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German Pages [486] Year 2015
Critical Studies in Religion/ Religionswissenschaft (CSRRW)
Herausgegeben von Gregor Ahn, Oliver Freiberger, Jürgen Mohn, Michael Stausberg Band 10
Vandenhoeck & Ruprecht
Adrian Hermann
Unterscheidungen der Religion Analysen zum globalen Religionsdiskurs und dem Problem der Differenzierung von ,Religion‘ in buddhistischen Kontexten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-1426 ISBN 978-3-525-54040-4 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de
p 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Konrad Triltsch Print und digitale Medien GmbH, Ochsenfurt Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil I: Zur Situation religionswissenschaftlicher Theoriebildung 1. Von der „Europäischen Religionsgeschichte“ zur Globalen Religionsgeschichte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Das Konzept „Europäische Religionsgeschichte“ . . . . . . . . . 1.2 Gesellschaftliche Ausdifferenzierung und „Europäische Religionsgeschichte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 ,Religion‘ und die religionswissenschaftliche Theoriebildung . . 1.4 Die globale Dimension der „Europäischen Religionsgeschichte“ 1.5 Zusammenfassung: Die „Europäische Religionsgeschichte“ und die Differenzierung und Globalität von ,Religion‘ . . . . . . 2. Religionswissenschaft zwischen Diskurstheorie und Religionstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Benson Salers Konzeptualisierung von ,Religion‘ . . . . . . 2.2 Timothy Fitzgeralds Kritik an Saler . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Zwei religionswissenschaftliche Perspektiven: Religionstheorie und Diskurstheorie . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Salers religionstheoretische Perspektive . . . . . . . . 2.3.2 Fitzgeralds diskurstheoretische Perspektive . . . . . . 2.4 ,Religion‘ zwischen Religionstheorie und Diskurstheorie im Kontext der Religionswissenschaft . . . . . . . . . . . . 2.5 Zusammenfassung: Die Situation religionswissenschaftlicher Theoriebildung und das zirkuläre Verhältnis von Religionstheorie und Diskurstheorie . . . . . . . . . . . . .
25 26 28 30 32 33
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49 49 52
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3. ,Religion‘ zwischen Eurozentrismus und außereuropäischen ,Äquivalenten‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die Dekonstruktion der ,Religion‘ . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil II: Zu den Unterscheidungen der Religion und der historischen Analyse der Herstellung von ,Äquivalenten‘ im globalen Religionsdiskurs: Ein zweifacher Perspektivenwechsel
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Inhalt
3.2 ,Religion‘ als europäisch-westlicher Begriff und die Frage nach außereuropäischen ,Äquivalenten‘ . . . . . . . . . . . . . 3.3 Von der Begriffsgeschichte zur Frage nach den Charakteristika des Religionsdiskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Martin Riesebrodt und die Legitimität eines universalen Religionsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Die moderne Kontur des Religionsbegriffs . . . . . . . . . 3.4 Auf der Suche nach außereuropäischen ,Äquivalenten‘ von ,Religion‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 ,Religion‘ in Asien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 ,Äquivalente‘ des Religionsbegriffs im mongolischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Der metaphorische Charakter der ,Religionen‘ und ihrer außereuropäischen ,Äquivalente‘ . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Die Charakteristika des modernen Religionsdiskurses und die historische Analyse der Herstellung von ,Äquivalenten‘ von ,Religion‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1 Erster Perspektivenwechsel: ,Religion‘ als Diskurs . . . . 3.5.2 Zweiter Perspektivenwechsel: Eine historische Analyse der Herstellung von ,Äquivalenten‘ von ,Religion‘ . . . . 3.6 Zusammenfassung: Ein zweifacher Perspektivenwechsel und der weitere Aufbau der vorliegenden Arbeit . . . . . . . . . 4. Eine Heuristik der Charakteristika des modernen Religionsdiskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Diskurstheoretische Vorbemerkungen: Die Einheit des Diskurses und seine Regelmäßigkeiten . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Das Auftauchen der ,Religion‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Die Unterscheidungen der Religion: Versuch einer heuristischen Bestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Die Pluralität der modernen ,Religion‘ . . . . . . . . . . . 4.3.1.1 Der frühneuzeitliche Diskurs . . . . . . . . . . . . 4.3.1.2 Der moderne Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Die Differenzierung der modernen ,Religion‘ . . . . . . . 4.3.2.1 ,Religion‘ im Rahmen eines Kategoriennetzwerks . 4.3.2.2 Das ,Religiöse‘ und das ,Säkulare‘ . . . . . . . . . 4.4 Zusammenfassung: Der moderne Religionsdiskurs als ein Diskurs doppelter Unterscheidung . . . . . . . . . . . .
84 91 92 99 107 108 109 119 125 127 131 135 141 142 152 160 161 162 167 172 176 184 188
5. Der globale Religionsdiskurs und die historische Analyse der Herstellung von ,Äquivalenten‘ von ,Religion‘ . . . . . . . . . . . . 195 5.1 Die neue Globalgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 5.2 Die verflochtene Genese des Religionsdiskurses . . . . . . . . . 203
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Inhalt
5.3 Die These einer kolonialen Konstruktion des ,Hinduismus‘ und der ,Religion(en)‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Die Globalität des Religionsdiskurses und seiner Charakteristika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Diskurstheoretische Überlegungen: Ein globaler Diskurs? . 5.6 „Translingual Practice“: Zur historischen Analyse der Herstellung von hypothetischen Äquivalenzen . . . . . . . . 5.7 Die ,Übersetzung‘ eines globalen Diskurses und die Frage nach dem Bedeutungsgeschehen . . . . . . . . . . . . . . . 5.8 Zusammenfassung: Die Unterscheidungen der Religion und die Einheit des globalen Religionsdiskurses . . . . . . . . .
. . 207 . . 214 . . 215 . . 219 . . 232 . . 249
6. Die Formation des ,Buddhismus‘ im globalen Religionsdiskurs . . . 6.1 Die europäische Entdeckung des ,Buddhismus‘ und der globale Religionsdiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Die Entdeckung des ,Buddhismus‘ im Kontext des buddhistischen Modernismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Die Erfindung des ,Buddhismus‘? . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Beispielbetrachtungen zur Formation des ,Buddhismus‘ . . . . 6.4.1 Die Formation der Begriffe des ,Buddhismus‘ . . . . . . . 6.4.1.1 Ceylon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.1.2 Burma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.1.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.2 Die Formation eines buddhistischen Kollektivs und die Rolle formaler Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.3 ,Religion‘ und Differenzierung im Siam des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.3.1 Die Interaktionen des 19. Jahrhunderts und die klassische Kosmologie des „trai phum“ . . . . . . 6.4.3.2 ,Buddhismus‘ als Gegenstand des globalen Religionsdiskurses im „Kitchanukit“ . . . . . . . 6.4.3.3 Das „Kitchanukit“, die Transformation von Wissensbeständen und der globale Religionsdiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.3.4 Der „discourse of scientific Buddhism“ und die Frage nach der Differenzierung von ,Religion‘ und ,Wissenschaft‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Zusammenfassung: Der globale Religionsdiskurs und die Formation des ,Buddhismus‘ als ,Religion‘ . . . . . . . . . .
255 258 269 285 287 294 295 303 307 310 323 328 338 349 354 361
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Inhalt
Teil III: Zu den Herausforderungen einer religionswissenschaftlichen ,Theorie der Moderne‘ 7. Bausteine einer religionswissenschaftlichen ,Theorie der Moderne‘ und die Differenzierung von ,Religion‘ in der Weltgesellschaft . . . 7.1 Die Notwendigkeit einer globalen kulturwissenschaftlichen Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1 Eine ,Theorie der Moderne‘ nach dem Postkolonialismus. 7.1.2 Talal Asad und die „Rekruten der Moderne“ . . . . . . . 7.1.3 Moderne „Gouvernementalität“ und die Entstehung einer ,Gesellschaft‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Weltgesellschaftstheorie als ,Theorie der Moderne‘ . . . . . . . 7.2.1 Zur Geschichte der Weltgesellschaftstheorien . . . . . . . 7.2.2 Die systemtheoretische Fassung der Weltgesellschaft . . . 7.3 Soziologische Differenzierungstheorie und ,Religion‘ . . . . . . 7.3.1 Die soziologische Tradition der Differenzierungstheorie . 7.3.2 Niklas Luhmann und die systemtheoretische Fassung der Differenzierungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.3 Das Problem der Differenzierung von ,Religion‘ in der Weltgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Zusammenfassung und Ausblick: Eine religionswissenschaftliche Differenzierungstheorie? . . . .
369 370 370 375 379 387 387 393 403 403 406 417 428
Schlussbemerkung: Die Möglichkeit einer ,Globalen Religionsgeschichte‘, der globale Religionsdiskurs und die Unterscheidungen der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475
Vorwort Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung meiner im Jahr 2011 an der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel angenommen Dissertationsschrift „Unterscheidungen der Religion. Analysen zum modernen Religionsdiskurs in der Weltgesellschaft und zum Problem der Differenzierung von ,Religion‘ in buddhistischen Kontexten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts“. Erste Überlegungen zu dieser Thematik gehen auf Diskussionen zu ,Religion als globalem Strukturmuster der Moderne‘ mit Prof. Dr. Jürgen Mohn während meiner Studienzeit in München zurück. Von 2006 bis 2009 wurde die Arbeit an der Dissertationsschrift von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Kontext des Graduiertenkollegs 844 „Weltgesellschaft – Die Herstellung und Repräsentation von Globalität“ an der Universität Bielefeld mit einem 36-monatigen Promotionsstipendium gefördert. Die Tätigkeit als Lehrbeauftragter für Religionswissenschaft an der Universität Basel zwischen 2009 und 2011 sowie ein neunmonatiges Abschlussstipendium des Forschungsfonds der Universität Basel in den Jahren 2010/2011 ermöglichte mir die Fertigstellung der Arbeit. Für diese Förderung sowie einen Beitrag der DFG zu den Druckkosten möchte ich mich herzlich bedanken. Der Zeitraum, in dem die Gedanken der vorliegenden Publikation entwickelt wurden, war für mich durch zwei sehr unterschiedliche disziplinäre Kontexte geprägt. Zum einen durch das Graduiertenkolleg „Weltgesellschaft“ an der Universität Bielefeld, in dessen Rahmen ich von zahlreichen theoretischen Diskussionen vorrangig soziologischer Art profitieren konnte. Neben den allgemeinen von Prof. Dr. Bettina Heintz als Sprecherin des GK immer wieder angeregten Debatten über eine Theorie der Weltgesellschaft, bot vor allem die AG „Funktionale Differenzierung“ eine Gelegenheit, viele der in die vorliegende Arbeit eingeflossenen Überlegungen erstmals zu diskutieren. Tobias Kohl, Martin Petzke, Stefan Priester und Tanja Stein als den ständigen Mitgliedern dieser AG, ebenso wie Berit Bethke, Marcus Held, Friederike Kuntz, Britta Leisering, Hannah Mormann, Ursula Mühle, Miriam Tag, Jan Wollmann und den weiteren Kolleginnen und Kollegen des GK sei für das freundschaftliche Miteinander und die vielen Stunden intellektueller Auseinandersetzung herzlich gedankt. In Basel konnte ich in einem religionswissenschaftlichen Umfeld in den Jahren 2009 bis 2012 als assoziiertes Mitglied des Pro*Docs „Interferenzen von Religion mit Politik und Wirtschaft im Spiegel ihrer Konstruktionsgeschichten“ an den Universitäten Basel, Luzern und Zürich ebenfalls von vielen Anregungen profitieren. Mein Dank gilt hier vor allem Rafaela Eulberg, Stephanie
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Vorwort
Gripentrog, Dirk Johannsen, Anja Kirsch, Lucius Kratzert, Bernhard Lange, Harald Matern und Lucia Stöckli. Die im Rahmen des Pro*Doc veranstalteten „Meisterkurse“ waren besondere Höhepunkte meiner Zeit als Doktorand und boten die Gelegenheit zu intensiven Diskussionen mit Prof. Dr. Michael Stausberg, Prof. Dr. Michael von Brück, Prof. Dr. Edith Franke und Prof. Dr. Michael Bergunder, die an zahlreichen Stellen des hier nun vorliegenden Buchs ihren Niederschlag gefunden haben. In Bielefeld wurde die Betreuung der Dissertationsschrift im Rahmen des Graduiertenkollegs von Prof. Dr. Hartmann Tyrell übernommen, der als genauer Kenner der soziologischen Theoriegeschichte sowie besonders der religionssoziologischen Tradition immer wieder entscheidende Hinweise geben konnte. Seine immer freundliche Betreuung sowie die Bereitschaft, die vielen Veränderungen in Themenstellung wie auch Kontext der Arbeit mitzutragen, hatten am erfolgreichen Abschluss des Projekts einen großen Anteil. Prof. Dr. Jürgen Mohn, meinem religionswissenschaftlichen Betreuer und Doktorvater an der Universität Basel, verdanke ich meinen Weg in die Religionswissenschaft. Seine stets von großem Interesse am Fortgang der Arbeit geprägte Betreuung hat es mir ermöglicht, die Arbeit auch über Zeiten des Zweifelns hinweg fortzuführen. Mit konstruktiver Kritik, zahlreichen Hinweisen auf weitere Möglichkeiten der Analyse und eigenen Lösungsvorschlägen für komplexe religionswissenschaftliche Theorieprobleme hat er meine Arbeit als Gesprächspartner kontinuierlich begleitet. Bereits während des Studiums der Religionswissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München hat mir sein Verständnis des Fachs, wie er es im Rahmen seiner theorieorientierten Seminare vertreten hat, immer wieder neue Horizonte eröffnet. Ihm gilt daher mein besonderer Dank. München ist darüber hinaus für mich von bleibender Bedeutung, da ich aufgrund der kontinuierlichen Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Klaus Koschorke im Bereich der Außereuropäischen Christentumsgeschichte die Verbindung zum Ort meines Magisterstudiums nie verloren habe. Er hat meine wissenschaftliche Entwicklung stets mit Rat und Tat gefördert, wofür ich mich sehr herzlich bedanke. Sein christentumsgeschichtliches Oberseminar ist, besonders aufgrund der Diskussionen mit den anderen Münchner Kolleginnen und Kollegen, allen voran Ciprian Burlacioiu, Claudia Rammelt und Roland Spliesgart, für mich zu einer intellektuellen Heimat geworden. Für den Münchner Kontext sind im Rahmen des Interfakultären Studiengangs Religionswissenschaft auch Alexandra Grieser und Anne Koch zu nennen, für deren Unterstützung ich mich herzlich bedanke. Ebenfalls in München gab es bei einem gemeinsamen Treffen die Gelegenheit, die Gedanken dieser Arbeit in einer entscheidenden Phase mit Stephanie Gripentrog, Jens Kugele und Johannes Quack zu diskutieren. Auch ihnen sei gedankt für Freundschaft, zahlreiche Anregungen und die bisherige und hoffentlich zukünftige Zusammenarbeit.
Vorwort
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Ein weiterer Diskussionskontext, von dem die vorliegende Arbeit stark profitiert hat, ist das jährlich von Prof. Dr. Michael Bergunder in Heidelberg veranstaltete Oberseminar „Philosophische Grundlagen des Postkolonialismus und der Kulturstudien“. Die dortigen Debatten, besonders die detaillierte Auseinandersetzung mit diskurstheoretischen Entwürfen, waren für meine Herangehensweise in der letzten Phase der Arbeit an der Dissertationsschrift von zentraler Bedeutung. Diese Januarwochenenden in Heidelberg waren und sind stets ein Höhepunkt des akademisches Jahres. Herrn Bergunder sei daher stellvertretend für den großen Teilnehmerkreis des Oberseminars für zahlreiche Anregungen herzlich gedankt. Prof. Dr. Michael Gissenwehrer, bei dem ich in München im Rahmen meines Magisterstudiums Theaterwissenschaft studiert habe, hat in seiner Vorlesung „Das Ende des Theaters?“ bereits im ersten Studiensemester mein Interesse für kulturwissenschaftliche Fragestellungen geweckt. Dafür, ebenso wie für seine Offenheit in der Betreuung meiner interdisziplinären Magisterarbeit, die mir endgültig den Weg in die Religionswissenschaft gewiesen hat, bin ich sehr dankbar. Für seine Bereitschaft, mit mir in einer frühen Phase der Arbeit während eines Besuchs in Göttingen im April 2007 den historischen Kontext des thailändischen Textes Kitchanukit zu diskutieren, danke ich herzlich Prof. Dr. Barend Jan Terwiel. Ebenfalls gilt mein Dank Prof. Dr. Amarjiva Lochan sowie Prof. Dr. Rosalind I.J. Hackett für ihre vielfältige Unterstützung meiner bisherigen wissenschaftlichen Arbeit. Den Herausgebern der „Critical Studies in Religion/Religionswissenschaft“ danke ich für die Aufnahme dieses Buches in ihre Reihe, ebenso wie den Mitarbeitern des Verlags Vandenhoeck & Ruprecht für die gute Zusammenarbeit. Ein ganz besonderer Dank gilt nochmals Stefan Priester für viele anregende Gespräche zur Thematik dieses Buches wie auch zu zahllosen anderen Themen privater und wissenschaftlicher Natur. Für seine Freundschaft und Unterstützung, gerade in den letzten Tagen vor der Einreichung der Dissertationsschrift, bin ich sehr dankbar. Ebenfalls herzlich bedanken möchte ich mich bei meinen Freundinnen und Freunden Jan Bromberger, Tobias Bühlmann, Jan Heyder, Philip Müller, Damiana Saam sowie bei Beatriz Gonzzlez Melldez für ihre Begleitung in allen Lebenslagen. Gedankt sei darüber hinaus meinen Eltern und ganz besonders meiner Mutter Erica Holtz für vielfältige Unterstützung während der Zeit als Doktorand und der Publikation dieses Buches. Finally, last but not least, very special thanks to the whole Durgas family, from Sri Lanka to Hawaii, for keeping me sane during all those years. Mahalo! München, im August 2014
Adrian Hermann
Einleitung Die vorliegende Arbeit befasst sich mit dem globalen Religionsdiskurs und versucht, diesen im Hinblick auf die ihn charakterisierenden Unterscheidungen zu analysieren. Im Zentrum steht so die Frage nach den Unterscheidungen der Religion. Die im Folgenden präsentierten Analysen bewegen sich in einer Spannung zwischen zwei das Projekt von Beginn an begleitenden Interessen. Der eine – theoretische – Ausgangspunkt der Arbeit war Burkhard Gladigows Beschreibung der „Europäischen Religionsgeschichte“ als einer spezifischen „Konstellation“, welche sich mit dem Versuch verbindet, religionsgeschichtliche Strukturen quer zu bisherigen Erklärungsmustern zu identifizieren. Die Frage, ob sich eine solche Form der Beschreibung auch auf einer globalen Ebene anstreben lässt, kennzeichnet das anfängliche Interesse sowie die zentrale Herausforderung, der sich die vorliegende Arbeit zu stellen versucht. Den anderen – historischen – Ausgangspunkt stellte die von einer konkreten historischen Situation ausgehende Faszination dar. Diese betraf das Siam (Thailand) – oder genauer : das Bangkok – der 1830er bis 1870er Jahre, wo sich im Kontext einer Begegnung zwischen lokalen Eliten und westlichen Akteuren, allen voran christlichen Missionaren, Grundzüge derjenigen Auseinandersetzungen bereits andeuten, die den globalen Religionsdiskurs und besonders den „buddhistischen Modernismus“ (Heinz Bechert) im 19. und frühen 20. Jahrhundert entscheidend geprägt haben. Diese Situation wurde jedoch bisher von der Religionswissenschaft in ihrer Bedeutung für den globalen Religionsdiskurs nicht dezidiert wahrgenommen, auch wenn die ,Faktenlage‘ durchaus auch außerhalb des Kreises der Thailand- und Südostasienspezialisten nicht unbekannt ist. Dies ist nicht zuletzt einem regen Interesse des Hollywood-Kinos an der bekanntesten sich in diesem Umfeld abspielenden Geschichte zu verdanken, deren Verfilmung in Anna and the King of Siam (1946), The King and I (1956) sowie Anna and the King (1999) wiederholt eine breite Öffentlichkeit fasziniert hat.1 Aus religionswissenschaftlicher Sicht ist die bisher mit dieser Situation befasste Forschungsliteratur mit wenigen Ausnahmen2 jedoch unbefriedigend, weil in diesen Studien zumeist genau die Analysekategorien bereits vorausgesetzt werden, deren Infragestellung meiner Ansicht nach die inter1 Siehe dazu jetzt die Studie von Morgan, Susan, Bombay Anna. The Real Story and Remarkable Adventures of the King and I Governess, Berkeley 2008. 2 Etwa Reynolds, Craig J., Buddhist Cosmography in Thai History, with Special Reference to Nineteenth-Century Culture Change, The Journal of Asian Studies, 35/2, 1976, 203 – 220.
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Einleitung
essantesten Forschungsfragen für eine Religionswissenschaft nach der kulturwissenschaftlichen Wende aufwirft. Gleichzeitig hat genau dieses Interesse über den Verlauf der Arbeit an der nun hier vorgelegten Studie dazu geführt, dass eine konkrete historische Analyse dieser spezifischen Situation immer wieder aufs Neue von theoretischen Problemstellungen und Herausforderungen abgelöst wurde, die sich – sehr allgemein formuliert – in den folgenden Fragen widerspiegeln: Was passiert in einer Forschungsarbeit bereits in genau dem Moment, in dem man eine bestimmte historische Situation mit exakt den Kategorien befragt, für deren Geschichte man sich primär interessiert? Was geschieht, wenn man also zum Beispiel in diesem Fall die dort stattfindenden Interaktionen als Begegnung zwischen Religionen, als Konfrontation von Buddhismus und Christentum, als Auseinandersetzung zwischen einer buddhistischen Elite und christlichen Missionaren auffasst? Woher stammen diese Kategorien, welche Konnotationen bringen sie mit sich, und auf welche Weise sind durch sie die dann noch möglichen Forschungsfragen bereits vorgeprägt? Die vorliegende Arbeit hat die im Folgenden verhandelten theoretischen Problemlagen somit zwar einerseits in einer Reihe von historischen Kontexten ,vorgefunden‘, sie aber – wie man auch und genauso berechtigt sagen könnte – in genau jenen Momenten selbst produziert, in denen sie darauf beharrt hat, in diesen historischen Situationen all jene Dinge für überraschend und für nicht trivial zu halten, welche ein Großteil der vorhandenen Forschungsliteratur und oftmals auch die zeitgenössischen Beobachter und Akteure immer schon als selbstverständlich vorausgesetzt haben. Ausgehend von einem zunächst historisch orientierten Interesse an einer religionswissenschaftlich belastbaren Rekonstruktion einer konkreten historischen Situation, gerieten auf diese Weise aufgrund der dort aufscheinenden theoretischen Probleme sehr schnell auch andere historische Kontexte in den Blick. Zum einen, weil das hier verfolgte Frageinteresse – nun von seiner theoretischen, an Gladigow anschließenden Seite her gesehen – auf eine globale Beschreibungsebene zielt, zum anderen aber auch, weil für die dann notwendig werdenden theoretischen Überlegungen sich für andere historische Kontexte bereits vorhandene Forschungsliteratur eher finden ließ, und dann versucht wurde, auch an diese Forschung anzuschließen. Auf der Basis einer Beschäftigung mit der Geschichte Siams im 19. Jahrhundert kreiste der Arbeitsprozess immer wieder um diese eine historische Situation und kam auch aus den jeweils neu erarbeiteten theoretischen Perspektiven wiederholt auf diese zurück. Gleichzeitig hat sich jedoch gezeigt, dass nicht zuletzt aufgrund des fehlenden Zugangs zu lokalsprachlichen Quellen eine detaillierte Rekonstruktion der siamesischen Interaktionsgeschichte nicht geleistet werden konnte. Auch aus diesem Grund wurde dann die Entscheidung getroffen, die Aufgabe der Arbeit ihrem Selbstverständnis nach nicht primär in der Aufarbeitung historischen Materials zu sehen, sondern im Hinweis auf bestimmte für die Religionswissenschaft zentrale Problemlagen in der Beschäftigung mit dem globalen Religionsdiskurs, sowie in
Einleitung
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dem Versuch, an manchen Stellen zu deren Bearbeitung einige Überlegungen und Vorschläge beizutragen. Ihre Leistung besteht somit darin – inspiriert von einer spezifischen historischen Situation (die nun nur im sechsten Kapitel dieser Arbeit in den Blick genommen wird) – zu einer Reihe von theoretischen Fragestellungen vorgestoßen zu sein, deren Bearbeitung die folgenden Kapitel beschäftigen wird. Auch wenn die konkreten Betrachtungen und theoretischen Reflexionen sich dabei teilweise sehr weit von diesen historischen Interaktionen im Siam des 19. Jahrhunderts entfernen, bildet das Bestreben, diese aus religionswissenschaftlicher Perspektive zu betrachten, weiterhin den Hintergrund. Gleichzeitig versteht sich die vorliegende in einem interdisziplinären Austausch mit der Soziologie, aber auch mit anderen nicht primär religionswissenschaftlich orientierten kulturwissenschaftlichen Ansätzen entstandene Arbeit als ein Versuch, die in diesen theoretischen Entwürfen vorliegenden Potentiale für die Religionswissenschaft zu erschließen. Diese Auseinandersetzung, die an zahlreichen Stellen der Arbeit gesucht wird, ist dabei primär eine rekonstruierende, welche die jeweiligen theoretischen Entwürfe ausführlich darstellt und dabei zu begründen versucht, warum eine als Kulturwissenschaft verstandene Religionswissenschaft sich mit dem jeweiligen Ansatz befassen sollte. Zum Aufbau der Arbeit: Da die einzelnen Kapitel ihre Struktur jeweils zu Anfang ausführlich vorstellen, soll der Aufbau der Arbeit hier nur kurz im Überblick angedeutet werden. Ausgehend von Burkhard Gladigows Konzept der „Europäischen Religionsgeschichte“, stößt Teil I der Arbeit „Zur Situation religionswissenschaftlicher Theoriebildung“ im ersten Kapitel unter den Stichworten Diskurstheorie/Religionstheorie, Differenzierung und Globalität auf drei die gesamte Arbeit begleitende Topoi. Die für die Religionswissenschaft grundlegende Frage nach dem Umgang mit der Kategorie ,Religion‘ führt dann im zweiten Kapitel anhand der Auseinandersetzung mit den theoretischen Entwürfen von Benson Saler und Timothy Fitzgerald zum Vorschlag einer Unterscheidung zwischen Religionstheorie und Diskurstheorie als zwei möglichen religionswissenschaftlichen Perspektiven auf ,Religion‘. Im „Zu den Unterscheidungen der Religion und der historischen Analyse der Herstellung von ,Äquivalenten‘ im globalen Religionsdiskurs: Ein zweifacher Perspektivenwechsel“ überschriebenen Teil II entwickelt die Arbeit zunächst im dritten Kapitel anhand der Kontroverse um den ,Eurozentrismus‘ von ,Religion‘ und der Debatte um eine mögliche Identifizierung von außereuropäischen ,Äquivalenten‘ dieses Begriffs einen Vorschlag zu einem zweifachen Perspektivenwechsel. Auf diese Weise könnten die für die bisherige Forschungsliteratur charakteristische Zirkularität der Fragestellung sowie die damit verbundenen Problemlagen durch die Frage ersetzt werden, ob sich ,Religion‘ als frühneuzeitlicher und besonders als moderner Diskurs auffassen und anhand bestimmter Unterscheidungen der Religion charakterisieren
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Einleitung
ließe. Eine als Frageheuristik zu verstehende und im Rückgriff auf bereits vorhandene historische Studien entwickelte Bestimmung zweier solcher Unterscheidungen mit den Stichworten Pluralität und Differenzierung, führt im vierten Kapitel dann zu der Überlegung, dass sich der moderne Religionsdiskurs als diskursive Formation dadurch kennzeichnen lässt, dass ,Religion‘ notwendig in einer Pluralität von gegeneinander abgegrenzten ,Religionen‘ und gleichzeitig als ,Religion‘ in Differenz zu Anderem, primär zu anderen Bereichen3 wie ,Politik‘, ,Recht‘, oder ,Wissenschaft‘ verstanden wird. Der so bestimmte Religionsdiskurs wird im fünften Kapitel als ein letztlich nur in seiner globalen Dimension rekonstruierbarer Diskurs in den Blick genommen. In der Auseinandersetzung mit theoretischen Überlegungen zur sprachübergreifenden Rekonstruktion von Diskursen und dem damit eng zusammenhängenden Problem der Übersetzung werden hierzu theoretische Vorschläge entwickelt. Das sechste Kapitel nimmt aus Sicht der bis dahin herausgearbeiteten Perspektive die Formation des Buddhismus innerhalb des globalen Religionsdiskurses in den Blick. Anhand einer Reihe von historisch orientierten Beispielbetrachtungen und einer ausführlicheren Fallstudie zum Siam des 19. Jahrhunderts werden mögliche Fragestellungen aufgezeigt und mit dem Ziel, die theoretischen Vorschläge zu illustrieren, weiterverfolgt. Im abschließenden Teil III der Arbeit „Zu den Herausforderungen einer religionswissenschaftlichen ,Theorie der Moderne‘“ bewegt sich das siebte und letzte Kapitel der Arbeit primär auf einer theoretischen Ebene und fragt nach der gegenwärtigen Situation, in der sich ein auf das Globale zielendes Theorieinteresse befindet, welches, ausgehend von der bereits bei Gladigow angedeuteten globalen Dimension der ,Religionsgeschichte‘, die in der vorliegenden Arbeit versuchte Auseinandersetzung mit dem globalen Religionsdiskurs auch theoretisch weiterentwickeln möchte. Die hier diskutierten zentralen Stichworte lauten Weltgesellschaftstheorie sowie Theorie funktionaler Differenzierung, die beide zum einen für eine zukünftige Bearbeitung dieser Fragen als unverzichtbar erscheinen, und – wie schon das erste Kapitel aufzeigt – zum anderen auch für den Gladigowschen Entwurf bereits grundlegend sind. Eine die Ergebnisse zusammenfassende und die Frage nach einer ,Globalen Religionsgeschichte‘ aufnehmende Schlussbetrachtung sowie ein kurzer Epilog schließen die Arbeit ab. Eine Reihe weiterer – auch technischer – Hinweise scheinen noch angebracht. So werden Begriffe in Fremdsprachen (besonders aus dem asiatischen Raum) zumeist kursiv gesetzt. Diakritische Zeichen werden jeweils aus den zitierten 3 Die Rede von ,Bereichen‘ ist aufgrund der damit verbundenen räumlichen Metaphorik einer ,Aufteilung‘ der Gesellschaft irreführend, besonders im Hinblick auf die in der vorliegenden Arbeit später erfolgende Anknüpfung an die Differenzierungstheorie Niklas Luhmanns, die Differenzierung als Ausdifferenzierung von Systemperspektiven versteht. Der Begriff wird hier dennoch gewählt, da er anders als etwa ,Sphäre‘, ,System‘ oder ,Feld‘ nicht mit einer spezifischen Theorietradition verbunden ist.
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Arbeiten übernommen und aus technischen Gründen in ihrer Darstellung an manchen Stellen vereinfacht. Somit kann es im Folgenden, besonders innerhalb der Zitate, zu nicht immer übereinstimmenden Transkriptionen und Setzungen von diakritischen Zeichen kommen. Während doppelte Anführungszeichen immer auf ein wörtliches Zitat hinweisen (sowie seltener auf den Versuch der wörtlichen Übersetzung eines Zitats ins Deutsche), wird ebenso intensiv von einfachen Anführungszeichen Gebrauch gemacht, die primär dazu eingesetzt werden, die verwendeten Begriffe zu problematisieren und damit die zu Beginn dieser Einleitung formulierte Frage immer wieder ins Gedächtnis zu rufen: Was passiert bereits in dem Moment, in dem ein Religionswissenschaftler in einer spezifischen Situation einen ganz bestimmten Begriff einsetzt? Auch wenn diese Praxis zur Leserfreundlichkeit vielleicht nicht unbedingt beiträgt, erfüllt sie für die vorliegende Arbeit daher dennoch eine wichtige Funktion.4 Wenn an einigen Stellen aber dann doch von buddhistischen Kontexten die Rede ist, auch wenn besonders der Begriff ,Buddhismus‘ wie auch das Adjektiv ,buddhistisch‘ in vielen anderen Fällen mithilfe der Anführungsstriche problematisiert werden, so ist dies vor allem dem Umstand geschuldet, dass – wie in den folgenden Kapiteln erkennbar sein wird – mit dieser ständigen Problematisierung bestimmter Voraussetzungen nicht die These verbunden ist, dass die hier immer wieder im Zentrum stehenden (kolonialen) ,Religionskonstruktionsgeschichten‘ als fiktive Erfindungen ex nihilo zu verstehen seien, oder dass sich aus der Sicht der Religionswissenschaft überhaupt nichts über außereuropäische Kontexte aussagen lasse. Dies ist insbesondere auch deshalb ein wichtiger Hinweis, da mit dem globalen Religionsdiskurs – zumindest in der Form, wie er in der vorliegenden Arbeit betrachtet wird – nur ein bestimmter Teil dessen in den Blick genommen wird, was religionswissenschaftlich zumeist unter dem Stichwort ,Religion‘ verhandelt wird. Dies gilt neben vielen anderen Aspekten vor allem für die Ebene konkreter (ritueller) Praktiken, die hier nicht zu den vorrangig behandelten Themen gehören. Dennoch kann damit gleichzeitig nicht gesagt sein, dass diese nun als der ,eigentliche Gegenstand‘ der Religionswissenschaft unabhängig von einer Berücksichtigung des globalen Religionsdiskurses betrachtet werden könnten. Vor allem in der ,Moderne‘ ließe sich diese Ebene der Praktiken durchaus ebenso auf ihre komplexen Verflechtungsgeschichten mit 4 In Anknüpfung an Lydia H. Liu, deren Ansatz im fünften Kapitel ausführlich diskutiert wird, ließe sich diese Praxis gleichzeitig als ein Hinweis darauf verstehen, dass auch diese Inanspruchnahme der Begriffe, die hier in einfachen Anführungszeichen stehen, aus diskurstheoretischer Perspektive immer schon als Zitat, als Verweis auf bereits unzählige Male getroffene Aussagen erscheint, die den Diskurs über ,Religion‘ hervorgebracht haben, und die gleichzeitig von ihm hervorgebracht wurden. Sie ließen sich so auch als ,Zitate ohne konkreten Autor‘ begreifen, „[which] point to earlier quotations whose origins are lost in numerous repetitions, evocations, translations and reproductions“ (Translingual Practice. Literature, National Culture, and Translated Modernity. China, 1900 – 1937, Stanford 1995, xvii).
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dem globalen Religionsdiskurs hin untersuchen, auch wenn dies in der vorliegenden Arbeit nicht im Zentrum steht.5 Neben diesen verschiedenen Einschränkungen des Fokus der vorliegenden Arbeit bleibt noch darauf hinzuweisen, dass sich die folgenden Überlegungen als eine primär theoretisch orientierte Auseinandersetzung mit anderen (religions-)wissenschaftlichen Positionen immer wieder in ausführlicher Rekonstruktion auf vorhandene Ansätze beziehen. Oftmals wird hier eine sehr kritische Betrachtung vorgenommen, die versucht, auf ,blinde Flecken‘ oder Problemlagen hinzuweisen, die sich in den jeweiligen theoretischen Vorschlägen anderer Autoren bereits in deren Formulierungen zeigen. Dies geschieht jedoch – darauf möchte ich zu Anfang ausdrücklich verweisen – nicht in dem Glauben, dass sich der vorliegenden Arbeit solche ,blinden Flecken‘ und Unschärfen nicht ebenso nachweisen lassen. Ebenso hat diese genaue Lektüre zumeist nicht das Ziel, die Ansätze und Vorschläge der diskutierten Autoren6 grundlegend abzulehnen. Vielmehr weist eine solch ausführliche und detaillierte Auseinandersetzung auch auf die Leistung der jeweiligen Autoren hin, die – und dies gilt meiner Auffassung nach für jede theoretische wissenschaftliche Arbeit – nicht nur in den konkret vorgelegten Theorieentwürfen liegt, sondern genauso in der Sichtbarmachung von Problemen, die erst anhand solcher konkreter Vorschläge überhaupt erkennbar werden. In jeder der hier präsentierten kritischen Auseinandersetzungen ist somit das detaillierte Nachvollziehen der theoretischen Überlegungen der behandelten Autoren zunächst der Ausgangspunkt, welcher einen sich davon absetzenden oder anders orientierten Vorschlag meinerseits, sowie die im Rahmen der vorliegende Arbeit verfolgten Perspektivenwechsel erst formulierbar macht. Dieser Hinweis auf die bisherigen theoretischen Leistungen anderer Autoren sollte somit nicht nur als eine Floskel verstanden werden. Denn es lässt sich etwa mit Niklas Luhmann darauf verweisen, dass jegliche Form wissenschaftlicher Erkenntnis das Treffen theoretischer Unterscheidungen zunächst voraussetzt, damit überhaupt etwa geschieht.7 Gleichzeitig ist jeglicher theoretische Vorschlag im Luhmannschen Verständnis dann dadurch charakteri5 Siehe als nur ein Beispiel etwa die folgenden Untersuchungen zur Veränderung öffentlicher Lehrund ,Predigt‘-Praxis im kolonialen Indien und Ceylon: Bate, Bernard, Arumuga Navlar, Saivite Sermons, and the Delimitation of Religion, c. 1850, Indian Economic and Social History Review, 42/4, 2005, 467 – 482; ders., The Ethics of Textuality : The Protestant Sermon and the Tamil Public Sphere, in: A. Pandian/D. Ali (Hg.), Ethical Life in South Asia, Bloomington 2010, 101 – 115; Hudson, D. Dennis, Tamil Hindu Responses to Protestants. Nineteenth-Century Literati in Jaffna and Tinnevelly, in: S. Kaplan (Hg.), Indigenous Responses to Western Christianity, New York 1995, 95 – 123. 6 Auch wenn hier und im Folgenden aus Gründen des Leseflusses die männliche Form gewählt ist, und daher nicht von Autorinnen und Autoren gesprochen wird, sind in der vorliegenden Arbeit in der Verwendung der männlichen Form immer alle Geschlechter gemeint. 7 Vgl. Luhmann, Niklas, Einführung in die Systemtheorie, hg. v. Dirk Baecker, Heidelberg 22004, 73: „,Draw a distinction.‘ Mach eine Unterscheidung, sonst geht gar nichts. Wenn du nicht bereit bist zu unterscheiden, passiert eben gar nichts.“
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siert, dass er selbst notwendig einen ,blinden Fleck‘ aufweist. In diesem Sinne ist ein alternatives Vorgehen ohne blinde Flecken überhaupt nicht möglich. Es lässt sich somit als zentraler Aspekt der Leistung jedes – auch des in meiner Arbeit im Folgenden entwickelten – theoretischen Entwurfs verstehen, ,Unterscheidungen‘ zur Beschreibung von ,Religion‘ vorgeschlagen zu haben, die trotz ihrer blinden Flecken nicht nur die mit diesen Unterscheidungen in den Blick genommenen Sachverhalte, sondern auch die hier bearbeiteten Problemlagen überhaupt erst haben aufscheinen lassen. Gleichzeitig sind die ausführlichen Rekonstruktionen und Diskussionen theoretischer Positionen auch dem Interesse an einem close reading theoretischer Texte geschuldet, welches ich für eine zentrale Aufgabe kulturwissenschaftlicher Forschung halte.8 In der Religionswissenschaft findet sich ein solches Vorgehen zum Beispiel in Texten Russell T. McCutcheons oder Timothy Fitzgeralds, die – ähnlich wie es in der vorliegenden Arbeit geschieht – eine Praxis der genauen (Re-)Lektüre wissenschaftlicher Texte verfolgen.9 Letztlich handelt es sich bei der vorliegenden Arbeit um den Versuch einer Reaktion auf eine grundlegende Neuorientierung der Religionswissenschaft, die sich – wie oft betont wird – bereits mit dem Marburger Kongress der International Association for the History of Religions im Jahr 1960 angedeutet hat, und dann spätestens mit der ,kulturwissenschaftlichen Wende‘ auf theoretischer Ebene auch vollzogen geworden ist. Trotz der bereits erfolgten theoretischen Entwicklungen, die vor allem auf eine zunehmend kritische Auseinandersetzung mit dem Religionsbegriff zurückgehen, scheinen mir die sich durch diese Hinwendung zur Kulturwissenschaft auf theoretischer Ebene aufdrängenden Herausforderungen in ihrer Radikalität erst in Kombination mit einem Bewusstsein für die ,realitätsverändernde Kraft‘ des Religionsdiskurses, welche dieser besonders über die letzten 200 Jahre weltweit entfaltet hat, erkennbar zu werden. Dass die Auseinandersetzung mit diesen Herausforderungen für eine Dissertation letztlich ein deutlich zu groß gewähltes Unterfangen darstellt, ist leicht zu erkennen. Dennoch erscheint mir durch die neuere Kritik am Religionsbegriff, die Entwicklung der kulturwissenschaftlichen Theoriebildung und die zunehmende Zahl von Studien zur Kategorie ,Religion‘ in außereuropäischen Kontexten sowie zur ,Erfindung der Weltreligionen‘, eine solche grundlegende Neuausrichtung nahe zu liegen. Die Arbeit an der vorliegenden Dissertation wurde dabei von der seit dem Beginn des Projekts Jahr für Jahr zunehmenden Forschungsaktivität auf diesem Feld überrascht und immer wieder herausgefordert. Nicht zuletzt aus diesem Grund befasst sich die Arbeit 8 Vgl. auch Burke, Peter, What Is Cultural History?, Cambridge 22008, 135. Siehe zum close reading Howe, Elisabeth A., Close Reading. An Introduction to Literature, New York 2009; Brummett, Barry, Techniques of Close Reading, Los Angeles 2010. 9 Siehe etwa Fitzgerald, Timothy, Bruce Lincoln’s „Theses on Method“: Antitheses, Method & Theory in the Study of Religion 18/4, 2006, 392 – 423 und McCutcheon, Russell T., The Category „Religion“ in Recent Publications. A Critical Survey, Numen 42/3, 1995, 284 – 309.
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auch intensiv mit neuerer englischsprachiger Literatur, was gleichzeitig an manchen Stellen die Argumentation, gerade in der Beschäftigung mit den behandelten buddhistischen Kontexten stark geprägt hat, da die vorhandenen und bereits aufgearbeiteten Materialen oft sehr stark durch ein englischsprachiges Umfeld bestimmt sind. Letztlich ist aus diesem Vorhaben dann am Ende der Versuch geworden, zu dieser Neuausrichtung der Religionswissenschaft mit einer Reihe von begrenzten und spezifischen Vorschlägen beizutragen, dabei sowohl eine Vielzahl von mittlerweile vorhandenen Anregungen anderer Studien aufzunehmen, als auch in bestimmten Entscheidungen anders zu optieren, sowie einen reflektierten, diskurstheoretisch orientierten und religionswissenschaftlichen Umgang mit ,Religion‘ vorzuführen. Die Arbeit kreist damit um eine Fragestellung, die sich letztlich auf die Religionswissenschaft als wissenschaftliche Disziplin richtet: Was heißt es, und wie ist es möglich, Religionswissenschaft zu betreiben? Welche Rolle kann und muss hierfür die Kategorie ,Religion‘ spielen? Mit der hier versuchten Anknüpfung an die kulturwissenschaftliche Wende der Religionswissenschaft, mit der nicht zuletzt eine Kritik an der Vorstellung von ,Religion‘ als eines Phänomens sui generis einher geht,10 ist meiner Ansicht nach noch ein weiteres entscheidendes Moment verbunden: Das meiste, was hier im Folgenden aus (diskurs-)theoretischer Perspektive über ,Religion‘ gesagt wird, gilt in ähnlicher Weise für die meisten anderen „essentially contested concepts“, welche die modernen Vorstellungswelten bestimmen.11 Gerade diese relativierende Feststellung erscheint mir als der einzig angemessene Ausgangspunkt einer kulturwissenschaftlichen Perspektive auf ,Religion‘, die weder die Kategorie noch ein Phänomen ,Religion‘ an sich für besonders problematisch hält. Denn erst vor einem solchen Hintergrund und ausgehend von dieser Feststellung, ist es dann religionswissenschaftlich überhaupt möglich, die Frage zu stellen, was an ,Religion‘ besonders sein könnte, und was letztlich dazu geführt hat, dass der Streit um diesen ,neuzeitlichen Grundbegriff ‘ (Ernst Feil) stets so entscheidend gewesen ist, und so tiefgreifende Folgen hatte und immer noch hat.12 Aus religionswissenschaftlicher Sicht ist es daher gerade nicht weiterführend, ,Religion‘ für besonders 10 Siehe McCutcheon, Russell T., Manufacturing Religion. The Discourse on Sui Generis Religion and the Politics of Nostalgia, New York, 1997. 11 Siehe Gallie, Walter B., Essentially Contested Concepts, Proceedings of the Aristotelian Society 56, 1956, 167 – 198. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die folgende wichtige Feststellung von Thomas A. Tweed: „All constitutive disciplinary terms – including ,music,‘ ,art,‘ ,literature,‘ ,culture,‘ and ,religion‘ – are located and contested. All arose, and have been used, in particular social sites for particular purposes“ (Marking Religion’s Boundaries. Constitutive Terms, Orienting Tropes, and Exegetical Fussiness, History of Religions 44/3, 2005, 252 – 276, hier: 263). 12 Siehe zu dieser zentralen Bedeutung des Religionsbegriffs unter anderem Balagangadhara, S.N., „The heathen in his Blindness…“. Asia, the West and the Dynamic of Religion, Leiden 1994 und Dubuisson, Daniel, The Western Construction of Religion. Myths, Knowledge, and Ideology, Baltimore 2003.
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undefinierbar, kompliziert und problematisch zu halten. Eine solche Ansicht ist vielmehr zumeist das Ergebnis einer sehr eingeschränkten und ausschließlich auf die eigene Disziplin fokussierten Betrachtung. Vielmehr müsste eine solche Feststellung durch die Frage ersetzt werden, was die Kategorie ,Religion‘ so besonders mache und von all den anderen zentralen modernen Kategorien (und den mit diesen verbundenen Diskursen) unterscheide – wenn denn eine entsprechende These überhaupt weiterhin vertreten werden soll. Die vorliegende Arbeit versucht in diesem Sinne nicht vorrangig, auf eine klar umrissene Fragestellung oder Thematik ,abschließend‘ zu antworten, sondern stellt vielmehr den Versuch dar, im Feld des globalen Religionsdiskurses, in dem sie sich auch selbst bewegt, eine religionswissenschaftliche Position zu entwickeln – oder zumindest Konturen einer solchen erkennbar werden zu lassen. Auch wenn in der Beschäftigung mit dem globalen Religionsdiskurs hier nur ein erster Versuch vorgelegt werden kann, ist es – so wird im Folgenden hoffentlich deutlich – dennoch gelungen, eine Reihe von weiterführenden theoretischen Ressourcen zu identifizieren, und nicht zuletzt mit den im Folgenden präsentierten Unterscheidungen der Religion ein Werkzeug zu entwickeln, mit dem im Gepäck es möglich sein sollte, bei den nächsten Expeditionen in historische Situationen nicht nur an jeder historischen Blume riechend stehen zu bleiben, sondern vielmehr dann auch etwas mit zurückbringen zu können.13
13 „Jede Art von kulturgeschichtlicher Forschung, nicht nur die soziologische, findet sich heute vor zwei fundamentalen Schwierigkeiten. Die eine betrifft die unerschöpfliche Masse der Einzelheiten, die andere die erkenntnistheoretischen Grundlagen. […] Forscher, die man mit dem Auftrag, festzustellen, wie es wirklich war, ins Feld jagt, kommen nicht zurück; sie apportieren nicht, sie rapportieren nicht, sie bleiben stehen und schnuppern entzückt an den Details“ (Luhmann, Niklas, Ideengeschichte in soziologischer Perspektive, in: ders., Ideenevolution. Beiträge zur Wissenssoziologie, hg. von A. Kieserling, Frankfurt am Main 2008, 234 – 250, hier: 234).
Teil I: Zur Situation religionswissenschaftlicher Theoriebildung
1. Von der „Europäischen Religionsgeschichte“ zur Globalen Religionsgeschichte? Die Texte Burkhard Gladigows bilden für viele Entwicklungen in der deutschsprachigen Religionswissenschaft der vergangenen beiden Jahrzehnte eine zentrale Referenz. Nicht nur hat Gladigow durch seine Mitarbeit am Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe die kulturwissenschaftliche Neuausrichtung der Disziplin stark geprägt, sondern vielmehr geht auch der vielerorts übernommene Begriff „Europäische Religionsgeschichte“ auf einen von ihm 1995 publizierten Aufsatz zurück.1 In diesem Text findet sich bereits eine Bemerkung, die für die vorliegende Arbeit einen wichtigen Ausgangspunkt bildet, an welche in der Debatte um dieses Konzept aber bisher selten explizit angeschlossen wurde. Er spricht hier davon, dass er unter „Europäischer Religionsgeschichte“ eine nicht auf das geographische Europa beschränkte „Konstellation“ versteht, welche den Bereich ihrer Entstehung durchaus überschreiten kann und in ihren Auswirkungen daher nicht unbedingt auf Europa beschränkt geblieben ist.2 Die Darstellung der von mir in dieser Arbeit verfolgten Frageperspektive beginnt in diesem Kapitel daher mit einem kurzen Überblick über wichtige Kennzeichen des Konzepts „Europäische Religionsgeschichte“ (1.1 – 1.3) und kommt am Ende auf diese, meiner Ansicht nach bisher nur ungenügend rezipierte Beobachtung Gladigows zu sprechen. Gleichzeitig nehme ich hier bereits drei grundlegende Topoi vorweg, welche die gesamte Arbeit prägen werden: Die Zentralstellung von Differenzierung für die moderne Geschichte von ,Religion‘ (1.2), die Notwendigkeit einer Unterscheidung von Diskurstheorie und Religionstheorie (1.3), sowie einen Fokus auf globale Verflechtungen (1.4). Eine Zusammenfassung schließt das Kapitel ab (1.5).
1 Siehe Gladigow, Burkhard, Europäische Religionsgeschichte, in: H.G. Kippenberg/B. Luchesi (Hg.), Lokale Religionsgeschichte, Marburg 1995, 71 – 92. Siehe als ,Kanonisierung‘ seines religionswissenschaftlichen Ansatzes auch die Aufsatzsammlung ders., Religionswissenschaft als Kulturwissenschaft, hg. von C. Auffarth/J. Rüpke, Stuttgart 2005. Zur Debatte um Gladigows Vorschläge vgl. jetzt auch Hermann, Adrian/Mohn, Ju¨ rgen, Das Konzept der „Europäischen Religionsgeschichte“ und die Orte ihrer Verdichtung und Verflechtung. Eine Hinfu¨hrung, in: dies. (Hg.), Orte der europäischen Religionsgeschichte, Wu¨ rzburg 2015, 9 – 33. Die hier folgenden Abschnitte dieses Kapitels greifen zum Teil auf Formulierungen dieser Einleitung zurück. 2 Vgl. Gladigow, Europäische Religionsgeschichte, 22, 27. Siehe auch im Weiteren Abschnitt 1.4. Zumindest bin ich nicht auf eine diesen Aspekt ausführlich aufnehmende Rezeption des Konzepts gestoßen. Siehe aber z. B. Mohn, Jürgen, Mythostheorien. Eine religionswissenschaftliche Untersuchung zu Mythos und Interkulturalität, München 1998, 163 (Fußnote 1), 179.
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Von der „Europäischen“ zur Globalen Religionsgeschichte?
1.1 Das Konzept „Europäische Religionsgeschichte“ Forschungen zur europäischen Religionsgeschichte der Neuzeit haben besonders im letzten Jahrzehnt in den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen wieder an Bedeutung gewonnen.3 Die in diesem Rahmen entstandenen Studien haben zum Teil ihren Gegenstandsbereich erweitert und den Blick auf Strömungen und Entwicklungen gerichtet, die bisher nur sekundär oder gar nicht als Bestandteil von (europäischer) Religionsgeschichte behandelt wurden.4 Dennoch beschränken sich diese Vorschläge bisher vielfach noch auf „additive[] Religionsgeschichten Europas“,5 d. h. auf weitgehend isolierte Beschreibungen einzelner ,Religionen‘ oder ,Traditionen‘ und bleiben daher – wenn auch oft implizit – bekannten Beschreibungsmustern verpflichtet (Konfessionalisierung, Säkularisierung etc.) oder konstruieren zusätzlich alternative Strömungen wie die ,Esoterik‘. Eine einseitige Fokussierung auf institutionalisierte religionsgeschichtliche Phänomene und eine enge Orientierung an christlich-theologischen Modellvorstellungen hat auf diese Weise lange den Blick auf komplexere im Rahmen der Religionswissenschaft formulierte Vorschläge und grundlegende Einwände gegenüber einer so konzipierten ,Religionsgeschichte‘ verstellt. Unter dem Stichwort „Europäische Religionsgeschichte“ wurde dagegen von Burkhard Gladigow eine Neubeschreibung von Europas Religionsgeschichte als „spezifische[r] Konstellation“ vorgeschlagen, welche in ihrer 3 Siehe u. a. religionswissenschaftlich: Elsas, Christoph, Religionsgeschichte Europas. Religiöses Leben von der Vorgeschichte bis zur Gegenwart, Darmstadt 2002; Kippenberg, Hans G. et al. (Hg.), Europäische Religionsgeschichte. Ein mehrfacher Pluralismus, 2 Bände, Göttingen 2009. Geschichtswissenschaftlich: Nipperdey, Thomas, Religion im Umbruch. Deutschland 1870 – 1918, München 1988; Lehmann, Hartmut, Säkularisierung. Der europäische Sonderweg in Sachen Religion, Göttingen 2004; Ziemann, Benjamin, Sozialgeschichte der Religion. Von der Reformation bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main 2009. Theologisch: Graf, Friedrich W., Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2007; ders., Euro-Gott im starken Plural? Einige Fragestellungen für eine europäische Religionsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Journal of Modern European History 3/2, 2005, 231 – 256. Vgl. zur rezenten Forschungsgeschichte in der Geschichtswissenschaft Neugebauer-Wölk, Monika, Zur Konstituierung historischer Religionsforschung 1974 bis 2004, zeitenblicke 5/1, 2006, http://www.zeitenbli cke.de/2006/1/Einleitung (archiviert unter http://www.webcitation.org/6SmIscMif). Einen aktuellen Überblick über den Diskussionsstand bieten Bigalke, Bernadett et al., Europa als religionswissenschaftliches Feld. Europäische Religionsgeschichte revisited, Religion, Staat, Gesellschaft 12/2, 2011, 317 – 342 sowie jetzt auch Hermann/Mohn, Das Konzept der „Europäischen Religionsgeschichte“, 9 – 22. 4 Vgl. dagegen noch Lanczkowski, Günter, Religionsgeschichte Europas, Freiburg im Breisgau 1971. Siehe zur Frage „Religionsgeschichte Europas oder Europäische Religionsgeschichte“ auch: Stausberg, Michael, Faszination Zarathushtra. Zoroaster und die europäische Religionsgeschichte der frühen Neuzeit, 2 Bände, Berlin 1998, 13 – 20. 5 Gladigow, Burkhard, Europäische Religionsgeschichte seit der Renaissance, zeitenblicke 5/1, 2006, http://www.zeitenblicke.de/2006/1/Gladigow (archiviert unter http://www.webcitation. org/6SmIy4MmI), Absatz 1.
Das Konzept „Europäische Religionsgeschichte“
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Entwicklungsdynamik besonders durch Professionalisierungs- und Ausdifferenzierungsprozesse geprägt und als Konstellation nicht allein an den geographischen Raum ,Europa‘ gebunden sei.6 Ziel seines Vorschlags ist es, die Komplexität religionsgeschichtlicher Rekonstruktionen besonders der europäischen Neuzeit auf ein höheres theoretisches Niveau zu heben und damit der Vielschichtigkeit der europäischen Situation besser gerecht zu werden. Zu diesem Zweck möchte er „das Gesamtspektrum an religiösen Orientierungen“7 in den Blick nehmen, den „europäische[n] ,Markt an Sinnangeboten‘“, der bisher in seiner „Breite, Struktur und spezifischen Tradition“8 von der Religionswissenschaft nicht systematisch analysiert worden sei: Das bedeutet, daß nicht nur die ,positiven Religionen‘, d. h. die institutionell verfestigten Religionen vorgestellt werden sollen, sondern die koexistierenden informellen – oder anders organisierten religiösen Orientierungsmuster und Deutungssysteme.9
In der Folge einer solchen Erweiterung des religionswissenschaftlichen Gegenstandsbereichs werde es erforderlich, sich neuartigen theoretischen Fragen zu nähern, wobei Gladigow das Problem einer „Definition von ,Religion‘“ dabei allerdings nicht als vorrangig erachtet. Für ihn tritt vielmehr eine andere Aufgabe in den Mittelpunkt: „die Frage nach den Bedingungen von Wahlmöglichkeiten zwischen unterschiedlichen Sinn-, Symbol- oder Deutungssystemen – um einmal den Begriff Religion zu vermeiden.“10 Ein solcher „,Markt‘ an Sinnangeboten“ erfordere eine Analyse, welche die Pluralität in deren Verbreitung, Diffusion und Trägerschaft beschreiben könne und auf Phänomene der Kooperation und Komplementarität, der Polemik und des Dialogs, des Ausschlusses und der Inklusion, sowohl in Bezug auf die Systeme als auch deren Träger reagieren könne. Ein solcher Komplex lasse sich, so Gladigow, „am ehesten als ein ,Feld‘ beschreiben, dessen Struktur, nicht nur für die Europäische Religionsgeschichte, von der Religionswissenschaft freilich erst erschlossen werden muß.“11 In der Entwicklung einer „Semiotik“, 6 Vgl. Gladigow, Europäische Religionsgeschichte, 22. Siehe auch Gladigow, Burkhard, Kulturen in der Kultur, in: H.W. Blanke/J. Rüsen (Hg.), Dimensionen der Historik. Geschichtstheorie, Wissenschaftsgeschichte und Geschichtskultur heute. Jörn Rüsen zum 60. Geburtstag, Köln 1998, 53 – 66; ders., Religion in der Kultur – Kultur in der Religion, in: F. Jaeger/J. Rüsen (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften. Themen und Tendenzen, 3 Bände, Stuttgart 2004, Bd. 3, 21 – 33; Auffarth, Christoph, Europäische Religionsgeschichte, in: ders. et al. (Hg.), MetzlerLexikon Religion. Gegenwart – Alltag – Medien, 4 Bände, Stuttgart 1999 – 2002, Bd. 1, 330 – 336. Zum Konzept weiter: Gladigow, Europäische Religionsgeschichte seit der Renaissance. Eine Anwendung und Weiterführung des Konzepts anhand zahlreicher Beispiele findet sich in Kippenberg et al. (Hg.), Europäische Religionsgeschichte. 7 Gladigow, Europäische Religionsgeschichte, 24. 8 Ebd., 22. 9 Ebd., 24. 10 Ebd., 28. 11 Ebd. Vergleiche auch S. 27 zur Rede von einem „religiösen Feld“.
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Von der „Europäischen“ zur Globalen Religionsgeschichte?
„die die einzelnen Religionen, die Sinnkonstrukte von Teilbereichen der Gesellschaft, wie Zeichen eines Zeichensystems zusammenstellt“12 sei es entscheidend, auch „nach Funktion, Struktur und Intention konkurrierende Bereiche mit in den Gegenstandsbereich von Religionswissenschaft aufzunehmen.“13 Die von Gladigow vorgeschlagene Perspektive auf die „Europäische Religionsgeschichte“ bietet eine Fülle an neuen Beschreibungskategorien und weist auf zahlreiche bisher wenig beachtete Möglichkeiten der religionswissenschaftlichen Analyse hin.14 Gleichzeitig erfordert die oftmals nur skizzenhafte Ausformulierung der theoretischen Vorschläge sowie die Tendenz zur Vermengung unterschiedlicher theoretischer Ebenen und die oft nur begriffliche Anlehnung an theoretische Vorschläge aus Soziologie, Ethnologie und Geschichtswissenschaft eine tiefgreifendere theoretische Reflexion, wenn dieses Konzept als Grundlage einer systematischen und religionswissenschaftlich weiterführenden Theoriebildung dienen soll. So setzt Gladigow etwa das Kriterium der ,Sinnangebote‘ als zentrales Vergleichsmoment ein und beschreibt verschiedene gesellschaftliche Subsysteme als Produzenten von Sinnstrukturen. Den Begriff ,Sinn‘ verwendet er dabei jedoch sowohl semiotisch als auch hermeneutisch und vorwissenschaftlich bzw. alltagssprachlich, während definitorische Fragen vorläufig ausgeblendet bleiben.15 In seiner Rede von den „Sinnkonstrukte[n] von Teilbereichen“ klingt jedoch eine der zentralen theoretischen Quellen, auf die Gladigow sich bezieht, bereits an: die Systemtheorie Niklas Luhmanns.
1.2 Gesellschaftliche Ausdifferenzierung und „Europäische Religionsgeschichte“ Setzt man sich intensiver mit den theoretischen Grundlagen auseinander, auf denen Gladigow seinen Entwurf aufbaut, fällt auf, dass er seinen Überlegungen explizit ein Konzept im Anschluss an die soziologische Gesellschaftstheorie (und besonders die Systemtheorie Niklas Luhmanns) zugrundelegt, welches er als „strukturellen Hintergrund der europäischen Entwicklungen“16 ansieht: die Vorstellung eines neuzeitlichen Übergangs von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung: 12 Ebd., 37. 13 Ebd., 29. 14 Vgl. ausführlicher Hermann/Mohn, Das Konzept der „Europäischen Religionsgeschichte“, 9 – 22. 15 Vgl auch DFG-Antrag „Sinn-Konfigurationen und ihre Interferenzen (Religion, Kunst, Wissenschaft)“, Antragstellerin: Alexandra Grieser (mit Julia Stenzel, Jan Mohr, Adrian Hermann) [Unveröffentlicht], 2007, 4. 16 Gladigow, Europäische Religionsgeschichte, 25, 4.
Gesellschaftliche Ausdifferenzierung und „Europäische Religionsgeschichte“ 29 Mit dem Aufkommen der modernen europäischen Gesellschaften gewinnt die funktionale Differenzierung gegenüber der stratifikatorischen in einem solchen Maße die Oberhand, daß sich der gesamte „semantische Apparat“ (Luhmann) der Kulturen verändert. Die kulturellen Subsysteme (Wirtschaft, Recht, Kunst, traditionelle Religion) entwickeln unter diesen Bedingungen je eigene Deutungsund Sinnsysteme, die nicht mehr notwendig miteinander verrechenbar sind. 17
Genau dies sieht Gladigow als ein zentrales Charakteristikum der Europäischen Religionsgeschichte an: Die spezifischen Strukturen einer europäischen Religionsgeschichte sind durch die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse bestimmt, die durch beschleunigte Ausdifferenzierungsprozesse sukzessiv gesellschaftliche Teilbereiche mit ,eigenen‘ Sinnsystemen entstehen ließen.18
Bedeutsam sei für eine religionswissenschaftliche Rekonstruktion daher vor allem „der Überblick über die höchst unterschiedlichen Formen von Sinnstiftung, welche die für Europa charakteristischen, schnellen Ausdifferenzierungsprozesse begleitet haben, und noch begleiten.“19 Viele der bereits genannten Charakteristika der „Europäischen Religionsgeschichte“ lassen sich – wenn man Gladigow folgt – somit (auch) als Ergebnis von gesellschaftlicher Differenzierung begreifen. Die systemtheoretische Fassung der Theorie funktionaler Differenzierung ist allerdings nur die aktuellste Form einer in der Geschichte der Soziologie breit diskutierten Theorieoption, den Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, zu deren Vertretern sich neben Niklas Luhmann etwa auch Max Weber und Emile Durkheim zählen lassen.20 Gleichzeitig geht Gladigows Interpretation der Luhmannschen Theorie über das hinaus, was sich in dessen systemtheoretischen Darstellungen findet, insofern als er von einer religiösen „Sinnproduktion“ in verschiedensten gesellschaftlichen „Deutungs- und Sinnsystemen“ ausgeht. Die damit angezielte Nutzbarmachung systemtheoretischer Einsichten für das, was man eine religionswissenschaftliche Theorie gesellschaftlicher Differenzierung nennen 17 Ebd., 26. 18 Gladigow, Burkhard, Historische Orientierungsmuster in komplexen Kulturen. Europäische Religionsgeschichte und historischer Sinn, in: K.E. Müller (Hg.), Historische Sinnbildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien, Reinbek bei Hamburg 1997, 353 – 372, hier: 364. Vgl. auch ders., Europäische Religionsgeschichte, 36. Dies ist auch für seine weiteren Überlegungen zugrundegelegt: „In der unmittelbaren Anpassung der Sinnproduktion an die veränderten Bedingungen der Ausdifferenzierungsprozesse, im Jargon der Wissenssoziologie: in der schnellen Erweiterung der Plausiblitätsstrukturen, liegt die Signatur der Neuzeit. ,Sinn‘ wird nun nicht mehr über eine Deutung alter ,Offenbarung‘ gesichert und vermittelt, sondern über konkurrierende, aktuelle Naturdeutungen, Geschichtsdeutungen, Weltdeutungen“ (ebd., 37 – 38). 19 Ebd., 37. 20 Siehe einführend Schimank, Uwe, Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, Wiesbaden 3 2007.
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Von der „Europäischen“ zur Globalen Religionsgeschichte?
könnte, wird allerdings von Gladigow auch in weiteren Publikationen nicht systematisch in ihren theoretischen Grundlagen entfaltet. Aus diesem Grund und weil das von Gladigow vorgeschlagene Konzept mittlerweile für viele Studien in der deutschsprachigen Religionswissenschaft als theoretische Hintergrundfolie dient, scheint für die religionswissenschaftliche Theoriebildung eine ausführlichere Auseinandersetzung mit Differenzierungstheorie notwendig zu sein.21
1.3 ,Religion‘ und die religionswissenschaftliche Theoriebildung Die Notwendigkeit, Gladigows Ansatz einer weitergehenden theoretischen Reflexion zu unterziehen, lässt sich auch an seinem Umgang mit der Kategorie ,Religion‘ erkennen. So betrachtet er die Entstehung eines Religionsbegriffs zunächst als eines der zentralen Charakteristika der „Europäischen Religionsgeschichte“. Seine Erzeugung sei das Ergebnis einer „Professionalisierung der christlichen Religion im Medium von Wissenschaften“ und gehe mit einer „,Singularisierung‘“ und exklusiven Zugehörigkeit eines Menschen zu einer Religion einher.22 Gleichzeitig erlaube es ein solcher Begriff, im Zuge der Römischen und Europäischen Religionsgeschichte ,Religion‘ als einen spezifischen kulturellen Bereich zu ,verrechtlichen‘. In der Durchsetzung des Prozesses funktionaler Differenzierung werde ,Religion‘ dann gleichsam zu einem Teilbereich der Gesellschaft. Dass Europa über einen solchen Begriff von ,Religion‘ verfüge, und dass sich um diesen herum ein wissenschaftlicher, politischer und rechtlicher Diskurs entwickle, zähle zu den zentralen Kennzeichen der europäischen Geschichte.23 Allerdings will Gladigow mit seinem Konzept für die Religionswissenschaft noch mehr erreichen. Obwohl er die Frage einer Definition von ,Religion‘ explizit zurückstellt, setzt er die Kategorie dennoch ein, um etwa von einem „religiösen Feld“ zu sprechen oder weicht (um, wie er betont, den Begriff „Religion“ zu vermeiden) auf andere Begrifflichkeiten wie „Sinn-, Symboloder Deutungssysteme[]“ aus. Ziel seines Theorieprogramms ist es dabei, den Bereich der für die Religionswissenschaft interessanten Phänomene zu erweitern und zusätzlich zu den „,positiven Religionen‘“ auch andere Deutungsmuster und Orientierungssysteme zu analysieren. In den Blick treten dann die „Sinnsysteme“ der anderen gesellschaftlichen Teilbereiche, die konstitutive Rolle der europäischen Wissenschaften im Rahmen von „vertikale[m] Transfer“ oder „Nativismus“ sowie eine Sinnstiftung durch Popularisierungen. All dies ergänzt und erweitert die Perspektive auf die Dynamik 21 Vgl. hierzu auch Kapitel 7 der vorliegenden Arbeit. 22 Gladigow, Europäische Religionsgeschichte seit der Renaissance, Absatz 20. 23 Vgl. ebd., Absatz 21 und die Angaben unter 1.1.
,Religion‘ und die religionswissenschaftliche Theoriebildung
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zwischen universeller, singularisierender „Religion“ und verschiedenen regional und hierarchisch geordneten „Polytheismen“ sowie „mitlaufende[n] Monotheismen“, „mitlaufende[n] Polytheismen“ und „insuläre[n] Monotheismen“.24 Es scheinen bei Gladigow im Umgang mit ,Religion‘ und in der Bestimmung des religionswissenschaftlichen Gegenstandsbereiches somit zwei unterschiedliche Interessen vorzuherrschen: Er bestimmt ,Religion‘ zum einen als einen Begriff und damit verbundenen Diskurs, der kennzeichnend für die Europäische Religionsgeschichte ist. Diese Betrachtung ist zunächst rekonstruierend und ließe sich – wie ich im Folgenden in Kapitel 2 vorschlagen werde – als ein diskurstheoretisches Interesse an ,Religion‘ beschreiben. Zum anderen verfolgt er aber auch explizit das Interesse, den religionswissenschaftlichen Gegenstandsbereich – das „religiöse Feld“ – auf eine komplexere Weise zu bestimmen als bisher üblich, und damit das zu theoretisieren, was die Religionswissenschaft als ihren Gegenstand ,Religion‘ bearbeitet.25 Dieses religionstheoretische Interesse ist allerdings nicht explizit von der ersten, diskurstheoretischen Perspektive getrennt und bleibt daher – besonders durch die ausdrückliche Vermeidung einer Auseinandersetzung mit der Definition von ,Religion‘ – theoretisch unterbestimmt. Die hier aufscheinende zentrale Problematik der Unterscheidung zweier religionswissenschaftlicher Perspektiven auf ,Religion‘ wird im nächsten Kapitel der vorliegenden Arbeit ausführlicher entfaltet. Neben diesem problematischen Umgang mit ,Religion‘ sowie der Betonung der Bedeutung des gesellschaftsstrukturellen Wandels für die neuzeitliche Europäische Religionsgeschichte, findet sich in Gladigows Entwurf noch ein weiterer wichtiger Hinweis, der allerdings nicht weiter ausgeführt wird und in der Rezeption des Konzepts „Europäische Religionsgeschichte“ bisher oft übersehen wurde: die Beziehungen und Interferenzen zwischen ,europäischer‘ und ,außereuropäischer‘ bzw. ,globaler‘ Religionsgeschichte.
24 Vgl. Gladigow, Europäische Religionsgeschichte, 27 – 33 und Gladigow, Burkhard, Mediterrane Religionsgeschichte, Römische Religionsgeschichte, Europäische Religionsgeschichte. Zur Genese eines Fachkonzepts, in: H.F.J. Horstmanshoff et al. (Hg.), Kykeon. Studies in Honour of H.S. Versnel, Leiden 2002, 49 – 67, hier: 50 – 54. 25 Dies ist in Gladigows Konzept vor allem mit der Behauptung verbunden, dass sich das, was die Religionswissenschaft unter ,Religion‘ im Kontext einer „Europäischen Religionsgeschichte“ untersuchen sollte, keineswegs auf das ausdifferenzierte Subsystem „Religion“ beschränkt. Vielmehr gehören zum „Gesamtspektrum an religiösen Orientierungen“ gerade auch die „Sinn-, Symbol- oder Deutungsysteme[]“ der anderen gesellschaftlichen Teilsysteme, deren Interferenzen mit dem System „Religion“, sowie gegenseitige Beeinflussungen.
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Von der „Europäischen“ zur Globalen Religionsgeschichte?
1.4 Die globale Dimension der „Europäischen Religionsgeschichte“ Schon in seinem Aufsatz von 1995 weist Gladigow darauf hin, dass er sein Konzept der „Europäischen Religionsgeschichte“ nicht nur als einen Vorschlag zur Beschreibung der (Religions-)Geschichte des geographischen Europas versteht.26 Gerade die Bezeichnung mit dem qualifizierenden Adjektiv statt des genitivus limitationis (,Religionsgeschichte Europas‘)27 deutet darauf hin, dass er – wie oben bereits erwähnt – das, was er beschreibt, zwar als regional entstandene „spezifische Konstellation“ versteht, die „Europäische Religionsgeschichte“ sich darauf aber nicht beschränken lasse: Es geht somit nicht um das Problem der Regionalisierung in definierten Grenzen, sondern um eine regional entstandene, spezifische Konstellation, die allerdings durchaus den Bereich ihrer Entstehung überschreiten kann.28 […] Für die so konzipierte Europäische Religionsgeschichte, deren Auswirkungen durchaus nicht auf das Gebiet Europas beschränkt geblieben sind, ist spätestens seit der Renaissance eine Wahlmöglichkeit zwischen Sinnsystemen möglich.29
Die Bedeutung dieser in Gladigows Entwurf nur in Form von kurzen Hinweisen implizierten Beziehungen und Interferenzen zwischen europäischer und außereuropäischer ,Religionsgeschichte‘ muss intensiver reflektiert werden. Dabei fällt zunächst auf, dass es leicht zu einem theoretischen Ungleichgewicht kommen kann, wenn die „Europäische Religionsgeschichte“ mithilfe theoretischer Konzepte zunehmend als ein hochkomplexer Prozess analysiert wird, wohingegen Betrachtungen der ,Religionsgeschichten‘ anderer Weltregionen weiterhin in bisherigen Kategorien und Begrifflichkeiten verbleiben.30 Ein solches Ungleichgewicht reproduziert nur überkommene Dichotomien zwischen Europa und dem Rest der Welt. Statt dessen müsste ein alternatives Vorgehen die Verflechtung der neuzeitlichen Geschichte berücksichtigen. Die spezifische Konstellation „Europäische Religionsgeschichte“ ist somit (in Anknüpfung an das Gladigowsche Verständnis) nicht auf das geo26 Vgl. zur Problematik eines geographischen Europabegriffs für die „Europäische Religionsgeschichte“ auch Rüpke, Jörg, Europa und die Europäische Religionsgeschichte, in: H.G. Kippenberg et al. (Hg.), Europäische Religionsgeschichte. Ein mehrfacher Pluralismus, 2 Bände, Göttingen 2009, 3 – 14. 27 Vgl. Gladigow, Europäische Religionsgeschichte, 22. 28 Ebd., 22, meine Hervorhebung. 29 Ebd., 27, meine Hervorhebung. Vgl. auch folgende Stelle: „Möglicherweise ist die neuere Europäische Religionsgeschichte mehr (was wohl nur bedeutet: früher) als andere Regionen der Erde durch informelle, unsichtbare, diffuse Religion oder Religionen bestimmt“ (ebd., 24 – 25). 30 Siehe hierzu auch die Kritik an dem Konzept der „Europäischen Religionsgeschichte“ in Kleine, Christoph, Wozu außereuropäische Religionsgeschichte? Überlegungen zum Nutzen der außereuropäischen Religionsgeschichte für die religionswissenschaftliche Theorie- und Identitätsbildung, Zeitschrift für Religionswissenschaft 18/1, 2010, 3 – 38 sowie als Gegenposition Hermann/Mohn, Das Konzept der „Europäischen Religionsgeschichte“, 20 – 22.
Zusammenfassung
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graphische Europa begrenzt, sondern hat seit ihrer Entstehung zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert den gesamten ,Westen‘ (Nordamerika ist spätestens seit dem beginnenden 18. Jahrhundert ein zentraler Träger dieser Konstellation) und die ganze Welt beeinflusst. Eine europäisch-westliche Konstellation von ,Religionsgeschichte‘ – so ließe sich vor diesem Hintergrund sagen – trägt (besonders im Rahmen von Mission und Kolonialismus) spätestens seit dem 19. Jahrhundert zu ,religionsgeschichtlichen Entwicklungen‘ weltweit bei. Indem andere Weltregionen dabei aber nur als Rezipienten europäischer Entwicklungen und nicht als gleichberechtigte (Mit-)Produzenten dieser Konstellation vorgestellt werden, perpetuiert eine solche ,Ausbreitungsgeschichte‘ allerdings eine modernisierungstheoretische Beschreibung Europas als Zentrum und Initiator einer Entwicklung hin zu einer – wie man in Weiterführung Gladigows sagen könnte – ,Globalen Religionsgeschichte‘. Die im Anschluss an diese Hinweise Gladigows vorgeschlagene und im Rahmen der vorliegenden Arbeit verfolgte Perspektive fokussiert daher nicht nur einseitig auf die Verbreitung einer europäisch-westlichen Konstellation von ,Religionsgeschichte‘, sondern interessiert sich für die Verflechtungsgeschichten, welche sowohl die Herausbildung als auch die globale Etablierung dieser Konstellation erst ermöglicht haben.31 In diesem Zusammenhang ließe sich die These entwickeln, dass die Konstellation „Europäische Religionsgeschichte“ aufgrund der hegemonialen Stellung des Westens über den Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts einen modernen Religionsdiskurs hervorgebracht hat und damit in eine Konstellation ,Globaler Religionsgeschichte‘ übergegangen ist, in der verschiedene der zentralen Charakteristika der von Gladigow beschriebenen „Europäischen Religionsgeschichte“ weltweite Bedeutung erlangt haben.
1.5 Zusammenfassung: Die „Europäische Religionsgeschichte“ und die Differenzierung und Globalität von ,Religion‘ In der Auseinandersetzung mit Gladigows Konzept der „Europäischen Religionsgeschichte“, welches für die Genese der vorliegenden Arbeit der erste Ausgangspunkt war, lassen sich somit drei zentrale Aspekte festhalten, die in den folgenden Kapiteln wieder aufgegriffen werden: 31 Zur Verflechtungsgeschichte siehe Randeria, Shalini, Geteilte Geschichte und verwobene Moderne, in: J. Rüsen (Hg.), Zukunftsentwürfe. Ideen für eine Kultur der Veränderung, Frankfurt am Main 1999, 87 – 96; Becker, Felicitas, Netzwerke vs. Gesamtgesellschaft: ein Gegensatz? Anregungen für Verflechtungsgeschichte, Geschichte und Gesellschaft 30/2, 2004, 314 – 324; Werner, Michael/Zimmermann, B~n~dicte, Beyond Comparison. Histoire Crois~e and the Challenge of Reflexivity, History and Theory 45/1, 2006, 30 – 50. Vgl. auch die folgenden Kapitel der vorliegenden Arbeit und besonders Abschnitt 5.1.
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Von der „Europäischen“ zur Globalen Religionsgeschichte?
Differenzierungstheorie als notwendige Grundlage: Gladigow selbst lehnt sich in seinem Entwurf grundlegend an Niklas Luhmanns Beschreibung gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse an. Es ist gerade die Luhmannsche Konzeption der Ausdifferenzierung einer Reihe von autonomen Subsystemen der Gesellschaft, die Gladigow zu der Annahme führt, dass jedes dieser Systeme im Verlauf der europäischen Geschichte eigene Sinnangebote und Sinnstrukturen entwickelt, die dann von der Religionswissenschaft auf einem komplexen „religiösen Feld“ verortet und analysiert werden sollten. Differenzierung lässt sich so als ein grundlegendes Moment der Gladigowschen Vorstellung von „Europäischer Religionsgeschichte“ erkennen. Dies wurde in der Auseinandersetzung mit diesem Konzept bislang nur ansatzweise auch theoretisch reflektiert. Eine solche Reflexion wäre aber notwendig, denn gleichzeitig geht die von Gladigow vorgetragene Position als Weiterentwicklung oder spezifische Interpretation der Luhmannschen Systemtheorie über dessen Theorieanlage hinaus. Denn auch wenn sich nach Luhmann jedes gesellschaftliche Subsystem als „Sinnsystem“ beschreiben ließe,32 ist eine als ,religiös‘ analysierbare ,Sinnproduktion‘ gesellschaftlicher Bereiche in dem von Gladigow beschriebenen Sinne bei Luhmann selbst nicht vorgesehen. Hier könnte höchstens auf die jeweiligen Semantiken und Selbstbeschreibungen der Systeme verwiesen werden und auf die basale Grundlegung des Sinnbegriffs in der Systemtheorie, was allerdings – wollte man der Gladigowschen Interpretation folgen – einer deutlich ausführlicheren und bisher nicht geleisteten religionswissenschaftlichen Theoretisierung bedürfte. Festzuhalten bleibt, dass sich von „Europäischer Religionsgeschichte“ nach Gladigow nicht reden lässt, ohne die aus der soziologischen Theorie übernommene Differenzierungsthematik gleichzeitig in den Mittelpunkt zu stellen. Die ,Religion‘ der Religionswissenschaft: Zum anderen wird bei Gladigow eine grundlegende Problematik offensichtlich, welche den religionswissenschaftlichen Umgang mit ,Religion‘ betrifft. So stellt er einerseits mehrfach fest, dass ,Religion‘ als Begriff ein Produkt der von ihm beschriebenen „Europäischen Religionsgeschichte“ sei. Nicht zuletzt deshalb möchte er die Debatte um eine Definition von ,Religion‘ vermeiden. Andererseits setzt er ,Religion‘ aber selbst wiederholt als theoretische Kategorie ein (etwa in der Bezeichnung „religiöses Feld“), um die Relevanz der von ihm beschriebenen Phänomene für die Religionswissenschaft und ihre Verortung in deren Gegenstandsbereich zu sichern. Hier deutet sich ein Problem an, das ich im Rahmen der vorliegenden Arbeit mit der Unterscheidung von Diskurstheorie und Religionstheorie zu bearbeiten versuche, und das ich im nächsten Kapitel ausführlich behandeln werde.
32 In der Vorstellung der Luhmannschen Theorie operieren alle sozialen Systeme im Medium von Sinn. Vgl. Luhmann, Niklas, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984, 92 – 147.
Zusammenfassung
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Von der „Europäischen Religionsgeschichte“ zur Globalen Religionsgeschichte: Darüber hinaus sollte das, was Gladigow als die „Konstellation“ der Europäischen Religionsgeschichte beschreibt, nicht als untrennbar mit dem geographischen Europa verbunden verstanden werden. Vielmehr verweist sein Entwurf auf eine Reihe von Kennzeichen dieser Konstellation (wie etwa die Herausbildung eines Religionsbegriffs), die zwar die europäische Geschichte zentral bestimmt hat, aber in ihren Auswirkungen nicht nur auf Europa beschränkt geblieben ist. Mit, aber auch gegen Jens Schlieter33 ist daher die Forderung nach einer globalgeschichtlichen Neuorientierung der Religionswissenschaft auf eine Verflechtungsgeschichte hin zu unterstreichen, gerade weil sich schon bei Gladigow entsprechende Hinweise auf eine solche shared history erkennen lassen. In der Ausformulierung einer entsprechenden systematischen Perspektive müsste Gladigows Schema von Mediterraner Religionsgeschichte, Römischer Religionsgeschichte und Europäischer Religionsgeschichte dann um Globale Religionsgeschichte erweitert werden.34
33 Vgl. Schlieter, Jens, Paradigm lost? ,Europäische Religionsgeschichte‘, die Grundlagenkrise der ,systematischen Religionswissenschaft‘ und ein Vorschlag zur Neubestimmung, Vereinigung der Schweizer Hochschuldozierenden – Bulletin 36/1, 2010, 42 – 51, hier : 46 – 49. In seiner Kritik am Konzept der „Europäischen Religionsgeschichte“, das er durch eine „multizentrische, globale Interaktionsgeschichte“ (S. 49) ersetzen möchte, wird genau dieser bei Gladigow selbst schon vorhandene Hinweis nicht wahrgenommen. 34 Dies in einem Verständnis von „Globalgeschichte“ wie es etwa Sebastian Conrad und Andreas Eckert beschreiben: „als Kürzel für Ansätze, die sich für Verflechtung und eine relationale Geschichte der Moderne interessieren, nicht-eurozentrisch argumentieren und nationalgeschichtliche Perspektiven überwinden wollen […]“ (Globalgeschichte, Globalisierung, multiple Modernen. Zur Geschichtsschreibung der modernen Welt, in: S. Conrad et al. (Hg.), Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen, Frankfurt am Main 2007, 7 – 49, hier: 7). Siehe zu einem ähnlichen Vorschlag einer Ablösung der „Europäischen Religionsgeschichte“ im Kontext der Globalisierung auch Auffarth, Christoph, Europäische Religionsgeschichte – ein kulturwissenschaftliches Projekt, in: R. Faber/S. Lanwerd (Hg.), Aspekte der Religionswissenschaft, Würzburg 2009, 29 – 48, hier : 44 – 47. Zur Rede von einer „globalen Religionsgeschichte“ siehe auch bereits Hermann, Adrian, Buddhist Modernism in 19th Century Siam and the Discourse of Scientific Buddhism. Towards a Global History of ,Religion‘, The SSEASR Journal 5, 2011, 37 – 57, hier : 55 – 56, sowie u. a. Bergunder, Michael, Was ist Religion? Kulturwissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Religionswissenschaft, Zeitschrift für Religionswissenschaft 19/1 – 2, 2012, 3 – 55, hier: 55 und ders., Indischer Swami und deutscher Professor. „Religion“ jenseits des Eurozentrismus, in: M. Stausberg (Hg.), Religionswissenschaft, Berlin 2012, 95 – 107, hier: 106.
2. Religionswissenschaft zwischen Diskurstheorie und Religionstheorie Die Auseinandersetzung mit Burkhard Gladigows Konzept von „Europäischer Religionsgeschichte“ hat bereits auf die vielfältigen Herausforderungen aufmerksam gemacht, vor die sich die religionswissenschaftliche Arbeit gegenwärtig gestellt sieht. Wenn ich im Folgenden auf einer meta-theoretischen Ebene danach frage, welche religionswissenschaftlichen Ansätze und theoretischen Vorschläge in den Debatten innerhalb des Faches heute angeboten werden, dann tritt besonders die Frage nach dem religionswissenschaftlichen Umgang mit ,Religion‘ in den Mittelpunkt. In Kenntnis der mit dieser zentralen Kategorie der Disziplin verbundenen komplexen Problemlagen stellt sich die Frage: Wie lässt sich vor dem Hintergrund und im Bewusstsein der theoretischen und begriffsgeschichtlichen Probleme eine theoretisch, systematisch und methodisch reflektierte religionswissenschaftliche Position erarbeiten? Die These, die im Folgenden vertreten wird, besteht in dem Vorschlag, die grundlegendste Entscheidung innerhalb eines religionswissenschaftlichen Ansatzes darin zu sehen, ob die Kategorie ,Religion‘ als Analysekategorie – und damit als Teil der wissenschaftlichen Beschreibungssprache – oder selbst als Gegenstand der Analyse verstanden wird. Diese zwei Positionierungen werden im Folgenden mit der Unterscheidung von Religionstheorie und Diskurstheorie bezeichnet.1 Eine solche Grundunterscheidung zu fordern scheint auf den ersten Blick vielleicht überflüssig oder theoretisch naiv zu sein. Es ist daher zu hoffen, dass es im Laufe der vorliegenden Arbeit gelingt, zu plausibilisieren, warum in der oft so verfahrenen religionswissenschaftlichen Theoriedebatte diese Grundunterscheidung weiterführend sein kann. Ihr Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass in vielen gegenwärtigen religionswissenschaftlichen Ansätzen – oftmals trotz gegenteiliger Behauptungen – eine entsprechende Unterschei1 Zum Diskursbegriff siehe im Folgenden und Kapitel 4, besonders Abschnitt 4.1. Dass diese Unterscheidung schon deswegen problematisch ist, weil eine Religionstheorie möglicherweise selbst auch wieder eine Diskurstheorie sein könnte (also eine ,diskurstheoretische Religionstheorie‘) verkompliziert die Lage und macht darauf aufmerksam, dass es sich auch hier zunächst um eine heuristische Unterscheidung handelt, die etwas Bestimmtes sichtbar machen und bestimmte Beschreibungen ermöglichen soll. Siehe hierzu etwa den Entwurf von Mohn, Jürgen, Die Religion im Diskurs und die Diskurse der Religion(en). Überlegungen zu Religionsdiskurstheorien und zur religionsaisthetischen Grundlegung des Diskursfeldes Religion, in: A. Liedhegener et al. (Hg.), Religion – Wirtschaft – Politik. Forschungszugänge zu einem aktuellen transdisziplinären Feld, Zürich 2011, 83 – 110.
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Religionswissenschaft zwischen Diskurstheorie und Religionstheorie
dung weder verbreitet ist, noch durchgehalten wird. Statt dessen findet man wieder und wieder eine Vermischung zwischen diesen beiden Positionen, ohne dass dies im Rahmen der Theoriebildung explizit reflektiert wird. Die hier vorgeschlagene Unterscheidung soll im Folgenden anhand einer in den Jahren 2008/2009 zwischen Benson Saler und Timothy Fitzgerald in der Zeitschrift Religion geführten Debatte detaillierter herausgearbeitet werden. Beide Autoren versuchen die Frage zu beantworten, wie die Religionswissenschaft angesichts der begriffsgeschichtlichen und theoretischen Kritik an ,Religion‘ in Zukunft mit dieser Kategorie umgehen solle. Die Vorschläge von Saler und Fitzgerald stehen dabei paradigmatisch für zwei mögliche Strategien des Umgangs mit ,Religion‘, die aber (wie ich darzulegen versuche) von beiden nicht als kohärente Theorieprogramme herausgearbeitet werden.2 Dieses Kapitel will anhand dieser Kontroverse erste Konturen einer Antwort auf die Frage nach der gegenwärtigen Situation theoretischer Entwürfe im Rahmen einer kulturwissenschaftlichen Religionswissenschaft aufzeigen. Dazu werden die beiden Theorievorschläge zunächst einmal dargestellt (2.1, 2.2) und anhand ihrer verschiedenen Ausgangspunkte und den jeweils dadurch bereitgestellten Möglichkeiten charakterisiert (2.3). In einem Blick auf gegenwärtige Debatten religionswissenschaftlicher Theoriebildung wird versucht, die Leistung einer Unterscheidung von Religionstheorie und Diskurtheorie herauszustellen (2.4). Abschließend wird die hier entwickelte Perspektive nochmals zusammengefasst und trotz dieser heuristischen Unterscheidung auf die zirkuläre Verschränktheit der beiden Theorieoptionen verwiesen (2.5).
2.1 Benson Salers Konzeptualisierung von ,Religion‘ In seinem Artikel mit dem Titel „Conceptualizing Religion: Some Recent Reflections“ setzt sich Benson Saler mit drei Vorschlägen zum Umgang mit ,Religion‘ auseinander und stellt dann im Anschluss seine eigene Position vor.3 Er kontrastiert die Ansätze von Timothy Fitzgerald, Peter Byrne und E. Thomas Lawson/Robert N. McCauley mit seinem eigenen „scholarly model of religion“4 und schlägt vor, „Religion“ mithilfe einer polythetischen, auf „Familienähnlichkeit“ basierenden Definition zu konzeptualisieren.5 2 Die Darstellung beider Theorievorschläge und ihrer Herleitung erfolgt hier sehr ausführlich, da sich besonders an den Details der Formulierung der Theorien erkennen lässt, welche Probleme und Ungenauigkeiten im Kontext der beiden Ansätze auftreten. 3 Saler, Benson, Conceptualizing Religion: Some Recent Reflections, Religion 38/3, 2008, 219 – 225. Vgl. ausführlicher auch ders., Conceptualizing Religion. Immanent Anthropologists, Transcendent Natives, and Unbounded Categories, New York 2000. Weitere Aufsätze sind jetzt gesammelt in ders., Understanding Religion. Selected Essays, Berlin 2009. 4 Saler, Conceptualizing Religion: Some Recent Reflections, 222. Er bezieht sich dabei auf Fitz-
Benson Salers Konzeptualisierung von ,Religion‘
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Eine solche Form der religionswissenschaftlichen Theoriebildung, welche sich vorrangig dadurch auszeichnet, ,Religion‘ als analytische Kategorie einzusetzen und der religionswissenschaftlichen Arbeit eine Theorie oder Definition von ,Religion‘ zugrunde zu legen, möchte ich allgemein eine religionstheoretische Herangehensweise nennen.6 Zunächst beschäftigt sich Saler mit der von Fitzgerald vorgebrachten Fundamentalkritik, aufgrund derer dieser zu einer Verabschiedung der wissenschaftlichen Verwendung der Kategorie „Religion“ aufruft: „Religion“ sei ein europäisches Konzept, für das in außereuropäischen Kulturen keine Entsprechung zu finden sei, und das darüber hinaus als ideologisches Konstrukt zur Durchsetzung spezifischer Interessen der westlichen Gesellschaften fungiere. Dies zeige vor allem die verhängnisvolle Karriere von „Religion“ im Zusammenhang mit kapitalistischen und kolonialen Interessen. „Religion“ lasse sich aufgrund dieser Vorgeschichte und der mit seiner europäischwestlichen Prägung einhergehenden Partikularität nicht als analytische, kulturvergleichende Kategorie verwenden, „since it does not pick out any distinctive cross-cultural aspect of human life“.7 Religionen seien daher „nonexistent objects“.8 Jegliche rein substantiellen Definitionsversuche würden sich schon durch ihre große Uneinheitlichkeit delegitimieren, wohingegen Ansätze, welche versuchen, Wittgensteins Konzept der Familienähnlichkeit auf „Religion“ anzuwenden, meist nur sehr vage Kriterien aufstellen würden, so dass ihr analytischer Wert sehr gering bleibe.9 Fitzgerald schlage daher vor, anstelle von „Religion“ vergleichend mit den Begriffen „politics“, „ritual“ und „soteriology“ zu operieren. Fraglich bleibt jedoch – so Saler – ob diese sich in irgendeiner Form als weniger problematisch erweisen würden.10 Generell seien sehr viele wissenschaftliche Kategorien ähnlich umstritten wie „Religion“.11 Für Saler ist dieser Streit daher vor
5
6 7 8 9 10 11
gerald, Timothy, The Ideology of Religious Studies, New York 2000; Byrne, Peter, Religion and the Religions, in: S.R. Sutherland et al. (Hg.), The World’s Religions, London 1988, 3 – 28; Lawson, E. Thomas/McCauley, Robert N., Rethinking Religion. Connecting Cognition and Culture, Cambridge 1990. Im Folgenden stehen wörtliche Zitate aus den Artikeln von Saler und Fitzgerald in doppelten Anführungszeichen, wobei diese zum Teil aus Gründen des besseren Leseflusses ins Deutsche übersetzt wurden (v. a. der Begriff „Religion“). Dies wird auch in den folgenden Kapiteln der vorliegenden Arbeit teilweise so gehandhabt. Siehe detaillierter unter 2.3.1. Fitzgerald, The Ideology of Religious Studies, 4, zitiert nach Saler, Conceptualizing Religion: Some Recent Reflections, 219. Fitzgerald, The Ideology of Religious Studies, x, zitiert nach Saler, Conceptualizing Religion: Some Recent Reflections, 219. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Auf diese Kritik hat Fitzgerald dann in seiner Antwort auch reagiert, siehe dazu im Folgenden. Vgl. ebd., 220.
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Religionswissenschaft zwischen Diskurstheorie und Religionstheorie
allem ein Ergebnis des „inevitable lack of full transparency in language“.12 Anstatt auf die Kategorie „Religion“ vollständig zu verzichten, täten wir daher gut daran, mit diesen Problemen konstruktiv umzugehen, und die Definitionen, die wir verwenden, so klar wie möglich darzustellen.13 Peter Byrne dagegen behalte, anders als Fitzgerald, „Religion“ als Theoriebegriff bei und schlage eine Familienähnlichkeitsdefinition vor: „Religion“ solle als eine Institution mit vier Dimensionen verstanden werden (die theoretische, praktische und soziologische Dimension sowie die Erfahrungsdimension), die sich wiederum unterschiedlich analysieren ließen: über Götter oder Heiliges als ihre Objekte, über Erlösung oder andere letztgültige Ziele, sowie über Funktionen (dem Leben einen letzten Sinn zu geben oder die Identität und den Zusammenhalt einer Gruppe zu sichern).14 Diesem Ansatz ist Saler inhaltlich nicht abgeneigt, er widerspricht Byrne allerdings an einem zentralen Punkt: Wo dieser die von ihm bestimmten Charakteristika als notwendige Elemente verstehe, würde Saler sie als typische Elemente von „Religion“ verstanden sehen wollen: „typical features, that is, that are most likely to occur in what Western scholars tend to regard as the clearest or best examples of religion.“15 Indem Byrne die genannten Charakteristika dagegen als essentielle Bedingungen für „Religion“ verstehe, trete er hinter seinen eigenen Anspruch eines Familienähnlichkeitsansatzes zurück. In ähnlicher Weise kritisiert Saler auch die kognitionswissenschaftlich orientierte Religionstheorie von Lawson/McCauley. Sie verstehen unter „Religion“ ein „symbolic-cultural system of ritual acts accompanied by an extensive and largely shared conceptual scheme that includes culturally postulated superhuman agents“.16 Mithilfe dieser Definition lasse sich „Religion“ ihrer Ansicht nach von allen anderen Phänomenen unterscheiden. Lawson/ McCauleys Vorschlag – wie auch schon der Melford Spiros, auf dessen bekannte Formulierung ihr Ansatz letztlich zurückgeht17 – scheine damit eine substantielle und essentialistische Religionsdefinition zu sein, die genau festlege, welche Eigenschaften etwas notwendig aufweisen müsse, um als religiös gelten zu können.18 Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch – so Saler –, dass ihre Klassifikation von religiösen Ritualen ungenauer ist, als dies auf den ersten Blick erscheint. Wie sie selbst feststellen, seien bestimmte, 12 13 14 15 16
Ebd. Vgl. ebd. Vgl. Byrne, Religion and the Religions, 7. Saler, Conceptualizing Religion: Some Recent Reflections, 220. Lawson/McCauley, Rethinking Religion, 5, zitiert nach Saler, Conceptualizing Religion: Some Recent Reflections, 220, Hervorhebung entfernt. 17 Vgl. Spiro, Melford, Religion: Problems of Definition and Explanation, in: M. Banton (Hg.), Anthropological Approaches to the Study of Religion, London 1966, 85 – 126, hier: 96, der von „Religion“ als „an institution consisting of culturally patterned interaction with culturally postulated superhuman beings“ spricht. 18 Vgl. Saler, Conceptualizing Religion: Some Recent Reflections, 221.
Benson Salers Konzeptualisierung von ,Religion‘
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möglicherweise ebenfalls als ,religiös‘ zu beschreibende Rituale etwa von Theravada Buddhisten oder säkularen Humanisten, innerhalb ihres Ansatzes nur schwierig zu erfassen. Dies liege laut Lawson/McCauley allerdings daran, dass diese Beispiele im Allgemeinen auch nicht unbedingt als prototypisch für „Religion“ verstanden würden.19 Dieser Gedanke weist für Saler in Richtung einer Definition, die zum einen auf die Identifikation von typischen Merkmalen von „Religionen“ setzt, dies aber zum anderen mit einer Prototypentheorie (u. a. im Anschluss an die Metapherntheorie von George Lakoff) verbindet und damit eine rein essentialistische Position überwindet: „Instead of insisting on the universality and necessity of ,superhuman agents‘ – a universality and necessity created by definition – we could say that the postulation of such agents is typical of what we usually mean by religions.“20 Für seinen eigenen Vorschlag schließt sich Saler also Byrnes Versuch einer Definition von „Religion“ über das wittgensteinsche Konzept der Familienähnlichkeit an und übernimmt von Lawson/McCauley die Vorstellung von Prototypen für „Religion“. Saler beansprucht allerdings, beide Vorschläge genauer und detaillierter weiterzuentwickeln. Er sieht dabei im Gegensatz zu Fitzgerald jedoch keine Alternative zur Kategorie „Religion“, auch wenn er, wie oben dargestellt, auf die nie ganz zu überwindende Rest-Unbestimmtheit des Begriffs verweist, die er bereits in der Struktur von Sprache selbst begründet sieht. Für die Formulierung seines eigenen Vorschlags ist für Saler die Komplexität des zu erfassenden Phänomens entscheidend: [R]eligion is a very complex phenomenon. It is not merely or simply a matter of beliefs of a certain kind and rituals of a certain kind. It also relates to intra-psychic conflict and growth, to aesthetic canons, to moral sensitivities and sensibilities, and, broadly put, to principles and processes of social organization and cultural development.21
Sein Vorschlag eines wissenschaftlichen Religionsmodells will dies berücksichtigen und nicht nur ein Modell für eine spezifische „Religion“ sein, sondern für „religion in general“: It [das Religionsmodell, A.H.] consists of all the features that our cumulative scholarship induces us to attribute to religion. Some of these features have a much wider distribution among the many religions of the world than do others. Features with the widest distributions are likely to be regarded by scholars as the most typical components of what we mean by religion. But less typical features must also be taken into account, and should be predicated of our model, since we strive to conceptualize and appreciate religion in its great complexity.22 19 20 21 22
Vgl. Lawson/McCauley, Rethinking Religion, 7. Saler, Conceptualizing Religion: Some Recent Reflections, 221. Ebd., 222. Ebd.
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Religionswissenschaft zwischen Diskurstheorie und Religionstheorie
Saler identifiziert dann eine Liste von 15 typischen Charakteristika von „Religion“, darunter das Postulieren von übernatürlichen oder übermenschlichen Akteuren, Rituale, gebetsartige Anrufungen, Vorstellungen über ein Leben nach dem Tod, religiöse Spezialisten, ein heiliger Kanon von Texten etc. Diese kurze Liste ist aber, so Saler, nicht ausreichend detailliert, wird zum Teil kontrovers diskutiert, und ist auch offen für eine Erweiterung um zusätzliche Aspekte auf der Basis religionswissenschaftlicher Erkenntnisse.23 Ein oft vorgebrachter Einwand gegen eine solche Theorie der Familienähnlichkeit sei nun aber, dass eine derartige Bestimmung alleine nicht ausreiche, da die vorgeschlagene Definition sonst – wie u. a. Fitzgerald kritisiere – viel zu vage bleibe. Die Kategorie „Religion“ müsse daher weiter eingeschränkt werden können. Saler möchte zu diesem Zweck „prototypische Religionen“ benennen: „Constraint can be provided by the judgmental stipulation of central examples of what we mean by religion. These central examples function as orienting models for a fuzzy category, a category, that is, that admits of different degrees of membership.“24 Diese Idee ,prototypischer Religionen‘, die man als die besten oder klarsten Beispiele für die Kategorie „Religion“ verstehen kann, ist zentral für seinen Ansatz. Besonders im Rahmen westlicher Wissenschaft seien hier die abrahamitischen Monotheismen zu nennen: Judentum, Christentum und Islam. Diese wiederum reichen jedoch nicht aus, um ein wissenschaftliches Religionsmodell zu formulieren. Ein solches Modell muss – so Saler – vielmehr all das berücksichtigen, was wir bisher über die „Religionen“ überall auf der Welt in all ihrer Komplexität in Erfahrung gebracht haben.25 Daher sollten diese prototypischen, abrahamitischen „Religionen“ auch nur mit großer Vorsicht als die Prototypen für „Religion“ allgemein gelten. Auch – so Saler – sind Unterschiede in der Nähe zu dem, was als „typische Religion“ verstanden wird, natürlich nicht nur zwischen unterschiedlichen „Religionen“ festzustellen. Auch die Mitglieder einer „Religionsfamilie“ könnten sich in ihren Charakteristika stark unterscheiden und den allgemeinen Merkmalen der Familie unterschiedlich nah sein. Es sei daher anstelle einer klaren Einheit eher auch von einer Vielzahl von ,Judentümern‘, ,Christentümern‘ etc. auszugehen.26 Diese von ihm präsentierte Theorieperspektive bezeichnet Saler als eine „realistische“.27 Sie beziehe eine Vielzahl der Charakteristika von „Religion“ mit ein und gründe ihre Definition nicht auf nur ein essentielles Merkmal. Damit ermögliche sie es, mit der Vielfalt der „Religionen“ umzugehen und gleichzeitig auch die Tatsache einzubeziehen, dass unter23 24 25 26 27
Vgl. ebd. Ebd., 220. Vgl. ebd., 223. Vgl. ebd. Ebd.
Timothy Fitzgeralds Kritik an Saler
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schiedliche „Religionen“ die allgemeinen Charakteristika von „Religion“ in ganz unterschiedlicher Weise verkörpern: „In my approach, the category religion is characterized by central tendencies, not by some essence. It is difficult or even dubious, moreover, to declare with any precision where religion leaves off and something else begins.“28 Saler behauptet, mit seinem Vorschlag auf das zentrale Anliegen postmoderner Kritik zu reagieren, welches für ihn in der Frage nach der grundlegenden Möglichkeit stabiler Klassifizierung im ständigen Bewusstsein der Forderung nach dem Ernstnehmen einer Vielzahl von Unterschieden besteht. Seine „nicht-essentialistische“ Konzeptualisierung von „Religion“ stelle einen Versuch dar, mit diesem Problem umzugehen.29
2.2 Timothy Fitzgeralds Kritik an Saler In seiner 2009 ebenfalls in Religion erschienenen Replik setzt sich Timothy Fitzgerald mit Salers Vorschlägen kritisch auseinander. Seine Kritik an der Familienähnlichkeits-Theorie und an Salers Umgang mit „Religion“ lässt – so scheint mir – eine völlig andere Richtung religionswissenschaftlichen Fragens und des Umgangs mit dem Problem einer Religionsdefinition erkennen. Fitzgerald ist gegenwärtig einer der prominentesten Vertreter dieser zweiten möglichen Perspektive, die ich eine diskurstheoretische Herangehensweise nennen möchte. Zu Beginn seines Artikels kritisiert Fitzgerald, dass Saler „Religion“ unreflektiert als harmlosen Theoriebegriff verwenden möchte und dabei dessen ideologische Dimension übersieht: My main criticism […] is that, by taking ,religion‘ to be a disinterested, neutral, descriptive concept, Saler inadvertently makes intellectually respectable a potentially dangerous ideological construct with historically confused meanings. The power of ideology lies not only in the conscious deliberations of state agencies, but also in the unconscious reproduction of academics in pursuit of disinterested knowledge.30
Auch wenn Fitzgerald einräumt, dass sein eigener früherer Vorschlag, nämlich statt dessen u. a. auf den Begriff „Kultur“ zu setzen, vielleicht etwas voreilig war und die Problematik nur verschiebt, sei dies jedoch nicht gleichzeitig ein Argument dafür, „Religion“ weiterhin für eine nützliche Beschreibungskategorie zu halten.31 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Fitzgerald, Timothy, Benson Saler: ,Conceptualizing Religion: Some Recent Reflections‘. A Response, Religion 39/2, 2009, 194 – 197, hier: 194. 31 Vgl. ebd.
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Religionswissenschaft zwischen Diskurstheorie und Religionstheorie
Zunächst sei es von zentraler Bedeutung, sich klar zu machen, dass die Bestimmung dessen, was als „Religion“ zu gelten habe, nicht (nur) eine Praxis von Wissenschaftlern ist, sondern beispielsweise auch eine staats- und verfassungsrechtliche Problematik. Sie finde Eingang in Gesetzesvorhaben und Gerichtsentscheide und die Kategorie „Religion“ werde von staatlichen Einrichtungen zur Klassifikation von Gruppen und Individuen eingesetzt. Auch historisch gesehen habe die behauptete Präsenz oder Absenz von „Religion“ etwa in der Legitimierung kolonialer Interventionen oft eine Rolle gespielt.32 Dies führt Fitzgerald zu seinem zentralem Kritikpunkt an Salers Vorschlag: Dieser lasse die Verstrickung jeglicher Religionsdefinition in eine Vielzahl von Machtprozessen völlig außer acht. Im Anschluss an Wittgenstein werde eine essentialistische Theorie der Begriffsbedeutung zwar angeblich verabschiedet, da die Bedeutung eines Begriffs erst durch seine tatsächlichen strategischen Verwendungsweisen zu bestimmen sei. Dabei werde aber überhaupt nicht diskutiert, inwieweit eine Kategorie wie „Religion“, die ja in zahlreichen explizit strategischen und ideologischen Kontexten entstanden und über Jahrhunderte eingesetzt worden sei, trotz alledem ohne explizite Berücksichtigung dieser Verstrickungen als eine neutrale Beschreibungskategorie der wissenschaftlichen Forschung und Lehre verstanden werden könne.33 Gleichzeitig sei in einer Familienähnlichkeitsdefinition, wie Saler sie vorschlage, nicht geklärt, wie eine solche Theorie die Kategorie „Religion“ vor einem extremen Ausfransen an ihren Rändern bewahren solle. Vielmehr werde „Religion“ in einem solchen Ansatz zu einer leeren semantischen Kategorie, die nichts Genaues mehr bezeichnet und sich in eine breite Masse an Ideologien, Ritualen, Zeremonien und symbolischen Handlungen auflöst, die nun alle in irgendeiner Form mit dem Religionsbegriff zu beschreiben seien.34 Auch in diesem Kontext ist es laut Fitzgerald stattdessen von großer Bedeutung, sich klar zu machen, dass die Bestimmung von etwas als „Religion“ eben nicht allein eine akademische Frage ist, sondern – vor allem im Hinblick auf rechtliche Folgen (Steuererleichterungen, staatlicher Schutz etc.) – sehr reale Auswirkungen hat.35 Mit einem so ungenauen und weiten Religionsverständnis, wie Saler es vorschlage, wären Religionswissenschaftler nur unter großen Schwierigkeiten in der Lage, „Religion“ genau zu bestimmen und damit die Form von Entscheidungen zu treffen, die tagtäglich von Gerichten oder Vertretern der Massenmedien getroffen würden. Denn diese legen immer wieder fest, was „Religion“ sei und was nicht. Auch beträfen diese Festlegungen nicht nur den Status und die öffentliche Wahrnehmung von als „religiös“ klassifizierten Bewegungen und Gruppen. Vielmehr seien diese Entscheidungen auch immer 32 33 34 35
Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd.
Timothy Fitzgeralds Kritik an Saler
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daran beteiligt, das „Nicht-Religiöse“ zu konstruieren, das im Gegensatz zu solchen Gruppierungen als säkularer Staat, säkulare Gerichte und als säkulare Presse auftrete. Für Fitzgerald weist dies darauf hin, dass „Religion“ keine unabhängige Kategorie ist, sondern dass Debatten um „Religion“ in den meisten Fällen eine Reihe unausgesprochener Dichotomien wie rational/irrational, öffentlich/privat oder natürlich/übernatürlich zugrundeliegen.36 Anstelle einer rein wissenschaftlichen Konzeptualisierung von „Religion“, die etwa als Familienähnlichkeitstheorie zu widersprüchlichen Festlegungen komme, nach denen etwa auch der Nationalstaat oder Gewerkschaftsverbände als „religiöse“ Phänomene betrachtet werden können, sollte man sich als Religionswissenschaftler nach Ansicht von Fitzgerald vielmehr intensiv damit beschäftigen, welche Rolle die Kategorie „Religion“ in Machtprozessen spielt, etwa in täglich stattfindenden rechtlichen Auseinandersetzungen um „Religion“. Hier trete sie als ein zentrales Instrument staatlicher Macht in Erscheinung. Diese Verstrickung der Bestimmung von „Religion“ in Machtprozesse werde in Salers angeblich „neutralem“ Beschreibungskonzept ignoriert.37 Viele Religionswissenschaftler halten sich in ihrer Beschreibung „religiöser Phänomene“ fälschlicherweise für neutrale und objektive Beobachter : „[They] unwittingly authorize a discourse on ,religion‘ as though ,it‘ was simply part of the natural world which needs scientifically investigating, rather than a dangerous and volatile ideological category serving various often contradictory interests.“38 Auch eine deskriptive Betrachtung von „Religion“ als einem „Sprachspiel“ helfe daher nicht weiter. Vielmehr müsse die akademische Vorstellung von Sprachspielen mit den in deren Kontext bestehenden Machtbedingungen in Beziehung gesetzt werden: „Until language games are re-connected with the prevailing conditions of power (discourses) they will fail to help us understand how such shifting and contested categories are strategically employed.“39 Die Vertreter einer Familienähnlichkeits-Theorie der „Religion“ verstünden ihre Vorschläge meist als eine Überwindung des Essentialismus früherer Religionsdefinitionen. Aber auch ihre Ansätze stehen nach Fitzgerald weiterhin in der gleichen essentialistischen Tradition, welche dem gesamten modernen Diskurs über „Religion“ und „Religionen“ zugrundeliegt.40 Denn sie thematisieren nicht, inwiefern die Bedeutungen von solchen umstrittenen Begriffen wie denen des „Religiösen“ und des „Säkularen“ sich jeweils parasitär aufeinander beziehen und sich je nach auftretender Interessenlage und durch die kontrollierende Einwirkung etwa der Gerichte und der Medien 36 37 38 39 40
Vgl. ebd., 194 – 195. Ebd., 195. Ebd. Ebd. Vgl. ebd.
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immer wieder verändern.41 Daher wäre es nach Fitzgerald eben gerade nicht die Aufgabe eines religionswissenschaftlichen Ansatzes, eine weitere Definition von „Religion“ zu liefern, sondern to show how ,religion‘ oscillates between, on the one hand, a default position as Christian Truth, for centuries deeply embedded in Anglophone and more generally Europhone representations; and, on the other, as a virtually empty generic category whose boundary line with ,non-religious‘ practices such as the Nation State, politics, economics, or legal divination can shift depending on the rhetorical needs of the moment.42
Gerade die Religionswissenschaft sollte es daher vermeiden, den essentialisierenden Diskurs über „Religion“ fortzuführen. Ihre Aufgabe wäre es vielmehr, zu zeigen, wie ,[r]eligion‘ gets essentialized as a form of life distinct from non-religious forms of life in a range of discourses, rhetorical constructions, and institutionalized practices including written constitutions, courts, academic agencies, and the pronouncements of politicians and the media.43
All dies sind „powerful engines for the propagation of ,religion‘ as a universally distinct kind of human practice“ und dieser Befund weist darauf hin, wie weit – laut Fitzgerald – eine Herangehensweise wie die Salersche die eigentliche Aufgabe der Religionswissenschaft verfehlt.44 So sei es nicht die Aufgabe der Religionswissenschaft, sich selbst durch Religionsdefinitionen als Akteur an der Kontrollpolitik um „Religion“ zu beteiligen. Vielmehr wäre es ihre Aufgabe, „Religion“ nicht als wissenschaftlich-neutrale Analysekategorie zu betrachten, sondern deren Funktion innerhalb von diskursiven Machtprozessen zu untersuchen: The word ,religion‘ is not merely a bean counter hanging around waiting to be used as the shop-keeper sees fit. It is a category marking powerful semantic spaces in historically continuous and contested discourses. Discourses on religion, like discourses on the Nation State, politics, economics, science, or secularism more generally, have gained hegemony not because they correspond to natural realities, nor because they are disinterested heuristic devices, but because they have historically had an elective affinity with networks of powerful interests.45
Eine zentrale Rolle spiele dabei auch, dass all diese Kategorien entweder im 17. Jahrhundert erst entstanden seien (wie „Staat“, „Politik“, „Wirtschaft“) oder sich in ihrer Bedeutung in der Moderne radikal verändert hätten („Re41 42 43 44 45
Vgl. ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. 196.
Timothy Fitzgeralds Kritik an Saler
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ligion“, „säkular“, „Wissenschaft“, „Verfassung“). Sie eignen sich laut Fitzgerald daher nicht als neutrale Analysekategorien, sondern sind vielmehr zentrale Instrumente der diskursiven Konstruktion der modernen Welt: „All their dominant meanings, whether old or modern, are the products of the rhetorical imagination harnessed by powerful institutions and classes. All of them can be charted historically in their emergence and propagation.“46 Sowohl die historische Genese der Kategorie „Religion“, als auch ihre Verstrickung in all diese Formen der Machtausübung, tauche in Salers Vorschlag nicht auf. Dabei wäre es von zentraler Bedeutung, gerade nach den Gründen für ihre Entstehung zu fragen: These historically contextualized themes raise an important question, which Saler ignores in the summary of his argument: why did the modern category of ,religion‘ and ,religions‘ get invented around the late 17th and 18th centuries when secular ,politics‘, ,economics‘, natural science, and social science, were simultaneously being imagined for the first time? How could such historical struggle and strife generate a neutral, useful, objective descriptive concept?47
Diese Frage führt Fitzgerald zum zweiten zentralen Punkt seiner Kritik an Saler und zur Formulierung seiner eigenen Vorstellung für die Aufgaben einer religionswissenschaftlichen Analyse. „Religion“ ist nämlich, so Fitzgerald, nicht etwa eine unabhängige und eigenständige Kategorie, die einen eigenen und autonomen Bereich beschreibt. „Religion“ sei vielmehr eingebettet in ein Netzwerk von anderen Kategorien: What I am pointing to here is that ,religion‘ is not a stand-alone category with merely contingent, external relations with other reified domains called ,science‘ or ,politics‘ or the ,State‘. On the contrary, I suggest that ,religion‘ is one powerful term in a network or configuration of categories which are mutually constitutive and which powerfully constrain the way modern people think and behave and construe the world. They are ineluctably parasitic on each other. To marginalize or suppress their inherent connections, both semantic and historical, as Saler does, is an ideological action masquerading as disinterested scientific observation, and part of a wider academic reproductive ritual not unlike the spinning of prayer wheels.48
Die Verstrickung jeglicher Religionsdefinition in Machtbezüge zu akzeptieren und nach den Transformationen des Begriffs in der Moderne zu fragen, könne daher nur der erste Teil einer religionswissenschaftlichen Analyse sein. Darüber hinaus wäre zu fragen, inwiefern solche Konstruktionen von „Religion“ nie allein auftreten, sondern inwieweit sie mit der Konstruktion von Staaten, Märkten, Wissensordnungen und weiteren ideologischen Machtbezügen 46 Ebd. 47 Ebd. 48 Ebd.
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einhergehen. Denn „Religion“ stehe nie für sich allein, sondern sei immer Teil der Konstruktion eines ganzen Netzwerks an Kategorien.49 Der Versuch einer Definition von „Religion“ laufe also nicht nur Gefahr, über die Bestimmung von notwendigen Charakteristika von „Religion“ einen Essentialismus zu vertreten. Diese Gefahr werde von Saler gesehen und durch den Vorschlag einer Familienähnlichkeits-Theorie zu überwinden versucht. Doch all den Definitionsversuchen liegt laut Fitzgerald ein noch viel tiefgreifender Essentialismus zugrunde, da in all diesen Fällen „Religion“ als eine unabhängige Kategorie bestimmt wird. Gerade diese Unabhängigkeit bestreitet Fitzgerald jedoch und möchte die Aufgabe der Religionswissenschaft darin sehen, die Eingebundenheit von „Religion“ in ein weit verzweigtes Netzwerk von Kategorien zu analysieren. Dem Religionswissenschaftler bleiben nach Fitzgerald nur drei Möglichkeiten, mit den von ihm aufgezeigten Problemen umzugehen: Entweder erstens die Kritik zu ignorieren und „Religion“ weiterhin über essentielle Charakteristika zu definieren, oder zweitens den Religionsbegriff über die Konzepte der Familienähnlichkeit und des Sprachspiels in einen Ozean der Sprachspiele aufzulösen und damit jede analytische Funktion mit aufzulösen, oder drittens – wie Fitzgerald selbst – eine diskurstheoretische Position zu vertreten: „[Y]ou can look carefully at the ways in which ,religion‘ gets constructed through strategic deployment in different discourses and institutional contexts by powerful agencies, and try to infer which interests are being served.“50 Dabei kommt, so Fitzgerald, vor allem in den Blick, dass „Religion“ typischerweise als ein „Phänomen“ vorgestellt wird, das in allen Gesellschaften und Kulturen und zu allen Zeiten existiert hat. Ein „Phänomen“, das beobachtet, beschrieben, analysiert und verglichen werden kann, ganz wie auch zum Beispiel biologische Spezien beschrieben werden können.51 Anstatt sich selbst an dieser Rede vom ,Phänomen Religion‘ zu beteiligen wäre es aber die Aufgabe der Religionswissenschaft, eine solche Reifizierung von „Religion“ zu einem ,Ding in der Welt‘ eben nicht selbst zu übernehmen, sondern vielmehr das Auftauchen und den diskursiven Einsatz der reifizierten Kategorie „Religion“ zu analysieren.
49 Vgl. ebd., 194. 50 Ebd., 196. 51 Vgl. ebd.
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2.3 Zwei religionswissenschaftliche Perspektiven: Religionstheorie und Diskurstheorie Die Debatte zwischen Saler und Fitzgerald wurde hier deswegen so ausführlich dargestellt, weil sich an ihr sehr klar zwei Möglichkeiten eines religionswissenschaftlichen Umgangs mit ,Religion‘ erkennen lassen. Beide Vorschläge weisen auf grundlegende Probleme im Kontext dieser Kategorie hin, tragen Überlegungen zum Umgang mit diesen vor, und weisen in zwei unterschiedliche Richtungen zu deren Lösung. Gleichzeitig lässt sich aber gerade an diesen beiden Vorschlägen erkennen, wie eine eigentlich überzeugende Intention im Dickicht des Streits um ,Religion‘ verloren geht und dabei gleichzeitig der jeweils anderen Position eine hinreichende Durchdringung der Problematik oder sogar jeglicher wissenschaftlicher Wert abgesprochen wird. Darüber hinaus lässt sich erkennen, wie jeweils die eigene Position selbst zu wenig überdacht wird und beide dazu tendieren, den eigenen Ansatz nicht nur als eine mögliche Strategie des Umgangs mit ,Religion‘, sondern als den einzig möglichen Lösungsweg zu präsentieren. Dennoch (oder vielleicht gerade deswegen) lassen sich an dieser Kontroverse die im Raum stehenden Alternativen klar herausarbeiten.
2.3.1 Salers religionstheoretische Perspektive Benson Saler möchte, wie oben dargestellt, an „Religion“ als analytischer Kategorie festhalten. Er sieht keinen Grund für deren Verabschiedung, da alle alternativen Vorschläge letztendlich nur ähnliche Probleme produzieren würden. Er unterbreitet daher seine Überlegungen zu einer „Konzeptualisierung von Religion“ und sieht in diesem Kontext besonders den weit verbreiteten Essentialismus bisheriger Vorschläge als zentrales Problem, welches sich im Versuch einer Bestimmung notwendiger Charakteristika von „Religion“ zeigt. Saler schlägt daher – im Anschluss an Wittgenstein – eine Familienähnlichkeits-Theorie vor, welche er um die Vorstellung von Idealtypen oder Prototypen von „Religion“ erweitert. Durch eine sehr weit gefasste Aufstellung einer Liste von möglichen Charakteristika von „Religion“ und die Benennung zentraler Prototypen, die typische Kombinationen dieser Merkmale darstellen, sei sowohl der Dynamik und Flexibilität eines wissenschaftlichen Modells als auch der Notwendigkeit einer ausreichend genauen Abgrenzung von „Religion“ genüge getan. Saler geht also den Weg vieler theoretischer Vorschläge in der Religionswissenschaft, indem er auf komplexe und disziplinsgeschichtlich reflektierte Art und Weise darstellt, was er unter ,Religion‘ verstehen möchte und wie diese zu bestimmen sei.
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Sein Ansatz lässt sich daher klar der ersten der von mir zu Anfang dieses Kapitels unterschiedenen Herangehensweisen zuordnen. ,Religion‘ wird als analytische Kategorie eingesetzt und die – oder zumindest eine – Aufgabe der Religionswissenschaft ist für Saler die Arbeit an deren Konzeptualisierung. Es handelt sich hier somit um ein Beispiel eines religionstheoretischen Umgangs mit ,Religion‘. Jedoch – so scheint mir – lassen sich gerade anhand von Salers Überlegungen zentrale Problemlagen aufzeigen, die sein Ansatz nicht ausreichend bearbeitet. Denn es wird aus seiner Argumentation nicht klar, welchen Status er seiner Theorie im Verhältnis zu der von ihm beschriebenen „Religion“ zuschreibt. Ist sie der Versuch einer möglichst genauen Beschreibung eines vorgegeben ,Phänomens Religion‘? Salers Formulierungen scheinen eine solche Interpretation nahezulegen. So spricht er von „Religion“ als einem „very complex phenomenon“, das eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Dimensionen umfasse.52 Um diesem „komplexen Phänomen“ gerecht zu werden, stellt Saler seine umfangreiche Liste von 15 Charakteristika von „Religion“ auf, die aber, wie er sagt, auf der Basis religionswissenschaftlicher Erkenntnisse in Zukunft auch durchaus noch erweitert werden könnte. Aus dieser Form der Argumentation lässt sich schließen, dass es ihm sehr wohl um die möglichst vollständige Erfassung des ,Phänomens Religion‘ zu gehen scheint, und der Umfang der präsentierten Liste ist ein Ausweis dafür, dass man dieses „Phänomen“ in seiner Komplexität auch verfehlen kann, wenn man „Religion“ etwa nur über ein oder zwei der genannten Charakteristika theoretisieren möchte. Diese Formulierungen legen eine Form der Theorie nahe, die auf eine möglichst weitgehende Korrespondenz der Theorie mit einem gegebenen ,Phänomen Religion‘ zielt und versucht, dieses möglichst richtig und genau in der Theorie abzubilden.53 Andererseits ließe sich anhand bestimmter Hinweise in Salers Text einwenden, dass eine Interpretation seiner Vorschläge in diese Richtung nicht völlig zutreffend wäre. So versteht er „Religion“ zwar als „very complex phenomenon“, bezeichnet aber direkt im Anschluss an diese Darstellung „Religion“ ebenso als ein „construct, a convention for talking about certain expressions of human life“, also lediglich als eine eingebürgerte Art und Weise über die Welt zu sprechen, der kein ,Phänomen Religion‘ an sich entspreche, sondern nur die Erfahrungen und Handlungen bestimmter Menschen.54 Darüber hinaus beweist Saler ein Bewusstsein für diese Problematik wenn 52 Vgl. auch die folgenden Formulierungen: „the many religions of the world“, „we strive to conceptualize and appreciate religion in its great complexity“ (Saler, Conceptualizing Religion: Some Recent Reflections, 222). 53 Saler äußert sich hierzu, wie bereits erwähnt, nicht klar genug, um seine Position genau rekonstruieren zu können. Genau diese Ungenauigkeit in der Frage, welchen Status ein aufgestelltes theoretisches Modell hat, ist jedoch der Punkt, um den es mir hier geht und auf den ich mit der Unterscheidung von Diskurstheorie und Religionstheorie aufmerksam machen möchte. 54 Ebd.
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er fordert, dass die westliche Begriffsgeschichte von „Religion“ in der Theoriebildung berücksichtigt werden müsse. Gleichzeitig sei aber trotz der Partikularität dieser Begriffsgeschichte von entscheidener Bedeutung, dass die von ihm vorgeschlagene Konzeptualisierung von „Religion“ transkulturell einsetzbar bleibe.55 Eine ähnliche Unklarheit betrifft meiner Ansicht nach die Funktion von Salers prototypischen Beispielen. Wenn eine Grundlegung der abrahamitischen Prototypen so problematisch ist wie Saler anführt, und diese ,Weltreligionen‘ eigentlich nur Sonderfälle einer sehr viel weitergehenden religiösen Praxis des Menschen sind (wie er den Religionswissenschaftler Pascal Boyer zustimmend zitiert), welche Legitimation gibt es dann für die Auswahl genau dieser „Religionen“ als Prototypen noch, außer dass genau diese eben traditionell im Westen als die wichtigsten „Religionen“ verstanden werden?56 Mir scheint daher, dass sich Saler in seinen theoretischen Überlegungen genau in den Problemlagen verstrickt, denen er eigentlich ausweichen wollte. Er scheint mit seinem theoretischen Modell einem ,Phänomen Religion‘ gerecht werden zu wollen, dessen behauptete Komplexität ihn sein theoretisches Unterfangen einerseits so breit anlegen lässt, dass er eine umfangreiche Liste von möglichen Charakteristika dieser ,Religion‘ aufstellt. Andererseits versucht er, diese ausufernde Liste dann über den Verweis auf die ,Weltreligionen‘ doch wieder einzugrenzen. Es zeigt sich hier auf typische Weise, wie zum einen die eigentlichen Chancen einer ihre theoretischen Überlegungen als heuristisch verstehenden religionstheoretischen Perspektive nicht genutzt werden, und wie zum anderen zentrale Problemlagen im Umgang mit der Kategorie ,Religion‘ auftreten, denen sich jedes theoretische Modell in der Religionswissenschaft stellen muss. Dazu gehört unter anderem auch die zentrale Frage, was genau ein solches theoretisches Modell leisten soll und welcher Status diesem zugeschrieben wird. Denn gerade weil Theoriebildung letztlich als unverzichtbar betrachtet werden kann, stellt sie keinen Selbstzweck dar, sondern sollte im Hinblick auf ein spezifisches Ziel geschehen. Mir scheint, dass die Leistung eines solchen Modells darin liegen könnte, eine spezifisch religionswissenschaftliche Perspektive einzunehmen, die die Kategorie ,Religion‘ und ein damit verbundenes theoretisches Modell gerade dazu einsetzt, Sachverhalte in einen Vergleichszusammenhang zu bringen, die im Alltagsverständnis nicht unbedingt (alle) unter dieser Kategorie betrachtet werden. Das theoretische Modell wäre in einem solchen Verständnis ein Hilfsmittel zur Ermöglichung eines Vergleichs und zur Generierung wissenschaftlicher Fragestellungen. Damit geht 55 Ebd. 56 Siehe hierzu auch die Auseinandersetzung mit Salers Ansatz in Bergunder, Michael, Was ist Religion? Kulturwissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Religionswissenschaft, Zeitschrift für Religionswissenschaft 19/1 – 2, 2012, 3 – 55, hier: 9.
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aber keineswegs die Behauptung einher, dass dieses Modell ein ,Phänomen Religion‘ in irgendeiner Form – geschweige denn in seiner Gesamtheit – ,richtig‘ erfasst. Wissenschaftliche Theorien sind in einem solchen Verständnis nichts weiter als (Blick-)Hilfen zur Betrachtung der Dinge, und stellen keinen Anspruch auf Übereinstimmung mit der Wirklichkeit oder können diesen Anspruch zumindest nicht zugrunde legen.57 Wenn so vorgegangen wird, erscheint mir dies durchaus auch weiterhin als eine zentrale und legitime religionswissenschaftliche Arbeitsweise.
2.3.2 Fitzgeralds diskurstheoretische Perspektive Timothy Fitzgerald dagegen möchte sich von der Frage, wie man „Religion“ religionswissenschaftlich definieren oder konzeptualisieren könne – oder gar was diese sei –, endgültig befreien. Er hält „Religion“ für ein „potentially dangerous ideological construct with historically confused meanings“, und sieht jeden Versuch, diesen ideologischen Begriff zur einer wissenschaftlichtheoretischen Kategorie zu erheben, im Vorhinein zum Scheitern verurteilt. Dies begründet er vor allem mit zwei Argumenten: zum einen, dass jegliche Verwendung von „Religion“ in eine Vielzahl von Machtprozessen und Machtbezügen verstrickt sei, und zum anderen damit, dass ,„Religion“ sich als isolierte Kategorie nicht bestimmen lasse, da sie zu einem Netzwerk von sich 57 Die Frage, ob dies eine sinnvolle Beschreibung (religions-)wissenschaftlicher Theoriearbeit sein kann, begleitet die vorliegende Arbeit, auch wenn eine explizit religionstheoretische Perspektive hier nicht im Zentrum steht. Gleichzeitig wird an dieser Stelle deutlich, dass die vorliegende Arbeit selbst ein spezifisches Wissenschaftsverständnis vertritt, das man allgemein als ,konstruktivistisch‘ beschreiben könnte. Vor diesem Hintergrund sind theoretische Modellierungen und damit auch die Erarbeitung einer Religionstheorie nie als Versuch einer ,Abbildung der Realität‘ zu verstehen, sondern als Versuch des Aufbaus begrifflicher Komplexität durch die Kombination bestimmter Begriffsentscheidungen, welche es erst ermöglichen, ,Realität‘ zu bezeichnen. Eines der umfangreichsten und in diesem Sinne komplexesten Beispiele für ein solches Verständnis von Theorie ist sicherlich die soziologische Systemtheorie. Siehe dazu Luhmann, Niklas, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984; ders., Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1990 und besonders ders., Erkenntnis als Konstruktion, in: ders., Aufsätze und Reden, hg. von O. Jahraus, Stuttgart 2001, 218 – 242. Vgl. auch Nassehi, Armin, Wie wirklich sind Systeme? Zum ontologischen und epistemologischen Status von Luhmanns Theorie selbstreferentieller Systeme, in: W. Krawietz/ M. Welker (Hg.), Kritik der Theorie sozialer Systeme. Auseinandersetzungen mit Luhmanns Hauptwerk, Frankfurt am Main 1993, 43 – 70. Nassehi diskutiert die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Systemtheorie und weist darauf hin, dass Luhmann trotz der dies zunächst nicht nahelegenden Formulierung zu Beginn von „Soziale Systeme“ („Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, daß es Systeme gibt“, S. 30) dennoch einen Konstruktivismus vertritt, da auch diese Realitätsaussage im Rahmen der Luhmannschen Theorie (wie auch jede andere) als Aussage mit einer spezifischen Systemreferenz verstanden werden sollte. Somit werde auch der Realitätsbegriff im Sinne einer Einheit der Differenz von System und Umwelt als systemrelativ verstanden (Vgl. Nassehi, Wie wirklich sind Systeme?, 67).
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gegenseitig in ihrer Bedeutung aufeinander beziehenden Kategorien gehöre, welches, wenn überhaupt, in seiner Gesamtheit zu analysieren sei. Die Aufgabe der Religionswissenschaft sieht er daher auch anders als Saler gerade nicht in der Auseinandersetzung mit oder in der Postulierung von weiteren, nun (religions-)wissenschaftlichen, Konzeptualisierungen von „Religion“. Vielmehr sei die ganze Welt voll von strategisch und ideologisch eingesetzten Religionsverständnissen. Die vorrangige Aufgabe der Religionswissenschaft sei es daher, sich mit diesen auseinander zu setzen und sie im Hinblick auf ihren ideologischen Gehalt sowie ihre Rolle in der Ausübung gesellschaftlicher Macht und der Durchsetzung westlich-amerikanischer Interessen zu analysieren. In diesem Zusammenhang ist die Analyse von Gegenbegriffen zu „Religion“, wie z. B. des „Säkularen“, aber auch der im Kontext von „Religion“ immer wieder auftretenden Dichotomien wie rational/irrational, natürlich/übernatürlich etc. ein wichtiger Bestandteil religionswissenschaftlicher Arbeit. Eine solche Herangehensweise, welche die Kategorie ,Religion‘ als den zentralen Gegenstand ihrer Analyse versteht, und sich vor allem dafür interessiert, welche Rolle diese Kategorie sowie die mit ihr einhergehenden Vorstellungen in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und Diskursen der Vergangenheit und Gegenwart gespielt haben, lässt sich eine diskurstheoretische Vorgehensweise nennen. Fitzgerald scheint mir jedoch in seinen Arbeiten das Potential dieser diskurstheoretischen Perspektive nur ungenügend auszuschöpfen. Zum einen liegt dies an der mangelnden expliziten Auseinandersetzung mit theoretischen Vorschlägen im Kontext der Diskurstheorie sowie der soziologischen Differenzierungstheorie. Hier leistet die vorliegende Arbeit einen Beitrag. Zum anderen verliert er sich aber auch in polemischen Auseinandersetzungen mit Vertretern gegensätzlicher Auffassungen. In seiner Kritik überzeichnet er den diskurstheoretischen Ansatz dabei oftmals und vermischt seine analytische Perspektive mit einer anklagenden Rhetorik gegenüber denjenigen, die ,Religion‘ als theoretische Kategorie einzusetzen versuchen. Zum einen lässt sich dies in der Behauptung erkennen, dass „Religion“ ein gefährliches, ideologisches Konstrukt sei, das als Werkzeug der kolonialen und neokolonialen Herrschaft des kapitalistischen Westens der bewussten Durchsetzung der Machtinteressen mächtiger Institutionen und Klassen diene.58 Wenngleich Fitzgerald mit diesen Anklagen zu Recht auf die zentrale 58 Fitzgerald, Benson Saler, 194, 195, 196. Was ihn interessiere sei „the story of the modern invention of ,religion‘ and ,religions‘ and the globalisation of these concepts through the processes of colonial and neocolonial domination of the world by Euro-American values of economic rationality, materialism, and consumerism“ (ders., Discourse on Civility and Barbarity. A Critical History of Religion and Related Categories, New York 2007, 15). Scheinbar ,natu¨ rliche‘ und ,neutrale‘ Kategorien wie „Religion“, „Politik“ etc. seien strategische Begriffe zur Durchsetzung kapitalistischer Interessen: „These rhetorical constructions appear as though they are natural aspects of the world, and their ideological function in the mystification of
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Rolle ungleicher Machtverhältnisse und kolonialer Herrschaft in Auseinandersetzungen um ,Religion‘ verweist, sind sie in der vorgebrachten Form eher ein übertriebenes rhetorisches Mittel, welches die eigentlichen Leistungen der diskurstheoretischen Perspektive mehr verdeckt als herausstellt. Damit zusammenhängend formuliert Fitzgerald aufgrund dieser ideologischen Rolle des Religionsbegriffs den Vorwurf, dass jeder Wissenschaftler, der sich dieser Kategorie bediene, sich selbst zum Werkzeug neo-kolonialer Interessen mache. Fitzgerald scheint hier zum einen die Vorstellung zu vertreten, dass „Religion“ ein besonders stark instrumentalisierter Begriff sei, und dass dieser daher besser durch alternative Kategorien ersetzt werde sollte.59 Zum anderen klingt hier auch die Überzeugung an, dass es hinter dem weltweiten neo-kolonialen Diskurs noch eine ,eigentliche Wahrheit‘ der Geschichte außereuropäischer Gesellschaften zu entdecken gebe, welche von dieser Kategorie und den Wissenschaftlern, die sie einsetzen, aktiv verdeckt wird. Dies führt zum zweiten Punkt meiner Kritik an Fitzgerald. Anstatt die Leistungen und Chancen seiner diskurstheoretischen Perspektive hervorzuheben und sich mit den in diesem Kontext anstehenden theoretischen und forschungspraktischen Problemen zu beschäftigen, konzentriert Fitzgerald seine Argumentation darauf, als Ergebnis seiner diskurstheoretischen Überlegungen jeglichem Versuch einer religionstheoretischen Verwendung von ,Religion‘ die Legitimität abzusprechen. Dies scheint mir jedoch sehr voreilig zu sein. Es geht – wie ich oben im Hinblick auf Saler ausgeführt habe – viel eher darum, was jeweils im Rahmen einer Verwendung von ,Religion‘ als analytischer Kategorie für das theoretische Modell konkret an Leistungen und Voraussetzungen beansprucht wird. Dabei richtet sich Fitzgerald auch deshalb capitalism and consumerism is disguised by the academic pretensions of secular objectivity“ (ders., Introduction to „Discourse of Civility and Barbarity“ [Abstract], Ebook, 2008, http:// www.oxfordscholarship.com/view/10.1093/acprof :oso/9780195300093.001.0001/acprof9780195300093-chapter-1 [archiviert unter http://www.webcitation.org/6SmJGcxVb]). Vgl. auch ders., Playing Language Games and Performing Rituals. Religious Studies As Ideological State Apparatus, Method & Theory in the Study of Religion 15/3, 2003, 209 – 254, hier: 226 – 227, 233 – 234. 59 Von der Position, dass das Problem durch eine Ersetzung der Kategorie „Religion“ gelöst werden könne (siehe u. a. Fitzgerald, The Ideology of Religious Studies, 121), hat er sich, wie bereits erwähnt, mittlerweile verabschiedet (vgl. ders., Discourse on Civility and Barbarity). Gleichzeitig geht es mir in der Kritik an Fitzgerald nicht darum, zu bestreiten, dass es sich bei der Frage nach der Rolle von ,Religion‘ als zentraler Kategorie (neo-)kolonialer Unternehmungen um eine wichtige und interessante Problematik handelt. Gleichzeitig müsste dies dann aber eher als eine Fragestellung formuliert werden, welche detaillierter Untersuchung bedarf und nicht als eine Behauptung, die Fitzgerald hier als Ausgangspunkt zu dienen scheint. Hinweise und Thesen zu einer solchen Untersuchung liefern u. a. Balagangadhara, S.N., „The heathen in his blindness …“. Asia, the West and the Dynamic of Religion, Leiden 1994; Dubuisson, Daniel, The Western Construction of Religion. Myths, Knowledge, and Ideology, Baltimore 2003; Mandair, Arvind-Pal S., Religion and the Specter of the West. Sikhism, India, Postcoloniality, and the Politics of Translation, New York 2009.
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gegen eine theoretische Bestimmung von ,Religion‘, weil viele dieser Bestimmungen eher zu einem Ausfransen der Kategorie und einem Einbezug von Phänomenen unter das Label ,Religion‘ führen, die im Allgemeinen darunter nicht verstanden werden. Aber wie oben anhand des Ansatzes von Saler dargestellt, könnte ja gerade dies die Leistung einer theoretischen Perspektive sein, die mit ,Religion‘ als analytischer und theoretischer Kategorie agiert. Somit wäre die zentrale Frage nicht die generelle nach der Legitimität einer Religionstheorie, sondern vielmehr die Frage danach, welches Verhältnis des theoretischen Modells zur ,Wirklichkeit‘ jeweils behauptet wird. Des weiteren verweist Fitzgerald zwar einerseits zurecht darauf, dass jeglicher Einsatz der Kategorie ,Religion‘ in Machtprozesse verstrickt ist. Dennoch erfolgt ihr strategischer Einsatz andererseits aber durchaus in ganz unterschiedlicher Weise und muss differenziert betrachtet werden. So wird zum Beispiel in dem von Tisa Wenger aufgearbeiteten (und von Fitzgerald auch zitierten) Fall nordamerikanischer Pueblo-Indianer in den 1920er Jahren der Bezug auf ,Religion‘ und die in der amerikanischen Verfassung garantierte Religionsfreiheit von Seiten der Indianer gerade als ein Mittel der Emanzipation und Beanspruchung bestimmter Rechte eingesetzt. Dass damit dann wiederum eine Transformation indianischer Praktiken und Vorstellungen einhergeht, ist dabei natürlich auch zu berücksichtigen und weist darauf hin, inwieweit diese Zusammenhänge jeweils detailliert analysiert werden müssen, und der simple Vorwurf einer mit ,Religion‘ verbundenen euro-amerikanischen Ideologie die Rekonstruktion diskursiver Prozesse eher verdeckt als erhellt. ,Religion‘ war in der Geschichte zwar oft eine Kategorie der Kontrolle, trat aber durchaus auch als Garant von Freiheiten in Erscheinung.60 Der zentrale Aspekt der von Fitzgerald formulierten Kritik, welchen ich für die Pointe einer diskurstheoretischen Herangehensweise halte, ist die Beobachtung, dass in den meisten Debatten um ,Religion‘ diese als ein ,Phänomen‘, ein ,Ding in der Welt‘ betrachtet wird, das vorgefunden und dann theoretisiert, analysiert und erklärt werden muss. Diese Form von Essentialismus nicht zu teilen, ist die zentrale Aufgabe einer diskurstheoretisch orientierten religionswissenschaftlichen Perspektive. Ihre Aufgabe wäre dann vielmehr zu rekonstruieren, zu analysieren und zu erklären, „[how] ,Religion‘ gets essentialized as a form of life distinct from non-religious forms of life“.61 Dies kann, muss aber nicht immer (was Fitzgerald durch rhetorische 60 Vgl. als Beispiel Wenger, Tisa, „We Are Guaranteed Freedom“. Pueblo Indians and the Category of Religion in the 1920s, History of Religions 45/2, 2005, 89 – 113; dies., We Have a Religion. The 1920s Pueblo Indian Dance Controversy and American Religious Freedom, Chapel Hill 2009. Siehe auch Franke, Edith, Einheit in der Vielfalt. Strukturen, Bedingungen und Alltag religiöser Pluralität in Indonesien, Wiesbaden 2012. Sie stellt die Frage, inwiefern die rigide Religionspolitik Indonesiens, die auf einem staatlichen Modell von ,Religion‘ basiert, für die Stellung von Minderheiten im indonesischen Vielvölkerstaat nicht nur einschränkend wirkt, sondern durchaus auch Freiräume eröffnet. 61 Fitzgerald, Benson Saler, 195.
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Übertreibung impliziert) Ergebnis einer Durchsetzung dominanter Bedeutungen von ,Religion‘ durch mächtige Institutionen und herrschende Klassen sein, die bewusste Ziele anstreben und damit europäisch-amerikanische, neokoloniale und kapitalistische Interessen verfolgen. In den meisten Fällen lässt sich die Entwicklung des globalen modernen Religionsdiskurses nicht so einfach den Intentionen von Akteuren zurechnen und eine solche Herangehensweise, die in jeder historischen Situation nach ,Tätern‘ und ,Profiteuren‘ der ideologischen Verblendung durch die Kategorie ,Religion‘ sucht, verstellt sich damit möglicherweise die Chancen der eigenen Analyse mehr als dass sie sie nutzt. Ein diskurstheoretischer Ansatz täte daher gut daran, ,Religion‘ als wirkmächtige Kategorie und globalen Diskurs mit einer komplexen Genealogie zu verstehen, und die Aufgabe der Religionswissenschaft in der kritischen Auseinandersetzung mit all den bereits vorhandenen wissenschaftlichen, theologischen, politischen, religiösen und medialen Verwendungen der Kategorie zu sehen, sowie der Geschichte ihrer ,Normalisierung‘ – also der weltweiten Durchsetzung ihrer Plausibilität. Dabei geht es nicht primär um eine Aufdeckung der ,ideologischen Verblendung‘ all derjenigen Akteure, die ,Religion‘ für eine legitime analytische Kategorie halten, sondern um die Analyse und Rekonstruktion des mit dieser verbundenen Diskurses.
2.4 ,Religion‘ zwischen Religionstheorie und Diskurstheorie im Kontext der Religionswissenschaft Vor dem Hintergrund der in diesem Kapitel behandelten Positionen von Saler und Fitzgerald könnte man somit die Frage nach dem religionswissenschaftlichen Umgang mit ,Religion‘ zusammenfassend wie folgt beantworten:62 62 Im Licht des im weiteren Verlauf dieser Arbeit entwickelten Verständnisses von Diskurstheorie und des Anschlusses an poststrukturalistische Ansätze und nicht zuletzt Überlegungen Jacques Derridas ließe sich die hier präsentierte Unterscheidung zwischen einem ,rein heuristischen‘ Gebrauch der Kategorie ,Religion‘ und einem Interesse für deren diskursive Geschichte als naive Unterscheidung kritisieren. Gerade wenn man den Einsichten folgt, die unter anderem von Derrida vorgetragen wurden, ist eine solche ,reine‘ und die Kategorie heuristisch auffassende Verwendung unmöglich, da diese immer schon in die lange Geschichte ihres Gebrauchs eingebunden ist. Da die überlieferten Begriffe, wie Derrida schreibt, keine „Elemente“ oder „Atome“ sind, sondern „in einer Syntax und in einem System eingebunden, beschwört jede Anleihe die gesamte Metaphysik herauf“ (Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main 1976, 426). Diese Aussage ließe sich durchaus auch auf den Begriff ,Religion‘ übertragen. Die Rechtfertigung für eine solche Unterscheidung und die hier vertretene Überzeugung, durchaus beide Formen des Umgangs mit ,Religion‘ für legitim zu halten, ergibt sich daher nur daraus, dass die Interessen der zwei Perspektiven als jeweils unterschiedliche verstanden werden können. Beide Versuche entkommen letztlich der ,Metaphysik‘ ihres Begriffsgebrauchs nicht. Al-
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,Religion‘ lässt sich entweder als analytische Kategorie zur Generierung eines heuristischen Modells beibehalten. Für ein solches funktionalistisches, hermeneutisches, evolutionstheoretisches oder auch kognitionswissenschaftliches Modell sollte allerdings keine Aussage über dessen Korrespondenz mit einem ,Phänomen Religion‘ gemacht werden, es dient vielmehr zur Generierung wissenschaftlicher Fragestellungen in vergleichender Perspektive.63 Ein solches Verständnis von religionswissenschaftlicher Theoriebildung verweist auf die Konstruktionshaftigkeit jeder Religionsmodellierung sowie den komparativen Impetus jeglicher Religionstheorie.64 ,Religion‘ kann als heuristische Kategorie verwendet werden, wir sollten uns aber dann im Klaren sein, dass dies etwa zum Zweck der komparativen Einordnung derjenigen Phänomene geschieht, die wir darunter verhandeln wollen, sowie zur Generierung neuartiger Fragestellungen, und nicht als Annäherung an die ,tatsächliche‘ Konstitution eines ,Phänomens Religion‘, über dessen Übereinstimmung mit unserer Theorie wir nicht urteilen können (und als Religionswissenschaftler nicht urteilen sollten). Oder man versteht ,Religion‘ als die zentrale Kategorie eines globalen Diskurses und bestimmt die Aufgabe der Religionswissenschaft als historische Rekonstruktion von und kritische Auseinandersetzung mit bereits vorhandenen wissenschaftlichen, theologischen, politischen und medialen Religionsverständnissen. ,Religion‘ erscheint in dieser Perspektive als hoch umlerdings interessiert sich die diskurstheoretische Analyse dafür, genau dies als ihr zentrales Problem zu behandeln und daher der Kategorie und ihrem Gebrauch möglichst detailliert zu folgen, wohingegen eine religionstheoretische Verwendung der Kategorie diese (zumindest teilweise) Perpetuierung der mit ihr verbundenen ,Metaphysik‘ in Kauf nimmt, und als ihr Interesse statt dessen eine Konstruktion begrifflicher – etwa komparativer – Komplexität und die dadurch ermöglichten Beobachtungen versteht. Jürgen Mohn beschreibt dies für die Religionswissenschaft wie folgt: „Aufgrund der Rückgebundenheit an die mit religiösen Fermenten durchsetzte Kulturgeschichte und Wissenschaftssprache wird sie […] immer eine religiöseurogene Schattierung ihrer Fragestellungen und methodischen Instrumente beibehalten und sich ihrer nie ganz entledigen können“ (Komparatistik als Position und Gegenstand der Religionswissenschaft. Anmerkungen zum religionswissenschaftlichen Vergleich anhand der Problematik einer Komparatistik des Zeitverständnisses im Christentum [Augustinus] und im Buddhismus [Do¯gen], in: R. Bernhardt [Hg.], Komparative Theologie. Interreligiöse Vergleiche als Weg der Religionstheologie, Zürich 2009, 225 – 276, hier: 233). Siehe zur Frage nach der Metaphysik und ihrer Kritik im Kontext Derridas auch Lagemann, Jörg, Signifikantenpraxis. Die Einklammerung des Signifikats im Werk von Jaques Derrida, Unveröffentlichte Dissertation, Oldenburg 2001, 17 – 26. 63 In dieser Weise, also als Aussage über die religionstheoretische Verwendung des Religionsbegriffs innerhalb der Religionswissenschaft, würde ich auch Jonathan Z. Smiths berühmte Aussage verstehen: „there is no data for religion. Religion is solely the creation of the scholar’s study. It is created for the scholar’s analytic purposes by his imaginative acts of comparison and generalization. Religion has no existence apart from the academy“ (Imagining Religion. From Babylon to Jonestown, Chicago 1982, xi). 64 Für eine Begründung warum religionswissenschaftliche Theoriebildung immer eine Komparatistik einschließt und „[j]ede Aussage über Religion […] daher prinzipiell in einem komparativen Aussagekontext“ steht, siehe Mohn, Komparatistik, 226.
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strittene Kategorie gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, um deren Bedeutung und Abgrenzung im Kontext einer Vielzahl hegemonialer Verständnisse von ,Religion‘ etwa in rechtlichen, politischen, wissenschaftlichen und massenmedialen Debatten gestritten wird. Diese Kontroversen um ,Religion‘ können, so wird die vorliegende Arbeit argumentieren, als Teil eines globalen Religionsdiskurses verstanden werden. Eine diskurstheoretische Perspektive interessiert sich für diese diskursiven Auseinandersetzungen selbst, nicht aber für den Versuch, hinter ,Religion‘ als „essentially contested concept“65 letztlich doch ein ,Phänomen Religion‘ zu erfassen. Entscheidend für eine so verstandene diskurstheoretische Herangehensweise ist darüber hinaus, dass die Theoriebildung zwar im Bezug auf den globalen Religionsdiskurs stattfindet – wie ich in Teil II der Arbeit argumentieren werde –, aber auf der Ebene der Theorie keineswegs spezifisch für ,Religion‘ zu erfolgen hat. Vielmehr ist es die Aufgabe eines diskurstheoretischen Ansatzes, seine Grundbegrifflichkeiten zunächst unspezifisch zu entwickeln, in einer Weise, die für die Rekonstruktion aller entsprechenden globalen gesellschaftlichen Diskurse eingesetzt werden kann. Auch in diesem Sinn, ist eine Diskurstheorie von ,Religion‘ zwar sehr wohl eine Theorie, aber keine Religionstheorie von ,Religion‘. Beide Optionen, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit als Religionstheorie und Diskurstheorie von ,Religion‘ unterschieden werden, erscheinen so als legitime Herangehensweisen an religionswissenschaftliches Arbeiten, besonders wenn Leistungen und auch Grenzen des jeweiligen Ansatzes klar herausgestellt werden.66 Dies wird in der Polemik zwischen den Vertretern dieser beiden Perspektiven oft anders gesehen, womit die Vorschläge hinter
65 Vgl. Gallie, Walter B., Essentially Contested Concepts, Proceedings of the Aristotelian Society 56, 1956, 167 – 198. 66 Es ließe sich hier die Frage anschließen, inwieweit sich eine solche Unterscheidung mit der diziplinsgeschichtlich bedeutsamen Unterscheidung zwischen historischer und systematischer Religionswissenschaft in Verbindung bringen lässt. Allerdings ist die hier vorgeschlagene Unterscheidung zumindest insofern anders gelagert, als sie Theoriebildung auf beiden Seiten der Unterscheidung ansetzt und damit nur verschiedene Formen der Theoriebildung unterscheidet und nicht davon ausgeht, dass die eine Seite es rein mit historischen ,Phänomenen‘ zu tun hätte und die andere Seite mit der Systematisierung und Theoretisierung derselben. Gleichzeitig wäre die Frage nach dem Verhältnis der hier vorgeschlagenen Unterscheidung zur klassischen Insider/Outsider-Problematik zu stellen. Siehe McCutcheon, Russell T. (Hg.), The Insider/Outsider Problem in the Study of Religion. A Reader, London 1998. Dabei plädiert eine diskurstheoretische Perspektive allerdings nicht dafür, die verschiedenen Insider-Beschreibungen zu übernehmen, sondern stellt vielmehr die Frage, was geschieht, wenn eine Selbstbeschreibung gerade unter Rückgriff auf die Kategorie ,Religion‘ erfolgt. Siehe zum Problem der religionstheoretischen Anlehnung an Insiderperspektiven auch Hermann, Adrian, Rezension von: H. Zinser : Grundfragen der Religionswissenschaft, Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2010, Zeitschrift für junge Religionswissenschaft, 7, 2012, xii–xviii, http://www.zjr-online.net/ vii2012/zjr201207_hermann_rez_zinser.pdf (archiviert unter http://www.webcitation.org/ 6SmLSIftB).
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den eigenen Anspruch eines hohen Reflexionsniveaus zurückfallen, indem sie für ihre theoretischen Entscheidungen alleinige Geltung beanspruchen.67 Diese hier vorgeschlagene Unterscheidung zwischen Diskurstheorie und Religionstheorie soll im Folgenden in einem kurzen Blick auf aktuelle Beiträge zur religionswissenschaftlichen Theoriebildung nochmals diskutiert werden. Es mag zunächst überraschen, dass hier jede religionswissenschaftliche Verwendung von ,Religion‘ als Analysekategorie bereits als eine Religionstheorie bezeichnet wird. In der vorliegenden Arbeit dient diese Unterscheidung jedoch dazu, darauf hinzuweisen, dass es keine analytische Verwendung der Kategorie ,Religion‘ ohne Inanspruchnahme einer – expliziten oder impliziten – Religionstheorie geben kann.68 Es geht also nicht um eine ,Essentialisierung‘ von Religionstheorien, sondern vielmehr darum, dass jedes religionswissenschaftliche Sprechen von ,Religion‘ – auch im Sinne eines Arbeitsbegriffs und einer Heuristik – seine epistemologischen, ontologischen und pragmatischen Voraussetzungen explizit reflektieren sollte. Sicherlich wäre es in einem weiteren Schritt sinnvoll, ein komplexeres Verständnis dessen zu entwickeln, was unter einer Religionstheorie zu verstehen ist. Hier wären Kriterien zu deren Beurteilung aufzustellen sowie verschiedene Formen und Ebenen der Theoriebildung zu unterscheiden. Da die vorliegende Arbeit im Folgenden primär diskurstheoretisch argumentieren wird, kann dies allerdings hier nicht ausführlich geleistet werden. Ausgangspunkt einer solchen Diskussion könnten Michael Stausbergs Überlegungen in seiner Einleitung zu einem neueren von ihm herausgegebenen Sammelband sein, in welchem gegenwärtige Religionstheorien diskutiert werden. Für ihn zeichnen sich Religionstheorien dadurch aus, dass sie im Hinblick auf ,Religion‘ auf zumindest vier Fragen eine Antwort zu geben versuchen: die Frage nach ihrem Spezifikum, ihrem Ursprung, ihrer Funktion und ihrer Struktur.69 Sie stellen somit heraus, woran man ,Religion‘ erkennen kann, identifizieren ihren Entstehungsmechanismus, diskutieren Kausalrelationen zu anderen sozialen Phänomen und geben an, in Bezug auf welche Elemente oder Dimensionen sie zu untersuchen sei. Stausberg unterscheidet gleichzeitig zwischen „theoretical approaches,
67 Vgl. auch die Auseinandersetzung mit der religionstheoretischen Position Martin Riesebrodts im dritten Kapitel der vorliegenden Arbeit. 68 Vgl. Stausberg, Michael, There Is Life in the Old Dog yet. An Introduction to Contemporary Theories of Religion, in: ders. (Hg.), Contemporary Theories of Religion. A Critical Companion, London 2009, 1 – 21, hier: 2: „Observing, describing, interpreting and accounting for anything in terms of its being ,a religion‘ posits the category of religion; this category is invariably informed (,laden‘) by a theory of what can be communicated as ,religion‘.“ 69 Vgl. ebd., 3 – 6. Siehe auch als kurze Zusammenfassung seiner Perspektive auf Religionstheorien Stausberg, Michael, Religion: Begriffe, Definitionen, Theorien, in: ders. (Hg.), Religionswissenschaft, Berlin 2012, 33 – 47, hier: 44 – 45.
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theoretical ideas, and theories“.70 Während ersteres sich auf grundlegende kulturwissenschaftliche Herangehensweisen bezieht (beispielsweise kognitionswissenschaftliche, feministische oder postkoloniale Ansätze), versteht er unter „theoretical ideas“ explizite Überlegungen zur religionswissenschaftlichen Theoriebildung, die jedoch nicht alle der vier oben genannten Fragen beantworten. Der Übergang zu vollständigen Religionstheorien ist zwar fließend, diese erscheinen jedoch zumeist in einer ausführlichen und systematischen Darstellung, welche oft auch empirische Analysen miteinschließt.71 In einer detaillierten Untersuchung religionstheoretischer Konzepte ist es sicherlich sinnvoll, verschiedene Stufen der Theoriebildung in dieser Weise klar zu unterscheiden. Das in der vorliegenden Arbeit verwendete Verständnis von ,Religionstheorie‘ ist dem gegenüber deutlich einfacher gebaut und liegt gleichzeitig quer zu dieser Stausbergschen Unterscheidung. Vielmehr impliziert im hier zugrunde gelegten Verständnis jegliche Verwendung von ,Religion‘ als analytischer Kategorie in einer wissenschaftlichen Studie bereits eine ,Religionstheorie‘. Die Unterscheidung verweist somit nicht primär auf explizite Religionstheorien, sondern auf eine religionstheoretische Herangehensweise im Unterschied zu einer diskurstheoretischen, die ,Religion‘ nicht als analytischen Begriff für sich in Anspruch nimmt. Ein weiteres Beispiel für die Schwierigkeiten, welche die konsequente Umsetzung einer solchen Unterscheidung begleitet, ist der Ansatz des Religionssoziologen James A. Beckford. In seinem 2003 erschienenen Buch Social Theory and Religion entwickelt er angesichts ihrer problematischen Theoriegeschichte eine sozialkonstruktivistische Perspektive auf „Religion“.72 Diese steht als ein „social phenomenon“73 im Zentrum seiner Überlegungen, die sich mit den „social processes whereby certain things are counted as religious“ befassen, sowie mit den „processes whereby prevailing concepts of religion are extended, challenged or rejected“.74 Seine grundsätzliche Fragerichtung zielt somit auf Veränderungen im gesellschaftlichen Verständnis von „Religion“.75 Anstatt eine eigene Religionstheorie aufzustellen, ist es sein Bestreben „to analyse the processes whereby the meaning of the category of religion is, in various situations, intuited, asserted, doubted, challenged, rejected, substituted, re-cast, and so on.“76 Über diesen Religionsdiskurs hinaus interessiert sich Beckford für die Kategorie der „non-religion“ und die Verhandlung ihrer Grenzen zu „Religion“77 Sie erscheint somit als „a social and cultural construct with highly variable meaning”.78 70 71 72 73 74 75 76 77
Stausberg, There Is Life, 9. Vgl. ebd. Beckford, James A., Social Theory and Religion, Cambridge 2003. Ebd., 2. Ebd., 3. Ebd., 2. Ebd., 3. Ebd., 4.
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Wir haben es hier also auf den ersten Blick mit einer konsequenten diskurstheoretischen Perspektive zu tun, die sich nicht für ein ,Phänomen Religion‘, sondern für die Rolle einer umstrittenen Kategorie in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen interessiert, deren Verlauf sie rekonstruieren möchte. Bei einer ausführlicheren Beschäftigung mit Beckfords Ansatz fällt jedoch auf, dass gleichzeitig auch in anderer Form von „Religion“ und besonders „religious phenomena“ die Rede ist. Schon zu Beginn des Buches beschreibt er „Religion“ als eine „interpretative category that human beings apply to a wide variety of phenomena, most of which have to do with notions of ultimate meaning or value.“79 Zu den Herausforderungen einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit dieser konstatiert er, dass „much of the social theorising about globality and globalisation is problematic because it fails to do justice to the subtlety, variety and complexity of religious phenomena.“80 Ebenfalls ist zu beobachten, dass Beckford trotz seines in den theoretischen Grundlagen klar explizierten ,diskurstheoretischen‘ Ansatzes, die Plausibilität genereller Aussagen über „Religion“ aus der Sicht des Sozialwissenschaftlers dennoch immer wieder in Anspruch nimmt. So behauptet er etwa, dass „religious ways of thinking, feeling and acting are not extinguished or excluded by globalisation“.81 Ebenfalls unklar ist die Sprecherposition beispielsweise in dem folgenden Satz zu den Defiziten soziologischer Religionstheorie: „Religion is thereby squeezed into a mould that is not tolerant of its kaleidoscopic diversity and fluidity.“82 Auch sein Kapitel zu „religious movements“ befasst sich zwar einerseits ausführlich mit gesellschaftlichen Kontroversen um diese Bewegungen, zu denen immer wieder auch die Frage ihrer Anerkennung als „Religion“ zählt, andererseits schreibt Beckford aber aus einer Perspektive, aus der es so erscheint, als wisse der beschreibende Soziologe immer schon, was „religious movements“ sind und was in diese Kategorie gehört. Entgegen der konsequenten Diskursivierung von „Religion“ in seinem Einführungskapitel scheint Beckfords Ansatz also letztlich darauf hinaus zu laufen, dass diese Konsequenz im Rest seines Buches nur zum Teil durchgehalten wird. Gewiß, er weist bei fast jedem der Themen seiner folgenden Kapitel – Säkularisierung, Globalisierung etc. – auf den umkämpften Status der jeweiligen Kategorien hin, aber dennoch bleibt oft unklar wann er selbst den Religionsbegriff als eine analytische Kategorie einsetzt, und wann er sich auf gesellschaftliche Verwendungen und Aushandlungen von „Religion“ bezieht. Das Problem an seinem Ansatz ist somit auch nicht die von ihm zu Beginn klar dargestellte sozialkonstruktivistische Perspektive auf „Religion“. Viel78 79 80 81 82
Ebd., 5. Ebd., 4. Ebd., 9. Ebd., 117. Ebd., 124.
