, insbesondere Kap. II: »Dilettantism der Weiber«. 10 Marion Beaujean: Der Trivialroman in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Ursprünge des modernen Unterhaltungsromans. 2. Aufl. Bonn 1969; vgl. auch Anm. 6. — Inzwischen auch Leonie Marx: Der deutsche Frauenroman im 19. lahrhundert. In: Handbuch des deutschen Romans. Hg. von Helmut Koopmann. Düsseldorf 1983, S. 434—459.
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Einleitung
Der deutsche Frauenroman des 18. Jahrhunderts11 aus dem Jahre 1919. Es ist die erste Monographie zu diesem Gebiet, die jedoch lange kaum rezipiert worden ist. Touaillon nennt bereits etwa 230 Titel von ca. 40 Autorinnen für den Zeitraum 1770 bis 1810. Noch immer sind Touaillons Angaben unverzichtbar, obwohl sie sich im einzelnen als unvollständig und fehlerhaft erwiesen haben; vor allem halten die literarisch-biographischen Einschätzungen häufig einer genauen Überprüfung nicht stand. Inzwischen haben — neben zahlreichen Beiträgen zu Fragen der Weiblichkeitsvorstellungen, der Vormundschaft und Mündigkeit, zum Bildungs- und Briefroman oder zu einzelnen Autorinnen und Texten — vor allem zwei Monographien die Diskussion um den Roman von Frauen des 18. Jahrhunderts und seine Erforschung aufgegriffen und angeregt. Helga Meise Die Unschuld und die Schrift arbeitet die Bedeutung des Tugendbegriffs für den »Charakter eines vollkommenen Frauenzimmers« im Schrifttum der Zeit heraus und geht den Problematisierungen solcher Bestimmungen in den Frauenromanen exemplarisch nach.12 Dabei ergibt sich, daß der Schreibprozeß nicht nur als ein Instrument der Selbstdisziplinierung, sondern auch als »Schreiblust« zu verstehen ist, die Romane den Frauen also am ehesten die Möglichkeit bieten, den rigiden Entwurf des Modells von Weiblichkeit in Frage zu stellen, schriftstellerisch Spuren zu hinterlassen und sich so zu befreien. Dieser Ansatz erlaubt es, die Romane von Frauen nicht länger und in erster Linie am ästhetischen Maßstab einer kanonisierten Literatur zu messen, sondern an dem in ihnen artikulierten Grad an Unabhängigkeit. Bedeutet dieser methodische Zugriff zunächst eine verdienstvolle Öffnung des Blicks und der Beurteilung, so geht er doch auch einher mit einer Vernachlässigung literaturhistorischer und -soziologischer Zusammenhänge, die in der Arbeit von Lydia Schieth Die Entwicklung des deutschen Frauenromans im ausgehenden 18. Jahrhundert in den Mittelpunkt rücken.13 Schieth untersucht den Einfluß der männlichen Zeitgenossen als Herausgeber, Verleger, Namengeber und Rezensenten auf die Veröffentlichungs- und Rezeptionspraxis ebenso wie die Bedeutung Richardsons für die Entwicklung des deutschen Frauenromans, das Selbstverständnis der Autorinnen und auch deren poetologische Fremdbestimmungen. Aus der skizzierten Forschungslage ergaben sich für unsere Planungen im wesentlichen zwei Aufgaben: zum einen die Sicherung der bibliographischen Daten und die genaue Erfassung der heute noch zugänglichen Exemplare; zum anderen eine umfassende inhaltliche Aufarbeitung des aufgefundenen Materials. An einer Bibliographie zum Roman von Frauen des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts mit aktuellen Standortnachweisen wird seit Jahren gearbeitet. Durch Zusammenlegung der in Berlin, Bremen und Osnabrück gesammelten Daten und unter Mitwirkung der Beiträgerinnen dieses Bandes wird sie voraussichtlich 1991 erscheinen können. Die bisher vorliegenden inhaltlichen Untersuchungen stoßen immer wieder auf die Ideologie der weiblichen Bestimmung, die sich nicht nur auf die in den Romanen dargestellten weiblichen Lebensläufe und damit auf die Erzählabsichten auswirkt, sondern sich auch als Druck auf die Frauen bemerkbar macht, die zu schreiben und zu veröffentlichen wagten. Die Schriftstellerei der Frauen war begleitet vom Vorwurf der Vernachlässigung ihrer Hauptaufgaben und von Versuchen der Rechtfertigung und Zu1 1 Wien/Leipzig 1919. 12 Deutsche Frauenromane im 18. Jahrhundert. (Métro 14) Berlin/Marburg 1983. 1 3 Ein Beitrag zur Gattungsgeschichte. (Helicon 5) Frankfurt/M., Bern u.a. 1987.
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rücknahme solcher Grenzüberschreitungen des weiblichen Lebensraums durch den Hinweis auf Nebenbeschäftigung und Wahrung des weiblich Schicklichen.14 Vergegenwärtigt man sich die sozial- und literaturgeschichtlichen Zusammenhänge dieser Zeit, dann kann das Bild inhaltlicher und formaler Konventionalität, das die Romane von Frauen auf den ersten Blick bieten, kaum überraschen. Nur um den Preis solcher Selbstbegrenzungen wie Anonymität und vordergründige Angepaßtheit war die Grenzüberschreitung des Schreibens und Veröffentlichens für die Autorinnen dieser Zeit überhaupt möglich. Die im Kontext der erzählerischen Konventionalität angelegten, verborgenen Widerstände - das heißt ein spezifischer, literarischer Traditionszusammenhang von Frauen — werden daher erst durch eine neue Lektüre und Analyse aufgespürt und sichtbar. Wie weit die Erforschung der Literaturtradition von Frauen zu Neuinterpretationen, Korrekturen und sogar Revisionen bisheriger literaturwissenschaftlicher Einordnungen und Wertungen führen wird, ist aus den bereits vorliegenden Arbeiten von Meise, Schieth, Becker-Cantarino, Blackwell, Cocalis, Heuser, Runge und anderen in Umrissen schon erkennbar.15 Eine Untersuchung der deutschen Romane von Frauen im ausgehenden 18. Jahrhundert, auf breiterer Basis als bisher möglich durchgeführt und unter Berücksichtigung literatur- und frauengeschichtlicher Traditionszusammenhänge und deren Wechselwirkungen, verspricht neue und differenzierte Einsichten: zur Entstehung der Gattung und ihrer Entwicklung zum psychologisch-realistischen wie auch zum Trivialroman des 19. Jahrhunderts, zur Herausbildung des bürgerlichen Selbstverständnisses, zur Polarisation der Geschlechter sowie Ansätzen zu ihrer Überwindung und allgemein zum geistigen und politischen Leben in Deutschland zur Zeit der Französischen Revolution und ihrer Nachwirkungen. Diese Arbeit fortzuführen und zu vertiefen, ist Ziel des vorliegenden Bandes. Er ist Ergebnis der Zusammenführung und Zusammenarbeit derjenigen Wissenschaftlerinnen, die in den vergangenen Jahren zum deutschen Roman von Frauen im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert gearbeitet und publiziert haben. Die hier veröffentlichten Beiträge wurden auf einem Symposium der Universitäten Bremen
14 Ein aufschlußreiches Beispiel hierfür bietet der Briefwechsel zwischen Christian Gottlob Heyne, dem Vater, und Ludwig Ferdinand Huber, dem Ehemann der immerhin längst erwachsenen Therese Huber über deren literarische Tätigkeiten; der Vater, der um die Vernachlässigung der Hausfrauenpflichten seiner Tochter bangt, sieht in deren Schriftstellerei »einen lächerlichen, unweiblichen Drang«. Vgl. Ludwig Geiger: Therese Huber 1 7 6 4 - 1 8 2 9 . Leben und Briefe einer deutschen Frau. Stuttgart 1901, S. ç8ff. 1 5 Barbara Becker-Cantarino: Nachwort. In: Sophie von La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Hg. von B. Becker-Cantarino (Reclam 7934/5). Stuttgart 1983, S. 381—415. — Jeannine Blackwell: Bildungsroman mit Dame: The Heroine in the German >Bildungsroman< from 1770—1900. Indiana University/Bloomington, Ph. D. 1982. — Susan L. Cocalis: Der Vormund will Vormund sein: Zur Problematik der weiblichen Unmündigkeit im 18. Jahrhundert. In: Gestaltet und Gestaltend. Frauen in der deutschen Literatur. Hg. von Marianne Burkhard (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 10). Amsterdam 1980, S. 3 3 - 5 6 . — Magdalene Heuser: »Spuren trauriger Selbstvergessenheit«. Möglichkeiten eines weiblichen Bildungsromans um 1800: Friederike Helene Unger. In: Kontroversen, alte und neue. Hg. von Albrecht Schöne. Tübingen 1986, Bd. 6, S. 3 0 - 4 2 . - Dies.: Nachwort. In: Therese Huber: Die Familie Seidorf. 1795/1796 (Frühe Frauenliteratur in Deutschland 7). Hildesheim 1989, S. 3 4 7 - 3 8 9 . — Anita Runge: Nachworte. In: Caroline Auguste Fischer: Gesammelte Werke. Bd. 1—6. Hg. von A. Runge (Frühe Frauenliteratur in Deutschland 1 - 6 ) . Hildesheim 1987ff.
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und Osnabrück, das im Februar 1989 in Bremen stattfand, vorgetragen und diskutiert. Unser Dank gilt an dieser Stelle der Stiftung Volkswagenwerk für ihre großzügige finanzielle Förderung sowie den Universitäten Bremen und Osnabrück für ihre vielfältige Unterstützung dieses Symposiums. Die Aufarbeitung des Themas setzt bewußt auf zwei Ebenen an. Einmal bei einzelnen Autorinnen (von denen keinesfalls alle oder auch nur die wichtigeren bereits an dieser Stelle vorgestellt werden können), die unter Heranziehung neuen Quellenmaterials und neuerer Fragestellungen und Methoden untersucht werden sollten. So wird hier endlich, um ein Beispiel herauszugreifen, der Erstlingsroman der Prager Autorin Anna Maria Sagar Die verwechselten Töchter aus dem Jahr 1 7 7 1 vorgestellt, ein Briefroman, der bei Touaillon fälschlicherweise als Lustspiel erwähnt und wie auch schon bei Goedeke auf 1774 datiert wird. 16 Sophie von La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim, ebenfalls 1 7 7 1 erschienen, kann also nicht länger als erster bedeutenderer deutscher Frauenroman gelten — jedenfalls nicht allein —, wie es bislang in den Literaturgeschichten heißt. Neben solchen autorinnenzentrierten stehen Beiträge, die übergreifenden sozialgeschichtlichen, literatursoziologischen und literaturtheoretischen Fragen nachgehen. Auch in diesem Bereich haben sich Perspektiven auf interessante Forschungsfelder eröffnet, die erst noch umfassender zu erkunden sind und zu Revisionen unserer bisherigen Kulturgeschichtsschreibung führen können. Zu untersuchen wäre zum Beispiel, welchen Einfluß religionsbestimmte soziale Familienhintergründe auf die Entwicklung weiblicher literarischer Produktivität gehabt haben. Einen Anstoß in diese Richtung gibt die im vorliegenden Band vorgestellte These: 17 Während für die männlichen Dichter, das heißt für die Hauptströmung und damit den ungeheuren Aufstieg der deutschen Literatur im 18. und 19. Jahrhundert gilt, daß der Protestantismus einem freieren Denken Vorschub leistete und gerade das Bürgertum von einer solchen Befreiung Gebrauch zu machen wußte, trifft für die Frauen eher das Gegenteil zu. Die lutherische Religion verwies Frauen auf Haus und Familie als ihren Ort und ließ keinen Raum für die intellektuelle, eigenständige Frau. Der Familien- und soziale Hintergrund, der die Männer gefördert hat, brachte den Frauen offensichtlich wenig. Autorinnen, die trotzdem kreativ wurden, gehörten fast ausschließlich dem Katholizismus oder / und dem Adel an beziehungsweise schrieben oder lebten in einem katholisch bestimmten Milieu. Oder ein weiteres Ergebnis: Die Fiktion einer geschlechtsneutralen Literatur und eines geschlechtsneutralen Lesens läßt sich, wie gerade das Beispiel der Gattung Roman zeigt, nicht länger halten, denn die Neuentstehung dieser Gattung als bürgerlicher Roman im 18. Jahrhundert konstituiert sich in der Rezeption fast ausschließlich durch weibliches Lesen.18 Welche Neubewertungen akzeptierter Lesehaltungen und Literaturkonzeptionen müßten aus solchen Einsichten folgen?
16 [Maria Anna Sagar]: Die verwechselten Töchter, eine wahrhafte Geschichte, in Briefen entworfen von einem Frauenzimmer. Prag bey Wolfgang Gerle 1 7 7 1 . - Vgl. auch den Beitrag von H. Meise in diesem Band. 1 7 Vgl. den Beitrag von R. Klüger in diesem Band. 18 Hierzu Erich Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800 (Sprache und Geschichte 12). Stuttgart 1987. — Vgl. den Beitrag in diesem Band, S. 20 ff.
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Einleitung
Das sind nur wenige Beispiele für Forschungsdesiderata und -ergebnisse, die sich aus dieser ersten Zusammenführung von wissenschaftlichen Interessen und Aktivitäten auf dem Gebiet des Romans von Frauen um 1800 ergeben haben. Gedacht ist daher an einen Folgeband, der eine Fortsetzung und Erweiterung bisher behandelter Autorinnen und übergreifender Fragestellungen zur Literatur von Frauen des 18. Jahrhunderts bringen soll. Für den Titel haben wir bewußt die sprachlich umständlichere Form >Roman von Frauen< statt des Terminus >Frauenroman< gewählt, 19 auch wenn dieser sich in den einzelnen Ausführungen nicht immer vermeiden läßt. Eine klare Abgrenzung gegenüber Festlegungen und Einengungen auf der Ebene des Inhalts (über Frauen) und der Rezeption (für Frauen) soll dadurch deutlich werden. Sonst müßte gar die gesamte Romanproduktion des 18. Jahrhunderts als >Frauenromane< bezeichnet werden, kamen doch fast nur Frauen als Romanleserinnen in Frage; Männer lasen Romane nur, wenn sie ein berufliches Interesse daran hatten, als Autoren, Zeitschriftenherausgeber, Verleger, Buchhändler und Rezensenten. Der angegebene Zeitraum umschreibt das Forschungsgebiet: die Romanproduktion von Frauen in der Epoche, in der der deutsche Roman sich zur anerkannten literarischen Gattung entwickelte und eine erste Blütezeit erlebte, und in der die »Polarisierung der >GeschlechtscharaktereGeschlechtscharaktere< — Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. — In: Seminar: Familie und Gesellschaftsstruktur. Hg. von Heidi Rosenbaum. 2. Aufl. (stw 244). Frankfurt/M. 1978, S. 1 6 1 - 1 9 1 .
Probleme des Romans von Frauen um 1800
RUTH KLÜGER
Zum Außenseitertum der deutschen Dichterinnen
Mein Beitrag fällt insofern aus der Reihe, als er sich nicht aufs achtzehnte Jahrhundert beschränkt. Trotzdem möchte ich hier kurz eine These entwickeln, die mich seit Jahren beschäftigt. Es geht um die Frage: »Welcher Umstände, welcher sozialen und intellektuellen Voraussetzungen bedurfte es, um deutschsprachigen Frauen zu einer selbständigen Denkweise und konzentrierten Produktivität zu verhelfen?« Anders formuliert lautet die Frage, ob diejenigen Frauen, die uns aus heutiger Sicht als literarisch hervorragend erscheinen, in ihren Ursprüngen etwas gemeinsam hatten. Ich erinnere daran, daß derlei Fragen, so pauschal sie klingen mögen, für männliche Dichter, also für die Hauptströmung der Literatur, immer wieder gestellt und auch beantwortet werden. So ist es bekanntlich üblich zu bemerken, daß die Mehrheit der großen deutschen Dichter und Philosophen dem protestantischen Bürgertum entsprangen. Zur Bekräftigung der unleugbaren Tatsache, daß der protestantische Teil der deutschsprachigen Landschaft einen weitaus höheren Anteil an der Entwicklung der neuzeitlichen deutschen Literatur für sich beanspruchen darf, mag man noch darauf hinweisen, daß es im achtzehnten Jahrhundert weitaus weniger Buchhandlungen im katholischen Süden Deutschlands und in Österreich gab als im lutherischen Norden. Dann kommt das berühmte Wort vom deutschen Pfarrhaus, das durch seine Söhne die intellektuelle Entwicklung Deutschlands so stark gefördert habe. Dahinter steht die Voraussetzung, daß das Luthertum einem freieren Denken Raum geschaffen hat und daß gerade das Bürgertum und nicht der Adel von einer solchen Befreiung Gebrauch zu machen wußte. Nun scheint es mir, daß der zugegebenermaßen weitaus beschränktere Anteil des weiblichen Schrifttums, insofern er bedeutend oder originell war, dieser Hauptströmung entgegengelaufen ist. Das heißt, daß der Familien- und soziale Hintergrund, der die Männer gefördert hat, den Frauen wenig brachte, und daß diejenigen unter ihnen, denen es gelang, sich geistig zu behaupten, oft aus einem anderen sozialen Hintergrund kamen als die schöpferischen Männer. Ich mache die Probe aufs Exempel und weise auf einige Dichterinnen hin, die bekannt sind, die aber meist nicht zusammen und unter diesem Gesichtspunkt gesehen werden. Zunächst gilt es, die Nonnenkultur des Mittelalters ins Auge zu fassen. Denn die erste Gruppe von deutschen Frauen, die Hervorragendes in ihren Schriften geleistet hat, lebte in einem Milieu, das die geistige Beschäftigung der Frauen nicht als fragwürdig ansah, oder zumindest als weitaus weniger fragwürdig als das dann in späteren, aufgeklärteren Zeiten der Fall war. Ich habe das Wort »aufgeklärt« absichtlich nicht in Anführungsstriche gesetzt und meine es auch nicht ironisch, denn es geht um das Paradoxon, daß progressiv und reaktionär, im politischen und intellektuellen Sinne, sich nicht unbedingt decken mit der geistigen Entwicklungsgeschichte der Frauen. Einer Frau, die literarischen Ehrgeiz oder Talent hatte, boten sich im dreizehnten Jahrhundert bessere Chancen als im siebzehnten, vor der Reformation bessere als nach der Reformation. Von dem geistigen Fortschritt, von dem uns die Schulbücher melden,
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kann für Frauen nicht die Rede sein. Wenn wir von der Reformation als einer Bewegung sprechen, die den menschlichen Intellekt befreite und den geistigen Horizont der Menschen erweiterte, so heißt Mensch hier für ganze Jahrhunderte »Mann« und nicht beide Geschlechter. Frauen im Mittelalter hatten durch die Klosterkultur eine Alternative, wie sie ihr Leben gestalten wollten, die ihnen in späterer Zeit und im Protestantismus abhanden kam. Wir wollen hier nicht etwa das Mittelalter als die gute alte feministische Zeit darstellen. Doch führt unser Thema zu der Überlegung, daß die Wege der Emanzipation und Unabhängigkeit nicht geradlinig verlaufen. Denn gewiß ist es Tatsache, daß die Frau, die ins Kloster ging, ein Recht zu einem kontemplativen, geistigen Leben geltend machte, das von der Gesellschaft, bei aller für Frauen geltenden Einschränkung, auch anerkannt war, während nach der Reformation die Unverheiratete als alte Jungfrau ein verachtetes Dasein fristete. So gleicht nichts in der protestantischen Welt der Stellung einer Äbtissin. Die Äbtissin des Klosters Gandersheim um das Jahr 1000 war eine Nichte von Kaiser Otto I, der offensichtlich an schriftgelehrten und literarisch produktiven Nonnen gelegen war. Eine von ihnen, Hrotsvita, ist bis zum heutigen Tag berühmt geblieben. Neben dem halben Dutzend lateinischer Stücke, die gelegentlich noch immer gelesen und sogar gespielt werden und die sie nach dem Muster römischer Komödien verfaßte, obzwar sie von biblischen Themen und christlichen Märtyrern handeln, hat sie vor allem Kirchengeschichte geschrieben (natürlich auf Latein). Welche Frau im achtzehnten oder neunzehnten Jahrhundert hat sich im Fach Kirchengeschichte hervorgetan oder hatte die Möglichkeit und den Ansporn es zu tun? Ein Nonnenkloster ist ja, auch wenn es noch so sehr unter dem Einfluß männlicher Priester und Beichtväter steht, eine Frauengemeinschaft, in der ein geistig produktives Leben sich abwickeln kann. Ich erinnere an Hildegard von Bingen als einer Äbtissin des zwölften Jahrhunderts, die ein umfangreiches schriftliches Werk hinterließ, darunter mystische Schriften, die zu den frühesten zählen, die in Deutschland verfaßt wurden. Auch als Naturwissenschaftlerin war sie zu ihrer Zeit hochgeschätzt und unterhielt eine umfangreiche Korrespondenz mit Größen vom Niveau eines Bernard von Clairvaux, was wiederum den Respekt, den mein ihr zollte, bestätigt. Im Kontrast zu diesen Leistungen mittelalterlicher Frauen in Deutschland vergegenwärtige man sich die Tatsache, daß seit dem Anfang der Neuzeit und bis ins neunzehnte Jahrhundert normalerweise die Mädchen keinen Zugang zu einer lateinischen Ausbildung hatten — also zu einer Zeit, als Latein noch ein sine qua non für jede Art von Gelehrsamkeit war, der Schlüssel zu einer wissenschaftlichen Karriere - , während im zehnten Jahrhundert die Nonne Hrotsvita von Gandersheim ihre Dramen in eben dieser Sprache verfaßte. Und abschließend zu diesem Blick aufs Mittelalter noch ein Hinweis auf die sogenannte Nonnenmystik, im Besonderen auf Mechthild von Magdeburgs Das fließende Licht der Gottheit, in deutscher Prosa verfaßt, die sich manchmal zu Versen ballt, eine Art geistig-geistliches Tagebuch, von ungewöhnlicher Dichte und Aussagekraft. Man muß schon die Scheuklappen eines Günter Grass besitzen, um die Poesie der dichtenden Nonnen des Mittelalters so geringzuschätzen, wie er es in seinem Roman Der Suff tut. Die Historiker mögen recht haben, wenn sie uns berichten, daß das Klosterleben im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert korrupt geworden war, eine Last für die Wirtschaft bedeutete, und daß die geistige Tätigkeit der Klöster mühelos von weltli-
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chen Gelehrten und Studierenden übernommen werden konnte. Doch war im weltlichen Bereich kein Platz für weibliche Intellektuelle. Die Frauen verloren durch die Auflösung der Nonnenklöster den Ort, wo sie geistig tätig sein konnten, wenn auch im lutherischen Lager die Abschaffung der Klöster als eine Befreiung der wahren Weiblichkeit ihrer ehemaligen Bewohnerinnen gefeiert wurde. Dagegen finden wir im Spanien der dunkelsten Gegenreformation die Entwicklung einer Dichterin wie der Teresa von Avila, deren Werk wohl als die größte, von einer Frau geschriebene visionäre Dichtung Europas angesehen werden darf. Ich erwähne das spanische Beispiel, um noch einmal die Tatsache ins Licht zu rücken, daß politischer Fortschritt und Reaktion andere Auswirkungen für Männer als für Frauen haben können. Aber es geht hier nicht um solche anfechtbaren Begriffe wie Reaktion und Fortschritt, sondern darum, nachzuspüren, in welchem Milieu sich ein weibliches Talent überhaupt entwickeln konnte. Und da lohnt es sich daran zu denken, daß die enorme Entwicklung von deutscher Literatur und Philosophie, von Geistes- und Naturwissenschaften und der Ruf der Universitäten, von denen diese Wissenschaften ausgingen all das, was im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert stattfand, und was man einmal die deutsche Bewegung nannte, durch die Deutschland auf die geistige Landkarte Europas kam und kurze Zeit sogar als das Land der Dichter und Denker gefeiert wurde —, daß das alles im protestantischen Teil Deutschlands stattfand, und daß diese große Strömung von freiem Forschen und Denken die Bürgersöhne trug und aufnahm, die Töchter hingegen fast ertränkte. An dieser Stelle müssen wir Luther selbst das Wort geben. Er war zwar weder der erste noch der letzte, der die moralische oder natürliche Überlegenheit der eigenen Gruppe, sei es der Christen über die Juden, sei es der Männer über die Frauen, gepredigt hat, aber er tat es auf radikale Weise, mit großer Autorität und Überzeugungskraft und mit steter Berufung auf die Bibel, die er für seine Zwecke ausschlachtete. Die Bibel läßt sich bekanntlich für alles verwenden. (Man erinnere sich nur an den verblüffendsten hermeneutischen Trick der abendländischen Geschichte, nämlich daß es gelang, eine Rechtfertigung der christlichen Judenfeindlichkeit aus den heiligen Büchern der Juden herauszulesen.) Da Luthers Meinungen über Frauen nachhaltig gewirkt haben, zitiere ich ein paar Stellen: Denn ein Weibsbild ist nicht geschaffen, Jungfrau zu sein, sondern Kinder zu tragen. [Ein Bibelzitat folgt.] ( Ursach und Antwort, daß Jungfrauen Klöster göttlich verlassen mögen, 1523) So soll des Weibes Wille, wie Gott saget, dem Manne unterworfen sein und der soll ihr Herr sein. Das ist: daß das Weib soll nicht ihres freien Willens leben, wie denn geschehen wäre, wo Eva nicht gesündiget, so hätte sie mit Adam, dem Mann zugleich regieret und geherrschet als sein Mitgehilfe. Jetzt aber, nun sie gesündiget und den Mann verführet, hat sie das Regiment verloren und muß ohne den Mann nichts anfangen oder tun. Wo der ist, muß sie mit und sich vor ihm ducken als vor ihrem Herrn, den sie soll fürchten, ihm Untertan und gehorsam sein. (Eine Predigt vom Ehestand, 1525)
Luther behauptet hier nicht etwa, daß Frauen unfähig seien, unabhängig zu leben oder sogar zu herrschen. Doch sind dies Fähigkeiten, die sie nicht ausüben dürfen, weil sie, in Luthers Auslegung der Bibel, das Recht darauf verwirkt haben. Alle Töchter Evas sind durch den Sündenfall der Urmutter verurteilt zu leiden, und ein Teil dieses Frauenleidens (neben der Schwangerschaft und der damit verbundenen Todesgefahr) ist die Herrschaft der Männer. Dienen zu müssen ist ein Unglück, das den Frauen aus heilsgeschichtlichen Gründen auferlegt ist. Ich zitiere weiter:
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Ruth Klüger Das ist nun die andere Strafe des Weibes, daß sie ihren Mann verführet. Und ich will glauben, daß die Weiber die vorigen beiden Strafen, wiewohl sie schwerer sind, nämlich Schmerz und Kümmernis, wenn sie schwanger gehen, eher und lieber, ja auch williger und geduldiger leiden wollten, denn daß die sollen den Männern Untertan und gehorsam sein. (Ebd.)
Die Stelle liest sich wie eine Kampfansage, welche die Unterdrückung der Frau nicht beschönigt oder als etwas anderes, z. B. als notwendigen Schutz des Schwächeren bezeichnet, sondern sie als eine von Gott auferlegte Strafe rechtfertigt. Nun wäre es unsinnig zu behaupten, daß irgendeine der biblischen Religionen die geistige Gleichheit der Frau gefördert hätte. Die Frage ist nicht, wo die Menschenrechte am ehesten geachtet wurden, sondern vielmehr, welcher Schlupfwinkel, Leerräume, Grenzstellen in einer Gesellschaft es bedurfte, um die weibliche Kreativität oder, wenn man will, die menschliche Kreativität in Frauen in Produktivität zu verwandeln. Und da fällt auf, daß Luther, trotz der Humanität, die besonders aus seinen frühen Schriften spricht und trotz der Vernunft, mit der er Fragen wie erzwungene Ehen anspricht, den Frauen einen Entwicklungsraum versperrte, indem er darauf bestand, daß sie nur zum Kindergebären und zum Gehorchen geschaffen seien, und Ausnahmen eigentlich nicht anerkannte. Wenn Frauen trotz allem geistig tätig wurden, so hatten sie Außenseiterschicksale, meist weit entfernt von dem Zerrbild der schriftstellernden, gelangweilten und von ihrem allzu toleranten Mann geduldeten und verwöhnten Gattin. So wurde die hervorragendste Dichterin des siebzehnten Jahrhunderts, Catharina Regina von Greiffenberg (1633 —1694), aus seelischer Not und psychischer Vereinsamung zu der Verfasserin von Sonetten, die, noch immer etwas unterschätzt, mit zum Besten gehören, was die deutsche barocke Lyrik zu bieten hat. Diese Frau war zwar Lutheranerin, aber im katholischen Österreich, also schon als Außenseiterin geboren. Dazu kamen nun die privaten Umstände ihres Lebens. Ihre Eltern verlor sie noch als Kind und wurde dann von einem Onkel erzogen, der sich persönlich ihrer Ausbildung annahm, sich in seine brillante Nichte verliebte und alle Bewerber von ihr fernhielt in der Absicht, sie selbst zu heiraten. Man muß nicht viel von Kinder- und Tiefenpsychologie wissen, um zu erkennen, daß ein solcher Antrag für das junge Mädchen einem Inzestbegehren gleichkam, also psychologisch der Antrag eines Vaters an seine Tochter bedeutete. Daß sie das Problem als solches nicht erkannt haben wird, kann es nicht leichter gemacht haben. Zum seelischen Druck kam noch ein mystischer Hang, der sie immer mehr in die Einsamkeit und Verinnerlichung trieb. In einem bürgerlichen Haushalt wäre ihr wohl selbst dieser Trost, die intensive Beschäftigimg mit ihrem Innenleben und der Literatur, versagt geblieben, da sie als Frau der Arbeit und den Pflichten eines Haushalts und einer bürgerlichen Geselligkeit kaum hätte ausweichen können. Als Adelige fand sie Muße und die Gelegenheit, in den folgenden Jahren ihre Ängste in schwierigen, sprachlich verschlüsselten und reichhaltigen religiösen Gedichten abzureagieren. Schließlich wurde die Spannung zu groß, sie ließ sich überreden, den Onkel zu heiraten. Danach schrieb sie keine Gedichte mehr, sondern übersiedelte mit ihm nach Nürnberg, zu den Lutheranern, und verfaßte danach nur noch Traktate, die uns heute nicht mehr interessieren. Für die Erzeugung dieser Dichtung bedurfte es also nicht nur eines ungewöhnlichen Talents, nicht nur einer ungewöhnlichen Erziehung und mehr Freizeit als gewöhnliche Frauen zur Verfügung hatten, sondern auch einer seelischen Krise, die aus den angeführten und einmaligen Familienumständen erwuch-
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sen. Eingefangen in der ungewünschten Ehe und nicht mehr einer Minderheit angehörend, versandete oder verharmloste auch dieses Talent. Zum Vergleich dazu die Situation in einem »normalen«, wenn auch berühmten Pfarrhaus, nämlich dem von Lessings Familie. Lessings Vater hatte mehr Kinder als Geld und hatte sein Leben lang Schwierigkeiten mit dem wenigen auszukommen, das er besaß. In dieser Familie wurde alles den Söhnen geopfert. Soweit sie dazu fähig waren, durften sie studieren und halfen schließlich einander, wenn von zu Hause kein Geld mehr zu erwarten war. Es hört sich wie eine ideal hilfsbereite Gemeinschaft an, wenn man die Töchter außer acht läßt. Für die Töchter wurde nämlich nichts ausgegeben. Sie bekamen keine Mitgift und lernten nicht einmal die Fertigkeiten, die für Töchter der Mittelklasse damals zumindest nicht unüblich waren. Sie waren verdammt, sich die Langeweile der Provinzstadt Kamenz, von der ihre Brüder bald in die Welt zogen, nicht durch die geringste Kenntnis der Geisteswissenschaften, die für die Brüder alles bedeuteten, auflockern zu können. Während die Söhne Fremdsprachen lernten, konnten die Mädchen nicht einmal ihre Muttersprache richtig buchstabieren. Wenn man Lessings brillante Korrespondenz mit seinen gelehrten Freunden in der Lachmann/Muncker'schen Ausgabe nachliest, stolpert man gelegentlich über einen Brief von einer Schwester, wie man etwa einen Bettler im Palast (oder einen Penner in der Aula) findet. Diese Briefe sind sprachlich völlig unbeholfen und verraten keine Spur eines wie immer gearteten Unterrichts. Es ist kaum zu verwundern, daß derartige Briefe von Bitterkeit und Klagen überfließen. An den Grenzen der respektablen Gesellschaft formt sich nun allerdings eine neue »Anstalt«, die Frauen einen gewissen kreativen Spielraum erlaubt, nämlich die neue Theaterkultur. Mit einem Kloster ist das Theater zumeist kaum vergleichbar, aber doch insofern, als es sich in beiden Fällen um eine Institution handelt, die den schöpferischen Eigenwillen des unterdrückten Geschlechts unter Umständen auffangen und fördern kann. So war's mit der Neuberin, die aber nicht etwa aus einer normalen bürgerlichen Familie, sondern aus einer schwierigen unsoliden Kindheit und Jugend heraus zu einer Erneuerin des deutschen Theaters wurde. Die Frage ist weiterhin, was für eine Einstellung gegenüber geistig tätigen Frauen in einer mehr und mehr säkularisierten Gesellschaft bleibt, die sich zwar nicht mehr auf den Sündenfall beruft, um Frauen an ihre von Gott verhängte Lasten (und Laster) zu erinnern, die aber Familienstrukturen, Erziehungsmethoden und vor allem eine den Mädchen von früh auf eingeimpfte Selbsteinschätzung beibehält, die von religiöseren Zeiten herrührt. In katholischen Gegenden verbindet sich vielleicht die Vorstellung der selbständig und geistig aktiven Frau eher mit einer Verwandten, die freiwillig ins Kloster gegangen war und dort eine geachtete Erzieherin wurde, als mit der lächerlichen Gestalt der alten Jungfer und Gouvernantin der frühesten Jahre. Wenn wir fragen, welche Männer es denn eigentlich erlaubten (oder unterstützten), daß ihre Ehefrauen auch in der Ehe geschrieben haben, so fällt uns die Ehe der Sophie von La Roche ein, die nicht nur mit einem Katholiken verheiratet, sondern schon vor ihrer Heirat einmal mit einem anderen Katholiken verlobt gewesen war. Zufall? Jedenfalls hat in der übernächsten Generation das große Frankfurt nur eine Bettina aufzuweisen, und die kam aus der katholischen Minderheit und war die Enkelin von Sophie von La Roche. Ihre Freundin, die in den letzten zehn oder fünfzehn Jahren wiederentdeckte Lyrikerin Günderrode, war adeliger Herkunft, daher zwar dem lutherischen aber nicht dem bürgerlichen Ethos ausgesetzt.
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Ruth Klüger Über die bedeutendste Schriftstellerin des neunzehnten Jahrhunderts, Annette von
Droste-Hülshoff, ist so viel geschrieben worden, daß es genügt, sie zu erwähnen. Adelig, unverheiratet und katholisch entspricht sie den Voraussetzungen, die ich hier zu skizzieren suche. Viel Spielraum hat ihr ihre Welt nicht gelassen, und gewiß hätte sie ein weitaus umfangreicheres Werk hinterlassen, wenn der Druck, nicht zu schreiben, geringer gewesen wäre. Meiner These zufolge hätte sie jedoch überhaupt nicht geschrieben ohne die katholisch-adelige Herkunft und das entsprechende Ambiente. Hierher gehört auch der Fall der Marie von Ebner-Eschenbach, eine Adelige aus dem katholisch-habsburgischen Böhmen im späten neunzehnten Jahrhundert. Von Kindheit an überzeugt, daß sie zur Dichterin geschaffen sei, scheint man ihr nicht ernsthaft gesagt zu haben, daß es sowas nur für Männer gäbe — wenn man sie auch nicht besonders ermutigte —, und daß schreibende Frauen für gesellschaftlich unfein gehalten würden. Den Mann, der sich für ihre Gedichte und Dramenentwürfe interessierte, hat sie auch geheiratet. Ihre Erziehung war allerdings viel zu privat für die Dramatikerin, die sie jahrelang werden wollte, Ihre Beziehung zum Theater bestand aus gelegentlichen Besuchen im Wiener Burgtheater. Sie hat sich schließlich auf das konzentriert, was sie verstand, realistische Erzählungen und Sozialkritik. Den Mann hat sie richtig gewählt: er hat sie nie gehindert. Ihre schriftstellerische Tätigkeit wurde zwar von ihrer Umgebung oft als Marotte betrachtet, aber in diesen aristokratischkatholischen Kreisen zumindest geduldet, keineswegs weil man belesen war, sondern weil man Spielraum ließ. Die Toleranz für solche Dinge war wahrscheinlich derjenigen nicht unähnlich, mit der man sich über gewisse Aspekte der bürgerlichen Moral hinwegsetzte. Ihr Werk, in der Rezeption immer wieder sentimentalisiert, ist bestimmt eines der unterschätztesten im deutschen Realismus. Sie schrieb mit unbestechlicher Härte über Eheprobleme, Klassenunterschiede, über Gewalttätigkeit gegen Frauen und Kinder und über selbstverschuldete und unverschuldete Unmündigkeit. Das Hausfrauenethos, das die protestantische Frauenliteratur so oft belastet, ist bei ihr praktisch nicht zu finden. Nun scheint gerade der vorliegende Band meiner These insofern zu widersprechen, als es sich hier weitgehend um schreibende Frauen handelt, die protestantischen Gelehrtenkreisen entstammten und mit Professoren und Wissenschaftlern verkehrten. Doch wäre zu fragen, ob nicht gerade hier der gesellschaftliche Druck, sich auch in weiblicher Arbeit, Tugend und Geselligkeit bewähren zu müssen, den letzten Durchbruch zu unkonventionellem und originellem Schaffen verhinderte. Der Kreis der Göttinger Professorentöchter, die im letzten Viertel des achtzehnten Jahrhunderts eine relativ gute Ausbildung hatten und zu denen Caroline Michaelis (spätere SchlegelSchelling) und Dorothea Schlözer, die erste »promovierte« Frau, gehörten, konnte sich letzten Endes nicht befreien von Vorstellungen einer Weiblichkeit, die sich auf lutherische Häuslichkeitszwänge zurückführen lassen. (Es sei aber zugegeben, daß sich solche Behauptungen, da sie völlig von Werturteilen abhängig sind, nicht beweisen lassen. Ich lege sie als Spekulation und zur Anregung vor.) Bei den frühen (Jenaer) Romantikern gab es nun tatsächlich Männer, die anders verallgemeinerten als es bis dahin der Fall gewesen war, und den Frauen eine naturwüchsige Fähigkeit zum Dichten und philosophischen Denken zugestanden. Die Protestantin Caroline war trotzdem nicht dazu zu bewegen, vor die Öffentlichkeit zu treten, während ihre vermutlich weniger begabte jüdische Schwägerin Dorothea (Mendelssohn-Veit-Schlegel) im selben Kreis einen Roman zustande brachte. Damit hat sie, so-
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viel ich weiß, das erste von einer deutschen Jüdin verfaßte Kunstwerk geschrieben (abgesehen von Briefen und Tagebüchern). Damit kommen wir zur Frage des jüdischen Anteils am weiblichen Schrifttum. Die jüdische Religion ist nicht weniger frauenfeindlich als die christliche. Ein unabhängiges geistiges Frauenleben ist in ihr nicht vorgesehen. Die Frau soll im Schatten des Mannes leben. Trotzdem gibt es seit dem achtzehnten Jahrhundert eine verhältnismäßig große Anzahl von Jüdinnen, die für eigene Leistungen bekannt wurden. Es kann sein, daß die Kultur einer Minderheit, die im Begriff ist sich aufzulösen oder zu assimilieren, sozusagen undicht wird und es rebellischen Gemütern erlaubt auszubrechen. Die seelischen Kosten konnten allerdings enorm sein, wie schon Hannah Arendt in ihrer Biographie von Rahel Varnhagen gezeigt hat. Jedenfalls waren die Töchter jüdischer Eltern zu keiner besonderen Leidensbereitschaft durch den Sündenfall Evas verpflichtet. In die deutsche Literatur treten sie anfänglich vor allem als geistige Vermittlerinnen ein, durch die von ihnen gegründeten Berliner Salons. Frauen katholischer Herkunft haben in Paris und Wien Salons geführt, von deutschen Frauen protestantischer Herkunft ist mir dergleichen nicht bekannt. Im zwanzigsten Jahrhundert schließlich lockern sich alle sozialen und religiösen Zwänge. Die kulturellen Unterschiede, die sich indirekt von den Religionen herleiten lassen, werden immer geringfügiger in einer Welt, wo allen Kindern in öffentlichen Schulen dieselbe Erziehung zuteil wird. Um so auffallender ist es, daß noch immer ein unverhältnismäßig großer Teil der deutschen Schriftstellerinnen aus dem katholischen Österreich kommt, darunter die größte Lyrikerin der Nachkriegszeit, Ingeborg Bachmann. Und auch die Anzahl der Dichterinnen jüdischer Herkunft bleibt erstaunlich. Um nur einige zu nennen: Else Lasker-Schüler, die in ihrem Werk die Spannung zwischen jüdischem und deutschem Erbe gestaltet; die Nobelpreisträgerin Nelly Sachs; die beiden »jüdischen Katholikinnen« Elisabeth Langgässer und Ilse Aichinger; und das politisch engagierte Werk der Anna Seghers. Wenn diese Beobachtungen ihre Richtigkeit haben, was ließe sich folgem7 Man müßte die Geistes- und Literaturgeschichte der Frauen anders schreiben als die der Männer. Man müßte davon ausgehen, daß die kulturellen Bedingungen für weibliches Schaffen anderen Gesetzen unterliegen und daher derart anders verlaufen, daß man den Frauen nicht einfach ein Kämmerchen im geräumigen Hause einer allgemeinen Geistesgeschichte einräumen und annehmen kann, daß sie unter ähnlichen Voraussetzungen geschrieben haben wie ihre männlichen Zeitgenossen. Tatsächlich ist das kulturelle Erbe für Frauen und Männer verschieden gewesen, gerade dort, wo es das gleiche zu sein scheint, und Unterschiede in Schaffensbedingungen und Denkstrukturen sind radikaler als man annehmen möchte. Als offene Frage bliebe, inwiefern wir heute noch immer mit solchen Unterschieden zu rechnen haben. ANMERKUNG (statt Anmerkungen): Dieser Text ist das Resultat von Überlegungen, die sich im Laufe einer vieljährigen Beschäftigung mit der deutschen Literatur eingestellt haben. Daher sind sie nicht im eigentlichen Sinne »Forschungsergebnis«. Die Tatsachen, auf die sie sich beziehen (vielleicht mit Ausnahme der Lutherzitate, die man z.B. in dem Reclambändchen, Martin Luther: »Vom ehelichen Leben«, hg. v. Dagmar Lorenz, nachlesen kann), sind anderen Kennern der deutschen Literatur ebenso bekannt wie mir und lassen sich überdies in gängigen Nachschlagewerken überprüfen. Es scheint mir daher unangebracht, die hier vorgelegten Gedanken, die zum Nachdenken und Widerspruch reizen sollen, mit einem »Apparat« zu verzieren oder zu verunstalten.
ERICH SCHÖN
Weibliches Lesen: Romanleserinnen im späten 1 8 . Jahrhundert
»Nun nehme ich ein Buch aus der Tasche, lese vor, oder lasse mir von Luisen vorlesen. Oft kommen wir nur einige Zeilen weit. Luise fragt um etwas, das sie nicht versteht; und ich erkläre es ihr.« (August Lafontaine: Die Strafe im Alter, oder die Folgen des Leichtsinns, 1799, S. 104.)
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ι . Der literatursoziologische Grundriß Von 1 7 5 0 bis 1800 erschienen in Deutschland über 5000 Romane.1 Gelesen wurden sie von Frauen. Wir finden diese Romanleserinnen vor allem im Bürgertum; erst in zweiter Linie in Adel und Kleinbürgertum. Zentrales Merkmal dieses Bürgertums ist seine Bildung. Diese war zunächst instrumenteil zur Erlangung eines Amtes als Beamter gewesen; inzwischen ist sie auch Wert an sich und dient zur Konstitution der eigenen sozialen Identität. Dazu kommt - im Gegensatz zu älteren, noch stärker naturalwirtschaftenden Gruppen — das disponible Geld für Bücherkauf, für Lesegesellschaft und Leihbibliothek. Und die Lebenssituation sowohl des Wirtschafts- wie des Beamten-Bürgertums begünstigt es, daß sich die moderne Polarisierung der Geschlechtercharaktere hier früher und deutlicher ausbildet als in anderen Schichten. Folge ist auch kultursoziologisch eine >Arbeitsteilung< von Mann und Frau, vor allem die Freisetzung der von außerhäuslich-produktiver Tätigkeit entlasteten Frau für die Lektüre von Literatur, darüber hinaus die Ausbildung einer spezifisch bürgerlichen — und für die Literatur: spezifisch weiblichen - Bedürfnisstruktur. Denn literatursoziologisch ergibt diese Geschlechterrollenverteilung eindeutige Zuordnungen: Die Männer lesen, von berufsbezogener Lektüre abgesehen, die Zeitung, politische oder überhaupt Sachliteratur; das Publikum der Belletristik sind im 18. Jahrhundert — wie dann auch im 19. — überwiegend die Frauen. Vom professionellen Lesen sehe ich hier völlig ab, sonst ergäbe sich ein ganz anderes Bild. Dieses Lesen der Frauen ist Teil jenes Konsums, auf den sie tendenziell konzentriert sind; im 19. Jahrhundert wird daran das Moment des demonstrativen Konsums< immer offenbarer werden. Doch dürften sich für die Frauen die speziellen Motivationen für die Zuwendung zu Literatur wesentlich daraus ergeben, daß dabei die Leserinnen — junge Mädchen wie erwachsene Frauen — sich im Medium literarischer Phantasien ersatzhaft jene Handlungsmöglichkeiten erschließen wollen, die ihnen aufgrund der zu dieser Zeit erfolgenden Differenzierung der Geschlechtercharaktere in der realen Alltagswelt vielleicht sogar mehr als früher versagt sind. Gewiß lesen auch die Männer. Aber während das Lesen der Frauen im häuslichen Bereich der Entlastung von produktiver Tätigkeit stattfindet, wird im Erfahrungsbereich der Männer die Denkform der >freien Zeit< ausgebildet. Ihre berufliche Situation außerhäuslichef Tätigkeit läßt ja die moderne kategoriale Trennung von Arbeit und Freizeit entstehen. Solche >freie Zeit< ist nicht nur quantitativ, sondern wichtiger noch mentalitätsmäßig als disponible Zeit nach der Arbeit und kategorial getrennt von dieser Voraussetzung für Lektüre oder Theaterbesuch: »Dann erst ist die Leetüre zu gestatten, wenn wir unsere Berufsgeschäfte mit Sorgfalt abgewartet haben, um damit die müßigen Abend- oder Sonntagsstunden auszufüllen [...]«. (1806)2 Diese verschiedenen Räume weiblichen und männlichen Lesens sind als Folie für die >Lesesuchtgemischten< Arbeitszusammenhang der Frauen.