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mehr ist es das Bestreben, trotz dieser rekonstruierenden Haltung doch auch selbst Aussagen über ,Religion‘ oder ,religiöse Phänomene‘ zu treffen. Diese bleiben jedoch zumeist seltsam unbestimmt oder bei genauerem Hinsehen unklar. Auch greift er in diesen Beschreibungen dann beispielsweise mehrfach auf die Kategorie des „sacred“ zurück, ohne diese zu genauer zu erläutern, wie etwa in folgender Aussage: It is only the quasi-monopoly that some religions and religious organisations have at times been able to exercise over these audiences and markets that has sustained the idea that ,real‘ religion is given in the nature of things and that other expressions of the sacred are necessarily false, heretical or inauthentic.83
Auch hier ist nicht die Verwendung eines solchen Konzepts an sich das Problem, sondern die Tatsache, dass – wie mir scheint – solche Hilfskonstrukte jeweils in genau dem Moment in Beckfords Ansatz wieder auftauchen, wo eine Aussage über die diskursiven Verhandlungen von „Religion“ hinaus getroffen werden soll.84 Aus der Perspektive der vorliegenden Arbeit wäre also nicht allein eine Diskursivierung von ,Religion‘ oder eine ,Berücksichtigung‘ der in den letzten Jahrzehnten erfolgten Kritik an dieser Kategorie notwendig,85 sondern die grundsätzliche Entscheidung, ,Religion‘ für die eigene Beschreibung, Rekonstruktion und wissenschaftliche Analyse zu gebrauchen, oder aber den Diskurs um ,Religion‘ als das Quellenmaterial der eigenen Studie zu betrachten und die Kategorie nicht selbst einzusetzen (oder dies alternativ klar zu kennzeichnen und vor allem theoretisch zu reflektieren). Diese kurzen Bemerkungen dienen somit auch nicht dazu, Beckford nachzuweisen, dass er den Anspruch seines Ansatzes nur zum Teil einlösen kann. Vielmehr ist interessant, wie er über die diskursive Rekonstruktion hinaus für seine eigenen Aussagen zu „Religion“ eine große Plausibilität in Anspruch nehmen kann. Dies hängt jedoch meiner Ansicht nach damit zusammen, dass er über „Religion“ nur im Rahmen moderner und zumeist gegenwärtiger Auseinandersetzungen spricht.86 Er beschränkt sich in seinen Analysen auf Kontexte, in denen „Religion“ bereits vielfach verhandelt wird und entwickelt seine Perspektive, wie er selbst sagt, fast ausschließlich im Bezug auf Gegenwartsprobleme: „I plead guilty to the charge that my discussions take relatively little account of religion or social theorising outside 83 Ebd., 204. Vgl. auch die anderen Verwendungen von „sacred“ auf dieser Seite. 84 Vgl. auch die oben zitierte ,Religionsdefinition‘: „phenomena, most of which have to do with notions of ultimate meaning or value“ (ebd., 4). 85 Denn zumeist bedeutet ,Berücksichtigung‘ eher ein zur Kenntnis nehmen, um dann den eigenen Ansatz unbeirrt weiter zu verfolgen. 86 Vgl. auch ebd., 10: „I am confident that it is an approach that throws into sharp relief some of the most intriguing and challenging aspects of what counts as religion today.“ Meine Hervorhebung.
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the confines of advanced industrial democracies.“87 Dies führt jedoch nicht nur dazu, dass die Frage nach dem Verhältnis seines Ansatzes zu der ebenfalls von ihm in Anspruch genommenen Kategorie der „religious phenomena“ bis auf wenige Hinweise unklar bleibt, sondern dass zentrale Herausforderungen einer diskurstheoretischen Perspektive völlig unerwähnt bleiben. Denn aus diskurstheoretischer Sicht bleibt offen, wie sich der von Beckford vorgeschlagene Ansatz umsetzen lassen soll, wenn das Material der Analyse nicht eine Auseinandersetzung um „Religion“ in einer europäischen Sprache darstellt.88 Die Frage der Übersetzung, die – wie im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit argumentiert wird – für eine diskurstheoretische Perspektive auf ,Religion‘ von entscheidender Bedeutung ist, wird nicht thematisiert. Ohne eine Berücksichtigung dieser Thematik bleibt jedoch unklar, wie etwa Beckfords Anspruch einer „analysis of the ways in which human beings express what they regard as religious ideas and sentiments in social and cultural forms“89 praktisch umgesetzt werden soll. Diese Problematik betrifft jedoch nicht nur eine diskurstheoretische Perspektive. Auch religionstheoretische religionswissenschaftliche Ansätze, die auf eine Analyse moderner Verhältnisse zielen oder anhand einer solchen entwickelt worden sind, ziehen sich oftmals von der Frage nach ,Religion‘ zurück, indem sie die (globale) Verbreitung eines Religionsdiskurses bereits voraussetzen. So will etwa Manuel A. Vzsquez in seiner „materialist theory of religion“, die er im Kontext von Forschungen zu transnationaler Migration entwickelt hat, die Verwendung der Kategorie „Religion“ dadurch begründen, dass er sich auf „actors who have come to identify what they do as religious“ beschränkt.90 Hier ist jedoch weder klar zu erkennen auf welche sozialen Kontexte er sich genau bezieht, noch wird die Frage thematisiert, in welcher Sprache und mit Rückgriff auf welche Begrifflichkeiten eine solche Selbstidentifikation als „religiös“ erfolgen soll. Es scheint daher in der Entwicklung einer diskurstheoretischen Perspektive darauf anzukommen, die Herausforderungen dieses Ansatzes ernst zu nehmen und konsequent zu verfolgen, wie dies etwa Michael Bergunder tut, der im Rückgriff auf die Diskurstheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, sowie auf die Performativitätstheorie Judith Butlers entsprechende Überlegungen entwickelt hat.91 Für ihn stellt sich dabei vor allem ein historisches Problem: „Welche historischen Prozesse haben dazu geführt, dass ,Religion‘
87 Ebd., 6. 88 Diese Frage wird in Teil II der vorliegenden Arbeit und besonders in Kapitel 6 ausführlicher thematisiert. 89 Ebd., 29 meine Hervorhebung. 90 Vzsquez, Manuel A., More Than Belief. A Materialist Theory of Religion, Oxford 2011, 9. 91 Da ich auf diesen Ansatz in den folgenden Kapiteln noch ausführlicher eingehen werde, wird dessen Perspektive hier nicht weiter ausgeführt. Vgl. die Abschnitte 4.1 und 5.7.
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heute global verwendet wird?“92 Die Beantwortung dieser Frage hält er fu¨ r eine zentrale Forschungsaufgabe der Religionswissenschaft, die in dieser Form dazu beitragen könnte ,Religion‘ im Kontext „globale[r] und komplexe[r] diskursive[r] Konstellationen“ umfassend zu rekonstruieren und diese Kategorie so im Rahmen einer „globalen Religionsgeschichte“ zu verstehen.93 Die vorliegende Arbeit schließt sich diesem Anliegen an, und möchte in den folgenden Kapiteln hierzu einen Beitrag leisten. Der zuletzt zitierte Aufsatz Bergunders ist erschienen in einer von Michael Stausberg herausgegebenen Einführung in die Religionswissenschaft, die den aktuellen Stand der Disziplin im deutschsprachigen Raum repräsentiert. Im Blick auf die dort versammelten Beiträge lässt sich die hier diskutierte Unterscheidung von Religionstheorie und Diskurstheorie abschließend auf die gegenwärtige religionswissenschaftliche Theoriebildung und den Umgang mit ,Religion‘ in diesem Kontext beziehen. Stausberg befasst sich in seinem eigenem Beitrag zu diesem Band mit der Frage nach Begriffen, Definitionen und Theorien von „Religion“ und damit auch mit der heftigen Kritik an dieser Kategorie. Unter Verweis auf Christoph Kleine und Martin Riesebrodt konstatiert er : Obgleich dafür natürlich nicht das europäische Wort verwendet wurde, findet man jedoch auch in vorkolonialen Kontexten bei verschiedenen Völkern Wörter bzw. Wortfelder, deren Semantiken zu einem beachtlichen Teil dem des europäischen Religionsbegriffs entsprechen.94
Die problematische Zirkularität einer solchen Herangehensweise, die einerseits die Kritik am Eurozentrismus der Kategorie aufnimmt und dennoch in dieser Weise die Frage nach außereuropäischen ,Äquivalenten‘ von ,Religion‘ weiterverfolgt, und damit u. a. eine einheitliche Beschreibung ,des‘ europäischen Religionsbegriffs voraussetzt,95 wird im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit und besonders in Kapitel 3 ausführlich thematisiert. Volkhard Krech zielt in seinem Beitrag dagegen darauf, „zu beobachten, wie religiöse Kommunikation verfährt, sich selbst beschreibt und sich von anderen Arten des Kommunizierens abgrenzt.“96 Die „spezifisch religiöse Art des Transzendenzbezugs“ (im Unterschied zu anderen Formen des Transzendierens) unterscheidet Krech wie folgt: „Religion hat es mit dem Problem zu tun, wie die prinzipiell nicht darstellbare Transzendenz mit immanenten Mitteln
92 Bergunder, Michael, Indischer Swami und deutscher Professor. „Religion“ jenseits des Eurozentrismus, in: M. Stausberg (Hg.), Religionswissenschaft, Berlin 2012, 95 – 107, hier: 96. 93 Ebd., 106, Hervorhebung entfernt. 94 Stausberg, Religion, 37. 95 Vgl. Bergunder, Was ist Religion?, 11, 13. 96 Krech, Volkhard, Religion als Kommunikation, in: M. Stausberg (Hg.), Religionswissenschaft, Berlin 2012, 49 – 63, hier: 49.
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bezeichnet, also Unverfügbares in Verfügbares bzw. Unsagbares in Sagbares transformiert werden kann.“97 Hier liegt ein Versuch der Kombination von religionstheoretischen und diskurstheoretischen Überlegungen vor – ähnlich wie dies in Niklas Luhmanns späten Religionsschriften versucht wird.98 Durch eine Kombination von religionstheoretischen und diskurstheoretischen Komponenten bleibt jedoch unklar, wie die Zirkularität in der Identifizierung und Beschreibung von sich selbst als „religiös“ abgrenzender Kommunikation aufgelöst werden soll. So schlägt er für die Identifikation von „religiösen Grundbegriffen“ in nicht-westlichen Kulturen und Sprachen vor, mittels Familienähnlichkeiten vorzugehen, und dabei auch darauf zu achten, „wie sich religiöse Traditionen synchron wechselseitig als religiös identifizieren“.99 Um dies zu ermöglichen, muss jedoch immer schon von einer Erstidentifikation bestimmter Traditionen als ,Religionen‘ ausgegangen werden. Krech fordert in diesem Zusammenhang auch, dass die Religionswissenschaft sich bemühen müsse „Korrespondenzen zwischen der religiösen Selbstbeschreibung und der wissenschaftlichen Metasprache“ herzustellen.100 Nur so könne ein „steriler Szientismus“ vermieden werden, „der sich nicht um die objektsprachliche Selbstbeschreibung kümmert“.101 Auch (Religions-) Wissenschaft bleibe in die Prozesse der Identifikation religiöser Kommunikation eingebunden. Ein solches Anliegen der Berücksichtigung ,religiöser Selbstbeschreibungen‘ in der religionswissenschaftlichen Theoriebildung ist jedoch insoweit schwierig, als besonders auf abstrakteren Beschreibungsebenen immer von einer Vielzahl von umstrittenen Selbstbeschreibungen ausgegangen werden muss. Jürgen Mohn macht daher in seinem Beitrag zum gleichen Band einen entgegengesetzen Vorschlag und will Religionswissenschaft als eine „Heuristik“ verstehen, „die den Religionsbegriff genauso wie ihre re-konstruktiven Grundbegriffe […] und konstruktiven Interpretationsbegriffe […] pragmatisch einsetzt.“102 Seiner Ansicht nach sollte der Begriff „Religion“ weiterhin explizit als religionswissenschaftliche Kategorie eingesetzt werden, jedoch „nicht am Vorbild der ambivalenten Selbstbeschreibungen der Vertreter der Religionen gewonnen werden“.103 Wie die hier vorgeschlagene Unterscheidung von Religionstheorie und Diskurstheorie erkennen lässt, schließt sich die vorliegende Arbeit im Hinblick auf ihr Verständnis von Religionstheorie der Position von Mohn an, um 97 Ebd., 54, Hervorhebung entfernt. 98 Vgl. auch die ausführlichere Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann in Kapitel 7, besonders Abschnitt 7.3.2. 99 Ebd., 60. 100 Ebd. 101 Ebd., 61. 102 Mohn, Jürgen, Religionsaisthetik. Religion(en) als Wahrnehmungsräume, in: M. Stausberg (Hg.), Religionswissenschaft, Berlin 2012, 329 – 342, hier: 331. 103 Ebd.
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dann die ,religiösen Selbstbeschreibungen‘ als Teil des ,globalen Religionsdiskurses‘ als Gegenstand der Religionswissenschaft durchaus ernst zu nehmen. Denn es erscheint mir fraglich, ob beide Perspektiven – diskurstheoretische sowie religionstheoretische – sich theoretisch weiterentwickeln können, solange einerseits die Rekonstruktion des Religionsdiskurses sich an einem ,Phänomen Religion‘ zu messen hat, und andererseits eine religionstheoretische Perspektive ihre Konstruktionen anhand der religiösen Selbstbeschreibungen zu entwickeln und in Korrespondenz mit diesen zu verbleiben hat. Wäre, wie man im Anschluss an Niklas Luhman sagen könnte, nicht ein Verständnis von religionswissenschaftlicher Theoriebildung weiterführend, das anstelle von Korrespondenz auf die Erzeugung von „inkongruente[n] Perspektive[n]“ abzielt?104 In gleicher Weise ließe sich an Krechs Anknüpfung an die Luhmannsche Religionstheorie die Frage stellen, ob dessen Ausdifferenzierungsthese (und damit die selbstreferentielle Abgrenzung eines sozialen Kommunikationsbereichs von ,Religion‘) nicht vielmehr als theoretische Beschreibung eines kontingenten historischen Prozesses verstanden werden könnte, wie ich in Kapitel 7 der vorliegenden Arbeit argumentieren werde. In all dem geht es vor allem darum, zu betonen, dass ein Weg aus gegenwärtigen Sackgassen der religionswissenschaftlichen Theoriebildung darin bestehen könnte, auf beiden Seiten der Unterscheidung von Diskurstheorie und Religionstheorie selbstbewusst zu agieren, und gleichzeitig die Unterschiede zwischen diesen Perspektiven im Blick zu behalten. Der Weg, den viele religionswissenschaftliche Arbeiten (aber auch generell kultur- oder sozialwissenschaftliche Studien zu ,Religion‘) in den letzten Jahren eingeschlagen haben, scheint mir dagegen eine Aufnahme der Kritik an der Kategorie ,Religion‘ oder sogar der Rückgriff auf einen diskursiven Ansatz zu sein, ohne diesen jedoch konsequent umzusetzen. Das Ergebnis sind religionswissenschaftliche Texte, in denen für den Leser oft völlig unklar bleibt, ob die Begrifflichkeiten von ,Religion‘, ,Religionen‘ und ,religiös‘ als Rekonstruktionskategorien oder als Teil der Objektsprache verstanden werden. Die Lösung dieser Problematik liegt also nicht in einer endgültigen Entscheidung hinsichtlich der hier vorgeschlagenen Unterscheidung, sondern vielmehr darin, den Status von ,Religion‘ im eigenen religionswissenschaftlichen Ansatz zu klären. Einige weitere Bemerkungen zur Unterscheidung von Religionstheorie und Diskurstheorie, ihrem Status als einer heuristischen Unterscheidung und den Ansprüchen der auf beiden Seiten stattfindenden Theoriebildung scheinen hier angebracht. Zum einen wird die Lage dadurch verkompliziert, dass, wie bereits erwähnt, es durchaus vorstellbar wäre, dass eine bestimmte Religionstheorie ihrerseits auf eine diskurstheoretische Argumentation zurück104 Luhmann, Soziale Systeme, 88.
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greift.105 Zum anderen lässt sich in dem hier vorgeschlagenen Verständnis eine religionswissenschaftliche Religionstheorie nicht nach dem Kriterium von ,richtig‘ oder ,falsch‘ beurteilen. Religionstheorien lassen sich darüber hinaus – so das hier vertretene Verständnis, das auf einer bestimmten wissenschaftsund erkenntnistheoretische Position beruht, und damit selbst zum Teil als eine wissenschaftspolitische Strategie verstanden werden muss106 – damit auch nicht anhand der ,Religionen‘ auf ihre ,Richtigkeit‘ oder ihre ,(Un-)Angemessenheit‘ überprüfen. Der oft zu findende Einwand, dass diese oder jene Religionstheorie ,christlich geprägt‘ sei (oftmals mit dem Hinweis, dass etwa ,der Buddhismus‘ damit nicht erfasst werde, und dies die Theorie daher disqualifiziere), offenbart ein Verständnis von Theorie, das nicht bereit ist, der hier vorgeschlagenen – und von den gleichen Autoren oftmals in Anspruch genommenen – erkenntnistheoretischen Position wirklich zu folgen. Innerhalb einer solchen lässt sich aber die Frage nach der Angemessenheit von Religionstheorien nur noch mit dem Hinweis auf spezifische Fragestellungen, für welche eine Theorie oder ein Begriff jeweils nicht hilfreich erscheint, kritisieren. Es gibt in diesem Verständnis keine generell ,antiquierten‘, ,zu engen‘ oder ,zu weiten‘ Religionsbegriffe, auch nicht im Rahmen der Religionswissenschaft, sondern höchstens solche, über die dieses Urteil im Hinblick auf ihr heuristisches Potential in einer spezifischen Forschungsituation gefällt werden könnte. Dies verweist auf die Debatte darüber, wie u¨ ber die ,Nu¨ tzlichkeit‘ von wissenschaftlichen Begriffen entschieden werden kann, wenn diese nicht mehr aus einer Übereinstimmung mit oder aus einer Repräsentation von ,Phänomenen‘ abgeleitet werden soll. Eine der möglichen Quellen für eine solche Position in dieser Auseinandersetzung wäre ein Rückgriff auf den philosophischen Pragmatismus, wie er etwa prominent von Charles S. Peirce oder auch Richard Rorty vertreten worden ist.107 ,Heuristi105 Siehe zu dieser Möglichkeit einer ,diskurstheoretischen Religionstheorie‘ erneut die Überlegungen von Mohn, Die Religion im Diskurs. 106 Eine ausführliche Diskussion dieser Problematik müsste darüber hinaus noch beachten, dass verschiedene Vertreter dieser Position, an die ich mich hier anlehne, ihr eigenes Programm dezidiert nicht als eine Erkenntnistheorie vertreten, sondern vielmehr als keine Erkenntnistheorie, weil bereits das Sprechen von ,Erkenntnistheorie‘ ihnen zu eng mit der ,realistischen‘ Tradition verbunden ist. Vgl. etwa Rorty, Richard, Solidarität oder Objektivität?, in: ders., Solidarität oder Objektivität? Drei philosophische Essays, Stuttgart 1988, 11 – 37, hier: 16. Vgl. auch die Diskussion im Folgenden und die in der nächsten Fußnote zitierte Arbeit von Kocku von Stuckrad. 107 Eine Nutzbarmachung entsprechender Vorschläge im Kontext einer „Pragmatistischen Religionswissenschaft“ hat ausgearbeitet: von Stuckrad, Kocku, Das Ringen um die Astrologie. Jüdische und christliche Beiträge zum antiken Zeitverständnis, Berlin 2000, 12 – 68. Siehe dort auch für eine mögliche religionswissenschaftliche Variante der Ausformulierung von bisher in der vorliegenden Arbeit nur oberflächlich angesprochenen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Positionen. Die Kategorie der ,Nützlichkeit‘ ist selbst erkenntnistheoretisch umstritten, liegt aber dem Selbstverständnis des philosophischen Pragmatismus zugrunde. So formuliert etwa Richard Rorty wie folgt eine Zusammenfassung seiner pragmatistischen Position, die auch große Teile des Selbstverständnisses der vorliegenden Arbeit wiedergibt: „On
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sche Nützlichkeit‘ bezieht sich damit – um dies nur anzudeuten, da eine ausführliche Behandlung dieser Frage im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden kann – auf die Möglichkeit, mithilfe eines neuartigen theoretischen Vokabulars ,attraktive‘ Beschreibungen (im Sinne des Rortyschen Pragmatismus) anzubieten. Im Kontext einer wissenschaftlichen Disziplin heißt dies, dass das Ziel eines theoretischen Vorschlags nur noch sein kann, innerhalb der Disziplin eine möglichst große Übereinstimmung darüber zu erreichen, dass eine bestimmte Form der theoretischen Beschreibung eine solche ,Nützlichkeit‘ aufweist. Der „Wunsch nach Objektivität“ ist aus Sicht des Pragmatismus damit letztlich nur noch der „Wunsch nach möglichst umfassender Erweiterung des Anwendungsbereichs des Wortes ,wir‘.“108 Überraschend ist – und aus diesem Grund erscheint mir eine Betonung dieser Folgerungen aus der hier vorgeschlagenen Perspektive noch einmal angebracht –, dass auch von Religionswissenschaftlern, die sich grundsätzlich einer solchen konstruktivistischen oder pragmatistischen Position109 zuordnen lassen, oft entsprechende Äusserungen über die (Nicht-)Brauchbarkeit von Religionsbegriffen zu hören sind, die auf eine solche Passung oder NichtPassung mit ,Religion‘ oder bestimmten ,Religionen‘ rekurrieren. Es scheint mir aber gänzlich unklar, wie eine solche Bewertung begründet werden sollte, außer mit der zugrunde liegenden Vorstellung, dass ,Religion‘ oder die dann genannten ,Religionen‘ – auch für die Religionswissenschaft – eben doch ,gegebene Phänomene‘ darstellen (oder darstellen sollten), die von Begriffen und Theorien somit richtig oder falsch repräsentiert werden können. Das Problem scheint mir hier nicht primär der allgemeine Streit um die Bewertung von Religionstheorie zu sein, sondern die Tatsache, dass eine solche Kritik an Religionstheorien und die mit dieser Kritik verbundenen Überzeugungen eine deutlich andere – vereinfacht gesagt: nicht-konstruktivistische – wissenthe view of philosophy which I am offering, philosophers should not be asked for arguments against, for example, the correspondence theory of truth or the idea of the ,intrinsic nature of reality‘. […] Interesting philosophy is rarely an examination of the pros and cons of a thesis. Usually it is, implicitly or explicitly, a contest between an entrenched vocabulary which has become a nuisance and a half-formed new vocabulary which vaguely promises great things. […] This sort of philosophy does not work piece by piece, analyzing concept after concept, or testing thesis after thesis. Rather, it works holistically and pragmatically. It says things like ,try thinking of it this way‘ – or more specifically, ,try to ignore the apparently futile traditional questions by substituting the following new and possibly interesting questions‘. It does not pretend to have a better candidate for doing the same old things which we did when we spoke in the old way. Rather, it suggests that we might want to stop doing those things and do something else“ (Contingency, Irony, and Solidarity, Cambridge 1989, 8 – 9). Vgl. auch von Stuckrad, Das Ringen um die Astrologie, 32 – 34, der sich auf die gleiche Textstelle bei Rorty bezieht. 108 Rorty, Solidarität oder Objektivität?, 14 – 15. 109 Es ist mir bewusst, dass hier eine komplexe erkenntnistheoretische Debatte in stark vereinfachter Weise parallelisiert wird, wenn „Pragmatismus“ und „Konstruktivismus“ als zwei Formen einer ähnlichen Position verstanden werden. Vgl. aber z. B. Hickman, Larry A. et al. (Hg.), John Dewey. Zwischen Pragmatismus und Konstruktivismus, Münster 2004.
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schafts- und erkenntnistheoretische Positionierung erfordern, und sich somit letztlich nicht mit dem hier vorgeschlagenen Verständnis von Wissenschaft und Theoriebildung vereinen lassen. Die Inanspruchnahme einer ,konstruktivistischen‘ Position bei gleichzeitiger Beibehaltung dieser Form der ,realistischen‘ Kritik an bestimmten Theorie- und Begriffsvorschlägen scheint mir daher zumindest sehr inkonsequent zu sein. Gleichzeitig zeigen die hier vorgebrachten Überlegungen, dass sich der Streit zwischen diesen beiden Positionen nicht endgültig auflösen lässt, und es somit auch Aufgabe der Religionswissenschaft als wissenschaftlicher Disziplin ist, solche gegensätzlichen Überzeugungen auszuhalten.
2.5 Zusammenfassung: Die Situation religionswissenschaftlicher Theoriebildung und das zirkuläre Verhältnis von Religionstheorie und Diskurstheorie Die in diesem Kapitel vorgeschlagene Unterscheidung zwischen Religionstheorie und Diskurstheorie als einer Unterscheidung zwischen zwei Formen der Theoriebildung, von denen die eine Seite ,Religion‘ als theoretische Kategorie einsetzt, und die andere Seite den mit dieser verbundenen Diskurs als ihren Gegenstand betrachtet, stellt letzlich eine starke Vereinfachung einer von einem zirkulären Verhältnis geprägten Situation dar. Auch aus diesem Grund handelt es sich hier vor allem um eine pragmatische Unterscheidung, mit deren Hilfe im Rahmen der vorliegenden Arbeit bestimmte Beobachtungen ermöglicht werden sollen. Denn es ist fraglich, ob sich ein diskurstheoretischer und ein religionstheoretischer Umgang mit ,Religion‘ wirklich so klar trennen lassen. Besteht in gewissem Sinne nicht doch ein inhärent zirkuläres Verhältnis zwischen den beiden Perspektiven, das eine solche Trennung eigentlich ausschließt und die Religionswissenschaft daher zwingt, sich auf beiden Theorieebenen zu positionieren? Eine mittlerweile schon klassische Position, welche eine entsprechende Auffassung vertritt, wurde von Friedrich Tenbruck entwickelt, der in einem Aufsatz über „Die Religion im Maelstrom der Reflexion“ davon spricht, dass „die Religionswissenschaften, wo sie existieren, die Lage und Entwicklung der Religion […] beharrlich beeinflußt und tief, vielleicht sogar entscheidend verändert haben […].“110 Aus dieser Feststellung ließe sich folgern, dass zum einen das Streben nach einer theoretischen Definition und die daraus folgende analytische Verwendung der Kategorie ,Religion‘ nicht ohne Folgen für die 110 Tenbruck, Friedrich, Die Religion im Maelstrom der Reflexion, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft Religion und Kultur, 1993, 31 – 67, hier: 32.
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Religionsgeschichte (oder wenn man so will: den globalen Diskurs um ,Religion‘) gewesen ist, und dass gleichzeitig dieses Interesse, sowie die Position, aus der ein heutiger Religionswissenschaftler einen solchen Versuch unternimmt, selbst in einem hohen Maße ein Ergebnis dieses Religionsdiskurses sind. So ist denn auch eine ,rein rekonstruktive‘ Auseinandersetzung mit dem Religionsdiskurs aus einer diskurstheoretischen Perspektive – welche die Kategorie nicht selbst verwenden, sondern vielmehr deren vielfältige Verwendungsweisen rekonstruieren möchte – zumindest in mancher Hinsicht Teil genau dieses Religionsdiskurses, und ist in ihrer Genese nicht ohne den Diskurs erklärbar, den sie zu rekonstruieren beansprucht. Entsprechend hat auch Timothy Fitzgerald die Zirkularität, die sich in jeweils anderer Weise auf beiden Seiten der hier von mir getroffenen Unterscheidung wiederfindet, folgendermaßen beschrieben: „Inevitably though, I am entangled in this narrative [of religion, A.H.], or in some of its tropes, and one problem of any such attempt at a critical deconstruction is that the writer inadvertently reconstructs the story that is being questioned.“111 Trotz der pragmatisch getroffenen Unterscheidung zwischen Diskurstheorie und Religionstheorie, welche es vor allem ermöglichen soll, im Rahmen der vorliegenden Arbeit auf der einen Seite der Unterscheidung zu verbleiben und gleichzeitig andere theoretische Positionen dahingehend zu rekonstruieren, inwiefern sie im Rahmen ihrer theoretischen Überlegungen, oft ohne dies explizit zu reflektieren, von der einen auf die andere Seite wechseln, sind beide Herangehensweisen letztlich zirkulär verknüpft. So muss sich eine diskurstheoretisch orientierte Perspektive mit der Frage nach impliziten Religionstheorien in ihrer Fragestellung auseinandersetzen, während eine theoretische Position, die ,Religion‘ als eine ,rein heuristische‘ vergleichende Analysekategorie verwenden möchte, die Genese ihres (auch institutionellen) Orts der Fragestellung nur vor dem Hintergrund der Geschichte des modernen und globalen Religionsdiskurses selbst verstehen kann. Während sich – so denke ich – die hier vorgeschlagene Unterscheidung arbeitspragmatisch durchaus verteidigen und gewinnbringend einsetzen lässt, benötigt die Religionswissenschaft daher letztlich beide Perspektiven, nicht zuletzt um die blinden Flecken der jeweils anderen Position herauszuarbeiten. So profitiert auch eine religionstheoretische Perspektive von detaillierten Studien, die sich der Rekonstruktion des globalen modernen Religionsdiskurses widmen, und ist letztlich auf eine solche Rekonstruktion angewiesen – etwa um für die eigenen Theorieentscheidungen im Fachkontext Plausibilität zu behaupten oder die eigenen Überlegungen anhand der durch eine religionstheoretische Positionierung in den (vergleichenden) Blick kommenden Phänomene mit der Geschichte des globalen Religionsdiskurses in Beziehung zu setzen. 111 Fitzgerald, Discourse on Civility and Barbarity, 15. Vgl. auch oben die Hinweise in Fußnote 64.
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Trotz dieser Zirkularität versucht die vorliegende Arbeit durch die Verwendung der Unterscheidung von Religionstheorie und Diskurstheorie eine Perspektive auf dieses komplexe Verhältnis zu gewinnen und entwickelt daraus mehrere Anliegen: Erstens soll mit Hilfe der hier präsentieren Unterscheidung von diskurstheoretischen und religionstheoretischen Perspektiven versucht werden, in der Debatte um ,Religion‘ die im Raum stehenden Problemlagen trennschärfer erfassen zu können. Diese Aufgabe stellt sich vor allem im Hinblick auf vorhandene Theorievorschläge, die sich – indem sie hier nicht klar unterscheiden – in zahlreiche theoretische Sackgassen manövrieren. Diese Ansätze sollen unter anderem vor dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen Diskurstheorie/Religionstheorie rekonstruiert werden, um zu zeigen, wann sie in ihrer Argumentation jeweils von der einen auf die andere Seite wechseln. Zweitens soll zur theoretischen Fundierung der diskurstheoretischen Position auf zweierlei Weise beigetragen werden. Einerseits im Rahmen der Auseinandersetzung mit einem spezifischen Aspekt des modernen globalen Religionsdiskurses: dem Religionsdiskurs im Kontext des buddhistischen Modernismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Andererseits indem im Rahmen dieser Analysen bestimmte Problemlagen herausgestellt und diskutiert werden, und damit die Frage gestellt wird, vor welchen theoretischen Herausforderungen eine solche diskurstheoretische Perspektive auf den globalen Religionsdiskurs steht. In der vorliegenden Arbeit wird hier besonders die Notwendigkeit einer Theoretisierung von Übersetzung als historischem Prozess im Mittelpunkt stehen. Drittens erweist sich die als Hintergrund des Gladigowschen Konzepts von „Europäischer Religionsgeschichte“ bereits angesprochene Frage nach Differenzierungstheorie als ein entscheidender Ort, an dem sich Interessen und Problemlagen einer religionstheoretisch und einer diskurstheoretisch orientierten Religionswissenschaft treffen. Denn eine der zentralen Grundfragen einer religionstheoretischen Perspektive muss die Frage nach der Möglichkeit einer Postulierung von ,Religion‘ als unterscheidbarem Gegenstand sein, wohingegen innerhalb einer diskurstheoretischen Perspektive danach gefragt werden könnte, ob und wie sich ,Religion‘ diskursiv als differenzierte Einheit konstituiert.112 Während die Religionstheorie also Differenzen postuliert,113 versucht die Diskurstheorie, diskursive Differenzierungen und Unterscheidungen zu rekonstruieren. Auch hier ist letzten Endes von einem zirkulären Verhältnis auszugehen und sind die beiden Positionen daher aufeinander verwiesen. So wird etwa von Gladigow eine Ausdifferenzierung von ,Religion‘ als spezifisches Kennzeichen Europas und des Westens verstanden, welches 112 Vgl. zu dieser Frage als Thema religionstheoretischer Überlegungen Beyer, Peter, Religions in Global Society, New York 2006, 63 – 65. 113 Vgl. die oben bereits dargestellten Überlegungen zu Religionstheorien in Stausberg, There Is Life, 3 – 4.
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sich auch als Grundannahme religionswissenschaftlicher Untersuchungen und Theorien findet, und letztlich in ihrem Zusammenhang mit der Entstehung eines Religionsbegriffs eine ,Religionswissenschaft‘ überhaupt erst möglich macht.114 Gleichzeitig entfaltet sich, wie anhand des Fitzgeraldschen Ansatzes bereits deutlich geworden ist und im nächsten Kapitel noch einmal diskutiert wird, gerade an diesem Punkt die starke Kritik am bisherigen Umgang der Religionswissenschaft mit ,Religion‘. So kann die Religionswissenschaft diese im Lichte dieser Kritik einerseits nicht mehr als ,Phänomen sui generis‘ behandeln,115 bleibt aber andererseits als religionswissenschaftliche Theoriebildung nur dann möglich, wenn sie eine Abgrenzung von ,Religion‘ heuristisch weiterhin anstrebt.116 Diese Abgrenzung sollte aber, so wurde hier herausgearbeitet, religionstheoretisch nicht mehr im Sinne einer Korrespondenz des theoretischen Modells mit einem ,Phänomen Religion‘ behauptet werden, sondern muss als rein heuristische Abgrenzung gelten, die Forschungszwecken dient. Die Arbeit an einer solchen theoretischen Differenzierungsleistung ist nicht zuletzt dann notwendig, wenn Religionswissenschaft sich als eigenständige Disziplin behaupten will, da sie sich sonst in eine allgemeine Kulturwissenschaft aufzulösen droht.117 Die Problematik der Differenzierung von ,Religion‘ ist somit erstens als religionstheoretisches Postulat, zweitens als Begleiterscheinung der Verwissenschaftlichung des Religionsbegriffs, sowie drittens als soziales Geschehen ein zentraler Ort der Auseinandersetzung um ,Religion‘. Eine religionswissenschaftliche Differenzierungstheorie stünde somit in einer Vielzahl von Spannungsverhältnissen und hätte sich sowohl mit religionstheoretischen Abgrenzungen zu befassen, als auch eine historische Rekonstruktion von Differenzierungsprozessen von ,Religion‘ sowie deren Theoretisierung zu ermöglichen. Ein Fokus auf Differenzierung und auf den Streit um bestimmte Unterscheidungen der Religion stellt somit einen weiterführenden Schlüssel zur Betrachtung der Globalisierung des modernen Religionsdiskurses dar – zumindest ist dies die hier verfolgte These. Die vorliegende Arbeit wird sich in ihrem weiteren Verlauf vorrangig für eine diskurstheoretische Perspektive interessieren. Gleichzeitig ist es allerdings bereits Ausdruck der Zirkularität der hier verfolgten Fragestellung, 114 Siehe hierzu auch Tenbruck, Die Religion im Maelstrom. 115 Vgl. McCutcheon, Russell T., Manufacturing Religion. The Discourse on Sui Generis Religion and the Politics of Nostalgia, New York 1997. 116 Vgl. Stausberg, There Is Life, 3 – 4. 117 Vgl. McCutcheon, Manufacturing Religion, 21, 69, 125, 156, der dies nicht unbedingt als Problem, sondern durchaus auch als Chance ansieht. Vgl. dazu auch Sabbatucci, Dario, Kultur und Religion, in: H. Cancik et al. (Hg.), Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, 5 Bände, Stuttgart 1988 – 2001, Bd. 1, 43 – 58. Siehe zur Notwendigkeit einer explizit religionswissenschaftlichen Theoriebildung auch Mohn, Jürgen, Von der Religionsphänomenologie zur Religionsästhetik. Neue Wege systematischer Religionswissenschaft, Münchner Theologische Zeitschrift 55/4, 2004, 300 – 309.
Zusammenfassung
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dass im nun folgenden zweiten Teil eine Hypothese zum modernen Religionsdiskurs entwickelt wird, die zunächst versucht eine ,empirische‘ Betrachtung dieses Diskurses vorzunehmen und daran eine Heuristik zu seiner Analyse und Rekonstruktion vorzuschlagen. Denn diese hat sich während der Arbeit an dem hier vorgelegten Text selbstverständlich auch aus und nicht unabhängig von der Beschäftigung mit den theoretischen Entwürfen entwickelt, welche im weiteren Verlauf der Arbeit diskutiert werden. Die vorgeschlagene Heuristik erweckt somit den Anschein, als wäre sie primär aus der Beschäftigung mit der ,Empirie‘ des modernen Religionsdiskurses gewonnen, ist aber durch das die Arbeit von Beginn an begleitende Interesse an Differenzierungstheorie stark vorgeprägt. Nicht zuletzt der Zwang zu einer linearen Darstellung in Form eines wissenschaftlichen Textes erzeugt so eine Trennung zwischen ,Empirie‘ und ,Theorie‘, welche nur ungenügend in der Lage ist, den Arbeitsprozess abzubilden. Somit ist die im Folgenden entwickelte Heuristik nicht das Ergebnis der ,besten‘ Interpretation der Empirie und des Versuchs ihrer Erfassung unter Rückgriff auf differenzierungstheoretische Überlegungen, sondern selbst nur ein Beobachtungsstandpunkt, von dem aus die Unterscheidungen der Religion und der globale Religionsdiskurs beobachtet werden, ohne sagen zu können, was der blinde Fleck der eigenen Position ist. Doch, so liesse sich mit Niklas Luhmann sagen, wären keine Unterscheidungen getroffen worden, hätte man überhaupt nichts sehen können.
Teil II: Zu den Unterscheidungen der Religion und der historischen Analyse der Herstellung von ,Äquivalenten‘ im globalen Religionsdiskurs: Ein zweifacher Perspektivenwechsel
3. ,Religion‘ zwischen Eurozentrismus und außereuropäischen ,Äquivalenten‘ Ist der Begriff ,Religion‘ ein „ausschließliche[r] Besitz der europäischen Zivilisation“,1 von dem sich außerhalb Europas „keinerlei semantische Äquivalente“2 identifizieren lassen? Diese Frage, die einen zentralen Aspekt der im ersten Teil der Arbeit aufgeworfenen Frage nach der gegenwärtigen Situation religionswissenschaftlicher Theoriebildung aufgreift, wird in diesem Kapitel in einer ersten Annäherung verhandelt. Dabei zeigt sich, dass der Vorwurf des ,Eurozentrismus‘3 an diesen Begriff, genauso wie der Versuch einer Identifizierung von ,Äquivalenten‘4 eine ausführlichere theoretische Reflexion erfordert, als in der bisherigen Debatte zumeist geleistet wird. Das Kapitel beginnt mit einem Überblick über die zunehmend kritische Auseinandersetzung mit ,Religion‘ in der Religionswissenschaft (3.1), in deren Kontext oftmals darauf verwiesen wird, dass die Entstehung eines Religionsbegriffs ein einzigartiges Kennzeichen der europäischen Geschichte sei (3.2). In Reaktion auf diese Kritik wurde von verschiedener Seite her versucht, der Frage nach möglichen außereuropäischen ,Äquivalenten‘ des Religionsbegriffs nachzugehen. Um die Verwendung eines universalen Religionsbegriffs als Grundlage seiner allgemeinen „Theorie der Religionen“ zu rechtfertigen, versucht etwa Martin Riesebrodt anhand einer Vielzahl von historischen Materialien in vormodernen und außereuropäischen Kontexten ein „implizites Religionsverständnis“ nachzuweisen, reflektiert aber die theoretischen Grundlagen und Implikationen einer solchen Fragestellung nicht ausführlich (3.3). Das Kapitel arbeitet die hier auftretenden theoretischen Problemlagen daher in einer Auseinandersetzung mit weiteren Autoren stärker heraus, welche zum einen die Frage nach dem europäisch-westlichen Verständnis von ,Religion‘ gestellt (3.4.1) und zum anderen nach asiatischen ,Äquivalenten‘ des 1 Tenbruck, Friedrich, Die Religion im Maelstrom der Reflexion, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft Religion und Kultur, 1993, 31 – 67, hier: 37. 2 Graf, Friedrich W., Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2007, 237. 3 Zum Begriff des ,Eurozentrismus‘ und zur Frage nach Eurozentrismen im Kontext der Religionswissenschaft siehe Ahn, Gregor, Eurozentrismen als Erkenntnisbarrieren in der Religionswissenschaft, Zeitschrift für Religionswissenschaft 5/1, 1997, 41 – 58 und Rohrbacher, Angelika, Eurozentrische Religionswissenschaft? Diskursanalytische Methodik an den Grenzen von Ost und West, Marburg 2009. 4 ,Äquivalente‘ wird im Folgenden konsequent in Anführungsstriche gesetzt, um darauf hinzuweisen, dass keineswegs im Vorhinein klar ist, was dieser Begriff bezeichnen soll, und worin die behauptete Äquivalenz besteht.
78 ,Religion‘ zwischen Eurozentrismus und außereuropäischen ,Äquivalenten‘ Religionsbegriffs gefragt haben (3.4.2, 3.4.3). Aus diesen Überlegungen ergibt sich, wie ich zeigen werde, zwangsläufig die Frage nach der ,modernen Kontur‘ (Hartmann Tyrell) des Religionsbegriffs, die im Rahmen eines ersten Perspektivenwechsels – so mein Vorschlag – statt als Problem als Hinweis auf Charakteristika des modernen Religionsdiskurses verstanden werden sollte. In ähnlicher Weise müsste auch die oftmals als ebenso problematisch empfundene weltweite Verbreitung eines europäisch-westlichen Religionsverständnisses in einem zweiten Perspektivenwechsel als Hinweis auf eine religionswissenschaftliche Fragestellung und nicht als Erkenntnisbarriere angesehen werden (3.5). Zum Abschluss des Kapitels wird dessen Ergebnis und der vorgeschlagene zweifache Perspektivenwechsel noch einmal zusammengefasst (3.6). In diesem Sinne vertritt dieses Kapitel die These, dass ,Religion‘ trotz der europäisch-westlichen Genese des Begriffs als zentrale Kategorie eines modernen und mittlerweile globalen Diskurses5 fungiert, der – wie ich als Heuristik vorschlagen werde – durch eine Konfiguration bestimmter Unterscheidungen charakterisiert werden kann. Die Frage nach dem Eurozentrismus und der Einzigartigkeit des europäisch-westlichen Religionsbegriffs und die damit einhergehende Frage nach möglichen außereuropäischen ,Äquivalenten‘ – die oft eine auf ,ursprüngliche Bedeutungen‘ abstellende etymologische Perspektive impliziert – ließe sich daher vor dem Hintergrund der in diesem Kapitel präsentierten Überlegungen gewinnbringend durch eine historische und genealogische Perspektive ersetzen, die sich für den Prozess der Herstellung von Äquivalenzen interessiert.
3.1 Die Dekonstruktion der ,Religion‘ In den letzten Jahren hat innerhalb der Religionswissenschaft (und besonders in der englischsprachigen Debatte) eine Perspektive an Bedeutung gewonnen, die sich in neuer Weise für die komplexe Geschichte des Begriffs ,Religion‘ interessiert und in letzter Konsequenz dessen Eignung als zentrale Kategorie der Disziplin in Frage stellt.6 Aus der Beschäftigung mit der Geschichte des westlichen Religionsbegriffs und dessen Relevanz in außereuropäischen Kontexten seit dem 19. Jahrhundert, sowie der Rolle, die die Kategorie ,Religion‘ im Rahmen des Kolonialismus gespielt hat, folgt bei vielen Autoren eine grundsätzliche Kritik an der Weiterverwendung von ,Religion‘ als wissen5 Siehe zur Diskursbegrifflichkeit die Abschnitte 4.1 und 5.5 der vorliegenden Arbeit. 6 Natürlich gibt es auch im anglophonen Sprachraum noch immer eine Großzahl von Wissenschaftlern, die relativ unbeeindruckt weiterhin klassische Ansätze der Religionsforschung verfolgen. Dennoch hat in den letzten Jahren eine kritische, begriffsgeschichtlich, diskurstheoretisch und postkolonial informierte Perspektive deutlich an Bedeutung gewonnen, übertroffen höchstens von der Aufmerksamkeit welche der cognitive science of religion zukommt.
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schaftlicher Kategorie und die Forderung nach deren Verabschiedung.7 Diese seit den 1990er Jahren intensiv geführte Debatte speist sich besonders aus zwei Quellen: einer detaillierten Rekonstruktion der neuzeitlichen Begriffsgeschichte von ,Religion‘ und deren Verhältnis zum lateinischen religio,8 sowie aus mittlerweile zahlreichen die These einer modernen ,Erfindung der Weltreligionen‘ verfolgenden Studien, welche begonnen haben, die Ausbreitung, Verwendung und Etablierung der Kategorie ,Religion‘ in außereuropäischen Kontexten zu dokumentieren. In dieser weitverzweigten Debatte kristallisiert sich eine Perspektive auf ,Religion‘ heraus, welche die Kategorie ,dekonstruiert‘, und ,Religion‘ nicht länger als universales Phänomen und als unveränderliche und zentrale Dimension des Menschseins versteht, sondern vielmehr als eine moderne ,Erfindung‘, deren Geschichte sich nicht vorwiegend durch 7 Es soll hier allerdings nicht behauptet werden, dass diese Wahrnehmung der mit ,Religion‘ verbundenen Problematik eine völlig neue Erkenntnis darstellt, denn schon frühe Vertreter des Fachs haben sich damit auseinandergesetzt. So weist etwa Jens Schlieter darauf hin, dass dieses Problem bereits Friedrich Max Müller beschäftigt habe. Vgl. Schlieter, Jens, Einleitung, in: ders. (Hg.), Was ist Religion? Texte von Cicero bis Luhmann, Stuttgart 2010, 9 – 27, hier: 13. Auch die in der vorliegenden Arbeit diskutierte Problematik, ob und wie der ,Buddhismus‘ als ,Religion‘ zu bezeichnen sei, ist eine Frage, die die akademischen Debatten seit dem 19. Jahrhundert immer begleitet hat. So verweist etwa John R. Carter auf folgendes Zitat von T.W. Rhys Davids von 1896: „But what is meant by religion? The word, as is well known, is not found in languages not related to our own, and its derivation is uncertain“ (zitiert nach Carter, John R., A History of ,Early Buddhism‘, Religious Studies Review 13/3, 1977, 263 – 287, hier: 263, Fußnote 5). Siehe zur Debatte um den Buddhismus in der frühen Religionswissenschaft auch Freiberger, Oliver, Religionen und Religion in der Konstruktion des frühen Buddhismus, in: P. Schalk (Hg.), Religion in Asien? Studien zur Anwendbarkeit des Religionsbegriffs, Uppsala 2013, 15 – 41. 8 Eine zentrale begriffsgeschichtliche Ressource sind die Bände Feil, Ernst, Religio. Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs vom Frühchristentum bis zur Reformation, Göttingen 1986; ders., Religio II. Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs zwischen Reformation und Rationalismus (ca. 1540 – 1620), Göttingen 1997; ders., Religio III. Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs im 17. und frühen 18. Jahrhundert, Göttingen 2001; ders., Religio IV. Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Göttingen 2007. Aber auch: Harrison, Peter, ,Religion‘ and the Religions in the English Enlightenment, Cambridge 1990; Despland, Michel, La religion en Occident. tvolution des id~es et du v~cu, Montr~al 1979; ders./Vall~e, G~rad (Hg.), Religion in History. The Word, the Idea, the Reality, Waterloo 1992; Bossy, John, Some Elementary Forms of Durkheim, Past and Present 95/1, 1982, 3 – 18; Dubuisson, Daniel, The Western Construction of Religion. Myths, Knowledge, and Ideology, Baltimore 2003; Kerber, Walter (Hg.), Der Begriff der Religion. Ein Symposion, München 1993; Molnar, Attila K., The Construction of the Notion of Religion in Early Modern Europe, Method & Theory in the Study of Religion 14/1, 2002, 47 – 60; Preus, James S., Explaining Religion. Criticism and Theory from Bodin to Freud, New Haven 1987; Smith, Jonathan Z., Religion, Religions, Religious, in: M.C. Taylor (Hg.), Critical Terms for Religious Studies, Chicago 1998, 269 – 284. Siehe auch die folgenden Lexikonartikel: Dierse, Ulrich et al., Religion, in: J. Ritter et al. (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, 13 Bände, Basel 1971 – 2007, Bd. 8, Sp. 632 – 713; Feil, Ernst, Religion. I. Zum Begriff. II. Religion und Geschichte, in: H.D. Benz et al. (Hg.), Religion in Geschichte und Gegenwart, 8 Bände, Tübingen 41998 – 2007, Bd. 7, Sp. 263 – 274; Ahn, Gregor et al., Religion, in: G. Müller et al., Theologische Realenzyklopädie, 36 Bände, Berlin 1976 – 2004, Bd. 28, 513 – 559; sowie Bergunder, Michael, Religionen, in: F. Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit, 15 Bände, Stuttgart 2005 – 2012, Bd. 10, 1048 – 1062.
80 ,Religion‘ zwischen Eurozentrismus und außereuropäischen ,Äquivalenten‘ Kontinuität, sondern durch radikale Brüche, Heterogenität, kontingente Entwicklungen und Ambiguität auszeichnet.9 Von verschiedener Seite wird daher gefordert, ,Religion‘ als zentrale analytische Kategorie der Religionswissenschaft aufzugeben. Eine solche Forderung ist nicht grundsätzlich neu. Schon Wilfred C. Smith, einer der ersten Religionswissenschaftler, die sich mit der Geschichte des Begriffs ,Religion‘ ausführlich befasst haben, war explizit zu einer sehr kritischen Einschätzung gelangt. In seinem Buch The Meaning and End of Religion von 196210 kommt er zu dem Schluss, dass in der Aufklärung eine Begriffsablösung stattfand: ,Religion‘ (religion) – als eine hauptsächlich auf die äußerlichen Aspekte von bestimmten Systemen von Praktiken verweisende Bezeichnung – habe den mittelalterlichen Begriff des ,Glaubens‘ (faith) ersetzt, der sich Smith zufolge auf eine „dynamic of the heart“ bezogen hatte.11 Smith bezweifelt, dass diese Neuorientierung es erleichtert hat, außereuropäische Kulturen in ihrer Eigenheit wahrzunehmen und hält ,Religion‘ daher für eine eher verfälschende Beschreibungskategorie.12 Eine solche begriffsgeschichtlich informierte Perspektive und die daraus erwachsende Kritik an der in manchen Bereichen des Fachs lange vertretenen Ansicht, dass ,Religion‘ ein transkulturelles, anthropologisch universales Phänomen sui generis sei, hat innerhalb der Religionswissenschaft besonders in den letzten drei Jahrzehnten an großer Bedeutung gewonnen.13 ,Religion‘ und die Existenz eines Religionsbegriffs erscheinen in dieser Perspektive als eine historisch lokalisierbare, spezifisch westliche Entwicklung, deren weltweite Bedeutung im Verlauf der letzten Jahrhunderte zwar konstatiert, aber 9 Siehe als kurze Einführung in diese neueren Diskussionen Dubuisson, Daniel, Exporting the Local. Recent Perspectives on ,Religion‘ As a Cultural Category, Religion Compass 1/6, 2007, 787 – 800. Zur ,Erfindung der Weltreligionen‘ siehe u. a. Peterson, Derek R./Walhof, Darren R. (Hg.), The Invention of Religion. Rethinking Belief in Politics and History, New Brunswick 2002; Masuzawa, Tomoko, The Invention of World Religions, or, How European Universalism Was Preserved in the Language of Pluralism, Chicago 2005. 10 Smith, Wilfred C., The Meaning and End of Religion. A New Approach to the Religious Traditions of Mankind, New York 1962. Siehe dazu auch Asad, Talal, Reading a Modern Classic: W.C. Smith’s The Meaning and End of Religion, History of Religion 40/3, 2001, 205 – 222. 11 Smith, The Meaning and End, 39. Ein Vergleich von Smiths These mit der konträr gelagerten These Ernst Feils steht noch aus. Vgl. zu Feil auch Abschnitt 4.2. 12 Vgl. ebd., 50. Vgl. auch die Interpretation von Smiths Ansatz bei Harrison, ,Religion‘ and the Religions, 2 – 3. 13 Siehe dazu neben vielen anderen: Smith, Jonathan Z., Imagining Religion. From Babylon to Jonestown, Chicago 1982; Asad, Talal, Genealogies of Religion. Discipline and Reasons of Power in Christianity and Islam, Baltimore 1993; Balagangadhara, S.N., „The heathen in his blindness …“. Asia, the West and the Dynamic of Religion, Leiden 1994; McCutcheon, Russell T., Manufacturing Religion. The Discourse on Sui Generis Religion and the Politics of Nostalgia, New York 1997; Fitzgerald, Timothy, The Ideology of Religious Studies, New York 2000; Peterson/Walhof (Hg.), The Invention of Religion; Dubuisson, The Western Construction of Religion; Mandair, Arvind-Pal S., Religion and the Specter of the West. Sikhism, India, Postcoloniality, and the Politics of Translation, New York 2009.
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gleichzeitig in ihren Auswirkungen für eine verzerrte oder gänzlich falsche Wahrnehmung außereuropäischer Realitäten verantwortlich gemacht wird.14 Neben der historischen Bedingtheit des Religionsbegriffs und seiner Orientierung an christlich-theologischen Modellvorstellungen wird dabei vor allem auf seine zentrale Rolle in Kolonialisierungsprozessen hingewiesen. Aus diesen Überlegungen folgt dann oftmals die Forderung nach einer Verabschiedung dieser Kategorie oder die Auflösung des Religions- in den Kulturbegriff. Besonders die Anwendung des Religionsbegriffs auf nicht-europäische Situationen wird kritisiert, und gefordert, ihn durch andere Kategorien zu ersetzen, welche der außereuropäischen Realität möglicherweise eher gerecht würden. Eine exemplarisch apodiktische Formulierung dieser Forderung findet sich in Timothy Fitzgeralds Buch The Ideology of Religious Studies: „Religion cannot reasonably be taken to be a valid analytical category, since it does not pick out any distinctive cross-cultural aspect of human life.“15 Die neue Dynamik in der Diskussion um ,Religion‘, die durch diese Form von kritischen Studien innerhalb der Religionswissenschaft in den letzten zwei Jahrzehnten angestoßen wurde, hat zahlreiche innovative Perspektiven eröffnet.16 Anhand ihres jeweiligen Ansatzpunktes – anthropologisch, erkenntnistheoretisch sowie historisch – lassen sich drei kritische Perspektiven erkennen.17 Die erste Kritik setzt sich mit der anthropologischen Annahme
14 Eine solche Einschätzung findet sich nicht nur in den oben zitierten Werken aus dem engeren Kontext der Religionsforschung, sondern – wie wir im Folgenden sehen werden – auch in zahlreichen weiteren Studien mit Bezug auf den Postkolonialismus, die damit zumeist an Edward Saids Thesen zum „Orientalismus“ anschließen. Siehe Said, Edward W., Orientalism, New York 1978. 15 Fitzgerald, The Ideology of Religious Studies, 4. 16 Weitere mittlerweile schon ,klassische‘ Studien sind in diesem Zusammenhang u. a.: Ketelaar, James E., Of Heretics and Martyrs in Meiji Japan. Buddhism and Its Persecution, Princeton 1990; Oberoi, Harjot, The Construction of Religious Boundaries. Culture, Identity, and Diversity in the Sikh Tradition, Chicago 1994; Balagangadhara, The heathen in his blindness; Chidester, David, Savage Systems. Colonialism and Comparative Religion in Southern Africa, Charlottesville 1996; King, Richard, Orientalism and Religion. Postcolonial Theory, India and ,The Mystic East‘, London 1999; Masuzawa, The Invention of World Religions. Es fällt auf, dass zunächst mehrheitlich englischsprachige Autoren zur Weiterentwicklung dieser Perspektive beigetragen haben. Dies ändert sich erst in den letzten Jahren mit substantiellen theoretischen Beiträgen etwa von Bergunder, Michael, Was ist Religion? Kulturwissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Religionswissenschaft, Zeitschrift für Religionswissenschaft 19/ 1 – 2, 2012, 3 – 55 und detaillierten philologischen Studien z. B. in den Beiträgen in Krämer, Hans M. (Hg.), Defining Religion, Defining Heresy in Modern East Asia, Bochumer Jahrbuch zur Ostasienforschung 33, 2009 sowie in Schalk, Peter (Hg.), Religion in Asien? Studien zur Anwendbarkeit des Religionsbegriffs, Uppsala 2013. Siehe auch Bergunder, Michael, Saiva Siddhanta As a Universal Religion. J.M. Nallasvami Pillai (1864 – 1920) and Hinduism in Colonial South India, in: ders. et al. (Hg.), Ritual, Caste, and Religion in Colonial South India, Halle 2010, 30 – 88; ders., Experiments with Theosophical Truth. Gandhi, Esotericism, and Global Religious History, Journal of the American Academy of Religion 82/2, 2014, 398 – 426. 17 Für diese Aufteilung vgl. Dubuisson, Exporting the Local, 794. Siehe auch Riesebrodt, Martin,
82 ,Religion‘ zwischen Eurozentrismus und außereuropäischen ,Äquivalenten‘ auseinander, dass es sich bei ,Religion‘ um ein universales menschliches Phänomen handelt, welches in allen Kulturen zu allen Zeiten vorkommt. Eine solche Annahme erscheint vor dem Hintergrund der nachweisbaren Innovationen und Veränderungen in der Begriffsgeschichte zumindest sehr gewagt, nicht zuletzt aufgrund der offensichtlichen historischen Verbindungen der westlichen Vorstellung von ,Religion‘ mit einer spezifischen Religion, dem Christentum als Prototyp der Kategorie. Diese Kritik, welche unter anderem von Timothy Fitzgerald und Russell McCutcheon formuliert wurde, fokussiert damit auf die Universalisierung einer bestimmten christlichen Vorstellung von ,Religion‘, die andere Kontexte immer nur durch das mit diesem Religionsbegriff verbundene und christlich bestimmte Netz von Charakteristika und Begriffen wahrnehmen kann. Dubuisson fasst die im Rahmen dieser Kritik im Mittelpunkt stehende Problematik wie folgt zusammen: „here as elsewhere it is pointless to seek to raise our indigenous particularism to the dignity of a universal and timeless category.“18 Eine zweite Kritik konzentriert sich auf die epistemologischen Probleme, die mit der Umstrittenheit der Kategorie ,Religion‘ einhergehen. Nicht nur dauert der Streit um eine sinnvolle Definition (oder auch sinnvolle Definitionen) von ,Religion‘ seit dem Beginn der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Begriff an, vielmehr ist das zentrale Problem, dass sich fast alle Definitionen weiterhin in einem stark christlich geprägten Rahmen bewegen. Vorgeschlagen wird daher ein epistemologischer Perspektivenwechsel in folgender Weise: „our indigenous and ,religious‘ categories must be considered as ,objects of study‘, not as tools of knowledge.“19 Mit dieser Schwierigkeit einer Definition von ,Religion‘ hängt auch die Problematik der Abgrenzung von ,Religion‘ von anderen sozialen und kulturellen Phänomenen zusammen.20 Die dritte Kritik – und laut Dubuisson die radikalste Neuerung – argumentiert vor allem historisch und befasst sich mit der „invention of the world religions“.21 Hierunter fallen zum einen eine große Zahl von Studien, welche die Entwicklung der neuzeitlichen Vorstellungen von ,Religion‘ und ,Religionen‘ verfolgen und ein immer genaueres Nachvollziehen der Begriffsgeschichte ermöglichen. Dazu gehören etwa die Arbeiten von Ernst Feil, Peter Harrison und Michael Despland wie auch zahlreiche weitere Einzelstudien.22 Zum anderen sind neben diesen auf die europäisch-westliche Begriffsge-
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Cultus und Heilsversprechen. Eine Theorie der Religionen, München 2007, der von diskurstheoretischer und postkolonialer Kritik spricht. Dubuisson, Exporting the Local, 794. Siehe dazu auch Fitzgerald, The Ideology of Religious Studies; McCutcheon, Manufacturing Religion; Balagangadhara, „The heathen in his blindness“. Dubuisson, Exporting the Local, 795. Vgl. ebd., 795 – 796. Ebd., 796. Siehe die Angaben in Fußnote 8 in diesem Kapitel.
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schichte von ,Religion‘ fokussierenden Darstellungen aber auch zahlreiche Detailstudien zur ,Erfindung‘ einzelner ,Religionen‘ erschienen. Sie betreffen allerdings nicht nur die Genealogie entsprechender Vorstellung im ,Westen‘,23 sondern auch deren Verflechtung mit den Prozessen der Re-Formierung von ,Traditionen‘ im Rückgriff auf die Konzepte von ,Religion‘ und ,Religionen‘ in außereuropäischen Kontexten.24 Zusammengenommen eröffnen diese Studien ein Panorama dessen, wie die moderne Kategorie ,Religion‘ – oder wie im Vorgriff auf die weitere Argumentation formuliert werden könnte: der Diskurs um ,Religion‘ – entstanden ist und sich über die letzten 500 Jahre weltweit etabliert hat. Und auch wenn manche Autoren als Ergebnis ihrer Analyse zu einer Verabschiedung der Kategorie aufrufen, lässt sich in der Beschäftigung mit diesen Studien zunächst einmal feststellen, dass ,Religion‘ als „neuzeitlicher Grundbegriff“ (Ernst Feil) besonders in den letzten zweihundert Jahren nicht nur im Westen sondern weltweit eine erstaunlich bedeutsame Rolle gespielt hat. Die im Kontext der ,Dekonstruktion‘ von ,Religion‘ entstandenen Aufarbeitungen dieser Begriffs- und Diskursgeschichte leisten so zunächst einmal einen Beitrag dazu, einen ,globalen Religionsdiskurs‘ in seiner weitläufig verzweigten Geschichte und Gegenwart wahrzunehmen, zu rekonstruieren und zu beschreiben. Gleichzeitig weist diese neue Perspektive darauf hin, dass das, was heute unter ,Religion‘ verhandelt wird, nicht zwangsläufig als ein jahrtausendealtes, anthropologisch fundiertes und universales ,Phänomen‘ verstanden werden muss, sondern ermöglicht es vielmehr, ,Religion‘ bzw. den Diskurs um ,Religion‘ als eine spezifisch moderne Entwicklung zu betrachten, deren ,Geburtsorte‘ durchaus historisch lokalisiert werden können – auch wenn eine umfassende Rekonstruktion letztlich unmöglich bleiben wird. Dabei ist jedoch gleichzeitig zu problematisieren, worauf mit der Rede von einem ,Religionsdiskurs‘ genau verwiesen wird. Geht es um die Geschichte eines Begriffs, um ,Religion‘ als vom Lateinischen religio abgeleitetes Lexem in europäischen Sprachen und die Übernahme dieses Lexems in nicht-europäische Sprachen, oder geht es um Parallelbildungen und Neologismen? Geht es um ein mit diesem Diskurs verbundenes Phänomen und die Frage nach dessen Vorhandensein in den unterschiedlichsten Kulturen? Und wie verhalten sich diese zwei Ebenen zueinander? Diese Fragen verweisen auf die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit sprachphilosophischen Über-
23 Siehe dazu neben vielen anderen Marshall, Peter J., The British Discovery of Hinduism in the Eighteenth Century, Cambridge 1970; Almond, Philip C., The British Discovery of Buddhism, Cambridge 1988; Masuzawa, The Invention of World Religions. 24 So etwa King, Orientalism and Religion; Ketelaar, Of Heretics and Martyrs; Oberoi, The Construction of Religious Boundaries. Siehe zu dieser entscheidenden Frage und der Problematik, die schon mit der Formulierung entsprechender Thesen einhergeht, die folgenden Abschnitte und Kapitel dieser Arbeit zur ,Globalität der Religion‘ und zum Religionsdiskurs in buddhistischen Kontexten.
84 ,Religion‘ zwischen Eurozentrismus und außereuropäischen ,Äquivalenten‘ legungen und eine Klärung dessen, was mit „Begriff“, „Phänomen“ etc. gemeint ist.25 Darüber hinaus lässt sich gerade im Licht der ,Dekonstruktion‘ der Kategorie ,Religion‘ herausarbeiten, welchen Umgang mit ,Religion‘ eine diskurstheoretisch (und damit im Verständnis dieser Arbeit eben nicht religionstheoretisch) orientierte Analyse zu entwickeln hat. In der detaillierten Auseinandersetzung mit einigen Autoren, die sich zwar einerseits der europäisch-westlichen Aspekte in der Genealogie des Religionsbegriffs durchaus bewusst sind, zum anderen aber dennoch an diesem Begriff festhalten und damit auch teilweise religionstheoretische Interessen weiter verfolgen wollen, kann die Perspektive einer diskurstheoretischen Analyse noch einmal schärfer fokussiert werden und ihre spezifische Leistung – bzw. die Momente an denen sie theoretisch anders optiert – herausgestellt werden. Gerade in der Auseinandersetzung mit dem ,Eurozentrismus‘ des Religionsbegriffs und der möglichen Identifizierung von außereuropäischen ,Äquivalenten‘ zu diesem, tritt ein entsprechender theoretischer Unterschied und die Leistung der hier vorgeschlagenen Unterscheidung deutlich hervor.
3.2 ,Religion‘ als europäisch-westlicher Begriff und die Frage nach außereuropäischen ,Äquivalenten‘ In der Debatte um ,Religion‘ wird – wie wir bereits gesehen haben – von verschiedenen Autoren die Ansicht vertreten, dass es zur Besonderheit der europäischen Geschichte gehört, dass in Europa ein Religionsbegriff entstanden ist. Eine Zuspitzung in dieser Art findet sich etwa bei Friedrich Tenbruck, der die „Einzigartigkeit der europäischen Religionsgeschichte“ unter anderem darauf zurückführt, dass Europa „[a]ls einziger Erdteil […] einen Begriff für Religion“ besitze.26 Nicht zuletzt deshalb war es seiner Ansicht nach nur in Europa möglich, dass sich ein allgemeiner Diskurs über „Religion“ entwickelt hat: Kraft eines gemeinsamen Allgemeinbegriffs für Religionen konnten Europäer unter sich und über Sprachgrenzen hinweg generell über Religion, deren Wesen und Aufgabe, sprechen, anstatt bloß über bestimmte einzelne Religionen. Im Gegensatz hierzu konnten die übrigen Völker nicht einmal in ihrer eigenen Sprache über Religion sprechen, weil ihnen dieser Begriff fehlte.27 25 Siehe für die Diskussion dieser Fragen die folgenden Abschnitte dieses Kapitels und besonders Kapitel 5, Abschnitt 5.5 bis 5.7. 26 Tenbruck, Die Religion im Maelstrom, 39. Siehe auch die Diskussion von Burkhard Gladigows Konzept einer „Europäischen Religionsgeschichte“ im ersten Kapitel der vorliegenden Arbeit. 27 Ebd., 37. Bereits hier bleibt jedoch unklar, was diese „Religion“, über welche die „übrigen Völker“ nicht sprechen konnten, ausmachen soll. Das Problem ist allerdings nicht vorrangig das
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Einen solchen übergreifenden Begriff gab es Tenbrucks Ansicht nach weder im antiken Griechenland, noch bei den Römern und auch nicht in sonstigen außereuropäischen Kulturen. Er hält daher fest, „daß der Begriff ,Religion‘ der ausschließliche Besitz der europäischen Zivilisation gewesen ist und weitgehend noch heute ist.“28 Ähnliche Feststellungen finden sich im Kontext dieser Debatte bei zahlreichen anderen Autoren, nicht zuletzt bei dem bereits erwähnten Timothy Fitzgerald.29 Wie Jens Schlieter bemerkt, tritt im Rahmen rezenter postkolonialer und kulturwissenschaftlicher Debatten neben diese Identifikation des Religionsbegriffs als besonderem Kennzeichen der europäischen Geschichte die Forderung, dass eine Übertragung des Begriffs auf andere, außereuropäische Kontexte aus diesem Grund wenig sinnvoll oder sogar als ideologische Verfälschung abzulehnen sei.30 In diesem Zusammenhang taucht allerdings die einer fehlenden Definition von ,Religion‘, sondern eines der Zirkularität und des performativen Selbstwiderspruchs, indem der zu problematisierende Begriff in dem Moment, in dem er kritisiert wird, auch gleichzeitig als Bezeichnung für ein ,Phänomen‘ eingesetzt wird. 28 Ebd. 29 Siehe etwa auch Friedrich W. Graf: „In der Tat hat die nähere Erkundung der okzidentalen Geschichte des Religionsbegriffs die Einsicht befördert, daß sich in anderen, außereuropäischen Kulturen keinerlei semantische Äquivalente zu einem Allgemeinbegriff von Religion finden lassen“ (Die Wiederkehr der Götter, 237). Graf verweist hier auf die Arbeiten von Schmitz, Bertram, „Religion“ und seine Entsprechungen im interkulturellen Bereich, Marburg 1996 und Haußig, Hans-Michael, Der Religionsbegriff in den Religionen. Studien zum Selbst- und Religionsverständnis in Hinduismus, Buddhismus, Judentum und Islam, Berlin 1999. Gerade Haußig würde allerdings einer solch pauschalen Behauptung wohl eher nicht zustimmen. So stellt er z. B. fest, „daß der Buddhismus von Anfang an über einen komparatistischen Religionsbegriff verfügte“ (ebd., 126). Vgl. auch Hans G. Kippenberg und Kocku von Stuckrad, die in der Diskussion der Begriffe „Hinduismus“ und „Buddhismus“ darauf verweisen, dass „es innerhalb der indischen und tibetischen Kulturen kein begriffliches Äquivalent dazu gibt, ja noch nicht einmal zum allgemeinen Terminus ,Religion‘“ (Einführung in die Religionswissenschaft. Gegenstände und Begriffe, München 2003, 41). 30 Vgl. Schlieter, Jens, Nachwort: Außereuropäische Begriffe für ,Religion‘ und die Frage nach der Einzigartigkeit des europäischen Religionsbegriffs, in: ders. (Hg.), Was ist Religion? Texte von Cicero bis Luhmann, Stuttgart 2010, 247 – 270, hier : 249. Prominentes Beispiel dafür ist wiederum Timothy Fitzgerald. Vgl. auch Hans-Michael Haußig: „Es wurde erkannt, dass der Begriff Religion und die mit ihm verbundenen Bedeutungsnuancen ein christlich-europäisches Konstrukt sind, das in der Anwendung auf nichtchristliche Religionen häufig unreflektiert verwendet wurde und somit den Sachverhalt der einzelnen Religionen verzerrt wiedergegeben hat“ (Zum Religionsverständnis in Hinduismus, Buddhismus, Judentum und Islam, in: M. Hildebrandt/M. Brocker (Hg.), Der Begriff der Religion. Interdisziplinäre Perspktiven, Wiesbaden 2008, 101 – 111, hier: 102 – 103). Dass der offenkundig zirkuläre Charakter einer solchen Aussage wie derjenigen von Haußig, die für diese Debatte durchaus typisch ist, nicht wahrgenommen zu werden scheint, oder zumindest nicht explizit thematisiert wird, ist letztlich nur schwer nachzuvollziehen. Viele Autoren (nicht jedoch etwa Fitzgerald) referieren zwar die grundlegende Kritik am Begriff ,Religion‘ aber verwenden ihn im gleichen Satz bereits wieder als Beschreibungskategorie. Siehe zu dieser Kritik an tautologischen und zirkulären Verwendungen von ,Religion‘ auch Fitzgerald, Timothy, Playing Language Games and Performing Rituals. Religious Studies As Ideological State Apparatus, Method & Theory in the Study of Religion 15/3, 2003, 209 – 254, hier: 235 – 237.
86 ,Religion‘ zwischen Eurozentrismus und außereuropäischen ,Äquivalenten‘ Frage auf, ob sich diese von verschiedenen Autoren vorgetragene Behauptung der Einzigartigkeit des europäischen Religionsbegriffs tatsächlich aufrecht erhalten lässt. Denn genau dies wird mittlerweile von verschiedener Seite aus bezweifelt. Die Frage ist dann, ob der Religionsbegriff eine nur in Europa vorkommende Kategorie ist, mit der – ab einem bestimmten Stadium seiner Entwicklung – ,Religionen‘ verobjektiviert wurden und somit erstmals unter dem gemeinsamen Oberbegriff ,Religion‘ erfasst, verglichen und auch relativiert werden konnten.31
Schlieter selbst geht dem in einem kurzen Aufsatz nach und versucht, anhand von Beispielen aus dem islamischen, indischen und buddhistischen Kontext, auf mögliche Begriffsäquivalente hinzuweisen. In den Blick genommen werden also Begriffe, „die in außereuropäischen Kulturen und deren Sprachen zur Bezeichnung der dort vorherrschenden Traditionen verwendet werden.“32 Eine so gestellte Frage ermöglicht es für ihn dann, vielleicht doch auf Begriffe zu stossen, „die manche Bedeutungen mit dem – wie gesehen auch in Europa äußerst vielschichtig verwendeten – Religionsbegriff teilen.“33 Schlieter selbst weist allerdings darauf hin, dass eine solche Formulierung der Frage letztlich in einer Zirkularität verhaftet bleibt: Tatsächlich muss in einem ersten Schritt von einem vorausgreifenden ,Vorurteil‘ ausgegangen werden: Bei den identifizierten Begriffen als auch den Traditionen, auf die sie angewendet werden, soll es sich um solche Ausdrücke bzw. Referenten handeln, die dem Vorverständnis von ,Religion(en)‘ überhaupt so nahe kommen, dass ein Vergleich, in dem dann Gemeinsamkeiten oder fundamentale Unterschiede sichtbar werden, sinnvoll erscheint.34 31 Schlieter, Nachwort, 247. 32 Ebd., 250. 33 Ebenda. Schlieter hat zuvor in der Einleitung dieses von ihm herausgegebenen Bandes die Geschichte des Religionsbegriffs kurz resümiert, vgl. Schlieter, Einleitung. 34 Schlieter, Nachwort, 250. Fraglich ist aber was dieses „Vorverständnis von ,Religion(en)‘“ in diesem Fall sein soll. Es wird auf jeden Fall in Schlieters kurzem Beitrag nicht ausgeführt. Vergleiche zu dieser Frage – und meinem Vorschlag im Umgang damit – die folgenden Überlegungen sowie das vierte und fünfte Kapitel dieser Arbeit. Überraschend ist in diesem Zusammenhang auch Schlieters Vorhaben, in der von ihm zusammengestellten Textsammlung in den kurzen Einleitungen zu den ausgewählten Texten über ,Religion‘ nicht nur darauf eingehen zu wollen, wie der jeweilige Autor ,Religion‘ definiert und welche ,Religionen‘ er dabei betrachtet, sondern auch darauf, „auf welche Religionen die Definition wohl am besten passt“ (Einleitung, 13). Werden diese ,Religionen‘ seiner Ansicht nach also doch als ,Phänomene‘ vorgefunden und sind daher verschiedene Definitionen auf ihre Passung mit diesen hin überprüfbar? Letztlich ist das Maß zur Beurteilung von Theorien und Definitionen damit weiterhin eine Realitätsadäquatheit (dies zieht sich durch Schlieters Einleitungen zu den ausgewählten Theorietexten). Eine mögliche alternative Auffassung von religionswissenschaftlicher Theoriebildung, welche es erlauben würde, solche Zirkelschlüsse zu vermeiden, wurde im ersten Teil der Arbeit im Kontext der Unterscheidung von Diskurstheorie und Religionstheorie vorgeschlagen.
,Religion‘ und die Frage nach außereuropäischen ,Äquivalenten‘
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Unter anderem anhand der Begriffe din und islam,35 sowie der Begriffe dharma und ´sa¯sana führt Schlieter dann seine Überlegungen fort. Auch wenn die Details der Ausführungen hier nicht interessieren, stellt Schlieter sowohl Gemeinsamkeiten mit einem europäischen Religionsbegriff, als auch Unterschiede oder Überlappungen mit nur ganz bestimmten Aspekten einer europäischen Vorstellung von „Religion“ fest.36 So lasse sich din zwar zum Teil als Äquivalent des Religionsbegriffs verstehen, bezöge sich aber nie auf etwas Privates oder Subjektives, sondern stets auf öffentliches Verhalten.37 Ähnlich würden sich in der Betrachtung des Begriffs dharma sehr wohl „einige Überschneidungen mit zentralen Bedeutungsfeldern des europäischen Religionsbegriffs“ zeigen.38 Im buddhistischen Kontext sei sogar bereits in den Edikten des Königs As´oka ein „religionsübergreifender Gebrauch des Dharma-Begriffs“39 erkennbar. Dabei lasse sich feststellen, „dass As´oka durchaus nicht nur die buddhistische oder irgendeine andere Lehre einer besonderen religiösen Tradition im Blick hatte, sondern dass er vielmehr eine abstraktere Vorstellung von ,Religion‘ ausdrücken wollte.“40 Schlieter schließt daraus, dass die These, Äquivalente des europäischen Religionsbegriffs seien in anderen Kulturen nicht zu finden, nicht haltbar sei, auch wenn die von ihm in seinem kurzen Beitrag präsentieren Beispiele „immer nur bestimmte Überschneidungen mit den ja sehr vielschichtigen Bedeutungen des europäischen Begriffs auf[ge]wiesen“ hätten.41 Gleichzeitig weist Schlieter wiederholt darauf hin, dass sich eine ,Angleichung‘ bestimmter außereuropäischer Begriffe an ein westliches Verständnis von „Religion“ auch vielfach erst im Laufe der rezenten Geschichte ergeben habe. So etwa auf den Begriff dharma bezogen: Zwar ist schon früh verschiedentlich von ,Hindu-dharma‘ oder ,Buddha-dharma‘ die Rede, doch erst in der Neuzeit wird mit neuindischen Begriffen etwa des Christen35 Vgl. Schlieter, Nachwort, 251. Die Feststellung, dass „unter Islam zunächst aber noch eher eine Kultgemeinschaft als eine Religionsgemeinschaft verstanden“ wurde, lässt erneut erkennen, dass zum einen in einem Kontext, in dem der Begriff ,Religion‘ ja selbst in Frage gestellt wird, der Inhalt einer solchen Aussage nicht klar nachvollziehbar ist, und zum anderen, wie schwierig es ist, solche Beschreibungen zu vermeiden. 36 Wieder bleibt dabei implizit, welcher der zahlreichen europäischen Religionsbegriffe hier als Vergleichsrahmen gewählt ist. Vermutlich denkt er an einen ,modernen‘ Gebrauch. Aber wie ist dieser charakterisiert? Vgl. zu dieser Problematik im Folgenden sowie Kapitel 4. 37 Vgl. ebd., 252. 38 Ebd., 257. 39 Ebd., 261. 40 Ebd., 262. 41 Ebd., 266. Es bleibt dabei unbeachtet, inwieweit ein entsprechender Vergleich nicht immer zu einem ähnlichen Ergebnis kommen muss, nämlich dass es zahlreiche Gemeinsamkeiten aber auch zahlreiche Unterschiede zwischen den verglichenen ,Phänomenen‘ gibt. Dieses Problem potenziert sich noch dadurch, dass ohne eine explizite Angabe des Vorverständnisses je nach Bedarf der ,passendste‘ der zahlreichen ,europäischen Religionsbegriffe‘ als Vergleichsobjekt dienen kann und die Aussagekraft eines solchen Vergleichs somit sehr gering bleibt.
88 ,Religion‘ zwischen Eurozentrismus und außereuropäischen ,Äquivalenten‘ tums als khrsta-dharma oder der Verwendung von dharma als Äquivalent von ,Re˙ ˙˙ ligion‘ in der indischen Verfassung […] ein Gebrauch des Begriffs zur Bezeichnung verschiedener Religionen gebräuchlich.42
Ähnlich stellt er für den Begriff din fest, dass sich dieser „stetig weiterentwickelt“ habe und konstatiert für den Begriff islam große Veränderungen.43 In diesem Kontext weist er auch darauf hin, dass eine etymologische Analyse letztlich ins Leere gehen muss: Untersuchungen, die auf der These aufbauen, dass Religionsbegriffe vor allem aus den jeweiligen Religionen selbst hervorgehen und zudem die früheste, womöglich etymologisch rekonstruierte Bedeutungsschicht als die authentischste anzusehen sei, präsentieren damit nur einen sehr kleinen Ausschnitt des Religionsverständnisses und des Religionsbegriffs der jeweiligen Tradition.44
In seiner Auseinandersetzung mit der Frage nach außereuropäischen Äquivalenten des Religionsbegriffs deutet Schlieter somit an, dass bereits in der Form seiner Fragestellung eine Zirkularität vorliegt. Gleichzeitig zieht er aber daraus keine Schlüsse, welche seine Herangehensweise grundsätzlich in Frage stellen könnten. Innerhalb der Debatte um den ,Eurozentrismus‘ des Religionsbegriffs erscheinen somit zwei Diskussionsstränge als bedeutsam: Zum einen die Behauptung, dass ein Begriff von ,Religion‘ ein (einzigartiges) Charakteristikum der europäischen Religionsgeschichte darstelle, und sich daher in anderen Kontexten zu diesem keine Entsprechung fände. Zum anderen die als Reaktion auf diese Behauptung zu verstehende Suche nach außereuropäischen ,Äquivalenten‘ des Religionsbegriffs. Beides verweist auf zentrale Problemlagen, mit welchen sich die vorliegende Arbeit im Folgenden auseinandersetzen wird: Die Charakteristika der ,Religion‘: Was ist – wenn man so formulieren will – der ,Inhalt‘ oder die ,Bedeutung‘ des Begriffs ,Religion‘, der seine Einzigartigkeit ausmacht (wenn man von einer solchen ausgeht)? Wonach genau wird gesucht? Was sind diese ,einzigartigen Charakteristika‘ des europäischen Begriffs, wie lassen sie sich beschreiben, und welche Gemeinsamkeiten zwischen diesem und bestimmten außereuropäischen Begriffen werden festgestellt, wenn jene als mögliche ,Äquivalente‘ vorgeschlagen werden? Hier wird die Arbeit im Folgenden den Vorschlag machen, von einer begriffsgeschichtlichen auf eine diskurstheoretische Perspektive umzustellen. 42 Ebd., 259. 43 Vgl. ebd., 254 – 255. 44 Ebd., 255. Schlieter bezieht sich hier auf die Arbeiten von Schmitz und Haußig, deren zirkuläre Form der Formulierung bereits oben erwähnt wurde. Gleichzeitig deutet sich in der von Schlieter gewählten Formulierung an, dass sich die Tendenz zur Zirkularität auch bei ihm findet, und dass er in diesem Satz ,Religionsbegriffe‘ anderer Traditionen nicht nur sucht, sondern deren Existenz bereits voraussetzt.
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Die ,Äquivalente‘ der ,Religion‘: Wie Schlieter zu Recht bemerkt, sind diese Fragen mit der grundlegenden Zirkularität der Suche nach ,Äquivalenten‘ von ,Religion‘ und mit der Problematik eines notwendigen Vorverständnisses verbunden. Denn dieses bestimmt die ,Inhalte‘ bzw. die ,Bedeutungen‘, die dann als Vergleichspunkte angenommen werden, um eine (auch nur teilweise) ,Äquivalenz‘ festzustellen. Wie kann mit dieser Zirkularität der Frage nach ,Äquivalenten‘ umgegangen werden und welche Form der Explikation eines Vorverständnisses von ,Religion‘ ist notwendig, um die dann erfolgenden Antworten nicht willkürlich werden zu lassen? Denn nicht nur unterscheiden sich die in Frage kommenden außereuropäischen Begriffe stark in ihrem sozialen Bezug und ihrer Bedeutung, auch der europäische Religionsbegriff verfügt, wie Schlieter bemerkt, über eine große Zahl von Bedeutungsnuancen. Kann man, wenn man die Frage in der bisher vorgeschlagenen Form stellt, somit eigentlich zu einem anderen Ergebnis kommen, als dass die identifizierten ,Äquivalente‘ zwar in mancher Hinsicht als solche betrachtet werden könnten, andererseits aber „immer nur bestimmte Überschneidungen mit den ja sehr vielschichtigen Bedeutungen des europäischen Begriffs aufwiesen“?45 Die Arbeit wird zum einen auch hier eine diskurstheoretische Perspektive einnehmen und zum anderen vorschlagen, die Frage nach ,Äquivalenten‘ durch eine Genealogie der Herstellung von hypothetischen Äquivalenzen zu ersetzen. Die Globalisierung der ,Religion‘: Sowohl Tenbruck als auch Schlieter erwähnen, dass sich im Bezug auf die in Frage kommenden ,Religionbegriffe‘ in außereuropäischen Kontexten ein tiefgreifender moderner Begriffswandel abgespielt habe. So ist nach Tenbruck der Begriff ,Religion‘ „weitgehend noch heute“ der ausschließliche Besitz der europäischen Zivilisation,46 wohingegen Schlieter darauf verweist, dass dharma im modernen Indien als Begriff „zur Bezeichnung verschiedener Religionen“ gebräuchlich geworden ist. Welche Rolle spielt dieser moderne Begriffswandel, der von Tenbruck angedeutet und von Schlieter angeführt, von beiden jedoch nicht als zentraler Aspekt der von ihnen verfolgten Fragestellung behandelt wird? Wie verhalten sich dieser Begriffswandel und die globale Verbreitung des Begriffs ,Religion‘ seit dem 19. Jahrhundert, als deren Ergebnis sich die Rede von ,Religion‘ und ,Religionen‘ heute im Kontext eines globalen Religionsdiskurses weltweit durchgesetzt hat,47 zu der Frage nach der Genealogie des europäisch-westlichen Religionsbegriffs, nach den Charakteristika dieser Kategorie, und nach vormodernen und/oder außereuropäischen ,Äquivalenten‘? Und welche Rolle spielt in diesem Prozess der zunehmende Kontakt und die Verflechtung zwischen westlichen und außereuropäischen Kontexten im Rahmen von Kolonialismus, Imperialismus und dem, was seit einigen Jahrzehnten als ,Globa45 Ebd., 266. 46 Tenbruck, Die Religion im Maelstrom, 37, meine Hervorhebung. 47 Siehe zu dieser Behauptung im Folgenden.
90 ,Religion‘ zwischen Eurozentrismus und außereuropäischen ,Äquivalenten‘ lisierung‘ bezeichnet wird? Ist es vor dem Hintergrund dieses Wandels sowohl in den europäisch-westlichen Begriffen als auch in außereuropäischen Begrifflichkeiten tatsächlich sinnvoll, allgemein auf die Suche nach ,Äquivalenten‘ zu gehen, oder sollte nicht zumindest nach ,Äquivalenten‘ eines bestimmten Religionsbegriffs in spezifischen historischen außereuropäischen Kontexten gesucht werden? Die Antwort auf diese Fragen wird in der vorliegenden Arbeit darin bestehen, dass diese in einer global orientierten diskurstheoretischen Perspektive im Hinblick auf die Herstellung von Äquivalenten von ,Religion‘ und als Fragen nach einem globalen Religionsdiskurs verstanden werden müssen. Die sprachphilosophischen Grundlagen der Frage nach ,Religion‘: Eine grundsätzliche Frage betrifft darüber hinaus die sprachphilosophische Problematik der ,Bedeutung‘ von Begriffen: Vor dem Hintergrund welcher Vorstellungen von ,Sprache‘, ,Bedeutung‘, ,Wandel‘ etc. wird nach ,Äquivalenten‘ von ,Religion‘ gesucht? In welcher Weise und auf Basis welcher philosophischen und theoretischen Grundlagen wird davon ausgegangen, dass sich deren Existenz oder Nicht-Existenz ,auffinden‘ und ,identifizieren‘ lasse? Lässt sich diese Frage ohne eine Thematisierung des gesuchten Vorverständnisses von ,Religion‘ weiterführend bearbeiten? Im Bezug auf Indien weist Schlieter etwa auf verschiedene alt- und neu-indische Begriffe hin, „die partiell überlappende Bedeutungen mit dem neueren europäischen Gebrauch von ,Religion/-en‘ haben […].“48 Dabei nimmt er allerdings nicht den sicherlich vorhandenen Wandel dieser Begriffe in den Blick, die hier statt dessen im Hinblick auf eine nicht genau historisch lokalisierte ,Bedeutung‘ verglichen werden. Ebenso wenig thematisiert wird die in diesem Zusammenhang entscheidende Frage nach der ,Bedeutung‘ isolierter Begriffe, die etwa bereits im Rahmen der strukturalistischen Linguistik (z. B. bei Ferdinand de Saussure) oder noch radikaler in poststrukturalistischen Debatten (etwa bei Jacques Derrida) verhandelt wird. Auch wenn es sich bei Schlieters Textsammlung und den dazugehörigen Aufsätzen nur um eine einführende Diskussion der Frage „Was ist Religion?“ handelt, wäre doch im Rahmen der Debatte um außereuropäische ,Äquivalente‘ zumindest ein Verweis auf diese sprachphilosophische Problematik möglich gewesen. Gerade im Kontext eines transkulturellen Vergleichs der ,Bedeutung‘ bestimmter Begriffe und im Licht der damit verbundenen Übersetzungsproblematik scheint eine ausführlichere theoretische Reflexion auch dieser Problematik angebracht.49 Die Auseinandersetzung mit den in diesem Kapitel bereits behandelten und noch zu behandelnden Autoren dient dazu, anhand von deren Vorschlägen den Stand der Überlegungen im Hinblick auf die oben genannten Fragen herauszuarbeiten und neue Perspektiven zu entwickeln. Die im Rahmen der vorliegenden Arbeit gemachten Vorschläge werden allerdings keine dieser vier 48 Schlieter, Nachwort, 255. 49 Vgl. dazu vor allem die späteren Abschnitte dieses Kapitels und das Kapitel 5.
Von der Begriffsgeschichte zu den Charakteristika des Religionsdiskurses 91
zentralen Problemlagen abschließend bearbeiten können, sondern sollen primär neue Denkmöglichkeiten aufzeigen. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels wird daher ein zweifacher Perspektivenwechsel vorgeschlagen. An die Stelle des ,Vorverständnisses‘, auf das etwa Schlieter nur verweist, welches er aber nicht angibt (und in seiner Form der Fragestellung letztlich auch nicht angeben kann), tritt der Versuch, formale Charakteristika des modernen Religionsdiskurses tentativ und heuristisch zu beschreiben. Zum anderen soll an die Stelle einer Identifizierung von ,Äquivalenten‘ eine historische Analyse von deren Herstellung als ,hypothetische Äquivalenzen‘ treten. In den nächsten beiden Abschnitten (3.3, 3.4) wird dieser Perspektivenwechsel anhand einer ausführlicheren Beschäftigung mit der Frage nach den ,eurozentrischen‘ Merkmalen des Religionsbegriffs und der möglichen Identifizierung von ,Äquivalenten‘ zunächst vorbereitet, bevor dann zum Abschluss des Kapitels eine alternative Perspektive vorgeschlagen (3.5) und abschließend noch einmal zusammengefasst wird (3.6). Zunächst wird jedoch in einer Auseinandersetzung mit Martins Riesebrodts Vorschlägen zu einer „Theorie der Religionen“ diese Problematik noch einmal aus einer etwas anderen Richtung angegangen. Dieser ersetzt die Frage nach ,Äquivalenten‘ durch den Versuch einer Begründung der Legitimität eines universalen Religionsbegriffs und durch den Verweis auf vormoderne „implizite[] Religionsverständnis[se]“.50
3.3 Von der Begriffsgeschichte zur Frage nach den Charakteristika des Religionsdiskurses Jens Schlieter hat, wie viele andere Autoren, auf die zirkuläre Situation hingewiesen, die mit der Frage nach ,dem Religionsbegriff ‘ im außereuropäischen Raum einhergeht. Wie im nächsten Kapitel noch ausführlicher dargelegt wird, scheint es daher sinnvoll, nicht länger nach dem westlichen oder europäischen Religionsbegriff zu fragen, sondern auf die Frage nach dem Religionsdiskurs und dessen Charakteristika umzustellen. Diese diskurstheoretische Umformulierung der Fragestellung soll in den folgenden zwei Abschnitten in Auseinandersetzung mit der Religionstheorie Martin Riesebrodts und der von Joachim Matthes und Hartmann Tyrell beschriebenen „modernen Kontur“ des Religionsbegriffs vorbereitet werden.
50 Riesebrodt, Cultus und Heilsversprechen, 69. Vgl. dort auch S. 33, 39 für die Frage nach ,Äquivalenten‘ und den damit gegebenen Anschlüssen zwischen Riesebrodt und den anderen hier diskutierten Autoren.
92 ,Religion‘ zwischen Eurozentrismus und außereuropäischen ,Äquivalenten‘ 3.3.1 Martin Riesebrodt und die Legitimität eines universalen Religionsbegriffs Martin Riesebrodt setzt sich in seinem Buch Cultus und Heilsversprechen mit der in den letzten Jahren immer lauter gewordenen Kritik am Religionsbegriff auseinander und entwickelt als Gegenentwurf eine „Theorie der Religionen“.51 Seine Argumentation ist in unserem Zusammenhang vor allem deshalb von Bedeutung, weil er sich die Frage nach der „Legitimität eines universalen Religionsbegriffs“ stellt52 und eine solche dann unter anderem durch die Feststellung bejaht, dass sich gegenseitige Wahrnehmungen ,religiöser‘ Gruppierungen auch in außereuropäischen Kontexten und bereits im vormodernen Westen feststellen ließen, was auf ein zumindest implizites Konzept von ,Religion‘ verweise. Zum anderen liegt auch hier ein Theorieprogramm vor, in dem mehrere theoretische Anliegen eng verbunden sind, die sich mit der Unterscheidung von Diskurstheorie und Religionstheorie klarer explizieren ließen. Gegen die „diskurstheoretische“53 und „postkoloniale“ Kritik am Religionsbegriff, aber gleichzeitig auch gegen eine zu starke Ausweitung des Religionsbegriffs, positioniert Riesebrodt seinen eigenen religionstheoretischen Ansatz und versucht die Notwendigkeit eines analytischen Religionsbegriffs zu begründen. Die Beurteilung beider Formen der Kritik fällt dabei einigermaßen harsch aus: Die einen verwässern ihn [den Religionsbegriff, A.H.] bis zur Untauglichkeit und halten Grillabende mit Gitarrenmusik, Fußballspiele, das Einkaufen in einem Supermarkt oder Kunstausstellungen für religiöse Phänomene. Alles wird „irgendwie“ oder „implizit“ religiös. Andere wiederum kritisieren den Religionsbegriff als eine Erfindung der westlichen Moderne, die man auf vormoderne oder nichtwestliche Gesellschaften nicht übertragen dürfe. Ihrer Meinung nach stellen Hinduismus, Buddhismus oder Konfuzianismus westliche Erfindungen dar, die man nicht als Religionen bezeichnen dürfe, ohne sich einer Perpetuierung kolonialen Denkens 51 Riesebrodt, Martin, Cultus und Heilsversprechen. Eine Theorie der Religionen, München 2007. Vgl. dazu auch Hermann, Adrian, Rezension von: M. Riesebrodt: Cultus und Heilsversprechen, München: C. H. Beck, 2007, Zeitschrift für junge Religionswissenschaft, v (Juli), 2010, http:// www.zjr-online.net/v2010/zjr201007_hermann_rez_riesebrodt.pdf (archiviert unter http:// www.webcitation.org/6SmLNX9Sl). Der folgende Abschnitt baut teilweise auf diesem Rezensionsessay auf. 52 Riesebrodt hatte sich mit dieser Frage bereits zuvor in einem Aufsatz befasst: Riesebrodt, Martin, Überlegungen zur Legitimität eines universalen Religionsbegriffs, in: B. Luchesi et al. (Hg.), Religion im kulturellen Diskurs. Festschrift für Hans G. Kippenberg zu seinem 65. Geburtstag, Berlin 2004, 127 – 149. 53 Vgl. Riesebrodt, Cultus und Heilsversprechen, 25 – 31. Riesebrodts Verständnis der „diskurstheoretischen Kritik“ ist dabei nicht identisch mit der von mir vorgeschlagenen diskurstheoretischen Perspektive.
Von der Begriffsgeschichte zu den Charakteristika des Religionsdiskurses 93 schuldig zu machen. Wenn Fußballspiele religiöse Phänomene darstellen, das Rezitieren buddhistischer Sutras aber nicht, ist offensichtlich etwas schiefgelaufen.54
Entgegen einer vorschnellen Dekonstruktion des Religionsbegriffs hält Riesebrodt dessen Verwendung – vor allem im wissenschaftlichen Kontext – weiterhin für unverzichtbar. Diese Beibehaltung eines analytischen Religionsbegriffs rechtfertigt sich seiner Ansicht nach vor allem durch die universelle Verbreitung einer Unterscheidung von „Religiösem“ und „Nichtreligiösem“: Die Unterscheidung zwischen Religiösem und Nichtreligiösem fehlte weder im vormodernen Westen noch in außerwestlichen Kulturen, und das Religiöse im Sinne von Institutionen, die mit übermenschlichen Mächten verkehren, hat es zu allen Zeiten und in allen Kulturen gegeben. Stets wurden religiöses Handeln von nichtreligiösem Handeln, religiöse Spezialisten von anderen Spezialisten, sakrale Orte von profanen Orten und heilige Zeiten von profanen Zeiten unterschieden.55
Bevor er seine eigene Religionstheorie entfaltet, versucht Riesebrodt das Vorhaben einer universellen Bestimmung des Religionsbegriffs mithilfe einer ,Diskursanalyse‘ historischer Quellen zu legitimieren. Die „Rechtfertigung des Religionsbegriffs“ erfolgt durch den Nachweis, dass die „Wahrnehmung einer Differenz zwischen religiösen und nichtreligiösen Handlungen, Akteuren und Institutionen“ in allen Gesellschaften und Kulturen vorzufinden sei.56 Hierzu identifiziert er die wechselseitigen Wahrnehmungen religiöser Gruppen und Institutionen in Polemiken, Edikten und anderen historischen Quellen und beschreibt deren Verhältnis zueinander als „Abgrenzung“, „Überlagerung“ oder „Assimilation“. Auch behandelt er nach dem gleichen Prinzip die Religionspolitik vormoderner Reiche sowie vormoderne Reiseberichte. Er konzentriert sich dabei zunächst auf den vormodernen Westen und auf nichtwestliche Gesellschaften, da gerade eine Anwendung des Religionsbegriffs auf diese Regionen und Zeitperioden oftmals kritisiert wird.57 Erklärtes Ziel ist in diesem Zusammenhang der Nachweis einer „weit verbreitete[n] Existenz sozialer Bezüge und wechselseitiger Wahrnehmungen, die mit dem Religionsbegriff vereinbar sind“.58 Diese These belegt er unter anderem anhand der Schriften des muslimischen Gelehrten Ali Ibn Rabban alTabari aus dem 9. Jahrhundert u. Z., der auf die hypothetische Nachfrage eines fremden Reisenden aus Indien oder China, der die verschiedenen Gruppierungen im Reich kennenlernen will, erkläre, dass es dort Zoroastrier, Manichäer, Christen und Juden gebe sowie Muslime. Interessant an diesem Fall sei, „daß ein muslimischer Gelehrter diese verschiedenen Gemeinschaften ver54 55 56 57 58
Ebd., 11 – 12. Ebd., 18. Ebd., 43. Vgl. ebd., 44. Ebd.
94 ,Religion‘ zwischen Eurozentrismus und außereuropäischen ,Äquivalenten‘ gleicht und dabei in Kategorien denkt, die mit dem Religionsbegriff völlig vereinbar sind.“59 Anhand der „Religionspolitik“ asiatischer Reiche werde somit deutlich, dass eine solche „Religionspolitik“, d. h. die Klassifikation sozialer Gruppen auf der Grundlage ihrer Religionszugehörigkeit und die Regulation ihrer Praktiken und Institutionen, bereits im vormodernen Westen und auch in nichtwestlichen Gesellschaften zu finden sei. Dies lasse sich ohne ein „implizites Religionsverständnis“ nicht erklären.60 Im Anschluss an diesen Versuch einer Legitimierung eines universalen Religionsbegriffs begründet Riesebrodt die Notwendigkeit analytischer Begriffe damit, dass diese für eine „kognitive Ordnung der Welt“61 unumgänglich seien und ohne den Einsatz solcher Begriffe jegliche wissenschaftliche Arbeit aufgegeben werden müsse.62 Im Gegensatz zu früheren Religionstheorien, die stark deduktiv vorgehen, beansprucht er für die von ihm entwickelte Religionstheorie eine stärkere Orientierung an den seiner Ansicht nach tatsächlich in den Religionen vorhandenen Sinnstrukturen und ein mehr induktives Vorgehen.63 Der Religionsbegriff müsse somit so definiert werden, dass nicht einfach seine modern-westliche Ausformung universalisiert wird. Weder darf die Definition kulturspezifische Glaubensvorstellungen und Praktiken enthalten noch die spezifische institutionelle Einbettung von Religion im Gesellschaftssystem einschließen.64
Riesebrodt versucht dies dadurch zu erreichen, dass er die Frage ins Zentrum stellt, „ob andere Kulturen zwischen religiösen und nichtreligiösen Handlungen […] unterscheiden.“65 Dieser Wechsel der Perspektive weg von sozialen Systemen und der Frage nach „Institutionalisierung“ und „Differenzierung“ und hin zum sozialen Handeln ermöglicht seiner Ansicht nach den Versuch einer universellen Definition des Religionsbegriffs.66 Ein solcher ist nach Riesebrodt eine „legitime ,science fiction‘“, insofern als er „grundlegende Sachverhalte menschlichen Handelns und sozialer Beziehungen thematisiert, ohne ihre spezifische Ausformung zum Teil der Definition zu machen.“67 „Religion“ bestimmt er in diesem Zusammenhang als einen „Komplex religiöser Praktiken, die auf der Prämisse der Existenz in der Regel unsicht59 60 61 62 63 64
Ebd., 49. Ebd., 69. Ebd., 37. Vgl. ebd., 36. Vgl. ebd., 75 – 107, 110 – 129. Ebd., 38. Wie wir im Folgenden sehen werden, verweist Riesebrodt hier mit der „institutionelle[n] Einbettung“ auf etwas, das von anderen Autoren als ein Charakteristikum des westlichen Religionsverständnisses verstanden wird, nämlich eine Ausdifferenzierung von ,Religion‘ als eigenem gesellschaftlichen Bereich. 65 Ebd., 39. 66 Ebd. 67 Ebd.
Von der Begriffsgeschichte zu den Charakteristika des Religionsdiskurses 95
barer persönlicher oder unpersönlicher übermenschlicher Mächte beruhen.“68 Dies nennt er auch die „religiöse Prämisse“.69 Eine solche Religionsdefinition ermöglicht es zum einen, unbegrenzte Erweiterungen des Religionsbegriffs zu vermeiden, und trifft andererseits „auf alle Phänomene, die gemeinhin als religiös verstanden werden“ zu.70 Wichtig ist für Riesebrodt dabei vor allem die Beschränkung „auf einen ,realistischen‘ Glauben an übermenschliche Mächte, der eine subjektiv geglaubte Kommunikation zur Folge hat.“71 Denn nur wenn ein solcher Glaube auch tatsächlich interventionistische Praktiken zur Folge hat, fällt er unter den Religionsbegriff. Von zentraler Bedeutung ist dabei für ihn, „daß [s]eine Erklärung der Religion keine den religiösen Praktiken von außen unterstellte Sinnkonstruktion darstellt, sondern sich in der jeweiligen kulturellen Sinngebung religiöser Praktiken und deren Liturgien selbst findet.“72 Wie bereits erwähnt, geht Riesebrodt von der Existenz einer grundlegend vorhandenen und in allen Kulturen wahrgenommenen Unterscheidung von religiösen und nichtreligiösen Handlungen aus, die als Grundlage seiner Religionstheorie dient. Diese Rechtfertigung eines universalen Religionsbegriffs schränkt Riesebrodt jedoch in seiner Darstellung auch mehrfach ein. Er weist zum einen darauf hin, dass seine Definition nicht impliziere, „daß alle Gesellschaften solche Vorstellungen und Praktiken notwendig kennen oder einen Religionsbegriff besitzen müssen.“73 Zum anderen konstatiert er trotz seiner Überzeugung, dass eine universale Verwendung des Religionsbegriffs nicht grundlegend ausgeschlossen sei, durchaus wichtige Einsichten der postmodernen und diskurstheoretischen Kritik: Wie schon andere vor ihr bemerkt haben, handelt es sich bei der ,Religion‘ nicht um eine Bezeichnung für ein unproblematisch gegebenes Objekt, auf das man mit dem Finger zeigen könnte. ,Religion‘ stellt eine doppelte Abstraktion dar, indem Abstraktionen wie Judentum, Christentum, Islam, Buddhismus oder Hinduismus in eine Abstraktion höherer Ordnung transponiert werden.74
Aus diesem Grund sei ,Religion an sich‘ kein Gegenstand, welcher empirischer Analyse direkt zugänglich sei. Vielmehr könne sie nur „in ihren konkreten Ausformungen“ analysiert werden, in den konkreten Vorstellungen, Handlungen und Institutionen von kulturell und historisch konkreten Religionen. „Religion“ sei somit ein „analytisches Konzept […], das der Rechtfertigung 68 69 70 71 72 73 74
Ebd., 113. Ebd. Ebd., 116. Ebd., 117. Ebd., 134. Ebd., 40. Ebd., 41.
96 ,Religion‘ zwischen Eurozentrismus und außereuropäischen ,Äquivalenten‘ bedarf“,75 das aber gleichzeitig in seinem Bezug auf bestimmte universale Sinnstrukturen76 und die bereits genannte universale Unterscheidung von Religiösem und Nicht-Religiösem seine Berechtigung habe. Seine verstehende, sinnorientierte Handlungstheorie ermögliche es, den Graben zwischen Innen- und Außenperspektiven auf „Religion“ zu überwinden, indem die Theorie eine Position anbiete, welche die Innenperspektiven systematisiert und in eine Außenperspektive transformiert, ohne aber dabei den Innenperspektiven zu widersprechen.77 Riesebrodt verteidigt den Versuch einer analytischen Definition des Religionsbegriffs unter Verweis auf eine kulturuniversale Unterscheidung von „Religiösem“ und „Nichtreligiösem“ sowie die Existenz universaler Sinnstrukturen. Trotz der auch von ihm konstatierten Veränderungen spricht er zumeist von der Legitimität „des Religionsbegriffs“ [Hervorhebung A.H.] als einer klar bestimmbaren Kategorie. Diese liege einerseits als ,Grundunterscheidung‘ vor (wie er diskursanalytisch zu plausibilisieren versucht), und wird andererseits analytisch bestimmt. Anhand der Art und Weise wie Riesebrodt seine „Theorie der Religionen“ entwickelt, lässt sich festhalten: Die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen Religionstheorie und Diskurstheorie: Für eine weiterführende Auseinandersetzung mit der Frage nach den ,Charakteristika‘ des Religionsbegriffs und seinen ,Äquivalenten‘ ist entscheidend, genau zu explizieren, auf welcher theoretischen Grundlage diese bestimmt werden. Riesebrodt weicht der Frage nach dem ,Inhalt‘ des Religionsbegriffs zunächst aus, indem er nachzuweisen versucht, dass Gruppierungen, die heute als ,Religionen‘ bzw. religiöse Gemeinschaften verstanden werden, sich bereits in vormoderner Zeit gegenseitig als Konkurrenten oder in anderen sozialen Bezügen wahrgenommen haben. Damit vermeidet er zwar eine inhaltliche Verengung des Begriffs und bestimmt das Gesuchte relational, definiert aber später ,Religion‘ doch. Es bleibt unklar, wie sich diese Definition von ,Religion‘ und die identifizierten vormodernen sozialen Bezüge zueinander verhalten. In diesem zirkulären Verhältnis zwischen seinen Vorschlägen zur Legitimierung des Religionsbegriffs durch den Verweis auf die Universalität bestimmter sozialer Bezüge und der Explikation seiner eigenen Theorie ist erneut erkennbar, wie eine klarere Trennung zwischen diskurstheoretischen und religionstheoretischen Anliegen – sowie eine explizite Reflexion des Status wissenschaftlicher Theoriebildung – der Anschlussfähigkeit der eigenen theoretischen Vorschläge nützlich sein könnte.78 75 76 77 78
Ebd. Vgl. ebd., 41, 145. Vgl. ebd., 108 – 109. Die Frage nach der Entwicklung einer religionswissenschaftlich anschlussfähigen Religionstheorie steht in der vorliegenden Arbeit und in diesem Kapitel nicht im Zentrum. Dennoch bleibt in der Kritik an Riesebrodts Theorieprogramm zu bemerken, dass seine „Theorie der Religionen“ durchaus als Grundlage interessanter religionswissenschaftlicher Fragestellungen
Von der Begriffsgeschichte zu den Charakteristika des Religionsdiskurses 97
Die Charakteristika des modernen Religionsbegriffs: Riesebrodt zeigt auf, wie sich bereits vor der weltweiten Verbreitung europäisch-westlicher Religionsverständnisse unterschiedliche Gruppierungen und Akteure zueinander entweder als Konkurrenten oder aber als potentielle Partner verhalten haben. Sein Hinweis auf ein entsprechendes zumindest implizites Vergleichskonzept als Voraussetzung für die Disputationen am Hof des Mogulherrschers Akbar des Großen (1542 – 1605) oder die vielfältigen Formen von „Religionspolitik“ nicht nur im römischen Reich, sondern auch im Indien etwa des Königs As´oka oder der Gangas eröffnet interessante Perspektiven. Nur weil ein europäisch inspirierter, expliziter Religionsbegriff fehlt, heißt dies nicht, darauf weist dienen könnte. Das zentrale Problem an Riesebrodts Ansatz ist daher – um an die Diskussion des ersten Teils der vorliegenden Arbeit anzuknüpfen – meiner Ansicht nach nicht sein Versuch einer analytischen Religionstheorie an sich, sondern die Art und Weise, wie er diesen Versuch positioniert. Natürlich ist es richtig, dass die postkoloniale und diskurstheoretische Kritik am Religionsbegriff teilweise zu einer überstürzten Forderung nach dessen Abschaffung oder Ersetzung geführt hat. Genauso ist es legitim, die Frage zu stellen, ob eine extreme Ausweitung des Religionsbegriffs wirklich so ergiebig ist, wie oftmals behauptet wird. Doch genau dies zeigt sich nur in einer tatsächlichen Anwendung religionstheoretischer Überlegungen innerhalb konkreter Studien. Und hinter dieser Problematik steht – wie bereits im ersten Teil angesprochen – die viel maßgeblichere Frage nach dem Stellenwert wissenschaftlicher Religionstheorie und deren wissenschaftstheoretischer Grundlegung. Riesebrodt tritt nämlich trotz der teilweisen Beteuerung, all dies sei nur eine von vielen Möglichkeiten, ,Religion‘ theoretisch zu behandeln, sehr wohl mit dem Anspruch auf, dass seine Religionstheorie anderen Religionstheorien überlegen sei, und beurteilt die zahlreichen Versuche einer anders gelagerten Bestimmung von ,Religion‘ – zu der auch eine Ausweitung dessen gehört, was mit diesem Begriff in den Blick genommen werden kann – sehr negativ (wie ich oben dargestellt habe). Hinter dieser Kritik scheint bei Riesebrodt weiterhin die Vorstellung zu stehen, dass trotz des Verweises darauf, dass ,Religion‘ ein analytisches Konzept sei und kein „unproblematisch gegebenes Objekt“, sich dann zumindest ein Phänomenbestand an konkreten ,Religionen‘ in der Welt vorfinden lasse, und es die Aufgabe einer Religionstheorie sei, diese möglichst angemessen zu beschreiben. Er erhebt mit seiner „Theorie der Religionen“ den Anspruch, diese ,Religionen‘ durch Rekonstruktion und Theoretisierung wissenschaftlich beschreiben zu können, und in ihrer Beschreibung den in ihnen tatsächlich vorhandenen Sinnstrukturen näher zu kommen, als dies andere Theorien vermögen. Dass eine kulturwissenschaftliche Religionswissenschaft aber auch von einem anderen Verständnis von Theorie ausgehen könnte, wurde in Kapitel 2 dargestellt. In dieser Weise verstanden wäre Martin Riesebrodts „Theorie der Religionen“ durchaus eine interessante Perspektive, die über die Bestimmung von Religion als Kommunikation mit übernatürlichen Mächten an vorhandene Theorietraditionen anknüpft (vertreten u. a. von Spiro, Melford, Religion: Problems of Definition and Explanation, in: M. Banton [Hg.], Anthropological Approaches to the Study of Religion, London 1966, 85 – 126, hier: 96). Im vorliegenden Zusammenhang ist dabei allerdings interessant, dass Spiro ,Religion‘ im Rahmen seiner bekannten Religionsdefinition („an institution consisting of culturally patterned interaction with culturally postulated superhuman beings“) nicht zwingend als kulturuniversal versteht: das „criterion of cross-cultural applicability does not entail […] universality“ (ebd., 91). Gleichzeitig gibt Riesebrodt dieser Theorietradition durch die Betonung der mit diesen Vorstellungen einhergehenden Praktiken eine innovative Ausformung. Als ein möglicher Weg, sich religionswissenschaftlich der Frage nach einer theoretischen Beschreibung von ,Religionen‘ zu nähern, bietet sich seine systematisch und detailliert ausformulierte Theorie daher sehr wohl an.
98 ,Religion‘ zwischen Eurozentrismus und außereuropäischen ,Äquivalenten‘ Riesebrodt ausführlich hin, dass es überhaupt keine Vorstellungen oder abstrakten Beschreibungskategorien gegeben haben könne, welche eine ähnliche oder analoge Funktion übernommen hätten. Dies verweist jedoch zugleich darauf, dass sich die Frage nach den heuristisch zu bestimmenden Kennzeichen des modernen Religionsbegriffs nicht alleine dadurch beantworteten lässt, dass verschiedene Gruppierungen, Systeme oder Überzeugungen auch vor der Entstehung dieses Begriffs und auch in nicht-europäischen Kontexten im Rahmen von Polemiken, Synkretismen und herrschaftlichen Edikten als vergleichbar wahrgenommen wurden.79 Ein Vergleich vormoderner und moderner Verständnisse von ,Religion‘ lässt sich ohne eine Identifizierung der Charakteristika des modernen Religionsbegriffs nicht vollziehen. Nur so kann die Frage gestellt werden, welche Kontinuität oder Diskontinuität zu vormodernen (oder eben: ,vorreligiösen‘) Verhältnissen gesehen wird. Zur Bestimmung dieser Charakteristika ist – wie ich im folgenden Kapitel argumentieren werde – eine Umstellung von einer begriffsgeschichtlichen auf eine diskurstheoretische Perspektive notwendig. Gleichzeitig weisen Riesebrodts Überlegungen zur „Rechtfertigung des Religionsbegriffs“ darauf hin, dass Kontinuitäten in der gegenseitigen Wahrnehmung ,religiöser Traditionen‘ einen bedeutenden Prüfstein für eine allzu starke Betonung der vollständigen Transformation außereuropäischer Kontexte durch ein westliches Religionsverständnis darstellen.80 Die Frage nach ,Äquivalenten‘ des Religionsbegriffs: Riesebrodt präzisiert die Frage nach außereuropäischen Äquivalenten von ,Religion‘, indem er nicht vorrangig Begriffe in den Blick nimmt, sondern auf Strukturen der gegenseitigen Wahrnehmung von Gruppen und Institutionen fokussiert, die sich jeweils wechselseitig als Bezugsgruppen oder Bezugsinstitutionen wahrnehmen. Gleichzeitig geht er von einer Differenz zwischen religiösen und nichtreligiösen Handlungen, Akteuren und Institutionen aus, die zwar in ganz unterschiedlichen Konstellationen und Situationen auftreten kann, sich aber dennoch in allen Gesellschaften und Kulturen findet.81 Auch wenn, wie er selbst konstatiert, durch diese Form der Argumentation kein „universaler Religionsbegriff“ aufzufinden sei, zeige seine Analyse „die weit verbreitete Existenz sozialer Bezüge und wechselseitiger Wahrnehmungen, die mit dem Religionsbegriff vereinbar sind.“82 Diese sozialen Bezüge stehen allerdings nur 79 Vgl. Riesebrodt, Legitimität eines universalen Religionsbegriffs, 147. 80 Vgl. den weiteren Verlauf dieses Kapitels und die folgenden Kapitel für eine ausführlichere Auseinandersetzung mit dieser Problematik. Als Beispiele entsprechender neuerer Studien, in denen diese Problematik verhandelt wird, siehe Pennington, Brian K., Was Hinduism Invented? Britons, Indians, and the Colonial Construction of Religion, Oxford 2005; Nicholson, Andrew J., Unifying Hinduism. Philosophy and Identity in Indian Intellectual History, New York 2010; Bloch, Esther et al. (Hg.), Rethinking Religion in India. The Colonial Construction of Hinduism, London 2010. 81 Vgl. Riesebrodt, Legitimität eines universalen Religionsbegriffs, 43. 82 Ebd., 44.
Von der Begriffsgeschichte zu den Charakteristika des Religionsdiskurses 99
in lockerer Verbindung zu seinen religionstheoretischen Überlegungen. Denn Riesebrodt kennt letztlich bereits zu Beginn seiner Studie sowohl den Inhalt dessen, was der Religionsbegriff für ihn bezeichnet, wie auch die Gruppen, nach denen er sucht. Ansonsten könnte er bei den von ihm identifizierten sozialen Bezügen nicht von einer ,Vereinbarkeit mit dem Religionsbegriff ‘ sprechen. Dies wirft letzten Endes das bereits von Schlieter angesprochene Problem des zirkulären Verhältnisses zwischen Vorverständnis und Fragestellung auf. Im Bezug auf dieses Problem wird im Folgenden versucht, eine alternative Perspektive zu entwickeln, die – ausgehend von den Charakteristika des Religionsdiskurses – nach Möglichkeiten der historischen Analyse der Herstellung hypothetischer Äquivalente fragt, und so versucht, dieses Problem zu vermeiden. 3.3.2 Die moderne Kontur des Religionsbegriffs Dieser und die folgenden Abschnitte nehmen erneut die Frage nach außereuropäischen ,Äquivalenten‘ des Religionsbegriffs und nach der vormodernen gegenseitigen Wahrnehmung ,religiöser‘ Akteure in den Blick. Gleichzeitig wird versucht, verschiedene damit verbundene und u. a. von Jens Schlieter bereits angesprochene Problemlagen theoretisch komplexer zu fassen und auf erste Konturen eines Umgangs mit diesen hinzuweisen. Die Debatte um eine Übertragung des Religionsbegriffs auf außereuropäische Situationen wird dabei zunächst in Auseinandersetzung mit Joachim Matthes und Hartmann Tyrell wieder aufgenommen, welche diese Problematik an ganz bestimmten durch den europäischen Begriff gegebenen Einschränkungen festmachen. Damit tritt die Frage in den Mittelpunkt, wie der Begriff in seinem ,Vorverständnis‘ – auf dessen zirkuläre Notwendigkeit in der Frage nach ,Äquivalenten‘ auch Schlieter hingewiesen hat – charakterisiert ist. Der Religionssoziologe Joachim Matthes hat die Frage nach einer Angemessenheit des Religionsbegriffs für die Betrachtung ,anderer Religionen‘ im Jahr 1993 in einem Aufsatz zur Frage „Was ist anders an anderen Religionen?“ gestellt.83 Er fordert, dass ,Religion‘ nicht (nur) als Analysebegriff der Religionssoziologie betrachtet werden solle, sondern der Begriff und „all jene Verständnisweisen, Phänomenbestimmungen und Klassifikationen, die sich in unserer kulturellen Überlieferung mit dem verbinden, was wir ,Religion‘ nennen“, selbst zum Thema der Analyse gemacht werden sollten.84 Dazu 83 Matthes, Joachim, Was ist anders an anderen Religionen? Anmerkungen zur zentristischen Organisation des religionssoziologischen Denkens, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft Religion und Kultur, 1993, 16 – 30. Der Aufsatz ist mittlerweile auch erschienen in ders., Das Eigene und das Fremde. Gesammelte Aufsätze zu Gesellschaft, Kultur und Religion, hg. von Rüdiger Schloz, Würzburg 2005. 84 Matthes, Was ist anders an anderen Religionen?, 17. Vgl. auch die von Dubuisson geforderte
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,Religion‘ zw. Eurozentrismus und außereuropäischen ,Äquivalenten‘
müsse die religionsvergleichende Forschung nicht auf der Basis einer diese Verständnisweisen bereits voraussetzenden Soziologie „der Religion“ geschehen, sondern vielmehr eine Reflexion des Religionsvergleichs und seiner Voraussetzungen bereits in die Grundlegung jeder religionssoziologischen Perspektive einbezogen werden.85 Aus diesem Grund solle eine Beschäftigung mit der Geschichte und den Konturen des Religionsbegriffs selbst in den Mittelpunkt treten: Statt sich, auf unser Thema bezogen, in immer neuen Anläufen an dem Versuch einer umfassenden Definition von Religion abzumühen, statt dann auch, aus den unausweichlichen Frustrationen heraus, die solches Abmühen mit sich bringt, in das Bekenntnis zur Nicht-Definierbarkeit von Religion oder in das Bekenntnis zur Unvergleichbarkeit der ,Religionen‘ auszubrechen, sollte alle Aufmerksamkeit und Anstrengung zunächst darauf gerichtet werden, sich des Stellenwerts all dessen zu vergewissern, was unter der Selbstbezeichnung ,Religion‘ ins gesellschaftliche und kulturelle Leben (in unseres) eingerückt ist.86
Dies erscheint besonders aufgrund der Tatsache relevant, dass wir diesen Begriff, wie Matthes betont, „der christentumsgeschichtlichen Überlieferung verdanken, genauer : der okzidentalen Kulturgeschichte seit der Reformation.“87 Aus dieser neuzeitlichen europäischen Entwicklung heraus ließen sich somit zwei zentrale Aspekte als „reformationsgeschichtliche Bedeutungskonstituen[tien]“88 des Begriffs identifizieren: So sei ,Religion‘ einerseits ein „Differenzkonzept, das zahlreiche weitere Differenzen, über die ursprüngliche von Laienschaft und Kirche hinaus, nach sich gezogen hat: Religion und Magie, Religion und Wissenschaft, Religion und Staat, und eben auch die Differenz von ,Religion‘ und ,Gesellschaft‘ […].“89 Andererseits sei ,Religion‘ als „Allgemeinkonzept“ charakterisiert, „das bereits mit einer Mehrheit vergleichbarer Erscheinungsformen von ,Religion‘ rechnet.“90 Auf ein solches zweifaches Schema, das Matthes Ansicht nach das europäisch-westliche Verständnis von „Religion“ strukturiert, verweisen auch verschiedene andere Autoren in ihrer Beschäftigung mit der Geschichte des Religionsbegriffs: ,Religion‘ wird verstanden einerseits als eine Pluralität von ,Religionen‘ und andererseits als eine (wahlweise ,anthropologisch‘, ,gesell-
85 86 87 88
89 90
,epistemologische Umkehr‘: „our indigenous and ,religious‘ categories must be considered as ,objects of study‘, not as tools of knowledge“ (Exporting the Local, 795). Vgl. Matthes, Was ist anders an anderen Religionen?, 18. Ebd., 19. Ebd. Ebd., 20. Diese Zentralstellung der Reformation betont Matthes wiederholt: „In ihr [der Reformation, A.H.] wurzeln jene beiden Bedeutungskonstituentien des Konzepts ,Religion‘, die auch in den definitorischen Drahtseilakten soziologischer Wörterbücher und Lexika, aber auch in denen so manches soziologischen Klassikers, immer wieder auftauchen […]“ (ebd., 19). Ebd., 20. Ebd., 21.
Von der Begriffsgeschichte zu den Charakteristika des Religionsdiskurses 101
schaftlich‘ oder ,funktional‘ fundierte) Singularität von ,Religion‘, die gleichzeitig auf eine Differenzierung zwischen ,Religion‘ und anderen Bereichen verweist. So trug etwa – wie Brian K. Pennington feststellt – der Kolonialismus bei „to the distinction of religion from other spheres of human activity and to the development of discrete, mutually exclusive religious identities“.91 Eine ähnliche Beobachtung formuliert Robert Ford Campany : In the West, to speak of one „religion“ is also to imply its distinction and difference from (and also partial similarity to) other species in the same genus. […] But Western discourse on „religions“ is strongly contrastive in another sense as well: to name a „religion“ in Western discourse is to imply a strong sense in which it is a „religion“ as opposed to other, non-„religious“ kinds of things.92
In einem 1996 erschienenen Beitrag zum Stand der religionssoziologischen Diskussion beschreibt wiederum Hartmann Tyrell die Situation der Religionssoziologie vor der Herausforderung durch den Religionsbegriff (in expliziter Anknüpfung an Matthes) auf ähnliche Weise. Er sieht den Begriff durch ein eigentümliches Verhältnis von Pluralität und Singularität charakterisiert. Dieses zeige sich in einer Pluralität historischer ,Religionen‘ sowie in der Einheit und Singularität von ,Religion‘, nicht nur gegenüber dieser Pluralität von ,Religionen‘, sondern auch in der Unterscheidbarkeit von ,Religion‘ als etwas Einheitlichem gegenüber Anderem (Wirtschaft, Politik, Wissenschaft). Dieses Verhältnis mache die „,moderne‘ Kontur“ des Religionsbegriffs aus: Das Problem steckt bereits in dem eigentümlichen Singular/Plural-Gegensatz, der dem Begriff zugehört: „die Religion“ – im allgemeinen und Universalität suggerierend – einerseits und „die Religionen“ als historisch je bestimmte, in interkultureller Diversität andererseits; unverkennbar steht im Hintergrund die Selbstthematisierung des Christentums als „vera religio“ und die semantische Weiterbearbeitung davon im 18. Jahrhundert, durch die der Begriff seine „moderne“ Kontur gewonnen hat. Auf diesem Gegensatz, der schon voraussetzt, daß es „Religion schlechthin“ gibt (sowie partikulare Einzelexemplare davon), ist das ganze Gebäude der vergleichenden Religionswissenschaft errichtet. Okzidental-christlich präformiert sind nicht minder die starken Einheitszumutungen am Religionsbegriff – die Implikation etwa, eine Person könne nur eine Religion „haben“, was den „sozioreligiösen“ Gegebenheiten Asiens gänzlich widerspricht. Auch ist „die Religion“ als Differenzbegriff – das Religiöse also, das man vom Politischen, vom Wirtschaftlichen usw. unterscheiden kann – von dem Hintergrund der christlich-kirchlichen Selbstentgegensetzung gegen „die Welt“ schwerlich ablösbar ; gerade die klassische Religionssoziologie setzte stark auf solche Unterscheidbarkeit der Religion.93 91 Pennington, Was Hinduism Invented?, 26. 92 Ford Campany, Robert, On the Very Idea of Religions (in the Modern West and in Early Medieval China), History of Religions 42/4, 2003, 287 – 319, hier: 314 – 315. 93 Tyrell, Hartmann, Religionssoziologie, Geschichte und Gesellschaft 22/3, 1996, 428 – 457, hier: 442. Siehe die weitere Auseinandersetzung mit diesem Zitat im Folgenden.
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,Religion‘ zw. Eurozentrismus und außereuropäischen ,Äquivalenten‘
Zu den in dieser Weise beschriebenen zwei zentralen Merkmalen des – wie sich im Vorgriff auf meinen im nächsten Kapitel dargestellten Vorschlag formulieren ließe – modernen Religionsdiskurses, tritt allerdings eine weitere Problematik hinzu. In seinem oben zitierten Aufsatz betont Matthes, dass sich das europäische Religionsverständnis nicht als ein rein akademisches fassen lasse94 und auch nicht auf Europa beschränkt geblieben sei: ,Wie erfahren sich denn andere Religionen (genuiner : ihre Anhänger, nicht vorab ihre Repräsentanten) im Vergleich zu dem, was wir ihnen als Verständnis von ,Religion‘ mittlerweile nahegebracht haben?‘ Diese Umformung der Titelfrage ist kaum zu vermeiden, will man nicht wiederum die ,Anderen‘ in verdeckender Manier am eigenen Verständnis messen, und sie ist auch darum nicht zu vermeiden, weil ja mittlerweile alle Welt dieses unsere Verständnis von ,Religion‘ kennt, zuweilen besser als wir selbst, und sich auch selber an ihm mißt, mit freilich unterschiedlichem Ergebnis.95
Ein grundlegendes Problem für die vergleichende Religionsforschung liege somit nicht nur in der christentumsgeschichtlich geprägten Fassung des Religionsbegriffs, wie er von westlichen Religionsforschern oftmals verwendet wird. Vielmehr habe dieses europäisch-westliche Verständnis mittlerweile eine weltweite Verbreitung erfahren. Gerade gegenüber einer solchen europäischen Engführung durch ein ,zentristisches‘ Religionsverständnis, genauso aber auch gegenüber jenen ,Repräsentanten‘ außereuropäischer ,Religionen‘, die ,unser‘ Verständnis bereits übernommen haben, möchte Matthes „uns wieder das Tor zu einer realitätsbezogenen Religionsforschung öffnen.“96 Ein solcher Zugang sei erheblich dadurch erschwert, dass die ,Fremden‘ sich mittlerweile vielfach bereits an ,unserem‘ Verständnis orientieren. Dies sei etwa im Hinblick auf die ,Erfindung des Hinduismus‘ durch die jahrhundertelange Repräsentation indischer „religiöse[r] Welten“ unter dieser Begrifflichkeit zu beobachten, ein Prozess, welcher „mittlerweile das so Zusammengefügte und Stilisierte auch zu einer Wirklichkeit [hat] werden lassen“.97 Auf der anderen Seite gelte eine solche Beobachtung zumeist nur für die offiziellen Repräsentanten dieser außereuropäischen ,Religionen‘: Dieser Prozeß ist sicherlich nicht derart durchgreifend, daß man von einer ,strukturellen Verchristlichung‘ dieser anderen ,Religion‘ sprechen könnte. Insbesondere dort, wo der ,Hinduismus‘ […] eigentlich ,lebt‘, nämlich in den komplexen Verhältnissen des gesellschaftlichen und kulturellen Alltags, ist von solchen Transformationen wenig zu spüren, wohl aber durchaus dort, wo sich der ,Hinduismus‘ in Organisationsformen höherer Ordnung und in neuartigen Kanonisierungen von 94 95 96 97
Vgl. Matthes, Was ist anders an anderen Religionen?, 19. Ebd., 21. Ebd., 26. Ebd., 28. Siehe zum Problem der Zirkularität einer solchen Formulierung erneut Fitzgerald, Playing Language Games, 244 – 246.
Von der Begriffsgeschichte zu den Charakteristika des Religionsdiskurses 103 Wissens- und Lehrgehalten zeigt. Nur : eben solche Rückwirkungen erzeugen auch Widerstand, von ,oben‘ wie von ,unten‘. Für den westlichen Religionsforscher ergibt sich in diesem Zusammenhang ein Handlungsproblem, das nicht unterschätzt werden sollte: Er muß in der ,Fremde‘, bis weit in die Alltagsbasis des ,religiösen‘ Lebens und in die ,Spitzen‘ offizialisierter ,religiöser‘ Repräsentation hinein, damit rechnen, daß seine Gewährsleute und Informanten schon immer recht gut wissen, wie es denn um das eigenkulturelle Religionsverständnis des westlichen Forschers steht im Vergleich zu dem, das man selber hat, während der Forscher zumeist, bei allem Eifer um die Aneignung fremder Wirklichkeit, hinter dieser Doppelkompetenz seiner Gewährsleute zurückbleibt.98
Matthes weist hier auf eine zentrale Herausforderung in der Beschäftigung mit den Charakteristika des Religionsdiskurses und der Frage nach außereuropäischen ,Äquivalenten‘ von ,Religion‘ hin. Es bleibt aber fraglich, ob der von ihm angedeutete Umgang mit der Komplexität der von ihm aufgeworfenen Fragen dieser wirklich gerecht wird. Denn schon in dem hier zitierten Absatz ist ein seltsamer Widerspruch zu erkennen zwischen der Behauptung, dass sich das westliche Religions- bzw. Hinduismusverständnis nicht bis in den Alltag ausgebreitet habe, und dem gleich darauf folgenden Hinweis, dass der Forscher mit solchem Wissen „bis weit in die Alltagsbasis des ,religiösen‘ Lebens“ hinein rechnen müsse. In der Form, wie Matthes seine Überlegungen darstellt, zeigen sich somit zwei miteinander verknüpfte Probleme. Zum einen setzt er gegenüber der von ihm kritisierten Religionsforschung, die einen christlich-europäisch geprägten Religionsbegriff unkritisch einsetzt, und damit über ihre eigene Perspektive nicht hinaus sehen kann, darauf, dass durch eine Ausarbeitung seines Ansatzes die Möglichkeit bestünde, die „Erfassung und Durchdringung von ,Wirklichkeit‘, eigener wie fremder“ wieder in den Blick zu bekommen.99 Ähnlich scheint eine solche Vorstellung einer ,richtigen‘ (oder zumindest richtigeren) Erfassung in seiner Rede von der „realitätsbezogenen Religionsforschung“ angesprochen zu sein, zu der das Tor wieder geöffnet werden müsse. Und auch wenn Matthes die ,Wirklichkeit‘ hier in Anführungsstriche setzt, ist doch offensichtlich, dass es hier um eine ,Wirklichkeit von Religion‘ jenseits des modernen Religionsdiskurses gehen soll. Ähnlich problematisch ist auch der wiederholte Hinweis darauf, dass sich die ,Anderen‘ jetzt auch mit ,unseren‘ Kategorien beschreiben oder sich zumindest ,unser Religionsverständnis‘ angeeignet haben. Dieses von Matthes mit nostalgischem Unterton vorgetragene Problem, dass sich ein westlich inspiriertes Religionsverständnis weltweit ausgebreitet habe, und sich nicht nur bei offiziellen Repräsentanten dieser ,Religionen‘ fände, sondern auch den außereuropäischen Alltag durchdrungen habe, wird voranging als Problem für die von ihm vorgeschlagene ,Religionsforschung‘ gesehen. Ziel ist auch hier, so ist unschwer zu 98 Matthes, Was ist anders an anderen Religionen?, 28. 99 Ebd., 23.
104
,Religion‘ zw. Eurozentrismus und außereuropäischen ,Äquivalenten‘
erkennen, die ,eigentliche‘ Realität in den Blick zu nehmen, die immer mehr hinter der ,europäisierten Realität‘ zu verschwinden droht. Ähnlich wie Matthes formuliert auch Tyrell (allerdings mit gebotener Vorsicht) im obigen Zitat die Behauptung, dass der Religionsbegriff in dieser westlichen Fassung den „,sozioreligiösen‘ Gegebenheiten Asiens gänzlich widerspricht“. Dies weist zum einen darauf hin, dass auch Tyrell neben der Beschreibung der Charakteristika des Religionsbegriffs ein erweitertes Interesse verfolgt, nämlich eben auch diese „Gegebenheiten“ erfassen und beschreiben zu können (wofür er aber – so würde ich im Verweis auf die in Kapitel 2 vorgeschlagene Unterscheidung von Diskurstheorie und Religionstheorie behaupten – zumindest Ansätze einer Religionstheorie benötigen würde). Zum anderen verweist er durch die Anführungsstriche auf ein Problembewusstsein und auf die Frage, wie ohne Bezug auf den Religionsbegriff diese „Gegebenheiten“ bezeichnet werden könnten. Auch hier liegt also sowohl eine Analyse des Religionsdiskurses als auch eine Auseinandersetzung mit der für die Religionssoziologie so wichtigen religionstheoretischen Debatte vor – denn wie Tyrell richtig bemerkt, scheint der reflektierte Umgang mit diesem Begriff für die religionssoziologische Arbeit durchaus unverzichtbar, und sei es nur um ,Religion‘ von ,Gesellschaft‘ im Allgemeinen unterscheiden zu können.100 Während Matthes also unbedingt zuzustimmen ist, dass der Religionsbegriff selbst mitsamt seiner Geschichte in den Fokus der Aufmerksamkeit treten sollte (eine Forderung, die etwa Fitzgerald und Dubuisson, wie wir gesehen haben, in ähnlicher Form wiederholen), erscheinen mir die weiteren Implikationen seines Ansatzes problematisch, nicht zuletzt deshalb, weil man hier letztlich auf das Problem der ,Authentizität‘ der außereuropäischen Akteure stößt. Hier wäre dann die Frage zu stellen, wer die Grenze zwischen einem ,europäisierten‘ und einem ,authentischen‘ Anhänger einer außereuropäischen ,Religion‘ bestimmt? Sollte dies wiederum dem Religionswissenschaftler oder -soziologen zufallen, wäre wohl nicht viel gewonnen. Und eine andere Möglichkeit als der Versuch, hinter den ,europäisierten‘ Repräsentanten die ,tatsächlichen‘ Anhänger und deren ,Religionen‘ finden zu wollen, scheint mir im Rahmen von Matthes Ansatz nicht möglich zu sein. Wie ich im Folgenden ausführen werde, stellt sich daher die Frage, ob das von ihm beschriebene Religionsverständnis tatsächlich weiterhin als ein westliches charakterisiert werden sollte, oder ob dieses nicht vielmehr längst als Bestandteil eines globalen Diskurses verstanden werden muss, in dessen Kontext sich die Frage nach ,Authentizität‘ nicht länger sinnvoll – oder zumindest nicht auf die von Matthes präsentierte Weise – stellen lässt.
100 Dies verweist erneut auf die im ersten Teil bereits behandelte Zirkularität der Beschreibung, welche theoretische Annahmen über ,Religion‘ immer schon voraussetzt. Vgl. vor allem Kapitel 2.
Von der Begriffsgeschichte zu den Charakteristika des Religionsdiskurses 105
Diese Problematik zeigt sich besonders im Hinblick auf die Frage, ob das identifizierte Charakteristikum des westlichen Religionsbegriffs als eines ,Differenzkonzepts‘ diesen für eine Verwendung im außereuropäischen Kontext untauglich mache. Denn die damit oft verbundene Trennung von ,heilig‘ und ,profan‘ und die Übertragung dieser Unterscheidung auf außereuropäische Kontexte nennt Matthes eine „christozentrische Projektion par excellence“.101 Die mit dieser Unterscheidung verbundene „Konnotation von der ,Religion‘ als etwas ,Apartem‘“ sei jedoch nicht universal: „den weitaus meisten nicht-christlichen ,Religionen‘ ist die ,Apartheit‘ des ,Religiösen‘ fremd.“102 Ähnlich problematisch schätzt Matthes „die Konnotation von einer ,Religion‘ als etwas in sich Geschlossenem, in sich folgerichtig Angelegtem und folglich auch von anderen Erscheinungsformen von ,Religion‘ Abgegrenztem“ ein.103 Aus dieser Problematik zieht Matthes den folgenden Schluss: Zum einen lehrt uns die Beschäftigung mit nicht-christlichen ,Religionen‘, daß das, was sie ausmacht, aufs engste mit den kulturellen Lebensäußerungen in ihren Wirkungskreisen verflochten ist, in ihnen selber lebt und sich ausdrückt. Religionsforschung außerhalb des westlich-christlichen Kulturkreises ist also unabdingbar Erforschung von Kultur, in einer Weise, die nicht von der Isolierbarkeit eines ,religious factor‘ ausgehen darf.104
Und nicht nur im außereuropäischen Kontext, sondern auch bei der Betrachtung westlicher Verhältnisse könne eine solche Perspektive weiterhelfen, da sie diese Isolierbarkeit von ,Religion‘ als einen „kulturellen Tatbestand“ erkennen ließe und daran die Frage anschließen könnte, ob auch im Westen ,Religiöses‘ tatsächlich nur innerhalb dieses isolierten Bereichs zu finden sei.105 101 Ebd., 22. 102 Ebd., 23. Die von Matthes identifizierten Umgangsweisen mit diesem Problem sind in diesem Zusammenhang für die Positionierung seines Ansatzes aufschlussreich: „Drei Strategien des Umgangs mit diesem irritierenden Umstand lassen sich, denke ich, ausmachen: Man fügt Beobachtetes und Erfragtes kontrafaktisch zu einer als apart darstellbaren eigenen Lebenssphäre zusammen und identifiziert sie dann als die ,Religion‘ der ,Anderen‘ oder man stellt die mangelnde Apartheit des ,Religiösen‘ als einen Mangel an gesellschaftlicher ,Ausdifferenzierung‘ dar, oder man verläßt sich, was nicht selten auch möglich ist, auf die Darstellungsweise jener ,Anderen‘, die von uns bereits gelernt haben, wie man ,Religiöses‘ als Apartes darzustellen hat“ (ebd., 23). Eine vierte Möglichkeit, die ich hier zunächst allgemein als eine historische Betrachtung von Auseinandersetzungen um die Grenzen von ,Religion‘ charakterisieren möchte (siehe im weiteren Verlauf der Arbeit), scheint für Matthes nicht vorstellbar. Dies wiederum hängt, so würde ich denken, damit zusammen, dass sein religionstheoretisches Interesse letztlich weiterhin von einem ,Phänomen Religion‘ ausgeht, welches jedoch im Kontext ,nicht-christlicher Religionen‘ gänzlich anders strukturiert sei, als es ein europäischwestliches Religionsverständnis nahelege. 103 Ebd., 24. 104 Ebd., 27. 105 Ebd.
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Sowohl bei Matthes als auch bei Tyrell sind die diskurstheoretischen Einsichten zum europäisch-westlichen Verständnis von ,Religion‘ und dessen globaler Dimension eng mit spezifischen religionstheoretischen Interessen verbunden, die es beiden Autoren nicht möglich machen, aus ihren Überlegungen zu den Merkmalen des Religionsbegriffs weiterführende diskurstheoretische Schlüsse zu ziehen, da sie sich – wie mir scheint genau aus Gründen dieser Problematik, aber ohne sie auf diese Weise zu reflektieren – weder konsequent für die eine noch die andere Form des Theoretisierens von ,Religion‘ entscheiden. Denn wenn nach den nicht-christlichen, nicht-europäischen ,Gegebenheiten‘ gefragt werden soll, dann kann der Religionsbegriff, der ja zur Debatte steht, nicht einfach für die Bezeichnung dieser Verhältnisse verwendet werden.106 Matthes weist auf diese Problematik zwar hin, indem er ,Religionen‘ konsequent in Anführungszeichen setzt. Dennoch lässt sich dem Text entnehmen, dass Matthes Ansicht nach die europäisch geprägten Beschreibungen der nicht-westlichen ,Religionen‘ – selbst wenn sie durch deren Vertreter erfolgen – „das was sie [die ,Religionen‘, A.H.] eigentlich ausmacht“ nicht erfassen, und dass genau dies aber das Ziel seiner erneuerten Religionssoziologie wäre. All dies wird bei Matthes verhandelt ohne eine theoretische Perspektive darauf anzugeben, wonach letztlich gesucht wird und was dies bei all den festgestellten Unterschieden dann überhaupt noch mit ,Religionsforschung‘ zu tun hat – und was das verbindende Moment zu den westlichen ,Religionen‘ und dem Christentum ist, welches, so muss man annehmen, sich mit dem europäischen Begriff ,Religion‘ offenbar sinnvoll beschreiben lässt. Für die in diesem Kapitel verfolgte Frage ist jedoch in der Beschäftigung mit den in diesem Abschnitt präsentierten Autoren die Problematik einer fehlenden (oder nicht explizierten) Religionstheorie nicht der wichtigste Aspekt ihrer Vorschläge, auch wenn daran noch einmal der Unterschied zwischen einem diskurstheoretischen und einem religionstheoretischen Frageinteresse deutlich werden kann. Vielmehr lässt sich die Frage nach ,Äquivalenten‘ des europäisch-westlichen Religionsbegriffs vor dem Hintergrund und gerade im Bewusstsein der in diesem Abschnitt beschriebenen Charakteristika dieses Begriffs noch einmal neu perspektivieren und in den Kontext erweiterter theoretischer Überlegungen überführen. Gleichzeitig zeigt sich, dass es fraglich ist, ob die Frage nach außereuropäischen ,Äquivalenten‘ – zumindest in der Form, wie sie von den bisher behandelten Autoren verfolgt wurde – von der Frage nach einer Religionstheorie letztlich überhaupt abgelöst werden kann. Denn, wie schon Schlieter bemerkt hat, erfordert eine solche Suche die 106 Es ist ein Anzeichen für die Komplexität dieser Thematik, dass dieses Problem bei sehr vielen der dem Religionsbegriff durchaus kritisch gegenüberstehenden Autoren keine zentrale Beachtung findet. Vgl. die bereits gegebenen Hinweise zur Frage der Tautologie und Zirkularität vieler Aussagen über ,Religion‘ auch im Kontext von diesen Begriff kritisch betrachtenden Ansätzen.
Auf der Suche nach außereuropäischen ,Äquivalenten‘ zu ,Religion‘
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Explikation des entsprechenden Vorverständnisses von ,Religion‘, um zunächst die Frage beantworten zu können, wonach gesucht wird und vor welchem theoretischen Hintergrund dies geschehen soll. Um dieser Zirkularität zu entgehen, oder ihr zumindest in einer anderen Weise zu begegnen, scheint daher eine Neukonzeptualisierung der Perspektive auf die Frage nach ,Äquivalenten‘ notwendig zu sein. Ein Vorschlag zu einem solchen Perspektivenwechsel wird im weiteren Verlauf der Arbeit entwickelt. Gleichzeitig präzisieren Matthes, Tyrell und die anderen hier zitierten Autoren die Charakteristika des europäisch-westlichen Religionsbegriffs – bzw. dessen, was sich mit Tyrell als die ,moderne Kontur‘ des Religionsbegriffs bezeichnen lässt – über eine zweifache Charakteristik von ,Religion‘ als ,Allgemeinkonzept ‘ und ,Differenzkonzept ‘. Sie präsentieren damit einen Vorschlag, wie man heuristisch das, was den europäisch-westlichen Religionsbegriff in seiner modernen Fassung ausmacht, beschreiben könnte. Damit läge für die Frage nach ,Äquivalenzen‘ zumindest ein heuristisches Schema vor, das es erlauben würde, mögliche Kandidaten für Begriffsäquivalente zu beurteilen. Natürlich handelt es sich auch hier zunächst um eine heuristische Abstraktion und damit nicht um ,die‘ Merkmale ,des‘ europäischen Religionsbegriffs. Wie wir im Folgenden sehen werden, bietet eine solche Fassung der Bestimmung der Charakteristika von ,Religion‘ allerdings spezifische Vorteile im Kontext einer Beschäftigung mit der Bedeutung von Begriffen aus diskurstheoretischer Perspektive. Zunächst sollen jedoch nach diesem ersten Versuch einer Identifikation der ,modernen Kontur‘ des Religionsbegriffs in einer Auseinandersetzung mit vorhandenen Antworten auf die Frage nach außereuropäischen ,Äquivalenten‘ erneut die Fragerichtung und die Einschränkungen der bisherigen Vorschläge zur Beantwortung dieser Frage in den Blick genommen werden.
3.4 Auf der Suche nach außereuropäischen ,Äquivalenten‘ von ,Religion‘ Gerade in der deutschsprachigen Religionswissenschaft hat sich in Reaktion auf die ,postmoderne‘ und ,postkoloniale‘ Kritik am Religionsbegriff eine Debatte entwickelt, die auf die Frage nach außereuropäischen Äquivalenten von ,Religion‘ fokussiert. Die in diesem Kontext präsentierten Ansätze und Vorschläge werden im Folgenden diskutiert (3.4), um dann im Anschluss einen Wechsel der Perspektive vorzuschlagen, welcher es erlauben würde, diese Frage nach ,Äquivalenten‘ grundsätzlich anders anzugehen und von einem Eurozentrismusvorwurf auf Charakteristika des modernen Religionsdiskurses und eine historische Analyse der Herstellung hypothetischer Äquivalenzen im Kontext translingualer Praxis umzustellen (3.5).
108
,Religion‘ zw. Eurozentrismus und außereuropäischen ,Äquivalenten‘
3.4.1 ,Religion‘ in Asien? Der im Frühjahr 2013 erschienene Sammelband Religion in Asien? Studien zur Anwendbarkeit des Religionsbegriffs versammelt Aufsätze von Autoren, die sich auf der Grundlage ihrer philologischen und asienwissenschaftlichen Kompetenz mit der Frage nach ,Äquivalenten‘ des Religionsbegriffs in Asien befassen. In ihrer Einleitung stellen Max Deeg, Oliver Freiberger und Christoph Kleine den Ansatz des Bandes vor. Ausgehend von der in der Kritik am Religionsbegriff vertretenen These eines „Fehlen[s] funktionaler oder semantischer Äquivalente zum modernen europäischen Religionsbegriff außerhalb der europäischen Moderne“, weisen sie darauf hin, dass es zur Beantwortung der „Frage nach der Existenz oder Nichtexistenz von semantischen und funktionalen Äquivalenten“ einer philologischen und historischen Kompetenz hinsichtlich der fraglichen Kulturräume bedürfe, die in der bisherigen Debatte oft nicht ausreichend vorhanden sei.107 Dabei geht es in der Frage nach dem Religionsbegriff in den Beiträgen des Bandes um „den Gebrauch von möglichen sprachlichen Äquivalenten in spezifischen Diskurszusammenhängen“ sowie „die Funktionen sozialer Systeme oder kultureller Teilbereiche in spezifischen historischen Kontexten“.108 Das Konzept sieht vor, dass die „fraglichen Äquivalente[]“ auf signifikante Unterschiede in Intension und/oder Extension „im Vergleich zum modernen europäischen Begriff ,Religion‘“ befragt werden. Ebenso wird fokussiert auf „Begriffe mit vergleichbarem Begriffsumfang“, also „Allgemeinbegriffe oder Klassenbegriffe“, die „zumindest partiell kulturelle Teilbereiche oder soziale Systeme denotieren, die wir konventionell als ,Religionen‘ betrachten“.109 Darüber hinaus stellen die Autoren die Frage, ob sich aus dem Gebrauch der mutmaßlichen Äquivalente oder aus anderen empirischen Befunden schließen [lässt], dass es in dem fraglichen Kontext ein Konzept von [Religion als, A.H.] einem distinkten Teilbereich der Kultur in Abgrenzung von anderen sozialen Systemen (Politik, Wirtschaft, Medizin, Kunst, Recht etc.) gab?110
Das Fazit aus den Beiträgen und den Diskussionen auf der Konferenz, aus der dieser Sammelband entstanden ist, formulieren die Autoren der Einleitung wie folgt: Konsens […] bestand am Ende wohl darin, dass die reine Suche nach sprachlichen Äquivalenten zwar aus historischer und philologischer Sicht überaus erhellend sein 107 Deeg, Max et al., Einleitung, in: P. Schalk (Hg.), Religion in Asien? Studien zur Anwendbarkeit des Religionsbegriffs, Uppsala 2013, ix–xix, hier: x. 108 Ebd., xi. 109 Ebd., xii. 110 Ebd., xiii.
Auf der Suche nach außereuropäischen ,Äquivalenten‘ zu ,Religion‘
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kann, die von allen ReferentInnen bezweifelte These von der Einmaligkeit und Unvergleichlichkeit des westlichen Religionsbegriffs aber weder bestätigen noch widerlegen kann. Es hat sich anhand der diversen historischen Beispiele gezeigt, dass sich in asiatischen vor- und frühmodernen Diskursen zwar kaum exakte Äquivalente für den Begriff „Religion“ finden lassen, daraus aber nicht automatisch zu folgern ist, dass es im vormodernen Asien kein Bewusstsein und somit Konzept für einen spezifischen Kulturbereich gegeben hätte, den man mit einem immer wieder neu zur reflektierenden Begriff „Religion“ bezeichnen könnte.111
Im Folgenden sollen auf der Grundlage dieses Konzepts und in Auseinandersetzung mit einer Fallstudie des Bandes die Leistungen dieses Ansatzes herausgestellt werden und gleichzeitig die Probleme identifiziert werden, die mit einer solchen Formulierung der Frage nach ,Äquivalenten‘ des Religionsbegriffs einhergehen. Im Zentrum steht Kar~nina Kollmar-Paulenz’ sorgfältige Aufarbeitung der Frage nach einer „begriffliche[n] Ausdifferenzierung eines autonomen Bereichs ,Religion‘ gegenüber anderen Wissensbereichen in den mongolischen Wissenskulturen seit dem 17. Jahrhundert“112 Ergänzt wird diese Perspektive durch die Auseinandersetzung mit einem andernorts erschienenen Aufsatz von Robert Ford Campany, in welchem dieser seinerseits weiterführende Überlegungen im Kontext der hier diskutierten Frage dargestellt hat.
3.4.2 ,Äquivalente‘ des Religionsbegriffs im mongolischen Kontext Kar~nina Kollmar-Paulenz legt mit ihrem Beitrag113 einen ausführlichen Aufsatz zur Frage nach ,Äquivalenten‘ des Religionsbegriffs in „[m]ongolischen Wissensordnungen vom frühen 17. bis zum 21. Jahrhundert“ vor. Bereits einige Jahre zuvor hatte sie hierzu eine erste kürzere Studie verfasst.114 Die zentrale in diesem Zusammenhang zu beantwortende Frage formulierte sie damals wie folgt: Hat ausserhalb Europas überhaupt eine reflexive Entwicklung stattgefunden, die es erlaubte, „Religion“ als einen autonomen Bereich einer Gesellschaft wahrzunehmen, oder haben sich die „Religionen“ ausserhalb Europas erst im Kontakt mit dem Westen und seinem Religionsbegriff konstituiert?115 111 Ebd., xviii. 112 Ebd., xv. 113 Kollmar-Paulenz, Kar~nina, Lamas und Schamanen. Mongolische Wissensordnungen vom frühen 17. bis zum 21. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Debatte um aussereuropäische Religionsbegriffe, in: P. Schalk (Hg.), Religion in Asien? Studien zur Anwendbarkeit des Religionsbegriffs, Uppsala 2013, 151 – 200. 114 Kollmar-Paulenz, Kar~nina, Zur Ausdifferenzierung eines autonomen Bereichs Religion in asiatischen Gesellschaften des 17. und 18. Jahrhunderts. Das Beispiel der Mongolen, Bern 2007. 115 Ebd., 1.
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In der Beantwortung dieser Frage werde in der gegenwärtigen Religionswissenschaft immer öfter negativ befunden, und „postuliert, dass ausser-europäische Kulturen keine abstrakten Ordnungsbegriffe ihrer religiösen Traditionen und entsprechend auch keinen gemeinsamen Oberbegriff entwickelt hätten.“116 Aus Sicht der Asienwissenschaft sind laut Kollmar-Paulenz solche Feststellungen allerdings fragwürdig, besonders da es entsprechende Studien zur „Frage des Religionsbegriffs in asiatischen Sprachen und Kulturen“ bisher nicht gebe.117 Zum anderen, wie auch die Autoren der Einleitung des oben zitierten Sammelbandes betonen,118 würden entsprechende Behauptungen meist von Spezialisten für den Bereich der europäischen Religionsgeschichte und daher ohne besondere Vertrautheit mit der philologischen Sachlage vertreten.119 Die Frage sei daher trotz zahlreicher pauschaler Behauptungen in dieser Richtung bisher nicht geklärt und vor allem nicht im Kontext detaillierter historischer Untersuchungen diskutiert worden, zu denen KollmarPaulenz aus der Sicht ihrer Expertise für mongolische und tibetische Kultur einen Beitrag leisten möchte. Mit ihrem umfangreichen neueren Aufsatz hat sie dieses Bemühen nochmals unterstrichen.120 In ihrem früheren Beitrag gibt sie an, unter einem „Religionsbegriff“ einen „stets der religiösen Terminologie“ entstammenden Begriff verstehen zu wollen, „mit dem in einer Gemeinschaft bestimmte Konzepte in ihrer Gesamtheit ausgesondert und in ihrer Differenz zu anderen Bereichen bezeichnet werden“121 Eine solche Bestimmung dessen, wonach gesucht wird, findet sich im Aufsatz von 2013 nicht mehr explizit. Hier verweist sie vielmehr auf die „Untersuchung von Diskursformationen“, die „Nachzeichnung eines Diskurses in der Mongolei des 17. bis 19. Jahrhunderts […], in dessen Rahmen ein soziopolitisch relevanter Teilbereich seiner Gesellschaft beschreibend ausdifferenziert wurde.“122 Ihr Interesse gilt der Entwicklung einer „komparatistischen Terminologie […], die die Ausdifferenzierung eines autonomen Bereichs ,Religion‘ in den historischen mongolischen Gesellschaften sprachlich abbildet.“123 Zielpunkt ist die Frage nach möglichen „semantische[n], 116 117 118 119
120 121 122 123
Kollmar-Paulenz, Lamas und Schamanen, 154. Kollmar-Paulenz, Ausdifferenzierung, 2. Vgl. Deeg et al., Einleitung, x. Dies ist allerdings nicht zutreffend, denn etwa der von ihr selbst zitierte Richard King (Vgl. Kollmar-Paulenz, Ausdifferenzierung, 17) verfügt sehr wohl über philologische Kompetenz, und dies im Bereich buddhistischen Schrifttums, auf welches sich Kollmar-Paulenz selbst – wenn auch in anderem geographischen Kontext – bezieht (siehe King, Richard, Early Advaita Veda¯nta and Buddhism. The Mahayana Context of the Gaudapadiya-Karika, Albany 1995). Auch für Autoren, die sich mit dem ,Hinduismus‘ beschäftigen gilt dies analog. Vgl. Pennington, Was Hinduism Invented? Vgl. Kollmar-Paulenz, Lamas und Schamanen, 155. Kollmar-Paulenz, Ausdifferenzierung, 2. Kollmar-Paulenz, Lamas und Schamanen, 156. Ebd.
Auf der Suche nach außereuropäischen ,Äquivalenten‘ zu ,Religion‘
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funktionale[n] oder strukturelle[n] Äquivalenzen“ zum europäischen Religionsbegriff.124 In ihrer begriffsgeschichtlichen Auseinandersetzung mit „Religion“ in ihrem früheren Beitrag schließt sie sich zunächst der gängigen Meinung an, dass der „heute weltweit benutzte Begriff ,Religion‘“ auf die europäische Aufklärung und den Protestantismus zurückgehe. Als ein europäisches Erzeugnis habe er sich dann weltweit ausgebreitet: „Seinen globalen Siegeszug, der zur Standardisierung des Feldes ,Religion‘ als autonomem Bereich von Kultur geführt hat, hat der Begriff ,Religion‘ erst im Gefolge der kolonialen Expansion ab dem 19. Jahrhundert angetreten.“125 Als Ergebnis dieser Prozesse sei ein westlich-europäischer Religionsbegriff „heute weltweit zur Norm geworden“.126 Zu den Hintergründen ihrer Darstellung stellt sie fest: „Über die religiösen Vorstellungen der Mongolen sind wir dank der Reiseberichte europäischer Gesandter aus dem 13. Jahrhundert recht gut unterrichtet.“127 So hätten Ahnengeister und die Verehrung von Feuer und Herd „in ihren alltagsreligiösen Verrichtungen“ eine zentrale Rolle gespielt. Des weiteren erwähnt sie die „autochthonen mongolischen religiösen Vorstellungen“, Kontakte zum „Buddhismus“, sowie die Bedeutung der „religiösen Spezialistinnen und Spezialisten“ in dieser Zeit.128 Im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert bildete sich die Begegnung zwischen tibetischen buddhistischen Mönchen und den mongolischen Schamanen und Schamaninnen „diskursiv in einer Kategorisierung der religiösen Konkurrenz ab“.129 Die gegenseitige Wahrnehmung „religiöser“ Akteure lasse sich zum einen im Verbot bestimmter „autochthone[r] religiöse[r] Praktiken“ im Rahmen gesetzlicher Regelungen durch die mongolischen Herrscher feststellen sowie in der Förderung buddhistischer Riten und Verrichtungen.130 Kollmar-Paulenz schreibt: Die tibetischen Mönche brachten eine ausdifferenzierte analytische Terminologie mit, die ein begriffliches Instrumentarium zur Verfügung stellte, das auch komparatistisch angewendet werden konnte und zur deutenden Aneignung der fremden Wirklichkeit benutzt wurde. In der Folge formierte sich ein Diskurs, der zum einen zur Reifizierung der heterogenen Praktiken führte, die von den Schamanen und Schamaninnen ausgeführt wurden, d. h. es kam zur „Erfindung“ einer „Lehre der Schamanen“ als distinktes System. Zum anderen entwickelte sich ein komparatistischer Begriff zur Beschreibung von Lehren und Praktiken, die im mongolischen 124 125 126 127 128 129 130
Ebd., 155. Kollmar-Paulenz, Ausdifferenzierung, 3. Ebd., 5. Ebd. Ebd. Kollmar-Paulenz, Lamas und Schamanen, 161. Kollmar-Paulenz, Ausdifferenzierung, 8.
112
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kulturellen Kontext eine funktionale Äquivalenz zur europäischen Kategorie „Religion“ aufweisen.131
Anhand der frühen Ganjur-Übersetzungen (einer buddhistischen Textsammlung) sowie mongolischer historiographischer und biographischer Werke des 17. Jahrhunderts konstatiert sie die Ausdifferenzierung eines autonomen Bereichs „Religion“, der allerdings zu diesem frühen Zeitpunkt noch synonym mit „Buddhismus“ sei, und daher „nicht zur Abbildung einer Pluralität von Religionen eingesetzt“ werde. „Ausserhalb des Dharma gibt es keine ,Religion‘. Der ausdifferenzierte Bereich ,Religion‘ ist deckungsgleich mit ,Dharma‘.“132 Gleichsam tauchen hier bereits zwei zentrale Begriffe auf, mit denen die tibetische Form des Buddhismus benannt wird: nom (vom griechischen nomos) und ˇsasin (aus Sanskrit ´sa¯sana).133 Während im Verlauf des 17. Jahrhunderts von buddhistischer Seite zunächst eine negative Wahrnehmung der Schamanen erfolgt, bestätigt dies gleichzeitig, dass zu dieser Zeit „das Konzept einer Pluralität verschiedener Religionen […] nicht existiert.“134 Es trete etwa der Begriff buruyu üjel auf, den Kollmar-Paulenz als „falsche Weltsicht, falsche Ansicht“ übersetzt. Was genau zu dieser „Weltsicht“ gerechnet wurde, lasse sich allerdings anhand der vorliegenden Texte nicht klar feststellen, auch wenn der Terminus stets im Kontext der Bezeichnungen böge und udayan für die Schamanen und Schamaninnen verwendet werde, die auch als buruyu üjel-tu¯ böge udayan („die eine falsche Weltsicht besitzenden Schamanen und Schamaninnen“) tituliert werden.135 Gleichzeitig werde buruyu üjel „in direkter Opposition zu burqan-u ˇsasin“ gebraucht, was „Lehre des Buddha“ bedeute.136 Gleichzeitig werden die Schamaninnen und Schamanen verstärkt als „Akteure in demselben gesellschaftlichen Feld“ betrachtet, was über die Zeit zur Konstituierung einer „Lehre der Schamanen“ führt.137 So habe sich seit dem siebzehnten Jahrhundert „eine mehr oder weniger standardisierte Begrifflichkeit herausgebildet, die die Lehren und Praktiken, die in irgendeiner Weise etwas mit dem Schamanisieren zu tun hatten, benennt.“138 In diesem Zusammenhang nimmt auch der Begriff ˇsasin, der eine Übersetzung des tibetischen chos bzw. chos lugs darstellt, die im Tibetischen zur „Bezeichnung buddhistischer und nicht-buddhistischer religiös-philosophischer Systeme“ eingesetzt worden seien, eine immer prominentere Stellung ein. Im Mongolischen löste sich ˇsasin im 18. und 19. Jahrhundert von seiner rein buddhistischen Bedeutung und wurde nun „zunehmend komparatistisch 131 132 133 134 135 136 137 138
Kollmar-Paulenz, Lamas und Schamanen, 162. Ebd., 166. Vgl. ebd., 163. Ebd., 169. Kollmar-Paulenz, Ausdifferenzierung, 13. Ebd. Kollmar-Paulenz, Lamas und Schamanen, 170. Kollmar-Paulenz, Ausdifferenzierung, 12 – 13.
Auf der Suche nach außereuropäischen ,Äquivalenten‘ zu ,Religion‘
113
verwendet in dem Sinne, dass er nun dazu diente, verschiedene als funktional äquivalent erfasste Teilbereiche der Wirklichkeit unter einem Oberbegriff zu subsumieren.“139 Im wesentlichen durch die Kontroversen mit den Schamaninnen und Schamanen ausgelöst, entwickelt sich eine Terminologie, in der die buddhistische Lehre als ˇsira ˇsasin („gelbe Lehre“) der „schwarzen Lehre“ (qara ˇsasin) der Schamaninnen und Schamanen gegenübergestellt wurde.140 Qara ˇsasin wurde schnell als Eigenbezeichnung übernommen. Seit dem 19. Jahrhundert erscheinen auch der Islam (Lalu-yin ˇsasin) und das Christentum (Keristos-un ˇsasin) in dieser Terminologie.141 Aus diesen hier wiedergegebenen Überlegungen und Begriffsstudien leitet Kollmar-Paulenz in ihrem früheren Aufsatz die folgenden Schlussfolgerungen ab: Im 18. Jahrhundert finden wir in mongolischen buddhistischen Texten eine Begrifflichkeit, die die Ausdifferenzierung eines autonomen Bereichs „Religion“ in den mongolischen Gesellschaften sprachlich abbildet. Im Gegensatz zum europäischen Religionsbegriff des 18. Jahrhunderts bezieht sich der mongolische Begriff buruyu üjel jedoch nicht auf ein philosophisches Konzept cum individuelles Gefühl, sondern auf rituelle Praktiken sowie auf die Träger dieser Praktiken, weist also Ähnlichkeiten mit dem Begriff religio in der christlichen Spätantike auf. Bei dem Begriff ˇsasin handelt es sich hingegen insofern um ein funktionales Äquivalent des neuzeitlichen europäischen Religionsbegriffs, als es eine Weltauffassung in toto bezeichnet. Durch attributive Beifügungen wird ˇsasin zur Bezeichnung der durch die Schamaninnen und Schamanen getragenen religiösen Vorstellungskomplexe und Praktiken verwendet, aber ebenso als Eigenbezeichnung des Buddhismus, zur Bezeichnung des Islam oder des Christentums. Seine Standardisierung hat nach jetzigem Forschungsstand im 18. Jahrhundert begonnen. Heute hat der Begriff dieselbe Funktion wie der europäische Religionsbegriff. So trägt ein 1996 in der inneren Mongolei veröffentlichtes „Wörterbuch der Religionen“ den mongolischen Titel ˇsasin-u-toli, im Tibetischen chos lugs kyi tshig mdzod.142
Auch ihre umfangreichere Studie stützt diese Zusammenfassung, führt aber besonders die Analyse der heutigen Verwendung der Begrifflichkeiten im Kontext mongolischer wissenschaftlicher und intellektueller Diskurse im zweiten Teil des Aufsatzes ausführlich fort. Als Fazit formuliert sie am Ende dieser längeren Studie, „dass in mongolischen historischen Gesellschaften ein autonomes Feld ,Religion‘ ausdifferenziert und auf der diskursiven Ebene begrifflich abgebildet wurde“.143
139 140 141 142 143
Kollmar-Paulenz, Lamas und Schamanen, 174. Vgl. Kollmar-Paulenz, Ausdifferenzierung, 15; dies., Lamas und Schamanen, 174. Vgl. Kollmar-Paulenz, Lamas und Schamanen, 175. Kollmar-Paulenz, Ausdifferenzierung, 15 – 16. Kollmar-Paulenz, Lamas und Schamanen, 187.
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Jedoch weist sie in beiden Texten darauf hin, dass die von ihr untersuchten Begriffe nicht einfach als direkte Parallelen zum europäischen Religionsbegriff zu verstehen seien. Im früheren Aufsatz folgert sie daher : Der mongolische Begriff ˇsasin, der seit dem 18. Jahrhundert, der tibetische Begriff chos lugs, der seit dem 8. Jahrhundert komparatistisch verwendet wurde, sie beide haben ein gegenüber dem europäischen Religionsbegriff unterschiedliches semantisches Feld und transportieren ihre je eigenen, historisch gewachsenen Bedeutungen. Aufgrund der Bedeutungsgebundenheit von Sprache kann der mongolische Begriff ˇsasin in mongolischen Kontexten nicht das Gleiche benennen wie der europäische Begriff Religion in europäischen Kontexten. Das Ausmass der Differenz muss jedoch erst bestimmt werden, und es scheint nicht so gross zu sein, dass wir uns einer gemeinsamen Begrifflichkeit enthalten müssten. Auch wenn keine inhaltliche Äquivalenz hergestellt werden kann, so besteht doch eine funktionale Äquivalenz der verwendeten Terminologie.144
Aus ihrer Untersuchung heraus behauptet Kollmar-Paulenz daher eine Widerlegung der im „postmodernen und postkolonialen Diskurs“ vertretenen These, dass die „Ausdifferenzierung eines autonomen Bereichs ,Religion‘ […] eine europäische Sonderentwicklung des 19. Jahrhunderts [sei] und nicht auf andere Kulturräume übertragbar, ohne deren Wirklichkeiten zu verzerren“. Eine solche These könne nicht länger aufrecht erhalten werden.145 Anhand der von Kollmar-Paulenz vorgelegten Fallstudie lassen sich der mögliche Ertrag der Frage nach außereuropäischen ,Äquivalenten‘ des Religionsbegriffs ebenso wie die mit einer solchen Fragestellung einhergehenden Problemlagen herausarbeiten. Ihr Ansatz wurde hier nicht zuletzt deshalb ausführlich referiert, um vor diesem Hintergrund die im weiteren Verlauf des Kapitels entwickelten alternativen Perspektiven klar erkennbar werden zu lassen. Der doppelte Religionsbegriff: Es fällt auf, dass von „Religion“ bei KollmarPaulenz immer zweifach die Rede ist. Einerseits als der Begriff, nach dessen Äquivalenten gesucht wird, und andererseits als ein nur vage expliziertes Vorverständnis, auf das allerdings in der Beschreibung laufend Bezug genommen wird. So verwendet sie in ihren Texten die mit ,Religion‘ verbundenen Begrifflichkeiten ständig in ihren Beschreibungen der mongolischen Verhältnisse, obwohl die Frage nach ,Äquivalenten‘ ja gerade ihre Forschungsfrage ist. Immer wieder ist die Rede von „religiösen Traditionen“, „Religionspolitik“, „religiösen Spezialisten“, „autochthonen religiösen Praktiken“, einem „religiösen Feld“ sowie „philosophisch-religiösen Lehren“. All dies, obwohl der Begriff „Religion“ doch gerade der Begriff ist, den sie unter 144 Kollmar-Paulenz, Ausdifferenzierung, 16 – 17. Zur Problematik der Rede von ,funktionaler Äquivalenz‘ siehe im Folgenden. 145 Ebd., 17.
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Beobachtung stellt und nach dessen Äquivalenten sie auf der Suche ist. Statt dessen wird die Qualifizierung dieser Phänomene als „religiös“ und „Religion“ bereits vorausgesetzt.146 Das religionswissenschaftliche Interesse einer Beschreibung von „Religion“ mithilfe eines theoretisch reflektierten, religionswissenschaftlichen Religionsbegriffs wird so mit dem Anliegen der Rekonstruktion von außereuropäischen ,Äquivalenten‘ von ,Religion‘ beständig vermischt, wie etwa in der folgenden Aussage: „Die verwendeten Begriffe ˇsasin und nom entstammen der religiösen Terminologie.“147 Damit ist das, wonach gesucht werden soll, in der Begriffsbestimmung bereits vorausgesetzt. Zumindest jedoch wird nicht klar, wie sich diese Klassifikation als „religiös“ zu den gesuchten „Religionsbegriffen“ verhält. So unterscheidet KollmarPaulenz nicht scharf, ob sie nach ,Religion‘ als Begriff bestimmter gesellschaftlicher Diskurse fragt, oder ob sie den Begriff selbst als Instrument ihrer Beschreibung einsetzt. Eine Unterscheidung von Diskurstheorie und Religionstheorie könnte daher auch hier dazu dienen, ein Problem klar herauszuarbeiten, welches in ihrem Ansatz nicht ausreichend thematisiert wird. Dies ist aber nun meiner Ansicht nach nicht vorangig eine Ungenauigkeit in der Analyse, die Kollmar-Paulenz vorzuwerfen wäre, sondern die grundlegende Problematik eines Ansatzes, der in dieser weit verbreiteten Form nach außereuropäischen Äquivalenten von ,Religion‘ fragt.148 Folgende Problemlagen erscheinen hier zentral: Erstens: Wie wird der Religionsbegriff, nach dessen ,Äquivalenten‘ ja gesucht werden soll, in seiner Bedeutung, seinem Inhalt und seiner Verwendung spezifiziert? Dies ist besonders dann problematisch, wenn trotz der mehr oder weniger ausführlichen 146 Natürlich geht es nicht darum, dass diese Begriffe überhaupt nicht mehr eingesetzt werden können. Im Kontext einer Fragestellung jedoch, die genau nach diesen Begriffen fragt, sich gegen eine Reihe von Infragestellungen dieser Begriffe positioniert, und sich mit dieser Kritik auseinandersetzen will, erscheint ihre unkritische Weiterverwendung jedoch als wenig hilfreich. Gerade aus diesem Grund habe ich im ersten Teil der Arbeit eine klare Trennung zwischen Diskurstheorie und Religionstheorie vorgeschlagen. Siehe zu dieser Problematik auch erneut Fitzgerald, Playing Language Games. 147 Kollmar-Paulenz, Lamas und Schamanen, 176. 148 In einem anderen neueren Aufsatz stellt sie die Zirkularität ihrer Frage nach „Außereuropäischen Religionsbegriffen“ als „unauflösbares Dilemma“ stärker heraus, möchte dieser Thematik jedoch trotzdem weiterhin nachgehen (Kollmar-Paulenz, Kar~nina, Außereuropäische Religionsbegriffe, in: M. Stausberg (Hg.), Religionswissenschaft, Berlin 2012, 81 – 94, hier: 82). Die Suche nach solchen Religionsbegriffen im mongolischen Kontext erfolgt dann „ausgehend vom eigenen kulturellen Vorverständnis, das Traditionen wie den Buddhismus als Religionen identifiziert“ (ebd., 83). Der Beitrag schließt mit der Behauptung: „Die eingangs erwähnte These, außereuropäische Kulturen besäßen keine Religionsbegriffe, lässt sich, wie dieser Beitrag gezeigt hat, nicht aufrechterhalten“ (ebd., 92). Da trotz ihrer Vorbemerkungen am Ende ein Urteil über die (theorieunabhängige) ,Existenz‘ solcher Religionsbegriffe im mongolischen Kontext gefällt wird, scheint mir auch in diesem – die Zirkularität des Ansatzes zu Beginn reflektierenden – Text die Form der Fragestellung und nicht die Qualität der philologischen Analyse das grundlegende Problem zu sein. Ich schlage daher im Folgenden (vgl. Abschnitt 3.5) eine veränderte Fragestellung vor.
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Darstellung einer komplexen Begriffsgeschichte und der in den meisten Beiträgen zu dieser Debatte betonten Partikularität und Vielgestaltigkeit des ,westlichen Religionsbegriffs‘, weiterhin in der eigenen Argumentation laufend auf den Religionsbegriff oder das westliche Religionsverständnis verwiesen wird. Vielmehr müsste – wie man mit Tyrell sagen könnte – zunächst dessen ,moderne Kontur‘ angegeben werden, bevor ,Äquivalente‘ identifiziert werden können. Und sollte dies nicht möglich sein, worauf manche Autoren verweisen, ist vielleicht ein alternativer Ansatz zielführender. Zweitens: Es fehlt der Debatte an einer theoretischen Grundlegung der genealogischen Perspektive auf den Begriffswandel. Auch der von Kollmar-Paulenz präsentierten begriffsgeschichtlichen Darstellung fehlt letztlich ein historischer Index. Das Verhältnis zwischen dem geschichtlichen Begriffswandel der behandelten ,Religionsbegriffe‘ und ihrer eigenen religionswissenschaftlichen Definition von „Religionsbegriffen“ bleibt unklar. Die Notwendigkeit einer Differenzierungstheorie: Es fällt auf, dass KollmarPaulenz sich (ebenso wie andere Autoren des Sammelbandes, in welchem ihre längere Studie erschienen ist) in ihren theoretischen Begrifflichkeiten besonders an differenzierungstheoretische und systemtheoretische Termini anlehnt, jedoch ohne dies klar zu kennzeichnen oder die theoretischen Hintergründe dieser Begrifflichkeiten zu erläutern. So stammen sowohl der Begriff der „Ausdifferenzierung“, den sie bereits im Titel ihrer früheren Studie nennt, als auch die Rede von „funktionaler Äquivalenz“ aus dem Kontext von Niklas Luhmanns Systemtheorie. Hinter der Begrifflichkeit der „Ausdifferenzierung“ steht jedoch eine komplexe Theorie, welche zunächst einmal expliziert werden müsste, oder auf die zumindest verwiesen werden sollte. Es wäre zu diskutieren, ob die von ihr später im Zusammenhang mit Ausdifferenzierung präsentierten Beispiele in ein entsprechendes systemtheoretisches Schema überhaupt hineinpassen würden. Ähnliches gilt für die Rede von ,funktionaler Äquivalenz‘. Ohne in diesem Zusammenhang eine detaillierte Diskussion von Luhmanns Funktionalismus anstreben zu wollen, ist doch darauf hinzuweisen, dass eine Feststellung funktionaler Äquivalenz im Luhmannschen Kontext immer als die Konstruktion eines Beobachters aufzufassen ist.149 Im Kontext der Frage nach ,Äquivalenten‘ des Religionsbegriffs, 149 „Der mit Funktionalisierung angestrebte Gewinn liegt nicht in der Problemlösung selbst (denn es kann sich ja auch, ja es wird sich zumeist um längst gelöste Probleme handeln), sondern im Hinweis auf eine Mehrheit von funktional äquivalenten Problemlösungen, also in der Etablierung von Alternativität oder funktionaler Äquivalenz. […] So viel ist damit klargestellt: Funktionen sind immer Konstruktionen eines Beobachters“ (Luhmann, Niklas, Die Religion der Gesellschaft, hg. von Andr~ Kieserling, Frankfurt am Main 2000, 116 – 118). Vgl. aber auch aus einem völlig anderen theoretischen Kontext folgende Aussage von John Searle: „The important thing […] is that functions are never intrinsic to the physics of any phenomenon but are assigned from outside by conscious observers and users. Functions, in short, are never intrinsic but are always observer relative“ (The Construction of Social Reality, New York 1995, 14). Im Bezug auf Religionstheorien formuliert Michael Stausberg: „The notion of ,function‘ […] is observer-relative – it is the observer who assigns functionality […]. As with all other
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und im Hinblick auf eine Widerlegung ,postmoderner‘ Kritik an der Verwendung des Begriffs, scheint eine solche Identifikation ,funktionaler Äquivalenzen‘ jedoch nicht weiterführend zu sein, wenn diese ,Äquivalenzen‘ dann doch wieder als Konstruktion eines Beobachters verstanden werden müssen. Ähnlich unklar bleibt auch der von Kollmar-Paulenz zuweilen vorgenommene Wechsel zu einer Rede von „semantischen Äquivalente[n]“ und das Verhältnis dieser Kategorie zu jener der „funktionalen Äquivalenz“. Während zum einen vom „religiösen Feld“ die Rede ist (dieses aber theoretisch unbestimmt bleibt150), werden zum anderen in der Rede von einer Ausdifferenzierung von ,Religion‘ Motive der differenzierungstheoretischen Tradition in Anspruch genommen, ohne dass auf deren zentrale Vertreter wie etwa Max Weber oder Niklas Luhmann verwiesen wird. Genannt wird dagegen Pierre Bourdieu, allerdings im Hinblick auf dessen Habituskonzept und nicht als differenzierungstheoretischer Denker. Daher bleibt unklar, wie bereits erwähnt, was letztlich mit der Rede von einer „Ausdifferenzierung“ gemeint sein soll, die Kollmar-Paulenz sehr deutlich für den mongolischen Kontext diagnostiziert und zwar bereits vor einem intensiven Kontakt mit dem Westen. Was jedoch differenziert sich hier aus? Ist es ein autonomer Bereich von ,Religion‘? Wie wird diese Ausdifferenzierung begründet und theoretisch gefasst? Sind es die gegenseitigen Wahrnehmungen von ,Religionen‘, die für Kollmar-Paulenz zumindest die Annahme eines „religiösen Feldes“ nahelegen? Eine entsprechende, an den Ansatz von Riesebrodt erinnernde Argumentation, scheint bei Kollmar-Paulenz in einigen Formulierungen nahezuliegen, wird jedoch nicht explizit mit Verweis auf Riesebrodt ausgeführt. Letztlich bleibt aber damit bei dem zentralen Begriff der „Ausdifferenzierung“ unklar, worauf er sich bezieht. Diese theoretische Problematik teilt Kollmar-Paulenz’ Ansatz mit einer Reihe von weiteren Fallstudien in dem besagten Sammelband, sowie mit weiteren Autoren, die nach außereuropäischen ,Äquivalenten‘ von ,Religion‘ fragen. Sie alle bestimmen (zumindest indirekt) als ein Kennzeichen des europäisch-westlichen Religionsbegriffs, dass dieser die Vorstellung eines bestimmten abgrenzbaren Bereichs von ,Religion‘ impliziere. In diesem Sinne schließen sie sich durchaus der Auffassung an, die im vorhergehenden Abschnitt etwa von Joachim Matthes und Hartmann Tyrell vertreten wurde. aspects of theories of religion, speaking of functions invokes second-order statements“ (There Is Life in the Old Dog yet. An Introduction to Contemporary Theories of Religion, in: ders. (Hg.), Contemporary Theories of Religion. A Critical Companion, London 2009, 1 – 21, hier: 5). Vor diesem Hintergrund wären auch weitere Beiträge des Sammelbandes, wie etwa der explizit an Luhmann anschließende Aufsatz von Christoph Kleine nochmals zu reflektieren (Religion als begriffliches Konzept und soziales System im vormodernen Japan – polythetische Klassen, semantische und funktionale Äquivalente und strukturelle Analogien, in: P. Schalk (Hg.), Religion in Asien? Studien zur Anwendbarkeit des Religionsbegriffs, Uppsala 2013, 225 – 292). 150 Vgl. Kollmar-Paulenz, Lamas und Schamanen, 157, 172, 176. Später (ebd., 185 – 188) spricht sie auch von einem „Diskursfeld ,Religion‘“.
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Dabei bleibt aber zum einen die Frage offen, wie die Bedeutung dieses Kennzeichens der ,modernen Kontur‘ des Religionsbegriffs zu konzipieren wäre. Zum anderen ist ungeklärt, wie und im Kontext welcher theoretischen Begrifflichkeit dieser (,autonome‘?) Bereich ,Religion‘ verstanden werden soll. Wird ,Religion‘ im Verlauf eines historischen Prozesses ,ausdifferenziert‘? Handelt es sich, wie Kollmar-Paulenz beschreibt, hierbei um eine Ausdifferenzierung von „Wissensbereichen“?151 Und welchen Unterschied würde es machen, statt dessen von ,Feldern‘, ,sozialen Systemen‘ oder ,Diskursen‘ zu sprechen? Wenn man nicht von einer möglichen Übereinstimmung einer dieser theoretischen Kategorien mit der sozialen Wirklichkeit ausgeht, ist eine Beschäftigung mit der ,Differenziertheit‘ von ,Religion‘ nicht möglich, ohne sich auch mit differenzierungstheoretischen Konzepten auseinander zu setzen. Eine entsprechende Perspektive auf ,Äquivalente‘ von ,Religion‘ kann diese theoretische Auseinandersetzung somit nicht vermeiden, vor allem dann nicht, wenn sie, wie im Fall von Kollmar-Paulenz, ersichtlich auf eine ganz bestimmte Theorietradition zurückgreift. Es ist daher für eine weiterführende Debatte zumindest notwendig, sich (wie in den bisherigen Teilen dieser Arbeit bereits angedeutet) intensiver mit differenzierungstheoretischen Überlegungen auseinander zu setzen. ,Äquivalente‘ von ,Religion‘: Viele der bisher genannten Problemlagen hängen durchaus auch mit dem von Kollmar-Paulenz beispielhaft repräsentierten philologisch orientierten Ansatz zusammen, der nach der historischen Herausbildung der ,Bedeutungen‘ bestimmter mongolischer und tibetischer Begriffe fragt und daran festmachen will, ob sie als ,Äquivalente‘ des Religionsbegriffs verstanden werden können. Trotz verschiedener durchaus sehr aufschlussreicher Hinweise darauf, dass sich diese Begrifflichkeiten in ihrer Bedeutung auch stark gewandelt hätten, und dass es gerade ganz bestimmte Begriffe seien, die etwa heute als direkte Übersetzungen für „Religion“ verwendet werden, wird auf diese Historisierung der ,Bedeutung‘ von Begriffen und die zentrale Rolle eines solchen Begriffswandels für die Frage nach ,Äquivalenten‘ nicht ausführlich eingegangen. Eine solche Vorgehensweise wird jedoch schnell mit dem Problem der Bestimmung und Fixierung bestimmter ,Bedeutungen‘ von Begriffen und der Frage nach einem Begriffsessentialismus konfrontiert. Ähnlich wie bereits zum Ende des letzten Abschnitts angemerkt, wäre hier eine alternative Perspektive weiterführend, die ,Äquivalente‘ vor dem Hintergrund genealogischer Überlegungen betrachtet. Dies gilt besonders im Blick auf die von Kollmar-Paulenz durchaus gesehene Dynamik von ,Religion‘ in der Moderne. So verweist sie darauf, dass der Begriff seit dem 19. Jahrhundert einen „globalen Siegeszug“ angetreten habe, der ihrer Ansicht nach sogar „zur Standardisierung des Feldes ,Religion‘ als autonomem Bereich von Kultur“ geführt hat.152 Letztlich spielt diese Fest151 Kollmar-Paulenz, Ausdifferenzierung, 3. 152 Ebd.
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stellung für ihre Argumentation aber keine zentrale Rolle und wird auch nicht gemeinsam mit den von ihr behandelten asiatischen Begriffen und deren Wandlungsprozessen reflektiert. Eine alternative theoretische Grundlegung für die Frage nach ,Äquivalenten‘ und deren historischer Entstehung scheint hier notwendig, um innerhalb dieser festgefahrenen Debatte neue Perspektiven zu eröffnen. Während Kollmar-Paulenz mit ihrer Rede von einer ,Ausdifferenzierung‘ vor allem auf die von Tyrell und Matthes beschriebene Dimension von ,Religion‘ als ,Differenzkonzept ‘ fokussiert, auch wenn sie dieses Interesse in ihrer Darstellung mit der Analyse von ,Allgemeinbegriffen‘ verbindet, geht es ihr in ihrer Beschäftigung mit den mongolischen und tibetischen Beispielen vorrangig um eine bestimmte Form der Grenzziehung. Mit den Überlegungen von Robert Ford Campany liegt zur Frage nach außereuropäischen ,Äquivalenten‘ von ,Religion‘ ein weiterer Ansatz vor, der sich vor allem auf die Konzeptualisierung von ,Religionen‘ konzentriert.
3.4.3 Der metaphorische Charakter der ,Religionen‘ und ihrer außereuropäischen ,Äquivalente‘ In einem auf anderen theoretischen Grundlagen basierenden Beitrag hat sich auch Robert Ford Campany die Frage nach der Anwendung des Religionsbegriffs auf nicht-westliche Verhältnisse gestellt und im Anschluss versucht, analoge Begrifflichkeiten im chinesischen Kontext aufzuspüren.153 Er geht dabei (in Anknüpfung an die Metapherntheorie von Lakoff/Johnson154) zum einen davon aus, dass Sprache und Begriffe grundlegend einen metaphorischen Charakter haben, und dass damit auch jede Verwendung der Begriffe ,Religion‘ und ,Religionen‘ mit der Hilfe von Metaphern operiert. Zum anderen erscheint für ihn das Problem einer transkulturellen Verwendung des Religionsbegriffs als zentral: it is not the case that „religion“ (in either its generic or its specific sense) is simply „our word for“ a universally existent entity or a universally recognized category. To speak of „religions“ is to demarcate things in ways that are not inevitable or immutable but, rather, are contingent on the shape of Western history, thought, and institutions, [sic!] Other cultures may, and do, lack closely equivalent demarcations.155
153 Ford Campany, Robert, On the Very Idea of Religions (in the Modern West and in Early Medieval China), History of Religions 42/4, 2003, 287 – 319. 154 Siehe v. a. Lakoff, George/Johnson, Mark, Metaphors We Live By, Chicago 1980 und Fernandez, James W. (Hg.), Beyond Metaphor. The Theory of Tropes in Anthropology, Stanford 1991. 155 Ford Campany, On the Very Idea, 289.
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Gleichzeitig folgt aus dieser Position für ihn aber nicht, dass eine Verwendung des Begriffs im wissenschaftlichen Kontext damit ausgeschlossen wäre. „Religion“ als „second order concept“, wie Ford Campany im Anschluss an Jonathan Z. Smith formuliert,156 ließe sich möglicherweise dennoch gewinnbringend in der Religionswissenschaft einsetzen. Dies erfordere aber eine Auseinandersetzung mit den Implikationen des Begriffs im westlichen Kontext ebenso wie die Frage nach möglichen Parallelen z. B. in China: That early medieval Chinese discourses lacked one-for-one „versions“ of the Western category „religions“ does not mean that they lacked some usages that are analogous – ones that do something like the same work, ones invoked in the sorts of contexts in which „religions“ would be invoked in modern Western discourses.157
Zu diesem Ziel befasst er sich zunächst mit den Formen der Verwendung der Kategorien ,Religion‘ und ,Religionen‘ und besonders deren metaphorischer Implikationen im Westen und in China, „as a way of better understanding both the contours and limitations of the category ,religions‘ and the contours and limitations of the early medieval Chinese discourses on analogous topics as well as the nature of the fit, or lack of fit, between the two.“158 Als grundlegendes Kennzeichen des westlichen Verständnisses von ,Religionen‘ bestimmt Ford Campany die Vorstellung, dass diese als verdinglichte ,Entitäten‘ verstanden würden. Über das Suffix -ismus („Buddhismus“) wird aus einem Wort die Bezeichnung für eine abstrakte Entität und über das Suffix -ist („Buddhist“, „buddhistisch“) wird eine Zugehörigkeit zu dieser Entität ausgedrückt. Eine Vielzahl von Partikularitäten wird über einen solchen Sprachgebrauch in eine Einheitlichkeit aufgelöst, und dieser Sprachgebrauch führe – so Ford Campany – gleichzeitig auch dazu, dass diese Entität als Einheit verfügbar werde: But it is also a sleight of hand, creating in three keystrokes [ism, A.H.] an entity that, in addition to its sudden existence as a thing among other things, is further implied to have the property of systematicity and therefore to be a well-integrated and clearly demarcated whole, such that aspects or parts of the whole must resemble each other more strongly than they resemble any outside aspects or parts.159
Diese Vorstellung einer Einheit von ,Religionen‘ habe zu einem „religion holism“160 geführt, der, wie Jonathan Z. Smith betone, nicht etwa eine selbstverständliche, ,phänomenologische‘ Wahrnehmung sei, sondern „a major, conservative, theoretical presupposition which has done much mischief in the study of religious materials […].“161 Denn indem diese Einheit vorausgesetzt werde, 156 157 158 159 160 161
Siehe Smith, Religion, Religions, Religious, 281. Ford Campany, On the Very Idea, 290. Ebd. Ebd., 291. Ebd. Smith, Jonathan Z., Drudgery Divine. On the Comparison of Early Christianities and the
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würden ,Religionen‘ als Entitäten vorgestellt, die in einer „contextless stasis“ existieren.162 Anstelle der unkritischen Postulierung solcher Entitäten wäre es daher die Aufgabe einer religionswissenschaftlichen Analyse, die vielfältigen Prozesse zu untersuchen, in denen eine solche Einheit überhaupt erst hergestellt wurde und werde. Würde die Frage nach der „Buddhisierung“, „Christianisierung“ oder „Islamisierung“, welche die Entitäten „Buddhismus“, „Christentum“ und „Islam“ erst hervorbringt, in den Mittelpunkt gestellt, wäre die Analyse in ihrer Begrifflichkeit bereits auf die Dynamik des zugrundeliegenden Prozesses verwiesen.163 Letztlich führt dies für Ford Campany zur Bekräftigung der Position, dass ,Religionen‘ keine Dinge in der Welt seien, und wir daher gut daran täten, uns dies immer wieder klar zu machen. Dies betrifft ebenso die Rede von „Systemen“ oder „Traditionen“. So impliziere die Rede von ,der buddhistischen Tradition‘ zum einen, dass hier etwas Einheitliches über die Zeit hinweg weitergegeben wurde und zum anderen, dass diese Einheit einen hohen Grad der Systematisierung aufweist.164 Dieses quasi-metaphorische Sprechen über ,Religionen‘ als abstrakte Einheiten wird in anderen metaphorischen Formulierungen, die Ford Campany herausstellt, noch deutlicher. So werden in westlichen wissenschaftlichen Texten über chinesische ,Religionen‘ immer wieder bestimmte Metaphern verwendet. ,Religionen‘ werden beschrieben wahlweise als lebendige Organismen und Pflanzen („Chinese Buddhism – that tiny exotic plant“, „it [Manicheism] flourished“), als personifizierte Akteure („Taoism … saw itself“, „It [Manicheism] knew how to adapt“) oder als Armeen („The Buddhist Conquest of China“, „infiltrations of Buddhist elements“).165 Indem Ford Campany auf diese Metaphern hinweist, will er allerdings nicht vorangig auf deren Unzulänglichkeit als Beschreibungsinstrumente verweisen, sondern vielmehr die Tatsache bewusst machen, dass das systematisierende Sprechen über ,Religionen‘ auf solche Generalisierungen und den Rückgriff auf Metaphern nicht verzichten kann, auch wenn man über den Einsatz einzelner Metaphern durchaus streiten könne. Aus seiner Beschäftigung mit der Metaphorik klassischer chinesischer Texte schließt Ford Campany, dass es in diesen durchaus Tendenzen zu einer nominalisierenden Beschreibung von Entitäten gäbe, die dem westlichen Sprechen von ,Religionen‘ ähnlich zu sein scheinen. Ebenso impliziert diese Nominalisierung durchaus eine ,Verdinglichung‘, auch wenn diese weniger ausgeprägt zu sein scheint als im westlichen Sprachgebrauch. Gleichzeitig
162 163 164 165
Religions of Late Antiquity, London 1990, 117 – 118, zitiert nach Ford Campany, On the Very Idea, 292. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd., 293. Ebd., 294 – 298. Die Einfügungen stammen von Ford Campany. Er zitiert hier verschiedene andere Studien. Siehe dort für die genauen Angaben.
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erscheinen diese nominalisierten Entitäten im Chinesischen jedoch nur in seltenen Fällen als Akteure. Zumeist sind es hier eher Individuen oder Gruppen, die im Hinblick auf diese Entitäten bestimmte Aktivitäten durchführen. So etwa in der Verwendung der Begrifflichkeiten von „Weg“ oder „Pfad“ (dao). Die für den chinesischen Kontext meist beschriebenen „Three Ways and Teachings“, welche oft unkritisch als drei ,Religionen‘ übersetzt werden, beschreibt Ford Campany wie folgt: These ,Three Ways‘ are not the ,Confucianism, Daoism, and Buddhism‘ familiar from textbooks on Chinese religions over the past century but ,the Great Way of Intentionless Action‘ (wuwei dadao), ,the Way of Buddha‘ (fodao) and ,the Great Way of the Pure Contract‘ (qingyue dadao).166
Das Verhältnis eines Menschen zu diesen Wegen sei darüber hinaus kein passives einer Zugehörigkeit oder Mitgliedschaft, sondern eher prozessual und aktiv : „People seek, travel, follow, abandon, or deviate from daos, rather than simply being contained in them; the verbs are verbs of doing, not copulae.“167 Der Kontext, in dem solche Nominalisierungen zumeist auftauchen (und hier deckt sich Ford Campanys Einschätzung mit den Darstellungen von Kollmar-Paulenz und Riesebrodt), ist eine Situation der Pluralität, in der die Wahrnehmung von Unterschieden und Rivalitäten in den Fokus treten. Nominalisierungen von ,Religionen‘ seien somit nicht zuletzt das Ergebnis von Abgrenzungen und Polemiken.168 „Metaphorical expressions that gather up multiple texts, ideas, practices, and persons and picture them as a ,path‘ or a ,teaching‘ are used in contrastive situations, where a difference is being encountered and negotiated.“169 Anders als etwa Riesebrodt (der neben Polemiken auch noch eine Vielzahl anderer Situationen gegenseitiger Wahrnehmung behandelt), weist Ford Campany hier somit darauf hin, dass eine entsprechende Wahrnehmung, besonders in Form von Nominalisierungen, aus historischer Perspektive eher als Ergebnis einer spezifischen Situation zu betrachten wäre, und nicht als generelles Phänomen, welches zu jeder Zeit in jeder Kultur vorkommt. Auch wenn er in der Frage nach Analogien zur Begrifflichkeit der ,Religionen‘ im (vormodernen) China durchaus zu einer positiven Einschätzung gelangt,170 besonders insofern sie als Ergebnis konfrontativer Auseinandersetzungen mit Fremdheit und Verschiedenheit verstanden werden können, stellt Ford Campany abschließend doch einen wichtigen Unterschied zwi-
166 167 168 169 170
Ebd., 303. Ebd., 305. Vgl. ebd., 312 – 313. Ebd., 313. Ebd., 314.
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schen den chinesischen Diskursen und dem westlichen (modernen) Religionsdiskurs fest: Students of the history of Western discourse on „religions“ have repeatedly noted that it, too, arose in a context of innovation, diversity, and fresh contact (often in colonial situations) with foreign ways. In the West, to speak of one „religion“ is also to imply its distinction and difference from (and also partial similarity to) other species in the same genus. So much could also be said of the Chinese terminology of dao and jiao, even when these are used in the singular in phrases such as „the dao of X“, at least weakly implying a distinction from daos of Y, Z, and so on. But Western discourse on „religions“ is strongly contrastive in another sense as well: to name a „religion“ in Western discourse is to imply a strong sense in which it is a „religion“ as opposed to other, non-„religious“ kinds of things. This type of contrast is largely absent in China. The reasons for this profound taxonomic difference are well worth investigating, but they would take us beyond the scope of this essay, involving as they do the shape of „religion“ as a generic category, the history of the ways in which it has been differentiated from other categories of phenomena, and the ramifications for that history of the institutional clashes between church and state in European societies.171
Das Sprechen von ,Religion‘ im westlichen Kontext impliziert somit für Ford Campany (wie auch bereits im vorherigen Abschnitt erwähnt) neben der Pluralität von ,Religionen‘ auch die Differenz zu anderen, nicht-religiösen Dingen und eine Reihe von weiteren Unterscheidungen wie ,Magie‘, ,Aberglaube‘ oder ,Häresie‘. Wenn im chinesischen von „deviant daos“, „the dao of the left“ oder Ähnlichem die Rede ist, impliziere dies aber im Gegensatz zum westlichen Verständnis nicht, dass diese aus diesem Grund etwas anderes seien als daos.172 Das Ergebnis einer Studie wie derjenigen von Ford Campany ist somit nicht primär der Vorschlag, das Sprechen von ,Religionen‘ aufzugeben. Vielmehr weisen seine Überlegungen vor allem darauf hin, dass es für die Religionswissenschaft eine Bereicherung sein könnte, die Metaphern, die in diesem Sprechen jeweils impliziert sind, stärker zu reflektieren.173 Zusammenfassend lässt sich somit feststellen: Die Charakteristika der ,Religion‘ und die Zirkularität der Fragestellung: Ford Campanys Ansatz bestärkt die Vermutung, dass zu Beginn der Suche nach ,Äquivalenten‘ zur Bezeichnung von ,Religionen‘ in China zunächst nach den Implikationen des Begriffs im westlichen Kontext gefragt werden muss. Ford Campany identifiziert hier vor allem die Tendenz, von ,Religionen‘ als 171 Ebd., 314 – 315. 172 Ebd., 315. 173 Vgl. für ein ähnliches Argument auch Tweed, Thomas A., Marking Religion’s Boundaries. Constitutive Terms, Orienting Tropes, and Exegetical Fussiness, History of Religions 44/3, 2005, 252 – 276; ders., Crossing and Dwelling. A Theory of Religion, Cambridge 2006.
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Entitäten zu sprechen. Dieser Begriffsgebrauch impliziert eine immer schon vorhandene Pluralität dieser ,Religionen‘ und deren systematischen und geschlossenen Charakter. Zum anderen ist die westliche Kategorie von ,Religion‘ aber zusätzlich durch weitere Formen der Unterscheidung gekennzeichnet: ,Religion‘ wird von anderen ,nicht-religiösen‘ Dingen getrennt, eine Form der Unterscheidung, die seiner Ansicht nach in China nicht auf die gleiche Weise funktioniert. Letztlich thematisiert aber auch Ford Campany nicht ausführlich die Zirkularität seiner Analyse, welche nach vormodernen und mittelalterlichen Analogien zu einem westlichen Begriffsgebrauch in China sucht, in der aber gleichzeitig die Orte, an denen gesucht wird ebenso wie die in Frage kommenden ,Phänomene‘, durch die heutigen Vorstellungen asiatischer ,Religionen‘ wie ,Konfuzianismus‘, ,Buddhismus‘ oder ,Daoismus‘ bereits vorstrukturiert sind. Das zugrunde liegende Vorverständnis, mit dem die Frage nach ,Äquivalenten‘ beginnt, und besonders der Umgang mit diesem wird auch hier nicht explizit thematisiert. Äquivalente von und mögliche Charakteristika der ,Religion‘: Ähnlich wie die meisten anderen der bisher in diesem Kapitel genannten Autoren, sieht Ford Campany die von ihm genannten Charakteristika des westlichen Verständnisses von ,Religion‘ vor allem als ein Problem im Kontext einer transkulturellen Verwendung des Religionsbegriffs. Trotz seiner Vorschläge zu einer methodisch reflektierteren Suche nach ,Äquivalenten‘ von ,Religion‘ in außereuropäischen Kontexten, deckt sich sein Interesse und die Fragerichtung seiner Analyse letztlich mit derjenigen der anderen in diesem Kapitel bisher behandelten Autoren, und thematisiert die identifizierten Merkmale eines ,westlichen‘ Verständnisses in der Hauptsache als Problem, das den Einsatz dieses Begriffs im außereuropäischen Kontext als schwierig erscheinen lässt. Aber ließe sich diese Problemlage nicht auch anders fassen? Wäre es im Kontext der Frage nach ,Äquivalenten‘ von ,Religion‘ nicht auch möglich, mit diesen ,Einschränkungen‘ des europäisch-westlichen Religionsverständnisses – die, wie ich im nächsten Kapitel vorschlagen werde, allgemein als Pluralität und Differenzierung gefasst werden könnten – anders umzugehen, und vielleicht andere, interessantere Fragen zu substituieren, die vor allem die erkennbar gewordenen Problemlagen wenn nicht zu überwinden, so doch zumindest anders in den Blick zu nehmen erlauben würden? Dem Versuch einer Antwort auf diese Frage sind die folgenden und abschließenden Abschnitte dieses Kapitel gewidmet.
Charakteristika des Religionsdiskurses u. Herstellung von ,Äquivalenten‘ 125
3.5 Die Charakteristika des modernen Religionsdiskurses und die historische Analyse der Herstellung von ,Äquivalenten‘ von ,Religion‘ Die bisherige Darstellung innerhalb dieses Kapitels hat anhand der Frage nach ,Äquivalenten‘ von ,Religion‘ unter anderem zwei zentrale Problemlagen erkennen lassen, welche die diskutierten Untersuchungen jedoch unterschiedlich stark in den Blick nehmen. Zum einen verdecke, so zumeist die Ansicht der behandelten Autoren, der Religionsbegriff und dessen europäisch-westliche Prägung die ,eigentlichen Gegebenheiten‘, von denen die Religionsforschung sprechen möchte. Zum anderen habe sich dieses westliche Verständnis des Religionsbegriffs bereits weltweit verbreitet – zumindest in manchen Bereichen – und verkompliziere damit den Zugriff auf das, was ,die Religionen‘ eigentlich ausmache, noch weiter. Eine konsequent diskurstheoretisch ausgerichtete Position müsste hier – so möchte ich im Folgenden argumentieren – zumindest einen zweifachen Perspektivenwechsel vorschlagen: 1. Anstelle davon auszugehen, dass das ,Reden über Religion‘ die ,eigentlichen Gegenstände‘ der Religionsforschung verdecke, müsste eben dieses ,Reden‘ selbst zum Untersuchungsgegenstand gemacht werden, verstanden als ein Diskurs, das heißt als eine Praxis, welche die Gegenstände von denen sie spricht, selbst hervorbringt.174 2. Anstatt die weltweite Verbreitung von Religionsbegriffen als Problem zu betrachten, müsste eine diskurstheoretische Perspektive des weiteren gerade diese globale Verbreitung des ,Redens über Religion‘ als Bedingung der Möglichkeit verstehen, dass ,Religionen‘ als Gegenstände eines globalen Religionsdiskurses erscheinen können. Um einen Einwand bereits hier vorwegzunehmen: Es geht bei diesen Vorschlägen nicht darum, die Existenz einer ,eigentlichen Wirklichkeit‘ in Abrede zu stellen, sondern darum, wie etwa in der folgenden oft zitierten Passage von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe dargestellt, darauf hinzuweisen, dass im Rahmen einer diskurstheoretischen Perspektive der zentrale Ausgangspunkt der Theorie gerade darin besteht, zu betonen, dass keiner der Gegenstände des Diskurses außerhalb diskursiver Zusammenhänge in Erscheinung tritt:
174 Dies verweist natürlich auf Michel Foucaults Forderung, Diskurse als „Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“ (Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1973, 74). Siehe zu den Implikationen einer solchen Bestimmung die diskurstheoretischen Überlegungen in den Abschnitten 4.1 und 5.5 sowie den Epilog der Arbeit.
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,Religion‘ zw. Eurozentrismus und außereuropäischen ,Äquivalenten‘
Unsere Analyse verwirft die Unterscheidung zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praxen und behauptet, daß […] sich jedes Objekt insofern als ein Objekt eines Diskurses konstituiert, als kein Objekt außerhalb jeglicher diskursiver Bedingungen des Auftauchens gegeben ist […]. Die Tatsache, daß jedes Objekt als Objekt des Diskurses konstituiert ist, hat überhaupt nichts zu tun mit dem Gegensatz von Realismus und Idealismus oder damit, ob es eine Welt außerhalb unseres Denkens gibt. Ein Erdbeben oder der Fall eines Ziegelsteins sind Ereignisse, die zweifellos in dem Sinne existieren, daß sie hier und jetzt unabhängig von meinem Willen stattfinden. Ob aber ihre gegenständliche Spezifik in der Form von „natürlichen Phänomen“ oder als „Zornesäußerung Gottes“ konstruiert wird, hängt von der Strukturierung des diskursiven Feldes ab. Nicht die Existenz von Gegenständen außerhalb unseres Denkens wird bestritten, sondern die ganz andere Behauptung, daß sie sich außerhalb jeder diskursiven Bedingung des Auftauchens als Gegenstände konstituieren könnten.175
Entsprechend lässt sich selbstverständlich bereits hier erkennen, dass die im weiteren Verlauf der Arbeit präsentierten Skizzen und Überlegungen tatsächlich einen Perspektivenwechsel darstellen, dass sie also nicht versuchen, die von den bisher diskutierten Autoren aufgeworfenen Fragen direkt zu beantworten, sondern dass sie den Versuch darstellen, andere Fragen zu stellen. Andere Fragen, die möglicherweise die Konturen interessanterer Antworten erkennen lassen – was aber letztlich mit dem von mir verfolgten Interesse zusammenhängt und damit die Partikularität der hier präsentierten Überlegungen unterstreicht, die sicherlich nicht als die einzige mögliche Form der Frage nach ,Religion‘ verstanden werden können. Die Aufgabe, die sich nach der ausführlichen Diskussion vorhandener Positionen nun stellt, ist somit, das Problem des ,Eurozentrismus‘ des Religionsbegriffs und die Frage nach ,Äquivalenten‘ zwar als Leitfaden beizubehalten, die identifizierten Problemlagen aber auf andere Weise in den Blick zu nehmen. Um dies zu erreichen, werden im Folgenden zwei Perspektivenwechsel im Bezug auf diese Fragestellung vorgeschlagen. Nicht zuletzt die Linearität der schriftlichen Argumentation macht es dabei notwendig, einen Schritt nach dem anderen zu tun und die Fragestellung und auch das eigene ,Reden über Religion‘ erst im Verlauf der folgenden Kapitel zu transformieren.176 175 Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 1991, 143 – 145, Hervorhebung entfernt. Vgl. zu den grundlegenden Anliegen einer diskurstheoretischen Perspektive auch das nächste Kapitel. 176 Dies impliziert aber gleichzeitig, dass die Formulierungen der ersten Abschnitte der folgenden Kapitel möglicherweise den dann am Ende entwickelten und in der jeweiligen Zusammenfassung präsentierten Formulierungen zu widersprechen scheinen. Besonders gilt dies für die Rede vom ,europäisch-westlichen Religionsverständnis‘, welche die Interpretation nahe legt, dass ein solches isoliert von den außereuropäischen Situationen und Einflüssen beschrieben werden könne. Statt dessen müsste von ,Religion‘ aber als einem globalen Diskurs gesprochen werden, der bereits in seiner Genese nicht als ein rein ,europäischer‘ beschrieben werden kann.
Charakteristika des Religionsdiskurses u. Herstellung von ,Äquivalenten‘ 127
3.5.1 Erster Perspektivenwechsel: ,Religion‘ als Diskurs Der erste Perspektivenwechsel betrifft die bisher vorgestellten Positionen zur Frage nach außereuropäischen ,Äquivalenten‘ von ,Religion‘. Jeder der behandelten Autoren hat einerseits (wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß) die Herausforderungen einer kulturübergreifenden Verwendung des Religionsbegriffs und der Bestimmung der ,Bedeutung‘ dieses Begriffs, also dessen, was letztlich die Grundlage für die Feststellung einer solchen ,Äquivalenz‘ sein könnte, durchaus als Problem wahrgenommen und zum Teil auch theoretisch reflektiert. Andererseits wurde diese Frage nach dem ,Vorverständnis‘ von ,Religion‘ von keinem der Autoren wirklich hinreichend und ausführlich diskutiert. Vor dem Hintergrund der im ersten Teil entwickelten Unterscheidung von Religionstheorie und Diskurstheorie wurde zu zeigen versucht, dass die Autoren nicht nur eine dieser Perspektiven, sondern zumeist beide zugleich in Anspruch nehmen, und darüber hinaus in ihrer Argumentation oftmals von den Interessen der einen auf die der anderen Perspektive wechseln, ohne dies anzugeben, oder auch ohne dies als Problem überhaupt zu reflektieren. Gerade weil in den bisher vorhandenen Positionen diese beiden Optionen des Umgangs mit ,Religion‘ nicht auseinander gehalten werden, bleiben die Lösungsvorschläge unvollständig und die Argumentationen manchmal schwer nachvollziehbar. Das Problem liegt dabei nicht primär darin, dass die hier von mir vorgeschlagene Unterscheidung nicht beachtet wird – die ja auch nur ein möglicher Vorschlag ist –, sondern darin, dass im Laufe der Argumentation auf Erkenntnisse, Voraussetzungen und Ergebnisse beider Perspektiven gesetzt wird, und dadurch eine Vielzahl von Inkohärenzen in die Darstellung eingebracht werden. So kommt es dazu, dass die Autoren die Probleme, die sie für den Religionsbegriff konstatieren, im Rahmen ihrer Argumentation zum Teil selbst erzeugen. So betrachten die bisher behandelten Autoren die jeweils von ihnen identifizierten Charakteristika des europäisch-westlichen Religionsverständnisses fast ausschließlich als ,Einschränkungen‘ und zentrales ,Problem‘, also als Gründe dafür, warum dieses Verständnis und damit möglicherweise auch der Religionsbegriff selbst – zumindest in einer solchen ,eurozentristischen‘ Form – als Kategorie für eine kulturvergleichende Analyse ungeeignet sei. Ihre Beobachtungen zum von ihnen als europäisch-westlich verstandenen ,Reden über Religion‘ führen also vorrangig zur Identifizierung eines Problems. Denn Während ich im nächsten Kapitel somit noch von einem modernen Religionsdiskurs spreche, um damit eine bestimmte Konfiguration von Charakteristika zu betonen, wird im fünften Kapitel der Arbeit dann von einem globalen Religionsdiskurs die Rede sein. Diese Perspektive wird in den nächsten Kapiteln mit Rückgriff auf die dort diskutierten Überlegungen Lydia H. Lius detailliert entfaltet.
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– so zumeist die von den Autoren vertretene These – eine Wahrnehmung der ,Religion‘ und der ,Religionen‘ außerhalb Europas und ,hinter‘ dem westlichen Begriffsgebrauch werde durch diese dem europäisch-westlichen Religionsbegriff inhärenten Engführungen gerade verhindert. Aus Sicht der hier vorgeschlagenen Unterscheidung ist aber genau an dieser Stelle meist ein Wechsel des Frageinteresses des jeweiligen Autors erkennbar. Denn während dieses zunächst etwa der Frage galt, welche Begriffsgeschichte mit ,Religion‘ verbunden sei und in welcher Form dieses europäisch-westliche ,Reden über Religion‘ charakterisiert werden könne (ein eher diskurstheoretisches Interesse), erscheinen die identifizierten Beschränkungen dieses europäisch-westlichen Verständnisses nun in genau dem Maße als Problem, in welchem das Interesse nicht länger einer Rekonstruktion dieses ,Redens über Religion‘ gilt, sondern sich vielmehr dem (globalen) ,Phänomen Religion‘ zuwenden möchte, sich also als ein religionstheoretisches Interesse zu erkennen gibt. Zu beachten ist hier, dass es nicht primär um den Streit um das ,Wesen‘ eines solchen Phänomens zu gehen scheint – denn viele der behandelten Autoren würden sicherlich bestreiten, dass sie ein solches voraussetzen oder auf der Suche nach einem solchen seien. Die Unterscheidung trennt also nicht zwischen einem religionsphänomenologischen Interesse im klassischen Sinn auf der einen,177 und einem rekonstruktiv-historischen Interesse auf der anderen Seite, sowie ebenfalls nicht zwischen ,Theorie‘ und ,Empirie‘ (da, wie bereits im ersten Teil der Arbeit herausgestellt wurde, Theoriebildung notwendigerweise auf beiden Seiten stattfindet). Die hier in Anspruch genommene Unterscheidung verweist vielmehr auf die Frage, ob der Wissenschaftler selbst von ,Religion‘ reden möchte, oder ob er rekonstruieren möchte, wie andere Akteure von ,Religion‘ reden. Es wäre zumindest zu erwarten, den Übergang von der einen zur anderen Fragestellung jeweils klar zu markieren, oder – falls die hier zugrunde gelegte Unterscheidung abgelehnt wird – zumindest eine andere vorzuschlagen. Was wäre aber, wenn man die ,eigentümliche Charakteristik‘ (Tyrell) des Religionsbegriffs – konsequent diskurstheoretisch – letztlich nicht als Hinweis auf ein Problem, sondern viel eher tatsächlich als Hinweis auf zentrale Merkmale des modernen Religionsverständnisses (also dieser Form des ,Redens über Religion‘) verstehen würde? Auf diese Weise könnten der (u. a. von Tyrell und Matthes beschriebene) Gegensatz von ,Religion‘ im Singular und ,den Religionen‘ im Plural, sowie die damit einhergehende Pluralität konkreter ,Religionen‘ und unterschiedene (differenzierte) Einheit von ,Religion‘, als zwei zentrale Charakteristika des modernen, ,europäisch-westlichen‘ Religi177 Höchstens insofern, als dass man – aufgrund der Geschichte der Disziplin durchaus provokativ – die Frage stellen könnte, ob jene Autoren sich eben genau mit dieser Form des Interesses doch notwendigerweise weiterhin im Horizont einer solchen am ,Phänomen‘ orientierten Perspektive bewegen, jedoch ohne dies explizit zu reflektieren.
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onsverständnisses betrachtet werden.178 Diese Merkmale träten so nicht länger als Problem, sondern als Charakteristika ins Zentrum der Analyse. So verstanden böten die bisher behandelten Positionen durchaus wichtige Hinweise auf die Bestimmung der Charakteristika des Religionsbegriffs in seiner ,modernen Kontur‘ – Vorschläge, an die ich im Folgenden auch anknüpfen werde. Gleichzeitig werden manche der von den bisher behandelten Autoren identifizierten Merkmale oftmals sehr schnell und vielleicht zu generell als zentrale Bestandteile des europäisch-westlichen Religionsverständnisses bezeichnet. Die entsprechenden Autoren greifen dabei in ihrer Bestimmung (wie etwa Kollmar-Paulenz) auf Konnotationen des Religionsbegriffs aus der europäischen Neuzeit genauso wie aus der Spätantike zurück. Gerade durch eine solche Vorgehensweise wird es schwierig, zentrale Entwicklungen und Veränderungen in den Blick zu nehmen, die sich möglicherweise innerhalb dieses europäisch-westlichen Verständnisses ergeben haben. Selbstverständlich werden diese durchaus thematisiert, aber zumeist nur im Kontext einer Darstellung der Begriffsgeschichte, welche sich im Allgemeinen an den Religionsverständnissen bestimmter historischer Autoren orientiert, und welche trotz der Feststellung bedeutender Veränderungen letztlich von einer Kontinuität des Begriffs ausgeht, oder im Kontext dieser begriffsgeschichtlichen Rekonstruktionen zumindest keine weitergehende theoretische Diskussion anstrebt – oder sogar anstreben kann. Denn im Hinblick auf die Leistungen einer rein begriffsgeschichtlichen Vorgehensweise sind durchaus Zweifel daran angebracht, inwiefern aus dieser Perspektive zentrale Veränderungen bestimmter Begriffe tatsächlich in den Blick genommen werden können – besonders auch im Verhältnis zu ihrem ,gesellschaftlichen Kontext‘. Im Rahmen der begriffsgeschichtlichen Diskussion wird dieses Problem selbstverständlich bereits seit Jahrzehnten diskutiert, und dies auf einem theoretischen Niveau, welches die Religionsforschung für die Beschäftigung mit der Begriffsgeschichte von ,Religion‘ bisher nicht annähernd rezipiert hat. Gerade eine Auseinandersetzung mit diesen Fragen wäre aber notwendig, um über die Rekonstruktion der Religionsverständnisse einzelner zentraler Autoren hinaus gehen zu können, wie sie etwa Ernst Feil in seinem sehr umfangreichen und für eine klassische Begriffsgeschichte natürlich sehr wichtigen Werk vorgelegt hat.179 178 Bereits hier ist anzumerken, dass die Wahl der Begriffe Pluralität und Differenzierung nur einen ersten Vorschlag darstellen kann. Dies nicht zuletzt auch aus dem Grund, dass eine Pluralität von Religionen natürlich auch eine Differenzierung zwischen diesen einzelnen Religionen voraussetzt. Der Begriff Differenzierung wird aber – auch von den bisher diskutierten Autoren – zumeist im Bezug auf Unterscheidungen zwischen gesellschaftlichen Bereichen verstanden und wurde daher hier gewählt. Nicht nur aus systemtheoretischer Perspektive müsste man aber nicht nur von einer Differenzierung von ,Religion‘ nach außen, sondern dann auch von einer internen Differenzierung in einzelne ,Religionen‘ ausgehen und von dieser Beobachtung her die Begriffswahl vielleicht noch einmal überdenken. 179 Zu Feil vgl. die Literaturangaben in Fußnote 8 in diesem Kapitel.
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Auf den ersten Blick erscheint dieser Vorschlag eines Wechsels der Perspektive von einer ,Problemanzeige‘ auf ,Charakteristika‘ nicht als besonders überraschend oder neuartig, gerade weil sich – wie oben gezeigt – eine Auseinandersetzung mit den von mir im Folgenden als ,Charakteristika‘ beschriebenen Aspekten des Religionsbegriffs bereits bei verschiedenen der hier diskutierten Autoren zeigt. Sein eigentliches Potential zur Generierung neuartiger Fragestellungen entwickelt dieser Vorschlag daher auch erst, wenn man ihn tatsächlich mit einem Ernstnehmen einer diskurstheoretischen religionswissenschaftlichen Theoriebildung in Verbindung bringt. Denn nur wenn – wie im ersten Teil noch von sehr allgemeiner Warte aus vorgeschlagen – ,Religion‘, und damit auch ihre ,Charakteristika‘, aus diskurstheoretischer Perspektive tatsächlich nicht länger im Rahmen der Frage nach dem ,Phänomen Religion‘ verstanden werden und damit nicht länger die ,richtige‘ oder ,falsche‘ Charakterisierung eines Phänomens zur Debatte steht, lässt sich aus diskurstheoretischer Sicht fragen, ob die zwei genannten Merkmale möglicherweise als grundlegende Charakteristika des Religionsdiskurses verstanden werden können – oder spezifischer, wie ich im folgenden Kapitel vorschlagen werde: des modernen Religionsdiskurses.180 Eine solche Bestimmung stellt die Kategorie ,Diskurs‘ in den Mittelpunkt und setzt diese damit gleichzeitig voraus. Die Frage nach dem Religionsbegriff wird somit durch die Frage nach dem Religionsdiskurs ersetzt oder zumindest erweitert.181 In diesem Zusammenhang wird die all den bisher behandelten Ansätzen zugrundeliegende Frage nach ,dem westlichen Religionbegriff ‘ ersetzt durch die Frage nach der ,Einheit des Religionsdiskurses‘ bzw. dessen Regelmäßigkei-
180 Dies hängt – wie bereits mehrfach erwähnt – meiner Ansicht nach entscheidend mit der Form zusammen, in der ein diskurstheoretischer Ansatz nach ,Religion‘ fragt. Hier gibt es keine ,richtigen‘ und ,falschen‘ Religionsbegriffe, und anders als in einer religionstheoretischen Perspektive noch nicht einmal mehr heuristisch interessanter oder weniger interessantere theoretisch gebildete Religionsbegriffe, sondern nur noch die Frage nach der Charakterisierung des Religionsdiskurses. Siehe auch Teil I und besonders die Zusammenfassung von Kapitel 2. Gleichzeitig ist damit aber die Frage nach der Einheit des Religionsdiskurses durchaus weiterhin drängend und erfordert theoretische (diskurstheoretische!) Überlegungen. Siehe dazu besonders Kapitel 4 der vorliegenden Arbeit sowie den Epilog. 181 Vgl. hier etwa auch den bereits Ende der 1970er Jahre formulierten Hinweis Karlheiz Stierles, man solle von einer Begriffsgeschichte zu einer Diskurssemantik übergehen: „Obwohl Foucault den Zusammenhang zwischen der Geschichtlichkeit der Wörter und der Geschichtlichkeit der Diskurse nicht eigens aufgewiesen hat, legen seine Überlegungen es nahe, von einer historischen Wortsemantik zu einer historischen Diskurssemantik überzugehen“ (Historische Semantik und die Geschichtlichkeit der Bedeutung, in: R. Koselleck (Hg.), Historische Semantik und Begriffsgeschichte, Stuttgart 1979, 154 – 189, hier: 164). Siehe hierzu auch Maset, Michael, Diskurs, Macht und Geschichte. Foucaults Analysetechniken und die historische Forschung, Frankfurt am Main 2002, 161 – 202; Bödeker, Hans E. (Hg.), Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, Göttingen 2002; Andersen, Niels u., Discursive Analytical Strategies. Understanding Foucault, Koselleck, Laclau, Luhmann, Bristol 2003, 33 – 48.
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ten.182 Die zentrale Kategorie ,Diskurs‘ wird daher im nächsten Kapitel theoretisch stärker eingegrenzt. Dieses widmet sich zugleich der Frage nach der historischen Spezifizität der Charakteristika des Religionsdiskurses in dessen ,moderner Kontur‘.
3.5.2 Zweiter Perspektivenwechsel: Eine historische Analyse der Herstellung von ,Äquivalenten‘ von ,Religion‘ Im Anschluss an diesen Vorschlag, ,Religion‘ primär als einen bestimmten Diskurs zu verstehen, wäre dann allerdings zu fragen, inwieweit sich dieser Diskurs noch als ein ,europäisch-westlicher Diskurs‘ verstehen lässt. Denn, wie ja unter anderem Joachim Matthes beobachtet, habe sich ein europäischwestlich inspiriertes Religionsverständnis bereits weltweit ausgebreitet und den außereuropäischen Alltag in vielen Kontexten tiefgreifend durchdrungen.183 Besonders innerhalb seines eigenen Aufsatzes kann Matthes mit dieser Aussage nur ein Verständnis meinen, welches gerade durch die beiden von ihm identifizierten Merkmale von ,Religion‘ als ,Allgemeinkonzept ‘ und als ,Differenzkonzept ‘ charakterisiert ist. Wie ist im Kontext einer diskurstheoretischen Perspektive mit dieser Beobachtung einer ,Globalisierung‘ eines europäisch-westlichen Verständnisses von ,Religion‘ umzugehen? Auch im Hinblick auf diese Frage nehmen die hier behandelten Autoren die weltweite Ausbreitung eines europäisch-westlichen Religionsverständnisses primär als ein Problem wahr. Für Matthes folgt aus dieser Beobachtung, dass es uns als Religionsforscher vor allem darum gehen müsse, das ,Andere‘ der ,Anderen‘ trotz oder ,hinter‘ diesem mittlerweile verbreiteten und sogar von den offiziellen Repräsentanten der ,anderen Religionen‘ übernommenen europäisch-westlichen Religionsverständnis zu erfassen, um auf diese Weise – mit Tyrell – etwa die „,sozioreligiösen‘ Gegebenheiten Asiens“ beschreiben zu können, ohne ein solches europäischwestliches Religionsverständnis voraussetzen zu müssen und unsere Rekonstruktion von diesem verfälschen zu lassen. Neben der nicht unwichtigen Frage, ob sich ein solches Interesse ohne eine zumindest heuristisch verstandene Religionstheorie verfolgen lässt, welche aber als der Rekonstruktion zugrundeliegende Theorie die beschriebenen 182 In der Begrifflichkeit Foucaults, auf die im Folgenden zurückgegriffen wird, handelt es sich hier um die Frage nach den „Formationsregeln“ des Diskurses. Vgl. Foucault, Archäologie des Wissens, 58. Siehe auch: Diaz-Bone, Rainer, Kulturwelt, Diskurs und Lebensstil. Eine diskurstheoretische Erweiterung der Bourdieuschen Distinktionstheorie, Wiesbaden 22010, 84 – 89. 183 Vgl. aber etwa auch Ford Campany : „such discourses as these are analogous to the ,comparative religion‘ born in early modern Europe and by now exported around the globe“ (On the Very Idea, 314) sowie Kollmar-Paulenz, die, wie oben erwähnt, von einem „globalen Siegeszug“ und der „Standardisierung des Feldes ,Religion‘“ spricht (Ausdifferenzierung, 3).
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,Phänomene‘ zumindest mitkonstituieren, und damit – so würde ich behaupten – erneut nicht den Zugang zu dem eröffnen würde, was (in Matthes Formulierung) die nicht-christlichen ,Religionen‘ eigentlich ,ausmacht‘, zeigt sich hier ein viel grundlegenderes Problem des Verständnisses ,anderer‘ außereuropäischer Verhältnisse. Ohne an diesem Punkt die Problematik des ,Verstehens fremder Kulturen‘ ausführlich behandeln zu können, erscheint eine solche Auffassung der ,anderen Religionen‘ als ,ganz Andere‘, die erst von einem europäisch-westlichen – ihre ,eigentliche Wirklichkeit‘ verdeckenden – Verständnis von ,Religion‘ befreit werden müssen, mindestens als ebenso problematisch wie die Voraussetzung, dass die ,anderen Religionen‘ sich als ,ganz Gleiche‘ beschreiben lassen, dass wir also europäisch-westlich geprägte Begriffe und damit auch den Religionsbegriff problemlos für ihre Beschreibung verwenden könnten. Im Hintergrund steht hier die Frage nach der Möglichkeit der ,authentischen‘ Beschreibung außereuropäischer Verhältnisse im Rahmen wissenschaftlicher Rekonstruktionen, die aber – in dieser Weise gestellt – vom Wissenschaftler letztlich eine Entscheidung zwischen den beiden umstrittenen Positionen entweder der kulturrelativistischen Vorstellung völliger Inkommensurabilität zwischen Kulturen oder der tendenziell universalistischen Vorstellung der Möglichkeit ,authentischen‘ Verstehens erfordert. Da es sich hierbei aber – wie mir scheint – vorrangig um einen Streit zwischen zwei komplexen philosophischen Positionen handelt, wäre zu fragen, ob durch diesen Entscheidungszwang nicht eine Reihe alternativer religionswissenschaftlicher Fragestellungen verunmöglicht werden. Denn diese Problematik tritt letztlich in ähnlicher Weise auch bei der Frage nach ,Äquivalenten‘ des westlichen Religionsbegriffs in außereuropäischen Kulturen in den Mittelpunkt. Während die eine Position tendenziell davon ausgeht, dass die außereuropäischen Verhältnisse als das ,ganz Andere‘ zu bestimmen seien, dem ein europäisch-westliches Religionsverständnis nicht angemessen sei, und in welchem sich keinerlei ,Äquivalente‘ oder analoge Begrifflichkeiten entwickelt hätten, kritisiert die Gegenposition mit gutem Recht eine solche Feststellung, sucht nun ihrerseits nach ,Äquivalenten‘ und gibt dann vor, solche – zumindest ansatzweise – auch zu finden und damit die gegenläufige These zu widerlegen. Auch bei der Auseinandersetzung um mögliche ,Äquivalente‘ des Religionsbegriffs handelt es sich meiner Ansicht nach somit bisher um eine Fragestellung, die letztlich auf das Problem der Inkommensurabilität stösst und hier dann eine Entscheidung erfordert. Wenn eine solche Charakterisierung der bisher in der Debatte skizzierten Positionen zutrifft, scheint diese Problematik grundsätzlichere Fragen aufzuwerfen, als die an der Debatte beteiligten Autoren bisher berücksichtigt haben. Gleichzeitig läge die Herausforderung im Kontext der vorliegenden Arbeit dann nicht in einer Entscheidung zwischen den beiden Positionen oder in einer ausführlichen Diskussion und Argumentation für eine der beiden Optionen. Denn wenn es sich hierbei tatsächlich um unterschiedliche philosophische oder wissenschaftstheoretische Optionen handelt, dann wäre für
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eine solche Diskussion zumindest eine ausführliche Beschäftigung mit den philosophischen und erkenntnistheoretischen Debatten der letzten Jahrzehnte notwendig, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden kann und die vermutlich auch nicht zu einer ,Lösung‘ führen würde. Vielmehr ist somit zu untersuchen, ob es nicht eine alternative Möglichkeit gibt, mit den hier angesprochenen Problemen in der Frage nach ,Äquivalenten‘ des Religionsbegriffs umzugehen. Es ist hier daher ein zweiter Perspektivenwechsel zu fordern, hin zu einer Fragestellung, welche die von verschiedener Seite konstatierte Ausbreitung eines europäischen Religionsverständnisses nicht vorrangig als Problem betrachtet, sondern statt dessen als einen historischen Prozess, dessen Rekonstruktion und Analyse Aufgabe der Religionswissenschaft ist. Denn was in der Betrachtung der bisher diskutierten Positionen auffällt – neben der zirkulären Frage, wie man nach ,Äquivalenten‘ sucht, ohne zunächst ,Religion‘ zu bestimmen –, ist, dass die Frage nach ,Äquivalenten‘ und nach der Passung eines westlichen Religionsbegriffs auf außereuropäische ,Realitäten‘ trotz der vordergründig historischen Ausrichtung der Untersuchungen tendenziell ahistorisch gestellt wird. Gefragt wird also zunächst, ob es ,Äquivalente‘ gebe, oder ob der Begriff passe, und als Antwort wird eine relativ klare Bejahung oder Verneinung erwartet. Zur Beantwortung dieser Frage wird von den verschiedenen Autoren Material aus den unterschiedlichsten Zeiträumen und geographischen Situationen präsentiert, oftmals ohne die jeweiligen Begriffsverhältnisse in ihrem historischen Wandel, ihrer Dynamik und vor allem auch ihrer Verflechtung zu thematisieren. Implizit wird hier also von beiden Seiten in der Debatte um ,Äquivalente‘ von ,Religion‘ eine Selbstgenügsamkeit der jeweiligen Kulturen insofern vorausgesetzt, als dass es um das Aufweisen der Existenz oder der Nicht-Existenz eines Religionsbegriffs etwa in Asien geht, ohne dass dabei die zahlreichen Kontaktsituationen mitsamt ihrer historischen Genese und ihren durchaus tiefgreifenden Auswirkungen wahrgenommen und entsprechend schon in der Fragestellung berücksichtigt werden.184 Was hier also aus dem Blick gerät, ist die Möglichkeit, all dies tatsächlich als 184 Vgl. hierzu auch Liu, Lydia H., Introduction, in: dies. (Hg.), Tokens of Exchange. The Problem of Translation in Global Circulations, Durham 1999, 1 – 12, hier: 3: „The occasional pointing towards the ,other‘ histories and ,other‘ languages often amounts to little more than a synecdochal gesture, whereas the repeated, violent encounters between the civilizations of ,the East and the West‘ in the past few hundred years remind us that the fantasizing of an absolute other as if the two had never met is itself a form of violence.“ Eine stärker an der Rekonstruktion konkreter Begegnungen interessierte Perspektive beginnt sich erst in jüngster Zeit zu etablieren, weiterführende Beispiele dafür wären die neuere ausführlichere Studie von Kollmar-Paulenz, Lamas und Schamanen, sowie die Untersuchung von Meyer, Christian, Der moderne chinesische „Religionsbegriff“ zongjiao als Beispiel translingualer Praxis. Rezeption westlicher Religionsbegriffe und -vorstellungen im China des frühen 20. Jahrhunderts, in: P. Schalk (Hg.), Religion in Asien? Studien zur Anwendbarkeit des Religionsbegriffs, Uppsala 2013, 351 – 392.
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historische Frage zu behandeln und nicht als auf abstrakter Ebene zu beantwortende Frage nach der Existenz oder Nicht-Existenz von Religionsbegriffen oder nach der radikalen Andersartigkeit außereuropäischer Verhältnisse. Statt dessen würde es sich anbieten, das ,Reden von Religion‘ ebenso als eine historische Praxis anzusehen wie jeden anderen Begriffsgebrauch auch. In diesem Sinne sind es genau diese historischen Entwicklungen, welche in den Blick genommen werden müssten. Ziel einer solchen Perspektive wäre es, die ,Anderen‘ weder für ,ganz Andere‘ noch für ,ganz Gleiche‘ zu halten. Daher ist es weder hilfreich festzustellen, dass sich für ,den Religionsbegriff ‘ generell keine außereuropäischen ,Äquivalente‘ finden lassen, noch den Versuch zu unternehmen, diese These mit dem Verweis auf einzelne, dem Begriff (aber in welchem Verständnis?) teilweise entsprechende außereuropäische Begrifflichkeiten zu widerlegen. Vielmehr wäre es die Aufgabe einer historischen Analyse, zu untersuchen, wie die ,Anderen‘ im Kontext einer historischen Praxis zu ,Gleichen‘ gemacht werden, und wie sie sich gleichzeitig – als ebenso zentral zu berücksichtigender Teil dieser Prozesse – auch selbst zu ,Gleichen‘ machen. Von der bisher gestellten Form der Frage, welche suggeriert, dass über die Existenz oder Nicht-Existenz von ,Äquivalenten‘ von ,Religion‘ durch historische und begriffsgeschichtliche Betrachtung aus wissenschaftlicher Sicht entschieden werden kann, müsste dann zu einer Analyse von historischen Prozessen übergegangen werden, in denen ,Äquivalente‘ überhaupt erst (diskursiv) erzeugt werden. Die Frage wäre somit also weniger, ob es generell ,Äquivalente‘ von ,Religion‘ in außereuropäischen Sprachen gebe, sondern wie diese im Verlauf der Kontaktsituationen besonders der letzten circa 500 Jahre hergestellt wurden. Erst eine solche Formulierung der Frage würde es, etwa im Anschluss an die diskurs- und sprachtheoretischen Überlegungen, die besonders im Kontext des Poststrukturalismus in den letzten Jahrzehnten formuliert wurden, ermöglichen, das Programm einer radikalen Historisierung zu verfolgen, und damit unter anderem auch die Kategorie der ,Bedeutung‘ von Begriffen selbst zu historisieren, besonders insofern es eine sprachübergreifende Analyse betrifft, in welcher die Problematik der Übersetzung nicht nur vorausgesetzt, sondern selbst auch theoretisiert werden müsste.185 Wie ich im Folgenden vorschlagen werde, könnten auf diese Weise die das Kapitel bisher beschäftigenden Fragen aus einer anderen Perspektive für eine historische Analyse eröffnet werden, welche weder funktional argumentiert (und damit immer schon religionstheoretisch), noch die Frage nach ,Äquivalenten‘ tendenziell ahistorisch bejahen oder verneinen will, sondern vielmehr auf die Geschichtlichkeit des modernen und globalen Religionsdiskur185 Die hier vorgeschlagene Reformulierung der Fragestellung und der damit vorgeschlagene Perspektivenwechsel geht primär auf eine Auseinandersetzung mit den Arbeiten Lydia H. Lius zurück. Vgl. u. a. Liu, Lydia H., Translingual Practice. Literature, National Culture, and Translated Modernity. China, 1900 – 1937, Stanford 1995.
Zusammenfassung: Ein zweifacher Perspektivenwechsel
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ses und die damit verbundene Herstellung ,hypothetischer Äquivalenzen‘ im Kontext von translingual practice fokussiert.186 Jegliche Perspektive, die diese immer schon vorzufindende Herstellung von Äquivalenzen als eine historische Praxis ignoriert, stösst – wie Matthes – in letzter Konsequenz auf das Problem der Authentizität der Vertreter außereuropäischer ,Religionen‘, über die dann der Religionswissenschaftler gleichsam als ,Theologe‘ zu entscheiden hätte. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass bestimmte Akteure, oder im Extremfall sogar eine Mehrzahl von Akteuren diese in einer historischen Praxis entstandenen hypothetischen Äquivalenzen ablehnen oder als unzutreffend betrachten kann. Letztlich würde sich der Religionswissenschaftler hier aber, falls er sich für eine der Positionen entscheiden müsste, zum Richter über die Übereinstimmung einer bestimmten historischen Ausformung des Diskurses über (eine) ,Religion‘ mit derem ,eigentlichen Wesen‘ machen.
3.6 Zusammenfassung: Ein zweifacher Perspektivenwechsel und der weitere Aufbau der vorliegenden Arbeit Zu Beginn dieses Kapitels wurde die in der Auseinandersetzung zwischen diskurstheoretischen und religionstheoretischen Perspektiven zentrale Frage nach der Kategorie ,Religion‘ und der Möglichkeit ihrer Verwendung in außereuropäischen Kontexten sowie die damit einhergehende Frage nach der Existenz außereuropäischer ,Äquivalente‘ des Religionsbegriffs aufgegriffen. Anhand vorhandener Positionen wurde dabei gezeigt, welche Problemlagen entstehen, wenn nicht zwischen Diskurstheorie und Religionstheorie unterschieden wird, oder besser, welche Problemlagen sich in diesen Ansätzen gerade dann identifizieren lassen, wenn man versucht, konsequent zwischen diesen beiden Formen der Theoriebildung zu unterscheiden. Im vorherigen Abschnitt wurde dann versucht, erste Konturen eines Vorschlags aufzuzeigen, wie man mit der Frage nach ,Äquivalenten‘ alternativ umgehen könnte (oder sogar : müsste), falls man diese konsequent aus einer diskurstheoretischen Perspektive behandeln möchte. Da aber die meisten vorhandenen Ansätze, die sich dieser Frage widmen, ihre theoretischen Interessen nicht klar spezifizieren und damit auch ihre wissenschaftstheoretischen Positionen nicht explizieren, erscheinen – wie wir gesehen haben – bereits in der Formulierung der bisherigen Fragestellungen verschiedene Problemlagen. Denn natürlich lässt sich die Frage nach ,Äquivalenten‘ etwa auch als Frage nach ,funktionalen Äquivalenten‘ stellen, erfordert dann aber eine theoretische Bestimmung und damit die Konstruktion 186 Vgl. ebd. und die Diskussion ihrer Vorschläge in den folgenden Kapiteln, besonders Abschnitt 5.6.
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einer Beobachterposition. Damit wird aber die Frage nach der ,Existenz‘ von ,Äquivalenten‘ insofern bedeutungslos, als diese nicht unabhängig von der jeweils zugrunde gelegten Theorie beantwortet werden kann. Die Frage nach ,Äquivalenten‘ kann in der bislang vorherrschenden Form daher nur auf zwei Arten weiterverfolgt werden: Zum einen wenn weiterhin die reale Einheit eines Phänomens ,Religion‘ zugrunde gelegt wird, welche eine Entscheidung über mögliche Kandidaten für ,Äquivalente‘ des Religionsbegriffs erlauben würde. Zum anderen, wenn ein spezifisches Vorverständnis (d. h. eine Religionstheorie) expliziert wird.187 Die bisherige Form der Fragestellung scheint sich meiner Ansicht nach vor allem dadurch auszuzeichnen, dass sie einerseits von einer Suche nach begrifflichen ,Äquivalenten‘ ausgeht, andererseits aber letztlich all dies immer wieder an einem ,Phänomen Religion‘ abgleichen und mit diesem in Beziehung setzen möchte, und somit ständig zwischen diesen beiden Positionen oszilliert. Ihre Ergebnisse bleiben damit aber – letztlich auch gerade aus diesem Grund – im Hinblick auf beide Interessen relativ überschaubar.188 Wie bereits angedeutet, erscheint in der Entwicklung einer anders gelagerten Perspektive auf außereuropäische ,Äquivalente‘ von ,Religion‘ und den ,Eurozentrismus‘ des Religionsbegriffs eine ausführlichere Theoretisierung der in diesem Abschnitt angesprochenen Probleme unabdingbar. Hierzu sollen die in den folgenden Kapiteln präsentierten Überlegungen einen Beitrag leisten, indem anhand der hier vorgeschlagenen zwei Perspektivenwechsel in der Frage nach ,Äquivalenten‘ von ,Religion‘ und im Rückgriff auf die bereits im ersten Teil der Arbeit in den Mittelpunkt gestellten Motive der Unterscheidung von Religionstheorie/Diskurstheorie, der Globalität sowie der
187 Beide Optionen sind nicht ausgeschlossen, sie entsprechen aber nicht der hier präferierten diskurstheoretischen Perspektive und erzeugen darüber hinaus ihre eigenen komplexen Probleme, die ihrerseits von den bisherigen Ansätzen nur teilweise thematisiert wurden. 188 So lässt sich meiner Ansicht nach erkennen, dass etwa bei Kollmar-Paulenz (besonders in ihrem ersten, kürzeren Aufsatz) insofern ein Bruch in ihrer Fragestellung vorliegt, als dass sie die Kennzeichen der von ihr gesuchten Religionsbegriffe zwar durchaus ähnlich bestimmt wie dies im nächsten Kapitel mit den Begriffen Pluralität und Differenzierung versucht wird. Andererseits weist sie aber im Hinblick auf die von ihr tatsächlich untersuchten Begriffe darauf hin, dass sich für den mongolischen Kontext zum Beispiel weder die klare Unterscheidung und Abgrenzung zwischen ,Religionen‘, noch die Abgrenzungen von ,Religion‘ und ,Philosophie‘ aufrecht erhalten lassen. Damit müsste die Antwort auf die Frage nach ,Äquivalenten‘ von ihrer Seite allerdings eher negativ ausfallen. Dass Kollmar-Paulenz dann doch andere Schlüsse zieht, lässt sich meiner Ansicht nach nur dadurch erklären, dass sie eben nicht nach einem Religionsbegriff in der von ihr selbst definierten Form sucht, sondern dass vielmehr im Hintergrund eine nicht explizierte Religionstheorie steht, die ,Religion‘ auch dann noch im mongolischen Kontext beschreiben können möchte, wenn die vorher von ihr selbst bestimmten Charakteristika eines Religionsbegriffs nicht anzutreffen sind. Das Problem ist hier – um dies explizit zu wiederholen – nicht dieses Interesse an sich, sondern dass sich eine zunächst ,diskurstheoretisch‘ orientierte Perspektive letztlich doch als eine ,religionstheoretisch‘ interessierte erweist, bzw. dass hier eine solche Unterscheidung gar nicht erst versucht wird.
Zusammenfassung: Ein zweifacher Perspektivenwechsel
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Differenzierung von ,Religion‘ vier weitere Themenbereiche behandelt werden: ,Religion‘ als Diskurs (Kapitel 4): Wie ich versucht habe darzustellen, ist es wenig hilfreich wie die zu Beginn dieses Kapitels zitierten Autoren (Tenbruck, Graf, Kippenberg/von Stuckrad) davon auszugehen, dass es außerhalb Europas keinen „Religionsbegriff “ gegeben habe, solange nicht klarer ausgeführt wird, was mit dieser Aussage impliziert ist. Vielmehr müsste die Frage lauten, welche Charakteristika dieser Kategorie zugeschrieben werden, die sie von möglichen anderen diskursiven Kategorien unterscheiden. Im nächsten Kapitel wird der Vorschlag gemacht, ,Religion‘ als einen Diskurs zu verstehen, der in seiner Einheit durch bestimmte Charakteristika gekennzeichnet ist. Für die Bestimmung des modernen Religionsdiskurses wird u. a. im Anschluss an die Überlegungen von Matthes und Tyrell vorgeschlagen, Pluralität und Differenzierung heuristisch als zwei dieser Charakteristika zu verstehen. Zu Beginn des Kapitels wird die Diskursbegrifflichkeit selbst im ersten Abschnitt noch einmal diskutiert. Mit diesem Vorschlag erfolgt somit der erste der geforderten Perspektivenwechsel, indem von einer Wahrnehmung dieser Merkmale des ,Redens über Religion‘ als eines Problems auf deren Identifikation als Charakteristika des Religionsdiskurses umgestellt wird.189 Ein solcher Vorschlag könnte dazu dienen, die von Schlieter angesprochene, aber nicht ausführlich thematisierte Frage nach dem Vorverständnis sowie die damit verbundene Zirkularität in der Frage nach ,Äquivalenten‘ in anderem Licht erscheinen zu lassen. Denn aus diskurstheoretischer Sicht ist es nicht ausreichend, auf die Vielfalt ,westlicher Religionbegriffe‘ hinzuweisen und dann dennoch in der weiteren Diskussion immer wieder ein identifizierbares ,westliches Religionsverständnis‘ argumentativ in Anspruch zu nehmen. Vielmehr muss die Frage nach der ,Einheit‘ des Diskurses explizit thematisiert werden. Die Globalität des Religionsdiskurses (Kapitel 5): Es erscheint mir darüber hinaus heuristisch sinnvoll, diese Frage nach dem Religionsdiskurs, wie oben erläutert, gleichzeitig (und nicht erst in zweiter Linie) als Frage nach der Globalität dieses Diskurses aufzufassen. Nicht nur werden die von den bisher behandelten Autoren als Problem aufgefassten Kennzeichen des Religionsbegriffs als eben solches besonders im Hinblick auf die Übertragung des Begriffs auf einen weltweiten Rahmen und damit in dessen kulturübergreifender Verwendung gesehen. Vielmehr erscheint ihnen auch die bereits erfolgte ,Globalisierung‘ des Begriffs als zentrales Problem, welches sie allerdings nicht zu ausführlichen theoretischen Reflexionen führt. Auch hier schlage ich vor, von einer Betrachtung von Globalität als Problem auf eine
189 Inwieweit diese diskurstheoretisch als „Formationsregeln“ im Sinne Foucaults betrachtet werden könnten, und was dies aus einer konsequent diskurstheoretischen Sicht meiner Ansicht nach bedeutet, wird in den folgenden Kapiteln ausführlicher thematisiert.
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,Religion‘ zw. Eurozentrismus und außereuropäischen ,Äquivalenten‘
Betrachtung von Globalität als Charakteristikum, und damit als zu analysierendem Tatbestand umzustellen. Die Herstellung von hypothetischen ,Äquivalenten‘ von ,Religion‘ (Kapitel 5 und 6): Indem der moderne Religionsdiskurs als ein globaler Diskurs und damit als Resultat einer Verflechtungsgeschichte verstanden wird, tritt an die Stelle der Frage nach der ,richtigen‘ oder ,falschen‘ Repräsentation europäischer oder außereuropäischer ,Religionen‘ oder ,Realitäten‘ in diesem Diskurs die primär historisch orientierte Frage nach dessen Genealogie und Globalisierung. Im Rahmen einer diskurstheoretischen Perspektive wäre somit – wie ich im fünften Kapitel argumentieren werde – die Frage nach der Existenz oder Nicht-Existenz von ,Äquivalenten‘ von ,Religion‘ als eine historisch orientierte Frage nach der Herstellung von hypothetischen Äquivalenzen neu zu konzeptualisieren. Dies gibt auch einen Hinweis auf die Frage nach der ,Einheit‘ dieses globalen Diskurses über unterschiedliche Sprachen hinweg, denn mit diesem Perspektivenwechsel ist der Vorschlag verbunden, von einer begriffsgeschichtlich-etymologischen auf eine genealogische Perspektive umzustellen und die Frage nach möglichen ,Äquivalenten‘ damit nicht primär als Frage nach deren Identifizierung, sondern als Frage nach einer historischen Analyse von deren Herstellung im Kontext von translingual practice zu verstehen.190 Anhand von historischen Beispielbetrachtungen werden die bis hierhin erarbeiteten theoretischen Überlegungen dann im sechsten Kapitel mit der Formation des ,Buddhismus‘ im globalen Religionsdiskurs konfrontiert. Eine religionswissenschaftliche Differenzierungstheorie? (Kapitel 7): Die Auseinandersetzung mit vorhandenen Positionen in diesem Kapitel hat gezeigt, dass darüber hinaus eine Beschäftigung mit Differenzierungstheorie für die weitere Behandlung dieser Fragen unverzichtbar ist. Daher wird im siebten und letzten Kapitel die Frage nach Differenzierung aufgegriffen, welche im bisherigen Verlauf der Arbeit sowohl als Charakteristikum des Religionsdiskurses wie auch als zentrales theoretisches Problem bestimmt wurde. Hier ist eine ausführlichere theoretische Grundlegung erforderlich, denn fast alle der bisherigen Beiträge zur Debatte um ,Äquivalente‘ des Religionsbegriffs greifen auf differenzierungstheoretische Formulierungen zurück, meist ohne dies theoretisch weiter zu explizieren. Die Rede von einem ,Kultursegment‘, ,Feld‘, ,Bereich‘, oder ,System‘ von ,Religion‘ muss theoretisch klar spezifiziert werden. Gleichzeitig müssen die mit Differenzierung implizierten Unterscheidungen und Kategorien – so wird im Folgenden der Vorschlag lauten – selbst als historische Phänomene und somit nicht als Voraussetzung, sondern als ,umkämpfte Differenzierungen‘ verstanden werden. Aber welche Kämpfe werden hier ausgetragen, und in welchem Kontext – in welcher Arena – finden 190 Vgl. Liu, Translingual Practice, 40. Für eine ausführliche Erläuterung der Rede von „hypothetischen Äquivalenzen“ und translingual practice siehe die ausführliche Diskussion von Lius Vorschlägen in Kapitel 5 (besonders Abschnitt 5.6).
Zusammenfassung: Ein zweifacher Perspektivenwechsel
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sie statt? Hierauf wird das Kapitel mit dem Verweis auf die Notwendigkeit einer Theorie der Moderne, auf Differenzierungstheorie und auf Weltgesellschaftstheorie antworten. Zunächst wird jedoch im nächsten Kapitel im Rahmen des vorgeschlagenen Perspektivenwechsels die Frage nach der modernen europäischen Verwendungsweise von ,Religion‘ in den Blick genommen. Hier zeigt sich forschungspragmatisch allerdings – wie bereits erwähnt – ein entscheidendes Problem der Zirkularität. Denn zum einen soll es tatsächlich um ein europäisch-westliches Verständnis gehen, insofern die westlichen Anteile an der Genealogie dieses Verständnisses zentral und nicht zu leugnen sind. Zum anderen ist das Ziel der hier vorgeschlagenen Perspektive aber, dieses Verständnis von einem ,bloßen westlichen‘ abzulösen und somit den modernen Religionsdiskurs zugleich als einen globalen zu verstehen. Forschungspragmatisch ist aber eine solche globale Perspektive schwer einzulösen, nicht zuletzt, weil entsprechende Studien zum globalen Religionsdiskurs bisher nur vereinzelt existieren, und die Rekonstruktion seiner globalen Geschichte den hier versuchten Überblick, der auf einen heuristischen Vorschlag hinauslaufen soll, offensichtlich überfordern würde. Das nächste Kapitel wird daher trotz der Behauptung seiner konstitutiven globalen Dimension, zunächst die ,moderne Kontur‘ des Religionsdiskurses im westlichen Kontext beschreiben, um ein mögliches Vorverständnis der Charakteristika von ,Religion‘ explizit zu machen, das aber zugleich versucht, nicht auf eine positive und inhaltlich klar bestimmte Fassung des Religionsbegriffs zu verweisen. Die Frage nach der Globalität des modernen Religionsdiskurses sowie die aufgeworfene Frage nach der ,Herstellung von Äquivalenzen‘ werden dann im fünften Kapitel wieder aufgenommen.
4. Eine Heuristik der Charakteristika des modernen Religionsdiskurses Das vorherige Kapitel hat die Problemlagen erkennen lassen, denen sich die Religionswissenschaft aussetzt, wenn sie die Frage nach ,Religion‘ und nach ,Äquivalenten‘ des Religionsbegriffs auf jene Weise stellt, welche die bisher diskutierten Autoren vorgeschlagen haben. Die folgenden Kapitel der Arbeit werden nun versuchen, Konturen einer alternativen Fragestellung herauszuarbeiten. Wie bereits im Abschluss des vorherigen Kapitels angedeutet, wird es sich dabei nicht primär um den Versuch handeln, die Frage nach ,Äquivalenten‘ zu beantworten, sondern um den Vorschlag eines Perspektivenwechsels. Im Anschluss an die im ersten Teil der Arbeit präsentierte Unterscheidung von religionstheoretischen und diskurstheoretischen Perspektiven wird unter Bezug auf einige diskurstheoretische Figuren, Überlegungen zur Übersetzungsproblematik, sowie die soziologische Tradition der Differenzierungstheorie eine Perspektive entwickelt, welche im Bezug auf ,Religion‘ konsequent diskurstheoretisch zu argumentieren versucht, und damit alternative Wege der Analyse aufzeigen kann. Was jedoch heißt es, diskurstheoretisch die Frage nach ,Religion‘ zu stellen? Der hier vorgeschlagene Perspektivenwechsel orientiert sich zunächst an den diskurstheoretischen und diskursanalytischen Überlegungen, die sich im Werk Michel Foucaults und besonders in dessen früher ,archäologischer‘ Phase1 finden.2 Viele weitere für den hier diskutierten Zusammenhang durchaus bedeutsame diskurstheoretische Vorschläge, welche die angedeutete Perspektive sinnvoll ergänzen oder auch grundlegend transformieren könnten, werden hier, nicht zuletzt um der Klarheit der Argumentation willen, vorläufig ausgeblendet.3 Gleiches gilt auch für die späteren Anliegen der 1 Siehe zu dieser Abgrenzung und ihrer gleichzeitigen Problematisierung Raffnsøe, Sverre et al., Foucault. Studienhandbuch, Stuttgart 2010, 58 – 59. 2 Zu der Frage, inwiefern das dort zu findende Verständnis von ,Diskurs‘ kein einheitliches ist (auch bereits in der „Archäologie des Wissens“ nicht) siehe unter den zahlreichen vorhandenen Studien etwa Reisigl, Martin, Sprachkritische Beobachtungen zu Foucaults Diskursanalyse, in: B. Kerchner (Hg.), Foucault: Diskursanalyse der Politik. Eine Einführung, Wiesbaden 2006, 85 – 103. 3 So etwa die diskurstheoretischen Entwürfe von Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 1991. Siehe ebenfalls Laclau, Ernesto, Was haben leere Signifikanten mit Politik zu tun?, in: ders., Emanzipation und Differenz, Wien 2002, 65 – 78; ders., On Populist Reason, London 2005. Für eine Nutzbarmachung dieses Ansatzes im Kontext der Religionswissenschaft siehe Bergunder, Michael, Was ist Esoterik? Religionswissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Esoterikforschung, in: M.
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Eine Heuristik der Charakteristika des modernen Religionsdiskurses
Foucaultschen Theoriebildung selbst, besonders für die Frage nach der Bedeutung von Wissen/Macht in der Rekonstruktion von Diskursen sowie das Stichwort der ,Gouvernementalität‘. Anstatt die Komplexität all dieser von Foucault erst im Laufe seines umfangreichen Werks entwickelten Kategorien und Analyseperspektiven von Anfang an einbinden zu wollen, steht hier vielmehr die Frage im Mittelpunkt, was es für eine religionswissenschaftliche Perspektive bedeutet, ,Religion‘ als ,Diskurs‘ zu betrachten. Das Kapitel beginnt mit einem einleitenden Abschnitt, der die Kategorie ,Diskurs‘ aus theoretischer Sicht in den Blick nimmt (4.1), bevor sich der Hauptteil dem angedeuteten Perspektivenwechsel widmet und den Religionsdiskurs über bestimmte Unterscheidungen der Religion als dessen zentrale Charakteristika zu bestimmen versucht. Um sich dieser Frage anzunähern, wird das Auftauchen der ,Religion‘ anhand bereits vorliegender begriffsgeschichtlicher Studien im Überblick dargestellt (4.2). Im Anschluss daran wird die Pluralität der ,Religion‘ als ein erstes der in der vorliegenden Arbeit heuristisch vorgeschlagenen Charakteristika des Religionsdiskurses bestimmt (4.3). Dieses lässt sich im Bezug auf einen grundlegenden Wandel von ,Religion‘ als Klassifikationsschema beschreiben. Während diese in der fru¨ hen Neuzeit noch über eine vierfache Einteilung konzipiert wird (4.3.1), erscheint im modernen Diskurs die Klassifikation einer Pluralität abgegrenzter ,Religionen‘ (4.3.2). Die Spezifik des modernen Religionsdiskurses lässt sich jedoch erst in der Kombination mit dem zweiten hier im Mittelpunkt stehenden Charakteristikum, der Differenzierung der ,Religion‘ bestimmen (4.4). Im Anschluss an Timothy Fitzgerald wird ,Religion‘ zunächst in seiner Beziehung zu einer Reihe anderer Kategorien verortet (4.4.1), bevor in Anknüpfung an Überlegungen Talal Asads die grundlegende Unterscheidung des ,Religiösen‘ und des ,Säkularen‘ in den Blick genommen wird (4.4.2). Eine Zusammenfassung schließt das Kapitel ab und präsentiert den Vorschlag einer Heuristik, in der die Einheit des modernen Religionsdiskurses über die zwei zentralen Charakteristika der Pluralität und Differenzierung bestimmt wird (4.5).
4.1 Diskurstheoretische Vorbemerkungen: Die Einheit des Diskurses und seine Regelmäßigkeiten Der in der Zusammenfassung des vorhergehenden Kapitels vorgeschlagene Perspektivenwechsel hin zu Charakteristika des modernen Religionsdiskurses macht den in der vorliegenden Arbeit bereits vielfach verwendeten Begriff ,Diskurs‘ zu einem zentralen analytischen Konzept. Es ist somit erforderlich, Neugebauer-Wölk (Hg.), Aufklärung und Esoterik. Rezeption – Integration – Konfrontation, Tübingen 2008, 477 – 507; ders. Was ist Religion? Kulturwissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Religionswissenschaft, Zeitschrift für Religionswissenschaft 19/1 – 2, 2012, 3 – 55.
Diskurstheoretische Vorbemerkungen
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in dem nun folgenden Abschnitt einige vorläufige Überlegungen zum hier zugrunde gelegten Verständnis dieser Kategorie vorzubringen. Auch wenn eine ausführliche Auseinandersetzung mit diskurstheoretischen Grundlagen hier nicht geleistet werden kann, soll mit der Frage nach der Einheit des Diskurses eine entscheidende Problematik in diesem Kontext besonders in den Mittelpunkt gestellt werden. Indem ich von einem ,Religionsdiskurs‘ spreche, möchte ich zunächst allgemein auf das weit verbreitete ,Reden über Religion‘ und auf die in diesem zu erkennenden ,Regelmäßigkeiten‘ verweisen. In diesem Sinne spricht Achim Landwehr davon, dass sich der Einsatz des Begriffs ,Diskurs‘ immer „auf Untersuchungen des Sprach- und Zeichengebrauchs“ richtet, mit der Absicht, „formale oder inhaltliche Strukturierungen aufzudecken“.4 Somit dient der Begriff ,Diskurs‘ im Rahmen der vorliegenden Arbeit dazu, als Zielpunkt der religionswissenschaftlichen Analyse nicht die eigene analytische Verwendung bestimmter Begriffe, namentlich des Begriffs ,Religion‘, zu verstehen – denn eine solche Verwendung von ,Religion‘ als analytischer Kategorie würde eine religionstheoretische Verortung voraussetzen.5 Statt dessen soll es darum gehen, auf die vielfältigen Verwendungen von ,Religion‘ in sozialen Kontexten zu achten, und zu versuchen, diese zu rekonstruieren, ohne diese Verwendungen gleichzeitig an einem eigenen Verständnis des ,Phänomens Religion‘ zu messen. Es interessiert damit eben der ,Diskurs‘ um ,Religion‘, ohne die Frage zu stellen – oder letztlich konsequenter Weise im Rahmen einer solchen Diskurstheorie: ohne die Frage stellen zu können –, welche ,Realität‘ von ,Religion‘ sich hinter diesem Diskurs befindet, oder von ihm verdeckt wird. Der Diskurs ist somit im Rahmen einer solchen diskurstheoretischen Perspektive die Realität von ,Religion‘. Und als solche diskursive Realität ist ,Religion‘ hoch bedeutsam, nicht zuletzt als ein „neuzeitlicher Grundbegriff“.6 4 Landwehr, Achim, Historische Diskursanalyse, Frankfurt am Main 2008, 15 – 16. 5 Vgl. Kapitel 2 der vorliegenden Arbeit. 6 Vgl. Feil, Ernst, Religio. Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs vom Frühchristentum bis zur Reformation, Göttingen 1986. Die Frage nach dem Realitätsstatus und der ,Existenz‘ von Diskursen wird im Kontext diskurstheoretischer Ansätze immer wieder gestellt. Siehe u. a. Landwehr, Historische Diskursanalyse, 20 – 21. Eine ausführliche Diskussion dieser Frage muss an dieser Stelle ausbleiben. Einerseits ist es offensichtlich, dass eine wissenschaftliche Beschreibung eines bestimmten Diskurses diesen zumindest mitkonstituiert und ihn nicht nur rekonstruiert. Nicht zuletzt aus genau diesem Grund ist die Unterscheidung von Diskurstheorie und Religionstheorie, wie bereits erwähnt, keine Unterscheidung zwischen Theorie und Empirie, sondern eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen der Theoriebildung. Letztlich ist, wie hier und im nächsten Kapitel zu erkennen sein wird, auch die von mir vorgeschlagene Heuristik zur Beschreibung des modernen Religionsdiskurses ein theoretischer Vorschlag und damit keine direkte Abbildung der ,Realität‘, auch nicht der ,diskursiven Realität‘. In diesem Sinne formuliert etwa Reiner Keller: „Der Begriff ,Diskurs‘ bezeichnet dann kein innerweltliches ontologisches ,Objekt‘, sondern einen zu Forschungszwecken hypothetisch unterstellten Strukturierungszusammenhang, der verstreuten Aussageereignissen zugrunde liegt“ (Wissen oder Sprache? Für eine wissensanalytische Profilierung der Diskursforschung, in: F.X. Eder (Hg.),
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Eine Heuristik der Charakteristika des modernen Religionsdiskurses
Wie von Landwehr bereits angedeutet, verweist der Begriff ,Diskurs‘ über die Aufmerksamkeit für die Verwendung von Sprache hinaus allerdings auch auf ein weitergehendes theoretisches Interesse, dessen zentrales Kennzeichen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts darin bestand, über den Diskursbegriff sprachtheoretische Überlegungen mit gesellschaftstheoretischen Modellierungen zu verbinden.7 Die heutige Virulenz der Diskursbegrifflichkeit und das Konzept einer ,Diskursanalyse‘ entsteht im Kontext der zugespitzten Frage danach, „wie wir überhaupt etwas wissen können und wie sich Sicherheit über die eigene Wirklichkeit gewinnen lässt.“8 Mit dem Begriff des ,Diskurses‘ ergibt sich somit eine Möglichkeit, die Ergebnisse dieser erkenntnistheoretischen und wissenschaftsphilosophischen Debatte für die historische Analyse verfügbar zu machen. Denn als deren Ergebnis lasse sich – so Landwehr – formulieren, dass Wirklichkeit nicht einfach die ,Welt‘ dort draußen ist, die unabhängig von unserem Wollen existiert, und dass Wissen nicht die unter hohem Aufwand aufgedeckten Geheimnisse sind, die uns diese Wirklichkeit verständlich werden lassen. Vielmehr sind Wissen und Wirklichkeit Ergebnisse sozialer Konstruktionsprozesse, das heißt Gesellschaften statten ihre Umwelt mit bestimmten Bedeutungsmustern aus, erkennen bestimmte Sichtweisen auf diese Umwelt als Wissen an (während andere als Aberglaube oder Unsinn abqualifiziert werden) und objektivieren Elemente zu einer Wirklichkeit, der man nicht mehr ansehen kann, dass sie historisch entstanden und alles andere als naturnotwendig ist.9
Mit der Frage danach, „wie im historischen Prozess […] Formen des Wissens und der Wirklichkeit ausgebildet wurden“,10 tritt besonders die Rolle der Sprache in den Mittelpunkt. Denn die privilegierte Bedeutung, die der Sprache
7 8 9 10
Historische Diskursanalysen. Genealogie, Theorie, Anwendungen, Wiesbaden 2006, 51 – 69, hier: 59). Andererseits ließe sich durchaus auch behaupten, dass die von Foucault versuchte ,positive‘ Beschreibung doch einen Versuch darstelle, die die Diskurse tatsächlich strukturierenden Regelmäßigkeiten aufzufinden. Dies macht diese Frage sehr viel komplexer, als sie sich auch innerhalb der sich im Kontext der Diskursanalyse verortenden Ansätze oftmals darstellt. Es wäre zu überlegen, ob diese Problematik im Rahmen der Diskurstheorie möglicherweise ähnlich gelagert ist wie in der Systemtheorie, wo der Streit um die Frage „Gibt es Systeme?“ ähnlich heftig geführt wurde (vgl. etwa Nassehi, Armin, Wie wirklich sind Systeme? Zum ontologischen und epistemologischen Status von Luhmanns Theorie selbstreferentieller Systeme, in: W. Krawietz/M. Welker [Hg.], Kritik der Theorie sozialer Systeme. Auseinandersetzungen mit Luhmanns Hauptwerk, Frankfurt am Main 1993, 43 – 70). Dies führt zu der Frage, ob in Foucaults Ansatz nicht doch mehr an Provokation steckt, als in der ,normalisierten‘ Form der Rezeption der Diskursanalyse meist verhandelt wird. Siehe dazu auch den Epilog der vorliegenden Arbeit. Vgl. Schalk, Helge, Diskurs. Zwischen Allerweltswort und philosophischem Begriff, Archiv für Begriffsgeschichte 40, 1997/1998, 56 – 104, hier: 56, 92 – 102. Vgl. auch Landwehr, Historische Diskursanalyse, 16. Ebd., 18. Ebd., 16 – 17. Ebd., 19.
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im Rahmen diskurstheoretischer Entwürfe zukommt, ist auf die zentrale Rolle dieses Mediums in der Konstitution gesellschaftlicher Wirklichkeit zurück zu führen.11 Indem Sprache nicht länger als ein neutrales Medium verstanden wird, welches auf die ,Wirklichkeit‘ nur verweist, tritt ihre konstruktive Kraft in den Fokus: „Sprache ist vielmehr Handlung, und zwar Handlung, die Welt erschafft.“12 Diskurse sind somit zu verstehen als institutionalisierte Formen des Sprechens, deren Regeln und Funktionsmechanismen zu ermitteln sind. Sie interessieren somit in erster Linie als Praktiken und nicht als Objekte.13 Die „Grundannahme, dass Wirklichkeit im wesentlichen sprachlich vermittelt ist“,14 ist allerdings keine Überzeugung, die nur im Rahmen diskurstheoretischer Überlegungen eine Rolle spielt. Was diese jedoch von anderen sprachtheoretisch basierten Entwürfen oftmals unterscheidet, ist ihre Verbindung mit einem im weitesten Sinne gesellschaftstheoretischen Interesse.15 So wird die Frage nach der Produktion von Wirklichkeit über den Begriff ,Diskurs‘ mit der zentralen Rolle der Sprache in diesem Prozess verbunden, die eben nicht ,nur Sprache‘ oder auch ,nur Sprachspiel‘ ist, sondern die das, was man unter ,Realität‘ versteht, erst hervorbringt. Es ist dann gerade die Leistung des Begriffs ,Diskurs‘ – so würde ich in Anknüpfung an den oben zitierten Helge Schalk hervorheben –, stärker als in anderen sprachtheoretisch basierten Ansätzen darauf hinzuweisen, dass diese Hervorbringung auch gesellschaftstheoretisch relevant ist, dass also auch gesellschaftliche ,Strukturen‘ (wie auch immer man diese theoretisch beschreiben will) von Diskursen hervorgebracht werden. Diese gesellschaftstheoretische Frage wird vor allem im siebten Kapitel der vorliegenden Arbeit aufgenommen und muss hier zunächst – zumindest in ihrer expliziten Form – zurückgestellt werden.16 Auch wenn ich also zunächst von einem ,Religionsdiskurs‘ spreche, ist damit noch nicht ausreichend das Verhältnis zwischen dem Begriff ,Religion‘ und dem Diskurs ,Religion‘ geklärt. Denn dessen Betrachtung kann gerade nicht in einer reinen Begriffsgeschichte aufgehen, sondern erfordert eine darüber hinausgehende Theoretisierung. Wie Achim Landwehr betont, impliziert der Diskursbegriff – zumindest in einer Verwendung, die an die Arbeiten Michel Foucaults anknüpft – die Vorstellung, „dass das Wissen zu einer gegebenen Zeit und innerhalb einer gegebenen Kultur eine ,wohldefinierte Regelmäßigkeit‘ [Foucault] besitzt.“17 11 Vgl. ebd., 22. 12 Ebd., 23. Siehe zum Verhältnis von Diskurstheorie und linguistic turn auch Sarasin, Philipp, Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, in: ders., Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt am Main 2003, 10 – 60. 13 Vgl. Landwehr, Historische Diskursanalyse, 68. 14 Ebd., 23. 15 Vgl. auch ebd., 47 – 55. 16 Implizit ist sie im Folgenden durchaus weiterhin Thema, da die im Weiteren angesprochene Frage nach ,Regelmäßigkeiten‘ der Diskurse letztlich ebenso die Frage nach ,Strukturen‘ betrifft. 17 Landwehr, Achim, Diskurs und Diskursgeschichte, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 2010, http://
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Eine Heuristik der Charakteristika des modernen Religionsdiskurses
Wenn etwas als ein Diskurs bestimmt wird, ist somit impliziert, dass dieses ,Reden‘ letztlich, trotz der auf den ersten Blick zu erkennenden widersprüchlichen oder extrem heterogenen Aussagen, eine Regelmäßigkeit aufweist, die sich nicht zuletzt trotz der damit verbundenen höchst komplexen und zum Teil widersprüchlichen Begriffsgeschichten beschreiben lässt.18 Die Einheit eines Diskurses ist für Foucault daher durch die Einheit einer „diskursiven Formation“ bestimmt,19 die sich dann identifizieren lässt, „wenn eine bestimmte Anzahl von Äußerungen in einem ähnlichen System der Streuung beschrieben werden kann, und wenn sich für die Gegenstände des Diskurses eine gewisse Regelmäßigkeit feststellen lässt.“20 Da aber eine solche Beschreibung eines Diskurses offensichtlich einen historischen Index besitzt und den Diskurs zu einer bestimmten gegebenen Zeit beschreibt, ergänzt Foucault diese Frage nach der „Formation“ des Diskurses, also nach der „Existenz von Formationsregeln für alle seine Objekte […], für alle seine Operationen […], für alle seine Begriffe […], für alle seine theoretischen Optionen […]“, um den ebenso wichtigen Aspekt der „Transformation“.21 Hierunter lässt sich letztlich die Frage nach der Möglichkeit der Beschreibung des Wechsels von einer diskursiven Formation zu einer anderen verstehen. Wie bereits im letzten Kapitel angesprochen, kann es als Kennzeichen einer diskurstheoretischen Perspektive verstanden werden, dass „sich jedes Objekt insofern als ein Objekt eines Diskurses konstituiert, als kein Objekt außerhalb jeglicher diskursiver Bedingungen des Auftauchens gegeben ist […].“22 Die entscheidende Frage, die Foucault in seinem Buch Archäologie des Wissens zu beantworten versucht, ist – was von vielen Interpreten nicht ausreichend betont wird – die Frage nach der Einheit des Diskurses bzw. einer diskursiven Formation. Während er durchaus auch ausführlich konkrete Aspekte der Analyse eines Diskurses thematisiert, ist sein entscheidendes An-
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docupedia.de/docupedia/images/5/52/Diskurs_und_Diskursgeschichte.pdf (archiviert unter http://www.webcitation.org/6SmLxma2j), 3. Die Einfügung stammt von Landwehr. Siehe auch Foucault, Michel, Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1973, 88 – 93. Vgl. ebd., 33 – 47, 48 – 60. Landwehr, Historische Diskursanalyse, 68. Foucault, Michel, Antwort auf eine Frage, Linguistik und Didaktik 1/3, 1970, 228 – 239, hier: 231 – 232. Laclau/Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie, 143 – 145. Diese Feststellung führt allerdings über die frühen Überlegungen Foucaults hinaus (oder spitzt zumindest einen bei ihm nicht klar entschiedenen Sachverhalt zu). Laclau und Mouffe wollen damit die Unterscheidung von diskursiven und nicht-diskursiven (oder außer-diskursiven) Praktiken überwinden. Damit ist allerdings nicht gleichzeitig gesagt, dass über eine ,nicht-diskursive Realität‘ eine Existenzaussage getroffen wird, wie bereits im letzten Kapitel betont wurde. Ich schließe mich im Folgenden Ernesto Laclau und Chantal Mouffe an, da es meiner Ansicht nach erst diese Überwindung erlaubt, die radikale Herausforderung zu erkennen und weiterzudenken, die Foucault über seinen Begriff des Diskurses und die damit verbundenen Analysen vorgelegt hat. Dennoch würde ich behaupten, dass für die in diesem Kapitel verhandelte Frage nach der Einheit des Diskurses dieser Streit erst in zweiter Linie eine Rolle spielt und diese daher zunächst auch unabhängig von diesem Problem gestellt werden kann.
Diskurstheoretische Vorbemerkungen
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liegen das Problem, wie sich ein Diskurs „individualisieren“ lässt, also was es dem ,Archäologen‘ erlaubt, in der Beschreibung einer diskursiven Formation deren Einheit zu behaupten.23 Die Einheit, die eine solche Individualisierung erlaubt, findet sich in den „Formationsregeln“, welche der „Regelmäßigkeit“ der diskursiven Formation zugrundeliegen.24 Diese enge Verbindung des Begriffs des Diskurses und besonders der Frage nach seiner Einheit mit der Frage nach den Regelmäßigkeiten des in den Blick genommenen Materials betont auch Dominik Schrage: „Diskurs ist hier auf der Ebene der Anwendung zunächst nicht mehr als ein in sich bedeutungsloser Begriff, Platzhalter für die spezifische Regelhaftigkeit des untersuchten Materials.“25 Daher sollen – wie bereits in der Zusammenfassung des letzten Kapitels angedeutet – vor allem zwei Punkte festgehalten werden: So impliziert ein Verständnis von ,Religion‘ als Diskurs, dass dieser als eine Praktik behandelt wird, die systematisch die Gegenstände bildet, von denen sie spricht.26 Dieser Aspekt wird die weiteren Überlegungen in diesem und den folgenden Kapiteln begleiten. Vorrangig steht nun jedoch zunächst ein zweiter entscheidender Aspekt der Kategorie des Diskurses im Mittelpunkt: Die Regelmäßigkeit des ,Redens über Religion‘, welche dessen Einheit ausmacht. Die Frage nach dem Diskurs ,Religion‘ wird somit als Frage nach dessen Charakteristika, d. h. nach den Regelmäßigkeiten dieses Diskurses verstanden.27 Daraus folgt, dass es sich bei den im Folgenden vorgebrachten Überlegungen nicht um eine ,Begriffsgeschichte‘ handeln kann, und auch nicht um die Frage, wo und auf welche Weise bestimmte Formen des ,Redens über Religion‘ zum ersten Mal auftreten, oder welchem Autor sie zugeordnet werden können. Die Frage nach dem ,Ursprung‘ und der Herkunft des Religionsbegriffs steht daher nicht im Zentrum.28 Ebenso steht hier auch kein 23 Vgl. hierfür zusammenfassend auch Foucault, Antwort auf eine Frage, besonders S. 231 – 232. 24 Mit dieser Frage nach der die Einheit des Diskurses bestimmenden Regelmäßigkeit, die Foucault über dessen „Formationsregeln“ bestimmt, scheint mir ein radikaler Perspektivenwechsel in der Konstitution historischer ,Gegenstände‘ verbunden zu sein. Vgl. hierzu auch den Epilog der vorliegenden Arbeit. 25 Schrage, Dominik, Was ist ein Diskurs? Zu Michel Foucaults Versprechen, ,mehr‘ ans Licht zu bringen, in: H. Bublitz et al. (Hg.), Das Wuchern der Diskurse. Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults, Frankfurt am Main 1999, 63 – 74, hier : 74. 26 Vgl. Foucault, Archäologie des Wissens, 74. 27 Der Foucaultsche Begriff der „Formationsregeln“ wird hier nicht explizit übernommen, sondern im weiteren Verlauf der Arbeit nur an einigen Stellen als kompatibler Begriff zur hier versuchten Analyse angeführt, da es in der vorliegenden Arbeit nicht primär um eine direkte Anwendung des Foucaultschen Instrumentariums geht. Vielmehr geht es zunächst vor allem um die Anknüpfung an die Foucaultsche Intuition, dass die Frage nach der Einheit eines Diskurses die zentrale Herausforderung für eine diskurstheoretische Perspektive darstellt. 28 Vielmehr könnte man mit Foucault fordern, dass die „Chimäre des Ursprungs“ vertrieben werden müsse. Vgl. Foucault, Michel, Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: ders., Von der Subversion des Wissens, hg. von. W. Seittner, Frankfurt am Main 1987, 69 – 90, hier: 73. Michael
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Eine Heuristik der Charakteristika des modernen Religionsdiskurses
eigenes Religionskonzept am Anfang. Die Frage ist statt dessen: Wo und vor allem wie wurde und wird über ,Religion‘ gesprochen, und welche Regelmäßigkeiten lassen sich hier erkennen, die es überhaupt erst ermöglichen, in diesem Material einen Diskurs zu ,individualisieren‘? Die im Folgenden vorgeschlagene Bestimmung der Regelmäßigkeiten des frühneuzeitlichen und vor allem des modernen Religionsdiskurses sind allerdings auch insofern nur als ein erster und vorläufiger Vorschlag zu verstehen, da sie sich, wie leicht erkennbar sein wird, nicht selbst aus einer tatsächlichen Analyse des Materials des Diskurses, also dessen ,Positivität‘ ergeben, sondern eine Re-Interpretation der Beschreibungen, Rekonstruktionen und Analysen anderer Autoren darstellen und diese höchstens in manchen Punkten umdeuten oder anders fokussieren. Es handelt sich damit um ein aus Sicht der Diskursanalyse sicherlich problematisches Vorgehen, das besonders der Arbeitsweise Foucaults widerspricht. Seine Rechtfertigung findet es daher auch nur in seiner pragmatischen Stellung im Rahmen der vorliegenden Arbeit, die eine vorläufige Entfaltung einer alternativen Perspektive möglich machen soll. Gerade weil es hier um die Frage nach einem ,globalen Diskurs‘ geht, ist eine Analyse des ,Archivs‘ in der von Foucault gewünschten Form allerdings letztlich unmöglich,29 auch wenn für eine diese hier vorgelegten vorläufigen Vorschläge stützende Analyse eine umfangreiche Beschäftigung mit dem Material sicherlich unverzichtbar wäre. Die hier versuchte Herangehensweise an die Charakteristika des modernen Religionsdiskurses ist aber nicht zuletzt auch deshalb von Bedeutung, weil die verschiedenen Autoren, die sich bisher mit der Geschichte des modernen Religionsbegriffs und der Genealogie des Religionsdiskurses auseinandergesetzt haben, teilweise recht unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt haben und ganz unterschiedliche geographische Regionen oder Zeiträume als die entscheidenden Geburtsorte moderner Vorstellungen von ,Religion‘ erachten. Auch wenn jede Setzung eines Anfangspunktes einer historischen Darstellung eine gewisse Willkür beinhaltet, ist aus der im Folgenden vorgenommenen Sekundärinterpretation dennoch ersichtlich, dass es als problematisch betrachtet werden muss, wenn sich der Fokus der Darstellung nicht nur aufBergunder hat dies für die Religionswissenschaft bereits vorgeschlagen. Siehe Bergunder, Was ist Esoterik?, 505; ders., Was ist Religion?, 42. 29 So hat dieser für die Archäologie im Hinblick auf die Auswahl des Materials betont: „Es darf keine privilegierte Auswahl geben. Man muss alles lesen, alle Institutionen und Praktiken kennen. […] Man kann durchaus alle Grammatiker lesen oder alle Ökonomen. Für Naissance de la clinique habe ich für die Zeit von 1780 bis 1820 alle medizinischen Arbeiten gelesen, die in methodischer Hinsicht Bedeutung besaßen. Man wird wahrscheinlich uneingestanden eine Wahl treffen, aber eigentlich dürfte es keine Auswahl geben. Man müsste alles lesen, alles studieren. Anders gesagt, man müsste über das gesamte allgemeine Archiv einer Zeit zu einem bestimmten Zeitpunkt verfügen. Und die Archäologie im strengen Sinne ist die Wissenschaft dieses Archivs“ (Foucault, Michel, Michel Foucault, „Die Ordnung der Dinge“ [Gespräch mit R. Bellour], in: ders., Geometrie des Verfahrens. Schriften zur Methode, hg. von D. Defert/F. Ewald, Frankfurt am Main 2009, 15 – 22, hier: 16 – 17).
Diskurstheoretische Vorbemerkungen
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grund kontingenter Setzungen, sondern vor allem aufgrund fehlender Sprachkenntnisse oder dem begrenzten Raum der Darstellung zum Beispiel auf den englischen Sprachraum beschränkt. Gleichzeitig sind die bisher vorhandenen Studien in vieler Hinsicht sehr aufschlussreich und haben es überhaupt erst ermöglicht, die hier dargestellten Überlegungen zu entwickeln. Möglicherweise – und dies wird im Folgenden der Versuch sein – lässt sich somit anhand der Auseinandersetzung mit vorhandenen Studien und deren Thesen und Ergebnissen trotz der Einschränkungen des von diesen bisher aufgearbeiteten Materials eine Heuristik zur Bestimmung des modernen Religionsdiskurses gewinnen, die weitere Analysen informieren könnte. Der Versuch, einen modernen Religionsdiskurs zu beschreiben, ist aber nicht mit dem Versuch gleichzusetzen, über eine positive Bestimmung ein einheitliches europäisch-westliches Religionsverständnis zu rekonstruieren, sondern vielmehr – wie man metaphorisch formulieren könnte – ,Bruchlinien des Diskurses‘ zu beschreiben, und diese als Heuristik für die Bestimmung der Regelmäßigkeit des Religionsdiskurses vorzuschlagen. Es geht also nicht um die Frage nach den mit ,Religion‘ verbundenen ,Inhalten‘, sondern um die Regelmäßigkeiten, die sich in den Aussagen über ,Religion‘ erkennen lassen. Denn – so zumindest das hier vertretene Verständnis von ,Diskurs‘ – nur wenn sich solche Regelmäßigkeiten aufzeigen lassen, kann von einem Religionsdiskurs gesprochen werden.30 Im Rahmen einer vorsichtigen Interpretation der bisherigen Studien zur Geschichte, Entwicklung und weltweiten Verbreitung der Kategorie ,Religion‘ wird somit die Überlegung vorgebracht, die Charakteristika des Religionsdiskurses im Hinblick auf charakteristische Unterscheidungen der Religion zu bestimmen. Im Folgenden wird daher heuristisch die These aufgestellt, dass sich der moderne Religionsdiskurs in seiner Einheit zumindest durch eine doppelte Unterscheidung charakterisieren lässt: die Unterscheidung zwischen ,Religion‘ und anderen Bereichen (Differenzierung) und die Unterscheidung zwischen einer ,Religion‘ und einer anderen (Pluralität). Die Besonderheit des modernen Religionsdiskurses, die Regelmäßigkeit, die seine Individualisierung als eine einheitliche diskursive Formation ermöglicht, ließe sich somit vorläufig als Kombination von zumindest diesen zwei Unterscheidungen betrachten.31 30 Andere sich auf diskurstheoretische Grundlagen beziehende Ansätze in der Religionswissenschaft, bei denen dieser Punkt unbeachtet bleibt, können letztlich den Zusammenhang der unterschiedlichen ,Religionsdiskurse‘ im globalen Kontext nicht theoretisch begründen. Einen radikal genealogischen Ansatz, der dieses Problem zumindest sieht und anders als Foucault zu lösen versucht, entwirft Bergunder, Was ist Religion? 31 Eine alternative Möglichkeit der Charakterisierung des westlichen Religionsverständnisses findet sich etwa in King, Richard, Colonialism, Hinduism and the Discourse of Religion, in: E. Bloch et al. (Hg.), Rethinking Religion in India. The Colonial Construction of Hinduism, London 2010, 95 – 113, hier: 105 – 106. Die dort angeführten Merkmale beinhalten durchaus die
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Auch wenn der hier vorgebrachte Vorschlag letztlich ,nur‘ eine Heuristik darstellt und so den modernen (und globalen) Religionsdiskurs auf eine ganz bestimmte Weise ,konstruiert‘, liegt seine Besonderheit darin, dass hier nicht auf Inhalte und Bedeutungen, sondern auf Unterscheidungen abgestellt wird. Eine solche Perspektive kann somit möglicherweise etwas beschreiben, was anderen Perspektiven auf die Geschichte von ,Religion‘ entgeht, da sie sich zumindest teilweise dem Streit entzieht, ob etwa eine in bestimmter Form verstandene ,Innerlichkeit‘ oder eine ähnliche inhaltliche Bestimmung den zentralen und neuartigen Bedeutungskern des modernen Religionsbegriffs ausmacht. Damit ist nicht gesagt, dass diese Frage unwichtig oder nicht zu beantworten sei. Vielmehr liegt das Interesse der hier verfolgten diskurstheoretischen Fragestellung auf einer anderen Ebene. Denn die Frage ist hier vielmehr, ob trotz der unbestreitbar vorhandenen großen Unterschiede im ,Reden über Religion‘ – wie sich diese etwa (um nur ein Beispiel zu nennen) zwischen den auf eine französische und den auf eine deutsche Begriffsgeschichte zurückgehenden Debatten ausmachen lassen32 – eine Einheit des Religionsdiskurses angegeben werden kann. Diese Einheit – so lautet die hier vertretene These – liegt in einer Reihe von Unterscheidungen der Religion, die dieser Diskurs zur Verfügung stellt, und die ihn in seiner Regelmäßigkeit charakterisieren. Unterscheidungen, welche – um die Thesen auch der nächsten Kapitel bereits anzudeuten – ihn als umkämpfte Grenzen auch in seiner globalen Dimension ausmachen. Es bietet sich abschließend an, den in der vorliegenden Arbeit konzipierten Ansatz in Beziehung zu setzen zu den diskurstheoretischen Überlegungen zu ,Religion‘, welche Michael Bergunder in den letzten Jahren präsentiert hat.33 Bergunder fordert, dass die Religionswissenschaft ,Religion‘ in neuer Weise als historischen Gegenstand konzeptualisieren müsse. Bergunders Ausgangspunkt ist, dass – worauf auch in der vorliegenden Arbeit wiederholt hingewiesen wird – viele der auch von mir bisher und im Folgenden zitierten Autoren (wie beispielsweise Benson Saler oder Martin Riesebrodt) in ihren religionswissenschaftlichen Überlegungen immer wieder auf ein nicht genauer expliziertes, aber von ,den meisten‘ geteiltes Vorverständnis von „Religion“ rekurrieren. So schreibt Saler, wie im Abschnitt 2.1 dargestellt, den von ihm als Prototypen seines polythetischen Religionsverständnisses verstanhier angedachten Charakteristika, versuchen aber letztlich auch eine darüber hinausgehende positive Bestimmung zu erreichen. Meine Überzeugung ist dagegen, dass sich über Unterscheidungen, die, wie im weiteren Verlauf der Arbeit erkennbar sein wird, immer als umkämpfte Unterscheidungen verstanden werden müssen, eine formaler gebaute Heuristik entwickeln lässt. 32 Vgl. Baseler SNF-Forschungsantrag „Religionskonzepte und deren ,Verwissenschaftlichung‘ in der akademischen Religionsforschung und den angrenzenden Diskursen im 19. und frühen 20. Jahrhundert“, Textteil S. 4 [Unveröffentlicht]. 33 Siehe Bergunder, Michael, What Is Esotericism? Cultural Studies Approaches and the Problems of Definition in Religious Studies, Method & Theory in the Study of Religion 22/1, 2010, 9 – 36 und ders., Was ist Religion?
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denen abrahamitischen Monotheismen zu, dass sie ,typische‘ Beispiele für „Religion“ seien. Ebenso Riesebrodt, der – wie unter 3.3.1 dargestellt – auf Phänomene verweist, „die gemeinhin als religiös verstanden werden“.34 Diese von zahlreichen Autoren in Anspruch genommene und angeblich als ,Alltagsverständnis‘ unstrittige ,Religion‘ bezeichnet Bergunder als „unerklärte Religion 2“ der Religionswissenschaft, die er den expliziten Definitionsversuchen (der „erklärte[n] Religion 1“) gegenüber stellt.35 Bergunders Vorschlag ist nun, dass diese „unerklärte Religion 2“ als der eigentliche historische Gegenstand der Religionswissenschaft zu verstehen wäre. Ihre Konzeptualisierung ist die große theoretische Herausforderung für eine Religionswissenschaft, die ihre über die letzten Jahrzehnte entwickelten kulturwissenschaftlichen Grundlagen tatsächlich ernst nimmt. Bergunder verbindet damit vier Herausforderungen, auf die eine entsprechende theoretische Beschreibung Antworten entwickeln müsse: 1. Religion 2 als historischen Gegenstand zu verstehen, dessen Definition nicht einem autonomen Zugriff der Religionswissenschaft obliegt; 2. Dieses „Alltagsverständnis“ von Religion zu historisieren und seine Genese angemessen beschreiben zu können; 3. Die Wechselwirkungen zwischen dieser Religion 2 und der Religionswissenschaft als Disziplin zu rekonstruieren; 4. Diesen impliziten Konsens von ,Religion‘ nicht als „europäisches Religionsverständnis“, sondern in einer Überwindung des Eurozentrismus als globale Religion 2 zu konzeptualisieren.36 Die in diesem Sinne verstandene Religion 2, als eine historisch kontingente globale Diskurskategorie, ist somit für Bergunder – und hier stimmt die vorliegende Arbeit mit ihm überein – zentraler Gegenstand der religionswissenschaftlichen Analyse. Ohne Bergunders eigenen Vorschlag der Bearbeitung dieser Herausforderungen hier ausführlich darstellen zu können, lässt sich feststellen, dass auch er eine diskurstheoretische Beschreibung von ,Religion‘ wählt. Ebenso wie im folgenden fünften Kapitel der vorliegenden Arbeit, liegt das Hauptaugenmerk darauf, diesen ,Diskurs Religion‘ auf der Grundlage einer nichtessentialistischen Diskurstheorie zu beschreiben, die Bedeutungsfixierung als historischen und stets kontingenten gesellschaftlichen Aushandlungsprozess versteht.37 Bergunder greift hier auf der Basis von sprachphilosophischen Überlegungen Jacques Derridas auf die Diskurstheorie Ernesto Laclaus zurück.38 Auch in der vorliegenden Arbeit stellt besonders die Derridasche Sprachphilosophie im Folgenden einen wichtigen Anknüpfungspunkt dar. Der sich daraus ergebende Fokus liegt für Bergunder auf der Entwicklung einer nicht34 Riesebrodt, Martin, Cultus und Heilsversprechen. Eine Theorie der Religionen, München 2007, 116. 35 Bergunder, Was ist Religion?, 12 – 13. 36 Vgl. ebd., 18. 37 Vgl. ebd., 33 – 34. 38 Vgl. ebd., 28 – 47.
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essentialistischen Alternative zur klassischen Begriffsgeschichte, die er in Anknüpfung an Laclau als eine „Namensgeschichte“ konzeptualisiert. Diese Grundlegung setzt somit an einem etwas anderen Punkt an als die vorliegende Arbeit, in welcher in der Weiterführung des vorgeschlagenen Perspektivenwechsels auf die Frage nach ,Äquivalenten‘ von ,Religion‘ die Frage nach einer möglichen Konzeptualisierung der Einheit des globalen Religionsdiskurses im Zentrum steht. Hier rückt im Folgenden daher die Übersetzungproblematik prominent in den Vordergrund, die bei Bergunder in den hier zitierten Aufsätzen noch weitgehend ausgeblendet bleibt. Im Licht von Bergunders theoretischen Überlegungen lässt sich dennoch in der Identifikation der grundlegenden Problemlagen für eine religionswissenschaftliche Beschreibung von ,Religion‘ eine weitgehende Übereinstimmung mit meinem hier entwickelten Ansatz konstatieren. Da Bergunder meiner Ansicht nach die bisher vielversprechensten diskurstheoretischen Überlegungen – besonders im Kontext der deutschsprachigen Religionswissenschaft – vorgelegt hat, wird auf seine Überlegungen zum Ende des fünften Kapitels noch einmal zurück zu kommen sein, um die vorgeschlagene theoretische Position stärker zu profilieren.39
4.2 Das Auftauchen der ,Religion‘ Auch wenn in der vorliegenden Arbeit dezidiert keine klassisch begriffsgeschichtliche Perspektive verfolgt wird, ist es nicht zuletzt als Ausgangspunkt der Betrachtung hilfreich – auch weil ein Großteil der bisher vorhandenen Studien auf diese Weise vorgeht –, einen kurzen begriffsgeschichtlichen Überblick über ,Religion‘ zu geben. Zur Entwicklung und Geschichte des Lexems religio/Religion in der europäisch-westlichen Geistesgeschichte gibt es mittlerweile eine Vielzahl von Studien.40 Während sich die meisten dieser Studien in begriffsgeschichtlicher Perspektive darin einig sind, dass sich besonders über die letzten 500 Jahre weitreichende Veränderungen in der Verwendung und Bedeutung des Begriffs ergeben haben, wird die Frage, welche dieser Veränderungen für ein frühneuzeitliches sowie modernes Verständnis von ,Religion‘ zentral sind, durchaus sehr unterschiedlich beantwortet. Zwei wichtige Positionen werden hier von Ernst Feil und Peter Harrison vertreten. Aber auch wenn in der Auseinandersetzung mit dem Religionsdiskurs die Herkunft des Religionsbegriffs und dessen ,ursprüngliche‘ Bedeutung nicht 39 Ein weiterer gegenwärtig die Kategorie „Diskurs“ prominent verwendender Ansatz stammt von Kocku von Stuckrad. Für eine Positionierung zu dessen Überlegungen siehe den Epilog der vorliegenden Arbeit. 40 Vgl. auch die Literaturangaben in Kapitel 3 im Abschnitt 3.1.
Das Auftauchen der ,Religion‘
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im Zentrum steht, ist das Auftauchen des Begriffs ,Religion‘ in der europäischen Geschichte durchaus auch aus diskurstheoretischer Perspektive interessant. Für die im Folgenden entwickelten Anliegen und Thesen der vorliegenden Arbeit ist dabei bedeutsam, dass die meisten Autoren, die sich mit der Begriffsgeschichte von ,Religion‘ in Europa befasst haben, das vermehrte Auftauchen dieses Begriffs und seine Entwicklung zu einem „neuzeitlichen Grundbegriff“ (Ernst Feil) erst in das 17. und teilweise sogar erst in das 18. Jahrhundert datieren. Dies bedeutet natürlich nicht, dass der Begriff zu diesem Zeitpunkt aus dem Nichts entstanden ist, aber es erlaubt uns – Ernst Feil folgend –, davon auszugehen, dass es sich bei den frühneuzeitlichen und modernen Verwendungsweisen von ,Religion‘41 um etwas Neues handelt, dessen Vorgeschichte dann nur noch als eben solche interessant ist. Dennoch soll hier kurz anhand der begriffsgeschichtlichen Untersuchungen von Feil und Harrison dargestellt werden, welche Vorgeschichte sich zu diesem Begriff angeben lässt und auf welche ,Geburtsorte‘ eines modernen Religionsbegriffs diese Geschichte verweist. Der katholische Theologe Ernst Feil hat sich in vier umfangreichen Bänden mit der begriffsgeschichtlichen Entwicklung von „Religion“ als „neuzeitliche[m] Grundbegriff“ befasst. Ausgehend vom lateinischen Begriff religio verfolgt er dessen Geschichte innerhalb westlicher Sprachen (als Religion, religion, religione, religi¼o etc.) bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts anhand der Analyse gelehrter, den Religionsbegriff verwendender Texte.42 41 Vgl. zu dieser Unterscheidung zwischen frühneuzeitlichem und modernen Diskurs die folgenden Abschnitte. 42 Vgl. Feil, Religio; Feil, Ernst, Religio II. Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs zwischen Reformation und Rationalismus (ca. 1540 – 1620), Göttingen 1997; ders., Religio III. Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs im 17. und frühen 18. Jahrhundert, Göttingen 2001; ders., Religio IV. Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Göttingen 2007. Feils begriffsgeschichtliche Ausführungen stellen im Moment sicher die gründlichste Aufarbeitung der innereuropäischen Geschichte des Religionsbegriffs dar. Diese zentrale Ressource wurde jedoch in der dominierenden englischsprachigen Diskussion bisher nur zum Teil wahrgenommen. Viele der wichtigen Autoren rezipieren Feils Begriffsgeschichte überhaupt nicht (etwa Talal Asad, S.N. Balagangadhara, David Chidester, Daniel Dubuisson, Timothy Fitzgerald, Tomoko Masuzawa und Richard King). Allein bei McCutcheon, Russell T., Manufacturing Religion. The Discourse on Sui Generis Religion and the Politics of Nostalgia, New York 1997 findet sich ein Hinweis auf den ersten Band von Feils Untersuchungen. Beyer, Peter, Religions in Global Society, New York 2006 dagegen bezieht sich zumindest ansatzweise auf Feil. Die ausführlichen Bände sind bisher nur auf Deutsch erschienen, doch ein zusammenfassender Band ist auch auf Englisch verfügbar : Feil, Ernst (Hg.), On the Concept of Religion, Atlanta 1999. Für eine konzise Zusammenfassung der Ergebnisse sowie Feils zentraler These siehe ders., Religion. I. Zum Begriff. II. Religion und Geschichte, in: H.D. Benz et al. (Hg.), Religion in Geschichte und Gegenwart, 8 Bände, Tübingen 41998 – 2007, Bd. 7, Sp. 263 – 274 sowie ders., Zur Bestimmungs- und Abgrenzungsproblematik von „Religion“, in: ders. (Hg.), Streitfall „Religion“. Diskussionen zur Bestimmung und Abgrenzung des Religionsbegriffs, Münster 2000, 5 – 35.
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Etymologisch stammt der moderne Begriff „Religion“ vom lateinischen religio ab. Da es laut Feil bei den Griechen keinen Begriff gab, der dem lateinischen religio auch nur einigermaßen entsprochen hätte,43 beginnt die europäische Geschichte des Religionsbegriffs für ihn mit der römischen Verwendung von religio. Der Begriff religio wird, zusammen mit dem Begriff pietas der iustitia gegenüber den Göttern zugeordnet. Gemeinsam mit anderen Vollzügen ist er Teil dessen, was die Römer unter deos colere verstehen. Hierbei bezeichnet religio die „peinlich genaue Sorgfalt […], jene Vollzüge auszuführen, die jeweils einem Gott (als einem Höhergestellten) aufgrund der Kardinaltugend der ,iustitia‘ geschuldet werden.“44 Der Begriff zielt hier also nicht primär auf eine Gottheit, sondern bezieht sich auf bestimmte Handlungen. Cicero spricht zum Beispiel auch von einer religio iudicis, die sich auf die für Richter notwendige besondere Sorgfalt bei der Einhaltung der Verfahrensregeln bezieht.45 Eine weitere Verwendung des Begriffs ist in Bezeichnungen wie religio Romana oder religio Aegyptia zu finden. Dort dient religio der Zuordnung von Handlungen zu verschiedenen Gottheiten, fungiert aber nicht als Sammelbegriff für andere Termini (wie etwa pietas oder sacrificium).46 Diese Bedeutung bleibt bis ins Mittelalter weithin erhalten und religio wird, so z. B. in der Scholastik auch der Tugend der Gerechtigkeit zugeordnet. Bei Roger Bacon (1220 – 1294) lässt sich beobachten, dass im Kontext seines Versuchs, verschiedene Sternenkonstellationen für die Entstehung differenter Weisen der Götter- und Gottesverehrung verantwortlich zu machen, ein Oberbegriff zur Bezeichnung verschiedener Überzeugungen gebraucht wird. Bacon wählt aber hier bezeichnenderweise nicht religiones, sondern verwendet leges oder sectae (so die sectae principales der Hebräer oder die sectae Christi).47 Die Relevanz dieser Begrifflichkeit bleibt dann auch bis in die Neuzeit neben der zunehmenden Häufigkeit der Verwendung des Begriffs „Religion“ so lange erhalten, dass sich letzte Ausläufer immerhin noch in Lessings Ringparabel finden, wo „Gesetz“ und „Religion“ gleichberechtigt nebeneinander stehen.48 Im Humanismus zeigen sich dann erste Verwendungen eines Plurals von religiones bei Nikolaus von Kues (1401 – 1464) (der zwar von der diversitas religionum spricht, aber dennoch mahnt, zur una religio zu finden) und vor allem bei Giovanni Pico della Mirandola (1463 – 1494), wo sich neben sectae und leges auch religiones findet. Dieser Gebrauch ist jedoch auch später noch, z. B. bei Geronimo Cardano (1501 – 1576), wieder zurückgenommen worden,
43 44 45 46 47 48
Vgl. Feil, Religio, 32 – 38. Feil, Religio IV, 14. Vgl. ebd. Vgl. Feil, Religion, Sp. 267. Vgl. ebd., Sp. 267 – 268. Vgl. Feil, Religio IV, 15.
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der von den quatuor leges (Götzendiener, Juden, Christen und Mohammedaner) aber nie von religiones spricht.49 Spätestens seit dem Ende des 16. Jahrhunderts und im Verlauf des 17. Jahrhunderts lässt sich allerdings dann, so Feil, die Durchsetzung einer Verwendung des Plurals religiones beobachten, gerade auch über den christlichen Bereich hinaus.50 Dennoch bleibt laut Feil das, worauf der Begriff religio verweist, bis 1700 grundsätzlich auf die manifesten Vollzüge von Handlungen bezogen. Im weiteren Verlauf seiner Rekonstruktion der Begriffsgeschichte von „Religion“ interessiert sich Feil dann vor allem für die Entwicklung des Verständnisses von „Religion“ als etwas ,Innerlichem‘. Diese Bedeutungsverschiebung hin zu einer Verknüpfung von „Religion“ und „Innerlichkeit“ zeichnet sich dann etwa in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts ab. So tritt bei Alexander Gottlieb Baumgarten (1714 – 1762) die Verwendung von religio interna besonders prominent auf. Bei Vertretern heterodoxer christlich-theologischer Auffassungen, so vor allem bei Johann Christian Edelmann (1698 – 1767) wird im positiven Sinne die „Gleichgültigkeit der Religionen“ betont und die „Religion“ in die Innerlichkeit verlegt.51 Und auch bei den Aufklärern, die entschieden für die „natürliche“, die „vernünftige praktische Religion“ eintreten, findet sich dennoch die Betonung des Gefühls, wenn Hermann Samuel Reimarus (1694 – 1768) von „Empfindungen der Religion“ und Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781) vom „fühlenden Christen“ spricht.52 Für diese Wendung nach innen steht paradigmatisch Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768 – 1834), dem laut Feil für die neuzeitliche Auffassung von „Religion“ zentrale Bedeutung zukommt, und der „Religion“ in seinen Reden Über die Religion als „Anschauung und Gefühl“, als „Sinn und Geschmack für das Unendliche“ oder auch als „Gefühl für das Unendliche“ bestimmt.53 Anhand dieser Veränderungen konstatiert Feil, dass die Autoren in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von „Religion“ als einer so zuvor nicht beschriebenen „innere[n] Religion“ sprechen.54 Dies stelle „in einer gravierenden Zäsur eine Neukonzeption“ dar,55 die eine klare Diskontinuität zwischen dem vormodernen Begriff religio und den Entwicklungen der Bedeutungen dieses Begriffs besonders über die letzten 200 Jahre erkennen lässt. Aus der Vorstellung einer „inneren Religion“ folgt dann die Auffassung, dass diese als eine anthropologische Konstante allen Menschen eigen sei.56 Als zentrale 49 50 51 52 53 54 55 56
Vgl. ebd. Vgl. ebd., 15 – 16. Feil, Religio IV, 880 – 881; ders., Religion, Sp. 269 – 270. Feil, Religio IV, 881; ders., Religion, Sp. 271. Feil, Religion, Sp. 271 – 272. Feil, Religio IV, 883. Ebd., 12. Vgl. Feil, Religio, 25.
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These bestätigt sich daher für Feil, dass es im Verständnis von „Religion“ „eine deutliche und tiefgreifende Zäsur zw[ischen] dem antik-röm[ischen] und lange christl[ich] rezipierten Verständnis und der neuzeitlichen im prot[estantischen] Bereich entstandenen Konzeption“ gibt.57 Die begriffsgeschichtlichen Untersuchungen Feils kommen hier an ihr Ende, auch wenn er in der Folge noch die Bedeutung der entstehenden Religionswissenschaft mit Autoren wie Friedrich Max Müller (1823 – 1900) und dann besonders Ernst Troeltsch (1865 – 1923) sowie Rudolf Otto (1869 – 1939) hervorhebt, in deren Schriften laut Feil die Vorstellung einer Innerlichkeit von „Religion“ zentrale Bedeutung einnehme.58 Feils sehr detailliert an der Begriffsgeschichte entlanggeführte Aufarbeitung des Bedeutungswandels von religio und „Religion“ in gelehrten europäischen Texten bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ist ein wichtiger Ausgangspunkt für jede Auseinandersetzung mit dem Bedeutungswandel des Begriffs ,Religion‘ und der Frage nach dessen Entwicklung.59 Er weist überzeugend nach, dass die mit der neuzeitlichen Konzeption von „Religion“ oftmals verbundene Konzentration auf „Innerlichkeit“, „Gefühl“ und „Erfahrung“ eine Entwicklung des 18. Jahrhunderts darstellt, und religio sowie „Religion“ sich vor dieser Zeit zunächst auf bestimmte „manifeste Vollzüge“ beziehen. Die damit zusammenhängende ,Anthropologisierung der Religion‘, die – wie Feil anhand der Begriffsgeschichte zu zeigen versucht – hauptsächlich über eine Verinnerlichung von „Religion“ und der Auffassung dieser als eines „Gefühls“ verläuft, stellt für ihn das zentrale Charakteristikum der neuzeitlichen Fassung des Religionsbegriffs und das spezifische Diskontinuitätsmoment zu vormodernen Verwendungsweisen von „Religion“ dar. Allerdings müsste diese Darstellung Feils, dessen These für das von ihm verfolgte Interesse und das von ihm analysierte Material durchaus plausibel ist, durch eine weitere Beschäftigung mit dem Auftauchen des modernen Religionsbegriffs noch ergänzt werden. Die Identifikation von ,Innerlichkeit‘ und einer damit einhergehenden ,Anthropologisierung‘ als ein Kennzeichen des modernen Religionsbegriffs, welches sich hauptsächlich von Schleiermacher her ableiten lässt und die europäische Theologie- aber auch Religionsgeschichte der Neuzeit entscheidend geprägt hat, stellt einen zentralen Strang der Debatte um ,Religion‘ dar, der sich vor allem auf das Individuum 57 Feil, Religion, Sp. 273. Gleichzeitig sei aber festzuhalten, dass die ursprüngliche Bedeutung von religio als „sorgfältige Beachtung der Vollzüge der Gottesverehrung“ in einer erstaunlichen Konstanz sehr lange erhalten bleibe (ebenda). 58 Vgl. ebd., Sp. 272. 59 Feils sehr genaue begriffsgeschichtliche Analyse orientiert sich allerdings fast ausschließlich an der Verwendung von religio und „Religion“ in akademischen Abhandlungen und Schriften. Nur teilweise wird auch auf die Verwendung in weiteren Dokumenten und anderen Textsorten eingegangen. Darüber hinaus fällt auch auf, dass mit Jeanne-Marie Guyon du Chesnoy (1648 – 1717) nur eine einzige weibliche Autorin in die Auswahl der analysierten Positionen eingeschlossen wurde (Feil, Religio III, 344 – 346).
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bezieht. Neben dieser gibt es aber zumindest noch einen anderen Strang der Debatte, der ,Religion‘ primär vor dem Hintergrund der ,Gesellschaft‘ und in Beziehung zu dieser zu verstehen versucht. Diese Linie, die sich sicherlich bis auf Rousseau und Durkheim als zentrale Figuren zurückführen lässt, stellt einen zweiten Bedeutungsstrang von ,Religion‘ dar.60 Auch wird die Entstehung von Debatten um ,Religion‘ von anderen Autoren wie etwa Peter Harrison durchaus anders bewertet, nicht zuletzt, weil diese die Bedeutung bestimmter regionaler Kontexte deutlich anders einschätzen als Feil dies tut. So haben die vielfältigen und widersprüchlichen Entwicklungen in England und Frankreich seiner Ansicht nach wenig Innovatives zur neuzeitlichen Auffassung der ,Religion‘ beigetragen, auch wenn zahlreiche Autoren, darunter auch David Hume und Voltaire, hier die „natürliche Religion“ favorisieren und deren Bedeutung für die Moral betonen.61 In einer solchen Bewertung zeigt sich aber vermutlich primär Feils Interesse an seiner These der ,Verinnerlichung von Religion‘. Der Historiker Peter Harrison dagegen entwickelt in seinem Buch ,Religion‘ and the Religions in the English Enlightenment eine anders gelagerte Perspektive auf die neuzeitliche Begriffsgeschichte von ,Religion‘. In seiner Beschäftigung mit den Entwicklungen des Begriffs im Kontext der englischen Autoren des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts macht er diesen Zeitraum als die entscheidende Periode für das Auftauchen des neuzeitlichen Verständnisses von ,Religion‘ aus. Anders als Feil sieht Harrison England als das Zentrum dieser Entwicklungen an, da als Resultat der innerchristlichen Konflikte im Kontext der Reformation im England des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts eine in dieser Form sonst nirgends anzutreffende Religionsfreiheit geherrscht habe, die sich mit der zeitgenössischen Dynamik innerhalb des Christentums verband.62 Seiner Rekonstruktion nach finden die modernen Konzepte von ,Religion‘ und dem Plural ,die Religionen‘ erst im Verlauf der (englischen) Aufklärung zu ihrer heutigen Bedeutung. ,Religion‘ wird im Verlauf dieser Entwicklung zu einem Kollektivsingular, der auf eine neuartige Vorstellung einer spezifischen und abgegrenzten Sphäre verweist, welche der intellektuellen und rationalen Betrachtung zugänglich sei.63 In diesem Zusammenhang entwickelt sich ,Religion‘ zum einen zu einem Objekt des Wissens64 und bietet als Begriff 60 Für die Identifikation dieser zwei Stränge vgl. Jürgen Mohn (mündliche Mitteilung) und den Baseler SNF-Forschungsantrag „Religionskonzepte und deren ,Verwissenschaftlichung‘ in der akademischen Religionsforschung und den angrenzenden Diskursen im 19. und frühen 20. Jahrhundert“, Textteil S. 4 [Unveröffentlicht]. 61 Vgl. Feil, Religio IV, 881; ders., Religion, Sp. 270. 62 Vgl. Harrison, Peter, ,Religion‘ and the Religions in the English Enlightenment, Cambridge 1990, 3. 63 Vgl. ebd., 5. 64 Vgl. ebd., 2.
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gleichzeitig die Möglichkeit, bestimmte Aspekte des menschlichen Lebens in neuer Form zu klassifizieren.65 Dabei ist entscheidend, dass im Englischen gleichzeitig mit „religion“ auch der Plural „the religions“ auftritt.66 Denn gerade in der Spannung zwischen dem Kollektivsingular ,Religion‘ und der damit immer auch einhergehenden Vorstellung einer Pluralität von ,Religionen‘ liege die zentrale Neuerung dieser Klassifikation. Spätestens mit der Veröffentlichung der ersten Auflage von Edward Brerewoods Enquiries Touching the Diversity of Languages and Religions through the Chief Parts of the World habe sich die Verwendung des Plurals „religions“ dann im Sprachgebrauch etabliert. Brerewood spricht von „four sorts of Sects of Religion“, nämlich „Christianity“, „Mahometanism“, „Judaism“ und „paganism“, die als Arten der Gattung „religion“ verstanden werden. Trotz der formalen Gleichordnung werde hier allerdings noch an einem zentralen Unterschied festgehalten: Die ersten drei beziehen sich jeweils auf eine Offenbarung, während „paganism“ auf korrupte Formen der „natural religion“ verweist.67 Der im Kontext der gewaltsamen Konflikte der europäischen Neuzeit entstandene Begriff von „religion“ versteht diese zunächst primär als ein System propositionaler Aussagen.68 Die zentrale Frage nach der ,Wahrheit‘ oder ,Falschheit‘ von „religion“ wurde auf diese Weise zu einer Frage nach der ,Wahrheit‘ oder ,Falschheit‘ derjenigen Aussagen, welche diese ,Religion‘ jeweils ausmachten. ,Religion‘ bezeichnet in diesem Sinne einen Korpus von propositionalem Wissen.69 Dies lasse sich, so Harrison, auch an der Vielfalt neuer Glaubensbekenntnisse und Katechismen erkennen, in denen ,Religion‘ als ein „set of beliefs“ verstanden wurde.70 Gerade in der besagten Zeit werden Hunderte von Werken publiziert, die den Anspruch erheben, „the sum, the substance, the ground, the body, or the system of ,the Christian Religion‘“ zu beschreiben.71 Gemeint ist damit in diesem Kontext jeweils fast ausschließlich eine bestimmte Anzahl von Glaubenssätzen.72 Indem „religion“ auf diese Weise als ein Objekt des Wissens in Erscheinung tritt, erfolgt eine „objectification of religious faith“.73 Gleichzeitig führt diese Konzeption von ,Religion‘ als eines Systems von Glaubenssätzen dazu, dass im Kontext dieser Entwicklung der Impetus zu einer vergleichenden Betrachtung 65 Vgl. ebd., 1. 66 Der frühste Nachweis für die Pluralform (zumindest im englischen Sprachraum) lässt sich laut Harrison in Richard Hookers „Lawes of Ecclesiastical Politie“ von 1593 finden: „The church of Rome, they say […] did almost out of all religions take whatsoever had any fair and gorgeous show“ (zitiert nach ebd., 39). 67 Ebd. 68 Vgl. ebd., 14. 69 Vgl. ebd., 26. 70 Ebd., 149. 71 Ebd., 25. 72 Vgl. ebd. 73 Ebd., 2.
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entsteht. Diese Vergleichsperspektive und die damit einhergehende Vorstellung einer Pluralität von ,Religionen‘ ist somit laut Harrison etwas, was dem neuzeitlichen Begriff bereits im Prozess seiner Entwicklung inhärent ist. Indem die ,Religionen‘ als solche Systeme von Glaubenssätzen vorgestellt wurden, konnten sie betrachtet und verglichen werden. Dies ist besonders in den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts erkennbar, in denen immer zahlreichere Schriften erscheinen, die im Bezug auf „religion“ bereits im Titel vergleichende Formulierungen wie „impartial view“, „comparison“, oder „grounds and reasons“ aufweisen.74 Aus diesem Vergleichsimpetus heraus werden infolge der durch die Reformation ausgelösten innerchristlichen Auseinandersetzungen nun auch Vorstellungen nicht-christlicher ,Religionen‘ konkretisiert. Die ,Religionen‘ der Amerikas, Asiens und des Orients, sowie die antiken ,Religionen‘ erscheinen nun als Äquivalente zu den jeweils unerwünschten Formen des Christentums, des Katholizismus, Calvinismus oder sonstiger ,häretischer‘ christlicher Gruppierungen.75 Die Entstehung der Wahrnehmungen dieser ,Religionen‘ lässt sich, so Harrison, von diesem europäischen zeitgenössischen Kontext, in dem sie erstmals thematisiert wurden, nicht ablösen. Laut Harrison fanden sich diese Bilder von ,Religionen‘ somit zunächst in den Vorstellungen westlicher Denker, die davon ausgingen, dass das Leben anderer Völker von den gleichen Problemen und grundlegenden Anliegen geprägt sei, die in genau diesem spezifischem Zeitraum der europäischen Geschichte eine zentrale Rolle spielten.76 Die sich in der frühen Neuzeit entwickelnden und große Bedeutung gewinnenden Konzepte von „religion“ und „the religions“ erscheinen somit als „an unintended consequence of a crisis within Western Christendom“.77 Die verschiedenen Autoren, die sich mit der Frage nach der Geschichte des modernen Religionsbegriffs auseinandergesetzt haben, setzen teilweise recht unterschiedliche Schwerpunkte und erachten ganz unterschiedliche geographische Regionen oder Zeiträume als die entscheidenden Geburtsorte einer modernen Vorstellung von ,Religion‘. Der Versuch, die in den unterschiedlichen Studien rekonstruierten Entwicklungen zu systematisieren, ergibt etwa folgendes Bild: Die Autoren betrachten zum einen den begriffsgeschichtlich zu rekonstruierenden Wandel der Bedeutung des Religionsbegriffs selbst. Ausgehend von der Verwendung des antiken lateinischen Wortes religio und seiner Bedeutung in unterschiedlichen Kontexten verfolgen sie diese bis zu den ,modernen‘ Verwendungen von ,Religion‘, bei der unterschiedliche Au74 75 76 77
Ebd., 26. Vgl. ebd., 9. Vgl. ebd., 174. Ebd., 173. In diesem Sinne findet sich schon hier die These, dass der Begriff der ,Weltreligionen‘ eine Projektion innerchristlicher Konflikte auf die außereuropäische Welt impliziere (ebd., 173 – 174). Vergleiche hierzu im Folgenden die Auseinandersetzung mit Tomoko Masuzawa.
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toren auch unterschiedliche Charakteristika für zentral halten. So hat, wie oben dargestellt, die Vorstellung einer ,Innerlichkeit‘ von ,Religion‘ für Feil zentrale Bedeutung und stellt für ihn eine der wichtigsten modernen Entwicklungen dar. Zum anderen erscheint aus der Sicht der Studie von Harrison der Zusammenhang zwischen der Verwendung von ,Religion‘ im Singular und des Plurals von ,Religionen‘ im Kontext einer immer notwendig plural gedachten Situation der Unterscheidung zwischen einzelnen ,Religionen‘ als zentrales Merkmal. Letztlich lässt sich anhand dieser Einblicke in die sehr komplexe Begriffsgeschichte von ,Religion‘ festhalten, dass aus einer diskurstheoretischen Perspektive eine solche begriffsgeschichtliche Beschäftigung mit den – von den bisher diskutierten Autoren vor allem aus gelehrten Traktaten erhobenen – Begriffsveränderungen nicht als zielführend erscheint, um eine Einheit des modernen Redens über ,Religion‘ beschreiben zu können. Damit ist nicht gesagt, dass etwa die von Feil vorgebrachte These zur ,Innerlichkeit‘ von Religion für eine solche Untersuchung belanglos ist. Gerade angesichts der anderen, nicht zuletzt von Harrison beschriebenen, Entwicklungen im Verständnis von ,Religion‘ kann diese jedoch nur als eine – wenn auch bedeutsame – Debatte innerhalb des modernen Religionsdiskurses verstanden werden. Ist es angesichts dieser Problematik möglich, die Frage nach der Regelmäßigkeit des modernen Religionsdiskurses auch auf andere Weise zu stellen?
4.3 Die Unterscheidungen der Religion: Versuch einer heuristischen Bestimmung Wie bereits angekündigt, soll im Folgenden der heuristische Vorschlag plausibilisiert werden, die Einheit des modernen Religionsdiskurses durch bestimmte Unterscheidungen zu charakterisieren. Die hier behandelten Unterscheidungen sind dabei die Unterscheidung zwischen ,Religion‘ und anderen Bereichen (Differenzierung) und die Unterscheidung zwischen einer ,Religion‘ und einer anderen (Pluralität). Ohne behaupten zu wollen, dass sich nicht noch weitere solche Unterscheidungen der Religion bestimmen ließen, wird vorgeschlagen, dass die Regelmäßigkeit, die die Individualisierung des modernen Religionsdiskurses als einer einheitlichen diskursiven Formation ermöglicht, als Kombination von zumindest diesen zwei Unterscheidungen betrachtet werden kann. Aus diskurstheoretischer Sicht ist eine solche Vorgehensweise sicherlich eine ,Notlösung‘, sie dient hier allerdings arbeitspragmatisch der Entfaltung einer alternativen Perspektive auf die in der vorliegenden Arbeit bereits aufgezeigten Problemlagen.
Unterscheidungen der Religion: Versuch einer heuristischen Bestimmung 161
4.3.1 Die Pluralität der modernen ,Religion‘ Im vorherigen Kapitel hatten verschiedene der behandelten Autoren in ihrer Beschäftigung mit dem europäisch-westlichen Verständnis des Religionsbegriffs darauf hingewiesen, dass der Religionsbegriff als ein ,Allgemeinbegriff ‘ in seiner ,modernen‘ Kontur impliziere, dass zwar über ,Religion‘ als Abstraktum durchaus gesprochen werden kann, dass aber diese ,Religion‘ letztlich immer in einer Pluralität von ,Religionen‘ auftritt, die als systematische und gegeneinander abgegrenzte Einheiten vorgestellt werden. Im Folgenden wird daher anhand eines kurzen Überblicks über diesen Aspekt des Religionsdiskurses von der frühen Neuzeit bis hin zum modernen Religionsdiskurs versucht, einen Einblick in die Pluralität der ,Religion‘ zu geben.78 Im Zentrum steht dabei die an Tomoko Masuzawa angelehnte These, dass sich im ,Reden über Religion‘ eine deutliche Entwicklung abzeichnet: von einem vierfachen Schema (,Christen‘, ,Juden‘, ,Mohammedaner‘, und ,Heiden‘), welches – basierend auf den vorausgehenden Entwicklungen – in der frühen Neuzeit zum ersten dominierenden Klassifikationsschema für ,Religion‘ und ,Religionen‘ wird, über eine Übergangsphase im Verlauf des 19. Jahrhunderts, hin zur Vorstellung einer Pluralität von gegeneinander abgegrenzten und miteinander vergleichbaren ,Weltreligionen‘.79
78 Diese Überlegungen basieren – wie bereits erwähnt – nicht auf einer eigenen Analyse des Diskurses anhand von Primärquellen, sondern versuchen anhand bereits vorhandener Studien und im Besonderen anhand der von Tomoko Masuzawa vorgelegten Rekonstruktionen zu verstehen, wie man die Genealogie des Religionsdiskurses und die damit verbundene Vorstellung einer Pluralität gegeneinander abgegrenzter aber vergleichbarer ,Religionen‘ beschreiben und welche Charakteristika für den Religionsdiskurs man daraus ableiten könnte. Aus diesem Grund sind die erwähnten Beispiele auch besonders dem anglophonen Kontext entnommen, da ich mich vor allem auf die Rekonstruktionen stütze, die Masuzawa in ihrem Buch „The Invention of World Religions“ vorgelegt hat. Die Unzulänglichkeit einer solchen Herangehensweise aus diskurstheoretischer Perspektive ist dem Verfasser bewusst, ließ sich aber aus arbeitspragmatischen Gru¨ nden nicht vermeiden. 79 Vgl. zu diesem Phasenschema auch ebd., 22. Sie spricht dort im Bezug auf das frühe 20. Jahrhundert von einem „new discourse of world religions“ sowie von einem dieser Entwicklung vorausgehenden „premodern to early-modern system of classifying religions – or more precisely, system of ordering nations“. Besonders das 19. Jahrhundert betrachtet sie dann als eine „transitional or metamorphic phase“. Die zeitliche Verortung der beiden Phasen durch Masuzawa ist sicherlich diskussionswürdig. Vgl. auch Peter Beyer, der zu dieser Entwicklung feststellt: „The net result, however, was the reinforcement of the notion that religion expressed itself not as a single quality that admitted of a certain variety in its outward forms (like virtue!), but through a plurality of separate and mutually distinguishable religions“ (Religions in Global Society, 74).