1 Genau 5008 nach Michael Hadley: Romanverzeichnis. Bern u.a. 1977. Die Zahl ist eher nach oben zu korrigieren. 2 Beobachtende Blicke auf Leihbibliotheken und Lesecirkel. In: Schlesische Provinzialblätter, Breslau 1806, S. 4 3 3 - 4 5 1 (gez. >K.Freizeitbeschäftigung< angesehenen ist männliches Lesen beschränkt auf die Zeit bis zur Adoleszenz, genauer bis zum Beginn des Berufslebens; was bis dahin toleriert oder sogar befürwortet wird, wird danach abgelehnt. Diese Tolerierung bei jungen Männern dürfte Relikt dessen sein, daß im 17. und auch noch lange im 18. Jahrhundert Romane — auf der Basis exemplarischen Lesens — zur rhetorischen Ausbildung von Männern gelesen wurden; noch am Ende des Jahrhunderts legitimieren ihre Befürworter Romane damit, sie könnten »Welt- und Menschenkenntnis« und »brauchbare Maximen« mitteilen und »dazu dienen, manche Leser ihre Muttersprache besser reden und schreiben zu lehren«.3 Bei den Frauen ist dies umgekehrt: Autobiographien und andere Quellen, auch Differenzierungen der >Lesesuchthinaus< durften, entsprechen komplementäre Erinnerungen von Männern, die als Knaben >hinaus< mußten, und die lieber gelesen hätten, aber — schon gar Romane! — nicht lesen durften.5
2. Frauen und Bücher Um 1800 dürfte die durchschnittlich verkaufte Auflage eines Romans bei ca. 700 bis 750 Exemplaren gelegen haben. Hiervon ging ein Teil an — nota bene männliche — professionelle Leser: Professionsverwandte des Autors, Literaten, Pädagogen, Theologen, berufsmäßige Rezensenten. Die individuellen Käufer sind nicht sehr zahlreich und kommen fast nur aus dem obersten Bürgertum und dem Adel: Sie haben Geld für den Kauf, andererseits ist für manche Landadlige der Besuch einer Leihbibliothek aufwendig. Gelesen werden auch diese Romane am Ende überwiegend von Frauen. Als Profil dieser sehr kleinen Gruppe zeichnet sich ab, daß diese Frauen aus vermögenden Familien jeweils nur für einige Jahre relativ viel kaufen und lesen. Der größte Teil der Verkaufsauflage geht an die Leihbibliotheken. Nach Martino nahmen sie nach 1800 drei Viertel der gesamten Belletristik auf, ihre Blüte lag in der Restaurationszeit.6 Das 3 Christian V. Kindervater: Was nutzen oder schaden die Romane? In: Philosophische und litterarische Monatsschrift für Menschen in allen Ständen und Verhältnissen zur Bildung des Verstandes und Herzens. Hg. v. J. F. Knüppel und C. C. Nenke, 2. Bd., Januar bis April 1787. Berlin/Dessau/Leipzig, S. 78 - 89. Hier S. 83t. (Nur als Beispiel für zahllose weitere.) 4 Vgl. z.B.: Familiengespräch. Wilhelm und Emma. In: Hannoverisches Magazin 27 (1789), Hannover 1790,46. St., Sp. 721—736; 47. St., Sp. 737—752; 48. St., Sp. 753 — 758. 5 Diese Differenz prägt sich sozial unterschiedlich aus, entsprechend der für die Söhne des Bürgertums und des Kleinbürgertums verschiedenen Rollenerwartungen für den späteren Beruf. Auch die Entstehung der Kindheih wirkt sich — abermals sozial unterschiedlich - differenzierend aus, da die Standards kindgemäßen Verhaltens neu definiert werden. 6 Vgl. Alberto Martino: Die dt. Leihbibliothek und ihr Publikum. In: A. M. (Hg.): Lit. in d. sozialen Bewegung. Tübingen 1977, S. 1—26. Hier S. 1.
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heißt: Romane werden im mittleren und erst recht im Kleinbürgertum aus der Leihbibliothek gelesen; privater Besitz ist die Ausnahme. Auch hier sind die Romanleser überwiegend die Frauen; ein geringer Anteil männlicher Jugendlicher kommt dazu.7 Für das 18. wie weithin für das ig. Jahrhundert gilt, daß von den Männern nur professionell mit Literatur Befaßte Romane lesen: »Männer lesen nicht mehr Romane, außer um sie zu recensiren. Wer Romane schreibt, muß an die Damen denken, wenn er gelesen sein will. Sie herrschen schon jetzt.« (183 7).® Die Konsequenz dieser Feststellung, daß die Romane - sieht man von den professionellen Lesern ab — ganz überwiegend von Frauen gelesen wurden, ist wissenschaftsgeschichtlich ein blinder Fleck. Nicht nur ist es für das späte 18. Jahrhundert problematisch, von >Frauenromanen< (als in einem Gegensatz zu Romanen allgemein) zu sprechen, da es eigentlich von der Rezeption her kaum andere als Frauenromane gibt. Wichtiger noch ist: Die Gattung und konkret ihre Neuentstehung als bürgerlicher Roman im 18. Jahrhundert konstituiert sich in der Rezeption fast ausschließlich durch weibliches Lesen. Vor allem steht hinter allen literatursoziologischen Überlegungen das wissenschaftsgeschichtliche und soziologische Paradox, daß nahezu alle Beteiligten, von den (männlichen) Romanautoren und Ästhetikern des 18. Jahrhunderts bis zu den heutigen Literaturhistorikern, sehr wohl wissen, daß ihre Adressaten bzw. die tatsächlichen Leser der Romane Frauen waren. Aber die zeitgenössischen Literaten verdrängten dies meist ebenso - es gibt Ausnahmen — wie es bis heute die Literaturwissenschaft tut: es entsteht die Fiktion eines geschlechtsneutralen Lesens, einer geschlechtsneutralen Literatur. Welche Bücher sind im mittleren und kleinen Bürgertum privater Besitz? - Zu einfach wäre die Vermutung, die Männer könnten ihre Literaturbedürfnisse durch Kauf, die Frauen müßten ihre in der Leihbibliothek befriedigen. Gekauft wird überhaupt nur, was Brauchbarkeit für lange Zeit verspricht. Das sind zunächst die >HausbücherBildung< motiviert ist. Der Umfang dieser Kategorie steigt im Laufe des 18. Jahrhunderts an; ihr Inhalt verändert sich auch und wird sich im 19. Jahrhundert noch stärker verändern. Im späten 18. Jahrhundert erfaßt sie die antiken Klassiker sowie vor allem nach der Französischen Revolution politische, d. h. ökonomisch-historisch-geographische Werke. Deutsche Literatur, auch anerkannte, ist vom zeitgenössischen Bildungsbegriff noch nicht mit erfaßt. So ist freilich der private Buchbesitz am Mann orientiert, durch seinen Beruf und die davon bestimmten Interessen, zunächst auch durch ihn als den Träger der >Bildung< (dieses wird sich ändern). Auch der Mann ist für aktuelle Literatur, und für ihn heißt das ja kaum Belletristik, sondern Informationsliteratur, auf die Leihbibliothek an-
7 Von dieser Dominanz der Frauen als Romanleserinnen gibt es nur wenige Ausnahmen; erotische Literatur z. B„ für die wir den bildlichen Darstellungen zum Trotz, die uns in erotischen Situationen nahezu ausschließlich Leserinnen zeigen, doch wohl ein meist männliches Publikum werden annehmen müssen. Entsprechende Anzeigen im Intelligenzblatt zum »Journal des Luxus und der Moden« lassen darauf schließen. 8 Blätter für lit. Unterhaltung, 1837, zit. nach Bernd Wegener: Lesen und histor. Anfänge weiblichen Bildung. Lit. Aussagen über die Lektüre der Frau. In: Bertelsmann Briefe 1980, H. 103, S. 36—49. Hier S. 43.
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gewiesen. Vollends die Töchter und Ehefrauen werden in den Buchbeständen ihrer Väter und Männer kaum etwas ihrer Bedürfnissituation Entsprechendes finden. Wegen der bis zur Mitte des ig. Jahrhunderts hohen Bücherpreise ist die Leihbibliothek der einzig akzeptable Ausweg. Bey der Theurung aller Lebensmittel und der damit verbundenen kostbaren Haushaltung muß man solche Institute segnen, denn nur dadurch ist es möglich, daß der spärlich besoldete Prediger oder Officiant in den Stand gesetzt wird, sich mit Werken der neuesten Zeit und solchen Producten zu beschäftigen, die er sonst, da er jeden Pfennig zu andern Ausgaben sparen muß, um die Bedürfnisse seiner Familie zu bestreiten, entbehren müßte. (1806)9
Von einer bestimmten Leihbibliothek, die »mehr aus angenehm unterhaltenden, als eigentlich klassischen und belehrenden Werken besteht«, sagt dieselbe Quelle mit Bezug auf seinen Besitzer: Die Auswahl der einzelnen Bücher zeugt von einem Manne, der, indem er allerdings auch seinen Vortheil im Auge hat, auch auf die Wünsche und den Geschmack der Leser aus allen Ständen Rücksicht nimmt, jedoch sind es weit mehr die Personen des zweiten, als des männlichen Geschlechts, die sich um seinen Büchervorrath her versammlen [.. .].to
So stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Bücherverleiher oder -verleihen« zur Leserin. Steinlein hat dies für Rousseaus Bücherverleiherin als Mutter-Kind-Verhältnis interpretiert.11 Doch sprechen deutsche Zeugnisse nur für Kinder und Jugendliche von persönlichen Beziehungen. Bei den Bürgerfrauen wird oft — auch wenn dies Polemik zur Distanzierung von den Dienstboten ist — davon geredet, daß diese geschickt werden und daß angeblich diese nach ihrem Geschmack die Bücher für die Dame aussuchen. Interpretationen ist jedenfalls Vorsicht geboten.
3. Die weibliche Lesesituation Voraussetzung für die Lektüre war d i s p o n i b l e s G e l d . Formeln wie die vom Aufstieg des Bürgertums im 18. Jahrhundert u.ä. haben z.T. zu falschen Vorstellungen von der Größe dieser Gruppe wie von ihren materiellen Lebensbedingungen geführt. Ich nehme für ca. 1 7 8 0 den Anteil des Adels mit max. 1% an; den der Kaufleute, Unternehmer, Wirte, der neuen Wirtschaftsbürger u. ä. mit max. 2%; den der Geistlichen, Beamten u.ä. mit ca. 3% und den der Handwerker, Unteroffiziere, Amtsdiener u.ä., also des >KleinbürgertumsLeselehrer< auftreten, ist ein Aspekt des allgemeinen Vormundschaftsverhältnisses, doch zunächst legitimiert es sich aus der tatsächlich geringeren Bildung.3" Die Männer setzen, was sie selbst in formaler Ausbildung erworben haben, vermittelnd um in Leseregulation für die Frauen. Der lójahrige Goethe — er wird später in Dichtung und Wahrheit kommentieren: »Mir war es lustig zu sehen, wie ich dasjenige, was Geliert uns in Kollegium überliefert oder gerathen, sogleich wieder gegen meine Schwester gewendet.« — schreibt 1765 seiner 15jährigen Schwester: »Du bist eine Närrin mit deinem Grandison. [...] Aber mercke dirs, du sollst keine Romanen mehr lesen, als die ich erlaube.« Und weiter: Du bist über die Kinderjahre, du must also nicht nur zum Vergnügen, sondern zur Besserung deines Verstandes, und deines Willens lesen. [...] Allein ich muß dich auch lesen lernen. Nichtwahr das kommt dir wunderlich für, daß ich so rede. [...] Siehe so must du es machen. Nimm ein Stück nach dem andern, in der Reihe, ließ es aufmercksam durch, und wenn es dir auch nicht gefällt, ließ es doch. Du must dir Gewalt antuhn.' 1
Sich beim Lesen selbst »Gewalt antuhn« — »und nicht nur Vergnügen beym Lesen suchen« — das ist die Durchsetzung eines von Bildungs-, Vernunft-, Leistungs-Kriterien bestimmten Lesens gegen ein Lesen nach dem Lustprinzip. Mit der Durchsetzung des bürgerlichen Bildungsbegriffs geraten ohnehin literarische Kompetenz und Merkmale lustbestimmten Lesens in Gegensatz. Bei Goethe in den 60er Jahren begründen sich weibliche Inkompetenzen noch offen aus geringerer formaler Bildung der Frauen. Herders Leseanweisungen an Karoline Flachsland stehen schon im Kontext seiner Gleichsetzung von Weiblichkeit mit Natur, Kindlichkeit und Naivität. Und dann zu Beginn des 19. Jahrhunderts bereits - im Zuge der Verfestigung der gesellschaftlich polarisierten Geschlechtscharaktere zu vermeintlichen Natureigenschaften - werden Merkmale literarisch >inkompetentenLeselehrer< der >LesesuchtLücke< und in ihrer Folge das asymmetrische Verhältnis bleibt ein zentrales Merkmal weiblichen Lesens bis weit ins 19. Jahrhundert (ich denke z. B. an das Verhältnis Storms zu seiner Base, mit der er sich 1844 verlobte). Doch falls meine Beobachtungen generalisierbar sind, dann tritt von der Mitte des 18. bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts die personale LeseBelehrung zurück zugunsten von eigenen Publikationen mit dieser Intention. Ich denke dabei an sog. »Bildungsbibliotheken für Nichtstudierte«, an Walchners Umsetzung von Sacchinis Lesepropädeutik für die »junge Generation« und die »schöne Hälfte unseres Geschlechtes« oder Bergks Kunst, Bücher zu lesen, die die Kritik empfiehlt: »Für Leserinnen, die gern mehr denken, als man es bei Romanen zu thun pflegt.«35 Im Ergebnis des historischen Wandels ins 19. Jahrhundert hinein werden zwei Implikationen der männlichen Lese-Vormundschaft erkennbar: erstens ist es ein männliches Prinzip, dem das weibliche Lesen unterworfen werden soll: die normative Ästhetik der Klassik, das Bildungs- und Leistungsprinzip. Ob und wieweit sich diese männli-
33 de Marées (Anm. 32), S. 26. - Doch bleiben solche Versuche, den Schritt von der Aufklärung zur klassischen Ästhetik lesepropädeutisch umzusetzen, hilflos: was über das stoffliche Interesse hinausgeht, muß sich abstrakt auf Anforderungen des >Gebildetseins< berufen. 34 Meister (Anm. 18), S. 48. — Vgl. auch Marianne Ehrmann: Ueber die Lektür. In: M. E.: Amaliens Erholungsstunden. 1. Bdchen, 2. Aufl., Tübingen 1790, S. 12—29. Hier S. 18. 35 Journal d. Luxus u. d. Moden, hg. v. Fr. J. Bertuch u. a„ Weimar/Gotha (Jg· 7ff·: Weimar), 1 ( i 7 8 6 ) - 4 2 (1827). Jg. 1800, S. 641.
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chen Normen gegen weibliches Lesen tatsächlich durchsetzten, ist damit aber noch nicht gesagt. Zweitens wird, was im frühen und mittleren 18. Jahrhundert noch aus konkret-realen Bedingungen sich ableitet, im späten 18. und dann fortschreitend im ig. Jahrhundert einer ideologischen Erklärung unterworfen, vor allem dem Ideologem von den Natureigenschaften der Geschlechter. Erst das 19. ist das »Jahrhundert der Ideologien«.
6. Weibliches Lesen als Status- und Identitätsarbeit »Das Weib muß lesen um die Unterredung ihres Mannes und seiner Freunde einigermaßen zu verstehen, um nicht durch den Ausdruck der höchsten Langeweile auf ihrem Gesichte diese oft zu unterbrechen.« (1787) 36 — Der Indizienwert solcher Forderungen ist nicht damit erschöpft, daß der Mann eine angenehme Gesellschafterin haben will. Die weibliche Lektüre ist nicht auf den Ehemann allein bezogen, sondern von vornherein, d. h. seit der Lese-Apologetik der Jahrhundertmitte, auf die Außendarstellung der bürgerlichen Familie. Diese kommt wieder der Position des Mannes zugute; Mann und Frau arbeiten hier in gemeinsamem Interesse zusammen. Bereits das weibliche Leseideal der Moralischen Wochenschriften und Gellerts meinte nicht individuelle, einsame Lektüre, sondern >geselligeGalante Wissenschaft, um Gesprächsstoff beim Umgang mit dem Frauenzimmer zu haben, aber die bürgerlichen Männer lesen kaum Romane, über die sie dann öffentlich räsonieren« könnten. (Habermas' Vorstellung der bürgerlichen Öffentlichkeit« darf man bekanntlich nicht unter der Fiktion sehen, sie entspreche sozialhistorischer Realität.) Wie oft kann man in Gesellschaften, besonders von gebildet seyn wollenden Frauenzimmern, [...] kommen, wo nichts anderes gesprochen wird, als eine immerwährende Rezensirung dieses und jenes und anderer der neuesten Romane [...]. (1789) 38
36 Ernst Brandes: Ueber die Weiber. Leipzig 1787; zit. nach Dominik von König: Lesesucht u. Lesewut. In: Buch u. Leser. Hg. v. Herbert Göpfert. Hamburg 1977, S. 8 9 - 1 2 4 . Hier S. 99. Hervorhebung E. S. 37 Meister (Anm. 18), S. 46. - Vgl. auch das Zitat von 1789 im 1. Abschnitt. 38 Immanuel D. Mauchart: Untersuchungen über das Vergnügen am Historischen, bes. an Romanen. In: I. D. M.: Phänomene der menschl. Seele. Stuttgart 1789, S. 151—174. Hier S. 157t.
Weibliches Lesen
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Ob freilich die Frauen sich über ihre tatsächlichen Lektüreerlebnisse austauschen, ist etwas anderes. Dies ist möglich, unterhalb eines bestimmten Grades der Intimität im Rahmen bürgerlicher Geselligkeit der Status-Funktion auch nicht abträglich, aber für diese nicht nötig. Auch zahlreiche beiläufige Erwähnungen im Journal des Luxus und der Moden zeigen Lektüre als weiblichen Konversationsstoff. Kurz nach 1800 werden Lesepropädeutiken und Lebensregeln immer konkreter in ihren Ratschlägen an die Frauen für das Reden über Literatur (wie auch für die Konversation in der Theaterpause);39 im späteren 19. Jahrhundert gehen die >Anstandsbücher< dann zu Musterdialogen über.40 Weibliches Lesen wird im Bürgertum in dem Maße und in die Richtung gefördert, wie es als Statusarbeit funktional ist. Das meint zunächst die offen von allem >Nutzen< entlastete Lektüre als »demonstrativer Konsum« im Sinne Vehlens, wie ihn schon Fügen beschrieben hat. In dem nach 1800 entwickelten bürgerlichen Schulwesen ist, wie Jäger bei seiner Analyse der Lehrpläne für den Deutschunterricht gezeigt hat, von vornherein für die Töchter des Bürgertums ein größerer Umfang der Beschäftigung mit deutscher Literatur vorgesehen als für die Jungen. Und von den Lesepropädeutiken und Lebensregeln des frühen 19. Jahrhunderts wird den Frauen sogar ausdrücklich die >interesselose< Lektüre der >zweckfreien< Werke der deutschen Klassik empfohlen. Doch dabei dürfen sie nicht etwa lesen, bloß um »sich durch Bücherlesen zu vergnügen« (Campe). - Auch Status-Arbeit ist schließlich Arbeit. Genauer: Sie sollen >zweckfreie< Texte lesen, dieses Lesen darf aber seiner Qualität nach nicht zweckfrei sein. Es muß schon deshalb mit der nötigen Ernsthaftigkeit betrieben werden, weil es — bereits im späten 18. Jahrhundert, aber dann im 19. Jahrhundert immer massiver — vom bürgerlichen Bildungsbegriff erfaßt wird und über diesen nicht nur das Fremdbild prägen soll, sondern (vielleicht noch wichtiger) das Selbstbild tatsächlich prägt, bürgerliche Identität sichert. Ein Teil der Widersprüche, die sich nicht über die emanzipatorische oder repressive Funktion bestimmter Bilder von Frauen und konkret vom weiblichen Umgang mit Literatur klarwerden können, gründet in der fehlenden Unterscheidung von Gelehrsamkeit* vs >BildungBildung< und >AusbildungLesesuchtLesesuchtLücke< gibt. Die Männer sind Subjekt dieser Kritik. Nicht, als ob die Männer selbst kompetent, auf der Höhe der zeitgenössischen Ästhetik, rezipierten; nicht, als ob nicht die ästhetisch inkompetente< Rezeptionsweise der Bedürfnissituation der Leserinnen vielleicht besser entsprach. Die Männer beargwöhnten und bevormundeten ein Lesen, das sie selbst schon deshalb nicht praktizierten, weil sie kaum Romane lasen, um dessen unterstellt atavistischen Charakter sie die Frauen aber uneingestanden beneideten. Diese unaufgedeckte Mischung von Angst und Neid der Männer scheint zentrales Moment der männlichen Kritik an der weiblichen >Lesesucht< zu sein. Meise hat die im weiblichen Lesen als Wunsch enthaltene Tendenz zur Individualisierung, Absonderung, Intimisierung hervorgehoben, (die aber nicht spezifisch für das weibliche Lesen ist52). Diese Tendenz hat Pressionen zur »Veröffentlichung« dieses Lesens zur Reaktion. Ich sehe darin vor allem das Mißtrauen der >LesesuchtLesesuchtUnterworfenen< ist letztlich die vor einer Gefährdung des gesellschaftlich erreichten Standes im Zivilisationsprozeß. In der — nur mit Ängsten akzeptierten — Freistellung weiblichen Lesens von männlicher Zweckrationalität liegt aber für die Männer auch eine positive Dimension: Weibliches Lesen hat für sie auch die Funktion, jene männlichen Defizite aufzufangen, die sich für die Männer aus der bürgerlichen Geschlechterdifferenzierung ergeben haben. Die >Polarisierung der Geschlechtercharaktere< im 18. Jahrhundert hieß ja nicht etwa, daß die Männer als ihre Subjekte für sich, für die männliche Rolle, die >guten< Teile genommen und den Frauen die >schlechten< zugeordnet hätten. Die männliche Rolle ist als die »zivilisiertere« (d. h. diszipliniertere) mit um so mehr Deformationen verbunden; und im 18. Jahrhundert war dies offenbar noch bewußter: die >größere Nähe der Frauen zur Natur< erschien als Verlust, als Defizit der Männer. Die Frau wird auch insofern zum gesellschaftlichen Konstrukt, als das Bild der Frau die Projektion der männlichen, d. h. in der Männerrolle erfahrenen Defizite (als vermeintlich dort nicht defizient) beinhaltet. Geliert überlegte, [...] woher es kömmt, daß die Frauenzimmer oft natürlichere Briefe schreiben als die Mannspersonen. Die Empfindungen der Frauenzimmer sind zarter und lebhafter, als die unsrigen. [...] Sie werden nicht allein öfter, sondern auch leichter gerührt als wir. [...] Die Frauenzimmer
52 Vgl. Schön (Anm. 12), Kap. Gemeinsames Lesen«, sowie generell die Arbeiten von Roger Chartier. 53 Die männliche Disziplinierung ist allgemeiner; sie liegt aber meist auf anderen Gebieten, z. B. dem der Arbeit und Leistung etc. 54 Campe, zit. nach v. König (Anm. 36), S. 92.
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sorgen weniger für die Ordnung eines Briefs, und weil sie nicht durch die Regeln der Kunst ihrem Verstände eine ungewöhnliche Richtung gegeben haben: so wird ihr Brief desto freier und weniger ängstlich.55 Dieses Syndrom baut sich im Laufe des 18. Jahrhunderts aus, es setzt Männlichkeit mit Gesellschaftlichkeit und Entfremdung gleich, Weiblichkeit mit N ä h e zu Natur und Freiheit von Entfremdung. Es bildet nicht nur den Erklärungshintergrund dafür, warum man den Frauen größere >Reizbarkeit ihrer Sinne< und leichtere Verführbarkeit zuschrieb. Die >Lesesuchtgrößeren Nähe zur Natur< — ihnen eine größere Empfänglichkeit für die Romane zuschreibt, eine größere Gefährdung damit durch die Romane. »Wohl gemerkt aber, daß in dieser Hinsicht das Lesen der Romane besonders dem Frauenzimmer nach ihrer ihnen mehr eigenen Feinheit der Empfindungen und zärtlichen G e fühls gefährlich sey.« 56 Aber schon Gellerts Argumentation zeigt, daß die >Nähe zur Natur< in den A u g e n der Männer auch etwas Beneidenswertes ist. Der den Frauen zugeschriebene Atavismus ist die negative Kehrseite einer männlichen Utopie. Der N a m e dieser Utopie ist >NaivitätZeitschrift< kann dabei leicht übersehen werden, medienbedingte Eigentümlichkeiten geraten so in die Gefahr, als Gattungsspezifika mißdeutet oder als individuelle Komponente des Autors/der Autorin interpretiert zu werden. 4
1 Vom gleichen methodischen Ansatz geht die Studie von Reinhart Meyer aus: Novelle und Journal. Untersuchungen zur Terminologie der Journalprosa, zu ihren Tendenzen, Verhältnissen und Bedingungen. Wiesbaden/Stuttgart 1987. 2 1775/1776; als Buch in 3 Bden 1 7 7 9 — 1 7 8 1 erschienen. 3 1797: Χ, XI, XII. Fertigstellung des Romans: Dez. 1802 in Weimar; Anfang 1803 im Druck, 1803 in Frankfurt/M. erschienen. 4 Die Untersuchung von Lydia Schieth geht in verdienstvoller Weise auf den Aspekt der Veröffentlichungspraxis der Romanautorinnen bereits ein. — Vgl. Lydia Schieth: Die Entwicklung
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Mit meiner Frage nach den möglichen literarischen und medialen (publizistischen) Zusammenhängen möchte ich auf eine weitere Ebene für die Erschließung des Frauenromans im 18. Jahrhundert verweisen.
2. Die Frau als Leserin, Autorin und Journalistin Sozialer Wandel und bildungsgeschichtliche Veränderungen charakterisieren den gesellschaftlichen Umschichtungsprozeß im Zeitalter der Aufklärung. Verbürgerlichung und Literarisierung waren konkreter Ausdruck dieses Wandels, von dem erstmalig die (bürgerliche) Frau - wenn auch nur in begrenztem Umfang - profitiert hat. Wenn sich im Verlauf des Jahrhunderts eine literarisch interessierte und aufgeschlossene bürgerliche Öffentlichkeit herausgebildet hat, gehört die (bürgerliche) Frau als Leserin, Autorin, Journalistin und Redakteurin dazu. Auf die diesen Prozeß konstituierenden Faktoren muß ich nicht näher eingehen, da bereits ausführliche Untersuchungen vorliegen, so vor allem zu folgenden Aspekten: expandierende Buch- und Joumalproduktion, Anwachsen der Autorenzahlen, Zunahme belletristischer bürgerlicher Literatur, Erweiterung des Lesepublikums innerhalb der >Mittelclasse< (Johann Friedrich Kom, 1797/Breslauer Buchhändler), Öffnung der Gelehrtenrepublik, bildungsreformerische Ansätze etc.5 Die Lesegesellschaften geben in besonderer Weise Aufschluß über das literarische Leben der Zeit. Die Geschichte, Struktur und Funktion dieser Gesellschaften, die es in fast allen größeren Städten Deutschlands gab,6 bedürfen vor allem auf regionaler Ebene der gründlichen Erforschung, da nur so ein differenziertes und genaues Profil des zeitgenössischen Lesepublikums zu ermitteln ist.7 Wenig wissen wir über eine spezielle Form der Lesegesellschaften: die Journalgesellschafte». Sie werden gerade im Hinblick auf die Herausbildung einer kulturell und politisch interessierten Öffentlichkeit im späten 18. Jahrhundert eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt haben. Journalgesellschaften gab es - nach Prüsener — in folgenden Städten: Berlin (1764), Bremen (1796; 1799), Altenburg/Sachsen (1801), Coburg (1790), Göttingen (1790; 1804), Hannover (1805), Hamburg (1799), Greiz/ Vogtland (1793), Königsberg (1793), Mühlhausen/Elsaß (1788), Reichenbach/Vogtland (1793), Schwerin (1803), Riga (1790), Stralsund (ca. 1779). 8 Noch weniger läßt sich konkret über die >weibliche Öffentlichkeit gegen Ende des Jahrhunderts sagen. Besonders hier steht die Forschung erst am Anfang. Global wird von den Zeitgenossen ein Anstieg der Leserinnenzahl festgestellt bzw. beklagt. Im
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des deutschen Frauenromans im ausgehenden 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Gattungsgeschichte. Frankfurt/M./Bem/New York/Paris 1987, S. 7off. Vor allem Schenda, Engelsing, Grimminger, Goldfriedrich, Haferkom, Herrmann, BeckerCantarino, Erika Küpper. Vgl. die Übersicht bei Marlies Prüsener: Lesegesellschaften im achtzehnten Jahrhundert. Ein Beitrag zur Lesergeschichte. Frankfurt/M. 1972, Sp. 5 3 1 - 5 8 1 . Z. B. die Untersuchung von Karl-Heinz Ziessow: Ländliche Lesekultur im 18. und 19. Jahrhundert: Das Kirchspiel Menslage und seine Lesegesellschaften 1 7 9 0 - 1 8 4 0 . 2 Bde. (Materialien zur Volkskultur nordwestliches Niedersachsen, Heft 1 2 und 13.) Cloppenburg: Museumsdorf 1988. Vgl. Prüsener: Lesegesellschaften, Sp. 5 3 iff.
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Zusammenhang mit einer Anzeige von Schillers Historischem Kalender für Damen schreibt Wieland im Neuen Teutschen Merkur (Februar 1791): Wo ehemals kaum in den höchsten Classen hier und da einige Damen waren, die etwas Gedrucktes, außer ihrem Gebetbuche und dem Hauskalender kannten und sich in müßigen Stunden etwa mit Hercules und Herculiscus, der Römischen Octavia und in der Folge mit der Asiatischen Banise, Neukirchs Telemach u. a. allgemein beliebten Büchern ihrer Zeit unterhielten - da ist jetzt das Lesen auch unter der Mittelclasse, und bis nahe an diejenigen, die gar nicht lesen gelernt haben, allgemeines Bedürfniß geworden; und gegen ein Frauenzimmer, welches vor fünfzig Jahren ein zu ihrer Zeit geschriebenes Buch las, sind jetzt (um nicht zu viel zu sagen) hundert, zumal in kleinen Städten und auf dem Lande, wo es an der Zerstreuung fehlt - die alles lesen, was ihnen vor die Hände kömmt und einige Unterhaltung ohne große Bemühimg des Geistes verspricht.9
Die literarische Bildung der Frau hatte inzwischen — nicht zuletzt dank der lesepädagogischen Bemühungen der Moralischen Wochenschriften - beträchtlich zugenommen. Analog zu den Männer-Lesegesellschaften werden gegen Ende des Jahrhunderts erste literarische >Damengesellschaften< gegründet, so — nach Irene Jentsch — u. a. in Aurich (1792), Greiz/Vogtland (bis 1792), Leipzig (bestand 1784), Rügen (um 1789), Speyer (»Lesegesellschaft junger Töchter«, 1782) und Oldenburg (1798). 10 Zu der Oldenburger »Literarischen Damengesellschaft« — ein weiblicher Ableger der »Literarischen Gesellschaft« des Gerhard Anton von Halem - gehörten acht Frauen und sechs Männer: »Frau Deichgräfin Burmester, Canzleisecretairin Erdmann, Canzleiräthin von Halem, Dame von Halem, die ältere, Frau Cabinetssecretairin von Halem, Justizräthin Herbart, Geheimecammerräthin Römer, Cammerräthin Schloiffer.« — Der »Canzleirath von Berger, Deichgräfe Burmester, Canzleisecretair Erdmann, Canzleirath von Halem, Cabinetssecretair von Halem, Professor Woltmann, aus Jena.« Die Gesellschaft existierte von 1797 —1804 (mit einer Unterbrechung von 1800—1803)." Die mit dem Verbürgerlichungsprozeß einhergehende, sich allmählich durchsetzende Neubewertung der Subjektivität und Individualität (wie sie im Familien-, Liebes- und Frauenroman zum Ausdruck kommt) trägt dazu bei, daß Frauen im fortschreitenden und ausgehenden 18. Jahrhundert das Genre des Frauenromans als Leserin wie als Autorin bevorzugen. Die relative Offenheit des Gattungsbegriffs (Roman, Erzählung, Novelle etc. gehen in der zeitgenössischen Diskussion weitgehend durcheinander) und die damit verbundene Kompositionsvielfalt (keine strengen poetologischen und ästhetischen Vorschriften, von einigen Ausnahmen — so von Blanckenburg — abgesehen) unterstützen diese Tendenz. Das geringe Ansehen der als unkünstlerisch geltenden Gattung »Roman«" tat ein übriges, >Schwellenängste< — bezogen auf
9 Neuer Teutscher Merkur, Februar 1791, S. 201. xo Irene Jentsch: Zur Geschichte des Zeitungslesens in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts. (Diss, phil.) Leipzig 1937, S. 56, 78, 146ft. — Vgl. dazu auch Prüsener: Lesegesellschaften, Sp. 533ff. - In Nürnberg wurde im Jahre 1800 ein »Frauenzimmer-Lesekabinett« geplant. Ebd., Sp. 565. 1 1 Näheres zur Oldenburger »Literarischen Damengesellschaft« s. Helga Brandes: Die literarische Damen-Gesellschaft< in Oldenburg zur Zeit der Französischen Revolution. In: Französische Revolution und deutsche Öffentlichkeit. Hg. von Holger Böning. München/London/ New York/Oxford/Paris (Saur) [in Druck], 12 Schiller, 1795: Der »Romanschreiber« ist der »Halbbruder« des Dichters u. ä.
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weibliches Lesen und Schreiben — abzubauen. Die Existenz der Romane von hohem künstlerischen Wert wurde von der Mehrheit kaum zur Kenntnis genommen. [Die] genialen Schöpfungen der Dichtung um 1800 werden exklusiv, sie haben die unmittelbare Verbindung zur rezipierenden Gesellschaft verloren. [...] Der Beginn des künstlerischen Autonomieanspruchs und die literarisch-philosophische Überwindung der Aufklärungsideologie leiten diese Spaltung ein:*3 auf der einen Seite die »Elite«, auf der anderen die bürgerliche Kultur der Moderne im Sinne der sich konstituierenden Massengesellschaft. Meist wird bei den Autorinnen, die als Romanschriftstellerinnen bekannt geworden sind, aber übersehen, daß sie bereits vorher für Zeitschriften literarische Beiträge geliefert haben und mit der Joumalgattung einigermaßen vertraut waren. 14 Sophie von La Roche publizierte in Schillers Thalia, Sophie Mereau in der Thalia/ Neuen Thalia15 und in den Hören (so das Gedicht Schwarzburg),16 Friederike Brun und Karoline von Wolzogen in den Hören,17 Amalie Imhoff, Louise Brachmann, Elisa von der Recke im letzten Jahrgang der Hören (1797) sowie Benedikte Naubert u. a., die in verschiedenen Journalen publizierten.18 Daß einige der Romanschriftstellerinnen sogar eigene Blätter herausgaben, kann ich hier nur andeuten. So Sophie von La Roche: Pomona ( 1 7 8 3 — 1 7 8 4 ) , Marianne Ehrmann: Amaliens Erholungsstunden ( 1 7 9 0 - 1 7 9 2 ) , Sophie Mereau: Kalathiskos ( 1 8 0 1 - 1 8 0 2 ) ; hier erschien auch zunächst Brentanos Romanfragment Der Sänger.19 Sophie von La Roche läßt in ihrer Pomona auch Frauen zu Wort kommen. Sie druckt beispielsweise eine Reisebeschreibung ab, die mit »Karoline« unterzeichnet ist. Aufgrund biographischer Begebenheiten scheint die Annahme, daß es sich um Karoline von Wolzogen gehandelt habe, so unwahrscheinlich nicht. 20 Den Eintritt in das literarische Leben verschafften sich unbekannte, junge Autoren und Autorinnen im 18. (und auch im 19.) Jahrhundert nicht selten über die Mitarbeit
1 3 Vgl. Marion Beaujean: Das Lesepublikum der Goethezeit. Die historischen und soziologischen Wurzeln des modernen Unterhaltungsromans. In: Der Leser als Teil des literarischen Lebens. Bonn 1971, S. 28ff. 14 Bei einigen — das sei hier nicht verschwiegen - verlief der Weg umgekehrt: erst das Romanwerk und dann die Mitarbeit an Zeitschriften, so ζ. B. bei Caroline Auguste Fischer. Sie arbeitete zwischen 1 8 1 6 und 1820 an der Zeitschrift für die elegante Welt mit, nachdem ihre Romane längst erschienen waren. 1 5 Gedicht Bey Frankreichs Feier den 14. Juli 1790; Die Zukunft (Thalia, 1791, XI, XII). Das Bildniß; Die letzte Nacht (Neue Thalia, 1792:1 und III). 16 Hören, 1795, III, 9. St. 1 7 Ebd., 9. St. 1796. 18 Für die systematische Erfassung der zunächst in Journalen abgedruckten Romane von Frauen könnte der im Auftrag der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen von einer Arbeitsgruppe unter der Leitung von Klaus Schmidt erstellte Zeitschriften-Index ( 1 7 5 0 - 1 8 1 5 ) eine wertvolle Hilfe darstellen. Hildesheim 1987 (Microfiche). Buchausgabe auf 1 0 Bde. geplant. 1 9 Zum Aspekt der von Frauen herausgegebenen Zeitschriften vgl. Helga Brandes: Das Frauenzimmer-Journal. Zur Herausbildung einer Gattung im 18. Jahrhundert. In: Deutsche Literatur von Frauen. Bd. i: Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. v. Gisela Brinker-Gabler. München 1988, S. 4 5 2 - 4 6 8 . 20 Dazu gibt es in der neueren Forschung kontroverse Auffassungen. Vgl. z. B. Ulrike Böhmel Fichera: >Wir und unsere Fähigkeiten wurden immer nur zu der Hausdienerschaft gerechnet. Sophie von La Roches literarische Frauenzeitschrift >Pomonakleiner< bzw. >HäppchenZeitgeistRoman< besaß.) Der begrenzte Umfang des Heftes, der Nummer eines Journals hatte Konsequenzen auf die Auswahl der präsentierten Texte. Kurze Formen wurden bevorzugt bzw. im Zusammenhang mit der Entfaltung des Journalismus neu geschaffen (Herausbildung von >JournalgattungenRomänchen< auf, kleine Erzählungen, Novellen u. ä., die es vermutlich ebenfalls verdienten, der Vergessenheit entrissen zu werden.34 In Wekhrlins Grauem Ungeheur findet sich beispielsweise ein solcher >kleiner< Frauenroman: Florise; oder: Der Tod ist Nichts — gar Nichts. Ein Romänchen, den Liebhabern auf getischet?5 Vgl. Schieth: Frauenroman, S. 379. Vgl. Meyer: Novelle und Journal, S. 125ft. 1796: Stück Χ XII; 1797: Stück II. *797: V und X. - Amanda und Eduard erscheint 1797. Dies erscheint mir um so notwendiger, als ihnen schon allein wegen ihrer Kürze Wiederveröffentlichungen (als Buch u.ä.) versagt geblieben sind. 35 Das Graue Ungeheur, 1784, Bd. II, S. 2 9 6 - 3 1 5 . 30 31 32 33 34
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D a die Journale aber auf bestimmte Großformen w e g e n deren Publikumswirksamkeit nicht gänzlich verzichten können (und dazu zählt der Frauenroman), greifen die Herausgeber zur Fortsetzungstechnik. Je eindeutiger die Romane (inhaltlich, kompositorisch usw.) gegliedert waren, um so unproblematischer konnte der Text >zerstückelt< werden, um so eher konnte er >Brechungen< und Lektüreintervalle vertragen. Briefroman, lineare, episodenreiche Handlungsstruktur, szenenähnlicher A u f b a u etc. sind die in dem Zusammenhang bevorzugten Elemente, die sich tendenziell eben auch in den Frauenromanen wiederfinden. G e f r a g t sind also in sich geschlossene kleinere Einheiten, die dennoch ein Ganzes bilden (die Neugier der Leserin auf die Fortsetzung mußte erhalten bleiben).' 6 Spätere Umarbeitungen für eine Buchausgabe können mit dem Wechsel des Mediums zusammenhängen. Wenn Schiller in einem Brief an Goethe (vom 6 . 2 . 1 7 9 8 ) schreibt, er habe »einige weitläufige und leere Episoden [der Hören-Fassung der Agnes von Lilien] ganz herausgeworfen«, deutet das in diese Richtung, nämlich den Erfordernissen des neuen Mediums Rechnung zu tragen. 1 7 9 8 erscheint dann die Buchausgabe. 3 7 Vergleichende Analysen der Zeitschriften- und Buchfassungen könnten in dem Zusammenhang erhellend wirken. Das Journal, ähnlich wie der Roman in der zeitgenössischen Gattungshierarchie unten angesiedelt, kämpfte um die literarisch-gesellschaftliche Anerkennung. Ein Mittel bestand darin - auch hier dem Roman nicht unähnlich - , den hohen Realitätsund Wahrheitsgehalt zu betonen (Authentizität der Quellen, Berichte, Informationen). Diese »Wahrheitsfiktion« wird zum Kennzeichen fiktiven Erzählens. 38 Der Frauenroman gehört in besonderer Weise dazu. 39 Dem Unterhaltungsbedürfnis des Publikumskreises tragen die Joumalherausgeber im Laufe der Zeit immer mehr Rechnung. W o das nicht geschieht, greift der Verleger ein, der Konkurrenzdruck auf dem Zeitschriftenmarkt wird immer stärker. Cotta schreibt an Schiller am 9 . 1 1 . 1 7 9 5 : Es sei »die Erwartung des Publikums«, in einer Monatsschrift sich von den ersten Stunden des Geschäfts darinnen erholen zu können, [und] so scheint mir dies ein Wink mehr zu seyn, bei den Aufsätzen meistens darauf zu sehen, daß die Belehrung in das leichtmöglichste Gewand gehüllt werde [.. .].4° In ähnliche.Richtung zielt Nicolais Kritik der Hören, wenn er fragt: »Gehören denn solche Spinnweben scholastischer Dialektik in ein Journal wie die Hören [.. .j?«41 Und weiter heißt es: »[...] ich möchte nur wünschen, daß [...] mehr darin für Mannichfaltigkeit gesorgt und nicht so oft vergessen wäre, daß man das Gastmal nicht für die Köche, sondern für die Gäste ausrichten muß [.. ,].«42 Angesichts der immer weiter sin-
36 Zu den ersten Romanen in Fortsetzungen zählen Wielands Abderiten, von 1 7 7 4 - 1 7 8 1 im Teutschen Merkur, und Schillers Geisterseher, 1787—1789 in der Thalia erschienen. 37 Christine Touaillon macht für die Umarbeitung und Veränderung des Romans gegenüber den ursprünglichen Journal-Fassungen ausschließlich ästhetische Gründe geltend (dem »Geiste des Klassizismus« entsprechend etc.). Vgl. Touaillon, S. 483. 38 Vgl. Meyer: Novelle und Journal, S. 74ff. 39 Dazu ausführlich Magdalene Heusers Beitrag in diesem Band. 40 Schiller, NA, Bd. 3 6 , 1 , S. 14. 41 Friedrich Nicolai: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781. Berlin/Stettin 1796, Bd. 1 1 , 3 . Buch, XII. Abschnitt, S. 244. 42 Ebd., S. 295.
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Helga Brandes
kenden Abonnentenzahlen der Hören schreibt Wilhelm von Humboldt an Schiller bereits am 31.8.1795: Aber werden Sie doch ja für die >Horen< nicht mutlos. Vermeiden Sie Aufsätze im Schlage der meinigen und der Fichtischen, sorgen Sie, soviel es geht, für leichte (wär's auch manchmal lose) Ware, und die >Horen< gehn gewiß recht gut. 43
Die zunehmende Berücksichtigung des Publikumsgeschmacks hatte zur Folge, daß die Erzählgattung für Journale immer attraktiver und unentbehrlicher wurde. Aufschlußreich für diese Entwicklung ist auch die Zunahme der einschlägigen Bücheranzeigen in renommierten Journalen. »Für die Hören endlich«, so läßt sich Wilhelm von Humboldt in einem Brief an Schiller (vom 16.10.1795) nochmals vernehmen, »halte ich die Erzählung vortheilhafter. Sie ist doch immer gewisser, und man würde sie auch den Hören, da eine Erzählung eher durch ein Journal entstanden seyn kann, mehr als ein Schauspiel anrechnen [.. ,].«44 Verlegerische Interessen, publizistische Wirkungsabsichten, all das führt zu einer Aufwertung des Frauenromans im ausgehenden 18. Jahrhundert. Literarische Produkte von Frauen wußte der Zeitschriftenherausgeber Schiller zu schätzen, was ihn — neben anderen — allerdings nicht daran hinderte, sie in der theoretischen ästhetischen Debatte als dilettantisch abzuqualifizieren.45 Der Aktualitätsbezug der Journale bewirkte, daß Themen und Sujets nach Möglichkeit im Trend der Zeit lagen. Die Texte (Romane) sollten >interessant< sein und dem breiten Publikumsgeschmack entsprechen. Ein zeitmodischer Charakter haftet ihnen daher nicht selten an. Hinzu kommt der Anpassungsdruck, dem die Zeitschriften infolge der Zensurbehörden ausgesetzt waren. Durch die Möglichkeit des unmittelbaren Zugriffs der Zensur war das Blatt in seiner Existenz ständig bedroht. Herrschende Meinungen, geltende Normen, Werte und Ideologien spiegeln sich relativ ungebrochen wider, so etwa feststellbar am Beispiel der propagierten Männer- und Frauenbilder der Romane. Die >Verfasserin< der Florise beispielsweise betont gleich zu Anfang: »Ich bin ein Weib; folglich ohne Kopf. Aber ich habe ein Herz« und ein »bisgen Menschenverstand«, »so ist mir dieser Aufsatz [sc. Erzählung] erlaubt.«46 Die apologetische Funktion der >Vorrede< dürfte deutlich sein: Die Arbeit der für die Öffentlichkeit schreibenden Frau muß legitimiert werden. Die affirmative Tendenz der Romane steht im Einklang mit der Intention der Journale, die das traditionelle Weiblichkeitsmuster in der Regel nicht in Frage stellen.47 So ζ. B., wenn es 1801 in der Flora heißt: Das Bestreben nach innerer Aufklärung kann wenigstens bey unserem weiblichen Geschlecht niemals die Vemachläßigung der Pflichten, welche wir gegen die Gesellschaft und unsere Hausgenossen haben, rechtfertigen, weil wir darauf angewiesen sind, alles was wir wissen
43 Schiller: Briefwechsel, NA, Bd. 35, S. 320. 44 Schiller NA, Bd. 35, S. 388. 45 Hierzu Christa Bürger: Leben Schreiben. Die Klassik, die Romantik und der Ort der Frauen. Stuttgart 1990. 46 Das Graue Ungeheur, S. 296. 47 Überhaupt wäre es aufschlußreich, den Kontext, in dem der Fortsetzungsroman innerhalb einer Nummer/eines Heftes steht, zu berücksichtigen.
Frauenroman und Öffentlichkeit
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und können, immer nur auf den Wirkungskreis anzuwenden, den das Schicksal uns bestimmt. 48
Und die abgedruckten Romane stehen — wie bereits erwähnt — im Dienst des herrschenden Geschlechterdiskurses. Das Beispiel der Feldorfschen Familie mag für viele andere stehen: Die Natur sezte die Vollkommenheit beider Geschlechter in der größten gegenseitigen Abhängigkeit, indem sie ihr die größte Verschiedenheit gab. Der feste, treue, eiserne Mann kann nur der sanftesten Weiblichkeit huldigen; [nur] Schwächlinge lieben Amazonen. Damit aber das Weib diesen Zauber ihres Geschlechtes besize, muß ihr Herz kindlich bleiben, wie gebildet auch ihr Verstand sey [.. .].49
Journale und Wirklichkeit stehen in einem engen Zusammenhang. So spiegeln die Periodika einerseits — wie bereits erwähnt — die geltenden Normen der Gesellschaft recht ungebrochen wider, andererseits werden vor allem die beliebtesten Journale (wie ζ. B. Bertuchs Journal des Luxus und der Moden, Jacobis Iris, Wielands Merkur) zur Ideologiebildung des bürgerlichen Lesepublikums in nicht zu unterschätzender Weise beigetragen haben. Abweichende, kritische, utopische Entwürfe hätten unweigerlich früher oder später das Ende der Zeitschrift bedeutet. Wer in den Periodika publizierte, hatte sich an die Spielregeln zu halten; Politik, Religion und Moral gehörten zu den Tabu-Themen. Den schreibenden Frauen dürften die Grenzen ihrer Möglichkeiten sehr wohl bewußt gewesen sein. Wenn ihnen von Seiten der heutigen Literaturkritik vorgehalten wird, auf Satire, Polemik, Witz und Ironie weitgehend verzichtet zu haben (was in dieser Generalisierung nicht einmal stimmt),5" dann läßt diese Kritik die gesellschaftlichen Bedingungen gerade der Frauen im 18. Jahrhundert außer acht.
48 Flora. 1 8 0 1 , S. 129. 49 Ebd., M a y 1794, S. 156. 50 Vgl. Schieth: Frauenroman, ζ. B. über Friederike Unger: S. i48f.
MAGDALENE HEUSER
»Ich wollte dieß und das von meinem Buche sagen, und gerieth in ein Vernünfteln« * Poetologische Reflexionen in den Romanvorreden
ι. Vorbemerkung Die Frage, ob es eine »weibliche Ästhetik« gibt und wie »weibliches Schreiben« aussehen und bestimmt werden könnte, gehört zu den grundlegenden Arbeitshypothesen im Bereich literaturwissenschaftlicher Frauenforschung. Im Unterschied zu bisher vorliegenden Ansätzen und Ergebnissen, die eher spekulativ und theoriegeleitet sind, möchte ich in einer längerfristig angelegten Studie einen umgekehrten (empirischen und historischen) Weg versuchen, indem ich die Literatur von Frauen des 18. Jahrhunderts auf literaturtheoretische Äußerungen hin untersuche, wie sie sich als ausdrücklich thematisierte in Vorreden und als poetologische Reflexionen und Dispute verstreut in den literarischen Texten selbst finden. In der Phase, die für die Entwicklung des deutschsprachigen Romans zu einer salonfähigen literarischen Gattung als entscheidend gilt - das letzte Drittel des achtzehnten Jahrhunderts - , haben auch Frauen sich dieses Genres, des Romans und der ihm vorangestellten Vorworte, bedient. Ihre oft anonym erschienenen Romane haben eine breite Leserschaft gefunden und gehören sowohl in den Diskurs über die literarische Gattung Roman als auch in den über eine »weibliche Ästhetik«, wie er im theologischen, pädagogischen, philosophischen und ästhetischen Schrifttum der Zeit geführt worden ist. Die poetologischen Reflexionen in den Romanvorreden bilden einen wichtigen und spezifischen Teilbereich dieser Diskussion; sie zeichnen sich gegenüber dem primär theoretischen Diskurs durch Praxisnähe und Bezug auf das jeweils konkrete Textbeispiel aus. Darin liegen Ansatzpunkte und Voraussetzungen dafür, daß auch Frauen als Neulinge, weniger erfahren und traditionsgestützt in literaturtheoretischen Diskussionszusammenhängen, hier wie an anderen Stellen eine Eintrittspforte in ein für sie fremdes Teilgebiet literarischer Öffentlichkeit finden konnten. Im folgenden Beitrag möchte ich mich auf Romanvorreden beschränken und andere Formen und Orte poetologischer Reflexion und Selbstverständigung von Autorinnen außer acht lassen, unterliegen sie doch wieder anderen Funktionszusammenhängen. Widmungen kommen am Ende des 18. Jahrhunderts nur noch in Ausnahmefällen vor, und in die Romane integrierte theoretische Äußerungen sind in den Texten von Frauen vergleichsweise selten. Eine Berücksichtigung der Briefliteratur würde nicht nur den Rahmen der vorliegenden Ausführungen sprengen, sondern bedarf vor allem erst der Grundlage von entsprechenden Quellenerschließungen. Bei meiner Untersuchung der Romanvorreden habe ich mich an den Fragen orientiert: Welchen Gebrauch machen Autorinnen von der Textsorte Romanvorrede? Inwiefern wird in dem Zusammenhang die Kategorie >Geschlecht< geltend gemacht? Welches Literaturverständnis
*
Johanna Isabella Eleonore von Wallenrods Wie sich das fügt! Leipzig 1793, S. VIII.
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und welches Selbstverständnis als Schriftstellerinnen kommt in solchen Überlegungen zur Sprache? Nach einem kurzen Blick auf die Forschungssituation zur Vorrede, deren Ergebnisse aufgegriffen und weitergeführt werden sollen, folgt zunächst eine systematisch angelegte Übersicht über eine Auswertung von rund fünfzig Vorworten, aus denen eine Vergleichbarkeit der Argumentationsmuster hervorgeht. Abschließend sollen am Beispiel einzelner Autorinnen und ihres Umgangs mit der Vorredentradition spezifische Probleme und Tendenzen der Gattung Roman sowie der Literaturtradition von Frauen dargestellt werden, damit deutlich wird, welche Linie des poetologischen Selbstverständnisses von Autorinnen sich bei ihnen und anderen schließlich durchgesetzt hat.
2. Roman vorreden als Ort praxisnaher und -begleitender Romanpoetologie Hans Ehrenzeller nennt in seinen Studien zur Romanvorrede (1955), mit denen deren wissenschaftliche Untersuchung im wesentlichen einsetzt, die anderthalb Jahrhunderte zwischen Grimmelshausen und Jean Paul »die eigentliche Blütezeit der Romanvorrede« und geht von deren Verschwinden zu Anfang des 19. Jahrhunderts aus.1 Er sieht in der Vorrede eine »reine Zweckform mit ganz bestimmten Aufgaben, die sie bald gedrängter, bald weitschweifiger erledigt«.2 In seinem Versuch »eine(r) thematischen Gliederung der wesentlichsten Vorredenfunktionen« liefert er das bis heute in seinen drei Grunddimensionen weitgehend übernommene Analyseinstrumentarium für diesen Texttypus, dessen wichtigste Aufgabe übereinstimmend als »Fürsprache für das Werk« gesehen wird: 1. Werkfunktionen: Grundgedanke, Inhaltsangabe, Geschichte des Werks mit Veranlassung und Quellen, Erklärung des Titels gehören ebenso hierher wie Rechtfertigung, Verteidigung und Empfehlung. 2. Leserfunktionen regeln die Beziehung zwischen Autor und Leser und umfassen die Anrede, Captatio benevolentiae, die Angabe der gewünschten Lektüresituation, die Publikumsauswahl sowie die Weisungen, wie das Buch aufzufassen sei. 3. Autorenfunktionen bieten dem Autor Gelegenheit, etwas zu seiner Person zu sagen sowie zu seinem Verhältnis zu dem vorgelegten Werk; auch die Abschieds- und Wiedersehensformeln sind diesem Funktionsbereich zuzuordnen.
Liefert Ehrenzellers historische Studie den entscheidenden Beitrag zur analytischen Erfassung und typologischen Zuordnung von Romanvorreden und ihrer historischen Entwicklung, so geht Ansorge in seiner Dissertation, die den Zeitraum ab 1 7 7 0 bis 1930 umfaßt, systematisch und in Anlehnung an Ergebnisse der Erzählforschung vor, indem er von der Erzählsituation eines Romans ausgeht, die im Vorwort bereits ihre
1 Hans Ehrenzeller: Studien zur Romanvorrede von Grimmelshausen bis Jean Paul. (Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur 16) Bern 1955, S. 7. - Hermann Riefstahl: Dichter und Publikum in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, dargestellt an der Geschichte der Vorrede. Frankfurt/M., Phil. Diss. 1934, bezieht nur gelegentlich auch Romanvorreden mit ein. 2 Ebd., S. 35ft. - Vgl. hierzu auch Ulrich Busch: Vorwort und Nachwort. In: Neue Sammlung 1 (1961), S. 349—356, bes. S. 349L
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Exposition erfahre. Ich-, autobiographischer und auktorialer Roman sind demzufolge die behandelten Grundmuster des Erzählens.3 Emst Webers Untersuchung von 1974 wendet sich erneut dem deutschen Roman des 18. Jahrhunderts unter dem Aspekt der poetologischen Selbstreflexion zu.4 Er bezieht nicht nur die Vorreden, sondern auch Erzählerkommentare, Erzähler-Leser-Gespräche sowie Dialoge von Romanfiguren mit ein und kommt so zu zwei Phasen der Entwicklung: bis etwa 1750 sei die Romanvorrede der einzige Ort der »Romanreflexion«, die Weber von der »Romantheorie« mit eigenständigen Abhandlungen und Bezug auf literaturtheoretische Modelle unterscheidet.5 Erst ab etwa 1750 gebe es mit der Entwicklung des pragmatischen Romans auch handlungsintegrierte Romanreflexionen. Einen Epocheneinschnitt setzt der Verfasser mit dem klassisch-romantischen Roman an, der von der Autonomie der Gattung ausgehe und daher viel weniger Romanreflexion enthalte. Die vorgestellten Untersuchungen leisten auch für die vorliegende Fragestellung entscheidende Beiträge und Anregungen. Sie verweisen auf die Vorrede als einen wichtigen und besonderen, nämlich praxisnahen und -begleitenden Ort der poetologischen Reflexion und Selbstvergewisserung für die Romanautoren des 18. Jahrhunderts und legen die entscheidenden Dimensionen ihrer Erschließung und Stadien ihrer Entwicklung frei. Die Romane und Vorworte von Autorinnen werden jedoch, wie kaum anders zu erwarten, entweder nicht berücksichtigt oder aber so ausgewertet, daß deren spezifische Ebene der Argumentation, die geschlechtsspezifisch orientierte Selbstreflexion, nicht in das Blickfeld geraten kann. Die Frage, wie sich Romanproduktion und Romanreflexion von Frauen, die erst später als die von Weber skizzierte Entwicklung einsetzen, zu der allgemeinen Geschichte des Romans und seiner Theorie verhalten, kann erst dann beantwortet werden, wenn auch für diesen Gegenstandsbereich die Kategorie >Geschlecht< in die historische literarische Diskussion eingeführt worden ist, die Frauen und ihren Ort im literaturtheoretischen Diskurs allererst sichtbar macht.6 In diese Richtung gehen die beiden Monographien zum Frauenroman des 18. Jahrhunderts von Helga Meise (1983) und Lydia Schieth (1987).7 Beide berücksichtigen und thematisieren die besonderen Voraussetzungen und Auswirkungen der schriftstellerischen Existenz für Frauen im 18. Jahrhundert, wenn diese die Weiblichkeits-
3 Hans Jürgen Ansorge: Art und Funktion der Vorrede im Roman. Von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Würzburg, Phil. Diss. 1969. 4 Emst Weber: Die poetologische Selbstreflexion im deutschen Roman des 18. Jahrhunderts. Zu Theorie und Praxis von >RomanHistorie< und pragmatischem Roman. Stuttgart u.a. 1974· 5 Ebd., S. 13. - Vgl. auch Wilhelm Voßkamp: Romantheorie in Deutschland. Von Martin Opitz bis Friedrich von Blanckenburg. (Germanistische Abhandlungen 40) Stuttgart 1973, S. 42Íf. — Peter Küpper: Author ad Lectorem. Vorreden im 18. Jahrhundert: Ein Forschungsvorschlag. In: Festschrift für Rainer Gruenter. Hg. v. Bernhard Fabian. Heidelberg 1978, S. 8 6 - 9 9 . 6 Vgl. u.a. Barbara Becker-Cantarino: Der lange Weg zur Mündigkeit. Frau und Literatur (1500-1800). Stuttgart 1987, S. 12. 7 Helga Meise: Die Unschuld und die Schrift. Deutsche Frauenromane im 18. Jahrhundert. (Reihe Métro 14) Berlin/Marburg 1983. - Lydia Schieth: Die Entwicklung des deutschen Frauenromans im ausgehenden 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Gattungsgeschichte. (Helicon 5) Frankfurt/M. u. a. 1987.
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Codierungen überschreiten und als Autorinnen in die literarische Öffentlichkeit treten. Nützlichkeit, Erziehungsarbeit und Realismus werden bei Meise als Strategien der Maskerade hervorgehoben, die die Textpraxis von Frauen konstituiere. Schieth berücksichtigt in starkem Maße die Einbindung der Frauenromanproduktion in die allgemeinen Bedingungen des literarischen Markts und sieht die fehlende poetologische Basis des Romans im 18. Jahrhundert als eine Chance für schriftstellemde Dilettanten, ein Aspekt, der auch auf die Romanreflexionen der Autorinnen in ihren Vorreden auszuweiten wäre. Inhaltlich ergänzen die Ergebnisse von Schieth diejenigen von Meise, wenn sie das Nützlichkeitspostulat noch stärker herausstellt und ausfächert als Rechtfertigung nicht nur für Frauen, die schriftsteilem, sondern dies auch fürs eigene Geschlecht tun, dabei eine Fülle gleichartiger Literatur produzieren und dadurch schließlich auch ihren Lebensunterhalt verdienen können. Deutlich zeigen jedoch auch diese beiden Arbeiten bei allen initiatorischen Verdiensten um die Thematisierung der Frauenromane im 18. Jahrhundert, daß die Forschungsarbeiten hier noch in den Anfängen stecken und entschieden weitergeführt werden müssen, wozu die Untersuchungen dieses Bands beitragen sollen. Der neue Blick auf die Literatur von Frauen erfaßt — wie könnte es im Anfangsstadium der Bearbeitung einer neuen wissenschaftlichen Fragestellung anders sein - allzu leicht nur Ausschnitte und führt zu kaum haltbaren Verallgemeinerungen, wenn entweder die Literatur von Frauen oder aber die »hohe Literatur« als Maßstäbe isoliert gesehen und einseitig angesetzt werden.8
3. Keine Schriftstellerinnen von Profession oder Variationen eines Bescheidenheitstopos Welche literaturtheoretischen Vorstellungen zeichnen sich nun in den Romanreflexionen der Autorinnen ab, wenn sie auf ihre Autor-, Werk-, Leser-Funktionen unter besonderer Berücksichtigung der Kategorie >Geschlecht< untersucht werden? Das hervorstechende Faktum der anonymen Veröffentlichung dieser Texte ist vielfach beschrieben und diskutiert worden. Interessant sind in dem Zusammenhang einmal die Begründungen für die Wahl — wenn es denn eine war — solcher Unsichtbarkeit, die immer in der einen oder anderen Weise etwas mit der »Bestimmung des Weibes« zu tun haben.9 Der »Griff zur Feder« darf sowohl in den Augen der Schriftstellerinnen selbst — La Roche, Wobeser, Huber ließen sich hierfür im einzelnen als Beispiele anführen — als auch im Bewußtsein des Publikums nur Ausnahme bleiben. Es wird eine deutliche Hierarchisierung der Aufgaben- und Wirkungskreise vorgenommen, die sich sowohl auf das Nebeneinander — »keine ihrer weiblichen und häuslichen Pflichten über die Feder vernachlässigen« dürfen 1 " — als auch auf das Nacheinander — die Schriftstellerin als »greisende Matrone« ist schließlich solchen
8 So bedürfte die pauschale Zuordnung der Frauenromane zu einem schriftstellernden Dilettantismus ebenso genauerer Differenzierungen wie die Einschätzung von Schreibstrategien als typisch weiblicher Maskeraden. Vgl. Schieth: Die Entwicklung des deutschen Frauenromans, passim, und Meise: Die Unschuld und die Schrift, S. 166 und passim. 9 Joachim Heinrich Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter. Frankfurt/Leipzig 1789, S. 14t. 10 Therese Huber an den Buchhändler u. Verleger Engelmann in Heidelberg, Augsburg 12. April 1829 (unveröffentlichter Brief, Stadtbibliothek Augsburg).
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Ängsten und Vorwürfen am ehesten enthoben — beziehen läßt." Zum anderen tritt die Betonung geschlechtsspezifischer Aspekte gerade in den Fällen in den Vordergrund, in denen Autorinnen sich mit ihrem Namen als weiblich zu erkennen geben und sich an eine ausdrücklich als weiblich bestimmte Leserschaft wenden. Am weitesten in diese Richtung geht Christiana Sophia Ludwig, die »keine überspannte Bescheidenheit« walten läßt und einen Leserbezug herstellt, der sich durch wiederholte Forderungen nach Intimität, persönlicher Nähe, Freundschaft und Liebe auszeichnet: So wenig es sich auch ziemt, von erlangtem Beifall öffentlich zu schreiben, so soll mich doch auch keine überspannte Bescheidenheit hindern, Ihnen, meine Leserinnen, dankbar zu gestehen, wie sehr mich nicht nur die geneigte Aufnahme, mit welcher Sie meine Gemähide häuslicher Scenen beehrt haben, sondern auch so manche Freundschaft, welche ich durch diese Versuche fand, erfreute. O was empfand meine Seele, wenn ich entweder von Ihnen, mir bekannte Freundinnen, oder von noch ungesehnen Personen vernahm, wie in stillen Stunden meine Muse Sie unterhalten, und wie die Uebereinstimmung Ihrer und meiner Gefühle mich Ihrer Liebe näher gebracht habe."
Literatur und ihre Rezeption werden hier ganz in den Kategorien des privaten Verkehrs beschrieben, indem durch Beschwörungen von personenbezogenen Umgangsformen und durch Appelle an Liebe und Anerkennung Ansätze zu einer Distanzhaltung verhindert oder zurückgenommen werden. Deutlich zeichnet sich im Zusammenhang der geschlechtsspezifischen Fragestellung vor allem eine Interdependenz und ein Obergewicht der Autor- und Leserfunktionen ab, die jedoch immer dann in den Hintergrund treten, wenn Werkaspekte, wie es bei einigen Autorinnen durchaus der Fall ist, im Mittelpunkt der Ausführungen stehen. In diesen Bereich gehören einmal die Äußerungen zu Veranlassung und Quellen der Romane. Einhellig betonen alle Schriftstellerinnen, daß sie nicht Erfindung oder Phantasie, sondern Erfahrungen und Wirklichkeit — hierzu sind auch historische und zeitgeschichtliche Quellen bei Naubert und Huber oder literarische Vorlagen bei Huber und Ludwig zu zählen - für ihr Schreiben in Anspruch nehmen. Bei den Autorinnen gehen also die Topoi der Wahrheitsbeteuerungen und der Bescheidenheitsformeln ineinander über. Aus dieser Annahme nun folgt als nächster Schritt einer immer wiederkehrenden Argumentation der Verzicht oder die Unfähigkeit zu ästhetischer Gestaltung. Diese werden häufig nur zur Quellenfrage in Beziehung gesetzt: Historien als erzählte Lebens* und Alltagsgeschichten sind verbürgt, absichtslos im Aufbau, Autorinnen solcher Romane verstehen sich als Diener der Faktizität. Doch bleibt es keinesfalls bei dieser Form einer eher sachlogischen Begründung, wenn nämlich Fragen der ästhetischen Gestaltung nicht mehr nur auf Stoff und Intention, sondern auf das Geschlecht der Verfasserin zurückbezogen werden, wofür wiederum Ludwig ein gutes Beispiel liefert:
1 1 [Therese Huber (Hg.)]: Ludwig Ferdinand Huber's Sämtliche Werke seit dem Jahre 1802. Tübingen iSozñ. Bd. 3: Hubers gesammelte Erzählungen, fortgesetzt von Therese Huber, geb. Heyne. Stuttgart/Tübingen 1819, S. VI. 1 2 [Christiana Sophia Ludwig]: Die Familie Hohenstamm oder Geschichte aller Menschen. Leipzig 1795, S. 1.
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Ich wage es nicht, einen Roman zu schreiben, weil ich weiß, daß dessen Entwurf und Ausführung, nicht für die kunstlose Muse, sondern für den Mann gehört, dessen Meisterhand ein so großes Gemähide zu vollenden, und dessen vielumfassender Geist das zu leisten vermag, was Herr Hofrath Eschenburg in seinem Entwürfe der Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften [...] fordert [...] Ich habe blos G e s c h i c h t e g u t e r M e n s c h e n , freilich auch mit ihren Schwächen, und so wie die Ereignisse mit ihnen in der wirklichen Welt täglich realisiert werden können, hier im Ideale aufgestellt. 13
Ebenso einhellig, wie alle Autorinnen sich auf Erfahrung berufen, bestimmen sie auch die Zielsetzung ihrer Romane übereinstimmend als didaktische. Ihre Werke sollen in erster Linie belehren, bessern, erziehen, Duldung und Verständnis für Unglückliche, Außenseiter, Fremde wecken, »wahre Aufklärung« bewirken (was auch immer das bei Wobeser heißt), nachahmungswürdige Ideale aufstellen (Liebeskind, Ludwig), ja auch, wie bei Huber und Wallenrods zur Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse beitragen. Nur in wenigen Fällen, die Ausnahmen bleiben, ergänzen Autorinnen ihre solcherart emsthaften moralischen Zielsetzungen durch Hinweise auf Aspekte des delectare. Beispiele hierfür sind einmal Maria Anna Sagar, die schon in ihrer ausgesprochen ironisch-appellativen Vorrede zu Karolines Tagebuch zu erkennen gibt, wie sie die Leserinnen zur Lektüre verführen und daß sie sie auch unterhalten will.14 Aber auch Isabella von Wallenrodt betont in ihren Vorworten neben der Erzählabsicht »zur Lehre und zur Warnung (gedeihen)« die Momente der Komik, Heiterkeit, des Lachens, Momente also, die zur Distanzierung beitragen und die Berücksichtigung bestimmt gewählter Erzählhaltungen voraussetzen. So entwirft sie ein Bild ihrer Leser, die sie an allen Schritten der Handlung teilnehmen läßt und zu allwissenden Zeugen des Geschehens macht: »Ihr seyd meist Zeugen, warum und von wem dieß und jenes geschieht, und wißt es schon, wo die Verreisten oder Vermißten ohngefähr sind, wenn ihr dahin kommt, wo sich ihre Freunde noch mit der Ungewißheit quälen.«15 Zur Dimension der Werke gehören auch jene literaturtheoretischen Äußerungen, die zu Fragen des gewählten Genres Stellung beziehen. Wir finden sie an zwei Stellen bei Unger zum um 1800 erreichten literarischen Status des Romans und zu den Erzähltypen der Bekenntnisse und Rechtfertigungsberichte.16 Naubert geht wie auch andere auf den Unterschied zwischen Historie und Fiktion ein, indem sie aber anders als die anderen Erfindung und Wirklichkeit nicht voneinander abgrenzt, sondern aufeinander zu bewegt: »Die Welt nenne diese Blätter wie sie will, Roman oder wahre Geschichte; sie sind beydes: Geschichte von der Phantasie ein wenig im Geschmack des dreyzehenten Jahrhunderts ausgeschmückt, und Roman auf Wahrheit gegründet.«17 Und Meta Liebeskind schließlich kommentiert ausführlich die Briefliteratur im Sinne 1 3 Ebd., S. 3. 14 [Maria Anna Sagar]: Karolinens Tagebuch, ohne außerordentliche Handlungen oder gerade so viel als gar keine. Prag 1774, S. 3f. 1 5 Johanna Isabella Eleonore von Wallenrodt: Wie sich das fügt! oder die Begebenheiten zweier guter Familien in dem Zeiträume 1780—1784 in Dialogen, Briefen und verbindenden Erzählungen. Leipzig 1793, S. IX 16 [Friederike Helene Unger]: Gräfinn Pauline. Thle 1.2. Journal der Romane. 1. u. 2. Stück) Berlin 1800, Th. 1, S. Illff. - [Dies.]: Bekenntnisse einer schönen Seele. Von ihr selbst geschrieben. Berlin 1806, S. 3Íf. 1 7 [Christiane Benedicte Eugenie Naubert]: Konradin von Schwaben. Oder Geschichte des unglücklichen Enkels Kaiser Friedrichs des Zweyten. Leipzig 1788, S. VI.
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einer Unterscheidung und eines Vergleichs zwischen männlicher und weiblicher Ästhetik, der im Fall dieses Genres zugunsten der Briefliteratur von Frauen ausfällt: [...] daß gut geschriebene Frauenzimmerbriefe Reize und Schönheiten haben, die Männer nur höchst selten den ihrigen zu geben vermögen. Eine reichere und lebhaftere Einbildungskraft, feinere, sanftere, biegsamere und mannichfaltigere Wendungen im Ausdruck, kurz, alle diejenigen einzelnen Schönheiten, aus deren Zusammensetzung der Charakter des Weiblichschönen entsteht, scheinen das Gepräge solcher Ausarbeitungen zu seyn, und werden gewiß bey Lesern von warmer Empfindung nie verfehlen, eine höchst angenehme, und selbst (wenn der Gegenstand darnach gewählt ist) nützliche Unterhaltung zu seyn. 18
Die didaktische Ermahnung, mit der Liebeskind diese Passage schließt, mündet in eine Aufmunterung zur Vervollkommnung solcher Schreibanlagen. Auf der Ebene der Leseradressen wenden sich fast alle der untersuchten Autorinnen an ein weibliches Publikum, wenn auch im einzelnen deutliche Differenzierungen festzustellen sind. Ludwigs Artikulationen eigener und Appelle an Identifikationsund Verschmelzungswünsche anderer sind schon als eine extreme Variante des Autor-Leser-Verhältnisses zur Sprache gekommen. Die ganz andere Gestaltung dieses Bezuges finden wir bei Caroline Auguste Fischer, deren Romanproduktion allerdings bereits ganz in den Beginn des 19. Jahrhunderts fällt: Sie verzichtet auf jegliche Adressierung und Kennzeichnung der Leser, für die sie schreibt, indem sie sich in ihren äußerst knappen Vorreden ausschließlich auf eine kurze Charakterisierung ihres Themas konzentriert. Eine besondere Lesergruppe stellen die Kritiker und Rezensenten dar, an die sich die Schriftstellerinnen ebenfalls wenden. Hier begegnen wir einem breiten Spektrum: Auf der einen Seite werden Sonderkriterien für solche Romane in Anspruch genommen, die erzählte Lebensgeschichte mit absichtslosem Aufbau und moralischer Zielsetzung bieten; auf der anderen Seite finden sich aber auch Ansätze zu einer Auseinandersetzung mit ästhetischen Gestaltungsabsichten und der Wunsch, nach allgemein gültigen Regeln der Literaturkritik beurteilt zu werden, wie vor allem bei Sagar, Wallenrodt, Huber und Fischer. Die Auswertung eines breit gestreuten Materials an Vorreden und die Übersicht über die darin enthaltenen Strukturen und Inhalte poetologischer Reflexion lassen in der Tendenz folgende Argumentationsmuster der Autorinnen erkennen: Sie stellen die Grundannahme der gesellschaftlich vorgegebenen Geschlechtsrollenzuschreibungen nicht in Frage, wonach ihnen, weil sie Frauen sind, der Schritt in die literarische Öffentlichkeit eigentlich nicht zusteht und offensichtlich nur unter den Bedingungen unendlich wiederholter und variierter Bescheidenheitsbeteuerungen und Entschuldigungen zu wagen ist. Ihre Romanschriftstellerei geschieht anonym oder richtet sich häufig nur an weibliche Leser; sie bleibt die Ausnahme und auch nur eine Nebenbeschäftigung neben den eigentlich weiblichen Pflichten; sie ist nur ein Produkt von Erfahrung ohne Anspruch auf Erfindung und ästhetische Gestaltung, die als Privileg der schreibenden Männer gesehen werden; die Zielrichtung der Romane von Frauen ist überwiegend didaktischer Art und steht in der Tradition von Aufklärung und Priorität 18 [Dorothea Margarethe Liebeskind]: Maria. Eine Geschichte in Briefen. Thle 1.2. Leipzig 1784, Th. 1, S. zf.
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der Inhaltsorientierung. Diese Selbsteinschätzung weiblicher Autoren artikuliert sich hier vorwiegend im Deutungsmuster des Defizits und nicht der — ebenfalls denkbaren — Differenz. Zu fragen ist, ob die Autorinnen die zuletzt genannte Möglichkeit nicht gesehen haben oder aber nicht auszusprechen wagen konnten, weil der Schritt vom Wege der weiblichen Bestimmung und der Eintritt in die den Männern vorbehaltene Domäne von literarischer Produktivität nur unter der Bedingung der Inferioritätserklärungen und des Verzichts auf Konkurrenzfähigkeit und -ansprüche zu dulden war und ist?
4. Die andere Realität von Frauen oder Ansätze zur Selbstbehauptung Eine Antwort auf solche Überlegungen und Spuren von selbstbewußter Inanspruchnahme literarischer Öffentlichkeit durch Frauen lassen sich jedoch bei einzelnen Autorinnen durchaus finden. Die im folgenden aufgezeigten Nuancen und Differenzierungen sollen mit dazu beitragen, daß die Romane von Frauen des 18. Jahrhunderts nicht, wie bisher weitgehend in literaturgeschichtlichen und -wissenschaftlichen Darstellungen geschehen, ausschließlich unter Kategorien der Massenliteratur und des Dilettantismus subsumiert und ad acta gelegt werden.1® So weist zum Beispiel Friederike Helene Unger in ihrer Formulierung, daß die Männer »nie begreifen können, wie es außer ihrer Realität noch eine andere geben könne«20, in die Richtung eines anderen Deutungsansatzes, der statt von Hierarchien von Differenzen ausgeht. Eine solche Annahme hätte Auswirkungen auf der Produktions-, Text- und Rezeptionsebene von Literatur. Friederike Helene Unger (1741—1813) hat nur drei von ihren acht Romanen mit Vorreden versehen, bei denen es sich offensichtlich um Ausnahmesituationen der einen oder anderen Art handelte, die ihres Erachtens einer besonderen Erläuterung bedurften. Im »Vorbericht« zur dritten Auflage von Julchett Grünthal (1798) bietet die Publikationsgeschichte den Anlaß für die Bemerkungen der »Verfasserin«. Nach der 1784 anonym und ohne Vorwort erschienenen einbändigen Erstauflage und deren günstiger Aufnahme durch das Publikum (2i7Ô7), vor allem aber nach dem ebenfalls anonym erschienenen Fortsetzungsteil von Johann Emst August Stutz (1788) sah sich Unger zu einer Kommentierung ihres Unternehmens gezwungen: »eine völlige Umarbeitung des ersten Theils, und einen ganz neuen zweiten und letzten Theil« vorzulegen. 21 Darüber hinaus benennt sie jedoch weder Art und Intention ihrer Umarbeitung und Fortsetzung inhaltlich, noch geht sie auf das vorzustellende Werk selbst ein. Statt dessen aber macht sie — eine Konsequenz der nun nebeneinander vorliegenden Fortsetzungsgeschichten aus der Feder eines Mannes und einer Frau - den geschlechtsspezifischen Gesichtspunkt expressis verbis geltend: sie gibt sich mit Hilfe der weiblichen Endung als Autorin zu erkennen. Sie spezifiziert ihre Leserschaft als eine weibliche: »nicht für Gelehrte, sondern zunächst für ihr eigenes Geschlecht, für ihre Mitbürgerin1 9 Vgl. hierzu auch die Überlegungen von Voßkamp: Romantheorie in Deutschland, S. 42ft. 20 [Unger]: Bekenntnisse einer schönen Seele, S. 227. 2 1 [Dies.]: Julchen Grünthal. Thle 1.2. 3. Aufl. Berlin 1798, Th. 1, Vorbericht (Zitat im Original gesperrt).
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nen« schreibe sie. U n d schließlich erfordere das einen anderen »wahren Gesichtspunkt der Beurteilung«. 2 2 In der »Vorrede« z u Gräfinn Pauline, die das Journal der Romane 1800 im U n g e r V e r l a g eröffnet, w i d m e n die U n g e r s aus d e m g e n a n n t e n A n l a ß fünf v o n sechs Seiten g a t t u n g s s p e z i f i s c h e n Ü b e r l e g u n g e n im Z u s a m m e n h a n g mit der K o n z e p t i o n
des
n e u e n verlegerischen Unternehmens. 2 3 Es g e h t u m die i n z w i s c h e n erreichte A n e r k e n n u n g des R o m a n s als einer beliebten literarischen G a t t u n g , u m Erweiterung d e s Lektüreangebots durch neue und alte deutsche s o w i e ausländische R o m a n e u n d u m term i n o l o g i s c h e A b g r e n z u n g e n z w i s c h e n R o m a n , Erzählung u n d Historie. F o l g e n d e s Z i tat läßt die u m 1800 allgemein verbreitete m a n g e l n d e Trennschärfe und Zufälligkeit im G e b r a u c h der G e n r e b e z e i c h n u n g e n >Roman< und >Erzählung< erkennen. Die Theorie des Romans ist noch wenig bearbeitet; aber so vollendet sie werden mag, wird sie schwerlich einen wesentlichen Unterschied zwischen ihm und der kleinern Erzählung aufstellen, wiewohl sich für ihn und diese verschiedene Gesetze ergeben, denn der Stoff, der beiden angehört, ist von so verschiedenem Umfang. 24 D e r V o r s p a n n z u Bekenntnisse einer schönen Seele (1806) deutet s c h o n durch die Form d e s Titels »An Cäsar« auf einen anderen V o r r e d e n - T y p u s hin. D i e A u t o r i n läßt ihre Ü b e r l e g u n g e n durch die Protagonistin des Romans, Mirabella, v o r t r a g e n , siedelt sie auf der Ebene der Fiktionalität an u n d nicht in j e n e m Z w i s c h e n b e r e i c h z w i s c h e n fiktionaler W e l t d e s R o m a n s und realer v o n A u t o r und Leser, der für die R o m a n v o r r e d e als konstitutiv a n g e s e t z t wird. 2 5 W a r u m greift U n g e r nun im Fall dieses R o m a n s g e r a d e auf diese S o n d e r f o r m zurück? A u s s c h l a g g e b e n d für die N o t w e n d i g k e i t d e s R o m a n s s o w i e der V o r ü b e r l e g u n g e n ist hier offensichtlich das U n g e w ö h n l i c h e der Thematik, an deren D a r s t e l l u n g sich überdies n o c h eine A u t o r i n h e r a n z u w a g e n g e t r a u t hat: Woher es doch kommen möge, daß Ihre Mirabella, trotz ihrem Alter und ihrer Jungfrauschaft, noch immer ihren Platz in der Gesellschaft behauptet, und sogar ein Gegenstand der Zuneigung und Achtung bleibt? [...] Wie ich mit den körperlichen und geistigen Eigenschaften, in deren Besitz ich gewesen und allenfalls auch noch bin, eine Jungfrau habe bleiben können7 26 Es g e h t um die selbstgewählte, entschieden b e j a h t e und erfüllt gelebte, ja in d e m Fall s o g a r gesellschaftlich anerkannte Form der Ehelosigkeit für eine Frau mit d e m Erzählstatus einer Protagonistin, also die F o r t s e t z u n g eines literarischen Diskurses, w i e er bereits bei G o e t h e im g l e i c h n a m i g e n VI. Buch v o n »Wilhelm M e i s t e r s Lehrjahre« u n d bei Caroline A u g u s t e Fischer s o w i e T h e r e s e Huber u n d anderen in R o m a n e n und Erz ä h l u n g e n in G a n g g e k o m m e n war. U n g e r bedient sich d e s M e d i u m s ihrer R o m a n protagonistin und w ä h l t die fiktive R o m a n v o r r e d e , u m s o w o h l die T h e m a t i k als auch das Erzählinteresse dadurch nur u m s o entschiedener u n d unmißverständlicher artikulieren z u können:
22 Ebd. 23 Die Verfasserschaft dieser »Vorrede«, die sich auf das Journal und seinen ersten Roman bezieht, ist für Friedrich oder/und Friederike Helene Unger im einzelnen nicht aufzuschlüsseln. 24 [Unger]: Gräfinn Pauline, S.V. 25 Vgl. Ansorge: Art und Funktion der Vorrede im Roman, S. iSff. 26 [Unger]: Bekenntnisse einer schönen Seele, S. 4f.
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Die Natur wollte nun einmal, daß in der Reihe der Wesen auch ein solches Geschöpf existiren sollte, wie ich bin. Eben so weit davon entfernt, mich als Muster darstellen zu wollen, als ich entfernt bin, meine eigene Anklägerin zu werden, will ich mich also nur in meiner Eigentümlichkeit schildern.17
Auffallend ist hier einmal der Rekurs auf »Natur« sowohl — wie üblich im 18. Jahrhundert — für Ehe, als auch - wie eben nicht üblich, sondern ganz ungewöhnlich — für Ehelosigkeit als Lebensmöglichkeiten für Frauen. Zum anderen verzichtet Unger ausdrücklich auf eine Hierarchisierung der beiden Formen zugunsten des Grundsatzes »What ever is, is right«.28 Bei Friederike Helene Unger läßt sich also erkennen, daß sie, wenn überhaupt sie ihren Romanen eine auf das vorzulegende Beispiel bezogene Vorrede voranstellt, die Kategorie >Geschlecht< selbstbewußt geltend macht: im Hinblick auf die Autorin und ihre Realitätswahmehmung, auf die Bedeutung der jeweiligen Thematik für eine andere Realität von Frauen neben der von Männern und auf die Funktion und andere Beurteilung solcherart perspektivenveränderter Literatur für die Leserschaft, insbesondere aber für die weibliche. Therese Huber (1764—1829) bedient sich in den gut fünfunddreißig Jahren ihrer schriftstellerischen Tätigkeit durchgängig der Möglichkeit der Vorreden, um ihre Werke einer erwarteten Leserschaft gegenüber charakterisieren, erläutern und rechtfertigen zu können. Ihre Vorworte, überwiegend so bezeichnet, schwanken im Umfang zwischen knapp gefaßten von einer bis drei und sehr ausführlich angelegten von bis zu 28 Seiten Länge. Ein deutlicher Einschnitt ergibt sich durch das Jahr 1 8 1 1 , als mit der Veröffentlichung von Bemerkungen über Holland aus dem Reisejournal einer deutschen Frau von Therese H. ihre Anonymität dem Publikum gegenüber endgültig aufgehoben worden war und sie selbst das auch akzeptiert hatte.29 Erst danach und nicht schon vorher tauchen in ihren Vorreden solche Reflexionen auf, in denen geschlechtsspezifische Kategorien im Hinblick auf Autor, Werk und Leser zur Sprache kommen. Bevor ich auf diesen besonderen Aspekt eingehe, möchte ich Therese Hubers Umgang mit der Textsorte >Vorrede< deutlich machen. Der Angelpunkt ihrer Ausführungen liegt in den Werken, die sie jeweils vorstellen will. Sie kommentiert die gewählte Thematik nicht in solchen Fällen, in denen allgemeines Interesse wie an den Ereignissen der Französischen Revolution in Die Familie Seidorf und den Praktiken von Religionsgemeinschaften in Hannah sowie literarische Gepflogenheiten wie das Erzählen von Lebensläufen als Fallbeispielen in Ellen Pera/ und Jugendmuth vorausgesetzt werden können. Ausführliche Erläuterungen von 22 beziehungsweise 28 Seiten erhalten dagegen die Romane, die sich ungewohnteren und gewagteren Gegenstandsbereichen und Erzählabsichten zuwenden, das heißt die auf die Veränderbarkeit gesellschaftlich bestimmter, weiblicher Lebenszusammenhänge zielen: die Alltags- und Krankheitsgeschichte und die Kritik an den Folgen der Konvenienz in Luise und die Auseinandersetzung mit den Lebensformen Ehe und Ehelosigkeit und das entschieden vorgetragene Plädoyer für deren Gleichberechtigung in Die Ehelosen. Therese Huber
27 Ebd., S. 7I· 28 Ebd., S. 8. 29 Leipzig 1 8 1 1 .
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verfährt also in ihren Argumentationen themenbezogen. 30 In dem Rahmen zeichnet sich jedoch im Verlauf ihrer literarischen Entwicklung außerdem die Tendenz ab, zunehmend auch auf die Diskussion von Genre- und Stilfragen einzugehen 31 und den Anspruch künstlerischer Beurteilung zu artikulieren, indem sie sich speziell an Literaturkritiker als eine besondere Lesergruppe wendet und sich selbst als Schriftstellerin mit ihren Schreib- und Publikumserfahrungen bereits historisch sieht.32 In diesem Zusammenhang betont sie durchgängig und eher selbstbewußt, daß Erfahrungen und Empfindungen und nicht die Phantasie die Quellen ihrer Werke sind. Nur Ellen Percy bildet hierin insofern eine Ausnahme, als Therese Huber auf Mary Brunton's Roman Discipline zurückgreift, dessen Stoff sie nicht nur verkürzt, sondern auch »in der Empfindungsweise eines deutschen Gemüths« erzählt. 33 Ich komme nun zu den Überlegungen, in denen der Gesichtspunkt >Weiblichkeit< in bezug auf Autor, Werk oder Leser mit einbezogen wird und für die poetologischen Positionsbestimmungen eine entscheidende Rolle spielt. Ein Vorwort von 1 8 1 8 ist in dem Zusammenhang zunächst heranzuziehen, das einen Erzählungsband von Therese Huber einleitet, der als Band 3 von Ludwig Ferdinand Huber's sämtliche(-n) Werke(-n) seit dem Jahre 1802 nebst seiner Biographie 1 8 1 9 im Cotta-Verlag erschienen ist.34 Es handelt sich hierbei um die erste Veröffentlichung nach der Preisgabe der Anonymität von 1 8 1 1 . In diesem Vorwort treten situationsbedingt die autor- und leserbezogenen Ausführungen an die Stelle der themen- und werkbezogenen, die sonst bei Therese Huber im Mittelpunkt stehen. »Ein sehr lebhaftes, scharfgezeichnetes Bild weiblicher Liebenswürdigkeit und weiblichen Berufs, hatten mir von jeher Schriftstellerei als e n t n a t u r e n d und e n t s t e l l e n d für mein Geschlecht ansehen lassen.«35 Schon dieser einleitende Satz wie auch die folgenden wiederholt unmißverständlich die normativen Prioritäten für die Bestimmung des Weibes, deren erster und hauptsächlicher Beruf der häusliche ist; alles andere kann nur als Ausnahme akzeptiert werden, und als eine solche Ausnahme sieht sich die Autorin mit ihrer zu dem Zeitpunkt bereits vierundzwanzigjährigen Schriftstellerei selbst. Ludwig Ferdinand Huber wird hier wie an anderen Stellen als Entdekker ihrer diesbezüglichen Fähigkeiten benannt und der langjährige Verzicht auf namentliche Ausgliederung und Unterscheidung i h r e r literarischen Produkte wird in den Kategorien und durch die Normen der ehelichen Gemeinschaft begründet, die Gütertrennung noch nicht kannte: Zehn Jahre lang ahneten selbst unsre vertrautesten Freunde nicht meinen Antheil an meines Gatten Geistes-Erzeugnissen, und während dieser zehn Jahre wußte ich es selbst gar nicht klar, daß manches schmeichelhafte Lob, was ehrenwerthe Urtheile erfreuter Leser über die
30 [Therese Huber]: Die Familie Seidorf. Eine Geschichte. Thle 1.2. Tübingen 1795/1796. — [Dies.]: Luise. Ein Beitrag zur Geschichte der Konvenienz. [1796]. Neue unv. Aufl. Frankfurt/ M. 1819. - Dies.: Hannah, der Hermhuterin Deborah Findling. Leipzig 1821. — Dies.: Ellen Percy oder Erziehung durch Schicksale. Thle 1.2. Leipzig 1822. — Dies.: Jugendmuth. Eine Erzählung. Thle 1.2. Leipzig 1824. — Dies.: Die Ehelosen. Bde. 1.2. Leipzig 1829. 3 1 Dies.: Jugendmuth, S. Vllff. 32 Dies.: Hubers gesammelte Erzählungen, Bd. 3, S. Illff. - Dies.: Ellen Percy, S. Vff. 33 Ebd., S. VIII. 34 Vgl. Anm. 11. 35 Ebd., S. III.
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von Huber herausgegebnen Erzählungen äußerten, zum Theil mir angehöre. Ich war zu innig mit ihm verbunden, war zu sehr in meinen häuslichen Beruf vertieft, um etwas mein zu nennen. Sein war a l l e s — mein Wohl und mein Weh, und deshalb hatte ich so zahlreiche Interessen, weil ich die seinen alle hatte und die meinen dazu, ohne das Eigenthum je zu unterscheiden.' 6
Es fällt auf, daß in den zehn Jahren der Ehe- und Schriftstellergemeinschaft mit Huber die Formel »ein Fleisch sein« im Sinne psycho-physischer Einheit ernst genommen und auf beide Bereiche angewandt wird, obwohl auch noch in diesem Fall die Schutzfunktion solcher Behauptungen mit beabsichtigt sein dürfte. Für Therese Huber ergibt sich, biographisch argumentiert, daraus eine Differenzierung ihrer schriftstellerischen Berufstätigkeit, wenn sie ihr »rein weibliche(s) Schriftsteller-Verhältniß von Hubers Lebzeiten«, das durch ihre Namenlosigkeit und den Verzicht auf Eigentumsunterscheidung gekennzeichnet ist, von der Schriftstellerei mit Allein-Eigentumsrechten unterscheidet. Daß sie diese nicht schon als Witwe mit Kindern, sondern letztlich erst als »greisende Matrone« ohne Hausstand ganz erfüllen kann, wird einmal durch den Rekurs auf die Publikumsmeinung begründet — »Daß die Schriftstellerinn eine rüstige Hausmutter seyn könne, wird dem Publikum zu glauben sehr schwer« — und dient gleichzeitig der Selbstbeschränkung auf Schreiben als Erfüllung von Mutterpflichten, als Fortsetzung weiblicher Erziehungsarbeit durch Schrift und in der Öffentlichkeit.37 Therese Huber bleibt also mit den Positionsbeschreibungen ihres Schriftsteller-Berufs im Rahmen der Literaturtradition von Frauen, wie sie uns für unseren Zeitraum und die Gattung Roman bereits seit Sophie La Roches »papierenen Mädchen« vertraut ist. Sie folgt der Hierarchisierung von häuslichem und Schriftsteller-Beruf, läßt allerdings zugleich durch weitere Binnendifferenzierungen das Modell einer Schriftsteller-Existenz für Frauen erkennen, in der diese im Mittelpunkt steht. Darin unterscheidet sie sich von ihren Vorgängerinnen. Im Vorwort zu Ellen Percy (ι822) bezieht sich Therese Huber zum ersten Mal explizit auch auf eine weibliche Leserschaft, indem sie ihr poetologisches Konzept Schreiben als Erziehungsarbeit im Sinne der Romanheldin durch Schicksale und der Leserinnen durch diese Lektüre — gegenüber Verleger und Rezensenten, die Frauen nur als Leserinnen »beim Putz- und Theetisch« sehen können, inhaltlich in Anspruch nimmt, ausweist und durchsetzt.38 In dem Zusammenhang lenkt sie die Aufmerksamkeit auf den solcher Männeroptik verborgen bleibenden Hunger der Frauen nach geistig anspruchsvoller Nahrung, über den sie, Frauen aus ihrer Perspektive anders erlebend und sehend als Männer, »weiß« und »vielfach erfahren« hat: die andere, verborgene Realität der Frauen neben der der Männer literarisch sichtbar machen, so hatte schon Friederike Helene Unger formuliert. Therese Huber erweitert jedoch, wie der Gebrauch der Spiegel-Metapher an anderer Stelle deutlich werden läßt, den Anspruchsbereich einer Literatur von Frauen über die Gegenstände hinaus auf den Wechsel der Perspektive, der damit unweigerlich einhergehen muß: »[...] aber die Weiber sind nicht wohlthätig, wenn ihr Karakter uns einen Spiegel vorhält, in welchem wir unsre Schwächen erkennen. Sie hören auf, Weiber zu seyn, und wir fühlen uns nicht
36 Ebd., S. Illf. 37 Ebd., S. Vff. 38 Huber: Ellen Percy, S. Vff.
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als Männer.«39 Im Vorwort zu Ellen Percy, in dem die Kategorie >Weiblichkeit< so ausdrücklich geltend gemacht wird, beschränkt sich die Autorin allerdings nicht nur auf den Anspruch zu erziehen, sondern sie stellt diesem explizit auch den ästhetischen einer »Vollendung im Styl und in der Sprache« an die Seite. Das Beispiel Therese Huber macht einen differenzierenden Umgang mit der Vorredentradition deutlich. Diese Autorin bedient sich fast durchgängig und weit über das für die Zeit bereits allgemein konstatierte Zurücktreten der Vorwortpraxis der M ö g lichkeit erläuternder Stellungnahmen. Das hat zweifellos mit ihrer erzählerischen Aufklärungsabsicht zu tun. Dabei setzt sie ihre thematischen Akzente überwiegend situations- und sachorientiert, was sowohl für die drei Funktionen Autor-Werk-Leser als auch für die Einbeziehung der Kategorie Geschlecht gilt. 4 " Obwohl Therese Huber mit ihrem schriftstellerischen Selbstverständnis innerhalb der Traditionslinie ihrer Vorgängerinnen insofern bleibt, als sie moralische Nützlichkeit, Erfahrung als Quelle ihrer literarischen Tätigkeit und Wahrung der beruflichen Hierarchisierung in Form des Phasenmodells zitiert, bringt sie doch alle diese Argumente im Kontext ihrer Themen und ihrer Position mit einem entschieden veränderten Selbstbewußtsein vor. Sie reflektiert die Ansprüche und Berechtigung einer so ausgerichteten Literatur von Frauen, für die sie im Verlauf ihrer eigenen Entwicklung zunehmend ästhetische Kategorien der Gestaltung und Beurteilung solcher Texte anmeldet. Ob und inwieweit sie selbst in ihren Erzählungen und Romanen diesen Ansprüchen gerecht werden konnte, kann hier nicht weiter ausgeführt werden.