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4.3.1.1 Der frühneuzeitliche Diskurs Tomoko Masuzawa hat die Entstehung und den Wandel dieser mit ,Religion‘ verbundenen europäisch-westlichen Klassifikationsstrategie von der frühen Neuzeit bis ins frühe 20. Jahrhundert in ihrer Studie über The Invention of World Religions detailliert untersucht.80 Unter dem Eindruck des endgültigen Zerfalls der Einheit der Christenheit in der Folge der Reformation sowie der europäischen Expansion und der damit einhergehenden Begegnung Europas mit der Vielfalt außereuropäischer Situationen kam es in der frühen Neuzeit zu einer Transformation bisheriger Kategorisierungen der Wahrnehmung außereuropäischer Verhältnisse in ein neuartiges Klassifikationsschema, das in der frühen Neuzeit und bis zur Moderne eine der grundlegenden Arten und Weisen darstellte, die Pluralität menschlicher Ausdrucksformen zu verstehen. Dieses Schema beruhte durchaus auf älteren Einteilungen, konfigurierte diese aber in einer anderen Form und vor dem Hintergrund der nun immer prominenter werdenden Begrifflichkeit von ,Religion‘ neu. Somit trat in der frühen Neuzeit in Europa ein zwar einerseits bereits auf eine längere Geschichte zurückblickendes, sich aber nun andererseits im Kontext der Kategorie ,Religion‘ neu formierendes Klassifikationsschema der Einteilung der Völker der Welt in vier Kategorien in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Diese Einteilung sah neben den drei Gruppen der ,Christen‘, ,Juden‘ und ,Mohammedaner‘ eine vierte, flexiblere Kategorie vor, die unter Bezeichnungen wie ,Heiden‘, ,Götzendiener‘ oder auch ,Polytheisten‘ fungierte und unter der alles in den anderen drei Kategorien nicht integrierbare Restliche eingeteilt wurde. Zentrales Kennzeichen dieser Klassifikation war im frühneuzeitlichen Europa neben ihrer weiten Verbreitung die mit ihr verbundene relativ große Elastizität der vier Kategorien. Im Kontext verschiedener Entwicklungen in der frühen Neuzeit und besonders durch ihre Verbindung mit der Kategorie ,Religion‘ gewann diese bereits lange bekannte Einteilung noch einmal erheblich an Relevanz. So wurden die damit bezeichneten vier Gruppierungen zunehmend nicht mehr als ,Völker‘ oder ,Nationen‘, sondern vor allem als unterschiedliche ,Religionen‘ verstanden.81 Während es auf den ersten Blick so erscheint, dass sich diese Einteilungen von späteren Vorstellungen von ,Religion‘ nicht allzu sehr unterscheiden, zeigt sich die variable Natur der vierfachen Einteilung etwa in den Fällen, in denen die Anhänger der drei abrahamitischen ,Religionen‘ alle als ,Christen‘ bezeichnet werden konnten, wohingegen in wieder anderen Fällen alle diejenigen, die nicht direkt mit dem ,Christentum‘ identifiziert wurden (also auch 80 Masuzawa, Tomoko, The Invention of World Religions, or, How European Universalism Was Preserved in the Language of Pluralism, Chicago 2005. 81 Vgl. ebd., 46 – 47.
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,Juden‘ und ,Muslime‘) unter die Kategorie der ,Heiden‘ und ,Götzendiener‘ fielen.82 Rekonstruieren und beobachten lässt sich die Entwicklung dieses Klassifikationsschemas vor allem in den Schriften der Gelehrten der frühen Neuzeit, auf die Masuzawa in ihrer Analyse daher auch vor allem zurückgreift. In den Titeln der Werke lassen sich hier oftmals schon entscheidende Akzentuierungen ablesen. Ein frühes Beispiel für eine sehr breite Verwendung der Kategorie des ,Götzendienstes‘ (idolatry) ist etwa die von Samuel Purchas (1577?–1626) im Jahr 1613 publizierte und unter dem Titel Purchas His Pilgrimage, or Relations of the World and the Religions Observed in All Ages and Places Discovered, from the Creation unto This Present bekannt gewordene Schrift.83 Die Problematik der Abgrenzung einer spezifischen ,Religion‘ taucht dabei zunächst in der Bestimmung der Einheit der Christenheit auf. Wo ist die Grenze dessen, was noch zur Christenheit gezählt werden kann? Und wie lassen sich dann diese Gruppen innerhalb des Christentums von den ganz anderen ,Religionen‘ ausserhalb unterscheiden? Auch wenn diese Problematik sich bereits dort andeutet, scheint – so Masuzawa – eine solche Fragestellung für die frühneuzeitlichen Texte allerdings zunächst noch nicht von zentraler Relevanz gewesen zu sein.84 Nicht zuletzt lässt sich erkennen, dass bestimmte in diesem Zusammenhang bereits wichtige Bezeichnungen wie ,Sekte‘ und ,Denomination‘ sich dann erst im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts nur noch ausschließlich auf Gruppierungen innerhalb einer einzelnen ,Religion‘ beziehen und nicht mehr auch als Bezeichnung für religiöse Gruppierungen an sich verwendet werden. Auch daran lässt sich daher ablesen, dass sich das Bild von einer Reihe klar gegeneinander abgegrenzter und jeweils in sich geschlossener ,Religionen‘ erst im Lauf der Zeit vervollständigt. Masuzawa illustriert diese Entwicklung in der Begriffsverwendung durch den Verweis auf die Änderung des Titels eines Werkes von Hannah Adams (1755 – 1831). Hieß die erste Auflage von 1784 noch An Alphabetical Compendium of the Various Sects Which Have Appeared in the World from the Beginning of the Christian Era to the Present Day, so wurde daraus in der vierten Auflage: A Dictionary of All Religions and Religious Denominations. Ähnliches lässt sich auch an Vincent Milners Religious Denominations of the World (1859/1860) beobachten, das in den 1870ern ebenso eine Änderung des Titels erfuhr und zu Religions of the World wurde.85 So diente in der frühen Neuzeit dieses Viererschema in einer Vielzahl von Schriften, die sich sowohl mit den antiken als auch den zeitgenössischen Völkern der Welt befassen, als grundlegende Einteilung. Eine entsprechende 82 83 84 85
Vgl. ebd., 51. Vgl. ebd. Vgl. ebd., 57. Vgl. ebd., 58.
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Auseinandersetzung mit der neu beobachteten Vielfalt zeigt sich aber nicht nur in Texten, sondern durchaus auch in anderen Medien, wie etwa in der in den berühmten Gravuren Bernard Picarts dargestellten Pluralität der Coromonies et coutumes religieuses de tous les peoples du monde.86 Vom frühen 17. Jahrhundert bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts dominiert also trotz ihrer oftmals erkennbaren Unbestimmtheit und Elastizität diese vierfache Einteilung. In gleicher Weise, so gibt Masuzawa zu bedenken, ist aber auffällig, dass mit dieser Einteilung und vor allem mit der allgemeinen Kategorie der ,Heiden‘ die Frage nach der tatsächlichen Anzahl 86 Die Gravuren erschienen in „C~r~monies et coutumes religieuses de tous les peoples du monde“, publiziert von Jean Fr~d~ric Bernard in Amsterdam im Jahr 1723. Dieses Buch erschien u¨ ber den Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts in zahlreichen Neuauflagen und Übersetzungen. So etwa schon 10 Jahre nach dem Original in sieben Bänden unter dem Titel „The Ceremonies and Religious Customs of the Various Nations of the Known World […]“ (1733 – 1739) (vgl. Masuzawa, The Invention of World Religions, 63). Siehe zu Picart auch: von Wyss-Giacosa, Paola, Religionsbilder der frühen Aufklärung. Bernard Picarts Tafeln für die „Ceremonies et Coutumes religieuses de tous les Peuples du Monde“, Wabern 2006; Hunt, Lynn et al., Bernard Picart and the First Global Vision of Religion, Los Angeles 2010; dies. et al., The Book That Changed Europe. Picart & Bernard’s Religious Ceremonies of the World, Cambridge 2010. An die weite Verbreitung dieses Textes, aber vor allem auch der Gravuren Picarts, ließe sich die Frage anschließen, inwieweit diese (neben vielem Anderen) dafür verantwortlich gemacht werden können, dass dieser frühneuzeitliche Religionsdiskurs eben nicht nur eine Angelegenheit der akademischen Beschäftigung geblieben ist, sondern tatsächlich als ein Diskurs im Foucaultschen Sinne betrachtet werden kann. Gleichzeitig ließe sich dieses Beispiel darauf hin untersuchen, inwiefern die Kategorienbildung, um die es hier geht, eben nicht ausschließlich auf einer sprachlich-textuellen Ebene angesiedelt war, sondern sich auch über andere Medien verbreitet hat. Denn das Werk von Jean Fr~d~ric Bernard und Bernard Picart zeichnet sich ja vor allem durch seine zahlreichen Bildtafeln aus, welche die Klassifikationsstrategien des entstehenden Religionsdiskurses damit auch der nicht alphabetisierten Bevölkerungsmehrheit zugänglich gemacht haben. Zum Verhältnis von Diskurs und Bild siehe auch Maasen, Sabine et al. (Hg.), Bilder als Diskurse – Bilddiskurse, Weilerswist 2006. Auf ähnliche Weise könnte man als beispielhaftes Medium für den modernen Religionsdiskurs möglicherweise die Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts und ihre Kulmination im „Weltparlament der Religionen“ im Rahmen der „World’s Columbian Exhibition“ 1893 in Chicago anführen. Auch hier ist die Bedeutung, welche diese Ausstellungen für die Popularisierung der neuartigen Kategorisierungen hatten – folgt man John P. Burris – nur schwer zu überschätzen. Vgl. Burris, John P., Exhibiting Religion. Colonialism and Spectacle at International Expositions, 1851 – 1893, Charlottesville 2001, xiii. Er nennt diese in seiner Studie „the most comprehensively global intercultural events that had ever been staged.“ Ihr Einfluss auf das, was Burris als „the emergence of a field of religion“ bezeichnet, werde zumeist stark unterschätzt. Anhand der Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts lasse sich zeigen, wie Religion als „a unique new field of intellectual inquiry, and religions, as the most basic source matter for that field, could come into clearer focus than ever before.“ Es sei daher nicht zuletzt diesen Ausstellungen zu verdanken, dass dieses „field of religion“ zu einem „distinct, differentiated, and permanent feature of the Western intellectual landscape“ werden konnte (ebd., xiii). Ihr Einfluss als Medien des modernen Religionsdiskurses lässt sich gleichzeitig auch an den Besucherzahlen ablesen. So wurde die erste dieser internationalen Ausstellungen, die „Great Exhibition“ in London im Jahr 1851 vermutlich von rund 20 Prozent der englischen Bevölkerung besucht. Auf der Ausstellung in Chicago im Jahr 1893 wurden 27 Millionen Besucher gezählt, zu einer Zeit in der die Einwohnerzahl des Landes etwa bei 66 Millionen lag (ebd., xiv).
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von ,Religionen‘ auf der Welt nicht beantwortet war. Gleichzeitig war diese Frage zu dieser Zeit wohl auch nicht unbedingt relevant für eine Verwendung der Vierer-Klassifikation, die für ihre Beantwortung auch nicht geeignet gewesen wäre.87 Denn anders als im Verlauf der späteren Entwicklung, wo dann zumindest eine relativ stabile Anzahl von ,Religionen‘ als Antwort auf diese Frage benannt werden konnte – jedenfalls solange es um die ,Weltreligionen‘ ging –, stellte sich diese Problematik in der frühen Neuzeit noch anders dar. Die Frage nach der Vielfalt der ,Religionen‘ ließ sich der Vierer-Klassifikation zufolge zumindest auf zweierlei Arten beantworten. Zum einen mit dem Verweis auf die vier ,Religionen‘: drei klar identifizierbare Gruppierungen sowie eine allgemeiner gehaltene Kategorie, unter welcher der Rest eingeteilt wurde, ohne dass die Zahl der Untereinheiten in dieser letzten Kategorie dabei eine Rolle spielte. Zum anderen mit der dem vierfachen Schema zumeist zugrunde liegenden Vorstellung, dass hinter dieser Vielfalt in letzter Konsequenz nur eine einzige, wahre ,Religion‘ existiere, die sich im Christentum zeige.88 Laut Masuzawa bestand dieses Schema relativ konstant bis in das frühe 19. Jahrhundert: Thus four seemingly well-marked categories – Christianity, Judaism, Mohammedanism, idolatry (or heathenism, paganism, or polytheism) – recur in book after book with little variation from at least the early seventeenth century up to the first half of the nineteenth century.89
Gerade aufgrund dieser Konstanz ist es allerdings wichtig zu beachten, dass diesem vierfachen Schema besonders in seiner Frühform noch nicht die Vorstellung von unterschiedlichen ,Religionen‘ im Sinne von gegeneinander vollständig abgegrenzten Systemen zugrunde liegt. Vielmehr beschreibt dieses Schema – wie Maszuzawa betont – ,Nationen‘ oder ,Völker‘, „according to the kinds of homage they pay, the ceremonies and customs they observe for that purpose, as well as according to the specific objects and beings to which they perform these acts“.90 Ähnlich betont ja, wie wir gesehen haben, auch Ernst Feil in seiner Rekonstruktion der Begriffsgeschichte von religio, dass sich ein Verständnis des Begriffs als auf „manifeste Vollzüge“ bezogen sehr lange erhalten habe.91 Die genannten Gruppierungen der ,Christen‘, ,Juden‘ und ,Muslime‘ entsprechen daher auch noch nicht der späteren Vorstellung von unterscheidbaren aber auch vergleichbaren Einheiten wie Christentum, Judentum, Buddhismus, Hinduismus und anderen ,-ismen‘. So lässt sich dann auch verstehen, dass gerade in den frühneuzeitlichen Texten der Fokus eher 87 88 89 90 91
Vgl. Masuzawa, The Invention of World Religions, 59. Vgl. ebd., 60 – 61. Ebd., 59. Ebd., 61. Vgl. Feil, Religio IV, 16.
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auf der Aufzählung einer Vielzahl von interessanten Eigentümlichkeiten und Gebräuchen der unterschiedlichen Völker liegt, und sich weniger der Versuch findet, ein diesen Besonderheiten zugrunde liegendes einheitliches und systematisierendes Prinzip ausfindig zu machen.92 Das Anliegen der Autoren der frühen Übersichtswerke über die ,Religionen‘ war daher vielmehr, die Leser mit exotischem Wissen sowie Erzählungen über Reisen und Abenteuer zu versorgen und sie durch Berichte wie auch Bilder an diesen Erlebnissen teilhaben zu lassen.93 Eine ,systematische‘ oder gar ,wissenschaftliche‘ Darstellung war in diesem Zusammenhang nicht das Ziel. Auch wenn solche Auflistungen von Absonderlichkeiten auch in heutigen Werken noch teilweise zu finden sind, lassen sich an den Transformationen, denen dieses Schema einer vierfachen Einteilung dann über den Verlauf des 19. Jahrhunderts unterworfen ist, aufschlussreiche Veränderungen im ,Reden über Religion‘ erkennen. Tomoko Masuzawa teilt die Entwicklung der Klassifikationsschemata für ,Religionen‘ (wie eingangs bereits erwähnt) grob in drei Phasen auf, von denen die bisher beschriebene Situation einer relativ klar etablierten vierfachen Einteilung in der frühen Neuzeit die Vorgeschichte des heutigen modernen Diskurses darstellt. Sie kann daher heuristisch als ein zentrales Charakteristikum des frühneuzeitlichen Religionsdiskurses bezeichnet werden.94 Besonders das neunzehnte Jahrhundert lässt sich dann im Anschluss an Masuzawa als eine Zeit verstehen, in der zum einen bestimmte Veränderungen und neuartige Kategorien und Einteilungen erstmals klare Gestalt erlangen, die aber zum anderen als eine Zeit des Übergangs auch von hybriden Formen der Einteilung und von Überlappungen gekennzeichnet ist. Erst im frühen 20. Jahrhundert, so Masuzawa, gewinnt mit dem Diskurs der ,Weltreligionen‘ die neuartige Klassifikation dann ihre vollständig ausgebildete Gestalt, auch wenn das 19. Jahrhundert deren Entwicklung sicherlich schon in weiten Bereichen vorzeichnet.95 Laut Masuzawa ist es auch genau diese Übergangsphase des 19. Jahrhunderts, in welcher sich der heutige akademische Religionsdiskurs ausdifferenziert und in der so etwas wie eine wissenschaftliche Beschäftigung mit ,Religion‘ erstmals institutionalisiert wird und schließlich unter anderem in der Disziplin der Religionswissenschaft mündet.96 Bei diesem von Masuzawa beschriebenen Transformationsprozess handelt 92 Vgl. Masuzawa, The Invention of World Religions, 61. 93 Vgl. ebd., 62 – 63. 94 Es ist allerdings wichtig, hier anzumerken, dass der Fokus in der vorliegenden Arbeit deutlich auf der Beschäftigung mit dem modernen Religionsdiskurs liegt. Die hier gebotene grobe Skizze des diesem vorausgehenden frühneuzeitlichen Diskurses dient daher vor allem zur Illustration der besonderen Charakteristika des modernen Diskurses. 95 Vgl. ebd., 64. 96 Vgl. ebenda. Diese Darstellung der Disziplingeschichte ist sicherlich diskussionswürdig. Entscheidend ist dabei die Frage, ob es um eine Geschichte der Disziplin geht, oder um eine wissenschaftliche Beschäftigung mit ,Religion‘, die etwa Peter Harrision sehr viel früher ansetzt und gerade als einen zentralen Aspekt der Entstehung der modernen Vorstellung von ,Religion‘ verstehen will. Vgl. Harrison, ,Religion‘ and the Religions, 2 – 3.
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es sich allerdings nicht einfach um den problemlosen Wechsel von einem Schema der Einteilung zu einem anderen unter Beibehaltung der bezeichneten Phänomene: The collapse of the old taxonomy was not, however, simply a matter of one framework losing ground and eventually being replaced by another. What changed was not so much the method of how to count and categorize religions, but the very manner in which – in an important sense, for the first time – a „religion“ was to be recognized, to be identified as such, so that it might be compared with another.97
4.3.1.2 Der moderne Diskurs Die Entwicklung über den Verlauf des 19. Jahrhunderts führte dann spätestens im frühen 20. Jahrhundert zum endgültigen Auftauchen eines in vieler Hinsicht neuartigen Schemas mitsamt einer Liste von ungefähr zehn bis zwölf ,Weltreligionen‘, neben denen dann eine variierende Anzahl kleinerer ,Religionen‘ und ,Traditionen‘ berücksichtigt wurde. Diese neue Form der Einteilung von ,Religionen‘ löste dann auch die letzten Überbleibsel der früheren Einteilung in ,Völker‘ und ,Nationen‘ ab, und setzte sich über den Verlauf des 20. Jahrhunderts weiträumig als Klassifikation durch.98 Ihre Unterschiede im Vergleich zu den Diskussionen noch des 19. Jahrhunderts sind auffallend. Die Konstanz, mit der sich dieses Schema bis heute gehalten hat, unterscheidet sich gleichzeitig deutlich von den zahlreichen und durchaus unterschiedlichen Anstrengungen, die über den Verlauf des 19. Jahrhunderts unternommen wurden, um zu einer klaren Einteilung von ,Religionen‘ zu gelangen. Denn eine in dieser Weise relativ feststehende Liste von ,Weltreligionen‘ scheint, so Masuzawa, vor dem frühen 20. Jahrhundert überhaupt nicht existiert zu haben. Im 19. Jahrhundert erschien die Anzahl besonders der als wichtig betrachteten ,Religionen‘ lange sehr unklar. Neben den ,Christen‘ fanden sich zunächst nur die bereits lange bekannten ,Mohammedaner‘ und ,Juden‘, und daneben immer häufiger der ,Buddhismus‘.99 Noch um 1860 findet sich auch der immer noch mögliche Rückgriff auf die frühere vierfache Einteilung wie im Titel von Vincent Milners Werk Religious Denominations of the World. Comprising a General View of the Origin, History and Condition of the Various Sects of Christians, the Jews, and Mahometans, as well as the Pagan Forms of Religion Existing in the Different Countries of the Earth.100 Es muss in diesem Zusammenhang allerdings zunächst zwischen der Vorstellung einer Pluralität von einzelnen ,Religionen‘, dem Begriff ,Weltreligion‘ selbst, sowie zwischen den frühen Anfängen und der erfolgten voll97 98 99 100
Masuzawa, The Invention of World Religions, 64. Vgl. ebd., xi. Vgl. ebd., 46. Vgl. ebd., 47.
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ständigen Etablierung des modernen Weltreligionsdiskurses unterschieden werden, da sich diese Aspekte durchaus zu unterschiedlichen Zeiten entwickelt haben. Masuzawa spricht daher von einem „rhizomatic growth“ und will damit darauf hinweisen, dass „much of the logic of this discourse had already taken shape underground before its appearance.“101 Die Begrifflichkeit der ,Weltreligionen‘ selbst ist heute so weit verbreitet, dass es – zumindest außerhalb der Debatten der Religionswissenschaft selbst – für viele Betrachter unstrittig erscheint, was unter diesem Begriff zu verstehen sei.102 Masuzawa verbindet die entscheidenden Weichenstellungen in der Entstehung der frühneuzeitlichen Vierer-Klassifikation und des ,Weltreligionsdiskurses‘ im 19. Jahrhundert mit zwei Krisen der westlichen Weltwahrnehmung. Während die Kategorien der ,Religion‘ und der ,Religionen‘ in ihrer engen Verbindung mit dem genannten vierfachen Klassifikationsschema in der frühen Neuzeit im Kontext einer intensiven Konfrontation Europas mit außereuropäischen Verhältnissen entstanden, entwickelte sich die Kategorie der ,Weltreligionen‘ in dem Moment, als diese Begegnung nun zu einer Herausforderung im Kontext der globalen Moderne103 wurde: „In short, what makes ,world religions‘ imaginable and palpable as an objective reality is something like a new sensibility of global awareness, a sense of immediacy of the far and wide world.“104 Auch wenn die Kontinuität zu der bereits beschriebenen vierfachen Klassifizierung, welche den frühneuzeitlichen Religionsdiskurs bestimmt hat, durchaus nicht vernachlässigt werden sollte, ist gerade hier gegenüber dem sich im 19. Jahrhundert etablierenden modernen Religionsdiskurs durchaus eine entscheidende Diskontinuität festzustellen.105 Diese betrifft nicht nur die – wie ich im Folgenden argumentieren werde – neuartige Kombination der beiden hier behandelten Charakteristika des modernen Religionsdiskurses (Pluralität und Differenzierung), sondern bereits die mit den beiden Klassifikationsschemata verbundenen unterschiedlichen Vorstellungen von Pluralität selbst. Gleichzeitig kann es in der Rekonstruktion dieser Transformation nicht primär um die Behauptung einer klaren chronologischen Trennung gehen und gleichsam nicht um die Behauptung, dass das hier identifizierte komparative Moment eine vollständige Neuentwicklung im Kontext des modernen Religionsdiskurses darstellt. Denn wie auch Masuzawa mit Verweis auf eine bekannte Studie David Chidesters feststellt, war die Praxis des Vergleichs etwa im Afrika des 17. und 18. Jahrhunderts nicht nur ein Ergebnis kolonialer Religionsdiskurse, sondern vielmehr auch bereits konstitutiv für 101 Ebd., 11. 102 Vgl. ebd., 1. 103 ,Globale Moderne‘ hier verstanden etwa im Sinne von Bayly, Christopher A., The Birth of the Modern World. Global Connections and Comparisons, Malden 2004. 104 Masuzawa, The Invention of World Religions, 40. 105 Vgl. ebd., 64.
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die Identifikation und Abgrenzung einer Pluralität von ,Religionen‘.106 Somit ist hier im Kontext der vorliegenden Arbeit vor allem nach dem Ergebnis dieses Transformationsprozesses hin zum modernen Religionsdiskurs zu fragen, in dem sich über den Verlauf des 19. Jahrhundert die folgende Überzeugung durchsetzt: „the seemingly axiomatic notion that both ,religion‘ as a genus and ,religions‘ as particular species are objectively discernible, identifiable, and at least in principle, isolable.“107 Denn auch wenn sich die Wahrnehmung einer Pluralität von ,Religionen‘ bereits für die frühneuzeitlichen Religionsvergleiche feststellen lässt, tritt im modernen Religionsdiskurs die Notwendigkeit ebenso wie die Möglichkeit der Identifikation und Abgrenzung von ,religious customs‘ von anderen ,ceremonies and customs‘ viel stärker in den Fokus. Anders als in den frühen Texten, die unter Verwendung des Religionsbegriffs eine umfangreiche Ansammlung von nicht differenzierten Kuriositäten darboten, lassen sich dann – aber eben auch erst dann, wie Masuzawa betont – um die Mitte des 19. Jahrhunderts in einigen Texten die Übergänge zu einer modernen Form der Vorstellung einer Pluralität von abgegrenzten ,Religionen‘ finden.108 Die über die neue Kategorisierung vorgenommene Re-Imagination der ,Religionen‘ ließ diese nun nicht länger im Kontext einer unsystematischen Ansammlung kurioser Gebräuche und Riten erscheinen. Vielmehr wurden die einzelnen ,Religionen‘ in der Vorstellung des 19. Jahrhunderts zu „vast and powerful metaphysical system[s] deeply ingrained in the social fabric of a particular nation, and in the psychical predilections of its individual citizens and subjects.“109 ,Religion‘ hatte die nicht-westlichen Völker fest im Griff – ähnlich wie dies aus Sicht der zeitgenössischen Eliten auch für die ungebildete und ländliche Bevölkerung der westlichen Länder galt.110 106 Vgl. ebd., 65 (Fußnote 48). Siehe Chidester, Savage Systems. 107 Masuzawa, The Invention of World Religions, 64 – 65. 108 Vgl. ebd., 65 – 66. Der noch nicht erfolgte Übergang zum modernen Diskurs mit seiner Liste gleichgeordneter Weltreligionen ist, so Masuzawa, zum Beispiel an dem Text „An Analytical and Comparative View of All Religions Now Extant among Mankind: With their Internal Diversities of Creed and Profession“ (1838) von Josiah Conder (1789 – 1855) gut zu erkennen. So wird dort unter der Rubik „monotheistic religions“ etwa auch „Magianism“ verhandelt (worunter man, wie sie sagt, heute wohl die vorislamische iranische ,Religion‘ verstehen würde). Die Themen des Kapitels „polytheism and pantheism“ illustrieren dies noch deutlicher. So werden (zitiert nach der Zusammenstellung von Masuzawa) die folgenden „Religions“ beschrieben: „early religion of India allied to Magianism / Brahminical idolatry / Buddhism and Jainism / discussion on the characteristics of polytheism and pantheism / Vedas, Pooranas, Tantras, Reformed sects [of Hindustan] / Sikhs / Lamaism / religion of China and Japan / Birma and Siam / illiterate superstitions“ (ebd., 66, die Einfügung stammt von Masuzawa). Nicht nur erscheinen diese also dem Christentum noch in keiner Weise wirklich ,gleichgestellt‘, vielmehr wird etwa neben „Buddhism“ – und getrennt von diesem – auch „Lamaism“ behandelt. Wie Masuzawa richtig feststellt, ist die Transformation der Klassifikation hier also noch in vollem Gange und Conders Buch somit ein hybrider Text aus dieser Übergangsphase. 109 Masuzawa, The Invention of World Religions, 18. 110 Vgl. ebd., 19.
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In den Kontext dieser Entstehung einer neuen Kategorisierung von ,Religionen‘ gehört auch der Begriff der „Weltreligion“ (world religion), der besonders im 20. Jahrhundert ein Nebeneinander von ,Religionen‘ als systematisch voneinander abgegrenzten Einheiten impliziert.111 Spätestens um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert trat die Kategorie der ,Weltreligion‘ eine rasante Karriere innerhalb und außerhalb akademischer Debatten an.112 Besonders in den USA fand die Begrifflichkeit der ,Weltreligion‘ großen Anklang. Masuzawa geht sogar soweit zu konstatieren, dass die Vorstellung von ,Weltreligionen‘, so wie sie uns heute geläufig ist, in erster Linie als ein amerikanisches Phänomen des 20. Jahrhunderts verstanden werden sollte.113 Besonders die 1920er und frühen 1930er Jahre stellen hier die Zeit dar, in der sich diese Klassifikation in ihrer bis heute etablierten Form entfaltet.114 In den nun überall auftauchenden neuartigen Listen der ,Weltreligionen‘ finden sich dann meist zehn bis zwölf Kandidaten. Zu diesen zählen etwa in Jack Finegans The Archaeology of World Religions in den 1950ern folgende Religionen: „Judaism, Christianity, Islam, Zoroastrianism, Hinduism, Buddhism, Jainism, Sikhism, Confucianism, Taoism, Shinto, and primitivism“.115 Masuzawa rekonstruiert den Religionsdiskurs vorrangig als eine akademische Debatte, weist allerdings für die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts und das frühe 20. Jahrhundert auf einige Kontexte hin, welche für die weitere Entwicklung des modernen Religionsdiskurses ihrer Ansicht nach von großer Bedeutung waren. Dies sind zum einen die immer weiter zunehmenden Veröffentlichungen auf dem Buchmarkt, welche zunehmend auch für eine breitere Öffentlichkeit bestimmt sind. Besondere Bedeutung kommt hier den unter der Leitung von Friedrich Max Müller erscheinenden Sacred Books of the East zu,116 neben denen aber auch weitere akademische ebenso wie an ein Massenpublikum gerichtete Überblickswerke zu den ,Weltreligionen‘ wichtig werden.117 Als entscheidenden Moment betrachtet sie darüber hinaus das World’s Parliament of Religions in Chicago 111 Die Begriffsgeschichte von ,Weltreligion/Weltreligionen‘ ist bislang nicht detailliert aufgearbeitet. Masuzawa versucht einen vorläufigen Überblick zu liefern und verfolgt das erste Auftreten der Begrifflichkeit im Holländischen und Deutschen sowie deren frühe Übersetzungen ins Englische. Vgl. ebd., 109 – 120. Dieser sicherlich unvollständigen Rekonstruktion kann hier allerdings nicht weiter nachgegangen werden. Vgl. aber Lanczkowski, Günter, Weltreligion(en), in: J. Ritter et al. (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, 13 Bände, Basel 1971 – 2007, Bd. 12, Sp. 510 – 512 sowie die Angaben in Tyrell, Hartmann, Universalgeschichte, Weltverkehr, Weltgesellschaft. Begriffsgeschichtliche Anmerkungen, Soziale Systeme 16/2, 2010, 313 – 338, hier: 321 (Fußnote 16). 112 Vgl. Masuzawa, The Invention of World Religions, 117. 113 Vgl. ebd., 32. 114 Vgl. ebd., 37. 115 Ebd., 44. 116 Vgl. ebd., 259 – 265. 117 Vgl. ebd., 291.
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1893, ein ,Weltereignis‘, welches zumindest stellvertretend als entscheidender Moment der endgültigen Etablierung der Klassifikation der ,Weltreligionen‘ gelten kann.118 Neben diesen Kontexten ließe sich auch noch die prominente Einrichtung von Vorlesungsreihen an unterschiedlichen Universitätsstandorten nennen, die wie z. B. die Gifford Lectures auch entscheidend in die Öffentlichkeit hinein ihre Wirkung entfaltet haben.119 Auch wenn die vorliegende Arbeit im Folgenden keine über die von Masuzawa geleistete Aufarbeitung hinausgehende allgemeine Rekonstruktion des modernen Religionsdiskurses anstreben kann, lässt sich u. a. anhand des von ihr präsentierten Materials eine heuristische Charakterisierung des Religionsdiskurses versuchen, die in den folgenden Kapiteln auf ihre Ergiebigkeit hin befragt wird. Dabei betont auch Masuzawa, dass es ein zentrales Problem ihrer Betrachtung des modernen Religionsdiskurses ist, dass sich dessen globale Auswirkungen nicht allein im Blick auf akademische Debatten verfolgen lassen: „the reality of world religions today – that is, the stubborn facticity of these categories and the actual world that seems to conform to them in many ways – is obviously not of the European academy’s making, no matter how decisive its role.“120 Während die ,Konstruktionsarbeit‘ für die Entstehung des modernen Religionsdiskurses und seiner Kategorien durchaus zu einem bedeutenden Teil von den gelehrten Traktaten und der akademischen Beschäftigung mit diesen Klassifizierungen geleistet wurde, ist doch auch im Umfeld der von ihr selbst angeführten Beispiele bereits deutlich früher eine sehr viel umfassendere Auswirkung des Wandels der Klassifikationen zu beobachten. Entscheidend ist hier vor allem, dass die Kategorisierung von ,Religionen‘ und der Kontext, in dem sich die Debatte um die ,Weltreligionen‘ entspinnt, ein zentrales Kennzeichen des Hochimperialismus darstellt. Als Teil kolonialer Kontrollstrategien war die Klassifikation von ,Religionen‘ nie eine rein akademische Beschäftigung, sondern von Beginn an mit kolonialen Interessen verbunden.121 Diese Problematik der globalen Dimension des modernen Religionsdiskurses soll hier jedoch noch zurückgestellt werden und ist Thema des nächsten Kapitels. Für die Bestimmung der Charakteristika des ,Redens über Religion‘ wurde 118 119 120 121
Vgl. ebd., 265 – 274. Vgl. ebd., 275. Ebd., xiv. Siehe die heute schon klassische Studie von Chidester, Savage Systems. Dieser enge Zusammenhang zwischen (national-)staatlicher Macht und dem modernen Religionsdiskurs ist natürlich nicht allein für die Hochphase des Kolonialismus wichtig, sondern besonders auch für das 20. Jahrhundert. Als ein sehr instruktives Beispiel dafür kann Indonesien mit seiner staatlichen Religionspolitik auf Basis des Prinzips der pancasila dienen. Siehe als nur ein Beispiel neben vielen anderen Abalahin, Andrew J., A Sixth Religion? Confucianism and the Negotiation of Indonesian-Chinese Identity under the Pancasila State, in: A.C. Willford/K.M. George (Hg.), Spirited Politics. Religion and Public Life in Contemporary Southeast Asia, Ithaca 2005, 119 – 142.
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hier nun zunächst darauf fokussiert, auf welche Weise zwischen ,Religionen‘ unterschieden wird. Hier lässt sich bei allen Unterschieden in den einzelnen Konzeptionen und Begriffsentwürfen eine gewisse Regelmäßigkeit insofern feststellen, als dass ,Religionen‘ als Entitäten verstanden werden, deren Einteilung bestimmten Klassifikationsschemata folgt. Es wurde vorgeschlagen, anhand des Wechsels und der Transformation dieser Einteilung von einem begrenzten Vierer-Schema hin zu einer offenen Pluralität von (Welt-)Religionen diese Klassifikationen als Charakteristika eines frühneuzeitlichen sowie eines modernen Religionsdiskurses zu verstehen. Diese Pluralität scheint jedoch nicht das einzige heuristisch bestimmbare Kennzeichen dieses modernen Religionsdiskurses zu sein. Daher wird im Folgenden unter dem Stichwort Differenzierung nach einem zweiten Charakteristikum gefragt.
4.3.2 Die Differenzierung der modernen ,Religion‘ Unter dem Stichwort Differenzierung soll in diesem Abschnitt versucht werden, die Vorstellung von ,Religion‘ als einem autonomen Bereich und die damit einhergehende Etablierung neuartiger Unterscheidungen als ein zweites zentrales Charakteristikum des modernen Religionsdiskurses zu verstehen. Ein solcher Vorschlag schließt eng an verschiedene bereits diskutierte Autoren an, die ,Religion‘ als „Differenzkonzept“ (Matthes) bezeichnet hatten und die gerade die mit dieser Bestimmung einhergehende Vorstellung der Notwendigkeit und Möglichkeit bestimmter Unterscheidungen (etwa von ,Religion‘ und ,Politik‘) als problematisch für eine zu erarbeitende – religionstheoretische(!) – Definition des Religionsbegriffs und dessen Verwendung als vergleichenden, kulturübergreifenden Begriff identifiziert hatten. Indem hier ebenfalls, wie angekündigt, ein Perspektivenwechsel vorgeschlagen wird, soll auch dies im Folgenden statt als ein Problem für die theoretische Bestimmung von ,Religion‘ vielmehr als ein Hinweis auf ein Charakteristikum des modernen Religionsdiskurses verstanden werden. Auf diese Weise wird es möglich, genau dieses Merkmal als ein spezifisch modernes Kennzeichen des ,Redens über Religion‘ in den Blick zu nehmen. Ein solcher Vorschlag schließt nicht zuletzt an Überlegungen des Religionssoziologen Peter Beyer an, der dies im Kontext seiner Beschäftigung mit der Kritik am Religionsbegriff wie folgt formuliert: Upon close inspection, what becomes relatively clear from all these critiques is that the problem these scholars see is mostly with the assumption that religion is a differentiable and independent something […] which is independent of the consciousnesses of its human carriers or of wider social structures and processes and can therefore be defined or studied in its own right. […] The critiques claim that religion is not a differentiated domain; but on closer inspection, they come much closer to saying that it should not be one, or simply that it is not everywhere and has
Unterscheidungen der Religion: Versuch einer heuristischen Bestimmung 173 not always been one. The analysis that I am presenting […] offers a way through these controversies by accepting their cogency in one respect but denying it in another : differentiated religion is a relatively recent ,invention‘ and is thoroughly implicated in the historical developments that have brought about today’s global society, ,warts and all‘. Yet it is not by that token unreal, illusory or only an artefact of the scholar’s analysis. Scientifically speaking, there is indeed ,data‘ for religion in this differentiated sense. Problems arise only when one does not take sufficient account of the historicity and therefore the peculiarity of this construction, when one assumes an ahistorical ,essence‘ for something that owes much of its visibility to these relatively recent socio-structural developments.122
Ich werde im siebten Kapitel der Arbeit noch einmal auf diesen Ansatz von Beyer zurückkommen, der sich nicht zuletzt auf weltgesellschaftstheoretische Überlegungen im Anschluss an Niklas Luhmann stützt. Im vorliegenden Zusammenhang ist nun vor allem relevant, dass Beyer hier zum einen darauf hinweist, dass diese ,Differenzierung‘ und der damit einhergehende sui generis Charakter von ,Religion‘ als abgrenzbarem Phänomen aus Sicht der meisten Autoren primär als ein Problem identifiziert wird. Sie weisen darauf hin, dass sie ,Religion‘ (im Rahmen ihrer eigenen theoretischen Perspektive!) nicht so verstehen wollen, da eine solche Bestimmung ihrer Ansicht nach eine kulturund epochenübergreifende Verwendung des Religionsbegriffs aus religionswissenschaftlicher Sicht schwierig oder unmöglich macht. Aus einer diskurstheoretischen Perspektive – in der die ,Gegenstände‘, von denen der Diskurs spricht, wie bereits mehrfach erwähnt, von diesem selbst hervorgebracht werden – könnte man im Anschluss an Beyers Überlegungen (trotz der durchaus anders gelagerten theoretischen Basis) allerdings betonen, dass die entscheidende Frage nicht ist, ob ,Religion‘ generell ein differenziertes Phänomen sui generis sei, sondern inwiefern und in welchen historischen Situationen ,Religion‘ als ein solcher differenzierter diskursiver Gegenstand hervorgebracht worden ist. Ist somit diese Vorstellung von ,Religion‘ als einem unterscheidbaren Bereich (etwas ,Differenziertem‘) einer der Aspekte, welche die Regelmäßigkeit des modernen ,Redens über Religion‘ ausmachen? Wenn man versucht, dieser Frage in der hier vorgeschlagenen Perspektive nachzugehen, wird als nächstes zu fragen sein, welche Unterscheidungen diese Unterschiedenheit von ,Religion‘ hervorbringen? Von was wird ,Religion‘ unterschieden wenn es um diese ,Differenziertheit‘ geht? Sind es diese Formen der Unterscheidung, welche als Differenzierung der ,Religion‘ nach außen in ihrer Kombination mit der Pluralität der ,Religion‘ nach innen zwei zentrale Charakteristika des modernen Religionsdiskurses ausmachen? Zunächst ließe sich mit dem Verweis auf die Etablierung bestimmter Unterscheidungen als ein besonderes Kennzeichen des modernen Religionsdiskurses an vorhandene Überlegungen zur ,Moderne‘ anschließen. So bietet es 122 Beyer, Religions in Global Society, 63.
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sich an, wie der postkoloniale Theoretiker David Scott vorschlägt, die ,Moderne‘ nicht als Ziel einer teleologischen Entwicklung anzusehen, sondern als „a comprehensive alteration in the forms of social life and in the conceptual categories that define it.“ Unter ,Modernisierung‘ wäre dann nicht primär wie in klassischen Theorien ein (teleologischer) Prozess der zunehmenden Rationalisierung, Zivilisierung oder Organisierung zu verstehen. Vielmehr äußert sich diese primär in „the construction of new conceptual distinctions, new alternatives, and new options: order/chaos, for example, or rational/irrational, or traditional/modern.“123 Im Anschluss an Zygmunt Bauman könnte man sogar so weit gehen, zu behaupten, dass das ,Vormoderne‘ gerade aus diesem Grund nicht notwendigerweise als die ,andere Seite‘ der so konzipierten ,Moderne‘ und ihrer jeweiligen Unterscheidungen zu verstehen ist (etwa als das, was dann als ,Tradition‘ von dieser ,Moderne‘ unterschieden wird), sondern dass zunächst angenommen werden müsste, dass diese ,Vormoderne‘ ganz ohne jene Unterscheidungen und die von ihnen präsentierten Alternativen (oder besser, wie man Baumanns Argumentation erweitern müsste, vermutlich mit sehr anderes strukturierten Unterscheidungen) operiert hat. Eine entsprechende Vorstellung drückt Bauman etwa in folgendem Zitat aus: This world which preceded the bifurcation into order and chaos we find difficult to describe in its own terms. We try to grasp it mostly with the help of negations: we tell ourselves what that world was not, what it did not contain, what it was unaware of. That world would hardly have recognized itself in our descriptions. It would not understand what we are talking about. It would not survive such understandings. The moment of understanding would be (and it was) the sign of its approaching death. And of the birth of modernity.124
Auch Masuzawa beobachtet in ihrer Analyse des modernen Religionsdiskurses, dass dieser letztlich auf zwei miteinander verbundenen Annahmen beruht: dass ,Religion‘ ein universell abgrenzbares Phänomen sei und dass sich die Welt mehr oder weniger genau in einzelne ,Religionen‘ aufteilen lasse.125 Neben dem von ihr analysierten und im vorherigen Abschnitt rekonstruierten Wandel in der Klassifikation dieser ,Religionen‘ ist auch für sie diese zweite Ebene der Universalität von ,Religion‘ ein zentraler Aspekt des Religionsdiskurses, der in dieser spezifischen Ausprägung den modernen Religionsdiskurs zu kennzeichnen scheint. Sie sieht die Vorstellung von ,Religion‘ als eines eigenständigen Lebensbereichs so eng mit dem modernen Religionsdiskurs verknüpft, dass uns diese Behauptung gar nicht mehr als eine Behauptung auffällt. Stattdessen erscheint es in den meisten Aussagen im Kontext des 123 Scott, David, Refashioning Futures. Criticism After Postcoloniality, Princeton 1999, 66. 124 Bauman, Zygmunt, Modernity and Ambivalence, Theory, Culture & Society 7/2, 1990, 143 – 169, hier: 163. Vgl. auch Scott, Refashioning Futures, 34. 125 Vgl. Masuzawa, The Invention of World Religions, 1.
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modernen Religionsdiskurses als selbstverständlich, von ,Religion‘ als einer in der Geschichte überall aufzufindenden und auf der ganzen Welt vorhandenen eigenständigen Sphäre auszugehen.126 Eine solche Vorstellung von ,Religion‘, etwa als einer ,anthropologischen Konstante‘, ermöglicht es nicht zuletzt, davon auszugehen, dass der Mensch über eine grundlegende Wahrnehmungsfähigkeit für ,Gott‘, das ,Heilige‘ oder das ,Absolute‘ verfüge.127 ,Religion selbst‘ (und das heißt vor allem: das Christentum) wird – so Masuzawa – spätestens um die Jahrhundertwende im Bewusstsein ihrer Bedrohung durch die Umbrüche der ,Moderne‘ zu einer allgemeinen Realität, „endowed with a sense of reality of majestic proportion, not through some evidential demonstration, but by the sheer force of elocution.“128 Diese universelle ,Religion‘ weist mehrere Kennzeichen auf. So wird sie zum einen als Grundlage einer essentiellen Einheit und Gleichheit der ,Religionen‘ sowie als deren irreduzibler gemeinsamer Kern verstanden. Eine solche Vorstellung macht dann auch die Überzeugung möglich, dass die unterschiedlichen Religionen möglicherweise nur unterschiedliche Wege zu diesem einen Kern darstellen. Eine solche Überzeugung von einer grundlegenden Einheit des ,Phänomens Religion‘ bis hin zur Vorstellung eines gemeinsamen essentiellen Kerns hinter den Erscheinungsformen der einzelnen ,Religionen‘ erscheint auf den ersten Blick durchaus nicht als etwas völlig Neues, da sich Ansätze hierzu ja nicht zuletzt bereits bei den englischen Deisten finden. Das wirklich Neue an der Situation um die Jahrhundertwende – so Masuzawa – ist jedoch, dass sich eine solche Position lange Zeit in grundlegendem Konflikt mit den meisten christlichen Autoritäten befunden hatte und sich daher nur schwer behaupten konnte. Im Gegensatz dazu sei diese Vorstellung im Kontext des modernen Religionsdiskurses bis heute eine weit verbreitete Überzeugung und nicht zuletzt im Kontext der wissenschaftlichen Beschäftigung mit ,Religion‘ institutionalisiert.129 Anschließend an diese Betrachtungen ließe sich also die These aufstellen, dass es gerade diese auf Differenzierung verweisende Vorstellung von ,Religion‘ als einer identifizierbaren und abgrenzbaren Sphäre sui generis ist, die neben der Pluralität der ,Religionen‘ ein weiteres Kennzeichen des modernen Religionsdiskurses darstellt. Auch wenn Tomoko Masuzawa durchaus zu Recht darauf hinweist, dass die Debatte um ,Religion an sich‘ um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert noch einmal eine neue Virulenz entfaltet, taucht diese Annahme dennoch nicht – wie sie teilweise zu implizieren scheint – wie aus dem Nichts auf. Zum 126 127 128 129
Ebd., 313. Vgl. ebd. Ebd., 314. Vgl. Masuzawa, The Invention of World Religions, 316 – 317.
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einen lässt sich diese spezifische Vorstellung in ihrer intellektuellen Genealogie sicherlich sehr viel weiter zurück verfolgen. So könnten die hier unter dem Stichwort Differenzierung angesprochenen und eine solche Identifikation von ,Religion an sich‘ überhaupt erst ermöglichenden Unterscheidungen zwischen ,Religion‘ und Anderem viel allgemeiner als sich langsam entwickelndes Charakteristikum des modernen Religionsdiskurses verstanden werden, welches durchaus auch bereits in der frühen Neuzeit in Anfängen erkennbar ist, dann aber vor allem im modernen Religionsdiskurs in Kombination mit der ,Pluralität der Religionen‘ zu einem seiner zentralen Charakteristika wird und diesen modernen Diskurs damit überhaupt erst hervorbringt. Verschiedene Autoren haben in den letzten Jahren diese Thematik der Differenzierung von ,Religion‘ und die damit implizierten Unterscheidungen im Rahmen historischer Studien in den Mittelpunkt gerückt. Zu diesen zählen Timothy Fitzgerald, der aus seinen diskursgeschichtlichen Studien den Schluss zieht, dass ,Religion‘ zumeist als bestimmter Bereich vorgestellt wird, der von anderen Sphären abgegrenzt wird, ebenso wie Talal Asad, der sich vor allem mit der Unterscheidung von ,religiös‘ und ,säkular‘ befasst hat. Beide Autoren betonen, dass moderne Vorstellungen von ,Religion‘ sowie auch der moderne Religionsdiskurs nur dann umfassend und überzeugend rekonstruiert werden können, wenn diese Unterscheidungsprozesse als zentrale Aspekte der Genealogie dieses Diskurses betrachtet werden. Das Auftauchen des Religionsdiskurses umfasst somit nicht nur eine Pluralität von Religionen, sondern auch den Singular ,Religion‘ und dessen Verständnis als eines von Anderem abgegrenzten Bereichs. Neben der Unterscheidung zwischen einzelnen ,Religionen‘ gehört die Geschichte des Wandels der Verwendung der verschiedensten Unterscheidungen zwischen ,Religion‘ und ,Nicht-Religion‘ daher zu den zentralen Interessen der vorliegenden Arbeit, die sich für Unterscheidungen der Religion interessiert.130
4.3.2.1 ,Religion‘ im Rahmen eines Kategoriennetzwerks Sowohl die eingangs kurz behandelten begriffsgeschichtlichen Studien wie auch die in der bisherigen Darstellung ausführlich referenzierte Untersuchung von Tomoko Masuzawa richten ihren Fokus fast ausschließlich auf die Geschichte des Begriffs ,Religion‘ selbst sowie auf die mit dieser Kategorie verbundenen inhaltlichen Vorstellungen. So rekonstruieren etwa die Studien von 130 In der Entwicklung dieser Fragestellung waren nicht zuletzt die Arbeiten Peter Beyers von zentraler Bedeutung. So spricht er etwa in seiner Diskussion der Begriffsgeschichte von ,Religion‘ von „important shifts in meaning along two axes, that between religion and non-religion and that between one religion and another“. Vgl. Beyer, Religions in Global Society, 70 – 71.
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Ernst Feil den behandelten Begriff zumeist als isolierten Begriff und kümmern sich nur selten um die Frage, in welchem Netzwerk von anderen Begriffen ,Religion‘ jeweils primär auftaucht. Gerade ein solches Vorgehen erweist sich aber, so die These von Timothy Fitzgerald, als hochproblematisch, gerade wenn man die Kategorie ,Religion‘ aus diskurstheoretischer Perspektive betrachtet: When tracking the genealogy of religion, many historians fail to keep a consistent eye on what is happening to those other categories without which we could not think of religion in the modern sense at all – ,the secular‘ as the ,non religious‘ in various constructions such as: the secular nation state; secular politics and law ; economics and markets; scientific naturalism and materialism. It is as though the ability to imagine these discursive spaces is merely a contingently related matter outside the vital focus of concern: ,religion‘ […]. But what counts as ,religion‘ and what counts as ,the secular‘ are mutually delimiting and defining concepts, the distinction between them shifting depending on the context.131
Fitzgerald weist hier darauf hin, dass sich mit ,Religion‘ (besonders in ihrer modernen Verwendungsweise) keineswegs nur eine Beschreibungskategorie für bestimmte isolierte Phänomene entwickelt habe. Vielmehr impliziere der Begriff eben nicht nur eine spezifische Art und Weise in der bestimmte Phänomene als eine ,Religion‘ in neuartiger Weise konzeptualisiert werden, sondern verweist darüber hinaus auch auf eine komplexe Konfiguration im Zusammenhang mit einer Reihe von anderen Kategorien. Die Entwicklung einer modernen Konzeption von ,Religion‘ und die Vorstellung von ,Religion‘ als einem eigenständigen Gesellschaftsbereich sei daher nur verständlich, wenn man diesen Begriff nicht allein als Beschreibungskategorie für ein isoliertes Phänomen betrachte, sondern ihn als in ein Netzwerk anderer Kategorien eingebettet analysiere. Sowohl die heutige Vorstellung von ,Religion‘ als auch die Genealogie des modernen Religionsdiskurses sei Teil einer umfangreichen Re-Konfiguration eines Begriffsnetzwerks, dessen andere Kategorien mit in die Analyse einbezogen werden müssen: it is precisely through the exclusion and separation of these other modern categories that generic religion has appeared as a distinct and autonomous reality. […] [I]t is only by looking at categories in relation, rather than assuming their discrete functionality, that the field of religion can be adequately analysed.132
Fitzgerald versucht daher in seiner Studie Discourse on Civility and Barbarity die hier angedeutete Erweiterung der Perspektive umzusetzen und konzen131 Fitzgerald, Timothy, Introduction, in: ders. (Hg.), Religion and the Secular. Historical and Colonial Formations, London 2007, 1 – 24, hier : 15. 132 Fitzgerald, Timothy, Discourse on Civility and Barbarity. A Critical History of Religion and Related Categories, New York 2007, 4 – 7.
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triert sich in seiner Analyse europäischer und nordamerikanischer Texte des 16. bis 19. Jahrhunderts besonders auf das Verhältnis der Kategorien ,Religion‘ und ,Politik‘. Er versucht, dadurch ein Hauptproblem vieler bisheriger begriffsgeschichtlicher Studien zu vermeiden, in denen ,Religion‘ als eine isolierte Kategorie erscheint, die nur manchmal und zufällig in Verbindung mit anderen Kategorien auftritt. Gerade weil die Detailarbeit der Rekonstruktion einer Begriffsgeschichte so umfangreich ist, ist durch die oft zu beobachtende isolierende Betrachtung genau derjenige Aspekt nicht mehr erkennbar, der laut Fitzgerald durch die Einbettung einer solchen Untersuchung in größere Zusammenhänge ins Auge fallen würde: dass der Wandel in der Verwendung des Begriffs ,Religion‘ in engem Zusammenhang mit der Bedeutungsveränderung einer ganzen Reihe von anderen Kategorien steht.133 In diesem Sinne stelle die europäische Expansion und die damit einhergehende Einbeziehung Asiens, Afrikas und Amerikas in das europäische Weltverständnis einen grundlegenden Aspekt einer tiefgreifenden Transformation des westlichen Selbstverständnisses seit der Neuzeit dar, in welchem der Begriff ,Religion‘ gerade im Zusammenhang mit einer Reihe anderer grundlegender Kategorien eine zentrale Rolle spiele. Viele bisherige Studien, die sich alleine dem Religionsbegriff widmen und dessen Einbettung in ein Netzwerk von Kategorien als einen zweiten Schritt betrachten, können aber laut Fitzgerald gerade aus diesem Grund die hier vorliegende „ideologische Konfiguration“ nicht erfassen und damit auch nicht verstehen, was genau mit der Kategorie ,Religion‘ in der Neuzeit geschieht und welche Wirkungen die Transformationen des Begriffs entfaltet haben.134 Um diesem Problem zu begegnen, versucht Fitzgerald daher, ,Religion‘ in ihrem Verhältnis zu einer Reihe anderer Kategorien zu analysieren. Dabei argumentiert er, dass ein moderner Religionsdiskurs nur deshalb entstehen konnte, weil es gleichzeitig und parallel auch zur Entstehung einer Reihe weiterer Diskurse von ,Wissenschaft‘, ,Politik‘, ,Nationalstaat‘, ,Wirtschaft‘, ,Recht‘ oder ,Bildung‘ kam. Nur wenn man all diese Kategorien in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit und nicht etwa als einzelne und isolierte Phänomene betrachte, könne auch die Entstehung der Kategorie und des Diskurses um ,Religion‘ verstanden werden.135 Die Infragestellung solcher grundlegender Kategorien der Weltbeschreibung und ihrer jeweiligen Verhältnisse ist gerade deshalb so notwendig, da die von diesen Kategorien ausgehenden Unterscheidungen (wie etwa Religion/ Politik) in der Betrachtung und Einteilung der Welt häufig als die natürliche Ordnung der Dinge aufgefasst werden, auch wenn sich – so Fitzgerald – historisch gesehen die Formierung dieser Kategorien und der gegenwärtigen Konfiguration ihrer Zusammenhänge erst seit dem späten 17. Jahrhundert 133 Vgl. Fitzgerald, Introduction, 9. 134 Vgl. ebd., 10. 135 Vgl. Fitzgerald, Discourse on Civility and Barbarity, 7.
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ergeben habe. Aus diesem Grund müsse an die Stelle einer solchen Essentialisierung eine detaillierte Analyse der Entstehung dieser Begrifflichkeiten und ihres Wandels hin zur heutigen Ordnung ihrer Konfiguration treten.136 So sei ,Religion‘ laut Fitzgerald in der heutigen Vorstellung etwas, das zumeist rein auf eine ,Erlösung der Seele‘ bezogen werde. Ihre Privatisierung habe dazu geführt, dass religiöse Organisationen wie etwa die Kirchen heute als Organisationen mit freiwilliger Mitgliedschaft verstanden würden, welche ansonsten mit dem Staat wenig zu tun hätten. ,Religion‘ werde im Rahmen einer solchen Vorstellung von politischer Macht getrennt, deren Ausübung nur dem Staat zukomme. Eine solche Bestimmung und die damit implizierten Veränderungen im Verständnis der Kategorien beträfen aber beide Seiten, die der ,Religion‘ und die von ,Politik‘ und ,Staat‘. Sie könnten somit auch nur verstanden werden, wenn man die Transformationen beider Kategorien und deren gegenseitige Bezüglichkeit analysiere.137 Dies demonstriert Fitzgerald am Beispiel des frühneuzeitlichen Englands: Während etwa das „commonwealth“ dort zunächst noch als ein Ausdruck der „great chain of being“ verstanden wurde, und „Religion“ und „commonwealth“ nicht zu trennen waren, bestimmt dann zum Beispiel John Locke die Bedeutung des „commonwealth“ neu: The important point to notice in my view is that it is not only ,religion‘ which has been redefined as a purely private matter; the meanings of ,civil‘ and ,commonwealth‘ are also being transformed in Locke’s rhetoric. Locke’s purpose seems to be to subvert the dominant and orthodox understanding of civil government as a relatively distinct branch of God’s providence within the overall encompassment of Christian Truth, and to persuade his readers to imagine it as different in kind, that is, as essentially different, as a different ontology. […] The religion-civil society dichotomy has here been essentialised, the civil being essentially public and outward, on analogy with the body, and religion being essentially private and inward, on analogy with the mind. […] Locke is redefining the meanings of the commonwealth, of civil society, and of politics as neutral with regard to religion and therefore as nonreligious.138
„Religion“ erscheine im Kontext dieser Transformation also nicht mehr als eine alles umfassende „Christian Truth“. Vielmehr werde „Religion“ beschrieben im Kontext einer Reihe binärer Oppositionen: Religion und Staat, Religion und Politik, Religion und Zivilgesellschaft, Religion und Wissenschaft. Diese binären Unterscheidungen, so Fitzgerald, seien grundlegend für das moderne Verständnis von „Religion“. „Of course, the definitions of all these domains are highly contested, yet in the ease with which these terms are used there lies a tacit assumption that we all know what they mean even if we 136 Vgl. ebd., 16. 137 Vgl. ebd., 22. 138 Ebd.
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can’t quite define them exactly.“139 Trotz dieser angeblichen Selbstverständlichkeit der Kategorien sei ihre Bedeutung jedoch keinesfalls klar und auch nicht eindeutig bestimmbar. Sie alle müssten daher statt als deskriptive Beschreibungsbegriffe vielmehr als „fundamentally rhetorical and strategic“ betrachtet werden.140 Auch wenn sich bestimmte Aspekte der hier angesprochenen Veränderungen in der Bedeutung von ,Religion‘ bereits sehr viel früher angedeutet oder vollzogen haben mögen, und spätestens seit der frühen Neuzeit eine große Vielfalt an verschiedenen Religionskonzepten zu erkennen ist, kam es laut Fitzgerald erst dann zu einer endgültigen Etablierung dieser entscheidenden Veränderungen, als ,Religion‘ immer häufiger im Kontext einer Reihe binärer Oppositionen wie Religion/Wissenschaft oder Religion/Politik auftrat.141 Über diese einzelnen Unterscheidungen hinaus lasse sich allerdings noch eine weitere, weit fundamentalere Unterscheidung erkennen, welche diesen binären Oppositionen letztlich zugrunde liege. Dies sei die Dichotomie von ,Religion‘ und ,Säkular‘ („religion-secular dichotomy“), welche sich primär als eine Unterscheidung von ,Religion‘ und ,Nicht-Religion‘ charakterisieren lasse. Fitzgeralds Ansicht nach seien die meisten modernen Texte, in welchen die Kategorie ,Religion‘ verhandelt werde, ohne eine implizite Voraussetzung dieser Unterscheidung und der von ihr bezeichneten grundlegenden Opposition letztlich kaum verständlich.142 Denn auch wenn das, was die Seiten der jeweiligen Dichotomie(n) zu bezeichnen versuchen, in den meisten Fällen als selbstverständlich angenommen werde, seien diese beiden Kategorien in ihren gegenseitigen Bezügen letztlich doch parasitär miteinander verknüpft: The assumption, prevalent throughout the humanities, that the referent of religion is intuitively obvious even though we may have a problem defining it, hides the sense in which the category makes possible the discourses on other, nonreligious domains such as politics, economics, and the state. Without paying attention to these binary oppositions, we cannot understand how ,religion‘ operates to construct what we now experience as the natural, the matter of fact, the common sense in modern rhetoric.143
,Religion‘, ebenso wie die anderen Kategorien in dieser modernen Konfiguration seien somit nicht einfach neutrale Beschreibungen der Welt, sondern fungierten als rhetorische Konstrukte. „Despite the appearance of common sense, a term such as ,religion‘ does not tell us what is in the world, but what we collectively think ought to be in the world.“144 Der Begriff übernimmt damit 139 140 141 142 143 144
Ebd., 23. Ebd. Vgl. ebd., 232. Ebd., 23. Ebd., 24. Ebd.
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eine klassifikatorische Funktion, die nicht etwa die Welt nur beschreibt, sondern vielmehr als ein zentraler Aspekt des „Euro-American world making“ fungiert, und gleichzeitig den Anschein erweckt, unabänderlich zur Natur der Dinge zu gehören.145 Nicht zuletzt die westliche Wissenschaft trage so massiv dazu bei, dass diese Kategorien nicht als Werkzeuge zur rhetorischen Durchsetzung bestimmter Überzeugungen, sondern als Ausdruck der Natur der Dinge verstanden würden. Aus diesem Grund können laut Fitzgerald ihre Genealogien und die Transformationen, welchen diese Kategorien in der Neuzeit ausgesetzt waren, nur verstanden werden, wenn die jeweiligen Verbindungen und Abhängigkeiten zwischen den Kategorien betrachtet werden, die in Netzwerken oder „Konfigurationen“ (wie er im Anschluss an Louis Dumont formuliert) auftreten.146 Wenn die Unterscheidung von ,Religiösem‘ und ,Säkularem‘ dagegen nach wie vor als eine ,natürliche‘ Unterscheidung betrachtet werde, bleibe weiterhin nicht erkennbar, dass diese vielmehr etwas ist, „which domestic and colonial law makers, the writers of bills of rights and constitutions, missionaries, colonial civil servants, and academics have struggled and are still struggling to imagine, enact, authorise, and legitimate.“147 Erst eine tiefgreifende Transformation eines Netzwerks von bestimmten Kategorien habe die spezielle Konstellation hervorgebracht, welche als Grundlage der modernen Vorstellung von ,Religion‘ diene: „Through complex processes, Religion became religions, religions became churches, and the profane became the modern secular. A profoundly different set of meanings came to be tied to old words in a configuration which constitutes modernity.“148 Aus diesem Grund sieht Fitzgerald es – wie wir bereits im ersten Teil der Arbeit gesehen haben – als die vorrangige Aufgabe der Religionswissenschaft an, ,Religion‘ nicht länger als ,Phänomen in der Welt‘ und ebenso wenig als eine isoliert rekonstruierbare Kategorie zu betrachten, sondern statt dessen ihre Operationsweise als Kategorie in Relation zu einer ganzen Reihe anderer Kategorien in den Blick zu nehmen. Diese Beziehungen lassen sich als Beziehungen der gegenseitigen Definition durch gegenseitige Abgrenzung verstehen. ,Religion‘ definiert sich, und wird definiert, grundlegend in Abgrenzung etwa zu ,Politik‘ oder ,Wirtschaft‘. Genau aus diesem Grund ist Fitzgerald überzeugt, dass es uns nur dann gelingen kann, die Bedeutung zu erfassen, die mit ,Religion‘ in einem bestimmten Kontext verbunden wird, wenn wir gleichzeitig danach fragen, was in diesem Zusammenhang etwa unter ,Politik‘ verstanden wird. Gleichzeitig sei diese Form der Definition durch gegenseitige Abgrenzung natürlich nicht nur für ,Religion‘, sondern auch für viele andere 145 Ebd. 146 Vgl. Fitzgerald, Discourse on Civility and Barbarity, 25. Er bezieht sich dabei auf Dumont, Louis, Essays on Individualism. Modern Ideology in Anthropological Perspective, Chicago 1986, 11. 147 Ebd., 33. 148 Ebd., 37.
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Begriffe zu konstatieren.149 Letztlich ist es daher wahrscheinlich, dass im Kontext etwa eines Textes, in dem Kategorien wie ,Staat‘ oder ,Politik‘ verhandelt werden, auch ,Religion‘ neu bestimmt wird.150 Einer der wichtigsten und wirkungsreichsten Orte, an dem in der Moderne eine solche Unterscheidung und gegenseitige Abgrenzung von ,Religion‘ und anderen Kategorien, wie etwa ,Politik‘ institutionalisiert ist, sei der nordamerikanische Konstitutionalismus und die Art und Weise, in welcher die amerikanische Verfassung sowie generell die Verfassungen von Nationalstaaten diese Form der Trennung festlegen.151 In diesem Kontext der Institutionalisierung staatlicher Macht hätten u. a. Missionare, Kolonialadministratoren, Theologen, Wissenschaftler, Politiker und die Massenmedien zur Erfindung nicht nur der ,Religionen‘, sondern auch des ,Säkularen‘ beigetragen. Und in gleicher Weise stehe auch die moderne Religionswissenschaft, so Fitzgerald, letztlich in einem parasitären Verhältnis zu diesen Entwicklungen und verdanke ihre heutige Sprecherposition diesen modernen Transformationen.152 Aus all dem folgt, dass Fitzgerald also nicht für oder gegen eine Unterscheidung von ,Religiösem‘ und ,Säkularem‘ argumentieren möchte oder diese Begriffe neu zu definieren versucht. Vielmehr weist er darauf hin, dass eine diskurstheoretisch orientierte Analyse die Aufgabe hätte, die Art und Weise aufzuzeigen, in der genau diese beiden Kategorien transformiert und neu erfunden worden sind und damit zu einem Bestandteil einer paradigmatischen Verschiebung in der Beschreibung der Welt geworden sind.153 Das ,Säkulare‘, als das, was in der modernen Welt das ,Nicht-Religiöse‘ darstellt, war somit kein immer schon existierender Bereich, der sich zunächst unter der Kontrolle der Kirche befunden, und dann seinen Ort und seine Bedeutung verändert hätte und damit zum heute dominanten Bereich wurde. Diese Vorstellung einer Reihe bereits schon immer vorhandener gesellschaftlicher Bereiche, die dann in der Moderne vollständig realisiert werden konnten, 149 Vgl. ebd., 44. 150 Vgl. ebd., 49. 151 Vgl. ebd., 45. Dieser Hinweis auf die Bedeutung von nationalstaatlichen Verfassungen für den globalen Religionsdiskurs erscheint höchst relevant, wurde aber bisher besonders in vergleichender Perspektive nur selten aus einer solchen ,diskurstheoretischen‘ Perspektive berücksichtigt. Vielfach erscheint dieses Problem nur unter dem Begriff der ,Religionsfreiheit‘, bei dem die Kategorie ,Religion‘ bereits vorausgesetzt wird. Für eine detaillierte und eindrucksvolle Fallstudie aus einem nicht-westlichen Kontext siehe Abalahin, A Sixth Religion? Vgl. auch die Arbeiten von Thomas D. DuBois, der schreibt: „While clearly flawed, the dual legacies of the myth of procedural rationality and of the priviledge of procedure over ideology has clearly exerted a transformative influence over postcolonial Asian legals systems, most notably in the place of religion under law. Realistic or not, the subjection of ideology to law has attained a global legitimacy“ (Hegemony, Imperialism, and the Construction of Religion in East and Southeast Asia, History and Theory 44/4, 2005, 113 – 131, hier: 122). 152 Vgl. Fitzgerald, Discourse on Civility and Barbarity, 56. 153 Vgl. ebd., 67.
Unterscheidungen der Religion: Versuch einer heuristischen Bestimmung 183
sollte statt dessen durch die Frage nach der Konstruktion und Geschichte der Entwicklung der Vorstellung entsprechender Bereiche ersetzt werden.154 Weder die Erfindung des ,Religiösen‘ noch die Erfindung des ,Säkularen‘ lassen sich unabhängig voneinander beschreiben, denn beides sind rhetorische Kategorien, welche die unterschiedenen Bereiche, von denen sie sprechen, überhaupt erst hervorbringen.155 Ähnliches gilt laut Fitzgerald für all die Bereiche, die im Rahmen der Erfindung und Transformation des von ihm beschriebenen Kategoriennetzwerks (neu) konfiguriert werden. Eine Perspektive, die sich an den Überlegungen Fitzgeralds orientiert, ermöglicht einen anderen Blick auf die Vorstellung, dass Gesellschaften notwendig aus einer bestimmten Anzahl von Bereichen bestehen, deren gegenseitige Unterscheidbarkeit sich im Verlauf der Geschichte immer stärker zeigt und ausformuliert. Denn auch ,Religion‘ wird in diesem Zusammenhang meist als ein solcher Bereich verstanden, welcher im Verlauf der letzten Jahrhunderte lediglich seine Position im Hinblick auf die jeweils anderen Bereiche verändert habe. Grundlage einer solchen Vorstellung ist dabei, dass diese Bereiche selbst eigentlich bereits immer vorhanden waren, sich im Laufe der Geschichte somit nur ihre jeweilige Beziehung zueinander verändert habe, und sie als Ergebnis dieser Entwicklung dann immer klarer erkennbar und in der ihnen eigentlich eigenen Gestalt erscheinen. Wenn diese Vorstellung vorausgesetzt wird, wird gerade dadurch die alternative Möglichkeit verdeckt, all diese Kategorien, welche entsprechende Bereiche beschreiben (,Religion‘, ,Politik‘, ,Wissenschaft‘ etc.) als rhetorische Kategorien zu verstehen, über deren Einsatz die Bereiche, von denen sie jeweils sprechen, als abstrakte Einheiten überhaupt erst erzeugt werden. Weder die ,Religion‘ noch die ,Gesellschaft‘ seien aber letztlich eine abstrakte Einheit, welche es in der Welt zu beobachten gäbe. Die Kategorien, die wir so in der Welt voraussetzen, seien vielmehr selbst Teil des Prozesses, in dem wir uns diese Welt selbst erschaffen. Sie lassen sich als rhetorische Instrumente beschreiben, mit denen wir uns selbst und andere davon überzeugen wollen, die Welt auf eine bestimmte Art und Weise zu betrachten.156 Dass diese Situation das Ergebnis einer Veränderung der Konfiguration bestimmter Kategorien ist, lässt sich, wie Fitzgerald zu zeigen versucht, etwa in der Betrachtung frühneuzeitlicher Debatten erkennen, in denen das, was wir heute als ,Religion‘, ,Politik‘ und ,Wissenschaft‘ unterscheiden, sehr lange als Teil einer umfassenden Einheit verstanden wurde, welche dann von ,Barbarentum‘, ,Aberglauben‘ und ,Irrationalität‘ abgegrenzt wird. Erst zum Ende des 17. Jahrhunderts und im Hinblick auf die Trennung von ,Religion‘ und ,Politik‘ (besonders im Rahmen der Institutionalisierung bestimmter Unterscheidungen in Nordamerika im späten 18. Jahrhundert) lassen sich laut 154 Vgl. ebd., 68. 155 Vgl. ebd., 96. 156 Vgl. ebd., 97.
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Eine Heuristik der Charakteristika des modernen Religionsdiskurses
Fitzgerald die hier beschriebenen paradigmatischen Veränderungen ausmachen.157 4.3.2.2 Das ,Religiöse‘ und das ,Säkulare‘ Neben Timothy Fitzgerald hat in den letzten zwei Jahrzehnten vor allem der Religionsethnologe Talal Asad eine solche Konzentration auf die Unterscheidungen gefordert, mit denen ,Religion‘ als Kategorie verbunden ist. Auch er hat in diesem Zusammenhang wiederholt auf die Art und Weise hingewiesen, in denen sich die Unterscheidung zweier Bereiche von ,Religion‘ und ,NichtReligion‘ gegenseitig bedingt und eine historische Betrachtung der Geschichte dieser Abgrenzung nahegelegt. Hier lasse sich erkennen, dass, obgleich die Unterscheidung zwischen dem ,Religiösen‘ und dem ,Säkularen‘ in Europa auch vor der Neuzeit wiederholt verschoben worden sei, in diesen Fällen die formale Autorität der Kirche weitestgehend unangetastet blieb. Dies habe sich später geändert: In later centuries, with the triumphant rise of modern science, modern production, and the modern state, the churches would also be clear about the need to distinguish the religious from the secular, shifting, as they did so, the weight of religion more and more onto the moods and motivations of the individual believer.158
Asad hatte sich in seinem bekannten Buch Genealogies of Religion intensiv mit der Kategorie ,Religion‘ auseinandergesetzt. Im Anschluss daran trat für ihn die Kategorie des ,Säkularen‘ ins Zentrum, da er die im obigen Zitat präsentierte Überlegung ausweitet und davon ausgeht, dass weder das ,Religiöse‘ noch das ,Säkulare‘ auf bestimmte festgelegte Bereiche verweisen. Daher zielt Asads Beschäftigung mit dem ,Säkularen‘ und die Problematisierung einer solchen Vorstellung auch nicht darauf, etwas zumeist als ,säkular‘ Verstandenes als in seinem Kern doch als ,religiös‘ Erkennbares aufzuzeigen.159 Vielmehr schlägt er vor, diese beiden Kategorien als miteinander eng verknüpft und voneinander abhängig zu verstehen.160 Das Feld, in dem sie sich beide konstituieren, beinhaltet eine Reihe von Oppositionen, welche beide Diskurse durchziehen: „belief and knowledge, reason and imagination, history and fiction, symbol and allegory, natural and supernatural, sacred and profane – binaries that pervade modern secular discourse, especially in its polemical mode.“161 In diesem Sinne könne das ,Säkulare‘, auch wenn es sich weder auf einen fixierbaren Ursprung beziehen noch als eine stabile Identität verstehen ließe, 157 Vgl. ebd., 144. 158 Asad, Talal, Genealogies of Religion. Discipline and Reasons of Power in Christianity and Islam, Baltimore 1993, 39. 159 Vgl. Asad, Formations of the Secular, 25. 160 Vgl. ebd., 26. 161 Ebd., 23.
Unterscheidungen der Religion: Versuch einer heuristischen Bestimmung 185
möglicherweise durch einen Bezug auf diese Unterscheidungen und damit durch „a series of particular oppositions“ charakterisiert werden.162 Was damit in den Mittelpunkt des Interesses tritt, ist – wie Asad in ähnlicher Form wie Fitzgerald formuliert – das „shifting web of concepts making up the secular“.163 Das ,Säkulare‘ sei daher weder nur als das Gegenteil des ,Religiösen‘, noch als letzte Stufe einer fortschreitenden Entwicklung (etwa vom ,Heiligen‘ zum ,Säkularen‘) zu verstehen. Vielmehr müsse darunter ein spezifisch modernes Konzept verstanden werden, das auf einer Reihe von spezifischen Oppositionen basiert und nicht nur auf bestimmtes Verhalten, sondern auch auf bestimmte Wissensformen und Praktiken zielt: I take the secular to be a concept that brings together certain behaviors, knowledges, and sensibilities in modern life. To appreciate this it is not enough to show that what appears to be necessary is really contingent – that in certain respects „the secular“ obviously overlaps with „the religious“. It is a matter of showing how contingencies relate to changes in the grammar of concepts – that is, how the changes in concepts articulate changes in practices.164
Die heutige Selbstverständlichkeit der Unterscheidung zwischen dem ,Religiösen‘ und dem ,Säkularen‘ sei eine Entwicklung, die sich etwa in der ethnologischen und theologischen Literatur des späten 19. Jahrhunderts beobachten lasse. Die dort entwickelten Vorstellungen des ,Religiösen‘ und des ,Heiligen‘ stellen laut Asad insofern neuartige Konzeptionen dar, als dort eine Unterscheidung zugrunde gelegt wurde, die deutlich von vormodernen Vorstellungen abwich: It was late nineteenth-century anthropological and theological thought that rendered a variety of overlapping social usages rooted in changing and heterogenous forms of life into a single immutable essence, and claimed it to be the object of a universal human experience called „religious“. The supposedly universal opposition between „sacred“ and „profane“ finds no place in premodern writing. In medieval theology, the overriding antinomy was between „the divine“ and „the satanic“ (both of them transcendent powers) or „the spiritual“ and „the temporal“ (both of them worldly institutions), not between a supernatural sacred and a natural profane.165
Diese Essentialisierung des ,Heiligen‘, so die These Asads, ist dabei mit der Begegnung des Westens mit der nicht-europäischen Welt und der damit einhergehenden Konstruktion der Kategorien ,Religion‘ und ,Natur‘ verbunden. Die zunächst unter der Bezeichnung ,Heidentum‘ wahrgenommenen ,Traditionen‘ und ,Gebräuche‘ der ,Wilden‘ erschienen in der evolutionären Per162 163 164 165
Ebd., 25. Ebd., 23. Ebd., 25. Ebd., 31 – 32.
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Eine Heuristik der Charakteristika des modernen Religionsdiskurses
spektive des 19. Jahrhunderts als Reste eines ,Aberglaubens‘, von dem eine rationale Moderne die Gesellschaften befreien würde.166 All diese Veränderungen, so Asad, waren jedoch in eine viel tiefgreifendere Transformation eingebunden, welche man als die ,Erfindung der Gesellschaft‘ bezeichnen könnte. Deren Bestimmung und Etablierung als eine grundlegende Kategorie westlicher Weltwahrnehmung hängt eng mit dem ,Säkularen‘ zusammen: What we now retrospectively call the social, that all-inclusive secular space that we distinguish conceptually from variables like „religion“, „state“, „national economy“ and so forth, and on which the latter can be constructed, reformed, and plotted, didn’t exist prior to the nineteenth century. Yet it was precisely the emergence of society as an organizable secular space that made it possible for the state to oversee and facilitate an original task by redefining religion’s competence: the unceasing material and moral transformation of its entire national population regardless of their diverse „religious“ allegiances.167
Das ,Säkulare‘ und der ,Säkularismus‘ verweisen daher nicht etwa auf eine neutrale oder ,reale‘ Beschreibung der Welt, die nun erkennbar sei, nachdem sie sich in einem langwierigen Prozess von der Macht des ,Religiösen‘ befreit habe. Vielmehr bezeichnen diese Kategorien eine spezifisch moderne Konzeption der Realität, welche ganz bestimmte Vorstellungen von der natürlichen und sozialen Welt beinhalte.168 Indem Asad auf diese Weise die Selbstverständlichkeit der Trennung zwischen dem ,Religiösen‘ und dem ,Säkularen‘ in Frage stellt und diese Unterscheidung vielmehr in ihrer Umkämpfheit und Variabilität in den Blick nehmen will sowie darauf hinweist, dass sich die beiden Seiten gegenseitig bedingen, stellt sich auch die Problematik der Säkularisierungsthese in neuer Weise. Diese sei nicht zuletzt deshalb hoch problematisch, da – wie auch Fitzgerald argumentiert hatte – die vermeintlich klaren Trennungen zwischen Kategorien wie ,Religion‘ und ,Politik‘ viel enger miteinander zusammenhängen als zumeist angenommen wird. Das Konzept eines ,Säkularen‘ könne aber ohne die Idee des ,Religiösen‘ nicht auskommen.169 So sei etwa auch das ,säkulare‘ Recht nicht nur positives Recht, sondern gleichzeitig ein zentraler Aspekt in der Bestimmung genau des Raumes, den das ,Religiöse‘ in der Moderne noch einnehmen könne.170 Dies demonstriert Asad in seinem Aufsatz „Thinking about Secularism and Law in Egypt“ anhand der Rekonfiguration des öffentlichen Raumes durch westliche Unterscheidungen „[which] were inserted into Egypt’s modernity in singular 166 Vgl. ebd., 35. 167 Ebd., 190 – 191. Vgl. zu dieser These auch die weitergehende Auseinandersetzung mit Asad und David Scott in Kapitel 7 und die dort präsentierte Perspektive auf Weltgesellschaftstheorien. 168 Vgl. ebd., 192. 169 Vgl. ebd., 200. 170 Vgl. ebd., 201.
Unterscheidungen der Religion: Versuch einer heuristischen Bestimmung 187
ways.“171 Im Rahmen des entstehenden ägyptischen Nationalstaats kam es 1876 zur Einführung eines zivilrechtlichen Kodex. In diesem Prozess wird durch neuartige Unterscheidungen, etwa zwischen ,Recht‘ und ,Moral‘, die Vorstellung eines säkularen Rechts geschaffen.172 Die in Ägypten zu beobachtenden Reformen des Rechts sind somit gleichzeitig eine Transformation der islamischen Tradition, indem die shari’a eingeschränkt und reformiert wird.173 Asad geht davon aus, dass die Veränderung der modernen Gesellschaft hier einen Druck auf die islamische Tradition ausübte174 und die shari’a auf diese Weise zu einem ,Familienrecht‘ transformiert wurde.175 Erst als Ergebnis der Vorstellung einer als privat verstandenen Ethik (die sich auf Moral und ein religiös geprägtes Gewissen bezieht), wird die shari’a vom öffentlichen Rechtsdiskurs unterschieden und somit zu einem ,religiösen‘ Recht.176 Im Anschluss an die zu Beginn dieses Abschnitts angeführten Überlegungen zur Frage, ob man die Diskontinuitäten der ,Moderne‘ über bestimmte Unterscheidungen bestimmen könne, lässt sich hier daher die These aufstellen, dass mit der modernen Form des ,Redens über Religion‘ eine Reihe von Dichotomien und zentralen Unterscheidungen einhergeht. Zum einen wird ,Religion‘ generell von ,Nicht-Religion‘ unterschieden, welche dann in positiver Bestimmung als ,das Säkulare‘ auftritt. Zum anderen lässt sich darüber hinaus auch die Frage stellen, was in einem spezifischen Kontext jeweils von ,Religion‘ unterschieden wird (und damit auch für das ,Säkulare‘ einsteht). Diese Unterscheidungen können etwa die zwischen ,Religion‘ und ,Politik‘ oder ,Religion‘ und ,Wissenschaft‘ sein. Wie Asad betont, geht mit dieser Vorstellung von ,Religion‘ daher eine doppelte Vergleichsmöglichkeit einher, welche zunächst eine Wahrnehmung der Unterschiedlichkeit des Verglichenen voraussetzt, dann aber anhand von zwei Unterscheidungslinien einen Vergleich ermöglicht: „henceforth religion could be conceived as a set of propositions to which believers gave assent, and which could therefore be judged and compared as between different religions and as against natural science.“177 In der Beschäftigung mit diesen Unterscheidungen fällt hier aus religionssoziologischer Perspektive allerdings auf, dass die präsentierten Überlegungen etwa von Fitzgerald und Asad sehr deutlich gesellschaftstheoretische Überlegungen implizieren, aber dennoch an vorhandene differenzierungsund gesellschaftstheoretische Vorschläge bisher nicht explizit Anschluss gesucht haben. Die bei Fitzgerald zu findende Aufzählung der verschiedenen 171 Asad, Talal, Thinking about Secularism and Law in Egypt, Leiden 2001, http://hdl.handle.net/ 1887/10066 (archiviert unter http://www.webcitation.org/6SmObizGp), 1. 172 Vgl. ebd., 10. 173 Vgl. ebd., 5. 174 Vgl. ebd., 7. 175 Vgl. ebd., 9. 176 Vgl. ebd., 11. 177 Asad, Genealogies of Religion, 40 – 41.
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Eine Heuristik der Charakteristika des modernen Religionsdiskurses
Kategorien, mit denen ,Religion‘ eng verbunden sei, liest sich aus soziologischer Perspektive wie eine Aufzählung derjenigen Gesellschaftsbereiche, die z. B. innerhalb der Systemtheorie als Funktionssysteme der modernen Gesellschaft untersucht werden. Nicht zuletzt aus diesem Grund bietet es sich daher an, diese Studien zur Kategorie ,Religion‘ mit soziologischer Gesellschaftstheorie – besonders systemtheoretischer Bauart – ins Gespräch zu bringen, wie es im Hinblick auf das Stichwort ,Weltgesellschaftstheorie‘ im siebten Kapitel geschehen soll. Hier kann an theoretische Modellierungen angeschlossen werden, welche versuchen, im Kontext der Weltgesellschaft die Tendenz einer Ausdifferenzierung und Steigerungsdynamik immer weitgehender Autonomisierung bestimmter Gesellschaftsbereiche theoretisch beschreibbar zu machen – anstatt diese oftmals nur überrascht zur Kenntnis zu nehmen. Es wäre für eine theoretisch komplexer angelegte Auseinandersetzung mit diesen Fragen sicher hilfreich, diese einzelnen Bereiche nicht nur als relativ beliebige rhetorisch eingesetzte Unterscheidungen zu betrachten, sondern theoretische Gründe dafür angeben zu können, warum hier genau diese und nicht völlig andere Unterscheidungen jeweils eine solche Bedeutung gewinnen.
4.4 Zusammenfassung: Der moderne Religionsdiskurs als ein Diskurs doppelter Unterscheidung In einem überblicksartigen Beitrag identifiziert Catherine Bell fünf Paradigmen im Verständnis des modernen Konzepts von ,Religion‘, welche sie allerdings weder in einer chronologischen Abfolge noch als sich gegenseitig komplett ausschließend verstehen möchte.178 Vielmehr geht sie davon aus, dass die einzelnen Paradigmen durchaus auch nebeneinander existieren oder sich teilweise überlappen können. Das erste der fünf Paradigmen sei mit der Entstehung des modernen Konzepts von ,Religion‘ verknüpft, und stelle das Christentum als Prototyp und zumeist auch als einzigen oder einzig wahren Vertreter von ,Religion‘ in den Mittelpunkt. Auch heute habe das Christentum als klarstes Beispiel von ,Religion‘ vielerorts eine besondere Bedeutung inne und stelle somit den Ausgangspunkt des modernen Religionskonzepts dar.179 Im Kontext der Aufklärung entwickle sich dann eine generellere Vorstellung von ,Religion‘, deren Entstehung nicht zuletzt mit der Konfrontation mit außereuropäischen 178 Sie bezieht sich hier zwar explizit aber inhaltlich doch nur lose auf das Verständnis von ,Paradigma‘ und ,Paradigmenwechsel‘ in Kuhn, Thomas S., The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 1962. Vgl. Bell, Catherine, Paradigms Behind (and Before) the Modern Concept of Religion, History and Theory 45/4, 2006, 27 – 46, hier: 28. 179 Vgl. ebd., 29 – 31.
Zusammenfassung: Ein Diskurs doppelter Unterscheidung
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Verhältnissen zusammenhinge. ,Religion‘ werde in diesem Zusammenhang als etwas Irrationales verstanden und mit Hilfe des bereits ausführlich thematisierten vierfachen Klassifikationsschemas beschrieben, welches nun bereits in Ansätzen eine Möglichkeit der Gleichordnung von ,Religionen‘ vorsehe.180 Ein drittes Paradigma lasse sich hauptsächlich durch das Konzept der ,Weltreligionen‘ charakterisieren und zeichne sich vor allem dadurch aus, dass nun eine bestimmte Anzahl von ,Religionen‘ als vergleichbare Entitäten auf einer einheitlichen Ebene betrachtet würden. Auch wenn eine solche Kategorisierung und die damit verbundenen Implikationen nicht überall anerkannt worden sei, lasse sich innerhalb dieses Paradigmas dennoch grundlegend eine vergleichende Tendenz und eine damit verbundene Vorstellung einer fundamentalen Einheit dieser ,Religionen‘ und des ,Phänomens Religion‘ erkennen.181 Im Rahmen des vierten Paradigmas stehe dann die Vorstellung einer kulturellen Notwendigkeit von ,Religion‘ im Mittelpunkt. Diese erscheine hier als einheitliches Phänomen, was zu einer verstärkten Theoretisierung der Einheit aller großen Traditionen führe und die Frage nach der Bedeutung und möglichen Unverzichtbarkeit von ,Religion‘ für die Moral und die Integration von gesellschaftlichen Gruppen und der Gesellschaft überhaupt aufwerfe. Mit dieser Vorstellung von ,Religion‘ als einer irrationalen Kraft der Integration sei dann auch ihre beginnende wissenschaftliche Analyse verbunden, und damit eine Unterscheidung zwischen ,Religion‘ und eben diesen Wissenschaften, welche sich einer solchen Analyse widmen.182 Als ein fünftes Paradigma versteht Bell die neuartige Vorstellung von ,Religion‘ als einer westlichen Konstruktion. Als Ergebnis der damit verbundenen postkolonialen und postmodernen Kritik, die besonders in den letzten 20 Jahren große Bedeutung erlangt hat, werde von zahlreichen Autoren festgehalten, dass ,Religion‘ eine lange Geschichte habe, die nicht zuletzt mit den vier bereits beschriebenen Paradigmen zusammenhänge. Diese Geschichte weise ,Religion‘ somit nicht als ein grundlegendes und weltweit zu erkennendes Kennzeichen des Menschen aus, sondern vielmehr als eine westliche Erfindung.183 Allerdings werde auch diese Perspektive von verschiedener Seite bereits wieder als zu reduktionistisch orientiert verstanden, da das Konzept ,Religion‘ als modernes Konzept heute eine weltweite Bedeutung erlangt habe, welche über dessen akademische ,Erfindung‘ weit hinausgehe. Auf der anderen Seite würden sich in einer erneuerten Zusammenarbeit mit den Naturwissenschaften sowie in der cognitive science of religion bereits die Konturen eines neues Paradigmas andeuten, welches zukünftig eine wichtige Rolle spielen könnte.184 180 181 182 183 184
Vgl. ebd., 31 – 34. Vgl. ebd., 34 – 36. Vgl. ebd., 36 – 38. Vgl. ebd., 38 – 41. Vgl. ebd., 42 – 43.
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Eine Heuristik der Charakteristika des modernen Religionsdiskurses
Im Rückblick auf die in diesem Kapitel präsentierten Betrachtungen lässt sich anhand der von Bell identifizierten Paradigmen erkennen, dass sie durchaus auf Aspekte fokussiert, welche auch bei der hier vorgeschlagenen Identifikation von Charakteristika des modernen Religionsdiskurses eine zentrale Rolle gespielt haben. Gleichzeitig – und aus diesem Grund wurde Bells Entwurf hier wiedergegeben – scheint ihre Einteilung aber auch (wie sie durchaus zugibt) sehr zufällig bestimmte Kennzeichen auszuwählen, die sie dann als zentrale Aspekte eines ihrer Paradigmen betrachtet. Auch wenn innerhalb ihrer Darstellung sowohl die Bedeutung der Vorstellung einer auf gleicher Ebene vergleichbaren Pluralität von ,Religionen‘ sowie die Identifikation von ,Religion‘ als eines einheitlichen und abgegrenzten Phänomens zu erkennen ist, kann sie letztlich nur eine relativ willkürlich getroffene Auswahl von bestimmten Einzelbedeutungen von ,Religion‘ präsentieren. Die Frage, inwiefern sich eine Einheitlichkeit im modernen ,Reden über Religion‘ erkennen lässt, kann auf diese Weise daher nur ungenügend bestimmt werden. Der bisher vorgebrachte alternative Vorschlag eines Perspektivenwechsels und einer in diesem Zusammenhang präsentierten Heuristik soll hier daher noch einmal zusammengefasst werden. Anhand der bisher dargestellten Überlegungen zu den Charakteristika des Religionsdiskurses wurde vorgeschlagen, einen frühneuzeitlichen Religionsdiskurs von einem modernen Religionsdiskurs zu unterscheiden.185 Dieser moderne Religionsdiskurs wurde heuristisch durch eine Kombination zweier auf bestimmte Unterscheidungen verweisende Charakteristika bestimmt, die über die Stichworte Pluralität und Differenzierung beschrieben wurden und die sich somit als Unterscheidungen der (modernen) Religion verstehen lassen. Zur Pluralität: Die hohe Bedeutung des frühneuzeitlichen Religionsdiskurses und die Art und Weise, in welcher der Begriff religio und die spätere Entwicklung und Verbreitung einer Begrifflichkeit von ,Religion‘ an Bedeutung gewinnt, kann als Reaktion auf eine radikale Erfahrung von Pluralität verstanden werden, nicht nur innerchristlich nach dem Zerfall der christlichen Einheit in der Folge der Reformation, sondern auch als Folge der Konfrontationen im Kontext der europäischen Expansion. Eine ähnliche gesteigerte Relevanz der Kategorie ,Religion‘ in der Auseinandersetzung mit außereuropäischen Verhältnissen, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer weiter an Bedeutung gewinnt, ließe sich dann – mit Masuzawa – als einer der Gründe für die Transformation von einem frühneuzeitlichen hin zu einem modernen Religionsdiskurs verstehen. Als ein grundlegendes Merkmal dieses Religionsdiskurses ließe sich somit identifizieren, dass seine Genealogie grundlegend mit der Erfahrung von Pluralität zusammenhängt und dass er
185 Da der Fokus hier und im Folgenden auf dem modernen Religionsdiskurs liegt, bleiben die spezifischen Charakteristika des frühneuzeitlichen Diskurses unterbestimmt. Ihre weitere Ausarbeitung kann in der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden.
Zusammenfassung: Ein Diskurs doppelter Unterscheidung
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selbst eine Form des Umgangs mit und der Klassifikation von Pluralität darstellt. Im Zentrum steht dabei zunächst ein vierfaches Schema, das (auch wenn es auf früheren Entwicklungen basiert und bereits eine lange Vorgeschichte aufweist) in der frühen Neuzeit im Rahmen der zunehmenden Bedeutung der Begrifflichkeiten von ,Religion‘ und ,Religionen‘ zum dominierenden Klassifikationsschema wird. In dieser Einteilung in ,Christen‘, ,Juden‘, ,Mohammedaner‘ und ,Heiden‘, die für den frühneuzeitlichen Religionsdiskurs grundlegend ist, lassen sich zwar bereits die Anfänge der Entstehung einer einheitlichen Vergleichsebene erkennen, welche bereits auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Einheit und der Vielheit von ,Religion‘ verweist. Diese Entwicklungen stehen aber zunächst noch unter dem Vorzeichen einer deutlichen Unterscheidung zwischen den ,Christen‘ als Vertretern der ,wahren Religion‘ und allen anderen Gruppierungen, die im Gegenüber zu diesen nur korrumpierte und ungenügende ,Religion‘, oder überhaupt keine solche aufweisen können. Über eine Übergangsphase im Verlauf des 19. Jahrhunderts wandelt sich dieses Klassifikationsschema dann zu einer Vorstellung von ,Religion‘ als der immer schon gegebenen Pluralität einer größeren Zahl von miteinander vergleichbaren ,Religionen‘, deren bedeutendste Vertreter als ,Weltreligionen‘ verstanden werden. Der hier zu beobachtende Wandel einer europäischwestlichen Klassifikationsstrategie von der frühen Neuzeit in die Moderne führt nicht zuletzt dazu, dass ,Religionen‘ vielfach als durch eine Reihe von Glaubensaussagen zu charakterisierende Systeme verstanden werden, welche auf einer Ebene angesiedelt sind und als Exemplare einer Gattung von ,Religion‘ verstanden werden können. Aus dieser Sicht ließe sich heuristisch feststellen, dass die Identifikation einer Pluralität einzelner, von einander zumindest weitestgehend abgegrenzter, aber auf einer Vergleichsebene angeordneter ,Religionen‘ als ein Charakteristikum des modernen Religionsdiskurses bestimmt werden kann. Zur Differenzierung: Als ein zweites zentrales Charakteristikum des modernen Religionsdiskurses, welches es erst ermöglicht, diesen in Kombination mit der vorgenommenen Bestimmung von Pluralität heuristisch vom frühneuzeitlichen Religionsdiskurs abzugrenzen, ließe sich die Vorstellung von ,Religion‘ als eines abgegrenzten Bereichs identifizieren. Zwar finden sich bereits im frühneuzeitlichen Religionsdiskurs durchaus entsprechende Anklänge an eine solche, sowie eine beginnende Entwicklung der Vorstellung von ,Religion‘ im Singular als einer den ,Religionen‘ zugrundeliegenden Einheit. Zu einem dominierenden Charakteristikum wird eine klar zu treffende Unterscheidung der ,Religion‘ von anderen Bereichen des Lebens oder der Gesellschaft aber dennoch erst im Übergang vom neuzeitlichen zum modernen Religionsdiskurs. Erst dann entwickeln sich auch die spezifischen Unterscheidungen zwischen diesem Bereich von ,Religion‘ und einer Reihe anderer Bereiche, welche eine gegenseitige Abgrenzung erst ermöglichen. Aus diesem
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Eine Heuristik der Charakteristika des modernen Religionsdiskurses
Grund ist der moderne Religionsdiskurs eng verflochten mit der Entstehung der Vorstellung von anderen Bereichen wie etwa ,Wissenschaft‘ oder ,Politik‘ und lässt sich nicht isoliert von diesen beschreiben. Es ist die Entstehung der Vorstellung dieser modernen Bereiche und die Rekonfiguration ihrer Verhältnisse in gegenseitiger Abgrenzung, in der sich ihre jeweiligen Identitäten erst entwickeln und verstehbar machen lassen. Verknüpft mit dieser Entwicklung ist darüber hinaus die Debatte um ,Religion‘ als einer ,anthropologischen Konstante‘ des Menschen. Verstanden als eine dem Menschen inhärente und autonome Kapazität sui generis geht diese spezifische Vorstellung in ihrer intellektuellen Genealogie bis in die frühe Neuzeit zurück, wird dann aber speziell im modernen Religionsdiskurs zu einer zentralen Ausprägung seines Charakteristikum der Differenzierung. Diese auf eine zugrundeliegende Einheit verweisende Vorstellung von ,Religion‘ als einer differenzierten Einheit lässt sich somit heuristisch als zweites Charakteristikum beschreiben. Als Identifikation von ,Religion‘ als eines eigenen, einheitlichen Phänomens und der damit einhergehenden Abgrenzung von ,Religion‘ von anderen Bereichen, lässt sich dieses Charakteristikum als Differenzierung von ,Religion‘ bezeichnen. Auf diese Weise scheint sich eine Perspektive herauszukristallisieren, die darauf hinweist, dass wenn von ,Religion‘ die Rede ist, immer zumindest zwei Unterscheidungslinien impliziert werden. Zum einen verweist der moderne Religionsdiskurs auf eine Pluralität von gegeneinander abgegrenzten ,Religionen‘ und zum anderen auf ,Religion‘ als ein identifizierbares Phänomen oder einen Bereich, der von anderen wie ,Politik‘, ,Wissenschaft‘ oder ,Recht‘ abgrenzbar ist. ,Religion‘ wird somit einerseits als ein Überbegriff verstanden, der auf eine existierende Pluralität von ,Religionen‘ verweist. ,Religion‘ tritt immer als eine bestimmte ,Religion‘ (etwa ,Christentum‘, ,Islam‘, ,Buddhismus‘) auf, die sich in einem Vergleichszusammenhang mit anderen ,Religionen‘ findet.186 Andererseits wird ,Religion‘ als ein Bereich angesehen, der in einem zu spezifizierenden und oftmals umstrittenen Verhältnis zu anderen Bereichen wie ,Wirtschaft‘, ,Politik‘, ,Recht‘ oder auch ,Wissenschaft‘ steht. Beide Kennzeichen und die damit einhergehenden Unterscheidungen (,Religion‘ andere ,Religion‘ / ,Religion‘ anderer Bereich) ließen sich so als grundlegende Merkmale moderner Religionsbegriffe und des modernen Religionsdiskurses fassen. Ich möchte diese als Unterscheidungen der Religion bezeichnen, die den modernen Religionsdiskurs als einen Diskurs doppelter Unterscheidung charakterisieren.187 186 Es ließe sich hier die Frage anschließen, ob somit möglicherweise eine Transformation des modernen Religionsdiskurses zu beobachten ist, wenn sich in bestimmten Kontexten eine Semantik des „spiritual but not religious“ durchsetzt, die unter anderem genau diese klare Abgrenzbarkeit von spezifischen ,Religionen‘ negiert. 187 Während der Abfassung der vorliegenden Arbeit und in der Beschäftigung mit bisherigen und besonders den in den letzten Jahren erschienenen Studien zur weltweiten Verbreitung der
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Diese hier vorgeschlagene Konzeption des modernen Religionsdiskurses ist als ein heuristischer Vorschlag zu verstehen, der neue Fragehorizonte eröffnet, und dessen Plausibilität sich erst in der konkreten Analyse erweisen kann. Er stellt den Versuch dar, einen modernen – und, wie ich im folgenden Kapitel argumentieren werde, globalen – Religionsdiskurs und dessen Einheit zu denken, ohne auf ein spezifisches inhaltliches Vorverständnis von ,Religion‘ zurückzugreifen, denn mit diesen Unterscheidungen ist über deren jeweilige historische Verfasstheit und die Spezifika verschiedenster in deren Kontext entwickelter konkreter Religionskonzeptionen noch nichts gesagt.188 Inwiefern dieser Vorschlag überzeugend ist, kann sich nur in der konkreten Analyse und Rekonstruktion bestimmter historischer Kontexte und Situationen erweisen. Denn auch mein heuristischer Vorschlag ist natürlich bereits von genau diesem Interesse von Anfang an bestimmt gewesen, nämlich ,Religion‘ als einen globalen Diskurs denken zu wollen. Alternative Konzepte, die an einem entsprechenden globalen Frageinteresse festhalten wollen, aber Kategorie ,Religion‘ kam zu einem relativ späten Zeitpunkt vor der Fertigstellung die Frage auf, ob die hier präsentierten zwei Unterscheidungen der Religion (die nicht als deren einzige verstanden werden sollten!) nicht durch eine dritte zentrale Unterscheidung ergänzt werden könnten. Dies wäre die Unterscheidung von ,Religion‘ als ,echter Religion‘ und anderen, religionsähnlichen oder korrumpierten Formen, die gerade aus dem Grund unterschieden werden müssen, damit sich ,Religion‘ als ,Religion‘ selbst identifizieren kann. Entsprechende Entwicklungen, die etwa die entscheidende Bedeutung der Etablierung einer Kategorie des ,Aberglaubens‘ implizieren, lassen sich etwa im modernen China und Japan beobachten (als nur zwei Beispielen). Eine weitere solche Kategorie wäre etwa ,Magie‘. Auch hier wäre die Frage dann nicht, was nun der Unterschied jeweils sei, sondern welchen Unterschied die Etablierung einer solchen Unterscheidung macht. Diese dritte Perspektive kann hier primär aus arbeitspragmatischen Gründen nicht weiter verfolgt werden und wird nur an einigen anderen Stellen kurz erwähnt. Die im dritten Teil der Arbeit präsentieren Beispielbetrachtungen ließen sich aber gerade unter Berücksichtigung dieses Aspekts noch einmal überdenken. Neuere historische Studien die einen solchen Gedanken nahelegen sind unter anderem: Josephson, Jason ¯ ., When Buddhism Became a ,Religion‘. Religion and Superstition in the Writings of Inoue A Enryo, Japanese Journal of Religious Studies 33/1, 2006, 143 – 168; Goossaert, Vincent, 1898: The Beginning of the End for Chinese Religion?, Journal of Asian Studies 65/2, 2006, 307 – 336; Smith, Stephen A./Knight, Alan (Hg.), The Religion of Fools? Superstition Past and Present, Oxford 2008; Nedostup, Rebecca, Superstitious Regimes. Religion and the Politics of Chinese ¯ ., Evil Cults, Monstrous Gods, and the LaModernity, Cambridge 2009; Josephson, Jason A byrinth of Delusion. Rhetorical Enemies and Symbolic Boundaries in the Construction of ,Religion‘ in Japan, Bochumer Jahrbuch zur Ostasienforschung 33, 2009, 39 – 59 sowie die weiteren Beiträge dieses von Hans M. Krämer herausgegebenen Bochumer Themenhefts „Defining Religion, Defining Heresy in Modern East Asia“. Josephson hat mittlerweile auch ¯ ., The Invention of Religion in Japan, eine ausführliche Studie vorgelegt: Josephson, Jason A Chicago 2012. Siehe auch die kurze Skizze dieser Gedanken in Hermann, Adrian, Distinguishing ,Religion‘. Variants of Differentiation and the Emergence of ,Religion‘ As a Global Category in Modern Asia, Soziale Systeme (im Druck). 188 Auch hier lässt sich eine Parallele zum Foucaultschen Verständnis der „Formationsregeln“ erkennen, die eine Einheit des Diskurses bestimmbar machen, gerade obwohl es innerhalb des Diskurses unzählige verschiedenartige Konzeptionen seiner zentralen Begriffe gibt. Vgl. Foucault, Archäologie des Wissens, 88 – 89.
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Eine Heuristik der Charakteristika des modernen Religionsdiskurses
den hier vorgebrachten Vorschlag ablehnen, müssten ihrerseits angeben, auf welcher (etwa anthropologischen, phänomenologischen, kognitionswissenschaftlichen etc.) Grundlage sie ,Religion‘ dann alternativ in globaler Perspektive als Einheit denken wollen. Die in der vorliegenden Arbeit entwickelte Heuristik und die damit verfolgte Fragestellung ist also die folgende: Was kann man besonders in der Betrachtung außereuropäischer Verhältnisse sehen, wenn man das Neue des modernen Religionsdiskurses als die Kombination zweier Unterscheidungen der Religion versteht? Und welche Problemlagen, an denen man auch theoretisch weiterarbeiten kann, erscheinen durch diese Perspektive? In den nun folgenden Kapiteln der Arbeit soll diesen allgemeinen Fragen anhand der Formation des ,Buddhismus‘189 im globalen Religionsdiskurs weiter nachgegangen werden. Hierzu wird im fünften Kapitel zunächst der bisher bestimmte moderne Religionsdiskurs als ein letztlich globaler Religionsdiskurs aufgewiesen, bevor sich das sechste Kapitel einigen beispielhaften Betrachtungen zu buddhistischen Kontexten Asiens im 19. und frühen 20. Jahrhundert widmet. Abschließend wird im siebten Kapitel erneut die Frage nach der Möglichkeit der Einordnung der hier verfolgten Fragestellung in eine globale theoretische Perspektive gestellt.
189 Der Begriff der „Formation“ wird hier absichtlich in seiner Doppeldeutigkeit verwendet und belassen. Er verweist einerseits darauf, dass es um den Prozess gehen soll, in dem sich der ,Buddhismus‘ innerhalb des globalen Religionsdiskurses formiert, und andererseits darauf, dass dieser damit auch als eine „diskursive Formation“ (oder als Teil einer solchen) verstanden werden kann.
5. Der globale Religionsdiskurs und die historische Analyse der Herstellung von ,Äquivalenten‘ von ,Religion‘ Die bisherige Betrachtung des modernen Religionsdiskurses unter den zwei Aspekten der Pluralität und Differenzierung hat sich fast ausschließlich auf die europäisch-westliche Genealogie dieses Diskurses konzentriert. Es ist jedoch aus verschiedenen Gründen fraglich, ob eine solche isolierte Perspektive auf die westliche Entwicklung weiterführend ist. So wurde etwa in der bisherigen Darstellung immer wieder deutlich, dass bereits die Prominenz des Religionsbegriffs in der frühen Neuzeit und nicht zuletzt die Etablierung des modernen Religionsdiskurses seit dem 19. Jahrhundert als ein globales Geschehen verstanden werden muss. Während viele der vorhandenen begriffsgeschichtlichen Studien (von Ernst Feil, Michel Despland und anderen1) religio und ,Religion‘ primär aus europäischer Perspektive rekonstruieren, haben etwa David Chidester und Timothy Fitzgerald darauf hingewiesen, dass schon die Entstehung des europäischen Religionsbegriffs nicht ohne die außereuropäische Welt vorstellbar ist: „the developments in Europe were partly the result of what was happening in the colonies“.2 Gleichzeitig haben verschiedene Autoren die These vertreten, dass der ,Westen‘ seine Selbstabgrenzung und seine Identität gerade über die Kategorie ,Religion‘ und den modernen Religionsdiskurs gewonnen habe, so dass eine isolierte Betrachtung westlicher Entwicklungen also das bereits voraussetze, was sich durchaus auch erst als ein Ergebnis dieser Entwicklungen verstehen ließe.3 Wenn die frühneuzeitlichen Transformationen in der Auffassung von ,Religion‘ und ,Religionen‘, wie es oft geschieht, allein auf die sich wandelnde innereuropäische Situation im Kontext der Reformation und der Religionskriege zurückgeführt werden, wäre somit darauf hinzuweisen, dass als zumindest ebenso wichtiger Entstehungskontext von ,Religion‘ die Notwendigkeit einer Verarbeitung der Erfahrungen von Fremdheit im Rahmen der europäischen Expansion und des Kolonialismus verstanden werden sollte. Allerdings besagt diese These zur Herausbildung des europäisch-westlichen 1 Siehe die Literaturangaben in Kapitel 3.1. 2 Fitzgerald, Timothy, Introduction, in: ders. (Hg.), Religion and the Secular. Historical and Colonial Formations, London 2007, 1 – 24, hier: 9. Vgl. auch ders., Discourse on Civility and Barbarity. A Critical History of Religion and Related Categories, New York 2007, 47. 3 Vgl. u. a. Masuzawa, Tomoko, The Invention of World Religions, or, How European Universalism Was Preserved in the Language of Pluralism, Chicago 2005 sowie Dubuisson, Daniel, The Western Construction of Religion. Myths, Knowledge, and Ideology, Baltimore 2003.
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Religionsdiskurses in enger Verknüpfung mit einer Konfrontation mit Fremdheit nicht, dass nicht auch schon die Vorgeschichte dieses frühneuzeitlichen und modernen Diskurses sowie des Begriffs religio (etwa im römischen Reich) durch eine entsprechende Kategorisierung und Klassifizierung von Fremdheit geprägt war. Vielmehr lassen sich – wie bisher argumentiert – sowohl die im letzten Kapitel als frühneuzeitlich wie auch die als modern beschriebene Entwicklung nicht zuletzt auf zwei Phasen besonderer Intensivierung solcher Auseinandersetzungen mit außereuropäischen Verhältnissen zurückführen. Der Wandel der Begrifflichkeiten lässt sich daher nicht zuletzt in der Art und Weise nachvollziehen, wie diese Konfrontationen klassifiziert wurden. Diese Begegnung war nicht von Beginn an eine Begegnung mit anderen ,Religionen‘, sondern (wie bereits beschrieben) zunächst eher eine Auseinandersetzung mit anderen ,Völkern‘ oder ,Nationen‘. Die zunehmende Prominenz und damit einhergehende Transformation der Konzepte von ,Religion‘ und ,Religionen‘ bildete sich somit erst im Rahmen und nicht zuletzt als ein Resultat dieser Begegnungen heraus. In diesem Sinne ist die Entstehungsgeschichte der Kategorie ,Religion‘ mit der Konfrontation mit Fremdheit untrennbar verbunden. Eine solche Erweiterung des Fokus auf den modernen Religionsdiskurs stösst auf die Notwendigkeit, seine Entwicklung nicht nur in einem europäischen, sondern vielmehr in einem globalen Rahmen zu betrachten. Somit lässt sich bereits die Entstehung von ,Religion‘ als „neuzeitlichem Grundbegriff“ (Feil) auch als ein Ergebnis weltweiter Verflechtungen betrachten. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert erscheint seine Geschichte dann als globale Geschichte des modernen Religionsdiskurses. In diesem Zusammenhang bietet sich daher der Anschluss an neuere globalhistorische Ansätze an, die sich der „Verflechtungsgeschichte der modernen Epoche“4 widmen und dabei Studien zu spezifischen lokalen Entwicklungen mit einer „Geschichtsschreibung mit einem Bewusstsein für globale Zusammenhänge“ verbinden.5 Die Geschichte des modernen Religionsdiskurses als eines globalen Religionsdiskurses besonders seit dem 19. Jahrhundert könnte in diesem Sinne als ein paradigmatisches Beispiel für die Notwendigkeit globalgeschichtlicher Ansätze und einer entangled history verstanden werden. Auch die von verschiedenen Autoren konstatierte weltweite Verbreitung von ,Religion‘ bzw. eines europäisch-westlichen Religionsverständnisses, müsste im Sinne des im dritten Kapitel vorgeschlagenen Perspektivenwechsels somit nicht als zu überwindendes Problem, sondern vielmehr als Hinweis auf zu analysierende historische Vorgänge und die Globalität des modernen 4 Conrad, Sebastian/Eckert, Andreas, Globalgeschichte, Globalisierung, multiple Modernen. Zur Geschichtsschreibung der modernen Welt, in: S. Conrad et al. (Hg.), Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen, Frankfurt am Main 2007, 7 – 49, hier: 25. 5 Ebd., 27. Vgl. auch Conrad, Sebastian, Globalgeschichte. Eine Einführung, München 2013.
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Religionsdiskurses verstanden werden. Seine Globalität erscheint auf diese Weise nicht als sekundärer und problematischer Aspekt, sondern als ein konstitutives Merkmal und Bedingung seiner Möglichkeit. Diese Frage nach der Globalität des modernen Religionsdiskurses verweist zumindest auf die folgenden Problemlagen: Zum einen stellt sich hier die bereits angesprochene Frage, inwieweit die Entstehung des frühneuzeitlichen Religionsdiskurses und seine Transformation zu einem modernen Religionsdiskurs als ein Vorgang globaler Verflechtung verstanden werden kann – und verstanden werden sollte. Damit verknüpft ist die Frage, inwieweit spätestens der moderne Religionsdiskurs auch deshalb als ein globaler Diskurs betrachtet werden kann, weil er sich von einem primär westlich geprägten und forcierten zu einem global institutionalisierten Diskurs entwickelt hat, der nicht länger ausschließlich von ,westlichen Akteuren‘ getragen wird. Hier wäre nach der Rolle außereuropäischer Akteure für die im vorherigen Kapitel beschriebenen Transformationen und damit nach der indigenen Beteiligung an diesem ,Reden über Religion‘ zu fragen. Zum anderen impliziert diese Frage – besonders im Rahmen einer diskurstheoretischen Perspektive – auch die Debatte um die ,Erfindung der Weltreligionen‘, also die Frage, inwiefern sich davon sprechen lässt, dass die ,Religionen‘, von denen der Diskurs spricht, durch diesen erst hervorgebracht werden. In diesem Sinne stellt dieses Kapitel zunächst Ansätze der neueren Globalgeschichte vor (5.1), bettet den Religionsdiskurs in eine globale Verflechtungsgeschichte ein (5.2), und widmet sich dann der These einer kolonialen Konstruktion von ,Religion(en)‘ vor allem am Beispiel des ,Hinduismus‘ (5.3). Die Globalität von ,Religion‘ wird im Anschluss an diese Überlegungen als weitere Grundlage für die Frageheuristik der vorliegenden Arbeit etabliert (5.4). Den darauf folgenden Bemerkungen zur Möglichkeit einer diskurstheoretischen Beschreibung eines globalen Diskurses (5.5) folgt die ausführliche Auseinandersetzung mit einem Ansatz, der sich der Übersetzungsproblematik zwischen Sprachen und Kulturen widmet, und der theoretische Potentiale aufzeigt, an die für eine historische Rekonstruktion der Genealogie globaler Diskurse über das Konzept der translingual practice angeschlossen werden könnte (5.6). Die damit bereits implizierten Topoi der Übersetzung sowie der theoretischen Probleme in der Konzeptionalisierung einer sprachübergreifenden Entstehung von Bedeutung, die für eine globale Betrachtung des Religionsdiskurses grundlegend sind, werden im Anschluss an die bereits präsentierten Vorschläge zur Bestimmung der Unterscheidungen der Religion mit Bezug auf Gedanken Jacques Derridas noch einmal aufgenommen (5.7).
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5.1 Die neue Globalgeschichte ,Globalgeschichte‘ bezeichnet in neueren Entwürfen (in Kontrast zu dem älteren Begriff der ,Weltgeschichte‘) eine Perspektive, welche sich für Prozesse der „Verflechtung und eine relationale Geschichte der Moderne interessier[t], nicht-eurozentrisch argumentieren und nationalgeschichtliche Perspektiven überwinden“ will.6 Kennzeichnend ist, dass man versucht, sich sowohl zeitlich als auch räumlich von der Totalität weltgeschichtlicher Gesamtentwürfe und -beschreibungen zu lösen. Stattdessen konzentriert man sich auf die Frage nach spezifischen Situationen von Globalität besonders seit dem 18. Jahrhundert. Auch wird zumeist in den einzelnen Studien nicht die ganze Welt in den Blick genommen, sondern vielmehr eine „Geschichte der Interaktionen und Austauschbeziehungen“ verfolgt.7 Die eurozentristische und linear modernisierungstheoretische Perspektive früherer Darstellungen wird so von einem Bewusstsein abgelöst, dass (gegen vereinzelte Lokalstudien) die weltweiten Austausch- und Aushandlungsprozesse zwar seit dem 16. Jahrhundert immer im Bewusstsein einer zunehmenden westlichen Hegemonie begriffen werden müssen, dass diese aber nicht auf einen linearen Prozess, sondern vielmehr auf eine Geschichte voller Bruchlinien und Fragmentierungen verweist. Ebenso wird diese Hegemonie nicht einfach als Diffusion westlicher Macht verstanden, sondern spielt sich in einem viel komplexeren Netzwerk von Relationen ab. Die diversen Formen und Verteilungen historischer agency treten daher in den Mittelpunkt. Verflechtungsgeschichten sind immer durch die Aktivität mehrerer Akteure geprägt, und auch wenn Machtprozesse und westliche Überlegenheit in vielen Fällen eine zentrale Rolle gespielt haben, ist auch die Initiative und aktive Aneignung besonders durch indigene Eliten ein zentrales Thema globalgeschichtlicher Darstellungen. So wird betont, dass etwa in den unterschiedlichen kolonialen Kontexten Kontakte meist nicht rein bipolar mit dem Westen verliefen, sondern auch ,Su¨ d-Su¨ d-Kontakte‘8 und indirekte Verflechtungen zu berücksichtigen sind. Und selbstverständlich ist somit auch Europa als Teil dieser Verflechtungen zu betrachten: „Auch die europäische Entwicklung lässt sich nicht autonom, aus sich heraus erklären, sondern war ebenso eingebunden in unterschiedliche Interaktionszusammenhänge.“9 In Abwandlung eines Diktums von Christopher A. Bayly könnte man daher sagen: Alle geschichtlichen Beschreibungen spätestens seit dem 6 Conrad/Eckert, Globalgeschichte, 7. 7 Ebd., 19. Siehe auch Osterhammel, Jürgen, Weltgeschichte. Ein Propädeutikum, Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 56/9, 2005, 452 – 479, hier: 460, der von einer „Interaktionsgeschichte innerhalb weltumspannender Systeme“ spricht. 8 Siehe als nur ein Beispiel Koschorke, Klaus (Hg.), Transkontinentale Beziehungen in der Geschichte des außereuropäischen Christentums/Transcontinental Links in the History of NonWestern Christianity, Wiesbaden 2002. 9 Conrad/Eckert, Globalgeschichte, 32.
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18. Jahrhundert sind globalgeschichtliche Beschreibungen, sie sind sich dessen nur nicht immer bewusst.10 Die theoretischen Entwürfe, mit deren Hilfe versucht wird, ein solches Programm umzusetzen, sind äußerst vielfältig.11 Zu ihnen gehören auch die von der Ethnologin Shalini Randeria in die Diskussion eingebrachten Begriffe der „geteilten Geschichte“, „verwobenen Modernen“ und entangled history.12 Randeria stellt (u. a. gemeinsam mit Sebastian Conrad) in ihren Überlegungen vor allem die „Verwobenheit der europäischen mit der außereuropäischen Welt“ in den Mittelpunkt.13 Anstelle einer isolierenden Betrachtung der westlichen Geschichte sollte deren „unauflösbare Verflechtung“ mit der außereuropäischen Welt zum Ausgangspunkt einer Perspektive gemacht werden, die eine gegenseitige Konstitution von Kolonie und Metropole vor dem Hintergrund des Imperialismus in den Blick nimmt.14 Ein solches Programm steht vor der Herausforderung, die Dichotomie zwischen dem „Westen“ und dem „Rest“ zu überwinden.15 In diesem Sinne könnte eine so verstandene Verflechtungsgeschichte des Kolonialismus andere ,Meistererzählungen‘ der Moderne ablösen, wie bereits der Historiker Charles S. Maier vermutet hat.16 Diese Refokussierung der Geschichte auf die Austauschprozesse im Rah10 „[A]ll local, national, or regional histories must, in important ways, therefore, be global histories. It is no longer really possible to write ,European‘ or ,American‘ history in a narrow sense, and it is encouraging that many historians are already taking this view“ (Bayly, Christopher A., The Birth of the Modern World. Global Connections and Comparisons, Malden 2004, 2). 11 Siehe etwa Conrad, Sebastian/Randeria, Shalini (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2002; Budde, Gunilla-Friederike et al. (Hg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006; Conrad, Sebastian et al. (Hg.), Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen, Frankfurt am Main 2007; Kraft, Claudia et al. (Hg.), Kolonialgeschichten. Regionale Perspektiven auf ein globales Phänomen, Frankfurt 2010 um nur vier aktuellere deutschsprachige Sammelbände zu nennen, die jeweils eine Vielzahl unterschiedlicher Richtungen der ,neuen‘ Globalgeschichte vereinen. 12 Randeria, Shalini, Geteilte Geschichte und verwobene Moderne, in: J. Rüsen (Hg.), Zukunftsentwürfe. Ideen für eine Kultur der Veränderung, Frankfurt am Main 1999, 87 – 96, hier: 90; Conrad, Sebastian/Randeria, Shalini, Einleitung: Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt, in: dies. (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2002, 9 – 49; Randeria, Shalini, Entangled Histories of Uneven Modernities. Civil Society, Caste Solidarities and Legal Pluralism in Post-Colonial India, in: Y. Elkana et al. (Hg.), Unraveling Ties. From Social Cohesion to New Practices of Connectedness, Frankfurt am Main 2002, 284 – 311. 13 Conrad/Randeria, Einleitung: Geteilte Geschichten, 10. 14 Ebd. Vergleiche auch Stoler, Ann L./Cooper, Frederick, Between Metropole and Colony. Rethinking a Research Agenda, in: dies. (Hg.), Tensions of Empire. Colonial Cultures in a Bourgeois World, Berkeley 1997, 1 – 56. 15 Siehe Hall, Stuart, Der Westen und der Rest. Diskurs und Macht, in: ders., Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg 1994, 137 – 179. 16 Vgl. Maier, Charles S., Consigning the Twentieth Century to History. Alternative Narratives for the Modern Era, American Historical Review 105/3, 2000, 807 – 831, hier: 825 – 827. Vgl. Conrad/ Randeria, Einleitung: Geteilte Geschichten, 9.
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men des Kolonialismus und Imperialismus ist nicht zuletzt deshalb so entscheidend, weil sich auch die gegenwärtigen Globalisierungsprozesse nur verstehen lassen, wenn die lange und komplexe Geschichte kolonialer Herrschaft und Ausbeutung als entscheidender Hintergrund und Entstehungskontext auch heutiger Verhältnisse betrachtet wird.17 Für den vorliegenden Zusammenhang sind dabei vor allem zwei Punkte zentral, die in den genannten Entwürfen betont werden: Zum einen die Verflechtung zwischen Europa und der außereuropäischen Welt in der Genealogie des modernen globalen Religionsdiskurses und zum anderen die Frage nach der Rolle der indigenen agency in diesen Austauschprozessen. So stellen etwa Peter Feldbauer und Andrea Komlosy die Frage: Ist nicht alles, was als genuin europäisch (bzw. als genuin für bestimmte europäische Staaten/Regionen) angesehen wurde, viel stärker von außereuropäischen, globalen Faktoren beeinflusst als wir glauben? […] Eine globale Perspektive ernst zu nehmen, heißt also nicht nur, den Eurozentrismus durch Hinzufügung von außereuropäischen Regiozentrismen zu ergänzen und zu relativieren, sondern dies erfordert die Einbeziehung der globalen Einflüsse auch in die Konzeption der europäischen Geschichte selbst.18
In diesem Sinne ist auch Randerias Konzept der „geteilten Geschichte“ mit der Überzeugung verbunden, „daß alle heutigen Gesellschaften und Kulturen eine gemeinsame Gegenwart miteinander teilen.“19 Doch diese im Zeitalter der Globalisierung leicht akzeptierbare Feststellung sollte (wie Randeria in Ablehnung alternativer neuerer Konzepte zur Beschreibung der modernen Welt formuliert) im Rahmen der geschichtlichen Betrachtung durch die Vorstellung eines „Modell[s] miteinander verwobener Formen der Moderne […], die sich im Verlauf einer gemeinsamen Geschichte herausgebildet haben“ ergänzt werden – und nicht etwa durch die Behauptung einer Pluralität alternativer oder paralleler Formen der Moderne.20 Für die hier verfolgte Frage nach der Globalität der ,Religion‘ bedeutet dies vor allem, dass bereits die Entstehung des modernen Religionsdiskurses als ein Verflechtungsprozess zu rekonstruieren ist, der auf eine geteilte Geschichte verweist. Denn die in diesem Diskurs von Beginn an eingeschriebene koloniale und außereuropäische Geschichte betrifft nicht nur die spätere Ver17 Vgl. Eckert, Andreas/Randeria, Shalini, Geteilte Globalisierung, in: dies. (Hg.), Vom Imperialismus zum Empire. Nichtwestliche Perspektiven auf Globalisierung, Frankfurt am Main 2009, 9 – 33, hier: 11. 18 Feldbauer, Peter/Komlosy, Andrea, Globalgeschichte 1450 – 1820: Von der Expansions- zur Interaktionsgeschichte, in: C.-H. Hauptmeyer (Hg.), Die Welt querdenken. Festschrift für HansHeinrich Nolte zum 65. Geburtstag, Frankfurt am Main 2003, 59 – 94, hier: 66 – 67. 19 Randeria, Geteilte Geschichte, 87. 20 Ebd., 90. Siehe auch Liu, Lydia H., Introduction, in: dies. (Hg.), Tokens of Exchange. The Problem of Translation in Global Circulations, Durham 1999, 1 – 12, hier: 1 sowie die ausführliche Diskussion von Lius Ansatz in Abschnitt 5.6.
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breitung des ,europäisch-westlichen‘ Begriffs ,Religion‘, sondern bereits die Konstitution dieser ,europäischen‘ Kategorie selbst. Allgemein formulieren dies Ann L. Stoler und Frederick Cooper wie folgt: Europe’s colonies were never empty spaces to be made over in Europe’s image or fashioned in its interests; nor, indeed, were European states self-contained entities that at one point projected themselves overseas. Europe was made by its imperial projects, as much as colonial encounters were shaped by conflicts within Europe itself.21
Es ist dieser Zusammenhang, den auch John und Jean Comaroff in ihrer Auseinandersetzung mit der Rolle des Kolonialismus in der Genese des ,Westens‘ betonen: „colonialism was as much about making the center as it was about making the periphery. The colony was not a mere extension of the modern world. It was part of what made that world modern in the first place.“22 Eine Globalgeschichte, die dies entsprechend berücksichtigt, kann dann als „Interaktions- und Kommunikationsgeschichte“ eine gleichrangige Analyse unterschiedlicher Kontinente, Regionen, Staaten, Gesellschaften und Kulturen anstreben, welche versucht, eurozentrische Perspektiven weitgehend zu überwinden.23 Auf diese Weise ließe sich die Expansion einiger glaubensgewisser, land-, macht-, gold- und profithungriger europäischer Aristokraten, Kaufleute, Abenteurer und letztlich auch Staaten ab der Mitte des zweiten Jahrtausends als Teil eines die gesamte Menschheitsgeschichte und sukzessive den gesamten Erdball umfassenden lnteraktions- und Kommunikationsprozesses sehen.24
Eine diese Interaktionen und gegenseitige Beziehungen in den Blick nehmende Perspektive überwindet die Dichotomie zwischen noch in überlieferten Traditionen verhafteten und bereits modernen Gesellschaften hin zu einer „verwobene[n] Geschichte der Moderne in westlichen und nichtwestlichen Gesellschaften“, ohne dabei die jeweiligen Sonderentwicklungen und Machtverhältnisse sowie die daraus resultierenden, auch wechselseitigen, Abhängigkeiten zu übersehen.25 Indem gleichzeitig aber die hegemoniale Position des Westens weiter als zentral erachtet wird, bleibt dieser ein entscheidender Fokus der Analyse, ohne daraus eine eurozentristische Sichtweise abzuleiten. Talal Asad hat diese Bedeutung des ,Westens‘ trotz der berechtigten Infragestellung jeglicher mit diesem Begriff verbundener ,essentieller‘ Charakteristika folgendermaßen beschrieben: 21 Stoler/Cooper, Between Metropole and Colony, 1. 22 Comaroff, John L./Comaroff, Jean, Ethnography and the Historical Imagination, Boulder 1992, 293. 23 Feldbauer/Komlosy, Globalgeschichte, 60. 24 Ebd., 61. 25 Randeria, Geteilte Geschichte, 91.
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Although it is spatially discontinuous and internally diverse, „the West“ is not a mere Hegelian myth, not a mere representation ready to be unmasked by a handful of talented critics. For good or ill, it informs innumerable intentions, practices, and discourses in systematic ways. This is not to say that there is an integrated Western culture, or a fixed Western identity, or a single Western way of thinking, but that a singular collective identity defines itself in terms of a unique historicity in contrast to all others, a historicity that shifts from place to place – Greece, Rome, Latin Christendom, the Americas – until it embraces the world.26
Für die Frage nach dem modernen Religionsdiskurs und seiner Globalität folgt aus der Anlehnung an solche Entwürfe der neueren Globalgeschichte die Betonung seiner Entstehung aus einer Verflechtungsgeschichte, in der – wie David Chidester betont hat27 – das, was in den Kolonien geschieht, für die Konstitution des Diskurses ebenso zentral ist wie die europäischen Entwicklungen. Gleichzeitig folgt aus der Perspektive einer „geteilten Geschichte“, dass die Aktivitäten indigener Akteure sowie deren Rezeption und aktive Prägung des Religionsdiskurses für dessen globale Verfasstheit nicht nur als ebenso zentral angesehen werden müssen wie diejenigen westlicher Akteure. Vielmehr wären sie sogar als grundlegende Bedingung seiner Konstitution als globaler Diskurs aufzufassen. Diese beiden entscheidenden Aspekte ziehen sich daher auch durch die weiteren Überlegungen der vorliegenden Arbeit. Gleichzeitig waren es gerade diese globalen Verflechtungen, welche für die Konstitution der zwei im vorherigen Kapitel diskutierten Charakteristika des modernen Religionsdiskurses entscheidend waren. So war es nicht zuletzt der Kolonialismus, der – wie Brian K. Pennington formuliert – entscheidend beigetragen hat „to the distinction of religion from other spheres of human activity and to the development of discrete, mutually exclusive religious identities.“28
26 Asad, Talal, Genealogies of Religion. Discipline and Reasons of Power in Christianity and Islam, Baltimore 1993, 18. 27 Vgl. Chidester, David, Savage Systems. Colonialism and Comparative Religion in Southern Africa, Charlottesville 1996, xiii. 28 Pennington, Brian K., Was Hinduism Invented? Britons, Indians, and the Colonial Construction of Religion, Oxford 2005, 26. Vgl. auch Peter Beyers Formulierung dieses Sachverhalts: „What is significant is that the European experience of encounter with a wide variety of civilizations and cultures played an integral part in the historical emergence of this peculiar idea of religion as a distinct and systemic domain of endeavour that manifested itself in a plurality of also systemic subunits called religions, one of which was Christianity“ (Religions in Global Society, New York 2006, 74).
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5.2 Die verflochtene Genese des Religionsdiskurses Die Genealogie des Religionsdiskurses ist somit eng mit seiner globalen Dimension verbunden. Auch aus diesem Grund betonen zahlreiche neuere Studien, dass sich eine rein auf den Westen fokussierte Analyse ebenso wenig als zielführend erweist wie eine Fragestellung, die sich nur zum Ziel setzt, die Rolle von ,Religion‘ in kolonialen Prozessen zu rekonstruieren. In dieser Weise werde die Kategorie ,Religion‘ bereits vorausgesetzt, anstatt selbst als ein zentraler Aspekt kolonialer Herrschaftsstrategien verstanden zu werden. Auch wenn nicht zuletzt aus pragmatischen Gründen eine gewisse Trennung zwischen der Rekonstruktion europäischer und außereuropäischer Genealogien unvermeidbar ist, sind es doch gerade die Beziehungen zwischen beiden Entwicklungen, welche für die Genese des modernen Religionsdiskurses entscheidend sind: The relationship between the colonising power and the dominated or colonised peoples must be constructed from both ends in order to understand both ends. This is because both ends have constructed each other, albeit in the crucial context of unequal power.29
Ähnlich beschreibt David Chidester am Beispiel Südafrikas die Bedeutung der Kolonien und besonders ihrer Grenzgebiete für die Genealogie des Religionsbegriffs, sowie die Probleme, welche sich aus deren Marginalisierung im Hinblick auf die Genealogie von ,Religion‘ ergeben: Although it was on the front lines of the human encounter out of which the modern categories of religion and religions originated, southern Africa, like other peripheral regions, has been relegated to a subordinate status that is dependent upon the productions of European intellectual centers.30
Der Religionsdiskurs scheint durch seine grundlegende Bezogenheit auf die Verarbeitung von Fremdheitserfahrungen, die besonders im Kontext der Verflechtung der modernen Welt zunehmen, somit gerade ein paradigmatischer Fall für eine „geteilte Geschichte“ und den Ansatz einer entangled history zu sein.31 Als ein frühneuzeitlicher und dann moderner Diskurs mit den bereits beschriebenen Charakteristika der „Pluralität“ und „Differenzierung“ entwickelt er sich gleichzeitig als ein und zu einem globalen Diskurs. Mit Charles Long lässt sich daher betonen, dass die Virulenz der Kategorie 29 Fitzgerald, Discourse on Civility and Barbarity, 47. 30 Chidester, Savage Systems, xiv. 31 Er steht in diesem Sinne auch mit dem Kulturbegriff in einer eigenartigen Spannung. Siehe für eine Analyse des Kulturbegriffs, die verschiedene dieser bisher angesprochenen Aspekte aufnimmt Luhmann, Niklas, Kultur als historischer Begriff, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft 4, Frankfurt am Main 1995, 31 – 54.
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,Religion‘ seit der frühen Neuzeit nur verständlich ist, wenn sie in ihrer Verbindung mit den Veränderungen in der Rolle von ,Religion‘ im Kontext der Aufklärung und der Begegnung und Konfrontation des Westens mit außereuropäischen Verhältnissen im Rahmen der westlichen ,Entdeckung‘ der Welt analysiert wird.32 Diese enge Verknüpfung zwischen der Entstehung des Diskurses um ,Religion‘ und den Prozessen der europäischen Entdeckung, Eroberung und Kolonialisierung außereuropäischer Gebiete impliziert dabei, wie wir bereits gesehen haben, auch eine Transformation von Klassifizierungsmustern und Bezeichnungsstrategien, welche diese Konfrontation erst zu einer Begegnung mit ,Kulturen‘ und ,Religionen‘ werden ließ: There is a complex relationship between the meaning and nature of religion as a subject of academic study and the reality of the peoples and cultures who were conquered and colonized during this same period. Both meanings – religion as an authentic mode of the human and the situation of those cultures that were overcome by the West, the enslaved, colonized, and conquered – constituted something of a scandal. While the reformist structure of the Enlightenment had mounted a polemic against the divisive meaning of religion in Western culture and set forth alternate meanings for the understanding of the human, the same ideological structures through various intellectual strategies paved the ground for historical evolutionary thinking, racial theories, and forms of color symbolism that made the economic and military conquest of various cultures and peoples justifiable and defensible. In this movement both religion and cultures and peoples throughout the world were created anew through academic disciplinary orientations – they were signified.33
Die Genealogie des Religionsdiskurses – und damit, wie David Chidester anmerkt, auch der wissenschaftlichen Beschäftigung mit ,Religion‘ – sollte daher nicht als eine rein europäische Entwicklung betrachtet werden. Doch die bloße Anerkennung der Tatsache, dass auch die innereuropäischen Religionskonflikte gerade in den zum Einsatz kommenden Kategorien durch die Berichte aus dem ,exotischen‘ Ausland mit beeinflusst wurden, stellt die Bedeutung kolonialer Situationen noch nicht ausreichend ins Zentrum. Viel eher müsste somit auch die Geschichte der Religionswissenschaft erzählt werden als die Geschichte einer komplexen Verflechtung zwischen der Entstehung des frühneuzeitlichen und modernen Religionsdiskurses, den Auseinandersetzungen über die Natur der ,Religion‘ sowie der in der europäischen Eroberung und Kolonialisierung ausgeübten und erfahrenen Gewalt: „The discipline of comparative religion emerged, therefore, not only out of the Enlightenment heritage but also out of a violent history of colonial conquest and domination.“34 32 Vgl. Long, Charles H., Significations. Signs, Symbols, and Images in the Interpretation of Religion, Aurora 1999, 3. 33 Ebd., 4. 34 Chidester, Savage Systems, xiii.
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Gerade die im Religionsdiskurs als Pluralität von Religionen implizierte Vergleichsperspektive ist für die Entstehung eines vergleichenden Religionsdiskurses entscheidend, der als Vorgeschichte der akademischen Disziplin der Religionswissenschaft betrachtet werden kann. Diese Vergleichszusammenhänge finden sich als diskursive Praktiken jedoch nicht nur in den europäischen Zentren, sondern ebenso in der kolonialen Peripherie.35 Besonders für die dortige Situation gibt Chidester zu bedenken, dass sich eine Vergleichspraxis nicht etwa nur als intellektuelle Beschäftigung entwickelt habe, sondern vielmehr auch als eine koloniale Herrschaftspraxis in Konfliktsituationen: Principles of comparison were hammered out on frontier battlefields. Interpretive and explanatory strategies of comparative religion were inevitably entangled in the social, economic, and political conflicts of colonial situations. On the southern African periphery, a frontier comparative religion emerged that was crucial to the development of the academic study of religion. Therefore, if the history of comparative religion is truly to be a history, it must be a narrative of historically situated discourses and practices of comparison that is sensitive to their practical implications in the world. The study of religion must find itself, once again, on the frontier.36
Im Kontext einer solchen Perspektive und als Ergebnis dieser kolonialen Auseinandersetzungen lässt sich, so Chidester, auch die Peripherie als ein Ort der Theorieproduktion verstehen, „with the conquering and colonizing center itself colonized by reports about religion from missionaries, travelers, colonial administrators, and others on the periphery.“37 Die Schlussfolgerung aus diesen anhand neuerer Studien immer komplexer beschreibbaren Entwicklungslinien des globalen Religionsdiskurses sollte aus diskurstheoretischer Perspektive jedoch weder die von manchen Autoren geforderte Ersetzung der Kategorie ,Religion‘ durch andere, vermeintlich unproblematischere Begriffe (worldview, ritual, cosmographic formations38) oder ihre Auflösung in den Begriff ,Kultur‘ sein, noch eine erneute Suche nach der nun durch diese historischen Rekonstruktionen legitimierten ,richtigeren‘ Definition für ,Religion‘. Was die globale Begriffs- und Diskursgeschichte vielmehr zeigt, ist die Entstehung und Institutionalisierung einer spezifischen (Selbst-)Beschreibungskategorie auf weltweiter Ebene. ,Religion‘ als Diskurs ist aus diskurstheoretischer Perspektive heute eine globale Realität. So hat David Chidester schon 1996 festgestellt: „After reviewing the history of colonial productions and reproduction on contested frontiers, we might happily
35 36 37 38
Vgl. ebd. Ebd., xiv–xv. Ebd., xiv. Siehe z. B. Dubuisson, The Western Construction of Religion sowie Fitzgerald, Timothy, The Ideology of Religious Studies, New York 2000.
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Der globale Religionsdiskurs und die Herstellung von ,Äquivalenten‘
abandon religion and religions as terms of analysis if we were not, as the result of that very history, stuck with them.“39 Auch Tomoko Masuzawa weist nach ihrer Auseinandersetzung mit dem europäisch-westlichen Religionsdiskurs abschließend darauf hin, dass dessen Genealogie weder auf die Wissenschaft reduziert werden kann, noch eine bloße europäisch-westliche Angelegenheit darstellt. Vielmehr ist dessen Etablierung und weltweite Bedeutung nur vorstellbar, wenn man den Rahmen sehr viel größer spannt und die Rolle der lokalen Rezeptionen der Konzepte und Klassifikationschemata, die mit dem modernen Religionsdiskurs einhergehen, mit einbezieht: What remains yet to be studied concertedly is the very process of mutually interactive development, on the one hand, of European representations of non-Christian religions and, on the other hand, the native appropriation, reaction, or resistance to such representations. […] This, moreover, has never been merely a matter of international trade in concepts, as it were; rather, it took place in the context of colonialism, or under forceful impact of the European epistemic field, or in any event, under the condition of globalization under duress. Typically, it was a symbiotic process in which the natives came to articulate their own identity by utilizing concepts and ideas initially forged by others, and in which the native articulation came to feed into the reality status of these ideas in a complicated way.40
Es ist diese Entwicklung, die den auch in seiner Entstehung entscheidend durch die westliche Begegnung mit der außereuropäischen Welt geprägten frühneuzeitlichen und modernen Religionsdiskurs wahrhaft zu einem globalen Religionsdiskurs macht, und ihn in diesem Prozess seine moderne Gestalt erst vollständig entfalten lässt. Eine Genealogie des modernen Religionsdiskurses muss daher die Dynamik der Verflechtung zwischen endogenen Faktoren innerhalb Europas und der Auseinandersetzung und Konfrontation mit außereuropäischen Kulturen zentral berücksichtigen. Entscheidend ist dabei, dass es nicht ausschließlich um die Beschreibung und Rekonstruktion kolonialer Unterdrückung geht, sondern dass die indigenen Rezeptions-, Aneignungs- und Übersetzungsprozesse sowie die damit verbundene ,interkulturelle Mimesis‘41 für diese Entwicklung entscheidend waren. Sie haben unter anderem dazu geführt, dass sich die Kategorie ,Religion‘ global etabliert hat, in nicht-europäischen Sprachen neue Debatten und Neologismen entstanden sind (wie etwa zong jiao [Chin.] und shu¯kyo¯ [Jap.]), sowie andere teilweise bereits viel ältere Begriffe nun als mit dem europäischen Religionsbegriff vergleichbar wahrge39 Chidester, Savage Systems, 259. 40 Masuzawa, The Invention of World Religions, 282 – 283. 41 Vgl. Hallisey, Charles, Roads Taken and Not Taken in the Study of Theravada Buddhism, in: D.S. Lopez (Hg.), Curators of the Buddha. The Study of Buddhism under Colonialism, Chicago 1995, 31 – 61. Siehe dazu auch im Folgenden.
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nommen wurden und heute mit diesem Diskurs in Verbindung gebracht werden (din [Arab.], dao [Chin.], dharma [Sanskr.]).42 In diesem Sinne lässt sich die Geschichte des modernen Religionsdiskurses mitsamt der Globalisierung der Kategorie ,Religion‘ als eine paradigmatische Globalgeschichte verstehen, die vorrangig als eine solche zu beschreiben wäre. Brian K. Pennington hat darauf hingewiesen, welche Perspektiven aufscheinen, wenn diese dann auch tatsächlich als eine Verflechtungsgeschichte verstanden wird, die nicht nur auf die Verbreitung westlicher Kategorien im außereuropäischen Raum fokussiert: It was no coincidence that Britain awoke to the condition of its laboring classes at the same moment that it imagined the imperiled state of the pagan soul. The two events are intimately related, even inseparable, elements of the near-global transformation of religion in the nineteenth century that would produce both evangelical Christianity and modern Hinduism.43
5.3 Die These einer kolonialen Konstruktion des ,Hinduismus‘ und der ,Religion(en)‘ Die These, dass sich die heute global verbreiteten Vorstellungen von ,Religion‘ und den verschiedenen ,Religionen‘ wie ,Hinduismus‘ oder ,Buddhismus‘ auf europäisch-westlicher Seite größtenteils im 19. Jahrhundert im Rahmen eines Verflechtungsprozesses herausgebildet haben, ist mittlerweile nicht länger strittig. Nicht zuletzt im Rückgriff auf Edward Saids Studie zum Orientalismus wird argumentiert, dass die westlichen Beschreibungen des ,Hinduismus‘ und ,Buddhismus‘ vor allem in dieser frühen Phase mehr über europäische Kontroversen und theologische Konflikte aussagen, als über die Verhältnisse, die in ihnen beschrieben werden. Auf der anderen Seite nahmen diese westlichen Beschreibungen eine wichtige Rolle im Kontext kolonialer Herrschaftsstrategien ein. So ist es ein zentrales Anliegen der an Said anschließenden postkolonialen Studien, aufzuzeigen, inwiefern eine enge Verknüpfung zwischen der Generierung von Wissen über außereuropäische Verhältnisse und den Bedürfnissen kolonialer Herrschaft bestand.44 Auch wird, wie wir gesehen haben, großer Wert auf die Feststellung gelegt, 42 Die Frage danach, in welcher Form diese bereits vor diesen Entwicklungen als ,Religionsbegriffe‘ beschrieben werden können, setzt, wie nun erkennbar wird, eine deutlich andere Fragestellung voraus und würde eine religionstheoretische Verortung notwendig machen. Vgl. dazu auch Kapitel 6. 43 Pennington, Was Hinduism Invented?, 23. 44 Vgl. Keppens, Marianne/Bloch, Esther, Introduction. Rethinking Religion in India, in: dies. et al. (Hg.), Rethinking Religion in India. The Colonial Construction of Hinduism, London 2010, 1 – 21, hier : 3 – 4.
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dass diese Beschreibungen nicht allein als das Werk westlicher Akteure verstanden werden können, sondern dass indigene Akteure und besonders indigene Eliten in unterschiedlichster Weise an deren Erarbeitung beteiligt waren, sei es als Informanten oder als Übersetzer und Interpreten zahlreicher Manuskripte. Bereits in diesem Sinne ist der moderne Religionsdiskurs, wie er in der vorliegenden Arbeit bisher beschrieben wurde, mehr als ein rein europäisch-westliches Projekt, und nur als das Ergebnis einer Verflechtungsgeschichte zu verstehen. Ein mittlerweile fast schon klassisches Beispiel für die bisher beschriebenen Zusammenhänge ist die sogenannte ,Erfindung des Hinduismus‘. Bereits mit den Studien von Peter J. Marshall zu The British Discovery of Hinduism in the Eighteenth Century (1970)45 und Wilhelm Halbfass Hauptwerk Indien und Europa (1981)46 wurde in Reaktion auf die Kritik an klassischen indologischen Beschreibungen die Frage nach der Entwicklung europäischer Vorstellungen von Indien und der indischen ,Religion‘ des ,Hinduismus‘ gestellt. So entwickelte sich seit den 1980er Jahren eine starke Kritik an der Überzeugung, dass sich ,der Hinduismus‘ als eine einheitliche ,Religion‘ und als eine der ,Weltreligionen‘ neben ,Christentum‘, ,Islam‘ oder ,Judentum‘ beschreiben lasse. Statt dessen wurde nun von manchen Autoren die Überzeugung vertreten, dass es sich bei der europäisch-westlichen Beschreibung indischer Verhältnisse besonders seit der Kolonialzeit um eine ,Erfindung des Hinduismus‘ gehandelt habe, für welche die westliche Wissenschaft zentral verantwortlich sei. So formulierte etwa Heinrich von Stietencron: Eine Zeitlang glaubte man auch, daß es ihn [den Hinduismus, A.H.] wirklich gebe. Heute weiß man, ohne dies zugeben zu wollen, daß der Hinduismus nichts ist als eine von der europäischen Wissenschaft gezüchtete Orchidee. Sie ist viel zu schön, um sie auszureißen, aber sie ist eine Retortenpflanze: In der Natur gibt es sie nicht.47
Besonders im Kontext der postcolonial studies wurde eine solche Behauptung sehr schnell durch eine sehr viel komplexere Form der Untersuchung ersetzt, die nicht nur nach der Rolle europäischer Wissenschaftler, sondern ebenso nach der Beteiligung einer Reihe von anderen Akteuren fragte, die man für diese ,Erfindung des Hinduismus‘ nun verantwortlich machte. Allerdings steht, wie bereits mehrfach angeklungen ist, in der Debatte um den modernen Religionsdiskurs aus diskurstheoretischer Sicht deutlich mehr auf dem Spiel als die Erkenntnis, dass europäisch-westliche Beschreibungen von ,Religionen‘ in vieler Hinsicht in koloniale Gegebenheiten verflochten und nicht allein Produkt westlicher Akteure sind. Vielmehr zielt die These einer 45 Marshall, Peter J., The British Discovery of Hinduism in the Eighteenth Century, Cambridge 1970. 46 Halbfass, Wilhelm, Indien und Europa. Perspektiven ihrer geistigen Begegnung, Basel 1981. 47 Von Stietencron, Heinrich, Hinduistische Perspektiven, in: H. Küng (Hg.), Christentum und Weltreligionen. Hinführung zum Dialog mit Islam, Hinduismus und Buddhismus, München 1984, 211 – 236, hier: 213 – 214.
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,kolonialen Konstruktion des Hinduismus‘ darauf, die Frage zu stellen, ob ,der Hinduismus‘ tatsächlich nichts weiter sei als eine Erfindung westlicher Missionare, Kolonialbeamter und Wissenschaftler und daher eigentlich gar nicht existiere. Die mittlerweile zahlreichen Studien, die dieser These nachgehen, argumentieren zunächst ebenfalls, dass die westliche Welt im 19. Jahrhundert in der Person von Gelehrten, aber auch Händlern, Soldaten, Kolonialbeamten, Missionaren etc. in einen intensivierten Kontakt und eine Konfrontation mit außereuropäischen Verhältnissen geraten sei. Im Laufe dieser Auseinandersetzungen seien dann unter anderem die Vorstellungen asiatischer Religionen wie ,Hinduismus‘, ,Buddhismus‘, ,Konfuzianismus‘ und ,Daoismus‘ entstanden und hätten sich bereits vorhandene Vorstellungen von ,Islam‘ und ,Judentum‘ als ,Religionen‘ konkretisiert.48 Gleichzeitig wird in diesen Studien die Rolle einheimischer Eliten in diesem Prozess deutlich stärker betont. Die ,Erfindung des Hinduismus als Religion‘ ist aus dieser Perspektive kein einseitiges Geschehen, in dem allein westliche Akteure eine zentrale Rolle gespielt haben, sondern vielmehr ein Paradebeispiel für den Prozess einer verflochtenen Geschichte, etwas, das Robert Frykenberg in einer Kritik an Edward Saids Orientalismuskonzept als ein „collaborative enterprise“ bezeichnet hat.49 Die Rolle der einheimischen Akteure werde zumeist unterschätzt: Denigrators of Orientalism give too much credit to Europeans and too little to hosts of Native Indians (mainly Brahmans and others imbued with Brahmanical world views; but also Muslims imbued with Islamic world views) for the cultural constructions (and reconstructions) of India. These Indian elites did as much to inculcate their own views into the administrative machinery and into the cultural framework of the
48 Siehe zum Hinduismus u. a. Marshall, The British Discovery of Hinduism; Fitzgerald, Timothy, Hinduism and the ,World Religion‘ Fallacy, Religion 20/2, 1990, 101 – 118; Dalmia, Vasudha/von Stietencron, Heinrich (Hg.), Representing Hinduism. The Construction of Religious Traditions and National Identity, New Delhi 1995; Lorenzen, David N., Who Invented Hinduism?, Comparative Studies in Society and History 41/4, 1999, 630 – 659; King, Richard, Orientalism and Religion. Postcolonial Theory, India and ,The Mystic East‘, London 1999, 96 – 117; Fitzgerald, The Ideology of Religious Studies, 134 – 155; Sweetman, Will, Mapping Hinduism. ,Hinduism‘ and the Study of Indian Religions, 1600 – 1776, Halle 2003; Oddie, Geoffrey A., Imagined Hinduism. British Protestant Missionary Constructions of Hinduism, 1793 – 1900, New Delhi 2006. Zum Buddhismus u. a. Almond, Philip C., The British Discovery of Buddhism, Cambridge 1988; King, Orientalism and Religion, 143 – 160; Masuzawa, The Invention of World Religions, 121 – 146. Zum Konfuzianismus Jensen, Lionel M., Manufacturing Confucianism. Chinese Traditions & Universal Civilization, Durham 1997. Zum Sikhismus Oberoi, Harjot, The Construction of Religious Boundaries. Culture, Identity, and Diversity in the Sikh Tradition, Chicago 1994; Mandair, Arvind-Pal S., Religion and the Specter of the West. Sikhism, India, Postcoloniality, and the Politics of Translation, New York 2009. 49 Frykenberg, Robert E., Constructions of Hinduism at the Nexus of History and Religion, Journal of Interdisciplinary History 23/3, 1993, 523 – 550, hier: 533 (Fußnote 10).
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Indian Empire as anything done by the Europeans whom they so outnumbered and with whom they worked so closely.50
Zentrale Bedeutung kommt daneben – so Frykenberg – sowohl dem britischen Kolonialstaat, als auch dem späteren indischen Nationalstaat zu, die in einem Prozess, in dem von staatlicher Seite und im Kontext offizieller Regelungen und Gesetze eine Vielzahl disparater und uneinheitlicher Traditionen zu einem Gebilde namens ,Hinduismus‘ zusammengefasst wurden, eine entscheidende Rolle gespielt haben. Somit wurde der Staat selbst zum Träger einer institutionellen Infrastruktur, die dem ,Hinduismus‘ bis heute eine offizielle Struktur verleiht, welche in vorkolonialer Zeit so nie existiert hatte.51 Eine solche Entwicklung, die oftmals als die ,Erfindung einer Religion‘ beschrieben wird, ist allerdings aus der Sicht neuerer Studien nicht als eine creatio ex nihilo zu verstehen. Vielmehr müsse man sie als einen komplexen Prozess der gegenseitigen Wahrnehmung auffassen, in dem nicht nur Europäer sondern auch indigene Eliten eine entscheidende Rolle gespielt haben. Gleichzeitig wurden durch die westlichen Perspektiven und die damit verbundene Durchsetzung der Klassifikationskategorie ,Religion‘ eine Reihe spezifischer Merkmale in der Wahrnehmung des ,Hinduismus‘ privilegiert, was nicht zuletzt eine Angleichung außereuropäischer Verhältnisse an ein christliches Modell von ,Religion‘ zur Folge hatte. Dubuisson zählt zu diesen Charakteristika vor allem die Folgenden: the canons of ancient texts certified as ,sacred‘ […], organizations of an ecclesiastical type, idealist philosophies, individual soteriologies, theories concerning the beyond, monotheistic tendencies, and, along with the inevitable confessional borders, religious exclusivism (each person must henceforth identify with a single religion).52
Aufgrund dieser hier am Beispiel des ,Hinduismus‘ behandelten zentralen Bedeutung der Kategorie ,Religion‘ im Kontext kolonialer Prozesse ist es entscheidend, festzuhalten, dass die Globalität und weltweite Etablierung und Institutionalisierung des modernen Religionsdiskurses nur nachvollziehbar ist, wenn man die vielfältigen lokalen Aktivitäten und Rezeptionen von Religionskonzepten und Religionsdiskursen durch außereuropäische Eliten mit in den Blick nimmt. Nur durch die Berücksichtigung lokaler agency und der Art und Weise, in welcher sich die nun als ,Hindus‘ oder ,Buddhisten‘ bezeichneten – und sich zumeist sehr schnell auch selbst so bezeichnenden – Akteure diesen Kategorien nicht widersetzten oder sie sogar positiv für ihre Identitätsbildung aufnahmen, wird es möglich, die Reformulierung vorhandener Praktiken und Vorstellungen unter dem Begriff ,Religion‘ zu verstehen, und 50 Ebd., 534. 51 Vgl. ebd., 537. 52 Dubuisson, Daniel, Exporting the Local. Recent Perspectives on ,Religion‘ As a Cultural Category, Religion Compass 1/6, 2007, 787 – 800, hier : 797.
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sich damit den entscheidenden Diskontinuitäten im Rahmen des globalen Religionsdiskurses zu nähern. Richard King hat in diesem Zusammenhang die These aufgestellt, dass die indigenen Eliten in ihrer Beteiligung an einer ,Erfindung des Hinduismus‘ auf eine sehr viel ältere Tradition der Brahmanisierung zurückgegriffen hätten, über welche bereits in vorkolonialer Zeit immer wieder nicht-brahmanische Formen indischer Traditionen assimiliert worden seien. Auch in diesem Sinne seien sie nicht nur passiv, sondern durchaus sehr aktiv an der Entstehung und Verbreitung von Vorstellungen des ,Hinduismus‘ beteiligt gewesen. Gleichzeitig könne daher die Verflechtung durch diese Anknüpfung an vorhandene universalistische Vorstellungen als ein möglicher Schlüssel zum Verständnis der Globalisierung des modernen Religionsdiskurses herangezogen werden: such examples also illustrate the sense in which totalizing discourses and the impulse towards universalization are by no means exclusively Western ideological trends. Indeed, it would seem that what we now call the ,world religions‘ are precisely those universalizing ideologies, filtered through a Western Christian theological prism.53
Wie wir bereits mehrfach gesehen haben, nehmen zahlreiche vorhandene Studien diese globale Präsenz des Religionsbegriffs und eine weltweite Verbreitung von Debatten um ,Religion‘ und ,Religionen‘ zwar wahr, und bemühen sich – oftmals im Kontext postkolonialer Studien – deren Genese zu beschreiben. Gleichzeitig fassen sie diese Entwicklungen aber nicht selten auch oder sogar ausschließlich als Problem und als ,falsches Bewußtsein‘ auf. ,Religion‘ erscheint dann als eine den außereuropäischen Verhältnissen fälschlicherweise aufgedrängte Begrifflichkeit. Eine solche Perspektive unterschätzt jedoch erneut die agency indigener Eliten, welche aktiv an der Entstehung und Verbreitung des modernen Religionsdiskurses beteiligt waren. Natürlich ist nicht abzustreiten, dass in fast allen Fällen in diesen Situationen extreme Machtgefälle vorhanden waren. Dennoch sollte die Übernahme des Konzepts ,Religion‘, welches in diesen Prozessen auch immer auf spezifisch lokale Weise angeeignet und damit nicht zuletzt zu einer Kategorie der Selbstbeschreibung gemacht wurde, nicht pauschal als unangemessen und verfälschend betrachtet werden. Denn wie bereits im dritten Kapitel der vorliegenden Arbeit betont, stößt jede an eine solche Überzeugung anknüpfende Fragestellung letztlich auf das Problem der Authentizität der Vertreter nicht-westlicher ,Religionen‘, über die dann der betrachtende Forscher zu entscheiden hätte. Dies lässt sich, wenn überhaupt, nur dann wissenschaftlich vertreten, wenn gleichzeitig auch eine religionstheoretische Verortung angegeben wird. Die Auseinandersetzungen in der gegenwärtigen religionswissenschaftlichen Debatte im Kontext der These einer kolonialen Konstruktion von ,Reli53 King, Orientalism and Religion, 159. Siehe dazu auch Nicholson, Andrew J., Unifying Hinduism. Philosophy and Identity in Indian Intellectual History, New York 2010.
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gionen‘ befassen sich daher auch primär mit diesen Fragen, die am Beispiel des ,Hinduismus‘ beispielsweise in einem neueren Sammelband diskutiert werden.54 Dabei muss gleichzeitig darauf hingewiesen werden – auch wenn dem in der vorliegenden Arbeit nicht weiter nachgegangen werden kann – dass sich die rezenten Debatten um die ,Erfindung des Hinduismus‘ nicht nur im Kontext wissenschaftlicher Auseinandersetzungen abspielen, sondern dass diese zugleich Teil einer heftigen gegenwärtigen politischen Debatte um die Deutungshoheit über die Definition des ,Hinduismus‘ sind. Auch und gerade die wissenschaftliche Auseinandersetzung um die Kategorie ,Religion‘ ist hierbei nicht zu trennen von Kämpfen um die Stellung ,des Hinduismus‘ als der ,wahren indischen Religion‘ und um dessen Verhältnis zu anderen ,Religionen‘.55 Wie Marianne Keppens und Esther Bloch in ihrer Einleitung zu diesem Band darstellen, gehen die gegenwärtigen Auseinandersetzungen um die These einer verflochtenen kolonialen Konstruktion des ,Hinduismus‘ – anders als frühere Debatten in den 1980er Jahren – von einem Komplex von mehreren Problemlagen aus: Wie bereits erwähnt, sollte die Entstehung der Vorstellungen von ,Hinduismus‘ nicht nur als eine europäisch-westliche Angelegenheit verstanden werden, sondern vielmehr als ein Ergebnis kollaborativer Aktivitäten, auch wenn diese im Kontext extremer Machtgefälle stattfanden. Nur auf diese Weise lässt sich von einer kolonialen Konstruktion der ,Religion des Hinduismus‘ sprechen, die über eine reine Beschäftigung mit spezifischen westlichen Repräsentationen indischer Verhältnisse hinausgeht.56 Gleichzeitig kommt damit die Frage in den Blick, welche vorkolonialen Verhältnisse eine solche Konstruktion ermöglicht haben. Nicht zuletzt die Tatsache, dass sich die orientalistischen Beschreibungen so leicht durchsetzen und eine solche Bedeutung entwickeln konnten, weist darauf hin, dass durchaus an vorhandene Elemente angeschlossen worden sein muss. Wie aber lässt sich eine solche vorkoloniale hinduistische Identität und Form der ,Re54 Bloch, Esther et al. (Hg.), Rethinking Religion in India. The Colonial Construction of Hinduism, London 2010. 55 Der im Folgenden diskutierte Sammelband ist hervorgegangen aus einer im Jahr 2008 veranstalteten Konferenz der Reihe „Rethinking Religion in India“ (http://www.rethinkingreligion. org). Diese Konferenzreihe, veranstaltet vom Forschungsprogramm „Comparative Science of Cultures“ an der Universität Ghent, will u. a. folgender These nachgehen: „that there has never been any empirical or theoretical proof for the existence of native religions in India. Instead, it studies ,Hinduism‘ and such like as experiential entities of the Western cultural experiences of India“ (Rethinking Religion in India, Hypothesis and Themes, http://www.rethinkingreligion. org/pages/conference_cluster_hypothesis_themes [archiviert unter http://www.webcitation. org/6SmQ0pI13]). Der Hauptinitiator S.N. Balagangadhara versucht in seinen Studien neue Möglichkeiten einer kulturwissenschaftlichen Erforschung indischer Traditionen zu erarbeiten, die den ,Hinduismus‘ nicht mit Hilfe der Kategorie ,Religion‘ beschreiben. Vgl. Balagangadhara, S. N., „The heathen in his blindness …“. Asia, the West and the Dynamic of Religion, Leiden 1994; ders., How to Speak for the Indian Traditions, Journal of the American Academy of Religion 73/4, 2005, 987 – 1013. 56 Vgl. Keppens/Bloch, Introduction, 5.