5. »[Kleine Vorrede zu schreiben, die voller kriechenden Empfehlungen «in die Herren Kunstrichter, gerichtet seyn sollte« 1 7 7 1 erschienen zwei deutschsprachige Romane anonym, für die aus den entsprechenden Vorworten Frauen als Autorinnen erkennbar waren: Die Geschichte des Fräuleins Don Sternheim der Sophie La Roche, die in der Literaturgeschichtsschreibung als erster bedeutenderer deutscher Frauenroman bekannt ist, und der nahezu unbekannte Erstlingsroman Die verwechselten Töchter von Maria Anna Sagar. Beiden Romanen ist eine Vorrede vorangestellt, von denen die eine von der Autorin Sagar selbst stammt, während die andere von einem männlichen Autor, dem Freund und Mentor der Autorin La Roche, geschrieben worden ist. Wielands apologetische Argumentation ist bekannt: ι. Literatur von Frauen ist nicht professionell. Sie ist ein Produkt der Natur, nicht der Kunst und des Könnens. Sie entspringt eigener Erfahrung. 2. Sie ist Gelegenheitsprodukt von Nebenstunden. 3. Erzieherische Intentionen überwiegen und damit haben Inhalte die Priorität vor Formen. 4. Eigene, andere Erfahrungen verlangen nach einer eigenen, anderen Sprache.
Die Ausführungen zu den poetologischen Reflexionen in den Romanvorreden von Frauen haben erkennen lassen, daß die Autorinnen im wesentlichen diese von Wie39 [Therese Huber]: Geschichte einer Reise auf die Freite. In: [Dies.]: Erzählungen. Slg. 1 - 3 . Braunschweig 1801/1802, Slg. 2, S. 388f. 40 Vgl. Andrea Hahn: Therese Huber, geborene Heyne (1764-1829), als Schriftstellerin. München, M.A. 1985, S. looff.
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land vorgebrachten A r g u m e n t e und seine apologetische H a l t u n g aufgegriffen u n d w i e d e r h o l t haben. D i e Frauen d e s B ü r g e r t u m s f a n d e n z w a r a m Ende d e s 18. Jahrhund e r t s z u m R o m a n als d e r G a t t u n g , d i e i h r e W e r t - u n d W e l t v o r s t e l l u n g e n w i e d e r g a b , die aber nur b e d i n g t a u c h für sie z u einer e m a n z i p a t o r i s c h e n A u s d r u c k s f o r m w e r d e n k o n n t e , s o l a n g e ihre E m a n z i p a t i o n gesellschaftlich nicht v o l l z o g e n war. D a ß es andere, s e l b s t b e w u ß t e A n s ä t z e d e r S e l b s t v e r g e w i s s e r u n g d a n e b e n a u c h g e g e b e n h a t , l i e ß sich a m Beispiel einiger A u t o r i n n e n z e i g e n u n d soll hier abschließend n o c h einmal zur S p r a c h e k o m m e n . 1 7 7 1 h a b e n s i c h in d e n V o r r e d e n z u d e n z w e i s o g e n a n n t e n e r s t e n deutschsprachigen R o m a n e n v o n Frauen z w e i Traditionen abgezeichnet, v o n denen sich die v o n W i e l a n d skizzierte z w a r d u r c h g e s e t z t hat, der E n t w u r f v o n M a r i a A n n a S a g a r aber eine andere, v e r g e s s e n e Tradition e i g e n s t ä n d i g e r und ironisch-selbstbew u ß t e r Literaturproduktion v o n Frauen e r k e n n e n läßt: M e i n e Leser! N u r z w e y W o r t e habe ich Ihnen im V o r b e y g e h e n über die folgende Briefe zu sagen, damit ich mich v o n allem Verdacht rette; w e n n allenfalls einer oder der andere v o n den Namen, w o m i t ich meine Personen bekleidet habe, einer wirklich lebenden Familie zugehören sollte. Sie sollen also wissen und glauben, daß die Geschichte, welche diese Briefe enthalten, wahrhaft ist; und daß ich die N a m e n bloß nach meiner Fantasie dazu hergegeben habe. Hiermit könnte ich mich Ihnen nun, ohne weitere Umstände empfehlen; und Sie sogleich die Briefe zu lesen anfangen: ich glaube aber, daß ich vorher noch auf die kräftigst mögliche Weise d a g e g e n protestiren muß, daß man das, was ich hier schreibe, nicht als eine V o r r e d e ansehe. Die Hand eines Frauenzimmers ist viel z u zart, als daß sie, wie die männlichen Bücherschreiber, in dem W u s t einer sophistischen Gelehrsamkeit herumwühlen sollte, um w i e sie öfters über dunkle Stellen, eines dunklen Werkes, noch dunklere Erklärungen zu g e b e n
-
Nein, o nein, deshalben schreibe ich diese Zeilen n i c h t . . . Dunkele Stellen wird man in diesen Briefen nicht finden. Und wenn Erklärungen darüber nöthig wären, so würden sie g e w i ß bis an das Ende der Welt unerklärt bleiben. Ich mag mich noch weniger des sonst so g e w ö h n l i c h e a und in den meisten Vorreden so treflich benutzten Vorwandes bedienen: die Herausgabe seines Werkes niemalen ihrem wahren B e w e g g r u n d — der Schreibsucht, dem Ehrgeiz nach der Autorschaft, und so weiter — sondern allemal dem A n d r i n g e n seiner Freunde, oder dem Bitten des Verlegers, auf den Hals z u werfen. Ich würde durch dergleichen Entschuldigungen mein Geschlecht z u sehr herabsetzen, w e l c h e s . . . doch über diesen Punkt lasse ich das Publikum urtheilen w i e es will. Schon den bloßen Gedanken kann ich ohne Beleidigung der weiblichen Eitelkeit nicht ertragen: eine Vorrede zu schreiben, die voller kriechenden Empfehlungen an die Herren Kunstrichter, gerichtet s e y n sollte, um ihren, für mein Geschlecht so w e n i g bedeutenden Beyfall, zu erbetteln
O das sollen sie v o n mir ja nicht erwarten! ich kann meinem Geschlechte nicht so
viel v o n seinen Gerechtsamen vergeben; die finstem Gelehrten nennen es selbst das Schöne, folglich müssen sie auch alles, was v o n uns kommt, ohne Ausnahme für schön erkennen, — und hierunter ist meine g e g e n w ä r t i g e Arbeit auch mit verstanden. — Ich glaube mich nun g e n u g erkläret z u haben, und ich rathe es Ihnen noch einmal, meine Herren Leser! tadeln sie nichts an meinem Werkgen; den Kopf sollen sie nicht einmal darüber schütteln! oder ich werde mich mit einer Fortsetzung an ihnen rächen. 41
4 1 [Maria A n n a Sagar]: Die verwechselten Töchter, eine wahrhafte Geschichte, in Briefen entworfen v o n einem Frauenzimmer. Prag 1 7 7 1 , S. * ι - * 4 · — Vgl. auch den Beitrag v o n Helga Meise in diesem Band.
HELGA GALLAS Ehe als Instrument des Masochismus oder >GlückseligkeitsTriangel« als Aufrechterhaltung des Begehrens? Zur Trennung von Liebe und Sexualität im deutschen Frauenroman des 18. Jahrhunderts
Die vielfältigen Liebes- und Ehegeschichten im deutschen Frauenroman des 18. Jahrhunderts lassen sich sehr grob zwei Gruppen zuordnen: Die einen erzählen die Geschichte zweier Liebenden, die aufgrund mancherlei Intrigen, Mißverständnissen, Zufällen und falschen Rücksichten nicht zueinander kommen können bzw. erst nach Überwindung all dieser Hindernisse. Diese Romane nehmen das Handlungsschema der barocken höfisch-historischen Romane auf und verbinden es mit dem Handlungsschema der bürgerlichen Romane Richardsons — wobei anstelle der die Liebenden trennenden Hofintrigen oder auch daneben das Motiv des adligen Verführers und der verfolgten Unschuld tritt. Die Romane dieser Gruppe enden fast immer mit einem Happy-End, nämlich mit Heirat bzw. Ehe. Als Beispiele nenne ich Sophie La Roches Das Fräulein von Sternheim und Karoline von Wolzogens Agnes von Lilien. Die Romane der zweiten Gruppe erzählen die Geschichte zweier Liebenden, die meist anfangs zusammen sind,1 dann aber getrennt werden bzw. sich trennen. Die Heldin verzichtet auf den leidenschaftlich geliebten Mann zugunsten eines Ungeliebten, den sie heiratet. Der nicht-geheiratete Gebliebte bleibt ehelos, vielleicht zieht er sogar in die Nähe des Paares, erzieht dessen Kinder und ist mit Hausherrin und Hausherrn freundschaftlich verbunden.2 Im Unterschied zu den Romanen der ersten Gruppe sind die die Liebe verhindernden Momente hier nicht in erster Linie abenteuerliche Verwirrung und Intrige und auch nur scheinbar äußere Widerstände. Was die Liebe unmöglich macht, ist mehr oder weniger freiwillige Entsagung. Zwar kann das Romanende auch hier ein Happy-End sein, am häufigsten sind jedoch die Fälle, in denen der Schluß ambivalent bleibt: die Heldin akzeptiert bzw. rechtfertigt ihre Ehe und ihren Verzicht auf den Geliebten; wie um sich selbst Lügen zu strafen, siecht sie aber dahin und stirbt schließlich an einer undefinierbaren Krankheit.
1 Sophie von Stemheim bleibt im Unklaren über die Gefühle des geliebten Lord Seymour, da dieser darauf verzichtet (anders als Lord Derby), sich öffentlich oder auch privat um sie zu bemühen. Elisa und Herrmann in Wobesers Roman »Elisa oder das Weib wie es seyn sollte« haben sich ihre Gefühle gestanden, sie sind sich ihrer gegenseitigen Liebe sicher. ζ Als Nebenhandlung findet sich diese Konstellation auch in manchen Romanen der ersten Gruppe. Auch hier kann der edelmütig Verzichtende in die Nähe des Paares ziehen, der Erzieher der Kinder werden usw. Man denke an Lord Rieh in »Geschichte des Fräuleins von Stemheim« oder an Julius in »Agnes von Lilien«. Allerdings unterscheiden sich die Konstellationen in diesen Nebenhandlungen deutlich von denen, die für die Romane der zweiten Gruppe charakteristisch sind: durch die geringere Schwere des Verzichts und dadurch, daß die Angebetete keinen Ungeliebten heiratet.
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Hier liegt ein anderes Erzählmuster vor; es ist das der Nouvelle Héloise von JeanJacques Rousseau. Seine Vorläufer hat es im französischen Frauenroman des 17. Jahrhunderts, ζ. B. in Madame de La Fayettes La Princesse de Cleves. Als bekanntestes Beispiel für unseren Zeitraum nenne ich Caroline von Wobesers Elisa oder das Weib wie es seyn sollte. Mit diesem, dem zweiten Erzählmuster will ich mich beschäftigen. Es geht also um eine Dreiecksgeschichte, die aber nicht das Bild eines Eifersuchtsdramas zwischen Rivalen bietet, sondern im Gegenteil ein friedliches Zusammenleben aller drei. Eberhard Meyer-Krentler nennt diese Konstellation >GiückseIigkeits-Triangelmittleren Aufklärung< gewesen, sei aber schon durch einen Roman wie Goethes »Werther« als scheinheilig entlarvt worden; es habe daher »keine einzige explizite Übernahme dieser zentralen Motivik in einem Roman« (S. 108) gegeben. Dieser Befund stimmt auf keinen Fall, denn eben dieses Motiv taucht in den deutschen Romanen von Frauen zu Ende des Jahrhunderts in vielfältigen Variationen auf: allerdings ist es hier meist die Frau, die verzichtet zuweilen auch den Geliebten an die ihn weniger liebende Freundin abtritt (wie es Julie in »La Nouvelle Héloïse« angestrebt hat). Als Freundschaftsbeweis für eine andere Frau aber wird der Verzicht der Heldin so gut wie nie dargestellt; dieses Argument tritt allenfalls als Nebenbegründung auf. Der Gewinn, den der Verzicht für männliche und weibliche Helden bringt, ist aber durchaus vergleichbar: Betont Meyer-Krentler, daß im Wettstreit um den tugendhaften Verzicht der Ausgestochene sich keineswegs als leidender Dritter, sondern vielmehr als überlegener moralischer Sieger fühlen konnte, so trifft dies auch auf die weibliche Heldin zu, auch wenn sie mangels einer zweiten Frau gar keine ausgestochene Konkurrentin ist: die Frau als Verzichtende wird zum Subjekt der Handlung, sie gewinnt dadurch moralische Überlegenheit - nicht über eine andere Frau, sondern über den Mann. Immer ist sie aber als Leidende dargestellt. 4 Vgl. z. B. J. G. Fichtes Plädoyer gegen von Eltern erzwungene Heiraten ohne Liebe in »Grundlagen des Naturrechts« von 1796.
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wenn man auch nicht dem Irrtum verfallen will, es handele sich bei diesem Eheideal um das Abbild einer damals üblichen Realität — so stellt sich die Frage: Was war an Rousseaus Konzeption gerade für weibliche Autorinnen so attraktiv?5 Zunächst ein Blick auf Rousseaus Nouvelle Héloïse: Anders als oft beschrieben ist die Trennung der Liebenden bei Rousseau nicht durch äußere Hindemisse erzwungen. Julie d'Etange und St. Preux stehen zwar dem ausdrücklichen Widerstand des Vaters gegenüber, der einer Heirat seiner Tochter mit einem Bürgerlichen unter keinen Umständen zustimmen will. Aber: Das Angebot Lord Eduard Bomstons, ihnen in England ein »beträchtliches Landgut« zu vermachen, böte die Möglichkeit, ihrer Liebe zu leben und sie zu legalisieren. Julie lehnt ab — mit Verweis auf die familialen Bande, die sie auch einem despotischen Vater verpflichten. Allerdings ist es gerade nicht die Despotie dieses Vaters, die sie dazu treibt. Seiner Gewalt hat sie immer äußerst selbstbewußt widerstanden: sie wurde freiwillig und trotz dieses Vaters die Geliebte von St. Preux. Ebenso entschieden verhält sie sich in einem anderen Punkt: Sie wird den Mann, dem der Vater sie versprochen hat, nicht ehelichen. »Er sah, daß ich fest entschlossen war und daß er mit Gewalt bei mir nichts ausrichen würde«,6 schreibt sie. Daraufhin wirft sich der Vater ihr zu Füßen, in Tränen — genau das stimmt sie um. Sie heiratet Herrn von Wolmar: »O mein Vater, ich hatte Waffen wider Ihre Drohungen, wider ihre Tränen habe ich keine. Sie sind es, der Ihrer Tochter den Tod bringen wird.« (S. 363) Die Gewalt des Vaters, seine Drohungen sind es also nicht, was einen so schweren Verzicht erzwingen würde. Was aber dann? Es gibt einiges, daß in Julie schon zuvor den Keim eines Mißtrauens in eine Ehe mit St. Preux gepflanzt hat und das sich in ihrem Bekehrungserlebnis in der Kirche bestätigt; im wesentlichen sind es zwei Überlegungen: 1. Die Liebe vergeht, sie ist flüchtig — deshalb kann sie keine Basis sein für eine dauerhafte Beziehung, wie sie Ehe und Kindererziehung darstellen. Julie entscheidet sich daher für die Ehe und gegen die Liebe. Soweit wäre dieses Argument ein im 18. Jahrhundert übliches, und in der Sekundärliteratur wird es auch als solches hervorgehoben. Die Dimension der Rousseauschen Argumentation reicht aber noch weiter: 7 5 Einen Erklärungsansatz liefert Marion Beaujean: Das Bild des Frauenzimmers im Roman des 18. Jahrhunderts. In: Wolfenbiitteler Studien zur Aufklärung 3 (1976), S. çff. Beaujean interpretiert die Konzeption der Entsagung ζ. B. im »Elisa.-Rornan als Ausdruck des im 18. Jh. allenthalben thematisierten Kampfes zwischen Pflicht und Neigung, zwischen Ordnung und Leidenschaft. Die Frau (nicht nur im Roman von Frauen, sondern überhaupt in der Literatur des 18. Jahrhunderts) wird zur Trägerin der neuen Idee, daß individuelle Erfahrung bzw. eingeborenes sittliches Empfinden und normative Forderungen der Gesellschaft vereinbar, ja identisch seien: der Frau gelingt und obliegt ohne Schwierigkeiten die Sublimation der sexuellen Triebe. Beaujean verweist auf Goethes Natalie, von der es heißt, daß »ihre Natur nichts fordert, als was die Welt wünscht und braucht«. Beaujean hebt einen Aspekt hervor, der für unseren Zusammenhang wichtig scheint: durch das tugendhafte Dulden erlangt die Frau eine moralische Überlegenheit über den Mann, die sie zu einem Gewinn an persönlicher Bedeutung, zu einem neuen Selbstwertgefühl führt: »Das >Genie der Seele< wird dem intellektuellen Genie gleichwertig« (S. 19). Wir werden sehen, daß dies ein Aspekt der gesuchten Erklärung ist, aber nicht der einzige. — Zu der von Luhmann vorgeschlagenen Erklärung vgl. Anm. 9. 6 Zitiert nach: Julie oder die Neue Héloïse. Briefe zweier Liebenden aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen. Gesammelt und herausgegeben durch Jean-Jacques Rousseau. München 1978, S. 362. 7 Ich beziehe mich hier auf die Untersuchungen von Matthias Waltz: Der Tausch und die Entstehung der Wünsche. Studien zu Rousseau, Sartre und Proust. Manuskript, erscheint 1991.
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Die leidenschaftliche Liebe zweier Individuen läßt sie nur für sich leben, nur an sich denken - das aber entzieht sie der übrigen Gesellschaft. Und zwar nicht nur in dem Sinne, daß die Liebe von den Pflichten einer Mutter, einer Hausherrin usw., abzieht, und in diesem Sinne eine Intimität herstellen würde, die noch keinen gesellschaftlich anerkannten Wert darstellte,8 sondern: Julie hat Angst, daß die Liebe aus dem realen Leben überhaupt hinausführt. Liebe ist mit Realitätsverlust verbunden und in diesem Sinne lebenszerstörend: »dieses wahnsinnige Glück gleicht Anfällen von Raserei mehr als zärtlichen Liebkosungen.« (S. xoi) Die Ehe erscheint demgegenüber als Institution, die an die Realität bindet und das Herausfallen des Individuums aus der Gesamtgruppenbeziehung, ζ. B. der Familie, verhindert. Gleichzeitig aber haben Julie und St. Preux das sichere Gefühl, das die Liebe lebendig macht, daß sie dem Leben erst Sinn gibt. «Köstlicher Quell meines Seins« (S. 352) nennt St. Preux seine Geliebte. Und noch auf dem Sterbebett spricht Julie davon, daß die Liebe ihr das Leben erst wirklich geschenkt hatte. (S. 777Í) Wie diesen Widerspruch lösen7 2. Nach einer Phase des uneingeschränkten Zusammenseins bauen sich Julie und St. Preux ihre Hindemisse selbst auf: die ständige Anwesenheit der Freundin Claire, die Reisen von St. Preux. Keineswegs nur aus Angst vor dem Verlust der sogenannten Tugend oder aus Reue über diesen Verlust; im Nachhinein formuliert Julie, was sie von Anfang an ahnte: die sexuelle Lust habe die Liebe ihres »größten Reizes beraubt«: »unsere Flammen haben jene göttliche Glut verloren, die sie beseelte und zugleich läuterte; [...] Ein reines, heiliges Feuer brannte in unsem Herzen; den Irrtümern der Sinne überlassen, sind wir jetzt nur noch gewöhnliche Verliebte«. (S. 101) Solange Hindemisse aufgerichtet sind, bleibt die Liebe erhalten, und sie glüht in einem heiligen Feuer, das sie adelt und unverwechselbar macht; sind die Hindemisse gefallen, schwindet die Liebe, und zurück bleiben Gefühle, die das Fräulein von Etange mit jeder Stallmagd teilt. Das heißt: Es wird unterschieden zwischen dem sexuellen Bedürfnis, das auf Befriedigung aus ist und eine Angelegenheit der Allgemeinheit darstellt, und einem sinnlichen Begehren, das wenigen vorbehalten ist, höchsten Genuß verschafft, aber nichts mit realer Befriedigung zu tun hat. Im Gegenteil: die Freundin Ciaire formuliert den scheinbar paradoxen Satz, der Julies Philosophie bezeichnet: sich enthalten, um zu genießen. Hat Julie noch am Anfang ihrer Beziehung zu St. Preux gesagt, er möge ihr ewige Treue schwören, nicht aber ewige Liebe, denn die zu schwören sei unredlich (S. 110) — so schwört sie St. Preux angesichts ihrer Eheschließung mit von Wolmar genau dies: ewige Liebe für St. Preux, ewige Treue für von Wolmar (S. 368). Dieser Liebesschwur ist aber nur unter der Bedingung möglich, daß sie St. Preux nicht heiratet, daß sie auf die Realisierung dieser Leidenschaft verzichtet. Gerade dadurch kann die Liebe bewahrt werden, wird ewig. Liebe und Ehe und vor allem Begehren und Sexualität fallen also auseinander, sie sind nicht vereinbar. »Und seit die Welt steht, hat man jemals zwei Liebende in weißen Haaren für einander schmachten sehen?« Die Antwort kann nur nein sein. Aber gerade dies Unmögliche haben Julie und St. Preux durch ihren Verzicht erreicht: noch auf dem Sterbebett, in ihrem letzten Brief
8 Vgl. Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt 1982.
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gesteht Julie, daß sie ihre Leidenschaft keineswegs, w i e gedacht, überwunden, daß sie St. Preux immer noch liebe und immer geliebt habe. Rousseaus Nouvelle
Héloïse ist also auch ein R o m a n über die Bedingungen der
amour passion, der leidenschaftlichen Liebe oder des Begehrens. D a s Fazit lautet: Verbot und Trennung sind die Bedingungen zur Errichtung des Begehrens und zu seiner Aufrechterhaltung. D a s Verbot schafft erst, w a s es verbietet: das begehrte Objekt. Die Liebe darf nicht zur Erfüllung, nicht zur Ehe führen. In der Ehe kann es Freundschaft, Zärtlichkeit und Befriedigung sexueller Bedürfnisse geben, aber kein sinnliches Begehren; ich f ü g e mit Jacques Lacan hinzu: da man nicht begehren kann, w a s man hat. S o formuliert sieht man, daß es hier um ein Problem geht, das menschlicher Sexualität, menschlichem Begehren und der Beziehung der Geschlechter inhärent ist. 9 W i e die M e n s c h e n mit diesem Dielemma u m g e g a n g e n sind, zeigt uns die Geschichte der Liebeskultur, die in Europa v o r allem eine Geschichte der Literatur ist. Und in der Literatur hat die uns hier interessierende Liebesauffassung ihre Tradition. Ich meine die Troubadoura-Lyrik und das höfische Epos. A u c h die Frau in der höfischen Literatur ließ sich v o n einem Ritter anbeten, ohne je auf die reale Befriedigung ihres Begehrens zu dringen. D e r Ritter wiederum akzeptierte die Unantastbarkeit der Herrin, vollbrachte aber all seine Aktivitäten für diese, eine abwesende, unerreichbare, verheirate-
9 Meinem Blick auf die Frauenromane des 18. Jhs. liegt eine Hypothese zugrunde, die Basis eines Forschungsprojektes ist, an dem ich in Bremen zusammen mit Hans-Dieter Gondek und Matthias Waltz arbeite: Das Geschlechterverhältnis (d. h. die Beziehungsdimension des sexuellen Verhaltens oder Sexualität als Beziehung) ist nicht, wie oft und auch in der feministischen Literatur angenommen, als ein natürlich gegebenes, etwa biologisch geregeltes zu denken, das lediglich durch Herrschaftsverhältnisse deformiert wurde. Mit Lacan gehen wir davon aus, daß Sexualität als Beziehung ein Effekt des Zusammentreffens der biologischen Realität mit dem System der Sprache und des Tausches ist (Tausch im Sinne von Lévi-Strauss und Marcel Mauss als Gabe, die zu einer Gegengabe verpflichtet und eine bleibende Beziehung zwischen den Tauschenden herstellt - im Unterschied zum Warentausch). Das Begehren als eine Dimension des Geschlechterverhältnisses ist eine intersubjektive Kategorie und losgelöst vom sexuellen Verhalten. Den Umstrukturierungen des Geschlechterverhältnisses, wie es sich in der Literatur v. a. des 12. und 18. Jahrhunderts zeigt, entsprechen Krisen in der Artikulation der gesellschaftlichen Realität durch den (archaischen) Tausch. (Vgl. dazu Matthias Waltz, Anm. 7.) Bisher ist die Problematik nur von Luhmann aufgenommen worden (vgl. Anm. 8), der das Verdienst hat, die naive Bindung des Geschlechterverhältnisses an jede Form von Natürlichkeit aufgegeben zu haben. Allerdings sieht er die Umstrukturierungen des Geschlechterverhältnisses, die er am Übergang der Liebe als Passion in der galanten Literatur des 17. Jhs. zur modernen Liebesauffassung untersucht, nur unter dem Aspekt der Ausdifferenzierung von Intimität. Das scheint aber nicht den Kem zu treffen, wie die Höfische Minne zeigt, für die Intimität überhaupt keine Rolle spielt. Luhmann erwähnt die Höfische Minne zwar öfter, bezieht sie aber in die Analyse nicht ein. Unberücksichtigt bleibt daher in seiner Untersuchung der Liebe die Dimension des Begehrens im hier gebrauchten Sinn (die, wie Waltz zeigt, mit den beiden subjektkonstituierenden Strukturen: Sprache und Tausch zusammenhängt). Da Luhmann sich zudem für das 17. und 18. Jahrhundert ausschließlich auf französisches und englisches Material stützt und erst für die Romantik deutsche Texte heranzieht, entgehen ihm die für die deutsche Literatur des 18. Jahrhundert typischen Variationen des untersuchten Übergangs, die quasi als retardierende Momente (die ein ungelöstes Problem aufbewahren) fungieren auf dem Weg zu einer modernen, romantischen Liebesauffassung - wenn man darunter die heute noch gültige Einheit von Liebe, Sexualität und Ehe versteht.
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te Frau. Auch hier die völlige Trennung der Minnebeziehung von der Ehebeziehung; des Begehrens von der Sexualität:. Die gebildeten Frauen des Mittelalters haben diese Liebeskultur gefördert, da sie eine intensive Geschlechterbeziehung jenseits der Sexualität möglich machte, und da sie offenbar ihren Status in weit größerem Maße erhöhte als die Ehebeziehung. Ließe sich der Typ des Frauenromans, von dem hier die Rede ist, im Zusammenhang mit dieser Tradition der Liebeskultur sehen, die von der Höfischen Minne über Rousseaus Nouvelle Hélotse bis zur romantischen Liebe und noch bis zu den Vorstellungen einer Madame Bovary oder einer Effie Briest reicht? Vielleicht sogar bis zum Werk einer Elfriede Jelinek? Sehen wir uns an, wie in diesen Romanen Rousseau rezipiert wurde. Das Handlungsgerüst wird übernommen, aber anders als bei Rousseau werden die einer Ehe mit dem Geliebten entgegenstehenden Gründe durch eindeutige, konkrete Heiratshindernisse ersetzt: Standesrücksichten oder mütterliche bzw. väterliche Verbote. Dadurch erfolgt einerseits eine Verharmlosung des Konflikts. Denn es wird die Illusion genährt, die ideale Ehe sei möglich, eine Ehe, die sinnliche Leidenschaft und dauerhafte Verbindung nicht ausschließt, die das Unmögliche schafft, das begehren zu können, was man hat. Andererseits: in vielen dieser Romane von Frauen scheinen die äußeren Hindemisse äußerst konstruiert bzw. schlecht motiviert. Sie bemänteln nur unzureichend, daß auch in diesen Romanen der Verzicht freiwillig erfolgt. Und wenn schon der Verzicht auf die Heirat nicht ganz freiwillig ist, dann doch eine Reihe weitergehender Opfer für die unerfüllbare Liebe. Gräfin Pauline in Helene Ungers gleichnamigen Roman von 1800 zieht in die Nähe ihres geliebten Aemil, eines Fürstensohnes, der auf Geheiß seines Vaters eine ungeliebte, nichtswürdige Florentine heiraten muß. Obwohl Pauline und Aemil diese Ehe achten und eine sehr tugendhafte Beziehung pflegen, bekennt sich Pauline schriftlich »an ihrem Theile, ewig und unauflöslich gebunden; [...] Aemil bleibt frei und ungebunden, wie es dem Manne ziemt». (Gräfinn Pauline Bd. 1, S. 278) 1 0 »Für so hohe Seligkeiten«, d.h. den Geliebten fast täglich sehen zu können und mit ihm die Pläne zur Verbesserung des Landes zu beraten, nimmt sie die Verachtung seiner Ehefrau und die Nicht-Erfüllung ihrer Liebe auf sich. Als die lose Gattin gestorben ist und die jetzt mögliche Heirat am Widerstand der Landstände scheitert, führen sie nicht etwa ihr bisheriges (platonisches) Verhältnis weiter, sondern Pauline verläßt das Land — nicht ohne zuvor für den Fürsten selbstlos eine neue Gattin ausgesucht zu haben. Ihre Rückkehr macht sie davon abhängig, daß er die andere auch tatsächlich heiratet. »Ach Aemil, es muß so seyn, weil ich Dich gränzenlos, mehr als mein Leben, liebe, muß es so seyn. Deine Ehre, Dein Ruhm heischt dieses Opfer. Ich bringe es Dir, Du einiger Abgott meiner Seele, f r e i w i l l i g . « (Herv. v. mir; Bd. 2, S. 158) Als sie nach der Geburt des ersten Kindes zu dessen Erziehung zurückgerufen wird, stirbt sie auf der Rückreise - schon lange von Entsagung ausgezehrt — aber in den Armen des ihr entgegengeeilten Fürsten. Verzicht und Trennung haben auch in diesem Fall zur Aufrechterhaltung der Liebe geführt; Paulines Entsagung wurde mit der Unsterblichkeit dieser Liebe, die sie noch 10 (Friederike Helene Unger]: Gräfinn Pauline, Bd. 1 und 2, Berlin: Johann Friedrich Unger 1800, (= Journal der Romane, Band 1 und 2).
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in der Todesstunde umfängt, belohnt. Diese Liebeskonzeption bietet aber noch einen weiteren Vorteil: sie geht einher mit einer Idealisierung des begehrten Mannes; und sie erlaubt, die Vorstellung vom idealen Mann zu konservieren. Auch Allwina in Fanny Tamows Erzählung Allwim von Rosen (1805/1806)" steht einem konkreten Ehehindernis gegenüber. Tante und Mutter wollen ihr die Heirat mit einem polnischen Grafen nicht gestatten, der in russischen Diensten steht. Allwina müßte nach Rußland ziehen; dort hat die Familie ihrer Mutter einst ihr gesamtes Vermögen und eine Tochter in sibirischer Verbannung verloren. Als die Tante dem Grafen ihr Vermögen anbietet, damit er sich in Deutschland niederlassen kann, stellt sich heraus, daß er einem russischen Prinzen verpflichtet ist, dessen Freundschaft er nicht enttäuschen darf, er muß ihm nach Rußland folgen. Als daraufhin Tante und Mutter ihre Aversion gegen das finstere Rußland zurückstellen, um dem Glück Allwinas nicht im Wege zu stehen, verzichtet sie freiwillig. In ihrer Begründung wird deutlich, daß es ihr um die Bewahrung ihrer »unendlichen«, »unermeßlichen« Liebe geht, daß auch sie das Bild einer idealen Liebe der realen Befriedigung vorzieht. »Gilt es Dir denn nichts«, sagt sie ihrem polnischen Grafen, »daß wir uns gefunden haben und nun wissen, diese Sehnsucht unsere Herzens sei kein leerer, spottender Traum? Haben wir in dieser Gewißheit vom Dasein der Liebe nicht einen unversiegbaren Quell des wahren Lebens erbeutet? [...] Und wenn meine Thränen ewig dieser Trennung fließen, so werde ich doch, so lange ich bin, Gott danken, daß er mir da Gewißheit schenkte, wo Tausende an hoffnungsloser Sehnsucht und betrogner Hoffnung vergehen!« (S. 45) Tamows Geschichte endet allerdings »glücklich«, da der gerührte russische Prinz von ihrer beider Leiden hört und auf seine Rechte verzichtet; der Graf kann sich also in Deutschland niederlassen und Allwina heiraten. Damit wird der angedeutete Konflikt zwischen Ehe und Begehren wieder verwischt. Bei aller Einschränkung liegt in den bisher betrachteten Romanen ein deutlicher Unterschied zur Liebeskonzeption bei Richardson vor. Die Romane Richardsons umgehen diesen Konflikt, wenn sie eine Synthese von Sexualität, Freundschaft und (vernünftiger) Liebe in der Ehe propagieren. Bei der Aufschiebung der Sexualität bis nach der Hochzeit in diesen Romanen geht es nicht darum, das Begehren zu retten oder zumindest möglichst lange zu bewahren; diese Aufschiebung hat lediglich pragmatische oder moralische Gründe. Gerade dies ist aber nicht der Grundzug der hier besprochenen Werke — wenn auch in keinem vor der Ehe ein Sexualkontakt vollzogen wird, anders als beim Vorbild Rousseau. Es geht nicht nur darum, einer puritanischen Moral zu genügen oder die Frau vor den Folgen ungesicherter Schwangerschaften zu schützen und die Bereitschaft zur Ehe zu erzwingen: es geht darum, daß Sexualität und Begehren auseinanderfallen, daß sie gerade in einer Ehe nicht zu vereinen sind und daß die Aufrechterhaltung des Begehrens höher bewertet wird als die reale Befriedigung. Wenn bei Richardson der Wert der Dame über ihre voreheliche Enthaltsamkeit definiert wird, so ist für die hier betrachteten Romane, wie für Rousseau, der höchste Wert der bewußte Verzicht auf die geliebte Person — ein hocharistokratisches Ideal also. ix Fanny Tarnow: Allwina von Rosen. In: Auswahl aus Fanny Tamow's Schriften. Bd. 4, S. 1 - 7 0 , Leipzig: Carl Focke 1830 (Ersterscheinung in: Journal für deutsche Frauen, 1805/ 1806).
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Unter diesem Aspekt ein Blick auf Wobesers Roman Elisa oder das Weib wie es seyn sollte (1798) — den Roman, der uns aus heutiger Sicht als der Höhepunkt einer unterwürfigen, selbstverleugnenden Haltung der Frau zu Ende des 18. Jahrhunderts erscheinen kann und dessen Konzeption schon zur Zeit seines Erscheinens nicht unwidersprochen geblieben ist. Wobesers Roman folgt in der Grundstruktur und vielen Details dem Rousseauschen Vorbild. 12 Elisas Verzicht auf den geliebten Herrmann bleibt aber konstruiert. Elisas von der Mutter vorgezogene und heiß geliebte Schwester Caroline kann ihren Angebeteten nur bekommen, wenn Elisa dessen Vetter heiratet. Herr von Wallenheim stimmt der Verbindung seines unbemittelten Neffen mit der reichen Caroline nur zu, wenn sein Sohn die andere reiche Tochter, also Elisa, bekommt. Diese will auf ihr Erbe verzichten, zugunsten dieses Herrn, schließlich will sie auch auf Herrmann und die Ehe überhaupt verzichten, allein die Mutter bleibt hart. Elisas Schicksal interessiert sie nicht, sie will nur ihre andere Tochter glücklich wissen. Keine sehr überzeugende Motivierung, ganz abgesehen davon, daß diese berechnende, hochnäsige Schwester sich kaum in einen mittellosen Herrn verliebt haben würde. Vollends Elisas Nachgeben dieser hartherzigen Mutter und der egoistischen Schwester gegenüber erscheint unglaubwürdig. Aber noch bevor sich diese äußerst konstruierten Ehehindemisse anbahnen, schwelgen Elisa und Herrmann in Verzichtleistungen. Es ist vom »süßen Bewußtseyn, die heftigste Leidenschaft besiegt zu haben« (S. 60) die Rede. Dabei handelt es sich nicht nur um den der Konvention geschuldeten Aufschub der sexuellen Lust bis nach der Heirat. Auffallend ist, wie hier der Verzicht an sich heroisiert wird und wie gerade die Nicht-Befriedigung der sinnlichen Leidenschaft zu (erotischem) Genuß führt. Herrmann wörtlich: »Nein, Elisa, selbst in Deinen Armen würde ich die Wonne nicht empfinden, die jetzt das selige Gefühl der Tugend mir giebt.« (S. 6of.) Herrmann schwört, auf immer ehelos zu bleiben, und Elisa heiratet den Mann, vor dem sie sich ekelt. Als Herrmann, der à la St. Preux gastfreundlich im Haus Elisas und ihres Gatten aufgenommen wurde und wieder wegging, schließlich als Erzieher des Schwiegersohnes zurückkehrt, sagt er: »meine Elisa wäre nicht das Muster weiblicher Tugend geworden, wäre sie nicht die Gattinn des Mannes geworden, vor dem sie Widerwillen empfand« (S. 295). Elisa sekundiert dieser Einstellung, wenn sie ihre Freundin belehrt: »Glaubst Du, Henriette, daß das Weib, welches gewohnt wäre, alle ihre Begierden zu befriedigen, so lieben könnte, als ich?« (S. 169) Auch hier wieder die Philosophie: sich enthalten, um zu genießen. Nur die NichtBefriedigung der Leidenschaft macht die Liebe unsterblich. Das Happy-End dieser Geschichte — Elisa stirbt mit sich und der Welt versöhnt. 12 [Wilhelmine Karoline von Wobeser]: Elisa oder das Weib wie es seyn sollte. 3. verbesserte und mit sechs Kupfern von Penzel verschönerte Auflage, Leipzig: Heinrich Gräff 1798 (Erstauflage 1795). Der despotische Vater aus der »Nouvelle Héloïse« ist in »Elisa« durch eine kalte, hartherzige Mutter ersetzt. Da das eine für den Roman von Frauen typische Situation ist, auf die Susan Cocalis hingewiesen hat (die Mütter in diesen Romanen sterben fast alle früh, spätestens beim Eintritt in die Pubertät; die Tochter bleibt allein mit dem Vater oder einer kalten Stiefmutter zurück), spräche das doch für eine weibliche Verfasserschaft der »Elisa«. Da die Ausführungen von Schieth (vgl. den Beitrag in diesem Band) aber eine große Plausibilität haben, muß man wohl lediglich eine gewisse Mitfasserschaft einer Frau (der Wobeser?) annehmen.
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sie hat ihren Ehemann geläutert und darf mit der Gewißheit in den Tod gehen, daß er ohne sie ein Häufchen Unglück, ein Nichts ist — dieses Happy-End zeigt noch einen weiteren Aspekt dieser Liebes- und Ehekonzeption: Elisas moralische Überlegenheit entschädigt sie für alles nicht gelebte Leben. Man bekommt also eine doppelte Entschädigung für den Verzicht auf Befriedigung der Lust: zum einen Genuß in Form des Bewußtseins, daß man eine Vollkommenheit erreicht hat, die den anderen sprachlos macht; zum anderen Genuß in Form der Garantie, daß die ideale Liebe existiert und man teil an ihr hat, daß es ihn gibt, den einen heiß ersehnten Prinzen, und sei es als Abwesenden. Der Verzicht auf eine Liebesheirat in vielen der Frauenromane Ende des 18. Jahrhunderts hat also zwei Dimensionen: Er bewahrt in der Gestalt des ewig geliebten, aber unerreichbaren Dritten die Idee der amour passion und des Begehrens auf — man könnte sagen, gegen Richardsons - , denn Verzicht wird hier nicht aus nur moralischen Gründen geleistet: Verzicht erscheint als Genuß! - ein Genuß, der nur durch besondere Verdienste erreichbar ist. Und der Verzicht adelt die Frau, er gibt ihr ein Bewußtsein von ihrem eigenen Wert. Paradoxerweise wird hier inmitten eines Verbürgerlichungsprozesses ein aristokratisches Ideal wiederaufgenommen, um das (bürgerliche) Selbstbewußtsein einer unterdrückten Schicht, der Frauen, zu konstituieren und zu stabilisieren. Da diese Konzeption aber gekoppelt ist an ein Zurückstellen der eigenen Wünsche bis zur Selbstverleugnung, jedenfalls im »Elisa«-Roman, droht sie umzukippen in puren Masochismus. Die Eingangsfrage, wieso auch in den Romanen von Frauen und gerade in einer Zeit der fallenden Heiratsschranken, die Rousseausche Ehe- und Liebeskonzeption übernommen wird, kann aber noch genauer beantwortet werden: gerade weil diese Schranken fallen! Die verbietende Instanzhinter dem Rückenie i>ertt>ed[)feltett
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Sep 3BoIfgnachgebessertguten< Vertreterinnen der einen richtigen Identität. Nur sie erscheinen in dem Schlußtableau am Ende, nur sie erhalten einen Ehemann. Trotz der Obsession, die die Familie im Roman darstellt, geht es Sagar eher um den Charakter der Frauen und das Problem der weiblichen Identität als um ihre Familiarisierung. Im Familiengemälde am Schluß erscheinen eben nur Frauen: Klara v. Salis, ihre richtige Mutter und die Gräfin. Wenn sie — wie am A n f a n g in Abwesenheit der Männer, die in den Krieg ziehen, jetzt aber im Landhaus der Familie Salis v o n ökonomisch erzwungener Heimarbeit w i e v o n höfischer Etikette entfernt — auch Frau v. G . einladen, dann gewinnt die v o n ihnen repräsentierte Weiblichkeit utopische Züge. Nachdem bei Frau v. G . die Reue über den »kleinen Eigennutz« (S. 26), dem sie am A n f a n g als alleinstehende Mutter unterlegen war, triumphiert hatte, verschafft ihr jetzt die Einsicht in dieses Laster den Eintritt in die Gesellschaft, in die sie vorher als Parasit eingedrungen war: Das Herkommen dieser Familie, übergehe ich mit Stillschweigen, um den Verdacht — als wollte ich durch Bekanntmachung ihres erhabenen Standes den Handlungen selbst eine mehrere Achtung und Aufmerksamkeit verschaffen - zu vermeiden [... Sie, H. M.] ward bey uns einquartirt. (S. 6) Daß die moralische Umwandlung der Frau v. G. v o n einer Bedrohung in eine Stütze der Gesellschaft gelingt, beweist zunächst nur die Integrationskraft des bürgerlichen Familienmodells. Ihre Verbesserung gleicht einer Bekehrung, im Falle ihrer Tochter aber versagt letztlich jede Erziehung durch die >guten< Frauen. Der Grund für ihren Ausschluß aus dieser Gemeinschaft ist in ihrem Aufenthalt bei H o f e zu suchen, w o die Natur sich weder entfalten noch entwickeln läßt. 27 In Sagars Roman ist die weibliche Identität immer schon als genau definierte Größe existent. Während er sie einmal als Geschichte der Erziehung der richtigen Klara darstellt, ist deren Ergebnis zum anderen in ihrer Mutter präfiguriert. Ihre Vollkommenheit ist v o n Beginn an ideeller Fluchtpunkt der Diskussion um die Identität: O englische, o göttliche Frau! rief er aus [Timon, H.M.], wie schön ist ihre Denkungsart. Sie scheint nicht einmal über das Unrecht, das man ihrer würdigen Tochter angethan hat, aufgebracht zu seyn. Nur eine so himmlische Seele konnte so gelassen dabey seyn. O Klara! wünschen wir uns Glück zu einer so theuren Mutter. Sie sind ihr wahres Ebenbild. (S. 132) Der Roman gibt die Freundinnen, Frau v. G. und Frau v. Salis, als >modern< aus, wählen sie doch statt der standesgemäßen Heirat die Liebesehe (S. 6) 2β und geraten dann in der Folge ihrer ökonomischen Situation moralisch auf Irrwege. Dennoch erzählt Sagar ihre Geschichte nicht als Geschichte individueller Erfahrung oder Veränderung, wie es die >modeme< Gattung Roman erfordert hätte. Hier herrscht die Allegorie und nicht
27 Mühleisen, Vorbilder, S. 445 erkennt in den »Fehlern« der Charlotte das »Erbteil der Mutter«. Zur gängigen Kritik des Hofes läßt sich Sophie von La Roches »Geschichte des Fräuleins von Stemheim« als Beispiel anführen. 28 Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung der Intimität. Frankfurt/M. 1980; Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen. Frankfurt/M. 1977.
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das »Werden«:19 »Aber, wer kann so vollkommen seyn, wie sie? O! sie ist die Vollkommenheit selbst, kaum spührt man etwas indisches an ihr.« (S. 117)
4. Poetologie einer Autorin 1 7 7 1 — 1 7 7 4 Erfüllt Die verwechselten Töchter auf der einen Seite thematisch und formal einen Teil der Kriterien, die die Zeitgenossen für die neue Gattung Roman formulieren,3" so läßt sich Sagars Text gerade aufgrund dieser Konzeption seiner Heldinnen weder dem geforderten Begriff von Individualität zuschlagen, noch gehört er in den literarischen Diskurs der Romane, die im Anschluß an den Bestseller von Sophie von La Roche Geschichte des Fräuleins von Sternheim von Frauen verfaßt werden. Sophie von Stemheim und ihre Nachfolgerinnen sind zwar auch vollkommen, sind aber anders als Frau v. Salis Prüfungen ausgesetzt, in denen sich ihre Vollkommenheit beweisen muß.31 Wird in diesen Romanen die »Perfektibiiität«32 der Weiblichkeit unter den neuen, veränderten Bedingungen der bürgerlich-aufklärerischen Verhältnisse erkundet, dann stehen in Sagars erstem Roman die allegorische Vollkommenheit und die gesellschaftliche Rolle des weiblichen Geschlechts als Gattin und Hausfrau unvermittelt und unproblematisch nebeneinander. Aber schon in Sagars nächstem Roman Karolinens Tagebuch ohne ausserordentliche Handlungen oder gerade so viel wie gar keine (1774) lassen sich diese Eigenschaften nicht mehr vereinigen, und der Text führt vor, wie die weibliche Vollkommenheit bürgerlichen Maßstäben angepaßt und dabei von der gesellschaftlichen Rolle der Weiblichkeit überlagert wird.33 Das gilt sowohl für die Verfasserin des Tagebuches, Karoline, als auch für die von ihr im Tagebuch erfundenen Heldinnen, Eleonore v. Lusani und die Herzogin v. C. 34 Während die Autorin den Konflikt darstellt, in den die langsame Durchsetzung dieser Rolle die Titelheldin selbst stürzt, taucht das Thema der Vollkommenheit an anderer Stelle auf, und zwar im Zentrum der Überlegungen, die sich mit dem Schreiben und den erfundenen Geschichten be-
29 Vgl. Voßkamp, Romantheorie, S. 187. Vgl. auch seine Ausführungen zu Blanckenburgs »Versuch über den Roman« (1774) und seine Forderung nach der Darstellung der »inneren Geschichte des Menschen« im Roman, S. 200ff. Der Terminus »Werden« wird so gebraucht von Johann J. Engel in »Ueber Handlung, Gespräch und Erzählung« (1774). 30 Voßkamp, Romantheorie, S. 181. 3 1 Sophie von La Roche: Geschichte des Fräuleins von Stemheim. Von einer Freundin derselben aus Original-Papieren und andern zuverläßigen Quellen gezogen. Hg. v. C. M. Wieland. Leipzig 1 7 7 1 / 2 . Vgl. auch die Literaturliste, die Barbara Becker-Cantarino der Ausgabe des Romans Stuttgart 1983 beifügt, zum Thema »Prüfung« vor allem die Verbindung Richardson — La Roche. 32 Georg Stanitzek: Bildung und Roman als Moment bürgerlicher Kultur. Zur Frühgeschichte des deutschen Bildungsromans. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 62 (1988), S. 4 1 6 - 4 5 1 . Die von Frauen verfaßten Romane lassen sich allen 3 Romantypen zuschlagen, die er in der Nachfolge Rousseaus in Deutschland unterscheidet. Vgl. dazu Meise: Unschuld, S. 66ff. 33 Vgl. Helga Meise: Wer ist sie? Zum Verhältnis von weiblicher Identität und literarischem Diskurs in Frauenromanen des 18. Jahrhunderts. In: Das Subjekt des Diskurses. Hg. v. Manfred Geier u. Harold Woetzel. (Argument-Sonderband A S 98) Berlin West 1983, S. 108 - 1 2 2 . 34 Ebd. Vgl. auch Meise: Unschuld, S. i8çff.
Das Werk von Maria Anna Sagar
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schäftigen und die sich heute als Poetologie weiblichen Schreibens im 18. Jahrhundert lesen lassen. Das Thema von der »Schreiblust« wird auch in den verwechselten Töchtern behandelt und erscheint schon dort - einer der frühesten Belege - in der Nähe der »Schreibsucht« (S. 54). 35 Um diese Lust bei einer Frau zu erklären, gibt Sagar ihren »Entwurf in Briefen« auch als poetologische Antwort auf die Dramenvorlage und ihre Verarbeitung durch eine Frau aus. Sie führt nämlich noch einmal - in Vorrede und Rahmenhandlung — die beiden Eigenschaften ins Feld, an denen das Drama des männlichen Autors und der Roman der weiblichen Autorin die weibliche Identität und ihren gesellschaftlichen Ort in der höfischen bzw. bürgerlichen Gesellschaft diskutiert hatten, die Schönheit und die Sprache, und benutzt sie für die Begründung weiblichen Schreibens. Unter Verweis auf die Schönheit des weiblichen Geschlechts wird dabei die für den Roman typische Vorrede und ihre Topoi — Wahrhaftigkeit und Herausgeberfiktion - ' 6 persifliert: Die Hand eines Frauenzimmers ist viel zu zart, als daß sie, wie die männlichen Bücherschreiber, in dem Wust einer sophistischen Gelehrsamkeit herumwühlen sollte, um wie sie öfters über dunkle Stellen, eines dunklen Werkes, noch dunklere Erklärungen zu geben — Nein, o nein, deshalben schreibe ich diese Zeilen nicht... Dunkele Stellen wird man in diesen Briefen nicht finden. Und wenn Erklärungen darüber nöthig wären, so würden sie gewiß bis an das Ende der Welt unerklärt bleiben. Ich mag mich noch weniger des [...] Vorwandes bedienen: die Herausgabe seines Werkes niemalen ihrem wahren Beweggrund — der Schreibsucht, dem Ehrgeiz nach der Autorschaft, und so weiter — sondern allemal dem Andringen seiner Freunde, oder dem Bitten des Verlegers, auf den Hals zu werfen. Ich würde durch dergleichen Entschuldigungen mein Geschlecht zu sehr herabsetzen, welches ... doch über diesen Punkt lasse ich das Publikum urtheilen wie es will [...] eine Vorrede zu schreiben, die voller kriechenden Empfehlungen an die Herren Kunstrichter, gerichtet seyn sollte [...] die finstem Gelehrten nennen es [das weibliche Geschlecht, H.M.] selbst das Schöne, folglich müssen sie auch alles, was von uns kommt, ohne Ausnahme für schön erkennen... (Vorrede, unpaginiert)
Auch die zweite, das weibliche Geschlecht charakterisierende Eigenschaft, die »Geschwätzigkeit«, wird buchstäblich genommen und dem Text als Signum vorausgeschickt. Wie die Rahmenhandlung im 1. Brief erläutert, hat nur die »Geschwätzigkeit« überhaupt zum Schreiben geführt: Klara v. Salis, die ihre eigene Geschichte einer Freundin erzählt hatte, faßt sie auf deren Wunsch auch »schriftlich« ab und sendet sie ihr in Briefen zu: Itzt soll ich der geläufigen Zunge auf einmal Fesseln anlegen, und der Feder allein alle diese Vortheile [des Gesprächs, H.M.] zuwenden! In Wahrheit,... zuviele Verläugnung meines Geschlechts in dem erstem, und zuvieles Zutrauen in die letztere! (S. 2)
Das Schreiben soll das Sprechen korrigieren, denn es kann die Einheit, Vollständigkeit und Wahrhaftigkeit erreichen, die im spontanen Dialog nicht möglich sind. Hier kommen die Anforderungen wieder zur Geltung, die die Vorrede karikiert hatte und die den aufklärerischen Diskurs der Vernunft, Beredsamkeit und Klugheit kennzeichnen.37 Daß das Schreiben, das sich an diesen Forderungen orientiert, von der Gesellschaft honoriert wird, belegt der Roman gleich selbst: die Lektüre eines einzigen Briefes der
35 Vgl. dazu Meise: Unschuld, S. 165ft. 36 Ebd.
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Helga Meise
richtigen Klara erweckt bereits die Liebe des Grafen Crosie: »Deine Schreibart hatte sich schon seines Verstandes und Herzens bemächtiget.« (S. 189) Gleichzeitig aber ist das Schreiben selbst durch den Widerspruch von Wahrhaftigkeit und Erfindung gekennzeichnet. Der »Entwurf in Briefen« organisiert das Geschehen allein aus der Perspektive der Klara v. Salis. Er schafft so die Position der Erzählerin und darüber hinaus die Instanz der Autorin, in der alle Rollen aufgehen, in der diese Heldin im Verlauf der Ereignisse aufgetreten war: die der vertauschten Heldin, die der Briefschreiberin, die der Ich-Erzählerin der Rahmenhandlung, in der sie die ganze Geschichte einer fiktiven »Madame« berichtet. Diese Erzähltechnik unterstützt die Identität und die Wahrheit und deren strukturelle Bedeutung für die Geschichte. Andererseits aber wird das Erzählte immer wieder als »erdichteter Roman« und »Erfindung« ausgegeben. Besonders krass wird die Differenz von Wahrheit und Erdichtung in dem Moment, als die richtige Klara von Timon über das »Geheimniß« ihrer Herkunft, die Unterschiebung der Frau v. G., aufgeklärt wird. Auf seinen Brief (S. 76) reagiert sie mit den Worten: Was hältst du von diesem Briefe meine Klara! träumt er oder was will er sonst? Er soll mich nicht toll machen; wenn er mich mit einem erdichteten Roman zum Besten haben will, so soll er mir gewiß nicht so wohlfeil davon kommen. [...] Wo hat wohl der Pursch das Märchen ausstudiret? ... [Er, H.M.] Nicht mein Bruder? [...] dergleichen Onkeln findet man nur in Romanen [...]. (S. 76)
Der Begriff der »Erfindung« ist in Sagars Werk zentral. Er taucht in ihrem zweiten Roman, Karolinens Tagebuch, ebenfalls auf und grenzt dort das bloß realistische Aufzeichnen des weiblichen Alltags gegen das Erfinden von Geschichten, das Tagebuch gegen den Roman ab.37 Wenn Karoline, die Titelheldin, deren Schreiblust von ihrem Schreibmeister und von ihrem Bruder kritisiert wird, für das Schreiben als Erfinden von Geschichten plädiert, dann benutzt sie dazu das Beispiel der Autorin der verwechselten Töchter. Ohne daß der Name Sagar selbst fällt, bezieht sie sich explizit auf die Rezension der verwechselten Töchter in der Prager Presse. Wörtlich hatte es dort geheißen: Wir waren neugierig genug, einen Roman ganz durchzulesen, der keine Uebersetzung, sondern das Werk eines Frauenzimmers seyn sollte. Wir gestehen gerne, daß wir an der Wirklichkeit eines solchen Phänomens zweifelten, oder ihn dennoch von der Art zu seyn vermutheten, daß man davon zu schweigen völlige Ursache hätte. Mit Vergnügen sahen wir uns, wenigstens was die Reinigkeit der Sprache betritt, betrogen. Die Freunde, so sie vor dem Drucke zu Rathe gezogen, hätten freylich viele unnütze Weitläuftigkeiten ausstreichen, und an deren Stelle mehr Leben, mehr Handlung hinein bringen können. Das Bändchen wär dadurch zwar kleiner, aber auch anziehender worden. 38
Den Rat, das »Phänomen« >Roman einer Frau< in letzter Instanz der Kritik der Männer und den von ihnen aufgestellten Normen für die literarische Gattung Roman zu un37 Ebd., S. i ç i f . 38 Prager gelehrte Nachrichten, den 1 9 . 1 1 . 1 7 7 1 . Prag, S. 125. Da Christine Touaillon offensichtlich weder »Die verwechselten Töchter« noch diese Kritik kannte, schließt sie allein aus dem Titel des Sagarschen Werkes auf seine Zugehörigkeit zur Gattung Lustspiel und aus dem »Vorwurf«, »wenig Handlung« zu haben, auf die »Einförmigkeit der familiären Handlung«. Vgl. Christine Touaillon: Der deutsche Frauenroman des 18. Jahrhunderts. Wien/Leipzig 1919, S. 246. Die Rezension klärt jedenfalls alle Datierungsfragen: Die verwechselten Töchter erschien 1 7 7 1 .
Das Werk von Maria Anna Sagar
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terwerfen, ignorierend, verkehrt Karoline die Kritik in eine Bestätigung: »man hat ihr doch einige Gerechtigkeit wiederfahren lassen« und greift ihrerseits die Männer an: Aber dir [dem Bruder, H.M.] bleibt immer der Stahr vor Augen, wenn du auch mit jenen glaubst, daß es, um einen Roman zu schreiben, über die frauenzimmerliche Logik, noch etwas mehreres brauche als Romanen gelesen zu haben." Gegen die Kritik der Männer an der »Unwahrscheinlichkeit« der Handlungen, die Karoline im Tagebuch erfindet, und gegen die von ihnen vertretenen neuen romantheoretischen Positionen der »Wahrscheinlichkeit«40 setzt Karoline die Befähigung aller Frauen zur Erfindung und ihren Anspruch darauf: Wenn ich so fortfahre, so kann ich mit der Zeit nicht allein abschreiben, sondern auch selbst Romanen erfinden. Ich will mir indessen nur Stoffe dazu sammeln. Aus dieser Geschichte kann ich zwar nach meinem Geschmacke, vielleicht auch nach dem deinigen, nicht viel erhäschen: aber warte, wenn ich diese Mattigkeiten werde vollendet haben, dann werde ich etwas Anziehenderes machen, wo etwas mehr von Handlungen zu lesen seyn Wird. Ein Paar Helden habe ich schon im Vorrath, die ihre Prinzeßinnen von ihren Verfolgern erretten, sie hinter sich auf das Pferd werfen, und mit ihnen ganz tugendhaft in den Wäldern herumirren, sie hernach verlieren, dreyßig, vierzig Jahre in der Welt hemmsuchen, endlich auskundschaften; aber um selbige blutige Kriege führen müssen, und als Ueberwinder, ihre Heldinnen noch in der blühendsten Schönheit finden; sie heyraten, und ganze Jahre mit Banquetiren und Tumiren bey der Hochzeit zubringen.41
39 Maria Anna Sagar: Karolinens Tagebuch ohne ausserordentliche Handlungen oder gerade so viel als gar keine. Prag 1774, S. 197t. 40 Voßkamp: Romantheorie, S. lszff. 41 Sagar: Tagebuch, S. 256t.
BARBARA BECKER-CANTARINO
Freundschaftsutopie: Die Fiktionen der Sophie La Roche
»Emilia, heilige Freundschaft, geliebtes Andenken! Dein Bild steigt aus dem Schutte meiner Glückseligkeit empor«, so schreibt die Romanheldin Sophie in der Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) in ihr Tagebuch. 1 Sophie, nunmehr »Madam Leidens«, steht am Tiefpunkt ihres Lebens, ist auf Veranlassung des Mannes, der sie mit einer Scheinehe betrogen hatte, in die »schottischen Bleygebürge« verschleppt worden, wo der sichere Tod sie erwartet. In völliger Isolation erscheint ihr das Bild der Freundin als trostspendende Erinnerung an glücklichere Zeiten, eine Spiegelung zugleich vom eigenen Leben und dessen inhärenten Möglichkeiten und von dessen Zerstörung, von eigener Lust und deren Verlust. Im Bild der Freundin Emilia, der die Heldin Sophie in Freundschaft verbunden ist, erhält Sophie Kraft und Bestätigung. Es ist aber nicht das selbstreflektive, imaginäre, spekuläre »moi« Lacanscher Konzeption, nicht das narzistische des sich beschauenden oder übers eigene Spiegelbild sich identifizierenden Ego; z es ist vielmehr, wie im folgenden zu zeigen sein wird, ein spezifisch weibliches »Ich«, das in der Objektbeziehung zum »anderen«, hier zur anderen Frau, sich konstituiert. Genauer gesagt ist das »Ich« in dieser Episode der Fiktion am Tiefpunkt angelangt, der Zerstörung ausgesetzt und kann sich kraft des imaginierten Bildes der Freundin rekonstituieren. Doch steht nicht ein Prozeß von Individuation und Zerstörung, wie er als Selbstmord nur drei Jahre später von Goethe im Werther thematisiert wurde, am Horizont der Stemheim-Fiktion, sondern ein - angesichts der an der narrativen Oberfläche als aussichtslos dargestellten Lage der Protagonistin — naives, irrationales Selbstrettungsprojekt. Dieser Re-Konstitution der Protagonistin in und durch Freundschaft wird im folgenden nachzugehen sein, und es wird zu zeigen sein, wie diese IchKonstitution die fiktionalen Texte der La Roche strukturiert und als latentes Sinngefüge trägt. Damit wird auch als wesentliche Verengung deutlich, was als (vermeintliche) Wiederentdeckung propagiert wurde: die Reduktion des fiktionalen Werkes der La Roche auf »das Gute«, auf Nützlichkeit im Sinne einer mechanistisch verstandenen Aufklärung. 3
χ Hg. von B. Becker-Cantarino. Stuttgart 1983, S. 307. Alle Zitate aus dieser Reclam-Ausgabe, Angaben im Text. — Zu den zeitgenöss. Ausgaben s. Kuno Ridderhof: Bibliographisches. In: Geschichte des Fräuleins von Stemheim. (Deutsche Literaturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts 138) Berlin 1907, S. XXXVI—XXXIX. - Mir lagen Exemplare vor von drei Auflagen von 1 7 7 1 , weitere Ausgaben von 1 7 7 2 — 1 7 7 3 , 1 7 7 6 , 1 7 7 7 , 1 7 8 3 und 1787, dazu 2 (unabhängig voneinander entstandene) Übersetzungen ins Englische von 1776 (eine ebenfalls in Dublin 1777 aufgelegt), eine ins Französische 1772 (mit Auflagen von 1774 u. 1775), und eine ins Russische von 1780. 2 Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion. In: Schriften I. Hg. v. Norbert Haas. Freiburg 1973, Bd. 1, S. 6 1 - 7 1 . — Manfred Frank: Was ist Neostrukturalismus? Frankfurt 1983, bes. S. 372ff. 3 Michael Maurer: Das Gute und das Schöne. Sophie von La Roche ( 1 7 3 0 - 1 8 0 7 ) wiederent-
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A n der eben zitierten Stelle des Romans, als die Heldin dem sicheren Tod entgeg e n z u g e h e n scheint, rekurriert sie auf das Schreiben eines Tagebuchs und fährt fort: »Diese Blätter sollen dir [Emilia] g e w e i h e t sein! V o n J u g e n d auf ergossen sich meine geheimsten Empfindungen in dein treues zärtliches Herz; der Zufall kann diese Papiere erhalten, sie können dir noch zukommen ...« (ebd.). D a s Schreiben am O r t des Todes rettet die S t e m h e i m in der Tat: einmal als Kompensation für ihr Unglück, aber eben nicht nur als Beschäftigung mit »einem anderen, ihr selbst äußeren Zweck«, 4 sondern ist zum anderen essentielle Konstitution ihres Ich, w i e sie sich schon durchgäng i g im Schreibakt (als Briefschreiberin) manifestiert hat. D a z u kommen ihre für die R o manfiktion nicht zu unterschätzende soziale Tätigkeit 5 (hier ihre freiwillige und kreativ e Fürsorge für die Köhlerfamilie und deren Pflegekind, durch die sie das Vertrauen ihrer Bewacher g e w i n n t und ihr Überleben ermöglicht). 6 Die Person der Sophie v o n
decken? In: Huphorion 79 (1985) S. 1 1 1 — 1 3 8 , schreibt die literarische Produktion der La Roche pauschal der »Nützlichkeit« der Aufklärungsliteratur zu; sie habe den Schritt zur Autonomieliteratur nicht mitgemacht, bleibe beim »Guten« (bes. S. 133ft.). Maurer argumentiert biographisch, indem er fast ausschließlich auf bekannte Briefaussagen der La Roche rekurriert. Es mutet seltsam an, daß sein Beitrag, der Wiederentdeckung vorgibt, beinahe die gesamte neuere Literatur zum literarischen Werk der La Roche (dazu im folgenden Anm. 4—6,19, 23—25) ignoriert. Auch auf die grundlegende ältere Arbeit von Christine Touaillon: Der deutsche Frauenroman des 18. Jahrhunderts. Wien/Leipzig 1919, wird nur in einer Fußnote hingewiesen und die wichtigen Ergebnisse (Touaillon widmet der La Roche immerhin zoo Seiten!) völlig übergangen. 4 So sieht Helga Meise in ihrer differenzierten Studie: Die Unschuld und die Schrift. Deutsche Frauenromane im 18. Jahrhundert. Berlin/Marburg 1983, S. 185, das Schreiben der Autorin La Roche. Meise versteht ihr Schreiben hauptsächlich als Ersatzfunktion (für eine Gegenwart, für ein Gespräch, für ihre Rolle als Mutter und Erzieherin). Sie verlagere das Schreiben von sich weg. Schreiben sei Beschäftigung, eine »Arbeit [.. J, die sie im Sinn der skizzierten Bestimmung einer »Hausfrau, Gattin und Mutter< zum unsichtbaren Zulieferer eines gesellschaftlichen Betriebes macht, zur »zweiten Stimme< des Mannes« (ebd.). Dazu manifestiert sich in der Schreibsituation von La Roches Protagonistin noch ein psychologisch weitaus komplexerer Vorgang, der auch eine (unbewußte) Dimension der Autorin La Roche spiegeln dürfte. — Zum problematischen Verhältnis von Autorin, Romanfiktion und Frauenbild am Beispiel der La Roche vgl. Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt 1979, S. 164—180. 5 Kritisch zur sozialen Tätigkeit der Stemheim ohne Berücksichtigung der engen Grenzen des Patriarchats hat sich Peter-Uwe Hohendahl geäußert: Empfindsamkeit und gesellschaftliches Bewußtsein. Zur Soziologie des empfindsamen Romans am Beispiel von La Vie de Marianne, Clarissa, Fräulein von Stemheim und Werther. In: Jahrbuch d. dt. Schillergesellsch. 16 (1972), S. 176—207. Im Anschluß an Hohendahl meint Helene M. Kastinger Riley, das Verhalten der Sternheim sei »gesellschaftlich regressiv und repressiv«: Tugend im Umbruch. Sophie La Roches »Geschichte des Fräuleins von Stemheim< einmal anders. In: Die weibliche Muse. Sechs Essays über künstlerisch schaffende Frauen der Goethezeit. Columbia, S.C. 1986, S. 2 7 - 5 4 . Hier S. 40. 6 Ganz aus der Abhängigkeit von Männern und der »moralischen Überwachungsgesellschaft der Aufklärung« her gesehen interpretiert Ursula Naumann den Roman: Das Fräulein und die Blicke. Eine Betrachtung über Sophie von La Roche. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 107 (1988), S. 488—516: »Der Angst vor den scharten männlichen Blicken entspringt wohl jene Phantasie vom geblendeten und damit entmachteten Manne« (S. 503); erst die Gestaltung des Bösen, der »Phantasiesünden« (S. 506) mache das Werk reich, wichtig und ungewöhnlich. Wenn Naumann dann recht nebulös das »Postulat einer weiblichen Ästhetik« in
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Sternheim konstituiert sich im Wesentlichen in drei Aspekten: in der aktiven, sozialen Tätigkeit, im Akt des Schreibens und in der Vergegenwärtigung der »anderen«, der Freundin. Gemeinsam ist diesen drei Aspekten ein zentrales Ethos, das ich mit dem Begriff »Freundschaft« bezeichnen möchte.
ι. Freundschaftskonzeptionen Die Literaturwissenschaft hat die »Erscheinung des Freundschaftsenthusiasmus« in seinen literarischen Äußerungen und »dicherischer Gestaltung« für das 18. Jahrhundert bislang ausschließlich in Männerfreundschaften, etwa bei Geliert, bei Gleim und seinem Kreis, bei Klopstock und den Bremer Beiträgem, gesehen und an deren Texten dargestellt.7 Im Freundschaftskult dieser Generation manifestiere sich die Herausbildung der Autonomie des Einzelmenschen und die Wendung zur Innerlichkeit, die gleichzeitig mit der Betonung des Diesseits stattfand. Besonders Klopstock habe »die Freundschaft als Lebensverhältnis geprägt, den Freundschaftsbund als Lebensraum und als Träger neuen Daseins erschlossen und begründet«.8 Aus sozialgeschichtlicher Perspektive wird Freundschaft als »Inbegriff politisch-sozialen Selbstverständnisses des aufgeklärten Bürgers« gesehen; tugendhafte Glückseligkeit werde in der Gruppe auf den gemeinsamen Begriff gebracht und sogar umgesetzt: »Insgesamt ist Freundschaft der Inbegriff einer bürgerlichen Gemeinschaftsutopie, in der sich der Einzelne sozial und emotional ganz entwickeln kann.«9 Freundschaft ist ein zentraler Begriff in der Epoche der Empfindsamkeit zwischen ca. 1740 und 1775, in der »(moralische) Zärtlichkeit«10 oder »Tugendempfindsamkeit«11 den literarischen Text entscheidend mitprägen. Auf die Rolle der Frauen in diesen Freundschaften und Bünden, aus deinen sie weitgehend ausgeschlossen, marginalisiert oder zu (Liebes-)Objekten funktionalisiert waren, wird nicht eingegangen, ebensowenig auf Frauenfreundschaften.12
»schöne Bilder/schöne Blicke« verlegt, begibt sich ihre Interpretation der Chance, die eigentlich kreative Leistung der Romanfiktion, die in der Konzeption der Protagonistin Sophie und ihrem Beziehungsnetz liegt, wahrzunehmen. 7 Vgl. Wolfdietrich Rasch: Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung im deutschen Schrifttum des 18. Jahrhunderts vom Ausgang des Barock bis zu Klopstock. (DVJs Buchreihe 21) Halle 1936. Hier S. 1. 8 Ebd., S. 262. Ebenfalls weitgehend auf die literarischen Erscheinungen des 18. Jahrhunderts sich beziehend, spricht Albert Salomon von Freundschaft als »seelischer Lebensform«, die nicht auf objektive Werte bezogen ist und ihren Sinn aus der »reinen Individualität« erhält; Der Freundschaftskult des 18. Jahrhunderts in Deutschland. Versuch zur Soziologie einer Lebensform. In: Zeitschrift für Soziologie 8 (1979) S. 279—308. Hier S. 282. 9 Eckardt Meyer-Krentler: Der Bürger als Freund. Ein sozialethisches Programm und seine Kritik in der neueren deutschen Erzählliteratur. München 1984. Hier S. 20. Die Studie bezieht sich, exemplarisch von »Werther« ausgehend, hauptsächlich auf die Dreierbeziehungen, in denen zwei Freunde dieselbe Frau lieben und einer aus Freundschaft verzichtet; dadurch wird »Freundschaft« in fast verzerrender Weise auf eine männlich dominierte Erzählstruktur eingeengt, die lediglich das Liebesdreieck zum Thema hat. 1 0 Der zeitgenössische Begriff wird von Gerhard Sauder zur Charakteristik der Epoche verwandt: Empfindsamkeit. Band 1: Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart 1974. Hier S. 234. 1 1 Meyer-Krentler: Der Bürger als Freund, S. 33. 12 Eine interessante Studie für die englische und französische Literatur des 18. Jahrhunderts ist
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Auch Meyer-Krentler erhebt die männliche Rolle zu Modellcharakter, wenn er anhand (ausgewählter) fiktionaler Texte die rivalisierende Dreieckskonstellation des Werlher zum Paradigma von »Freundschaft« erklärt: zwei befreundete Männer lieben dieselbe Frau und einer verzichtet aus Freundschaft. Die Frau, so ergänzen wir, bleibt stummes Besitzobjekt. Selbst wenn diese Dreieckskonstellation in der Tat das vorherrschende Erzählmodell sein sollte, in dem in »merkwürdiger Beharrlichkeit durch mehrere Jahrhunderte immer wieder die sozialethischen Vorgaben eines historisch fixierbaren Freundschaftsethos diskutiert werden«,13 so fällt die Beschränktheit dieses literarischen Erzählmusters auf. Hier wird eine androzentrische Freundschaftskonzeption und -konstellation (männliche Rivalität über den Besitz einer Frau wird durch »Freundschaft« gelöst) normierend verallgemeinert, die dazu noch auf einer Besitznahme des als Person völlig ausgeschalteten weiblichen Subjekts beruht, wie Meyer-Krentler treffend formuliert: »Der Frau [kann] im Dreieck nur die Rolle des Zuschauers, des hinund hergeschobenen Objekts und der ethisch und sozial zwar betroffenen, aber nicht entscheidungsfähigen oder -willigen dritten Figur im eigentlich dialogischen Spiel zufallen.«14 Dieses Freundschaftskonstrukt umfaßt nicht die ganze Breite literarischer Freundschaftsdarstellungen des 18. Jahrhunderts, sondern reduziert sie auf ein Erzählmuster. Freundschaft bezeichnete zunächst freiwillige, persönliche Beziehungen zwischen zwei Menschen in wechselseitiger Wahl. Freundschaft war »die aus eigenständigen Gefühlen emporwachsende und im anderen Erfüllung der eigenen Individualität suchende und findende und deshalb auch dem anderen wiederum die Erfüllung seiner Individualität schenkende Beziehung«.15 Für eine solche zwischenmenschliche Beziehung waren selbständige, gleichwertige Individuen die Voraussetzung. Das galt auch für Freundschaftsgruppen oder Bünde; sie waren informelle, auf persönlichen Eigenschaften oder Interessen basierende Gruppierungen, die außerhalb und neben familialen und politischen Institutionen bestanden. Auch hier wurde ein autonomes, den anderen gleichwertiges Individuum vorausgesetzt - und hier lag das Problem für Frauen. Geschlecht bedeutete Differenz, die sich im 18. Jahrhundert in der Vorherrschaft und Vormundschaft des männlichen über das weibliche Geschlecht in der Gesellschaft manifestierte. So konnte Freundschaft einerseits neue Möglichkeiten für Frauen (besonders in Zweierbeziehungen), eröffnen, aber auch Ausschluß oder Marginalisierung, wie in den literarischen Freundschaftsbünden und Gruppierungen, bedeuten. Die sozialethische Freundschaftskonzeption, die mit den Begriffen einer »seelischen Lebensform« und »reiner Individualität« operiert, erscheint außerdem ergänzungsbedürftig im Licht neuerer Subjekttheorien, die auch geschlechtsspezifische UnterschieJanet Todd: Women's Friendship. New York 1980, die Frauengestalten in ihren Freundschaften mit anderen Frauen an repräsentativen fiktionalen Texten (von Richardson, Cleland, Diderot, Rousseau, de Sade, Wollstonecraft, de Stäel und Austin) untersucht. 1 3 Meyer-Krentler: Der Bürger als Freund, S. 12. 14 Ebd., S. 87. Auch Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt 1983, verfolgt allein die androzentrische Position, vgl. besonders »Von der Galanterie zur Freundschaft«, S. 97—106. 1 5 Vgl. Friedrich H. Tenbrock: Freundschaft. Ein Beitrag zur Soziologie der persönlichen Beziehungen. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 16 (1964), S. 4 3 1 - 4 5 6 . Hier S. 437. Übereinstimmend wird Freundschaft ein hoher ethischer Wert beigemessen, dessen Umkehrung und Gegenpole als Feindschaft, Haß und Agressionen bezeichnet werden.
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de mit einbeziehen. So hat Nancy Chodorow nach der Sichtung der einschlägigen soziologischen wie psychologischen Studien auf die geschlechtsspezifischen Unterschiede schon im frühkindlichen Individuationsprozeß hingewiesen: Mädchen erleben sich nämlich als weniger differenziert als Jungen, als mehr im Einklang und verwachsen mit der äußeren Objektwelt und mit anderem Bezug zur inneren Objektwelt, weil sie als Kleinkinder ausschließlich von einer Person ihres eigenen Geschlechts — der Mutter — betreut werden. 16 Mädchen erfahren zwischenmenschliche Beziehungen deshalb anders: während für Jungen Trennung (von der Mutter/Frauen) und Individuation mit der Identifikation des eigenen Geschlechts zusammengehen, bleiben für Mädchen Anlehnung und Bindung (wie in der Erfahrung der gleichgeschlechtlichen Mutter) bestimmend. Werden also Intimität und Nähe als bedrohlich für das männliche Geschlecht erfahren, so bedeuten umgekehrt Trennung und Individuation eine Bedrohung für das weibliche. Daher haben Männer eher Schwierigkeiten mit intimen und zwischenmenschlichen Beziehungen, Frauen mit dem Prozeß der Individuation. Carol Gilligan 17 hat diese, von Chodorow an breitem Material bis in die Adoleszenz hin reichenden Überlegungen auch unter Berücksichtigung der Lebens-Zyklus Theorien (bes. Erik H. Eriksons) weitergeführt. Gilligan legt dar, wie Frauen sich im Kontext zwischenmenschlicher Beziehungen definieren und als Beurteilungskriterien ihres Ichs ihre Fähigkeit zur Fürsorge für andere zugrunde legen. Im Lebenszyklus des Mannes hat die Frau stets die Rolle der Fürsorgenden eingenommen, als Mutter, Helferin und als diejenige, die das gesamte Beziehungsnetz herstellt, von welchem auch sie wiederum abhängig ist und über das sie sich definiert. Daraus resultiert ein andersartiges Selbstverständnis der Frauen im Lebenszyklus, 18 das nämlich die Beziehung zum anderen höher bewertet als die Trennung vom anderen, die Fürsorge für andere höher stellt als die Individuation und das autonome, narzistische Leben. Im 18. Jahrhundert war die Recodierung auf die Mutter und Mütterlichkeit noch weitaus stärker ausgeprägt: es war die Einübung in die spezifisch weibliche Rolle der »Hausfrau und Mutter« in der patriarchalen Gesellschaft, der »natürliche« Weg der weiblichen Sozialisation. Als Autorin wollte die La Roche ausdrücklich als »Erzieherin von Teutschlands Töchtern« (so der Untertitel ihrer unterhaltend-belehrenden Frauenzeitschrift Pomona, 1783—1784) einen Beitrag dazu leisten. 19 Ihre Fiktionen spielen 16 Nancy Chodorow: The Reproduction of Mothering. Psychoanalysis and the Sociology of Gender. University of California Press 1978, S. 167; dt. Übersetzung: Das Eibe der Mütter. München 1985. 17 In a Different Voice. Psychological Theory and Women's Development. Harvard University Press 1982; dt. Übersetzung: Die andere Stimme. Lebenskonflikte und Moral der Frau. München 1985. 18 Carol Gilligan: In a Different Voice, S. uff. und 103 - 1 0 8 , modifiziert hier besonders die Thesen von Erik H. Erikson: Childhood and Society. New York 1950 und Identity, Youth and Crisis. New York 19Ó8. — Die Persönlichkeitstheorien von Chodorow und Gilligan stellen radikal unsere, am psychologischen Enhvicklungsprozeß des Mannes entwickelten und verallgemeinerten Wertvorstellungen der Individual- und Leistungsgesellschaft in Frage. Sie sind ebenso eine Fortsetzung der Theorien Freuds, seiner Schüler und der Objekt-Beziehungs-Schule, wie diese aus der europäischen Tradition erwachsen sind. 19 Zur »Pomona« vgl. die informativen Arbeiten von Ulrike Böhmel-Fichera: »Wir und unsere Fähigkeiten wurden immer nur zu der Hausdienerschaft gerechnet.« Sophie von La Roches literarische Frauenzeitschrift »Pomona«. In: Studi Tedeschi 29 (1989), S. 7—47; Monika Nenon: Autorschaft und Frauenbildung. Das Beispiel Sophie von La Roche. Würzburg 1988,
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und imaginieren Aspekte der weiblichen Sozialisation und Rolle, die über Tugendanleitung und Anpassungstrategien im Patriarchat hinausgehen. Sophie La Roche schrieb den Sternheim-Roman in einer Krisenzeit ihres Lebens — wir würden das heute »mid-life-crisis« nennen, wenn wir ihre bekannte Selbstcharakteristik lesen, sie habe »nun einmal ein papiemes Mädchen erziehen wollen«, weil ihre eigenen Töchter in einem (katholischen) Pensionat erzogen werden mußten.20 »Da half mir meine Einbildungskraft aus der Verlegenheit«, schrieb sie viele Jahre später im Lebensrückblick, »und schuf den Plan zu Sophiens Geschichte«. Ihr Schreiben war jedoch mehr als Kompensation für Verlust in therapeutischer Funktion. Schreiben ist auch ein Erzählen unbekannter Geschichten und kann dem Prozeß der Subjektwerdung der Schreibenden, der Selbst-Erschaffung dienen. Schreiben ist zugleich ein Erlangen neuer Dimensionen des Ichs, bringt Ordnung ins erlebte Chaos; die durch den Schreibprozeß vermittelten Phantasien des Ichs suchen nach Einheit zwischen Vergangenheit und Gegenwart, sind »tröstliche Träumereien«, wie die La Roche meinte. 21 Hinter dem erklärten Zweck, die Grundsätze ihrer eigenen Erziehung zeigen zu wollen, stand auch bei der La Roche die Lust am Schreiben, an Imagination und Fiktion, die »Empfindungen ihres Herzens Ihre Ideen treiben zu lassen«.22 Ihr Imaginieren zentriert um weibliche Sozialisation, Identitätsfindung und Freundschaft, um zwischenmenschliche Beziehungen und deren Verlust. 23
2. Freundschaft und weibliche Sozialisation im Fräulein von
Stemheim
Der Romantext der Sternheim wird von einer Freundschaftsfiktion eingeleitet, wenn der Herausgeber (Wieland) in der von ihm verfaßten Vorrede die (zunächst anonym
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S. 122—167; Bernd Heidenreich: Sophie von La Roche — eine Werkbiographie. Frankfurt/ Bem/New York, S. 128—14 7 u. 349 - 366. Melusinens Sommerabende, Halle 1806, S. XXVI (Exemplar UB Göttingen). Daß die beiden Töchter, Maximiliane (geb. 1756, verheir. Brentano) und Luise (1759, verheir. von Möhn), im St.-Barbara-Kloster in Straßburg erzogen wurden, riß auch die konfessionellen Gegensätze für die protestantisch erzogene La Roche wieder auf; ihre frühe Verlobung mit dem Italiener Bianconi hatte der Vater, wie sie wiederholt berichtet hat, aufgekündigt, weil Bianconi auf der katholischen Erziehung aller zu erwartenden Kinder bestand; Sophies späterer Ehemann, der Katholik Frank La Roche stellte die gleichen Bedingungen für die Erziehung der Kinder und diesmal stimmte ihr Vater zu, wohl weil er Sophie endlich standesgemäß versorgt haben wollte. In Fragen der Kindererziehung blieben die Ansichten des Ehemanns maßgeblich, wenn Sophie z. B. ihre Kinder nicht stillen durfte (was sie ausdrücklich gewünscht hatte) und die Internatserziehung von ihm ausgesucht wurde. Dazu war 1768 Frank La Roches Gönner und Adoptivvater, Graf Stadion, gestorben, und es ergab sich eine ungewisse Übergangszeit für die Familie, bis La Roche 1770 nach längeren Verhandlungen in die Dienste des Kurfürsten von Trier trat. Meslusinens Sommerabende, S. XXV. Ebd. Zwar wiederholt hier die La Roche die Empfehlungen des befreundeten, sie beratenden Geistlichen, doch zeigt ihre Darstellung, die den Beginn ihres (zum Druck bestimmten) Schreibens in Erinnerung bringt, die eigene Lust und Erneuerung im Schreibprozeß. Vgl. hierzu auch B. Becker-Cantarino: Sophie La Roche, der Beginn der »Frauenliteratur« und der weiblichen Tradition. In: B. B . - G : Der lange Weg zur Mündigkeit. Frau und Literatur (1500-1800). Stuttgart 1987, S. 278-302.
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gebliebene Autorin) La Roche mit »meine Freundin« anredet und fortfährt: »Sie vertrauen mir unter den Rosen der Freundschaft ein Werk ihrer Einbildungskraft und ihres Herzens an« (S. 9). Die anfängliche Freundschaftssituation spiegelt zunächst einmal die realen Beziehungen von La Roche und Wieland; sie ist, wie im Verlaufe der Vorrede deutlich wird, die eines Mentors und seiner Schülerin. Der Mentor möchte bevormundend Text und Autorintentionen für die Lesewelt ins rechte Licht rücken.24 Er verweist sie auf die »Frauenliteratur«, indem er das Werk »allen tugendhaften Müttern, allen liebenswürdigen jungen Töchtern unsrer Nation« zum Geschenk machen will, weil ihr Werk »Weisheit und Tugend [...] unter Ihrem [d.h. der Frauen] Geschlechte« befördern wird (S. 10): »Nützlich zu sein, wünscht sie [die Romanheldin als Sprachrohr der Autorin]; Gutes will sie tun; und Gutes wird sie tun« (S. 17). Die Wielandsche Vorrede ist symptomatisch für eine literarische Freundschaft zwischen einem Mann und einer Frau im 18. Jahrhundert: der Autor bevormundet in literarischen Fragen die (nicht professionelle) Autorin und marginalisiert ihr Werk zur Gebrauchsliteratur für Frauen; er tut das als liebevoll-väterlich, als »Freund«. Der Roman der La Roche thematisiert jedoch eine andere Freundschaft, eine Freundschaft gleichgestellter Personen ohne Bevormundung. Mit einer weiteren Herausgeberfiktion setzt die »Geschichte« ein, in der die befreundete Begleiterin der Sternheim, Rosine, als Sammlerin und Herausgeberin der »Papiere« fungiert: Sie sollen mir nicht danken, meine Freundin, daß ich so viel für Sie abschreibe. Sie wissen, daß ich das Glück hatte mit der vortrefflichen Dame erzogen zu werden, aus deren Lebensbeschreibung ich Ihnen Auszüge und Abschriften [...) mitteile. (S. 19)
Mit diesen Anfangszeilen sind wir mitten in einem Beziehungsnetz von Freundinnen: Sophie die Protagonistin, Rosine ihre Jugendgefährtin und Mitschreiberin von Sophies Geschichte und die (ungenannte) Adressatin/Leserin, für die die Geschichte herausgegeben wird. Der Roman setzt ein mit der Imagination Gleichgesinnter, in freundschaftlicher Beziehung zueinander stehender »Personen« (die Protagonistin Sophie wird in diesem ersten Abschnitt neben »vortrefflicher Dame« eben auch »Person« genannt, S. 19; der Schritt aus dem »Geschlecht« heraus zur »Person« deutet sich damit an). Wichtig in unserem Zusammenhang sind die von den Beteiligten geteilten Wertvorstellungen von »Vergnügen für das Herz« (eine emotionale Kategorie) und dem »geheiligten Andenken von Tugend und Güte einer Person, welche unserem Geschlechte und der Menschheit Ehre gemacht« (ethisch-soziale Kategorie). Rangunterschiede, die hierarschische Rollen produzieren würden — wie in Wielands Vorrede die vom literarischen Mentor und seiner Schülerin — existieren nicht in dieser Fiktion, die dennoch die Protagonistin (Sophie), ihre Jugendgefährtin und die Adressatin/Leserin 24 Vgl. dazu B. Becker-Cantarino: Muse und Kunstrichter: Sophie La Roche und Wieland. In: Modern Language Notes 99 (1984), S. 5 7 1 - 5 8 9 . Sophie La Roche war 1 7 7 1 die fast vierzigjährige Ehefrau eines höheren Verwaltungsbeamten und Mutter heranwachsender Kinder; Wieland, Sophies Cousin, Jugendfreund und ehemaliger Verlobter, war inzwischen als Autor bekannt, gesellschaftlich aber weitaus weniger bedeutend als die La Roches. Sophie war ihm persönliche Beraterin in Liebes- u. Heiratsangelegenheiten gewesen, leistete als geistvolle Briefpartnerin und Vermittlerin weiblicher Ansichten wertvolle Dienste für seine literarischen Aktivitäten; Stellung und Einfluß Frank La Roches verhalfen Wieland zu seiner Erfurter Stellung.
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als dialogische Rollen, als durch den Text verbundene Freundinnen, unterscheidet. Das Moment der Einfühlung in die Fiktion wird verbunden mit dem der in Freundschaft gleichwertigen und sich verständigenden Frauen. Die Herausgeberin berichtet nun die Jugendgeschichte der Protagonistin Sophie Stemheim, an die sich dann die Briefe, in denen mehrere Personen als Schreiber und Adressaten fungieren, anschließen, wobei zuweilen die Herausgeberin kurze, verbindende Erzählpassagen einschiebt. Im subjektiv-dialogischen Medium des Briefes kann eine gefühlvolle Innerlichkeit als literarisches Thema und als Verkehrsform eröffnet werden; daraus hatten die für den Roman des 18. Jahrhunderts charakteristischen Briefromane von Richardson (Pamela, 1740; Clarissa, 1748; Sir Charles Grandison, 1 7 5 3 - 1 7 5 4 ) und besonders Rousseaus Julie ou La Nouvelle Héloïse, 1761, die die La Roche im Original gelesen hatte, ihre große Wirkung gewonnen. 25 Wichtig ist hier nun in unserem Zusammenhang, daß die Briefe im Sternheim-Roman weitaus mehr bedeuten als Behälter für die »Ergießungen des Herzens«26 zu sein. Der Briefroman der La Roche ist ein Kommunikationsmodell zwischenmenschlicher Beziehungen, in denen ein freundschaftliches Verhältnis, das die weibliche Sozialisation spiegelt, zentral ist. Die La Roche modifiziert Richardsons Erzählstrategie, die monologisch vorgeht (Pamela) oder retardierende Antwortbriefe einschaltet (Clarissa), indem sie den zentralen Komplex der Stemheim-Briefe an ihre Freundin Emilia (insgesamt 29) mit den Briefen anderer, für sie wichtige Figuren ergänzt.27 Erst aus diesem Zusammenspiel der Briefe, die in der Krisenzeit ihrer Isolation (in den »Belygebürgen«) in Tagebuchaufzeichnungen kulminieren, ersteht die psychologische Geschichte der Sternheim. Das multiperspektivische Erzählen, wenn etwa ein Ereignis wie das zentrale Hoffest in drei Briefen (aus der Perspektive Derbys, Seymors und der Stemheim) geschildert wird, vermittelt die verschiedenen Motivationen, Reaktionen und Interaktionen der Beteiligten. Aus diesen zwischenmenschlichen Beziehungen entsteht durch die erinnernde und verknüpfende Tätigkeit des Lesers das Bild der Sophie und ihre Geschichte. Der allwissende Erzähler — auch etwa das monologisch erzählende Ich in Gellerts Leben der schwedischen Gräfin - ist durch die um die Figur der Sternheim zentrierten multiperspektivischen Briefe ersetzt worden, die wiederum den Leser in ihre Dialogizität mit einbeziehen. Dabei bleiben die jeweiligen Adressaten der Briefe verglichen mit der Protagonistin Stemheim blasser und konturloser als diese, denn die dialogische Erzählstruktur ist um die Stemheim zentriert. Durch eine subjektive Erzählhaltung mit bekenntnis25 Veraltete, aber noch nicht ersetzte Arbeiten zu diesem wichtigen Thema sind Kuno Ridderhoff: Sophie von La Roche, die Schülerin Richardsons und Rousseaus. Diss. Göttingen 1895; Erich Schmidt: Richardson, Rousseau und Goethe. Jena 1924. - Zu La Roches Englischkenntnissen und Anglophilie s. Michael Maurer: Aufklärung und Anglophilie in Deutschland. (Veröff. d. dt. Hist. Inst. London 19) Göttingen/Zürich 1987, S. 152ft., der aber leider auf die Wirkung und Gestaltung fiktionaler Texte nicht eingeht. 26 Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Neuwied 1968, S. 62. 2 7 9 Briefe des »Bösewichts« Derby an einen Freund in Paris, 6 des Verehrers Seymor und 5 von dessen Bruder Rieh an den gemeinsamen Freund Dr. T, sowie eine Reihe von Einzelbriefen und Auszügen; vgl. zur Briefromanform Ingrid Wiede-Behrendt: Lehrerin des Schönen, Wahren, Guten. Literatur und Frauenbildung im ausgehenden 18. Jahrhundert am Beispiel Sophie von La Roche. Frankfurt/Bern/New York 1987, S. 1 4 4 - 1 5 0 .
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haften Erzählpassagen, die die innere Anteilnahme, Auseinandersetzung und Antwort eines jeden Lesers mit einfordern, vermittelt die Autorin La Roche in der Figur der Sternheim ein weibliches »Ich«. Es ist jedoch nicht die absolut gesetzte Subjektivität des Individuums, des schreibenden »Ich«, wie sie im Werther erscheint, wo die gesamte Welt nur durch Werthers Brille erfahrbar gemacht wird und sich in der einseitigen Richtung aller Briefe an den (blassen) Freund, dem anderen Ego Werthers, ausdrückt.28 Das »Ich« der Sternheim ist nicht narzistisch in seiner eigenen Subjektivität und Individualität verfangen; es kreist nicht primär um das eigene Erleben und Leiden, um sich der »Empfindlichkeit [ihrer] Eigenliebe« (S. 236) zu überlassen. Statt sich narzistisch in ihr Ich zu verlieren, konstituiert die Sternheim sich einem Netz von zwischenmenschlichen, freundschaftlichen Bindungen, von denen sie mitgetragen wird und in denen ihr Ich sich erst manifestiert. In diesen Prozeß der Ich-Konstitution gehört auch das Gebot der Tugend und Anspruch auf Vorbildlichkeit, der immer an die Protagonistin herangetragen wird und an dem sie sich ständig mißt. Die »Geschichte« der Sternheim, die der Roman dann erzählt, ist nicht nur die einer »Menschenseele«, wie im Anschluß an die bekannte Rezension 2 ' in den Frankfurter gelehrten Anzeigen von 1 7 7 2 verkürzend festgestellt wird; das Ausschütten des Gefühls wird von dem immer den vernünftigen Überblick bewahrenden Erzählduktus der Sternheim zurückgedrängt. Der Erklärungscharakter der Fiktion tritt deutlich hervor, wenn der recht pragmatisch-aktive Lebensweg einer Frau3" in einem Beziehungsgeflecht mit anderen erzählt wird. Die »Geschichte« der Stemheim erzählt zunächst die Kindheit und Adoleszenz, wobei die Darstellung der Eltern einen breiten Raum einnimmt (S. 19—50), besonders das freundschaftliche Verhältnis zueinander, zu den eigenen Eltern, Nachbarn und Bekannten. Die Eltemgeschichte schließt mit dem Freundschaftsethos des Vaters: »Stemheim hatte auch die Freude, daß alle diese junge Herren [Söhne benachbarter Familien] erkenntliche und ergebene Freunde von ihm wurden, welche in ihrem Briefwechsel sich immer von ihm Rats erholten« (S. 50). In dieses Elternhaus wird die Protagonistin Sophie geboren, wobei die Geschichte beider Eltern als harmonische, konfliktlose Folie dient, das Bild der Mutter, die früh verstirbt, in besonders enger Bindung erscheint: 28 Goethe war bekanntlich bei der Abfassung des drei Jahre nach dem »Stemheim«-Roman erscheinenden »Werthers« von diesem Roman ebenso beeindruckt wie von der persönlichen Bekanntschaft mit »Mama« La Roche, ihren Briefen und ihrer dann in Frankfurt jung verheirateten Tochter Maximiliane Brentano. Die Wirkung des »Stemheim«-Romans auf den »Werther« wird in der Goetheforschung selten auch nur erwähnt; es gibt lediglich die überholte Arbeit von Wilhelm Spickernagel: Die »Geschichte des Fräuleins von Sternheim« von Sophie von La Roche und Goethes »Werther«. Diss. Greifswald 1 9 1 1 . Zu den Briefen vgl.: Briefe Goethe's an Sophie von La Roche und Bettina von Brentano nebst dichterischen Beilagen. Hg. v. Gustav von Loeper. Berlin 1879. 29 Teilabdruck in der Reclam-Ausgabe (oben, Anm. 1) S. 367—368; die Rezension ist von Merck (nicht von Goethe), vgl. Karin Haenelt: Die Verfasser der »Frankfurter Gelehrten Anzeigen« von 1772. Ermittlung von Kriterien zu ihrer Unterscheidung durch maschinelle Stilanalyse. In: Euphorion 78 (1984), S. 3 6 8 - 3 8 2 . 3 0 Eine Umkehrung des Geschlechts - etwa indem wir aus Sophie einen »Emile« oder »Wilhelm« machen — würde schon im äußeren Handlungsablauf unmöglich sein: nur eine »Sophie« kann einem Fürsten zur Mätresse bestimmt werden oder in einer Scheinehe betrogen und allein zurückgelassen werden. In beiden Fällen ist der Besitz der weiblichen Sexualität das Tauschund Besitzobjekt, nicht die menschliche Person an sich.