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ligion‘ des ,Hinduismus‘ dann denken? Worin bestehen die Kontinuitäten und worin die Diskontinuitäten?57 Im Kontext der These einer ,kolonialen Konstruktion der Weltreligionen‘ erscheint dies als eine entscheidende Frage.58 Ein zentraler Streitpunkt ist dabei, auf was sich die These einer Konstruktion letztlich bezieht. In ihrer Diskussion fassen Marianne Keppens und Esther Bloch dies wie folgt zusammen: The constructionist theses are characterized by an ambiguity about the nature of the process of construction. It is unclear what is constructed: a concept, an idea or an object in the world. Did the Europeans and their informants invent a new concept to describe and classify the religious and social phenomena of India? If so, what are the implications of using such a new term (concept)? Or did they actually produce a new religion, which is now a real entity in Indian society? Or did they do both? Or does ,Hinduism‘ merely describe a pattern in the western cultural experience of India?59
In dieser Auseinandersetzung ist nun die Frage somit nicht länger, ob ein moderner Konstruktionsprozess von ,Religion‘ und ,Religionen‘ stattgefunden hat, sondern vielmehr wie dieser Prozess abgelaufen ist, und was in diesem Rahmen konstruiert wurde. Handelt es sich allein um konzeptuelle Begrifflichkeiten zur Beschreibung außereuropäischer Verhältnisse? Oder entsteht tatsächlich eine ,Religion‘ als Ergebnis dieses Konstruktionsprozesses? Und wie soll der Unterschied zwischen diesen beiden Thesen verstanden werden? Eine diskurstheoretische Perspektive kann hier insofern weiterführend sein, als dass sie sowohl die Entstehung des begrifflichen Konzepts von ,Hinduismus‘ als auch einer ,Realität Hinduismus‘ als Ergebnis diskursiver Praktiken betrachtet. Die Frage ist dann nicht mehr primär diejenige nach dieser Unterscheidung, sondern vielmehr, wie es möglich ist, dass sowohl diese Begriffe entstehen, als auch im Verflechtungsprozess des globalen Religionsdiskurses ,Religionen‘ als dessen Gegenstände erscheinen. Diese zwei Fragen sollen im Folgenden sowie im sechsten Kapitel anhand einiger Überlegungen zum ,Buddhismus‘ weiter verfolgt werden. Für die Frage nach dem Wie der Entstehung solcher Begriffe greifen die folgenden Abschnitte auf Lydia H. Lius Ansatz der translingual practice zurück. Anhand von Beispielen aus dem buddhistischen Kontext Ceylons60 und Burmas wird dann im sechsten Kapitel die Entstehung von Begrifflichkeiten von ,Religion‘ 57 58 59 60
Vgl. ebd., 6. Vgl. für eine Diskussion der zentralen Kennzeichen dieser These ebd., 12 – 14. Ebd., 12. Es wird in der vorliegenden Arbeit auf die zeitgenössischen Länderbezeichnungen zurückgegriffen, da fast ausschließlich das 19. Jahrhundert behandelt wird. Somit erscheint das heutige Thailand als Siam, sowie etwa das heutige Sri Lanka als Ceylon und Myanmar als Burma. Mit dieser Entscheidung ist keinerlei Stellungnahme zur jeweiligen Namenskonvention der heutigen Nationalstaaten verbunden.
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und ,Buddhismus‘ beleuchtet und nicht zuletzt anhand der Entstehung neuer Organisationen und einer kolonialen Öffentlichkeit der Versuch gemacht, einen Hinweis darauf zu geben, wie die mit diesem Begriff neu bezeichnete ,Religion‘ des ,Buddhismus‘ auch soziale Realität erlangen konnte.
5.4 Die Globalität des Religionsdiskurses und seiner Charakteristika Wie wir gesehen haben, lässt sich somit die Auffassung vertreten, dass die neuzeitlichen und modernen Konzepte von ,Religion‘ und ,Religionen‘ nicht nur im Kontext einer sich wandelnden innereuropäischen Situation entstanden sind, sondern dass vielmehr die Notwendigkeit einer Verarbeitung von Erfahrungen von Fremdheit im Rahmen der europäischen Expansion und des Kolonialismus ebenso als ein zentraler Aspekt des Konzepts und seiner Entstehung auf europäischer Seite angesehen werden kann. Diese Konfrontationen waren daher nicht von Beginn an Begegnungen mit anderen ,Religionen‘ sondern wurden zu solchen erst in dem Sinne, dass es genau diese Begegnungen waren, die ,Religion‘ als Klassifikationskategorie überhaupt erst mit hervorgebracht haben. Für ein Verständnis der heutigen Dominanz des modernen Religionsdiskurses und seiner weltweiten Etablierung ist es daher entscheidend, die Bedeutung der europäischen Expansion und des westlichen Kolonialismus nicht nur zu berücksichtigen, sondern den Prozess der Entstehung des modernen Religionsdiskurses im vollen Sinne als eine Verflechtungsgeschichte zu betrachten, in der die Beteiligung außereuropäischer Akteure und die vielfältigen Rezeptionen des Religionsbegriffs durch außereuropäische Eliten von entscheidender Relevanz waren und sind. Natürlich ist nicht abzustreiten, dass in diesen Situationen fast immer extreme Machtgefälle vorhanden waren, was jedoch nicht dazu führen sollte, die Übernahme und Aneignung der Kategorie ,Religion‘ pauschal als unangemessen und verfälschend zu betrachten. Eine Etablierung westlicher Hegemonie lässt sich nicht auf eine Diffusion westlicher Macht reduzieren, sondern impliziert ein sehr viel komplexeres Netzwerk von Relationen, in dem die globale Hegemonie des modernen Religionsdiskurses ebenso das Ergebnis indigener Anstrengung und Rezeption wie das Ergebnis einer gewaltsamen Verbreitung westlicher epistemologischer Kategorien war. Dieser komplexe Prozess des gegenseitigen Spiegelns, Kopierens, auf-einander-Bezugnehmens sowie der gegenseitigen Ablehnung auf beiden Seiten, der Westlichen und der Nicht-Westlichen, macht den globalen Religionsdiskurs aus und lässt ihn zu einem paradigmatischen Beispiel für die Notwendigkeit einer entangled history werden.
Diskurstheoretische Überlegungen: Ein globaler Diskurs?
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In diesem Sinne ließe sich der moderne Religionsdiskurs auf einer anderen Ebene neben den Stichworten Pluralität und Differenzierung auch mit dem Stichwort der Globalität beschreiben, welche für die Transformation vom frühneuzeitlichen zum modernen Religionsdiskurs entscheidend ist. Denn spätestens im Kontext der Moderne ist ,Religion‘ nicht länger ein auf akademische Debatten reduzierbarer Diskurs, der etwa über das Schema der ,Weltreligionen‘ ein gelehrtes Analysemodell hervorbringt. Vielmehr zeitigt dieser Diskurs gleichzeitig ,in der Welt‘ seine Wirkung, indem außereuropäische Verhältnisse als ,Religionen‘ imaginiert werden und sich besonders deren indigene intellektuelle Vertreter jetzt selbst in diesen Diskurs einschreiben. Als Konsequenz aus diesen Überlegungen wird daher in der vorliegenden Arbeit die Überzeugung vertreten, dass der moderne Religionsdiskurs grundsätzlich als ein globaler Religionsdiskurs zu verstehen ist. Thomas D. DuBois, der sich mit dem Religionsdiskurs in Ost- und Südostasien befasst hat, benennt in seiner Analyse für den globalen Kontext – so würde ich argumentieren – genau diese zwei Charakteristika von Pluralität und Differenzierung. Er stellt die Frage, ob sich die Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte beschreiben lässt, als a process by which local identities and ideas were replaced by global, and in particular Western ones. In terms of religion, many would say that it was, and that as a result, a fundamentally European definition of religion now lies at the center of a hegemonic world discourse. The discourse itself is generally construed in one of two ways, as being modeled either on post-Enlightenment Christianity, or on secular modernism.61
5.5 Diskurstheoretische Überlegungen: Ein globaler Diskurs? Wenn im Anschluss an die bisherigen Überlegungen der vorliegenden Arbeit von einem globalen Religionsdiskurs ausgegangen wird, stellt sich unter anderem die Frage, in welchem Verhältnis die mit dem Diskursbegriff implizierte Einheit und Regelmäßigkeit des Religionsdiskurses zu der Kategorie ,Religion‘ steht, wie sich die ,Bedeutung‘ solcher Kategorien vor dem Hintergrund einer diskurstheoretischen Konzeption überhaupt beschreiben lässt, und was dies mit den bisher als Charakteristika identifizierten Unterscheidungen der Religion zu tun hat. Diese Fragen verweisen auf komplexe Problemlagen, welche es erfordern, die bisher präsentierten Vorschläge noch einmal grundlegend zu hinterfragen. Foucault knüpft die ,Regelmäßigkeit‘ und damit die Einheit eines Diskur61 DuBois, Thomas D., Introduction: The Transformation of Religion in East and Southeast Asia – Paradigmatic Change in Regional Perspective, in: ders. (Hg.), Casting Faiths. Imperialism and the Transformation of Religion in East and Southeast Asia, Basingstoke 2009, 1 – 19, hier: 2 – 3.
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Der globale Religionsdiskurs und die Herstellung von ,Äquivalenten‘
ses, besonders in seinen späteren Schriften, eng an die Fragen der Macht, der Verknappung von Aussagemöglichkeiten und der Existenz von Exklusionsund Inklusionsmechanismen.62 Achim Landwehr hat dies wie folgt zusammengefasst: Diskurse weisen bestimmte Eigenschaften auf, deren wichtigste ihre unauflösliche Kopplung mit Macht ist. Um die Etablierung bestimmter Formen von Wirklichkeit als (zumindest partiell) gültig wird permanent gerungen. Diskurs und Macht hängen aber nicht nur deswegen unauflöslich zusammen, weil die Durchsetzung bestimmter Ordnungsformen Macht erfordert, sondern weil sie im erfolgreichen Fall auch Machteffekte erzeugt. Daraus leiten sich zwei weitere Eigenschaften von Diskursen ab, nämlich die Verknappung von Aussagemöglichkeiten und die historische Singularität von Diskursen.63
In den bisherigen diskurstheoretischen Überlegungen des vierten und fünften Kapitels wurde allerdings bereits betont, dass sich die Einheit eines Diskurses nach Foucault zunächst primär über die für diesen identifizierbaren Formationsregeln und die damit verbundenen Regelmäßigkeiten verstehen lässt.64 Erst von diesen her lässt sich dann – in der Foucaultschen Terminologie – nach den „Gegenständen“, „Begriffen“, „Äußerungsmodalitäten“ und „Strategien“ fragen, die im Diskurs hervorgebracht werden, auch wenn deren Formationsregeln gleichzeitig ihre Existenz nur in genau diesen diskursiven Elementen65 finden und somit nicht als ihnen bereits vorausgehend verstanden werden können.66 Wie lässt sich aber eine solche Regelmäßigkeit und damit die Einheit eines Diskurses theoretisch fassen wenn man von einem globalen Diskurs ausgeht? Wenn vor dem Hintergrund der in der vorliegenden Arbeit angedeuteten diskurstheoretischen Perspektive im nächsten Kapitel im Rahmen einer Betrachtung der Formation von Begriffen von ,Religion‘ und ,Buddhismus‘ die Frage nach außereuropäischen ,Äquivalenten‘ von ,Religion‘ wieder aufgenommen wird, dann ist zunächst erneut zu bemerken, dass es hier für eine diskurstheoretische Perspektive nur um die Realitätsebene des Diskurses geht, und nicht um eine möglicherweise ,hinter‘ diesem Diskurs zu findende 62 Vgl. u. a. Kammler, Clemens, Einführung: Konzeptualisierungen der Werke Foucaults, in: ders. et al. (Hg.), Foucault Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart 2008, 9 – 11 und als den berühmtesten Moment, an dem sich das Interesse des frühen Foucault mit der Frage nach der Macht trifft Foucault, Michel, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt am Main 1992. 63 Landwehr, Achim, Diskurs und Diskursgeschichte, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 2010, http:// docupedia.de/docupedia/images/5/52/Diskurs_und_Diskursgeschichte.pdf (archiviert unter http://www.webcitation.org/6SmLxma2j), 5. 64 Vgl. Foucault, Michel, Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1973, 58. 65 Ich schließe mich hier dem Vorschlag von Nonhoff, Martin, Politischer Diskurs und Hegemonie. Das Projekt „Soziale Marktwirtschaft“, Bielefeld 2006, 34 (Fußnote 12) an, der anstelle der Rede von sprachlichen Zeichen den Begriff der „diskursiven Elemente“ vorschlägt, um die bei Foucault implizierte Reduktion des Diskursiven auf Sprache zu vermeiden. 66 Vgl. Foucault, Archäologie des Wissens, 48 – 111.
Diskurstheoretische Überlegungen: Ein globaler Diskurs?
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,Realität‘ von ,Religion‘. Würde allerdings diese Frage erneut so gestellt, dass von einem europäisch-westlichen Religionsdiskurs ausgegangen, und daran anschließend gefragt wird, ob und in welcher Form es analoge oder äquivalente Diskurse auch außerhalb von Europa gäbe oder gegeben habe, blieben die mit dieser Frage nach ,Äquivalenten‘ verbundenen Problemlagen, die ich in den vorherigen Kapiteln aufgezeigt habe, erhalten. Denn auch hier müsste der ,Diskurs‘ erst entsprechend charakterisiert werden und in seiner Einheit thematisiert werden, um daraufhin eine solche Frage überhaupt sinnvoll stellen zu können. Es wird also weiterhin eine andere Form der Fragestellung benötigt, wenn die bisherigen Probleme vermieden werden sollen, und als Alternative nicht auf eine religionstheoretische Bestimmung des Religionsdiskurses zurückgegriffen werden soll. Doch wie könnte eine solche Alternative lauten? In der vorliegenden Arbeit wurde versucht, auch die weltweite Verbreitung des europäisch-westlichen Verständnisses von ,Religion‘ – und das kann jetzt nur heißen: des Religionsdiskurses – nicht als ein Problem aufzufassen, auf das dann nur nebenbei hingewiesen werden kann, sondern als ein zentrales Moment der Operativität dieses Diskurses. Denn es lässt sich leicht feststellen, dass bereits das Lexem „Religion“ weltweit eine zentrale Rolle in unterschiedlichsten Debatten spielt. Dies gilt bereits dann, wenn man diese Aussage nur auf die Begrifflichkeiten beziehen würde, die tatsächlich eine direkte etymologische Verbindung zum lateinischen Begriff religio aufweisen und die unter anderem durch die weltweite Dominanz westlicher Sprachen (und nicht zuletzt des Englischen im 20. Jahrhundert) globale Auswirkungen gehabt haben und weiterhin haben. Allerdings würde eine solche Perspektive auf die Begriffe des Religionsdiskurses diese und den damit verbundenen Diskurs zwar als einen weltweit relevanten, aber letztlich weiterhin primär westlichen Diskurs verstehen. Was würde es – gerade im Hinblick auf diese Sprachenproblematik – im Bezug auf dessen Begriffe jedoch heißen, zumindest den modernen Religionsdiskurs tatsächlich als einen globalen Diskurs zu verstehen? Auf welcher Grundlage könnte man davon ausgehen, einen solchen beschreiben zu können? Aus den mit diesen Fragen verbundenen Problemlagen soll hier zunächst nur ein Aspekt herausgegriffen werden: Wie lässt sich überhaupt von der Behauptung eines Diskurses über mehrere Sprachen hinweg ausgehen? Welche Grundlage gibt es, von einem ,Religionsdiskurs‘ in nicht-europäischen Sprachen zu sprechen? Dies führt uns zurück auf die Frage nach außereuropäischen ,Äquivalenten‘ des Religionsbegriffs, die aber – wie bereits jetzt deutlich geworden sein sollte – hier in anderer Weise fokussiert wird. Was kann es in unserem Zusammenhang daher heißen, wenn etwa die im dritten Kapitel diskutierten Autoren behaupten, ein ,europäisch-westliches Religionsverständnis‘ habe sich weltweit ausgebreitet? Hier deutet sich bereits an, dass die Frage nach ,Religionsbegriffen‘ in verschiedenen, und besonders nicht-europäischen Sprachen deutlich komplexer gefasst werden muss. Wenn man nicht davon ausgeht, dass mit dieser Behauptung einer welt-
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weiten Verbreitung eines europäisch-westlichen Religionsverständnisses allein eine Beteiligung außereuropäischer Akteure an einem Diskurs in europäischen Sprachen und besonders dem Englischen gemeint ist,67 stößt man auf das Problem der Beschreibung eines Diskurses über Sprachgrenzen hinweg und damit auf das Problem der Übersetzung. Gleichzeitig ist man erneut zurückverwiesen auf die Frage nach der Einheit des Diskurses, denn besonders auf globaler Ebene kann diese nicht darin bestehen, dass bestimmte spezifische Vorstellungen von ,Religion‘ (etwa um absichtlich arbiträr einige Beispiele herauszugreifen: ein Schleiermacherscher oder Luhmannscher oder auch schweizerisch-rechtlicher Religionsbegriff) nun auch in außereuropäischen Sprachen verhandelt werden. Aber was kann die weltweite Ausbreitung eines europäisch-westlichen Religionsverständnisses dann bezeichnen? Und wie entgeht man hier erneut den Problemen der bisherigen Frage nach ,Äquivalenten‘, die bereits an dieser Stelle schon den Versuch einer Formulierung des Problems so schwierig machen? Die bereits im dritten Kapitel in der Diskussion vorhandener Ansätze geforderte ausführlichere Theoretisierung der Problematik der Übersetzung erweist sich hier als unverzichtbar. Und gerade wenn man in diesem Zusammenhang versucht, die im diskurstheoretischen Kontext vorhandenen Einsichten zu nutzen, können die hier angesprochenen Fragen nicht in der Form bearbeitet werden, wie es die bisherigen Ansätze zu ,Äquivalenten‘ versuchen. Denn solange die Frage lautet, ob es ,Äquivalente‘ von ,Religion‘ in anderen Sprachen gibt oder nicht, und die Frage damit als Entscheidung zwischen ,ja‘ und ,nein‘ und nicht als Frage nach einer Rekonstruktion historischer Prozesse gestellt wird, solange werden auch die zu erwartenden Antworten im Dickicht des Streits zwischen Relativismus und Universalität verhaftet bleiben. Gerade hier muss daher noch einmal auf die für eine diskurstheoretische Perspektive grundlegende Einsicht Michel Foucaults verwiesen werden. So sind, wie er in der Archäologie des Wissens formuliert, Diskurse „als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen.“68 Was jedoch bedeutet dies in unserem Kontext, wenn man versucht, an die in einer solchen Behauptung implizierte Radikalität tatsächlich anzuknüpfen? Die zunächst relativ einfache Folgerung aus diesem Verständnis von Diskurs ist, dass all das, was im Rahmen von Diskursen hervorgebracht wird, als Ergebnis spezifischer diskursiver Praktiken zu betrachten ist. Und für unsere Frage heißt dies: Auch die ,Äquivalente‘ von ,Religion‘ wären in diesem Sinne 67 Die Dominanz bestimmter westlicher Sprachen und besonders des Englischen ist sicherlich ein zentraler Aspekt der hier verhandelten Problematik. Sie lässt sich aber auf eine solche Dominanz nicht reduzieren, denn dann wäre nicht von einem wirklich globalen Diskurs die Rede. Der alternative Vorschlag, der im Folgenden entwickelt wird, greift daher auf theoretische Entwürfe zur Übersetzungsproblematik zurück. 68 Ebd., 74.
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nicht als existierende oder nicht existierende Entitäten, sondern als diskursive Praktiken oder zumindest als Resultat solcher Praktiken zu verstehen. An genau dieses Verständnis schließen die Überlegungen von Lydia H. Liu zu einer Konzeptualisierung von translingual practice an.69 Liu hat sich im Bezug auf das China des 19. und frühen 20. Jahrhunderts mit der Frage nach der Übersetzung und der Möglichkeit einer Behauptung von ,Äquivalenzen‘ zwischen Begriffen in europäischen und außereuropäischen Sprachen befasst. Ihre Vorschläge bergen das Potential, die Frage nach außereuropäischen ,Äquivalenten‘ von ,Religion‘ in deutlich neuartiger Weise zu fokussieren und werden daher im folgenden Abschnitt ausführlich vorgestellt.
5.6 „Translingual Practice“: Zur historischen Analyse der Herstellung von hypothetischen Äquivalenzen In Anknüpfung an den von Liu im Hinblick auf China unter dem Stichwort translingual practice vorgeschlagenen Perspektivenwechsel lässt sich die von den im dritten Kapitel behandelten Autoren nur nebenbei erwähnte oder primär als Problem aufgefasste weltweite Verbreitung eines europäischwestlichen Verständnisses von ,Religion‘ als eine Möglichkeitsbedingung für die Konstituierung eines globalen Religionsdiskurses verstehen. Die Frage nach ,Äquivalenten‘ von ,Religion‘ kann in Anlehnung an Lius Überlegungen dann als Frage nach der Herstellung von ,hypothetischen Äquivalenzen‘ im Rahmen von translingual practice neu fokussiert werden.70 Gerade weil sich der Streit um die Existenz von ,Äquivalenten‘ in der bisherigen Form nicht auflösen lässt – da er eine religionstheoretische Positionierung erforderlich macht und damit notwendig bereits eine Relativität der jeweils gegebenen Antwort impliziert und sich so in den Streit um die Definition des Religionsbegriffs verstrickt71 –, könnte bei der Suche nach alternativen Herange69 Liu, Lydia H., Translingual Practice. Literature, National Culture, and Translated Modernity. China, 1900 – 1937, Stanford 1995. 70 Vgl. Liu, Translingual Practice. Sie hat ihr Konzept unter anderem in Aufsätzen in einem von ihr herausgegebenen Sammelband weiterentwickelt: Liu, Lydia H. (Hg.), Tokens of Exchange. The Problem of Translation in Global Circulations, Durham 1999. Siehe auch dies., The Clash of Empires. The Invention of China in Modern World Making, Cambridge 2004. Für eine religionswissenschaftliche Anknüpfung an Liu siehe jetzt auch Meyer, Christian, Der moderne chinesische „Religionsbegriff“ zongjiao als Beispiel translingualer Praxis. Rezeption westlicher Religionsbegriffe und -vorstellungen im China des fru¨ hen 20. Jahrhunderts, in: P. Schalk (Hg.), Religion in Asien? Studien zur Anwendbarkeit des Religionsbegriffs, Uppsala 2013, 351 – 392. 71 Diese Feststellung treffe ich vor dem Hintergrund der in Teil I entfalteten Überlegungen zur religionswissenschaftlichen Theoriebildung und zur Aufgabe und Leistung einer Religionstheorie. Vgl. die dortige Zusammenfassung des zweiten Kapitels. Am Beispiel der Debatte um den chinesischen Begriff ji diskutiert Liu in vergleichbarer Absicht dieses Problem der Zirkularität. Für den von ihr zitierten Autor Tu Wei-ming „the Neo-Confucian ji differs from […] the
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hensweisen an diesen Problemkomplex die von Liu vorgeschlagene Perspektive hilfreich sein. Dabei geht die folgende Auseinandersetzung mit dieser weiterhin von einem diskurstheoretischen Interesse an ,Religion‘ aus, betrifft also nicht die Frage, ob ,Äquivalente‘ eines (auch heuristisch bestimmten) ,Phänomens Religion‘ auch in außereuropäischen Kontexten zu finden seien, sondern zunächst nur die Frage, ob sich die Herstellung entsprechender ,Äquivalenzen‘ und eines damit verbundenen Diskurses ,Religion‘ ausmachen lässt.72 Letztlich ist, wie wir bisher gesehen haben, ein zentrales Problem der bisherigen Beschäftigung mit der Frage nach ,Äquivalenten‘ bereits in der grundlegenden Problematik zu finden, dass zwischen diesen beiden Interessen keine scharfe Trennung versucht wird, sondern dass beide Anliegen meist unmerklich miteinander verknüpft sind und wiederholt von der einen auf die andere Ebene religionswissenschaftlicher Analyse gewechselt wird. Nicht zuletzt dies sehen zu können, ist eine Leistung der Unterscheidung von Diskurstheorie und Religionstheorie. Aber auch wenn sich in manchen Entwürfen oder zumindest in Teilen der Analysen der im dritten Kapitel diskutierten Autoren das Interesse auf die Frage nach der Existenz begrifflicher ,Äquivalente‘ von ,Religion‘ in außereuropäischen Kontexten beschränkt hat, bleibt offen, ob sich die mit dieser Form der Fragestellung verbundene Zirkularität eines notwendigen Vorverständnisses (und damit einer Religionstheorie) vermeiden lässt. Der im Folgenden entwickelte Vorschlag positioniert die Frage nach ,Äquivalenten‘ daher deutlich anders. Er ist damit gleichzeitig – wie leicht erkennbar sein wird – auch nicht mehr direkt ein Beitrag zur ,Beantwortung‘ der von den anderen Autoren gestellten Frage nach der Existenz oder NichtExistenz von ,Äquivalenten‘ von ,Religion‘, sondern ein Vorschlag zu einer alternativen Form der Fragestellung und damit zu einem Wechsel der Perspektive.73 Western notion of the self, but it remains a notion of the ,self.‘“ Eine solche Feststellung ist aber (ähnlich wie auch in der Suche nach ,Äquivalenten‘ von ,Religion‘) nur möglich, wenn gleichzeitig eine Theorie des ,self ‘ vorgelegt wird (Translingual Practice, 382 [Fußnote 16]). 72 Zum Zusammenhang von ,Begriffen‘ und ,Diskurs‘ vgl. die bisherigen diskurstheoretischen Überlegungen und die folgenden Abschnitte dieses Kapitels. Die hier noch vorläufige Formulierung der Frage wird hoffentlich anhand der dortigen Darstellung deutlicher. Die Betonung dieses Aspekts ist hier auch deswegen noch einmal notwendig, da die meisten der im dritten Kapitel behandelten Autoren wie Schlieter oder Kollmar-Paulenz trotz der Beteuerung, dass sie ,Religion‘ nicht als ein gegebenes ,Phänomen‘ verstehen würden, von einer Ebene der ,Phänomene‘ hinter dem Diskurs oder Begriff ausgehen, was sich bereits in ihrer Form der Formulierung der Frage nach ,Äquivalenten‘ zeigt, sowie darin, dass sie die Begrifflichkeit von ,Religion(en)‘ letztlich doch kontinuierlich selbst wieder einsetzen. Genau an dieser Stelle versucht die von mir vorgeschlagene Perspektive anders zu optieren. 73 Vgl. erneut die in der Zusammenfassung des zweiten Kapitels referierten Vorschläge Richard Rortys zum Vorgehen im Rahmen eines pragmatistischen Ansatzes: „try to ignore the apparently futile traditional questions by substituting the following new and possibly interesting questions“ (Contingency, Irony, and Solidarity, Cambridge 1989, 9).
Translingual Practice: Zur Herstellung von hypothetischen Äquivalenzen 221
Liu hat sich unter anderem anhand der Beschäftigung mit dem Diskurs um ,Individuum‘ und ,Individualität‘ im Rahmen der chinesischen (besonders literarischen) Moderne des frühen 20. Jahrhunderts die Frage nach der methodischen Analyse der Verbreitung westlicher Konzepte im chinesischen Kontext und deren gleichzeitiger Transformation im Prozess der Übersetzung gestellt. Die von ihr unter dem Stichwort translingual practice vorgeschlagene Perspektive widmet sich ausgehend von übersetzungstheoretischen Fragen den zumeist nicht theoretisierten Grundannahmen transkultureller Komparatistik.74 Anders als Positionen welche eine radikale Inkommensurabilität zwischen Sprachen unterstellen und eine Übersetzung von komplexen Konzepten für unmöglich halten, aber auch in Absetzung von Positionen die von einer vollständigen Übersetzbarkeit ausgehen, fokussiert sie auf Übersetzung als eine pragmatische Praxis75 und damit auf den historischen Prozess der Herstellung von Äquivalenz im Rahmen von Übersetzungsprozessen. Die Aufgabe wäre somit, die Analyseperspektive in einer Weise neu zu positionieren „that will help open up, rather than assume, the hypothetical equivalence of meanings between the languages […].“76 Im Angesicht der Unmöglichkeit von Übersetzungen auf der einen und ihrer gleichzeitigen Unverzichtbarkeit auf der anderen Seite,77 wird die zentrale Bedeutung tatsächlich immer schon stattfindender und stattgefunden habender Übersetzungsprozesse von der kulturwissenschaftlichen Forschung oftmals unterschätzt. Jedoch würde gerade die Debatte um die (Un-)Möglichkeit der Übersetzung sowohl von Sprache allgemein als auch von kulturellen Kategorien davon profitieren, dass die übersetzungsbezogenen Bedingungen der Möglichkeit sprach- und kulturübergreifender Beschreibungen selbst zum Gegenstand der Analyse gemacht würden.78 74 Dass diese Thematik häufig unbeachtet bleibt, ist insofern u¨berraschend, als eine Beschäftigung mit dieser im Rahmen einer vergleichenden kulturwissenschaftlichen Analyse letztlich unvermeidlich ist: „Strictly speaking, comparative scholarship that aims to cross cultures can do nothing but translate“ (Liu, Translingual Practice, 1). 75 Vgl. ebd., 2. 76 Ebd., 19. 77 Vgl. ebd., 5. 78 Vgl. ebd., 10. Liu analysiert sehr anschaulich die Aporien beider Positionen (Universalismus und Relativismus), besonders im Hinblick auf die Übersetzungsfrage, wenn im Rahmen einer Behauptung der Nicht-Übersetzbarkeit in den dafür angeführten Beispielen eine Übersetzung der nicht-übersetzbaren Begriffe bereits mitgeliefert wird. Vgl. ebd., 13 – 14. Vgl. auch Liu, Lydia H., The Question of Meaning-Value in the Political Economy of the Sign, in: dies. (Hg.), Tokens of Exchange. The Problem of Translation in Global Circulations, Durham 1999, 13 – 41, hier: 25 – 27. Siehe auch Hart, Roger, Translating the Untranslatable. From Copula to Incommensurable Worlds im gleichen Sammelband (S. 45 – 71, hier: 53 – 54). Nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass Übersetzung als pragmatisches Vorgehen im Rahmen vergleichender Studien immer schon vorausgesetzt ist, wäre es weiterführender, eher auf Übersetzung als eine immer schon stattfindende Praxis zu fokussieren als auf die Frage nach deren grundsätzlicher Möglichkeit oder Unmöglichkeit. Vgl. auch Liu, Translingual Practice, 15.
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Am Beispiel des zeitgenössischen Diskurses um ,Individualismus‘ zeigt Liu auf, wie eine kulturübergreifende Beschäftigung mit einem bestimmten Begriff von ihrem Perspektivenwechsel profitieren kann. Das chinesische Konzept geren zhuyi („individualism“), welches um 1900 zu einem zentralen Begriff in chinesischen Intellektuellendiskursen wurde, geht selbst auf einen japanischen Neologismus zurück, der in der Meiji Zeit von japanischen Intellektuellen eingeführt wurde, um westliche Vorstellungen von „individualism“ (kojin shugi) zu bezeichnen.79 Es finden sich nun bereits in der zeitgenössischen Debatte in Bezug auf China eine Reihe vollständig konträrer Positionen. Der in diesen sehr unterschiedlichen Verständnissen des Konzepts im Diskurs erkennbare Widerspruch lasse sich nicht über eine ,eigentliche Bedeutung‘ von „individualism“ auflösen: The contrast in their individual positions has major methodological implications for me, because it renders any potential quest for an essential and fixed meaning of the individual and individualism futile and misguided. What really matters here is the discursive practice surrounding the notion of individual, self, individualism, and similar terms, as well as the politics of such practice.80
Der zentrale Punkt ist hierbei, dass eine Inanspruchnahme des Konzepts zur Bewertung der jeweils anderen Position, ob es in China nun „individualism“ gab oder nicht, letztlich in eine Zirkularität führt, da es um die Rekonstruktion einer Situation geht, in der „individualism“ selbst der Ort der Auseinandersetzung ist.81 Für Liu ergibt sich aus diesen Überlegungen heraus die Notwendigkeit, die Perspektive auf die Frage der Übersetzung von Begriffen radikal neu zu orientieren. An die Stelle der bisherigen Form der Fragestellung müsse eine Reihe anderer Fragen treten: Perhaps the thing to do is go beyond the deconstructionist stage of trying to prove that equivalents do not exist and look, instead, into their manner of becoming. For it is the making of hypothetical equivalences that enables the modus operandi of translation and its politics. For instance, historically when and how do equivalents or tropes of equivalence get established between languages? Is it possible that at certain levels of practice some equivalents might cease to be mere illusions? What enables such changes? Under what conditions does difference, which is the perceived ground for the inscription of equivalence, become translatable in „other words“?82
Die Problematik einer Entscheidung zwischen den philosophisch-erkenntnistheoretischen Positionen einer Inkommensurabilität von Kulturen und 79 Vgl. ebd., 83. 80 Ebd. 81 Vgl. ebd., 84. Der englische Begriff wurde in diesem Absatz beibehalten um die Übersetzungsproblematik noch deutlicher werden zu lassen. 82 Ebd., 16.
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Sprachen im Gegenüber zu einer Behauptung transhistorischer bzw. transdiskursiver Äquivalente ließe sich auf diese Weise refokussieren auf „the occurrences of historical contact, interaction, translation, and the travel of words and ideas between languages.“83 Eine solche Untersuchung müsse dann eine detaillierte Rekonstruktion historischer Diskurse vor genau diesem globalgeschichtlichen Hintergrund der Verflechtung sein. Wichtig wäre dabei vor allem, wie Liu betont, dass das „vehicle of translation“ nicht aus dem Blick gerät, also die konkrete translingual practice nicht in abstrakte Prozesse aufgelöst wird.84 Die Frage nach Übersetzbarkeit stellt sich dann anders, denn an die Stelle der Suche nach und der Behauptung des Auffindens oder Nicht-Auffindens von einer Äquivalenz von Bedeutung, tritt die historische Analyse von deren hypothetischer Herstellung: „the matching of meanings is itself a historical phenomenon under investigation.“85 Dieser Aspekt von Lius Ansatz, ist zentral, da er über die Frage der Übersetzung ein Bewusstsein dafür zu wecken versucht, dass eine historische Analyse zur Frage nach ,Äquivalenten‘ (etwa von ,Religion‘) sich nicht ausschließlich mit der Geschichte eines als ,Äquivalent‘ zur Debatte stehenden Begriffs in einer bestimmten Sprache befassen müsste. Vielmehr wird die Suche nach ,Äquivalenten‘ in diesen Ansätzen zwar vorgeblich als historische Frage behandelt, wird aber solange nicht tatsächlich historisiert, solange die Herstellung von ,Bedeutung‘ und der Äquivalenz von ,Bedeutung‘ zwischen unterschiedlichen Sprachen weiterhin als transzendentale Voraussetzung jeglicher Übersetzung und nicht selbst als ein historisches Phänomen betrachtet wird.86 Aus diesem Grund werden im Folgenden im Anschluss an Liu auch die Begriffe der Äquivalenzen und der Äquivalente zunächst getrennt. Eine Äquivalenz zwischen Begriffen wird mit Liu als Ergebnis eines historischen Prozesses, und damit nie als eine ,tatsächliche‘, sondern als eine ,hypothetische‘, aber damit aus diskurstheoretischer Sicht nicht weniger ,reale‘ Äquivalenz verstanden. In diesem Sinne könnte man dann auch durchaus von Äquivalenten sprechen, die aber nicht auf ,semantischer‘ oder ,funktionaler‘ Äquivalenz (in dem in Kapitel 3 diskutierten Sinne von Kollmar-Paulenz oder Kleine) – und damit notwendig theoretisch pos83 Ebd., 19. 84 Ebd., 21. 85 Liu, Lydia H., Legislating the Universal. The Circulation of International Law in the Nineteenth Century, in: dies. (Hg.), Tokens of Exchange. The Problem of Translation in Global Circulations, Durham 1999, 127 – 164, hier: 137. 86 Vgl. zu dieser Kritik an der Vorstellung eines „transzendentalen Signifikats“ auch die weiteren Überlegungen des folgenden Abschnitts sowie Derrida, Jacques, Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen, in: P. Engelmann (Hg.), Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart, Stuttgart 1990, 114 – 139, hier: 117. Vgl. auch ders. Grammatologie, Frankfurt am Main 1983 sowie ders., Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege, in: A. Hirsch (Hg.), Übersetzung und Dekonstruktion, Frankfurt am Main 1997, 119 – 165 und die weiteren Beiträge in diesem Sammelband.
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tulierter bzw. letztlich als Artefakt einer theoretischen Beobachtung zu beschreibender –, sondern auf historischer Äquivalenz beruhen. Wird ein solcher Perspektivenwechsel vollzogen, müsste auch die Untersuchung von Übersetzbarkeit anders gefasst werden, wie Liu am Beispiel ihrer Studien zu China vorschlägt: it [translatability, A.H.] refers to the historical making of hypothetical equivalences between languages. These equivalences tend to be makeshift inventions in the beginning and become more or less fixed through repeated use or come to be supplanted by the preferred hypothetical equivalences of a later generation. As I have argued elsewhere, one does not translate between equivalents; rather, one creates tropes of equivalence in the middle zone of translation between the host and guest languages. This middle zone of hypothetical equivalence, which is occupied by neologistic imagination, becomes the very ground for change.87
Liu ersetzt die Frage, ob zu bestimmten Begriffen oder Konzepten ,Äquivalente‘ in anderen Sprachen existieren – etwa ein chinesisches ,Äquivalent‘ des europäischen ,Individualismus‘ oder auch der ,Religion‘ – durch einen Fokus auf Übersetzbarkeit als eine historische Praxis. Diese historische Praxis der hypothetischen Fixierung von Bedeutungsäquivalenzen zwischen Sprachen tritt an die Stelle der Suche nach ,Äquivalenten‘ von Begriffen und der Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Übersetzung. Übersetzbarkeit wird selbst zu einem Produkt des kontinuierlichen Kontakts und Austauschs zwischen Sprachen und Kulturen.88 In den Mittelpunkt tritt damit die Untersuchung der „historical condition of translation“.89 Diese versteht Liu im Kontext der Beschäftigung mit translingual practice als eine Auseinandersetzung mit dem process by which new words, meanings, discourses, and modes of representation arise, circulate, and acquire legitimacy within the host language due to, or in spite of, the latter’s contact/collision with the guest language. Meanings, therefore, are not so much „transformed“ when concepts pass from the guest language to the host language as invented within the local environment of the latter. In that sense, translation is no longer a neutral event untouched by the contending interests of political and ideological struggles. Instead, it becomes the very site of such struggles where the guest language is forced to encounter the host language, where the irreducible differences between them are fought out, authorities invoked or
87 Liu, Legislating the Universal, 137. 88 Vgl. Liu, Introduction, 2. Diese Dimension wird in kulturübergreifenden Studien ihrer Ansicht nach erstaunlicherweise viel zu wenig beachtet. Denn das Interesse müsste sich eben gerade richten auf „the largely submerged and undertheorized forms of exchange such as the invention of ,equivalent‘ meanings between languages, struggles over the commensurability or reciprocity of meanings as values, and the production of global translatability among different languages and societies in recent times“ (dies., The Question of Meaning-Value, 3). 89 Liu, Introduction, 5 – 6.
Translingual Practice: Zur Herstellung von hypothetischen Äquivalenzen 225 challenged, ambiguities dissolved or created, and so forth, until new words and meanings emerge in the host language itself.90
Ein von Liu erwähntes faszinierendes Beispiel lässt die durch einen solchen alternativen Fragehorizont aufscheinenden Analysen deutlich werden. So vollzog sich in den 1920er Jahren ein Prozess, als dessen Resultat die Entstehung eines weiblichen Personalpronomens im schriftlichen modernen Chinesisch erkennbar ist. Im Rahmen dieser durch kontinuierliche Kontakte zwischen chinesischen und europäischen Sprachen erfolgenden Transformation, wird eine weibliche Form des Personalpronomens durch eine neuartige Schreibweise des bisher neutralen Pronomens ta überhaupt erst verfügbar, und setzt sich bis heute im modernen Chinesisch durch.91 Wichtig ist hierbei, dass es weder um einen ,rein sprachlichen‘ Wandel geht, noch um die Behauptung, dass zuvor keinerlei sprachlichen Unterschiede zwischen Männern und Frauen bezeichnet wurden: I am not suggesting that women and men were not previously spoken of as sexual beings or as yin-yang categories, but that the deictic relationship – man speaking to and about woman, and woman speaking to and about man, or addressing each other – caused by such a split at the formal levels of the written vernacular allowed gender to shape social relations of power in a language unimaginable at an earlier time.92
Gleichzeitig, und dies macht dieses Beispiel besonders aufschlussreich, lässt sich feststellen, dass das zuvor nicht mit einem Geschlechtsindex behaftete Pronomen ta im Rahmen dieser Transformation nun als ,männlich‘ neu konfiguriert wurde. Diese Veränderung, die nicht als eine direkte, sondern als eine relationale Transformation aufzufassen ist, betrifft somit ein sprachliches Element, das auf den ersten Blick in einer unveränderten Kontinuität zu stehen scheint.93 Dieser Aspekt der translingual practice, welche damit nicht nur die in einer bestimmten Situation verhandelten Begriffe und sprachlichen Elemente selbst, sondern auch die im gleichen Prozess zunächst unbemerkt neu relationierten Elemente betrifft, lässt sich an die im vierten Kapitel in der Bestimmung der Charakteristika des modernen Religionsdiskurses vorgebrachte Argumentation anschließen. Aus den bisher präsentierten Überlegungen ergeben sich die Konturen einer Perspektive, welche die Frage nach ,Äquivalenten‘ in deutlich anderer 90 Liu, Translingual Practice, 26 – 27. 91 Liu beschreibt dies wie folgt: „The original form of the Chinese character for the pronoun ta contains an ungendered ren radical (denoting the human species) […]. For thousands of years, the Chinese had lived comfortably with the ungendered form of ta and other ungendered deictic forms. Suddenly they discovered that Chinese had no equivalent for the third person feminine pronoun in English, French and other European languages. […] After a few years of experiments with regional forms […] writers and linguists finally settled on writing the feminine ta with a nü (woman) radical“ (ebd., 36). 92 Ebd., 154. 93 Vgl. ebd., 41.
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Der globale Religionsdiskurs und die Herstellung von ,Äquivalenten‘
Weise fokussiert, als dies bisher geschehen ist. Anders als etwa Bertram Schmitz oder Hans-Michael Haußig, die nach der Existenz lexikalischer ,Äquivalente‘ des europäischen Religionsbegriffs im „interkulturellen Bereich“ oder nach dem „Religionsbegriff in den Religionen“ fragen,94 aber auch anders als die bereits im dritten Kapitel verhandelten Ansätze, die sich für die Existenz oder Nicht-Existenz von ,Äquivalenten‘ eines als europäisch-westlich verstandenen Begriffs ,Religion‘ interessieren,95 ließe sich mit Lydia Liu im Rahmen einer konsequent historisierten Perspektive nach der kontingenten Entstehung von hypothetischen Äquivalenten96 von ,Religion‘ fragen.97 Mit der Fokussierung auf die Praxis der Postulierung und Herstellung hypothetischer Äquivalenzen ließe sich somit auch forschungspragmatisch ein weiterführender Mittelweg zwischen Relativismus und Universalismus entwickeln. Im Anschluss an Liu könnte damit an die Stelle der Frage, ob es ,Äquivalente‘ des Begriffs ,Religion‘ auch außerhalb des Westens gebe (ob semantischer oder funktionaler Art98), eine historische Analyse der Herstellung von hypothetischen Äquivalenten von ,Religion‘ im Kontext einer weltweiten Konstituierung des modernen Religionsdiskurses treten. Eine solche Untersuchung fokussiert also weder auf Inkommensurabilität noch auf die bloße Identifizierung von Bedeutungsäquivalenzen, sondern auf die „global circulatory networks of translated knowledge“99 in denen hypothetische Äquivalente im Prozess kultureller Übersetzung hergestellt wurden und werden. Die von Liu vorgeschlagenen Kategorien der „host language“ und „guest language“, die sie im Anschluss an eine von Jacques Derrida inspirierte Kritik an dem zumeist vorausgesetzten Modell der Übersetzung einführt, sollen darüber hinaus die Frage danach eröffnen, wo über ,Bedeutungen‘ letztlich 94 Vgl. Schmitz, Bertram, „Religion“ und seine Entsprechungen im interkulturellen Bereich, Marburg 1996; Haußig, Hans-Michael, Der Religionsbegriff in den Religionen. Studien zum Selbst- und Religionsverständnis in Hinduismus, Buddhismus, Judentum und Islam, Berlin 1999. 95 Vgl. Schlieter, Jens, Nachwort: Außereuropäische Begriffe für ,Religion‘ und die Frage nach der Einzigartigkeit des europäischen Religionsbegriffs, in: ders. (Hg.), Was ist Religion? Texte von Cicero bis Luhmann, Stuttgart 2010, 247 – 270 nur als ein Beispiel für viele andere (zum Teil bereits diskutierte) Autoren, die auf die Behauptung, ,Religion‘ habe keine Entsprechungen im außereuropäischen Bereich, ihrerseits mit der Behauptung reagieren, es ließen sich solche Entsprechungen doch nachweisen. Vgl. auch Kollmar-Paulenz, Kar~nina, Außereuropäische Religionsbegriffe, in: M. Stausberg (Hg.), Religionswissenschaft, Berlin 2012, 81 – 94, hier: 92. 96 Hier nun ohne Anführungsstriche, da diese historisch hergestellten Äquivalente in der hier präsentierten diskurstheoretischer Perspektive als historische Phänomene verstanden werden können. 97 Vgl. Liu, Translingual Practice; dies., The Question of Meaning-Value, 5. 98 Vgl. Kleine, Christoph, Religion als begriffliches Konzept und soziales System im vormodernen Japan – polythetische Klassen, semantische und funktionale Äquivalente und strukturelle Analogien, in: P. Schalk (Hg.), Religion in Asien? Studien zur Anwendbarkeit des Religionsbegriffs, Uppsala 2013, 225 – 292. 99 Liu, Legislating the Universal, 128.
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entschieden wird.100 Im Übersetzungsprozess, der für Liu als Kürzel für zahlreiche verschiedene Formen der „adaptation, appropriation, and other related translingual practices“ steht,101 ist aus dieser Perspektive nicht länger eine Art teleologischer Prozess der Übertragung der Vollständigkeit einer ,ursprünglichen‘ Bedeutung impliziert, welcher die „agency“ der „host language“ als zweitrangig erscheinen lässt.102 Statt dessen will Liu die Möglichkeit offen halten, „that a non-European host language may violate, displace, and usurp the authority of the guest language in the process of translation as well as be transformed by it or be in complicity with it.“103 Auch ist damit der Prozess der Bedeutungsgenerierung insofern eröffnet, als dass die Möglichkeit in Betracht gezogen werden kann, „that translation is capable of selectively introducing meanings and equivalents that heretofore did not exist between and within the two languages.“104 In der Frage nach den sich aus diesen Situationen ergebenden Veränderungen tritt für Liu die Kategorie des ,Wandels‘ selbst in den Fokus. Indem anstelle einer Übersetzung zwischen ,Äquivalenten‘ von der Herstellung von „tropes of equivalence in the middle zone of interlinear translation between the host and the guest languages“ ausgegangen wird, erscheint diese „middle zone“ als der Ort, an dem ,Wandel‘ überhaupt erst möglich wird.105 Die Frage nach einer einfachen Feststellung der ,Kontinuität‘ und ,Diskontinuität‘ bestimmter Begrifflichkeiten wird durch die komplex verlaufenden diskursiven Entwicklungslinien einer Vielzahl von Neologismen letztlich unmöglich gemacht.106 100 101 102 103 104 105 106
Vgl. ebd., 24. Liu bezieht sich dabei auf Derrida, Babylonische Türme. Liu, Legislating the Universal, 26. Vgl. ebd., 27. Ebd. Ebd., 429 (Fußnote 1). Liu, Translingual Practice, 40. Ebd., 39. Anhand der Geschichte einer großen Anzahl bedeutender chinesischer Neologismen lässt sich dies gut nachvollziehen. So wurden zahlreiche Begriffe, bei denen auch die Forschung bisher davon ausgegangen war, dass es sich um in Japan geprägte und dann in China übernommene Neologismen handelt, anscheinend ursprünglich von protestantischen christlichen Missionaren und ihren chinesischen Mitarbeitern in China konzipiert. Diese hatten in der Übersetzung westlicher Texte im frühen 19. Jahrhundert entsprechende Begriffe geprägt, die von japanischen Intellektuellen zunächst in der Form von kanji übernommen wurden. An diese anschließend wurden in Japan dann unter Verwendung chinesischer Schriftzeichen weitere Neologismen geprägt, die wiederum später erneut in das Chinesische übernommen wurden. Weiter verkompliziert wird die Situation dadurch, dass der große Einfluss, den diese Neuprägungen bis heute gewinnen konnten, eng mit dieser komplexen Geschichte zusammenhängt. So hatten sie in ihrem ursprünglichen chinesischen Kontext zunächst keine große Bedeutung erlangt, und gewannen diese erst später durch die japanische Übernahme und den dann erfolgenden Re-Import. Diese Form eines „round-trip neologism“ (ebd., 236), die dazu führte, dass manche dieser Begriffe selbst von zeitgenössischen chinesischen Autoren als japanische Wortschöpfungen verstanden wurden, entzieht sich, wie Liu betont, einer einfachen Dichotomie von Kontinuität/Diskontinuität in der Beschreibung historischen Wandels (vgl. zu dem hier Beschriebenen ebd., 34 – 35).
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Der globale Religionsdiskurs und die Herstellung von ,Äquivalenten‘
Die abstrakten Fragen nach Kontinuität und Diskontinuität werden somit aufgelöst in eine Beschäftigung mit „contingencies, struggles, and surprising twists and turns of events at each moment of confrontation between nations or different groups of people.“107 In der Begegnung von Sprachen und der damit einhergehenden translingual practice wäre Übersetzung somit als genau der Ort zu verstehen, where the irreducible differences between the host language and the guest language are fought out, authorities invoked or challenged, and ambiguities dissolved or created. In short, the confrontations register a meaning-making history that cuts across different national languages and histories.108
In diesem Sinne macht Lius Konzeption auch klar, dass es sich nicht um einen spezifisch modernen Prozess handelt, der ursprünglich vorhandene Kategorien verfälsche oder diesen nicht angemessen sei. Vielmehr ist die komplexe Geschichte einer solchen translingual practice immer schon ein zentraler Aspekt jeder Sprache, und Hybridität daher deren Grundkonstitution. Erst vor so einem Hintergrund lässt sich dann die Frage stellen, ob sich in der modernen und/oder kolonialen Situation eine spezifische Form von translingual practice identifizieren lässt, die besonders durch die Machtdifferenzen zwischen ,dem Westen und dem Rest‘109 gekennzeichnet ist.110 Gleichzeitig ist es entscheidend, in der Betrachtung der im Rahmen von translingual practice global neu formierten Kategorien wie ,Religion‘ die indigenen Eliten in den unterschiedlichen Regionen der Welt in den Blick zu nehmen. Liu betont daher vor allem die Notwendigkeit, der Reziprozität in der Bedeutungsentstehung größere Beachtung zu schenken.111 Denn trotz der 107 Ebd., 32. Vergleiche auch die Betonung der Pluralität von Diskontinuitäten in Foucault, Michel, Antwort auf eine Frage, Linguistik und Didaktik 1/3, 1970, 228 – 239, hier: 235. 108 Liu, Translingual Practice, 32. 109 Siehe Hall, Der Westen und der Rest. 110 Liu, Translingual Practice, 27 – 32. Am Beispiel des Chinesischen hält Liu fest: „For better or for worse, loanwords and neologisms have penetrated Chinese and other Asian languages so deeply that to expell these ,foreign‘ elements would be tantamount to undermining the intelligibility of the host languages themselves“ (ebd., 259). Vgl. zur Frage nach einer konstitutiven Hybridität von Kulturen die ähnliche Position von Bhabha, Homi K., The Location of Culture, London 1994. Die Besonderheiten moderner Machtverhältnisse werden auch im siebten Kapitel der vorliegenden Arbeit thematisiert. 111 Vgl. ausführlich Liu, Introduction und dies., The Question of Meaning-Value. Sie will den Austausch von Bedeutungen dort im Rahmen einer „political economy of the sign“ konzeptualisieren: „My argument is that the equivalence or nonequivalence of meaning much discussed in translation theory participates in the same process of social exchange that produces the reciprocity and nonreciprocity of value in economic and other symbolic realms“ (ebd., 6). „To study meaning as value is to place the problem of translation within the political economy of the sign“ (ebd., 21). Während ich die Frage nach der Reziprozität im Folgenden aufnehme, bleibt die Perspektive einer ,economy of meaning-value‘ im Kontext der vorliegenden Arbeit zunächst zurückgestellt, würde aber sicherlich weitere aufschlussreiche Fragestellungen erlauben.
Translingual Practice: Zur Herstellung von hypothetischen Äquivalenzen 229
deutlichen Machtunterschiede ist es auch im Rahmen eines ungleichen Austauschs möglich, die „issues of coauthorship, circulation, contestation“ als Fragen nach Reziprozität und der Produktion von Äquivalenz in den Blick zu nehmen.112 In diesem Sinne wird die in einer Situation erreichte oder umstrittene Reziprozität zwischen Sprachen selbst zum Ergebnis einer „given economy of historical exchange“.113 Trotz der ungleichen Voraussetzungen eröffnet erst eine solche Betrachtung die Möglichkeit der Analyse spezifischer historischer Übersetzungsituationen: the circulation of meaning involves a great deal of coauthorship and struggle among the dominant and dominated groups over the meaning and distribution of universal values and civilizational resources. In order for the process of circulation to take place at all, the agents of translation on each side start out by hypothesizing an exchange of equivalent meanings, even if the hypothesis itself is born of a structure of unequal exchange and linguistic currency. What this means is that we need to investigate further how a particular sign or object is made into an equivalent of something else during the process of circulation and how, theoretically speaking, this act of translation articulates the condition of unequal exchange.114
Letztlich, so Liu, ließe sich Übersetzung als historische Praxis daher nicht als etwas verstehen, das Reziprozität und Kommensurabilität von Bedeutung garantiere, sondern als eine reciprocal wager, a desire for meaning as value and a desire to speak across, even under least favorable conditions. The act of translation thus hypothesizes an exchange of equivalent signs and makes up that equivalence where there is none perceived as such.115
Im Kontext ungleichen Austausches ist es daher Teil der Aushandlung historischer Übersetzungen, von welcher Seite welche Zugeständnisse gemacht werden müssen, um gerade in dieser spezifischen Situation eine Form von Kommensurabilität zu erreichen.116 So ist der Einfluss der westlichen Sprachen auf das Chinesische anders zu bewerten als der chinesische Einfluss auf westliche Sprachen. Liu zitiert hier Joseph Levenson: „what the West has probably done to China is to change the latter’s language – what China has done to the West is to enlarge the latter’s vocabulary.“117 Die Kommensurabilität von Bedeutungen ist daher von den jeweiligen historischen Kontexten und den damit verbundenen Machtverhältnissen gerade nicht unabhängig. 112 113 114 115 116 117
Ebd., 5. Ebd., 13. Ebd., 21. Ebd., 34. Vgl. ebd., 35. Levenson, Joseph, Confucian China and Its Modern Fate. Band 1: The Problem of Intellectual Continuity, Berkeley 1958, 157, zitiert nach Liu, Translingual Practice, 39.
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Der globale Religionsdiskurs und die Herstellung von ,Äquivalenten‘
Vielmehr kann sie oftmals nur durch Gesetze und den Einsatz blanker militärischer Macht aufrecht erhalten werden.118 Es ist daher weiterführend, Übersetzungssituationen als hochgradig umstrittene Situationen zu verstehen, in denen im Kontext spezifischer Machtbeziehungen ,Übersetzbarkeit‘, ,Äquivalenz‘ und ,Bedeutung‘ jeweils erst ausgehandelt werden. Diese Kategorien erscheinen somit im Kontext eines powerful coauthoring of universal commensurability envisioned by the Chinese translators and the metropolitan theorists of universal language in a relationship of unequal exchange. That is to say, both the dominator and the dominated participate in the making of this miracle of universal communication but determine the outcome of such exchanges differently. In the global circulation of meaning as value, hypothetical equivalence is scrupulously and vigorously guarded and only occasionally contested by speakers of one or the other languages. Equally worth of attention is a condition of unequal exchange that produces and reproduces the condition of hypothetical equivalence and the colonial regime of knowledge. […] The ultimate challenge for a new theory of translation would be to account for the philosophical connection between the universalizing logic of modernity and the invention of hypothetical equivalence among the world’s languages.119
Letztlich ließe sich behaupten, dass durch eine solche Perspektive der Streit zwischen Inkommensurabilität und Universalität wenigstens für die historische Analyse überwunden werden kann. Zumindest werden auch diese Kategorien hier nun selbst als Teil des zur Debatte stehenden historischen Prozesses verstanden: „reciprocity and commensurability are in every sense a product of deictic encounters between two languages and not the other way around.“120 Im Rahmen des in dieser Weise für neue Fragen eröffneten Raums ließe sich im Anschluss an Robert Hart und Mario Biagioli an Stelle der theoretischen Auseinandersetzung um Inkommensurabilität alternativ eine historische Analyse vorschlagen, die sich gerade für die Hervorbringung von ,Inkommensurabilität‘ interessiert und sich dabei auf die mit dieser Behauptung verbundenen (rhetorischen) Strategien konzentriert, welche in Kontaktsituationen eingesetzt werden. So würde deutlich, „how claims of purported difficulties in translations between different languages themselves served as resources in social conflicts.“121 118 119 120 121
Vgl. Liu, The Question of Meaning-Value, 35. Ebd., 36 – 37. Liu, Legislating the Universal, 146. Hart, Translating the Untranslatable, 59. Vgl. Biagioli, Mario, The Anthropology of Incommensurability, Studies in History and Philosophy of Science 21/2, 1990, 183 – 209. Hart zeigt dies am Beispiel der frühen Jesuitenmission in China auf: „For the translation of the most important terms in the most important subject, Christian theology, the Jesuits used semantic extension, borrowing and redefining terms from Buddhism and confucianism. From Buddhism the Jesuits appropriated terms that had been employed as equivalents for Sanskrit […].
Translingual Practice: Zur Herstellung von hypothetischen Äquivalenzen 231
Anhand von Lius Konzept von translingual practice lässt sich der oben vorgeschlagene Perspektivenwechsel in der Frage nach ,Äquivalenten‘ von ,Religion‘ vollziehen. Ihr Entwurf weist den Weg zur Erarbeitung einer theoretischen Alternative und zu weiteren Überlegungen aus diskurstheoretischer Perspektive, die wie folgt zusammengefasst werden können: ,Äquivalenz‘ zwischen Universalismus und Relativismus: Liu zeigt der historischen Analyse mit dem Verweis auf die immer schon vorliegende translingual practice einen Ausweg aus der Kontroverse zwischen Universalismus und Relativismus auf. Die Frage nach ,Äquivalenten‘ kann auf diese Weise neu fokussiert werden, indem die Möglichkeit einer Rekonstruktion der diskursiven Herstellung hypothetischer Äquivalenzen in Betracht gezogen wird. Äquivalenz erscheint in dieser Perspektive nun nicht länger als ein anhand einer Auseinandersetzung mit bestimmten außereuropäischen Begriffen zu identifizierendes Phänomen und damit letztlich als eine ontologische Kategorie, sondern vielmehr selbst als eine diskursive Praxis. Historisierung von ,Äquivalenz‘ und ,Bedeutung‘: Indem im Zuge einer radikalen Historisierung der Fragestellung die ,Bedeutungsäquivalenz‘ zwischen Sprachen selbst zum Gegenstand historischer Analyse gemacht wird, eröffnet Liu auch diejenigen Aspekte des Interesses der vorliegenden Arbeit einer theoretischen Hinterfragung, die in der kulturübergreifenden Forschung ansonsten zumeist einfach vorausgesetzt werden. Dies gilt neben der Äquivalenz dann notwenig auch für die Kategorie der Bedeutung selbst, denn auch diese muss als Bestandteil einer diskursiven Praxis verstanden werden, und nicht als dieser Praxis vorgelagert. Es ist nicht zuletzt dies, worauf Jacques Derridas Kritik am ,transzendentalen Signifikat‘ hinweist.122 Auch wenn dieses Problem etwa für Foucault besonders in den frühen Schriften nicht im Zentrum steht,123 wurden die Implikationen einer solchen Kritik für die DisBut it was from Confucianism that the Jesuits borrowed their most crucial terms. […] Different choices in translation provided the Jesuits and their converts with different opportunities. Phonemic and semantic neologisms necessitated lengthy explanations and commentaries; examples include treatises explaining the concept of anima and the soul. […] The borrowing of terms from Buddhism was the result of an attempt by the Jesuits in the early years of the mission in China to represent themselves as similar to the Buddhists. But in later years, their use of Buddhist terms also provided the Jesuits with the claim that their doctrines corrected Buddhist distortions. […] For the Jesuits and the converts, the problem in the choice of the proper term for God was not a lack of possible equivalents but, rather, the opportunities offered by each that entailed complex strategic implications and consequences – social, political, philosophical, and philological“ (Translating the Untranslatable, 60 – 61). 122 Vgl. Derrida, Die Struktur, 118. 123 Man könnte andererseits auch sagen, dass gerade dieses Problem sich für Foucault durchaus auch damals als ein zentrales darstellt, aber letztlich nicht befriedigend behandelt werden konnte. Nicht zuletzt dies hat meiner Ansicht nach dazu beigetragen, dass die Rezeption der Schriften Foucaults und besonders der „Archäologie des Wissens“ oftmals die dort implizierte radikale Kritik an den meisten bisherigen Fragestellungen ignoriert, oder diese Dimension sogar vollständig übersieht.
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Der globale Religionsdiskurs und die Herstellung von ,Äquivalenten‘
kurstheorie nicht zuletzt von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe herausgearbeitet.124 Während eine ausführliche Auseinandersetzung mit diesen Fragen aus diskurstheoretischer Sicht in der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden kann, wird im Folgenden zumindest die Frage der Übersetzung von Derrida ausgehend ausführlich diskutiert. Sprachwandel und Neologismen: Liu weist in der Betrachtung von translingual practice besonders auf die Rolle von Neologismen sowie derjenigen Worte hin, welche in neue Bedeutungszusammenhänge einrücken, da gerade hier das, was als ,Wandel‘ meist vorausgesetzt wird, in seiner diskursiven Produktion rekonstruiert werden kann. Die Frage ist daher für sie nicht primär, als wie ,modern‘, ,europäisiert‘ oder ,traditionell‘ ein bestimmter Begriffsgebrauch zu einem bestimmten Zeitpunkt betrachtet werden sollte, sondern wie über translingual practice eine entsprechende Wahrnehmung eines historischen Wandels letztlich erst hervorgebracht wird. Gleichzeitig gibt Liu damit zu bedenken, dass angesichts der Notwendigkeit, immer schon von einer Geschichte von translingual practice ausgehen zu müssen, jegliche Sprache sich zu jedem historischen Zeitpunkt immer schon in einem Zustand der Hybridität befindet, und die Identifikation eines ,eigentlichen‘ Sprachgebrauchs oder einer ,ursprünglichen‘ Bedeutung somit zum Scheitern verurteilt ist. Hier wäre für die vorliegende Arbeit erneut der Vorschlag zu betonen, den Streit um Kontinuität und Diskontinuität durch die Identifikation des Verhältnisses von Kontinuität und Diskontinuität innerhalb spezifischer historischer Situationen zu ersetzen.
5.7 Die ,Übersetzung‘ eines globalen Diskurses und die Frage nach dem Bedeutungsgeschehen Eine Anknüpfung an die theoretischen Vorschläge Lydia H. Lius verspricht, wie oben dargestellt, überaus fruchtbar zu sein. Es ist Liu gleichzeitig auch zuzustimmen, dass die banal erscheinende Problematik der tatsächlich erfolgenden historischen Praxis von Übersetzungsprozessen im Rahmen von Derridas Kritik am ,transzendentalen Signifikat‘ und seiner Fokussierung auf die grundlegenden theoretischen, linguistischen und philosophischen Probleme der Übersetzung tendenziell zunächst ausgeblendet wird.125 Genau diese alltägliche Dimension jedoch auf einer theoretischen Ebene in den Blick nehmen zu können, ist die Leistung von Lius Ansatz. Allerdings ist aus ihrer Kritik nicht abzuleiten, dass die grundlegenden philosophischen Überlegungen Derridas für die hier angezielten Fragen nicht 124 Siehe Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 1991. 125 Vgl. Liu, Translingual Practice, 16.
,Übersetzung‘ und Frage nach dem Bedeutungsgeschehen
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trotzdem von hoher Relevanz bleiben. Denn wie zum Ende des letzten Abschnitts bereits angedeutet, tritt mit Lius Ansatz nicht nur die historische Praxis einer Herstellung von hypothetischen Äquivalenzen in den Fokus, sondern gleichzeitig auch die Kategorie der Bedeutung selbst. Es ist daher notwendig – gerade im Hinblick auf das Bestreben, einen globalen Diskurs aus theoretischer Perspektive denken zu können – auch hier weitere Überlegungen anzustellen. Denn wie lässt sich die von Liu ins Spiel gebrachte Kategorie der ,hypothetischen Äquivalenz‘ verstehen? In einem ersten Schritt – und darauf fokussiert Liu in ihren Studien – erlaubt es ihr Ansatz, diese Äquivalenz als eine historisch hergestellte zu betrachten. Sie erscheint in jeder diskursiven Situation erneut als eine reciprocal wager, eine ,Wette auf die Möglichkeit von Äquivalenz‘.126 Auf diese Weise entgeht die von ihr angezielte historische Analyse von Übersetzungsprozessen dem Problem einer Entscheidung zwischen den beiden absoluten Positionen von Relativismus und Universalität und fokussiert den Austausch im Kontext von Übersetzung als „a desire for meaning as value and a desire to speak across“.127 Doch letztlich ist damit die Frage nach der konkreten Konzeptualisierung der hergestellten Äquivalenzen noch nicht beantwortet. Denn in den von Liu im Kontext von translingual practice untersuchten Übersetzungsprozessen geht es letztlich um eine Vermittlung von Bedeutung zwischen Sprachen und die Frage nach der Möglichkeit eines solchen Bedeutungsgeschehens. Doch was kann vor dem Hintergrund dieses Theorieentwurfs ,Bedeutung‘ noch bezeichnen? Wie kann diese theoretisch und nicht nur im Bezug auf einen spezifischen Begriff in einer spezifischen Situation beschrieben werden? In welchem Verhältnis stehen solche Überlegungen zu einer Diskurstheorie, insbesondere wenn diese einen globalen Diskurs rekonstruieren möchte? Es lassen sich hier zumindest drei Problemkomplexe identifizieren: Eine Theorie des Bedeutungsgeschehens: Wenn somit auch ,Bedeutung‘ – gerade im Rahmen einer sprachübergreifenden Fragestellung und von translingual practice – aus diskurstheoretischer Sicht nicht als etwas dem Diskurs und damit dem konkreten Bedeutungsgeschehen Vorausgehendes verstanden werden soll, muss die Frage nach einer dieses Interesse aufnehmenden Theoretisierung von Bedeutungsgeschehen gestellt werden. Hier kann – wie bereits angedeutet – eine Anknüpfung an Überlegungen Jacques Derridas es ermöglichen, den bisherigen Fokus auf ,Unterscheidungen‘ mit der Frage nach ,Bedeutung‘ zusammenzubringen. Die ,Übersetzung‘ eines globalen Diskurses: Die Frage nach der Einheit eines Diskurses stellt sich umso dringlicher, wenn wie hier von einem ,globalen Diskurs‘ gesprochen werden soll, oder überhaupt von Diskursen, die über mehrere Sprachen hinweg rekonstruiert werden. Wie kann ein solcher glo126 Vgl. den vorherigen Abschnitt und Liu, The Question of Meaning-Value, 34. 127 Ebd.
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baler Diskurs theoretisch beschrieben werden? Die auf den ersten Blick nur als ein Spezialproblem erscheinende Frage nach Übersetzung erweist sich nicht zuletzt deshalb als entscheidend, weil hier das Problem der Einheit des globalen Religionsdiskurses in gesteigerter Form auftritt. Denn im Hinblick auf die ,Übersetzung eines Diskurses‘ und die Möglichkeit einer solchen tritt die Frage besonders in den Fokus, was den ,Inhalt‘ und die ,Einheit‘ des zu Übersetzenden ausmacht. Was kann diese sein, wenn man davon ausgeht, dass die ,Gegenstände‘ von den Diskursen selbst hervorgebracht werden? Und wenn hier weiterhin eine diskurstheoretische Position vertreten werden soll, kann die Grundlage für diese auf keinen Fall die ,außerdiskursive Realität‘ eines ,Phänomens‘ sein, sondern muss mit den diskursiven Regelmäßigkeiten verbunden sein, dem was Foucault als Formationsregeln des Diskurses bezeichnet. Die radikale Historizität dieses Ansatzes tritt somit auch im Kontext der Übersetzungsproblematik in den Fokus. Begriff und Diskurs von ,Religion‘: Wie ist das Verhältnis zwischen dem europäischen Begriff ,Religion‘ und dem Diskurs ,Religion‘ zu bestimmen? Wie lassen sich dieser Diskurs und seine Einheit charakterisieren, wenn gleichzeitig ganz offensichtlich eine ungeheure Vielzahl an oftmals sehr unterschiedlichen Religionsbegriffen vorkommt? Welche Rolle spielt dann aber der Begriff ,Religion‘ für den Religionsdiskurs? Was hat diese Einheit mit dem ,Inhalt‘, mit der ,Bedeutung‘ bestimmter Begriffe zu tun? Im Anschluss an diese Fragen wird ersichtlich, dass diese Einheit nur beschrieben werden kann, wenn die Kategorie der Bedeutung selbst im kulturübergreifenden Austausch in Frage gestellt wird. Die Einheit der Religionsbegriffe über Sprachen hinweg kann nur über ihre Bedeutungen bestimmt werden, aber was kann Bedeutung hier noch heißen? Im Anschluss an die Dekonstruktion ließe sich ein poststrukturalistisches Verständnis von Bedeutung erarbeiten, dass diese als Konfiguration von Unterscheidungen versteht. Die Einheit von Religionsbegriffen würde demnach in einer hypothetischen Herstellung von äquivalenten Unterscheidungskonfigurationen liegen. Gleichzeitig geht es hier darum, wie diskursiv Bedeutung hervorgebracht wird und um das Auftauchen von Gegenständen, Begriffen und Subjektpositionen. Die Formationsregeln des Diskurses verweisen jedoch nicht auf deren ,Inhalt‘, also ihre jeweilige konkret spezifizierte Bedeutung, sondern sind als „Verhältnisse der Äußerlichkeit“ und als Versuch einer „Analyse der Häufungen“ zu verstehen.128 Es kann im Folgenden nicht darum gehen, die hier angesprochenen philosophischen Fragen in ihrer Komplexität erschöpfend zu behandeln.129 128 Foucault, Archäologie des Wissens, 182. 129 So orientieren sich die folgenden Überlegungen vor allem an Gedanken Jacques Derridas, rekonstruieren diese aber hauptsächlich anhand von Sekundärliteratur. Eine ausführliche Begründung der hier angedeuteten Theoriebildung müsste aber nicht zuletzt eine direkte Auseinandersetzung mit den Schriften Derridas suchen. Ich folge hier jedoch zunächst weitgehend der Darstellung Georg W. Bertrams, der die Dekonstruktion als eine Theorie der „Bedeutungsgeschehnisse“ zu verstehen versucht und zu diesem Zweck Derridas Überle-
,Übersetzung‘ und Frage nach dem Bedeutungsgeschehen
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Vielmehr wird versucht, anhand der folgenden sprachtheoretisch, linguistisch und post-strukturalistisch inspirierten Reflexionen zu zeigen, welche Fragen sich einem diskurstheoretischen Interesse an der Beschreibung eines globalen Diskurses stellen, welche grundsätzlichen Probleme in diesem Zusammenhang auftauchen, und wie die bisher und im Folgenden präsentierten Überlegungen an die Derridasche Dekonstruktion anknüpfen können. Dieser Anschluss bietet sich hier nicht zuletzt deshalb an, weil Derrida als einer derjenigen Denker der gegenwärtigen Philosophie gilt, die das Problem der Übersetzung in ihrem Werk immer wieder behandelt haben.130 Wie im bisherigen Verlauf der vorliegenden Arbeit und besonders in der Auseinandersetzung mit Liu deutlich geworden ist, wird hier ein Ansatz benötigt, welcher ,Übersetzung‘ einerseits als ein theoretisches Problem auffasst und andererseits nicht sofort mit der These einer Unmöglichkeit von Übersetzung wieder verabschiedet. Er muss es vielmehr gleichzeitig ermöglichen, von Übersetzung als einer historischen Praxis auszugehen, d. h. die These von der Unmöglichkeit der Übersetzung mit der These von der Unverzichtbarkeit und immer schon vorausgehenden Praxis von Übersetzung zu verbinden. Von dieser paradox scheinenden Überlegung geht die Dekonstruktion aus.131 Entgegen ihrer zumeist oberflächlichen Rezeption – so Georg W. Bertram – sollten die Überlegungen Derridas also nicht so verstanden werden, dass über die Momente der Dekonstruktion und der difforance primär grundlegende und nicht zu überwindende Differenzen markiert werden. Vielmehr ziehe Derrida den Schluss, dass letztlich von einer „Einfachheit des Bedeutungsgeschehens“ auszugehen sei. Denn Dekonstruktion sei zwar eine Theorie der Differenzen, verstehe diese aber nicht als feste Größen, sondern frage vielmehr
gungen über die „Konstitution von Bedeutungsgeschehen“ rekonstruiert. Vgl. Bertram, Georg W., Hermeneutik und Dekonstruktion. Konturen einer Auseinandersetzung der Gegenwartsphilosophie, München 2002, 87 – 158. Zur Kritik an Bertrams Ansatz siehe u. a. Baum, Michael, Der ,ununterbrochene Dialog‘ – Seine Teilnehmer, Vermittler und Zensoren, in: G. Thuswaldner (Hg.), Derrida und danach? Literaturtheoretische Diskurse der Gegenwart, Wiesbaden 2008, 13 – 31, hier: 28 – 29. Für eine anders gelagerte Interpretation Derridas als „Denken vom Signifikanten aus“ siehe Lagemann, Jörg, Signifikantenpraxis. Die Einklammerung des Signifikats im Werk von Jaques Derrida, Unveröffentlichte Dissertation, Oldenburg 2001. Lagemann sieht in den von Derrida verwendeten Begriffen deutlich weniger Potential, diese in einer stringenten ,Zeichentheorie‘ zu explizieren. 130 Vgl. Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion, 137. Siehe auch Graham, Joseph F. (Hg.), Difference in Translation, Ithaca 1985; Hirsch (Hg.), Übersetzung und Dekonstruktion; Davis, Kathleen, Deconstruction and Translation, Manchester 2001. 131 Vgl. Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion, 137 – 138. Die These einer Unmöglichkeit von Übersetzung geht bei Derrida dabei nicht auf eine unmöglich zu überwindende Differenz zwischen Sprachen zurück, sondern vielmehr auf die Überlegung, dass Sprachen niemals ,rein‘ sind und jede Übersetzung damit immer schon in einer „sprachplurale[n] Textur“ ihren Ausgangspunkt hat. Übersetzung geht somit niemals von einem ,ursprünglichen‘, ,reinen‘ Original aus und dies ist für Derrida letztlich die Begründung für eine ,Unmöglichkeit von Übersetzung‘. Vgl. ebd., 141.
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nach deren Konstitution.132 Sie sollte somit „als Philosophie[] verstanden werden, die nicht von dem Gegebensein von Differenzen ausgeh[e], sondern deren Entstehung verfolg[e].“133 Gerade in der Frage nach der Kategorie der Bedeutung erweist sich somit diese Doppelgestalt der Dekonstruktion, da sie besonders hier als eine Theorie der Differenz deutlich wird. Dekonstruktion lässt sich Bertrams Ansicht nach sogar grundlegend als „Frage nach dem Bedeutungsgeschehen“ verstehen, mit welcher Derridas philosophische Überlegungen einsetzen.134 Eines ihrer entscheidenden Kennzeichen ist jedoch, dass die Dekonstruktion an dieser Stelle dann nicht zur Frage nach dem Verstehen übergeht, sondern bei der Frage nach dem Bedeutungsgeschehen stehen bleibt und nun fragt, wie sich diese überhaupt beantworten lässt. Eine mögliche Antwort wäre der Versuch, eine Theorie des Bedeutungsgeschehens zu präsentieren. Derridas Dekonstruktion hält eine solche Antwort, die etwa als eine „transzendentale Semiologie“135 auftreten könnte, jedoch nicht für befriedigend, da eine solche Antwort bereits selbst ein Bedeutungsgeschehen impliziert: Die Frage nach dem Bedeutungsgeschehen in Verbindung mit einer möglichen Antwort ist selbst schon ein solches und impliziert bereits ihre eigene Antwort. Sie kann somit mit einer
132 Ebd., 136. Er beruft sich hier u. a. auch auf die Derridainterpretation von Gasch~, Rodolphe, Inventions of Difference. On Jacques Derrida, Cambridge 1994, 129 – 149. 133 Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion, 208. Sie lässt sich daher durchaus – um dies im Vorgriff auf die Auseinandersetzung mit der Systemtheorie im siebten Kapitel zu erwähnen – etwa mit Luhmanns Konzeption des Sozialen und der Systemtheorie als einer Differenztheorie vermitteln, die, wie Armin Nassehi betont, von einer radikalen Operativität des Sozialen ausgeht. Siehe Nassehi, Armin, Der soziologische Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main 2006. Zur Verbindung von Systemtheorie und poststrukturalistischer Theorie siehe auch Stäheli, Urs, Sinnzusammenbrüche. Eine dekonstruktive Lektüre von Niklas Luhmanns Systemtheorie, Weilerswist 2000. 134 Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion, 81. Bertrams Auseinandersetzung fokussiert vorrangig auf sprachliche Zeichen im Bedeutungsgeschehen, auch wenn nicht-sprachliche Bedeutung damit nicht ausgeschlossen ist. Im Sinne der im Folgenden rekonstruierten Überlegungen zur Konstitution von Bedeutung ließe sich dieser Fokus durchaus erweitern, was gerade im Hinblick auf die Übersetzungsproblematik und den globalen Religionsdiskurs weiterführend sein könnte. Indem die Zeichenpraxis hier aber letztlich nicht ausschließlich als eine rein sprachliche verstanden wird, wäre es daher auch nicht primär interessant, eine Auseinandersetzung um die Frage nach Sprache oder Bild zu führen. Die sich aus der sich im folgenden entwickelten Perspektive ergebende Frage wäre vielmehr, wie in nicht-sprachlichen Praktiken ,Bedeutung‘ (im vorliegenden Verständnis) hervorgebracht wird. Eine entsprechend formale Vorstellung von den Grundlagen der Bedeutung sowie den Formationsregeln des Diskurses als Unterscheidungen (siehe im Folgenden) würde es damit auch ermöglichen, nicht sprachliche Bedeutungsgeschehen als Teil des globalen Religionsdiskurses aufzufassen. Siehe aus diskurstheoretischer Perspektive dazu nur Maasen, Sabine et al. (Hg.), Bilder als Diskurse – Bilddiskurse, Weilerswist 2006, auch wenn dieser Frage hier nicht weiter nachgegangen werden kann. 135 Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion, 82.
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vorgelagerten Theorie nicht beantwortet werden, da eine solche auf diese Frage zu viele Antworten gibt und sich immer schon selbst mit bezeichnet.136 In diesem Sinne muss daher auch Derridas Begriff der difforance verstanden werden. Weder als das eine grundlegende Konzept, von dem als ,ursprüngliche Ursprungslosigkeit‘ auszugehen sei, noch als ein nur negativ bezeichenbarer Rest des Sprechens.137 Vielmehr ist sie „ein Aspekt dessen, was man voraussetzen muss, um das Funktionieren von Zeichen und von Bedeutungsgeschehen zu erläutern.“138 Im Anschluss an die strukturalistischen Überlegungen vor allem Ferdinand de Saussures geht auch Derrida davon aus, dass „Zeichen allein in Differenzen Bestand haben“.139 Die bereits von Saussure vertretene These, dass sich die Signifikanten alleine durch eine Differenzierung gegenüber anderen Signifikanten ausbilden, wird allerdings an zwei Punkten radikalisiert. Anders als Saussure geht Derrida zum einen davon aus, dass die differentielle Struktur, in der sich diese Zeichen befinden, unabschließbar sei. Zum anderen wird gerade die für Saussure noch zentrale Unterscheidung von Signifikant (Lautbild) und Signifikat (Vorstellung) von Derrida als unhaltbar erkannt und somit vielmehr von einer Untrennbarkeit von Signifikant und Signifikat ausgegangen.140 An die These der differentiellen Verfasstheit von Zeichen schließt Derrida daher zunächst an. Saussure hatte die Ansicht vertreten, dass ein Zeichen nur über die Differenzen zu anderen Zeichen bestimmt sei und dies wie folgt formuliert: Alles Vorausgehende läuft darauf hinaus, daß es in der Sprache nur Verschiedenheiten gibt. Mehr noch: eine Verschiedenheit setzt im allgemeinen positive Einzelglieder voraus, zwischen denen sie besteht; in der Sprache gibt es nur Verschiedenheiten ohne positive Einzelglieder.141
Die von Derrida daran anschließend in den Blick genommene Frage ist, zwischen welchen Größen diese Differenzen bestehen, wenn die Einzelglieder nur in ihrer Differenzialität existieren. Ein Begriff von Differenzialität, der die Radikalität der bei Saussure bereits angelegten Überlegung beschreiben kann, steht aber innerhalb von dessen Entwurf nicht zur Verfügung. Es ist diese Stelle, an der Derrida den Begriff der difforance einführt. Er verfolgt damit die Frage, wie eine „Verschiedenheit ohne positive Einzelglieder“ gedacht werden kann. Seiner Ansicht nach ist dies nur möglich, wenn man die Differenz aus einer Bewegung 136 Vgl. ebd., 81 – 83. 137 Vgl. ebd., 87. Zur „Ursprungslosigkeit“ siehe Derrida, Jacques, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main 1976, 312. 138 Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion, 87. 139 Ebd., 88. 140 Vgl. ebd. 141 Saussure, Ferdinand de, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin 32001, 143.
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der Differenzierung heraus denkt. Differenz gibt es demnach nicht einfach. Differenz ist immer Differenzierung.142
Eine Differenz zwischen zwei Zeichen kann nur gedacht werden, wenn gleichzeitig ein Zwischenraum zwischen diesen gedacht wird. Dieser Zwischenraum beschreibt einen Abstand, oder zumindest die Herstellung eines Abstandes, und impliziert daher eine Dynamik: „Derrida sagt somit, dass derjenige, der die Zeichen aus Differenz begründet, immer schon den Zwischenraum als einen Raum differenzierender Bewegung voraussetzt.“143 Dieser Zwischenraum wird von Derrida unter drei Aspekten beschrieben: Zum einen als bloßer Raum zwischen zwei Zeichen, der als räumliche Trennung verstanden werden kann und sich verräumlichen lässt. So ist in der Schrift das Leerzeichen ein solches Moment. Zum zweiten beinhaltet dieser Raum einen zeitlichen Aspekt, stellt sich also nur in seiner Verzögerung her, da in der Bestimmung eines Zeichens zu einem anderen gegangen werden muss um wiederum das erste Zeichen zu erreichen. Drittens beschreibt Derrida diesen Raum als produktive Kraft, die aus ihrer Aktivität die differenziellen Punkte als ihre Wirkungen hervorbringt.144 Difforance verweist auf diese drei Aspekte des Zwischenraumes: „Der Zwischenraum, der in jeder Differenz vorausgesetzt wird, ist diff~rance, differenzierende Bewegung.“145 Die drei Aspekte Raum, Zeit und Kraft dienen somit zu ihrer Bestimmung.146 Gleichzeitig hat diese so verstandene difforance keine Existenz an sich, sondern tritt nur als Aspekt der Zeichen, also zusammen mit ihren Wirkungen auf. „Sie kann von ihrem Effekt nicht isoliert werden.“147 Ebenso, und das macht das Paradoxe an Derridas Überlegungen zur difforance aus, muss sie aber auch in dem Sinn gedacht werden, dass sie den Zeichen bereits vorausgeht, auch wenn sie andererseits nur im Zeichen als Effekt vorliegt: Letztlich sind alle negativen Aussagen über diff~rance als Versuche zu verstehen, dieser Ambivalenz gerecht zu werden. All solcher Ambivalenz zum Trotz gilt: Diff~rance ist dasjenige, was gedacht werden muss. Das ist die Intuition, der Derrida folgt und die ihn zu dem vielbeachteten Neographismus bzw. Neologismus treibt. Das Funktionieren differentieller Zeichen kann ohne sie nicht erläutert werden.148
Einem solchen Vorschlag folgend, beruht jegliche Bedeutung auf difforance, diese lässt sich aber, da sie immer bereits am Werk ist, nicht selbst bedeuten. Difforance ist nicht differentiell konturiert, während alle Versuche ihrer Erklärung sie in ihren differentiellen Bedeutungen schon voraussetzen müss142 143 144 145 146 147 148
Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion, 89. Ebd. Vgl. ebd., 89 – 90. Ebd., 90. Vgl. ebd., 88. Ebd., 91. Ebd., 91.
,Übersetzung‘ und Frage nach dem Bedeutungsgeschehen
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ten.149 Gleichzeitig ist difforance im Zeichen gegeben, auch wenn sie nicht als dessen Möglichkeitsbedingung verstanden werden kann: Entscheidend ist, dass sie sich überhaupt erst von einem Zeichen her formulieren lässt. Es bedarf einer Zeichenpraxis, um diff~rance als Implikat dieser Praxis zu denken. Es gibt keine transzendentalen Zeichen, da diese sich nur mittels einer realen Zeichenpraxis formulieren lassen.150
In diesem Sinne ist difforance nicht die transzendente Begründung von Zeichen, sondern tritt mit diesen zugleich auf.151 Bertram geht nun im Anschluss an diese Bestimmung davon aus, dass aus genau diesem Grund die Derridasche Frage nach dem Bedeutungsgeschehen nicht als die Frage nach der Bedingung seiner Möglichkeit, sondern als die Frage nach dem Verständnis einer bereits gegebenen Zeichenpraxis verstanden werden sollte. Er sieht daher die bisher wiedergegebene Bestimmung der Zeichen und der difforance eng mit den Derridaschen Begriffen der „Spur“ und der „Wiederholung“ verbunden.152 Indem ein Zeichen als eine Spur verstanden wird, wird sowohl auf dessen Materialität als auch auf dessen Vergänglichkeit verwiesen.153 Mit der Materialität ist zunächst gemeint, dass sich eine Spur als eine Einschreibung verstehen lässt, die durch die Veränderlichkeit von Materie überhaupt erst zustande kommen kann. Gleichzeitig ist damit bereits auf ihre Vergänglichkeit verwiesen.154 Eine solche Bestimmung nur über die Materialität ist jedoch nicht ausreichend, da keine Spur ohne einen Bezug auf andere Spuren vorhanden ist. Vielmehr zeigt sich, dass eine Spur nur insofern als Spur bestimmt werden kann, insofern sie unterschieden wird. Anhand einer Tierfährte im Schnee erläutert Bertram, dass eine Spur etwa nur dann als Katzenfährte bestimmt werden kann, wenn sie von anderen Fährten sowie anderen Spuren unterschieden wird.155 Sie wird also erst durch dieses Unterscheidungsmoment zu einer Spur : „Die Spur ist immer eine unterschiedene Spur – Spur, die sich von anderen Spuren unterscheidet.“156 Wenn der Begriff der Spur so mit dem Begriff der Differenzierung verbunden wird, wird dieser dadurch radikal verändert: Wenn eine Spur erst aus der Differenzierung von Spuren hervorgeht, dann verweist sie gleichsam auf alle anderen Spuren, von denen sie sich differenziert. […] Eine Spur besteht aus einer Vielzahl von Spuren, die ihrerseits Spuren anderer Spuren sind. Alle 149 150 151 152 153 154 155 156
Vgl. ebd., 92 – 93. Ebd., 93. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd., 94. Vgl. ebd. Vgl. ebd., 95 – 96. Ebd., 96.
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Der globale Religionsdiskurs und die Herstellung von ,Äquivalenten‘
Differenzierungen, in den eine Spur steht, sind in ihr in Form von Spuren präsent. Alle anderen Spuren haben an der Spur ihre Spur hinterlassen: genau diese Tatsache macht sie zur Spur. Eine Spur gibt es demnach nur als eine Spur von Spuren, als ein Zusammenkommen von Spuren, die sie gerade nicht ist.157
Jede Spur wird auf diese Weise erst dadurch zur Spur, dass andere Spuren sich von ihr differenziert haben und sie die Spuren dieser Differenzierung an sich trägt. Als Spur ist sie daher auch nur in ihrer Differenz zu bestimmen, und erscheint so als „Bündel verschwundener Spuren“.158 Wie Bertram betont, ist das, was sie zu einer Spur macht, damit nicht im Sinne einer Existenz vorhanden: Die Spur ist nichts, wovon sich sagen ließe, dass es einfach material gegeben, das heißt anwesend ist. Dennoch ist sie das material-ideal Anwesende, was aus der Differenzierung von Spuren bzw. Zeichen hervorgeht: eine (anwesende) Spur von (abwesenden) Spuren.159
Diese Überlegungen zur Spur beziehen sich in Bertrams Auffassung der Dekonstruktion auch auf die Art und Weise, wie der Begriff des Zeichens zu verstehen wäre: „Zeichen sind in dem Sinn Spuren, als sie Spuren anderer Spuren sind.“160 Als „Spur von Spuren“ stehen die Zeichen eines Zeichensystems all den anderen Zeichen dieses Systems gegenüber und gewinnen ihre Kontur dadurch, das diese „Spurung“ jeweils in ihnen gebündelt ist.161 Jedes Zeichensystem kann somit auch als ein „System von Spuren“ verstanden werden.162 Die Bestimmung von Zeichen über Differenzierung und die damit verbundenen Spuren implizieren somit notwendig andere Spuren.163 Über diese Erkenntnis radikalisiert Derrida das bei Saussure bereits implizierte Postulat, dass die Einzelglieder eines Zeichensystems keine positive Existenz haben, was dieser jedoch letztlich theoretisch noch nicht beschreiben konnte. „Es gibt, so könnte dies auch zusammengefasst werden, keine Spur im Singular, sondern allein die Differenzierung in Spuren.“164 Da jedoch eine Bestimmung des Zeichens über den Begriff der Spur weiterhin nur auf Differenz allgemein verweist und nicht auf eine spezifische Differenz zu einem anderen Zeichen, ist eine solche Bestimmung des Zeichenbegriffs nicht ausreichend.165 In Derridas Denken – so Bertram – müssen diese beiden Begriffe daher durch den Begriff der „Wiederholung“ ergänzt 157 158 159 160 161 162 163 164 165
Ebd. Ebd., 97. Ebd. Ebd. Ebd., 98, 97. Ebd., 97. Vgl. ebd., 98. Ebd. Vgl. ebd., 98 – 99.
,Übersetzung‘ und Frage nach dem Bedeutungsgeschehen
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werden: „Erst durch Wiederholung werden Spuren spezifische Spuren und lassen sich Zeichen als solche voneinander differenzieren.“166 Der Begriff der Wiederholung, der hier im Raum steht, darf allerdings nicht so verstanden werden, dass er sich auf etwas bezieht, was mit Zeichen gemacht werden kann. Vielmehr konstituiert erst die Wiederholung das Zeichen: „Es gibt nicht zuerst ein Zeichen, das dann wiederholt würde. Vielmehr kommen Zeichen erst durch Wiederholung zustande. Das ist die Konsequenz, die sich aus der Konstitution von Zeichen in Differenz ergibt.“167 Auf diese Weise wird der Begriff der Wiederholung ebenfalls mit dem Begriff der Differenz verbunden. Auch hier ist diese als etwas zu verstehen, was in einem Zwischenraum, der zwischen den Wiederholungen wirkt, hervorgebracht wird.168 Dies gilt durchaus auch in einer Wiederholung des selben Zeichens, in welcher die Wiederholungen gleichfalls zueinander in Differenz stehen: Wie aber ist diese Differenz zu bewerten? Sie besagt, dass das Zeichen über den Raum, der zwischen ihm und seiner Wiederholung liegt, zu sich selbst kommt. Es geht – knapp gesprochen – den Umweg über sich selbst. Über diesen Umweg wird das Zeichen zu einem bestimmten Zeichen, das sich nicht nur von anderen Zeichen unterscheidet, sondern auch als solches identifizieren lässt. Das Zeichen bestimmt sich, indem es sich auf seine Wiederholungen bezieht.169
Auch hier muss aber die Wiederholung also als etwas verstanden werden, was dem Zeichen bereits voraus liegt. Jedes Zeichen ist seine eigene Wiederholung, und die Wiederholung somit nicht etwas, das dem bereits existierenden Zeichen hinzugefügt wird.170 Die Begriffe der Spur und der Wiederholung verweisen somit aufeinander und beide auf die Dynamik der Differenzierung, die in ihnen impliziert ist. Sie sind gleichzeitig nicht etwas, was sich zusätzlich zur Bestimmung des Begriffs des Zeichens beschreiben ließe, sondern machen zusammen mit difforance die drei Aspekte des Derridaschen Zeichen-Begriffs aus.171 Erst vor diesem Hintergrund lässt sich folglich über eine Identität von Zeichen sprechen. Auch diese geht in einer Bestimmung von Zeichen über ihre differenzierenden Beziehungen diesen wiederum nicht voraus. Vielmehr entsteht auch sie erst aus der Wiederholung der Zeichen und kann somit nicht unabhängig von der konkreten Zeichenpraxis bestimmt werden: „Es sind 166 167 168 169 170 171
Ebd., 99. Ebd. Vgl. ebd., 100. Ebd. Vgl. ebd., 101. Vgl. ebd., 87, 101 – 102. Vgl. zur Frage der Wiederholung auch die Rezeption von Judith Butlers Konzept der „Performativität“ in Bergunder, Michael, Was ist Religion? Kulturwissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Religionswissenschaft, Zeitschrift für Religionswissenschaft 19/1 – 2, 2012, 3 – 55, hier: 39 – 41.
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Der globale Religionsdiskurs und die Herstellung von ,Äquivalenten‘
nicht Beziehungen von Zeichen auf ,sich selbst‘, sondern Beziehungen, aus denen die Selbigkeit von Zeichen resultiert. […] Identität beruht auf Wiederholung.“172 Dies führt allerdings auch dazu, dass sich Identität nicht als eine Beständigkeit der Wiederholung von jeglicher Veränderung völlig abgrenzen lässt. Vielmehr sind in dem hier vorgeschlagenen Verständnis ja bereits die Wiederholungen nicht durch Identität sondern durch Differenz begründet. Auf diese Weise lässt sich zwischen Veränderung und Wiederholung keine scharfe Grenze ziehen, was das Verständnis der Identität von Zeichen dynamisiert.173 Dies betrifft dann letztlich auch das gesamte Zeichensystem: Wenn jedes Zeichen in dieser Weise mit Wiederholung verbunden ist, dann muss jedes konkrete Zeichenvorkommen […] als Reaktualisierung verstanden werden. Das Zeichen reaktualisiert sich als bestimmtes und damit das gesamte System, innerhalb dessen es sich differentiell verhält. Die Wiederholung erweist sich dabei genauso als Bindekraft des Systems, wie sie das Potential der Veränderung des Systems eröffnet.174
Das Dreieck aus den Begriffen der difforance, der Spur und der Wiederholung gilt Bertram daher als die Basis, auf der die Derridasche Theorie des Zeichens ruht, und über die sich Bedeutungsgeschehen beschreiben lässt. Alle drei Begriffe konturieren sich gegenseitig und sind somit auch nicht in eine Hierarchie zu bringen, deren wichtigstes Glied dann die difforance wäre.175 Die zunächst als Spuren gedachten Zeichen implizieren bereits difforance, lassen sich als spezifische Zeichen aber nur denken, wenn sie in Bezug auf ihre Wiederholung gedacht werden. Auch diese ist als Wiederholung jedoch mitsamt der dadurch etablierten Identität des Zeichens nur von der difforance her zu denken.176 Die Unterschiede der damit zugrunde gelegten Zeichentheorie und die mit ihr implizierten Verschiebungen im Hinblick auf die Konzeption Saussures sind für die Erläuterung der Kategorie der ,Bedeutung‘ entscheidend. Gerade über die Begriffe der Spur und der Wiederholung gelingt es Derrida, Zeichensysteme grundsätzlich als offene und nicht als abgeschlossene Strukturen zu verstehen. Denn die differentiellen Beziehungen, von denen ja auch Saussure in seiner Konzeption des Zeichenbegriffs ausgeht, werden von diesem zunächst grundsätzlich als gleichförmig verstanden. Jede Relation zwischen einem Zeichen und einem anderen ist zunächst gleich entscheidend. Eine solche Bestimmung wirft für die Erklärung der Bedeutung von Zeichen jedoch das Problem auf, dass die Kategorie der Bedeutung gerade voraussetzt, dass nicht 172 173 174 175 176
Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion, 102. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. ebd., 103. Vgl. ebd., 103 – 104.
,Übersetzung‘ und Frage nach dem Bedeutungsgeschehen
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alle Differenzrelationen eines Zeichens gleichförmig sind. Erst ihr unterschiedliches Gewicht bringt die Bedeutung hervor.177 Um dieses Problem zu beschreiben, muss Saussure das Zeichensystem als ein zu einem bestimmten Zeitpunkt t durch seine Geschlossenheit strukturiertes System verstehen, da hier die für sich allein als gleichförmig betrachteten Beziehungen der Zeichen untereinander durch die Bestimmtheit eines spezifischen Zustandes festgelegt werden, und damit auch der Ort jedes Zeichens fixiert wird. Die Überlagerung der gleichförmigen Differenzen zwischen den Zeichen durch die geschlossene Struktur des Zeichensystem zu einem Zeitpunkt t macht es in der Saussureschen Konzeption somit möglich, Bedeutung zu erklären.178 Derridas Verständnis von Zeichen als Spuren von Spuren und der Identität von Zeichen als in ihrer Wiederholung konstituiert, ermöglichen es nun, anstelle der Notwendigkeit einer solchen Geschlossenheit des Zeichensystems, die Bestimmtheit des Zeichens bereits durch dessen Kontur selbst zu verstehen. Als Spurung verstanden, impliziert bereits jedes Zeichen sein gesamtes System. Die grundlegende Geschlossenheit wird somit von Derrida durch eine prinzipielle Offenheit des Zeichensystems ersetzt, die es jederzeit möglich macht, ein Zeichen in neue Differenzrelationen zu versetzen.179 Das Potential, neue Differenzierungen auszubilden, ist für jedes Zeichen nach der Derridaschen Konzeption letztlich unbegrenzt.180 Ein solches Verständnis, das ermöglicht, das Zeichen so vorzustellen, dass sich dieses „von sich aus in eine Ordnung stellt und in seiner Konstitution einen bestimmten Ort unter anderen Zeichen einnimmt“,181 macht das für Saussure zentrale Problem der Bestimmtheit des Zeichens hinfällig. „Das Zeichen, das sich in Spuren differenziert, ist bestimmt, ist nicht ein bloßer Punkt von Differenzen, sondern ein spezifischer Punkt in einem Differenzgeflecht.“182 Auf genau dieser Notwendigkeit, die Bestimmtheit des Zeichens erst erklären zu müssen, beruht jedoch Saussures Unterscheidung von Signifikant und Signifikat.183 Für die Erklärung von Bedeutung ist für Derrida eine solche Unterscheidung jedoch nicht länger erforderlich.184 Denn in der Konstitution des Zeichens ist dessen Bestimmtheit bereits impliziert, insofern es durch die drei Aspekte von difforance, Spur und Wiederholung gekenn177 178 179 180 181 182 183 184
Vgl. ebd., 104 – 105. Vgl. ebd., 105. Vgl. ebd., 106. Vgl. ebd., 107. Ebd., 108. Ebd. Vgl. ebd., 107. Vgl. ebd., 108. Wie Bertram betont, geht Derridas Kritik an Saussure über diese Feststellung hinaus, da er gleichzeitig auch aufzeigt, dass der Begriff des Signifikats letztlich in seiner Unterschiedenheit vom Begriff des Signifikanten überhaupt nicht verständlich gemacht werden kann. Vgl. ebd., 108 – 109.
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Der globale Religionsdiskurs und die Herstellung von ,Äquivalenten‘
zeichnet ist. Bertram fasst Derridas Vorstellung von Bedeutung daher wie folgt zusammen: Bedeutung ist demnach die spezifische Spurung des Zeichens, die spezifische Differentialität, deren Spur das Zeichen darstellt. Es bedarf keiner weiteren Instanzen, um die „Bedeutsamkeit“ der Zeichen zu rekonstruieren. Das Zeichen, Spur von Spuren, hat seinen Ort in einem System von Zeichen. Dieser Ort ist gleichsam eine Selbstverortung durch Differenzierung. Die Bestimmtheit des Ortes ist – genau wie in Saussures Theorie – die Erklärung dessen, was „Bedeutung des Zeichens“ besagt. Diese Bestimmtheit ist aber durch die Differenzierung, wie Derrida sie beschreibt, hinreichend begriffen. So erklärt die Beschreibung der Konstitution von Zeichen alle Aspekte des Zeichengeschehens. Sie entschlüsselt nicht allein die Materialität des Zeichens, sondern zugleich mit dieser seine Intelligibilität. Die differentielle Konstitution des Zeichens erweist sich als eine Basis, die das Funktionieren des Zeichens umfassend verständlich macht. Es bedarf folglich nicht des Signifikat-Begriffs, um die Bedeutung sprachlicher Zeichen nachzubuchstabieren.185
Die hier skizzierten philosophischen Überlegungen zur Konstitution von Bedeutungsgeschehen werden im Folgenden mit der Frage nach dem globalen Religionsdiskurs verbunden. Auch wenn die direkt an Derrida anschließende Richtung diskurstheoretischer Überlegungen in der vorliegenden Arbeit nicht im Mittelpunkt steht,186 lassen sich die relevanten Zusammenhänge dennoch unter Rückgriff auf diese erläutern. So kann Martin Nonhoff im Kontext der Diskurstheorie von Laclau/Mouffe wie folgt formulieren: [E]ntscheidend für das […] Konzept der Diskursivität ist nun die Erkenntnis, dass Zeichen und Objekte […] erst dann in spezifischer Weise Sinn und Bedeutung [gewinnen, A.H.], wenn sie zueinander in Beziehung gesetzt […] werden. […] Es ist diese Form der Generierung von Sinn und Bedeutung, […] die den Kern des […] Diskursbegriffs ausmacht. Diskurs läßt sich dementsprechend begreifen als eine komplexe gesellschaftliche Praxis fortlaufender Artikulation, in deren Verlauf Sinn und Bedeutung generiert werden, indem einzelne Elemente als differente und damit diskursive Elemente miteinander in bestimmter Weise in Beziehung gesetzt und angeordnet werden.187
Wenn Bedeutung auf diese Weise also über Unterscheidungsrelationen verstanden werden kann und somit – im Anschluss an Derrida und über die Saussuresche Konzeption hinausgehend – als Bedeutung, die in historischen Prozessen der Spurung entsteht, und in dieser Form ihrer Theoretisierung auch nicht den Bezug auf ein vorgängiges Signifikat voraussetzt, dann ließe 185 Ebd., 108. 186 Deren wichtigste Vertreter sind sicherlich Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. Siehe Laclau/ Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie. Als exzellente Einführung in diese Variante der Diskurstheorie und deren Zusammenhang mit den hier diskutierten sprachphilosophischen Überlegungen siehe die theoretischen Teile in Nonhoff, Politischer Diskurs und Hegemonie. 187 Ebd., 14.
,Übersetzung‘ und Frage nach dem Bedeutungsgeschehen
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sich hier für eine Bestimmung des globalen Religionsdiskurses über die in der vorliegenden Arbeit vorgeschlagenen Unterscheidungen der Religion anschließen. Mit diesem Versuch ist zunächst nicht angezielt, die Komplexität des Derridaschen Modells vollständig für eine Reformulierung der bisherigen Überlegungen zu nutzen, auch wenn sich hier durchaus weiterführende Perspektiven ergeben. Gleichzeitig ist dieser Verweis auf ein mögliches Verständnis der Unterscheidungen der Religion auch nicht der Versuch, eine bestimmte und spezifische Bedeutung der Verwendung von ,Religion‘ in einer spezifischen historischen Situation hinreichend rekonstruieren zu können. Vielmehr zielt die Rede von den Unterscheidungen der Religion in dem hier vorgeschlagenen diskurstheoretischen Verständnis auf eine Ebene, die von Foucault mit dem Begriff der „Formationsregeln“ bezeichnet wird und die Grundlagen für die Formation dieser spezifischen Bedeutungen überhaupt erst legt, und gleichzeitig dafür sorgt, dass all diese unterschiedlichen Bedeutungen weiterhin als Teil des globalen Religionsdiskurses aufgefasst werden können. Deren ,Bedeutungsäquivalenz‘ – so der Vorschlag – liegt somit nicht darin, dass sie auf ein gleiches Signifikat verweisen, oder darin, dass sie in exakt den gleichen Differenzrelationen stehen. Vielmehr verweist die Rede von den Unterscheidungen der Religion auf eine Ebene, welche diese Differenzierungen vorkonturiert, und als ,historisches Apriori‘188 die Erzeugung von Bedeutung erst möglich macht, indem bestimmte Spurungen bereits vorgeprägt worden sind, die dann auch über unterschiedliche Sprachen hinweg aktualisiert werden können. Gleichzeitig erzeugt die hier soeben verwendete Begrifflichkeit den Eindruck, dass die Unterscheidungen der Religion in diesem Sinne als der konkreten historischen Zeichenpraxis vorausgängig verstanden werden sollten. In diesem Sinne wäre die vorliegende Argumentation jedoch falsch verstanden, wie sich sowohl mit dem Verweis auf Derridas Begriff der Spur – wie oben dargestellt –, als auch mit dem Verweis auf Foucaults Verständnis der Formationsregeln begründen ließe. Diese sind zwar im Bezug auf die Aussagen des Diskurses einerseits als „Bedingung ihrer Existenz“189 zu verstehen, andererseits beschreibt Foucault damit aber „auf einer in bestimmter Weise vorbegrifflichen Ebene das Feld, in dem die Begriffe nebeneinander bestehen können, und die Regeln, denen dieses Feld unterworfen ist.“190 Ihre Beschreibung stellt daher den Versuch dar, die im Diskurs erscheinenden Begriffe weder als im „Horizont der Idealität“ noch im „empirischen Gang der Ideen“ verankert zu verstehen.191 Dies gilt ebenso für die anderen der von
188 189 190 191
Vgl. Foucault, Archäologie des Wissens, 184. Ebd., 43. Ebd., 89. Ebd., 93.
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Der globale Religionsdiskurs und die Herstellung von ,Äquivalenten‘
Foucault beschriebenen Elemente, die innerhalb einer diskursiven Formation untersucht werden können: Ebenso wie man die Formation der Gegenstände weder auf die Wörter noch auf die Sachen, die der Äußerungen weder auf die reine Form der Erkenntnis noch auf das psychologische Subjekt, die der Begriffe weder auf die Struktur der Idealität noch auf die Abfolge der Ideen beziehen durfte, darf man die Formation der theoretischen Auswahl [die „Strategien“, A.H.] nicht auf ein fundamentales Vorhaben, noch auf das sekundäre Spiel der Meinungen beziehen.192
Es ist in diesem Sinne, dass der oben bereits genannte Foucaultsche Begriff des ,historischen Aprioris‘193 verstanden werden sollte. Diese Beschreibung, die Foucault für die „Positivität“ eines Diskurses anführt, soll meiner Ansicht nach aussagen, dass sich mit dem Diskurs und den ihn bestimmenden und als eine diskursive Formation in ihrer Einheit erst ermöglichenden Formationsregeln eben keine hinreichenden Beschreibungen der konkret erscheinenden diskursiven Elemente formulieren lassen, die deren Entstehung gleichsam ,naturgesetzlich‘ aufzeigen.194 Vielmehr verweist der Begriff des historischen Apriori in seiner Unterscheidung zum Kantschen Verständnis des ,formalen Aprioris‘ darauf, dass darunter eben keine „Bedingung der Möglichkeit, sondern ein Gesetz der Koexistenz“ verstanden werden muss.195 In diesem Sinne kann Foucault dann die Formation von „Aussagen“196 wie folgt beschreiben: Eine Aussage hat vor sich (und auf gewisse Weise als tÞte-z-tÞte) kein Korrelat – oder das Fehlen eines Korrelats, wie eine Proposition einen Referenten hat (oder nicht hat), wie ein Eigenname ein Individuum (oder niemand) bezeichnet. Sie ist vielmehr mit einem „Referential“ verbunden, das nicht aus „Dingen“, „Fakten“, „Realitäten“, oder 192 Ebd., 103. Kursivsetzung entfernt. 193 Vgl. ebd., 183 – 190. 194 Vgl. auch folgende Formulierung Foucaults: „man darf wirklich nicht vergessen, daß eine Formationsregel weder die Determination eines Gegenstandes, noch die Charakterisierung eines Äußerungstyps, noch die Form oder der Inhalt eines Begriffs, sondern das Prinzip ihrer Vielfältigkeit und ihrer Streuung ist“ (ebd., 247). 195 Ebd., 170. Siehe dazu auch Eberling, Knut, Der Thron des Transzendentalen oder Das historische Apriori. Transzendierung des Historischen oder Historisierung des Transzendentalen, in: C. Pornschlegel/M. Stingelin (Hg.), Nietzsche und Frankreich, Berlin 2009, 305 – 322. Dieser schreibt: „Foucaults historisches Apriori legt den Schwerpunkt auf die Historisierung des Transzendentalen und nicht auf die Transzendierung der Geschichte. Es ist ein Apriori gegen die Formulierung aller Apriori, ein Unternehmen zur Abschaffung aller Apriori – ein trojanisches Pferd, das mit seiner radikalisierten Historisierung jede apriorische Vereinheitlichung von innen ausräuchert“ (ebd., 310). 196 Dieser Foucaultsche Begriff, der gewissermaßen das ,Letztelement‘ des Diskurses beschreibt, steht in der vorliegenden Arbeit nicht im Mittelpunkt und soll hier daher nicht ausführlich behandelt werden. Hier wurde zunächst allgemeiner – im Anschluss an Nonhoff – von „diskursiven Elementen“ gesprochen. Siehe zur „Aussage“ vor allem Foucault, Archäologie des Wissens, 113 – 182.
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„Wesen“ konstitutiert wird, sondern von Möglichkeitsgesetzen, von Existenzregeln für die Gegenstände, die darin genannt, bezeichnet oder beschrieben werden, für die Relationen, die darin bekräftigt oder verneint werden. Das Referential der Aussage bildet den Ort, die Bedingung, das Feld des Auftauchens, die Differenzierungsinstanz der Individuen oder der Gegenstände, der Zustände der Dinge und der Relationen, die durch die Aussage selbst ins Spiel gebracht werden; es definiert die Möglichkeiten des Auftauchens und der Abgrenzung dessen, was dem Satz seinen Sinn, der Präposition ihren Wahrheitswert gibt.197
Im Anschluss an diese Überlegungen kann die entscheidende Frage erneut wie folgt formuliert werden: Wie lässt sich die Einheit des Religionsdiskurses denken, wenn diese nicht auf ein hinter dem Diskurs liegendes ,Phänomen Religion‘ oder auf ein positiv zu bestimmendes, einheitliches ,Religionsverständnis‘ zurückgeführt werden soll, und dennoch der Religionsdiskurs gleichzeitig als ein tendenziell globaler Diskurs bestimmt werden soll, der sich in seiner Extension nicht auf eine bestimmte Sprache oder auf ,den Westen‘ reduzieren lässt? Aus Foucaultscher Perspektive verweist diese Frage nach der Einheit eines Diskurses bzw. einer diskursiven Formation auf die zu identifizierenden Formationsregeln. Im Hinblick auf die im Diskurs erscheinenden Begriffe muss folglich auch die Einheit der Begriffe über unterschiedliche Sprachen hinweg unter Bezug auf diese Formationsregeln formuliert werden, ohne davon auszugehen, dass sich damit der Religionsdiskurs erschöpfend beschreiben lässt, oder die spezifische Verwendung von ,Religion‘ in einem konkreten historischen Zusammenhang hinreichend rekonstruierbar ist. Eines der zentralen Probleme in der Frage nach der ,Bedeutung‘ von Begriffen ist in diesem Zusammenhang, wie diese als eine ,einheitliche‘ gedacht werden kann, wenn der Religionsdiskurs nicht nur auf eine Sprache und besonders nicht nur auf westliche Sprachen beschränkt ist, und somit nicht auf eine Bedeutungskontinuität durch die Kontinuität des lateinischen Lexems religio verwiesen werden kann. Die damit implizierte Problematik der Übersetzung wurde in Anknüpfung an Lydia Liu so reformuliert, dass an die Stelle der Frage nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Übersetzung und nach der Identifikation bereits vorzufindender ,Äquivalente‘ ein Verständnis von Übersetzung als einer immer schon stattfindenden pragmatischen und historischen Praxis tritt, in der von einer Herstellung hypothetischer Äquivalenzen auszugehen ist. Auch die Vorstellung einer in diesem Sinne hypothetischen Äquivalenz von Begriffen sieht sich jedoch vor die Frage gestellt, wie letztlich die Kategorie der ,Bedeutung‘ gefasst werden kann. Dieses Problem führt zur Frage nach dem Bedeutungsgeschehen, nach der Produktion von Bedeutung zurück. Bereits die Linguistik Ferdinand de Saussures bestimmt die Bedeutung von 197 Ebd., 133.
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Der globale Religionsdiskurs und die Herstellung von ,Äquivalenten‘
Begriffen (oder vielmehr : von Zeichen allgemein) als Ergebnis eines Differenzierungsprozesses. Zeichen erhalten ihre Bedeutung nur in ihrer Differenz zu anderen Zeichen. Saussure geht in seiner Konzeption dabei von der Unterscheidung von Zeichen (Signifikant) und Bezeichnetem (Signifikat) aus, bestimmt allerdings die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem bereits als kontingent. Die Derridasche Kritik an der Vorstellung eines „transzendentalen Signifikats“ hat versucht, diese Unterscheidung zu problematisieren. Seine Radikalisierung der Frage nach dem Bedeutungsgeschehen „erweitert das Feld und das Spiel des Bezeichnens ins Unendliche.“198 Wenn aber die Bedeutung eines Zeichens nicht als durch eine Beziehung zu einem Signifikat determiniert beschrieben werden kann, und sich im unendlichen Spiel des Bezeichnens die Unmöglichkeit einer Fixierung von Bedeutung erweist, stellt sich die Frage danach, wie ,Bedeutung‘ überhaupt beschrieben werden kann. Derridas Antwort auf diese Frage wurde hier mit Verweis auf die Begriffe der difforance, Spur und Wiederholung kurz referiert. Diese Frage nach der Konstitution von Bedeutung stellt sich laut Derrida letztlich bereits im Rahmen einer einzigen Sprache, da bereits hier nicht von einer Isoliertheit der Sprache, sondern von einer „sprachplurale[n] Textur“ ausgegangen werden muss.199 Besonders jedoch im Rahmen einer Übersetzung wäre zu fragen, wie man vor dem Hintergrund einer solchen Kritik am transzendentalen Signifikat die Kategorie der ,Bedeutung‘ noch fassen kann. Dies gilt besonders dann, wenn es um eine ,Äquivalenz‘ zwischen komplexen Begriffen geht – denn diese verweist zunächst auf eine ,Bedeutungsäquivalenz‘. Diese Frage stellt sich auch dann, wenn diese Äquivalenz nun im oben genannten, an Liu anschließenden Verständnis, als eine in historischen Situationen hergestellte, hypothetische Äquivalenz verstanden werden soll. Im Rückgriff auf die strukturalistische Konzeption von Bedeutung, die diese als Differenzrelation zwischen Zeichen beschreibt, sowie in Anknüpfung an deren Radikalisierung in Derridas Modell, ließe sich nun sagen: Bedeutung kann verstanden werden als die temporäre und historische Fixierung von Differenzen zwischen Zeichen im Kontext ihrer Spurung und Wiederholung. Derridas Verständnis des Bedeutungsgeschehens dynamisiert die strukturalistische Vorstellung und verweist darauf, dass Bedeutung sich durch das Spiel der Zeichen erst ergibt und gleichzeitig nicht auf ein Signifikat verweist, das diesem Spiel entzogen wäre. Auf diese Weise kann eine bestimmte Bedeutung als eine temporäre Fixierung von Differenzrelationen verstanden werden. Auch eine hypothetische Äquivalenz im Sinne Lius ist dann nur verständlich als eine hypothetische Äquivalenz zwischen Konfigurationen von Differenzen. Eine Äquivalenz in der Bedeutung von Begriffen zwischen zwei Sprachen ergibt sich folglich allein daraus, dass die Zeichen in temporär fixierte und in 198 Derrida, Die Struktur, 117. 199 Siehe hierzu Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion, 137 – 143 und Derrida, Babylonische Türme, 128 – 129.
Zusammenfassung
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zumindest bestimmter Hinsicht vergleichbare Differenzkonfigurationen eingebunden sind, bzw. dass eine solche Äquivalenz von Differenzkonfigurationen hypothetisch hergestellt wird. Aus all dem ergibt sich, dass eine Einheit von Begriffen eines Diskurses nur durch die mit diesen Begriffen implizierten Unterscheidungen bestimmt werden kann. Ihre ,Bedeutung‘, ihr ,Inhalt‘, dru¨ ckt sich in ihren Differenzrelationen zu anderen Zeichen aus. Wenn also eine Einheit zwischen dem ,Reden über Religion‘ zwischen zwei Sprachen festgestellt werden soll, so kann diese Einheit nur darin bestehen, dass ,Religion‘ bzw. der Begriff, der in den jeweiligen Sprachen für ,Religion‘ steht, in hypothetisch äquivalente Konfigurationen von Differenzrelationen eingebunden ist. Sollte der Religionsdiskurs als globaler Diskurs eine Einheit über verschiedene Sprachen hinweg aufweisen, dann kann diese nicht aus einem einheitlichen und ,positiv‘ zu bestimmenden Verständnis von ,Religion‘ erwachsen, und auch nicht aus einem dieser Einheitlichkeit letztlich doch zugrundeliegenden Signifikat ,Religion‘, auf das die ,Religionsbegriffe‘ der verschiedenen Sprachen verweisen, sondern allein aus einer ,negativ‘ zu bestimmenden äquivalenten Konfiguration von Differenzen.
5.8 Zusammenfassung: Die Unterscheidungen der Religion und die Einheit des globalen Religionsdiskurses In Anknüpfung an die bisherigen Überlegungen ließe sich somit die These formulieren, dass die Einheitlichkeit des globalen Religionsdiskurses über die mit ihm verbundene Konfiguration von Unterscheidungen verstanden werden kann. Eine solche Einheit in dem konkret aufzufindenden, historisch in ganz unterschiedlichen Situationen jeweils sehr unterschiedlich spezifizierten und konkreten Einsatz dieser Unterscheidungen zu finden, scheint allerdings nicht überzeugend. Vielleicht könnten jedoch die mit ,Religion‘ einhergehenden Unterscheidungen als Unterscheidungen als Grundlage für eine solche Einheit – im Sinne der Foucaultschen Formationsregeln – beschrieben werden. Es ist der Versuch, diese den globalen Religionsdiskurs in seiner Einheit charakterisierenden Differenzen zu beschreiben – so lässt sich nun formulieren –, der hier in der Rede von den ,Unterscheidungen der Religion‘ verfolgt wurde. Als Ergebnis dieser Überlegungen kann somit die folgende These festgehalten werden: Die Einheit des Religionsdiskurses – seine globale Regelmäßigkeit – lässt sich bestimmen als die Unterscheidungen der Religion. Konkret wurden heuristisch die Stichworte Pluralität und Differenzierung vorgeschlagen, die auf zumindest zwei solche Unterscheidungen verweisen. Der globale Religionsdiskurs könnte somit durch zwei charakteristische Differenzlinien bestimmt werden, welche diejenige Einheit von ,Religion‘ er-
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Der globale Religionsdiskurs und die Herstellung von ,Äquivalenten‘
möglichen, die in der Regelmäßigkeit der Streuung der im Religionsdiskurs zu findenden Aussagen erkennbar ist: Eine spezifische ,Religion‘ ist daher zum einen als eine ,Religion‘ bestimmt durch eine Pluralität von ,Religionen‘, d. h. durch eine Unterscheidung zwischen unterschiedlichen ,Religionen‘, welche sich als einzelne ,Religionen‘ gerade dadurch bestimmen, dass sie von anderen ,Religionen‘ unterschieden werden. ,Religion‘ als Religion ist zum anderen nur insoweit bestimmt, als sie sich von ,Nicht-Religion‘ unterscheiden lässt. Diese Unterscheidung kann etwa die Form einer Unterscheidung von ,Religion‘ von anderen Bereichen annehmen, wie zum Beispiel von Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Kunst etc. Nur in einer negativen Abgrenzung von diesen konstituiert sich somit ,Religion‘. ,Religion‘ wäre somit kein ,einheitliches westliches Konzept‘, sondern ein Name für eine unaufhörliche Kommunikationskette. Es interessiert hier folglich nicht eine Bestimmung dessen, was ,Religion‘ tatsächlich sei, sondern die Frage nach Regelmäßigkeiten und Charakteristika des mit ,Religion‘ verbundenen Diskurses, die darauf schließen lassen, wie Ein- und Ausschließungsprozesse im Kontext von ,Religion‘ ablaufen und operieren.200 Die hier vorgetragenen diskurstheoretischen Überlegungen müssen notwendigerweise skizzenhaft bleiben. Sie stellen einen ersten Versuch dar, die Einheit des Religionsdiskurses als eines globalen Diskurses zu denken, wenn diese Einheit weder in einem ,Phänomen‘ liegen soll, noch in der naiven Vorstellung dass ein Lexem ,Religion‘ oder ein angebbares einheitliches Verständnis von ,Religion‘ über eine Vielzahl von Sprachen hinweg diese Einheit garantiert. Die hier gegebene Antwort, dass es die Unterscheidungen der Religion sind, welche diese Einheit konstituieren, ist zwar theoretisch nicht ausreichend ausgearbeitet, und setzt sich in ihrem Rückgriff auf eine Vielzahl unterschiedlicher Theoriekontexte gleichzeitig dem Vorwurf des Eklektizismus aus. Gleichzeitig soll sie aber zumindest eine heuristische Leitlinie andeuten, die im folgenden Kapitel dazu dienen kann, anhand von Analysen zu buddhistischen Kontexten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts einen Beitrag zur Rekonstruktion der Formation des so verstandenen globalen Religionsdiskurses zu leisten.201 200 Siehe als eine vergleichbare Fassung eines solchen Vorschlags, die jedoch eher systemtheoretisch als diskurstheoretisch argumentiert, auch Beyer, Peter, What Counts As Religion in Global Society? From Practice to Theory, in: ders. (Hg.), Religion im Prozeß der Globalisierung, Würzburg 2001, 125 – 150. 201 Siehe aber die hervorragende und hier nicht ausführlich berücksichtigte Arbeit von Nonhoff, Politischer Diskurs und Hegemonie. Das dort skizzierte Bild einer Hegemonieanalyse, die sich grundlegend auf die Diskurstheorie von Laclau/Mouffe stützt, führt die hier und im Folgenden nur angedeuteten diskurstheoretischen Überlegungen detailliert aus. Ich würde Nonhoff daher auch in seinem Argumentationsgang fast vollständig zustimmen, würde im Hinblick auf meinen Fokus auf Unterscheidungen anstelle (oder besser : in Erweiterung und etwas anderer Perspektivierung) seiner „Typologie diskursiver Relationen“ (S. 89) aber vorschlagen, die Stellung von ,Religion‘ im zugehörigen „Netz diskursiver Elemente“ (S. 79) – das Nonhoff für
Zusammenfassung
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In einem erneuten Rückgriff auf den zum Ende des Abschnitts 4.1 bereits skizzierten diskurstheoretischen Ansatz Michael Bergunders, der in der gegenwärtigen Debatte den wichtigsten Beitrag zu einer diskurstheoretischen Grundlegung der Religionswissenschaft darstellt, lassen sich die in diesem Kapitel gemachten Vorschläge daher noch einmal perspektivieren. Bergunder schlägt in Anknüpfung an die Laclausche Diskurstheorie vor, die ,Begriffsgeschichte‘ von ,Religion‘ durch eine „Namensgeschichte“ zu ersetzen, in der „Religion“ als ein ,leerer Signifikant‘ verstanden wird, über den eine Schließung des Diskurses und die historische Fixierung von Bedeutung ermöglicht wird.202 Diese auf der Grundlage einer poststrukturalistischen Sprachphilosophie entwickelte Diskurstheorie ermöglicht es, die Zirkularität der klassischen Begriffsgeschichte zu überwinden, die von der Trias von Wort, Begriff und Sache ausgeht und zur Bestimmung der Bedeutung der Begriffe letztlich doch auf eine analytische Definition der „Sache“ zurückgreifen muss, die mit dem entsprechenden „Begriff“ bezeichnet wird.203 Als Alternative dient daher eine nicht-essentialistische Ontologie, die nicht von einem „transzendentalen Signifikat“ ausgeht und statt dessen „jede Bedeutungsfixierung als Teil konfliktiver gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse versteht.“204 Bedeutungsproduktion wird aufgefasst als kontingente und veränderliche Unterbrechung des unendlichen Spiels des Bezeichnens durch ,leere Signifikanten‘, welche eine Schließung eines Diskurses und somit die Artikulation von Bedeutung ermöglichen.205 Auch wenn die theoretischen Grundlagen von Bergunders Ansatz sich im Detail von der in der vorliegenden Arbeit gewählten Perspektive unterscheiden, lassen sich gemeinsame Interessen ausmachen, die besonders drei Aspekte betreffen: Unterscheidungen der Religion: Im Anschluss an Laclau versteht Bergunder den ,leeren Signifikanten‘ „Religion“ nicht als einen „Begriff“, sondern als einen „Namen“, dessen Bedeutung sich nicht durch gemeinsame deskriptive Merkmale eines Referenten angeben lässt, auf den er verweist. Vielmehr ergibt sich diese allein aus der mit seiner Rolle als ,leerer Signifikant‘ zusammenhängenden antagonistischen Grenzziehung. Bergunder folgert aus Laclaus Ansatz darüber hinaus, dass es „theoretisch immer um zwei ,Namen‘ geht“,206 „einer auf jeder Seite der antagonistischen Grenze“.207 Eine Beschreibung des
202 203 204 205 206 207
die „soziale Marktwirtschaft“ zu rekonstruieren versucht – als eine durch bestimmte Unterscheidungen charakterisierte Konfiguration von Relationen zu bestimmen. Bergunder, Was ist Religion?, 37 – 41. Ebd., 26 – 27. Ebd., 34. Ebd., 29 – 35. Ebd., 37. Laclau, Ernesto, Ideologie und Post-Marxismus, in: M. Nonhoff (Hg.), Diskurs – radikale Demokratie – Hegemonie, Bielefeld 2007, 25 – 39, hier : 31, zitiert nach Bergunder, Was ist Religion?, 37.
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Der globale Religionsdiskurs und die Herstellung von ,Äquivalenten‘
globalen Religionsdiskurses kann also, wie Bergunder anhand des Verhältnisses „des Religiösen“ und „des Säkularen“ deutlich macht, nicht als die Rekonstruktion der Geschichte eines Begriffs und dessen Bedeutungswandels aufgefasst werden, sondern muss als eine Beschreibung von frei flottierenden Signifikanten konzipiert werden, die ihre Bedeutung jeweils durch historische antagonistische Verhältnisse und nicht etwa durch den Verweis auf eine jeweils positiv beschreibbare ,Sache‘ erhalten. Dieses Überlegungen Bergunders ließen sich in einem weiteren Schritt, der in der vorliegenden Arbeit nicht weiter ausgeführt werden kann, mit dem hier präsentierten Vorschlag verknüpfen, die Einheit des globalen Religionsdiskurses eben nicht über eine begrifflich verstandene Einheitlichkeit in den globalen Religionsverständnissen, sondern vielmehr über antagonistische Unterscheidungsrelationen – die Unterscheidungen der Religion – zu bestimmen. Die Sedimentierung der Namensgebung: In Anknüpfung an Judith Butlers Konzept der „Performativität“ entwirft Bergunder die Vorstellung einer Fixierung des Namens, in welcher die Bedeutung des Namens „Religion“ in einem Prozess der ständigen zitatförmigen Wiederholung von Artikulationen sedimentiert wird.208 In ähnlicher Weise wurde in diesem Kapitel in Anknüpfung an Lydia H. Liu und Jacques Derrida vorgeschlagen, die Frage nach der Existenz von ,Äquivalenten‘ von ,Religion‘ im Kontext des globalen Religionsdiskurses durch eine historische Analyse der Herstellung von hypothetischen Äquivalenzen in einem Prozess der ,Spurung‘ der Unterscheidungen der Religion zu ersetzen. Dieses Konzept einer historischen Herstellung hypothetischer Äquivalenzen entspricht in dem hier vorgetragenen Ansatz der von Bergunder konzipierten Sedimentierung der Bedeutung eines Namens. Die hier mit der Frage nach der Einheit des globalen Religionsdiskurses verbundene Frage nach dessen Regelmäßigkeit – seinen Formationsregeln im Sinne Foucaults – ließe sich als eine Sedimentierung der von Bergunder genannten antagonistischen Unterscheidungen verstehen. Die Unterscheidungen der Religion erscheinen im Licht seines Ansatzes als historische, sedimentierte antagonistische Relationen des Namens „Religion“, die die Einheit des globalen Religionsdiskurses ausmachen. Religion als globaler Name: Ein zentrales Anliegen von Bergunders Rekonstruktion des zeitgenössischen Alltagsverständnisses von „Religion“ als historischem Gegenstand der Religionswissenschaft ist die Überwindung der Rede von einem ,europäisch-westlichen‘ Religionsbegriff zugunsten eines Verständnisses von „Religion“ als globalem Diskurs. Ähnlich wie die meisten anderen der bisher behandelten Autoren, äußert sich Bergunder allerdings nicht dazu, wie „Religion“ als globaler „Name“ konkret zu konzeptualisieren wäre. Er schreibt, „dass heute nicht nur in Europa, sondern auch überall in der außereuropäischen Welt und in allen nicht-europäischen Sprachen ein eta208 Bergunder, Was ist Religion?, 39 – 41.
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blierter Gebrauch von ,Religion‘ zu finden ist“,209 ohne diese Aussage theoretisch zu unterfüttern. Besonders die zentrale Frage, wie ein solcher „Name“ und der mit diesem verbundene Diskurs als ein über all diese Sprachen hinweg zu konzipierender beschrieben werden kann, bleibt unberücksichtigt. Es ist dieser Punkt, an dem in der vorliegenden Arbeit in Übereinstimmung mit diesem zentralen Anliegen von Bergunders Ansatz auf Lius Konzept der translingual practice zurückgegriffen wurde. Gerade im Licht dieser drei wichtigen Aspekte lassen sich meiner Ansicht nach trotz der durchaus vorhandenen Unterschiede in der theoretischen Grundlegung der vorliegenden Arbeit und des von Bergunder skizzierten Ansatzes kompatible Interessen ausmachen. Eine weitergehende Auseinandersetzung mit seinen Überlegungen, die hier allerdings nicht geleistet werden kann, scheint daher angebracht. Denn auch Bergunder ist an einer nichtessentialistischen Grundlegung einer Rekonstruktion des globalen Religionsdiskurses interessiert, welche ihren diskurstheoretischen Ausgangspunkt ernst nimmt. Die hier vertretene Perspektive unterscheidet sich, um darauf noch ein letztes Mal zurück zu kommen, daher auch deutlich von der Art und Weise, wie andere Autoren die Frage nach ,Äquivalenten‘ von ,Religion‘ zumeist verfolgen. Christoph Kleine etwa verweist auf seine starken Zweifel an der These, dass „Religion“ eine „europäische Erfindung“ sei. Träfe eine solche Behauptung zu, „wäre komparative Religionsforschung strenggenommen ebenso unmöglich wie interreligiöser Dialog“.210 Aus diskurstheoretischer Perspektive würden sich die hier vorliegenden Alternativen jedoch anders darstellen als von Kleine präsentiert, der eine Unterscheidung zwischen Religionstheorie und Diskurstheorie im Sinne der vorliegenden Arbeit an dieser Stelle gerade nicht trifft. Denn indem von ,Religion‘ letztlich ohne Berücksichtigung einer historischen Dimension als einem gegebenen Gegenstand ausgegangen wird, der dann entweder existiert oder eben nicht, erscheint eine diskurstheoretisch durchaus auch vertretbare Argumentation nicht mehr als möglich, die davon ausgehen würde, dass etwa die interreligiösen Begegnungen, von denen Kleine spricht, als Diskurs die ,Religionen‘ von denen er handelt, erst hervorbringen. In einer solchen Perspektive geht es allerdings nicht darum, diese dann als ,Konstruktionen‘ zu entlarven und ihnen ihren Realitätsgehalt abzusprechen. Vielmehr wären sie in diesem Verständnis gerade als diskursive Phänomene sehr wohl ,real‘ und hätten eine spezifische Machtposition in der Konstitution der globalen Wirklichkeit inne, ließen sich aber gleichzeitig auch im Hinblick auf ihre historischen Existenzbedingungen 209 Ebd., 50. 210 Arbeitskreis Religion als begriffliches Konzept, Ausgangsproblem: Ist „Religion eine europäische Erfindung“?, https://mahara.uni-leipzig.de/view/view.php?id=154 (archiviert unter http://www.webcitation.org/6SmSXmTxd). Ich gehe davon aus, dass dieser Text von Kleine stammt.
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Der globale Religionsdiskurs und die Herstellung von ,Äquivalenten‘
beschreiben. In diesem Sinne verweist ,Religion‘ auf die historisch-kontingente Formation eines Diskurses, der die Gegenstände, von denen er spricht, selbst hervorbringt. Und wollte man aus dieser Perspektive die Frage nach ,Äquivalenten‘ weiterverfolgen, könnte man etwa anhand des hier angezielten Versuchs der Charakterisierung des modernen Religionsdiskurses versuchen, ähnliche Diskurse – was letztlich nur hieße: ähnliche Konfigurationen von Unterscheidungen – in früheren außereuropäischen oder vormodernen europäischen Situationen auszumachen. Auch hierbei würde man dann aber nicht auf ,Religionen‘ im Sinne von ,Phänomenen‘ stoßen, sondern höchstens auf diskursive Gegenstände eines Diskurses, dessen Strukturierung der Regelmäßigkeit des modernen Religionsdiskurses zu ähneln scheint. Die hier aufgeworfenen Fragen und Überlegungen können im folgenden Kapitel in ihrer Komplexität nicht vollständig in die Darstellung der einzelnen Beispiele einbezogen werden. Für eine ausführliche Anwendung und die detaillierte Untersuchung spezifischer historischer Kontexte wäre für den Quellenzugang unter anderem die Kenntnis der jeweiligen Sprache erforderlich. Die im Folgenden präsentierten Überlegungen bleiben daher notwendigerweise unbefriedigend und können die Komplexität des Vorschlags nicht einholen. Dennoch können sie hoffentlich andeuten, in welche Richtung weitere Überlegungen zielen müssten, um aus diskurstheoretischer Perspektive diesen Fragen nachzugehen.
6. Die Formation des ,Buddhismus‘ im globalen Religionsdiskurs Die akademische Debatte um die koloniale Konstruktion von ,Religionen‘ hat sich, wie im vorherigen Kapitel beschrieben, vorrangig am Beispiel des ,Hinduismus‘ entwickelt, nicht zuletzt weil auch die Entstehung der postcolonial studies stark von einem Fokus auf das britische Kolonialreich und auf Indien geprägt war. Zum anderen war aber gerade im Fall des ,Hinduismus‘ die Einheit dieser ,Religion‘ immer schon umstritten, da sich die Vielzahl der unterschiedlichen unter diesem Begriff verhandelten Elemente auch aus der Perspektive westlicher Beobachter nur schwer systematisieren ließen.1 Nicht zuletzt aus diesem Grund ist es für eine Auseinandersetzung mit der These der ,kolonialen Konstruktion von Religionen‘ hilfreich, sich auch mit anderen Beispielen intensiver zu befassen. So scheint sich etwa im Fall des ,Buddhismus‘ die Situation auf den ersten Blick anders darzustellen.2 Schließlich – so die gängige Meinung – ist dieser in vielen ganz unterschiedlichen regionalen Kontexten seit vielen Jahrhunderten präsent und seit ca. 150 Jahren auch im Westen vertreten. Inwiefern könnte also die These vertreten werden, dass der ,Buddhismus‘ in dem bisher verhandelten Sinne eine moderne und koloniale Konstruktion sei, und was würde eine solche These implizieren? Zunächst lässt sich eine ,Einheit des Buddhismus‘ auf den ersten Blick einfacher feststellen als im Kontext des ,Hinduismus‘ und unter anderem auf die Institution des Mönchtums und damit auf eine bestimmte Gemeinschaft (den sangha) zurückführen. Zum anderen lassen sich mit der historischen Stifterfigur des Siddhartha Gautama sowie einem zumindest für Teile der Tradition als verbindlich angesehenen Textkorpus (wie etwa dem Pali-Kanon) Faktoren benennen, an denen eine Einheit ,des Buddhismus‘ festgemacht werden könnte.3 All dies scheint dem ,Buddhismus‘ eine klarere Einheit zu verleihen und erweckt den Eindruck, dass es für die Bezeichnung ,der Buddhismus‘ in Asien einen Referenten geben muss.4 1 Vgl. auch Keppens, Marianne/Bloch, Esther, Introduction. Rethinking Religion in India, in: dies. et al. (Hg.), Rethinking Religion in India. The Colonial Construction of Hinduism, London 2010, 1 – 21, hier: 3. 2 Vgl. King, Richard, Orientalism and Religion. Postcolonial Theory, India and ,The Mystic East‘, London 1999, 143 – 144. 3 Vgl. ebd. 4 Vgl. Lopez, Donald S., Introduction, in: ders. (Hg.), Curators of the Buddha. The Study of Buddhism under Colonialism, Chicago 1995, 1 – 29, hier : 7.
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Die Formation des ,Buddhismus‘ im globalen Religionsdiskurs
Andererseits lässt sich die Entstehung des Begriffes ,Buddhismus‘ im europäischen Kontext auf die selbe Zeit zurückführen wie auch die Entstehung des Begriffs ,Hinduismus‘.5 Allerdings sagt die relativ späte Entwicklung eines Begriffs für ,Buddhismus‘ in westlichen Sprachen noch nichts über dessen Einheit und entsprechende Begrifflichkeiten im asiatischen Kontext. Dennoch wurde innerhalb der hier behandelten wissenschaftlichen Debatten darauf aufmerksam gemacht, dass ein korrespondierender Begriff für ,Buddhismus‘ sich auch in den klassischen asiatischen Sprachen – so die These verschiedener Autoren – nur mit Schwierigkeiten ausmachen lässt. Richard King hält daher fest: „It is not clear that the Tibetans, the Sinhalese, or the Chinese conceived of themselves as ,Buddhists‘ before they were so labelled by Westerners.“6 Im Fall der Debatte um die moderne Konstruktion des ,Buddhismus‘ scheinen wir es somit gleichzeitig mit einer nicht zu leugnenden institutionellen Kontinuität und einer klaren Diskontinuität von Konzept und Vorstellung ,des Buddhismus‘ zu tun zu haben. Nicht zuletzt aus diesem Grund hat die mit dieser Problematik verbundene These einer modernen ,Erfindung des Buddhismus‘ energischen Widerspruch hervorgerufen. Aus der in der vorliegenden Arbeit vorgeschlagenen diskurstheoretischen Perspektive sind jedoch die bisherige Debatten nicht weiterführend, da sich diese erneut in den in der Behandlung der Frage nach ,Äquivalenten‘ von ,Religion‘ bereits mehrfach angesprochenen Problemlagen verfangen. An die Stelle dieser Debatten tritt im Rahmen einer diskurstheoretischen Perspektive daher die Frage, auf welche Weise sich ,der Buddhismus‘ in einer bestimmten Zeit als Gegenstand eines Diskurses hat formieren können.7 Wie zuvor erläutert, ist die Ebene, welche eine diskurstheoretische Betrachtung anzielt, nicht diejenige einer ,Wirklichkeit hinter dem Diskurs‘ (eine „Geschichte des Referenten“8), sondern der Versuch einer Analyse dessen, was auf der Oberfläche des Diskurses erscheint. So gehen auch die meisten der in diesem Kontext bisher präsentierten Fragestellungen und Einwände an dem hier verfolgten Interesse vorbei (was nicht heißt, dass es nicht legitim wäre, diese anderes gelagerten Fragestellungen zu verfolgen). 5 Im englischsprachigen Kontext tauchen „Buddhism“ und die Gruppenbezeichnung „Boodhists“ zum ersten Mal in den 1820er Jahren auf. Vgl. King, Orientalism and Religion, 243 (Fußnote 3); Almond, Philip C., The British Discovery of Buddhism, Cambridge 1988, 10, 14. 6 King, Orientalism and Religion, 144. Für den Begriff bauddha, einen möglichen Kandidaten für eine Selbstbezeichnung siehe etwa Cohen, Richard S., Beyond Enlightenment. Buddhism, Religion, Modernity, London 2006, 33. Dieser stellt fest: „The bauddha did not call themselves this in India, though they sometimes did use the word adjectivally (e. g. as a possesive, the buddha’s).“ 7 Dies impliziert auch, dass – wie wir im Folgenden sehen werden – die Frage danach, ob der im modernen Religionsdiskurs auftauchende ,Buddhismus‘ wirklich als eine völlig neue Erfindung zu verstehen sei, letztlich überhaupt nicht im Interesse der hier verfolgten Perspektive steht. Denn dass er sich auf irgendeine Weise innerhalb des modernen Religionsdiskurs formiert hat scheint unstrittig, und die interessante Frage ist dann eben: Wie? 8 Foucault, Michel, Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1973, 71.
Die Formation des ,Buddhismus‘ im globalen Religionsdiskurs
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Eine Rekonstruktion des ,Buddhismusdiskurses‘ stellt in einer so allgemein gefassten Form eine im Kontext eines einzelnen Forschungsprojekts und besonders im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht zu bewältigende Herausforderung dar. Aus diesem Grund wird hier in Bezugnahme auf die vorhandene Sekundärliteratur und anhand von drei beispielhaften Betrachtungen und Überlegungen zu asiatischen buddhistischen Kontexten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts eine Annäherung an diese Fragen versucht, welche die Konturen alternativer Fragestellungen aufscheinen lässt. Zunächst werden in den ersten Abschnitten des Kapitels mit der zweifachen ,Entdeckung‘ des ,Buddhismus‘ überblickshaft diejenigen Kontexte in den Blick genommen, die auch in den dann folgenden Beispielbetrachtungen zu asiatischen Kontexten analysiert werden. Sowohl anhand der europäischen Vorstellungen des ,Buddhismus‘ (6.1), als auch im Rahmen seiner ,Entdeckung‘ im buddhistischen Modernismus (6.2) wird versucht, die bisherigen Überlegungen auf einen spezifischen historischen Kontext zu übertragen, und somit alternative Fragepotentiale eines diskurstheoretischen Ansatzes auszuloten. Die Ergebnisse dieser Rekonstruktion werden kurz zusammengefasst (6.3). Im Anschluss daran fokussieren die historischen Beispielbetrachtungen (6.4) des Kapitels auf buddhistische Kontexte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Sie befassen sich zum einen mit der Frage nach Begriffen, die als Äquivalente und Übersetzungen für ,Religion‘ und ,Buddhismus‘ seit dem 19. und frühen 20. Jahrhundert (primär in Ceylon und Burma) zirkulieren (6.4.1). Am Beispiel Burmas wird zum anderen nach buddhistischen Subjekten gefragt und damit danach, wie aus diskurstheoretischer Perspektive der Frage nach dem Auftauchen von ,Buddhisten‘ im globalen Religionsdiskurs nachgegangen werden könnte (6.4.2). Am Beispiel eines konkreten Textes aus dem Siam des 19. Jahrhunderts wird anschließend die Frage gestellt, wie sich die mit dem globalen Religionsdiskurs verbundene Differenzierung von ,Religion‘ in diesem frühen Beispiel der Formierung des Buddhismus als ,Religion‘ und damit als Gegenstand des globalen Religionsdiskurses widerspiegelt. Im Zentrum steht hier ein Beispiel einer Vor- und Frühgeschichte der Unterscheidung von ,Religion‘ und ,Wissenschaft‘ in der Formation des ,Buddhismus‘ (6.4.3). Eine Zusammenfassung versucht die in den Beispielbetrachtungen angedeuteten Perspektiven zu bündeln und die in ihnen gegebenen Hinweise auf theoretische Problemlagen herauszustellen (6.5), denen dann im abschließenden Kapitel im Kontext der Frage nach den Herausforderungen globaler Theoriebildung nachgegangen werden soll.
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Die Formation des ,Buddhismus‘ im globalen Religionsdiskurs
6.1 Die europäische Entdeckung des ,Buddhismus‘ und der globale Religionsdiskurs Als zentrale Fragen erscheinen für diese Rekonstruktion des Buddhismusdiskurses somit die folgenden: Auf welche Weise, und im Verbund mit welchen Begriffen und welchen Subjektpositionen erscheint ,der Buddhismus‘ im 19. und frühen 20. Jahrhundert als ein Gegenstand des globalen Religionsdiskurses? Lässt sich im Auftauchen des ,Buddhismus‘ im globalen Religionsdiskurs eine Regelmäßigkeit erkennen, welche den bisher beschriebenen Charakteristika des modernen Religionsdiskurses entspricht? Aus diskurstheoretischer Sicht müssten diese auch am Beispiel des Gegenstandes ,Buddhismus‘ aufzufinden sein. Die Frage lautet somit nicht, ob und in welcher Weise es ,den Buddhismus‘ bereits vor dem 19. Jahrhundert gegeben oder nicht gegeben habe (die Frage nach dem ,Referenten‘), sondern vielmehr in welcher Weise ,der Buddhismus‘ im Verlauf des 19. Jahrhunderts als ein Gegenstand des modernen Religionsdiskurses erscheinen konnte. Es ist daher sinnvoll, sich anhand eines Einblicks in die frühe westliche Wahrnehmung und Erforschung des ,Buddhismus‘ sowie anhand des Auftauchens des ,Buddhismus‘ in asiatischen Kontexten im Rahmen des ,buddhistischen Modernismus‘ zunächst einmal einen Überblick über diese Fragen zu verschaffen.9 Die europäisch-westliche Vorstellung einer ,Religion‘ des ,Buddhismus‘ ist – wie bereits erwähnt – ein relativ spätes Produkt der westlichen Konfrontation mit außereuropäischen Verhältnissen.10 Erst im frühen 19. Jahrhundert 9 Der Fokus liegt hier, besonders in der Rekonstruktion der Entwicklung des westlichen Buddhismusbildes primär auf dem englischsprachigen Diskurs. Dies hat nicht nur den Grund, dass dieser in der (mir sprachlich zugänglichen) Sekundärliteratur detailliert rekonstruiert ist. Vielmehr sind die im Folgenden dann im Zentrum stehenden asiatischen Kontexte sehr stark durch einen englischen Einfluss und die englische Kolonialherrschaft geprägt. Die Verflechtung zwischen dem asiatischen und dem englischen Buddhismusdiskurs war daher von Beginn an sehr stark, auch wenn eine umfassendere Betrachtung sicherlich die Rolle französischer (wie auch deutschsprachiger) Debatten viel stärker in den Blick nehmen müsste. Siehe zur Buddhismusrezeption allgemein Mohn, Jürgen, Der Buddhismus im Mahlstrom des europäischen Religionsvergleichs. Religionswissenschaftliche Anmerkungen zur semantischen und normativen Konstruktion einer Fremdreligion, in: E.-M. Glasbrenner/C. Hackbarth-Johnson (Hg.), Einheit der Wirklichkeiten. Festschrift zum 60. Geburtstag von Prof. Dr. Michael von Brück, München 2009, 376 – 404. 10 Das für die Entstehung einer Vorstellung von ,Buddhismus‘ so zentrale intensive Studium ,buddhistischer‘ Texte begann letztlich erst mit der Übergabe einer Sammlung von SanskritManuskripten an Eug~ne Burnouf durch Brian Hodgson im Jahr 1837. Der ,Buddhismus‘ ist in diesem Sinne daher ein spätes Produkt der „Oriental Renaissance“. Siehe Schwab, Raymond, Oriental Renaissance. Europe’s Rediscovery of India & the East, 1680 – 1880, New York 1984. Eine starke Fokussierung auf Indien bestimmte vor allem das 18. und noch das frühe 19. Jahrhundert, bis hin zu Friedrich Schlegels berühmtem Ausspruch „Hier ist eigentlich die Quelle aller Sprachen, aller Gedanken und Gedichte des menschlichen Geistes; alles, alles
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entwickelte sich in Europa die Vorstellung, dass die vielfältigen in Süd-, Südost-, Zentral- und Ostasien zu beobachtenden Formen der Verehrung einer Gestalt, die Beobachtern unter Namen wie Sakmonia, Sagamoni Borcan, Buddou, Fe, Fo, Sommona Kodom, Mahamoonie, Gouton, Daybot oder Budso bekannt war,11 sich als unterschiedliche Ausprägungen einer gemeinsamen ,Religion‘ verstehen ließen.12 Dennoch hatten selbstverständlich auch vor dieser Zeit europäische Beobachter bereits verschiedenste Ausprägungen solcher Verehrungspraktiken beschrieben, ohne diese jedoch als gemeinsame Einheit zu verstehen. Im europäischen Bewusstsein firmierten statt dessen bis zum frühen 19. Jahrhundert die Berichte über das, was später unter dem Stichwort ,Buddhismus‘ bekannt werden sollte, als ein Sammelsurium verschiedenster Beobachtungen zu Kulten, Gebräuchen und Praktiken in asiatischen Ländern, die alle zur chaotischen Vielfältigkeit des ,Heidentums‘ gezählt wurden. Die lokalen Eigenheiten dieser einzelnen Phänomene waren dabei weniger wichtig als die gemeinsame Natur dieser ,Götzendienste‘.13 In diesem Sinne existierten somit selbstverständlich auch vor dem 19. Jahrhundert zahlreiche Berichte aus südostasiatischen oder ostasiatischen Ländern, die über Inhalte berichteten, die später dem ,Buddhismus‘ zugeordnet und als Teil oder Aspekt dieser ,Religion‘ verstanden wurden. Da viele dieser Berichte allerdings während eines Zeitraums verfasst wurden, in dem sich der moderne Religionsdiskurs mit den im vorherigen Kapitel beschriebenen Charakteristika erst herausbildete – so zumindest die hier vertretene These – konnte der Gegenstand ,Buddhismus‘ als ,Religion‘ im Diskurs noch nicht erscheinen. Gerade weil die vierfache Typologie des frühneuzeitlichen Religionsdiskurses erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufbrach und mit dem ,Buddhismus‘ dann im modernen Religionsdiskurs ein völlig neuer Gegenstand erschien, der nicht (wie etwa der ,Hinduismus‘) bereits auf eine hoch komplexe Genealogie zurückblicken konnte, lässt sich die Regelmäßigkeit der Formierung der Gegenstände des modernen Religionsdiskurses am Beispiel stammt aus Indien ohne Ausnahme (Schlegel an Tieck, zitiert nach Kade-Luthra, Veena, Sehnsucht nach Indien. Literarische Annäherungen von Goethe bis Günter Grass, München 3 2006, 20, Hervorhebung entfernt). Zur Mitte des 19. Jahrhunderts, als der ,Buddhismus‘ in den Fokus trat, war Indien als zentrales Imaginationsobjekt bereits wieder von Griechenland abgelöst worden. Indien und China galten nun als korrupte und kraftlose Nationen, was nicht zuletzt mit der Entwicklung hin zum Höhepunkt des Imperialismus und Kolonialismus zusammenhing. Vgl. Lopez, Introduction, 2. 11 Vgl. Freiberger, Oliver/Kleine, Christoph, Buddhismus. Handbuch und kritische Einführung, Göttingen 2011, 12. 12 Stephen Batchelor führt die Anfänge dieser Entstehung einer Vorstellung von ,Buddhismus‘ im 18. Jahrhundert auf das Zusammenspiel dreier Faktoren zurück: „the emergence of the rationalist Enlightenment, the decline of religious authority and the consolidation of colonialism“ (The Awakening of the West. The Encounter of Buddhism and Western Culture, Berkeley 1994, 231). Vgl. auch King, Orientalism and Religion, 143. 13 Vgl. Masuzawa, Tomoko, The Invention of World Religions, or, How European Universalism Was Preserved in the Language of Pluralism, Chicago 2005, 123.
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Die Formation des ,Buddhismus‘ im globalen Religionsdiskurs
des ,Buddhismus‘ sehr aufschlussreich beobachten. Gleichzeitig lässt sich im Kontext der Formierung des ,Buddhismus‘ und anhand der Ambiguität in seiner Einschätzung und Klassifikation die Entstehung und Stabilisierung der diskursiven Formation des globalen Religionsdiskurses nachvollziehen. So etwa im Fall der in vielen europäischen Beschreibungen zu findenden Berichte über den chinesischen Hauptgott „Fo“, der erst später als ein chinesischer Name des Buddha beschrieben wurde. Daniel Defoe etwa berichtet in seinem Dictionary of All Religions von 1704 zum einen über das ,Heidentum‘ in all den Ländern des Ostens wie etwa Japan oder China. Zum anderen findet sich unter dem Eintrag „Fe“ die Aussage: „FE or FO, the name of the Chief Deity of the Chineses, whom they adore as Sovereign of Heaven […]; he has at his Right-hand, Confucius, placed by the Pagans among the Gods; and on his Left-hand, Lanza or Lanca, chief of the second Sect of their Religion.“14 Wie Tomoko Masuzawa bemerkt, ist hier nicht nur interessant, dass sich dieser Eintrag zum chinesischen Namen des Buddha unverbunden neben weiteren Einträgen mit Berichten über die in den Ländern des Ostens herrschende „idolatry“ findet, sondern dass in diesem Zitat die Verehrung des „FE“, ebenso wie auch die in China zu findende Verehrung der zwei anderen genannten Figuren, als drei ,Sekten‘ der chinesischen Nationalreligion und nicht etwa als drei unterschiedliche ,Religionen‘ verstanden werden.15 Aus europäischer Sicht zeigt sich hier, dass, auch wenn diese Kategorien (und damit die Charakteristika des Religionsdiskurses) sich bereits in einer Transformation befanden, im Bezug auf die Wahrnehmung des ,Buddhismus‘ im 18. Jahrhundert eher das lange Fortbestehen der in Kapitel 4 beschriebenen vierfachen Klassifikation aufscheint, in der unter Begriffen wie ,Heidentum‘, ,Paganismus‘ oder ,Idolatrie‘ alle nicht den ,Christen‘, ,Juden‘ oder ,Muslimen‘ zugeordneten Völker zusammengefasst wurden.16 Als eigene ,Religion‘ und als Gegenstand westlichen Interesses trat der ,Buddhismus‘ dann erst im 19. Jahrhundert auf. Dieser Prozess, den Tomoko Masuzawa als „the object formation of Buddhism“ bezeichnet, erreichte seinen ersten Höhepunkt über den Verlauf des 19. Jahrhunderts. Eine entscheidende Rolle für die Formierung dieser Vorstellungen im Westen spielte dabei die zunehmende Anzahl von Studien europäischer Gelehrter, in denen der Gegenstand des ,Buddhismus‘ verhandelt wurde.17 Laut Philip C. Almond ist die Entstehung des gelehrten Diskurses 14 Defoe, Daniel, Dictionarium sacrum seu religiosum. A Dictionary of All Religions, Ancient and Modern […], London 1704, zitiert nach ebd., 123. 15 Vgl. ebd., 123 – 124. 16 Vgl. ebd., 122. 17 Dieser Prozess wurde u. a. anderem von Philip C. Almond beschrieben: Er versteht dies als eine „imaginative creation of Buddhism“. Er analysiert „the discourse about Buddhism that was created and sustained by the reification of the term ,Buddhism‘, and which, in its turn, defined the nature and content of this entity. […] Buddhist scholarship was not only the cause but also the effect of that which it brought into being – Buddhism“ (British Discovery, 4).
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über den ,Buddhismus‘ von den früheren Reiseberichten und missionarischen Traktaten sogar relativ unabhängig. Die Einbeziehung der verstreuten Hinweise in diesen Texten als Teil des ,Buddhismus‘ wäre somit erst ein Ergebnis des dann bereits entstandenen Diskurses: „Only then was it possible to see such encounters, in historical retrospect, as the earliest contacts of the West with Buddhism; and only then was it possible to classify them within discourse about Buddhism.“18 Und vor dieser Zeit waren diese Berichte eben Berichte aus dem ,Orient‘, aber nicht dem ,buddhistischen Orient‘. Almond formuliert dies wie folgt: what we are witnessing in the period from the latter part of the eighteenth century to the beginning of the Victorian period in the latter half of the 1830s is the creation of Buddhism. It becomes an object, is constituted as such; it takes form as an entity that ,exists‘ over against the various cultures which can now be perceived as instancing it, manifesting it, in an enormous variety of ways.19
Eine nur langsame Entstehung des Bildes von ,Buddhismus‘, das noch heute die Vorstellung dieser ,Religion‘ zu einem großen Teil bestimmt, lässt sich auch an den frühesten Theorien und Ansichten über den Buddha und den ,Buddhismus‘ erkennen. So war – zumindest im englischsprachigen Kontext – in den 1820er und 1830er Jahren die Überzeugung entstanden, dass ein Großteil des ,religiösen Glaubens‘ und der damit verbundenen Praxis Asiens durch den ,Buddhismus‘ bestimmt würde.20 Weder waren allerdings die geschichtliche Ausbreitung noch die historische Abfolge dieser ,Religionen‘ geklärt. Der in Indien tätige baptistische Missionar William Ward stellte etwa 1817 die Frage, ob „the religion of Boodhu, now spread over the Burman empire, Siam, Ceylon, Japan, Cochin-China, and the greater part of China itself, be not in reality the ancient religion of India, and the brahminical [sic!] superstition the invention of later times…“21 Andererseits fragte sich der protestantische Missionar Karl Gützlaff in Siam noch 1833 ob Sommona Kodom, der ihm als der Begründer des ,Buddhismus‘ in Laos, Kambodscha und China bekannt war, „was a disciple of Buddha himself“.22 Genauso wenig bestand Einigkeit in den Vorstellungen über und der Be18 Ebd., 8. Wie Almond etwa im Bezug auf Siam feststellt, war auch dies ein historischer Prozess mit durchaus zahlreichen Vorläufern. Schon 1693 konnte etwa Simon de la Loub~re, ein Gesandter Louis XIV. feststellen: „the Religion of the Siumeses [sic!] came from those quarters because that they have read in a Balie Book, that Sommona-Codom, whom the Siameses adore, was the Son of a King of the Island of Ceylon“ (A New Historical Relation of the Kingdom of Siam, London 1693, 10, zitiert nach ebenda). 19 Ebd., 12. 20 Vgl. ebd., 11. 21 Ward, William, A View of the History, Literature, and Religion of the Hindoos […], 2 Bände, London 1817, Bd. 2, 206 – 107, zitiert nach ebd., 10. 22 Gützlaff, Karl F., Journal of a Residence in Siam, and of a Voyage along the Coast of China to Mantchou Tartary, The Chinese Repository 1, 1832 – 1833, 16 – 25, 274 – 276, hier: 274, zitiert nach ebd., 9.
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wertung der Figur des Buddha. So geriet etwa die Frage nach dem historischen Buddha erst zu einem relativ späten Zeitpunkt ins Zentrum der westlichen Debatte. Zuvor waren verschiedene Theorien über die Figur des Buddha im Umlauf, nicht zuletzt die Vorstellung, dass der Buddha als Teil der hinduistischen Vorstellungswelt und als ein Avatar bzw. eine Inkarnation Vishnus zu betrachten sei.23 Almond stellt für den Verlauf des 19. Jahrhunderts einen Wandel von einem ,mythischen‘ zu einem ,historischen‘ Buddha fest. Noch bis in die 1840er Jahre erschien die Identität, das Leben und die Datierung des Buddha hoch umstritten und durch eine Pluralität verschiedenster Theorien gekennzeichnet, und die Figur des Buddha daher letztlich als eine mythologische. Erst in der Mitte und im Verlauf des späteren 19. Jahrhunderts erscheint der Buddha im Kontext viktorianischer Debatten dann als eine menschliche Figur, vergleichbar nicht primär mit der mythischen Welt der griechischen, indischen oder ägyptischen Götter, sondern vielmehr mit den historischen Figuren Jesus, Mohammed oder Luther.24 Dagegen findet sich noch um 1820 der Versuch, die Frage nach dem historischen Buddha und der ,Religion‘ des ,Buddhismus‘ vor dem Auftreten des historischen Buddha durch eine Theorie von zwei Buddhas zu beantworten. So sei der ,Buddhismus‘, wie Edward Upham 1829 vermutete, „in fact two systems of different eras wrought into each other, at some period of the revival of faith, by an ambitious and zealous teacher – that there is an ancient and modern system of Buddhism, the ancient recognizes the dogma of fate, the modern of free will.“25 Ebenso konnte der Buddha in dieser ,mythischen Phase‘ noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts als eine Figur afrikanischer Herkunft verstanden werden („Buddou is always represented with thick black frizzled hair like an African Negro“26) oder auch von William Jones 1786 in einer anderen Darstellung als ein und derselbe Gott wie Odin verstanden werden: „WOD or ODEN, whose religion, as the northern historians admit, was introduced into Scandinavia by a foreign race, was the same with BUDDHA, whose rites were probably imported into India nearly at the same time.“27 Eine entsprechende Position wurde noch 1816 von George Faber in The Origins of Pagan Idolatry vertreten.28 23 Vgl. ebd., 15. Dies lag nicht zuletzt daran, dass viele der ersten im Westen verfügbaren Informationen von lokalen indischen Informanten geliefert wurden. Diese Vorstellung findet sich etwa noch in den Auflagen der Encyclopedia Britannica von 1842 und 1854. Vgl. ebd., 16. 24 Vgl. ebd., 55 – 56. Vgl. hierzu auch Harris, Elizabeth J., Theravada Buddhism and the British Encounter. Religious, Missionary and Colonial Experience in Nineteenth-Century Sri Lanka, London 2006, 164 – 165. 25 Upham, Edward, The History and Doctrine of Buddhism […], London 1892, 3. Auch zitiert in Almond, British Discovery, 17. 26 Percival, Robert, An Account of the Island of Ceylon […], 1803, 145, zitiert nach ebd., 20. 27 Jones, William, Dissertation 111. On the Hindu’s […], 80, zitiert nach ebd., 57. 28 Vgl. ebd. Zu einer Identifikation Buddhas mit einer Vielzahl anderer bekannter Götter wie etwa Osiris, siehe ebd., 57 – 60.