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Dann führte der Herr von Stemheim das zwölfjährige Fräulein bei der Hand zum Bildnis ihrer Mutter, und sprach von ihrer Tugend und Güte des Herzens mit solcher Rührung, daß das junge Fräulein knieend bei ihm schluchzte, und oft zu sterben wünschte, um bei ihrer Frau Mutter zu sein. (S. 51)
Der Wunsch des pubertären Mädchens, sich mit der (verstorbenen) Mutter zu vereinigen, wird vom Vater dadurch abgelenkt, dal? er Sophies Verstand mit Wissen (Philosophie, Geschichte und Sprachen) und weiblichen Fertigkeiten (Musik, Tanzen) beschäftigt. Die reale Verlusterfahrung der Mutter (ihr Tod) löst keine Identitätskonflikte aus, denn auch die »Weiberarbeiten« (Haushaltsführung) erhöhen in Sophie »eine enthusiastische Anhänglichkeit für das Andenken ihrer Mutter, deren Bild sie in sich erneuern wollte« (S. 52). Sophies Sozialisation als Frau verläuft ungebrochen als Selbst-Findung im Mutterbild (ihr »Bild in sich erneuern«); und diese Selbst-Findung als Frau scheint auch biologisch vorprogrammiert, denn Sophie wird äußerlich in den Augen des Vaters »das wahre Bild [der] seligen Gemahlin« (S. 55). Sophie erlebt nicht nur die Mutter als positive Identifikationsfigur, sie wächst sogar in eine (explizit) weibliche Rolle hinein, die den Vater und seine Welt (Wissen, Bücher, Arbeit, freundschaftliche Bindungen zu Familie und Nachbarn) integriert hat. Sophie hat damit eine Identität als Frau entwickelt, die weder auf der Erfahrung von Minderwertigkeit, der Verdrängung der Wünsche des eigenen weiblichen Geschlechts, der narzißtischen Kränkung, noch auf aggressiver Selbstbehauptung beruht, vielmehr auf der Verinnerlichung des Mutter- und Vaterbildes in freundschaftlicher Vereinigung.
3. Verlusterfahrungen und Utopie Diese weibliche Identität (die Imagination einer empfindsamen, der Aufklärung zuneigenden Autorin des 18. Jahrhunderts, nicht »Weiblichkeit« schlechthin) wird im Verlauf des Romans einer Kette von Verlusterfahrungen ausgesetzt, die diese aus freundschaftlichen Beziehungen sich konstituierende Identität bedrohen. Mit dem Tode des Vaters, als Sophie immerhin schon neunzehn Jahre alt ist, verliert sie die Familie als Orientierungsinstanz. Andererseits kann sie nun aus der Vormundschaft des Vaters entlassen, freier über ihr eigenes Leben verfügen. Die Autorin La Roche hat damit nicht nur die eigene Befreiung von einer übermächtigen Vaterbindung in der Fiktion zurückgerufen; sie hat auch den erzählerisch notwendigen Freiraum für ihre Protagonistin geschaffen: Austritt aus den familialen Bindungen, Ortswechsel und Veränderung des Gesellschaftskreises ermöglichen »Abenteuer«, wie sie ein Romanheld erleben muß, um eine »Geschichte« erzählen zu können. Am Hof werden Sophie Sternheims Erinnerungen an die ländliche Kindheit von der wie eine böse Stiefmutter fungierenden Tante weitgehend verdrängt (die Bücher entfernt, Haartracht und Kleidung modernisiert); ihre öffentliche Tugend wird durch die Hofintrige, die sie zur Mätresse des Fürsten machen soll, verletzt, und ihre private Tugend in der Scheinehe mit Derby in Frage gestellt. Sie sinkt so tief, sogar den wahren männlichen Freund (Seymor) zu verkennen und seine Liebe 31 zu verlieren. Von 3 1 Eine Darstellung leidenschaftlicher Liebe wird vollkommen verdrängt, Sophie kennt nur freundschaftliche Zuneigung, die als Freundschaft (zu anderen Frauen) und Liebe (zu Seymour) bezeichnet wird. Konflikte zwischen Freundschaft und sexuellem Begehren kommen
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diesen Verlusterfahrungen, die zugleich ihre weibliche Identität zu ersticken drohen, erholt sich die Sternheim in eigenwilliger Weise. Diese »schöne Seele« zerfließt nicht etwa in Tränen, sondern rekonstituiert sich in ihren freundschaftlichen Beziehungen zu Rosina, Emilia und deren Mann wieder, die sie »mit allem Trost der tugendhaften Freundschaft« (S. 233) empfangen. Die Stemheim sieht Emilia »bei ihren Kindern [...] [ihre] zärtliche mütterliche Sorgen, die vortreffliche Art, mit der [ihr] Mann seine armen Pfarrkinder behandelt«, was sie an »das Glück ihrer ersten Jahre« und »den wahren Besitz der wahren Güter unseres Lebens« erinnert (S. 236). Diese Recodierung auf Mutter und Vater ermöglicht der Madam Leidens alias Stemheim eine erstaunliche Vitalität (der Namenswechsel bezeichnet nicht nur ihren Fall und Buße im christlichen Sinn, sondern auch die autonome Phase außerhalb ihrer [kleinadeligen] Gesellschaftsschicht und jenseits von Schutz und Bevormundung durch Männer). Die Phase als Madam Leidens, in der die Protagonistin sich bewußt und freiwillig aus der Adelsgesellschaft und dem Patriarchat zurückzieht - sie lebt ohne Protektion und Bevormundung durch einen Mann - , ist durch Freundschaften mit Frauen und Tätigkeit für Frauen (karitative, erzieherische, literarische) gekennzeichnet. Ihre rekonstitutive Selbstverwirklichung findet statt in einem freundschaftlichen Beziehungsnetz zu anderen Frauen (Emilia, Madam Hills, »arme Mädchen«, eine Witwe, Lady Summers) und in unermüdlicher Tätigkeit für und mit diesen. Ihre Entführung und Verschleppung in die schottischen »Bleygebürge« bilden Fortsetzung und Höhepunkt dieser Rekonstitution ihrer weiblichen Identität durch Fürsorge, Erziehung und Schreiben. Das utopische Happy-End der »Geschichte« zeigt die Stemheim nicht nur glücklich verheiratet mit dem Mann, der sie liebte und den sie liebt, sondern dazu noch in einer ländlich-idyllischen Umgebung, in der das von ihr propagierte und gelebte Freundschaftsethos von allen wie in einer großen Familie gelebt wird, deren Mittelpunkt sie selbst als das »wahre Urbild des wahren weiblichen Genies« (S. 346) ist. Die feudale, patriarchate Gesellschaft ist wie traumhaft aufgeweicht und durchdrungen von der in Sophie Stemheim verkörperten »weiblichen« Welt. Die Rivalitäten der Männer sind vergangen, seitdem der zunächst melancholisch sich absondernde Lord Rieh Sophies Sohn, seinen Neffen, fürsorglich annimmt: »Dieser Knabe [soll] keinen andern Hofmeister, keinen andern Begleiter auf seinen Reisen haben als mich. — Alle Ausgaben für ihn sind meine« (S. 348). Hier wird die männliche Rivalität über den Besitz von Frau und Sohn, die die europäische Sippen- und Familiengeschichte kennzeichnet, aufgelöst und in eine freundschaftliche Beziehung verwandelt. Der biologische und psycho-
bei der La Roche nicht vor; zwar leidet der melancholische Seymour an seiner »wahren« Neigung zur Sternheim, wird jedoch dafür später mit der Ehe belohnt. Der »Bösewicht« Derby ist lediglich als Libertin gezeichnet, der bald der Stemheim überdrüssig wird und sie verläßt. 32 Das »utopische« Ende des Stemheim-Romans unterscheidet sich besonders in der Situation der Frau von der »Lösung« der »Nouvelle Héloïse«: zwar erlischt die Rivalität zwischen Julies Ehemann und ihrem Liebhaber, der nun zum Erzieher der Kinder wird, aber Julie hat sich mit ihrer Ehe den Wünschen des Vaters und der Gesellschaft geopfert; sie stirbt an diesem Opfer - wobei die Männer dann frei über die Kinder verfügen und ihr eigenes Leben ohne Julie fortsetzen können. Dagegen hat die La Roche das Motiv der rivalisierenden Männer, die zu einem freundschaftlichen Vergleich (oder Verzicht) kommen, o h n e Aufopferung der Frau dargestellt, und sogar durch das bewußte Handeln der Frau und durch ihre Vermittlung in einem partnerschaftlichen Verhältnis a l l e r Beteiligten (Freundschaft) zu lösen versucht.
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logische Kernpunkt des Patriarchats, die patrilineare Generationenfolge bzw. die narzißtische Reproduktion des männlichen Ichs in der Vaterschaft, wird in dieser utopischen Idylle aufgeweicht - so wirklichkeitsfern sie auch damals oder heute erscheinen mag. Herrschafts- und Besitzanspruch auf Frau und Sohn, Frauenopfer,32 Rivalität und Konkurrenz sich gegeneinander abgrenzender Individuen, die Kennzeichen der europäischen Leistungs- und Individualgeseilschaft, wie sie im Werther so deutlich in Erscheinung treten, sind auch bei den Männern in einen »Enthusiasmus der Wohltätigkeit« sublimiert und in »lebendige Empfindung des Edlen und Guten« (S. 349) umgesetzt worden. Wie auch bei Sophie, jetzt Lady Seymour, müssen »alle ihre Gesinnungen Handlungen werden« (ebd.). In der Fiktion des Sternheim-Romans werden die konfliktreichen Beziehungen, Rivalitäten und Aggressionen in pragmatisch orientierte (nicht theoretisch-abstrakte), freundschaftliche Handlungsmuster umgewandelt: eine Utopie im Sinne der weiblichen Sozialisation der Protagonisten.
4. Freundschaft und die Grenzen des Patriarchats in Rosaliens Briefen In dem auf ihren Erfolgsroman folgenden Jahrzehnt war Sophie La Roche zunächst durch eigene familiäre und gesellschaftliche Verpflichtungen wieder verstärkt in Anspruch genommen. Noch während der Vollendung und Drucklegung der Sternheim war die Familie nach Ehrenbreitstein umgezogen (März/April 1771), wo Frank La Roche am kurtrierischen Hof in der Beamtenhierarchie bis zum Kanzler aufstieg, damit der Familie (und Sophie als Autorin) Sozialprestige verlieh und ein gesellschaftlich wie materiell glänzendes Leben ermöglichte. In ihrem Haus, wo sie eine Art literarischen Salon führte, verkehrten bald die bekannten Literaten aus der Rhein-Main-Gegend, andere suchten brieflich Kontakt mit ihr. Erst nach Frank La Roches Entlassung 1780, die durchaus als Sturz und sozialer Abstieg verstanden wurde (Frank starb schon 1788 als gebrochener Mann) trat Sophie wieder verstärkt mit eigenen Publikationen hervor, nicht zuletzt weil sie damit das Einkommen der Familie aufbessern konnte. Das bedeutete jedoch weitgehende Anpassung an den Markt der (weiblichen) Leserinnen, für die »moralische« (Tugend demonstrierende), lebensnahe »Geschichten« gewünscht wurden. In den zahlreichen weiteren Fiktionen der La Roche nehmen zwischenmenschliche Beziehungen einen zentralen Platz ein, wobei Darstellungen von Geselligkeit und Freundschaft in familiären, »bürgerlichen« Situationen thematisiert werden. In der Pomona (1783) hat die La Roche berichtet, wie sie ihren zweiten Roman auf Begehren »einiger junger Frauenzimmer« geschrieben habe: Und so wurde Rosalie. Ich war einige Jahre älter als bey Stemheim, hatte mehr Menschenkenntnis, und war durch mein Schicksal an einen Platz geführt, wo ich viel beobachten konnte. Ich hörte und dachte manche Wahrheit, die mir für das täthige Leben nützlich schiene, fand manches im Ganzen, und in einzelnen gesellschaftlichen Situationen schädlich, und wünschte das bessere an die Stelle zu bringen [...]. Zu furchtsam oder zu bescheiden, meine Gedanken in einem ernsthaften Gewand erscheinen zu lassen, von meiner Eigenliebe überredt [sie], daß ich nützen könnte, überzeugt, daß junge Leute denjenigen, die ihnen Vergnügen darbieten, geme zuhören, schrieb ich für Söhne und Töchter meines Standes eine Sammlung schöner edler Bilder, wovon viele der Abdruck schätzbarer Personen sind, die ich kenne, viele auch Geschöpfe meiner Seele. [...] [Ich] setze mich in verschiedene, mir bekannte Umstände
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von andern, und handelte mit meiner Feder nach meiner Einsicht und Neigung, wie es mich möglich und schön dünkte: Und so wuchsen Rosaliens Briefe bis zu drey Bänden."
Sophie La Roche beschreibt hier treffend, wie sie wichtige, alltägliche Umstände aus ihrem Gesellschaftskreis nach ihrer »Einsicht und Neigung« zu Fiktionen, zu einer »Sammlung schöner, edler Bilder« gestaltet. Die Darstellung des möglichen »Guten«, nicht in der Form pädagogischer Schriften sondern als »Bilder«, ist auch eine Form von Wunschdenken und Utopie, aber eine gegenwartsbezogene. Der dreibändige Roman Rosaliens Briefe an ihre Freundinn Mariane von St" ( 1 7 7 9 1781) 3 4 zeigt die Protagonistin wieder im Dialog mit der einfühlsamen Freundin: Ihre Seele war mein zweites Gewissen, Ihr geübter Geist die Bewährung des meinigen. Ihnen ist weder die Lebhaftigkeit meines Kopfes, nicht die überfließende Empfindsamkeit meines Herzens jemals anstößig gewesen. [...] Sie werden alles, auch den leisesten Gedanken zu lesen bekommen, und mich also auf allen Seiten kennen lernen. (Bd. 1, S. 2 u. 5)
Die Handlung stellt einen relativ kurzen Abschnitt im Leben Rosaliens dar, von der Brautzeit bis zur Geburt ihres ersten Kindes; ein reicher Onkel nimmt Rosalie mit auf Reisen, um ihre Bildung zu erweitern und sie menschlich auf ihre künftige Aufgabe als Ehefrau und Mutter vorzubereiten. Nach der Heirat mit dem Oberamtmann Cleberg bezieht das junge Paar zusammen mit dem Onkel, der ein reiches Erbe in Aussicht stellt, ein repräsentatives Haus in einer Kleinstadt und Rosalie sieht der Geburt ihres ersten Kindes entgegen. Damit hat die La Roche die wohl entscheidendste Phase (Heirat und Familiengründung) im Leben einer Frau ihrer Zeit thematisiert. Einübung in die Familienrolle für die junge Frau ist das Thema des Romans; es ist ein Initiationsritual (ohne Geheimnis, aber mit psychologischer Einfühlsamkeit) in das Leben der patriarchalen Gesellschaft, in die Rosalie hineinwachsen muß, wie denn der Onkel s e i n Tagebuch mit ihr durchliest. Der Text des Übervaters wird zur maßgeblichen Schrift, die die Protagonistin nun er-
33 Pomona für Teutschlands Töchter, Von Sophie von La Roche. Siebentes Heft. Juli 1783. Speier, gedruckt mit Enderesischen Schriften, S. togzf. (Exemplar UB Berlin). Nachdruck: Hg. v. Jürgen Vorderstmann. 4 Bde. London: Saur 1988. 34 4 1 Abschnitte, die die Grundlage für die fiktionale Erweiterung bilden, waren schon unter dem Titel »Freundschaftliche Frauenzimmerbriefe« von Februar 1775 bis Dezember 1776 in Jacobis Frauenzeitschrift »Iris« abgedruckt worden. — Mir lagen Exemplare von folgenden Ausgaben von »Rosaliens Briefen« vor: 1. Altenburg: Richter. Bd. 1:1779; Bd. 2:1780; Bd. 3 : 1 7 8 1 (Herzog August Bibl. Wolfenbüttel: Lo 4284) 2. Altenburg: Richter. Bd. 1 : 1 7 8 0 (FU Berlin: 1 2 L146) 3. Frankfurt und Leipzig. Bd. 1 : 1 7 8 1 ; Bd. 2 : 1 7 8 1 ; Bd. 3 : 1 7 8 2 (Freies Deutsches Hochstift: IX
L35 " E 4 ) 4. Neue verbesserte Ausgabe. Altenburg: Richter. 3 Bde. 1797 (Staatsbibl. Berlin: Y v 7308). Alle Zitate nach dem Exemplar in 1). Im »Verzeichnis der Werke, welche die Richtersche Buchhandlung auf eigene Kosten gedruckt hat« (in Ausgabe 1., Bd. 2, S. 470), werden die ersten beiden Bände von »Rosaliens Briefen« für »2 Rth. 16 Gr.« angeboten. 1787 wurde die x. Ausgabe (3 Bde.) mit »3 Rth. 13 Gr.« im Richterschen Verzeichnis geführt (Journal meiner Reise durch Frankreich, Altenburg: Richter 1787, S. 580).
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füllen muß. Das ist eine sterile Erzählsituation, denn das Thema tugendhaft-glücklicher Braut- und Ehejahre paßt so gar nicht in die fiktionalen Muster des europäischen Romans: In Rosaliens Briefen gibt es weder Liebes- noch andere A b e n t e u e r , noch eine autonom handelnde Protagonistin, die tragisch (oder auch komisch) fehlen oder glücklich siegen könnte, wie es bei Richardson, Rousseau, Geliert, Wieland, Goethe und auch noch in der Stemheim möglich war. Statt Verlusterfahrung und differenzierter weiblicher Sozialisation und Identitätsfindung steht nun die Anpassungsstrategie ans Patriarchat (verkörpert durch Onkel, Ehemann und Haus-Mutterpflichten) im Vordergund. Dennoch wird diese an sich statische, handlungsarme Situation in wichtigen Aspekten erweitert (der Roman füllt immerhin drei Bände und erlebte vier Auflagen). Die Reise Rosalies, die ihrer Bildung und der Formung ihrer Persönlichkeit dienen soll, ist derzeit noch durchaus ungewöhnlich für eine bürgerliche Frau; es ist eine Art Wunschprojektion der Autorin, 35 um aus der begrenzten häuslichen Sphäre herauszukommen und aus der beschränkten Wissens- und Erlebniswelt der Frau herauszuführen — allerdings unter der bevormundenden Aufsicht einer Vaterfigur, hier des Onkels. Doch geben Reise, Niederlassung in einer anderen Stadt und Ausflüge in die Umgebung Gelegenheit, andere Frauen kennenzulemen und Freundschaften zu schließen. Damit kann die Protagonistin den Familienbindungen und -pflichten freundschaftliche Bande, die sie eigenständig geknüpft hat, hinzufügen und in diesen Beziehungen ihre innere Entwicklung 30 zur idealen Frau fördern. Rosalie schließt sich sogar mit fünf »Verbündeten« zu einer Gruppe, einer Art Tugendbund, zusammen, die gemeinsam vorbildliche Verhaltensweisen von anderen in einem »Seelenbilderbuch« (Bd. I, S. 197) zusammenstellen. In zahlreichen Episoden und Erzählungen sind »Geschichten« in den Roman eingebettet, wobei besonders die der Henriette von Effen, einer Frau van Guden und einer Frau Gräfe Charakter und Situation der Protagonistin kontrastierend ergänzen. An diesen »anderen« Frauen kann gezeigt werden, was der Protagonistin als M o d e l l i i-
35 Die La Roche hatte anders als die (großbürgerlichen Frauen ihrer Zeit selbst schon kleinere Reisen unternommen (nach Biberach, Darmstadt, Hamburg) und sollte dann in den (olgenden Jahren ihre Reisebegeisterung mit jeweils mehrmonatigen Reisen in die Schweiz (1784), nach Frankreich (1785) und nach Holland und England (1786) befriedigen können, von denen sie umsichtige, erlebnisreiche Reiseberichte veröffentlichte: Tagebuch einer Reise in die Schweiz. Altenburg 1787 Journal einer Reise durch Frankreich. Altenburg 1787 Tagebuch einer Reise durch Holland und England. Offenbach 1788 Später kamen noch dazu: Briefe über Mannheim. Zürich 1791 Erinnerungen aus meiner dritten Schweizer Reise. Offenbach 1793 Reise von Offenbach nach Weimar und Schönbeck im Jahr 1799. Leipzig 1800. Ungewöhnlich für Frauen ihres Standes war auch der mehrfache Wohnsitzwechsel seit Kindheit an (Kaufbeuren, Augsburg, Biberach, Mainz, Warthausen, Bönnigheim, Ehrenbreitstein, Speyer, Offenbach). 36 Touaillon: Der deutsche Frauenroman, S. i67f., spricht von einer weiblichen Entwicklungsgeschichte, einem »Mittelglied zwischen Agathon und Wilhelm Meister«; ausführliche Interpretation bei Heidenreich: Werkbiographie, S. 67-126; zum Frauenbild Nenon: Autorschaft und Frauenbildung, S. 104—121 und Wiede-Behrendt: Lehrerin des Schönen, S. 216—234.
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g u r nicht erlaubt ist, wohl aber in anderen Erlebensmöglichkeiten durchaus existent ist. Der Frau Gräfe werden Bemerkungen, die die bedingungslose Vorherrschaft des Mannes ironisieren, in den Mund gelegt, wie: »Cleberg wäre so artig, als eyn Hausdespote immer nur sein könnte!« (Bd. 3, S. 87). Ihre Bemerkungen und Ansichten werden zwar weder diskutiert noch (von den Männern) ernst genommen; doch implizieren sie die Brüchigkeit der patriarchalen Welt. In der Gestalt der Henriette von Effen wird ein Übermaß an Empfindsamkeit, ein Sich-Verlieren in die Liebe zu einem Mann und die eigene Verliebtheit gezeigt, die zu Krankheit und schließlich zum Tode führt, wenn Henriette sich endlich eingestehen muß: Ich bin unter der Last meines Kummers und meiner Empfindsamkeit so tief gesunken, so ermattet, daß ich nicht mehr die Kraft habe, mich an der liebreichen Hand festzuhalten, die mich retten will. (Bd. 1, S. 68)
Die helfende Hand ist das Zeichen der Verbundenheit der Protagonistin Rosalie mit der »anderen« Frau, die auch ihr zweites Ich sein könnte. »Ich fühle, o meine Marianne«, schreibt Rosalie an ihre Briefpartnerin, »ich fühle tausend simpathetische Bande, die mich an Henriette von Effen ziehen« (Bd. 1, S. 60). Rosalie »lernt« von Henriette, will den Gang ihrer eigenen »Empfindsamkeit beobachten« (Bd. I, S. 75); sie wird durch die »simpathetischen Bande« der Freundschaft zur Einsicht und Selbstdisziplinierung gebracht. Dagegen geht diese »andere« Frau Henriette an einer unmäßigen (und unvernünftigen) Liebe zu einem Mann, dessen Untreue und Fehlverhalten nur indirekt ihren Tod verursachen, zugrunde. Leidenschaftliche Liebe ist auch das Thema der Geschichte der Frau van Guden, die einen breiten Raum (etwa ein Drittel des Werkes) einnimmt. Anders als Henriette kann sich Frau van Guden aber schließlich doch von ihrer Leidenschaft zu dem geliebten Herrn Pindorf lösen, mit dem sie eine »Seelenfreundschaft« geschlossen hatte und der sich (nach vielen Jahren und nach zwei Ehen) schließlich als enttäuschend schwacher Charakter erweist (er versagt als Vater, ist abhängig von einer gekünstelten Ehefrau und tyrannischen Schwester). Doch trotz ihrer verzehrenden Leidenschaft für diesen Mann hat Frau van Guden längst ihre Unabhängigkeit und Selbständigkeit als Witwe, Wohltäterin, Erzieherin und Lehrerin erfolgreich erprobt — sie hat sich in wohltätigen, freundschaftlichen Beziehungen und Taten für andere (Frauen) erhalten, gefestigt, konstituiert: Das Gefühl von größerer Stärke meiner Seele gab mir einen höheren Grad von Achtung für mich selbst, der unumgänglich und mit so viel Verminderung meiner Verehrung für ihn verbunden war; und von da an blieb mir nichts als Freundschaft für ihn. [...] Verhaßt oder gleichgültig wird er mir nie werden: aber anbeten, lieben kann ich ihn auch nicht mehr, seitdem ich mich höher schätze als ihn. (Bd. III, S. 4 1 u. 52)
Frau van Guden entwickelt »ein Gefühl von größerer Stärke« und einen »höheren Grad von Achtung« für sich selbst, als sie aufhört, den leidenschaftlich geliebten Mann zu verehren und anzubeten. Diese Realisierung des eigenen Selbst findet nicht mehr in der Idealisierung des Mannes statt, sondern in der Entwicklung zu eigener Identität in der Tätigkeit mit und für andere. Frau van Guden ist das nach Autonomie strebende Ich der Rosalie, das sich aus der Abhängigkeit der erotischen Liebe und damit der
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Macht des Mannes über sie befreit.37 Erst dieses veränderte Verhältnis bezeichnet sie als Freundschaft. Für Rosalie selbst ist die Identität auf die Rolle der idealen Ehefrau festgeschrieben, die sich in allem dem Ehemann unterordnen muß. Ihre Liebe - die Beziehung zu Cleberg ist wie in allen Romanen der La Roche von einer leidenschaftslosen, eigenwilligen Distanz von Seiten der Ehefrau her gekennzeichnet — wird in zwei Prüfungsepisoden, die vom Ehemann initiiert und mit dem Onkel überwacht werden, unter Beweis gestellt.38 Diese breit dargestellten Episoden sind klassische Szenen der patriarchalen Überwachungsgesellschaft. In der ersten täuscht Cleberg eine Liebelei mit der jungen Lisette, einer im Hause lebenden Nichte, vor und beobachtet (zusammen mit dem Onkel) Rosalies Reaktionen, die diese Eifersuchtsprobe tugendhaft besteht - allerdings mit schweren inneren Konflikten, die sie ihrer Brieffreundin anvertraut. Es bleibt aber nicht beim privaten, intimen Konflikt: Rosalies Briefe über ihren Gemütszustand werden nach der Aufklärung noch mit den Aufzeichnungen des beobachtenden Eingeweihten verglichen! Diese öffentliche (d. h. in ihrem gesellschaftlichen Zirkel stattfindende) Tugendprobe stellt hohe Anforderungen an die Fähigkeit der »Gelassenheit«, der Selbstdisziplinierung der Protagonistin; sie zeigt das Ausmaß der Überwachung durch das Patriarchat. Cleberg wird selbstverständlich einer solchen Kontrolle nicht unterzogen: die zweite Episode, in der ein Bekannter sich in Rosalie verliebt, stellt wiederum Rosalies menschliche Würde (ihre taktvolle Handhabung der Situation und ihre Treue zu Cleberg) auf die Probe, nicht etwa Clebergs Gefühle und Verhalten gegenüber seiner Ehefrau und deren Verehrer (der aber keineswegs ihr Liebhaber war). An Rosalie werden die engen Grenzen deutlich, wenn die i d e a l e Rolle einer Ehefrau in der patriarchalen Ehe zum Ziel der Darstellung wird; erst in die Nebenfiguren und -episoden können die Wunschträume und Fragen, die der Protagonistin verschlossen bleiben, thematisiert werden. Die spätere Fortsetzung dieses Erzählmusters in dem Roman Rosalie und Cleberg auf dem Lande (1791) 39 leidet dann auch besonders an den Zwängen, eine patriarchale Musterehe zu gestalten, und damit an der Statik 37 Diese resolute, selbständig wirkende Frau ist eine eigenartige Mischung aus Zügen des liebeskranken Werther, der wohltätigen Sternheim und der energischen, geistig regen Autorin Sophie La Roche, die wohl hier, wie auch anderswo, ihre frühe Liebesepisode mit Wieland verarbeitet hat; die breit ausufernde, im zweiten Band den Roman beherrschende Erzählung dürfte mit der Grund sein, warum der Roman bei Wieland trotz wiederholter Bitten der Autorin keine Kommentierung als literarisches Werk erfahren hat; zu Wielands wachsendem Desinteresse an La Roches literarischem Werk (und an ihrer Person), vgl. B. Becker-Cantarino: Muse und Kunstrichter, bes. S. 5&3ÍI. - Die Rezeption von »Rosaliens Briefen« war durchaus positiv, wobei jedoch das Lob besonders die w e i b l i c h e Autorin meinte (»das Höchste und Beste, was eine weibliche Hand jemals niedergeschrieben hat«); vgl. Heidenreich: Werkbiographie, S. 124 —129. Hier S. 126. 38 Eva D. Becker: Der deutsche Roman um 1780. (Germanistische Abhandlungen 5) Stuttgart 1964, S. 138ft., sieht ausschließlich das Didaktische des Romans und übergeht die Prüfungen und besonders die psychologische Darstellung in den empfindsamen Briefpassagen; Becker betont die »musterhaft geordnete Wirklichkeit«, die angesichts des Detailrealismus an eine Puppenstube denken lasse. 39 Offenbach: Weiß und Brede 1 7 9 1 (Exemplare eingesehen: Staatsbibl. Berlin/West, UB Göttingen, Freie Dt. Hochstift) und wurde dann wieder als 4. Teil zu Rosaliens Briefen bei Richter, Altenburg 1797 gedruckt (UB Freiburg).
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der Rollen und der Intention der Autorin, alles zu loben und beschönigen zu wollen. Die Anpassungsstrategie ist bis zur Gefälligkeitssucht intemalisiert worden. Der R o man schildert das Leben auf dem Gute Clebergs in der Nähe v o n Frankfurt (der Gegend, in der die La Roche seit 1 7 8 0 lebte), w o vorbildliche Landwirtschaft betrieben wird und landwirtschaftliche, ökonomische, soziale und pädagogische Fragen in G e sprächen erörtert werden. Damit nähert der Roman sich einem in die gefällige Form der Fiktion gekleideten Sachbuch; die Autorin verbindet geschickt empfindsame Subjektivität mit Tugendlehre und Realienwissen. 4 0
5 . Freundschaft, Liebe und A u t o n o m i e in den Moralischen
Erzählungen
Weitaus mehr ñktionalen Spielraum ließ sich die La Roche in ihren Moralischen
Erzäh-
lungen,41 w o sie immer wieder auf das Thema v o n Freundschaft und Liebe in familiären Situationen zurückgreift, das sie in zwischenmenschliche Konfliktsituationen kleidet. Schon die früheste (publizierte) Erzählung Der Eigensinn der Freundschaft und Liebe ( 1 7 7 2 ) 4 1 behandelt das Freundschaftsthema, wenn die »eigennützige Liebe« schließlich
40 Noch mehr nahem sich einem pädagogischen Sachbuch die »Briefe an Lina«, die zunächst in der Zeitschrift »Pomona« (1783 —1785), dann 1785 als Buchausgabe mit Widmung an Katharina II. v. Rußland und zu drei Bänden 1 7 9 5 - 1 7 9 7 erweitert erschienen sind. Weitere Auflagen einzelner Bände (u.a. 1788, 1807) bezeugen das bleibende Interesse der Leserschaft. Die »Briefe« sind besonders an junge Mädchen aus dem Bürgerstand gerichtet, die Autorin spricht als mütterliche Freundin mit Wohlwollen und Güte; vgl. Dagmar Grenz: Mädchenliteratur. Von den moralisch-belehrenden Schriften im 18. Jahrhundert bis zur Herausbildung der Backfischliteratur im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1981, S. 6 6 - 74. 4 1 Die Erzählungen entstanden ab 1770 und erschienen in Einzeldrucken, in der »Pomona« (1783 — 1784), zwei im »Teutschen Merkur« (1781). Folgende Ausgaben (mit unterschiedlichem Inhalt) konnten ermittelt und, wo Bibliotheken genannt sind, eingesehen werden: 1. Moralische Erzählungen. Erste u. zweite Sammlung. Speier 1783 und 1784. (Wiede-Behrend: Lehrerin, S. 451) 2. Moralische Erzählungen der Frau Verfasserin der Pomona. Speier 1784. (Freies Dt. Höchst.) 3. Neuere moralische Erzehlungen. [sie] Altenburg: Richter 1786. (Herz. Aug. Bibl. Wolfenbüttel) 4. Moralische Erzählungen. Nachlese zur ersten und zweyten Sammlung. Mannheim und Offenbach 1787. (Heidenreich: Werkbiographie, S. 453) 5. Moralische Erzählungen. 2. verbesserte und vermehrte Auflage. Mannheim 1799. (UB Göttingen) 6. Moralische Erzählungen. Von Sophie von La Roche. Dritte verbesserte und vermehrte Auflage. Mannheim: Tobias Loeffler 1 8 2 3 . 2 Bde. (Staatsbibl. Berlin/West) Die Ausgabe Moralische Erzählungen im Geschmack Marmontel's. Dessau 1782. 2 Bde. (Goedeke: Grundriß, IV, 1, 1916, S. 591; Maurer: Das Gute, S. 130; Heidenreich: Werkbiographie, S. 452) wird seit Goedeke irrtümlich der La Roche zugeschrieben und enthält nur ihre Erzählung »Zu was taugt dem Unglücklichen der Geschmack am Schönen?« (Bd. 2, S. 272— 300). 42 Eine französische Version erschien gleichzeitig im selben Verlag (s. unser »Verzeichnis der Romane und Erzählungen«), - Die Erzählungen dürften schon aus der Zeit vor dem »Stemheim«-Roman stammen und 1769/1770 zunächst auf Französisch geschrieben sein. Am 25.2.1770 schrieb die La Roche an Wieland über ihre »Französischen Träumereien«: »Ich würde beydes gem in Teutsch sezen, wenn ich die Zeit nicht berechnete die es mir nimmt, und die ich gem für meine Sternheim verwenden möchte« (Wielands Briefwechsel. Hg. v. Werner
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in gleichwertige Freundschaft verwandelt wird: Freundschaft ist »zu edeln Thaten, und großmüthiger Selbstverleugnung fähig und niemand steht die Gesinnung schöner als zwo Personen verschiedenen Geschlechts« (S. 37). Der »Eigensinn« zeigt sich darin, daß der »Liebende, der nur nach seinem Vorteil sucht«, schließlich seine Fehler einsieht und zur freundschaftlichen Liebe zurückfindet: Nach dem Tode seiner Frau heiratet Lord Kilmar Lady Sophie, die er früher wegen einer glänzenden Heirat verlassen, und die inzwischen nach einer väterlich-freundschaftlichen Ehe verwitwet, sein Kind (unwissentlich) aufgezogen hat. Eine ländliche Familienutopie mit freundschaftlicher Ehe beschließt diese Erzählung. Es ist eine Lieblingsvorstellung der La Roche als Erzählerin, wenn sie kommentiert: »Welch einen Kampf wird es mich kosten, mich von hier loszureißen ...« (S. 91). In dieser frühen Erzählung klingen noch stark Reminiszenzen an die Wieland-Freundschaft nach, wie denn das Thema der »Seelenfreundschaft« zweier Liebender, die nach (Selbst)täuschungen schließlich in der Ehe zusammenfinden, auch in dem Sternheim-Roman wichtig ist. In den ab 1 7 8 1 erscheinenden »moralischen Erzählungen« experimentiert die La Roche jedoch mit anderen Aspekten des Freundschaftsthemas; die Freundschaftsutopie der patriarchalen Ehe weicht neuen Erzählmustern, die (vergleichsweise) autonom handelnde Frauen darstellen. Einmal wird in der Freundschaft zunehmend das pädagogische Potential gesehen und betont, wenn sie ζ. B. in der Pomona erklärt: Der Freund soli uns auf Fehler aufmerksam machen und diese bessern helfen. Man muß das zu schätzen wissen und dankbar sein. Freunden, die alles liebevoll übersehen sind Feinde vorzuziehen, da sie Fehler aufdecken.43
Diese überspitzte Formulierung von Freundschaft als Hilfe zur Charakterverbesserung wird immer wieder zum Angelpunkt einer moralischen Geschichte, wie in Ein guter Sohn ist auch ein guter Freund (1783) oder Miß Kery und Sophie Gallen (1784),44 wo jeweils ein junger Mensch durch die verständnisvolle und selbstlose, fast aufopfernde Haltung des Freundes (oder der Freundin) wieder auf die rechte Bahn gebracht und zu seinem besseren Selbst zurückgeführt wird. Ihr eigenes Selbst findet auch die Protagonistin in Liebe, Mißoerständnis und Freundschaft (1783); 45 es ist die Geschichte einer (vergleichsweise) autonomen Frau, die an ihrer Liebe zweifelt, sich zurückzieht, Erzieherin wird und nach einem späteren Zusammentreffen in einen freundschaftlichen Briefwechsel mit dem früher geliebten, jetzt verheirateten Herrn Wießbach eintritt: Er fand ihren Geist bereichert, aber ihr Herz für ihn verschlossen. Doch entstund ein Briefwechsel unter ihnen, in welchem sie sich als Feunde ihre Mißverständnisse erklärten und so in eine Art von Seelen-Bündniß kamen, welche sie noch schöner fanden, als ihre Liebe war.46
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Seiffert. Berlin 1963, Bd. 4, S. 97). Die La Roche schickte nachweislich seit 1 7 5 1 (!) literarische Gelegenheitsarbeiten an Wieland; vgl. Bernhard Seuffert: Der älteste literarische Versuch der Sophie Gutermann. In: Euphorion 1 3 (1906) S. 4 7 0 - 4 7 1 . Während der 1760er Jahre enthält ihr Briefwechsel mit Wieland wiederholte Hinweise auf Erzählungen, literarische Briefe und Tagebücher. Pomona, 12. Heft (1783), S. 1126. Beide Erzählungen zuerst in Pomona: »Ein guter Sohn ...« im 5. Heft, Mai 1783; »Miß Kery ...« im 1. Heft, Januar 1784. Zuerst in Pomona, 3. Heft, März 1783, S. 2 5 4 - 2 8 6 . Moralische Erzählungen. 3. Auflage. Mannheim 1823, Bd. x, S. 77.
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Hier wird die »Seelenfreundschaft« über die Liebe gestellt; die Heldin Elise Baumthal wählt und lebt ein befriedigendes Leben als Lehrerin und Beraterin des Freundes, ohne eine Ehe einzugehen. In Freunde und Freundinnen aus zwei sehr verschiedenen Jahrhunderten (1784) 47 hilft das freundschaftliche Verhältnis zweier Frauen der einen, ihre Mißheirat zu ertragen; selbst kinderlos, sorgt diese dann für die Kinder der (verstorbenen) Freundin und adoptiert einen Sohn schließlich als Erben. Wieder wird eine familiäre Situation, die durch Unglück zu scheitern drohte (der Ehemann entpuppt sich als Erbschleicher, die Frau bleibt kinderlos), durch Freundschaft gerettet. Aber es steht keine patriarchate Ehe am Horizont wie in Rosaliens Briefen oder in Der Eigensinn der Liehe und Freundschaft, sondern die Rekonstitution idealer, zwischenmenschlicher Beziehungen im familialen Rahmen: der Sohn der Freundin wird als Adoptivsohn das Erbe übernehmen und die Wirtschaft weiter führen. Die autonom handelnden Freundinnen haben durch die wechselseitige Unterstützung diese freundschaftliche Lösung herbeigeführt. Freundschaft fungiert in den Moralischen Erzählungen immer wieder als Motiv der handelnden Personen, besonders der Frauen, als notwendiges Band für zwischenmenschliche Beziehungen. Nach Mißverständnissen, Fehlverhalten und Unglücksfällen wird schließlich immer eine idyllische, harmonische Freundschaft in der kleinen Gruppe, Familie oder Gesellschaft erreicht, die allerdings erarbeitet werden muß diese »Arbeit« liefert den Stoff der jeweiligen Erzählung.
6. Freundschaftsutopie zwischen Fiktion und »Moral« 1789 ließ die (knapp) sechzigjährige La Roche in ihrer Erzählung Der schöne Bund** die alte Madame Rollbach sagen: Gott bewahre meine alten Tage vor der Stunde, in welcher ich mit kaltem Herzen auf die Freude meiner Nebenmenschen blicken sollte. Meine Hände sind verwelkt, [...] aber segnen kann ich euch, meine lieben Söhne und Töchter [...]. Dieser Feiertag der Freundschaft ist mir so heilig und werth, als er euren Herzen sein kann, und ich freue mich, daß jede Saite meiner Seele mit Rosettens Harfe tönte. (S. 281) Dieser nostalgische Gleichklang, den die alte Erzieherin mit den vier in einem Freundschaftsbund vereinten Freundinnen verbindet, dürfte auch die eigenen Empfindungen der Autorin ausdrücken. Bei diesem »Feiertag der Freundschaft« sei jedoch daran erinnert, daß dieses Werk im Jahr der Französischen Revolution, 1789, veröffentlicht wurde. Die letzten zwei Jahrzehnte ihres Lebens waren für Sophie La Roche persönlich ebenso schwierig wie literarisch durchaus produktiv. Die Ausbildung, Etablierung und Verheiratung ihrer Kinder brachte weitere Sorgen, dazu kamen der frühe Tod von Ma47 Zuerst in: Pomona 9. Heft, September 1784, S. 725—782?. 48 Die zweite Erzählung in: Geschichte von Miß Lony und Der schöne Bund. Gotha: Carl Wilhelm Ettinger 1789 (Exemplar UB Berlin), die »Trost nach dem Tode La Roches« (am 21. Nov. 1788) brachte und zu den »harmonischsten und abgerundetsten unter ihren Werken« gehört, so Ludmilla Assing: Sophie La Roche, die Freundin Wielands. Berlin 1859, S. 294. Die Ausgabe im Großoktav hatte zwei repräsentative Kupfer, die vom Direktor der Düsseldorfer Kunstakademie Langer entworfen waren, und kostete 1 Gulden 12 Kreuzer (derzeit betrug die Witwenrente der La Roche 600 Gulden; 1 Gulden = 60 Kreuzer).
Freundschaftsutopie bei La Roche
III
ximiliane (1793), die acht unmündige Kinder hinterließ (darunter Bettina und Clemens Brentano, die einige Jahre bei der Großmutter lebten), und des jüngsten Sohnes Franz Wilhelm (1791). Fritz, der Älteste, führte ein unstetes Leben, er kämpfte im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg mit, wanderte dann mit Familie nach Amerika aus und war zeitweise in Rußland verschollen; als Luises Mann, der wohlhabende kurtrierische Hofrat Möhn, wegen Unfähigkeit (Alkoholismus) entlassen wurde, kehrte die Tochter zur Mutter zurück und blieb ihre Hausgenossin bis zu Sophies Tod 1807. Unter den Folgen der Französischen Revolution und Napoleonischen Kriege hatte die »Wittwe von La Roche«, wie sie sich auf einigen späteren Publikationen nannte, besonders zu leiden: seit 1 7 9 3 waren verschiedentlich Soldaten bei ihr einquartiert, viele Leute aus Offenbach (und besonders aus den linksrheinischen Gebieten) flüchteten vor den Revolutionsarmeen; die La Roche mußte um ihr kleines Vermögen (ihre Bibliothek und Bildersammlung) bangen, auch vor Gewalttaten war sie nicht sicher; 1 7 9 5 wurde ihre Witwenversorgung nicht mehr gezahlt. Mehr als je zuvor war sie auf weitere Publikationen angewiesen - von 1 7 8 9 bis 1806 brachte sie noch zwölf neue Werke 49 heraus. Um den Absatz ihrer Bücher bemühte sie sich selbst häufig, als sie ζ. B. 1 7 9 3 einen Bekannten bat, einen Restposten der Pomona von 1 7 8 3 —1784, an den König von Preußen zu vermitteln: Ich bin in Umständen voll Kummer, woraus der edelmütig bezahlte Preis dieser 100 Exemplare à fünf Taler das Exemplar zu sechs Bänden mich ziehen würde. Der König macht so viele Tausende glücklich [...]. Ach mein Freund! Helfen Sie mir [...] Der Wert dieser Exemplare ist 500 Taler, die mich auf immer von allen Vorwürfen meines Tochtermanns [Peter Brentano] befreien und [...] mich in den Stand setzen, meinem guten Carl die 100 Taler zu schicken, um die er bittet, meine arme, an dem Krebs an der Brust in Augsburg sterbende Schwester zu unterstützen. Schon lange half ich ihr von dem Ertrag meiner Feder, aber die 500 Gulden von dem vierten Teil der Rosalie [Rosalie und Cleberg auf dem Lande, 1791] gab ich Franz zu der Reise nach Berlin. Dies, was meine neue Schweizer Reise [Erinnerungen aus meiner dritten Schweizer Reise, 1793] trägt, wird mir erst nach der Leipziger Messe vollends bezahlt, indem ich wegen Vorwürfen des Brentano dem Carl 100 Gulden voraus davon gab (denn der reiche Mann gibt mir nichts) und will, ich soll meinen etablierten Söhnen auch nichts mehr geben von dem, was mein ist, für meine Schwester zu retten keinen Pfennig Wohltat. O lieber Freund! [...] bedauren Sie mich und bitten Sie bei den Fürstinnen für mich.5" 49 Neben sechs Romanen u. Erzählungen brachte sie noch die folgenden Reise- und Erinnerungsbücher heraus: Erinnerungen aus meiner dritten Schweizerreise. Meinem verwundeten Herzen zur Linderung, vielleicht auch mancher traurenden Seele zum Trost geschrieben. Offenbach: Weiß und Brede 1793. Mein Schreibetisch. An Herrn G. R. P. in D. 2 Bde. Leipzig: Heinrich Gräff 1799. Reise von Offenbach nach Weimar und Schönebeck im Jahr 1799. Leipzig: Heinrich Gräff 1800 (auch unter dem Titel: Schattenrisse abgeschiedener Stunden in Offenbach, Weimar und Schönebeck im Jahr 1799) Melusinens Sommer=Abende. Herausgegeben von C. M. Wieland. Halle: N. Societäts-Buch und Kunsthandlung 1806. Außerdem gab sie noch heraus: Lebensbeschreibung von Friederika Baldinger, von ihr selbst verfaßt. Herausgegeben und mit einer Vorrede begleitet von Sophie, Wittwe von La Roche. Offenbach: Carl Ludwig Brede 1791. 50 An Georg Wilhelm Petersen, Erzieher des Erbprinzen von Hessen-Darmstadt und Literat; zitiert nach: Ich bin mehr Herz als Kopf. Sophie von La Roche. Ein Lebensbild in Briefen. Hg. v. Michael Maurer, München 1983, S. 350.
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In diesem aufschlußreichen Brief berichtet die La Roche über ihre finanzielle Lage, die sie mit ihrer publizistischen Tätigkeit und einem Appell an einen befreundeten Literaten in einflußreicher Stellung 51 geschickt aufzubessern versucht, und über ihre persönlichen Sorgen wie Fürsorge für ihre Söhne und die Schwester. Freundschaft und literarische Produktion sind im Leben der La Roche eng miteinander verquickt. Ihre späten Werke waren nicht nur »Brotschreiberei«, um zu leben und anderen helfen zu können. Sie gestaltete darin auch immer wieder eine utopische Welt, in der Freundschaft und freundschaftliche Gesinnung sich manifestieren, auch wenn wie etwa in Fanny und Julia. Oder die Freundinnen (1Ô01)52 die strukturellen, erzählerischen und darstellerischen Schwächen ihre Fiktionen wie einen späten Abglanz früherer Werke erscheinen lassen. Unter dem Aspekt »Erziehung zur Tugend« ist das literarische Werk der La Roche aus der heutigen Perspektive autonomer, kreativer Individualitätskonzeptionen verengend gesehen worden. In der Tat wird in ihren fiktionalen Entwürfen wie im gesamten Roman des 18. Jahrhunderts spätestens seit der Schwedischen Gräfin, von Lotte im Werther bis Natalie im Wilhelm Meisler, die immer wieder benannte »Bestimmung des Weibes« zur Ehefrau, Hausfrau und Mutter thematisiert. Neben einer Philine (die bezeichnenderweise aus Wilhelm Meisters Leben verschwindet und auf die eine Therese und Natalie folgen) steht als Bild erwünschter Weiblichkeit eine Dorothea, an der die festgelegte gesellschaftliche Rolle der Frau anvisiert und für alle Frauen festgeschrieben, eingeübt und bewahrt werden soll. Wieland hatte die La Roche und den Sternheim-Roman auf die Tugendliteratur für Frauen verwiesen, die La Roche selbst hatte sich als »Erzieherin von Teutschlands Töchtern« (mit der Herausgabe ihrer Zeitschrift Pomona) als Autorin legitimiert. Doch dürfen die aus Rücksicht auf das weibliche Image der Autorin verkündeten pädagogischen Absichten53 nicht mit ihren Fiktionen gleichgesetzt werden, satt dessen sollten ihre erzählerischen Werke als literarische Phantasieprodukte, die allerdings den patriarchalen Zwängen ihrer Zeit unterliegen, gelesen werden. Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim thematisiert weibliche Sozialisation, Verlusterfahrungen und Identitätsfindung in einer Freundschaftsutopie. Sophie Stemheim kann nicht an den Individualitätsvorstellungen eines Agathon, Werther oder Wilhelm Meister gemessen werden — wie diese nicht an den imaginierten Heldinnen des Frauenromans gemessen werden. Der Fiktionalisierung der La Roche liegt eben nicht das männliche Modell konkurrierender, sich abgrenzender Individualität und Autonomie zugrunde, die die androzentrische Konzeption des Bildungsromans trägt. Das, was die La Roche und die Frauenromane des 18. Jahrhunderts an weiblicher Sozialisation entwerfen, ist wegen der vorausgesetzten »Bestimmung des Weibes« keine autonome 5 1 Solche Bittbriefe waren im 18. Jahrhundert allgemein üblich, ebenso das Bitten um und Verleihen von (oft beträchtlichen) Geldsummen unter Bekannten und Familienangehörigen; die La Roche scheint jedoch sehr großzügig mit Geldgeschenken gewesen zu sein, besonders als sie selbst von der Hand in den Mund lebte. 52 Leipzig: Heinrich Gräff (Exemplar Staatsbibl. Berlin/West). Der mit einer Rahmenhandlung angelegte Roman beschreibt einen Mädchenbund und die Einzelschicksale der Mädchen, der zweite Band u.a. eine längere Reise (eines Mannes aus der Rahmenhandlung) zu den Hebriden. 53 Meise: Die Unschuld und die Schrift, S. 65, spricht treffend vom Alibi der Autorin und möchte über die »Verdoppelung des Immergleichen [...], des pädagogischen Ideals« in den Frauenromanen hinausgehen.
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und »bildbare« Individualität im Sinne des sich aus familiären und gesellschaftlichen Zwängen emanzipierenden Mannes als Bürger. Sophie repräsentiert weibliche Sozialisation, freundschaftliche zwischenmenschliche Beziehungen als Identitätsfindung und Anpassungsstrategie an die Zwänge des Patriarchats. Doch die Autorin konnte später eine so originäre und wirkungsvolle Freundschaftsutopie wie im Sternheim-Roman nur im matten Abglanz konzipieren. Schon in Rosaliens Briefen erweisen sich die engen Grenzen, die eine Braut und Ehefrau in der zeitgenössischen (großbürgerlichen Gesellschaft zu beachten hat, auch als Käfig für die kreative Imagination. Einen Freiraum findet sie in Episoden, in denen sie autonome, empfindsame Freundschaft statt Liebe — Erotik ist tabu für die bürgerliche Autorin im 18. Jahrhundert — thematisieren kann, wie wieder häufig in den »moralischen Erzählungen«, die um menschliche Tugend kreisen. Da Sophie La Roche anders als fast alle Autorinnen der (erst seit den 1780er Jahren erscheinenden) Frauenromane nicht anonym publizierte, hatte sie ihre gesellschaftliche Stellung als Frau zu bewahren. Deshalb konnte sie ihre schriftstellerische Produktion nicht als freie, »autonome« Kunst konzipieren, sondern mußte sie weitgehend als Erziehungs- und Lebenshilfe für Mädchen und Frauen erscheinen lassen. Diesen war sie eine mütterliche Freundin und entwarf wohlwollende, einfühlsame und freundschaftliche (nicht autoritäre, strafende oder einschüchternde), lebensnahe Bilder — allerdings im Sinne von Anpassungsstrategien an das Patriarchat. Auch als ihre kreative Imagination später unter ungünstigen Zeit- und Lebensumständen nachließ, gestaltete sie doch immer wieder psychologisch einfühlsam ein Netz von freundschaftlichen, zwischenmenschlichen Beziehungen in ihren Ver- und Entwirrungen, besonders unter Frauen.
LYDIA SCHIETH »Elisa o d e r das W e i b w i e es s e y n sollte« 1 Zur Analyse eines Frauen-Romanbestsellers
1 7 9 5 erschien bei dem Leipziger Verleger Heinrich Gräff der Roman Elisa oder das Weib, wie es seyn sollte. Das Titelblatt trug keinen Autorennamen. Der Adressatenkreis, in der Widmung mit »allen teutschen Mädchen und Weibern« bereits markiert, wurde in der Vorrede ausdrücklich bestätigt und signalisierte so einem versierten Lesepublikum Vertrautes: Einen der zahlreichen Frauenromane in der Tradition des Fräuleins von Sternheim, in dem eine Verfasserin ihre vor allem an junge Mädchen gerichteten Erziehungslehren in eine »gefällige« Handlung verpackt und zunächst ängstlich darauf bedacht ist, als Erfinderin eines vorbildlichen Frauencharakters nicht namentlich in Erscheinung zu treten. Doch auch als die unmittelbar nach dem Erstdruck der Elisa einsetzenden Fortsetzungen, Widerlegungen und »Seitenstücke« den Originalroman zu überwuchern drohten und die Beliebtheit des Textes bescheinigten, legte Heinrich Gräff den bereits mehrfach nachgedruckten Roman zwar immer wieder neu auf, überließ die Spekulationen um die Urheberschaft jedoch den Kritikern. 1799 erschien die vierte, mit sechs Kupfern verzierte Ausgabe; 1805 die siebte. Noch immer war nicht klar, wer den Roman verfaßt hatte. Die vom Verleger beigesteuerten Vorreden suggerierten lediglich, daß es sich um eine Verfassen« handle. Der Popularität des Textes schadete die betonte Schüchternheit der Autorin nicht; ebensowenig den Nachahmern, angesichts deren Produktivität die Rezensenten zu tun hatten, um den Überblick nicht zu verlieren. In Nicolais Rezensionsorgan Neue allgemeine deutsche Bibliothek richtete man für die E/is«-Titel Sammelbesprechungen ein.2 Zwar ließ die zum Teil höchst fragwürdige Qualität der »Seiten-« und »Gegenstücke« den »Geschwindschreiber aus der Unterwelt« 1 8 0 1 in der Satire Die ganze Familie wie sie seyn sollte räsonnieren: »Die Leute sollten sich doch ins Herz hinein schämen, dergleichen Zeug zu schreiben [...] Möchten [...] alle [...] Schriftsteller sich« im vorliegenden Text »[...] spiegeln, damit ich niemals wieder mit einem so wahnsinnigen Buche belästigt werde.«3 Der Wunsch des Schriftstellers Friedrich Schulze erfüllte sich jedoch erst 1 Leipzig Bey Heinrich Gräff 1795. Bereits die Erstausgabe existiert in verschiedenen Ausstattungen (Papierqualität, Widmung, typographische Verzierungen). Beim Exemplar der Sammlung Arenfels (UB Köln) fehlt die Widmung, das Exemplar der UB Leipzig enthält besondere typographische Verzierungen. Zitiert wird im folgenden nach: Elisa oder das Weib, wie es seyn sollte. Vierte verbesserte und mit sechs neuen Kupfern verschönerte Auflage, Leipzig 1799 (UB Regensburg). 2 Vgl. hierzu etwa die Sammelbesprechung in der Rubrik »Vermischte Schriften«, in der 8 Titel rezensiert werden (In: Neue allgemeine deutsche Bibliothek Bd. 74, 1802, S. 326-334). Insgesamt 26 ähnliche Titel nennt Goedeke: Grundriß, V. Teil; Schindel: Die deutschen Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts, übernimmt davon 19, Beaujean (Anm. 7) zitiert 11 Titel. Die Popularität des »Elisa«-Textes bleibt auf den Bereich der Prosa konzentriert. Zwischen 1795 und 1800 läßt sich weder ein Trauer- noch ein Lustspiel mit diesem Titel nachweisen. 3 Die ganze Familie, wie sie seyn sollte; ein Roman, wie er seyn kann; von Christian Heinrich Spieß, Geschwindschreiber aus der Unterwelt. Leipzig 1801, S. ziçf. Hinter dem Pseudonym verbirgt sich der Schriftsteller Friedrich Schulze.
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nach der Jahrhundertwende. A b 1805 ebbte die Modewelie rasch ab, die Mehrzahl der nun noch erscheinenden Titel waren Neuauflagen. Die Identität der Autorin war zu diesem Zeitpunkt noch immer unklar.
Zur Forschung Die literaturwissenschaftliche Forschung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts hat den £/isfl-Roman als Beispiel für den Frauenroman klassifiziert. Als Verfasserin wurde Caroline v o n Wobeser genannt, v o n der jedoch wenig mehr als die Lebensdaten bekannt waren. A l s »Spätgeburt« einer eher mit den Namen Sophie la Roche, Caroline v o n Wolzogen, Therese Huber verbundenen literarischen Gattung analysierte Christine Touaillon Elisa,4 die - soziologische Beurteilungskriterien außer acht lassend — Überraschung zeigte, daß dieser »rationalistische Gegenwartsroman« 5 an der Schwelle zum 19. Jahrhundert nochmals ein bereits überwundenes Frauenbild zu präsentieren vermochte. 6 Erst die Trivialliteraturforschung ordnete den Elisa-Roman
in die Reihe der in gro-
ßer Zahl auf dem Büchermarkt erschienenen moralischen Schriften der Spätaufklärung ein. A l s Beweis für die Verflachung des ursprünglich innovativen Moralkonzepts der Aufklärung untersuchte Marion Beaujean den Erfolgsroman im Zusammenhang mit der Popularisierung der Kantschen Morallehre im Bereich der Unterhaltungsliteratur des ausgehenden 18. Jahrhunderts. 7 Erstmals gerieten dabei auch seine Nachahmer unter literatursoziologischem Aspekt ins Blickfeld: »Dabei hat der Inhalt der so in Beziehung gesetzten Werke meistens gar nichts miteinander zu tun; nur die Spekulation, an dem Erfolg des Originals zu partizipieren, reizte zur Nachahmung.« 8 Genauere A n gaben zum Verleger, zur Tatsache, daß die Mehrzahl der Nachfolgeromane der Elisa in Leipzig entstanden, gibt die Trivialliteraturforschung nicht. Die auch für andere Erfolgsromane des späten 18. Jahrhunderts charakteristische Serienbildung wird jedoch in den sozialhistorischen Studien nicht zu den Besonderheiten, die den Elisa-Text
in-
nerhalb einer spezifisch weiblichen Romantradition charakterisieren, in Beziehung gesetzt. Im Zusammenhang mit der in den 70er Jahren einsetzenden intensiveren und kritischeren Beschäftigung mit weiblichen Ausdrucksmöglichkeiten in der Literatur 4 Vgl. Christine Touaillon: Der deutsche Frauenroman des 18. Jahrhunderts. Wien/Leipzig 1919, S. 294. Ähnlich urteilt ζ. B. Gustav Sichelschmidt: Liebe, Mord und Abenteuer. Eine Geschichte der deutschen Unterhaltungsliteratur. Berlin 1969. 5 Vgl. Touaillon: Der deutsche Frauenroman, S. 294 - 304. 6 Vgl. ζ. B. das Urteil Paul Kluckhohns, der von einer »literarisch wertlosen Erzählung« spricht, die »auf den platten und widerspruchsvollen Moralideen der Aufklärung« basiere. Paul Kluckhohn: Die Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und in der deutschen Romantik. 3. Aufl. Tübingen 1966, S. 160. Die von der Titelheldin propagierte Unterwerfung unter den Ehemann war selbst männlichen Germanisten eher peinlich, die beruhigt darauf verwiesen, dai? die parallel erscheinenden Frauenromane der Klassik (z. B. Caroline von Wolzogen: Agnes von Lilien) und der Romantik (bes. Sophie Mereau: Amanda und Eduard) ein wesentlich empanzipierteres Frauenbild zeichnen. 7 Marion Beaujean: Der Trivialroman in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 2. Aufl. Bonn 1969, S. 28f. 8 Ahnlich wie Marion Beaujean argumentiert z.B. Horst Kunze: Lieblingsbücher von dazumal. München 1973.
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der Goethezeit, rückte auch die um 1800 besonders in Journalen und Almanachen geführte Diskussion um die Geschlechterrollenbestimmung und ihre Literarisierung ins Blickfeld. Die unterschiedlichen Entwürfe von weiblicher und männlicher Erziehung im Entwicklungs- und Bildungsroman führten immer wieder auf den Elisa-Roman zurück, dessen Erfolg nunmehr als Beitrag zur Popularisierung dieses Konzepts besser einzuordnen war': »... eigene Bedürfnisse jeglicher Art werden dem Streben nach Vollkommenheit untergeordnet, deren Befriedigung wird dem vorbildlichen Weibe untersagt, denn zur Vollkommenheit gehört die Bereitschaft zur Unterwerfung, die Selbstverleugnung. Diese Rigidität in dem Entwurf einer vollkommenen Frau ist wohl einzigartig.«10 Der Originalroman bot genügend Material, das darin präsentierte restriktive pädagogische Konzept für die Erziehung der Frau kritisch zu analysieren. Die Gegenschriften und Nachahmungen werden von Antonie Schweitzer und Simone Sitte in ihrem Aufsatz Tugend — Opfer — Rebellion daher nicht berücksichtigt. Auch Helga Meise erklärt den Erfolg des Romans mit der Eindeutigkeit, mit der im Elisa-Text der Sinn weiblicher Selbstaufgabe legitimiert wird. 11 Daß die Erfinderin eines derartig affirmativen Frauenbildes ihr Inkognito nach dem Erscheinen ihres ersten Romans nicht aufgeben wollte, wird bei Meise ebensowenig problematisiert, wie bei anderen Vertreterinnen der Frauenliteraturforschung. Am Ende des 18. Jahrhunderts hatte sich die Gattung Frauenroman bereits so weit etabliert, daß das Beharren auf Anonymität nicht mehr allein mit den für schreibende Frauen geltenden Restriktionen zu erklären ist. Daß dies außerdem bei einem Text, der allein in den ersten fünf Jahren nach Erscheinen ein Dutzend Bearbeitungen initiierte, 11 in Rezensionsorganen genannt und vielfach parodiert wurde, ohne daß nähere Angaben über die Autorin durchsickerten, nicht selbstverständlich war, irritierte die
9 Vgl. hierzu Volker Hoffmann: Elisa und Robert oder das Weib und der Mann, wie sie sein sollten. In; Karl Richter u.a.: Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß. Festschrift für Müller-Seidel. Stuttgart 1983, S. 8 0 - 9 7 . Der materialreiche Beitrag zur Entwicklung der Geschlechterrollenbestimmung um 1800 analysiert die verschiedenen Ansätze in der Popularphilosophie und Pädagogik und ihre produktive Rezeption. Hoffmanns Beispiele konzentrieren sich auf den Umkreis der deutschen Klassik. Auf die Bearbeitungen und Fortsetzungen der Elisa geht Hoffmann nicht genauer ein. Vgl. hierzu auch Wulf Köpke: Die emanzipierte Frau in der Goethezeit und ihre Darstellung in der Literatur. In: Die Frau als Heldin und Autorin. Hg. v. Wolfgang Paulsen. Bern/München 1979, S. 9 6 - 1 1 0 . 1 0 Antonie Schweitzer und Simone Sitte: Tugend - Opfer - Rebellion. In: Frauen Literatur Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Hg. von Hiltrud Gnüg/ Renate Möhrmann. Stuttgart 1985, S. 1 4 4 - 1 6 5 . Ebd., S. 148t. Die Autorinnen widmen Wobesers »Lehrfigur« einen breiten Raum im Rahmen ihres Aufsatzes, der die von Frauen entworfenen Fiktionen in der Prosaliteratur des 18. Jhs. untersucht. 1 1 Helga Meise: Der Frauenroman. Erprobungen der »Weiblichkeit«. In: Deutsche Literatur von Frauen. Band 1. Hg. von Gisela Brinker-Gabler. München 1988, S . 4 3 4 - 4 5 2 . Ebd., S. 444. Auch Meise verweist auf das Motiv der Tugendprüfung in der Tradition Richardsons, das bei Wobeser »nur noch als Verinnerlichung des bürgerlichen Verhaltenskodex für Frauen« (Ebd.) aufscheint. Vgl. hierzu auch Sigrid Weigel: Die geopferte Heldin und das Opfer als Heldin. In: Stephan/Weigel: Die verborgene Frau. Berlin 1983, S. 138—152. 12 Von den Bearbeitungen und Fortsetzungen, die bei Schindel bzw. Goedecke aufgeführt werden, sind die Mehrzahl bis 1800 erschienen.
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Forschung bislang nicht weiter. D o c h scheint in der Mehrzahl der Untersuchungen der Hinweis auf die fehlenden emanzipatorischen Merkmale des Elisa-Romans
auch
als Ausrede zu dienen, die unzureichenden Informationen über die Autorin zu kaschieren. Niemand stellte bislang die Frage, warum es keine privaten b z w . vorgeblich privaten (ζ. B. brieflichen) Ä u ß e r u n g e n über die Autorin gibt? Wenn das im Roman verkündete Programm so erfolgreich war, warum gelang es keinem der Zeitgenossen, die Identität der Verfasserin nachzuweisen? Warum hatte diese solche Bedenken g e g e n eine Bekanntgabe ihrer Verfasserschaft? Wenn Frauen als Romanautorinnen g e g e n die Veröffentlichung ihres Namens Einspruch erhoben, so hat die neuere Frauenforschung gezeigt, daß dies als literarischer T o p o s z u werten ist. Die Autorinnen benutzten ihn entweder, um innerhalb des pädagogischen Diskurses das Bild der schüchternen, männlicher Protektion bedürftigen Weiblichkeit zu stilisieren oder aber, um auf diese Weise besonders emanzipatorische und anspruchsvolle Texte v o r männlicher Kritik z u schützen. Sollte das Versteckspiel um die Autorin daher nur verbergen, daß sich hinter dem Text in Wirklichkeit ein männlicher Verfasser versteckte, w i e dies auch schon v o n den Zeitgenossen vermutet wurde? In die Auseinandersetzung um das richtige Verhalten der »übermenschlichen« Elisa griff keine Frau ein, o b w o h l um 1800 Ä u ß e r u n g e n v o n Frauen z u Fragen weiblichen Verhaltens — das zeigen die Beispiele Therese Huber, Caroline v o n W o l z o g e n oder Caroline de la Motte-Fouqué — beispielsweise in Frauentaschenbüchem möglich w a ren. Warum haben die weiblichen Kollegen die a n o n y m bleibende Verfasserin der Elisa nicht zur Stellungnahme g e z w u n g e n ? Unter insgesamt 26 Texten aus der ElisaN a c h f o l g e wurden nur zwei v o n Frauen verfaßt. Die satirische, erotische und polemische Auseinandersetzung mit Elisa blieb eine reine Männersache. Funktionierte das Geschäft mit der Frauenrollenbestimmung nicht mehr ohne eine weibliche Bezugsperson? W a s bedeutet dies für die Etablierung der G a t t u n g Frauenroman? Wer hatte Interesse an dem Verwirrspiel? W a r die Verfasserin eine Erfindung des Verlegers, der auch die brieflichen Informationen an das Publikum weiterleitete? Vier A s p e k t e sind es v o r allem, die bei der Frage nach der Autorin v o n Elisa oder das Weib wie es seyn sollte bislang zu w e n i g berücksichtigt wurden. 1. D i e Quellenlage zur Biographie ist unzureichend b z w . unklar. 2. D i e Darstellung der Themen und die A n l a g e der Handlung des Romans orientiert sich z w a r formal an Mustern des Frauenromans, die Inhalte entsprechen aber nur zum Teil den A u s s a g e n des Frauenromans. 3. Der Verleger Heinrich Gräff ist nur bis 1805 in Leipzig nachweisbar. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde der Elisa-Text
sieben M a l aufgelegt. M i t dem Ende der Buch-
handlung Gräff endet auch die Popularität der Elisa. 4. D i e Mehrzahl der Bearbeitungen und »Seitenstücke« zur Elisa ist in Leipzig entstanden und wurde v o n Männern geschrieben. Der Diskurs der Männer über »das Weib w i e es seyn sollte« nimmt lediglich Bezug auf die Titelheldin, nicht aber auf eine sich dahinter verbergende Autorin.
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ι. Weibliche Ängstlichkeit oder bewußte Verschleierung? Die Autorenfrage 1825 entzog C. W. O. A. von Schindel dem Rätselraten um die Verfasserin des ElisaRomans den Boden. In seinem Schriftstetterinnenkxikon führt er Caroline von Wobeser als Autorin auf. 13 Er nennt zunächst die Lebensdaten: Geboren 1769 in Berlin als Tochter des preußischen Kammerpräsidenten von Rebeur, 1797 verheiratete von Wobeser, gestorben 1807. Diese Angaben finden sich auch in anderen biographischen Nachschlagewerken. Damit war der Fall für die Literaturwissenschaft gelöst, die sich erst im Laufe des 20. Jahrhunderts wieder für den Text zu interessieren begann. Nicht aber für dessen mögliche Verfasserin. Raßmann, auf den sich Schindel im Vorwort seines Lexikons ausdrücklich beruft, gibt als Sterbeort Berlin an, was Schindel nicht bestätigt.14 Die über Raßmann hinausgehenden Informationen verdankt Schindel nicht, wie in vielen anderen Fällen, der Schriftstellerin selbst oder ihrer Familie. Er beruft sich vielmehr auf Quellen des Publizisten Christian August Fischer. Weder die Tatsache, daß es sich bei dem häufig unter Pseudonym schreibenden »Verfasser schmutziger Schriften«,15 Christian August Fischer, um einen Informanten handelte, der ebenfalls mit einem Text in die Reihe der Nachahmer des £/is«-Romans gehört, machte die Forschung stutzig, noch die enge Verbundenheit Ffschers mit dem Verleger Heinrich Gräff. 16 In dem sehr allgemein gehaltenen Artikel Schindeis sind die von Fischer gegebenen Informationen im einzelnen nicht ausgewiesen. Sie wurden von der Literaturwissenschaft nicht nachgeprüft, da der Efee-Roman nach 1830 nicht mehr rezipiert wurde. 17 1 3 Da Sophie Ludwig im gleichen Jahr ebenfalls bei Heinrich Gräff publizierte, wird sie häufig als Autorin des »Elisa«-Romans genannt. Offensichtlich führte der Separatdruck von Henriette Hohenstamms Geschichte zur Verwechslung. So nennt z. B. das »Handbuch Für Leih-bibliotheken oder Anleitung zur Bearbeitung eines Catalogs«, Karlsruhe/Baden von 1833 Sophie Ludwig als Autorin des »Elisa«Romans, von dem es ausdrücklich heißt, er enthalte »viele Kupfer«. (Zit. nach: Die Leihbibliotheken der Goethezeit. Hg. v. Jäger/Martino/Wittmann. Hildesheim 1979, S. 240). 14 Vgl. Raßmann: Literarisches Handwörterbuch der verstorbenen deutschen Dichter und zur schönen Literatur gehörenden Schriftsteller. Leipzig 1826, S. 436. 1 5 Touaillon: Der deutsche Frauenroman, S. 582. 16 Ausführlich setzt sich Touaillon Der deutsche Frauenroman, S. 581—583, mit dem Ehemann der Schriftstellerin Caroline Auguste Fischer auseinander. Daß Schindel hier keine Bedenken hatte, verwundert sehr. Der Verfasser erotischer Serienromane führte ein unstetes Doppelleben, profilierte sich als entschiedener Gegner der Frauenemanzipation und hatte zeitweise große Existenzprobleme. Seine von vielen amtlichen Stellen beurkundete Unzuverlässigkeit läßt ihn als Informant fragwürdig erscheinen. Vgl. hierzu z. B. die Verlagsanzeige Gräffs in der »Zeitung für die elegante Welt«, in der er z.B. den Roman »Der Hahn mit neun Hühnern« (Leipzig 1800) ankündigt. Unter dem Pseudonym Althing verfaßte Christian August Fischer Texte wie z. B.: Vorlesung über die Küsse, Dresden: bey Gerlach 1796. Vgl. hierzu M. Christoph Johann Gottfried Haymann: Dresdens theils neuerlich verstorbne theils ietzt lebende Schriftsteller und Künstler wissenschaftlich classifizirt nebst einem dreyfachen Register. Dresden 1809, S. 458. Dort wird der Verfasser als Privatier beschrieben, der im May 1803 als Magister nach Jena ging, d. h. daß er zwischenzeitlich auf die Einkünfte aus seiner schriftstellerischen Arbeit angewiesen war. 1 7 Daß es sich beim Erfolg des Romans um ein zeitlich begrenztes Phänomen handelt, beweist auch die Tatsache, daß bei Sophie Pataky (Hg.), »Lexikon deutscher Frauen der Feder« von 1840, das eine Vielzahl älterer Texte nennt, soweit sie noch rezipiert wurden, Caroline von Wobeser nicht mehr aufgeführt ist.
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In Schindeis Lexikonartikel irritieren ζ. B. auch die Aussagen zur Erziehung, die die Autorin genossen habe: »in einem Alter von 8—10 Jahren fing sie schon an alles, was einiges Interesse hatte, in französischer und deutscher Sprache, weil ihr Vater ihr durchaus hierin keine Schranken setzen wollte, zu lesen«. Nur auf den ersten Blick wirkt diese Darstellung eines weiblichen Bildungsweges beeindruckend. Wenn der Vater sich als Beamter hugenottischer Herkunft18 identifizieren läßt, erscheint sein Erziehungsprogramm für die Tochter, mißt man es an anderen, durchaus nicht ungewöhnlich. Verglichen etwa mit dem Fächerkanon, dem sich Therese Huber, Sophie von La Roche, Meta Liebeskind, Johanna Schopenhauer zu unterwerfen hatten, wirkt Vater Rebeurs Erziehungskonzept wenig konkret. Weder über bekannte Lehrer noch über benutzte Literatur wird etwas berichtet. Daß sich eine Berliner Beamtentochter ihr Wissen und die Argumentationsstrategien, die sie in ihrem Roman anwendet, im Selbststudium angeeignet haben soll, scheint wenig plausibel. Immerhin bescheinigt ihr Christine Touaillon, daß sie »eine klardenkende, vorurteilslose Frau« gewesen sei, die »scharf beobachtet und manchmal bemerkenswerte Gedanken zur Verbesserung der ehelichen Verhältnisse« entwickle.19 Schindeis Erwähnung, »einige vermischte moralische und naturhistorische Aufsätze« hätte man nach ihrem Tod aufgefunden, soll wohl auch lediglich ihre ansonsten nicht nachprüfbare literarische Kompetenz betonen. Wenig aussagekräftig ist die von Schindel gegebene Charakteristik, die stereotyp auch bei anderen Autorinnen wiederkehrende Formeln zu einem positiven Charakterbild zusammenfügt: »Mit einem lebhaften Temperament verband sie ein tieffühlendes Herz, für jede weibliche Tugend empfänglich und stets bereit, selbst mit eigner Aufopferung, zum Glück und Wohl Anderer beizutragen.«20 Der biographische Abriß endet mit dem für schreibende Frauen des 18. Jahrhunderts typischen Betonung der Erfüllung ihrer weiblichen Rolle: »Ihr Verdienst als Schriftstellerin wurde von dem weit übertroffen, welches sie in der kurzen Zeit ihres Lebens als Gattin und Mutter besaß.«21 Angaben zur Zahl der Kinder fehlen. Die Information über die Rolle als Mutter ließ sich aber auch aus der Vorrede zur dritten Auflage des Hisa-Romans entnehmen. Die konkreten Ausführungen Schindeis (insgesamt 4*Λ von 5 Seiten), soweit sie sich nicht auf Meusel und Raßmann berufen, konzentrieren sich auf die verschiedenen Bearbeitungen und Fortsetzungen des E/is«-Romans. Geht man nun zunächst davon aus, daß die Informationen, die Schindeis Artikel, beruhend auf den im einzelnen nicht zu identifizierenden biographischen Angaben Fischers gibt, den Tatsachen entsprechen, so läßt sich ein Lebensbild Caroline von Wobesers höchstens im Rückgriff auf den Ehemann rekonstruieren.22 In der Vorrede zur dritten Auflage des Romans hatte es die Verfasserin abgelehnt, ihr Inkognito zu lüf18 Vgl. die Angaben im: Stammbuch des blühenden und abgestorbenen Adels in Deutschland. Hg. von einigen deutschen Edelleuten. Band 3, Regensburg 1865, S. 216. 1 9 Touaillon: Der deutsche Frauenroman, S. 297. 20 Schindel, II, S. 437. Ähnliche Formulierungen verwendet Schindel z.B. bei Sophie Helmine Wahl: »Ihre Erziehung [...] prägte [...] ihrem jugendlichen Herzen den Grundsatz ein, daß reine Unschuld und Tugend allein die Bedingung eines glücklichen Lebens sey, und nur aus Büchem kannte sie die Macht der Sinnlichkeit [...]«. (ebd. Teil II, S. 395). 2 1 Schindel, II, S. 43 7Í. 22 Die Angaben Schindeis beruhen auf Meusel bzw. Raßmann.
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ten. »[...] in dem Zirkel, in welchem ich lebe, würde die Nennung meines Namens als eine Anmaßung gelten, die mir einen Theil der Achtung und des Zutrauens rauben könnte, deren ich izt genieße [.. ,]«.23 Die Formulierungen, mit denen die sich verbergende Verfasserin ihrem Verleger Rechenschaft über ihre Intention beim Abfassen des Textes gibt, orientieren sich exakt an den seit Sophie La Roches Roman Geschichte des Fräuleins von Sternheim benutzten Legitimationsformeln. Das Publikum wurde davon durch den Verleger in Kenntnis gesetzt, der aus einem Brief der Autorin zitiert und das dort abschließend angeführte Argument, eine fortgeschrittene Schwangerschaft hindere sie an einer nochmaligen Überarbeitung des Textes, besonders betont. Unmittelbar nach Erscheinen des Romans, so die Biographie, hatte die Tochter eines hohen Berliner Verwaltungsbeamten geheiratet. Der Ehemann, ein preußischer Offizier, stammt aus einem angesehenen, seit 1270 nachgewiesenen Adelsgeschlecht. Die einschlägigen Biographien verzeichnen eine Vielzahl militärischer Auszeichnungen im Dienst des preußischen Königshauses, verweisen auf Ordnungsliebe und Sittenstrenge. Das bedeutete also gesellschaftlichen Aufstieg, den sich eine Jungverheiratete nicht durch literarischen Dilettantismus erschweren wollte. Doch verwundert es dann, daß eine Neuauflage des Romans zustandekam und der Verleger angeblich aus einem Schreiben der Autorin zitieren durfte. Familienrücksichten und die besonders prekäre Situation einer werdenden Mutter schränkten den Bewegungsspielraum der Ehefrau nochmals ein, so suggeriert die Biographie. Doch auch nach dem frühen Tod Caroline von Wobesers bereitete die Familie den Spekulationen um die Autorin kein Ende, obwohl der Text, wie dies bei Frauenproduktionen häufig die Praxis ist, bewußt den Terminus »Roman« umgeht und das Abfassen didaktischer Frauenzimmertexte auch in konservativen Kreisen gebilligt wurde.*4 Caroline von Wobeser gehörte keinem literarischen Zirkel an, sie war weder durch Geburt, Heirat oder Verwandtschaft mit einem berühmten männlichen Zeitgenossen verbunden. Dennoch hätte sie nach ihrem ungewöhnlichen Erfolg ihre Anonymität kaum als ein so gut gehütetes Geheimnis bewahren können.25 Verwunderlich ist auch, daß Schindel, der in seinem Vorwort ausdrücklich gegen die Anonymität Stellung bezieht, sich in ihrem Fall mit vagen Informationen zufriedengab. Daß ausgerechnet Christian August Fischer, dessen Pamphlet Ueber den Umgang
23 Am ausführlichesten sind die Angaben bei Schindel, Bd. II, S. 4 3 6 f t Vgl. auch Friedrich Rassmann: Literarisches Handwörterbuch der verstorbenen deutschen Dichter ... Leipzig 1826, S. 436/VIII. Abschnitt, sowie die Angaben zur Familie von Wobeser im: Stammbuch des blühenden und abgestorbenen Adels in Deutschland. Hg. von einigen Edelleuten, Bd. 4, Regensburg 1865, S. 216; außerdem: Neues allgemeines Dt. Adelslexicon, Hg. von E. H. Kneschke. Bd. 9, Leipzig 1870, S. 594; sowie die Angaben in der ADB, Bd. 43. 24 Allerdings wird der »Elisa«-Text eindeutig als Roman rezipiert. Lediglich der Rezensent der »Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek« betont die Vorteile, die der Text erziehenden Frauen bietet. Dennoch wird »Elisa« z. B. im »Neuen Teutschen Merkur« nicht erwähnt, dessen Herausgeber Wieland der Damenwelt adäquate Unterhaltungsliteratur zu präsentieren wußte. 25 Lediglich die »Vielschreiberin« Benedikte Naubert konnte ihr Inkognito lange Zeit behaupten. Doch treten in ihrem Fall andere Aspekte hinzu: die Sorge, eine so umfassende Produktion könne die männlichen Kollegen ernsthaft verärgern, die eindeutige Zuordnung der Mehrzahl ihrer Texte zum Genre Roman und die gründliche Quellenarbeit, die auf historische Fachkenntnisse und Zugang zu Archiven verwies.
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der Weiber mit Männern. Ein notwendiger Arthang zu der bekannten Schrift Elisa oder das Weib wie es seyn sollte. Zweyter Theil16 auf dem Erfolg des Originalromans basierte, als zuverlässiger Informant genannt wird, verwundert ebenso wie dessen vorgebliche Verschwiegenheit. Warum hat der Ehemann von Karoline Auguste Fischer, der Pseudonyme und Anonymität als Werbestrategie einzusetzen verstand, sein Wissen nicht kommerziell genutzt? Viel deutet darauf hin, daß die Autorin des Romans Elisa oder das Weib wie es seyn sollte nur als männliche Konstruktion existierte. Ein Konstrukt, an dem sowohl der Verleger als auch Schindeis Kronzeuge Fischer maßgeblich beteiligt waren. Dafür sprechen bei genauer Lektüre auch eine Reihe von inhaltlichen Besonderheiten.
2. Der Text und seine Besonderheiten Über die Lauterkeit der Absicht, den eigenen Geschlechtsgenossinnen das im Sinne der Männer adäquate Verhalten nahebringen zu wollen, legitimierte sich der Frauenroman, der den schriftstellerischen Dilettantismus weiblicher Verfasser bestätigt. Dieser muß sich explizit als solcher zu erkennen geben. In der Widmung und in der Vorrede des Romans, die sich an die weibliche Leserschaft richten, wird der Rahmen, innerhalb dessen die Frauen agieren durften, abgesteckt. Bescheidenheitstopos und die Legitimationsformel von der natürlichen Bestimmung der Frau als Gattin, Hausfrau und Mutter, sind besonders dann wichtig, wenn die Autorin selbst das Wort ergreift.27 Einen Dialog unter Frauen verhindert in Elisa oder das Weib, wie es seyn sollte bereits der Einleitungssatz der Vorrede: »In einem Jahrhundert, in welchem Kultur, Aufklärung und Verfeinerung zu einem so hohen Grade gestiegen sind, sollte man natürlicherweise den Einfluß davon auch auf das andere Geschlecht bemerken.« (Herv. L. S.)28 Bereits in der nur ein Jahr später erschienenen Neu-Auflage wird die direkte Verleugnung des eigenen Geschlechts, die sich in dieser Form in keinem anderen Frauenromantext des 18. Jahrhunderts findet, auffallend deutlich zurückgenommen. Nun heißt es in der zweiten Vorrede: Ich übergebe also meinen Mitbürgerinnen Elisa noch einmahl in derselben Gestalt. S e l b s t ein W e i b , w ü n s c h e ich, wahre Tugend [...] immer mehr unter m e i n e m G e s c h l e c h t e verbreitet zu sehen [...] mögen edle Männer es sich zur Pflicht machen, durch ihr Verhalten die Weiber zur Tugend zu erziehen, jedes edle Weib wird ihnen danken! Und die V e r f a s s e rin der Elisa wird gem ihr Buch der Vergessenheit übergeben, wenn sie hoffen darf, daß das System, welches Elisa befolgte, in den Herzen u n s e r e r meisten Weiber eingeprägt ist (Herv. L. S.).1»
26 Leipzig bey Heinrich Gräff 1802. Vgl. hierzu z. B. Anita Runges Nachwort in Caroline Auguste Fischer: Die Honigmonate. 2 Teile. Nachdruck der Ausgabe von Posen und Leipzig 1802, Hildesheim/Zürich/New York 1987, S. 201—262. 27 Vgl. z.B. die vorsichtigen Formulierungen Sophie von La Roches in der Vorrede zur Zeitschrift »Pomona«. 28 Elisa oder das Weib wie es seyn sollte. Vorrede zur 1. Auflage. 29 Ebd.
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Wie viele Leserinnen scheint auch der Rezensent der Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek von der merkwürdigen Präsentation der Autorin nicht weiter irritiert worden zu sein. Er attestiert der Heldin, nicht der Verfasserin, große didaktische Fähigkeiten.30 Auf die Vorrede geht er nicht detailliert ein. So wenig wie nach ihm alle Literaturwissenschaftler, die sich an der Formulierung im Vorwort schon deshalb nicht stießen, weil sie in der Regel eine der zahlreichen späteren Auflagen verwendeten. Doch auch die im £//s«-Roman abgehandelte Themenpalette wirkt nur auf den ersten Blick konform. Die ausführlich kommentierte weibliche Erziehung wird nicht belohnt. Der Roman gipfelt nicht, wie z. B. das Fräulein von Siemheim, Agnes von Lilien oder Familie Hohenstamm in einem utopisch anmutenden Schlußtableau. Obwohl der mit allen Topoi des Frauengenres versehene Text die Vorbildlichkeit der Heldin betont, muß sie am Ende, vergleichbar etwa Sara Seidorf, Maria, oder der Tochter der Amtmannin von Hohenweiler, Hannchen, sterben, ohne, daß für die Leserinnen erkennbar eine Übertretung der für Frauen verbindlichen Tugendgesetze vorliegt, die das Abbüßen einer Schuld notwendig macht. Damit verfehlt der Text seine wichtigste Aufgabe. Zentrales Thema des deutschen Frauenromans ist das Problem der Konvenienzehe, die vorsichtige aber beharrliche Polemik der Schriftstellerinnen gegen die Heiratspolitik des Adels und weiter Kreise des Bürgertums. Wenn auch die im literarischen Betrieb etablierten Autorinnen sich in ihren Texten nicht offen für ein weibliches Selbstbestimmungsrecht beim Eheschluß aussprachen, so zeigte die Anlage der Protagonistinnen deutlich, wo die Sympathien der Verfasserinnen lagen. Wird eine Heldin gegen ihren Willen verheiratet, wie dies ja mit Elisa geschieht, und hatte sie zuvor einen ihrem Charakter und Stand entsprechenden jungen Mann kennengelernt, auf dessen Liebe sie nun verzichten muß, so wurde die Figur von einer Autorin so angelegt, daß sie in der Ehe an ihrer Pflichterfüllung und an der sexuellen Frustration stirbt. Von Sophie La Roche bis Johanna Schopenhauer stellt die an ihrer Ehe leidende, gesellschaftlichen Rücksichten geopferte Frau, einen literarischen Topos dar, mit dem die Autorinnen eine zwar verhaltene, aber dennoch immer präsente Kritik äußern. Elisa dagegen ist von einer seelischen Robustheit, die für die Heldinnen weiblicher Autoren ungewöhnlich ist. Elisa hat weder am Anfang der Ehe (vgl. etwa Benedikte Nauberts Amtmannin von Hohenweiler) ihren Ehepartner geliebt, noch hat das Ehepaar Wallenheim zu einer für beide Teile befriedigenden Partnerschaft gefunden. Wallenheims erotische Abenteuer, seine finanziellen Eskapaden und die permanente Demütigung der Ehefrau (Entzug des Sorgerechts für den Sohn) lösen bei Elisa auch keine Reaktionen aus, die etwa das Mitleid der Leserinnen provozieren. Immer wieder weisen Interpreten des Textes darauf hin, daß Elisas Anpassung bis zur Selbstverleugnung reicht. Die Unterwerfung der Frau unter die Herrschaft ihres Ehemannes wird im Roman in zahllosen Einzelepisoden variiert. Die Bevormundung reicht, ähnlich wie bei der Amtmannin von Hohenweiler, in traditionelle Herrschaftsbereiche der Frau. Daß sich die Ehefrau nicht dagegen auflehnt, sondern in jedem Fall alle ihre Bemühungen darauf abzielen, den Ehemann zufriedenzustellen, ist nicht ungewöhnlich. Die Unglaubwürdigkeit des £/is«-Entwurfs liegt vielmehr darin, daß in
30 Dies gilt z. B. für den detailliert beschriebenen Tagesablauf, den Elisa für Tochter Henriette einführt.
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ihm das Ideal, das die Titelfigur verkörpert, nicht mit einem anderen Weiblichkeitsbild kontrastiert wird. 3 1 In der Unterweisung der Tochter sorgt Elisa zudem für die Tradierung dieses Rollenverständnisses: Du, meine Henriette, bist vollkommen fähig, Gattinn, Mutter und Hausfrau zu werden [...]. Du [...] näherst dich [...] dem Alter, wo des Frauenzimmers erste Blüte schon vorüber ist, und doch mußt du deinem jugendlichen Ehemanne jetzt reizender erscheinen, als in den ersten Tagen eurer Liebe. Um den Mann zu fesseln, muß das Weib sich nur bestreben, seine Achtung zu erlangen, und seine Liebe zu erhalten; allein des Jünglings Gattinn muß bey diesem noch seine Begierden erwecken [.. .].32 Daß die mütterlichen Erfahrungen so unreflektiert an die Tochter weitergegeben werden, entspricht nicht der Schreibpraxis der im Bereich des Frauenromans etablierten Autorinnen. Ungewöhnlich sind die Ratschläge auch deshalb, weil sie den erotischen Bereich einer Ehe betreffen. Diese werden im Frauenroman nur v o n männlichen Protagonisten erteilt. Väter, männliche Bezugspersonen der Heldin (Theologen, Verwandte, Gelehrte) sollen die Tatsache verschleiern, daß sich hier eine Frau auf ein Gebiet begibt, das eindeutig »Männersache« bleibt. Alle Texte, die von Frauen verfaßt, diese Restriktion nicht befolgen, werden nicht rezipiert. Selbst in der Anonymität darf die Autorin die Tabugrenzen nicht überschreiten. 33 Einzig die Männer durften in der Tradition Samuel Richardsons genüßlich die erotische Phantasie ihrer Leserinnen stimulieren. Die in der Forschung immer wieder zitierte Szene, in der Elisa Herrmanns ausführlich beschriebene Annäherung mit den Worten »Laß uns fliehen, die Tugend verläßt uns!« abweist, fand daher auch prompt Beachtung bei den Schriftstellerkollegen. Auch Friedrich Schulze spekulierte in seiner Satire Die ganze Familie wie sie seyn sollte über die Frage, ob die Heldin nun verführt worden sei oder nicht: Elisa's Kopf sank während der Zeit auf Roberts Brust [...] E1 i s a. Sie wissen gewiß nicht, lieber Robert, wie mir jetzt wird? [.. .1 Grade so wird mir, wie damals, als Herrmanns Küsse und Umarmungen feuriger wurden. R o b e r t . Wahrhaftig? Aber wie wurde Ihnen denn da eigentlich? Ich hätte gern eine recht detaillirte Beschreibung dieses Zustandes. Elisa. Sie begreifen wirklich etwas schwer. Genug, ich stand damals eilig auf und sagte: Herrmann laß uns fliehen, die Tugend verläßt uns, und dann flohen wir. Ob wir das jetzt wohl auch thun, lieber Robert? (Sie umschlingt ihn fester.) »Ja wohl« rief Herr Robert, »was sollte uns denn abhalten?«34 Im Originaltext verhält sich Elisa genauso wie die Heldinnen Sophie La Roches oder Caroline v o n Wolzogens. Sie rettet sich v o r einem drohenden Fehltritt in die Obhut einer weiblichen Vertrauten. Der Liebe zu Herrmann entsagt Elisa bereits v o r ihrer Verheiratung. Daher mußte ihr Tod am Ende des Romans die Zeitgenossen irritieren.
3 1 Vgl. hierzu z.B. Benedikte Naubert: Die Amtmannin von Hohenweiler. Leipzig 1788. Vgl. hierzu auch C. A. Fischer: Die Honigmonathe. Vgl. hierzu Lydia Schieth: Die Entwicklung des deutschen Frauenromans im ausgehenden 18. Jahrhundert. Frankfurt/Bern/New York 1987, S. i4off. 32 Elisa, S. 333t. 33 Vgl. hierzu Marion Beaujean: Das Bild des Frauenzimmers im Roman des 18. Jahrhunderts. In: Wolfenbüttler Studien zur Aufklärung. Hg. v. Günter Schulz, Band 3,1976, S. 9—28. 34 Die ganze Familie, wie sie seyn sollte. Ein Roman wie er sein kann, S. 5of.
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Dafür gab es noch andere Gründe. Im »Vorbericht zu der dritten Auflage« zitiert der Verleger aus einer brieflichen Stellungnahme der Verfasserin zur Konzeption der Titelfigur: Man hat es Unrecht gefunden, daß die sterbende Elisa Zweifel gegen die Unsterblichkeit der Seele hegte. Es war meine Absicht, daß reine Moral die Bewegungsgründe zu Elisa's Handlungen ausmachte, und keine Grundsätze der positiven Religion [...] Warum sollten wir aber das Nachdenken der Weiber nicht auch auf diesen Gegenstand leiten, da es für sie eben so wichtig ist, hier eine ruhige, feste Überzeugung zu erhalten.35
Die Einmischung in den theologischen Diskurs empfanden die Kritiker selbst in einem Werk als unpassend, das zeigen will, »was die Weiber leisten sollten«. Die intellektuelle Selbsterkenntnis der Frau ist nicht gefragt. Gefordert wird vielmehr eine deutliche Einbindung in die Autoritätsstrukturen kirchlicher Institutionen, dargestellt als moralische Unterweisung durch männliche Autorität. Elisas selbständige Auseinandersetzung mit religiösen Themen suggerierte den Leserinnen eine Stufe der Aufklärung, die nur Männern vorbehalten blieb. Selbst die mit Traditionen der Aufklärung vertrauten Schriftstellerinnen wie Therese Huber oder Friederike Helene Unger wagten nicht einmal unter Pseudonym die religiöse Emanzipation der Frau zu propagieren. Auch dies ist ein Indiz für einen männlichen Autor. Die Auseinandersetzung mit zeitgeschichtlichen Fragen stellte ein weiteres Tabu des Frauenromans dar. Daher verwundert des weiteren die explizite Anrede der »Mitbürgerinnen« in der ersten Vorrede des Elisa-Textes. Die Frau, so der Tenor der Vorrede, sehr energisch, habe wichtige Verpflichtungen, denen sie sich nicht entziehen darf: »Sie sind ein Mitglied der großen Kette, an welcher alles zum Guten mitwirken soll! Ihr Platz ist nicht unwichtig, füllen Sie ihn aus!«'6 Zusammen mit dem Titel Das Weib, wie es seyn sollte. Allen teutschen Mädchen und Weibern gewidmet kommt dem Text damit auch eine aktuelle politische Lesart zu. Angesichts demonstrierender, plündernder, ja mordender Frauen im Paris der Revolutionszeit schien es vielen Verlegern und Redakteuren an der Zeit, die deutschen Frauen an ihre wahre Bestimmung zu erinnern. So warnte etwa das Journal des Luxus und der Moden die Leserinnen vor der schrecklichen französischen Mode der politischen Agitation. Die Sphäre der Frauen sei die private, nicht die öffentlich-politische. Elisa betritt daher ein gefährliches Terrain: »Den schönen Traum von Tugend, Freyheit, Gleichheit unter allen Menschen, träumte sie zwar auch [...] allein dieses wurde zu ihrer Zeit so viel gesagt und geschrieben, ohne daß die, welche es am häufigsten sagten, bey sich selbst diese große Verbesserung anfingen.«37 Das öffentliche Nachdenken über die sozialen Umwälzungen in Frankreich und die Auswirkungen auf Deutschland blieb Sache der Männer. Frauen durften höchstens emotionale Betroffenheit in Briefen oder Tagebüchern artikulieren. Selbst harmlose politische Äußerungen, dies zeigt etwa Goethes Rüge an die Adresse der Berliner Verlegersgattin Friederike Unger, waren im Frauenroman nicht erwünscht. Daß eine junge, noch unerfahrene Frau das Risiko einging, sich zur Französischen Revolution zu äußern, scheint daher sehr unwahrscheinlich.