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In welcher Art und Weise vollzieht sich aber nun im Kontext des modernen Religionsdiskurses die Formation des ,Buddhismus‘ als einer ,Religion‘? Wie ich heuristisch vorgeschlagen habe, ist eines der Charakteristika des modernen Religionsdiskurses die Pluralität gegeneinander abgegrenzter „Religionen“. Der Prozess, in dem all diese unterschiedlichen Berichte schließlich derselben Tradition zugeordnet wurden, zog sich über den Verlauf der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hin. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich schließlich eine Vorstellung des ,Buddhismus‘ als einer eigenständigen ,Religion‘ etabliert. Diese Formation des ,Buddhismus‘ umfasste zumindest zwei zentrale Aspekte: Die innere Einheit des ,Buddhismus‘ als einer ,Religion‘ wurde erstens dadurch garantiert, dass sich ein Stifter sowie ein Textkorpus identifizieren ließ. Dies betraf die zunehmende Faszination, die von der Figur des Stifters dieser Tradition, dem historischen Gautama Buddha ausging, und die Bedeutung, die diesem zugemessen wurde, sowie die zunehmende Zahl an im Westen verfügbaren Texten, die auf einen Korpus an zentralen Schriften hinwiesen, in denen die Essenz dieser ,Religion‘ später lokalisiert wurde.29 Zweitens erschien der ,Buddhismus‘ als eigenständige ,Religion‘ insofern, als er zwar in vielen asiatischen Kontexten vorhanden, aber dennoch vom ,Hinduismus‘ und dem ,Christentum‘ als anderen ,Religionen‘ klar unterscheidbar war : By the beginning of the 1850s, a discourse about Buddhism had developed. ,Buddhism‘ by this time described and classified a variety of aspects of Oriental cultures. Moreover, it had been distinguished from the religion of the Hindus, and had come on the whole to be viewed as having begun with Gautama (at some as yet unspecified time), and as having originated in India.30 29 Vgl. Masuzawa, The Invention of World Religions, 125. Almond spricht von zwei Phasen der „creation of Buddhism“. So sei in den ersten vier Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts „der Buddhismus“ als ein Objekt entstanden, das „dort draußen“ im Orient zu finden sei und daher sowohl geographisch, kulturell als auch imaginativ als ein „Anderes“ erscheinen konnte: „Buddhism as constructed in the West, made manageable that which was encountered in the East […].“ In den ersten 25 Jahren des viktorianischen Zeitalters (1837 – 1901) wurde „der Buddhismus“ dann laut Almond zu etwas, das sich nun im „Westen“ befand, vor allem durch die zunehmende Sammlung, Übersetzung und Publikation von „buddhistischen Texten“. „The essence of Buddhism came to be seen as expressed not ,out there‘ in the Orient, but in the West through the West’s control of Buddhism’s own textual past“ (British Discovery, 112 – 113, wörtliche Zitate hier teilweise ins Deutsche übersetzt). 30 Ebd., 24. Vergleiche auch King: „One consequence of this [dass es in Indien keinen praktizierten Buddhismus mehr gab, A.H.] was that early Western conceptions of ,Buddhism‘ failed to distinguish it from other religions. Influenced by the fashionable pursuit of comparative etymology, scholars identified the Buddha with a whole host of mythological and divine personages from Neptune and Wodan to Apollo and Siva. Early theories that postulated two Buddhas (one a Hindu founder, the second a historical reformer) and speculations about the African origins of the Buddha were gradually superseded by the middle of the nineteenth century as scholarship
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Diese Formen der Identifikation einer ,Religion‘ als eines abgegrenzten Gegenstandes des globalen Religionsdiskurses sind – wie Tomoko Masuzawa argumentiert – für das 19. Jahrhundert verallgemeinerbar : In this connection, it may be useful to remember more generally that roughly during this same period there seem to have developed two typical, nearly requisite, means of identifying an individual religious tradition as distinct, unique, and irreducible to any other : the naming of an extraordinary yet historically genuine person as the founder and initiator of the tradition, on the one hand, and the recognition of certain ancient texts that could be claimed to hold a canonical status, on the other.31
Die beiden Prozesse der Konstitution der inneren Einheit des Gegenstandes und seiner Abgrenzung gegenüber anderen ,Religionen‘ waren dabei durchaus eng verbunden. So gehen mit der Frage nach dem historischen Buddha, auf die sich ein zentraler Teil der Diskussion bezieht, zwei weitere Aspekte einher : Zum einen die Frage nach der Herkunft und dem Ursprung des ,Buddhismus‘, und damit verbunden die Frage nach seinem Verhältnis zum ,Hinduismus‘. Neben der bereits erwähnten frühen Vorstellung einer afrikanischen Herkunft des Buddha, die durchaus weit verbreitet war,32 fand sich auch die Überzeugung, dass der Ursprung des ,Buddhismus‘ in Zentral- oder Westasien zu suchen sei. Auch wenn die These einer indischen Herkunft bereits sehr viel früher vertreten worden war, setzte sich doch erst in den 1840er Jahren die Auffassung allgemein durch, dass Indien als Ursprungsort des ,Buddhismus‘ zu verstehen sei.33 Auch diese Entwicklung wird erst dann verständlich, wenn man die zunehmende Bedeutung bestimmter – vor allem in Sanskrit verfasster – Textkorpora berücksichtigt, die als zentral für den ,Buddhismus‘ angesehen wurden und eine indische Herkunft nahelegten. Eugene Bournoufs Introduction n l’Historie du Buddhisme von 1844 zeigte diesen indischen Ursprung dann gerade anhand dieser Texte auf.34 Die Frage nach dem Verhältnis zum ,Hinduismus‘ (oft auch als ,Brahmanismus‘ bezeichnet) betraf vor allem zwei Aspekte: Zum einen die grundsätzliche Abgrenzung des ,Buddhismus‘ vom ,Brahmanismus‘ als zwei unterschiedliche ,Religionen‘. Zum anderen die Frage nach deren historischer Abfolge. Auch hier war lange umstritten, ob nun ,Buddhismus‘ oder ,Brah-
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firmly located the origins of Buddhism in India“ (Orientalism and Religion, 144). Dagegen hatte sich zur Mitte des 19. Jahrhunderts dann eine klare Abgrenzung etabliert: „In summary, by the middle of the century, Buddhism had been ,discovered‘. It had been distinguished from Brahmanism, primarily classified in terms of its own textuality, and recognized as existing in India from the time of Gautama, and as manifesting itself to a greater or lesser degree of purity in various Oriental contexts“ (Almond, British Discovery, 32). Masuzawa, The Invention of World Religions, 132. Vgl. Almond, British Discovery, 21. Vgl. ebd., 22 – 23. Vgl. ebd., 24. Burnoufs „Introduction z l’Historie du Buddhisme“ erschien 1844. Vgl. jetzt auch: Burnouf, Eug{ne, Introduction to the History of Indian Buddhism, Chicago 2010.
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manismus‘ historisch früher anzusetzen seien. Noch in den 1840er Jahren wurde dem ,Buddhismus‘ ein größeres Alter bescheinigt. Begründet wurde dies von unterschiedlichen Autoren auf verschiedene Weise, aber nicht zuletzt auch mit der Argumentation, dass sich der ,Buddhismus‘ durch seine größere Einfachheit auszeichne.35 Auch hier scheint Bournouf großen Einfluss auf die letztendliche Entscheidung dieser strittigen Frage und die Durchsetzung der von ihm vertretenen Position eines größeren Alters des ,Brahmanismus‘ gehabt zu haben.36 In ähnlicher Weise wurde der historische Buddha zu einem Ankerpunkt des Interesses am ,Buddhismus‘ und zum zentralen Kennzeichen seiner Bewertung. Denn neben einem Kanon an Texten war es vor allem die Identifikation eines historischen Stifters, die es ermöglichte, einen Kandidaten für den Status einer ,Religion‘ zu erkennen.37 Eine historische Existenz des Buddha wurde dann spätestens seit den 1860er Jahren allgemein angenommen, auch wenn die Frage nach einer Datierung durchaus weiterhin umstritten war.38 Die Vorstellung dieses historischen Buddhas veränderte sich jedoch über den Verlauf des 19. Jahrhunderts mehrmals und lässt sich gerade hier als Spiegel der zeitgenössischen europäischen Umstände erkennen.39 Dass diese jetzt als historisch vorgestellte Figur des Buddha dann sogleich mit europäischen Religionsgrößen verglichen wurde, ist daher nur allzu verständlich. So entwickelte sich bereits früh der Topos vom Buddha als Luther Asiens, der sich mit seiner Reform gegen die verkrusteten Strukturen des abergläubischen ,Brahmanismus‘ gewandt und mit seiner Botschaft einer Befreiung des Individuums für die Rechte des Einzelnen und eine Gleichheit aller Menschen gekämpft habe. Der Buddha 35 36 37 38
Vgl. Almond, British Discovery, 30 – 32. Vgl. ebd., 32. Vgl. Masuzawa, The Invention of World Religions, 132. Vgl. Almond, British Discovery, 65, 63. Anhand einer chinesischen Datierung war man längere Zeit davon ausgegangen, den historischen Buddha in die Zeit um 1000 v. u. Z. datieren zu können. Während gerade unter Sinologen diese Datierung auch noch zur Mitte des 19. Jahrhunderts beliebt war, wurden bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch andere Datierungen vorgeschlagen, die auf ceylonesischen, burmesischen und siamesischen Quellen basierten. Das Todesjahr des Buddha wurde so etwa auf 538, 542 oder 543 v. u. Z. datiert. Eine solche deutlich spätere Datierung setzte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts dann durch, auch wenn die exakten Datierungen bis zum Ende des Jahrhunderts durchaus umstritten blieben. Vgl. ebd., 63 – 64. Zur Frage der Datierung des Buddha aus heutiger Sicht siehe auch von Brück, Michael, Einführung in den Buddhismus, Frankfurt am Main 2007, 66 – 67 und ausführlich Bechert, Heinz, Einleitung: Stand der Diskussion acht Jahre nach dem Symposion, in: H. Bechert (Hg.), The Dating of the Historical Buddha/Die Datierung des historischen Buddha, Göttingen 1997. Bechert datiert die Lebensdaten des Buddha auf 448 bis 368 v. u. Z. Die sich dem Theravada-Buddhismus zurechnenden Länder gehen heute offiziell vom Jahr 544 v. u. Z. als Jahr des Parinivana aus. Siehe zu dieser Thematik auch Prebish, Charles S., Cooking the Buddhist Books. The Implications of the New Dating of the Buddha for the History of Early Indian Buddhism, Journal of Buddhist Ethics 15, 2008, 1 – 21. 39 Vgl. Masuzawa, The Invention of World Religions, 134.
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erschien als ein radikaler Reformer, der den Bruch mit der despotischen, tyrannischen und korrupten Unterdrückungsherrschaft durch die hinduistische Priesterkaste und deren rigidem Kastensystem gewagt hatte. Er erschien so nicht zuletzt als prototypischer viktorianischer Held.40 In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts verändert sich dieses Bild allerdings. Almond schlägt vor, diesen Wandel der viktorianischen Vorstellung so zu verstehen, dass die Veränderungen am Bild des Buddha als eines radikalen sozialen und auch politischen Reformers im Kontext des virulenter werdenden Sozialismus gesehen werden sollten.41 Er interpretiert diese Veränderung daher als den Versuch, eine Parallelisierung des Buddha mit den sozialistischen Reformern zu verhindern, welche nach Ansicht vieler akademischer Beobachter nun zum Ende des 19. Jahrhunderts die englische Gesellschaft bedrohten: [I]n a context of anti-Catholicism, a radical social reformer rejecting the pretensions of a priestly ruling class could be embraced. But in a context of anti-Socialism, a radical social reformer rejecting the pretensions of the secular ruling class was unacceptable.42
Eine solche Projektion europäischer Debatten und Konflikte auf die Imagination des ,Buddhismus‘ spielte auch für die Wahrnehmung der buddhistischen Vorstellungen und Lehren eine zentrale Rolle. So waren die Rezeptionen der Vorstellungen von Karma, Nirvana, der buddhistischen Ethik und des für den ,Buddhismus‘ als so zentral angesehenen Monastizismus eng in die zeitgenössischen Debatten um viktorianische Moral und anti-katholische Einstellungen eingebunden.43 Gleichzeitig war, wie bereits erwähnt, die Überzeugung, dass diese neu entdeckte ,Religion des Buddhismus‘ hauptsächlich in ihren Texten zu lokalisieren sei, ein entscheidendes Charakteristikum der Entstehung des ,Buddhismus‘ als eines diskursiven Gegenstandes im 19. Jahrhundert.44 Mit dieser textbasierten Konstruktion der Essenz des ,Buddhismus‘ durch westliche Philologen verband sich gleichzeitig auch die Einschätzung, dass der gegenwärtige Zustand des ,Buddhismus‘ in den asiatischen Ländern als korrupt zu beschreiben sei. Dies wurde noch verstärkt durch die Konzentration auf die Suche nach den Anfängen des ,Buddhismus‘ und die Bedeutung, die diesen zugeschrieben wurde. In Indien, dem Land, das sich als Geburtsort des ,Buddhismus‘ herausstellte, existierte jedoch keine lebendige Tradition mehr.45 40 41 42 43 44
Vgl. Masuzawa, The Invention of World Religions, 134; Almond, British Discovery, 56, 69 – 74. Vgl. Almond, British Discovery, 74 – 76. Ebd., 76. Vgl. ebd., 80 – 110. Vgl. Masuzawa, The Invention of World Religions, 126; King, Orientalism and Religion, 145 – 146; Almond, British Discovery, 24 – 28. 45 Vgl. Masuzawa, The Invention of World Religions, 126.
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Zur ,Weltreligion‘ wurde diese neu erkannte Tradition nicht zuletzt aus diesem Grund vor allem auf der Basis ihrer ,ursprünglichen‘, ,reinen‘ und ,primitiven‘ Form, die in den frühen Texten lokalisiert wurde, welche nach und nach von den Philologen gesammelt, ediert und übersetzt wurden.46 Indem der Westen immer mehr zentrale Texte des ,Buddhismus‘ anhäufte, wurde dieser, wie Almond formuliert, „materially owned by the West; and by virtue of this ownership, ideologically controlled by it.“47 Auf der Basis der aus diesen Texten durch die philologische Arbeit westlicher Gelehrter herausgearbeiteten Essenz des ,ursprünglichen‘ Buddhismus, erlangte dieser den Status einer ,Weltreligion‘. Die zahlreichen lokalen Formen des ,Buddhismus‘ in den Ländern des modernen Asiens wurden im Gegensatz dazu nur noch als spätere Verzerrungen und korrupte Formen wahrgenommen.48 Eine solche Einschätzung unterscheidet sich deutlich von der Wahrnehmung des ,Buddhismus‘ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der sich nahezu keine Hinweise auf seinen ,korrupten‘ und ,verfallenen‘ Zustand finden. Wie Almond betont, war dies aufgrund der noch fehlenden Vorstellung eines idealisierten, aus den Texten extrahierten ,reinen Buddhismus‘ auch nicht möglich, da genau dieser Vergleich fehlte: „In contrast, those who saw Buddhism in the East in the second half of the century could not but measure it against what it was textually said to be, could not but find it wanting and express this in the language of decay, degeneration, and decadence.“49 Dabei ist die Suche nach dem historischen Buddha und die zentrale Bedeutung der textbasierten Rekonstruktion als weit verbreitetes Phänomen zu verstehen. Ähnlich wie auch im Fall der Suche nach dem historischen Jesus gehörte es zu den Grundüberzeugungen der westlichen Gelehrten, dass der ,Buddhismus‘ in diesen klassischen Texten zu finden sei, die in den meisten Fällen unkritisch verstanden wurden „as accurate descriptions of ,primitive Buddhism‘ rather than as prescriptive and ideological representations of Buddhist belief and practice.“50 Beginnend mit zahlreichen von dem britischen Kolonialbeamten Brian Houghton Hodgson (1801 – 1894) an verschiedene europäische Gelehrte versandten asiatischen Manuskripten, die mit Burnoufs Introduction zum ersten großen Buch über ,den Buddhismus‘ führten, wurde dessen europäisches Studium eine Angelegenheit, die in den Bibliotheken, Archiven, Universitäten und Gelehrtenstuben im Westen stattfand.51 Sie unterscheidet sich damit allerdings in dieser Frühphase auch von der viel stärker an die koloniale Dominanz gebundenen Imagination des ,Hinduismus‘ im britischen Indien. 46 47 48 49 50 51
Vgl. ebd., 131. Almond, British Discovery, 24. Vgl. Masuzawa, The Invention of World Religions, 131. Almond, British Discovery, 37. King, Orientalism and Religion, 148. Vgl. Almond, British Discovery, 37.
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Donald Lopez formuliert im Hinblick auf das akademische Studium des ,Buddhismus‘ daher wie folgt: Its contribution to Orientalism lies, therefore, not so much in the overt political domination of the peoples of Asia called „Buddhists“ (this was accomplished by others), but in the creation of a reified entity called „Buddhism“ and the writing of its history, as well as in the creation of a biography of the Buddha, who would come to be both exalted and condemned as the paradigm of an Oriental mentality.52 […] [I]t was against this Buddhism that all of the Buddhisms of the modern Orient were to be judged, and to be found lacking.53
In dieser Konstruktion des ,Buddhismus‘ als einer eigenständigen ,Religion‘ spielte aber nicht nur die Abgrenzung zum ,Brahmanismus‘ bzw. ,Hinduismus‘ eine wichtige Rolle, sondern auch die Auseinandersetzung um das Verhältnis zwischen ,Buddhismus‘ und ,Christentum‘. So gewann die Frage nach dem Vergleich dieser beiden ,Religionen‘ immer mehr an Bedeutung, und der ,Buddhismus‘ wurde über den Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert zum zentralen Gegenüber des Christentums:54 „In nineteenth century Western scholarship, Buddhism, more than any other religion, was the ,other‘ of Christianity.“55 Die Konstruktion des ,Buddhismus‘ als ,Religion‘ hatte dazu geführt, dass für diesen zahlreiche Merkmale einer ,Religion‘ identifiziert worden waren und er daher nun als Gegenüber des ,Christentums‘ in Erscheinung treten konnte: „Buddha-Dharma first became Buddhism, and then Buddhism became a world religion. By the beginning of the twentieth century it had its own Bible, commandments, fundamental principles agreed to by all ,Buddhist‘ sects, and its international conferences.“56 So stellte der ,Buddhismus‘ für das ,Christentum‘ eine große Provokation dar. Man beschäftigte sich mit der Frage, ob der ,Buddhismus‘ wohl auf globaler Ebene mehr Anhänger aufweisen könne als das ,Christentum‘. Darüber hinaus wurde besorgt die Frage nach dem geschichtlichen Verhältnis zwischen den beiden ,Religionen‘ gestellt. Es erschien nun denkbar, dass nicht das ,Christentum‘, sondern womöglich der ,Buddhismus‘ als die erste universalistische ,Weltreligion‘ verstanden werden musste.57 Auf diese Weise trat der 52 Lopez, Introduction, 12. 53 Ebd., 7. 54 Vgl. Almond, British Discovery, 35 – 36. „Victorians could not fail to be at the most horrified or enchanted by, at the very least interested in, a religion so different from Christianity and yet in some ways so decidedly similar“ (ebd., 35). 55 Snodgrass, Judith, Colonial Constructs of Therava¯da Buddhism. Current Perspectives on Western Writing on Asian Tradition, in: Traditions in Current Perspective (Proceedings of the Conference on Myanmar and Southeast Asian Studies, 15 – 17 November 1995, Yangon), Rangun 1996, 79 – 98, hier: 80. 56 Bishop, Peter, Dreams of Power. Tibetan Buddhism and the Western Imagination, London 1993, 91. Vgl. King, Orientalism and Religion, 146. 57 Vgl. Masuzawa, The Invention of World Religions, 140.
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,Buddhismus‘ also in dem Prozess, in dem er sich als ,Religion‘ formierte, gleichsam in ein Konkurrenzverhältnis zu der bis dahin einzigen ,Weltreligion‘. Gleichzeitig wurde der ,Buddhismus‘ gerade in diesen Auseinandersetzungen als eine ,Religion‘ und sogar als eine ,Weltreligion‘, und damit als mit dem ,Christentum‘ vergleichbar, anerkannt.58
6.2 Die Entdeckung des ,Buddhismus‘ im Kontext des buddhistischen Modernismus Die bisher dargestellte ,europäische Entdeckung des Buddhismus‘ lässt sich allerdings nicht sinnvoll rekonstruieren, wenn man sie als ein rein ,westliches‘ Phänomen betrachtet. Vielmehr sollte dieser Prozess als ein Verflechtungsprozess wahrgenommen werden, in dem asiatische indigene Eliten eine entscheidende Rolle gespielt haben. Auf diese Notwendigkeit des Einbezugs der ,anderen Seite‘ hat auch bereits Aijaz Ahmad hingewiesen. So müsse im Kontext einer Untersuchung des ,Orientalismus‘ und der dadurch produzierten Texte auch in den Blick genommen werden „how these textualities might have been received, accepted, modified, challenged, overthrown or reproduced by the intelligentsias of the colonized countries“.59 Der orientalistische Diskurs erweist sich so als ein Verflechtungsprozess: „,Orientalism‘, therefore, can never be a unilinear projection of the Western imagination onto a colonized and passive Orient, since it always involves a degree of intercultural mimesis.“60 Ein solcher Verflechtungsprozess lässt sich auch für die ,Entdeckung des Buddhismus‘ beschreiben. Diese sollte somit nicht als eine bloße Projektion europäisch-westlicher Interessen und Vorstellungen betrachtet werden, worauf wiederum Richard King hinweist: [One should, A.H.] not accept the extreme view that modern notions of Buddhism are merely imaginary projections or Western fantasies that bear no relationship to, or 58 Vgl. ebd., 143 – 144. 59 Ahmad, Aijaz, In Theory. Classes, Nations, Literatures, London 1994, 172. Vgl. Lopez, Introduction, 12. 60 King, Orientalism and Religion, 156. King verwendet den Begriff „intercultural mimesis“ in Anlehnung an Charles Hallisey, der darunter Folgendes versteht: „occasions where it seems that aspects of a culture of a subjectified people influences the investigator to represent that culture in a certain manner.“ Auch wenn Hallisey damit zunächst auf die Seite der ,Orientalisten‘ verweist, ließe sich im Sinne der hier angezielten Verflechtungsgeschichte und in Aufnahme seines Anliegens, die „Manichaean division“ zwischen Ost und West zu überwinden, davon ausgehen, solche Prozesse auf beiden Seiten zu finden und damit dann auch die Aushandlungsund Repräsentationsprozesse auf Seiten indigener Eliten zu bezeichnen. Vgl. Hallisey, Charles, Roads Taken and Not Taken in the Study of Theravada Buddhism, in: D.S. Lopez (Hg.), Curators of the Buddha. The Study of Buddhism under Colonialism, Chicago 1995, 31 – 61, hier: 33.
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correspondence with, Buddhist texts or actual Buddhist practices. My point is rather that ,Buddhism‘ has been represented in the Western imagination in a manner that reflects specifically Western concerns, interests and agendas. Asian Buddhists and their sacred literature, however, have not been wholeheartedly silenced by the Orientalist gaze, though they have been manipulated, conceptually framed and thereby transformed by Western interests and aspirations. Nevertheless, we should acknowledge the ways in which Buddhists have responded to the Orientalist gaze and thereby contributed to Orientalist representations of ,Buddhism‘. It is in this sense that we should see the construction of Orientalist notions such as ,Buddhism‘ and ,Hinduism‘ as the product of a process of intercultural mimesis.61
In den Blick tritt im Anschluss an King somit nicht – wie durchaus von manchen Autoren weiterhin gefordert – die Frage, ob dieser ,Buddhismus‘ nur eine westliche Projektion sei, der keine Realität entspreche, oder die Frage, inwiefern vorkoloniale und vormoderne Verhältnisse im Rahmen dieser ,Erfindung des Buddhismus‘ verzerrt und verfälscht worden seien. Vielmehr ist die Frage, auf welche Weise es möglich gewesen und tatsächlich dazu gekommen ist, dass ,der Buddhismus‘ nicht nur als Konzept, sondern auch als Gegenstand im Rahmen des globalen Religionsdiskurses hervorgebracht werden konnte. Eine solche Perspektive ermöglicht zumindest in dieser Hinsicht eine Überwindung der Dichotomie von ,Westen‘ und ,Osten‘, welche letztlich selbst als ein Produkt des kolonialen und orientalistischen Diskurses verstanden werden sollte: To ignore the role played by Asians themselves in the construction of Orientalist discourses results not only in the myth of the passive Oriental but also perpetuates precisely the East–West dichotomy that is such a feature of Orientalist discourses. […] [B]y focusing upon the ways in which Western Orientalist discourses remain deeply informed by already existing and indigenous forms of colonization (such as the brahmanization of Indian religions in the precolonial era), one avoids the tendency to deny agency to the colonial subject, as well as the tendency to see colonialism as a peculiarly Western disease (a view that is itself a form of Occidentalism).62
Was sind nun aber die neuartigen Begriffe, Gegenstände und Subjektpositionen, welche der globale Religionsdiskurs hervorgebracht hat? Diese Frage, die vor allem in der zweiten Hälfte dieses Kapitels anhand einiger detaillierter Auseinandersetzungen mit buddhistischen Kontexten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts behandelt werden soll, betrifft nicht zuletzt die Vorstellung von den ,Buddhisten‘ selbst. Eine vormoderne einheitliche buddhististische Identität ist in der gegenwärtigen Forschung stark umstritten. So stellt etwa Tomoko Masuzawa fest: 61 King, Orientalism and Religion, 149. 62 Ebd., 158 – 159.
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Until that time [dem 19. Jhdt., A.H.], neither European observers nor, for the most part, native „practitioners“ of those various devotional, contemplative, divinatory, funereal, and other ordinary and extraordinary cults that are now roundly called Buddhist had thought of these divergent rites and widely scattered institutions as constituting a single religion.63
Ähnlich skeptisch äußert sich (wie wir bereits gesehen haben) Richard King: „It is not clear, that the Tibetans, the Sinhalese, or the Chinese conceived of themselves as ,Buddhists‘ before they were so labelled by Westerners.“64 Anderseits wird diese Beobachtung von anderer Seite in Frage gestellt. So etwa von Kar~nina Kollmar-Paulenz, die in direkter Antwort auf King feststellt: Entgegen dieser Behauptung stellt der religiös konnotierte tibetische Differenzbegriff nang pa, „die, die innen sind“, d. h. der buddhistischen Lehre folgen gegenüber denjenigen, die keine Buddhisten sind, eine der wichtigsten Eigenbezeichnungen der in Tibet lebenden Buddhisten dar.65
Die hier implizierten Fragen und die damit verbundenen Problemlagen wurden in der vorliegenden Arbeit bereits mehrfach und unter anderem unter dem Stichwort der ,Äquivalente‘ behandelt. Festzuhalten ist vor allem, dass es in den Begrifflichkeiten in Europa und Asien besonders im 19. und 20. Jahrhundert zu weitreichenden Transformationen gekommen ist. Schon allein dies ist erklärungsbedürftig. Letztlich wird aber vor allem gelten, dass die einzelnen historischen Situationen und die mit ihnen einhergehenden Entwicklungen von Reflexions- und Selbstbezeichnungsbegriffen so unterschiedlich sind, dass an die Stelle der Frage, ob sich ,die Buddhisten‘ allgemein in vormoderner Zeit als Einheit verstanden haben, eher eine detaillierte Untersuchung dieser einzelnen Kontexte treten sollte. Dies nicht zuletzt daher, weil, wie ja anhand des Ansatzes von Kollmar-Paulenz bereits analysiert wurde, eine Suche nach ,den‘ Eigenbezeichnungen ,der‘ Buddhisten genau diese Existenz von ,Buddhisten‘ und eines ,Buddhismus‘ als einer identifizierbaren Einheit bereits voraussetzt, obwohl nach diesen ja eigentlich gefragt werden sollte. Anhand des ,Buddhismus‘ lassen sich diese Fragen nicht zuletzt deshalb besonders anschaulich diskutieren, weil es zur Konfrontation von ,Buddhismus‘ und ,Moderne‘ eine umfangreiche Forschungstradition gibt. Die Forschungen zu dieser unter anderem mit dem Stichwort „buddhistischer Modernismus“ bezeichneten Thematik haben sich dabei oftmals auf das 63 Masuzawa, The Invention of World Religions, 122. 64 King, Orientalism and Religion, 144. 65 Kollmar-Paulenz, Kar~nina, Zur Ausdifferenzierung eines autonomen Bereichs Religion in asiatischen Gesellschaften des 17. und 18. Jahrhunderts. Das Beispiel der Mongolen, Bern 2007, 17.
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koloniale Ceylon konzentriert. Seit der klassischen Studie von Heinz Bechert66 sind hierzu zahlreiche weitere umfangreiche neuere Untersuchungen erschienen.67 Daher sollen die in dem hier angesprochenen Zusammenhang auftauchenden Fragen und Problemlagen zunächst überblickshaft und primär am Beispiel des kolonialen Ceylon diskutiert werden. Auch wenn sich die dortigen Verhältnisse nicht ohne weiteres auf andere buddhistische Kontexte übertragen lassen, wird in den folgenden Abschnitten dann unter anderem anhand Burmas und Siams der Fokus erweitert. Eine ausführliche Diskussion indischer, tibetisch-nepalesischer sowie ostasiatischer buddhistischer Kontexte kann in der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden und fließt daher nur an einigen Stellen in dieses Kapitel mit ein. Dennoch ließen sich auch für diese Kontexte anhand der hier präsentierten Problemlagen weiterführende Fragestellungen entwickeln.68 Eine mittlerweile klassische Position zur Frage nach der Begegnung von ,Buddhismus‘ und ,Moderne‘ im kolonialen Ceylon wurde unter dem Stichwort „Protestant Buddhism“ vor allem seit den 1970er Jahren von einer Reihe von Autoren entwickelt, von denen Gananath Obeyesekere und Richard Gombrich nur die bekanntesten sind. Obeyesekere hatte den Begriff zu Anfang der 1970er Jahre eingeführt,69 um diejenigen Reformbewegungen zu bezeichnen, die im buddhistischen Kontext Ceylons im 19. Jahrhundert als Reaktion auf und als Protest gegen die christliche Mission entstanden sind, und die sich aber gleichzeitig selbst durch eine Reihe von ,protestantischen‘ Merkmalen auszeichnen, welche sie sich im Rahmen ihrer Entwicklung angeeignet haben. „Protestantischer Buddhismus“ verweist damit gleichzeitig auf diese beiden Aspekte. Dieses Konzept wurde in der Folge von verschiedener Seite aufgenommen und auch von Obeyesekere selbst weiterentwickelt70 und findet als Zusammenfassung dieser mittlerweile klassischen Position seinen Ausdruck in 66 Bechert, Heinz, Buddhismus, Staat und Gesellschaft in den Ländern des Theravada-Buddhismus, 3 Bände, Frankfurt am Main 1966 – 1973. 67 Vgl. vor allem Gombrich, Richard/Obeyesekere, Gananath, Buddhism Transformed. Religious Change in Sri Lanka, Princeton 1988; Young, Richard F./Somaratna, G.P.V., Vain Debates. The Buddhist-Christian Controversies of Nineteenth Century Ceylon, Wien 1996; Gombrich, Richard F., Theravada Buddhism. A Social History from Ancient Benares to Modern Colombo, London 22006; Harris, Theravada Buddhism. Siehe auch die weiteren im Folgenden genannten Studien. ¯ ., The Invention of Religion in Japan, Chicago 2012. 68 Vgl. zu Japan jetzt Josephson, Jason A 69 Siehe Obeyesekere, Gananath, Religious Symbolism and Political Change in Ceylon, Modern Ceylon Studies 1/1, 1970, 43 – 63; ders., Religious Symbolism and Political Change in Ceylon, in: ders. et al. (Hg.), The Two Wheels of Dharma. Essays on the Theravada Tradition in India and Ceylon, Chambersburg 1972, 58 – 78. 70 Siehe etwa Bond, George D., The Buddhist Revival in Sri Lanka. Religious Tradition, Reinterpretation and Response, Columbia 1988; Malalgoda, Kitsiri, Buddhism in Sinhalese Society, 1750 – 1900. A Study of Religious Revival and Change, Berkeley 1976; Gombrich/Obeyesekere, Buddhism Transformed.
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einem Kapitel in der 2006 erschienenen Neuauflage von Richard Gombrichs Standardwerk Therava¯da Buddhism.71 Gombrich beschreibt hier das 19. Jahrhundert als die entscheidende Periode in der modernen Geschichte des ceylonesischen ,Buddhismus‘. Nachdem das britische Imperium 1796 die Herrschaft über die Küstenregionen von den Holländern übernommen und dann 1815 mit der Besetzung des seit dem 16. Jahrhundert als Sitz der Monarchie fungierenden Kandy endgültig die Kontrolle über die Insel erlangt hatte, dauerte diese letzte koloniale Herrschaftsperiode auf Ceylon bis zur Unabhängigkeit im Jahr 1948 an.72 Die Entwicklung, für die sich Gombrich interessiert, geht allerdings nicht primär darauf zurück, dass mit der Etablierung der britischen Kontrolle über das gesamte Territorium und der damit einhergehenden Ablösung eines buddhistischen Königtums durchaus eine gänzlich neue Situation geschaffen worden war. Auch sind die über den Verlauf des 19. Jahrhunderts zu beobachtenden Reformbewegungen nicht primär aufgrund der von ihnen verfolgten Reformanstrengungen als neuartig zu beschreiben, da auch in den Jahrhunderten zuvor der sangha in vieler Hinsicht einer stetigen Dynamik von Reform und Niedergang ausgesetzt gewesen war,73 und wiederholt – etwa durch den Re-Import bestimmter Ordinationslinien wie etwa im Jahr 1753 aus dem südostasiatischen Siam – bedeutende Revitalisierungen erfahren hatte.74 Vielmehr verband sich mit der Etablierung britischer Kolonialherrschaft, dem Wegfall einer buddhistisch geprägten Monarchie und der damit einhergehenden Unterstützung des sangha, sowie den gleichzeitig im Kontext des britischen Kolonialismus ausgelösten tiefgreifenden sozialen Umwälzungsprozessen auch – so Gombrich – ein weiterer und deutlich anders gelagerter Bruch: [D]uring that century Buddhism began to change its character. Not in the countryside or the Kandyan provinces, not as yet in a way to affect more than a very small segment of the Buddhist population. But by the end of the century quite a new kind of
71 Gombrich, Theravada Buddhism, 171 – 195. Die folgende Darstellung orientiert sich sehr stark an Gombrich. Auch seine Begriffswahl wird hier zunächst übernommen. Für die Bezeichnung von Schulen und Organisationen als ,buddhistisch‘, oder der Mission als ,christlich‘ wird auf einfache Anführungszeichen meist verzichtet. Dies hängt nicht zuletzt auch damit zusammen, dass in den meisten der hier behandelten Fälle für diese jeweils von einer expliziten Selbstidentifikation etwa als ,buddhistisch‘ auszugehen ist. Welche Bedeutung diese hier angesprochenen Fragen haben, wird dann hoffentlich im Verlauf des nächsten Kapitels ersichtlich. Vgl. für eine die Thesen dieser Forschungstradition übernehmende kurze Darstellung auch Freiberger/Kleine, Buddhismus, 417 – 424. 72 Vgl. Gombrich, Theravada Buddhism, 171. 73 Siehe auch Blackburn, Anne M., Buddhist Learning and Textual Practice in Eighteenth Century Lankan Monastic Culture, Princeton 2001. 74 Vgl. Gombrich, Theravada Buddhism, 171.
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Buddhism had taken definite shape and begun to spread from the middle classes in Colombo.75
Es ist diese Veränderung, die Gombrich hier im Anschluss an Obeyesekere als „Protestant Buddhism“ beschreibt, und die sich vor allem durch die bereits genannten Merkmale auszeichnet, die sich zum einen als ein Protest gegen die christliche Mission verstehen lassen, und die gleichzeitig auch als eine Protestantisierung des Buddhismus verstanden werden können. Damit verbindet sich, dass ein zentrales Moment dieser Entwicklung und der in ihrem Kontext auftretenden Reformbewegungen mit einer zunehmenden Bedeutung der Laien für diesen „protestantischen Buddhismus“ in Verbindung stehe, was gleichzeitig zu einem Bedeutungsverlust des sangha geführt habe.76 Die zwei wichtigsten externen Einflüsse, die zu dieser Dynamik beigetragen haben, lassen sich – so Gombrich – mit den Stichworten (christliche protestantische) Mission und Theosophie bezeichnen. Während die protestantische Mission zunächst in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine zentrale Rolle spielte, übte die Theosophie (besonders in Gestalt des englischen Oberst Henry S. Olcott) in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts und um die Jahrhundertwende entscheidenden Einfluss aus.77 Die Bedeutung, die diesen zwei
75 Ebd., 172. 76 Vgl. ebd., 172 – 173. Im Hinblick auf die im Folgenden präsentierten Überlegungen erscheint es wichtig anzumerken, dass Gombrich selbst an dieser Stelle seiner Argumentation darauf hinweist, dass aus der Sicht eines solchen „protestantischen Buddhismus“ die in seinem Buch bis dahin fast ausschließlich auf die Geschicke des sangha und der Mönche fokussierte Darstellung der Geschichte ,des Therava¯da Buddhismus‘ grundlegend in Frage gestellt werden müsste. Denn in dieser hätten die sonstigen Anhänger dieser ,Religion‘, die größere Gruppe der ,Buddhisten‘ also, bisher fast keine Rolle gespielt. Diesen Gedanken, den Gombrich nicht weiter verfolgt, könnte man im Licht der in den folgenden Kapiteln präsentierten Überlegungen provokant zuspitzen: Eine solche Geschichte wurde von Gombrich nicht nur nicht geschrieben, sondern ist letztlich auch unmöglich, weil es diese ,Buddhisten‘ vor dem 19. Jahrhundert in diesem Sinne auch nicht gegeben hat. Damit ist selbstverständlich nicht gemeint, dass es keine Personen gegeben hat, welche die nicht zuletzt rituellen Funktionen der Laien übernommen hätten, sondern vielmehr, dass deren explizite Identifikation als ,Buddhisten‘ im Gegenüber und in Abgrenzung zu anderen möglichen religiösen Identitäten ein Phänomen ist, das im Kontext des modernen Religionsdiskurses erst hervorgebracht wird. Siehe zu diesen Überlegungen auch im Folgenden. Oliver Freiberger vertritt in einem neueren Beitrag dagegen die These, dass es eine buddhistische Identität auf Seiten der Laien bereits im „frühen Buddhismus“ gegeben habe: „Auch wenn die Verfasser [der frühen buddhistischen Texte, A.H.] wohl oft Hausbewohner, deren religiöse Identität eigentlich etwas komplexer war, exklusiv für sich vereinnahmten, scheint es doch einen wachsenden Kreis von Menschen gegeben zu haben, die sich bewußt als buddhistische Laienanhänger verstanden“ (Religionen und Religion in der Konstruktion des frühen Buddhismus, in: P. Schalk [Hg.], Religion in Asien? Studien zur Anwendbarkeit des Religionsbegriffs, Uppsala 2013, 15 – 41, hier: 38). 77 Siehe dazu neben vielen weiteren Studien zur christlichen Mission auch Young/Somaratna, Vain Debates; Harris, Theravada Buddhism; sowie zu Olcott und der Theosophie Obeyesekere, Gananath, The Two Faces of Colonel Olcott. Buddhism and Euro-Rationality in the Late Nineteenth Century, in: U. Everding (Hg.), Buddhism and Christianity. Interactions between East
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westlichen Einflüssen im Rückblick zukommt, konnten diese aber nur dadurch erhalten, dass als Resultat der langen kolonialen Vorgeschichte und sozio-ökonomischer Entwicklungen im Rahmen des britischen Kolonialstaats eine neue sinhalesische Mittelschicht entstanden war, die aus Rechtsanwälten, Ärzten, Kolonialbeamten, Lehrern und weiteren intellektuellen Kreisen bestand, und die – besonders im Kontext Colombos – die entstehenden buddhistischen Reformbewegungen mittragen und mitinitiieren konnte.78 Während die ersten verzögerten Reaktionen auf die christliche Mission und die in ihrem Rahmen eingesetzten aggressiven Strategien von einigen Gruppierungen buddhistischer Mönche ausgingen, traten zu einem späteren Zeitpunkt vor allem Laien und die von ihnen gegründeten Organisationen als Akteure ins Zentrum. Die christliche Mission setzte dabei im 19. Jahrhundert auf Ceylon vor allem auf drei Strategien: das Bildungssystem, die Form der öffentlichen Predigt sowie eine große Zahl von christlichen Druckwerken, Pamphleten und Traktaten.79 Nicht nur verfügte jede Missionsstation über eine Schule, auch nach der Einrichtung eines staatlichen „Department of Public Instruction“ unterstanden noch längere Zeit weiterhin alle von diesem lizensierten Schulen christlicher Leitung. All diese Schulen, deren Besuch für eine Karriere in der kolonialen Administration unverzichtbar war, hielten ihren Unterricht auf Englisch ab und widmeten gleichzeitig mindestens eine Stunde pro Tag religiöser Belehrung. Auch wenn es durchaus ebenso eine Kontinuität der bisherigen Formen der Ausbildung in den zahlreichen Tempeln gab, wurde diese aber vom kolonialen Staat nicht unterstützt.80 Die öffentliche Predigt war die zweite Strategie, mit deren Hilfe christliche Missionare eine Konversion der Bevölkerung Ceylons anstrebten. Die von den Missionaren hier eingesetzte Form der Rede in ,einfacher Sprache‘ und die direkte Adressierung des Publikums entsprach nicht den bisherigen Gegebenheiten, auch wenn eine öffentliche Belehrung im Kontext mönchischer Praxis durchaus nichts Unbekanntes war. Die umherziehenden und predigenden Missionare waren bis in die frühen 1830/1840er Jahre mehr als verwundert über die Passivität der buddhistischen Mönche gegenüber den von den Missionaren aggressiv vorgebrachten Infragestellungen buddhistischer Überzeugungen.81 Dies änderte sich nicht zuletzt durch den massiven Einfluss der dritten Strategie, auf welche die christliche Mission in Ceylon besonders ab der Mitte des 19. Jahrhunderts setzte: den massiven Einsatz der Druckerpresse und die
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and West, Colombo 1995, 32 – 71; Prothero, Stephen, The White Buddhist. The Asian Odyssey of Henry Steel Olcott, Bloomington 1996. Vgl. Gombrich, Theravada Buddhism, 173. Vgl. ebd., 176. Vgl. ebd. Vgl. ebd., 176 – 177.
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Verteilung hunderttausender Traktate und Pamphlete. Während die erste Druckerpresse mit sinhalesischen Buchstaben bereits 1736 etabliert worden war und auch dort bereits primär christliche Literatur gedruckt wurde, nahm die Zahl der – primär polemisch orientierten – Druckwerke um die Mitte des 19. Jahrhunderts exponentiell zu. So wurden zwischen 1849 und 1861 auf den christlichen Druckerpressen (bei einer damaligen Bevölkerung Ceylons von um die 3 Millionen Menschen) vermutlich über 1,5 Millionen Traktate auf Sinhala und Englisch gedruckt.82 Eine Reaktion auf diese massive öffentliche und mediale Präsenz der christlichen Mission durch diese drei Strategien blieb in den ersten 50 Jahren nach dem Beginn der britischen Herrschaft weitgehend aus. Noch in den 1850er Jahren gab es von Seiten der Mönche eine starke Bereitschaft zur Kooperation bei der Übersetzung bestimmter Texte und eine große Akzeptanz christlicher Missionare und ihrer Predigt in den Tempeln, die diesen als Übernachtungsstätte immer wieder angeboten wurden. Eine solche fehlende Reaktion auf die massive Polemik gegen ,den Buddhismus‘ führte auf Seiten der Missionare jedoch eher zu Verwunderung bis hin zur Verstärkung der Aggressivität. Die Missionare warfen nun nicht nur der ceylonesischen Bevölkerung, sondern auch den Mönchen selbst Apathie, Interesselosigkeit und Indifferenz gegenüber jeglichen Religionsdingen vor.83 Erst in den 1860er Jahren kam es dann zu einer deutlichen Reaktion auf diese Aktivitäten, die sich nicht nur in einem entstehenden buddhistischen Publikationswesen niederschlug, sondern auch in einer Reihe von intensiv publizistisch begleiteten und nicht zuletzt in der Presse auch ausschweifend diskutierten öffentlichen Debatten mündete. Der Mönch Gunananda verwies etwa im Jahr 1887 darauf, dass er in den 25 Jahren zuvor über 4000 öffentliche Vorträge gehalten habe. Die wichtigste Debatte an der er sich beteiligt hatte, war 1873 eine öffentliche Auseinandersetzung in Panadura südlich von Colombo gewesen, wo er dem Missionar David de Silva gegenübergestanden hatte. Das Publikum soll am ersten Tag aus 5000 Menschen und am zweiten Tag der Debatte bereits aus 10.000 Menschen bestanden haben. Gleichzeitig wurde besonders diese Debatte in Zeitungen, Periodika sowie in Buchform exzessiv ausgewertet und sowohl auf Sinhala als auch Englisch in hohen Auflagen publiziert.84 Bereits in dieser Form der öffentlichen Debatte und den zahlreichen öffentlichen Predigten und Vorträgen von Mönchen lässt sich neben einer Reaktion auf die christliche Mission auch der im Konzept des „protestantischen Buddhismus“ implizierte zweite Aspekt erkennen: die Übernahme bestimmter christlicher Charakteristika. Während – wie bereits erwähnt – die Belehrung einer Gruppe von Zuhörern durch einen Mönch durchaus nicht 82 Ebd., 178. 83 Vgl. ebd. 84 Vgl. ebd., 180.
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unbekannt gewesen war, stellte die nun auch von den Mönchen übernommene Form der öffentlichen Rede im Stehen und die damit verbundene Gestik eine deutliche Neuerung dar. Ebenso neu war der Umgang mit und die Präsentation dessen, über das debattiert wurde. In einer Anpassung an die Art und Weise, wie die Missionare debattierten, wurden die zahlreichen Verweise auf verschiedene überlieferte Texte, die diesen als Material für ihre Attacken dienten, in der buddhistischen Erwiderung durch einen Rückgriff auf biblische Texte und eine Kritik an diesen ersetzt.85 Über diese bedeutenden Konfrontationen zwischen christlichen Missionaren und Mönchen hinaus waren, wie eingangs erwähnt, besonders die vielfältigen neuen Rollen der Laien für den „protestantischen Buddhismus“ entscheidend. Wie revolutionär diese Berücksichtigung der Laien sich darstellt, ist nicht zuletzt daran zu erkennen, dass noch 1904 ein von zahlreichen Mönchen des ceylonesischen sangha unterzeichneter Brief an den britischen König Edward VII die folgende Feststellung traf: „By the laws of Buddha the laity form no part of religion. The Sangha are the only living representatives of Buddhism on earth.“86 Die hier von den Mönchen kritisierte Bedeutung der Laien hatte über den Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stetig zugenommen. Im Bereich des Bildungssystems war im Jahr 1869 noch unter der Leitung eines Mönchs die erste nicht monastische buddhistische Schule eröffnet worden.87 Mit der zunehmenden Bildung der Laien und der bereits erwähnten Entstehung einer Mittelklasse ging fu¨ r diese neuen Eliten gleichzeitig der Wandel von einer primär oral geprägten Kultur zu einer zunehmenden Bedeutung schriftlicher Materialien einher : [A]s there was hardly any Sinhalese printing before the nineteenth century, and manuscripts were virtually confined to monasteries, even the literate can have had nothing to read: earlier lay Buddhists lived in an essentially oral culture. Schools and printing presses combined in the late nineteenth century to produce a lay reading public for the first time in Sinhalese history.88
Nicht zuletzt weil die meisten dieser Materialien zunächst auf Englisch verfasst waren, und auch die Schulen auf die englische Sprache setzten, erschien im Gegenzug eine buddhistische Gegeninitiative notwendig, die zur Etablierung mehrerer buddhistischer Colleges führte, an denen nun auch Mönche unter Rückgriff auf moderne Konzepte und unter Verwendung neuer Technologien ausgebildet werden konnten.89
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Vgl. ebd., 181. Zitiert nach ebd., 182. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. ebd., 183.
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Neben den christlichen Missionaren wurde vor allem in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts und um die Jahrhundertwende die Theosophie für die weitere Entwicklung des „protestantischen Buddhismus“ entscheidend. Ein gemeinsamer Besuch Helena P. Blavatskys und Henry S. Olcotts auf Ceylon im Jahr 1880 stieß auf großes Interesse. Die von Olcott später gegründete Buddhist Theosophical Society (BTS) spielte im weiteren Verlauf der Entwicklungen eine zentrale Rolle. Auch publizierte er bereits 1881 eine zunächst auf Englisch erschienene Schrift unter dem Titel Buddhist Catechism, die den Versuch darstellte, analog zur Form des christlichen Katechismus die grundlegenden Überzeugungen und Lehren des ,Buddhismus‘ in Frage-Antwort-Form darzustellen. Olcott besuchte das ihn meist überschwänglich empfangende Ceylon bis zu seinem Tod im Jahr 1907 fast jährlich.90 Auch wenn die BTS besonders auf Seiten der Mönche durchaus sehr umstritten war, ist ihre Bedeutung für die hier behandelten Entwicklungen nicht zu leugnen. So sammelte die Organisation Geld für buddhistische Bildungsinstitutionen. Im Jahr 1889 waren so bereits 63 BTS Schulen sowie weitere 40 buddhistische Schulen, die zumeist von Laien verwaltet wurden, offiziell registriert worden. Besonders die von der BTS betriebenen Schulen orientierten sich bis ins kleinste Detail an der Form der christlichen Missionsschule. Die Ausbildung erfolgte in englischer Sprache, und der Buddhismus trat im Curriculum und in den täglichen Abläufen innerhalb der Schulen an die Stelle, die innerhalb der Missionsschulen das Christentum innehatte. Gleichzeitig gründete die BTS auch zwei Zeitungen.91 Neben diesen Schulen waren vor allem eine große Anzahl sich explizit als buddhistisch verstehender Laienorgansiationen, die sich in ihrer Form selbst wieder bis teilweise in die Namensgebung hinein an christliche Organisationen anlehnten, ein weiteres wichtiges Element des „protestantischen Buddhismus“. Die Young Men’s Buddhist Association, die 1889 von einem ehemals römisch-katholischen Konvertiten gegründet wurde, ist hier nur das bekannteste Beispiel. Diese Vereinigung entwickelte sich schnell zur wichtigsten und größten buddhistischen Laienvereinigung, die noch heute als All Ceylon Buddhist Congress firmiert. Nicht zuletzt auf ihre Initiative hin kam es in der Folge dann auch zur Gründung eines weiträumigen Netzwerks von buddhistischen Sonntagsschulen sowie zur Verbreitung einer großen Masse buddhistischer Druckwerke. Gleichzeitig ging dieser Vereinigung allerdings bereits die Gründung einer Vielzahl anderer Organisationen voraus. Sie befand sich somit bereits in einem Feld neben zahlreichen anderen buddhistischen Organisationen.92 Zu nennen ist nicht zuletzt der Vollständigkeit halber auch die wichtige Rolle, die derjenige buddhistische Reformer, der sich selbst den Namen 90 Vgl. ebd., 183 – 185. 91 Vgl. ebd., 185. 92 Vgl. ebd. Siehe zu buddhistischen Organisationen in Folgenden auch Abschnitt 6.4.2.
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Anagarika Dharmapala gab, für die weitere Entwicklung des „protestantischen Buddhismus“ spielte. Dharmapala, der 1864 als Don David Hewavitarne geboren wurde, wird heute zu den Nationalheroen Sri Lankas gezählt, und war anfangs vor allem als Proteg~ von Henry S. Olcott aktiv. Einen seiner bekanntesten Auftritte hatte er 1893 auf dem Weltparlament der Religionen in Chicago, wo er als einer der Vertreter des Buddhismus agierte. 1891 hatte er bereits die Maha Bodhi Society gegründet, deren primäres Ziel es war, Bodhgaya (den Ort der Erleuchtung des Buddha) wieder als einen explizit buddhistischen Ort unter buddhistischer Administration zu etablieren, die aber auch als eine der ersten internationalen Vereinigungen von Buddhisten eine wichtige Rolle spielte. Ihr Ziel war, wie Gombrich beschreibt, „to unite and to activate the Buddhists of the World.“93 Im Kontext Ceylons war Dharmapala als Vorbild für eine neuartige Rolle des buddhistischen Laien im Rahmen des „protestantischen Buddhismus“ eminent wichtig: Dharmapala gave the layman a new place in Buddhism which went much farther than organizational leadership. Traditionally lay Buddhists did not meditate; those who wished to meditate gave up the lay life. Moreover, there seems to have been very little meditation in Ceylon in the late nineteenth century. In 1890 Dharmapala found in an old Buddhist temple a text on meditation, which he studied and ultimately caused to be published. He practised meditation on the basis of this study, and thus became, so far as is known, the first Buddhist to learn meditation from a book without recourse to a master. Moreover he initiated the fashion for lay meditation, which has become so popular among the bourgeoisie of Colombo and Rangoon that few if any of them realize the untraditional nature of their activities.94
Mit diesen Entwicklungen geht eine neue Position des buddhistischen Laien einher, der nun mit seinen Aktivitäten viel intensiver am ,Buddhismus‘ teilnimmt als dies zuvor der Fall war. Dharmapala erfand für sich selbst eine neue Position zwischen Mönch und Laie, die es vorher so nicht gegeben hatte. Er trug eine weiße Robe anstelle der gelben Robe der Mönche und verzichtete darauf, seinen Kopf zu rasieren, unterwarf sich dauerhaft den acht Tugendregeln und lebte asketisch und zölibatär. Gleichzeitig widmete er sich vorrangig der buddhistischen Sache, ohne jedoch auf weltliche Aktivitäten zu verzichten.95 Auch wenn diese neue Rolle, die Dharmapala für sich selbst kreiert hatte, nur wenige Nachahmer fand, wird an ihr dennoch die Veränderung in den Rollen sowohl der Mönche als auch der Laien deutlich, die sich im Kontext des „protestantischen Buddhismus“ vollzogen hatte: Now […] we have Buddhist monks who are prison chaplains, even army chaplains, who are missionaries abroad, and who work as salaried teachers in lay schools, and 93 Ebd., 188. 94 Ebd., 189. 95 Vgl. ebd., 190.
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court involvement in politics and social welfare activities. Their role is very like that of a Christian clergyman. And the Protestant Buddhist layman sees his role much as the Protestant layman sees his: he is not content with a merely supportive role, dependent on the clergy, but is independently active, even in doctrinal debate. Such Buddhists are not the majority of Sinhalese Buddhists, who until recently were still peasants, but a large minority, typically urban or suburban and socially mobile.96
Dieser sehr grobe Überblick hat die auf einer Vielzahl von detaillierten Studien beruhenden Argumentationen der Autoren, welche die These vom „protestantischen Buddhismus“ vertreten, stark vereinfacht wiedergeben. Er lässt sich somit nur als ein Überblick über zentrale Aspekte des „protestantischen Buddhismus“ verstehen und wurde hier primär als Hintergrundfolie für die folgenden Abschnitte und zur generellen Orientierung dargeboten. Gleichzeitig ist es notwendig, darauf hinzuweisen, dass diese These in letzter Zeit erneut von verschiedener Seite kritisiert wird, wobei nicht zuletzt an bereits ältere Kritik angeschlossen wird. Gegen diese Vorstellung einer ,Protestantisierung‘ der Entwicklung auf Ceylon argumentiert etwa Anne Blackburn in ihrer Studie Locations of Buddhism.97 Die These des „Protestantischen Buddhismus“ gehe davon aus, dass es im Rahmen des Kolonialismus und der Etablierung europäischer (und vor allem britischer) Kolonialmacht in Südasien zu einer radikalen Transformation der begrifflichen und praktischen Klassifikation von Individuen und sozialen Gruppen gekommen sei. Über die kolonialen Administrationsstrukturen, das Bildungssystem und die mit der Durchsetzung der Druckerpresse neu entstehende schriftliche Öffentlichkeit seien diese neuen europäisch-westlichen Kategorien verbreitet und institutionalisiert worden und hätten dazu geführt, dass in einer radikalen Transformation vormoderner Verhältnisse neue Formen der individuellen und kollektiven Identität etabliert worden seien, die nicht zuletzt für die ,religiösen‘ und ,ethnischen‘ Spannungen in der späteren Geschichte unabhängiger südasiatischen Staaten wie eben Sri Lanka verantwortlich gemacht würden. Die zeitgenössische akademische Forschung zur Geschichte des ,Buddhismus‘ in Ceylon sowie der starke Einfluss der kolonialen und christlichen Bedrohung habe laut dieser These zu einem buddhistischen Revival geführt, in dem das Modell des protestantischen Christentums und moderne britische Formen der sozialen Organisation eine zentrale Rolle gespielt hätten. Der so entstandene „protestantische Buddhismus“ habe dabei besonders auf christliche Formen religiöser Praxis und Bildung zurückgegriffen.98
96 Ebd. 97 Blackburn, Anne M., Locations of Buddhism. Colonialism and Modernity in Sri Lanka, Chicago 2010. 98 Vgl. ebd., xii.
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Blackburn ist nun ihrerseits der Überzeugung, dass eine solche Perspektive auf das koloniale Ceylon letztlich nicht überzeugend sei. Vielmehr zeige eine genaue Analyse des verfügbaren Quellenmaterials, dass die neuartigen Diskurse und Formen der Identitätsbildung nicht immer tiefgreifende Veränderungen nach sich gezogen hätten. Vielmehr sei in vielen Fällen eher eine Kontinuität zu bereits vorherrschenden Praktiken festzustellen, sei es in der Wahrnehmung sozialer Zugehörigkeiten wie auch in Formen des intellektuellen Stils und der Organisation des buddhistisch monastischen Lebens.99 Somit sei eher die agency der indigenen Akteure zu betonen, die eine Orientierung an den neuen westlich-europäischen Modellen nicht generell, sondern durchaus situationsbezogen und variabel vollzogen hätten: Instead of a displacement of earlier conceptual frameworks and forms of identity by newer ones, we find that Hikkaduve¯ and his colleagues were more inclined to draw on ˙ novel elements in two ways. In specific contexts where it was virtually demanded by colonial oversight, they would express themselves according to the expectations of a colonial or European vision of religion, politics, or history. Where there was more distance from colonial government, novel elements were used in more piecemeal ways, usually in the service of modes of expression that had a longer history of thought and practice.100
Dies zeige sich in den entsprechenden Schriften der Akteure, so zum Beispiel bei dem von Blackburn behandelten Mönch Hikkaduve¯, der im Rahmen eines für den britischen Gouverneur in Ceylon verfassten˙Textes über buddhistische Geschichte durchaus den Stil und die Erwartungen einer britischen Form der Geschichtsschreibung bedient habe. Gleichzeitig lassen seine Schriften über interne monastische Reglemente ein gänzlich anderes Bild erkennen. Im Bezug auf die der kolonialen Kontrolle nicht direkt unterliegenden Aspekte monastischer Angelegenheiten finden sich, etwa wenn gegen eine lang überlieferte buddhistische Überzeugung argumentiert wird, nur vereinzelte Hinweise auf europäische Texte und Argumentationen. Ähnlich erfolgt in der Korrespondenz mit anderen südostasiatischen Mönchen, die um Unterstützung gebeten wurden, fast ausschließlich ein Rückgriff auf bereits sehr viel ältere Formen buddhistischer Argumentation und Debatte. Auch scheint hier auf bereits lange bestehende Netzwerke vertraut und eine Form der Korrespondenz gewählt worden zu sein, die nicht unbedingt eine radikale Transformation erkennen lasse.101 99 Vgl. ebd. 100 Ebd., xiii. 101 Vgl. ebd. Blackburn argumentiert in diesem Kontext auch für eine Neuorientierung der Untersuchung der Auswirkungen des Kolonialismus auf die kolonialisierten Gesellschaften. An die Stelle genereller und abstrakter Thesen sollten ihrer Meinung nach vielmehr Untersuchungen der „habits of thought and modes of affiliation that characterized particular persons and smaller-scale social groups“ (ebd., xiv) treten. Denn nur durch das detaillierte Studium solcher einzelner Figuren und ihrer Netzwerke – und dies auf einer Vielzahl von Ebenen
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All dies führt Blackburn dazu, die These einer radikalen Reform und Transformation buddhistischer Praxis abzulehnen und anstelle einer stark vom Protestantismus beeinflussten Reorganisation der rituellen Praxis und monastischen Ausbildung eher die Stabilität der zentralen klösterlichen Praktiken anzunehmen. Sie stellt der These einer immer weiter zunehmenden Bedeutung der Laien eine ausführliche Rekonstruktion der gleichbleibenden Bedeutung der Mönche als zentrale Ratgeber, Ritualexperten und soziale Schaltstelle gegenüber. Auch wenn es durchaus zu Veränderungen gekommen sein mag, etwa durch die Einführung der Druckerpresse, wurde diese – so Blackburn – von den monastischen Akteuren vor allem dazu verwendet, bereits bestehende Formen, etwa der buddhistischen Ausbildung und Wissensvermittlung, zu erhalten und zu intensivieren. In diesem Sinne lässt sich auch eine ,Protestantisierung‘ nicht unbedingt ausmachen: „Far from shifting to rationalistic and deritualized Buddhism, laypeople and monastics were greatly preoccupied with the ritual demands of Buddhism.“102 Auch wenn Anne Blackburn in ihrer Kritik an der zu starken Betonung der Diskontinuität – die sich für die alltägliche Praxis vor allem innerhalb des sangha wie auch im Kontext der lange Zeit noch eher dörflich organisierten Strukturen Ceylons vermutlich nicht in der Weise nachweisen lässt, wie die These vom „protestantischen Buddhismus“ dies vorauszusetzen scheint –, nimmt sie, meiner Ansicht nach, verschiedene entscheidende Punkte in ihrer Kritik nicht ausreichend in den Blick. Wenn man hier die Perspektive etwas verlagert und nicht primär danach fragt, ob der „protestantische Buddhismus“ eine vollständige Umwälzung darstelle, wird es möglich, die Frage aufzugreifen welche konkreten Veränderungen sich in diesem Kontext möglicherweise ergeben haben. Denn dass das 19. Jahrhundert in vielen Bereichen zu grundlegenden Veränderungen auf Ceylon geführt hat, dürfte unstrittig sein. Eine der zentralen Fragen scheint mir hierbei damit zusammenzuhängen, dass in Blackburns Kritik an der These des „protestantischen Buddhismus“ nicht leicht erkennbar ist, von wem (Bildungsgrad, Klasse, Sprache etc.) und in einer Reihe von mikrohistorischen Studien – lässt sich die tatsächliche Auswirkung des Kolonialismus untersuchen: „Only by moving to a more human scale will we be able to restore a richer sense of local agency to the record of colonialperiod South Asians. It is a disturbing irony that several generations of postcolonial and anticolonial scholarship have made less rather than more visible the worlds of thought and action actually inhabited by colonized persons. Their lives deserve our attention. We must look closely to recognize the urgency of thought and sentiment that drove them. Hikkaduve¯ served ˙ as a monk in a time of great anxiety and great social creativity. Looking at his complex affiliations, intellectual experiments, and potent memories helps us to see more clearly the force, and the limits, of colonial power in remaking local lives and social patterns“ (ebd., xiv). Gerade aufgrund ihrer Betonung der Untersuchung einzelner lokaler Akteure überrascht es, dass die möglicherweise sehr unterschiedliche Transformation der Situation der Laien und der Mönche von Blackburn nicht ausführlich berücksichtigt wird. Siehe zur Bedeutung dieser Thematik auch die folgenden Abschnitte. 102 Ebd.
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sie eigentlich spricht, wenn sie selbst die Kategorie der „Buddhists“ einsetzt. Sind für sie damit primär die Mönche des sangha gemeint, die Laien, oder beide Gruppierungen? Denn meiner Ansicht nach beziehen sich die behaupteten Veränderungen im Kontext des „protestantischen Buddhismus“ zu großen Teilen auf die Laien. Dass die Mönche davon dann selbstverständlich auch betroffen waren, ist bereits in dem vorangestellten groben Überblick angeklungen. Die tatsächlich revolutionären Veränderungen geschahen allerdings – so würde ich diese These zuspitzen – auf Seiten der Laien. Doch welche Veränderungen waren dies im Einzelnen, und welche Rolle spielen diese im Kontext der vorliegenden Arbeit? Im Rahmen der Debatte um den „protestantischen Buddhismus“ wurde immer wieder die Kategorie der Laien in den Blick genommen. Während Gombrich im Anschluss an Obeyesekere und andere Autoren davon ausgeht, dass die zu erkennende Entwicklung als eine ,Laisierung‘ beschrieben werden sollte, in deren Verlauf die Bedeutung der Laien zugenommen, die Bedeutung des sangha dagegen abgenommen habe, hat John C. Holt in seiner Kritik am Konzept des „Protestantischen Buddhismus“ schon 1991 vorgeschlagen, diese Problematik anders zu fassen: Having described „Protestant Buddhism“ as „private“, „rationalized“, and „individual“, Gombrich and Obeyseserke might respond that public ritual, like the increasing publicization of religious symbols, is also evidence of increased laicization. In fact, a strong case could can be made that these developments represent, on the contrary, a monasticization of social religion. This clearly seems to be the case if we consider how the observance of sil (moral observance) on poya (the monthly Theravada religious day) effects a kind of temporary monasticism for the laity ; how the routines of newly founded lay meditation centers are modelled on the routines of monastic forest hermitages; how there is an ever-increasing presence of monks at various rites (especially funeral rites and in some cases recently, marriage rites, not to mention the proliferation of pirit); and how, as Obeyeserke has pointed out, the Buddha image itself has been appropriated increasingly for public display. There is also the development orientation of many monastic viharayas that have focussed their efforts on social welfare, technical education, and political involvement to consider.103
Alle von ihm dann aufgezählten und von den sich an Obeyesekere anschließenden Autoren als Beispiele für eine Laisierung des Buddhismus angeführten Entwicklungen lassen sich, so die These von Holt, viel eher als eine Übertragung monastischer Formen auf die Laien auffassen. Am Beispiel der zeitgleichen Entwicklungen im kolonialen Burma hat Gustaaf Houtman in ähnlicher Weise einen solchen Wechsel der Analyseperspektive hin zu einer ,Monastisierung der Laien‘ gefordert:
103 Holt, John C., Protestant Buddhism?, Religious Studies Review 17/4, 1991, 307 – 312, hier: 309.
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Die Formation des ,Buddhismus‘ im globalen Religionsdiskurs
It has been remarked in much of the literature on ,modern Buddhism‘ across Theravada Southeast Asia that a process of ,laicization‘ has taken place, whereby the layman has come to play a central role in Buddhism. Considering the way some unordained meditators have a tendency to mark in language their status as ,core‘ Buddhists by using monastic language and by classifying themselves as monks as described above, one would be better off suggesting the reverse, namely that there has been a ,monasticization‘ of the unordained. The emphasis contemporary meditators put on being part of the tha-tha-na does not suggest the radical displacement of old roles by new roles and old institutions by new ones (even the terminology of meditation centres has largely been derived from the monastic terminology). The centrality of the monkhood (and the monastery) has not been challenged in the ideal and, by aspiring to a Buddhism of the monastery, the meditator in fact perpetuates an old order of Buddhism.104
Ähnlich hat auch Alicia Turner diese Überlegungen aufgenommen und im Hinblick auf die Entwicklungen in Burma bekräftigt.105 Vor dem Hintergrund der von mir in der vorliegenden Arbeit verfolgten Frage nach der globalen Dimension des modernen Religionsdiskurses scheinen mir diese Hinweise einen wichtigen Perspektivenwechsel anzudeuten, der allerdings letztlich vor allem deshalb nicht vollzogen wird, weil die Alternative der ,Monastisierung der Laien‘ als eine entgegengesetzte Antwort auf die gleiche Frage nach der ,Transformation‘ oder ,Reformation‘ des ,Buddhismus‘ über den Verlauf des 19. Jahrhunderts aufgefasst wird. Aus der Sicht einer diskurstheoretischen Perspektive wären die interessanten Fragen allerdings anders gelagert. Wie bereits angeklungen ist, setzt auch die Debatte um den „protestantischen Buddhismus“ – oder, wie ich im Folgenden im Anschluss an Heinz Bechert sagen möchte, buddhistischen Modernismus106 – die grundlegenden Kategorien, die in diesen Kontexten über den Verlauf des 19. Jahrhunderts jeweils mit verhandelt werden, in der Beschreibung und Analyse bereits voraus. Nicht nur gilt dies offensichtlich für die Kategorie ,Religion‘, die erst in neueren Studien selbst zum Thema gemacht wird. Vielmehr sind dies die zunächst viel entscheidenderen Kategorien der ,Buddhisten‘ und des ,Buddhismus‘ selbst. Es scheint mir in Reaktion auf die hier präsentierte Lektüre der Debatte um den „protestantischen Buddhismus“ daher nicht primär von Interesse zu sein, den Streit um die Kontinuität und Diskontinuität innerhalb ,des Buddhismus‘ auf die bisherige Weise 104 Houtman, Gustaaf, How a Foreigner Invented ,Buddhendom‘ in Burmese: From Tha-Tha-Na to Bok-Da’ Ba-Tha, Journal of the Anthropology Society in Oxford 21/2, 1990, 113 – 128, hier: 125. 105 Vgl. Turner, Alicia M., Buddhism, Colonialism and the Boundaries of Religion. Theravada Buddhism in Burma, 1885 – 1920, Unveröffentlichte Dissertation, Chicago 2009, 38 – 42. 106 Nicht zuletzt weil ich in der vorliegenden Arbeit den globalen Religionsdiskurs als ,modernen Religionsdiskurs‘ bestimmt habe, werde ich im Folgenden vom ,buddhistischen Modernismus‘ anstelle des „protestantischen Buddhismus“ sprechen, da sich diese Kategorie leichter auch auf andere Kontexte als Ceylon beziehen lässt, auf dessen Geschichte sich die Debatte um den „protestantischen Buddhismus“ zumeist beschränkt.
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fortzuführen, denn es ist selbstverständlich, dass hier von unterschiedlicher Seite und bei der Betrachtung ganz unterschiedlicher Gruppierungen und Schwerpunktsetzungen jeweils sehr unterschiedliche Aspekte und unterschiedliche Verhältnisse von Kontinuität und Diskontinuität zu erkennen sein werden. Vielmehr ginge es darum, eine Ebene tiefer anzusetzen, und die Kategorien des ,Buddhismus‘ und der ,Buddhisten‘ selbst als Teil dessen anzusehen, das im Kontext dieser Auseinandersetzungen besonders über den Verlauf des 19. Jahrhunderts zur Debatte steht. Diskurstheoretisch wären also die zentralen Fragen, wie der ,Buddhismus‘ als Gegenstand des modernen Religionsdiskurses im 19. Jahrhundert auch im asiatischen Kontext erscheinen konnte, auf welche Weise die ,Buddhisten‘ im Rahmen dieses Diskurses als Subjekte produziert wurden, und darüber hinaus, inwieweit dieser als ,Religion‘ erscheinen konnte. Im Zentrum steht so nicht die Beantwortung der allgemeinen Frage nach dem ,Buddhismus‘ als einer ,moderne Erfindung‘. Vielmehr ließe sich die hier dann im Zentrum stehende Frage etwa wie folgt formulieren: Angesichts der Tatsache, dass der ,Buddhismus‘ und die ,Buddhisten‘ im 19. Jahrhundert als diskursive Gegenstände und Subjektpositionen auftauchen, wie, auf welche Weise und unter Verwendung welcher neuartigen sozialen Formen, Praktiken und Technologien war ein solches Auftauchen möglich?
6.3 Die Erfindung des ,Buddhismus‘? Anhand einer Beschäftigung mit der zweifachen Entdeckung des ,Buddhismus‘ wurde versucht, die bisherigen Überlegungen zu den Charakteristika des modernen Religionsdiskurses mit der bisher präsentierten Perspektive auf die Globalität des Religionsdiskurses zu verbinden, und erste Einblicke in eine spezifische historische Situation zu geben. Die Existenz einer ,Religion‘ des ,Buddhismus‘ erscheint heute westlichen wie auch asiatischen Beobachtern zumeist als selbstverständlich. Auch wenn im Detail weiterhin durchaus umstritten sein mag, ob die ,eigentliche Essenz‘ dieses ,Buddhismus‘ nun eine ,religiöse‘ oder etwa eine ,philosophische‘ sei, ist es weitgehend Konsens, dass sich zumindest weite Teile dessen, was zum ,Buddhismus‘ in asiatischen Ländern gehört, als Ausdruck einer ,Religion‘ beschreiben lässt. Es mag daher überraschen, dass – wie hier dargestellt – die europäisch-westliche Vorstellung einer ,Religion‘ des ,Buddhismus‘ letztlich nicht älter als 200 Jahre ist. Sobald allerdings mit dieser Überlegung gleichzeitig die These verbunden wird, dass auch in asiatischen Kontexten eine solche Vorstellung noch vor 200 Jahren gänzlich unbekannt war – oder die vorhandenen Vorstellungen zumindest seit dem 19. Jahrhundert tiefgreifend
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Die Formation des ,Buddhismus‘ im globalen Religionsdiskurs
transformiert wurden – wird nicht zuletzt von asienwissenschaftlicher und philologischer Seite zumeist vehement widersprochen. Der erste Teil dieses Kapitels hat daher versucht, in diesem umstrittenen Feld erste Konturen dessen aufzuzeigen, was hier mit Hilfe einer diskurstheoretischen Perspektive in den Blick kommen könnte. Erneut lässt sich die grundlegende Differenz zwischen dieser Betrachtung und der bisherigen Diskussion vor allem daran festmachen, dass im Kontext der Frage nach dem globalen Religionsdiskurs gerade die Kategorien, die in den meisten Studien immer schon vorausgesetzt werden, nun selbst als historische Kategorien in den Mittelpunkt treten. Dies betrifft im vorliegenden Zusammenhang vor allem ,Religion‘ und ,Buddhismus‘ sowie die Kategorie der ,Buddhisten‘. Sehr allgemein ließe sich die mit einer diskurstheoretischen Perspektive auf das globale ,Reden von Religion‘ somit angezielte Frage auch wie folgt stellen: Was passiert eigentlich tatsächlich in dem Moment, in dem vom ,Buddhismus‘ als einer ,Religion‘ gesprochen wird? Diese Frage ist hier – für die Diskurstheorie – eben nicht dadurch beantwortet, dass auf ein ganz spezifisches eigenes Verständnis von ,Religion‘ oder ,Buddhismus‘ verwiesen wird, sondern zielt auf die diesem Sprechen zugrundeliegenden und dieses erst ermöglichenden ,strukturierenden Strukturen‘. Diese immer noch sehr abstrakt gehaltenen Überlegungen scheinen jedoch auf einer von der Beschäftigung mit empirischem Material weiterhin sehr weit entfernten Ebene zu liegen. Auch wenn die vorliegende Arbeit ihren Fokus eindeutig auf die Diskussion theoretischer Probleme gelegt hat, soll nun vor allem in den folgenden Abschnitten in einigen Beispielbetrachtungen eine Anknüpfung an konkrete historische Fragestellungen und lokale Situationen versucht werden, auch wenn deren ausführliche Bearbeitung hier nicht geleistet werden kann, und die Konturen der möglichen Fragestellungen gleichsam nur illustrativ aufgezeigt und vorrangig anhand einer Auseinandersetzung mit vorhandener Sekundärliteratur angesprochen werden können. Die Betrachtungen fokussieren dabei auf buddhistische Kontexte im Asien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Mit dem ,Buddhismus‘ steht somit weiterhin eine spezifische ,Religion‘ und deren Formation in verschiedenen asiatischen Kontexten im Mittelpunkt. Die Formation des Buddhismus als Gegenstand des globalen Religionsdiskurses wird anhand einer Beschäftigung mit deren Begriffen und der Subjektposition der ,Buddhisten‘ beleuchtet, bevor mit dem im Kontext des ,Buddhismus‘ breit diskutierten Verhältnis von ,Religion‘ zu ,Wissenschaft‘ eine spezifische Unterscheidung von ,Religion‘ betrachtet wird. Anhand einer Fallstudie zu dieser Unterscheidung im Kontext des Siam des 19. Jahrhunderts werden die Ergebnisse einer entsprechenden Analyse angedeutet. Letztlich steht in diesen Beispielbetrachtungen vor allem die Frage im Mittelpunkt, ob sich anhand der hier verfolgten Frageperspektive und der vorgeschlagenen heuristischen Leitlinie interessante Beobachtungen gene-
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rieren lassen, und inwieweit dadurch spezifische Problemlagen und theoretische Anknüpfungspunkte aufscheinen, die für die weitere Debatte über den globalen Religionsdiskurs vielversprechend sein könnten. Einige dieser theoretischen Aspekte dann aufzunehmen und in der Auseinandersetzung mit ihnen erste Vorschläge zur Weiterführung zu präsentieren, ist dann Aufgabe des siebten und letzten Kapitels der vorliegenden Arbeit.
6.4 Beispielbetrachtungen zur Formation des ,Buddhismus‘ Die ,Entdeckung des Buddhismus‘ als einer ,(Welt-)Religion‘ ist keineswegs ein rein westliches Geschehen. Vielmehr ist es besonders die Verflechtung zwischen den Vorstellungen von ,Buddhismus‘ als ,Religion‘ im Westen und in zahlreichen Kontexten Asiens gewesen, die – wenn man ein Datum nennen wollte – spätestens 1893 auf dem Weltparlament der Religionen in Chicago zu einer Konsolidierung des ,Buddhismus‘ als ,Religion‘ innerhalb des globalen Religionsdiskurses geführt hat.107 Lokale Akteure in Ceylon, Siam, Burma, Japan und vielen weiteren asiatischen Kontexten waren entscheidend daran beteiligt, diesen Diskurs hervorzubringen und ihre eigenen Positionen in diesem Diskurs zu vertreten. In der Forschungsliteratur erscheinen diese Entwicklungen dann spätestens seit den 1950er Jahren unter Stichworten wie „buddhistischer Modernismus“ oder „Protestant Buddhism“.108 Der buddhistische Modernismus als ein historisches Phänomen, sowie die mit seiner Konstituierung eng verbundene wissenschaftliche Diskussion109
107 Siehe u. a. Snodgrass, Judith, Presenting Japanese Buddhism to the West. Orientalism, Occidentalism, and the Columbian Exposition, Chapel Hill 2003; Lüddeckens, Dorothea, Das Weltparlament der Religionen von 1893. Strukturen interreligiöser Begegnung im 19. Jahrhundert, Berlin 2002; Harding, John S., Maha¯ya¯na Phoenix. Japan’s Buddhists at the 1893 World’s Parliament of Religions, New York 2008. Zum ,Hinduismus‘ auf dem Weltparlament siehe neben zahlreichen anderen Koppedrayer, Kay, Hybrid Constructions. Swami Vivekananda’s Presentation of Hinduism at the World’s Parliament of Religions, 1893, Religious Studies and Theology 23/1, 2004, 7 – 34. 108 Vgl. die vorherigen Abschnitte. Siehe daneben auch die folgende Reihe von Aufsätzen, welche unterschiedliche Aspekte der zur ,Entdeckung des Buddhismus‘ führenden Verflechtungsgeschichte in den Blick nehmen: Snodgrass, Judith, Defining Modern Buddhism. Mr and Mrs Rhys Davids and the Pali Text Society, Comparative Studies of South Asia, Africa, and the Middle East 27/1, 2007, 186 – 202; dies., Exhibiting Meiji Modernity. Japanese Art at the Columbian Exposition, East Asian History 31/1, 2006, 75 – 100; dies., Performing Buddhist Modernity. The Lumbini Festival, Tokyo 1925, Journal of Religious History 33/2, 2009, 133 – 148. 109 Diese Verbindung sollte zumindest als eine zweifache verstanden werden: Zum einen ist schon die Entstehung und der Kontext dieser Re- und Neu-Formation nicht ohne den Einfluss der entstehenden westlichen Wissenschaften (Philologien, Religionswissenschaft etc.) zu verstehen. Zum anderen sind auch der „buddhistische Modernismus“ ebenso wie der „protestantische Buddhismus“ selbst Kategorien innerhalb der wissenschaftlichen Debatte, die wieder-
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bieten sich als Beispiel für die Frage nach der Entwicklung des globalen Religionsdiskurses aus verschiedenen Gründen an. Zum einen, weil es sich hierbei um eine fast schon paradigmatisch zu nennende Verflechtungsgeschichte handelt, die eben gerade durch die Betrachtung dieser Verflechtungen überhaupt erst intelligibel wird. Zum anderen, weil seine Bewertung auch innerhalb der sich damit befassenden Forschungsliteratur umstritten ist, und hier genau die Fragen und Probleme diskutiert werden, welche sich insgesamt für eine Rekonstruktion des globalen Religionsdiskurses stellen. Dazu gehört etwa die Frage, welche Rolle der ,Westen‘ und westliche Akteure im Rahmen der Entstehung dieser Phänomene spielen, oder die Frage, ob und wie sich allgemeine Charakteristika dieser Entwicklung bestimmen lassen. Weiterhin steht im Hintergrund die Frage, inwiefern sich das ,moderne‘ an diesem globalen Diskurs allein auf westliche Aktivitäten sowie generelle ,Modernisierungsprozesse‘ zurückführen lässt – was die Frage aufwirft, was unter ,Moderne‘ hier überhaupt zu verstehen sei.110 Solange diese Thematik der ,Entdeckung des Buddhismus‘ nur als Beispiel für ,Orientalismus‘ (egal ob mit oder ohne Beteiligung indigener Akteure) und damit letztlich als eine westliche Angelegenheit fokussiert wird, perpetuiert diese Perspektive – wie etwa Charles Hallisey betont hat – selbst die orientalistische Grundunterscheidung zwischen ,Westen‘ und ,Osten‘. Eine solche Untersuchung des ,Buddhismus‘ als eines westlichen Diskurses verschärft somit letztlich diese Trennung, indem sie versucht, eine klare Unterscheidung zwischen dem Diskurs und den ,eigentlichen Verhältnissen‘ in asiatischen Kontexten aufrecht zu erhalten. Solange die Frage nach der ,Erfindung des Buddhismus‘ als eine rein westliche behandelt wird, erscheinen außereuropäische Stimmen innerhalb dieses globalen Diskurses daher nur als diejenigen verblendeter Akteure oder bleiben erneut außen vor.111 Die zwei Aspekte, die – wie auch bereits im vorherigen Kapitel genannt – somit in den Mittelpunkt treten, sind zum einen die bereits im Hintergrund der Formation des westlichen Wissens über den ,Orient‘ (und in diesem Fall über den ,Buddhismus‘) immer mit zu berücksichtigende aber oftmals unsichtbare Rolle indigener Informanten und Mitarbeiter, welche für einen Großteil der westlichen Wissensproduktion überhaupt erst die Grundlage um die Konstitution ihres Gegenstandes auf komplexe Weise beeinflusst haben und weiterhin beeinflussen. 110 Siehe hierzu vor allem das nächste Kapitel. 111 Vgl. Hallisey, Roads Taken, 32. Vgl. auch King, Orientalism and Religion, 148 – 149. Hallisey weist hier auch auf einen Aspekt hin, der in der vorliegenden Arbeit bereits in der Diskussion über die neue Globalgeschichte angeführt worden ist. Anstelle einer isolierenden Geschichte ,des Westens‘ (und ,des Ostens‘) wäre die Aufgabe vielmehr „[d]etailing the process by which the West became itself by confronting the Rest“ (Pollock, Sheldon, Rezension von: D.M. Figueira, Translating the Orient. The Reception of Sakuntala in Nineteenth-Century Europe, Albany 1991, The Journal of Asian Studies 51/2, 1992, 419 – 421, hier: 419. Vgl. Hallisey, Roads Taken, 32, der diese Stelle zitiert.).
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bereit stellten. Zum anderen (und für die Frage nach der Formation des globalen Religionsdiskurses noch entscheidender) die agency indigener Akteure in der Rezeption und Transformation europäisch-westlicher Vorstellungen von ,Religion‘ und einzelner ,Religionen‘, die dazu führt, dass nicht zuletzt als Ergebnis der Aktivitäten dieser indigenen Akteure ,Religion‘ und ,Religionen‘ wie der ,Buddhismus‘ als diskursive Gegenstände des globalen Religionsdiskurses im 19. und 20. Jahrhundert eben nicht nur als westliche Repräsentationen zu verstehen sind, sondern als diskursiv hergestellte ,Positivitäten‘.112 Eine solche Perspektive leugnet nicht die zentrale Bedeutung von Machtunterschieden und die Rolle kolonialer Gewaltausübung, die im Kontext dieser Prozesse im Hintergrund stets mitzudenken ist. Gleichzeitig ist aber im Rahmen einer Fragestellung, die sich für die Aktivitäten indigener Akteure in der hier vorgeschlagenen Weise interessiert, auch kennzeichnend, dass die Rolle kolonialer Macht als ein jeweils erst in spezifischen Situationen zu analysierendes Problem aufgefasst wird. In ihrer Auseinandersetzung mit den theoretischen Modellen zur Beschreibung der Transformation der ceylonesischen Verhältnisse im 19. Jahrhundert hat Anne Blackburn daher – wie wir in Abschnitt 6.2 gesehen haben – betont, dass sich lokale Akteure immer in einer Vielzahl von Kontexten bewegen und bewegt haben, und dass die Frage, welche Relevanz das ,Problem des Kolonialismus‘ für einen spezifischen Kontext jeweils hatte, nur durch dessen detaillierte Rekonstruktion zu beantworten ist.113 Sie schließt damit auch an eine Überlegung von Frederick Cooper zum Status der kolonialen Moderne und der Positionierung indigener Akteure an: Did such thinkers specifically fight their battles on the turf of modernity, engaging a vision that represented itself as modernizing and proposing an alternative to it? Or can one characterize their thought more precisely using other terminology, and
112 Mir erscheint jegliches Bestreben hier die ,eigentlichen Verhältnisse‘ vollständig von der dann als ,westlich‘ verstandenen Repräsentation trennen zu wollen, um im Anschluss daran den Versuch zu unternehmen, hinter die Geschichte dieser diskursiven Produktion zu blicken, in letztlich unlösbare theoretische Probleme zu führen. Versucht wird dies etwa von Balagangadhara, S.N., Orientalism, Postcolonialism and the ,Construction‘ of Religion, in: E. Bloch et al. (Hg.), Rethinking Religion in India. The Colonial Construction of Hinduism, London 2010, 135 – 163. Er besteht darauf, dass „,Hinduism‘, as a concept and as an experiential entity, provided the westerners with a coherent experience“ (ebd., 138). Aber damit werden auch all diejenigen Menschen in Indien, für die ,Hinduism‘ heute diese Funktion übernimmt, entweder als ,verblendet‘ aufgefasst, oder nun ebenso zu „westerners“. Diese Kritik soll selbstverständlich nicht implizieren, dass es nicht möglich sei, den Versuch zu machen, anders zu sprechen. Aber dies sollte meiner Ansicht nach nicht unter Ausklammerung der Geschichte der letzten 200 Jahre und im Glauben an einen Zugang zu den ,eigentlichen Phänomen‘ geschehen. Siehe zu einem solchen Versuch Balagangadhara, S.N., How to Speak for the Indian Traditions, Journal of the American Academy of Religion 73/4, 2005, 987 – 1013. 113 Vgl. Blackburn, Locations of Buddhism, 202.
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particularly can one avoid confusion of present-day frameworks with those of their own time?114
Während diese Frage auf die Hintergrundfolie der ,Moderne‘ verweist und im nächsten und letzten Kapitel der vorliegenden Arbeit ausführlich wieder aufgenommen wird, soll es im Folgenden zunächst darum gehen, dem bisher beschriebenen Auftauchen von neuartigen Gegenständen, Begriffen und Subjektpositionen innerhalb des globalen Religionsdiskurses in verschiedenen asiatischen Kontexten am Beispiel des buddhistischen Modernismus nachzugehen. Die Frage nach dem globalen Religionsdiskurs ist somit tatsächlich eine globale, die daher im Rahmen der hier vorgelegten Arbeit nicht detailliert bearbeitet, sondern im Folgenden nur anhand von einigen beispielhaften Betrachtungen illustriert werden kann. Dies gilt umso mehr für die Komplexität der im vorherigen Abschnitt aufgezeigten Perspektiven auf die Konstitution von Bedeutungsgeschehen. Eine diese Potentiale aufnehmende Theoriebildung müsste die gesamte Fragestellung nach ,Unterscheidungen der Religion‘ letztlich noch einmal grundlegend überdenken und, wie bereits angedeutet, von dort aus reformulieren. Gleichzeitig sollte aber deutlich geworden sein, in welcher Weise die bisher noch nicht auf der Grundlage dieser Theorien zum Bedeutungsgeschehen formulierte Heuristik der Unterscheidungen der Religion an die dort vorgebrachten Perspektiven anschlussfähig ist, auch wenn sich die damit implizierte Komplexität primär in einer genauen Rekonstruktion einzelner historischer Situationen und Begriffsentwicklungen zeigen würde, was hier aber nur angedeutet und nicht detailliert vorgeführt werden kann. Was im Folgenden daher versucht werden soll, hat den Status illustrierender Beispielbetrachtungen, die anhand einer Beschäftigung mit mehreren spezifischen historischen Kontexten die Potentiale der hier bisher vorgeschlagenen Heuristik erproben sollen. Dieses Kapitel fokussiert daher in seinem zweiten Teil auf drei asiatische Kontexte und die Formation des ,Buddhismus‘ als ,Religion‘. Der Begriff der Formation weist hier sowohl auf den Prozess hin, in welchem ,der Buddhismus‘ als diskursiver Gegenstand formiert wird, als auch darauf, dass ,der Buddhismus‘ damit als Formation oder zumindest als Teil einer diskursiven Formation, nämlich des globalen Religionsdiskurses verstanden werden soll.115 Gleichzeitig schließen die folgenden Analysen weiterhin an eine primär diskurstheoretisch orientierte Beschäftigung mit Pluralität und Differenzierung von ,Religion‘ im Sinne der Konstitution von Religionen sowie der Un114 Cooper, Frederick, Colonialism in Question. Theory, Knowledge, History, Berkeley 2005, 130. Vgl. Blackburn, Locations of Buddhism, 213. 115 Vgl. zu einer ähnlichen Betrachtung des Doppelcharakters von „Formation“ auch den Begriffsvorschlag „Formationen-Formierungen“ von Nonhoff, Martin, Politischer Diskurs und Hegemonie. Das Projekt „Soziale Marktwirtschaft“, Bielefeld 2006, 35 – 36.
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terscheidung von ,Religion‘ von anderen Bereichen an. Aus arbeitspragmatischen Gründen liegt der Fokus erneut auf dem ,Buddhismus‘ sowie mit der Unterscheidung von ,Religion‘ und ,Wissenschaft‘ (in buddhistischen Kontexten) auf einer spezifischen Unterscheidung. Die hier diskutierten historischen Situationen dienen daher auch vorrangig der Plausibilisierung des in der gesamten Arbeit verfolgten Interesses und dem Versuch, die möglichen Fragerichtungen aufzuzeigen, welche der hier vorgeschlagene Perspektivenwechsel in einer Auseinandersetzung mit der ,Globalen Religionsgeschichte‘ sichtbar machen könnte.116 Während der Fokus zunächst auf der Formation des Gegenstandes ,Buddhismus‘ innerhalb der Pluralität des modernen Religionsdiskurses liegt, wird im Anschluss die Frage nach der Subjektposition des ,Buddhisten‘ in den Blick genommen. Anhand einer Betrachtung zur Einschreibung Siams in den modernen Religionsdiskurs steht abschließend in einer Auseinandersetzung mit einem Beispiel zur Vorgeschichte der Aushandlung einer Unterscheidung von ,Religion‘ und ,Wissenschaft‘ die Differenzierung der ,Religion‘ im Mittelpunkt. Gefragt ist also nach der Formation des ,Buddhismus‘ als einer ,Religion‘ im Rahmen des globalen Religionsdiskurses. Während in der in Abschnitt 6.2 dargestellten wissenschaftlichen Debatte um den buddhistischen Modernismus der Fokus auf Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Ceylon des 19. und frühen 20. Jahrhunderts liegt, wobei der ,Buddhismus‘ als ,Religion‘ bereits vorausgesetzt und somit der ,buddhistische Modernismus‘ in ein Verhältnis etwa zu einem ,traditionellen Buddhismus‘ gesetzt wird, gehen die weiteren Überlegungen in diesem Kapitel aus diskurstheoretischer Perspektive davon aus, dass sich der Buddhismus als Religion in diesem Zeitraum überhaupt erst als Gegenstand des globalen Religionsdiskurses formiert. Anschließend an den oben gegebenen kurzen allgemeinen Überblick über die zweifache ,Entdeckung‘ des ,Buddhismus‘ als einer etwa in Südasien, Südostasien, China und Japan weit verbreiteten ,Religion‘, werden mit Ceylon, Burma und Siam im 19. und frühen 20. Jahrhundert nun drei Quellensituationen in den Blick genommen. Zunächst wird im ersten Abschnitt (6.4.1) anhand einer Auseinandersetzung mit der verfügbaren Sekundärliteratur zu Ceylon und Burma nach der Formation von Begriffen gefragt. Im Anschluss an die bisher präsentierten Perspektivenwechsel erscheint es dabei sinnvoll, nicht 116 Sie sind als Beispielbetrachtungen bereits aus Platzgründen sehr beschränkt, vor allem aber auch aus dem Grund, dass die einzelnen historischen Situationen in ihren komplexen Eigenheiten vom Verfasser durch den fehlenden philologischen Zugang zu den historischen Quellen nicht auf einem für Spezialstudien zu den jeweiligen Regionen notwendigen Niveau bearbeitet werden konnten. Vielmehr erfolgt die Darstellung auch hier im Rückgriff auf die Sekundärliteratur. Ein Großteil der Studien, auf die hier zurückgegriffen wird, ist darüber hinaus erst in den letzten Jahren erschienen. Für viele der notwendigen Fragen sowie viele andere hier nicht behandelte Kontexte liegen bisher allerdings weiterhin keine detaillierten Untersuchungen vor.
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abstrakt nach einer möglichen Existenz von Äquivalenten der Begriffe ,Buddhismus‘ und ,Religion‘ in buddhistischen Kontexten Asiens zu fragen. Statt dessen gehen die folgenden Überlegungen den historischen Prozessen der Formation hypothetischer Äquivalente dieser Begriffe in asiatisch-buddhistischen Kontexten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nach, und präsentieren einige aus der Sekundärliteratur erhobene Beispiele. Um jedoch einer möglichen Kritik gleich im Vorhinein zu begegnen – nämlich dass es sich bei diesen Entwicklungen ,nur‘ um bestimmte Transformationen im Rahmen begrifflicher Bezeichnungen handelt (eine Position, die im Rahmen einer diskurstheoretischen Perspektive sowieso schwierig zu vertreten wäre) – soll in einem weiteren Abschnitt (6.4.2) die ,Institutionalisierung‘ dieser Begrifflichkeiten angesprochen werden. Denn die neue ,Religion‘ des ,Buddhismus‘ gewann – so die These – ihre Präsenz als Entität in den angesprochenen asiatischen Ländern nicht allein über die Entstehung neuer Begrifflichkeiten, sondern (neben anderen Faktoren) auch durch eine neue Form des Sozialen, jene der formalen Organisation. Der ,Buddhismus‘ erlangte soziale Form unter anderem durch die Entstehung und Verbreitung einer Vielzahl von neuartigen und dezidiert buddhistischen Organisationen. Dieser Aspekt wird diesem Abschnitt in der Auseinandersetzung mit einer Studie Alicia M. Turners angesprochen,117 und könnte damit als eine mögliche Antwort auf die Frage verstanden werden, ob und in welcher Weise ,der Buddhismus‘ etwa im Burma sowie auch im Ceylon des 19. Jahrhunderts als eine Identitätsmarkierung möglich wurde.118 Jedoch – so die sich aus den im vierten Kapitel präsentierten Überlegungen zu den Charakteristika des modernen Religionsdiskurses ergebende These – war diese Entstehung von Begrifflichkeiten von ,Religion‘ und ,Buddhismus‘ auch in Asien eng mit der Proliferation neuartiger Unterscheidungen verknüpft. Diese Unterscheidungen, zwischen ,dem Religiösen‘ und ,dem Säkularen‘, zwischen ,Religion‘ und anderen Bereichen wie ,Wissenschaft‘ oder ,Politik‘ (sowie – wie angedeutet – zwischen ,Religion‘ und ähnlichen, aber doch als ganz Anderes verstandenen und notwendig von ,Religion‘ unterschiedenen Phänomenen wie ,Aberglauben‘ oder ,Magie‘), strukturieren die Auseinandersetzungen, in denen sich sowohl ,Religion‘ als auch ,Buddhismus‘ im Asien des 19. und 20. Jahrhunderts formieren. Anhand eines spezifischen Quellentextes aus dem Kontext des globalen Religionsdiskurses im Siam des 19. Jahrhunderts steht daher in einer dritten Beispielbetrachtung die Unterscheidung von ,Religion‘ und ,Wissenschaft‘ und die Frage nach deren ,Vorgeschichte‘ im Mittelpunkt (6.4.3). 117 Turner, Alicia M., Buddhism, Colonialism and the Boundaries of Religion. Theravada Buddhism in Burma, 1885 – 1920, Unveröffentlichte Dissertation, Chicago 2009. Die Arbeit ist überarbeitet nun auch erschienen als: dies., Saving Buddhism. Moral Community and the Impermanence of Colonial Religion, Honolulu 2014. 118 Vgl. zu dieser These auch Scott, David, Refashioning Futures. Criticism After Postcoloniality, Princeton 1999, 60.
Beispielbetrachtungen zur Formation des ,Buddhismus‘
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In einem größeren Rahmen müsste für die in diesen Beispielbetrachtungen angedeuteten Fragestellungen eine Auseinandersetzung mit ,religiösen Modernismen‘ auch in anderen geographischen Kontexten gesucht werden. Eine solche könnte andeuten, dass die hier verhandelte Dynamik sich nicht nur auf buddhistische Kontexte beschränkt, sondern dass diese Form des ,Modernismus‘ und die damit einhergehende Formation des globalen Religionsdiskurses sich auch anderswo finden lässt, und vermutlich gewinnbringend im Anschluss an die hier vorgeschlagene Heuristik analysiert werden könnte. So findet sich eine ,Organisierung‘ des ,Hinduismus‘ und des ,Islam‘ ebenso wie eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis dieser ,Religionen‘ zur ,Wissenschaft‘ auch in zahlreichen anderen südostasiatischen Kontexten und darüber hinaus.119 Ähnlich ließe sich darauf verweisen, dass entsprechende Problemlagen und Charakteristika sich bis heute als Kennzeichen des globalen Religionsdiskurses erhalten haben und etwa im Rahmen des ,Buddhismus‘ in einer immer wieder neu aufgenommenen Debatte um ,Buddhismus und Wissenschaft‘ auftauchen, in der gegenwärtig nicht zuletzt der XIV. Dalai Lama als zentraler Akteur auftritt.120 Anhand des Beispiels der Formation des ,Buddhismus‘ sowie der immer wieder debattierten Frage nach dem Verhältnis von ,Buddhismus‘ und ,Wissenschaft‘ lassen sich, wie bereits im fünften Kapitel vorgeschlagen, die dem globalen Religionsdiskurs inhärenten Unterscheidungs- und Differenzierungsprozesse beispielhaft beobachten. Gleichzeitig zielt die vorgeschlagene Fokussierung auf einen zumindest mit diesen zwei Charakteristika verbundenen Unterscheidungsprozess nicht darauf, die hegemoniale und vollständige Durchsetzung dieser Unterscheidungen in globaler Perspektive zu behaupten, sondern vielmehr darauf, die Orte der Auseinandersetzung um diese Unterscheidungen und ihre Bedeutung für die Genese des globalen Religionsdiskurses zunächst einmal zu identifizieren. Sie ist daher vielmehr eine Frageperspektive als eine Antwortperspektive und interessiert sich sowohl für Diskontinuitäten als auch für Kontinuitäten. Die Frage, inwiefern diese Un119 Auf entsprechende Vergleichsmöglichkeiten weist auch Hansen, Anne R., How to Behave. Buddhism and Modernity in Colonial Cambodia, 1860 – 1930, Honolulu 2007, 5 – 7 hin. Vergleiche als kurzen Überblick zum 19. Jahrhundert auch Koschorke, Klaus, Christliche Missionen und religiöse Globalisierung im 19. Jahrhundert, in: W. Demel/H.-U. Thamer (Hg.), WBG-Weltgeschichte. Eine globale Geschichte von den Anfängen bis ins 21. Jahrhundert. Band 5: Entstehung der Moderne. 1700 bis 1914, Darmstadt 2010, 195 – 208. Siehe zum Islam und im Hinblick besonders auf Südostasien nur Kurzman, Charles, Modernist Islam, 1840 – 1940. A Source Book, Oxford 2002; Hefner, Robert W./Horvatich, Patricia (Hg.), Islam in an Era of Nation-States. Politics and Religious Renewal in Muslim Southeast Asia, Honolulu 1997; Hooker, Michael B., Indonesian Islam. Social Change Through Contemporary fata¯wa¯, Honolulu 2003. Diesen Überlegungen kann an dieser Stelle allerdings nicht weiter nachgegangen werden. 120 Siehe etwa XIV. Dalai Lama, The Universe in a Single Atom. The Convergence of Science and Spirituality, New York 2005 und als historischen Überblick über zumindest einige Kontexte Lopez, Donald S., Buddhism and Science. A Guide for the Perplexed, Chicago 2008.
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Die Formation des ,Buddhismus‘ im globalen Religionsdiskurs
terscheidungen in einem spezifischen historischen Kontext etwas komplett Neues dargestellt oder auf früher schon verbreitete Klassifikationssysteme zurückgegriffen und diese eher reformiert als neu formiert haben, ist dann jeweils erst im lokalen Kontext zu klären.
6.4.1 Die Formation der Begriffe des ,Buddhismus‘ Der globale Religionsdiskurs, in dem sich der Gegenstand ,Buddhismus‘ als ,Religion‘ formiert, impliziert über den Verlauf des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch eine Vielzahl von in neuer Form verwendeten oder sogar gänzlich neu geprägten Begriffen in der Beschreibung dieses Gegenstandes. Aus diskurstheoretischer Perspektive stellen sich hier eine Reihe von Fragen, die im Rückgriff auf Foucaultsche Begrifflichkeiten etwa wie folgt formuliert werden könnten: Die diskursive Formation des globalen Religionsdiskurses geht mit der Formation dieser Begriffe einher. Inwiefern lässt sich nun plausibilisieren, dass die in den einzelnen asiatischen Kontexten gebildeten Begriffe für ,Religion‘ und ,Buddhismus‘ im Rahmen einer diskursiven Formation erscheinen, die sich durch die genannte Regelmäßigkeit der Unterscheidungen der Religion auszeichnet? Inwieweit kommt es zur Formation hypothetischer Äquivalente in verschiedenen asiatischen Sprachen, die im Kontext dieser Sprachen Aussagen möglich machen, die sich durch die Regelmäßigkeit ihrer Streuung als Teil des globalen Religionsdiskurses auffassen lassen?121 Auch wenn an diese direkt von Foucault entlehnten Formulierungen im Folgenden nicht immer explizit angeknüpft wird, ist die hier interessierende Frage damit nicht diejenige nach der Existenz des ,Phänomens Buddhismus‘ oder nach den Begriffen, die in diesen Kontexten zuvor verwendet wurden, sondern danach, ob sich in dieser Formation der Begriffe innerhalb der letzten 200 Jahre eine Regelmäßigkeit zeigen lässt, die es erlaubt, diese Formation dem globalen Religionsdiskurs zuzuordnen. Im Kontext der Formation des ,Buddhismus‘ als einer ,Religion‘, der – so die hier verfolgte These – weder als ein rein europäischer, noch als ein rein asiatischer verstanden werden sollte, sondern der vielmehr ein Paradebeispiel für eine Verflechtungsgeschichte darstellt, formieren sich über den Verlauf des 19. Jahrhunderts bis in das frühe 20. Jahrhundert in zahlreichen Sprachen Asiens eigene Begriffe für ,Religion‘ und ,Buddhismus‘. Wie bereits im Vorfeld dargestellt, ist die Frage hier nicht die nach der Adäquatheit von ,Äquivalenten‘ der Begriffe des ,Buddhismus‘ oder der ,Religion‘, sondern die Frage, ob sich aus diskurstheoretischer Perspektive hier eine Herstellung von hypothetischen Äquivalenten beobachten lässt, die sich der gleichen diskursiven Formation zurechnen lassen. 121 Siehe für diese Formulierungen die bisherigen diskurstheoretischen Überlegungen und vor allem Foucault, Archäologie des Wissens.
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Die folgende Diskussion referiert hauptsächlich Untersuchungen anderer Autoren zu diesem Begriffswandel sowie zur Entstehung neuartiger Begrifflichkeiten und deren Anwendungskontexten. Die Art und Weise, wie dort über den Sinngehalt von Begriffen, besonders im Hinblick auf frühere Bedeutungen argumentiert und diskutiert wird, entspricht dabei nicht unbedingt den im fünften Kapitel präsentierten Überlegungen im Anschluss an Jacques Derrida. Eine die dort angesprochene Komplexität aufnehmende Betrachtung müsste daher letztlich noch deutlich anders vorgehen. Dies ist jedoch aus arbeitspragmatischen Gründen sowie aufgrund fehlenden Quellenzugangs hier nicht möglich. Was daher im Folgenden angestrebt wird, ist im Hinblick auf die modernen Begriffsverwendungen allerhöchstens der Versuch, diese in den Kontext der Charakteristika des globalen Religionsdiskurses zu stellen. Die im einzelnen referierte Geschichte früherer ,Bedeutungen‘ dieser Begriffe dient daher vor allem der Absetzung zu ihrer modernen Verwendung und zur Illustration dieser Transformation im Hinblick auf ihre Formation als Begriffe des globalen Religionsdiskurses.
6.4.1.1 Ceylon Die Formation des ,Buddhismus‘ als Gegenstand des globalen Religionsdiskurses lässt sich, wie wir bereits im letzten Kapitel gesehen haben, am Beispiel Ceylons nicht zuletzt deshalb gut rekonstruieren, weil sich dort eine Reihe von Entwicklungen ergeben haben, die nicht nur beispielhaft für andere Kontexte stehen können, sondern die auch von Ceylon aus direkten Einfluss auf andere Formationsprozesse ausgeübt haben.122 Nicht zuletzt stand Ceylon bereits vom Beginn des 19. Jahrhunderts an auch im Fokus der entstehenden wissenschaftlichen Debatten um den ,Buddhismus‘ und ist dies bis hin zu den gegenwärtigen Debatten um den „protestantischen Buddhismus“ geblieben.123 Ceylon ist für die hier verfolgte Fragestellung auch deshalb zentral, weil dort bereits von Seiten der gegenwärtigen Forschung die Frage nach der Entstehung der Begrifflichkeiten gestellt wurde, die heute für ,Religion‘ und ,Buddhismus‘ verwendet werden und in diesem Kontext auftreten.124 So hat etwa der Ethnologe David Scott im Anschluss an John R. Carter und Kitsiri Malagoda rekonstruiert, wie sich diese Begriffe auf Ceylon und im Sinhala 122 Siehe dazu unter anderem Blackburn, Locations of Buddhism sowie zu den Interaktionen zwischen Ceylon und Siam Hermann, Adrian, Buddhist Modernism in 19th Century Siam and the Discourse of Scientific Buddhism. Towards a Global History of ,Religion‘, The SSEASR Journal 5, 2011, 37 – 57, hier: 53 – 56. 123 Siehe die Literaturhinweise in Abschnitt 6.2. 124 Diese bereits vorhandene Literatur zu Ceylon, ebenso wie die Untersuchungen zu diesen Fragen im burmesischen Kontext ermöglichen es, im Folgenden einige Überlegungen zu dieser Formation der Begriffe anzustellen, obwohl eine detaillierte Darstellung vor allem aufgrund fehlender Sprachkenntnisse in der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden kann.
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Die Formation des ,Buddhismus‘ im globalen Religionsdiskurs
besonders über die letzten 200 Jahre formiert haben.125 Denn auch wenn bereits zuvor eine ausführliche reflexive Auseinandersetzung um das stattgefunden hat, was (aus heutiger Sicht) als Geschichte des ,Buddhismus‘ erscheint, wurden diese früheren Debatten – so Scott – nicht unter Verwendung derjenigen Begriffe geführt, die heute in europäischen Sprachen zumeist mit ,Buddhismus‘ und ,Religion‘ übersetzt werden. In diesem Sinne formuliert Scott im Anschluss an Malagoda und Carter : Pious men and women in Sri Lanka […] had doubtless thought a good deal about the Buddha, about his dhamma, about the Five Precepts and the Three Refuges, about the consequences of their good and bad actions, and so on; but they had not thought about „religion“ in the modern sense of a natural, abstract, systematic entity and thus had not imagined themselves to possess one distinctive member of the family of such entities, that is, „Buddhism“ – about which, so far as we know, the Buddha never spoke.126
Vielmehr lasse sich zeigen, dass sich die Begriffe zur Bezeichnung von ,Religion‘ und ,Buddhismus‘ (wie Scott im Anschluss an Carter argumentiert) erst über die letzten zwei Jahrhunderte formiert hätten.127 Laut Kitsiri Malagoda wurden vor den scharfen Auseinandersetzungen mit den protestantischen Missionaren im 19. Jahrhundert auf Ceylon einzelne ,Religionen‘ nicht in der Form gegeneinander abgegrenzt und verglichen, wie dies dann im Verlauf der Kontroversen und Debatten des 19. Jahrhunderts und im Anschluss daran geschah. Natürlich gab es auch vorher schon (,innerbuddhistische‘) Debatten über das, was (und was nicht) zum Eigenen dazu gehörte, und eine Auseinandersetzung mit der Unterscheidung zwischen ,buddhistischen‘ und ,nicht-buddhistischen‘ Praktiken hatte, so Malalgoda, in verschiedenen historischen Situationen immer wieder an Relevanz gewonnen. Dennoch sei eine klare Abgrenzung und gegenseitige Ausschließlichkeit von zwei ,Religionen‘ des ,Buddhismus‘ und des ,Christentums‘ noch im frühen 19. Jahrhundert nicht zu erkennen gewesen.128 Dies sei im übrigen auch daran abzulesen, dass in der Frühgeschichte der britischen protestantischen Mission auf Ceylon zu Beginn des 19. Jahrhunderts die buddhistischen Mönche ihre Klöster und Ressourcen für die christlichen Missionare mit großer Selbstverständlichkeit zur Verfügung gestellt, und in diesen zunächst eher Verbündete als Gegner gesehen zu haben scheinen.129 Über den Verlauf des 19. Jahrhunderts führten dann jedoch nicht zuletzt die heftigen Auseinander125 Vgl. Scott, Refashioning Futures, 54. Die von den verschiedenen Autoren als Übersetzungsmöglichkeiten für die einzelnen Begriffe angegebenen Vorschläge werden von mir im Folgenden der Lesbarkeit halber größtenteils ins Deutsche übersetzt. 126 Ebd., 56. 127 Vgl. ebd. 128 Vgl. Malalgoda, Kitsiri, The Buddhist-Christian Confrontation in Ceylon, 1800 – 1880, Social Compass 20/2, 1973, 171 – 200, hier: 184 – 185. 129 Vgl. Scott, Refashioning Futures, 59 – 60.
Beispielbetrachtungen zur Formation des ,Buddhismus‘
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setzungen zwischen Missionaren und Mönchen zum Entstehen einer Reihe von neuartigen Begriffen und zur Transformation überlieferter Begriffe. Unter den in diesem Zusammenhang in Ceylon auftauchenden Begrifflichkeiten sind zumindest vier Begriffe und ihre zugehörigen Wortfelder zu nennen, die auch in anderen asiatisch-buddhistischen Kontexten eine wichtige Rolle gespielt haben. Dies sind bauddha-samaya, sa¯sana, buddha-agama und dhamma.130 Laut Carter lässt sich unter bauddha-samaya wörtlich etwas wie „Zusammenkommen“ verstehen und in übertragener Bedeutung dann bestimmte „Gewohnheiten“, also das, was unter ,Buddhisten‘ an „Grundsätzen“ (mata), „Meinungen“ (ditthi) und „Lehren“ (dharma) üblich ist. In diesem erwei˙˙ dieser Begriff, der im literarischen Sinhala bisweilen zu terten Sinne kann finden war, dann vielleicht auch soviel wie „buddhistische Gemeinschaft“ bedeuten.131 Dennoch gebe es auch hier noch einen deutlichen Unterschied zu einem Begriff von ,Buddhismus‘. Wie Carter formuliert: „The difference between bauddha-samaya and ,Buddhism‘ would be significant; without the former the latter would not have had a history.“132 Andererseits könne man auch versuchen, bauddha-samaya als „buddhistisches Denken“ zu verstehen, insofern es sich auf mata, ditthi oder dhamma bezieht, sowie als „buddhis˙˙ tische Tradition“ in einem erweiterten Sinn, in dem der Begriff dann auch auf „buddhistische Praktiken“ und „Riten“ verweist.133 Ein zweiter zentraler Begriff ist sa¯sana. Dieser Begriff, der schon im PaliKanon immer wieder vorkommt, taucht sowohl alleine als auch in der Form buddhasa¯sana auf, und scheint als Kompositum in einer späteren Verwendung die Bedeutung von „Instruktion, Mahnungen des Buddha“ angenommen zu haben.134 Die Bedeutung von sa¯sana als alleinstehender Begriff ist laut Carter noch immer schwer anzugeben,135 aber auch hier lässt sich ein Bedeutungsfeld von „Anweisung, Ermahnung, Botschaft, Gebot“ annehmen und der Begriff sich in dieser Verwendung in der kanonischen Literatur finden.136 Es scheint hier über die lange Geschichte des Begriffs eine Reifizierung stattgefunden zu haben, in deren Verlauf sich der Begriff verstärkt auf einen etablierten Satz von Lehren und systematischen Vorschriften im Sinne eines Lehrsystems bezieht.137 Auch taucht sa¯sana teilweise als ein Alternativbegriff zu dhamma 130 Vgl. Carter, John R., A History of ,Early Buddhism‘, Religious Studies Review 13/3, 1977, 263 – 287. 131 Vgl. ebd., 264 – 265. 132 Ebd., 265. 133 Vgl. ebd. 134 Vgl. ebd., 266. 135 Zur Verwendung von sa¯sana im Pali und besonders im Pali-Kanon siehe u. a. Anderson, Carol S., Pain and Its Ending. The Four Noble Truths in the Therava¯da Buddhist Canon, Richmond 1999, 32 – 33. 136 Vgl. Carter, History of ,Early Buddhism‘, 266. 137 Vgl. ebd.
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Die Formation des ,Buddhismus‘ im globalen Religionsdiskurs
auf, wenn dieser in der Verwendung als „vorgeschriebene Praxis“ oder „Teil der überkommenen Lehre“ erscheint. Auch im Kontext von dhammavinaya („Lehre und Disziplin“) ist von sa¯sana die Rede.138 Neben diesen Verwendungsweisen nimmt sa¯sana laut Carter im Laufe der Zeit eine institutionelle Dimension an, innerhalb welcher der Begriff nicht mehr nur die Verpflichtung zur Verbreitung einer spezifischen Lehre, sondern eine Institution im Sinne einer organisierten Gemeinschaft bezeichnet, die diese Lehre vertritt und befördert.139 Dennoch lässt sich für Carter eine direkte Übersetzung von sa¯sana als „Religion“ oder „Buddhismus“ zumeist nicht rechtfertigen. Carter stellt fest: „it should be apparent that sa¯sana represents neither an equivalent for ,religion‘ nor ,Buddhism‘.“140 Illustrieren lasse sich dies laut Carter etwa dadurch, dass sich sa¯sana in älteren Texten eben auch in einem Kontext findet, in dem der Begriff auf den Anführer der Bewegung der Jains verweist.141 Ein weiterer Begriff, der heute aus dem Sinhala in europäische Sprachen in der Regel mit „Religion“ übersetzt wird, ist a¯gama. Die Begriffe a¯gama und buddha¯gama sind gleichzeitig im heutigen Sri Lanka auch die am öftesten verwendeten Begriffe für eine Übersetzung von ,Religion‘ und ,Buddhismus‘.142 Bei a¯gama handelt es sich um ein Wort, das aus dem Sanskrit und Pali stammt, und das in klassischer Verwendung etwa „Ankunft“ oder „Annäherung“ bedeutet. Daneben wurde es aber auch in der Bedeutung von „autoritativer Text“ verwendet, als (wie Carter formuliert) „that which has come down to the present“. Der Begriff verweist hier auch auf eine schriftlich erhaltene Tradition. In dieser erweiterten Form erstreckt sich die Bedeutung dann auch auf „Schriften“ und „etablierte Vorgehensweise und Disziplin“.143 Wie der Begriff a¯gama sich allerdings zu einer Übersetzung für den westlichen Begriff ,Religion‘ entwickelt hat, ist bisher relativ unklar. So stellt Carter etwa fest, dass sich a¯gama in einer solchen Bedeutung weder in der kanonischen Pali-Literatur noch in den klassischen und mittelalterlichen Texten im Sinhala finde.144 Die Vermutung von John R. Carter in diesem Zusammenhang 138 139 140 141 142
Vgl. ebd., 268. Vgl. ebd., 269. Ebd., 266. Vgl. ebd., 269. Vgl. auch Southwold, Martin, Buddhism in Life. The Anthropological Study of Religion and the Sinhalese Practice of Buddhism, Manchester 1983, 4, 76 – 77. Der Begriff a¯gama ist heute auch in Indonesien der ,offizielle Religionsbegriff ‘. Siehe etwa Abalahin, Andrew J., A Sixth Religion? Confucianism and the Negotiation of Indonesian-Chinese Identity under the Pancasila State, in: A.C. Willford/K.M. George (Hg.), Spirited Politics. Religion and Public Life in Contemporary Southeast Asia, Ithaca 2005, 119 – 142. 143 Carter, History of ,Early Buddhism‘, 270. 144 Heinz Bechert sieht dies allerdings anders und schreibt, dass die Verwendung von a¯gama im Sinne von buddhadharma sehr viel älter sei. Vgl. Bechert, Heinz, Buddha-Feld und Verdienstübertragung. Mahayana-Ideen im Theravada-Buddhismus Ceylons, Bulletin de l’Acad~mie royale de Belgique 5, 1976, 27 – 51. Natürlich implizieren diese Formulierungen
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ist, dass das Wort erst im späten 18. oder frühen 19. Jahrhundert zur Wiedergabe von ,Religion‘, und der Begriff buddha¯gama dann als Bezeichnung für ,buddhistische Religion‘ verwendet wurde. Er vermutet, dass diese Entwicklung mit dem Kontakt zu christlichen Missionaren zu tun hatte. Malalgoda hatte auf eine solche Geschichte des Begriffs a¯gama bereits 1972 hingewiesen und stellt explizit die Behauptung auf, dass diese Begriffsverwendung von den christlichen Missionaren im 19. Jahrhundert eingeführt worden sei. Die Missionare hätten damit den ,Buddhismus‘ bezeichnet und erst später hätte sich der Begriff dann in Ceylon auch als Selbstbezeichnung durchgesetzt.145 Besonders im späten 19. Jahrhundert gewinnt der Begriff a¯gama in einer solchen Verwendungsweise an Relevanz. So findet sich, wie Carter an einigen Beispielen demonstriert, etwa 1886 eine englische Übersetzung des Kompositums a¯gamatthakatha¯su als „in the Commentaries of the religion“ durch E. ˙˙ einen Verwaltungsassistenten in Galle. Im Vima¯navathu, R. Goonaratne, einem Teil des suttapitaka des Pali-Kanon, sei dieses Kompositum eher noch – so Carter – als „in the textual or traditional commentaries“ verstanden worden. Im selben Zeitraum (1892) finden sich darüber hinaus auch immer noch Übersetzungen von a¯gama als „authoritative text, canonical texts“, etwa in einem Brief von Piyaratana Tissa Thera an T.W. Rhys Davids, der im Journal of the Pali Text Society publiziert wurde.146 Wie Carter darüber hinaus bemerkt, wurde noch 1922 im Pali-English Dictionary der Pali Text Society unter dem Stichwort a¯gama der englische Begriff „religion“ nicht genannt. Allerdings findet sich zur selben Zeit in Charles Carters A Sinhalese-English Dictionary unter dem Eintrag a¯gama der folgende Hinweis: „general usage: religious system, religion“. Dies zeigt für John R. Carter zum einen an, dass sich die Pali Text Society bewusst gewesen zu sein scheint, dass in der kanonischen Literatur a¯gama nicht in der Bedeutung von „religion“ vorkommt, und dass zum anderen spätestens um 1924 eine Verwendung von a¯gama als „religion“ im Sinhala durchaus üblich geworden war.147 Wie hat sich dieser Wandel abgespielt und wie lässt er sich theoretisch fassen? Welche Fragestellungen lassen sich anhand einer solchen Entwicklung beider Autoren wieder all die Probleme, die auch bisher die Frage nach ,Äquivalenten‘ begleitet haben. Eine entsprechende Kritik an jeder einzelnen Formulierung soll hier aber ausbleiben, da es in diesem und dem folgenden Abschnitt nun um eine andere Frageperspektive geht. 145 Vgl. Malalgoda, Kitsiri, Sinhalese Buddhism: Orthodox and Syncretistic, Traditional and Modern, Ceylon Journal of Historical and Social Sciences (New Series) 2/2, 1972, 156 – 169, hier: 164. 146 Siehe Journal of the Pali Text Society 1, 1892, 21, zitiert nach Carter, History of ,Early Buddhism‘, 271. 147 Ebenda. Carter weist darüber hinaus noch darauf hin, dass sich möglicherweise verschiedene Begrifflichkeiten parallel entwickelt haben, und dass zum Beispiel 1892 die Verwendung eines Kompositums von a¯gamadharmaya durch den Ven. Panifananda in einem sinhalesischen Brief an europäische Gelehrte ein anderer früher Versuch der Formation eines sinhalesischen Wortes für ,Religion‘ gewesen sein könnte. Vgl. ebd., 271 (Fußnote 7).
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Die Formation des ,Buddhismus‘ im globalen Religionsdiskurs
konzipieren, wenn dieser moderne Begriffswandel nicht als sekundärer Aspekt, sondern als zentral für die Formation des globalen Religionsdiskurses aufgefasst wird? Eine detaillierte Geschichte des Begriffs a¯gama liegt weder für Ceylon noch in größerem Rahmen vor. Jedoch vermutet Carter, dass diese Entwicklung besonders mit der zunehmenden protestantischen Präsenz auf Ceylon zu tun hatte und vor allem mit den scharfen Auseinandersetzungen und öffentlichen Debatten über den Verlauf des 19. Jahrhunderts: I would suggest, as mentioned above, that Sinhalese Theravada Buddhists have become acquainted with the concepts ,religion‘ and ,Buddhism‘ and have either attempted to coin Sinhalese terms to match the concepts or decided to adopt new terms and/or new meanings first proposed by Westerners, perhaps by Christian missionaries.148
In den Texten, welche die ab 1865 geführten öffentlichen Debatten zwischen christlichen Missionaren und buddhistischen Mönchen dokumentieren, ist immer wieder die Rede von kristiya¯ni a¯gama und buddha¯gama als zwei gegensätzlichen Entitäten, die miteinander in Konflikt stehen. Die dort verhandelten Fragen nach der ,Wahrheit‘ und ,Falschheit‘ dieser beiden Einheiten und die Möglichkeit, überhaupt diese Form von Fragen zu stellen, weist darauf hin, wie weit bereits hier ein Prozess der Reifizierung dieser Entitäten fortgeschritten war.149 Carter geht davon aus, dass eine Verwendung von a¯gama im Verlauf dieser Debatten stark zunahm und die Prägung der entsprechenden Bedeutung des Begriffs dieser Entwicklung um höchstens 100 Jahre vorausgeht.150 Interessant ist hierbei aber gleichzeitig, dass in der Frühphase dieser Auseinandersetzung zu beobachten ist, dass die Begrifflichkeiten eben noch nicht so fest etabliert sind, wie das heute der Fall zu sein scheint. So etwa im Titel der 1849 vom Missionar Daniel John Gogerly verfassten Streitschrift Kristiyani Prajnapti, die von heutigen Autoren meist als „Institutes of the Christian Religion“151 oder „The Evidences and Doctrines of the Christian Religion“ übersetzt wird.152 Eine wörtliche Übersetzung von Kristiyani Prajnapti im Hinblick auf die zeitgenössische Verwendung des Begriffs könnte aber – so würde ich vermuten – eher „Christliche Begrifflichkeiten“ lauten. Die genaue Übersetzung ist hier jedoch nicht entscheidend, wichtig ist vielmehr, dass auch dies darauf hinweist, dass zu diesem Zeitpunkt die sinhalesische
148 149 150 151 152
Ebd., 272. Für Belege hierzu vgl. ebd. Ebd., 273. Young/Somaratna, Vain Debates, 79. Malalgoda, The Buddhist-Christian Confrontation, 190.
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Begrifflichkeit von a¯gama noch nicht festzustehen oder sogar in dieser Verwendung noch gar nicht zur Verfügung zu stehen scheint.153 Eine zentrale Ressource, über welche diese Auseinandersetzungen geführt wurden, und mit deren Hilfe eine solche tiefgreifende Neuprägung von Begriffen überhaupt erst ermöglicht wurde, war – so ließe sich im Anschluss an die vorhandenen Studien behaupten – die Druckerpresse. Ihre massive Verbreitung in Asien über den Verlauf des 19. Jahrhunderts führte dazu, dass die Reichweite und Bedeutung solcher Auseinandersetzungen und Transformationen stark zunehmen konnte. In Ceylon lässt sich (wie wir bereits in den vorherigen Abschnitten gesehen haben) beispielhaft beobachten, wie der massenhafte Einsatz des Drucks von Traktaten und Periodika durch die Missionare dann auf Seiten der Mönche zu einer Imitation dieser Praxis führt, und die Druckerpresse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer zentralen Ressource auch der buddhistischen Selbstbeschreibung wurde. Die erste buddhistische Druckerpresse wurde hier 1855 zum Einsatz gebracht. Interessanterweise handelte es sich dabei um eine ältere Missionspresse, die von den Missionaren zuvor zum Druck anti-buddhistischer Schriften genutzt worden war. Eine zweite Presse konnte 1862 nicht zuletzt dank der Unterstützung durch Rama IV. (Mongkut), den König Siams, in Betrieb genommen werden.154 Auch im Hinblick auf die im Kontext des buddhistischen Modernismus so zentralen neuen Organisationsformen lässt sich feststellen, dass sich die Begrifflichkeiten im Übergang befinden. So war eine erste Vereinigung in der Nähe der Missionsstation der Church Missionary Society in Ko¯tte als einer der ersten Versuche, dem Ansturm der Missionare auch organisatorisch etwas entgegen zu setzen, noch unter dem Namen dharmma-sabha¯wa [sic!] („society for the promotion of religion“) gegründet worden.155 Diesem sehr kurzlebigen Versuch der Insitutionalisierung einer Gegenbewegung folgte dann 1862 die SarvajÇa Sa¯sana¯bhivrddhida¯yaka Dharma Sama¯gama, die ins Englische mit „Society for the Propagation of Buddhism“ übersetzt wurde. Dieser offensichtliche Versuch der Gründung einer Gegenorganisation zu der seit 1840 aktiven Society for the Propagation of the Gospel erfolgte aber, genau wie die genannte noch frühere Gründung, noch nicht unter Verwendung der später und bis heute etablierten Begrifflichkeit von buddha-agama.156 Folgt man Malalgoda, Carter und Scott, lässt sich also festhalten, dass sich auf Ceylon über den Verlauf des 19. Jahrhunderts eine Formation von Begrifflichkeiten für ,Religion‘ und ,Buddhismus‘ vollzogen hat, und dass heute besonders die Begriffe a¯gama sowie buddha¯gama für ,Buddhismus‘ eine weite 153 Vgl. Malalgoda, The Buddhist-Christian Confrontation, 190; Young/Somaratna, Vain Debates, 80 – 85. 154 Vgl. Malalgoda, The Buddhist-Christian Confrontation, 191 – 192. 155 Vgl. Young/Somaratna, Vain Debates, 77. 156 Vgl. Malalgoda, The Buddhist-Christian Confrontation, 192 – 193.
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Die Formation des ,Buddhismus‘ im globalen Religionsdiskurs
Verbreitung erfahren haben und wie selbstverständlich verwendet werden.157 Dies bringt Carter schließlich auch zu der folgenden Feststellung: It has been often said, ,Mahinda brought Buddhism to Ceylon‘. If he did, he did not know it. He probably thought he was sharing a way of life that provided support in a process leading to transcendence, a process of transcending; he called it Dhamma. Further, even a cursory glance at some of the suttas from which he is said to have preached would demonstrate a ,Buddhism‘ quite foreign to ,Buddhism‘ as generally understood in the West. ,Buddhism‘ did not come to Ceylon until the eighteenth or nineteenth century and within a century of its coming, it had became known around the globe.158
Es kommt auf Ceylon also zur Bildung von Neologismen und zur Transformation bereits vorhandener Begriffe sowie der Entstehung neuer Bedeutungen. Dies ist, wie hier skizzenhaft angedeutet wurde, ein historischer Prozess, in dem eine Vielzahl von Faktoren eine Rolle gespielt haben. Hierzu gehörte nicht zuletzt die aktive Praxis eines Postulierens hypothetischer Äquivalenzen durch verschiedenste Akteure, vor allem in den von den Missionaren massenhaft verbreiteten Übersetzungen biblischer Texte sowie in zahllosen anderen Traktaten, die sich sowohl in englischer wie auch in sinhalesischer Sprache mit christlichen und buddhistischen Inhalten auseinandersetzen. Aber was kann es heißen, dass diese Begriffe neue Bedeutungen angenommen haben und seit dem späten 19. Jahrhundert für ,Religion‘ stehen? Angesichts der im vorherigen Kapitel skizzierten Überlegungen zur Konstitution von Bedeutungsgeschehen kann dies in der hier verfolgten Perspektive nur bedeuten, dass die Begriffe in neue Differenzrelationen eingebunden wurden. Nur als ein Beispiel ließe sich auf eine Passage bei Malalgoda verweisen, der diese Frage so diskutiert, dass sich hier eine der im Kontext der vorliegenden Arbeit als Charakteristika des globalen Religionsdiskurses postulierten Unterscheidungen andeutet: References to buddha¯gama […] can be found long before the nineteenth century. But, in those earlier stages, it did not have its later meaning. […] In such a context, there might well have been an implicit distinction between buddha¯gama and other a¯gamas (Jain, Saivite etc.); but the more explicit differentiation was generally between a¯gama and sa¯stra […].159
Das Charakteristikum der Pluralität äußert sich hier also nicht zuletzt darin, dass auf Ceylon im 19. Jahrhundert der ,Buddhismus‘ als eine ,Religion‘ vorgestellt wird, die vom ,Christentum‘ (und anderen ,Religionen‘) klar abgrenzbar ist. Die Frage ist damit nicht primär, welche ,Phänomene‘ im Ceylon 157 Vgl. Carter, History of ,Early Buddhism‘, 277. 158 Ebd., 283 – 284. 159 Malalgoda, Kitsiri, Concepts and Confrontations. A Case Study of Agama, in: M. Roberts (Hg.), Sri Lanka. Collective Identities Revisited, 2 Bände, Colombo 1997, Bd. 1, 55 – 77, hier: 57.
Beispielbetrachtungen zur Formation des ,Buddhismus‘
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des 19. Jahrhunderts mit diesen Begriffen bezeichnet wurden, und auch nicht, welche zahlreichen Kontinuitäten und welche immer auch aufzufindende Vielfalt es in den Begrifflichkeiten und deren Verwendungen gab. Die Frage ist vielmehr, ob sich in der Formation der Begriffe eine Regelmäßigkeit erkennen lässt, die dieser Formationsregel der Pluralität entspricht. Dabei ist für die Rekonstruktion der historischen Situation sicherlich auch entscheidend, dass diese Auseinandersetzungen in einem durch eine Pluralität von Sprachen gekennzeichneten Raum stattfanden, in dem beide Seiten in mehreren Sprachen agierten und dabei nicht zuletzt aufgrund des Stellenwerts des Englischen als der Sprache der kolonialen Machthaber darauf angewiesen waren, hypothetische Äquivalenzen zwischen den Sprachen zu etablieren. Den mit einer solchen Perspektive implizierten Fragen müsste in einer ausführlicheren historischen Analyse dann im Detail nachgegangen werden.
6.4.1.2 Burma Wie Gustaaf Houtman und Alexey Kirichenko gezeigt haben, lassen sich auch in Burma während des 19. und 20. Jahrhunderts eine Reihe von Veränderungen beobachten, die dazu geführt haben, dass sich auch dort Begriffe im Kontext des globalen Religionsdiskurses neu formiert haben.160 Kirichenko rekonstruiert diese Veränderungen im Anschluss an die früheren Studien Houtmans vor allem anhand einer begriffsgeschichtlichen Untersuchung und versucht zu zeigen, dass die Entstehung von neuartigen, umfassenden Begriffen für ,Buddhismus‘ (botdabada) und ,Religion‘ (bada) Hinweise auf eine tiefgreifende Transformation von nun als ,buddhistisch‘ erscheinenden Identitäten gibt. Während die vorkolonialen Begriffswelten in Burma eher auf eine hierarchische Ordnung mit starker Trennung zwischen Mönchen und Laien verweisen, und sich vor allem auf eine spezifische Ansammlung von Praktiken beziehen, deutet der moderne Begriff für ,Buddhismus‘ dagegen eher auf ein einheitliches System von Lehren hin.161 Auch in Burma war der entscheidende Auslöser für diese Veränderungen – so Kirichenko – der intensivierte Kontakt mit der Außenwelt, besonders in Form des britischen Kolonialismus im 19. Jahrhundert. Aber trotz der wichtigen Rolle westlicher Kolonialbeamter und Missionare lässt sich auch hier die Durchsetzung und Formation der Begriffe, mit denen der burmesische ,Buddhismus‘ über den Verlauf des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts 160 Vgl. Houtman, How a Foreigner Invented ,Buddhendom‘; Kirichenko, Alexey, From Thathanadaw to Theravada Buddhism. Constructions of Religion and Religious Identity in Nineteenth- and Early Twentieth-Century Myanmar, in: T.D. DuBois (Hg.), Casting Faiths. Imperialism and the Transformation of Religion in East and Southeast Asia, Basingstoke 2009, 23 – 45. Siehe auch Houtman, Gustaaf, Traditions of Buddhist Practice in Burma, Unveröffentlichte Dissertation, London 1990, 55 – 75. 161 Vgl. Kirichenko, From Thathanadaw to Theravada Buddhism, 23.
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Die Formation des ,Buddhismus‘ im globalen Religionsdiskurs
dann schließlich als eine ,Religion‘ beschrieben wurde, nicht ohne die zentrale Beteiligung indigener Akteure verstehen.162 Der auf den Sanskrit-Begriff sa¯sana zurückgehende burmesische Begriff thathana, der heute oftmals als Äquivalent des westlichen Begriffs ,Religion‘ verstanden wird, gehörte in vorkolonialer Zeit jedoch laut Kirichenko zu einem grundlegend anders strukturierten Zusammenhang: The principal difference between these discourses is that while the Western discourse implied a self-identical, objective system based on doctrine as well as common horizontal identity for the faithful, the indigenous discourse represented a much more complex reality where religious and social identities were inseparable and so religious participation was mediated by one’s social status.163
Vorkoloniale Begriffsverwendungen verwiesen so auf komplexe und vorrangig hierarchisch strukturierte soziale Positionen, während thathana in moderner Verwendung die Konnotation eines einheitlichen Systems von Lehren aufweist, welches als Basis für eine gemeinsame Identität der Anhänger dient.164 Was Kirichenko als „system of thathanadaw“ bezeichnet (im Burmesischen eine respektvollere Form der Bezeichnung von thathana), zeichnete sich somit primär durch strikte Trennungen innerhalb einer Hierarchie aus, in der Laien von anderen Laien, welche bestimmten Geboten folgten, unterschieden wurden, und diese wiederum Einsiedlern, Novizen und Mönchen gegenübergestellt waren, ohne dass es einen Begriff gab, der all diese hierarchischen Unterschiede übergreifen konnte und all die hier genannten zu einer gemeinsamen Einheit zusammenschloss. Besonders die Unterscheidung von Mönchen und Laien war dabei zentral und verwies auf sehr unterschiedliche Komplexe von Praktiken, deren Differenzen nicht leicht zu überbrücken waren.165 Dies zeigt sich unter anderem in vorkolonialen Dokumenten, die von der „thathana der Mönche“ (yahan-thathana) im Unterschied zur „thathana der Laien“ (luthathana) sprechen und damit tendenziell zwei Systeme und nicht primär eine gemeinsame Einheit bezeichnen.166 Laut Kirichenko gab es in vorkolonialer Zeit in diesem Sinne daher keine Vorstellung einer umfassenden Gemeinschaft von Mönchen und Laien als ,Buddhisten‘, da die Rollen sehr klar verteilt waren, und sich daher (möglicherweise anders als in anderen asiatischen Kontexten) keine gemeinsame Identität entwickeln konnte.167 In ähnlicher Weise fokussierten die vorkolonialen Bezeichnungen eher auf eine Praxis als auf ein System von Lehrsätzen. Thathanadaw bezeichnete die Einhaltung einer Reihe von Praktiken und nicht das Fürwahrhalten von Glaubenssätzen. Diese älteren Texte sprechen daher in ihrer Beschreibung 162 163 164 165 166 167
Vgl. ebd. Ebd., 25. Ebd., 25 – 26. Vgl. ebd., 26. Vgl. ebd., 27. Vgl. ebd., 30.
Beispielbetrachtungen zur Formation des ,Buddhismus‘
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eines modellhaften Anhängers der thathanadaw auch meist von Dingen, die zu tun seien, und nicht von bestimmten zu vertretenden Ansichten.168 Ein weiterer von Kirichenko herausgestellter zentraler Unterschied ist, dass sich die vorkolonialen Begriffe thathana und dhamma auf etwas beziehen, das als im Singular gegebene und nicht vergleichbare Einheit dargestellt wird, und nicht als ein Exemplar einer Gattung von ,Religion‘. Im vorkolonialen burmesischen Kontext gab es somit (ähnlich wie in Europa vor der Entwicklung eines den Vergleich notwendig implizierenden Religionsbegriffs) nichts dem dhamma Vergleichbares. Aus diesem Grund gab es auch keine etablierte umfangreiche Beschreibung des Verhältnisses des dhamma zu Anderem.169 Diese vorkoloniale Vorstellung lässt sich noch an Gerichtsakten aus dem frühen 19. Jahrhundert belegen, wo sich eine klare Unterscheidung zwischen thathana und all den anderen ,falschen Ansichten‘ findet, die „ausserhalb der thathana“ liegen.170 Ähnliches findet sich auch in dem Traktat „Geschmack der Befreiung“ von 1872,171 welches zwar bereits kurze Überblicke über ,Christentum‘, ,Islam‘ und ,Hinduismus‘ enthält, diese aber als falsche Systeme immer noch fundamental von thathana unterscheidet, mit der sie nicht verglichen werden könnten. Diese binäre Unterscheidung läuft hier also quer zur Vorstellung eines burmesischen ,Buddhismus‘ als Exemplar einer Gattung von vergleichbaren ,Religionen‘.172 Die Formation von Begriffen, die mit der Vorstellung einer Pluralität von ,Religionen‘ kompatibel sind, und die Transformation von Begriffen wie thathana und dhamma im Rahmen dieser Formation des globalen Religionsdiskurses, hängt mit einer Vielzahl von Entwicklungen während der kolonialen Zeit zusammen. Besonders die missionarische Propaganda sowie die koloniale Administration und Gerichtsbarkeit waren zentral mitverantwortlich für diese Entwicklung. Gleichzeitig wurden diese Begriffe aber auch von burmesischen Akteuren und in der entstehenden Nationalbewegung etabliert. Es entwickelten sich burmesische Begriffe, welche im Sinne des globalen Religionsdiskurses eine Vorstellung von ,Religion‘ als eines identifizierbaren und autonomen sozialen Phänomens reflektierten und burmesische Äquivalente von ,Buddhismus‘ und ,Buddhisten‘ darstellten. Den Anstoß zu dieser neuartigen Begriffsbildung gaben wohl auch hier die Traktate und Schriften christlicher Missionare, die auf Neologismen und Begriffstransformationen zurück greifen mussten, um ihre Texte und Predigten ins Burmesische zu übersetzen. „Religion“ wurde so zu bada (nach Pali bhasa, „Sprache“) und „Buddhismus“ wurde als botdabada („Religion des Buddha“) und die „Bud168 169 170 171
Vgl. ebd., 29. Vgl. ebd., 31. Ebd., 32 – 33. U Hpo Hlaing, Wimotti-yatha-kyan-hnin-kamatana-ggahana-wineithsaya-kyan („Taste of Release; Decision on Taking up the Subjects for Meditation“), Rangun, Hanthawadi, 1953 [1872] (zitiert nach ebd., 32). 172 Vgl. ebd.
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dhisten“ als botadaba-win („Anhänger der Religion des Buddha“) tituliert. Die ersten Belege dieser Begriffe finden sich laut Kirichenko im Titel eines 1852 erschienen Buches mit dem Titel Botdabada-i abidan-hnin myanmakyangan-do-hnaik pa-daw-pinnya-sa („Ein Handbuch des Buddhismus und der burmesischen Literatur“)173 Diese neuen Begriffe etablierten sich dann zwar innerhalb der kolonialen Verwaltung und in der Verwendung durch westliche Akteure sehr schnell, ihre weitreichende Durchsetzung erfolgte aber erst durch indigene Beteiligung. Der neue Begriff botdabada erschien etwa im Namen der am 10. May 1906 gegründeten Kalyana-yuwa-botdabadaathin (Young Men’s Buddhist Association). Diese Vereinigung spielte nicht zuletzt für die in der Entstehung begriffene burmesische Nationalbewegung eine entscheidende Rolle und diese Wahl des Namens machte den Begriff botdabada somit zu einem zentralen Identifikationsbegriff für all diejenigen, die sich dieser Organisation anschlossen oder mit ihr sympathisierten. Spätestens mit dieser Entwicklung wurde der anfänglich von westlichen Missionaren geprägte Neologismus zu einem unabdingbar mit dem burmesischen Nationalismus verknüpften Begriff.174 Wenn man den Schriften des burmesischen Gelehrten und Meditationslehrers Ledi Sayadaw (1846 – 1923) folgt, der den Begriff botdabada immer wieder verwendet, bedeutete der Begriff schon früh etwas ähnliches wie „die Lehre des Buddha“, allerdings ausschließlich in Bezug auf bestimmte Lehransichten und ohne die später ebenso mit ihm assoziierten sozialen und praxisbezogenen Anteile.175 Dies zeigt sich etwa in folgendem Zitat: [What is] called a ,teaching‘ (bada)? Different sayings (zaga), different sermons (taya) delivered and taught by special persons whom numerous sentient beings faithfully revere are called ,religion.‘ There are four great religions. [These] four [are] the great teaching of the Buddha, the great teaching of brahmans, the great teaching of Christians, the great teaching of Muhammad, four altogether. [What is] called ,the great teaching of the Buddha‘? […] Sayings of Shin Gotama, the Noble Buddha, are called ,the teaching of the Buddha.‘176
Genauso häufig wie botdabada verwendet Sayadaw auch den Begriff botdabada-win („Buddhist“). Botdabada gehört für ihn in die gleiche Kategorie wie auch ,Brahmanismus‘ ,Christentum‘ und ,Islam‘. Dies stellt damit den größten Unterschied zwischen der vorkolonialen Bedeutung von thathana und dem neuen Begriff bada dar. Doch auch der Begriff thathana taucht jetzt häufig im Sinne von ,Religion‘ auf, die innerhalb der Kontroversen mit christlichen 173 174 175 176
Vgl. ebd., 33. Vgl. ebd., 34. Vgl. ebd., 35. Ledi Sayadaw, Bada-gyi-lei-ba-shin-lin-gye („The Clarification about the Four Great Teachings“), Thathana-than-shin-yei 1, 128, ca. 1918, in Übersetzung zitiert nach ebd. Die Einfügungen stammen von Kirichenko.
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Missionaren im 19. und frühen 20. Jahrhundert als ,wahr‘ oder ,falsch‘ bezeichnet werden kann.177 Auch wenn die Überlegenheit der botdabada weiterhin betont wird, hat sich hier doch eine Begrifflichkeit etabliert, die botdabadaj,Buddhismus‘ als eine badaj,Religion‘ unter anderen in einen Vergleichszusammenhang stellt.178 Eines der frühesten Beispiele für eine Darstellung von thathanadaw nicht als Praxis, sondern als ein System von Aussagen findet sich in dem Werk Hpodaw-hpaya ayu-wada-sadan („Ansichten des Hpo-daw-hpaya“) des Königs Badonmin von 1818.179 Eine solche Darstellung von thathana nicht nur als etwas, das getan wird, sondern als ein bestimmtes Wissen und die Anerkennung bestimmter Inhalte, wurde im späten 19. Jahrhundert immer verbreiteter. So findet sich ein solches Verständnis etwa auch schon in dem bereits erwähnten Text „Geschmack der Befreiung“ von U Hpo Hlaing.180 Eine Auflistung von entsprechenden Überzeugungen findet sich dann im Jahr 1900 im Werk Ottamapurithadipani („Die Erleuchtung eines hervorragenden Mannes“) von Ledi Sayadaw. Hier beschreibt der Autor eine Liste von richtigen Ansichten die zentral für Buddhisten seien.181 Anhand dieser burmesischen Beispiele aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert lässt sich somit exemplarisch eine Entwicklung beobachten, die auch in vielen anderen Kontexten zu beobachten ist. Aus einer von kolonialer Seite mit ausgelösten und besonders von christlichen Missionaren geprägten Begriffsbildung wird ein Transformationsprozess angestossen, der zu Veränderungen und Neubildungen in der Art und Weise führt, wie über das Eigene gesprochen wird, welches dann letztlich mit den neu geprägten Begriffen und im Kontext der britischen Kolonialherrschaft als ,Buddhismus‘ fungiert. Zentral ist hier erneut die mit einer Formation von Äquivalenten des Religionsbegriffs einhergehende Vergleichsperspektive, die es nun erlaubt, ,Buddhismus‘jbotdabada als eine ,Religion‘jbada neben anderen ,Religionen‘ wie ,Christentum‘, ,Islam‘ und ,Hinduismus‘ zu beschreiben.
6.4.1.3 Fazit Wie lassen sich die hier bisher behandelten Begriffe vor dem Hintergrund der Fragestellung in ihrem Verhältnis zum globalen Religionsdiskurs verstehen? Inwiefern lässt sich davon sprechen, dass sich hier Äquivalente von ,Religion‘ und ,Buddhismus‘ formieren? Im Anschluss an die Überlegungen des fünften Kapitels und im Bezug auf die in der vorliegenden Arbeit heuristisch vorge177 178 179 180 181
Vgl. ebd. Vgl. ebd., 35 – 36. Vgl. ebd., 36 – 37. Vgl. ebd., 37. Vgl. ebd., 37 – 38.
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schlagenen Charakteristika des globalen Religionsdiskurses, lässt sich die These vertreten, dass die Herstellung hypothetischer Äquivalente von ,Religion‘ und ,Buddhismus‘ und damit die Inkorporation vorhandener und neu generierter Begrifflichkeiten in den globalen Religionsdiskurs so beschrieben werden kann, dass diese Begriffe in neue Netze von Unterscheidungen eingebunden oder vorhandene Unterscheidungskonstellationen rekonfiguriert werden. Ein burmesischer oder sinhalesischer Begriff wird somit nicht dadurch zu einem hypothetischen Äquivalent von ,Religion‘ oder ,Buddhismus‘ dass er auf das gleiche Phänomen im Sinne eines Signifikats verweist, sondern er wird insofern als ein hypothetisches Äquivalent hergestellt, als dass er in ein System von Differenzen zu anderen Signifikanten eingebunden wird, das es ermöglicht, hypothetische Tropen der Äquivalenz zu etablieren, und damit a¯gama, bada oder thathana in Äquivalenz zu ,Religion‘ zu verstehen und ein ähnliches Bedeutungsgeschehen zu konstituieren. Auch wenn es gegenwärtig nur begrenzt möglich ist, die Geschichte und Genealogie der Begrifflichkeiten zur Bezeichnung von ,Religion‘ und ,Buddhismus‘ in den einzelnen asiatischen Sprachen zu rekonstruieren, und nur einzelne Versuche zur deren detaillierterer Aufarbeitung unternommen wurden, erscheint es in diesem Sinne dennoch plausibel, festzustellen, dass in all diesen Kontexten vor allem über die letzen 200 Jahre erhebliche Bedeutungsveränderungen eingetreten sind, und dass heute für ,Religion‘ und auch zur Bezeichnung von ,Buddhismus‘ fungierende Begriffe neue Bedeutungen angenommen haben oder als Neologismen sowie durch Kombination älterer Begriffe erst geschaffen wurden. Dies bedeutet natürlich nicht – um diesen wichtigen Punkt noch einmal zu wiederholen –, dass sich allein an der Veränderung der Begrifflichkeiten, die zunächst vermutlich nur eine kleinere Elite betroffen haben, die zentralen Transformationen der ,Religionsgeschichte‘ Asiens und besonders der Geschichte des ,Buddhismus‘ im 19. und 20. Jahrhundert ablesen lassen. Die Veränderungen in der Begrifflichkeit sind jedoch ein Indikator für Transformationen, zu deren Bewertung in ihrer tatsächlichen Signifikanz es zum einen historischer Detailstudien bedarf, die im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden können. Zum anderen verweisen diese Begriffstransformationen auf theoretische Problemlagen, die sich der Frage nach dem globalen Religionsdiskurs stellen, wenn diese Frage tatsächlich diskurstheoretisch und nicht bereits unter Voraussetzung einheitlicher Phänomene von ,Religion‘ und ,Buddhismus‘ gestellt werden soll. Hierbei muss daher noch einmal betont werden, dass es in der hier verfolgten diskurstheoretischen Perspektive nicht um das geht, was Foucault eine „Geschichte des Referenten“ nennt.182 Es geht also nicht darum, inwieweit die 182 Foucault, Archäologie des Wissens, 71. Foucault selbst hält hier allerdings eine solche „Ge-
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hier diskutierten Begriffe ein ,Phänomen Buddhismus‘ tatsächlich beschreiben, verfälschen oder erfassen. Es geht um die Frage, nach welchen Formationsregeln die Streuung der Aussagen in derjenigen diskursiven Formation erfolgt, welche eine solche Formation der Begriffe hervorbringt. Und als eine solche Formationsregel des globalen Religionsdiskurses wurde hier unter anderem vorgeschlagen, dass ,Religionen‘ als voneinander abgegrenzt in einer Pluralität erscheinen. Die Absicht der hier skizzierten Überlegungen und Illustrationen der Formation von Begriffen für ,Religion‘ und ,Buddhismus‘ etc. in asiatischen Kontexten bestand nicht primär darin, über das Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein dieser Begriffe die These einer ,Erfindung‘ des Phänomens ,Buddhismus‘ zu bestätigen oder zu widerlegen. Vielmehr hatten sie vor dem Hintergrund der hier verfolgten diskurstheoretischen Fragestellung die Aufgabe, die These zu plausibilisieren, dass sich das Erscheinen und die Formation dieser Begriffe in einer bestimmten Regelmäßigkeit beschreiben lässt, die es ermöglicht, diese als Teil der diskursiven Formation des globalen Religionsdiskurses zu beschreiben. Gleichzeitig sind damit die spezifischen Bedeutungen, die ein bestimmter Akteur oder ein bestimmter Autor mit der Verwendung der hier beschriebenen Begriffe verbindet, nicht hinreichend charakterisiert, sondern nur der Versuch unternommen, die ,äußeren Bedingungen‘ dieser Verwendungen zu beschreiben. Mit dieser diskurstheoretischen Perspektive geht daher auch nicht die Behauptung einher, dass ein Akteur die Begriffe für ,Buddhismus‘ nicht einsetzen kann, um im Rahmen einer konkreten Artikulation etwas sehr Spezifisches zu bezeichnen. Vielmehr weist die These darauf hin, dass ,Buddhismus‘ als diskursives Element, welches für die Entstehung eines globalen Religionsdiskurses mit verantwortlich ist, auf dieser Ebene nicht über eine spezifische Bedeutung bestimmt werden kann, sondern nur über dem Diskurs zugrundeliegende Differenzrelationen. Ihre Relevanz erlangen die Begriffe für ,Buddhismus‘ daher im Kontext des globalen Religionsdiskurses nicht primär durch die unzähligen speziellen Verständnisse von ,Buddhismus‘, sondern durch die Regelmäßigkeiten, mit denen sie an den Charakteristika des globalen Religionsdiskurses partizipieren, und in denen ,Buddhismus‘ als ,Buddhismus‘ und als ,Religion‘ insofern firmiert, als er sich in Unterscheidungsverhältnissen als ,Buddhismus‘ zu anderen Religionen wie etwa ,Christentum‘ oder ,Hinduismus‘ und als ,Religion‘ zu ,Nicht-Religion‘ und damit nicht zuletzt zu ,Wissenschaft‘ oder ,Politik‘ positioniert. Dieser Abschnitt konnte bisher nur versuchen, durch einen kurzen Einblick in bereits vorhandene Studien zu buddhistischen Kontexten die bisher erarbeitete Heuristik zu plausibilisieren und darauf hinzuweisen, was mit ihrer Hilfe gesehen werden kann. Die bisher beschriebene Formation der Begriffe des globalen Religionsdiskurses ist jedoch eng verknüpft mit der Formation schichte des Referenten“ durchaus für möglich (ebd., 72). Siehe dazu auch Sarasin, Philipp, Michel Foucault zur Einführung, Hamburg 32008, 112 – 114.
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seiner Gegenstände und Subjektpositionen. Dies verbindet sich mit der These, dass sich nicht zuletzt über äquivalente Begriffsnetze – im in dieser Arbeit vertretenen Verständnis – auch ähnliche Gegenstände formieren. Die daran anschließende Frage wäre daher nun, wie neben den Begriffen im Kontext des globalen Religionsdiskurses auch neuartige Gegenstände und Identitäten, also besonders der ,Buddhismus‘ und die ,Buddhisten‘ erscheinen können. Ähnlich stellt diese Frage für Ceylon auch David Scott: „What interests me is not so much the emergence of these new concepts in themselves but the new discursive practices and the new subject-positions these concepts made possible […].“183
6.4.2 Die Formation eines buddhistischen Kollektivs und die Rolle formaler Organisation Mit der Frage nach den Begriffen des globalen Religionsdiskurses ist gleichzeitig die Frage verknüpft, welche Identitäten und ,Subjektpositionen‘ in diesem Kontext auftreten. Für die vorliegende Arbeit wäre daher eine mögliche Frage diejenige nach der Art und Weise, wie im Kontext dieser neuen Begriffe – die es nun nicht nur ermöglichen, ,den Buddhismus‘, sondern auch die ,Buddhisten‘ zu bezeichnen – diese ,Buddhisten‘ im Diskurs erscheinen können. Welche Praktiken lassen eine solche Identität buddhistischer Subjekte möglich werden? Der folgende Abschnitt verweist auf formale Organisation als ein solches Mittel der Herstellung einer buddhistischen Identität.184 Dass eine solche Identität etwa im Ceylon des frühen 19. Jahrhunderts noch nicht verfügbar war, ist – wie bereits erwähnt – die These von David Scott, der auf diese noch nicht erfolgte Entwicklung auch die ,tolerante‘ Haltung der Mönche zu Beginn des 19. Jahrhunderts zurück führt: Without in any way detracting from the value of tolerance to Buddhist discourse, I should like to suggest that the reason for the lack of resistance on the part of the Buddhists was that for them there was not really a „religion“ – one called „Buddhism“ – to defend, in the way that there would certainly have been for the missionaries a very distinct „religion“ – one called „Christianity“ – doing the attacking. Buddhism, in short, had not yet come into being as a deployable ideological entity. And consequently there was not really an „identity“ – in the modern sense of that word – to defend either. Both of these – a „religion“ called „Buddhism“ rivaling „Christian183 Scott, Refashioning Futures, 56. 184 Bereits zu Beginn der Darstellung soll darauf hingewiesen werden, dass es hier primär um die Auseinandersetzung mit vorhandener Literatur zu einem spezifischen historischen Kontext geht, und nicht um eine diese Theoriepotentiale umsetzende eigene Untersuchung. Eine solche müsste vor allem diese hier nur stichwortartigen Verweise auf ,Organisation‘ aus organisationssoziologischer Perspektive stärker reflektieren.
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ity,“ and an associated „identity“ constituted precisely by the seeming threat of rival identities – had first to be constructed.185
Wenn nun im Anschluss an Scott und an die im vorherigen Abschnitt präsentierten Einblicke in die Kontexte Ceylons und Burmas davon ausgegangen wird, dass sich eine Identität der ,Buddhisten‘ in einem modernen Sinne (d. h. im Sinne des globalen Religionsdiskurses) über den Verlauf des 19. und frühen 20. Jahrhunderts überhaupt erst entwickelt hat,186 welche Transformationen werden dann von dieser These impliziert, welche Kontinuitäten und Diskontinuitäten lassen sich beschreiben, und wie lassen sich diese theoretisch fassen? Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass mit einer solchen These nicht die Behauptung verbunden ist, dass etwa die Mitglieder des sangha in diesen Kontexten sich selbst nicht auch bereits vor dem 19. Jahrhundert als ,Anhänger des Buddha‘ verstanden hätten, oder dass es nicht eine Gemeinschaft von Laien gegeben hätte, die bestimmte rituelle Funktionen übernommen hätten. Die Frage ist vielmehr, ob und wann über diese beiden Gruppen hinweg eine gemeinsame Identität und damit einhergehende Begrifflichkeit erkennbar ist. Und falls dies für die vorkoloniale Zeit nicht der Fall war,187 dann lässt sich fragen: Wie konnte es dazu kommen, dass ,die Buddhisten‘ auf dem sozialen Terrain erscheinen konnten? Eine zentrale Herausforderung in diesem Kontext ist daher die Beantwortung der folgenden Frage: Wie konnte die neuartige ,Religion‘ des ,Buddhismus‘ und die Gemeinschaft der ,Buddhisten‘ soziale Realität erlangen?188 Im Anschluss an Untersuchungen von Alicia M. Turner zu Reformbewegungen im Burma des späten 19. und frühen zwanzigsten Jahrhunderts und in Anknüpfung an bereits genannte und für den buddhistischen Modernismus als höchst relevant erkannte Entwicklungen, lässt sich hier zumindest auf zwei wichtige und miteinander verbundene Aspekte verweisen: Zum einen auf die Entstehung einer kolonialen schriftlichen Öffentlichkeit mit Hilfe der neu eingeführten und verbreiteten Druckerpressen und zum anderen auf die nicht zuletzt im Kontext der (britischen) Kolonialherrschaft zur Verfügung stehende soziale Form der ,Vereinigung‘ als freiwillige Mitgliedschaftsorganisation.
185 Ebd., 60. 186 Siehe zur wissenschaftlichen Debatte um eine solche These auch die Abschnitte 6.1 und 6.2. 187 Freiberger, Religionen, 38 sieht dies anders und konstatiert die Ausbildung einer solchen Identität auch bereits für den „frühen Buddhismus“. 188 Siehe aus systemtheoretischer und damit zunächst anders gelagerter Perspektive auch Beyer, Peter, Religions in Global Society, New York 2006, 106 – 114, der diese Frage auf einer sehr viel allgemeineren Ebene stellt. Die dort vorgeschlagene systemtheoretische Konzeption dieser Problematik wird hier nicht weiter verfolgt, auch wenn Beyers Vorschläge zu den im Folgenden präsentierten Überlegungen entscheidende Anregungen beigetragen haben.
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Turner hat analysiert, wie im Burma des 19. und frühen 20. Jahrhunderts die koloniale Invasion und britische Herrschaft als eine Herausforderung und Bedrohung der sa¯sana wahrgenommen wurde, und sowohl Mönche als auch Laien in der Folge ihre Aktivitäten darauf fokussierten, dieser Gefahr zu begegnen.189 Turner bezieht sich zwar durchaus auf die im vorherigen Abschnitt zitierten Studien von Alexey Kirichenko und Gustaaf Houtman, fokussiert ihr Interesse aber nicht primär auf die Begrifflichkeiten von ,Buddhismus‘ und ,Religion‘, sondern setzt statt dessen die Begriffe „Buddhism“ und „religion“ bzw. „religious“ bereits voraus. Sie spricht zwar davon, dass die von ihr beschriebenen Vorgänge „came to shape expectations of the category of religion“ und konstatiert darüber hinaus: „[t]he response to colonialism in Burma between 1885 and 1920 subtly shaped Buddhism […].“ Aber ob und in welchem Sinne „Buddhism“ vor dieser Umgestaltung auch schon „Buddhism“ war, und wie eine solche Behauptung zu verstehen wäre, also was die von ihr beschriebenen Veränderungen innerhalb dieser Transformation von „Buddhism“ letztlich bedeuten, wird nicht explizit thematisiert.190 Ebenso wird der Begriff sa¯sana in ihrem Text immer wieder als Äquivalent von „religion“ verwendet, ohne dass zumeist klar wird, ob dieser Begriff jetzt in ihrem Quellenmaterial auch so verwendet wird, oder ob sie ihn hier gerade nur selbst in dieser Form einsetzt. Auch wenn dieser Frage im Kontext der vorliegenden Arbeit nicht zuletzt aufgrund fehlender Sprach- und Quellenkenntnis nicht weiter nachgegangen werden kann, wäre in Anbetracht der von Kirichenko aufgezeigten Begriffstransformationen und seiner Infragestellung einer vorkolonialen Einheit ,des Buddhismus‘ eine weitere Auseinandersetzung mit dem Begriff sa¯sana notwendig. Ich möchte daher im Folgenden in meinen Überlegungen einerseits auf die Darstellung Turners zurückgreifen, ihre Analysen andererseits aber in manchen Punkten stärker zuspitzen, und damit versuchen, eine Entwicklung sichtbar zu machen, die ihre Untersuchung meiner Ansicht nach bereits impliziert. Die Frage, die mit Hilfe Turners behandelt werden soll, ist somit, wie der von ihr noch vorausgesetzte ,Buddhismus‘ als solcher mitsamt einer zugehörigen Identität der ,Buddhisten‘ durch die von ihr geschilderten Prozesse als soziale Entität erst hervorgebracht wird. Auch Turner geht zunächst davon aus, dass im Rahmen des kolonialen Projekts eine grundsätzliche Transformation der lokalen Verhältnisse stattfand. Wie sie im Anschluss an Timothy Mitchell schreibt, stellte die koloniale Welt „new conceptions of space, new forms of personhood, and a new means of manufacturing the experience of the real“ zur Verfügung.191 In einem Kontext, in dem sich, wie bereits beschrieben, neue Formen der Kategorisierung von ,Religion‘ entwickelten und zur Verfügung standen, waren die 189 Vgl. Turner, Buddhism, Colonialism and the Boundaries of Religion, 1. 190 Ebd., vi, v. 191 Mitchell, Timothy, Colonising Egypt, Berkeley 1991, ix, zitiert nach ebd., 4.