3 5 Elisa,Vorrede S. X. 36 Ebd., S. VIII. 37 Elisa, S. 8. Vgl. zur Beurteilung des Revolutionsgeschehens die Darstellung bei Touaillon: Der deutsche Frauenroman, S. 335.
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3 . Weibliches Selbstverständnis oder kommerzielles Interesse? D e r R o m a n und sein V e r l e g e r In der Zeit v o r 1 8 0 0 konnten schreibende Frauen ohne männlichen Beistand, der zunächst als Herausgeber eine Vorrede zum Text beisteuerte und die Veröffentlichung des Werkes durch Bereitstellung bzw. Vermittlung des geeigneten Mediums bestimmte, keine Texte publizieren. Die zaghaften Emanzipationsbemühungen Sophie La Roches, Caroline von Wolzogens und Therese Hubers hatten Erfolg, da sie in einem von Männern definierten Bereich der Literatur die Möglichkeit der literarischen Selbstverwirklichung erhielten. Und weil ihre Vorbildlichkeit und ihre weibliche Kompetenz als Ehefrauen, Hausfrauen und Mütter v o n Männern garantiert wurde. Der Frauenroman entwickelte sich so rasch zu einer Domäne der Frauen. 38 In seinem Rahmen begannen sich die Frauen über die Männer zu verständigen und Strategien zur Emanzipation zu entwickeln - und seien es nur die des eigenen beruflichen Erfolgs. Diese berufliche Selbständigkeit der Frauen wurde schon bald v o n einer Reihe geschäftstüchtiger Verleger wohlwollend gefördert, die, w i e Heinrich Gräff, den Markt für lesende Frauenzimmer entdeckt hatten. In den Vorreden zu den Neuauflagen des £/ise-Romans wußte er das Interesse an der Person der Autorin, die ihrem Publikum noch immer unbekannt war, geschickt zu vermarkten: Um diesem musterhaften Buche, welches bereits in tausend Händen ist, den möglichsten Grad von Vollkommenheit zu geben, schrieb ich [...] an die verehrungswürdige Verfasserin [...] zugleich forderte ich sie abermals auf, mir zu erlauben, doch izt ihrem Buche ihren Namen Vordrucken zu dürfen, weil ein großer Theil ihrer Leser und Leserinnen wünschten, die Verfasserin der Elisa wenigstens dem Namen nach zu kennen.39 Gräff reproduzierte damit das Muster, nach dem sich die Verfasserinnen deutscher Frauenromane, seit der Geschichte des Fräuleins von Sternheim männlicher Autorität zu versichern hatten. Ahnlich wie Christoph Martin Wieland in seiner Vorrede aus einem Brief der Autorin zitierte, veröffentlichte auch Gräff Passagen aus einem Antwortschreiben der Verfasserin der Elisa. Bescheiden weist diese darin auf die Kompetenz ihres Verlegers hin: »[...] ich würde alsdann meinen Versuch Ihrer Prüfung überlassen, und es würde Ihnen immer frei stehen, ob Sie diesen Anhang der Elisa b e y f ü g e n wollen oder nicht«. 4 " Die Stilisierung der für die Legitimation einer Schriftstellerin notwendigen Zurückhaltung, die in der betonten Ängstlichkeit der Verfasserin ihre Identität preiszugeben gipfelte, wies dem Verleger eine exklusive Rolle bei der Weitergabe v o n Informationen an das Publikum zu. In dem er so in chevaleresker Verbeugung v o r der unbekannten Verfasserin der Elisa, zur Absicherung ihres Geheimnisses beiträgt, versteht er es, gleichzeitig das Interesse an ihrer Person wachzuhalten und den kommerziellen Erfolg zu forcieren. 41 38 39 40 41
Vgl. hierzu Schieth: Die Entwicklung des deutschen Frauenromans, S. 2 8 - 4 9 . Elisa, Vorbericht des Verlegers zu der dritten Auflage, S. IX Ebd., S. XV. Die Biographie des Leipziger Verlegers Heinrich Gräff ist nur schwer zu rekonstruieren. Zwar läßt sich für die Zeit von 1790 bis 1805 ein Leipziger Buchhändler Graeff (oder Gräff) aus den örtlichen Verzeichnissen identifizieren, doch wird dabei nicht deutlich, ob es sich nicht möglicherweise um den Bruder Hermann Gräff, der ebenfalls als H. Gräff erscheint bzw. um
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D e m weiblichen L e s e p u b l i k u m g e g e n ü b e r w u ß t e sich G r ä f f als Verbreiter m o r a lisch-didaktischer Literatur darzustellen. Er s u g g e r i e r t e den bürgerlichen u n d a d e l i g e n M i t t e l s c h i c h t e n E n t s c h e i d u n g s h i l f e bei der A u s w a h l g e e i g n e t e r Lektüre f ü r die heranw a c h s e n d e n T ö c h t e r 4 2 u n d U n t e r s t ü t z u n g bei den B e m ü h u n g e n , einen g o l d e n e n M i t t e l w e g z w i s c h e n zu a n s p r u c h s v o l l e r u n d zu »hausbackener« Erziehung einzuhalten. D i e V o r r e d e d e r Elisa g r e i f t diesen A s p e k t des V e r l a g s p r o g r a m m s auf, w e n n d a s Lesepublikum nach o b e n u n d unten a b g e g r e n z t wird: »Die Erziehung, w e l c h e die W e i b e r b e k o m m e n , kann in z w e y K l a s s e n getheilt w e r d e n : in der einen w i r d alles auf d a s s c h i m m e r n d e gelenkt; da l e m t das M ä d c h e n die g e i s t i g e n u n d körperlichen G a b e n a n w e n d e n , nur u m zu g l ä n z e n [...] In dieser K l a s s e findet m a n a n g e n e h m e G e s e l l schafterinnen [...] In d e r Z w e y t e n K l a s s e w i r d das W e i b zur H a u s f r a u gebildet: da findet m a n g u t e Wirthschafterinnen [.. .]«.43 D e n A d r e s s a t e n k r e i s seiner B ü c h e r w u ß t e G r ä f f auch in d e n w i c h t i g e n Publikat i o n s o r g a n e n gezielt anzusprechen u n d dabei gleichzeitig die b e s o n d e r e Intention des M e d i u m s zu berücksichtigen. Seine K u r z r e z e n s i o n e n u n d V o r a n k ü n d i g u n g e n in Bertuchs Journal des Luxus und der Moden
w a r b e n z. B. mit d e m Etikett »Frauenzimmerlek-
türe«. 44 D i e s e s P r o g r a m m b e d e u t e t e den Verzicht auf die A n k ü n d i g u n g satirischer R o m a n e o d e r Ritter- u n d Schauergeschichten. E n t s p r e c h e n d der b e s o n d e r s e n e r g i s c h v o r g e t r a g e n e n F o r d e r u n g nach einer nationalen deutschen Kultur, konzentrierten sich G r ä f f s A n z e i g e n auf die W e r k e S o p h i e La R o c h e s , die als nationale Erziehungsschriften a n g e p r i e s e n w e r d e n . 4 5
E. M. Gräff handelt. Informationen über Heinrich Gräff lassen sich eindeutig nur über seine Verlagsankündigungen gewinnen, die er in der Regel mit dem vollen Namen unterzeichnete. Weder in Fragen des Urheberrechts bzw. der Zensur oder des Nachdrucks noch in den verschiedenen literarischen Fehden der Goethezeit scheint er sich zu Wort gemeldet zu haben. Das »Archiv für die Geschichte des deutschen Buchhandels« widmete ihm bislang keinen Artikel. Bedeutende Schriftsteller der Goethezeit scheint er sich nicht verbunden zu haben. Herbert Koch zitiert in seinem Aufsatz: Johann Friedrich Weygand, Buchhändler in Leipzig (AGB Bd. 9, 1969) lediglich »Gräff 1 7 9 5 - 1 8 0 5 « . Das »Neue Archiv für Gelehrte, Buchhändler und Antiquare« weist in der Ausgabe vom Herbst 1 7 9 5 auf eine Veröffentlichung des Leipziger Emst Martin Gräfte hin, der sich mit den »Eigenthumsrechten des Schriftstellers und Verlegers« auseinandersetzte. Ernst Martin Graffe (oder E. M . Gräff oder Emst Martin Graef war 1 7 9 3 (!) Gesellschafter der Weidmannschen Buchhandlung geworden und genoß in dieser Funktion einen besonderen Ruf. 42 So erscheint der Verleger Gräff z. B. in: Aglaia. Jahrbuch für Frauenzimmer auf 1 8 0 1 , herausgegeben von N. P. Stampeel, Frankfurt a. M. mit einer zweiseitigen Ankündigung über Neuerscheinungen zur kommenden Michaelismesse. Weibliche Traditionen betont die 1 7 9 6 erfolgte Ankündigung eines Nachrufs auf Marianne Ehrmann, von ihrem Mann veranlaßt. 43 Elisa, Vorrede, S. V i f . 44 Gerade die von Bertuch herausgegebene Zeitschrift, die einen hohen Bekanntheitsgrad — Auflage: 3000 - hatte und deren Multiplikatorfunktion durch Lesezirkel, Leihbibliotheken, Sammelabonnements kaum hoch genug eingeschätzt werden kann, war die geeignete Adresse für Gräffs programmatische Erklärungen. 45 Die »Moralischen Erzählungen«, die »Schweizer-Reise«, »Mein Schreibétisch« sowie »Fanny und Julie oder Die Freundinnen. Eine romantische Geschichte« versprachen den Leserinnen empfindsame Liebesgeschichten mit aufklärerischem Gedankengut, die an keiner Stelle die für die Frauen verbindlichen Normen durchbrachen. Auf Sophie La Roches »Pomona« spielt möglicherweise auch der Hinweis in der Erstauflage des »Elisa«-Romans an: »Allen teutschen Mädchen und Weibern«, der vom Rezensenten der »Neuen allgemeinen deutschen Biblio-
>Elisa oder das Weib wie es seyn solltet
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In diese Tradition stellte Heinrich Gräff auch seine Autorin Sophie Ludwig. 46 Unmittelbar nach Erscheinen der Elisa fertigte er eine Separatveröffentlichung mit dem Titel an: Henriette oder das Weib wie es seyn sollte. Aus der Familie Hohenstamm gezogen von Sophie Ludwig. 47 Im gleichen Jahr kündigte Gräff eine periodisch erscheinende pädagogische Schrift mit dem Titel Die Familienschule... zum Unterricht und zur Unterhaltung der Jugend beyderley Geschlechts an. 48 Die Schriftstellerin Karoline Auguste Fischer ließ ihre beiden ersten Werke ebenfalls bei Heinrich Gräff verlegen: Gustaos Verirrungen. Ein Roman, Leipzig 1 8 0 1 sowie Vierzehn Tage in Paris. Eine Posse. Von dem Verfasser von Gustavs Verirrungen, Leipzig 1 8 0 1 . 4 9 Parallel dazu brachte Gräff die polemischen Gegenschriften ihres Mannes auf den Literaturmarkt, womit sich sein »Frauenzimmerprogramm« als rein kommerzielle Spekulation entlarvt. Im Journal des Luxus und der Moden präsentiert Gräff daher auch Christian August Fischers Fortsetzung Ueber den Umgang der Weiber mit Männern, oder Elisa oder das Weib, wie es seyn sollte als Lektüre für das »schöne Geschlecht« und betont die positive Aufnahme, die der Text gefunden habe. 50 Anders die Verlagspräsentation im Intelligenzblatt der Zeitung für die elegante Welt. Das Leipziger Blatt verzichtete in seinen Themenschwerpunkten Mode, Kulturnachrichten und Hofklatsch auf das Feigenblatt »Aufklärung«. Im dazugehörigen Intelligenzblatt fehlen daher auch die zahlreichen Annoncen zu Erziehungsschriften, pädagogischen Ratgebern und moralischen Erzählungen »für Frauenzimmer«, die Bertuchs Journal dem Publikum jeden Monat empfahl. Die 3 spaltige Verlagsanzeige Heinrich Gräffs vom Januar 1 8 0 1 betont vor allem den »Seriencharakter« der verschiedenen Romane. Mit Hilfe eines kleinen Autorenstammes konnte sich der Verlag auf diese Weise mit einem relativ umfangreichen Programm vorstellen. Die mehrfach aufgelegte Elisa repräsentierte die Gattung Frauenrothek« aufgegriffen wurde. In einem Brief an Luise Ahrends (16. 1 1 . 1 7 9 7 ) beschwert sich Sophie La Roche, daß Gräff selbstherrlich Buchtitel abändere und eigenmächtig den Buchumfang bestimme. (Vgl. hierzu HS — 22217; Freies Deutsches Hochstift, Frankfurt.) 46 1795 erschien ihr zweiter Roman »Die Familie Hohenstamm oder Geschichte edler Menschen«, dem der Rezensent der »Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek« zwar als Kunstwerk nur sehr geringen Wert beimißt, als »Erbauungsbuch aber« doch einen gewissen Leserkreis zubilligt. »Freylich dürfte der Mann von Geschmack [...] das Buch zeitig genug weglegen [...] der weibliche Leserkreis braucht wieder einen ganz andern Maaßstab«, heißt es wohlwollend (vgl. Neue allgemeine deutsche Bibliothek, Band 19, II. Stück, 1795, S. 324). 47 Auch im Falle Sophie Ludwigs, die darüber hinaus »Erzählungen von guten und für gute Seelen« verfaßte, betonte der Verleger die Kontinuität der Veröffentlichungen, in dem er in größeren Verlagsankündigungen ihre Werke in der Reihenfolge mit dem Zusatz »Von der Verfasserin der Familie Hohenstamm« versah und eingeschränkten Beurteilungskriterien bewußt als Werbemittel bei der Präsentation der Autorin einsetzte. Vgl. hierzu Gräffs ausführliche Verlagsankündigung in der »Zeitung für die elegante Welt« vom 10. 1.1 Soi. 48 Das weibliche Lesepublikum verband belehrende Unterhaltung noch um 1800 mit den Briefromanen Richardsons. Intensive Werbung machte Gräff für die 1796 veröffentlichte »Clarissa«-Übersetzung von Gotthard Ludwig Theobul Kosegarten. Gräff verlegte außerdem eine Sammlung mit 24 Kupferstichen von Chodowieki zur »Clarissa«, die Kosegarten kommentierte. Vgl. hierzu die Verlagsanzeigen im Intelligenzblatt des »Journals des Luxus und der Moden«, Juli 1796/August 1796. 49 Vgl. hierzu die Angaben in Caroline Auguste Fischer: Die Honigmonate. 2 Teile. Mit einem Nachwort von Anita Runge. Hildesheim 1987, S. 258!. 50 Vgl. Intelligenzblatt des »Journals des Luxus und der Moden«, Dezember 1799.
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man unabhängig von der Identität der Autorin. Die Verlagsannonce betont die besondere Rezeption: Neben der Ankündigung einer 6ten Auflage »verbessert und mit 12 neuen Kupfern verschönert«, steht das Angebot der französischen Übersetzung sowie die Ankündigung »Desselben Buchs 2ter Teil oder Ueber den Umgang der Mädchen und Weiber mit Männern«. 1796 bereits war im Jahrbuch zur belehrenden Unterhaltung, eine Kommentierung des Romans sowie 6 Kupfer erschienen, auf die Gräff in seinen Verlagsanzeigen hinzuweisen pflegte. 51 Im harten Konkurrenzklima der Verlagsmetropole Leipzig, die 1798 allein 18 Buchdruckereien und, nach den Angaben Leonhardis, 46 Buchhändler aufwies, konnte nur ein am Geschmack eines breiten Lesepublikums orientiertes Verlagsprogramm einem noch unzureichend etablierten Buchhändler Erfolg bringen.52 Mit dem Programm für »teutsche Mädchen und Weiber«53 hat es Gräff verstanden, die Lektürebedürfnisse eines stetig anwachsenden weiblichen Publikums zu befriedigen, das moralischer Literatur den Vorzug vor ästhetisch innovativen Texten gab. Vorankündigungen, Subskriptionsangebote und Werbeaktionen, in denen neue Kupfer zu bereits mehrmals aufgelegten Werken angekündigt wurden, sollten das Interesse wachhalten.54 Die Diskussion um die Neubestimmung der Rolle der Frau sowie die Popularisierung anthropologischer Modelle, die um 1800 in einer Flut von Publikationen ihren Niederschlag fanden, zwangen den Verlegern schnelles Reagieren auf. Die Qualität und die Glaubwürdigkeit blieben dabei manchmal auf der Strecke. Zu dem ein Jahr vor Elisa veröffentlichten Text F. Burtons Vorlesungen über loeibliche Erziehung und Sitten. Aus dem Englischen übersetzt bemerkte der Rezensent der Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek: »ein sehr gut geschriebenes Buch, und verdient einen Platz neben den besten seiner Art. — Es sollen, wie eine Nachschrift des Verlegers lehrt, noch vier Kupfer, das Frauenzimmer in einem vierfachen Zustande vorstellend, nachgeliefert werden«.55
5 1 Im Zentrum steht hier jedoch der 1 7 9 9 publizierte Räuberroman »Rinaldo Rinaldini«. Vom »Verfasser des Rinaldo Rinaldini« werden in der Verlagsanzeige der »Zeitung für die elegante Welt« sogar sechs Werke aufgelistete, während dieser erfolgreiche Zweig, der sich aus dem Rinaldo Rinaldini verästelte, im »Journal des Luxus und der Moden« nicht erwähnt wurde. Vgl. Christian August Vulpius: Rinaldo Rinaldini der Räuberhauptmann. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Karl Riha. Frankfurt 1980. 52 Vgl. Geschichte und Beschreibung der Kreis- und Handelsstadt Leipzig nebst der umliegenden Gegend. Herausgegeben von F. G. Leonhardi. Leipzig, bey Johann Gottlob Beygang 1799. 5 3 Vgl. Zeitung für die elegante Welt. Die große Bedeutung, die mütterlichen Lehren dieser Art beigemessen wurde, macht die Tatsache deutlich, daß der Büchermarkt jährlich mit »Rathgebem für Töchter« überschwemmt wurde. Das Vorbild Elisa klingt z. B. in der Ankündigung aus dem Intelligenzblatt der »Zeitung für die elegante Welt« an: Eilsens von Hönau und ihrer Erzieherin Eulalia Waller, Unterredung in Briefen. Allen gefühlvollen Mädchen bei ihrem Eintritt in die große Welt gewidmet, Berlin 1803. 54 Vgl. zu den Kupfern im »Jahrbuch zur belehrenden Unterhaltung für Damen«, Leipzig 1799, den Beitrag von Alan Menhennet: >Elisa steht wie eine Gottheit dac Heroic Femininity in the popular Novel of the >Goethezeitfalschen< Bildung in ihrer historischen Skizze eines Salons: Sévigné, Deshoulieres, Dacier, oder die goldne Lyra. In: Journal für deutsche Frauen 1805 (Heft 10), S. 4 6 - 71.
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- bedeutete nun jedoch, daß Frauen endlich an dem säkularen, öffentlichen intellektuellen Forum teilnehmen durften. Und das haben sie eifrig getan: schon im Jahre 1678 erschien Madame de LaFayettes Roman La Princesse de Cleve, der erste psychologische Roman der französischen Literatur, und die Märchenautorinnen folgten ihr auf dem Fuß. Was oft als der intellektuelle Sieg des Bürgertums bezeichnet wird — und sich im Aufstieg der Nationalgeschichtsschreibung, des Romans, der contes de fées und der verinnerlichten religiösen Bekenntnisse widerspiegelt - bedeutete gleichzeitig eine Aufwertung der Frau innerhalb der hegemonialen Institutionen der europäischen Kultur: eine Aufwertung ihrer intellektuellen Fähigkeiten auf Grund ihrer unmittelbaren Wahrriehmungskraft, ihres Geschmacks und ihres genialen Umgangs mit der Mundart als Erfahrungs- und Gefühlssprache sowie der Unmittelbarkeit ihrer Sprachsensibilität. Diese Aufwertung zeigt sich am besten in der weiblich bestimmten Bewegung des Preziösentums und seinem deutschen Equivalent, der Empfindsamkeit. Auch wenn sich der Roman und der conte des fées als Verharmlosung und als Mittel der ideologischen Einschränkung entpuppten, führte diese Wende auch für Frauen und andere Unmündige zu einem Bruch mit der patriarchalen Kunstauffassung der Altgriechen und -Römer und stellte daher ein befreiendes Moment im Geistesleben der Frauen dar. In diesem Licht gesehen sind die damals aufgewerteten Gattungen der Modemen — der moderne Nationalmythos, der Roman und das Buchmärchen — Träger eines progressiven Moments jenseits von Unterhaltung und ideologischer Einübung der bürgerlichen Tugenden: gaben sie Frauen doch Zugang zur Welt der öffentlichen Meinungsformulierung und des Meinungsaustausches. Frauen in ganz Europa benutzten diese renovierten Gattungen (Roman, Märchen, Mythos und Bekenntnis) als Mittel zur Teilnahme an der Diskussion. Daß dabei ein fingiertes spezifisch weibliches Publikum angesprochen oder ein von Frauen bevölkerter Erzählhintergrund angenommen wird, folgt einer langen abendländischen Tradition in der mündlichen Überlieferung, wie man aus dem Decameron, Basiles Pentamerone, und Tausendundeiner Nacht entnehmen kann. Ich meine damit die wichtigen Überbleibsel eines weiblichen Erzählmusters wie die Scheherezade oder die adligen Frauen auf dem Lande, die dem Tod entgehen, indem sie erzählen. Die Frauen der oberen Schichten, die diese Gattungen wählten, haben diese Publikumssprache und diesen Erzählhintergrund beibehalten, obwohl männliche Autoren sie später fallen ließen. Die französische literarische Tradition einer weiblichen unmittelbaren Erzählweise wurde in den deutschsprachigen Ländern des achtzehnten Jahrhunderts begeistert aufgenommen. Die Tradition wurde sowohl in Frankreich als auch in Deutschland von Frauen vermittelt — eine enge Verbindung dieser weiblichen Kulturen, die durch die traditionelle Germanistik quasi als Kulturverrat problematisiert wird: Studenten der Germanistik werden die Beispiele Sophie von La Roche und Luise Gottsched vorgehalten, die wie andere Mädchen der gehobenen Mittelklasse zuerst die französische Schrift lernten, bevor sie der Verlobte bzw. Ehemann Besseres lehren konnte. Wir wissen auch von ausgedehnter Übersetzungs- und Übertragungsarbeit aus dem Französischen und Englischen, die diese Frauen, wie Gottsched, La Roche, Unger, Huber und Naubert, leisteten. (Daß aber La Roche und Naubert unter anderem ins Französische übersetzt wurden, ist vielleicht weniger bekannt.) Eine ansehnliche Zahl dieser übersetzten Werke stammte von Frauenhand: so enthielt zum Beispiel die beliebte Sammlung von Friedrich Bertuch, Das Kabinett der Feen (1790-1800), achtunddreißig Märchen von acht Autorinnen und nur einem Autor (Charles Perrault).
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Trotz der oft problematischen Thematik dieser Werke, d. h. trotz ihres Versuches, Frauen in Häuslichkeit und Fügsamkeit einzuüben, wie Bovenschen und Zipes es mit Recht sehen, meine ich, daß die Gattungstradition der Modemen, wegen ihrer Erzählform (fingiertes weibliches Publikum und weibliches Erzählmuster) von höchster Bedeutung für die spätere kritische Frauenliteratur ist und noch heute von Autorinnen verhältnismäßig autonom und kritisch gebraucht wird. Deutsche Schriftstellerinnen, die direkten Anschluß an die Entwicklung dieser Gattungen durch die Französinnen hatten, haben sich die Contes-des-fées-Tradition anders angeeignet als etwa die Brüder Grimm.14 Häufig behielten sie in den Werken die progressive kritische Idee des ehemaligen Streits zwischen den Alten und den Modernen bei, der während der erzwungenen Abwesenheit der französischen Schriftstellerinnen in der Académie Française ausgefochten wurde. Eine der Methoden, womit sie diese kritische Idee am Leben hielten, war die sich selbst reflektierende und sich selbst ironisierende Binnenerzählung sowie andere in sie verschachtelte Gegentexte — das, was Kurt Schreinert später in bezug auf Benedikte Naubert »die geheime Geschichte« nannte. Diese »geheime Geschichte« ist in Nauberts Texten eine spezifische Lesart der Weltgeschichte, wie sie durch eine magische Frau (eine Ahnfrau, eine Außenseiterin) an ein (meist junges) Mädchen vermittelt wird, für das sie als Warnung und Anweisung zum eigenen Verhalten dienen soll: so wird das Mädchen z. B. vor Neugier, Gelehrsamkeit, Selbstliebe und staubigen Schriften gewarnt - auch wenn die Autorin Naubert die eigene Funktion dadurch bewußt in Frage stellt. In Erzählform wie -inhalt ist diese »geheime Geschichte« für ein spezifisches, privates Frauenpublikum bestimmt. Die Verschachtelung des Erzählten wurde zwar auch von anderen Märchenerzählern der Aufklärung wie Musäus und Wieland benutzt, aber nicht um dadurch eine Kritik des Bestehenden und gleichzeitig des Wunderbaren sowie der eigenen Erzählweise zu leisten; bei ihnen hat die leichte Selbstironie des Erzählers nicht diese kritische Funktion. Auch anders als bei den Märchenerzählern der Aufklärung ist das Beharren auf der Untrennbarkeit der drei Gattungen Roman, Geschichte und Märchen, das wir bei Naubert finden. Indem sie eine neue Versteinerung der Gattungshierarchie ablehnt, geht sie einen bedeutenden Schritt in der Ablehnung einer neuen Institutionalisierung der Akademie, d. h. der Akademie der Modemen auf deutscher Seite: der Universität.
14 Einige deutsche Märchenerzählerinnen des 18. und 19. Jahrhunderts sind: Benedikte Naubert: Neue Volksmärchen der Deutschen, Leipzig: Schäfer 1 7 8 9 - 1 7 9 3 ; Sophie Bernhardi (Tieck) Knorring: Wunderbilder und Träume in eilf Märchen. Königsberg: Nicolovius 1802; Friederike Helene Unger: Prinzessin Graecula. Ein Mährchen. In: Albert und Albertine. Berlin 1804, Karoline de la Motte-Fouque: Drei Mährchen von Serena. Berlin: Hitzig 1806; De la MotteFouque und Amalie von Helvig: Taschenbuch der Sagen und Legenden. 1 8 1 2 - 1 8 1 7 ; Amalie von Helvig: Sage vom Volksbrunnen. Mährchen, 1812; Caroline Stahl: Erzählungen, Fabeln, und Märchen für Kinder. Nürnberg 1918; C. Stahl: Die Gevatterinnen ( 1 3 1 - 1 3 6 ) , Däumling (151—155), Der undankbare Zwerg (183 — 185), Der Pomeranzbaum und die Biene (293 — 298). In: Deutsche Märchen vor und nach Grimm. Hg. v. Ninon Hesse. Zürich 1956; Amalie Schoppe: Kleine Mährchen-Bibliothek. Berlin: Mathison 1828; A. Schoppe: Volkssagen, Märchen und Legenden aus Norddeutschland. Leipzig: Pocke, 1833; Gisela und Bettine von Arnim: Das Leben der Hochgräfin Gritta von Rattenzuhausbeiuns (1845). Hg. v. Shawn Jarvis. Frankfurt 1986; Märchen der Bettine, Armgart und Gisela von Arnim. Hg. v. Gustave Konrad. Frechen 1965.
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An den neuen deutschen Universitäten wurden die neuen Gattungen wieder zerteilt: Nation, Erziehung und Tradition seien von Männern bestimmt; in der Universität wird der aufgewertete Fachbereich Geschichte (zum Beispiel durch Humboldt, Savigny und Ranke) allmählich von Volkskunde getrennt, die selbst von ihrer Wurzel, dem Erzählkontext Sage und Legende, losgerissen wird. 15 Der Inhalt beider Fächer wurde durch den männlichen Wissenschaftler/Sammler zerlegt, nach den »richtigen« Gattungskategorien klassifiziert und wiederorganisiert. Geschichte als Untersuchungsobjekt gehöre hierhin, Sage und Legende dorthin. Phantasie, von beiden getrennt, wird in die Kinderstube und die schöne Literatur verbannt. Die Frau spielt in diesem Modell der Institutionalisierung in der Akademie bloß eine passive Rolle: sie erschien nur als naive, bäuerliche Analphabetin, die den Stoff der Völkskultur unbewußt liefert, wie etwa für die Grimms, und funktionierte als Aufbewahrungsgefäß für den Sammler. Außerhalb der Akademie wurde die schreibende Frau auf Produktionen für die fingierte Familie und für Freunde begrenzt, auf Themen der Intimsphäre und Privatmoralität. Die Geschichtsschreibung, die ja die nationalistische Aufgabe der neuen Universität war, wurde ihr aus Mangel an Zugang zu Universitäten und Bibliotheken unmöglich. Kaum hatten die französischen Modernen begonnen sich durchzusetzen und von breiten Gruppen angenommen zu werden, als Einschränkungen im Hinblick auf Geschlecht und Gattung einsetzten: durch die Umfunktionierung des französischen Gesellschaftsromans und der contes de fées für ein bürgerliches Publikum wurden der Frauenroman und die Vermischung der Gattungen eingegrenzt: die Verbindung von Welt- und Privatgeschichte entfällt, das Wunderbare verschwindet, der Roman wird realistischen. Den Autorinnen wird das Schaffen einer fingierten Privatsphäre aufgebürdet. Die große Welt der Querelle, das Gefecht zwischen dem Klassischen und dem Modernen, wurde reduziert auf den Zweikampf zwischen dem Lateinsprudelnden, pedantischen, aber gleichzeitig auch geilen gelehrten Frauenzimmer und der sensiblen, empfänglichen und natürlich gebildeten »schönen Seele« als der Verkörperung der Modernen. National wird dieser Geschlechtsdualismus auch als die französische Künstlichkeit im Gegensatz zur deutschen Ungezwungenheit geschildert. In dem Dazwischen — jenseits der Institutionen wie der Akademie und vor der Erstarrung der neuen wissenschaftlichen Hierarchie in Deutschland — suche ich die wenigen Beispiele der sich selbstreflektierenden Binnen- und Mischformen der »geheimen Geschichte«. Ich sehe eine Übertretung der Gattungsgrenzen, in der die Geschichtsschreibung in das Märchen oder den Roman aufgenommen wird. Im Gegensatz aber zur Romantik hat diese Übertretung der Grenzen eine direkte soziale und politisch-kritische Funktion - denn sie unterminiert die Geschichtsschreibung und deren Anspruch auf Wahrhaftigkeit oder Wissenschaftlichkeit — und spielt sich nicht nur im ästhetischen Raum ab, in der Hoffnung daß diese »ästhetische Revolution« auch zu einer umwälzenderen führen möchte.16
1 5 Jennifer Fox: The Creator Gods: Romantic Nationalism and the Engenderment of Women in Folklore. In: Journal of American Folklore 100 (1987), S. 5 6 3 - 5 7 2 . 16 Friedrich Schlegel: Über das Studium der griechischen Poesie. In: Kritische Friedrich-SchlegelAusgabe (Paderborn 1962) I: 356. Ich danke Michael Taylor Jones, der mich auf diesen Essay hingewiesen hat.
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Die Märchen, historischen Romane und Märchenromane der Benedikte Naubert sind beispielhaft für diese Gattungsentgrenzung bzw. Auflösung der Gattungsgrenzen, indem ihr Werk eine Erzählstruktur anbietet, die ich als charakteristisch für das Buchmärchen deutscher Autorinnen vom späten 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart ansehe: das verwickelte Märchen-Legende-psychologischer Roman-Gemisch mit geographischer und chronologischer Festlegung. Nauberts Märchen und Romane haben fast immer eine geschichtliche Basis. Sie geht immer von einer geschriebenen Quelle oder Lokalsage aus — das zeigen Werke, die in der ottonischen Zeit wie auch dem Mittelalter (Geschichte Emma's, Brunilde, Der kurze Mantel, Friedrich der Siegreiche, usw.), der Reformation, dem Bauernkrieg (Der Bund des armen Konrads) und dem Dreißigjährigen Krieg (Thekla von Thum, Graf Rosenberg, Die Warnerin) angesiedelt sind und also historisch konkrete Zusammenhänge betreffen. Regelmäßig übertritt sie aber die Grenze zwischen »Wildnis und Zivilisation«17 und rückt damit in die gefährliche Gegend des Nichtgeschichtlichen. Psycho-soziale Erklärungen von historischen Ereignissen und Nationallegenden werden mit Magie verbunden (wie in Gerhard Truchsess von Waldburg); sogar klassische Märchen wie »Frau Holle« und »Die weiße Frau« sind von einer chronologischen und ethischen Entfaltung der Figuren durchdrungen. Die Heldinnen dürfen erwachsen und dann alt werden, sie dürfen den Nachfolgerinnen die eigenen Geschichten zu Ende erzählen, damit diese dieselben Fehler nicht wiederholen. Naubert bietet Charakteranalysen der vorgeschichtlichen Herd- und Naturgöttinnen und deren Töchter (Velleda. Ein Zauberroman) sowie der weiblichen Schloßgeister Europas an (Ottilie, Die weiße Frau). Weil Naubert historische Phantasie (d. h. Märchen als Einschübe in Romanen) und Märchen mit psychologischer Motivation und Charakterentwicklung (d. h. Romane innerhalb des Märchens) verwebt, sehe ich eine Verschmelzung der beiden Gattungen, wodurch sowohl die Schriftstellerin als auch die Leserin eine ethische und intellektuelle Kodifizierung — im Sinne von Gesetz wie auch von Geheimschrift — erreichten, jenseits der Akademie. Als Beispiel für Nauberts Erzählstruktur kann Der kurze Mantel, ein längeres Märchen aus der ersten Ausgabe ihrer Neuen Volksmärchen der Deutschen (1789), dienen. Auf einer Legende vom Artus-Hof (Ulrich von Zatzikhovens Lancelei und Percys Reliques of Ancient Poetry entnommen) und mehreren Märchen basierend, spielt sich die Geschichte von Genelas, einem guten, falsch verleumdeten Mädchen im Gefolge von Guinevre, in England und Deutschland (zur Kriegszeit) ab. Hauptmotiv der Geschichte ist das Spinnen als Zeichen der weiblichen Reifung, des Netzwerks einer geteilten und weitervererbten weiblichen Ethik sowie des weiblichen Erzählverfahrens. Vom Hof durch die Machenschaften von Morgan, einer »Fee zweiten Rangs« entfernt, kommt Genelas auf ihrer Wanderung in ein englisches Dorf zu einer älteren Weberin und deren böser Base. (Es handelt sich, wie wir später erfahren, um die böse und gute Base/Stiefschwester aus der »Geschichte der Frau Rose«, deren Heldin Rose in Grimms Fassung später Frau Holle besucht.) Durch den Krieg in Deutschland hatten beide Krankheit und Verlust erlitten und wurden als Witwen nach England vertrieben. Als junges Mädchen Rose gewann die alte Weberin die Gunst der »Hausfrau«, Frau Holle; sie gewann und verlor sie dreimal, indem sie das Geheimnis ihrer magischen Spinnkraft an ihren zukünftigen Mann weitergab: Frau Holle erschien in Gestalt eines guten, aber furchterregenden Geistes und gab Rose einen Zauberring, eine goldene Spindel und ein nie zu Ende gehendes Knäuel Garn. Alles ging durch Roses Schuld wieder verloren. Frau Holle erschien auch als der
1 7 Hans Peter Duerr: Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation. Frankfurt 1978.
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pilgernde Christus, der Rose für ihre Menschenliebe belohnt hat. Diese Autobiographie erzählt Rose als inzwischen alte Weberin dem Mädchen Genelas, die selbst unter dem problematischen Verhältnis von zwei Basen - der Eifersucht zwischen Guinevre und Morgan - zu leiden hat. Genelas muß selbst spinnen lemen, eine Versuchung durch Morgan bestehen und für den Pilger menschenfreundliche Arbeit aufnehmen, damit sie wieder durch eine dritte Zauberfigur auf den Hof zurückkehren und den ihr allein passenden Mantel der Tugend öffentlich in Besitz nehmen kann. Den Stoff zum Mantel hatte sie selbst zur Zeit ihres Leidens gewebt.
Der Erzählrahmen zeigt eine Vermischung der weiblichen Lebenssituationen: Unterschiede des Alters, des Standes, des Reichtums, der Ehe oder Ehelosigkeit und vor allem des Besitzes an Zauberkräften sind nicht deutlich abgegrenzte Bereiche, sondern Stadien einer Entwicklung der Persönlichkeit. Die Erzählstruktur verbindet das sagenhafte Gedankengut aus England und Deutschland in einer Geschichte, die nicht nur die dauernde Schwesternfeindschaft kritisiert, sondern auch auf Ähnlichkeiten in zunächst ungleich scheinenden Legenden verweist: das Übermaß an Eifersucht, verbotener Sinnlichkeit und Gier wird sowohl in England wie auch in Deutschland, unter Bauern als auch unter Königinnen getadelt. Ebensolche Erzählstrategien sind in Nauberts nüchterneren, geschichtstreueren Romanen zu entdecken. Benedikte Naubert hatte Zugang zu historischen Dokumenten (zu gedruckten Geschichten, Chroniken und unveröffentlichten Briefen) auf drei Wegen: durch die Universitätsbibliothek in Leipzig, deren Bücher sie durch Bekannte zur Hand bekam; durch den Ankauf von Neuerscheinungen, die sie anstelle eines Honorars von ihrem Verleger Friedrich Rochlitz erwarb; und durch die Hebenstreitschen Familienpapiere, die bis ins frühe 17. Jahrhundert zurückreichten. Dieser historische Hintergrund, selbst wenn seine großen Persönlichkeiten (Otto, Karl der Große, Martin Luther usw.) faktisch immer zuverlässig und sorgfältig recherchiert sind, ist allerdings nur die Leinwand, auf der die eigentliche Geschichte skizziert wird. Diese ist stets die Geschichte der Gefühle und moralischen Konflikte: Familienverhältnisse, Eifersucht und Verrat der Großen im Kleinformat. Die Protagonisten sind nicht historisch bedeutend, liefern aber eine rationale bzw. gefühlsmäßig logische Erklärung, warum die offizielle Geschichte sich so und so entwickelte. Für heutige Kritiker sieht Nauberts Geschichtsschreibung »der Geschichte von unten« sehr ähnlich. Kurt Schreinert nennt es die Geschichte, die hinter der großen Geschichte steht.18 Auch Touaillon sieht diese strukturelle Besonderheit. Zu Nauberts Der arme Konrad, einem Roman des Bauernkriegs, meint sie: Von einem Romane in dem damals üblichen Sinne ist also keine Rede. Verschiedene, teils geschichtliche, teils romanhafte Handlungen durchkreuzen sich im Buche; äußerlich ist Florian Geyer der Hauptheld, aber er ist nicht die Hauptsache: D i e w i r k l i c h e n H e l d e n s i n d d i e Bauern.1»
Schreinert und Touaillon fühlen sich verpflichtet, für dieses neue Erzählverfahren Nauberts Entschuldigungen anzubieten. Entweder sei es ein Versuch, die trockene Geschichtshandlung pfiffiger zu schreiben (Schreinert) oder mangelhafte Schulung in der Geschichtsschreibung zu vertuschen (Touaillon):
18 Schreinert: Benedikte Naubert, S. 77. 1 9 Touaillon: Frauenroman, S. 402Í. (Herv. von T.)
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Jeannine Blackwell
Wohl entbehrt ihre Technik der für diese schwierige Aufgabe notwendigen Geschultheit, wohl mangelt ihrer Zeit noch die notwendige Tiefe und Feinheit der psychologischen und sozialen Kenntnisse sowie die Klarheit und Sicherheit der Geschichtsauffassung, aber hier ist es wirklich genug, Großes gewollt zu haben: ihr interessanter und mit bemerkenswertem Verständnis durchgeführter Versuch darf in der Geschichte des deutschen historischen Romans nicht übersehen werden.2"
Feministische Kritiker können darüber hinaus aber mehr aus ihrem >mißlungenen< Versuch herauslesen. Es ist der Versuch, große geschichtliche Ereignisse in eine Welt hineinzubringen, wo auch Frauen und Nichtadlige geschichtlich handeln dürfen. Mit anderen Worten: es ist eine Aneignung der Geschichte für diejenigen, die vorher nicht als Mitwirkende am geschichtlichen Prozeß betrachtet wurden. Beispielhaft hierfür wären Nauberts sehr sympathisch erzählten Märchenromane Joseph Mendez Pinto, ein Ich-Roman aus der Perspektive eines armen jungen Juden, und Barbara Blomberg, vorgebliche Maitresse Kaiser Karl des Fünften. Nauberts historisierende Tendenz nimmt an der »modernen« Idee der Aufwertung der Nationalgeschichte teil, unterstreicht jedoch gleichzeitig die »verborgene Geschichte«, die eine Kontinuität der Gefühle, Anschauungen und Verhaltensweisen bejaht, wie die Antiken es meinten: durch diese persönliche Verbindung mit der Geschichte kann man von ihr persönlich »lernen«. Dieses lehrhafte Moment der Vergangenheit ist ständig ein Streitpunkt in der progressiven Geschichtsauffassung der Modemen gewesen. Naubert fordert von den scheinbar Nichtteilnehmenden und Außenseitern der Geschichte eine individuelle Verantwortlichkeit der Moralität und der Geschichte gegenüber. Sie sieht in ihnen gesellschaftliche Tendenzen, die, wenn emstgenommen, das Schicksal der Nation entscheiden. Zweitens kann die heutige feministische Literaturkritik in Nauberts Zweischichtenroman die eigene Erzählproblematik entdecken: wie kann man zusammenhängend eine so gespaltete Welt nacherzählen, ohne das Bestehende zu bejahen. Nauberts Romane bestehen nicht nur aus zwei Schichten, aus einer offiziellen großen und einer geheimen Geschichte. Sie zeigen auch die Welt der psychologisch und logisch glaubwürdigen Verhaltensweisen der Familien- und Frauenromane, die die rationale Nationalgeschichtsschreibung verdeckt, und sind daher ein Muster der Psycho-Historie mit allen deren Schwächen und Stärken: auf der einen Seite eine zusammenhängende, logische Erzähltechnik, auf der anderen statische Bilder der Klassen-, Geschlechter- und Konfessionsverhältnisse. Zu fragen wäre, ob eine psychologisch realistische Erzählung des Phantastischen zugunsten der Unterdrückten eigentlich die kulturell und politisch begründete Ungerechtigkeit untergräbt. Drittens findet sich in Nauberts Werk ein bedeutsamer struktureller Zug, der die drei Stränge ihres Inhalts (Geschichte, Sage, Märchen) zusammenknüpft. Der Aufhänger für die Verbindung von Groß- und Kleingeschichte ist zwar nach außen hin, wie Touaillon mit Recht behauptet, Familienzwist bzw. ein Familien- oder Liebesverhältnis; aber auf der Ebene einer tieferen Erzählstruktur, in der geheimen Geschichte also, ist es das Magische, das Unerklärbare. Die geheime Geschichte — die mittels geheimer Dokumente, die den Helden durch Ahnfraugespenster und Träume entdeckt werden, oder mütterlicher Erzählungen angedeutet wird - gibt oft den Hinweis auf die tiefere Bedeutung des Unfaßbaren in ihren Romanen. Dadurch ergibt sich eine Bin20 Ebd., S. 403. 2 1 Dorsch: Sich rettend ..., S. 1 1 3 .
Die verlorene Lehre der Benedikte Naubert
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nengeschichte vermittelt durch eine Frau, die die große Geschichte mit dem Gefühlsmäßigen und dem Magischen verbindet. Sehr oft stellt dieses Dokument bzw. diese Erzählung eine Gegengeschichte dar, die die eigentliche Geschichte durch Generationen weiter erzählt, und die im starken Gegensatz zur gleichfalls als Wahrheit angenommenen Rahmengeschichte steht. Die Binnengeschichte bejaht zwar die Gültigkeit des Archivs und die Idee von einer letztendlich beweisbaren geschichtlichen Wahrheit. Sie unterminiert aber zugleich die Möglichkeit ihrer endgültigen Feststellung. »Die Geschichte ist meine Fürstin; ich kenne die Ehrfurcht, mit welcher ich mich ihr nahen muß, besonders wenn sie verschleiert erscheint; mit ihren Zofen der Sage und der Legende kann ich mir schon eher etwas erlauben«, schrieb Naubert 1 8 1 7 an Friedrich Rochlitz, als sie ihre historische Forschungsweise für Stephan Wacker erklärte. Naubert zeigt so in der eigenen Metaphorik die klassen- und geschlechtsspezifischen Implikationen ihrer Geschichtsschreibung und ihres Märchenerzählens auf.
DONATELLA GIGLI
Die goldne W e l t der Täuschung: Traum und Wirklichkeit in Karoline v o n W o l z o g e n s Roman »Agnes v o n Lilien«
Eigentlich theilen sich doch Erinnerung und Hoffnung in unser Leben und ohne die Sehnsucht unseres Herzens, die das Entfernte herbei und das Vergangene zurückwünscht, mögt man es nur für einen freundlichen Traum halten, der mit schnellen Schwingen von uns eilt,1
schreibt Karoline von Beulwitz, spätere von Wolzogen in einem Brief an Schiller. Unerfüllt bleibt der freundliche Traum, die Flucht aus einer leidigen Konvenienzehe, zu der Karoline nach dem Tode ihres geliebten Vaters, Herrn Christoph von Lengefeld, aus Geldnot gezwungen wurde; übrig bleibt ein unbestimmtes Lebensgefühl, das in der Schwebe zwischen Erinnerung und Hoffnung piaziert ist: Eine ewige Feme in der manches verschlungen und bange der Erscheinungen um uns her sich auflösen mus (sic), schwebt mir doch immer wieder bald dämrender, bald heller vor der Seele, und ich fühle mich in sie gezogen. 1
Das wahre Leben ist für Karoline Lebens-Ferne. Eine Phantasiewelt ersetzte ihr die unbefriedigende Wirklichkeit. Ihre Lektüre - sie las Ossian, Pope, den Grandison, sie begeisterte sich für die Antike —, ihre Ubersetzungen — sie übersetzte aus Ovids Metamorphosen (die Schiller dann verbesserte) - werden umgesetzt in ein verdichtetes Niemandsland. Bald reichte das Übersetzen nicht mehr aus. Im April 1789 äußerte sie ihrem Freund gegenüber den Wunsch, »hübsch erzählen zu wollen«.3 Verschreibt sich Karoline von Wolzogen der »goldenen Welt der Täuschung«,4 so ist diese Welt zwangsweise von männlichen Vorbildern besetzt. In ihrem Erstlingsroman Agnes von Lilien, — Schiller publizierte den ersten Teil 1796/1797 in seiner Zeitschrift, den Hören — , 5 fließt die Jugendlektüre der Autorin, Richardsons Grandison ein. Karoline von Wolzogen berichtet selbst, daß sich Schiller darüber lustig machte; man werde es ihr immer anmerken, daß sie mit dem Grandison aufgewachsen sei.6 Neben Richardsons Werk, das auf die typologischen Merkmale des Helden von Nordheim und seine Handlungsstruktur bestimmend wirkt, zeigen die romantischen Figuren der Bettina und des Battista, musikalische Kinder einer italienischen Sängerin, den Einfluß der goethischen Mignongestalt. 1 Brief vom 4. 2 . 1 7 8 9 . In: Schiller und Lotte 1788—1805. Zweite den ganzen Briefwechsel umfassende Ausgabe. Hg. v. Wilhelm Fielitz. 3 Bde. Stuttgart 1879, Bd. 1, S. 210. 2 Ebd. 3 Brief vom 1. 4 . 1 7 8 9 , ebd., S. 264. 4 Karoline von Beulwitz' Brief vom 2 0 . 1 0 . 1 7 9 2 an Wilhelm von Wolzogen. In: Literarischer Nachlaß der Frau Karoline von Wolzogen. Hg. v. Karl Hase. 2 Bde. Leipzig 1849, Bd. 1, S. 163. 5 »Agnes von Lilien« erschien im 10. und 12. Stück Gg. 1796) und im 2. und 5. Stück (Jg· 1797) der »Hören«. Zu Michaelis 1797 schreibt die Autorin einen zweiten Teil dazu, der mit dem ersten im selben Jahr unter der Jahreszahl 1798 in Buchform erschien. 6 Friedrich Schiller. Nationalausgabe. Schillers Gespräche. Bd. 42. Hg. v. Dietrich Germann und Eberhard Haufe. Weimar 1967, S. 164.
Karoline von Wolzogens »Agnes von Lilien