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indigenen Akteure, die der Bedrohung der sa¯sana etwas entgegensetzen wollten, gezwungen, sich mit den auf kolonialer Seite vorherrschenden Vorstellungen von ,Religion‘ auseinander zu setzen und sich diesen Vorgaben über das Wesen und die Grenzen von ,Religion‘ sowohl anzupassen als auch in anderen Momenten gegen diese Widerstand zu leisten.192 Gleichzeitig ist auch für die burmesische Situation zu betonen, dass die dort aufkommenden Reformbestrebungen nicht allein auf die Konfrontation mit den konkreten kolonialen Machtverhältnissen oder auf die Präsenz christlicher Missionare zurück geführt werden können, sondern im Kontext einer längeren Entwicklung von Reformanstrengungen über den Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts stehen.193 Dennoch lässt sich nicht zuletzt auch anhand von Turners Studie argumentieren, dass spezifische Veränderungen besonders im Rahmen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts eine entscheidende Rolle in der Entstehung von sich als buddhistisch verstehenden Bewegungen sowie eines modernen Diskurses über ,Buddhismus‘ in Burma gespielt haben. Wie in anderen Kontexten des buddhistischen Modernismus ist deren Formation – so ließe sich im Anschluss an Turner argumentieren – eng mit der Konstitution einer kolonialen Öffentlichkeit verbunden, die wiederum nicht zuletzt auf der medientechnischen Revolution einer weitreichenden Verbreitung der Druckerpresse und der damit einhergehenden großen Verbreitung einer Vielzahl unterschiedlichster Druckerzeugnisse basiert. Eine solche Entstehung einer neuartigen Öffentlichkeit, in der entsprechende Auseinandersetzungen um ,Buddhismus‘ und ,Religion‘ geführt wurden (und letztlich – so ließe sich die These aufstellen – überhaupt erst geführt wurden konnten), ist gleichzeitig eng mit der Entstehung buddhistischer Laienbewegungen und der 192 Vgl. ebd., 5 – 6. Siehe auch einen neueren Aufsatz Turners, in welchem sie diesen Gedanken weiter ausführt, und in dem sich gleichzeitig erkennen lässt, dass die Kategorie des „Religiösen“ von ihrer Analyse bereits vorausgesetzt wird: „The creation of religion as a category in colonial contexts runs up against local categories of religious discourses. Religion-making faces the challenge of interpreting and containing those discourses within the new category, disciplining and training their excesses to respond to a new conceptual world. However, new categories reorient and reshape their contents, changing the larger world from which religious projects gain their meaning. Religion-making fails when it is unable to translate local religious discourses into the terms of the new category of religion“ (Turner, Alicia M., Turning Monasteries into Schools and Buddhism into a Religion in Colonial Burma, in: A.S. Mandair/M. Dressler [Hg.], Secularism and Religion-Making, New York 2011, 226 – 242, hier : 239). 193 Vgl. Turner, Buddhism, Colonialism and the Boundaries of Religion, 8. Vgl. auch S. 16: „The late eighteenth and nineteenth centuries were a time of reform throughout Buddhist South and Southeast Asia producing a common discourse that sought the preservation of Buddhism through a greater emphasis on textualism and ascetic fidelity to monastic regulations. Yet, in all four cases [Burma, Ceylon, Siam, Kambodscha, A.H.], a multiplicity of interpretations and factions emerged to compete for the notion of orthodoxy in reform. It was this history of reform for the preservation of the sa¯sana that shaped perceptions of the problems Buddhism faced at the end of the nineteenth century and provided the language for the new Buddhist associations.“ Siehe auch Jordt, Ingrid, Burma’s Mass Lay Meditation Movement. Buddhism and the Cultural Construction of Power, Athens 2007, 19 – 20.
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damit verbundenen expliziten Formation einer buddhistischen Laienidentität verbunden. Inwieweit hier eine lokale koloniale Öffentlichkeit wiederum mit der Entstehung von lokalen sowie translokalen „indigenous public spheres“ verbunden war, bleibt dabei eine über den hier verfolgten Zusammenhang hinausweisende Frage.194 Die in diesem Kontext im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in Burma entstehenden Laienorganisationen weisen eine große Vielfalt auf: They ranged from small local associations that gathered to take precepts, recite chants and listen to sermons to large organizations with branches across Burma and ambitious agendas to promote Buddhist education or Buddhist missions abroad. Some sought to preserve older models of Buddhist practice, like the Malunze Rice Donating Society, which emphasized the centrality of the sangha by organizing rice donations to monks previously supported by the monarchy. Others envisioned new models of Buddhist leadership insisting that finding a productive balance of European education with Buddhist ideas was vital for the future of Burmese Buddhism. Many organizations came together simply to combine their efforts, whether it was to supply running water to monasteries, clean and restore the pagoda grounds or to create libraries of printed Buddhist texts.195
Diese Organisationen entstanden zumeist in einem urbanen Kontext, veröffentlichten ihre Publikationen in englischer Sprache und orientierten sich an ihren zumeist in kolonial-westlichen Bildungsanstalten ausgebildeten Leitfiguren. Darüber hinaus waren sie zentrale Akteure in einer größeren Bewegung, deren Ziel vorrangig darin bestand, nicht zuletzt über diese ,buddhistischen Organisationen‘ die von ihnen vertretenen Ideen und Reformen einer möglichst breiten Masse der burmesischen Bevölkerung nahe zu bringen. In Burma ist in diesem Kontext für das späte 19. Jahrhundert besonders der bekannte und bereits in Abschnitt 6.4.1.2 erwähnte Reformer Ledi Sayadaw zu nennen, der es sich unter anderem zum Ziel gesetzt hatte, eine Reform der buddhistischen Lehr- und Predigtpraxis durchzusetzen.196 So sollten die Mönche nun in einer einfachen und verständlichen Sprache kommunizieren und auf diese Weise die bisher praktizierten Formen der Lehrrede – wie etwa eine bloße Rezitation von Pali-Texten während der das Gesicht des Mönchs hinter einem Fächer verborgen war – ersetzt werden.197 Während die Geschichte dieser neuartigen Bewegungen und buddhistischen Vereinigungen im einzelnen jeweils hoch interessant ist,198 sind diese im 194 Siehe dazu Bayly, Christopher A., The Indian Ecumene: An Indigenous Public Sphere, in: ders., Empire and Information. Intelligence Gathering and Social Communication in India, 1780 – 1870, Cambridge 1996, 180 – 211. 195 Turner, Buddhism, Colonialism and the Boundaries of Religion, 16 – 17. 196 Siehe auch Jordt, Burma’s Mass Lay Meditation Movement, 19 – 26. 197 Vgl. Turner, Buddhism, Colonialism and the Boundaries of Religion, 18. 198 Ein großer Teil dieser Geschichte wird für Burma für das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert in der Arbeit von Turner rekonstruiert.
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Rahmen der vorliegenden Arbeit vorrangig als neuartige soziale Form relevant. Die Frage ist somit, welche Rolle die sich als buddhistische Vereinigung verstehenden Laienorganisationen für den modernen Religionsdiskurs in buddhistischen Kontexten und besonders in Burma gespielt haben. Auch wenn, anders als in Ceylon, die direkte Konfrontation mit den christlichen Missionaren in Burma nicht eine ebenso entscheidende Bedeutung für die Entstehung der Reformbewegungen hatte,199 war dennoch auch hier die Herausforderung durch die koloniale Herrschaft und die Wahrnehmung, dass durch diese die sa¯sana bedroht war,200 ein zentrales Moment in der Konstitution einer neuartigen Gemeinschaft: „Coming together in this way, Burmese Buddhists came to understand themselves as members of a community with a specific cosmological purpose. This forged a sense of collective identity for Buddhists in Burma that persisted as a powerful motivating force well beyond the end of colonial rule.“201 Anders als in früheren Phasen der Wahrnehmung einer Bedrohung der sa¯sana besonders in vorkolonialer Zeit und noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, traten unter der nun bestehenden britischen kolonialen Herrschaft weniger die Mönche, sondern vor allem die Laien als Akteure in Erscheinung, um Widerstand gegen diese Gefahr zu leisten. Da sie für den Schutz der sa¯sana nun nicht länger auf die Macht einer einheimischen Monarchie vertrauen konnten, und sich der sangha ihrer Wahrnehmung nach teilweise in chaotischem Zustand befand, sahen sie sich herausgefordert, sich gemeinschaftlich um eine Erhaltung der sa¯sana zu bemühen.202 So lässt sich für Burma ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts feststellen, dass Laien und nicht etwa die buddhistischen Mönche die führenden Rollen und die wichtigsten Aktivitäten im Kontext der Entstehung neuartiger Vereinigungen übernahmen.203 Von diesem veränderten Selbstverständnis der Laien ging eine große Zahl an Aktivitäten aus, die zunächst vor allem den sangha betrafen, und das Ziel hatten, die Kenntnis des Pali sowie die monastische Gelehrsamkeit in einer Situation zu erhalten, in der diese durch das Ende der Monarchie akut bedroht war : They sought first to provide for monastic scholarship by offering rice donations, establishing libraries and printing editions of the texts as well as by creating centers to coordinate teaching monks and monastic pupils. The focus of these organizations was on preserving the sa¯sana by ensuring that pariyatti teaching204 remained alive and well among the sangha. Each organization arose from a concern that colonialism
199 200 201 202 203 204
Vgl. ebd., 31 – 32. Vgl. ebd., 55 – 60. Ebd., 54. Vgl. ebd., 70. Vgl. ebd., 21. Darunter wurde, so Turner, „Pali scholarship and textual learning“ verstanden. Vgl. ebd., 8.
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had brought a drastic decline in pariyatti and that the teachings were in danger of being lost.205
Gleichzeitig beschränkten sich die Anstrengungen jedoch nicht auf dieses Anliegen. Vielmehr waren die Ziele der angestrebten Reformen durchaus grundsätzlicher, wie etwa im Fall der Dhammathawana, einer Vereinigung, die forderte, dass bei der Belehrung im Tempel der entsprechende Mönch nun nicht länger bloß Pali-Texte rezitieren und sein Gesicht dabei hinter einem Fächer verbergen, sondern statt dessen vor einer großen Gruppe von Laien offen sprechen solle. Eine solche neuartige Form der Lehrrede sollte zum Ziel haben „bringing home the truths of the law to their minds in plain, earnest language“.206 Gleichzeitig versuchten die entsprechenden Vereinigungen auch dafür zu sorgen, dass für diese neuartige Form der Lehrrede dann auch die notwendigen Räumlichkeiten geschaffen würden, kümmerten sich etwa um den Unterhalt eines eigenen Klosters, und verbreiteten die dort gehaltenen Predigten in gedruckter Form mit Hilfe monatlich erscheinender Periodika.207 Wie Turner argumentiert, war in diesem Kontext die „technology of the membership organization“ somit das zentrale Instrument der Bestrebungen zu einer Reform der sa¯sana.208 Es ließe sich im Anschluss an ihre Studie gleichzeitig aber auch betonen, dass mit diesen neuen Vereinigungen auch ein tiefgreifender Wandel in der mit der sa¯sana verbundenen kollektiven Identität erfolgte: Coming together in this way provided Buddhists with a common purpose that forged a common identity. The work of these organizations to preserve the sa¯sana banded individuals together for a single project and in doing so produced a discourse of Buddhists in Burma as a collective responsible for the status of the sa¯sana. Their work served not just to preserve the teachings but also to produce a body of Buddhists who understood themselves to be directly connected through their responsibility for the sa¯sana. The pageantry of celebrating the Patamabyan examinations, the organizing efforts of the Pariyatti Tha¯thanahita and the Zediyingana and the discourse of lay responsibility after the fall of the monarchy all served to inculcate not only a desire for Buddhist organizing among the Burmese but a self-understanding for individuals as members of a community brought together for a cosmological purpose, a sense furthered by the technologies they adopted. These events allowed individual lay Buddhists to see themselves as part of the life of the sa¯sana in a way not possible under the monarchy. The discourse of sa¯sana now served not as a source for royal authority or a means of making sense of colonialism but as a new ethic that linked people. The shared responsibility of preserving the sa¯sana produced a moral community that
205 206 207 208
Ebd., 83. Modern Preaching, The Burman Buddhist 1/3, 1908, zitiert nach ebd., 88. Vgl. Turner, Buddhism, Colonialism and the Boundaries of Religion, 88. Ebd., 284, 89 – 98.
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became a powerful source of identity, motivation and shared sentiment for Buddhists in colonial Burma.209
Die mit dieser neuen ,Technologie‘ verbundenen zentralen Unterschiede zwischen den zuvor von Seiten der burmesischen Monarchie betriebenen Anstrengungen zur Erhaltung der sa¯sana und den Aktivitäten der buddhistischen Vereinigungen (associations) sind für die hier vorgetragene Argumentation entscheidend. Während sich durchaus beide Aktivitäten und die damit verbundenen Reformprojekte auf die Wahrnehmung einer Bedrohung der sa¯sana durch die koloniale Herrschaft beziehen, werden die tiefgreifenden Unterschiede der beiden Formen besonders dann deutlich, wenn die Rolle des einzelnen Laienaktivisten in den Blick genommen wird.210 Die Verantwortung für den Erhalt der sa¯sana betrifft nun jeden Einzelnen: the moral community formed by the new projects asked the individual to understand him or herself […] as central constituent of the project itself. Individual efforts made up the preservation of the sa¯sana, and the efforts not of virtuosos but of all Buddhists were solicited in a fashion that spread the responsibility for this weighty task among the whole of the community.211
Wie Turner betont, war eine solche Form der formalen Organisation ein klarer Bruch mit den bis zu diesem Zeitpunkt vorherrschenden sozialen Formen, und führte zu einer tiefgreifenden Transformation: There had long been small local groups who had come together to organize donations or local festivals, but the structure of the organizations founded at the end of the nineteenth century was new to Buddhist organizing. They formed as membership organizations to broaden their base of support, which in turn produced a strong bureaucratic ideal for the associations, with regular meetings, elected officers and detailed reports. At the turn of the century it appeared that the fate of Buddhism lay not in the benevolence of esteemed patrons and preachers but in the organizational efficiency of a small army of Presidents, Vice-Presidents, Honorary and Recording secretaries, and subcommittee chairmen.212
Gleichzeitig führte diese neuartige Form der Organisation mit ihrer bürokratischen und demokratischen Struktur zu der Notwendigkeit, mit den Mitgliedern der Organisation in kontinuierliche Kommunikation zu treten und gleichzeitig Mitgliedschaftsformen festlegen zu können. In diesem Zusammenhang gewannen besonders die durch die neue Verfügbarkeit der Druckerpresse eröffneten Möglichkeiten an Bedeutung. 209 Ebd., 89 – 90. „Pariyatti Tha¯thanahita“ und „Zediyingana“ sind zwei der zu dieser Zeit entstandenen buddhistischen Vereinigungen. Die Patamabyan Prüfungen wurden ab 1896 auch unter der britischen Kolonialherrschaft wieder abgehalten. 210 Vgl. ebd., 92. 211 Ebd. 212 Ebd., 94 – 95.
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In Rangun waren die ersten Druckerpressen in den 1820er und 1830er Jahren von christlichen Missionaren in Betrieb genommen worden. Die in diesem Kontext entstandene christliche Publizistik hatte bis in das späte 19. Jahrhundert die burmesische Öffentlichkeit sechzig Jahre lang dominiert. Besonders baptistische Missionare hatten eine Unmenge von Druckwerken (vor allem Bibelübersetzungen und christliche Traktate) in Umlauf gebracht. Neben einer großen Zahl an englischsprachigen Publikationen erschienen allerdings auch eine Vielzahl von Texten auf burmesisch sowie in einer Reihe von Sprachen ethnischer Minderheiten.213 In der Form von Zeitungen, Periodika, Traktaten und Büchern hatten Druckwerke als ein neuartiges Medium somit im 19. Jahrhundert großen Einfluss gewonnen. Diese weite Verbreitung von gedruckten Texten, von denen nicht wenige aggressive Polemiken gegen buddhistische Überzeugungen enthielten, wurde bereits früh in den noch unter burmesischer Herrschaft stehenden Gebieten als Bedrohung empfunden. Eine Einrichtung von Druckereien wurde dort daher nur unter der Auflage gestattet, dass keine christlichen Traktate und Übersetzungen gedruckt würden.214 Diese Dominanz christlicher Publizistik in Burma wurde erst zum Ende des 19. Jahrhundert gebrochen. So stieg spätestens in den 1890er Jahren die Zahl der Druckwerke, die sich mit buddhistischen Themen auseinandersetzten stark an, und überstieg bald die Zahl der christlichen Publikationen. Um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert machten Texte mit buddhistischem Inhalt dann sogar bis zu 60 Prozent der gesamten in Burma publizierten Literatur aus.215 Diese Bedeutung der buddhistischen Publizistik stand in enger Verbindung mit der Entstehung und Verbreitung der buddhistischen Laienorganisationen: Organizations collected donations to print new editions of the Tipitaka, published Buddhist tracts and printed the rules of each organization to publicize their goals. The monthly journals the organizations put out to announce their successes listed their subscribing members and offered discussions of Buddhist ideas for individual reflection. The journals became the symbols of the larger organizations and their means of unifying the sentiment and purpose of large groups of geographically diverse Burmese Buddhists.216
In diesem Sinne stellte sich der Zugang zu einer Druckerpresse und die Möglichkeit, über gedruckte monatliche Periodika oder Reports in Zeitungen mit den Mitgliedern der Organisation zu kommunizieren, sehr schnell als unabdingbar heraus. Die Mitgliedschaft in einer solchen Organisation ver213 214 215 216
Vgl. ebd., 24 – 25. Vgl. ebd., 25. Vgl. ebd., 26. Ebd., 27.
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band sich daher oftmals nicht nur mit einem Mitgliedsbeitrag, sondern zumeist auch mit der Subskription ihrer Publikationen und der darüber hinausgehenden Unterstützung ihrer Aktivitäten durch Spenden.217 Anders als in bisherigen rituellen Kontexten war die Möglichkeit, sich für den Erhalt der sa¯sana zu engagieren und an ihr zu partizipieren, damit nicht mehr notwendig an die körperliche Präsenz der jeweiligen Individuen gebunden. Gleichzeitig dienten die entsprechenden Publikationen auch als der Ort, an dem die Liste der Mitglieder und ihrer geleisteten Beiträge und damit die Zugehörigkeit des Einzelnen sowie dessen Einsatz für die buddhistische Sache öffentlich gemacht wurden. Die monatlichen Periodika vermerkten zumeist jede Spende, jedes Mitglied sowie dessen jeweiligen Status, was dazu führte, dass diese Verzeichnisse schnell zum Hauptinhalt der entsprechenden Publikationen avancierten: Even those who could only afford a tiny donation had their name included in the lists that came to dominate the journals. The December 1908 journal of the Pariyatti Thathanahita dedicated eight of its twenty-one pages to donation lists, dwarfing the three pages each allocated for explicating the scriptures and listing the monks supported (who were listed not by name but by number per named monastery). The lists organized donors by geographic region and town, with the names of large donors appearing next to those who gave only a little.218
An diese Entwicklungen ließe sich daher die These anschließen, dass nicht zuletzt über diese ,Technologie‘ der Mitgliederorganisation und deren Druckerzeugnisse eine öffentliche Konstituierung der Laien als ,buddhistisches‘ Kollektiv ermöglicht wurde. Darüber hinaus hatten diese Organisationen und ihre Publikationen auch große Auswirkungen auf den Umgang mit buddhistischen Wissensbeständen. Auch die Laien fühlten sich nun für die sa¯sana und den Erhalt des entsprechenden Wissens verantwortlich, als dessen Träger nicht länger nur die Mönche angesehen wurden. Vielmehr wurden die Laien nun selbst als eine Gemeinschaft verstanden, die dieses Wissen erhalten und weitertragen konnte.219 Nicht zuletzt aus diesem Grund wurde es in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu einer wichtigen Aufgabe der Reformer und der von ihnen geleiteten Organisationen, dieses neu konstituierte Kollektiv buddhistischer Laien mit buddhistischen Wissens- und Lehrinhalten zu versorgen. Auch hier spielte der Buchdruck erneut eine zentrale Rolle. Alleine das von Ledi Sayadaw verfasste Lehrgedicht Paramattha Thankheip, in dem das Wissen des Abhidhammatthasangaha in Form eines langen aber in einfacher burmesischer Sprache geschriebenen Gedichts kondensiert war, wurde zwischen 1904 und 217 Vgl. ebd. 218 Ebd., 95. 219 Vgl. ebd., 102.
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1907 in einer Auflage von 51 000 Exemplaren von vier verschiedenen Verlagshäusern gedruckt. Nicht zuletzt über die Verbreitung solcher Texte, die, so die Vorstellung der Reformaktivisten, selbst von jungen Frauen problemlos gelesen und verstanden werden konnten, wurden buddhistische Inhalte innerhalb der Laienschaft weit verbreitet.220 Gerade in der von Ledi Sayadaw angeführten Bewegung spielten junge Frauen eine entscheidende Rolle. Das neuartige Interesse an den Inhalten buddhistischer Texte führte über kurz oder lang dazu, dass nun auch Laien im Rahmen der Tradition buddhistischer Examina eine Vielzahl von Prüfungen ablegen und so ihre Kenntnis buddhistischer Texte (auch öffentlich) demonstrieren wollten. Die auch unter kolonialer Herrschaft abgehaltenen Prüfungen stießen auf großes Interesse. So wird von einem dieser Examina im Jahr 1907 berichtet, dass bei dieser zweitägigen Veranstaltung nicht weniger als 75 Pferdewagen benötigt wurden, um all die jungen Frauen zu transportieren, die gekommen waren, um an dieser Veranstaltung teilzunehmen.221 Alle diese Aktivitäten trugen dazu bei, dass das neu konstituierte Kollektiv der ,Buddhisten‘ als ein Kollektiv mit horizontalen und nicht-hierarchischen Beziehungen verstanden werden konnte, in dem nicht länger primär die hierarchische Beziehung zwischen Laien und Mönchen im Zentrum stand, und in dem auch der soziale Status des Einzelnen nun eine der gemeinsamen Identität als ,Buddhisten‘ nachgeordnete Rolle spielte.222 Turner stellt daher in Anknüpfung an Benedict Andersons bekannte Studie über Imagined Communities223 fest: These organizations and their subscription membership procedures came to homogenize and democratize participation in the project of preserving the sa¯sana. In doing so they shaped the nature of a new form of collective identity organized around this goal. Members were joined together in horizontal bonds in this project with others they would never know through local networks of Buddhist practice in much the same way described in Benedict Anderson’s analysis of nationalism.224
In diesem Sinne führte die Form der Mitgliedschaftsorganisation im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert dazu, ein neues Kollektiv von ,Buddhisten‘ zu ermöglichen. Der Fokus lag im Rahmen der dadurch neu konstituierten Gemeinschaft und der damit hervorgebrachten kollektiven Identität nun auf den gemeinsamen Projekten und nicht länger auf den Aktivitäten des Einzelnen. Die mit diesen Entwicklungen verbundenen Veränderungen in der Praxis und Rolle des sich nun als Teil eines buddhistischen Kollektivs verstehenden Laien ist für den hier angesprochenen Zusammenhang besonders signifikant: 220 221 222 223
Vgl. ebd., 103 – 104. Vgl. ebd., 105. Vgl. ebd., 94 – 96. Anderson, Benedict, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London, New York 22006. 224 Turner, Buddhism, Colonialism and the Boundaries of Religion, 96 – 97.
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Choosing to form oneself as a subject of the collective concern for the sa¯sana forged a new way of being for the laity. […] This new discourse of sa¯sana and identity maintained the concern for decline and many of the techniques for preservation from the discourse of the king as defender of the teachings. However, it came to change how the laity constituted Buddhism, less as patrons and more as constitutive participants, whose impact existed in aggregate not personal form. This body of Buddhists was both the product and the agent of the Buddhist movements of the colonial period.225
Was Turner am Beispiel der Geschichte der burmesischen buddhistischen Vereinigungen und der sie ermöglichenden ,Technologie‘ der Mitgliederorganisation im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert beschreibt, ließe sich somit auf eine vielversprechende Weise mit der hier verfolgten Frage nach der Formation des globalen Religionsdiskurses verbinden. Turner verweist auf die formale Organisation, die über ihre Mitgliedschaftsform die Möglichkeit bot, die im Rahmen des globalen Religionsdiskurses erforderlichen und über die Semantiken von ,Religion‘ und ,Buddhismus‘ angebotenen Identitäten zu aktualisieren. Über die Organisierung des Buddhismus und besonders die Organisierung der Laien, war – so die These – eine buddhistische Identität durch eine eindeutige Zuordnung zum ,Buddhismus‘ als einer sozialen Entität nun überhaupt erst möglich geworden. Diese Perspektive ließe sich gewinnbringend auch auf eine Vielzahl anderer buddhistischer (und auch nicht-buddhistischer) Kontexte übertragen, in denen der Organisationshaftigkeit moderner ,Religionen‘ durchaus bereits ein starkes Interesse zuteil geworden ist. Gleichzeitig wurde diese bisher nicht primär im Hinblick auf die Frage betrachtet, inwieweit diese Form der sozialen Organisation zumindest als eine der zentralen ,Bedingungen der Möglichkeit‘ der modernen Identität von ,Buddhisten‘ oder auch ,Hindus‘, ,Taoisten‘, ,Konfuzianisten‘ oder ,Muslimen‘ verstanden werden könnte. Mit der hier entwickelten Perspektive geht somit auch der Vorschlag einher, den Zusammenschluss zu explizit als ,buddhistisch‘ (und oftmals auch als ,religiös‘) ausgewiesenen Organisationen im 19. und frühen 20. Jahrhundert nicht als einen Zusammenschluss von bereits als ,Buddhisten‘ zu bezeichnenden Individuen zu verstehen, sondern als eine der Techniken, die eine solche Identität von ,Buddhisten‘ überhaupt erst möglich gemacht haben. Wie bei den meisten anderen im Kontext der Verflechtungsgeschichte des buddhistischen Modernismus diskutierten Phänomenen handelt es sich auch hier nicht einfach um die Übernahme einer westlichen ,Technologie‘. Vielmehr, so betont auch Turner, ist die Form der buddhistischen Mitgliederorganisation226 im kolonialen Burma ein Hybrid aus zumindest zwei kolonialen 225 Ebd., 101 – 102. 226 Die Verbreitung, die diese Form der Vereinigung im kolonialen Burma (und in anderen kolonialen Kontexten) finden konnte, hängt vermutlich nicht zuletzt damit zusammen, dass eine gesetzliche Vorgabe die Registrierung aller Publikationen und sozialen Organisationen forderte, die damit auch einer solchen gesetzlichen Vorgabe entsprechen mussten. Andererseits
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administrativen Techniken mit der buddhistischen Tradition der Laiensponsorschaft: The availability of mass produced printed texts was central to this but so was the technology of the membership-subscription association. The heart of these organizations was the subscription/donation list, which stood not only as the record of the collective body but as a means of shaping subjectivity and desire. The donation/membership list brought Buddhist traditions together with a hybrid of two colonial technologies. Building on the long history of recording acts of Buddhist merit in inscriptions and memorials, it combined the statistical epistemology of the census with the subject forming viewpoint of the panopticon. For centuries Buddhist kings, ministers and wealthy lay people had publicly recorded their donations as a part of making merit so that their efforts would be known well into the future. Frequently these inscriptions were made explicitly „for the long establishment of the sa¯sana.“ This familiar act was reproduced in the new donation and subscription lists that publicized the contributions not of exceptional donors but of the masses of individual lay Buddhists. Seeing one’s name on the list internalized identification with the group and its projects, but also opened the individual to public scrutiny and/ or praise. Becoming a member meant shaping one’s self to be a collaborator in this collective project for preserving the sa¯sana. The choice of the new lay Buddhist association to embrace these technologies meant changes for the discourse of sa¯sana and the body responsible for its preservation.227
Gleichzeitig kann im Anschluss an diese maßgeblich auf die Studie von Turner zurückgreifenden Überlegungen die Frage nach einer zunehmenden Bedeutung der Laien im Rahmen buddhistischer Modernismen noch einmal neu gestellt werden. Wie schon in Abschnitt 6.2 erwähnt, und auch von Turner noch einmal betont, kann hier an bereits früher vorgebrachte Kritik am Konzept des „protestantischen Buddhismus“ angeschlossen werden.228 So lässt sich argumentieren, dass der buddhistische Modernismus nicht primär unter der Perspektive einer ,Laisierung‘ zu betrachten wäre, in deren Rahmen die Bedeutung der Laien ständig zugenommen habe, und damit die Grenze zwischen Mönchen und Laien immer weiter aufgelöst worden sei. Vielmehr wurde vorgeschlagen, von einer „monastization of the laity“ auszugehen, in dem Sinne, dass Praktiken und Aktivitäten, die zuvor nur den Mönchen verfügbar waren (Textlektüre, Meditation etc.), nun auch für die Laien bereit gestellt werden.229 Wie wir nun gesehen haben, übernehmen besonders im Fall Burmas die scheint eine Registrierung in vielen Fällen auch erst dann erfolgt zu sein, wenn ein rechtliches Problem diese Notwendigkeit ins Bewusstsein der Akteure treten ließ. Vgl. ebd., 94 (Fußnote 87). 227 Ebd., 93 – 94. 228 Vgl. ebd., 38 – 42. Siehe Holt, Protestant Buddhism? 229 Vgl. Turner, Buddhism, Colonialism and the Boundaries of Religion, 40.
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Laien in einer Situation, in der kein buddhistischer Monarch mehr für den Schutz der sa¯sana sorgen kann, in gewissem Sinne nun auch diese Verpflichtungen des Königs.230 Unter dieser Perspektive ließe sich dann auch der bisher nur auf Burma gerichtete Fokus erweitern, und die Frage stellen, warum etwa in einem ähnlichen Zeitraum in Siam bestimmte Veränderungen nicht oder anders stattgefunden haben. Es ließe sich die These vertreten, dass sich diese anders gelagerte Entwicklung nicht zuletzt darauf zurückführen lässt, dass dort bis heute ein buddhistischer Monarch eine Kontinuität bestimmter Strukturen und Legitimationen garantiert. Feststellen lässt sich auf jeden Fall, dass es im Siam des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nicht in dem selben Maße zu einer Proliferation buddhistischer Organisationen kam, wie dies für viele andere asiatische Kontexte zu beobachten ist.231 Eine weitere Beschäftigung mit der hier vertretenen These einer zentralen Bedeutung der Form der formalen Organisation für die Konstitution moderner buddhistischer Kollektive und Identitäten müsste daher eine Erklärung auch für diesen Kontext anbieten können. Ohne dies hier weiter ausführen zu können, ließe sich die Frage stellen, ob im Kontext eines sich formierenden Nationalstaats mit verhältnismäßig großer Homogenität die dann postulierte Verknüpfung von nationaler und buddhistischer Identität so stark war, dass die Nation in diesem Sinne als ein ,funktionales Äquivalent‘ zur Organisierung der buddhistischen Laien dienen konnte, und das Kollektiv der Buddhisten somit über den ,Umweg‘ des Nationalstaats hervorgebracht wurde. 6.4.3 ,Religion‘ und Differenzierung im Siam des 19. Jahrhunderts Im folgenden, die historischen Beispielbetrachtungen abschließenden Abschnitt, soll anhand einiger Überlegungen zu einem Text aus dem Siam des 19. Jahrhunderts die Frage gestellt werden, inwiefern die Formation des globalen Religionsdiskurses mit der Einführung neuer Unterscheidungen und damit mit einer Neuordnung von Wissensbeständen einher geht, die sich in Siam im Vergleich zu anderen buddhistischen Kontexten bereits sehr früh beobachten lässt, und die zudem, anders als die Beispiele auf denen bisher das Hauptaugenmerk lag, außerhalb direkter administrativer kolonialer Machtverhältnisse stattfand. Die bisher gegebenen Hinweise auf die Umstände, in denen asiatische Kontexte Teil eines globalen Religionsdiskurses werden konnten, werden somit durch eine Auseinandersetzung mit dem siamesischen Religionsdiskurs um die Mitte des 19. Jahrhunderts ergänzt. Auch hier, so die These, formierte sich der globale Religionsdiskurs und damit einhergehend eine Auseinandersetzung um die Unterscheidungen der Religion.232 230 Vgl. ebd., 91. 231 Siehe schon Bechert, Buddhismus, Staat und Gesellschaft, Bd. 2, 196 – 197. 232 Da im Rahmen der vorliegenden Arbeit aufgrund fehlender thailändischer Sprachkenntnisse
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Im Zentrum steht in diesem Abschnitt die Situation in Bangkok zwischen ca. 1820 und 1870 mit einem Schwerpunkt auf den 1840er Jahren. Die auf die Interaktion zwischen lokalen Eliten und christlichen Missionaren zurückgehenden Debatten dieser Zeit werden anhand eines in den 1860er Jahren im Rückblick auf die Konfrontationen dieser Jahre entstandenen und 1867 von chaophraya Thiphakorawong233 unter dem Titel Nangsue Sadaeng Kitchanukit („Ein Buch über verschiedene Dinge“) publizierten Textes betrachtet, der als ein schriftlich niedergelegter Ausdruck der siamesischen Debatten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelesen werden kann.234 Die Darstellung orientiert sich dabei an der Frage, in welcher Art und Weise es in diesem speziellen Fall zu einer Debatte um neuartige Unterscheidungen und zur Entwicklung hypothetischer Äquivalenzen kommen konnte und sich damit im Siam des 19. Jahrhunderts in dieser recht frühen und von der Forschungsliteratur zumeist wenig beachteten Phase des buddhistischen Modernismus bereits zentrale Charakteristika des globalen Religionsdiskurses etablieren konnten. Es wird oftmals darauf hingewiesen, dass dieser Diskurs zumindest in seinen Anfängen, aber teilweise auch noch heute, lediglich ein Elitendiskurs die hier betrachtete Quelle nicht im Original untersucht werden konnte, muss allerdings schon jetzt darauf hingewiesen werden, dass diese Analyse nur eine erste Annäherung darstellt, welche die Umstände dieses Prozesses zu illustrieren versucht und damit auf das in Siam vorliegende und vor einem solchen Hintergrund noch unbearbeitete Material hinweist. Der Rückgriff auf eine zeitgenössische Übersetzung des „Kitchanukit“ zur Illustration einiger Thesen dieser Arbeit ist damit eine Notlösung. Eine tatsächlich am genauen Verlauf der Herstellung hypothetischer Äquivalenzen interessierte Genealogie des globalen Religionsdiskurses müsste viel enger am Material arbeiten (etwa anhand der zahlreichen noch fast überhaupt nicht wissenschaftlich in den Blick genommenen missionarischen Traktate und Bibelübersetzungen im Siam des 19. Jahrhunderts) und hier dann philologisch exakt vorgehen. Diese Aufgabe muss allerdings anderen Studien überlassen bleiben. Siehe zu den hier präsentierten Überlegungen zu diesem Beispiel auch Hermann, Buddhist Modernism in 19th Century Siam. 233 Der Titel chao phraya bezeichnet den zweithöchsten Adelsrang, der nach dem traditionellen System in Siam vergeben wurde. Vgl. Terwiel, Barend J., Thailand’s Political History. From the Fall of Ayutthaya in 1767 to Recent Times, Bangkok 2005, 14 – 20. Die Titel wurden zum Namensbestandteil. Auch Thiphakorawong ist ein verliehener Name, sein Geburtsname war Kham Bunnag. Es gibt für das Thailändische kein allgemein akzeptiertes und standardisiertes System der Transkription in römische Buchstaben. Im Folgenden wird daher die Transkription der jeweils zitierten Autoren übernommen. Vgl. dazu auch ebd., 7. 234 Chaophraya Thiphakorawong, Nangsue Sadaeng Kitchanukit („Ein Buch über verschiedene Dinge“), Bangkok 1971. Die hier verwendete Übersetzung wurde publiziert als erster Teil von Alabaster, Henry, The Wheel of the Law. Buddhism Illustrated from Siamese Sources by The Modern Buddhist, A Life of the Buddha, and An Account of the Phrabat, London 1871. Im Jahr zuvor war bereits eine etwas kürzere Version dieser Übersetzung erschienen als ders., The Modern Buddhist. Being the Views of a Siamese Minister of State on His Own and Other Religions, London 1870. Zu Thiphakorawong siehe die ausführliche Biographie in Somjai Phirotthirarach, The Historical Writings of Chao Phraya Thiphakorawong, Unveröffentlichte Dissertation, Chicago 1983, 30 – 80.
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gewesen sei und immer noch ist. Auch wenn diese Charakterisierung in mancher Hinsicht zutrifft, bedeutet dies nicht – eher im Gegenteil –, dass dieser dadurch für den größten Teil der Bevölkerung irrelevant war oder ist. Denn die hier betrachteten Entwicklungen stellen, wie wir bereits gesehen haben, nicht nur isolierte Auseinandersetzungen innerhalb dieser lokalen Eliten oder innerhalb einer Interaktion zwischen westlichen und asiatischen Eliten dar. Vielmehr verweist besonders die staatliche Institutionalisierung dieses Diskurses, die in der vorliegenden Arbeit zwar nicht primär im Zentrum steht, aber in ihrer Bedeutung kaum überschätzt werden kann, auf die entscheidende Bedeutung der im globalen Religionsdiskurs geprägten Begrifflichkeiten und Unterscheidungen im Rahmen von Gesetzen, Verordnungen und Verfassungen. Auch die in den vorherigen Abschnitten behandelte Beziehung zwischen Begriffsdebatten, neuartigen Organisationsformen und einer massenmedialen Transformation lokaler Öffentlichkeiten betraf größere Bevölkerungsgruppen als dies bei einem Elitendiskurs zunächst zu erwarten wäre. Darüber hinaus steht der globale Religionsdiskurs in den meisten Kontexten auch mit der Reform oder einer im 19. Jahrhundert erstmals erfolgten Einrichtung von Bildungsanstalten und einem Schulsystem in Verbindung, welche ebenso als ein Träger dieses Diskurses und in ihrer Rolle in der Entstehung lokaler Eliten sogar als Bedingung seiner Möglichkeit gesehen werden könnten, und über welche der globale Religionsdiskurs über die letzten zwei Jahrhunderte weite Bevölkerungsteile betroffen hat. Und nicht zuletzt wurde auch im Kontext der Auseinandersetzung mit den Überlegungen Lydia H. Lius darauf hingewiesen, dass die Veränderungen in der modernen Gestalt asiatischer Sprachen, die mit den im Kontext des globalen Religionsdiskurses etablierten hypothetischen Äquivalenzen in Verbindung gebracht werden können, nicht unterschätzt werden sollten. In diesem Sinne verweist bereits die mit der Durchsetzung bestimmter Begriffe einhergehende Transformation lokaler Sprachen darauf, dass die bisher und im Folgenden diskutierten Veränderungen in ihrer Bedeutung nicht auf eine bestimmte Elite begrenzt werden können. Im Siam der 1820er bis 1860er Jahre war vor allem eines für die anfänglichen Veränderungen entscheidend: Die Auseinandersetzung der siamesischen Elite mit den im Land ansässigen Vertretern westlicher Mächte, allen voran den christlichen Missionaren. Die Begegnung beider steht daher auch im Mittelpunkt dieses Abschnitts, weil sie für die Inkorporation Siams in den globalen Religionsdiskurs die entscheidenden Impulse geliefert hat. Eine Beschäftigung mit diesen Debatten bietet sich für die vorliegende Arbeit aus verschiedenen Gründen an: Erstens spielt Siam in der religionswissenschaftlichen Diskussion um den globalen Religionsdiskurs, die weltweite Verbreitung des Religionsbegriffs und die ,Erfindung der Weltreligionen‘, sowie auch in der Debatte um den buddhistischen Modernismus bisher eine untergeordnete Rolle, auch wenn sich viele der bisher präsentierten Beobachtungen durchaus auf Siam über-
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tragen lassen. Darüber hinaus lässt sich gerade an der überregionalen Bedeutung Siams etwa für die Entwicklungen auf Ceylon erkennen, dass eine verflechtungsgeschichtliche Perspektive hier dringend notwendig ist. Diese Perspektive, die auch die Frage nach der Bedeutung bestimmter (hier bereits sehr früh erfolgter) Entwicklungen im Siam des 19. Jahrhunderts für den größeren Kontext des buddhistischen Modernismus stellt, ist in den letzten Jahren ins Zentrum wissenschaftlicher Aufmerksamkeit gerückt.235 Zum zweiten stand Siam, wie bereits erwähnt, während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, d. h. in der ersten entscheidenden Phase der Genese des globalen Religionsdiskurses nicht unter direkter kolonialer Kontrolle. Eine Beschäftigung mit den Entwicklungen dort zeigt jedoch, dass sich im Kontext zahlreicher Konfrontationen mit westlichen Akteuren und aufgrund vielfältiger indigener Rezeptionen auch in Siam ein Religionsdiskurs etablieren konnte.236 Drittens wird dem hier in einer ersten Annäherung betrachteten Text des Kitchanukit, trotz seiner Bedeutung für den siamesischen Kontext und seiner Bekanntheit unter Südostasienspezialisten, bisher in den Debatten um den buddhistischen Modernismus keine große Aufmerksamkeit zugewiesen. Auch in der historisch orientierten Übersicht von Donald S. Lopez Jr. über einen der Spezialaspekte des buddhistischen Modernismus, der auch hier im Zentrum stehen soll, nämlich das Verhältnis von ,Buddhismus‘ und ,Wissenschaft‘, wird der Text trotz seiner Rolle für die späteren Auseinandersetzungen in Siam und trotz seiner Bedeutung für die Frühgeschichte dieser Debatte nicht erwähnt.237 Auch wenn Lopez möglicherweise zuzustimmen ist, dass die erste systematische Behandlung der Frage nach ,Buddhismus und Wissenschaft‘ in Olcotts Katechismus von 1881 erfolgt, ist das Kitchanukit, das dieser Publikation fast 15 Jahre vorausgeht und in seinen zentralen Elementen auf Debatten und Textbestände aus den 1840er Jahren zurück geht, ein entscheidender Teil der Vorgeschichte dieser Entwicklungen. Das Beispiel des Kitchanukit kann somit als früher Hinweis darauf gelten, dass der globale Religionsdiskurs und die mit ihm einhergehenden Auseinandersetzungen um moderne Unterscheidungen (wie etwa zwischen ,Religion‘ und ,Wissenschaft‘) nicht auf den kolonialen Raum beschränkt geblieben ist, sondern sich auch in anderen Kontexten, wie etwa in Siam etabliert hat. In diesem Sinne ließe sich das Kitchanukit als einer der frühesten asiatischen Texte lesen, welche ein Reformprogramm des ,Buddhismus‘ als ,Religion‘ entwerfen, und den ,Buddhismus‘ zu diesem Zweck nicht nur in einen expliziten Vergleichszusammenhang zu anderen ,Religionen‘ stellen, sondern 235 Siehe vor allem Blackburn, Locations of Buddhism; Hansen, How to Behave. 236 Siehe zur ,semi-kolonialen‘ Situation Jackson, Peter A., The Ambiguities of Semicolonial Power in Thailand, in: ders./R.V. Harrison (Hg.), The Ambiguous Allure of the West. Traces of the Colonial in Thailand, Hong Kong 2010, 37 – 56 sowie zu einzelnen Konfrontationen und Rezeptionen die weiteren Aufsätze in diesem Band. 237 Siehe Lopez, Buddhism and Science.
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darüber hinaus auch dessen Verhältnis zur ,Wissenschaft‘ in den Blick nehmen. Anhand dieses Textes lassen sich somit exemplarisch die zwei in der vorliegenden Arbeit als Charakteristika des globalen Religionsdiskurses identifizierten Unterscheidungslinien beobachten. So besteht das Kichanukit zu einem großen Teil aus einer Darstellung dessen, was von Henry Alabaster in der hier verwendeten Übersetzung mit „Buddhism“ übersetzt und was im Text immer wieder mit anderen „religions“ verglichen wird. In diesem Sinne ist das Kitchanukit ein für den asiatischen Kontext sehr früher explizit ,religionsvergleichender‘ Text. Gleichzeitig steht die weitere Diskussion innerhalb des Textes im Rahmen dessen, was David L. McMahan als „discourse of scientific Buddhism“ bezeichnet hat.238 Auch hier kann das Kitchanukit als frühes Beispiel für die im Kontext des globalen Religionsdiskurses entfachten Debatten über das Verhältnis der in diesem formierten ,Religionen‘ zur ,Wissenschaft‘ verstanden werden. Die Frage, die in den folgenden Betrachtungen verfolgt wird, ist allerdings nicht primär, ob es sich bei den im Kitchanukit präsentierten Unterscheidungen um eine vollständige Neuerung handelt, die auf nichts Vorhergegangenem basiert. Der Fokus liegt vielmehr auf der durch den Religionsdiskurs angestossenen Transformation von Wissensbeständen, der Entwicklung hybrider Wissensformen, und der komparativen Auseinandersetzung mit ,Religionen‘. Wie im Folgenden zu sehen sein wird, wurde der im Kitchanukit vorgebrachte Versuch einer Neuordnung von Wissensbeständen schon von den Zeitgenossen als eine Unterscheidung von ,Wissenschaft‘ (science) und ,Religion‘ (religion) verstanden, wie sich nicht zuletzt anhand der hier zugrundegelegten zeitgenössischen Übersetzung von Henry Alabaster belegen lässt.239 238 Siehe McMahan, David L., Modernity and the Early Discourse of Scientific Buddhism, Journal of the American Academy of Religion 72/4, 2004, 897 – 933; ders., The Making of Buddhist Modernism, Oxford 2009. 239 In diesem Zusammenhang ist für die frühe Geschichte des „discourse of scientific Buddhism“ relevant, dass die erste Version dieser Übersetzung bereits im zweiten Jahrgang von „Nature“ (heute die bedeutendste interdisziplinäre wissenschaftliche Zeitschrift) in der Ausgabe vom 8. September 1870 (S. 372 – 373) rezensiert wurde. Dort kann man Folgendes lesen: „This is an extremely interesting little book. The minister whose views it records – Chao Phya Thipakon – conducted the foreign affairs of his country from 1856 till two years ago, when he was stricken with blindness and was obliged to retire into private life. It was then that he published the work – ,a book explaining many things‘ – the more important parts of which are here translated. We need scarcely say that, looked at from our point of view, some of his beliefs are sufficiently strange, and that he sometimes expresses opinions on subjects which are altogether beyond the range of science. At the same time he has in many respects advanced far beyond the great mass of his co-religionists. He will accept nothing merely because it has been handed down by tradition, but demands proofs which will stand the test of rigid examination. In endeavouring to explain such phenomena as rain, epidemic diseases, the tides, &c., he will have nothing to do with spirits, good or bad; he takes his stand on observed facts, and although his explanations may sometimes be inadequate, they are generally quite in the spirit of modern Western investigation. So far as he understands them, he heartily accepts the European
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Die folgende Darstellung beginnt mit einer Einführung in den historischen Kontext des 19. Jahrhunderts (6.4.3.1), setzt sich dann mit einigen Abschnitten aus dem Kitchanukit (6.4.3.2) sowie im Anschluss an vorhandene Sekundärliteratur mit dem Versuch einer Einordnung des dort Verhandelten auseinander (6.4.3.3), und zielt abschließend darauf, die hier präsentierten Betrachtungen mit der von McMahan angestossenen Diskussion um den „discourse of scientific Buddhism“ in Verbindung zu bringen (6.4.3.4).
6.4.3.1 Die Interaktionen des 19. Jahrhunderts und die klassische Kosmologie des „trai phum“ Wie von Craig J. Reynolds in seinem Aufsatz über „Buddhist Cosmography in Thai History“ beschrieben, ist der vermutlich ursprünglich im 14. Jahrhundert u. Z. verfasste Text trai phum phra ruang („Die drei Welten nach König Ruang“) die einflussreichste Zusammenfassung der thailändisch-buddhistischen Kosmologie.240 Dieser Text wurde in Siam im Laufe der Jahrhunderte immer wieder neu bearbeitet, zuletzt im Auftrag von König Rama I. (1782 – 1809241) zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Das trai phum beschreibt eine durch karma bestimmte Hierarchie von 31 Existenzebenen, von den verschiedenen Höllen bis zu den vier Ebenen der brahma Gottheiten. Jede Ebene geht für die dortigen Wesen mit einer bestimmten Verbindung von körperlicher Gestalt, Geschlecht und Sexualität, sowie der Dauer der jeweiligen Existenz einher. Es enthält allerdings nicht nur solche kosmologischen Beschreibungen, sondern auch eine Vielzahl anderen Wissens über die Gestalt der vier Kontinente (nach einer alten indischen Vorstellung), Erklärungen für die Entstehung von Tag und Nacht oder Berechnungsgrundlagen für die Bewegungen der Sonne und des Mondes. Es handelt sich also um die Darlegung eines umfassenden klassifikatorischen Systems, welches mit Hilfe des universellen Gesetzes des karma jeder lebenDoctrines of astronomy. All this strikes a European reader as very incompatible with certain aspects of the Buddhist religion; but Chao Phya Thipakon is convinced that Buddha knew quite well the truth about the real order of the world, and that he accommodated his language to the prevailing conceptions of his time, only that he might be the more free to proclaim his doctrines on higher subjects. Hence it is proclaimed lawful for a modern Buddhist to open his mind readily to all the results of modern research. […] It proves that amongst the best minds a genuine spirit of inquiry has been aroused, and that the old cosmogonies and superstitions are already beginning to give way before more scientific conceptions of man and the world.“ Abweichende Schreibweisen im Original. 240 Vgl. Reynolds, Craig J., Buddhist Cosmography in Thai History, with Special Reference to Nineteenth-Century Culture Change, The Journal of Asian Studies 35/2, 1976, 203 – 220. Eine englische Übersetzung des Textes wurde vorgelegt von Reynolds, Frank E./Reynolds, Mani B., Three Worlds According to King Ruang. A Thai Buddhist Cosmology, Berkeley 1982. 241 Die für die thailändischen Könige im Folgenden angegebenen Jahreszahlen beziehen sich jeweils auf die Regierungszeit.
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digen Existenz einen bestimmten Platz zuweist.242 Reynolds nennt es daher auch eine Art „scientific textbook – explaining planetary motion and the recurrence of the seasons, and covering such subjects as geography, biology, and meteorology.“243 Das trai phum kann somit als Basis des überlieferten thailändischen Weltverständnisses aufgefasst werden. Als sich ab den 1830er Jahren der Kontakt mit Europäern und Amerikanern (farang244) in der neuen Hauptstadt Bangkok245 intensivierte, war die im trai phum beschriebene Weltsicht – auch in der thailändischen Elite – weit verbreitet und weitgehend Konsens.246 Man versuchte, die Konzepte, die von den christlichen Missionaren nun in Gesprächen sowie bald auch in zahlreichen Druckwerken vertreten wurden,247 im Lichte des Wissens aus dem trai phum
242 Vgl. Reynolds, Buddhist Cosmography in Thai History, 204 – 209. 243 Ebd., 209. 244 Die Menschen aus dem Westen wurden von der thailändischen Bevölkerung als farang bezeichnet, eine Bezeichnung die noch heute in Gebrauch ist. Der Begriff geht vermutlich auf den im Persischen und Arabischen lange verwendeten Begriff für Europäer (frangi) zurück und etablierte sich in Siam bereits während der Ayutthaya-Zeit. Vgl. Pattana Kitiarsa, Farang As Siamese Occidentalism, Singapore 2005, http://www.ari.nus.edu.sg/docs/wps/wps05_049.pdf (archiviert unter http://www.webcitation.org/6Smeu144E), 7 – 12. „In Thai, for example, farang is a well-known adjective and noun referring to Western people without any specification of nationality, culture, ethnicity, language, or whatever“ (Thongchai Winichakul, Siam Mapped. A History of the Geo-Body of a Nation, Honolulu 1994, 5). 245 Zur früheren Hauptstadt Ayutthaya siehe Garnier, Derick, Ayutthaya. Venice of the East, Bangkok 2004. Die ersten Kontakte zwischen Siam und den farang beschreibt Thanet Aphornsuvan wie folgt: „The Portuguese were the first farang nation to come to Ayutthaya in 1511, followed by the Japanese in 1589. The Dutch arrived in Ayutthaya in 1604, followed by the English and the Spaniard. King Ekathosarot (r. 1605 – 1611) sent the first Siamese envoys to the Netherlands in 1604. King Songtham (r. 1611 – 1628) established relations with Denmark. France and Siam exchanged envoys during the reign of King Narai (r. 1656 – 1688)[.] […] The first American ship arrived Bangkok in 1821 during the reign of King Rama II (r. 1809 – 1824) […]“ (zitiert nach Pattana, Farang As Siamese Occidentalism, 7 [Fußnote 10]). Die europäische Präsenz war nach der Zerstörung Ayutthayas durch eine burmesische Invasion im Jahr 1767 u. Z. weitgehend zunichte gemacht worden. 246 Zur Geschichte Thailands siehe als klassische Erzählung Wyatt, David K., Thailand. A Short History, New Haven 22003. Baker, Christopher J./Pasuk Phongpaichit, A History of Thailand, Cambridge 2005 bieten eine sehr viel sozialgeschichtlicher orientierte Darstellung, welche die Studie von Wyatt gut ergänzt. Die überarbeitete Neuauflage von Terwiel, Thailand’s Political History zeichnet sich zum einen durch zahlreiche abweichende Interpretationen zentraler Figuren und Ereignisse und zum anderen durch eine besonders klar dokumentierte und nah an zeitgenössischen Quellen orientierte Darstellung aus. Siehe auch als kurzer Überblick: Tambiah, Stanley J., The Shaping of Thailand by the Chakri Dynasty, 1999, http://kanchanapi sek.or.th/library/Tambiah-Thailand3.htm (archiviert unter http://www.webcitation.org/6Smf Q6w2H). 247 Die für die folgende Auseinandersetzung zwischen den lokalen Eliten und den westlichen Missionaren zentrale Geschichte der Einführung der Druckerpresse im Siam des 19. Jahrhunderts kann hier nicht ausführlich behandelt werden. Siehe dazu unter anderem Winship, Michael, Early Thai Printing. The Beginning to 1851, Crossroads 3/1, 1986, 45 – 61 und zu früheren katholischen Druckaktivitäten auch Duverdier, G~rald, La transmission de l’impri-
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zu verstehen, was sich etwa an folgendem Zitat aus einem Brief des Missionars J.T. Jones von 1833 ablesen lässt: The Siamese often wish to know if I have any map of delineation of hell saying that they have many correct ones. They want to know what kind of instruments are used in the infliction of punishment there; whether they have burning rods, redhot pincers, flaming saws etc …248
Die christlichen Missionare sahen in der Widerlegung der buddhistischen Kosmologie ein entscheidendes Mittel um die Überlegenheit des Christentums zu demonstrieren. Zu diesem Zweck forderten sie von ihren Missionsgesellschaften technische Geräte und Schriften an, die der Demonstration eines ,modernen Weltbildes‘ dienten, wie etwa mechanische Modelle, die das kopernikanische System der Planetenbewegungen veranschaulichen konnten. Der Missionar Jesse Caswell verfasste ein unter dem Titel Almanach and Astronomy gedrucktes Traktat,249 welches die kopernikanische Kosmologie darlegte und großen Anklang fand, nicht zuletzt bei Mongkut, dem späteren König Rama IV. (1851 – 1868).250 Auch wenn westliche Akteure auf diese Weise die neuesten technischen und wissenschaftlichen Entwicklungen nach Siam brachten, war dies nicht das erste Mal, dass sich die thailändische Elite für westliche Wissensformen interessiert hatte. Neben dem trai phum gab es verschiedene andere Wissensbereiche, in denen die einheimischen Kenntnisse durchaus konkurrenzfähig waren.251 Das intensive Interesse an einer Auseinandersetzung mit den farang hielt über die nächsten Jahrzehnte an, und besonders die Mitglieder der thailändischen Elite waren sehr an einem Austausch interessiert. So luden z. B. der Phra Klang252 chaophraya Thipakorawong (der spätere Autor des Kitchanu-
248 249
250 251 252
merie en Thalande: du cat~chisme de 1796 aux impressions bouddhiques sur feuilles de latanier, Bulletin de l’Ecole FranÅaise d’ExtrÞme-Orient 68, 1980, 209 – 259. J.T. Jones, 30. Mai 1833, zitiert nach Terwiel, Barend J., Mu’ang Thai and the World. Changing Perspectives During the Third Reign, Unveröffentlichtes Typoskript, 1986, 23. Dieser Text wurde im Januar 1843 von der Presse der Mission des „American Board for the Commissioners of Foreign Mission“ gedruckt, und war von Caswell geschrieben und von Dan Beach Bradley übersetzt worden. Vgl. Bradley, William L., Prince Mongkut and Jesse Caswell, The Journal of the Siam Society 54/1, 1966, 29 – 41, hier : 38 (Fußnote 20). Vgl. Thongchai, Siam Mapped, 33. Siehe zu Mongkut u. a. Terwiel, Thailand’s Political History, 12 – 31, 135 – 168; Reynolds, Craig J., The Buddhist Monkhood in Nineteenth-Century Thailand, Unveröffentlichte Dissertation, Ithaca 1973. Vgl. Hodges, Ian, Western Science in Siam. A Tale of Two Kings, Osiris 13, 1998, 80 – 95. Dieser Artikel behandelt die frühesten Auseinandersetzung mit westlichen Wissensformen im 17. und 19. Jahrhundert sowie die vorhandenen lokalen Wissensformen. Der Phra Klang fungierte als eine Art ,Finanz- und Außenminister‘ und war für die Kontakte zu den ausländischen Gesandtschaften sowie für den Handel zuständig. Vgl. Baker/Pasuk, A History of Thailand, 17. Terwiel, Thailand’s Political History, 12 – 31 gibt einen ausführlichen Überblick über das traditionelle System der administrativen Posten und der Verwaltung des Königreichs und schreibt: „This department was also known as krom Phrakhlang, or the
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kit), aber auch König Rama IV. immer wieder westliche Besucher ein, um mit ihnen über technische Errungenschaften aber auch über die von den Missionaren propagierten christlichen Vorstellungen zu diskutieren. Der deutsche Reisende Adolf Bastian, einer der Begründer der Ethnologie, hat in seinen Reisen in Siam im Jahre 1863 mehrere solcher Gespräche dokumentiert: Schon in den ersten Wochen meiner Ankunft hatte mir der König eine Audienz bewilligt […]. Die ganze Halle war mit den zur Erde geworfenen Körpern des Gefolges bedeckt, als der König, ein kleiner schmächtiger Mann mit lebendigen Augen, auf mich zukam […]. Er liess sich in einem bei seiner polternden Aussprache nur halb verständlichen Englisch über die Formen aus, die der Buddhismus in den verschiedenen Ländern angenommen habe, und erhob den nepalesischen Glauben an den Adi-Buddha als der christlichen Anschauung am nächsten kommend. Auf einige Fragen meinerseits ging er des Weiteren auf die Dhamma ein, die das Universum durch die Naturgesetze regiere und die stützende Grundlage der Existenz bilde. […] Der jetzige König liess sich auch von den französischen Missionaren im Lateinischen, sowie von den amerikanischen im Englischen unterrichten. Ausserdem spricht er Birmanisch, Perguanisch, Cochinchinesisch, Malayisch und Hindostanisch.253
Der hier beschriebene König ist der schon erwähnte König Mongkut, Rama IV., der schon in seiner Jugend ein großes Interesse für alles Europäische entwickelt hatte. Nach seiner Krönung zum König verfolgte er weitere Reformen des sangha, die er bereits in seiner Zeit als Mönch in den Jahrzehnten zuvor (1824 – 1851), und nicht zuletzt im Verbund mit einer Reihe anderer Mönche und siamesischer Intellektueller, angestrebt hatte.254 Die frühen 1840er Jahre waren somit für das 19. Jahrhundert der erste Höhepunkt westlicher Präsenz in Bangkok. Die lokale Bevölkerung und besonders die indigenen Eliten waren hochinteressiert an einem Austausch mit den Europäern. In Bangkok befanden sich zu dieser Zeit neben den noch vorhandenen Nachkommen europäischer Siedler aus Ayutthaya eine Vielzahl von Händlern, Diplomaten und – für den vorliegenden Zusammenhang besonders wichtig – christlichen Missionaren. Besonders protestantische Missionare – Angehörige des American Board for the Commissioners of Foreign Mission (Kongregationalisten) sowie Presbyterianer und Baptisten – spielten
Treasury. It was charged with the collection of all taxes on imported and exported goods. […] The Treasury also became the storehouse of knowledge about foreign countries, and most of the king’s dealings with the world outside Siam took place by way of the palace of the Phrakhlang in a section called krom Tha (Harbour Section)“ (ebd., 18). 253 Bastian, Adolf, Reisen in Siam im Jahre 1863, Jena 1867, 69 – 70. 254 Siehe dazu vor allem Reynolds, The Buddhist Monkhood sowie Lingat, Robert, La vie religieuse du Roi Mongkut, The Journal of the Siam Society 20, 1926, 129 – 148; Griswold, Alexander B., King Mongkut in Perspective, The Journal of the Siam Society 45/1, 1957, 1 – 41; Moffat, Abbot L., Mongkut, the King of Siam, Ithaca 1961.
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eine zentrale Rolle, auch wenn die katholische Präsenz schon deutlich älter war.255 Auch wenn dies nicht das erste Mal war, dass Europäer im Königreich in 255 Die ersten christlichen Missionare in Siam waren zwei römisch-katholische (dominikanische) Mönche, die Ayutthaya im Jahr 1554 erreichten, gefolgt von Franziskanern (1584) und Jesuiten (1601). Mit der Zerstörung Ayutthayas 1767 ging diese erste Präsenz weitgehend zu Ende. Zu Beginn des 19. Jahrhundert hatte sich dann erneut eine kleine Gemeinschaft etabliert. „By the beginning of the nineteenth century there were one French priest, 7 native helpers and about 3,000 indigenous Christians in the country“ (Watson, J.K.P., Missionary Influence on Education in Thailand c. 1660 – 1970, Paedagogica Historica 23/1, 1983, 145 – 162, hier: 149). Die ersten protestantischen Missionare in Siam waren im Jahr 1828 der Deutsche Karl Friedrich August Gützlaff (ein unabhängiger Missionar, der zuvor mit der Niederländischen Missionsgesellschaft in Verbindung gestanden hatte) und der Engländer Jacob Tomlin (London Missionary Society). Aus Singapore brachten sie chinesische Bibeln und Traktate mit und verteilten diese. Siehe hierzu die Tagebuchberichte in Farrington, Anthony (Hg.), Early Missionaries in Bangkok. The Journals of Tomlin, Gutzlaff and Abeel 1828 – 1832, Bangkok 2001. Zu Gützlaff siehe Lutz, Jessie G., Opening China. Karl F. A. Gützlaff and Sino-Western Relations, 1827 – 1852, Grand Rapids 2008, 42 – 54. Im Jahr 1831 sandte das „American Board of Commissioners for Foreign Missions“ (ABCFM) David Abeel, M.D. nach Siam. Zwei Jahre später wurden von der amerikanischen baptistischen Mission William Dean und J.T. Jones (zusammen mit dessen Frau) nach Siam versetzt. Vgl. Wells, Kenneth E., History of Protestant Work in Thailand 1828 – 1958, Bangkok 1958, 7. Siehe zur weiteren Geschichte der Mission auch McFarland, George B., Historical Sketch of Protestant Missions in Siam, 1828 – 1928, Bangkok 1999. Die bedeutendste Figur der protestantischen Mission im 19. Jahrhundert, Dan Beach Bradley M.D. (ABCFM) erreichte Bangkok am 18. Juli 1835 und blieb, unterbrochen von nur einem einzigen kurzen Besuch in Amerika, insgesamt 38 Jahre vor Ort (1835 – 1873). Bradley war für eine Reihe von Pionierleistungen verantwortlich. Als ausgebildeter Arzt war er der erste, der westliche Operationstechniken anwandte, eine erfolgreiche Pockenimpfung durchführte, und eine Druckerpresse mit siamesischer Type nach Siam brachte. Siehe zu Bradley auch Lord, Donald C., In His Steps. A Biography of Dan Beach Bradley, Medical Missionary to Thailand, 1835 – 1873, Unveröffentlichte Dissertation, Cleveland 1964. Anfang 1840 begann mit Jesse Caswell ein weiterer zentraler Vertreter der frühen protestantischen Mission seine Arbeit in Siam. Caswell war eigentlich Presbyterianer, sagte sich aber später aufgrund von theologischen Konflikten von seiner Denomination los. Er spielte vor allem deshalb eine so wichtige Rolle, weil er 1845 vom Mönch und Prinzen Mongkut (dem späteren Rama IV.) als Lehrer für die englische Sprache angeheuert wurde, und diesem gleichzeitig die neusten westlichen Erkenntnisse der Mathematik, Astronomie etc. nahe brachte. Im Austausch dafür wurde es Caswell ermöglicht, einen kleinen Raum in Mongkuts Kloster auf dem Palastgelände zu nutzen, um dort zu predigen und Traktate zu verteilen. Siehe dazu McFarland, Historical Sketch of Protestant Missions, 19 – 20 sowie Bradley, Prince Mongkut. Das Arrangement wurde über etwa anderthalb Jahre beibehalten, bis Mongkut aufgrund der neu aufkommenden antiwestlichen Stimmung am Hof auch seine eigenen engen Beziehungen zu den Missionaren zeitweise unterbrach. Caswells früher Tod im Jahr 1848 beendete diese Verbindung, die aber für Mongkut eine zentrale Rolle gespielt hatte. Während die Mission auf diese Weise großen Einfluss auf die einheimischen Eliten ausüben konnte, waren die Konversionserfolge der frühen protestantischen Mission sehr begrenzt. Die Missionare des ABCFM konnten zwischen 1831 und 1849 keinen einzigen Konvertiten thailändischer Herkunft gewinnen, die 1840 begonnene presbyterianische Mission verzeichnete die erste Taufe am 5. August 1859. Die Baptisten berichteten zwischen 1833 und 1863 nur über 45 Konvertiten, zumeist unter der chinesischen Minderheit, die erste Konvertitin thailändischer Herkunft folgte 1860. Vgl. Wells, History of Protestant Work, 2.
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Erscheinung traten,256 waren die Kontakte nach der Zerstörung der früheren Hauptstadt Ayutthaya im Jahr 1767 bis in die 1820er Jahre eher sporadisch gewesen.257 Die ersten farang von außerhalb kamen in den 1810er Jahren wieder nach Bangkok. Zu dieser Zeit lebten damals wohl noch ca. 700 Nachkommen portugiesischer Siedler in der Stadt und britische und holländische Handelsschiffe machten nur in unregelmäßigen Abständen Halt.258 Dennoch gab es noch zu Beginn der Regierungszeit von Rama III. (1824 – 1851) nur wenige Europäer oder Amerikaner, die neu nach Siam gekommen und fest in Bangkok ansässig waren. Auch der französische katholische Missionar Mgr. Florens spielte wohl keine zentrale Rolle und war „seldom noticed by the court“.259 Ab den 1830er Jahren herrschte in Bangkok dann jedoch wieder ein reger Handelsverkehr mit den westlichen Mächten, und jedes Jahr liefen über fünfzig Rahsegler im Hafen von Bangkok ein.260 Verschiedene diplomatische Missionen versuchten in dieser Zeit, Handelsabkommen mit Siam zu schließen, auch wenn die Wünsche der Siam umgebenden Kolonialmächte zu Beginn nur teilweise erfüllt wurden. Zunächst hatten die Europäer in den Augen der lokalen Bevölkerung einen sehr niedrigen Status inne und wurden eher belächelt. Besonders die Seeleute der Handelsschiffe hatten einen sehr schlechten Ruf und waren für ihr rücksichtsloses Verhalten bekannt. Aber auch die wenigen anderen farang wurden nicht mit besonderem Respekt behandelt, und auch die protestantischen Missionare erschienen eher als kurios. Diese klagten daher auch immer wieder über erlittene Rücksichtslosigkeiten und darüber, dass sie verspottet würden. Noch 1840 wurde ein Gebäude des protestantischen Missionars Bradley, in dem dieser seine christlichen Traktate aufbewahrt hatte, verwüstet, und
256 Auch in der Zeit von Ayutthaya, besonders im Verlauf des 17. Jahrhunderts hatte es eine bedeutende europäische Präsenz gegeben. Ayutthaya war im frühen 17. Jahrhundert vermutlich die größte Stadt in Südostasien und wies eine Vielzahl von Siedlungen auf, die sich ringförmig um die Stadt erstreckten und von Chinesen, Vietnamesen, Mon, Portugiesen, Arabern, Indern, Persern, Japanern etc. bewohnt waren. Die Holländer hatten sich 1604 dort niedergelassen und wollten am Handel mit Japan teilhaben. Engländer und Franzosen folgten später. All diese Siedlungen waren keineswegs isoliert. Vielmehr griff das Königshaus gerne auf die Dienste der Ausländer zurück, heuerte Inder, Japaner und Portugiesen für die Palastgarde an, und beschäftigte holländische Schiffsbauer sowie französische und italienische Ingenieure. Eine besonders imposante Figur im 17. Jahrhundert war ein Abenteurer mit griechischen Wurzeln namens Konstantin Phaulkon, der sogar bis zum zentralen Ministerposten unter der Regentschaft von König Narai (1656 – 1688) aufstieg. In der Folge dieser Ereignisse kam es dann allerdings im Jahr 1688 zu einer Krise, in der Phaulkon getötet wurde, die Franzosen des Landes verwiesen wurden und die Engländer flohen. Vgl. Baker/Pasuk, A History of Thailand, 13 – 14. 257 Vgl. Wyatt, Thailand, 148. 258 Vgl. Terwiel, Mu’ang Thai, 13. 259 So heißt es in zeitgenössischer Formulierung in den „Burney Papers“, zitiert nach ebd. 260 Vgl. Wyatt, Thailand, 154.
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immer wieder wurden Figuren auf Holzkreuze gesteckt oder gemalt und an die Türen der Missionare geheftet.261 Dennoch nahm das Interesse der siamesischen Elite an den farang, besonders an den Engländern, zu Beginn der 1820er Jahre vor allem aufgrund der veränderten geostrategischen Situation des Landes stetig zu. Die Konflikte in Burma in den Jahren 1822 und 1823 und die englische Kriegserklärung an Burma im März 1824, ließen die Engländer zu einem zentralen Thema in Bangkok werden. Die Reaktion der siamesischen Elite bestand in einem wachsenden Interesse an den farang und dem Sammeln von weitergehenden Informationen über diese. Nachdem sich die Engländer in der Kriegsführung gegen China als deutlich überlegen gezeigt hatten, wollte der Phra Klang vom englischen Gesandten Burney sehr detailliert wissen, wie das britische Reich organisiert sei und welche Stellung der britische König einnehme.262 In der einheimischen Vorstellung, die man sich in Siam von der es umgebenden Welt machte, war China immer wie selbstverständlich für die größte Macht der Welt gehalten worden. Die große Bedeutung der chinesischen Minderheit in Bangkok und die Orientierung an der chinesischen Kultur spielt für das frühe 19. Jahrhundert und bis in die 1840er Jahre eine zentrale Rolle. Diese Bedeutung spiegelte sich auch noch unter Rama III. in Mode und Stil. Chinesische Steinfiguren, Hausschuhe und Jacken waren am Hof weit verbreitet, die Häuser der Elite sowie die Tempel verfügten über chinesische Möbel und man las chinesische Klassiker wie das Sam kok („Die drei Königreiche“).263 Die zentrale Bedeutung Chinas ging erst nach 1840 und dem Ausbruch offener Feindseligkeiten zwischen Europäern und Chinesen endgültig zurück. Infolge des englischen Sieges über das so hoch angesehene China im ersten Opiumkrieg musste die siamesische Elite ihre Vorstellung über die internationalen Kräfteverhältnisse neu überdenken, was in Siam eine tiefgreifende Neuorientierung zur Folge hatte.264 Um sich in dieser neuartigen Welt, in der China nicht mehr die zentrale Macht darstellte, verorten zu können, versuchten die indigenen Eliten daher unter anderem, von den katholischen und protestantischen Missionaren etwas über die jeweilige Bedeutung der europäischen Nationen zu erfragen, und wurden von diesen etwa mit einer detaillierten tabellarischen Aufstellung über die Rangfolge der einzelnen Staaten versorgt.265 Neben dieser militärischen Kräfteverschiebung führte auch das immer schnellere wirtschaftliche Wachstum zu einem Mentalitätswandel. In Verbindung mit der beachtlichen Zahl der nun in Bangkok wieder ansässigen Europäer, die neue Technologien und Wissensbestände mitbrachten, und 261 262 263 264 265
Vgl. Terwiel, Mu’ang Thai, 14 – 17. Vgl. ebd., 18. Vgl. Baker/Pasuk, A History of Thailand, 35; Terwiel, Mu’ang Thai, 1 – 2. Vgl. Terwiel, Mu’ang Thai, 28. Vgl. ebd., 29.
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gleichzeitig als Ausdruck der kolonialen Bedrohung angesehen wurden, legte dies den Grundstein für eine Zeit tiefgreifenden Wandels über den Verlauf des 19. Jahrhunderts.266 Besonders die Zahl der vor Ort ansässigen Missionare hatte seit den 1830er Jahren stetig zugenommen. Diese waren neben den zahlreichen Händlern und anderen farang die zentralen Ansprechpartner für die an jeder Form westlichen Wissens hochinteressierten Eliten. Der spätere König Mongkut lebte als Mönch in einem wat267 und pflegte besonders in den 1830er und frühen 1840er Jahren zahlreiche Kontakte mit den Europäern und vor allem den Missionaren. Über diese Kontakte lernten Mongkut und andere interessierte Mitglieder der Elite268 die englische Sprache sowie Grundlagen anderer europäischer Sprachen, wurden mit der Technik des Buchdrucks vertraut gemacht, und konnten sich eine große Anzahl Bücher verschaffen.269 Besonders beeindruckt waren sie von zahlreichen technischen Geräten, dem Dampfantrieb, und besonders von der mathematischen Präzision astronomischer Berechnungen.270 Auf diese Weise spielten nicht zuletzt die protestantischen Missionare in der Geschichte Siams im 19. Jahrhundert eine einzigartige Rolle. In diesen umfangreichen Kontakten waren sie bestrebt, die Vertreter der lokalen Elite von deren ,irrigem Weltbild‘ sowie dem ,Buddhismus‘ abzubringen und hatten so bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts großen Anteil an dem stattfindenden umfangreichen Wissensaustausch.271 Um das Jahr 1842 begann sich die Situation zu verändern (wohl auch aufgrund der kolonialen Bestrebungen der Engländer) und eine zunehmende Furcht vor den Europäern und eine weit verbreitete anti-westliche Stimmung hielt Einzug, die in der Bevölkerung dann auch bis zum Tode Ramas III. im
266 Vgl. Baker/Pasuk, A History of Thailand, 26. 267 Der Begriff wat geht u. a. auf a¯va¯sa (Pali, „Aufenthaltsort“, „Wohnstätte“) zurück und bezeichnet (auch heute) in Laos, Kambodscha und Thailand einen mit einer Mauer umschlossenen Gebäudekomplex, in welchem buddhistische Mönche wohnen. Er wird heute meist mit „Tempel“ oder „Tempelanlage“ übersetzt. 268 Es lassen sich hier zehn wichtige historische Persönlichkeiten identifizieren. Vgl. Terwiel, Mu’ang Thai, 21 – 22. Von den Mitgliedern der königlichen Familie waren dies vor allem Mongkut (chao fa ya), aber auch sein Bruder Prinz Chuthaman (chao fa), pha ongchao Ninlarat und Kromamu n Sunthontibodi. Neben diesen war besonders die Familie der Bunnag an diesen Interaktionen beteiligt. Bereits die ältere Generation, der Phra Klang zur Zeit Ramas III., Phra Klang Dit Bunnag und der zweite Phra Klang phraya Phiphat hatten in engem Kontakt mit den Missionaren gestanden. Besonders interessiert an den farang zeigten sich dann die Söhne von Dit Bunnag, zum einen Chuang Bunnag (Khun Sit), der 1827 mit 18 Jahren bereits über Englischkenntnise verfügte und sich für technische Erfindungen und Mathematik interessierte. Zum anderen aber vor allem Kham Bunnag (chaophraya Thiphakorawong), der spätere Autor des „Kitchanukit“. Vgl. zu dieser Gruppe von Akteuren auch Wyatt, Thailand, 162. 269 So besaß etwa Prinz Chuthaman schon 1839 eine vollständige Ausgabe der „Encyclopedia Britannica“ Vgl. Terwiel, Mu’ang Thai, 30. 270 Baker/Pasuk, A History of Thailand, 37 – 39. 271 Vgl. Terwiel, Mu’ang Thai, 19 – 20.
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Jahr 1851 andauerte.272 Während sich dieser zuvor selbst noch sehr für die farang, ihre technischen Erfindungen und ihr Wissen interessiert hatte, schlug er sich später auf die Seite derjenigen, die den westlichen Einfluss für gefährlich und zerstörerisch hielten. So entwickelte sich eine große Spannung innerhalb der Elite im Hinblick auf den Umgang mit den Europäern und deren technischer Überlegenheit.273 Der spätere König Mongkut und der um ihn versammelte engere Kreis, zu dem auch Thiphakorawong, der Autor des Kitchanukit gehörte, teilte die um sich greifende Skepsis zunächst nicht.274 Noch in den frühen 1840er Jahren begann er, beim protestantischen Missionar Jesse Caswell Unterricht im Englischen zu nehmen. Doch Mitte der 1840er Jahre musste auch er sich dem Willen Ramas III. beugen. Zum Ende der 1840er Jahre kam damit der Austausch, dessen erster Höhepunkt um 1840 gelegen hatte, zunächst zu einem Stillstand.275 Erst mit der Krönung Mongkuts zu Rama IV. im Jahr 1851 gelangte die westlich orientierte Fraktion nun selbst an die Macht, und es kam schnell zu einem zweiten Höhepunkt des Interesses am Westen.276 Auch infolge neuer Handelsabkommen (etwa des Bowring Treaty) und der wachsenden Präsenz von Europäern und Amerikanern in Bangkok nahm der Austausch noch einmal an Intensität zu. Auch die Europäer interessierten sich nun brennend für alle Informationen über Siam.277 Als der bereits zu Beginn dieses Abschnitts erwähnte deutsche Ethnologe Adolf Bastian 1863 Siam bereiste, bewegte er sich in den Kreisen um König Rama IV. und wurde dort sehr interessiert empfangen. Er traf hier nicht zuletzt auf Kham Bunnag, einen der langjährigen Vertrauten des Königs, der mittlerweile den Titel chaophraya Thiphakorawong verliehen bekommen hatte, und zur Zeit von Bastians Besuch seinem Vater als amtierender Phra Klang nachgefolgt war. Über seine Begegnungen mit Thiphakorawong berichtet Bastian: Tief befangen in der priesterlichen Gelehrsamkeit seines Landes ist dagegen der Phra-Klang (der als Minister des Auswärtigen fungirende Schatzmeister), der aber dennoch offne Hinneigung zu europäischer Civilisation zeigt. Eines Abends, wo mich Herr Alabaster auf seine Einladung dorthin begleitete, wandte sich das Gespräch auf die neue Secte des Buddhismus, die der König zu stiften suchte, als reformatorischer Versuch, alles Fabelhafte und Unglaubwürdige aus den Palischriften auszuscheiden und nur die moralische Essenz derselben beizubehalten.278 272 273 274 275 276 277
Vgl. ebd., 31. Vgl. ebd., 33. Vgl. ebd., 36. Vgl. ebd., 40. Vgl. ebd., 42. Rama IV. (Mongkut) selbst stellte etwa 1858 fest: „A great number of Englishmen have been and are now residing in this country. They seem to have an accurate knowledge of everything that is to be known here.“ Zitiert nach Baker/Pasuk, A History of Thailand, 40 – 41. 278 Bastian, Reisen in Siam, 73. Abweichende Schreibweisen im Original.
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Thiphakorawong war bereits in den 1840er Jahren an den mit den Missionaren geführten Debatten intensiv beteiligt gewesen, und schrieb nicht zuletzt aufgrund dieser Erfahrungen das Kitchanukit, welches im folgenden Abschnitt ausführlicher behandelt wird. Wie Bastian beschreibt, sei Thiphakorawong besonders am Vergleich unterschiedlicher „Religionen“ interessiert gewesen und hätte ihm daher eine Einteilung aller Religionen in zwei Klassen vorgeschlagen: „Alle Religionen auf der Erde, bemerkte der Phra-Klang, könnten in zwei Klassen getheilt werden, einmal diejenigen, die andere Mächte zur Hülfe rufen, wie Kinder nach ihren Eltern schreien, und dann solche, die die Hülfe in ihrem eigenen Geist finden.“279 Von einem weiteren Treffen berichtet Bastian: Einige Wochen darauf liess mich Herr Alabaster […] wissen, dass der Phra-Klang […] uns zu einem Feste eingeladen habe […]. Später in der Nacht […] rief der PhraKlang zwei seiner Hausgelehrten zu sich und setzte sich mit uns auf das Sopha, um bei Thee und Cigarren gemeinschaftlich zu discurieren. […] Ueber Nagasena wusste der Eine, dass er von Phroma-Lok (dem Brahma-Himmel) gekommen, der Phra-Klang aber wandte ein, dass das Fabel sei und nur bedeuten solle, dass alle Menschen von brahmanischen Voreltern stammten. Von den Xadok (Jataka)280 behauptete er, das seien nichts als Geschichten, die von gelehrten Männern zusammengestellt seien, und auch die fünf kanonischen Bücher der Sutra,281 obwohl sie manche gute und wertvolle Dinge enthielten wären auf das Vielfachste mit Interpellationen und späteren Zusätzen untermischt. […] Um aber mit Sicherheit zu erforschen was das Wahre sei, müsse man in zweifelhaften Fällen alle die die Frage constituierenden Elemente sehr sorgfältig untersuchen und mit ihrem Gegentheil abwiegen, um so zur richtigen Entscheidung zu gelangen, da bei nur oberflächlicher Betrachtung des Ganzen das Urtheil leicht getäuscht werden könne.282
Thiphakorawongs Kitchanukit kann hinsichtlich der hier dargestellten Interaktionen über den Verlauf des 19. Jahrhunderts als ein früher Kulminationspunkt und Ausdruck dieser Begegnungen zwischen der thailändischen Elite und den farang gelten. Es dokumentiert die hybriden Prozesse des Wissenstransfers, in welche die siamesische Elite über den Verlauf der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingebunden war, und soll daher im Folgenden im Kontext der bisherigen Überlegungen zum globalen Religionsdiskurs betrachtet werden.
279 Ebenda. Abweichende Schreibweisen im Original. 280 Die Jataka umfassen 547 Erzählungen von früheren Leben des Buddha. Vgl. von Brück, Michael, Buddhismus. Grundlagen – Geschichte – Praxis, Gütersloh 1998, 348. 281 Das Sutta-pitaka (skt. Sutra, ,Lehrreden des Buddha‘) umfasst vier große Sammlungen sowie ein Sammelwerk (vgl. ebd., 31). 282 Bastian, Reisen in Siam, 81 – 85. Abweichende Schreibweisen im Original.
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6.4.3.2 ,Buddhismus‘ als Gegenstand des globalen Religionsdiskurses im „Kitchanukit“ Das Kitchanukit lässt sich – so die These – als ein Text lesen, in dem ,der Buddhismus‘ in Siam über den Verlauf des 19. Jahrhunderts im Kontext eines umfangreichen Wissenstransfers als Gegenstand des globalen Religionsdiskurses erscheint. Beide heuristisch bestimmten Charakteristika des globalen Religionsdiskurses lassen sich hier finden. Der ,Buddhismus‘ erscheint im Kitchanukit zum einen als eine ,Religion‘ neben einer Pluralität anderer Religionen, indem er durch den gesamten Text hindurch mit diesen verglichen wird. Zum anderen lässt sich im Rahmen des Kichanukit als Ergebnis der Konfrontation mit den nicht zuletzt auch durch christliche Missionare in Siam eingeführten Wissensformen eine neuartige Unterscheidung erkennen, die erste Ansätze zu einer Verhältnisbestimmung von ,Religion‘ und ,Wissenschaft‘ impliziert. Publiziert 1867 unter dem Titel Nangsue Sadaeng Kitchanukit („Ein Buch über verschiedene Dinge“) war das Kitchanukit in den 1860er Jahren entstanden und vermutlich das erste Buch, welches in Siam von Seiten der siamesischen Elite unter Verwendung thailändischer Buchstaben gedruckt wurde.283 Wann genau der dann schließlich gedruckte Text verfasst und zusammengestellt wurde, hat sich bisher nicht vollständig rekonstruieren lassen.284 Das Werk erschien in einer ersten Auflage von 200 Exemplaren, umfasste 390 Oktavseiten, und wurde ab dem 23. November 1867 verbreitet.285 283 Zu Thiphakorawong und dem „Kitchanukit“ siehe Somjai, The Historical Writings of Chao Phraya Thiphakorawong; Reynolds, Buddhist Cosmography in Thai History ; Thongchai, Siam Mapped, 37 – 61. Das „Kitchanukit“ wurde, wie bereits erwähnt, 1871 in einer zeitgenössischen Übersetzung Henry Alabasters veröffentlicht, der als „Interpreter of her Majesty’s Consulate General in Siam“ amtiert hatte. Die in seinem Buch „The Wheel of the Law“ als erster Teil veröffentlichte Übersetzung hält heutigen historisch-kritischen Kriterien sicherlich nicht stand. Dennoch wird im Folgenden aus Gründen fehlenden sprachlichen Zugangs zum Originaltext auf diese Übersetzung zurückgegriffen (auch wenn an einigen wichtigen Stellen die thailändischen Begriffe in Transkription erscheinen). Die bereits erwähnte erste Übersetzung unter dem Titel „The Modern Buddhist“ wurde zumindest von Seiten der farang auch in Siam selbst bemerkt, wenn auch der Autor eines 1870 in „The Siam Repository“ erschienenen Artikels die Übersetzung noch nicht gelesen hatte. Dort heißt es: „Our friend Henry Alabaster […] has translated a Siamese Book […]. Not having seen the translation, we can express no opinion thereon. The original Siamese work, we have read with interest, as the production of once [sic!] whom we know well, and who has often striven to impress us with his peculiar ideas in what His Lordship supposed their strongest and best possible light. Aside from this it is an interesting book showing the ideas of a man who is a staunch Budhist. And that there is now a man in Siam who put himself to the trouble of writing something new. […] Compared, however with the intellectual activity, stature and close, logical reasoning powers of highly cultivated Western intellect it would be puerile. Compared with his own countrymen this distinguished stateman stands deservedly high as an intelligent and conscientions [sic!] statesman and Budhist“ (The Siam Repository 2/3, 356). Abweichende Schreibweisen im Original. 284 Vgl. Somjai, The Historical Writings of Chao Phraya Thiphakorawong, 63.
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Die dort gesammelten Textteile gehen nicht nur auf die zahlreichen Kontakte und Debatten Thiphakorawongs mit ausländischen Gesandten und vor allem mit christlichen Missionaren bereits seit den 1830er Jahren zurück, sondern in besonderem Maße auch auf die schriftlichen Auseinandersetzungen mit diesen in den 1840er und 1860er Jahren. Im Rahmen des von dem Missionar Dan Beach Bradley 1844 gegründeten und auf Thailändisch erscheinenden Periodikums Bangkok Recorder286 hatten vor allem Mongkut (Rama IV.) und Thiphakorawong umfangreiche Debatten mit Bradley geführt. Während dieser die westliche und christliche Seite vertrat, argumentierten die Vertreter der thailändischen Elite aus ihrem traditionellen Wissen heraus und traten so für den ,Buddhismus‘ ein.287 Herausgefordert von den unter anderem von Bradley im Bangkok Recorder veröffentlichten Einschätzungen buddhistischer Überzeugungen und deren Gegenüberstellung mit christlichen Vorstellungen und den dort ebenfalls publizierten wissenschaftlichen Erkenntnissen der Zeit, schrieben sowohl Mongkut als auch Thiphakorawong eine größere Zahl an Artikeln und Kommentaren, die ihrerseits wieder im Bangkok Recorder publiziert wurden.288 Wo etwa die Missionare behaupteten, dass der gegenwärtige Zustand Siams und dessen Schwierigkeiten darin, mit den prosperierenden Nationen des 285 Vgl. ebd. 286 Der „Bangkok Recorder“ erschien zunächst 1844 – 1846 und dann noch einmal 1865 – 1867, teilweise in englischer sowie immer in thailändischer Ausgabe. Bereits im ersten Jahr wurden dort unter anderem folgende Themen verhandelt (die Artikel erschienen auf Thailändisch, die Überschriften jeweils auch auf Englisch): Lightning; Tigers in Singapor; Rebellion in China; Sugar ; Siamese and Khamu compared; Price of Steamboats; America; Lotions for Ulcers; General Treamtment of Ulcers; The Atmosphere. No. 2; Carrier Pigeons; Number of Sheep in England and the United States; Arabian Horses; Vaccination Successful in Siam; Treatment of Ulcers Continued; The Atmosphere; Smallpox and Cholera in Calcutta; Aged People in Russia; Toleration in Turkey ; Connecticut Clocks; To the Blind from Cateract; The Atmosphere. No. 3; Circulation of the Blood. No. 1; Treatment of Incised Wounds; Chemistry No. 1; Oxygen; Circulation of the Blood. No. 2; Treatment of Intermittent Fevers; Chemistry. No. 2. Oxygen; The Christian Scriptures; Treaty Between China and the United States; Circulation of the Blood. No. 3; Chemistry. No. 3 (Nitrous Oxide/Nitric Oxide/Nitrous Acid/Tric Acid); Causes of Wind (Land Breeze/Sea Breeze); Electro-Magnetic Telegraph. Diese Liste zeigt, dass neben der Darstellung und den Debatten über ,Christentum‘ und ,Buddhismus‘, die später zu einem Hauptbestandteil des Periodikums werden, aber hier nur in dem Artikel „The Christian Scriptures“ auftauchen, von Bradley mit dem „Bangkok Recorder“ der Versuch unternommen wurde, eine große Menge unterschiedlichsten Wissens zu verbreiten. In den 1860er Jahren erschienen dann u. a. Artikel wie „The Priests and Idols of Siam“, „Subversion of Idolatry in Siam“, „Our Buddhist Champion“, „The Answer to the Admirer of Buddhism“ (Übersetzungen dieser Titel zitiert nach ebd., 125). 287 Vgl. ebd., 61 – 63. 288 Inwieweit Thiphakorawong des Englischen mächtig war, ist nicht vollständig geklärt. Laut Somjai verfügte er aber auf jeden Fall über eine gewisse Vertrautheit mit englischen Begriffen, und hatte später einen französischen Sekretär namens Daniel Winsor, der ihm hier weitergeholfen haben könnte. „In addition, he probably gained his knowledge of Western science from the Thai version of the Bangkok Recorder in which there appeared many translations of English articles, foreign information, and many miscellaneous news items“ (ebd., 129).
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Westens mitzuhalten zu können, vorrangig auf den ,Buddhismus‘ zurückzuführen seien, antwortete Thiphakorawong 1865 in einem Artikel im Bangkok Recorder auf diese Behauptung mit dem Hinweis, dass der Wohlstand der westlichen Länder sich keineswegs auf das Christentum, sondern vor allem auf die intellektuellen Fähigkeiten der jeweiligen Bevölkerung zurückführen lasse. Keineswegs sei also ,Religion‘ für diesen Fortschritt verantwortlich, was sich nicht zuletzt darin erkennen lasse, dass auch zahlreiche christliche Nationen noch von Armut und Rückständigkeit geprägt seien.289 In dem aus Auseinandersetzungen dieser Art hervorgegangenen Kitchanukit lassen sich grob zwei Teile unterscheiden, die aber im Text nicht unbedingt vollständig linear aufeinander folgen und abgegrenzt sind, sondern eher zwei unterschiedliche Interessen repräsentieren. Während der zweite und umfangreichere Teil vor allem dem Vergleich von „Buddhism“ und buddhistischer Konzepte mit anderen „religions“ gewidmet ist, setzt sich der erste Teil mit einer Reihe von ,natürlichen Phänomenen‘ auseinander und vergleicht traditionelle Erklärungen hierfür mit den Vorstellungen westlicher „philosophers“.290 Thiphakorawong verstand sein Kitchanukit als einen Versuch, die Texte zu ersetzen, die bis zu dieser Zeit als Instruktionsmaterial in den Tempeln des Landes verwendet wurden, da er diese für veraltet hielt. Er selbst beschrieb es daher als „a book for the instruction of the young, being of the opinion that the course of teaching at present followed in the temples is unprofitable.“291 Beiden Teilen gemeinsam ist Thipakorawongs besondere Betonung und der Einsatz dessen, was man eine ,empirische Vorgehensweise‘ nennen könnte: Er behandelt ein bestimmtes Phänomen indem er verschiedene Erklärungen vorstellt und sie danach beurteilt, welche „Beweise“ (paya¯n) jeweils für die einzelnen Erklärungen vorhanden sind. In diesem Sinne schreibt er zu Beginn des Textes, dass es sein Ziel sei „[to] write fruitfully on various subjects, material knowledge and religion, discussing the evidence of the truth and falsity of things.“292 Seine Darstellung geht dabei von einer Unterscheidung aus, welche er an dieser Stelle zu Anfang des Buches implizit verwendet wenn er schreibt, dass er „material knowledge“ und „religion“ behandeln wird, und welche er dann am Ende des Buches explizit macht: „worldly matters [kan lok] and religious matters [kan satsana] are not the same“293 Diese Unterscheidung zwischen kan lok und kan satsana lässt sich – so die im Folgenden vertretene These – als Thiphakorawongs Versuch lesen, eine 289 Vgl. Khamtop khong Tan Pu Chop Putthasatsana („The Answer from the Admirer of Buddhism“), Nangsua Chotmaihet („The Bangkok Recorder“) 1/19 (Dezember 1865), zitiert nach ebd., 88, 125. 290 Vgl. Alabaster, The Wheel of the Law, 6 – 8, nach dessen Übersetzung hier zitiert wird. 291 Ebd., 4. 292 Ebd. 293 Thiphakorawong, Nangsue Sadaeng Kitchanukit, 173. Übersetzung zitiert nach Reynolds, Buddhist Cosmography in Thai History, 215.
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neue Unterscheidung zwischen zwei Formen von Wissen einzuführen. Während sich wohl nicht davon sprechen lässt, dass hier eine Unterscheidung von ,Religion‘ und ,Wissenschaft‘ vollständig formuliert wird, lässt sich das Kitchanukit dennoch als ein Text lesen, der erkennbar werden lässt, in welchem Rahmen eine solche Unterscheidung im Siam des 19. Jahrhunderts anfänglich ausgehandelt wurde und in welchem Kontext sie sich etablieren und dazu dienen konnte, in überlieferten Wissensbeständen verschiedene Formen von Wissen zu unterscheiden.294 Thiphakorawong erläutert diese Unterscheidung vor allem dadurch, dass er Erklärungen für verschiedene Phänomene diskutiert, wie „the cause of the dry and wet season“, die Entstehung von „epidemics“ oder die Bewegungen der Gezeiten. Für jedes dieser Phänomene stellt er Erklärungen aus dem trai phum vor, vergleicht sie mit den Erklärungen anderer Traditionen und kontrastiert sie mit den Erklärungen europäischer ,Wissenschaftler‘, welche er als „philosophers“ bezeichnet. Als Kriterium dienen ihm, wie bereits erwähnt, die für die einzelnen Erklärungen jeweils angeführten „Beweise“ (paya¯n).295 Zur Entstehung von Regen- und Trockenzeit stellt er zunächst drei Erklärungen aus dem trai phum vor : When the sun goes south near the heavenly abode of the Dewa Wasawalahok, the Lord of Rain, the Dewa finds it too hot to move out of his palace, and so it is dry season. But when the sun is in the north, out he goes and sets the rain falling. […] Another statement is that in the Himaphan forest there is a great lake, named Anodat, and that a certain kind of wind sucks up its waters, and scatters them about. Another statement is that the Naga King, when playing, blows water high up into the air, where it is caught by the wind, and falls as rain.296
Zu diesen Erklärungen hält Thiphakorawong fest, dass „[t]here is no proof of these stories“ und dass er daher „no faith in them“ habe. Er „cannot see where Wasawalahok lives“ und daher wisse er auch nicht „whether he can make rain 294 Siehe hierzu auch Davisakd Puaksom, Kan Prubtau Thang Khwam Ru Khwam Ching Lae Amnat Khong Chonchan Nam Siam Pho. So. 2325 – 2411 („The Readjustment of Knowledge, Truth, and Power of the Elites in Siam, 1782 – 1868“), Unveröffentlichte M.A. Arbeit, Bangkok 1997. Diese auf thailändisch verfasste Studie stellt in ihrem englischen Abstract fest: „Siamese elites during the early Bangkok [period, A.H.] drew the line between secular and spiritual knowledges. This separation was obvious in their discourse when confronting modern science and Christianity. […] They argued that modern science was secular knowledge, while Christianity was spiritual. The adoption of secular, thus profane, knowledge was acceptable, but the spiritual knowledge in Christianity could not be juxtaposed with Buddhism which was believed representing the Absolute Truth.“ Vgl. zu meiner Einschätzung des „Kitchanukit“ auch Hermann, Adrian, Differenzierungsnarrative. Narrationsbezogene Überlegungen zum Verhältnis von ,Religion‘ und ,Wissenschaft‘ in modernen buddhistischen Kontexten, in: D. Johannsen/G. Brahier (Hg.), Konstruktionsgeschichten. Narrationsbezogene Ansätze in der Religionsforschung, Würzburg 2013, 295 – 318. 295 Alabaster, The Wheel of the Law, 6 – 8. 296 Ebd., 6.
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fall or not“. In ähnlicher Weise werden auch die anderen beiden Erklärungen diskutiert und Thiphakorawong wiederholt zwei weitere Male dass „there is no proof of it“.297 Im Kontrast zu diesen Erklärungen stellt er dann die „idea of philosophers“ vor, die, wie er betont, „have some proof of their theory“: They say rain falls somewhere every day without fail; […] The heat of the sun draws up steam from the sea, and wherever there is moisture. Do not pools dry up? This steam is not lost, it flies to cool places above, and collecting in the cold skies, becomes solid like ice, then, when the hot season arrives, this ice melts, and forms into clouds, floating according to the wind, and when a wind forces a cloud near the earth, the hills and earth act on it like a magnet, draw it down, and there is rain.298
In ähnlicher Weise werden im Anschluss weitere Phänomene diskutiert. So stellt Thiphakorawong fest, dass Epidemien das Resultat eines „poisonous gas“ in der Luft seien. Die Gezeiten könnten etwa erklärt werden durch „lunar attraction, which can be demonstrated by mathematics, and is a more reasonable idea than that of the Brahmins, some of whom believe that they are caused by winds blowing back the waters in estuaries […].“299 Durch die Diskussion und Bewertung verschiedener Erklärungen für bestimmte Phänomene im Hinblick auf die dafür vorhandenen ,Beweise‘ (proof) wird so der überlieferte Wissenskorpus in zwei Teile geteilt. Während die einen Phänomene durch die neuen Ideen der westlichen „philosophers“ besser erklärt werden können, bleiben die Erklärungen für andere Phänomene bestehen, da Thiphakorawong in diesen Fällen die bisherigen Erklärungen weiterhin als überzeugend erscheinen. Diese hier getroffene Unterscheidung, die als eine beginnende Etablierung einer Unterscheidung zwischen ,religiösem‘ und ,wissenschaftlichem‘ Wissen gelesen werden könnte, wird aber durchaus in ganz unterschiedlicher Weise eingesetzt, und ist zunächst vor allem als Unterscheidung neuartig. So fungiert sie für Thiphakorawong 297 Ebd., 6 – 7: „There is no proof of these stories, and I have no faith in them, for I cannot see where Wasawalahok lives, and I don’t know whether he can make rain fall or not. As for the wind sucking up the water in the Himaphan forest, that forest lying to the north, all clouds must needs [sic!] form in the north, but as in fact they form at all points of the compass, how can we say they come from Himaphan? As for the Naga playing with water, no one has seen him, so there is no proof of it. The Cinese say rain falls because the Dewas will it, or because the Dragon shows his might by sucking up the sea water, which by his power becomes fresh. They having seen that in the open ocean a wind sometimes sucks up the water transparently into the sky, and that thence arise clouds, believe that the Dragon does it. There is no proof of this. The Brahmins and other believers in God, the Creator, believe that He makes the rain to fall, that men may cultivate their fields and live. I cannot say weather God does this or not, for it seems to me that if so, He would of His great love and mercy make it fall equally all over the earth, so that all men might live and eat in security. But this is not the case. […] How can it be said that God, the Creator of the world, causes rain, when its fall is so irregular?“ 298 Ebd., 7 – 8. 299 Ebd., 8 – 9.
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durchaus nicht nur als Infragestellung bestimmter Überzeugungen, sondern wird im Hinblick auf andere Vorstellungen zur Bekräftigung bereits vorhandener Erklärungen eingesetzt. So wird etwa das Geschlecht eines neu geborenen Kindes weiterhin als ein Resultat karmischer Prozesse erklärt. Wenn in der Diskussion über einige andere Phänomene etwa die angeführten ,Beweise‘ für eine Erklärung seiner Meinung nach nicht ausreichend sind, dann weist er auch auf diese Einschätzung hin. So z. B. im Bezug auf die Entstehung von Bergen und Inseln und die dafür gebotenen Erklärungen der „philosophers“: „[B]ut no one has seen any hills arise in this way, and no one saw the world come into existence, so we cannot say anything for certain.“300 Ein umfangreicher Teil des Textes ist Fragen der ,Kosmologie‘ und ,Astronomie‘ gewidmet. Zunächst behandelt Thiphakorawong hier erneut die Vorstellungen aus dem trai phum und vergleicht diese mit anderen überlieferten Weltbeschreibungen. Abschließend stellt er fest: „The ancients, whether Brahmins or Arabs, or Jews or Chinese, or Europeans had much the same ideas on the subject of cosmography, and their present ideas on the subject were the work of scientific men in modern times.“301 Eine weitere Frage, welche in diesem Zusammenhang auftaucht, ist, ob diese neuartigen Ideen nicht im Widerspruch zur Lehre des Buddha stünden. Thiphakorawong beantwortet diese Frage indem er darauf verweist, dass der Buddha selbst sich immer geweigert habe, kosmologische Fragen zu beantworten. All die kosmologischen Wissensbestände im Kontext des Buddhismus (wie etwa auch das trai phum) seien daher spätere Verfälschungen: When the Lord Buddha was born in the land of the Brahmins, he knew all that was just, and how to deliver the body from all ills. This he knew perfectly. […] Those who have studied Pali know, that the Lord taught concerning the nature of life, and the characteristics of good and evil, but never discoursed about cosmography. It is probable that he knew the truth, but his knowledge being opposed to the ideas of the ,Traiphoom‘, which every one then believed in, he said nothing about it. For if he had taught that the world was a revolving globe, contrary to the traditions of the people, who believed it to be flat, they would not have believed him, and might have pressed him with questions about things of which there was no proof, except his allegations; and they, disagreeing with him, might have used towards him evil language, and incurred sin. Besides, if he had attacked their old traditions, he would have stirred up enmity, and lost the time he had for teaching all living beings. Therefore he said nothing about cosmography. When a certain man asked him about it, he forbade him to inquire; he would not teach it himself, and forbade his disciples to speak of it. This can be seen in various Sutras; and where there are references to heaven and earth and hell in the sacred books, I presume they have found their way in as illustrations, etc. Yet there is an expression in those old books pointing out the truth for future men as 300 Ebd., 10. 301 Ebd., 14.
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to the revolution of the earth. The Pali expression is Wattakoloko, which, translated, is ,revolving world‘; and those who did not know this translation, explained it as referring to the sun and moon turning round the world, because they did not fully comprehend it. After the religion of Buddha had spread abroad, a certain king, desiring to know the truth as to cosmography, inquired of the monks, and they, knowing the omniscience of Buddha, and yet fearing that if they said Buddha never taught this, people would say ,your Lord is ignorant, and admired without reason‘, took the ancient Vedas, and various expressions in the Sutras and parables, and fables, and proverbs, and connecting them together into a book, the ,Traiphoom‘, produced it as the teaching of Buddha. The people of those days were uneducated and foolish, and believed that Buddha had really taught it; and if any doubted, they kept their doubts to themselves, because they could not prove anything.302
Aus dieser Argumentation Thiphakorawongs wird deutlich, dass der Buddha absichtlich keinerlei Informationen über diese Fragen gegeben habe. Sein Fokus habe allein auf der Belehrung über das Gute und das Schlechte gelegen und darauf, wie man sein Leben führen solle. Auch auf Nachfragen nach diesen Themen habe er nicht reagiert. All dies lasse sich durch eine genaue Lektüre der überlieferten Schriften bestätigen. Denn jegliche Hinweise auf kosmologische Fragen, die sich dort vielleicht finden mögen, seien nur als Illustrationen zu verstehen. Zum anderen habe aber der Buddha selbst mit Sicherheit über das wahre Wissen zur Beantwortung dieser Fragen verfügt. Aus diesem Grund ergebe eine intensive Beschäftigung mit den Schriften, dass dort eine entsprechende Aussage zu finden sei, die so verstanden werden könne, dass der Buddha damit auf die Kugelgestalt der Erde habe hinweisen wollen. Das trai phum dagegen sei entstanden, weil sich die Menschen und besonders ein bestimmter König mit einer Konzentration auf andere Fragen nicht haben zufrieden geben wollen. Die dann als der Text des trai phum zusammengestellten Wissensbestände seien vor allem auf eine Kompilation verschiedener Schriften zurückzuführen, die als die Lehre des Buddha ausgegeben worden seien. All dies habe mit der wahren Lehre des Buddha jedoch nichts zu tun. In diesem Sinne stellt Thiphakorawong fest: „Had the Lord Buddha taught cosmography as it is in the ,Traiphoom‘, he would not have been omniscient, but by refraining from a subject which men of science were certain eventually to ascertain the truth of, he showed his omniscience.“303 In diesem Zusammenhang weist er des weiteren darauf hin, dass der „Buddhismus“ nicht als einziger heute auf eine solche Vielfalt von mittlerweile durch neues Wissen abgelösten Weltbeschreibungen zurückblicken könne. Vielmehr gelte, dass solche Auffassungen in ebensolcher Weise in anderen „Religionen“ gefunden werden können:
302 Ebd., 15 – 16. 303 Ebd.
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When philosophers found out the truth, the disciples of Mahomet put them in prison because they taught that which was opposed to the teaching of ,the Exact One‘, which made out the world to be a plain, with the sun and moon revolving about it, much as our ,Traiphoom‘ does. But after a while, there being too many witnesses of the truth of what the philosophers asserted, they then adopted their ideas, and incorporated them into their religion. The ancients, whether Brahmins or Arabs, or Jews or Chinese, or Europeans, had much the same idea of cosmography, and their present ideas on the subject are the work of scientific men in modern times.304
Was Thiphakorawong hier präsentiert, ist somit einerseits der Versuch, zentrale Überzeugungen (vor allem des trai phum) zu widerlegen, und andererseits gleichzeitig andere der dort zu findenden Wissenselemente weiterhin als plausibel darzustellen. Diese Vorgehensweise führt, wie wir gesehen haben, nicht zu einer in seinem Text erkennbaren völlig klaren Trennung zwischen den beiden Wissensformen, sondern viel eher auch zu hybriden Darstellungen, welche bestimmte buddhistische Erzählungen mit den neuen Formen des Wissens verbinden. Dies kann etwa an der Art und Weise abgelesen werden, wie Thiphakorawong mit der Erzählung umgeht, dass der Buddha seiner Mutter im Davadungsa Himmel gepredigt habe: It cannot be asserted that the Lord did not preach in Davadungsa, any more than the real existence of Mount Meru can be asserted. I have explained about this matter of Meru, and the other mountains, as an old tradition. But with respect to the Lord preaching on Davadungsa as an act of grace to his mother, I believe it to be true, and that one of the many stars or planets is the Davadungsa world. The Lord Buddha disappeared for a period of three months, and then returned. Had he been hiding, that he might pretend he had been preaching to the angels in heaven, he would have been seen by somebody, and could not have kept quite concealed. […] It cannot be authoritatively denied that many saints have visited the abodes of the angels, for the worlds of heaven are beyond the knowledge of ordinary men.305
Während der erste Teil des Kitchanukit einer Beschäftigung mit dem in der Tradition des trai phum überlieferten Wissen gewidmet ist, und dem Versuch, hier neue Unterscheidungen einzuführen und dabei gleichzeitig den ,eigentlichen Buddhismus‘ von anderen Wissensbeständen abzugrenzen, wird im zweiten Teil das, was den ,Buddhismus‘ ausmacht, für Thiphakorawong vor allem in der Gegenüberstellung und im Vergleich mit anderen „Religionen“ erkennbar. Dieser Vergleich beginnt mit einer Darstellung des ,Brahmanismus‘: Brahminism is […] the most ancient known religion, held by numbers of men to this day, though with many varieties of belief. Its fundamental doctrine was that the world was created by Thao Maha Phrom (Brahma), who divided his nature into two parts, 304 Ebd., 14. 305 Ebd., 16 – 17.
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Isuen (Vishnu), Lord of the Earth, and rewarder of the good, and Narai (Siva), Lord of the Ocean, and punisher of the wicked.306
Neben einigen Bemerkungen zu ,Judaism‘307 findet sich dann zum ,Mahometanism‘ unter anderem die folgende Feststellung: „This religion […] was not spread by the arguments of preachers, but by men who held the Koran with one hand, and the sword with the other.“308 Die ausführlichste Darstellung erhalten im Rahmen des Kitchanukit allerdings „Christianity“ sowie „Buddhism“ selbst, was letztlich vor allem auf den historischen Kontext des Textes zurückzuführen ist, da dieser – wie wir gesehen haben – primär als Ergebnis einer Konfrontation mit christlichen Missionaren entstanden ist. So wird der ,Buddhismus‘ kurz wie folgt charakterisiert: Another religion is what the Siamese call that of the Lord Phoot (Phra Phutthi Chao), and Europeans call that of Samana Khodom or Gotama, or Buddha. Its followers, some of them, walk reverently according to the rules, called Winya, others follow a relaxed code. In some countries Buddhist monks are treated as kings. The teaching of Buddha does not go back to the origin of life, but treats of that which already exists, showing that ignorance of the four truths is the cause of continued existence (in transmigration). These four truths are – 1st, The perception of sorrow ; 2d, The perception that sorrow is a consequence of desire; 3d, The perception of nirot, which is the extinction of sorrow, so that it has no further birth; 4th, Walking in the eight paths of holiness, which purify the disposition, and lead to a happiness beyond all sorrow. Such was the teaching of Buddha.309
Auch hier weist Thiphakorawong darauf hin, dass es dem ,Buddhismus‘ nicht um eine Erklärung der Ursachen des Lebens ginge oder um eine Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Anfang aller Dinge. Vielmehr liege sein Fokus auf etwas ganz Anderem, und genau dies mache den echten ,Buddhismus‘ aus, der hier im Kitchanukit herausgearbeitet werde. Neben diesen Darstellungen des ,Buddhismus‘ finden sich eine Reihe von ausführlichen Zusammenfassungen zum ,Christentum‘, welches Thiphakorawong etwa wie folgt darstellt:
306 Ebd., 29. 307 Ebd., 30. 308 Ebd., 31. Seine Informationen zu der von Alabaster als „Mahometanism“ übersetzten ,Religion‘ basierten vermutlich auf verschiedenen missionarischen und anderen westlichen Schriften, aber vor allem auch auf einer 1866 verfassten Schrift über das Leben des Propheten Mohammed unter dem Titel „Prawat Ruang Phra Nabimahamad“, die vermutlich von Thiphakorawong selbst stammt. Ein lokaler Imam war in den Palast eingeladen worden und hatte auf Fragen zur Biographie des Propheten geantwortet, woraufhin dieser Text entstanden war. Vgl. Somjai, The Historical Writings of Chao Phraya Thiphakorawong, 98 – 101. 309 Alabaster, The Wheel of the Law, 32.
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Christianity is also a great religion. Christians were originally all Roman Catholics. The Roman Catholics believed in Jehovah and Christ, and Mary the mother, and in saints, and in the Pope, the great bishop of Rome, who they say is the substitute for Christ on earth, with power to absolve from sin, and to order doctrines. The priests of that religion, whom we call Bat Hluang, dress in black, and have no wives. After many centuries certain Germans considered that the Roman Catholic tenets were contrary to the Bible, so they formed a new sect, believing in God and Christ only. Their teachers are called missionaries, and dress like ordinary people, and have wives, and if their wives die, can marry again, though some hold that they should not do so. They do not worship Mary the mother, nor the saints; many left the old religion to join this sect. Another sect are the Mormons; they say that their religion arose from certain men dreaming that God in heaven took a golden plate, whereon was written the holy doctrine, and buried it in the earth. And those who dreamt thus dug, and found a scripture engraven on a plate of gold, according to their dream. Then they believed in God in heaven, and Christ and polygamy, and doing as they pleased; the rules of their religion being much more lax than those of Roman Catholics or Christians (Protestants). And they believed that if they turned their thoughts to Christ when at the point of death, Christ would take their souls to heaven. All these three sects worship the same God and Christ, why then should they blame each other, and charge each other with believing wrongly, and say to each other, ,you are wrong, and will go to hell, we are right, and shall go to heaven?‘ It is one religion, yet how can we join it when each party threatens us with hell if we agree with the other, and there is none to decide between them. I beg comparison of this with the teaching of the Lord Buddha, that whoever endeavours to keep the Commandments, and is charitable, and walks virtuously, must attain heaven.310
Er hat hier, wie sich erkennen lässt, aus seinen über einen längeren Zeitraum immer wieder intensiv geführten Gesprächen mit den christlichen Missionaren, in Auseinandersetzung mit den von diesen vertretenen Ansichten, und vermutlich auch im Rückgriff auf verschiedene schriftliche Quellen, eine Darstellung des ,Christentums‘ und dessen Geschichte entwickelt, die besonders die Unterschiede zwischen Katholiken und Protestanten herausstellt. Gleichzeitig stösst sich Thiphakorawong an der gegenseitigen Ablehnung zwischen den Missionaren der verschiedenen Richtungen des ,Christentums‘ und stellt die Frage, wie diese davon ausgehen könnten, dass es trotz einer solch offen ausgetragenen Feindschaft möglich sei, in Siam Konvertiten zu gewinnen. Denn gegenüber solchen Streitigkeiten zwischen Missionaren, die sich als Vertreter der gleichen Religion verstehen, erscheine ihm die Lehre des Buddha sehr viel überzeugender. Der Religionsvergleich, den Thiphakorawong im Kitchanukit vornimmt, besteht jedoch nicht nur in einer parallelen Erläuterung der für ihn wichtigen Merkmale der einzelnen ,Religionen‘, sondern auch in einem kontrastiven 310 Ebd., 32 – 33.
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Die Formation des ,Buddhismus‘ im globalen Religionsdiskurs
Vergleich des ,Buddhismus‘ und buddhistischer Lehrinhalte vor allem mit dem ,Christentum‘. So antwortet er – wie wir bereits gesehen haben – in vielen Aspekten direkt auf die Infragestellungen durch die christlichen Missionare. In diesem Zusammenhang schreibt Thiphakorawong etwa, dass ihm die Vorstellung eines über alles erhabenen Gottes, der fern jeglicher menschlicher Qualitäten sei, durchaus einleuchten könne. Ein Gott jedoch, wie er von Missionaren, Muslimen, Brahmanen oder Juden beschrieben werde, und der die Eigenschaften eines Menschen wie Liebe, Hass und Zorn zeige, erfülle doch nicht einmal die Anforderungen an einen guten Menschen und könne daher nicht verehrt werden.311 Auch sei es nicht verständlich, wieso ein allwissender und allmächtiger Gott, der alles erschaffen hätte und nur durch eine ,Religion‘, nämlich die christliche, verehrt werden dürfe, die Existenz von anderen ,Religionen‘ überhaupt zugelassen habe. Während alle anderen ,Religionen‘ darauf bestünden, dass nur ein einziger Gott verehrt werden dürfe, und alle, die dieser ,Religion‘ nicht angehörten, ihre Feinde seien und unabhängig von ihrer Lebensführung bestraft würden,312 sei dies im ,Buddhismus‘ ganz anders: Buddha did not teach that he alone should be venerated, nor did he, the just one, ever teach that it was right to persecute other religions. […] It is incorrect […] to say that Buddha taught men to adore him alone. He neither taught that such was necessary, nor offered the alternative of hell as all other religions do.313
Die im Kitchanukit dokumentierten Gespräche zwischen Thiphakorawong und zahlreichen christlichen Missionaren zeigen auch, dass die thailändische Elite nicht müde wurde, die christlichen Lehren in Frage zu stellen und im Licht ihrer eigenen Tradition zu bewerten: In einem Gespräch über die Existenz Gottes versuchte ein Missionar zum Beispiel, diese anhand der Existenz der Schöpfung zu beweisen. Dies überzeugte Thiphakorawong jedoch nicht und er konterte mit einer Gegenfrage: I said to the missionary, ,How about the Dewas the Chinese believe in, are there any?‘ He said, ,No; no one has seen them; they do not exist; there are only the angels, the servants of God, and the evil spirits whom God drove out to be devils, and deceive men.‘ I said, ,Is there a God Jehova?‘ He answered, ,Certainly, one God!‘ I rejoined, ,You said there were no Dewas because no one had seen them; why then do you assert the existence of a God, for neither can we see Him?‘ The missionary answered, ,Truly, we see Him not, but all the works of creation must have a master ; they could not have originated of themselves.‘ I said, ,There is no evidence of the creation; it is only a tradition. Why not account for it by the self-producing power of nature?‘314 311 312 313 314
Vgl. ebd., 18. Vgl. ebd., 19 – 20. Ebd., 20. Ebd., 21 – 22.
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Er begegnet somit den Überzeugungen der christlichen Missionare auch hier vorrangig in der Weise, dass er auf das im Kitchanukit zentrale Prinzip des Abwägens verschiedener Argumentationen und ,Beweise‘ zurückgreift. So versucht er, den Missionaren in ihren Darstellungen und Überzeugungen eine alternative Möglichkeit sowie inkonsequentes Argumentieren nachzuweisen. Anhand eines römisch-katholischen Traktats gibt er etwa ironisch Folgendes zu bedenken: I have studied the Roman Catholic book, ,Maha Kangwon‘ – the Great Care – and it seems to me that the priests’ great cares are their own interests. I see no attempt to explain any difficult and doubtful matters. If, as they say, God, when He created man, knew what every man would be, why did He create thieves? This is not explained. The book tells us that all those virtuous men who have taught religions differing from the Roman Catholic, have been enemies of God, but it does not explain why God has allowed so many different religions to arise and exist. How much do this and all other religions differ on this point from the religion of Buddha, which allows that there are eight kinds of holiness leading to ultimate happiness!315
In ähnlicher Weise stellt Thiphakorawong erneut die Frage, warum es überhaupt verschiedene „religions“ geben müsse, wenn es dem allmächtigen Gott doch freigestanden hätte, dies zu verhindern: Why did He permit the teaching of false religions which would lead men to neglect His religion, and to suffer the punishment of hell? Would it not have been better to have made all men follow the one religion which would lead them to heaven?316
6.4.3.3 Das „Kitchanukit“, die Transformation von Wissensbeständen und der globale Religionsdiskurs Craig J. Reynolds hat vorgeschlagen, das Kitchanukit als ein Dokument desjenigen Wandels zu verstehen, der sich in Siam vollzog als das trai phum nicht mehr die einzige Möglichkeit des Weltverständnisses darstellte, sondern auf konkurrierende Vorstellungen traf. Anstelle einer vollständigen Ablehnung der buddhistischen Kosmologie sei es dort um die Mitte des 19. Jahrhunderts jedoch vielmehr zu einer „redefinition of the ,moral‘ or ,religious‘ world in the face of the greater explanatory power of Western science“ gekommen.317 Zentral sei nicht nur das neue Wissen an sich gewesen, sondern vor allem auch die neuartige, empirisch nachforschende Methode zu diesem Wissen zu gelangen. In diesem Zusammenhang sei mit der Kategorie ,Religion‘ die Möglichkeit verbunden gewesen, neuartige Klassifikationen und Unterscheidungen zu treffen: 315 Ebd., 18. 316 Ebd., 21. 317 Reynolds, Buddhist Cosmography in Thai History, 211.
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The relationships newly perceived by Thiphakorawong, Mongkut, and others of like mind were summoned up in the observation that „worldly matters and religious matters are not the same.“ With this distinction, Kitchanukit divided the Traibhu¯mi cosmography into two, the natural world and religion, each category of phenomena having a set of „laws“ which guided its workings.318
In diesem Sinne habe Thiphakorawong unter ,Religion‘ – wie Reynolds betont – eher „social ethics“ und nicht primär „philosophy and theology“ verstanden.319 Ebenso wie der weitere Kreis der Reformbewegung um Mongkut (Rama IV.) habe sich Thiphakorawong auf ,Religion‘ berufen, gleichzeitig aber die Existenz von Himmel und Hölle sowie „everything in religion which claims a supernatural origin“320 abgelehnt.321 Auch Thongchai Winichakul schlägt vor, das Kitchanukit in ähnlicher Weise zu verstehen. Er sieht Thiphakorawongs Schrift vor allem als Ausdruck einer doppelten Polemik, die sich zum einen gegen die traditionelle Kosmologie und zum anderen in Form eines Religionsvergleichs gegen das Christentum der Missionare richte.322 Ebenso wie die Reformbewegung des Königs Mongkut,323 drücke das Kitchanukit die tiefgreifende Überzeugung aus, dass der wahre ,Buddhismus‘ in der Orthodoxie des Pali-Kanon sowie in der strikten Disziplin des sangha zur Zeit des Buddha zu finden sei: In the spirit of Mongkut‘s movement, nonetheless, true Buddhism was supposed to refrain from worldly matters and confine itself to spiritual and moral affairs. They believed that those alleged Buddhist doctrines which were concerned with cosmography were in fact contaminated by other false beliefs such as Brahmanism. Thus they distinguished worldly matters and spiritual affairs from each other, though they were related. They believed that Buddhism was the truth of the latter whereas Western science was the truth of the former.324
In diesem Sinne habe das Interesse an einer Unterscheidung zwischen diesen – so Thongchai – auch im Kitchanukit seinen Niederschlag gefunden: „Following the epistemological tendency of Mongkut‘s movement, the book was typical in its concept of the distinction between the worldly and the religious domains whose truths can be found in Western science and Buddhism res318 Ebd., 215. 319 Ebd. 320 Diese Aussage findet sich im Tagebuch des bereits mehrfach erwähnten Missionars Jesse Caswell, 20. Januar 1846, zitiert nach Bradley, Prince Mongkut, 39. „From the six months intimacy with the inmates of this wat I have been led to conclude that there is a strong tendency in the new school of priests to the rejection of every thing in religion which claims a supernatural origin, or that has any thing to do with other than the present state of existence.“ 321 Vgl. Reynolds, Buddhist Cosmography in Thai History, 212. 322 Vgl. Thongchai, Siam Mapped, 40. 323 Vgl. Reynolds, The Buddhist Monkhood, 63 – 112. 324 Thongchai, Siam Mapped, 39 – 40.
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pectively.“325 In seinem Bestreben, die Wahrheit des ,Buddhismus‘ gegen die Angriffe der Missionare zu verteidigen, verfolge Thiphakorawong demnach die Strategie, diesen nur noch als zuständig für Moral und Ethik zu erklären, und die Beschäftigung mit anderen (,natürlichen‘) Phänomenen einer neuen Form der Wissensgenerierung zu überlassen.326 In Thiphakorawongs Kitchanukit lasse sich das Interesse erkennen, „two domains of life“ zu trennen, und gleichzeitig die mit dem neu verfügbaren westlichen Wissen nicht in Einklang zu bringenden Überzeugungen des trai phum als letztlich nichtbuddhistisch abzulehnen: He blamed old gurus of later generations for incorporating this subject into the Buddhist corpus while the best they could do was rely on those Brahmanic doctrines and some Pali exegeses which were ignorant of the truth. It is clear that Thiphakorawong had no hesitation in accusing traditional doctrines of being contaminated by Brahmanism while promoting geography of the new kind with the approval of true Buddhism.327
Pattana Kitiarsa bezeichnet die dem Kitchanukit zugrunde liegende neuartige Unterscheidung als einen „Kan Lok–Kan Satsana Dualism“328 und beschreibt Thiphakorawongs Absicht wie folgt: „He wished to write a book offering proper knowledge and perspective to his young readers to be able to scrutinize true-or-false distinctions between worldly/mundane (kan lok) and religious/ secular (kan satsana) matters.“329 Gegen die von den christlichen Missionaren lancierten Angriffe gegen den ,Buddhismus‘ und die von diesen auch in schriftlicher Form in Umlauf gebrachten Verzerrungen sei es das Anliegen Thiphakorawongs gewesen, den ,echten‘ Buddhismus zu präsentieren, der nicht nur auf die gleiche Ebene mit den anderen ,Religionen‘ zu stellen sei, sondern diese womöglich sogar übertreffen könnte. Gleichzeitig sei mit diesem Vergleichsimpetus auch die Destillation eines ,wahren Buddhismus‘ verbunden gewesen, der in Fragen der ,Wissenschaft‘ entweder kein eigenes Interesse verfolgt, oder, falls doch darauf bestanden wird, entsprechende Fragen zu stellen, bestimmte strittige Wahrheiten bereits vor langer Zeit erkannt hat. Das Kitchanukit lasse sich aus diesem Interesse heraus verstehen, und sein Autor habe zu einer entsprechend reflektierten Vergleichspraxis sowohl im Hinblick auf dieses moderne ,wissenschaftliche‘ Wissen als auch auf ,Religion‘ hinführen wollen: He believed that his book would encourage some Siamese, who „have ignored the religion and neglected to acquire knowledge“, to „open eyes and ears to look around and compare things“. Wrote Thiphakorawong, „for those who are skeptical of 325 326 327 328 329
Ebd., 40 – 41. Vgl. ebd. Ebd., 41. Pattana, Farang As Siamese Occidentalism, 20. Ebd., 23.
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Buddhism, I would urge you to open your eyes and ears to reflect carefully on religious matters. How do you perceive your own or other people’s religious teachings and faiths? When you have come up with a reliable answer, you can always hold it for the rest of your life. You will never be deceived or too excited by the worldly matters, which happen before us and overwhelm us every year“.330
Wie lässt sich diese historische Situation im Siam des 19. Jahrhunderts sowie der nun detaillierter vorgestellte Text Kitchanukit vor dem Hintergrund der in dieser Arbeit verfolgten Fragestellung verstehen? Welche Möglichkeiten der Betrachtung eröffnen sich einerseits durch eine Fokussierung auf die Unterscheidungen der Religion in der Analyse dieser Situation, und welche theoretischen Problemlagen für die Frage nach dem globalen Religionsdiskurs werden andererseits gerade durch dieses Beispiel erkennbar? Im Kitchanukit wird zum Teil bereits lange vorhandenes und im trai phum kanonisiertes lokales Wissen in zwei Dimensionen neu konfiguriert und verhandelt. Auf diese Weise präsentiert der Text die ,Religion‘ des ,Buddhismus‘ zum einen als eine gleichberechtigte, wenn nicht sogar überlegene ,Religion‘ unter anderen ,Religionen‘. Gleichzeitig wird diese hier aber genau in diesem Moment zu einer solchen einheitlichen und – wie es im Titel von Alabasters Übersetzung heißt: ,modernen‘331 – ,Religion‘, indem die mit ihr verbundenen Wissensbestände so reorganisiert werden, dass ,wissenschaftliche‘ Ergebnisse und ,Religion‘ nicht mehr in einem Konflikt stehen, und in diesem Zusammenhang der ,echte Buddhismus‘ von den ihn überlagernden ,Verunreinigungen‘ getrennt werden kann. Das Kitchanukit belegt somit das Auftauchen des ,Buddhismus‘ als eines Gegenstandes des globalen Religionsdiskurses, indem dieser als eine ,Religion‘ innerhalb einer Pluralität von ,Religionen‘ und als differenzierte ,Religion‘ im Gegenüber zu anderen Bereichen präsentiert wird. Es sind die Unterscheidungen der Religion, die seine Formation beschreiben – oder wie man in Anschluss an Martin Nonhoff sagen könnte: seine Formations-Formierung.332 Die Infragestellung traditioneller Überzeugungen durch die Begegnung mit neuen Wissensformen und die Kritik christlicher Missionare führten im Siam des 19. Jahrhunderts zu einer intensiven Auseinandersetzung mit den eigenen Weltbeschreibungen. Die hier in Reaktion auf die westliche Infragestellung angestrengten Reformen, sowie die am Kitchanukit ablesbare Wissenstransformation, waren zwar bei weitem nicht der erste Versuch einer ,Reinigung‘ des sangha durch die lokalen Autoritäten,333 und sind ebenso wenig gänzlich und ausschließlich auf den Einfluss des Westens zurückzu330 Ebenda. Pattana zitiert hier seine eigene Übersetzung einiger Stellen aus dem „Kitchanukit“, die ich hier übernehme. 331 Dieser lautete, wie bereits mehrfach erwähnt, zunächst noch „The Modern Buddhist“. 332 Vgl. Nonhoff, Politischer Diskurs und Hegemonie, 35 – 36. 333 Siehe Reynolds, The Buddhist Monkhood, 1 – 62.
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führen,334 sie waren aber – so die hier vorgeschlagene These – insoweit etwas Besonderes als sie vor allem durch die Rezeption der sich im 19. Jahrhundert im globalen Religionsdiskurs formierenden Unterscheidung von ,Religion‘ und ,Wissenschaft‘ geprägt waren, sowie auf dessen weitere Unterscheidungen zurückgriffen. Die postkoloniale Kritik an der Kategorie ,Religion‘ hat deren ,Konstruktionshaftigkeit‘ und die ,Erfindung von Religion‘ in verschiedenster Hinsicht analysiert. Unter der Perspektive von kolonialen und orientalisierenden Diskursen und Praktiken von ,Religion‘ wird jedoch oftmals die wichtige Rolle lokaler und indigener Rezeptionen der Kategorie ,Religion‘ übersehen. Denn wie auch immer man dies letztlich bewertet, haben diese sich unter Verwendung der Kategorie ,Religion‘ vollziehenden Auseinandersetzungen das 19. Jahrhundert weltweit geprägt, wie nicht zuletzt Christopher Bayly in seinem Buch The Birth of the Modern World gezeigt hat.335 Die Re-Imaginationsprozesse, die im 19. Jahrhundert zur Formation von ,Religionen‘ geführt haben, waren somit keine ,Erfindung von Religionen‘ sondern unter anderem Ergebnis einer Neu-Konfiguration und Neu-Interpretation bestimmter Wissensbestände im Hinblick auf die Kategorie ,Religion‘ und die mit ihr implizierten Unterscheidungen. Diese Entwicklung war, und das soll hier noch einmal betont werden, im selben Maße das Ergebnis indigener Anstrengung und Rezeption wie das Ergebnis einer gewaltsamen Verbreitung anfänglich westlich geprägter epistemologischer Kategorien. Es handelt sich um einen hoch komplexen Prozess gegenseitigen Spiegelns, Kopierens, auf-einander-Bezugnehmens sowie gegenseitiger Ablehnung auf beiden Seiten, der ,Westlichen‘ und der ,Nicht-Westlichen‘. Im Anschluss an diese Interaktionsprozesse ließe sich fordern, dass eine ,Religionsgeschichte der Moderne‘ tatsächlich nur als eine histoire croisoe,336 eine ,verflochtene Geschichte‘ geschrieben werden sollte, die nicht länger die Frage stellt, was die ,eigentliche Religion‘ sei, und statt dessen schon diese Frage selbst als in den globalen Religionsdiskurs tief verstrickt zu verstehen lernt.
334 Darauf weist vor allem Nidhi Eoseewong, Pen and Sail. Literature and History in Early Bangkok, Chiang Mai 2005 dezidiert hin. 335 Vgl. Bayly, Christopher A., The Birth of the Modern World. Global Connections and Comparisons, Malden 2004, 325 – 365. 336 Siehe Werner, Michael/Zimmermann, B~n~dicte, Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire crois~e und die Herausforderung des Transnationalen, Geschichte und Gesellschaft 22/4, 2002, 607 – 636; dies., Beyond Comparison. Histoire Crois~e and the Challenge of Reflexivity, History and Theory 45/1, 2006, 30 – 50.
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6.4.3.4 Der „discourse of scientific Buddhism“ und die Frage nach der Differenzierung von ,Religion‘ und ,Wissenschaft‘ In der gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskussion, und nicht zuletzt auch innerhalb der Geistes- und Kulturwissenschaften, ist die Literatur zum Verhältnis von ,Wissenschaft und Religion‘ unüberschaubar geworden und das Interesse an diesem Thema in den letzten Jahren erneut stark gestiegen. Die Diskussion konzentriert sich dabei vor allem auf zwei große Themenkomplexe. Zum einen ist dies die historische Rekonstruktion der komplexen und ambivalenten Geschichte des Christentums in seinem Verhältnis zur modernen Wissenschaft im westlichen Kulturraum.337 Zum anderen fokussiert die Debatte auf ein vor allem in den letzten Jahren immer beliebteres Thema, nämlich auf aktuelle Reflexionen über das Verhältnis von ,Religion‘ und ,Wissenschaft‘ in der Moderne und die Rolle, die diese in der gegenwärtigen und zukünftigen Gesellschaft spielen sollen. Hier dominieren philosophische und theologische Diskussionen die Debatte.338 Es wurden im Rahmen dieser Debatten verschiedene Modelle entwickelt, sich die Beziehung zwischen ,Wissenschaft‘ und ,Religion‘ vorzustellen. Eine einflussreiche Typologie ist dabei diejenige von John Polkinghorne, welche die verschiedenen möglichen Beziehungen als Konflikt, Eigenständigkeit, Dialog und Integration unterscheidet.339 Aus der Sicht einer theoretisch interessierten Religionswissenschaft ist die meiste vorhandene Literatur zu diesem Thema jedoch nur wenig hilfreich. Oft wird davon ausgegangen, dass sich anhand der Rekonstruktion der Geschichte des Verhältnisses von Christentum und moderner (Natur-)Wissenschaft die Geschichte von ,Religion‘ und ,Wissenschaft‘ an sich beobachten lasse. Für ,Religion‘ steht in der vorliegenden Literatur fast ausnahmslos das Christentum, ohne dass dies als eine grundlegende Problematik besonders reflektiert wird. Dennoch liegen als Ergebnis dieser Studien zumindest für die Geschichte christlicher Auseinandersetzungen mit der Entstehung und Geschichte der modernen Wissenschaft mittlerweile zahlreiche Studien vor. 337 Vgl u. a. Haught, John F., Science and Religion. From Conflict to Conversation, New York 1995; McGrath, Alister E., Science & Religion. An Introduction, Oxford 1999; Olson, Richard G., Science and Religion, 1450 – 1900. From Copernicus to Darwin, Westport 2004; Grant, Edward, Science and Religion, 400 B.C. to A.D. 1550. From Aristotle to Copernicus, Westport 2004; Barbour, Ian G., Wissenschaft und Glaube. Historische und zeitgenössische Aspekte, Göttingen 22006. 338 Vgl. z. B. Richardson, W. Mark/Wildman, Wesley J. (Hg.), Religion & Science. History, Method, Dialogue, New York 1996; Polkinghorne, John, Science and Theology. An Introduction, London 1998; Wilber, Ken, The Marriage of Sense and Soul. Integrating Science and Religion, New York 1999; Barbour, Wissenschaft und Glaube. Hierzu gehören auch die meisten der von der John Templeton Foundation geförderten Projekte und Studien zu dieser Thematik (http:// www.templeton.org/). 339 Polkinghorne, Science and Theology.
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Die komplexen Interaktionen asiatischer, afrikanischer und anderer Kontexte mit den Wissensbeständen moderner Wissenschaft im Rahmen des globalen Religionsdiskurses sind dagegen bisher nur in Einzelfällen detailliert nachgezeichnet worden.340 Stattdessen herrscht hier oftmals ein stark essentialisierender Umgang vor, wie etwa in vielen Veröffentlichungen zum Thema ,Buddhismus und Wissenschaft‘. So wird in B. Alan Wallace’ Artikel „Buddhism and Science“ im Oxford Handbook of Science and Religion die Kompatibilität eines abstrakten „Buddhism“ mit Themen moderner Wissenschaft dargestellt und besonderes Augenmerk darauf gerichtet, inwiefern buddhistische Vorstellungen von Bewusstsein und Psyche mit Fragestellungen der modernen Kognitionswissenschaft und Neurologie kompatibel seien.341 Ob sich aus den komplexen Entwicklungen ganz unterschiedlicher buddhistischer Schulen aber überhaupt eine einheitliche ,buddhistische Perspektive‘ destillieren lässt, wird nicht thematisiert. In ähnlicher Weise verfahren die anderen Artikel zu „Hinduism and Science“, „Islam and Science“ etc.342 Die meisten Studien zum Thema ,Wissenschaft und Religion‘ und besonders viele der sich auf den ,Buddhismus‘ beziehenden Studien verfahren auf diese Weise, indem zumeist anhand bestimmter – primär aus frühen Texten rekonstruierter – Positionen eines zeitlosen ,Buddhismus‘ dessen Kompatibilität mit den Vorstellungen moderner Wissenschaft verhandelt wird.343 Das in diesen Studien in den Blick genommene Verhältnis der Bereiche von ,Wissenschaft‘ und ,Religion‘, sowie die damit implizierte Möglichkeit und Notwendigkeit einer Verhältnisbestimmung, setzt deren Unterscheidung als zwei identifizierbare Phänomene bereits voraus, und stellt so diese Unterscheidung in ihrer Konstruktionshaftigkeit nicht in den Mittelpunkt. Auch wenn oft die sich verändernden Verständnisse der beiden Bereiche in der Geschichte konstatiert werden, gehen die meisten Autoren von einer Kontinuität der Phänomene ,Religion‘ und ,Wissenschaft‘ aus.344 Eine Ausnahme bildet hier unter anderem Toby Huffs viel zitierte Studie The Rise of Early Modern Science,345 welche auf eine komparative und gleichzeitig soziologisch 340 Siehe aber Lopez, Buddhism and Science. 341 Vgl. Wallace, B. Alan, Buddhism and Science, in: P. Clayton/Z. Simpson (Hg.), The Oxford Handbook of Religion and Science, Oxford 2006, 24 – 40. 342 Vgl. Nasr, Seyyed H., Islam and Science, in: P. Clayton/Z. Simpson (Hg.), The Oxford Handbook of Religion and Science, Oxford 2006, 71 – 86; Menon, Sangeetha, Hinduism and Science, in: P. Clayton/Z. Simpson (Hg.), The Oxford Handbook of Religion and Science, Oxford 2006, 7 – 23. 343 Vgl. z. B. XIV. Dalai Lama, Consciousness at the Crossroads. Conversations with the Dalai Lama on Brain Science and Buddhism, Ithaca 1999; Watson, Gay et al., The Psychology of Awakening. Buddhism, Science, and Our Day-to-Day Lives, York Beach 2000; Ricard, Matthieu et al., The Quantum and the Lotus. A Journey to the Frontiers Where Science and Buddhism Meet, New York 2001; Wallace, B. Alan (Hg.), Buddhism & Science. Breaking New Ground, New York 2003. 344 Vgl. dazu aber zumindest Harrison, Peter, ,Science‘ and ,Religion‘. Constructing the Boundaries, The Journal of Religion 86/1, 2006, 81 – 106. 345 Huff, Toby E., The Rise of Early Modern Science. Islam, China, and the West, Cambridge 1995.
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informierte Untersuchung der Rolle unterschiedlicher religiöser Traditionen in der Entstehung moderner Wissenschaft zielt. Huff geht dabei auch auf Joseph Needhams umfangreiches Werk zur Geschichte der Wissenschaft im chinesischen Kulturraum ein,346 konzentriert sich allerdings hauptsächlich auf die Frage, wieso sich trotz eines wissenschaftlichen Vorsprungs islamischer Kulturen noch im Mittelalter die moderne Wissenschaft zunächst nur im Westen entwickelt habe. Ein Desiderat bleiben, trotz der sich an Huffs Studie anschließenden Diskussion, vor allem detaillierte Studien zur Interaktionsgeschichte wissenschaftlichen Wissens etwa in lokalen asiatischen Kontexten. Erst die detaillierte Rekonstruktion solcher Interaktionen würde eine religionswissenschaftliche Beschäftigung mit den in diesen Studien meist nur implizierten Fragestellungen ermöglichen. Bereits Heinz Bechert hatte in den 1960er Jahren betont, dass im Kontext des buddhistischen Modernismus von Seiten indigener Akteure immer wieder besonderer Wert auf die Feststellung gelegt werde, dass buddhistische Lehre und wissenschaftliche Erkenntnis in wesentlichen Punkten übereinstimmen würden.347 In seiner 2009 erschienenen Studie The Making of Buddhist Modernism hat David L. McMahan versucht, dessen Entstehungsgeschichte anhand des Verhältnisses zu drei „discourses of Modernity“348 herauszuarbeiten, die er im Anschluss an Charles Taylor als „western montheism“, „rationalism and scientific naturalism“, und „Romantic expressivism“ bestimmt.349 Er fragt hier, wie sich in buddhistischen Kontexten besonders die indigenen Reformer zu diesen zentralen Aspekten der Moderne verhalten haben, und mit deren Herausforderungen umgegangen sind.350 Diese seien nicht als völlig voneinander getrennt zu verstehen, sondern als drei die Moderne konstituierende überlappende Felder. Im Laufe des 19. Jahrhunderts hätten diese überall in Asien Verbreitung gefunden, und die Auseinandersetzung mit ihnen sei ein zentraler Motor für die Entstehung der zahlreichen Formen des buddhistischen Modernismus gewesen.351 Der im Kontext der vorliegenden Arbeit wichtigste „Diskurs der Moderne“ nach der Konzeption von McMahan ist der Diskurs des „scientific rationalism“. McMahan bezeichnet damit „the ideas and practices derived from the Enlightenment’s epistemological claim that knowledge comes from systematic empirical observation and reason.“352 Mit diesen Vorstellungen seien neue 346 Needham, Joseph, Science and Civilisation in China, 7 Bände, Cambridge 1954 – 2004. Als Überblick ders., Science in Traditional China. A Comparative Perspective, Cambridge 1982. 347 Vgl. Bechert, Buddhismus, Staat und Gesellschaft, Bd. 1, 38. Bechert hatte bereits in dieser Studie eine große Anzahl von Schriften zu dieser Thematik identifiziert. Vgl. ebd., 63 – 64. 348 McMahan, The Making of Buddhist Modernism, 6. 349 Ebd., 9. Er bezieht sich dabei auf Taylor, Charles, Sources of the Self. The Making of the Modern Identity, Cambridge 1989. 350 Vgl. McMahan, The Making of Buddhist Modernism, 9. 351 Vgl. ebd., 15. 352 Ebd., 63.
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Konzeptionen von Wissen verbunden gewesen sowie die Tendenz, sich die Welt hauptsächlich als von mechanischen Abläufen geprägt vorzustellen. Gleichzeitig – so McMahan – gingen diese einher mit der Betonung der wissenschaftlichen Methode als einzig legitimen Weg zur Erlangung von empirischem Wissen.353 Die Auseinandersetzung mit diesem Diskurs im Kontext des buddhistischen Modernismus verbinde sich oftmals mit einem Bezug auf spezifische Texte, so vor allem auf das Kalama Sutta,354 welches dazu herangezogen werde, den „Buddhismus“ als eine „Religion“ darzustellen, in der die Suche nach Erkenntnis allein auf einem „wissenschaftlichen“ Prinzip beruhe, was den „Buddhismus“ damit letztlich sogar zu einer ,wissenschaftlichen Religion‘ werden lasse. Ihn kennzeichne somit kein blinder Glaube, sondern eine „wissenschaftliche“ Einstellung zur Welt, die darauf Wert lege, alles genau zu überprüfen und keine Lehre ungeprüft zu übernehmen. Diese dem Buddha zugeschriebene Position wird dann oftmals als eigentlicher Kern des „Buddhismus“ betrachtet, der erst über seine lange Geschichte hinweg durch populären Aberglauben und durch eine Vermischung mit anderen Traditionen verunreinigt worden sei.355 Die Vorstellung, dass der frühe „Buddhismus“ ein rationales, proto-wissenschaftliches Weltbild vertreten habe, das erst mit der Zeit an den vorherrschenden ,Aberglauben‘ angepasst wurde, sowie die Anstrengungen, in diesem Sinne einen ,rationalen‘, ,ursprünglichen‘ und ,eigentlichen Buddhismus‘ zu konstruieren, sind bedeutende Aspekte des buddhistischen Modernismus.356 Eine Vielzahl indigener Reformbewegungen hat immer wieder versucht, unter Berufung auf die ursprüngliche Wissenschaftlichkeit des ,Buddhismus‘ diesen zu verändern und somit den ,populären Aberglauben‘ aus ihrem jeweiligen lokalen Kontext zu verbannen.357 McMahan nennt 353 Vgl. ebd. 354 Siehe zu diesem Sutta, auf welches hier Bezug genommen wird, und gleichzeitig zu einem späteren thailändischen Beispiel eines buddhistischen Modernismus, in dem sich auf eine entsprechende Interpretation des Kalama Sutta berufen wird, Jackson, Peter A., Buddhadasa. Theravada Buddhism and Modernist Reform in Thailand, Chiang Mai 2003, besonders S. 43 – 48. Eine der zentralen Stellen in diesem Pali-Sutta lautet in einer englischen Übersetzung durch Thanissaro Bhikkhu wie folgt: „Of course you are uncertain, Kalamas. Of course you are in doubt. When there are reasons for doubt, uncertainty is born. So in this case, Kalamas, don’t go by reports, by legends, by traditions, by scripture, by logical conjecture, by inference, by analogies, by agreement through pondering views, by probability, or by the thought, ,This contemplative is our teacher‘. When you know for yourselves that, ,These qualities are unskillful; these qualities are blameworthy ; these qualities are criticized by the wise; these qualities, when adopted & carried out, lead to harm & to suffering‘ then you should abandon them“ (Thanissaro Bhikkhu [Übersetzung aus dem Pali], Kalama Sutta: To the Kalamas, http://www. accesstoinsight.org/tipitaka/an/an03/an03.065.than.html [archiviert unter http://www.webci tation.org/6SmgLWmu9]). 355 Vgl. McMahan, The Making of Buddhist Modernism, 63 – 66. 356 Vgl. ebd., 66. 357 Ebd., 67.
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Die Formation des ,Buddhismus‘ im globalen Religionsdiskurs
die Auseinandersetzungen um die Frage der ,Wissenschaftlichkeit des Buddhismus‘ deshalb auch den „discourse of scientific Buddhism“.358 Gleichzeitig hätten die Vertreter des buddhistischen Modernismus aber bis heute immer wieder auch ein ambivalentes Verhältnis zur modernen Wissenschaft eingenommen. So werde der ,Buddhismus‘ von ihnen zum einen als genau die ,Religion‘ präsentiert, die in besonderer Weise mit wissenschaftlicher Erkenntnis kompatibel sei und diese in vielen Fällen sogar vorwegnehme. Andererseits werde auch immer wieder darauf verwiesen, dass die Entwicklung moderner Technologien und der auf der westlichen Wissenschaft basierende Materialismus eine zerstörerische Wirkung entfaltet habe, und dass gerade deshalb der „Buddhismus“ als notwendige Ergänzung zu einem solch materialistischen Weltbild der Wissenschaft eine zentrale Rolle spielen könne und solle.359 Die hier präsentierte Beispielbetrachtung zu den Interaktionen im Siam des 19. Jahrhunderts hat versucht, einige Möglichkeiten anzudeuten, welche Fragen eine primär historisch orientierte Beschäftigung mit ,Buddhismus‘ und ,Wissenschaft‘ im Bezug auf den globalen Religionsdiskurs aufwirft. Ausgehen ließe sich zunächst von der Beobachtung, dass es in buddhistischen Kontexten im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts immer wieder zu Auseinandersetzungen um die Frage gekommen ist, was ,Religion‘ sei, ob ,der Buddhismus‘ eine ,Religion‘ sei, und in welchem Verhältnis er zu ,Wissenschaft‘ stehe. Wie kann die Religionswissenschaft sich zu der in diesen Auseinandersetzungen verhandelten Frage, was ,der Buddhismus‘ nun ,eigentlich‘ sei (etwa ,Religion‘, ,Philosophie‘ oder ,Wissenschaft‘) positionieren? Eine Möglichkeit wäre, wie es zum Beispiel Michael von Brück vorschlägt, den Buddhismus als ein komplexes mehrdimensionales Phänomen zu beschreiben, welches sowohl „Religion“, als auch „Wissenschaft“, „Philosophie“ sowie „praktisches Meditationssystem“ sei.360 Andere religionswissenschaftliche Studien beschränken sich statt dessen auf eine einzige dieser Dimensionen und behandeln den ,Buddhismus‘ etwa als Religion, oder als Philosophie. Aus der hier vertretenen – diskurstheoretischen – Perspektive, sind diese Lösungen jedoch nicht befriedigend. Vielmehr käme es darauf an, sich für diese Unterscheidungen selbst zu interessieren, also für die Frage, in welchem Kontext diese Klassifikationen überhaupt relevant werden, und besonders dafür, welche Rolle sie über die letzten zweihundert Jahre für buddhistische Kontexte gespielt haben. An der Geschichte dessen, was hier als ,Buddhismus‘ formiert, und was vor allem asiatische Eliten in ihren Beschreibungen des ,Buddhismus‘ als einer ,Religion‘ formuliert haben, sowie an der Rezeption des 358 Vgl. auch McMahan, Modernity. 359 Vgl. McMahan, The Making of Buddhist Modernism, 11. Eine solche Position findet sich etwa auch in XIV. Dalai Lama, The Universe in a Single Atom. 360 Vgl. von Brück, Einführung in den Buddhismus, 18, Hervorhebung entfernt.
Beispielbetrachtungen zur Formation des ,Buddhismus‘
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,Buddhismus‘ im Westen, ließe sich dann exemplarisch beobachten, wie mit der Bezeichnung des ,Buddhismus‘ als ,Religion‘ sich auch die Frage nach der Unterscheidung des ,Buddhismus‘ von anderen ,Religionen‘ sowie der Abgrenzung des Buddhismus als ,Religion‘ von Anderem stellt. Im Kontext des buddhistischen Modernismus und nicht zuletzt in Anknüpfung an den von McMahan beschriebenen „discourse of scientific Buddhism“ lässt sich der mit dem globalen Religionsdiskurs implizierte zweifache Unterscheidungsprozess somit beispielhaft beobachten. Gleichzeitig bezweckt die hier vorgeschlagene diskurstheoretische Perspektive nicht, eine hegemoniale Durchsetzung dieser Unterscheidungen weltweit zu behaupten, sondern zielt zunächst darauf, Orte der Auseinandersetzung zu identifizieren. Wenn hier ein Fokus auf die Unterscheidungen der Religion vorgeschlagen wird, impliziert dies dezidiert nicht, dass sich eine Pluralität abgegrenzter ,Religionen‘ und die Vorstellung von ,Religion‘ als eines Bereichs, unterschieden von anderen wie ,Wirtschaft‘, ,Politik‘ oder ,Wissenschaft‘ endgültig durchsetzt. Diese Abgrenzungen (nicht nur der ,Religion‘ sondern auch der anderen hier genannten Bereiche) sind aus der hier vorgeschlagenen Perspektive nicht ontologisch durch die ,Phänomene‘, auf welche sie verweisen, oder durch ein heuristisches theoretisches Modell festgelegt, sondern werden ständig neu ausgehandelt. Sich mit dem globalen Religionsdiskurs zu befassen, heißt, sich genau für diese Aushandlungsprozesse zu interessieren. Besonders die Problematik einer Unterscheidung zwischen ,Religion‘ und ,Wissenschaft‘ weist in diesem Zusammenhang auf einen der drei Topoi hin, die bereits in der Auseinandersetzung mit Gladigow im ersten Kapitel der vorliegenden Arbeit angeklungen sind, und der nicht zuletzt über die Verwendung des Stichworts Differenzierung als Bezeichnung für eines der zwei hier vorgeschlagenen Charakteristika des globalen Religionsdiskurses die gesamte Arbeit begleitet haben. Die hier in einer Beispielbetrachtung analysierte Reformbewegung im Siam des 19. Jahrhunderts scheint, wie auch der weitere Kontext des „discourse of scientific Buddhism“, eine Herausforderung für eine differenzierungstheoretisch interessierte Perspektive zu sein. Es ist relativ schnell einsichtig, dass der Versuch einer der Analyse vorausgehenden inhaltlichen Definition von ,Religion‘ und ,Wissenschaft‘ sich mit den hier getroffenen Unterscheidungen sehr schwer tun würde, und die hier interessierenden Prozesse der hybriden Transformation lokaler Wissensbestände nicht in den Blick nehmen könnte, in denen diese Unterscheidung – oder zumindest ihre Vorgeschichte – selbst mit verhandelt wird. Gleichzeitig wird offensichtlich, dass jede entsprechende Bestimmung von Seiten der Religionswissenschaft entweder von einer als heuristisch verstandenen Theorie ausgehen müsste, was jeweils ,Religion‘ oder ,Wissenschaft‘ sei, oder davon, dass es möglich sei, auf der Ebene der Phänomene ,religiöses Wissen‘ und ,wissenschaftliches Wissen‘ bzw. ,Religion‘ und ,Wissenschaft‘ zu unterscheiden. Der Religionswissenschaftler kann hier somit einerseits heuristisch, aus der Sicht einer ganz bestimmten Per-
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spektive zu einer entsprechenden Aussage kommen, für die er dann eine Theoriegrundlage angeben müsste, die erläutert, warum auf diese oder jene Weise entschieden wurde. Daraus folgt andererseits, dass eine religionswissenschaftliche Position, die hier selbst eine Unterscheidung zwischen ,Religion‘ und ,Wissenschaft‘ ohne einen solchen expliziten Verweis auf eine Theorie vertritt, nur ein weiterer Akteur in genau dem Streit ist, in dem sich die rekonstruierten ,Quellen‘ selbst auch verorten. In einer Inanspruchnahme dieser Unterscheidungen als selbstverständliche Kategorien der Weltbeschreibung spricht die Religionswissenschaft, so könnte man sagen, dann explizit selbst im Rahmen des globalen Religionsdiskurses. Was bedeutet dies für eine theoretische Beschäftigung mit der Differenzierungsthematik? Anhand des Kitchanukit lässt sich die These entwickeln, dass eine Betrachtung der Unterscheidungsprozesse zwischen ,Religion‘ und ,Wissenschaft‘ – also der jeweils spezifischen Formen in denen diese als unterschiedliche oder auch sich ergänzende Bereiche wahrgenommen wurden – sich als ertragreicher herausstellen könnte, als eine feste Definition dessen, was unter ,Wissenschaft‘ und ,Religion‘ zu verstehen sei. Das Kitchanukit erlaubt hier für eine spezifische historische Situation einen Einblick in die Vorgeschichte der Auseinandersetzung um die Unterscheidung zwischen ,Religion‘ und ,Wissenschaft‘ in einem außereuropäischen Kontext. Die entscheidende Frage, die hier verfolgt wurde, ist damit auch nicht primär, ob die im Kitchanukit getroffene Unterscheidung von kan lok und kan satsana eine Unterscheidung zwischen ,Religion‘ und ,Wissenschaft‘ ist, sondern vor allem, dass sie bis heute von verschiedenen Seiten als eine solche gelesen wird. Sie ist Teil einer Rekonfiguration von Unterscheidungen im Siam des 19. Jahrhundert, die es für die Vertreter der thailändischen Eliten möglich machten, in ihren Interaktionen und Konfrontationen mit westlichen Akteuren bestimmte Kategorien wie ,Religion‘ einzusetzen, die genau über diese Unterscheidungen in hypothetische Äquivalenzen eingebunden waren. Das Interesse an diesen Unterscheidungen ist daher selbst ein historisches, in dessen Kontext eine solche Unterscheidung erst hervorgebracht wird. Es lässt sich daher die These vertreten, dass es nicht ,Religion‘ und ,Wissenschaft‘ als zwei grundlegend unterschiedliche Phänomene, sondern die Unterscheidung selbst war, welche im Siam des 19. Jahrhunderts neuartige Positionierungen ermöglichte, sowohl gegenüber der eigenen Tradition als auch in der Auseinandersetzung mit den farang und nicht zuletzt mit den christlichen Missionaren. Über die hier getroffene Unterscheidung zwischen zwei Wissensbereichen war es möglich, einen ,Buddhismus‘ als ,Religion‘ zu präsentieren. Dieser Prozess war jedoch selbst bereits in die durch modernes wissenschaftliches Wissen angestossene Problematisierung der Kategorie ,Religion‘ verwickelt, die aus der Infragestellung überlieferter – nun als ,religiös‘ bezeichneter – Weltbeschreibungen erwuchs. Dies erlaubte wenig später den Versuch, auch diesen Infragestellungen auszuweichen indem auf eine Kompatibilität von ,Buddhismus‘ und ,Wissenschaft‘ verwiesen wurde. Im
Zusammenfassung: Die Formation des ,Buddhismus‘ als ,Religion‘
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Kontext des „discourse of scientific Buddhism“, der sich in Thailand bis heute auf diese Reformbewegung und auf Thiphakorawong bezieht, konnte dieser dann als eine ,wissenschaftliche Religion‘ verstanden werden. So wurde und wird bis heute an das Kitchanukit gerade im Kontext der späteren Auseinandersetzungen um ,Buddhismus‘ und in der Frage nach dessen Verhältnis zur ,Wissenschaft‘ von verschiedenen Akteuren angeknüpft. Nicht nur haben sich die hier behandelten Debatten um das trai phum auch im 20. Jahrhundert fortgesetzt,361 sondern vielmehr wurde auch auf das Kitchanukit immer wieder explizit Bezug genommen, um diese Fragen zu verhandeln.362 Auch in diesem Sinne lässt sich dieser Text daher als ein entscheidender Moment in der Genealogie des globalen Religionsdiskurses im heutigen Thailand betrachten.
6.5 Zusammenfassung: Der globale Religionsdiskurs und die Formation des ,Buddhismus‘ als ,Religion‘ Vor dem Hintergrund der im vierten Kapitel vorgeschlagenen Heuristik, die den globalen Religionsdiskurs über Pluralität und Differenzierung charakterisiert hat, hat sich dieses Kapitel der Frage nach der Formation des ,Buddhismus‘ als einer ,Religion‘ innerhalb einer Pluralität von ,Religionen‘ und als ,Religion‘ im Unterschied zur ,Wissenschaft‘ gewidmet. Nach einem skizzenhaften Überblick über die Entstehung einer Vorstellung von ,Buddhismus‘ im Kontext seiner europäischen ,Entdeckung‘ wurde anhand der Debatte um den buddhistischen Modernismus und den „Protestant Buddhism“ die Formation des ,Buddhismus‘ als eines Gegenstandes im Kontext des modernen Religionsdiskurses dargestellt. Diese wurde im zweiten Teil des Kapitels anhand von Beispielbetrachtungen zu drei asiatischen Kontexten dann exemplarisch detaillierter aufgezeigt. Dazu wurde zunächst in buddhistischen Kontexten des süd- und südostasiatischen Raums die Transformation von Begrifflichkeiten untersucht, die heute allgemein als Übersetzungen für den Begriff ,Religion‘ verwendet werden. Die meisten der relevanten Lexeme im süd- und südostasiatischen Raum gehen auf das Pali und Sanskrit zurück, in welchem die dort verbreiteten buddhistischen Texte verfasst sind. In all den untersuchten Fällen lässt sich feststellen, dass es zu einer deutlichen Transformation der Begrifflichkeiten 361 Siehe u. a. Jackson, Peter A., Re-Interpreting the Traiphuum Phra Ruang. Political Functions of Buddhist Symbolism in Contemporary Thailand, in: T. Ling (Hg.), Buddhist Trends in Southeast Asia, Singapore 1993, 64 – 100. 362 Siehe Sulak Sivaraksa/Ip H. Yuk, Trans Thai Buddhism. Spiritually, Politically and Socially, Bangkok 2004, 20 – 23; Sulak Sivaraksa, Socially Engaged Buddhism, Delhi 2005, 227 – 228; Jackson, Buddhadasa.
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Die Formation des ,Buddhismus‘ im globalen Religionsdiskurs
gekommen ist, auch wenn die Geschichten der jeweiligen Lexeme, die in die Position eines Äquivalents von ,Religion‘ eingerückt sind, durchaus unterschiedlich verlaufen sind. Hier lässt sich erkennen, dass Fragen wie die nach dem Religionsbegriff des Buddhismus aus Sicht des Historikers nicht besonders hilfreich sind.363 Denn dieser ,Religionsbegriff ‘, also der Begriff, mit dem der ,Buddhismus‘ als eine ,Religion‘ bezeichnet wird, ist – zumindest in den letzten 200 Jahren – in den untersuchten Kontexten durchaus variabel gewesen. Es wäre somit viel mehr die Frage, auf welche Weise Begriffe der Selbstbezeichnung identifiziert werden könnten, mit denen eine Form von Gesamtheit oder eine Gemeinschaft bezeichnet wurde und bezeichnet wird. Aus der Geschichte buddhistischer Texte würden sich dafür u. a. die Begriffe sa¯sana und dharma anbieten. Auch die Geschichte und Bedeutung dieser Lexeme ist jedoch in unterschiedlichen Kontexten jeweils verschieden. So ist etwa in Siam/Thailand sa¯sana tatsächlich zu der heute verbreitetsten Übersetzung von ,Religion‘ geworden, wohingegen dies in den anderen untersuchten Kontexten (wie etwa Burma oder Ceylon) nicht der Fall ist, wo andere Begriffe diese Stellung einnehmen. Bereits diese sehr begrenzten Einblicke in die Etablierung des Religionsdiskurses in verschiedenen regionalen Kontexten und der Fokus auf die Formation der Begriffe des ,Buddhismus‘ stützt somit die These, dass die Suche nach ,Äquivalenten‘ des Religionsbegriffs nur eine historische Genealogie der Herstellung von hypothetischen Äquivalenzen sein kann. Gleichzeitig hat sich mit Blick auf das hier heuristisch vorgeschlagene Charakteristikum der Pluralität erkennen lassen, dass die Frage nach ,Religion‘ und nach dem Buddhismus als einer ,Religion‘ in diesen Kontexten immer auch die Pluralität dieser neu eingeführten oder transformierten Kategorie impliziert. Der ,Buddhismus‘ findet sich im Ceylon, Burma und Siam des 19. und frühen 20. Jahrhunderts als eine ,Religion‘ unter ,Religionen‘ wieder. Dabei ließen sich in den kurzen Einblicken auch Tendenzen erkennen die darauf hindeuten, dass eine solche moderne Konfiguration gleichzeitig auch eine Vergleichbarkeit und auch die Schaffung einer einheitlichen Ebene für das Verglichene zur Folge hatte. Wenngleich sich weiterhin immer wieder auch Positionen finden lassen, die die eigene ,Religion‘ für unvergleichbar halten, ist die Tendenz doch diejenige der Wahrnehmung einer Vergleichbarkeit und der Schaffung einer gemeinsamen Ebene. Im Anschluss an Alexey Kirichenko konnte auf eine solche Entwicklung zum Beispiel in Burma hingewiesen werden, wo im präkolonialen Kontext tathanadaw nicht als vergleichbar gilt und botdabadaj,Buddhismus‘ nun in eine Reihe mit vergleich-
363 Siehe für einen solchen Ansatz etwa Haußig, Hans-Michael, Der Religionsbegriff in den Religionen. Studien zum Selbst- und Religionsverständnis in Hinduismus, Buddhismus, Judentum und Islam, Berlin 1999.
Zusammenfassung: Die Formation des ,Buddhismus‘ als ,Religion‘
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baren und gleichwertigen ,Religionen‘ gestellt wird, die dann wenn überhaupt erst in einem zweiten Schritt wieder hierarchisiert werden. Die Frage, inwiefern diese konzeptuellen und begrifflichen Transformationen auch mit weiteren Veränderungen einher gehen, bzw. die Frage danach, in welchem sozialen Kontext diese Veränderungen der Begrifflichkeiten sich abgespielt haben, führt zu einer Reihe von komplexen Fragen nach der Kontinuität und Diskontinuität kollektiver Identitäten und der Frage, wie sich diese besonders über die letzten zweihundert Jahre transformiert haben. Im Rahmen dieser Problematik wurde versucht, die Frage nach einer ,gesamtbuddhistischen Identität‘ und deren Etablierung, Transformation oder Reform im Verlauf des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu stellen. In diesem umstrittenen Zusammenhang lässt sich feststellen, dass die Rolle der Laien in den buddhistischen Kontexten einer tiefgreifenden Transformation unterworfen war. Unabhängig davon, ob man dies nun als eine ,Laisierung des Buddhismus‘ oder als eine ,Monastisierung der Laien‘ auffasst, ist eine erkennbare Veränderung die hohe Bedeutung, welche neuartige und veränderte Organisationsformen in diesem Prozess gespielt haben. In den behandelten Kontexten kommt es zur Proliferation einer Vielzahl von Vereinigungen, die sich primär an Laien richten, und welche sich ab dem späten 19. Jahrhundert dezidiert als buddhistische Organisationen verstanden. Die neue ,Technologie‘ der Mitgliedschaftsorganisation und der damit eng verbundene Einsatz der ebenfalls in diesem Zeitraum neu verfügbaren Druckerpresse für die Publikation einer Vielzahl von Periodika und Büchern lassen sich als zwei zentrale Aspekte in diesem Transformationsprozess auffassen. Im Zusammenhang der hier verfolgten Fragestellung lässt sich die These aufstellen, dass die buddhistische Identität besonders der Laien als Buddhisten letztlich erst durch diese neuen Technologien soziale Gestalt gewinnen konnte.364 Besonders die von Alicia M. Turner im burmesischen Kontext detailliert untersuchten buddhistischen Organisationen weisen mit den dort geführten Mitgliedschaftslisten, welche in den Publikationsorganen der Organisationen veröffentlicht wurden und einen Großteil der jeweiligen Anzahl der Seiten der regelmäßig erscheinenden Magazine ausmachten, darauf hin, dass sich die ,imagined community‘ der Buddhisten hier in einer Form zusammenfinden konnte, welche in vormodernen Kontexten nicht verfügbar war. Es lässt sich die These vertreten, dass besonders die klare Zuordnung zu einer buddhistischen Organisation durch die Form der Mitgliedschaft und damit die Identifikation als Buddhist hier als eine deutliche 364 Eine solche These könnte auch an eine Überlegung Gananath Obeyesekeres anschließen, denn es stellt sich dann die Frage, ob und in welcher Form eine solche kollektive Gemeinschaft und Identität in vormoderner Zeit hergestellt wurde. Zumindest für Ceylon verweist dieser darauf, dass in vormoderner Zeit diese unter anderem an spezifischen Anlässen durch gemeinsame Pilgerprozessionen hergestellt wurde. Vgl. Obeyesekere, Gananath, Buddhism, Ethnicity, and Identity. A Problem in Buddhist History, in: M. Deegalle (Hg.), Buddhism, Conflict and Violence in Modern Sri Lanka, London 2006, 134 – 162, hier: 141 – 143.
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Transformation vormoderner Verhältnisse erscheint. Dies lässt sich als ein Hinweis auf den Ablauf derjenigen Veränderungen verstehen, die in den untersuchten Kontexten im Verlauf des 20. Jahrhunderts die Identität einer buddhistischen Gemeinschaft und die Selbstidentifikation als ,Buddhisten‘ haben selbstverständlich werden lassen. Die vorgeschlagene Heuristik hat für eine Rekonstruktion des globalen Religionsdiskurses darauf verwiesen, dass dieser über bestimmte Unterscheidungen der Religion beschrieben werden könne, von denen in der vorliegenden Arbeit vor allem Pluralität und Differenzierung in den Blick genommenen wurden. Für die Betrachtung spezifischer historischer Beispiele und lokaler Kontexte wurde im Anschluss an diese Heuristik daher versucht, das Erscheinen neuer Begriffe, Gegenstände und Subjektpositionen innerhalb des globalen Religionsdiskurses in einer Weise aufzuzeigen, in der plausibel wird, dass sich diese Hervorbringung im Hinblick auf die mit diesen Stichworten und den von ihnen implizierten Unterscheidungen als den Formationsregeln des globalen Religionsdiskurs betrachten lässt. Was bedeutet es in diesem Sinne, dass lokale Verhältnisse, wie etwa die des kolonialen Ceylon nun im Hinblick auf die ,Religion‘ des ,Buddhismus‘ transformiert werden – sowohl von westlicher als auch vor allem von einheimischer Seite? Es lässt sich die These aufstellen, dass dies bedeutet, dass in diesen lokalen Verhältnissen im Rahmen dieses Prozesses der ,Religionisierung‘ ein ,Unterscheidungszwang‘ entsteht. Mit dem globalen Religionsdiskurs geht für die hier betrachteten buddhistischen Kontexte ein neuartiger Impetus einer zweifachen Unterscheidung einher. ,Buddhismus‘ wird als eine Religion imaginiert, und dadurch in den Kontext einer Pluralität von ,Religionen‘ gestellt, mit denen er nun einerseits als vergleichbar gesehen wird, von denen er aber auch als spezifische ,Religion‘ unterschieden wird. Zum anderen wird ,Buddhismus‘ als Religion bestimmt. Damit gerät er in den Sog einer Differenzierung und damit einer Unterscheidung von anderen gesellschaftlichen Bereichen. Die neu erscheinende ,Religion‘ des ,Buddhismus‘ unterscheidet sich als ,Religion‘ nun von ,Politik‘ oder ,Wissenschaft‘.365 Eine solche Perspektive auf die modernen Entwicklungen hat auch Erik D. 365 Hier soll noch einmal darauf hingewiesen werden, dass es im Rückblick auf die Erarbeitung der hier vorgeschlagenen Heuristik plausibel erscheint, diese Unterscheidungen der Religion durch eine weitere wichtige Unterscheidungsebene zu erweitern, die für die Formation des globalen Religionsdiskurses als ebenso zentral erscheint. Die Herausbildung des ,Buddhismus‘ als eines diskursiven Objekts könnte in diesem Sinne als Kombination dreier Unterscheidungsprozesse verstanden werden: Buddhismus als eine Religion abgegrenzt von anderen Religionen; Buddhismus als Religion, abgegrenzt von Wissenschaft/Politik/Wirtschaft etc.; Buddhismus als Religion abgegrenzt von Nicht-Religion, Aberglaube und Magie. Diese dritte Ebene kann hier jedoch erneut nur angedeutet werden. Ihre konkrete Erarbeitung und Verhältnisbestimmung zu den anderen beiden Unterscheidungen der Religion bleibt ein Desiderat. Vgl. auch Kapitel 4, Fußnote 223 und die kurze Skizze dieses Gedankens in Hermann, Adrian, Distinguishing ,Religion‘. Variants of Differentiation and the Emergence of ,Religion‘ As a Global Category in Modern Asia, Soziale Systeme (im Druck).
Zusammenfassung: Die Formation des ,Buddhismus‘ als ,Religion‘
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White vorgeschlagen. Er spricht davon, dass im Rahmen des buddhistischen Modernismus der ,Buddhismus‘ sowohl als eine klar identifizierbare „respectable (modern) world religion“ wie auch als eine „proper (modern) ,religion‘“ verstanden wurde, die als ,Religion‘ nicht Teil anderer Bereiche wie ,Politik‘ oder ,Wissenschaft‘ war. Gleichzeitig wurde damit auch die Debatte darüber eröffnet, was als essentieller Bestandteil dieses ,Buddhismus‘ zu gelten habe und was nicht: As a result, modernist Buddhist scholars and apologists came to envision certain beliefs, practices and individuals as properly belonging either to another identifiable world religion – such as Hinduism or Taoism, perhaps – or a more primitive religious tradition – such as ,animism‘ or ,fetishism‘. The textual heritage of Buddhism, the historical forms of Buddhism, and the living social reality of Buddhism were all subject to this sort of re-classification according to a modern model of authentic Buddhist religiosity.366
White weist aber vor allem darauf hin, dass dieser Prozess der Reimagination nicht nur eine Debatte unter einer Reihe von buddhistischen Reformern betraf, sondern dass seine Auswirkungen vielmehr deutlich darüber hinausgehen: Even more important, however, is to realize that this basic modern idea about religion as a functionally distinct sphere of life with its own unique logic was conveyed through a diverse range of institutional mediums and ,technologies‘ – treatises and constitutions, educational institutions and programs, scholarship and journalism, tax codes and legal discourses about rights, medical training and scientific research. As the full scope of modern Western political, economic, legal and social institutions increasingly impinged upon and demanded a response from its colonial subjects or those few still independent Asian powers, native exegetes naturally had to slowly, haphazardly, subtly re-imagine Buddhism and to institutionalize these new conceptions.367
Die hier angedeutete Perspektive konnte in der vorliegenden Arbeit nicht weiter verfolgt werden, eröffnet aber zahlreiche erweiterte Fragestellungen für eine Beschäftigung mit dem globalen Religionsdiskurs. Es ist im Rückblick auf die in diesem Kapitel verhandelten Fragen und im Verweis auf weitere mögliche Studien von zentraler Bedeutung, noch einmal darauf hinzuweisen, dass der in dieser Zusammenfassung genannte ,Unterscheidungszwang‘ nicht als Hinweis auf einen deterministisch ablaufenden Prozess verstanden werden sollte, sondern dass die Rede von einem Zwang hier primär darauf verweist, dass diese Unterscheidung nicht ignoriert werden kann. Welcher konkrete Umgang mit den im globalen Religionsdiskurs im366 White, Erick D., INTERVIEW: Erick D. White, 2008, http://dannyfisher.org/2008/08/09/inter view-erick-d-white/ (archiviert unter http://www.webcitation.org/5zD9II4Zb). 367 Ebd.
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plizierten Unterscheidungen in einer historischen Situation konkret vorliegt, lässt sich erst und einzig durch eine detaillierte historische Rekonstruktion analysieren. Das heißt aber gleichzeitig auch, dass diese Unterscheidungen – also etwa die Unterscheidung zwischen der nun im Kontext der neuartigen ,Religion‘ des ,Buddhismus‘ stattfindenden Praxis und den gleichzeitig auch weiterhin praktizierten weiteren rituellen Vollzügen (die nun etwa als ,Animismus‘ klassifiziert werden), oder auch die Unterscheidung zwischen ,Buddhismus‘ als ,Religion‘ und ,Buddhismus‘ als ,Wissenschaft‘ – durchaus auch negiert werden können. Aber eine solche Negation wird dann im Kontext des globalen Religionsdiskurses als eine aktive Negation eben dieser Unterscheidungen stattfinden. Und in genau diesem Sinne ist somit auch die Negation der Unterscheidungen der Religion letztlich Teil des globalen Religionsdiskurses.
Teil III: Zu den Herausforderungen einer religionswissenschaftlichen ,Theorie der Moderne‘
7. Bausteine einer religionswissenschaftlichen ,Theorie der Moderne‘ und die Differenzierung von ,Religion‘ in der Weltgesellschaft Die im bisherigen Verlauf der Arbeit vorgeschlagenen Perspektivenwechsel auf ,Religion‘ haben die Globalität des Religionsdiskurses in den Fokus treten lassen. Was bedeutet dies für die bisher diskutierten Fragen? Um auch hier einige theoretische Perspektiven für weitergehende religionswissenschaftliche Überlegungen aufzuzeigen, wird im Folgenden mit der soziologischen Weltgesellschaftstheorie auf eine Theorieperspektive verwiesen, die eine entsprechende globale Fragestellung anleiten könnte. Ausgangspunkt dieser Betrachtung sind die theoretischen Debatten im kultur- und sozialwissenschaftlichen Kontext der letzten Jahrzehnte, in der die Möglichkeit umfassender und global orientierter Fragestellungen unter Stichwörtern wie „Postmoderne“ und „Postkolonialismus“ in vielfältiger Hinsicht problematisiert wurde. Wie lässt sich im Anschluss daran die heutige Situation kulturwissenschaftlicher Theoriebildung beschreiben (7.1)? Einen Versuch, diese Frage zu beantworten, hat über die letzten fünfzehn Jahre der Ethnologe und postkoloniale Theoretiker David Scott unternommen.1 Dieses Kapitel sucht daher zunächst die Auseinandersetzung mit Scott, um sich von kultur- und religionswissenschaftlicher Seite der Frage nach einer global orientierten Theoriebildung zu nähern (7.1.1). Dieser bezieht sich in seinen Überlegungen auf Vorarbeiten Talal Asads, dessen Betrachtungen unter dem Stichwort „Conscripts of Modern Civilization“ als früher Hinweis auf die Notwendigkeit einer globalen – und wie ich im folgenden argumentieren werde: weltgesellschaftstheoretischen – Perspektive gelten können (7.1.2). Die entscheidende Grundlage für eine ertragreiche Bearbeitung theoretischer Fragestellungen in der gegenwärtigen Situation sieht Scott dabei in dem Versuch einer erneuerten Theoretisierung der Moderne (7.1.3). Ein möglicher Ausgangspunkt für ein solches Theorieprogramm sind soziologische Weltgesellschaftstheorien, mit denen im Rahmen der vorliegenden Arbeit nun abschließend die Auseinandersetzung gesucht wird (7.2). Nach einem kurzen Einblick in die Geschichte dieser Theorieperspektive (7.2.1) wird vor allem auf deren systemtheoretische Fassung eingegangen, die primär von Niklas Luhmann ausgearbeitet wurde (7.2.2). Eines der zentralen Konzepte der Weltgesellschaftstheorie in ihrer systemtheoretischen Fassung ist die Differenzierungstheorie. Nicht zuletzt aus 1 Siehe u. a. Scott, David, Refashioning Futures. Criticism After Postcoloniality, Princeton 1999.
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Bausteine einer religionswissenschaftlichen ,Theorie der Moderne‘
diesem Grund bietet sich diese Theorieperspektive im Kontext der vorliegenden Arbeit an und erlaubt es, die bereits im ersten Kapitel aufgeworfene Frage nach ,Differenzierung‘ und den bei Burkhard Gladigow beschriebenen Rückgriff auf Luhmann wieder aufzunehmen (7.3). Einem Einblick in grundlegende Aspekte dieser soziologischen Theorietradition (7.3.1) folgt eine Auseinandersetzung mit Luhmanns differenzierungstheoretischen Konzepten (7.3.2) und besonders mit der Frage, was anhand der in der vorliegenden Arbeit zugrunde gelegten Unterscheidung von Diskurstheorie und Religionstheorie im Kontext von Luhmanns Auseinandersetzung mit ,Religion‘ sichtbar wird (7.3.3). Eine solche Rekonstruktion weist darauf hin, dass eine religionswissenschaftlich (und besonders eine diskurstheoretisch) interessierte Perspektive die Luhmannsche Herangehensweise an Differenzierung, besonders im Hinblick auf die Frage nach einer ,religionswissenschaftlichen Differenzierungstheorie‘, anders akzentuieren müsste. Die hierfür notwendigen Voraussetzungen sowie mögliche Fragestellungen werden unter Rückgriff auf Vorschläge Armin Nassehis und Urs Stähelis erörtert. Diese Diskussion schließt zusammenfassend und als Ausblick auf weitere Herausforderungen für eine religionswissenschaftliche Beschäftigung mit dem globalen Religionsdiskurs das Kapitel ab (7.4).
7.1 Die Notwendigkeit einer globalen kulturwissenschaftlichen Perspektive 7.1.1 Eine ,Theorie der Moderne‘ nach dem Postkolonialismus Was ist im Lichte religionswissenschaftlicher Kritik am Religionsbegriff sowie poststrukturalistischer und postmoderner Infragestellungen universeller Theorieentwürfe die Ausgangssituation eines kulturwissenschaftlichen Versuchs über die globale Geschichte von ,Religion‘? David Scott spricht in seiner Auseinandersetzung mit den Ergebnissen und Leistungen postkolonialer Theorieentwürfe von der Gegenwart als einer Situation „after postcoloniality“.2 Als Ergebnis der Kritik an und der Verabschiedung von den im Kontext der europäischen Aufklärung entstandenen ,großen Erzählungen‘ ist hinter eine antifundamentalistische erkenntnistheoretische Perspektive nicht zurückzugehen.3 Im Anschluss an Theoretiker wie Zygmunt Bauman, Talal Asad, Partha Chatterjee, Michel Foucault, Stuart 2 Ebd., 3. 3 Ich schließe mich hier dem Vorschlag Oliver Marcharts an, „foundationalist“ als „fundamentalistisch“ zu übersetzen. Vgl. Marchart, Oliver, Das unmögliche Objekt. Eine postfundamentalistische Theorie der Gesellschaft, Frankfurt am Main 2013.
Die Notwendigkeit einer globalen kulturwissenschaftlichen Perspektive 371
Hall, Richard Rorty und Edward Said geht Scott daher davon aus, dass „positions are to be read as contingent, histories as local, subjects as constructed, and knowledge as enmeshed in power.“4 Allerdings sollte sich eine gegenwärtige theoretische Positionierung nicht einfach nur auf eine Kritik an essentialistischen Überzeugungen zurückziehen und durch das Aufzeigen der erkenntnistheoretischen Naivitäten anderer sich selbst als überlegen zu behaupten versuchen. Eine bloße Gegenüberstellung zwischen essentialistischen und anti-essentialistischen Überzeugungen verdeckt viel grundlegendere Fragen kulturwissenschaftlicher Analyse.5 In Anlehnung an R.G. Collingwood und Quentin Skinner fragt Scott daher nach dem gegenwärtigen „problem space“ und geht davon aus, dass eine spezifische historische Situation (conjuncture) der Theorieproduktion sich nicht allein durch die jeweils in dieser Situation gefundenen Antworten auszeichnet, sondern ebenso zentral durch die gestellten Fragen.6 Die zentrale Herausforderung in der Auseinandersetzung mit unserer heutigen Situation und im Rückblick auf frühere anders gelagerte Situationen ist dann „whether or not these questions themselves continue, in the conjuncture at hand [unserer Gegenwart, A.H.], to constitute questions worth having answers to.“7 Im Ergebnis geht er dann davon aus, dass die „postcolonial present“8 eine Reformulierung nicht nur der Antworten, sondern vor allem der kulturwissenschaftlichen Fragen erfordert. Eine global ausgerichtete Fragestellung hätte sich demnach gegenwärtig – so der Vorschlag Scotts – weder an den Grundannahmen antikolonialer Theoretiker noch allein am Projekt des Postkolonialismus zu orientieren. Der „problem space“ der antikolonialen Theorie war geprägt von der Forderung nach „self-representation“ und dem Bemühen um eine politische Theorie der Befreiung von kolonialer Herrschaft, die sich aber letztlich weiterhin in westlich geprägten Denkmustern bewegte. Postkoloniale Theorie widmete sich dagegen der „decolonization of representation itself, the decolonization of the conceptual apparatus through which their political objectives were thought out.“9 4 Scott, Refashioning Futures, 4. 5 Vgl. ebd., 9. Scott vertritt hier damit letztlich eine Perspektive, die nicht primär ,antifundamentalistisch‘ sondern vielmehr ,postfundamentalistisch‘ im Sinne Marcharts ist. Vgl. Marchart, Das unmögliche Objekt, 11. 6 Vgl. Scott, Refashioning Futures, 5 – 9. 7 Ebd., 7. 8 Ebd., 3. Scott verweist darauf, dass viele postkoloniale Forderungen bereits eingelöst wurden und so neben bestimmten weiterhin zentralen postkolonialen Fragen bereits ein neuer Fragehorizont erschienen ist. Siehe auch Scott, David, Conscripts of Modernity. The Tragedy of Colonial Enlightenment, Durham 2004. 9 Scott, Refashioning Futures, 12. Diese Aufgabe bestand zunächst in einer „decolonization of the West’s theory of the non-West“ (ebd.), wozu die Diskussion um Edward Saids OrientalismusThese einen entscheidenden Beitrag geleistet hat. Siehe Said, Edward W., Orientalism, New York 1978.
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Bausteine einer religionswissenschaftlichen ,Theorie der Moderne‘
In der Perspektive postkolonialer Theorie erscheint der Kolonialismus somit nicht mehr vorrangig als ein westliches Projekt der Ausbeutung und ökonomischen Profitgenerierung, sondern vielmehr als a structure of organized authoritative knowledge (a formation, an archive) that operated discursively to produce effects of Truth about the colonized. Understood as a complex ensemble of knowledge/power, colonialist discourse constituted a will-totruth about the colonized as part of the larger project of Europe’s will-to-mastery of the non-European world.10
Über eine Fokussierung auf die westliche Repräsentation kolonialer Verhältnisse und Subjekte konnte die hybride Komplexität der kolonialen Situation in den Blick genommen werden. Zwei wichtige Aspekte des postkolonialen Projekts waren hierbei zum einen die Hervorhebung lokaler agency und die damit verbundene Möglichkeit eines Widerstands der Kolonialisierten, welche in der Analyse konkreter kolonialer Situationen die stets vorhandene Brüchigkeit kolonialer Macht aufscheinen ließ. Zum anderen, und dem entgegengesetzt, war dies eine Betonung der ebenso bedeutsamen Rolle indigener Akteure in der Entstehung und Aufrechterhaltung kolonialer Verhältnisse. Während postkoloniale Ansätze somit vermeintlich klare und natürliche Kategorien, Begriffe und Verhältnisse als Ergebnis von Konstruktionsprozessen innerhalb kolonialer Machtverhältnisse aufzeigen,11 lässt sich, so Scott, gegenwärtig die Frage stellen, ob wir uns noch immer in einer ähnlichen historischen Situation befinden, oder ob sich in unserer „postcolonial present“12 ein neuer „problem space“ konstituiert hat, und daher diese Fragestellungen des Postkolonialismus nicht in der gleichen Form unsere zentralen Frageperspektiven bestimmen sollten. Befinden wir uns nicht vielmehr bereits „after postcoloniality“?13 Die Fokussierung auf eine Kontinuität kolonialer Verhältnisse im Sinne einer weiterhin fortbestehenden diskursiven Formation14 ist eine Leistung postkolonialer Analysen, die jedoch verdeckt, dass es nicht länger offensichtlich ist, ob und wie eine Kritik ,des Westens‘ und eine ,Überwindung der westlichen Herrschaft‘ weiterhin vorgestellt werden könnte. Im Rahmen einer Krise des „secular-modern project“ und der Form des Nationalstaats ist ein neuer „problem space“ entstanden, in dem auch der akademische Betrachter
10 Scott, Refashioning Futures, 12. In einer solchen Beschreibung wird Scotts Bezug auf die Analysen Michel Foucaults deutlich, der seine Diskursarchäologie später um einen Fokus auf den Macht/Wissens-Komplex erweitert hat. Scott greift, wie wir im Folgenden sehen werden, auch auf spätere Entwürfe Foucaults zu einer Analyse der „Gouvernementalität“ zurück. 11 Vgl. ebd., 4. 12 Ebd., 3. 13 Ebd., 10. 14 Vgl. ebd., 14.
Die Notwendigkeit einer globalen kulturwissenschaftlichen Perspektive 373
sich nicht nur neuen Antworten, sondern auch neuen oder zumindest erneuerten Fragen zuwenden muss.15 Diese Kritik am Projekt des Postkolonialismus wäre aber falsch verstanden, wenn man sie auf dessen innere Kohärenz bezöge oder auf die Feststellung, dass alle dort gestellten Fragen bereits beantwortet seien. Vielmehr ist es notwendig herauszufinden, ob die postkolonialen Fragen unserer gegenwärtigen globalen Situation noch entsprechen, und ob die Normalisierung und Durchsetzung postkolonialer Perspektiven nicht ein Aufbrechen auch dieses Fragekomplexes möglich und notwendig macht.16 Mir scheint Scott hier vor allem auf eine veränderte globale Situation zu verweisen, in der sich die Frage nach den die Repräsentationen bestimmenden Bedingungen nicht länger als Frage nach einer ,westlichen Herrschaft‘ stellen lässt. Vielmehr ist das neuartige und besondere an dieser Situation gerade, dass sie sich nicht länger als eine westliche beschreiben lässt, sondern dass ihre Bruchlinien sowohl ,Westen‘ wie ,Osten‘ durchziehen und gerade diese Trennung daher im Hinblick auf die Analyse der globalen Situation keinen analytischen Wert mehr beanspruchen kann. Nicht zuletzt aus diesem Grund können Ansätze, die von „multiple modernities“ oder „alternative modernities“ ausgehen, die Frage, was die Einheitlichkeit und Verflechtung der globalen Situation ausmacht, nicht ausreichend in den Blick nehmen.17 Doch wie könnte eine solche neue Frageperspektive „after postcoloniality“ aussehen? Und wie muss sie ihren Fokus setzen, um diese Herausforderung anzunehmen, ohne gleichzeitig die im Kontext des Postkolonialismus erreichten Einsichten und besonders die Kritik an jeglichen Essentialismen zurückzunehmen? Zum einen bleibt die Frage nach indigener agency vor dem Hintergrund kolonialer Machtverhältnisse weiterhin zentral, wobei sowohl indigener Widerstand gegen koloniale Herrschaft wie auch der indigene Beitrag zur Etablierung kolonialer Verhältnisse in den Fokus rücken müssen. Dennoch, so Scott, sollte sich zum anderen der Blick stärker darauf richten, wie das Terrain der gesellschaftlichen Auseinandersetzung durch die koloniale Situation an sich bereits verändert wurde. Mit einer solchen Forderung geht gleichzeitig einher, dass vor allem dieses Terrain selbst wieder stärker beachtet und theoretisiert werden muss: „What is at issue is not whether the colonized accommodated or resisted. What is at issue is how (colonial) power altered the terrain on which accommodation/resistance was possible in the first place.“18 Diese neue Frage nach der ,Veränderung der Spielregeln‘ ist es, die Scott für 15 Vgl. ebd., 14 – 15. 16 Vgl. ebd., 14, 8. 17 Vgl. dazu auch Liu, Lydia H., Introduction, in: dies. (Hg.), Tokens of Exchange. The Problem of Translation in Global Circulations, Durham 1999, 1 – 12, hier: 1. Siehe für eine detaillierte Auseinandersetzung mit den entsprechenden Theorien Knöbl, Wolfgang, Die Kontingenz der Moderne. Wege in Europa, Asien und Amerika, Frankfurt am Main 2007. 18 Scott, Refashioning Futures, 16.
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die heutige Situation „after postcoloniality“ als zentrale Herausforderung herausstellt. Die Infragestellung westlicher Repräsentationen kolonialer Verhältnisse wird damit nicht überflüssig oder ist zu einem Ende gekommen. Vielmehr ist es notwendig, die Frage auf den Rahmen auszudehnen, in dem solche Repräsentationen überhaupt entstehen konnten. Das Machtgefälle zugunsten des Westens führte zwar in keiner Situation zu einer vollständigen Durchsetzung europäischer Interessen und war andererseits auch nicht allein ein Produkt des westlichen Kolonialismus. Dennoch muss die Rolle der europäischen Expansion und die Überlegenheit westlicher Macht besonders für die Festlegung der ,Spielregeln des Diskurses‘ als Rahmen der kolonialen Moderne noch viel stärker berücksichtigt werden. Die westlichen Konzepte von Modernität bildeten (und bilden) den Hintergrund, vor dem der Streit um die Repräsentation westlicher und nichtwestlicher Modernen erst ausgetragen werden konnte: Rather than the anticolonial problem of overthrowing colonialism (or the West), or the decolonization of the West’s representation of the non-West, what is important for this present is a critical interrogation of the practices, modalities, and projects through which modernity inserted itself into and altered the lives of the colonized.19
Eine solche erneuerte Thematisierung der ,Moderne‘ fokussiert darauf, wie koloniale Herrschaft „reorganized the institutional terrain on which and the discursive frames through which collective life was conceived and lived.“20 Eine Analyse kolonialer Machtbeziehungen widmet sich vor allem der Frage, inwieweit moderne Formen der Macht „altered the terrain of struggle itself.“21 Modern power – governmental power in particular – is a form of power that operates not so much on the details of behavior as on the conditions in which behaviors are obliged to assume their form; it operates by bringing into being a new horizon – the social – in relation to which action is defined, experienced, and transformed.22
In einem neuen Fokus auf die Beschreibung genau dieses veränderten „terrain of struggle“ liegt die Bedeutung von Scotts Vorschlägen. Indem aber die (koloniale) ,Moderne‘ selbst zum Objekt der kritischen Untersuchung wird, stellt sich zum einen die Frage nach theoretischen Ressourcen für eine solche erneuerte Theoretisierung der ,Moderne‘ und zum anderen die Frage nach der Bedeutung, die dem ,Westen‘ bzw. ,Europa‘ und seiner historischen Rolle im Kontext einer solchen erneuerten Theoriebildung zugemessen wird.23 Zusammenfassend lässt sich somit festhalten: Scott stellt die Frage, ob in der gegenwärtigen Situation „after postcoloniality“ nicht auch die Frageper19 20 21 22 23
Ebd., 17, meine Hervorhebung. Ebd., 16. Ebd., 18. Ebd., 16. Vgl. ebd., 24.
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spektive angepasst, und damit über die Anliegen des Postkolonialismus hinausgegangen werden müsste. Die neue Frage, die in den Mittelpunkt tritt, wäre somit die, wie sich im Kontext der kolonialen Situation das soziale Terrain selbst verändert hat und wie sich diese Veränderungen beschreiben lassen. Scott sieht eine neue Notwendigkeit, die ,Moderne‘ zu theoretisieren und danach zu fragen, wie sich diese in die jeweiligen lokalen Verhältnisse eingeschrieben hat.
7.1.2 Talal Asad und die „Rekruten der Moderne“ Um eine Antwort auf diese Fragen zu entwickeln, greift Scott auf Vorarbeiten und Überlegungen von Talal Asad zurück. Dieser hat neben seinen ethnologischen Studien und den vielbeachteten Untersuchungen zur Genealogy of Religion24 und den Formations of the Secular25 schon Mitte der 1980er Jahre26 in einem Aufsatz mit dem Titel „Conscripts of Western Civilization“27 den Versuch unternommen, in der Debatte um die Rolle und Bedeutung des westlichen Kolonialismus und Imperialismus für die nicht-westliche Welt einen Perspektivenwechsel vorzuschlagen. Scotts Überlegungen zu einer erneuerten ,Theorie der Moderne‘ sind von diesen bisher nur wenig rezipierten Vorschlägen maßgeblich beeinflusst. So schreibt Asad zu Beginn dieses Aufsatzes: Today it is not merely „primitive cultures“ that are shattered by more powerful „civilization“; all societies that anthropologists study are being destroyed and remade by the forces that were unleashed by European imperialism and industrial capitalism. The modern world is now structured as a power domain in which political, economic, and ideological processes interact directly, regardless of distance, and where historical agents in very different places are obliged to address aspects of identical problems. To say this is not to assert that the globe is socially homogeneous, or that non-European societies have lost their cultural „authenticity“. Such claims have been made or denied by travelers, anthropologists, and political ideologues for generations. My point is a different one: that social and cultural variety everywhere increasingly responds to, and is managed by, categories brought into play by modern forces. If, as some anthropologists now put it, culture is always invented, if invention always opens up the possibilities for difference, then it should also be clear 24 Asad, Talal, Genealogies of Religion. Discipline and Reasons of Power in Christianity and Islam, Baltimore 1993. 25 Asad, Talal, Formations of the Secular. Christianity, Islam, Modernity, Stanford 2003. 26 Der Aufsatz erschien 1992, wurde laut David Scott aber bereits Mitte der 1980er Jahre verfasst. Vgl. Scott, Conscripts of Modernity, 251 (Fußnote 60). 27 Asad, Talal, Conscripts of Western Civilization, in: C.W. Gailey (Hg.), Dialectical Anthropology. Essays in Honor of Stanley Diamond. Band 1: Civilization in Crisis. Anthropological Perspectives, Gainesville 1992, 333 – 351.
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that the conditions of invention are no longer what they once were […]. More precisely, even if it is true that new cultural forms are being continuously invented in different societies, these societies now live in a single, shared world, a world brought into being by European conquest.28
An dieser Textpassage sind mehrere Aspekte bemerkenswert. Ausgangspunkt von Asads Überlegungen ist, dass die verschiedenen Gesellschaften der Erde heute alle Teil einer „single, shared world“ sind, deren Entstehung maßgeblich auf die europäische Welteroberung und den Kolonialismus zurückzuführen ist. Gleichzeitig wird mit dieser Feststellung keine globale Homogenität behauptet, die sich empirisch ja auch relativ einfach widerlegen ließe.29 Vielmehr weist Asad darauf hin, dass das Besondere an der heutigen – und man müsste im Blick auf Asads spätere Argumentation präzisieren: ,modernen‘ – Situation darin bestehe, dass die einzelnen Gesellschaften in ihrer Konfrontation mit den vom Westen ausgelösten Veränderungen zugleich zerstört wie auch transformiert würden, und dies vor allem im Bezug auf „categories brought into play by modern forces“. Die von Asad in den Blick genommene Entwicklung beschränkt sich damit nicht auf spezifische einzelne Veränderungen, sondern auf einen Wandel im Rahmen der Gesamtsituation. Bedeutsam sind in dieser Perspektive somit nicht unbedingt die überall erkennbaren einzelnen tiefgreifenden Veränderungen und Diskontinuitäten zu vorherigen Situationen, sondern vor allem die Tatsache, dass alle diese neuartigen Entwicklungen im Kontext einer einzigen ,modernen‘ Welt stattfinden. Das Novum der Moderne wird nicht darin gesehen, dass bestimmte soziale Phänomene erstmalig konstruiert und Traditionen ,erfunden‘ werden, sondern dass sich die Bedingungen dieser ,Erfindungsprozesse‘ grundlegend und in globalem Maßstab verändert haben. Asad selbst führt diese neue Rahmensituation auf die Entstehung einer Weltwirtschaft sowie auf den modernen Nationalstaat und dessen zentralisierte Formen der Regierung und Verwaltung zurück.30 So verfüge der im Europa zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert entstandene moderne Staat über eine historisch neuartige rechtliche Ordnung und eine damit verbundene spezifische Form von Macht, die nicht zuletzt neue Kategorien der Ordnung des Sozialen wie die des „Öffentlichen“ und des „Privaten“ hervorgebracht 28 Ebd., 333 – 334. 29 Es fällt auf, dass Asads Formulierungen hier erstaunlich nahe an dem sind, was Niklas Luhmann über die „Weltgesellschaft“ und die Kritik an einer solchen Vorstellung schreibt. Siehe auch die im Folgenden festgestellten Ähnlichkeiten zu John W. Meyers „world society“-Theorie. Es ließe sich daher die These vertreten, dass sich mit Asad ein vierter ,Entdecker der Weltgesellschaft‘ ausmachen lässt. Vgl. Greve, Jens/Heintz, Bettina, Die ,Entdeckung‘ der Weltgesellschaft. Entstehung und Grenzen der Weltgesellschaftstheorie, in: B. Heintz et al. (Hg.), Weltgesellschaft. Theoretische Zugänge und empirische Problemlagen, Stuttgart 2005, 89 – 119 und im Folgenden. 30 Vgl. Asad, Conscripts of Western Civilization, 334.
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hat.31 Auch wenn diese neue Form der Machtausübung nie vollständig durchsetzbar war und sich nie alle nun als ,Bürger‘ konstituierten Subjekte den Vorgaben eines solchen modernen Staates fügen wollten, war das Ziel und vor allem Ergebnis dieser Transformationen nicht eine vollständige Kontrolle jedes Einzelnen, sondern die Veränderung der Rahmenbedingungen, in denen Macht erlangt und eingesetzt werden konnte.32 Somit erfolgte auch der Widerstand gegen die Macht des Staates nicht zuletzt in dem Bewusstsein, dass die Bedingungen der Möglichkeit eines solchen Widerstandes zunehmend von den Rahmenbedingungen des Staates selbst abhängig waren.33 Diese neuartige Macht des Staates besteht nicht zuletzt in einer Umgestaltung der gesetzlichen Ordnung. Die ,Modernität‘ dieser Form der Gesetzgebung hängt mit der Art und Weise zusammen, wie durch diese Regelungen ein Möglichkeitsraum konditioniert wird: „in a modern state, laws are enacted not simply to command obedience and to maintain justice, but to enable or disable its population.“34 Trotz aller weiterhin bestehenden und sich neu entwickelnden Verschiedenheit geht mit dieser neuen Situation eine gewisse Vergleichbarkeit und Homogenität einher : All populations throughout the world are now divided into modern states with clearly defined borders, constituted in familiar ways, having comparable functions. Wherever a state does not have modern forms and functions, it is subjected to pressures – internal and external – to acquire them. I am not, of course, making the easily refutable claim that these states are all identical or that they are all constitutional democracies. It is not a matter for serious dispute that modern states differ greatly in the degree to which they allow the exercise of political liberties by their citizens – and that these differences have something to do with variations in socioeconomic class structure. But my concern is not with the question that preoccupies so many political observers of the non-European world, of what it is precisely that makes certain contemporary states repressive – and therefore ,unsuccessful‘. I wish here simply to emphasize some of the distinctive features of modern states that all populations now share. These features can be summed up by saying that modern states destroy and rebuild moral and political options in characteristic ways.35
Im Kontext eines modernen Staats erscheinen alle Individuen als Bürger gleichen Ranges, die vom Staat als Teil des souveränen Körpers des Volkes mit spezifischen Rechten ausgestattet sind und darüber hinaus keiner übergeordneten Macht unterstehen. Das Recht wird in diesem Sinne zu einem In31 32 33 34 35
Vgl. ebd., 334 – 335. Vgl. ebd., 335. Vgl. ebd. Ebd. Ebd., 335 – 336. Auch hier fällt auf, wie sehr diese Formulierungen denjenigen entsprechen, die heute im Kontext der Weltgesellschaftstheorien verwendet werden, in diesem Fall der „world society“-Theorie. Siehe hierzu Meyer, John W., Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, Frankfurt am Main 2005.
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strument, mithilfe dessen die Bürger als „freie Akteure“ konstituiert werden, deren gesellschaftliches Handeln als politisches Handeln neu konstituiert wird.36 In einem Prozess simultaner Zerstörung und (Re-)Konstruktion der sozialen Verhältnisse sind zahlreiche neue Möglichkeiten entstanden und alte zerstört worden: The changes do not reflect a simple expansion of the range of individual choice, but the creation of conditions in which only new (i. e., modern) choices can be made. The reason for this is that the changes involve the reformation of subjectivities and the reorganization of social fields in which subjects act and are acted upon.37
Die Veränderung von der Asad hier spricht, lässt sich somit nicht vorrangig an spezifischen einzelnen Veränderungen ablesen, sondern vielmehr an dem neuen Rahmen, den die moderne Welt eröffnet hat: Es handelt sich um eine Situation, die sich dadurch auszeichnet, dass nun nur noch ,moderne‘ Entscheidungen getroffen werden können.38 Es ist für das Verständnis von Asads Argumentation entscheidend, dass es ihm in all diesen Überlegungen weder um die moralische Frage nach der Brutalität der westlichen Kolonialregime noch um eine Auseinandersetzung über die absolute oder nur eingeschränkte Reichweite kolonialer Macht und die Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines Widerstandes geht: My concern instead is to stress something that is not in dispute: that a new world has been forcibly created as a consequence of the West’s imperial adventure, and that the categories (political, economic, cultural) in terms of which that world has increasingly come to live have been put in place by characteristic modalities of modern power. Destruction – whether it was carried out by Europeans or by nonEuropean rulers anxious to defend themselves by attempts at Westernization – interests me here only to the extent that it is integral to modern power, especially the power of the modern state.39
All dies führt Asad schließlich zu seinem Bild von ,Rekruten‘ (conscripts) im Gegensatz zu ,Freiwilligen‘ (volunteers) der Moderne: The image of „conscripts“, as opposed to „volunteers“, does not suggest merely the recruits’ initial attitude, but also the nature of the army and the war it has been fighting. To instill the desire for progress in the non-European world, it was necessary to inscribe modern Western categories into the administrative and legal discourses of that world. It was through such discursive powers that people undergoing „modernization“ were compelled to abandon old practices and turn to new ones.“40 36 37 38 39 40
Vgl. Asad, Conscripts of Western Civilization, 336. Ebd., 337. Vgl. ebd. Ebd., 340. Ebd.
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Gerade weil die vorliegende Arbeit sich im Folgenden dieser Argumentation anschließen wird, ist es wichtig – mit Asad – darauf hinzuweisen, dass die Betonung dieser grundlegenden Transformation nicht etwa als Behauptung der Durchsetzung einer weltweiten Homogenität und einer unproblematischen und unumstrittenen ,Modernisierung‘ zu verstehen ist. Vielmehr, etwa im Fall der Reform von Rechtssystemen, ist das Ergebnis dieser neuen Rahmenbedingungen eine oft widersprüchliche Situation, in der die Reformen außereuropäischer Rechtssysteme zu einer Vielzahl von höchst widersprüchlichen lokalen Entwicklungen geführt haben.41 Zu betonen wäre trotz dieses Fokus auf entscheidende Veränderungen daher die grundlegende Ambiguität ,der Moderne‘.
7.1.3 Moderne „Gouvernementalität“ und die Entstehung einer ,Gesellschaft‘ Asads oben skizzierte Perspektive auf die ,Moderne‘ entwickelt Scott am Beispiel des Ceylons des 19. Jahrhunderts weiter. Er greift dazu vor allem auf Michel Foucaults Konzept der „Gouvernementalität“ zurück.42 Anders als etwa Partha Chatterjee, dem es gerade darauf ankommt, zwischen dem ,modernen‘ (europäischen) und dem ,kolonialen‘ Projekt zu unterscheiden,43 um das Spezifische der kolonialen Machtausübung in den Blick zu nehmen, geht es Scott darum, quer zu dieser Unterscheidung die Spezifika der modernen Machtformen zu beschreiben, und damit eine Diskontinuität und eine Transformation hin zu einer modernen kolonialen Macht im Verlauf der kolonialen Projekte aufzuweisen. Das Problematische an Chatterjees Überlegungen sei, dass – gegen dessen Intention – plötzlich ,das Koloniale‘ als eine homogene Einheit erscheine. Statt dessen sei aber vielmehr eine Perspektive notwendig, die es erlaube – trotz sicherlich vorhandener Gemeinsamkeiten zwischen kolonialen Projekten an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten – im zeitlichen Verlauf gerade die Diskontinuitäten auch innerhalb der kolonialen Projekte wahrzunehmen. Nur auf diese Weise lasse sich ,der‘ Kolonialismus in seinen historisch variablen Konfigurationen beschreiben, und sich damit ein moderner Transformationsprozess in der Form der kolonialen Machtausübung theoretisch fassen.44 In diesem Sinne steht bei 41 Vgl. ebd., 342. 42 Siehe Foucault, Michel, Geschichte der Gouvernementalität, 2 Bände, Frankfurt am Main 2006. 43 Siehe Chatterjee, Partha, The Nation and Its Fragments. Colonial and Postcolonial Histories, Princeton 1993. Erst eine solche scharfe Unterscheidung zwischen „colonial“ und „modern“ ermöglicht es, das Spezifische des Kolonialismus in den Blick zu bekommen, und die „colonial power“ somit nicht einfach als Teil der „modern power“ zu verstehen und Europa in dieser Weise erneut als Zentrum der Betrachtung vorauszusetzen. Vgl. dazu auch Scott, Refashioning Futures, 27. 44 Vgl. ebd.
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Scott die Diskontinuität zwischen den ,vormodernen‘ und den ,modernen‘ kolonialen Projekten im Zentrum. Im Anschluss an Foucaults Beschreibung der modernen Macht wird diese zugleich spezifiziert wie historisiert und erscheint nicht länger als Ausdruck einer zeitlosen politischen Rationalität sondern als eine historisch in ihrer Besonderheit beschreibbare Machtformation. Um diese Charakteristika zu beschreiben, fragt Scott zum einen nach dem Ansatzpunkt („point of application“) dieser Macht und zum anderen nach ihrem Operationsfeld („field of operation“).45 Anders als die vormoderne Macht, die direkt am Körper des Subjekts angesetzt hat, wie Scott in Anlehnung an Asad und Foucault beschreibt, wirkt die moderne Macht primär über eine Veränderung der Bedingungen, in denen sich diese Körper befinden. In diesem Sinne ist moderne Machtausübung der Versuch, diese Bedingungen zu verändern, und damit die Subjekte einer Macht zu unterwerfen als deren Ergebnis sie sich selbst verändern und ,verbessern‘. Diese ,indirekte‘ Macht ist das Spezifische des Ansatzpunktes moderner Machtverhältnisse.46 Eng mit diesem Ansatzpunkt verbunden ist das Operationsfeld moderner Macht. Scotts Ansicht nach ist das entscheidende – wenn auch nicht das einzige – solche Feld die Zivilgesellschaft („civil society“). Gemeint ist damit vor allem die Vorstellung einer öffentlichen und unterscheidbaren Sphäre des ,Sozialen‘, die auf verschiedene zentrale Veränderungen verweist: In other words, the modern concept of civil society amounted to an attempt to think the emerging forms of relation that were organized by new regularities, new forms of skeptical knowledge, new grounds for judgment, and new communicative technologies – the emerging forms of a relation that signal, in a phrase, „the rise of the social“, as Hannah Arendt aptly called it.47
Indem die Entstehung dieser modernen Öffentlichkeit unter der Foucaultschen Perspektive der Macht in den Blick genommen wird, verweist Scott darauf, dass dieser Aspekt in Habermas’ klassischer Beschreibung zu wenig beachtet wird.48 Denn genau diese neuartige Öffentlichkeit ist das „field of operation“ der modernen Macht. Was aber in dessen Analyse gerade nicht in den Blick kommt, ist die enge Verknüpfung der neuen Öffentlichkeit mit dieser modernen Form der Macht als Bedingung ihrer Möglichkeit: And therefore, sociologically rich as it [Habermas Studie, A.H.] may appear to be as an historical account, what gets elided from its comprehension of modernity is of course power – power understood not as the antithesis of freedom and reason (in 45 46 47 48
Vgl. ebd., 32. Vgl. ebd., 34. Ebd., 35. Siehe Habermas, Jürgen, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied 1962.
Die Notwendigkeit einer globalen kulturwissenschaftlichen Perspektive 381 which freedom emerges as a product of the progressive rationalization of power), but power as the general name of a relation in which differential effects of one action upon another are produced. More specifically, what gets elided is the emergence of a new – that is, modern – political rationality in which power works not in spite of but through the construction of the space of free social exchange, and through the construction of a subjectivity normatively experienced as the source of free will and rational, autonomous agency.49
Im Anschluss an Michel Foucaults Studien zur „Gouvernementalität“ lässt sich somit eine Form der Macht in den Blick nehmen, die im Feld der Öffentlichkeit und der „civil society“ nicht nur auftritt, sondern dieses Feld überhaupt in seiner modernen Form erst hervorbringt.50 Dieses Feld ist es, das für Scotts Fragestellung den Rahmen bildet und auf den die Analyse zielen sollte. In den Blick kommt damit „the principle of the new political rationality that required and indeed constructed the domain of ,society itself.‘“51 Im Anschluss an diese Überlegungen zur Spezifik der modernen Macht lässt sich nun auch im Kontext des Kolonialismus eine neuartige Perspektive entwickeln. Während sich hier die klassischen modernisierungstheoretisch orientierten Darstellungen oftmals darauf konzentrieren, herauszuarbeiten auf welche Weise durch ,Modernisierung‘ eine Vielzahl an neuen Möglichkeiten für die Akteure der jeweiligen Situationen hervorgebracht werden, zielt Scotts Frage auf eine tieferliegende Ebene und interessiert sich für die „reorganization of the terrain in which choice as such is possible“.52 In den Blick kommt somit jeweils „the specificity of the apparatus of power – in relation to
49 Scott, Refashioning Futures, 36. 50 Vgl. ebd. Siehe in diesem Zusammenhang aus Sicht der Systemtheorie auch Nassehi, Armin, Der soziologische Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main 2006. Besonders im Licht der im Folgenden präsentierten Auseinandersetzung mit systemtheoretischen Entwürfen einer Weltgesellschaftstheorie ist diese alternative Perspektive, deren Interesse aber in gleicher Weise darauf zielt, die ,Gesellschaft‘ als ein historisches Phänomen aufzuweisen, sehr aufschlussreich. 51 Scott, Refashioning Futures, 41. Siehe hier erneut Nassehi, Der soziologische Diskurs. Im Vorgriff auf die im Folgenden entwickelte Argumentation lässt sich sagen, dass die von Scott vorgeschlagene Perspektive davon profitieren könnte, Anschluss an eine Gesellschaftstheorie zu suchen, und im besten Falle an eine Form der Theorie, welche gleichzeitig die Historizität von Gesellschaft selbst in den Blick zu nehmen erlaubt. Aus dieser Perspektive braucht es – trotz der aus postkolonialer und kulturwissenschaftlicher Sicht vorgebrachten Kritik an ,universalistischen‘ Gesellschaftstheorien – gerade für die ,Moderne‘ eine Gesellschaftstheorie, da – wie man verkürzt sagen könnte – nicht zuletzt in Folge der Auswirkungen der modernen Macht eine solche ,Gesellschaft‘ entstanden ist. In diesem Sinne enthält auch die Foucaultsche Analyse, an die Scott hier anschließt, bereits gesellschaftstheoretische Überlegungen. Dennoch denke ich, dass eine ausgearbeitete Gesellschaftstheorie mehr beschreiben können muss als dieses Charakteristikum der ,politischen Macht‘. Und genau an dieser Stelle bietet sich die Weltgesellschaftheorie an, die auf einer systemtheoretischen Perspektive basiert, welche diese Historizität von Gesellschaft mitbeobachten kann, wie Nassehi eindrücklich aufzeigt (ebenda). 52 Scott, Refashioning Futures, 26.
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which the colonized constructed their own very varied forms of response.“53 So wird sichtbar, that with the formation of the political rationality of the modern colonial state, not only the rules of the political game but the political game itself changed – not only did the relation of forces between colonizer and colonized change, but so did the terrain of the political struggle itself. And therefore, on my view, not only accommodation but resistance as well would have to articulate itself in relation to this comprehensively altered situation.54
Einer in dieser Weise neu perspektivierten Analyse kann es somit gelingen, Europa und die mit ihm verbundene westliche Macht einerseits zu historisieren, indem eine spezifisch moderne Macht zu identifizieren versucht wird, und gleichzeitig ,Europa‘ und das mit ihm verbundene Machtgefälle dennoch als einen zentralen Fokus beizubehalten. Nicht zuletzt aufgrund der Bedeutung, die diesem Machtgefälle für die Konstitution kolonialer Realität zukommt, kann – so Scott – die Antwort auf die Kritik am ,Eurozentrismus‘ eben gerade nicht ein Absehen von der Zentralstellung Europas für den Kolonialismus sein. Das Ziel muss vielmehr ein genaueres Verständnis europäischer Vergangenheit und der europäischen Moderne sein, die zwar nicht als die ,ursprüngliche Moderne‘ verstanden werden sollte (von der ,nicht-westliche Modernen‘ dann nur sekundär abgeleitet sind), die aber als Grundlage kolonialer Machtverhältnisse in ihrer Bedeutung für die nicht-westliche Welt dennoch nicht vernachlässigt werden kann: „In effect, then, not less Europe, but a differently configured one; not a reified Europe, but a problematized one.“55 Gerade aufgrund des massiven Einflusses, welchen Europa und die Form moderner Machtverhältnisse auf die außereuropäische Welt hatten, bleibt die Analyse Europas entscheidend, um die außereuropäischen ,Antworten‘ auf den Kolonialismus zu verstehen: „those ,structures, projects, and desires‘ of Europe generated changing ways of impacting the non-Western world, changing ways of imposing and maintaining rule over the colonized, and therefore changing terrains within which to respond.“56 Diese Veränderung der ,terrains of response‘ ist für Scott das zentrale Kennzeichen der modernen Form der (kolonialen) Macht: if modern power is concerned with disabling nonmodern forms of life by dismantling their conditions, then its aim in putting in place new and different conditions is above all to produce governing-effects on conduct. Modern power seeks to arrange and
53 54 55 56
Ebd., 32. Ebd., 31. Ebd. Ebd., 31 – 32.
Die Notwendigkeit einer globalen kulturwissenschaftlichen Perspektive 383 rearrange these conditions (conditions at once discursive and nondiscursive) so as to oblige subjects to transform themselves in a certain, that is, improving, direction.57
Der Kolonialismus und die kolonialen Projekte erscheinen also infolge einer solchen Perspektive nicht mehr als ein einheitliches Phänomen, das einer von Beginn an identischen Logik der „rule of colonial difference“ folgt. Vielmehr erscheint nun im Verlauf der Kolonialgeschichte ein klarer Bruch in der Neuformierung eines spezifischen ,Feldes des Sozialen‘ als Ergebnis einer neuartigen Macht der kolonialen Gouvernementalität. An die Stelle der Ausbeutung der Körper der kolonialen Untertanen durch die Zerstörung und Neuformierung des kolonialen Raums tritt nun in der ,Moderne‘ die Produktion von ,Regierungseffekten‘ auf das Verhalten der kolonialen Subjekte.58 Anders als in der Frühphase des Kolonialismus zielt die Kolonialherrschaft etwa im britischen Reich nun nicht mehr nur darauf, eine beschränkte Zahl spezifischer englischer Vorstellungen, Prozeduren und Verfahrensweisen an klar lokalisierbaren Orten einzuführen. Vielmehr war die Zielsetzung nun viel umfassender und universaler und bezog sich auf „the systematic redefinition and transformation of the terrain on which the life of the colonized was lived.“59 Eine entsprechende Analyse verweist dann nicht auf einen teleologischen Prozess der ,Modernisierung‘, über den die Entstehung neuer Möglichkeiten für die koloniale Bevölkerung beschrieben wird, sondern orientiert sich statt dessen an der Verschiebung der Achse der Macht und dem Wechsel von einer Form der politischen Rationalität („sovereignty“) hin zu einer anderen („Gouvernementalität“).60 Im Kontext der vormodernen Machtausübung kam dem täglichen Leben der kolonialisierten Völker keine besondere Aufmerksamkeit zu und so wurde den lokalen ,Gebräuchen‘, indigenen ,Unterscheidungen‘ und den ,religiösen Praktiken‘ keine große Bedeutung zugemessen – jedenfalls solange diese einer wirtschaftlichen Ausbeutung nicht direkt im Wege standen. In starkem Kontrast hierzu wurde im ,modernen Kolonialismus‘ das im Verlauf genau dieses Prozesses erst hervorgebrachte Feld der ,Gesellschaft‘ aber nun der Punkt an dem die moderne Machtausübung ansetzte.61 57 58 59 60 61
Ebd., 34. Vgl. ebd., 40. Ebd., 41. Vgl. ebd., 43. Vgl. ebd., 43 – 44. Aus religionswissenschaftlicher Sicht ist dieser Aspekt nicht zuletzt auch deshalb interessant, weil er auf eine Analysestrategie hinweist, die erklären könnte, warum die Festlegung in der Frage, ob ein kolonial beherrschtes Volk nun ,Religion‘ aufweise oder nicht, zwar auch in der Vormoderne durchaus hoch bedeutsam war – etwa für die Frage ob die ,Eingeborenen‘ deshalb Menschen seien oder nicht –, aber mit dem Aufkommen der modernen Macht noch einmal in völlig anderer Weise in den Mittelpunkt trat und jetzt entschieden werden musste, da die entsprechenden Einteilungen nun nicht länger mehr oder weniger ignoriert und flexibel gehalten werden konnten, sondern als Grundlage der Konstituierung eines entsprechenden Feldes des Sozialen in Gebrauch genommen und entsprechende Traditionen in diesem Prozess als ,Religionen‘ in dieses Feld inkorporiert wurden. Davor – so ließe sich argumentieren
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Im weiteren Verlauf von Scotts Analyse, in der er die Frage nach der Konstitution dieser neuen Arena des Sozialen auf einer detaillierteren Ebene stellt, taucht eine weitere Problematik auf, die Scott zwar ebenfalls aus Foucaults Ansatz heraus entwickelt, die aber gerade im Kontext der vorliegenden Arbeit von Bedeutung ist. So erschien zeitgenössischen Beobachtern im 18. Jahrhundert – wie Scott im Anschluss an James Tully feststellt – als einer der interessantesten Aspekte ihrer ,Gesellschaft‘ der „seeming self-sustaining character of its basic institutions“.62 Dieser wurde von diesen Autoren zumeist auf die mit der Arbeitsteilung einhergehende Spezialisierung zurückgeführt.63 Scott betont hierbei, dass zu diesen „basic institutions“ nicht zuletzt auch die Regierung („government“), die Wirtschaft („economy“) sowie das Recht („the judiciary“) gezählt wurden. Und genau diese Bereiche waren es, die im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert als durchaus unterschiedliche aber dennoch miteinander verbundene Bereiche erst hervorgebracht wurden: „each with its own level of rationality, its own laws of motion, and its own corresponding sciences.“64 Gleichzeitig, so Scott sind genau dies die zentralen Bereiche, die das Operationsfeld der modernen Macht betrafen: „They were, moreover, precisely those domains that the political rationality of governmental power sought at once to construct and work through in order to induce its improving effects on colonial conduct.“65 In genau diesem Sinne können sie also als Teil des Projekts der modernen kolonialen Machtausübung gelten: „the new target it would now aim at bringing within its reach, the new knowledges it would now depend upon, the new technologies it would now seek to deploy, the new domains it would now need to construct as the field of its operations.“66 Diese ausführlichen Zitate lassen erkennen, dass für Scott in diesem Zusammenhang die Entstehung bestimmter gesellschaftlicher Bereiche als besonderes Kennzeichen der von ihm beschriebenen ,Moderne‘ erscheint, und dass hier gleichzeitig deren Eigenlogik und ihr „self-sustaining character“ erwähnt wird.67 Im Anschluss an diese Bestimmung widmet er sich dann am
62 63 64 65 66 67
– konnte ,Religion‘ auch einfach als ,reine Differenz‘ verstanden werden. Siehe dazu auch Chidester, David, Savage Systems. Colonialism and Comparative Religion in Southern Africa, Charlottesville 1996. Tully, James, An Approach to Political Philosophy. Locke in Contexts, Cambridge 1993, 92. Vgl. Scott, Refashioning Futures, 39. Ebd., 44. Ebd. Ebd. Es lässt sich die Frage stellen, ob Scotts an Foucault orientierte Perspektive hier nur marginal ergänzt wird, oder ob dieser nicht vielmehr darauf stösst, dass auch seine Analyse der Moderne auf ein Differenzierungsmodell nicht verzichten kann. Diese ,differenzierten Bereiche‘ könnten im Rahmen des Foucaultschen Ansatzes zwar auch als ,Diskurse‘ gefasst werden, gleichzeitig scheint aber eine spezifische ,Differenzierungstheorie‘ und damit verbundene ,Makroperspektive‘, die über eine Analyse isolierter Diskurse hinaus geht, hier anknüpfen zu können.
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Beispiel Ceylons einer kurzen überblickshaften Analyse dieser drei Bereiche.68 Auch Scott stösst hier somit im Rahmen der Frage nach einer ,Theoretisierung der Moderne‘ auf das Thema der Differenzierung. Gleichzeitig betont er, dass eine Beteiligung an dieser neuen, ,differenzierten‘ Form der Gesellschaft dann unter den neuen Verhältnissen eben nur noch innerhalb dieser Arena möglich ist: The crucial point here is not whether natives were included or excluded so much as the introduction of a new game of politics that the colonized would (eventually) be obliged to play if they were to be counted as political. And one of the things the new game of politics came to depend upon was the construction of a legally instituted space where legally defined subjects could exercise rights, however limited they were.69
Ein besseres Verständnis der Entstehung dieser ,modernen Verhältnisse‘ ist auch deshalb geboten – und mit diesem Hinweis lässt sich die von Scott aufgezeigte Perspektive wieder zurückführen auf das, was zu Beginn dieses Abschnitts über den Fragehorizont der „postcolonial present“ gesagt wurde –, weil wir uns selbst gegenwärtig noch immer im Horizont dieser ,Moderne‘ bewegen: „[it] remains, if in a tenuous and embattled way, our postcolonial present.“70 Scott schlägt hier somit eine Perspektive vor, in der das moderne koloniale Projekt als ein Versuch verstanden wird, nicht nur spezifische einzelne Veränderungen zu institutionalisieren, sondern „to transform and redefine the very conditions of the desiring subject“.71 Auf diese Weise war nicht nur sichergestellt, dass mögliche Widerstände gegen die koloniale Neuordnung außereuropäischer Verhältnisse unterdrückt oder zumindest stark reduziert werden konnten, und gleichzeitig eine Akkommodation an die koloniale Situation gefördert wurde. Vielmehr wurde darüber hinaus dafür gesorgt, dass beides – Widerstand und Akkommodation – nur mehr unter Bezug auf genau die Kategorien und Strukturen geäußert werden konnte, die letztlich in diesem Kontext einer modernen Machtformation erst hervorgebracht wurden. Hier findet sich daher auch die eigentliche Diskontinuität innerhalb des kolonialen Projekts, welche dessen ,Moderne‘ ausmacht: „[the] old footing was systematically displaced by a new one such that the old would now only be imaginable along paths that belong to new, always-already transformed, sets of coordinates, concepts, and assumptions.“72 Und dies – dass das ,Alte‘ nun nur mehr im Bezug auf Kategorien vorstellbar war, die selbst bereits der neuen Ordnung angehörten – gilt, und dies führt zurück zum grundsätzlichen An68 Scott behandelt zunächst ,Politik‘ (ebd., 44 – 46), dann ,Wirtschaft‘ (ebd., 46 – 48) und ,Recht‘ (ebd., 48 – 51). Auf ,Religion‘ geht er im darauf folgenden Kapitel ausführlich ein (ebd., 53 – 69). 69 Ebd., 45. 70 Ebd., 52. 71 Ebd. 72 Ebd.
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liegen der vorliegenden Arbeit, auch für den modernen globalen Religionsdiskurs und die sich darin formierenden ,Religionen‘. Die Auseinandersetzung mit David Scotts Vorschlägen zu den Herausforderungen und der gleichzeitigen Notwendigkeit einer global orientierten kulturwissenschaftlichen Theoriebildung in der gegenwärtigen Lage „after postcoloniality“ verweist somit auf folgende Punkte: Eine ,Theorie der Moderne‘: Als einen „attempt to shift the conceptual register or alter the narrative frame“73 lässt sich Scotts Anliegen in einer allgemeinen Formulierung zusammenfassen. Aus dieser Forderung nach einem neuen Rahmen für eine ,post-postkoloniale‘ Theorieperspektive lässt sich gleichzeitig die Forderung nach einer Form der Theorie ableiten, die sich – trotz der Unverzichtbarkeit mikroanalytisch ausgerichteter Detailstudien – eben auch für eine Theoretisierung dieses globalen Rahmens interessiert. Und dieser Rahmen, so kann das Ergebnis der Auseinandersetzung mit Scott hier zusammengefasst werden, ließe sich trotz aller Kritik an diesem Begriff und Konzept weiterhin als die Moderne beschreiben. Benötigt wird daher im weitesten Sinne eine erneuerte und kulturwissenschaftlich anschlussfähige Theorie der Moderne.74 Weltgesellschaftstheorien als globale Perspektive: Die Theoretisierung muss dabei auf einer Ebene erfolgen, welche Veränderungen in einer globalen Dimension in den Blick nehmen kann, ohne gleichzeitig notwendig einen starken Universalismus und Determinismus zu implizieren. Als Theorie zielt diese gleichzeitig nicht auf eine detailgetreue ,Repräsentation der Wirklichkeit‘, sondern auf den Versuch, eine Möglichkeit der Beschreibung zu eröffnen. In eine solche Richtung weist etwa auch Scotts Anmerkung, dass die Frage dann zum Beispiel nicht sein könne, wie die ,Gesellschaft‘ verändert wird, sondern wie die ,Gesellschaft‘ als das, was wir heute darunter verstehen, überhaupt erst hervorgebracht wurde. Sowohl der kurze Blick auf die Überlegungen Asads als auch die daran anknüpfenden Beobachtungen Scotts haben gezeigt, dass die von den beiden Autoren geforderte Frage nach dem ,Rahmen‘ eine weitergehende Theoretisierung der „single, shared world“ (Asad) erfordert, die unter anderem durch westlichen Imperialismus und Kolonialherrschaft entstanden 73 Ebd., 41. 74 Hier ist es wichtig, noch einmal festzuhalten, dass mit dem Begriff der Moderne zunächst auf die Notwendigkeit einer solchen Theoretisierung verwiesen werden soll, und nicht primär auf die Tradition der Modernisierungstheorie. ,Moderne‘ ist hier ein Platzhalter für die Herausforderungen, die mit einem solchen Interesse an einer globalen Theorieperspektive einhergehen. Gleichzeitig wird im Folgenden vorgeschlagen, diesen Rahmen, und damit auch den Begriff der Moderne an eine Theorie funktionaler Differenzierung zu binden. So schreibt Armin Nassehi: „Wenn es eine zentrale theoretische Kategorie für die Beschreibung gesellschaftlicher Modernität gibt, dann kommt als einzige Kandidatin sicher Differenzierung in Frage“ (Geschlossenheit und Offenheit. Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft, Frankfurt am Main 2003, 146). Siehe auch das Kapitel „Modernity“ in Cooper, Frederick, Colonialism in Question. Theory, Knowledge, History, Berkeley 2005, 113 – 149.
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ist. Nicht zuletzt aus diesem Grund bietet sich mit den Weltgesellschaftstheorien der Anschluss an eine Theorieform an, die genau dieses Problem in den Blick zu nehmen versucht. Sie werden daher im nächsten Abschnitt detailliert diskutiert. Die Notwendigkeit einer Differenzierungstheorie: Auch Scott weist darauf hin, dass die Herausbildung bestimmter autonomer Bereiche der ,Gesellschaft‘ explizit als ein historisches Phänomen betrachtet werden muss. Die von ihm als Grundlage der Betrachtung gewählte Foucaultsche Theorie bietet jedoch wenig Möglichkeiten, diese einzelnen ,Bereiche‘ und deren Entstehung gleichzeitig in ihren Spezifika wie auch in ihren Zusammenhängen zu beschreiben. Die hier geforderte ,Theorie der Moderne‘ müsste jedoch auch diese Dimension abdecken können. Auch hier bietet der Anschluss an Weltgesellschaftstheorien, speziell in ihrer Luhmannschen Fassung, die Möglichkeit, dieser Frage mit Bezug auf ein bereits vorhandenes und mit hoher begrifflicher Komplexität ausgestattetes Theorieprogramm nachzugehen. Denn als Theorie der Moderne wäre die Weltgesellschaftstheorie Niklas Luhmanns primär zu verstehen als eine Theorie funktionaler Differenzierung.
7.2 Weltgesellschaftstheorie als ,Theorie der Moderne‘ 7.2.1 Zur Geschichte der Weltgesellschaftstheorien Der grundlegende Ausgangspunkt der Theorietraditionen, die sich unter dem Begriff Weltgesellschaftstheorien zusammenfassen lassen, ist die Überzeugung, dass die soziale Welt nicht länger als in einzelne Gesellschaften unterteilt beschrieben werden sollte, sondern dass sie in ihrer Gesamtheit in den Blick genommen werden muss,75 was durch die Bindung des Begriffs der ,Gesellschaft‘ an den Nationalstaat lange verhindert wurde.76 Schon in den 1980er Jahren wurde allerdings, wie Jens Greve und Bettina Heintz in ihrem Aufsatz über die „Entdeckung der Weltgesellschaft“ rekonstruieren, als Alternative zu diesem Modell ein „doppelter Perspektivenwechsel“ gefordert: Der Wechsel von einer nationalen auf eine globale Analyseebene müsse einhergehen mit einem Wechsel zu einem theoretischen Modell welches es erlaube, den globalen Zusammenhang fortan als Einheit und als eigenständigen Untersuchungsgegenstand in den Blick zu nehmen, und somit globale Strukturen 75 Zur Weltgesellschaftstheorie vgl. neben der im Folgenden genannten Literatur auch Stichweh, Rudolf, Die Weltgesellschaft. Soziologische Analysen, Frankfurt am Main 2000; Wobbe, Theresa, Weltgesellschaft, Bielefeld 2000; Stichweh, Rudolf, Das Konzept der Weltgesellschaft. Genese und Strukturbildung eines globalen Gesellschaftssystems, Rechtstheorie 39, 2008, 329 – 355. 76 Vgl. Greve/Heintz, Die ,Entdeckung‘ der Weltgesellschaft, 89.
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nicht auf die Nationalstaaten zurückzuführen, sondern selbst als einen kausal wirksamen Wirklichkeitsbereich zu verstehen.77 Bereits in dieser frühen Phase wurde somit das gefordert und beschrieben, was Greve und Heintz als die „Grundprämissen einer soziologischen Weltgesellschaftstheorie“ bezeichnen: 1. Die Entdeckung des globalen Zusammenhangs als neues und eigenständiges Untersuchungsobjekt. 2. Die Vorstellung, dass die globale Ebene Eigenschaften aufweist, die sich von denjenigen der sie konstituierenden Einheiten und Prozesse unterscheiden und auch nicht auf diese zurückzuführen sind (Emergenzthese). 3. Die Annahme, dass die globalen „sozialen Tatsachen“ kausal wirksam sind und auf die tiefer liegenden Einheiten und Prozesse einwirken (Makrodetermination), und 4. die Auffassung, dass Weltgesellschaftsanalyse einen makrosoziologischen Bezugsrahmen erfordert.78
Weitreichende Ansätze zu einer diese Prämissen voraussetzenden Form der Theorie waren bereits in den 1980er Jahren entstanden, und zwar, wie Greve und Heintz beschreiben, unabhängig von einander in drei unterschiedlichen Theorie- und Forschungszusammenhängen innerhalb der Soziologie: Im Rahmen der soziologischen Systemtheorie Niklas Luhmanns, der „world polity“-Forschung der Stanforder Arbeitsgruppe um John W. Meyer sowie der Weltgesellschaftstheorie von Peter Heintz.79 Auch griff die entsprechende Diskussion auf bereits vorhandene Theorietraditionen zurück und entwickelte sich zum Teil in expliziter Auseinandersetzung mit existierenden Vorschlägen, wie etwa der Weltsystemtheorie von Immanuel Wallerstein.80 Den klassischen Modernisierungstheorien lagen drei gemeinsame Annahmen zugrunde: Modernisierung wurde als endogener Prozess verstanden, der innerhalb von Gesellschaften stattfindet und von deren innerer Dynamik selbst hervorgebracht wird; die einzelnen Länder dienten als grundlegende Analyseeinheiten; und schließlich wurde Modernisierung als eine irreversible und notwendige Phasenfolge von universeller Gültigkeit verstanden, die in absehbarer Zukunft zu einer weltweiten Konvergenz und Homogenisierung führen würde.81 Solche klassischen Modernisierungstheorien wurden spä77 Vgl. ebd., 89 – 90. 78 Ebd., 90. 79 Vgl. ebd. Siehe den Abschnitt 7.1.2 der vorliegenden Arbeit für die These, dass auch von Talal Asad etwa zur gleichen Zeit die Grundzüge einer Weltgesellschaftstheorie entwickelt wurden. 80 Greve/Heintz beschreiben, wie sich viele der dann im Rahmen der Weltgesellschaftstheorien zusammengeführten theoretischen Modelle und Intentionen bereits in früheren Diskussionen, vor allem im Kontext der ,Theorien des internationalen Systems‘ und der Auseinandersetzung mit der Modernisierungstheorie im Kontext der Wallersteinschen Weltsystemtheorie und der Dependenztheorien entwickelt haben. Die Übertragung des Gesellschaftsbegriffs auf eine globale Ebene findet sich dort etwa als „society of states“ oder „internationale Gesellschaft“. Vgl. ebd., 91 – 100. 81 Vgl. ebd., 96. Siehe als Überblick zu Modernisierungtheorien auch Degele, Nina/Dries, Christian, Modernisierungstheorie. Eine Einführung, München 2005.
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testens seit dem Ende der 1960er Jahre zunehmend kritisiert. Dabei wurde vor allem die diesen Theorien zugrunde liegende Unterscheidung von ,Tradition‘ und ,Moderne‘ in Frage gestellt, was sich mit Zweifeln an der Entwicklung hin zu einer Konvergenz aller Länder auf eine einheitliche ,moderne Gestalt‘ verband. Auch wurde die vorausgesetzte Endogenität und die Vorstellung einer gleichartigen ,natürlichen‘ Dynamik aller Modernisierungsprozesse zunehmend von der Annahme von Pfadabhängigkeiten abgelöst.82 Neben der wachsenden Kritik innerhalb der Modernisierungstheorie selbst, entwickelten sich zwei von anderen Grundvoraussetzungen ausgehende Theorien zu bedeutenden Paradigmen. Zum einen hatte sich innerhalb der dependenztheoretischen Schule die Aufmerksamkeit weg von der isolierten Betrachtung der Entwicklung einzelner Länder und hin zu einem Modell von Zentrum und Peripherie(n) sowie auf das Problem der (wirtschaftlichen) Abhängigkeit der ,weniger entwickelten‘ Länder gelenkt.83 Andre Gunder Frank entwarf in diesem Zusammenhang eine radikal makrosoziologische Position, die weltgesellschaftheoretische Modelle insofern vorwegnahm, als hier bereits die Erklärungsrichtung umgekehrt wurde. Unterentwicklung wird von ihm nicht als Ergebnis einzelner Beziehungen zwischen Ländern, sondern vor allem als Ergebnis der Dynamik eines globalen Zusammenhangs verstanden.84 Eine entsprechende Umkehrung des Erkenntnisinteresses liegt auch der von Immanuel Wallerstein ausgearbeiteten Weltsystemtheorie zugrunde. Wallerstein versteht die moderne Welt als im Kern geprägt durch die globale kapitalistische Weltökonomie. Seit ihrer Entstehung in Europa während des langen 16. Jahrhunderts hat diese sich über die gesamte Welt ausgebreitet und frühere Formen ökonomischer Systeme inkorporiert. Heute stelle sie daher das einzige noch verbliebene ,Weltsystem‘ dar. Wallerstein nimmt also den globalen Zusammenhang als Ganzes in den Blick und erklärt die Entwicklung in einzelnen Ländern als Folge der Herausbildung dieser globalen Ebene und ihrer Veränderungen.85 Auch wenn an Wallerstein eine große und bedeutende Forschungstradition angeschlossen hat, ist seine Theorie gleichzeitig stark kritisiert worden, nicht zuletzt für ihren engen Fokus auf wirtschaftliche Entwicklungen, der es verhindere, politische oder kulturelle Strukturen in ihrer Eigenständigkeit wahrnehmen zu können. Ebenso werde die Bedeutung der Nationalstaaten weiterhin sehr stark betont und der Analyse der Ausbildung globaler, nicht national beschränkter Strukturen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt.86 Letztlich lassen aber alle diese frühen Entwicklungen noch eine konse82 83 84 85 86
Vgl. Greve/Heintz, Die ,Entdeckung‘ der Weltgesellschaft, 96. Vgl. ebd., 97. Vgl. ebd., 98. Vgl. ebd., 99. Vgl. ebd., 99 – 100.
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quente Umsetzung des von Greve/Heintz genannten „doppelten Perspektivenwechsels“ vermissen.87 Eine solche Entwicklung fand erst in den 1970er Jahren im Kontext der Weltgesellschaftstheorien statt. Dabei handelt es sich um zumindest drei unabhängige Theorievarianten, von denen die beiden letzteren auch gegenwärtig noch intensiv diskutiert werden: die Weltgesellschaftstheorie von Peter Heintz, das Konzept einer „Weltgesellschaft“ in der soziologischen Systemtheorie im Anschluss an Niklas Luhmann und die „world polity“/„world society“-Forschung der Stanforder Arbeitsgruppe um John W. Meyer. Das Modell von Peter Heintz stellt sich die Weltgesellschaft als ein weltweites Interaktionsfeld vor, das als höchste Systemebene und umfassendes System alle anderen Systeme umgreift. Die Differenzierung in unterschiedliche Ebenen wie Nation, Region, Familie wird kombiniert mit einer Vorstellung von drei Typen weltweiter Systeme: das Entwicklungsschichtungssystem, das intergouvernementale System politisch-militärischer Macht und das interorganisationelle System.88 Eine weitere und bis in die Gegenwart sehr produktive Variante der Weltgesellschaftstheorie wurde seit den 1970er Jahren von dem Stanforder Soziologen John W. Meyer zusammen mit einer größeren Gruppe von Mitarbeitern ausgearbeitet. Diese Theorie fungierte in ihrer Frühphase unter dem Begriff „world polity“, der sich mit seiner Betonung der politisch-kulturellen Dimension der Weltgesellschaft explizit von Wallersteins ökonomisch zentrierter Weltsystemtheorie absetzen sollte. Grundlegende Beobachtung ist dabei, dass sich besonders im politischen Bereich deutliche „Isomorphien“ zwischen Nationalstaaten herausbilden. Anders als durch die wirtschaftliche Ungleichheit zu erwarten wäre, setzt sich spätestens seit dem Ende des zweiten Weltkriegs die Form des Nationalstaats weltweit flächendeckend durch und führt trotz hochgradig unterschiedlicher wirtschaftlicher Kraft zu überraschenden Ähnlichkeiten zwischen den einzelnen Staaten. Zur Erklärung dieser globalen Konvergenzen im politisch-kulturellen Bereich sucht die „world polity“-Theorie, die später auch den Begriff „world society“ in den Mittelpunkt stellt, einen Weg, die Herausbildung derjenigen globalen Ordnungsstrukturen zu beschreiben, die trotz großer wirtschaftlicher Divergenz eine solche Homogenität ermöglicht haben.89 Die Annahme einer „world polity“ mit der damit einhergehenden „world culture“ als einer in Institutionen objektivierten Kultur, die durch die Werte Rationalität, Gerechtigkeit, Fortschritt und Individualismus geprägt sei, wird 87 Ebd., 100. 88 Vgl. ebd., 103 – 104. Siehe Heintz, Peter, Der heutige Strukturwandel der Weltgesellschaft in der Sicht der Soziologie, Universitas 29, 1974, 449 – 556; ders., Die Weltgesellschaft im Spiegel von Ereignissen, Diessenhofen 1982. 89 Vgl. Greve/Heintz, Die ,Entdeckung‘ der Weltgesellschaft, 101. Siehe Meyer, Weltkultur; Meyer, John W., World Society. The Writings of John W. Meyer, hg. von G. Krücken/G.S. Drori, Oxford 2009.
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in Meyers Ansatz zu einem makrodeterministischen Erklärungsmodell, das die Isomorphien und die Homogenität zwischen Nationalstaaten erklären soll. Letztlich führt Meyers Theorie damit grundlegende Traditionen der Modernisierungstheorie fort und schließt an die Frage nach einer Universalisierung und Ausbreitung westlicher Werte und Handlungsmuster an, für die sich schon Max Weber interessiert hatte.90 Meyer beschreibt, wie westliche kulturelle Orientierungsmuster wie Fortschrittsglaube, Säkularisierung, Individualismus, universalistische Rechtsnormen und zweckrationales Handeln im Rahmen von globalen Diffusionsprozessen weltweit verbreitet werden und zu zahlreichen Isomorphien z. B. auf der Ebene von Nationalstaaten führen. Während die Theorie durchaus auch Erklärungsmodelle dafür bietet, warum die Übernahme westlicher Prinzipien oft nur zum Schein oder in geringem Maße erfolgt („talk“ vs. „action“), lässt sich nach Ansicht der Forscher um John W. Meyer die grundlegende Wirkmächtigkeit solcher globaler Diffusionsprozesse nicht leugnen.91 Es lässt sich allerdings in der späteren Theorieentwicklung beobachten, dass die weitgehende Ersetzung des Begriffs der „world polity“ durch den Begriff der „world society“ nicht mit einer entsprechenden Aufmerksamkeit für den Gesellschaftsbegriff und der Erarbeitung einer Gesellschaftstheorie einhergeht. So ersetzt bzw. ergänzt Meyer die Betonung der wirtschaftlichen Zusammenhänge in der Weltsystemtheorie zwar durch die politisch-kulturelle Dimension der „world polity“, bindet dies aber nicht in ein umfangreicheres gesellschaftstheoretisches Modell ein.92 Hier bietet nun die dritte Variante der Weltgesellschaftstheorie, die auf Niklas Luhmann zurückgehende systemtheoretische Fassung, andere Voraussetzungen an, da Luhmann seine Theorie von Beginn an als Teil einer umfassenden Gesellschaftstheorie und in Auseinandersetzung mit der universalistischen strukturfunktionalistischen Systemtheorie Talcott Parsons entwickelt hat. Luhmann kommt zum Weltgesellschaftsbegriff, wie Greve/ Heintz betonen, anders als Peter Heintz und John W. Meyer nicht vorrangig über die Einbettung von empirischen Beobachtungen in einen globalen Zusammenhang. Vielmehr entwickelt er den Begriff der „Weltgesellschaft“ deduktiv aus seiner Beschäftigung mit dem Gesellschaftsbegriff und im Verlauf der Umstellung seiner Theoriearchitektur vom Handlungsbegriff auf den Kommunikationsbegriff.93 Gesellschaft ist für Luhmann zunächst „das umfassende Sozialsystem aller kommunikativ fu¨ reinander erreichbaren Handlungen“.94 Aus dieser Prämisse entwickelt er dann die Vorstellung, dass es in 90 91 92 93
Vgl. Greve/Heintz, Die ,Entdeckung‘ der Weltgesellschaft, 102. Vgl. Meyer, Weltkultur, 85 – 132. Vgl. ebd., 103. Vgl. ebd., 106. Siehe Luhmann, Niklas, Die Weltgesellschaft, in: ders., Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Wiesbaden 1975, 63 – 88. 94 Luhmann, Niklas, Interaktion, Organisation, Gesellschaft. Anwendungen der Systemtheorie, in:
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der heutigen Zeit nur noch eine Gesellschaft geben könne, auch wenn dies zu früherer Zeit anders gewesen sein möge. Auch hier ist allerdings schon anzumerken, dass die Behauptung der Existenz einer Weltgesellschaft damit auch bei Luhmann weiterhin eine empirische Frage bleibt.95 Die Möglichkeit und Realität weltweiter Kommunikation führt nach Luhmann somit zwangsläufig zur Herausbildung der Weltgesellschaft. Diese wird verstanden, so Greve/Heintz, als „das singuläre soziale System, das keine soziale Umwelt hat – alles Soziale findet innerhalb der Weltgesellschaft statt.“96 Luhmann bindet die Herausbildung der Weltgesellschaft jedoch neben der Kommunikationstheorie an eine weitere zentrale Vorstellung seiner Theoriearchitektur : die Umstellung der Gesellschaft auf einen Primat funktionaler Differenzierung.97 Aus dieser differenzierungstheoretischen Perspektive beschreibt er die Ausdifferenzierung einer Reihe von Funktionssystemen der Gesellschaft wie Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Recht und eben auch Religion. Luhmann setzt daher im Gegensatz zu den anderen Weltgesellschaftstheorien nicht nur auf einen gesellschaftstheoretischen Rahmen, sondern bietet auch die Möglichkeit, jedes dieser Teilsysteme der Gesellschaft in eigener Form zu thematisieren. Schon anhand dieses kurzen Überblicks lässt sich erkennen, dass die Weltgesellschaftstheorien sich in gewisser Weise als Fortführung der Interessen und der Tradition der Modernisierungstheorien verstehen lassen, wenn auch unter anderen Vorzeichen und auf einer anderen theoretischen Reflexionsebene. Sie sind nicht zuletzt aus diesem Grund ein passender Ausgangspunkt, um die oben identifizierte Herausforderung einer neuen ,Theoretisierung der Moderne‘ anzugehen. Besonders die systemtheoretische Fassung der Weltgesellschaftstheorie bietet durch ihre Verankerung in einer allgemeinen soziologischen Gesellschaftstheorie dabei den interessantesten Anknüpfungspunkt für weitere Überlegungen und soll daher im Folgenden ausführlicher dargestellt werden. Darüber hinaus gibt es gerade im Hinblick auf ,Religion‘ hier schon zahlreiche Vorarbeiten, nicht nur von Luhmann selbst, sondern auch von anderen Autoren.
ders., Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Wiesbaden 1975, 9 – 24, hier : 12, Hervorhebung entfernt. 95 Vgl. Greve/Heintz, Die ,Entdeckung‘ der Weltgesellschaft, 106 – 107. 96 Ebd., 107. 97 Diese Perspektive ist bereits im Weltgesellschaftsaufsatz von 1971 zentral, wird aber vor allem in seinem theoretischen Hauptwerk ausführlich ausgearbeitet Vgl. Luhmann, Niklas, Die Weltgesellschaft, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 57, 1971, 1 – 35; ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bände, Frankfurt am Main 1997.
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7.2.2 Die systemtheoretische Fassung der Weltgesellschaft Bevor jedoch die systemtheoretisch orientierte Weltgesellschaftstheorie diskutiert wird, sollen noch einige grundlegende Überlegungen zur Systemtheorie vorgestellt und etwas zum Anschluss an diese Theorie innerhalb der Religionswissenschaft gesagt werden. Die Systemtheorie polarisiert, wie schon zu Zeiten der Habermas/Luhmann Kontroverse, noch immer so stark wie wenige vergleichbare Theorieentwürfe innerhalb der Sozial- und Kulturwissenschaften. Gerade weil der Systemtheorie immer noch vorgeworfen wird, sich hauptsächlich für abstrakte Begriffsakrobatik zu interessieren, keinen Zugang zur Empirie eröffnen zu können und eine konservative, auf Stabilität von gesellschaftlichen Differenzierungen abstellende Theorie zu sein – „Sozialtechnologie“, wie der Vorwurf schon in den 1970er Jahren lautete98 –, erscheint es vielleicht zunächst überraschend, dass im Anschluss an eine nicht zuletzt postkolonial inspirierte Problemstellung eine systemtheoretische Perspektive vorgeschlagen wird. Wie in der Diskussion der Theorie und in der Behandlung neuerer Vorschläge einer Weiterentwicklung der Theorie funktionaler Differenzierung am Ende dieses Kapitels zu sehen sein wird, ist dieser Vorwurf gegenüber der Systemtheorie allerdings schon von ihren grundlegenden Voraussetzungen her nicht angemessen.99 Vielmehr bietet gerade die Systemtheorie die Möglichkeit einer Theoretisierung der radikalen Operativität sozialen Geschehens und zeigt sich durchaus offen für eine Auseinandersetzung und produktive Ergänzung mit anderen Theorietraditionen, die in diesem Kontext vielleicht eher zu erwarten wären, wie etwa weitere Entwürfe diskurstheoretischer Art. Zumeist beruht eine solche Einschätzung jedoch auf einer allzu geringen Kenntnis systemtheoretischer Theoriegrundlagen. Denn auch wenn Luhmanns eigenes Interesse vorrangig der Frage nach der Stabilität gesellschaftlicher Strukturen gegolten hatte, stand diese Frage dennoch nie im Kontext eines essentialisierenden Strukturalismus, sondern sollte vielmehr als der Versuch verstanden werden, eine umfangreiche und ausgearbeitete theoretische Antwort auf die Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation und der Herausbildung stabiler Strukturen zu bieten.100 Entgegen der vorherrschenden Meinung lässt sich daher gerade auch im Kontext eines Interesses an der Brüchigkeit gesellschaftlicher Strukturen an die Systemtheorie anschlie98 Vgl. Luhmann, Niklas/Habermas, Jürgen, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – was leistet die Systemforschung?, Frankfurt am Main 1971. 99 Vgl. auch den letzten Abschnitt dieses Kapitels. 100 Vgl. Luhmann, Niklas, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984 sowie ders., Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation, in: ders., Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Opladen 1981, 25 – 34. Siehe dazu auch Stäheli, Urs, Sinnzusammenbrüche. Eine dekonstruktive Lektüre von Niklas Luhmanns Systemtheorie, Weilerswist 2000, 36 – 41.
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ßen, auch wenn diese damit auf ein etwas anderes Hauptinteresse hin ausgerichtet werden muss.101 Niklas Luhmann entwickelt sein Konzept der „Weltgesellschaft“ erstmals ausführlich in seinem Aufsatz „Die Weltgesellschaft“ von 1971.102 Der Begriff taucht ab diesem Zeitpunkt in seinen Veröffentlichungen immer wieder auf, wird aber systematisch (wenn überhaupt) meist nur in einem Unterkapitel behandelt.103 Auch in Soziale Systeme und den späteren Büchern zu den einzelnen Funktionssystemen der Gesellschaft erscheint „Weltgesellschaft“ zwar immer wieder als Thema, wird aber oft nicht zum Gegenstand eines eigenen Unterkapitels gemacht. Erst 1997 in Die Gesellschaft der Gesellschaft weist Luhmann dann im Kontext des ersten Teils „Gesellschaft als soziales System“ und des vierten Teils „Differenzierung“ der „Weltgesellschaft“ erneut eine entsprechende Theoriestelle in seiner Theorie der Gesellschaft zu.104 Trotz dieser eher randständigen Behandlung des Themas der Weltgesellschaft im Kontext von Luhmanns Gesamtwerk, bildet die Thematik selbst doch – und das lässt sich durch die Lektüre schon des frühen Textes „Die Weltgesellschaft“ leicht bestätigen – eine der zentralen Hintergrundannahmen und theoretischen Innovationen Luhmanns.105 Die Vorstellung der Herausbildung einer Weltgesellschaft und die Behauptung, dass es auf dem Globus letztlich nur noch diese eine Gesellschaft gebe (und geben könne), leitet sich dabei in logischer Konsequenz aus Luhmanns theoretischen Grundannahmen ab. Wie bereits im vorhergehenden Abschnitt angesprochen, ist eines der zentralen Kennzeichen von Luhmanns (späterem) Ansatz die Umstellung der gesamten Theoriearchitektur vom Handlungs- auf den Kommunikationsbegriff. Diese Umstellung ist spätestens mit der Publikation von Soziale Systeme 1984 abgeschlossen. Luhmann grenzt sich damit nicht nur von Talcott Parsons, sondern gleichzeitig auch von seiner eigenen frühen Theorieentwicklung ab, in der ähnlich wie bei Parsons ,Handlung‘ als Grundkategorie im Mittelpunkt gestanden hatte. Aus Luhmanns Verständnis von ,Kommunikation‘ als grundlegender sozialer Operation und dem Verständnis von ,Gesellschaft‘ als dem umfas101 Vgl. hier erneut ebd., der dazu bisher die ausführlichsten Überlegungen präsentiert hat. 102 Luhmann, Niklas, Die Weltgesellschaft, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 57, 1971, 1 – 35. Wieder abgedruckt als ders., Die Weltgesellschaft, in: ders., Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Wiesbaden 1975, 63 – 88. 103 So etwa „Rechtsprobleme der Weltgesellschaft“ in Luhmann, Niklas, Rechtssoziologie, Reinbek bei Hamburg 1972. 104 Vgl. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 145 – 171, 806 – 812. 105 Vgl. dazu den vorhergehenden Abschnitt und Greve/Heintz, Die ,Entdeckung‘ der Weltgesellschaft; Tyrell, Hartmann, Singular oder Plural – Einleitende Bemerkungen zu Globalisierung und Weltgesellschaft, in: B. Heintz et al. (Hg.), Weltgesellschaft. Theoretische Zugänge und empirische Problemlagen, Stuttgart 2005, 1 – 50.
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sendsten Sozialsystem leitet sich dann die These ab, dass die moderne Gesellschaft nur eine Weltgesellschaft sein könne. Der Kommunikationsbegriff, der auf Anschlussfähigkeit abstellt, führt dazu, „daß es für alle anschlußfähige Kommunikation nur ein einziges Gesellschaftssystem geben kann.“106 Durch verschiedene, vor allem technologische Entwicklungen innerhalb der letzten zwei Jahrhunderte – Luhmann nennt u. a. die weltweite Verbreitung von Wissen und Technologien, die Entstehung einer weltweiten öffentlichen Meinung, wirtschaftliche Verflechtungen und weltweite Verkehrsnetze – haben sich Möglichkeiten weltweiter Interaktion etabliert.107 Die dadurch entstandene „Einheit des Welthorizonts“ ist nicht nur eine Projektion, wie es bei früheren Gesellschaften der Fall war, sondern eine „reale Einheit des Welthorizonts für alle“.108 Gesellschaftliche Kommunikation läuft heute somit innerhalb eines „faktisch vereinheitlichten Welthorizontes“ ab, der als „weltweiter Möglichkeitshorizont“ neuartig und gleichzeitig „in einer Phase irreversibler Konsolidierung begriffen“ ist.109 Ein Gesellschaftsbegriff, wie Luhmann ihn vorschlägt, ist dabei in der Lage, sowohl die Situation der heutigen Weltgesellschaft zu beschreiben, als auch frühere Situationen, in denen eine Mehrheit kommunikativ nicht füreinander erreichbarer Gesellschaftssysteme bestanden hat. Die Grenzen der Gesellschaft werden dabei wie bereits erwähnt durch „kommunikative Anschlussfähigkeit“ festgelegt.110 Dadurch, dass „alle Menschen füreinander durch Kommunikation nach erwartbaren Strukturen erreichbar sind“ ist aber seit geraumer Zeit die Ära der Regionalgesellschaften beendet und gibt es mit der Weltgesellschaft nur noch eine einzige Gesellschaft.111 Der Grund für die Entstehung der Weltgesellschaft ist nach Luhmann „die Vollentdeckung des Erdballs als einer abgeschlossenen Sphäre sinnhafter Kommunikation“.112 Während durchaus bereits vor dem Entstehen von Hochkulturen weiträumige Handelsbeziehungen existierten, blieb deren 106 107 108 109 110
Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 145. Vgl. Luhmann, Die Weltgesellschaft, 66 – 67. Ebd., 68. Ebd., 67. Vgl. Luhmann, Interaktion, Organisation, Gesellschaft, 12. Vgl. auch den Abschnitt „Gesellschaft als umfassendes Sozialsystem“ in ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, 78 – 91. 111 Vgl. Luhmann, Niklas, Formen des Helfens im Wandel gesellschaftlicher Bedingungen, in: ders., Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Wiesbaden 1975, 167 – 186, hier : 181. Auch vor dem Hintergrund der Luhmannschen Weltgesellschaftstheorie ist eine Mehrzahl von Gesellschaften somit durchaus vorstellbar. Gleichzeitig lässt sich eine solche aber im Hinblick auf den Luhmannschen Gesellschaftsbegriff nur annehmen, wenn diese Gesellschaften untereinander keine kommunikative Verbindung aufweisen. Vgl. ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, 145. Dies heißt auch, dass es durchaus möglich ist, dass es heute noch weitere kleine abgeschlossene Gesellschaften gibt (etwa Indianerstämme im Amazonas). Diese sind jedoch für die Operativität der Weltgesellschaft dann nicht von Bedeutung. 112 Ebd., 148.
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„kommunikativer Effekt“113 laut Luhmann aber sehr gering. Auch aus den weitreichenden Handelsnetzen und universalistischen Selbstbeschreibungen bestimmter historischer Hochkulturen entwickelte sich letztlich keine Vorstellung einer Weltgesellschaft.114 Erst in der Neuzeit wurde, so Luhmann, im Ausgang von Europa „der gesamte Erdball ,entdeckt‘, kolonialisiert, sowie in regelmäßige Kommunikationsbeziehungen eingespannt.“115 Das zentrale Prinzip, das Luhmann für diese Entstehung der Weltgesellschaft verantwortlich macht, und über das er die kommunikationstheoretische Grundlegung seiner Weltgesellschaftstheorie zusätzlich plausibilisiert, ist die Annahme einer modernen Umstellung des Primats der Differenzierungsform der Gesellschaft von stratifikatorischer auf funktionale Differenzierung. Denn – so Luhmann – erst wenn man dieses zentrale Kennzeichen der modernen Gesellschaft in den Blick nimmt, stellt sich das Problem der Bestimmung der Grenzen der Gesellschaft in besonders drängender Form, und dies verweist fast zwangsläufig auf Weltgesellschaft. Im Kontext einer auf Differenzierung setzenden Gesellschaftstheorie ist die Problematik der Bestimmung von Grenzen für einzelne Gesellschaften (bei der Annahme einer Pluralität von Gesellschaften) ein zentrales Problem und letztlich eines der Hauptargumente für Weltgesellschaft. Wie Luhmann schon 1971 bemerkt, scheitert die Soziologie daran, in diesem Kontext andere überzeugende Vorschläge vorzulegen, denn weder territoriale noch wirtschaftliche Grenzen überzeugen als Vorschläge für die Grenzziehung der Gesellschaft im Ganzen. Vielmehr würden hier je nach Betrachtung unterschiedlicher Teilaspekte (von politischen oder wirtschaftlichen Phänomenen) andere Grenzen der Gesellschaft aufscheinen.116 Luhmann löst dieses Problem der Identifikation von Gesellschaftsgrenzen kommunikationstheoretisch. Die Gesellschaft unterscheidet sich als Kommunikationssystem von ihrer Umwelt, auch wenn dabei zu beachten ist, dass eine solche Unterscheidung eine externe, keine interne Grenze darstellt.117 Aus diesem Abstellen auf „Kommunikation“ als Elementaroperation des Sozialen folgert Luhmann die Plausibilität der Weltgesellschaft: Geht man von Kommunikation als der elementaren Operation aus, deren Reproduktion Gesellschaft konstituiert, dann ist offensichtlich in jeder Kommunikation Weltgesellschaft impliziert, und zwar ganz unabhängig von der konkreten Thematik und der räumlichen Distanz zwischen den Teilnehmern.118
Denn auch in denjenigen Situationen, in denen feste Grenzen thematisiert werden (etwa Grenzen von Nationalstaaten), ist immer klar, dass es hier 113 114 115 116 117 118
Ebd., 146. Vgl. ebd. Ebd., 148. Vgl. Luhmann, Die Weltgesellschaft, 66, 83 (Fußnote 8). Vgl. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 150. Ebd.
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weitere Grenzen hinter den Grenzen gibt, dass also die menschliche Gesellschaft nicht an diesen Grenzen endet. Luhmann folgert daraus: „Weltgesellschaft ist das Sich-ereignen von Welt in der Kommunikation.“119 Ein solcher Gesellschaftsbegriff erlaubt gleichzeitig eine eindeutige Grenzziehung des Gesellschaftssystems.120 In welcher Form operiert nun aber die moderne Gesellschaft als Weltgesellschaft? Die Luhmannsche Theorie geht von drei grundlegenden Ebenen des Sozialen aus: Interaktion, Organisation und Gesellschaft.121 Auch wenn alle drei Formen für die Entwicklung und Operativität der Weltgesellschaft von großer Bedeutung sind, gilt Luhmanns Interesse vor allem der Ebene der Gesellschaft122 und dem dort verankerten Primat funktionaler Differenzierung, der mit der Ausdifferenzierung einer Reihe von Funktionssystemen der Gesellschaft einhergeht. In diesem Prinzip sieht Luhmann wenn nicht den wichtigsten, dann zumindest einen der zentralen Mechanismen für die Entstehung der Weltgesellschaft. Luhmann geht sogar so weit, die Ausbildung einer Vorstellung von Weltgesellschaft als Korrelat der Umstellung auf funktionale Differenzierung zu betrachten.123 Doch auch im Bezug auf die Funktionssysteme stellt sich zunächst die Frage, wie sich die Einheit einer in eine Vielzahl von Funktionssysteme differenzierten Gesellschaft noch bestimmen lässt. Diese lässt sich laut Luhmann nur noch in der „Tatsache kommunikativen Operierens“ finden.124 Alle Teilsysteme (auch Interaktions- und Organisationssysteme) kommunizieren und partizipieren an der Gesellschaft.125 An der Umstellung auf funktionale Differenzierung126 lässt sich die Problematik der Gesellschaftsgrenzen in ihrer Radikalität aufzeigen, denn jedes System stellt eigene Anforderungen an die eigenen Systemgrenzen.127 Schon 1971 formuliert Luhmann: „Die einzelnen Teilsysteme fordern jeweils andere Grenzen nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre Gesellschaft.“128 Beim Wechsel der Systemreferenz ist nicht mehr zu erwarten, dass die Gesellschaftsgrenzen identisch bleiben. „Damit ist die Einheit einer alle Funktionen umfassenden Gesellschaft nur noch in der Form der Weltgesellschaft möglich.“129 Bevor die Theorie funktionaler Differenzierung jedoch im nächsten Abschnitt ausführlicher thematisiert wird, und die Arbeit dann auch wieder zur 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129
Ebd. Vgl. ebd., 151. Vgl. Luhmann, Interaktion, Organisation, Gesellschaft. Er hat jedoch ebenfalls umfangreiche Schriften zur Organisationstheorie vorgelegt. Siehe etwa Luhmann, Niklas, Organisation und Entscheidung, Wiesbaden 22006. Vgl. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 156 – 157. Ebd., 149. Vgl. ebd., 150. Vgl. ebd., 148 – 149. Vgl. ebd., 149. Luhmann, Die Weltgesellschaft, 75. Ebd.
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Frage der Ausdifferenzierung von ,Religion‘ zurückkommt, sollen zunächst noch einige Einwände gegen eine solche Vorstellung von Weltgesellschaft diskutiert werden, die größtenteils auch schon von Luhmann behandelt wurden. Diese lassen sich auf zwei miteinander zusammenhängende Probleme zuspitzen: das Integrationsproblem und das Ungleichheitsproblem.130 Die Vorstellung, dass ,mangelhafte Integration‘ ein grundlegendes Problem für eine Theorie der Weltgesellschaft darstellt, ergibt sich zunächst aus der weit verbreiteten Vorstellung von Gesellschaft als einem aus Teilen bestehenden Ganzen, und der Übertragung dieser Vorstellung auf die Weltgesellschaft.131 Aus Luhmannscher Perspektive lässt sich dieser Problematik auf zweierlei Arten begegnen. Zum einen ist die Luhmannsche Theoriearchitektur mit ihrem auf Kommunikation abstellenden Gesellschaftsbegriff ja gerade darauf ausgelegt, diese Vorstellung von Gesellschaft als eines Ganzen aus zusammenhängenden und integrierten Teilen zu überwinden, und damit die Frage nach Integration wenn nicht zu verabschieden, dann doch neu zu perspektivieren. Zum anderen bietet die Theorie mit der Unterscheidung von Inklusion/Exklusion eine Theoriefigur an, die gerade diese ,fehlende Integration‘ innerhalb der Weltgesellschaft als Problem erkennbar macht und bereits eine umfangreiche Debatte hervorgerufen hat.132 Darüber hinaus macht es die kommunikationstheoretische Fassung des Gesellschaftsbegriffs möglich, das ,Integrationsproblem‘ als Problem innerhalb der Weltgesellschaft und nicht als Problem der Vorstellung von Weltgesellschaft in den Blick zu nehmen. Wie Luhmann schon 1971 pointiert bemerkt, könnte die Schwierigkeit der Wahrnehmung und der Akzeptanz der Realität einer Weltgesellschaft vielleicht auch darin bestehen, dass wir sie deshalb nicht als Weltgesellschaft wahrnehmen, weil wir aufgrund der ,alteuropäischen‘ Tradition des Gesellschaftsbegriffs eine andere Weltgesellschaft erwartet haben, nämlich eine politisch integrierte.133 Dies führt zu einem Festhalten am Nationalstaat als gesellschaftstheoretischer Grundkategorie, ohne dafür allerdings ausreichende theoretische Begründungen angeben zu können.134 Ein weiterer (und mit der Frage nach Integration verbundener) grundlegender Einwand gegen Weltgesellschaft verweist auf Ungleichheit und damit auf die krassen Unterschiede etwa im wirtschaftlichen Entwicklungsstand der einzelnen Regionen und Länder der Welt.135 Luhmann entgegnet hier jedoch 130 Zu Luhmanns Auseinandersetzung mit dem Integrationsbegriff siehe auch Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 602 – 608. 131 Vgl. Luhmann, Die Weltgesellschaft, 73. 132 Siehe Luhmann, Niklas, Inklusion und Exklusion, in: ders., Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, Opladen 1995, 237 – 264; Stichweh, Rudolf, Inklusion und Exklusion. Studien zur Gesellschaftstheorie, Bielefeld 2005. 133 Vgl. Luhmann, Die Weltgesellschaft, 65. 134 Vgl. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 161. 135 Vgl. ebd.
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zunächst, dass die Feststellung eines Fortdauerns tiefgreifender weltweiter Ungleichheit sich für die Soziologie auch als „Artefakt ihrer vergleichenden Methodologie“ verstehen ließe. So kehrt ein regionaler Vergleich verständlicherweise regionale Unterschiede hervor, wohingegen ein historisch angelegter Vergleich auf weltweiter Ebene durchaus übereinstimmende Entwicklungen erkennen ließe (so laut Luhmann etwa „die weltweite Auflösung von Familienökonomien in allen Schichten oder […] weltweit unausgeglichene demographische Entwicklungen, die es früher in diesem Ausmaß nicht gegeben hat“).136 Genau aus diesem Grund wird daher eine Theorie notwendig, die erkennen kann, dass solche Unterschiede mit der Wahl der Vergleichsperspektive zusammenhängen, und die diese Unterschiede gleichzeitig theoretisch rekonstruieren kann. Eine solche Wahrnehmung führt jedoch keineswegs im Umkehrschluss zu einer Konvergenzthese, die das Verschwinden aller Unterschiede behaupten würde, sondern gerade zu einer hohen Sensibilität für eben diese Unterschiede.137 Denn gerade regionale Unterschiede lassen sich nicht ohne die Verfügbarkeit eines übergreifenden theoretischen Rahmens erklären: Das Ungleichheitsargument ist kein Argument gegen, sondern ein Argument für Weltgesellschaft. […] Gerade der unterschiedliche Entwicklungsstand in den einzelnen Gebieten des Erdballs erfordert eine gesellschaftstheoretische Erklärung, und diese kann nicht nach dem jahrtausendealten Muster „Völkervielfalt“ gegeben werden, sondern erfordert als Ausgangspunkt die Einheit des diese Unterschiede erzeugenden Gesellschaftssystems.138
Nicht zuletzt aus diesem Grund kann die Existenz von Ungleichheit kein Argument für oder gegen Weltgesellschaft sein: „Weder im regionalen Rahmen noch im weltgesellschaftlichen Rahmen kann es dabei auf die Ähnlichkeit der Lebensbedingungen ankommen; denn dann wäre nicht einmal Manhattan eine Gesellschaft.“139 Auch hier trägt ein Fokus auf funktionale Differenzierung laut Luhmann zur detaillierteren Bestimmung der Problematik bei. Denn auch wenn sich funktionale Differenzierung in den einzelnen Regionen nur in sehr unterschiedlichem Maße durchsetzen kann, ist genau dies nur im Kontext einer Weltgesellschaft überhaupt erkennbar und theoretisierbar, führt dann aber gleichzeitig nicht zwangsläufig zur Vorstellung von einzelnen National- oder Regionalgesellschaften: „es ist gerade die Logik funktionaler Differenzierung und der Vergleich – nicht mit anderen Gesellschaften, sondern mit den Vorteilen der Vollrealisierung funktionaler Differenzierung, der diese Probleme
136 137 138 139
Ebd. Vgl. ebd. Ebd., 162. Luhmann, Niklas, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1995, 572.
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ins Auge springen läßt.“140 Die Probleme einzelner Regionen lassen sich somit auf theoretischer Ebene gerade nicht durch die Annahme von Regionalgesellschaften und deren Besonderheiten beschreiben, sondern durch eine weltgesellschaftstheoretische Perspektive: Dann kann man besser sehen und vor allem besser erklären, weshalb gewisse Regionaldaten einen Unterschied machen und weshalb gegebene Differenzen sich verstärken oder abschwächen, je nachdem, wie sie sich zirkulär mit weltgesellschaftlichen Vorgaben vernetzen.141
Jede Annahme einer regionalen und damit räumlichen Differenzierung des Systems der Weltgesellschaft widerspricht dem Primat funktionaler Differenzierung, denn es ist unmöglich, für alle Funktionssysteme geltende, einheitliche Raumgrenzen anzugeben. Eine primär räumliche Differenzierung lässt sich laut Luhmann nur für Politik und Recht erkennen, und „[g]erade die Eindeutigkeit räumlicher Grenzen macht klar, daß sie weder von Wahrheiten noch von Krankheiten, weder von Bildung noch vom Fernsehen, weder vom Geld […], noch von der Liebe respektiert werden.“142 Die räumlich bedingten Unterschiede sind im Kontext der Weltgesellschaft daher zwar weiterhin relevant, aber gleichzeitig nicht als Unterschiede zwischen einzelnen Regionalgesellschaften oder als Grundlage für eine regionale Differenzierung des Gesellschaftssystems zu konzeptionalisieren. Wie kann aber im Kontext eines solchen Modells die empirisch zu beobachtende Entwicklung regionaler Unterschiede beschrieben werden? Luhmanns Antwort ist, dass der Universalismus der Funktionssysteme Partikularismen gerade nicht ausschließt, sondern diese eher anregt. Eine Theorie der Weltgesellschaft ist in diesem Zusammenhang daher gerade die Grundlage für ein Verständnis dieser Entwicklung und nicht etwa ein Hindernis: Nur wenn man von der Voraussetzung eines welteinheitlichen Gesellschaftssystems ausgeht, läßt sich erklären, daß es auch und gerade heute (und viel mehr als zur Zeit archaischer Tribalgesellschaften) regionale Unterschiede gibt, die aber nicht die Form von Systemdifferenzierung annehmen.143
Genau aus diesem Grund bleibt also eine Theorie der Gesellschaft für Luhmann „als Bezugsrahmen der funktionalen und strukturellen Bestimmung der Differenzierung sozialer Systeme unentbehrlich.“144 Die genaue Bauweise einer solchen Theorie ist damit noch nicht vorgegeben, aber es lässt sich erkennen, dass sie eben eine Theorie sein muss, die mit Weltgesellschaft rechnet und die Grenzen der Gesellschaft entsprechend abstrakt bestimmen 140 141 142 143 144
Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 163. Ebd. Ebd., 166 – 167. Ebd., 167. Luhmann, Die Weltgesellschaft, 76.
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kann.145 Letztlich hat – so Luhmann – bereits die Semantik der Modernisierungstheorie und die Rede von „Modernität/Modernisierung“ auf Weltgesellschaft hingewiesen, da „sie es erlaubt, die Regionen der Weltgesellschaft als mehr oder weniger modernisiert (entwickelt) darzustellen, und über diese Unterscheidung eine vollständige Beschreibung mit möglicherweise wechselnden Auszeichnungen ermöglicht.“146 Gleichzeitig bestimmt Luhmann selbst die „Modernität“ der modernen Gesellschaft nicht über solche semantische Bestimmungen sondern über funktionale Differenzierung (wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden). Daher liegt für ihn „[d]ie Modernität der Gesellschaft […] nicht in ihren Merkmalen, sondern in ihren Formen, das heißt: in den Unterscheidungen, die sie verwendet, um ihre kommunikativen Operationen zu dirigieren.“147 Funktionale Differenzierung wird in diesem Sinne zur Grundlage des Verständnisses der Weltgesellschaft: Der gegenwärtige Zustand der Weltgesellschaft läßt sich jedoch nicht mehr unter dem Gesichtspunkt eines ontisch wesensmäßigen oder hierarchischen Primats eines besonderen Teilsystems begreifen, sondern nur noch aus den Funktionen, Erfordernissen und Konsequenzen funktionaler Differenzierung selbst.148
Die Behauptung eines solchen Primats funktionaler Differenzierung löst aber durchaus berechtigterweise zunächst Widerspruch aus und provoziert den Hinweis auf die mit dieser Annahme verbundenen empirischen Problemlagen. Denn in vielen einzelnen geographischen Regionen gibt es Strukturen, die sich dem Funktionsmuster der differenzierten Großsysteme nicht fügen. Der starke Einfluss von bestimmten Familien, die grassierende Korruption, die Unmöglichkeit in vielen Kontexten klar zwischen Politik und Recht zu unterscheiden und vieles mehr : Steht all dies nicht im Widerspruch zu einem Primat funktionaler Differenzierung?149 Ist dies nicht viel besser etwa durch das Schema von Tradition und Moderne zu erklären? Für Luhmann beginnt eine Antwort auf diese Fragen damit, diese regionalen Unterschiede zunächst einmal empirisch festzustellen: Offenbar kombinieren, verstärken und behindern sich die Auswirkungen verschiedener Funktionssysteme auf Grund von Bedingungen, die nur regional gegeben sind und folglich sehr unterschiedliche Muster erzeugen. Niemand wird diese Fakten bestreiten. Die Frage ist, welche Theorie ihnen gerecht werden kann.150
Dies ist für Luhmann nun alleine eine Weltgesellschaftsperspektive, die dann auch beobachten kann, dass sich die Weltgesellschaft eben nicht selbst steuert, sondern es eher der Fall ist, „daß die Zentren der Weltgesellschaft (vor 145 146 147 148 149 150
Vgl. ebd. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 158. Ebd., 165. Luhmann, Die Weltgesellschaft, 79. Vgl. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 806 – 807. Ebd., 807.
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allem natürlich die internationalen Finanzmärkte) Fluktuationen erzeugen, die dann regional zu dissipativen Strukturen und zu Notwendigkeiten der Selbstorganisation führen.“151 Es handelt sich dabei aber nicht um zielabhängige, sondern um geschichtsabhängige Entwicklungen, Reaktionen auf Situationen, die schon eingetreten sind. Gleichzeitig ist die Evidenz regionaler Unterschiede nicht von der Hand zu weisen. Innerhalb einer Theorie der Weltgesellschaft, die auf die Figur der funktionalen Differenzierung setzt, lässt sich jedoch zeigen, dass „gerade das dominante Muster funktionaler Differenzierung“ als Ansatzpunkt für die Entstehung von Unterschieden dienen kann. Luhmann setzt an dieser Stelle den Begriff der Konditionierung ein, um ausgehend von der „evolutionären Unwahrscheinlichkeit funktionaler Differenzierung“ die Unterschiede in verschiedenen Regionen durch die Förderung oder Verhinderung dieser Unwahrscheinlichkeit durch regionale Besonderheiten zu beschreiben.152 Diese führen dann letztlich zu den beobachtbaren großen Unterschieden zwischen Regionen, die allerdings alle innerhalb der einen Weltgesellschaft zu finden sind: Es kann sich bei diesen lokalen Sonderbedingungen um strukturelle Kopplungen handeln, die einen Modernisierungsschub in Richtung funktionale Differenzierung fördern. Im eher typischen Falle wird jedoch die autopoietische Autonomie der Funktionssysteme blockiert oder auf Teilbereiche ihrer operativen Möglichkeiten eingeschränkt. Es wäre jedenfalls ganz unrealistisch, den Primat funktionaler Differenzierung als eine durch das Prinzip gesicherte Selbstrealisation zu begreifen. Auch eine Deutung nach dem Muster hierarchischer Dominanz würde den Verhältnissen nicht gerecht werden, so als ob es um mehr oder weniger erfolgreiche Formen gesellschaftlicher Selbststeuerung ginge. Eher dürfte die Annahme zutreffen, daß die auf der Ebene der Weltgesellschaft durchgesetzte funktionale Differenzierung die Strukturen vorzeichnet, welche die Bedingungen für regionale Konditionierungen vorgeben. Es geht, anders gesagt, um eine komplexe und labile Konditionierung von Konditionierungen, um Inhibierungen und Desinhibierungen, um eine von zahllosen weiteren Bedingungen abhängige Kombination von Beschränkungen und Gelegenheiten. Funktionale Differenzierung ist, so gesehen, nicht die Bedingung der Möglichkeit von Systemoperationen, sondern eher die Möglichkeit ihrer Konditionierung. Daraus ergibt sich zugleich eine Systemdynamik, die zu extrem ungleichen Entwicklungen innerhalb der Weltgesellschaft führt. Die Regionen finden sich selbst deshalb fernab von einem gesamtgesellschaftlichen Gleichgewicht und haben gerade darin die Chancen eines eigenen Schicksals, das nicht als eine Art Mikroausgabe des Formprinzips funktionaler Differenzierung gesehen werden kann. Nur : wenn es den Primat dieses Prinzips auf weltgesellschaftlicher Ebene nicht gäbe, wäre alles anders, und diesem Gesetz kann sich keine Region entziehen.153 151 Ebd., 808. 152 Ebd., 810. 153 Ebd., 811 – 812.
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Die systemtheoretische Fassung der Weltgesellschaftstheorie bietet also die Möglichkeit, theoretische Beobachtungen in einem globalen Rahmen anzustellen, und dies gleichzeitig im Kontext einer komplexen und detailliert ausgearbeiteten Sozial- und Gesellschaftstheorie zu tun. Sie ist als Universaltheorie – die zu allem, was in der Gesellschaft vorkommt, eine (wenn auch nie die einzig mögliche) Perspektive anbieten kann – gerade aufgrund des Theorems funktionaler Differenzierung in der Lage, ganz unterschiedliche Dimensionen des Sozialen in ihrer Eigenständigkeit wahrzunehmen und ist – zumindest in diesem Sinne – nicht ideologisch auf ein einziges wirtschaftliches oder politisches Erklärungsmuster für die Beschreibung der Emergenz der Weltgesellschaft festgelegt. Natürlich hat auch die Systemtheorie ihre blinden Flecken, allerdings bietet die Luhmannsche Theoriearchitektur als Theorie mit universalem Anspruch, die aber dennoch nur eine Perspektive unter zahlreichen anderen möglichen bietet, bereits auch für dieses Problem eine Theoriestelle an. Gleichzeitig bietet sich im Feld der Weltgesellschaftstheorien der Anschluss an die systemtheoretische Fassung auch aus dem Grund an, dass diese auf eine ausgearbeitete Theorie funktionaler Differenzierung zurückgreifen kann, mit der unter anderem versucht werden kann, die Unterscheidungen der Religion, die in der vorliegenden Arbeit im Mittelpunkt stehen, aus einer weiteren und die bisherigen Betrachtungen ergänzenden theoretischen Perspektive in den Blick zu nehmen. Auf welchen Grundlagen basiert jedoch diese differenzierungstheoretische Position, und wie kann daraus für eine sich als Kulturwissenschaft verstehende Religionswissenschaft eine weiterführende Position entwickelt werden? Diese Frage, die den nächsten Abschnitt dieses Kapitels beschäftigt, greift somit den Topos der Differenzierung noch einmal in anderer Weise auf und fragt im Anschluss an Luhmanns Differenzierungstheorie nach den Möglichkeiten einer ,religionswissenschaftlichen Differenzierungstheorie‘.
7.3 Soziologische Differenzierungstheorie und ,Religion‘ 7.3.1 Die soziologische Tradition der Differenzierungstheorie Differenzierungstheorie kann mit gutem Recht als einer der ältesten und wichtigsten Aspekte soziologischer Theoriearbeit gelten und hat die soziologische Beschäftigung mit ,Religion‘ schon immer begleitet. Während Uwe Schimank sie als einen „Hauptstrang soziologischer Gesellschaftstheorie“154 bezeichnet, gilt sie für Armin Nassehi als „das dienstälteste 154 Schimank, Uwe, Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, Wiesbaden 32007, 9.
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sozial- und gesellschaftstheoretische Konzept“.155 Niklas Luhmann stellt lapidar fest : „Seitdem es Soziologie gibt, befaßt sie sich mit Differenzierung.“156 Eine Auseinandersetzung mit der Differenzierungsproblematik bis hin zu komplexen differenzierungstheoretischen Positionen lässt sich darüber hinaus nicht nur bei den soziologischen Klassikern finden, sondern diese taucht auch heute weiterhin als bestimmendes Element vieler umfangreicherer soziologischer Theorieentwürfe auf. Gerade im Kontext gesellschaftstheoretischer Überlegungen ist Differenzierung neben der Frage nach sozialer Ungleichheit weiterhin eine zentrale Problemstellung der Theoriebildung.157 Ihre Theoriegenese lässt sich von Emile Durkheim und Max Weber über Talcott Parsons bis hin zu Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu verfolgen, die dieser Tradition jeweils ein sehr eigenes Gesicht verliehen haben und ihre Entwicklung im Kontext ihrer soziologischen Arbeit entscheidend geprägt und fortgeführt haben. Als eine der wichtigsten Grundlagen für die meisten Theorien der Moderne und der modernen Gesellschaft beschreibt die differenzierungstheoretische Perspektive das Zerfallen des Sozialen in eine Reihe von Bereichen, die unterschiedlichen Logiken folgen und nicht mehr vollständig gegeneinander aufrechenbar sind.158 Die Ausformulierung dieser Beobachtung erfolgt durch die verschiedenen Theoretiker dann in ganz unterschiedlicher Detailliertheit und unter Zuhilfenahme differierender Metaphern – etwa Differenzierung in Sphären (Weber), Felder (Bordieu) oder Systeme (Luhmann). Auch wenn sich die Kandidaten für diese eigenständigen Gesellschaftsbereiche bei den einzelnen Autoren durchaus unterscheiden, gehört zu diesen meist auch ,Religion‘. Es lässt sich also über ,Religion‘ in der Gesellschaftstheorie im Kontext einer theoretischen Positionierung eigentlich nicht sprechen, ohne sich zugleich auch mit differenzierungstheoretischen Konzepten auseinander zu setzen. Gleichzeitig ist die Kategorie der ,Differenzierung‘ nicht nur Bestandteil wissenschaftlicher und theoretischer Beschreibungen der Gesellschaft, sondern ist immer auch Teil der Selbstreflexion der Moderne gewesen: „Anhand des Begriffs der Differenzierung konnte die moderne Gesellschaft sich be155 156 157 158
Nassehi, Geschlossenheit und Offenheit, 159. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 595. Vgl. Schimank, Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, 10. Luhmann hat dies im Anschluss an Gotthard Günter unter anderem mit dem Stichwort der „Polykontexturalität“ beschrieben (vgl. Soziale Systeme, 14, 666). Gleichzeitig weist „Polykontexturalität“ auch darauf hin, dass schon der scheinbar neutrale Begriff des „Bereichs“ durch seine räumlichen Konnotationen (und die damit implizierte Teilung des Sozialen) der Luhmannschen Differenzierungsvorstellung nicht gerecht wird. Auch wenn das für die hier angezielte erste Auseinandersetzung nicht entscheidend ist, müsste vor diesem Hintergrund auch die Verwendung des Begriffs „Bereich“ in den bisherigen Kapiteln der vorliegenden Arbeit noch einmal präzisiert werden. Vgl. dazu auch den folgenden Abschnitt.
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wundern und kritisieren.“159 Diese Bedeutung von Differenzierung als Reflexionskategorie der Moderne sagt jedoch noch nichts über die empirische Stichhaltigkeit dieser Theoriefigur aus. Denn dass ,Differenzierungsphänomene‘ (also, wie man sehr allgemein formulieren könnte, die heftige Auseinandersetzung um neuartige oder neu interpretierte gesellschaftliche Grundunterscheidungen) in der globalen Moderne eine entscheidende Rolle spielen, ist schwerlich zu bestreiten. Wie man diese jedoch interpretiert, in welchen theoretischen Kategorien man sie fassen möchte, und ob man diese beispielsweise im Anschluss an Luhmann, Pierre Bourdieu, Max Weber oder Michel Foucault entwickeln möchte, das bleibt zunächst offen. Gleichzeitig ist aber auch zu erkennen, dass diese ,Differenzierungsphänomene‘ eine solche Komplexität aufweisen, dass der Versuch einer ,reinen‘ Beschreibung ohne Rückgriff auf ein theoretisches Modell ins Leere gehen muss. Es wird offensichtlich, wie sehr die Beobachtung komplexer Phänomene auf komplexe – d. h. nicht direkt mit der ,Sprache der Phänomene‘ kompatible – theoretische Begrifflichkeiten angewiesen ist. Eine Auseinandersetzung mit der differenzierungstheoretischen Tradition bietet sich somit aus zwei Gründen für die vorliegende Arbeit an. Zum einen wurde vorgeschlagen, ,Differenzierung‘ als heuristisches Charakteristikum des globalen Religionsdiskurses zu bestimmen. Zum anderen ist, wie bereits erwähnt, die Vorstellung einer Umstellung der Gesellschaft auf einen Primat funktionaler Differenzierung ein zentraler Baustein der systemtheoretischen Weltgesellschaftstheorie. Wenn also diese Form der Theorie einen Rahmen für eine erneuerte Theoretisierung der Moderne und die Frage nach dem globalen Religionsdiskurs bieten soll, dann ist es unabdingbar, sich mit differenzierungstheoretischen Debatten innerhalb der Systemtheorie zu befassen. Differenzierungstheorien als spezifische Form abstrakter Theoriebildung stellen einen heuristischen Leitfaden für die Beschreibung der modernen Gesellschaft und der Dynamik ihrer Entwicklung bereit. Sie können somit grundlegend als Theorien der Moderne beschrieben werden. Ohne den Anspruch vollständig aufzugeben, auch vormoderne Verhältnisse zu analysieren und zu beschreiben, liegt ihr Fokus auf der Rekonstruktion und theoretischen Analyse der modernen Gesellschaft. Diese bildet nicht nur den Ansatzpunkt sondern auch die größte Herausforderung für eine differenzierungstheoretisch orientierte Gesellschaftstheorie. Über die verschiedenen theoretischen Entwürfe hinweg lässt sich dabei eine „differenzierungstheoretische Agenda“160 ausmachen: Differenzierung spielt sich erstens nicht nur auf der Ebene der Gesellschaft und ihrer Teilbereiche ab, 159 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 596. Vgl. auch Schimank, Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, 10. 160 Ebd., 71 – 72, Hervorhebung entfernt. Der folgende Absatz orientiert sich an Schimanks Schema. Siehe auch ebd., 15 – 16 zur Frage der Einheitlichkeit oder Disparität differenzierungstheoretischer Entwürfe.
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sondern auch auf weiteren Ebenen etwa einer Differenzierung von Rollen oder – in der Konzeption von Niklas Luhmann – der Ebenen von Interaktion, Organisation und Gesellschaft.161 Zweitens ist es eine der grundlegenden Leistungen der differenzierungstheoretischen Perspektive, über den Vergleich von modernen und vormodernen Gesellschaften Differenzierungsformen (bei Luhmann: segmentäre, Zentrum/Peripherie, stratifikatiorische und funktionale Differenzierung) identifiziert zu haben, und damit eine theoretisch eindeutige Beschreibung für die Besonderheiten der Moderne angeben zu können. Darüber hinaus fragt die Differenzierungstheorie drittens und viertens nach den Ursachen und den Folgen dieser Differenzierungsvorgänge. Auch hier werden je nach theoretischem Entwurf unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt, und die Erklärung auf historische Kontingenzen oder auch zwangsläufige Entwicklungen zurückgeführt. Die bereits genannte zwiespältige Einschätzung der Moderne zeigt sich besonders in der Diskussion über die Folgen dieser Entwicklungen. So wird Differenzierung, und besonders die Differenzierung der modernen Gesellschaft, zwar einerseits als Grundlage der Entstehung einer komplexen Gesellschaft verstanden, gleichzeitig aber auch in den problematischen Folgen sowohl für die Gesellschaft als Ganzes als auch für den Einzelnen diskutiert. Fünftens zeichnet sich die differenzierungstheoretische Agenda durch die Frage nach dem Zusammenhang zwischen sozialer Ordnung und der Integration des gesellschaftlichen Ganzen aus. Während die soziologischen Klassiker sowie Taclott Parsons von einer normativ orientierten Integrationsvorstellung ausgegangen sind, und die Situation der modernen Gesellschaft daher dann auch in unterschiedlicher Weise als problematisch eingeschätzt hatten, wählt Luhmann auch hier eine andere Perspektive, die das Integrationsproblem im Kontext seiner Systemtheorie neu und jenseits von normativen Grundlagen verortet, aber gleichzeitig die durch die funktionale Differenzierungslogik ausgelösten problematischen Entwicklungen im Blick behält. 7.3.2 Niklas Luhmann und die systemtheoretische Fassung der Differenzierungstheorie Die Differenzierungstheorie als Kernstück der Luhmannschen Gesellschaftstheorie wurde von diesem immer wieder neu fokussiert und durch die Umstrukturierung zentraler Begriffe reformuliert.162 Für die vorliegende Arbeit 161 Darüber hinaus vorgeschlagen und in Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 847 – 865 auch aufgenommen ist noch eine weitere Form, die „Protestbewegungen“. Siehe zu dieser Thematik auch Luhmann, Interaktion, Organisation, Gesellschaft; Tyrell, Hartmann, Zweierlei Differenzierung: Funktionale und Ebenendifferenzierung im Frühwerk Niklas Luhmanns, in: ders., Soziale und gesellschaftliche Differenzierung. Aufsätze zur soziologischen Theorie, hg. von B. Heintz et al., Wiesbaden 2008, 55 – 72. 162 Diese Theoriegeschichte kann hier nicht ausführlich behandelt werden. Siehe dazu die je-
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soll die Fassung der Differenzierungstheorie wie sie in Die Gesellschaft der Gesellschaft, Luhmanns noch zu Lebzeiten erschienenen zweiten opus magnum vorliegt, den Ausgangspunkt bilden. Gleichzeitig kann hier allerdings keine ausführliche Darstellung der Luhmannschen Differenzierungstheorie versucht werden. Vielmehr werden im Folgenden, ausgehend von den bisherigen Überlegungen zu einem globalen Rahmen der Theoriebildung und zur Weltgesellschaftstheorie, nun einige zentrale Aspekte der Differenzierungstheorie herausgestellt, an denen die vorliegende Arbeit anschließen kann. Die bisherigen theoretischen Überlegungen und Beispielbetrachtungen zum globalen Religionsdiskurs haben gezeigt, dass die Frage der Differenzierung für dessen Rekonstruktion von zentraler Bedeutung ist. Es lässt sich somit die These aufstellen, dass die Auseinandersetzung mit differenzierungstheoretischen Überlegungen für eine religionswissenschaftliche Beschäftigung mit dem globalen Religionsdiskurs unverzichtbar ist. Wie man differenzierungstheoretisch denken sollte bleibt dabei zunächst offen, aber dass man sich mit diesen Konzepten auseinander zu setzen hat, scheint offensichtlich. Denn es hat sich gezeigt, dass gerade diejenigen Autoren, die selbst keine expliziten differenzierungstheoretischen Überlegungen vorlegen, sich in den meisten ihrer Begriffsverwendungen und der Rede von ,Politik‘, ,Wirtschaft‘, ,Wissenschaft‘ und eben auch ,Religion‘, immer schon im Kontext der Vorstellung einer differenzierten Gesellschaft bewegen. Auch wenn sich einwenden ließe, dass diese Beobachtung selbst bereits offensichtlich das Ergebnis einer differenzierungstheoretischen Perspektive ist, deutet dies zwar auf eine unausweichliche Zirkularität der Situation hin, macht aber gleichzeitig deutlich, dass eine bloße Ablehnung differenzierungstheoretischer Perspektiven nicht weiterhilft, solange nicht gleichzeitig ein alternativer Vorschlag der Theoretisierung vorgelegt wird. Einige zentrale Aspekte der systemtheoretischen Fassung der Theorie funktionaler Differenzierung werden hier daher vor dem Hintergrund der Forderungen an eine ,kulturwissenschaftliche Theorie der Moderne‘ gelesen, bevor dann im nächsten Abschnitt explizit der Frage nach der ,Differenzierung von Religion‘ nachgegangen wird. Wenn eine Theorie der ,Moderne‘ gefordert wird, wie dies in der Auseinandersetzung mit Scott erkennbar wurde, dann ist die zentrale Frage zunächst die Bestimmung dieses Begriffs. Was wird unter ,Moderne‘ verstanden, und weilige Weiterentwicklung in Luhmann, Niklas, Soziologie als Theorie sozialer Systeme, Soziologische Aufklärung. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Opladen 1970, 113 – 136; ders., Interaktion, Organisation, Gesellschaft; ders. (Hg.), Soziale Differenzierung. Zur Geschichte einer Idee, Opladen 1985; ders., Soziale Systeme; den Monographien zu den einzelnen Funktionssystemen bis hin zu ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft. Siehe darüber hinaus zur Theoriegeschichte auch Göbel, Andreas, Theoriegenese als Problemgenese. Eine problemgeschichtliche Rekonstruktion der soziologischen Systemtheorie Niklas Luhmanns, Konstanz 2000.
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was soll dieser Begriff bezeichnen? Im Anschluss an Scott, sowie an Überlegungen die bereits im vierten Kapitel zu Beginn des Abschnitts 4.3.2 angestellt wurden, gilt das vorrangige Interesse in einer Beschreibung der ,Moderne‘ innerhalb der vorliegenden Arbeit der Frage nach neuartigen Unterscheidungen.163 Im Anschluss an Luhmann ließe sich die ,Modernität der Moderne‘ über eine bestimmte Form der Unterscheidungsbildung verstehen, welche er im Kontext einer Theorie funktionaler Differenzierung beschreibt. Dies schließt nicht aus, dass in einer solchen Theorie auch andere Aspekte berücksichtigt werden, die auch in anderen Theorien der Moderne (bis hin zu expliziten Modernisierungstheorien) zumeist verhandelt werden. Luhmann jedoch schlägt vor, zunächst strikt von der folgenden Feststellung auszugehen: „Wir definieren den Begriff der modernen Gesellschaft durch ihre Differenzierungsform […]. Im Moment ist nur festzuhalten, daß wir die moderne Gesellschaft als funktional differenzierte Gesellschaft begreifen […].“164 Wie Luhmann zu Beginn seiner Auseinandersetzung mit „Differenzierung“ in Die Gesellschaft der Gesellschaft bemerkt, ist das Differenzierungskonzept zunächst das Ergebnis einer Abstraktion, die es der entstehenden Soziologie ermöglicht hat, zum Ende des 19. Jahrhunderts von Fortschrittstheorien auf Strukturanalysen umzustellen.165 Während unter dem Stichwort „Differenzierung“ allerdings bei den soziologischen Klassikern eine Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven und Phänomene verhandelt werden, schränkt Luhmann den Begriff für seine Gesellschaftstheorie auf den „Sonderfall der Systemdifferenzierung“ ein.166 Die Besonderheit dieser Vorgehensweise besteht darin, dass das Abstellen auf die Differenzierung von System/Umwelt-Perspektiven es ermöglicht, Differenzierung nicht im Hinblick auf die „Teile“ eines „Ganzen“ zu verstehen, sondern als einen Prozess der Ausdifferenzierung unterschiedlicher Systemperspektiven. Differenzierung wird also bei Luhmann als Systembildung verstanden. Die Ausdifferenzierung eines sozialen Systems lässt sich somit verstehen als die Erzeugung einer Differenz von System und Umwelt durch die rekursive Verknüpfung von Operationen: „Wenn ein soziales System in dieser Weise entsteht, werden wir von Ausdifferenzierung sprechen, bezogen auf das,
163 Vgl. zum Begriff der Moderne erneut den Abschnitt „Modernity“ in Cooper, Colonialism in Question, 113 – 149. 164 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 743. Auch Luhmann weist bereits darauf hin, dass dieser Versuch eine zirkuläre Bestimmung impliziert, indem funktionale Differenzierung als das zentrale Kennzeichen der Moderne bestimmt wird und dann als Antwort auf die Frage nach dem Besonderen der Moderne auf funktionale Differenzierung verwiesen wird. Er interpretiert dies jedoch als notwendigen Ausgangspunkt einer jeden Gesellschaftstheorie, welche selbstreferentiell operiert. 165 Vgl. ebd., 595. 166 Ebd., 596.
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was als Folge der Ausdifferenzierung dann als Umwelt erscheint.“167 Systemdifferenzierung etwa innerhalb der Gesellschaft lässt sich somit auch verstehen als eine „rekursive Systembildung, die Anwendung von Systembildung auf ihr eigenes Resultat.“ Aus der Perspektive dieses ausdifferenzierten Systems erscheint das Gesamtsystem als „Einheit der Differenz von Teilsystem und Teilsystemumwelt“168. Gleichzeitig stellt der Rest des umfassenden Systems aus der Sicht des Teilsystems nun dessen Umwelt da. „Die Systemdifferenzierung generiert, mit anderen Worten, systeminterne Umwelten.“169 Ausdifferenzierung ist also nicht als die Dekomposition eines „Ganzen“ in „Teile“ zu verstehen, „[v]ielmehr rekonstruiert jedes Teilsystem das umfassende System, dem es angehört und das es mitvollzieht, durch eine eigene (teilsystemspezifische) Differenz von System und Umwelt.“170 In dieser Art und Weise „multipliziert sich gewissermaßen das System in sich selbst durch immer neue Unterscheidungen von Systemen und Umwelten im System.“171 Das heißt zugleich, dass jegliche Änderung im Kontext eines Teilsystems zugleich eine Veränderung in der Umwelt anderer Teilsysteme bedeutet und damit verdoppelt oder vervielfacht wird: „Was immer passiert, passiert mehrfach – je nach Systemreferenz.“172 Die Dynamisierung einer aus einer Vielzahl von Systemen bestehenden Gesellschaft, zwingt die Systeme, sich mit „Schwellen der Indifferenz“173 gegen diese ständigen Veränderungen in der Umwelt zu schützen. Daher folgt aus zunehmender Differenzierung auch eine Zunahme sowohl von Abhängigkeiten als auch von Unabhängigkeiten, die jeweils von einem System selbst unter Kontrollversuche gestellt werden.174 Letztlich deutet schon diese Beobachtung laut Luhmann auf „operativ geschlossene autopoietische Systeme“ hin.175 Die Verabschiedung des Teil/Ganzes-Schemas erleichtert für Luhmann die Verknüpfung von Systemtheorie und Evolutionstheorie.176 Indem Differenzierungsvorgänge von Luhmann als Ergebnis von „Evolution“ verstanden werden, lassen sie sich nicht auf eine Koordination etwa durch das Gesamtsystem zurückführen. Auch führt der Prozess der Ausdifferenzierung von unterschiedlichen Systemen nicht zu einer ,Verteilung‘ der Operationen des Gesamtsystems auf die einzelnen Teilsysteme. Luhmann selbst weist an dieser 167 168 169 170 171 172 173
Ebd., 597. Ebd. Ebd. Ebd., 598. Ebd. Ebd., 599. Ebenda. Hartmann Tyrell spricht hier auch von „legitime[r] Indifferenz“ (Anfragen an die Theorie der gesellschaftlichen Differenzierung, Zeitschrift für Soziologie 7/2, 1978, 175 – 193, hier: 183, Hervorhebung entfernt). 174 Vgl. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 599. 175 Ebd., 600. 176 Vgl. ebd.
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Stelle darauf hin, dass sich auch in einer Gesellschaft, die eine hochdifferenzierte Struktur aufweist, dennoch viel „,freie‘ Interaktion“ findet, die sich nicht einem der Teilsysteme zuordnen lässt.177 All diese theoretischen Vorschläge und Begriffe beziehen sich im Kontext von Luhmanns späterer Fassung seiner Theorie auf eine Differenzierung von Kommunikationen und nicht von Handlungen. Denn, so Luhmann, [w]er Handlungen beobachtet, wird typisch mehrfache Systemzugehörigkeiten feststellen können, allein schon deshalb, weil der Handelnde selbst körperlich und mental als Zurechnungspunkt fungiert und außerdem eine Handlung sich, nach Motiven und Wirkungen, an mehreren Funktionssystemen beteiligen kann.178
Erst die Umstellung von Handlung auf Kommunikation erfordert es im Kontext der Luhmannschen Theoriebildung, „die Elementareinheiten der Systembildung rekursiv durch Bezug auf andere Operationen desselben Systems zu definieren.179 Die Zentralstellung des Differenzierungskonzepts in seiner Gesellschaftstheorie führt dazu, dass Luhmann die Form der Differenzierung der jeweils betrachteten Gesellschaft (und somit auch der Weltgesellschaft) als deren entscheidendes Kennzeichen bestimmt. Da es um eine Unterscheidung von System und Umwelt geht, ist für die Bestimmung der Differenzierungsform die entscheidende Frage, „wie in einem Gesamtsystem das Verhältnis der Teilsysteme zueinander geordnet ist.“180 Die Einheit des betrachteten differenzierten Systems ist dann im Kontext eines solchen Theorieentwurfs nur noch an eben diesem „Konstruktionsprinzip seiner Differenzierung“ abzulesen.181 Da es in der Frage nach der Differenzierungsform um System-zu-SystemBeziehungen geht, ist es notwendig, diese zunächst von System/Umwelt-Beziehungen zu unterscheiden: „In der System/Umwelt-Beziehung operiert das System universalistisch, das heißt in der Form eines Schnitts durch die Welt. In System-zu-System-Beziehungen operiert es spezifisch, das heißt in bestimmten kontingenten Beobachtungsweisen.“182 Letzterer Fall bezeichnet also nicht die „Retotalisierung des System in sich selbst“, sondern „die Art und Weise, wie aus der Sicht eines Systems die Welt oder aus der Sicht eines Teilsystems das Gesamtsystem rekonstruiert wird.“183 Statt dessen geht es im Hinblick auf die Differenzierungsform um System-zu-System-Beziehungen: 177 Vgl. ebd., 598. Dies führt Luhmann zur Vorstellung eines doppelten Differenzierungsprozesses, der auch die Ebenen von Interaktion und Gesellschaft (und dann auch Organisation) ausdifferenziert. Vgl. ebd., 608. Siehe dazu auch Luhmann, Interaktion, Organisation, Gesellschaft sowie Tyrell, Zweierlei Differenzierung. 178 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 608. 179 Ebd. 180 Ebd., 609. 181 Luhmann, Soziale Systeme, 38. 182 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 609 – 610. 183 Ebd., 610.
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Von Form der Systemdifferenzierung sprechen wir mithin, wenn von einem Teilsystem aus erkennbar ist, was ein anderes Teilsystem ist, und das Teilsystem sich durch diesen Unterschied bestimmt. Die Form der Differenzierung ist also nicht nur eine Einteilung des umfassenden Systems, sie ist vielmehr die Form, mit der Teilsysteme sich selbst als Teilsysteme beobachten können – als dieser oder jener clan, als Adel, als Wirtschaftssystem der Gesellschaft.184
Indem sich der Begriff der Differenzierungsform auf das Verhältnis der Teilsysteme der Gesellschaft zueinander bezieht, betrifft er also die „Struktur des umfassenden Systems der Gesellschaft“.185 Diese Bestimmung der zentralen Struktur der Gesellschaft über das Verhältnis ihrer Teilsysteme ermöglicht es, das Spezifische eines Gesellschaftssystems besonders über die Form seiner Differenzierung zu charakterisieren. Das, was Luhmann unter Differenzierungsform der Gesellschaft daher versteht, ist die „Form der Strukturbildung, die jeweils bestimmt und einschränkt, welche strukturellen Kopplungen im Verhältnis der Teilsysteme zueinander möglich sind.“186 Eine solche dominante Differenzierungsform kann allein aus der Logik der Theorie zwar nicht für jedes Gesellschaftssystem begründet werden, wird von Luhmann aber dennoch als die wichtigste Gesellschaftsstruktur angesehen, denn ihre Durchsetzung bestimmt wiederum die Evolutionsmöglichkeiten des Systems, sowie ihre Normen, weiteren Differenzierungen und Selbstbeschreibungen.187 Auch wenn eine solche Analyse gerade nicht zu der Vorstellung führt, dass eine etablierte Dominanz eines bestimmten Differenzierungstyps unbedingt notwendig sei, lässt sich gleichzeitig nach Luhmann dennoch beobachten, dass es im Fall der Durchsetzung der Vorherrschaft einer Differenzierungsform zu einer „konsequentere[n] Ausformung ihrer Möglichkeiten“ kommt.188 Dies lasse sich im Hinblick auf Stratifikation etwa anhand des indischen Kastensystems oder der Ständeordnung im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa erkennen. Gleichsam sei die moderne Gesellschaft ein Beispiel für die Möglichkeit des Komplexitätsaufbaus im Kontext eines Primats funktionaler Differenzierung.189 Indem Luhmann auf diese Weise die gesellschaftliche Entwicklung als „Steigerung von Kommunikationsleistungen“ versteht, fokussiert er auf die Besonderheit der modernen funktional differenzierten Gesellschaft, in der eine „immense[] Steigerung hochspezialisierter Kommunikationen und Kommunikationserfolge“ zu tiefgreifenden Veränderungen geführt hat.190 184 185 186 187 188 189 190
Ebd. Ebd., 601. Ebd. Vgl. ebd., 611. Luhmann, Niklas, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1990, 608 – 609. Vgl. ebd. Luhmann, Niklas, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, München 1981, 20 – 21, Hervorhebung entfernt.
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In diesen Beispielen ist bereits deutlich geworden, dass Luhmann in Die Gesellschaft der Gesellschaft mehrere Differenzierungsformen identifiziert. Der dort vorgeschlagene Katalog, der die vier Formen der segmentären, stratifikatorischen und funktionalen Differenzierung, sowie Differenzierung nach Zentrum/Peripherie vorsieht, lässt sich zwar nicht vollständig aus der Theorie heraus begründen, und ist auch nicht grundsätzlich als abgeschlossen zu verstehen, verweist aber – so Luhmann – auf ein „Gesetz begrenzter Möglichkeiten“.191 Die der systemtheoretischen Variante der Weltgesellschaftstheorie zugrundeliegende Differenzierungstheorie unterscheidet sich, wie bereits deutlich geworden sein sollte, somit grundlegend von den meisten anderen Theorieentwürfen dieser Tradition. Dies ist neben einigen anderen hier nicht ausführlich wiedergegebenen Aspekten der Theorie vor allem in der von Luhmann angestrebten Überwindung des Teil/Ganzes-Schemas begründet. Indem er die Ausdifferenzierung von „Funktionssystemen“ nicht als eine Differenzierung der Gesellschaft im Sinne der Etablierung einer festen Einteilung in voneinander grundlegend verschiedene Bereiche versteht, sondern als Differenzierung von Systemperspektiven, aus denen jeweils alles, was in der Gesellschaft passiert, unter dem jeweiligen Gesichtspunkt des Systems beobachtet werden kann, stellt seine Theorie einen deutlich anders gelagerten Vorschlag dar. Dieses Verständnis gilt es im Blick zu behalten, wenn Luhmann nun vom „Primat einer Differenzierungsform“ spricht, von dem dann auszugehen sei, „wenn man feststellen kann, daß eine Form die Einsatzmöglichkeiten anderer reguliert.“192 Diese Vorstellung eines Primats wird im Folgenden kurz vorgestellt, da genau an dieser Stelle die Anknüpfung an die bisherige Fragestellung des vorliegenden Kapitels erfolgen soll. Ausgehend vom Primat der funktionalen Differenzierung ist die Gesellschaft somit nur noch als das gleichzeitige Nebeneinander ausdifferenzierter Funktionssysteme zu verstehen, die sich jeweils ausschließlich unter ihrer funktionssystemeigenen Perspektive auf die Gesellschaft beziehen: „Die Paradoxie, daß die Gesellschaft zugleich eine Einheit und eine Vielfalt ist, wird auf diese Weise entfaltet.“193 Das Konzept eines „Primats“ ist in der Luhmannschen Theorie grundlegend, bleibt jedoch in seiner Bedeutung umstritten, vor allem im Hinblick auf die Frage, wie diese Kategorie vor dem Hintergrund der Weltgesellschaft 191 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 612 – 614. Luhmann übernimmt diese Formulierung von Alexander Goldenweiser, der von einem „Principle of Limited Possibilities“ spricht. Siehe zu den einzelnen Differenzierungsformen, die hier nicht ausführlich behandelt werden können, vor allem die jeweiligen Abschnitte in ebd., 634 – 776, sowie unter anderem Luhmann, Niklas, Einführung in die Theorie der Gesellschaft, hg. von D. Baecker, Heidelberg 2005, 235 – 285. 192 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 611 – 612. 193 Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 635.
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empirisch verstanden werden kann.194 Die Kritik an dieser Vorstellung wird allerdings auch schon von Luhmann selbst thematisiert. Wie bereits im Abschnitt über Weltgesellschaftstheorie erwähnt, erzeugt die Behauptung eines Primats funktionaler Differenzierung viel Widerspruch, der sich mit Verweis auf die empirischen Unterschiede zwischen einzelnen Regionen und deren sich dem Funktionsprimat nicht fügenden Strukturen auf den ersten Blick gut begründen lässt.195 Gerade hier sei jedoch zu erkennen, dass sich der Primat eben nicht „als eine durch das Prinzip gesicherte Selbstrealisation“ begreifen lässt. Vielmehr zeichnet der weltgesellschaftlich durchgesetzte Primat die Strukturen vor, „welche die Bedingungen für regionale Konditionierungen vorgeben.“196 Die extrem ungleichen Entwicklungen der Weltgesellschaft seien somit gerade aus der Weltgesellschaft selbst zu erklären und dieser nicht äußerlich: Es geht, anders gesagt, um eine komplexe und labile Konditionierung von Konditionierungen, um Inhibierungen und Desinhibierungen, um eine von zahllosen weiteren Bedingungen abhängige Kombination von Beschränkungen und Gelegenheiten. Funktionale Differenzierung ist, so gesehen, nicht die Bedingung der Möglichkeit von Systemoperationen, sondern eher die Möglichkeit ihrer Konditionierung.197
Entwicklungen in einzelnen Regionen der Welt sind daher vor dem Hintergrund eines Primats funktionaler Differenzierung gerade nicht als „Mikroausgabe des Formprinzips funktionaler Differenzierung“ zu verstehen, sondern verweisen auf die Konditionierung, die durchaus unterschiedliche Ausprägungen ergeben kann. Dennoch sind dies eben weltgesellschaftliche Ausprägungen: „wenn es den Primat dieses Prinzips auf weltgesellschaftlicher Ebene nicht gäbe, wäre alles anders, und diesem Gesetz kann sich keine Region entziehen.“198 Die Ausrichtung der anderen – weiterhin vorhandenen – zahlreichen Differenzierungen innerhalb der Gesellschaft an dem jeweiligen Primat trifft 194 Diese Feststellung gilt vor allem im Hinblick darauf, dass die Luhmannschen Bücher zu den einzelnen Funktionssystemen zwar auf theoretischer Ebene alle von Weltgesellschaft ausgehen, in ihren ,empirischen‘ Teilen aber diese globale Dimension – verständlicherweise – auf der Ebene des behandelten Materials nicht einlösen können. Die Frage nach einer in diesem Sinne empirischen Beschreibung der Weltgesellschaft bleibt daher ein Desiderat, und gerade die These eines Primats verweist auf die Notwendigkeit sowohl einer weitergehenden theoretischen Reflexion, als auch empirischer Studien zu dieser Frage. Allerdings ist hier bereits das Problem impliziert, dass unklar bleibt, wie eine entsprechend ,Empirie‘ auszusehen hätte. 195 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 806. Vgl. auch Talal Asads in Abschnitt 7.1.2 diskutierte These einer „single shared world“. Auch dieser verweist dort auf die intuitive Plausibilität zahlreicher ,empirischer Gegenbeweise‘, die jedoch letztlich – so Asad, ähnlich wie hier auch Luhmann – das theoretische Argument nicht treffen. 196 Ebd., 811 – 812. 197 Ebd. 198 Ebd.
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nicht nur für die moderne, funktional differenzierte Gesellschaft zu, sondern zum Beispiel auch bereits für eine stratifizierte Gesellschaft.199 Und schon die Durchsetzung eines segmentären Primats für „primitive, archaische Gesellschaften“ ist – trotz des begrenzten Wissens über diese Gesellschaftssysteme – nicht als „Anfangsform menschlichen Zusammenlebens“ einzuschätzen, sondern sollte selbst als „evolutionäre Errungenschaft besonderen Typs“ verstanden werden: der Durchsetzung des Primats einer bestimmten Form der Systemdifferenzierung.200 Den Wechsel der Differenzierungsform, also den Übergang von einem Prinzip der Stabilität zu einem anderen, bezeichnet Luhmann als „Katastrophe“. Gleichzeitig wird dies dadurch gemildert, dass auch unter der neuen Differenzierungsform, wie zum Beispiel einem Primat von Zentrum/Peripherie-Differenzierung und/oder von Stratifikation etwa „auf dem Lande nach wie vor unter der Bedingung segmentärer Differenzierung gelebt wird und nur einige Funktionen an die Stadt oder an die herrschende Schicht abgegeben werden.“201 Somit betont Luhmann immer wieder, dass der Wechsel des Primats nicht dazu führt, dass in der Folge segmentäre Formen der Systemdifferenzierung oder Schichtenbildung vollständig abgelöst werden. Vielmehr sei sogar das Gegenteil zu beobachten: die Chancen für Segmentierungen (etwa auf Organisationsbasis) und für sich selbst verstärkende Ungleichheiten (etwa zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern) nehmen mit der Komplexität des Gesellschaftssystems zu; und sie ergeben sich gerade daraus, daß Funktionssysteme wie das Wirtschaftssystem oder das Erziehungssystem Gleichheiten bzw. Ungleichheiten als Moment der Rationalität ihrer eigenen Operationen nutzen und damit steigern.202
Denn ein Primat funktionaler Differenzierung bedeutet nicht dessen alternativlose Durchsetzung, sondern ist allein eine Beschreibung für die grundlegende Strukturform der modernen Gesellschaft. Im europäischen Kontext lässt sich eine solche Umstrukturierung etwa am Beispiel der steigenden Bedeutung von Rollenasymmetrien wie etwa Produzent/Konsument, Lehrer/ Schüler, oder Arzt/Patient erkennen. Auch wenn der Zugang zu den Rollen selbst weiterhin mit Schichtung in Verbindung steht, wird durch eine solche Neuorientierung die alte Ständeordnung delegitimiert. Dies ist für Luhmann ein zentraler Ausdruck der Umstellung des Primats der Gesellschaft von Stratifikation auf funktionale Differenzierung.203 199 So sieht Luhmann in diesem Fall einen Primat stratifikatorischer Differenzierung vor allem in der Ausrichtung der segmentären Differenzierung der Familienhaushalte an diesem Primat. Vgl. ebd., 685 – 686. 200 Ebd., 643. 201 Ebd., 655. 202 Ebd., 776. 203 Vgl. ebd., 739.
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Auch Segmentierung ist laut Luhmann in einer funktional differenzierten Gesellschaft weiterhin überall vorhanden, so etwa „in Betrieben oder zwischen Familien, im Bereich der politischen Entscheidungsvorbereitung oder in der territorialen Organisation politischer oder wirtschaftlicher Systeme, im Militärwesen usw.“204 Gleichzeitig findet diese Segmentierung ihre Rechtfertigung nun primär durch das und in dem jeweiligen Funktionssystem selbst.205 Eine Dominanz funktionaler Differenzierung im Luhmannschen Verständnis verhindert somit weder die Beibehaltung anderer Formen der Differenzierung noch die Veränderung oder den Abbau vorhandener älterer Differenzierungen. Der Primat funktionaler Differenzierung verweist einzig und allein darauf, „daß sich von der Differenzierung in Funktionssysteme her einreguliert, als was und wo andere Formen der Differenzierung oder Entdifferenzierungen vorkommen.“206 Die verbleibenden Formen anderer Differenzierungen lassen sich, so Luhmann jetzt nur noch als „Nebenprodukte der Eigendynamik der Funktionssysteme“ auffassen.207 Im Bezug auf eine Theorie der Weltgesellschaft lässt sich mit Rudolf Stichweh somit feststellen: „Funktionale Differenzierung im Sinne der Ausdifferenzierung von Großsystemen für Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Recht, Erziehung etc. ist die wichtigste strukturelle Charakterisierung der modernen Gesellschaft.“208 Stichweh spricht in Bezug auf die Weltgesellschaft auch von deren „Eigenstrukturen“, von denen das „Funktionssystem“ die bedeutsamste ist.209 Im Rahmen der Fragestellung des vorliegenden Kapitels möchte ich vorschlagen, an die Luhmannsche Fassung der Weltgesellschaftstheorie und besonders die Rede von einem „Primat funktionaler Differenzierung“ zunächst auf sehr allgemeiner Ebene anzuschließen. So könnte man versuchen, genau in diesem Aspekt der Weltgesellschaft diejenige zentrale Veränderung im Kontext der Moderne zu sehen, von der auch Talal Asad spricht:
204 Luhmann, Soziologie als Theorie sozialer Systeme, 170. 205 Vgl. ebd. 206 Luhmann, Niklas, Die Religion der Gesellschaft, hg. von Andr~ Kieserling, Frankfurt am Main 2000, 116. 207 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 612. 208 Stichweh, Die Weltgesellschaft, 88. 209 Vgl. Stichweh, Rudolf, Strukturbildung in der Weltgesellschaft – Die Eigenstrukturen der Weltgesellschaft und die Regionalkulturen der Welt, in: T. Schwinn (Hg.), Die Vielfalt und Einheit der Moderne. Kultur- und strukturvergleichende Analysen, Wiesbaden 2006, 239 – 257, hier: 241. Stichweh betont die starke Diskontinuität der Weltgesellschaft gegenüber dem Vorhergegangenen und setzt sich somit von alternativen Modellen und der Vorstellung von „multiplen Modernen“ ab, da diese eine Erhaltung und sogar Verstärkung – nicht zuletzt auf religionsgeschichtliche Grundlagen zurückgehender – kultureller Diversität zum theoretischen Ausgangspunkt nimmt, und diese Vielfalt dann kontinuierlich begründen und verteidigen muss. Vgl. ebd., 240 – 241. Siehe zu dessen Konzept der Weltgesellschaft auch ders., Das Konzept der Weltgesellschaft.
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social and cultural variety everywhere increasingly responds to, and is managed by, categories brought into play by modern forces. If, as some anthropologists now put it, culture is always invented, if invention always opens up the possibilities for difference, then it should also be clear that the conditions of invention are no longer what they once were […].210
Ohne hier weiter in die Details des Luhmannschen Theorieprogramms einsteigen zu können, ließe sich meiner Ansicht nach genau an dieser Stelle die von Scott und Asad aus der Perspektive der postcolonial studies geforderte Theoretisierung der „conditions of invention“ in der globalen Moderne mit einer an Luhmann anschließenden Weltgesellschafts- und Differenzierungstheorie verbinden. Auch die Frage nach der Bestimmung der „categories brought into play by modern forces“ ließe sich aus weltgesellschaftstheoretischer Perspektive reformulieren. Peter Beyer, der explizit an die Luhmannsche Theorietradition anschließt, beschreibt dies wie folgt: In Luhmannian terms, the dominance of the function systems does not mean that globalization amounts to the universal homogenization of society across the globe according to the criteria of these systems, only that these systems condition the ways that people do difference in that society. […] Given that in critical respects the dominant function systems began their current development in European society of the early modern period, a question that poses itself with respect to them is whether their spread is in fact not tantamount to the Europeanization or Westernization of the rest of the world. […] Rather than a simple diffusion of structural forms from one part of the world to the rest, globalization refers to the analogous transformation of society in Western and other regions of the world. More specifically, the function systems did not develop first in the West and then spread elsewhere. Their global spread is an integral part of their development […].211
In diesem Sinne könnte die differenzierungstheoretische Grundlage der systemtheoretischen Weltgesellschaftstheorie noch vor einer Beschäftigung mit den Details des Luhmannschen Begriffsgebäudes zunächst so verstanden werden, dass Luhmann mit der Rede von einem „Primat“ funktionaler Differenzierung auf genau diesen Aspekt hinweist. Funktionale Differenzierung wäre als entscheidendes Kennzeichen der Weltgesellschaft vorrangig über den mit ihr verbundenen globalen Primat zu verstehen, der jedoch – auch im Sinne Luhmanns – nicht als eine determinierende Struktur, sondern vielmehr im Anschluss an Beyer, aber auch Asad und Scott, als neuartiger Rahmen verstanden werden muss. Scott hatte dieses Interesse formuliert als die Frage nach der „reorganization of the terrain on which choice as such is possible“.212 Vor dem Hintergrund einer solchen Theorie der Weltgesellschaft und be210 Asad, Conscripts of Western Civilization, 333 – 334, meine Hervorhebung. Vergleiche zu dieser Passage auch Abschnitt 7.1.2. 211 Beyer, Peter, Religions in Global Society, New York 2006, 56. 212 Scott, Refashioning Futures, 26. Vgl. auch Abschnitt 7.1.3.
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sonders der in diesem Sinne verstandenen Vorstellung eines Primats funktionaler Differenzierung, sind im Rahmen der vorliegenden Arbeit zumindest noch zwei weitere Problemkomplexe zu behandeln. Dies betrifft zum einen die Frage danach, wie im Kontext der Luhmannschen Weltgesellschaftstheorie mit ,Religion‘ verfahren wird, und zum anderen eine erneute Problematisierung der Vorstellung funktionaler Differenzierung selbst. Denn in der bisher präsentierten Darstellung wurden primär die Luhmannschen Konzepte referiert, ohne die Frage zu stellen, in welcher Weise hier an die bisherigen Überlegungen zum globalen Religionsdiskurs angeschlossen werden kann. Dies soll daher in den verbleibenden zwei Abschnitten dieses Kapitels geschehen.
7.3.3 Das Problem der Differenzierung von ,Religion‘ in der Weltgesellschaft Aus soziologischer und besonders aus systemtheoretischer Sicht ließe sich zu dem im letzten Abschnitt skizzierten Zusammenhang einwenden, dass die Komplexität der von Luhmann entworfenen Differenzierungstheorie hier nicht ansatzweise reproduziert und berücksichtigt wurde, und dass der vorgeschlagene Anschluss sich in seiner theoretischen Kompatibilität zunächst noch erweisen müsse. Im Hinblick auf die in der vorliegenden Arbeit verfolgte Beschäftigung mit dem globalen Religionsdiskurs geht es in der Auseinandersetzung allerdings nicht um die Formulierung einer vollständigen Gesellschaftstheorie, sondern um die sich im Kontext der Differenzierungstheorie andeutende Perspektive auf ein zentrales Problem jeglicher Theoretisierung der Moderne: Wie lässt sich im Rahmen eines Theorieentwurfs in einer für weiterführende Fragestellungen anschlussfähigen Komplexität beschreiben, dass in der modernen Gesellschaft eine Reihe von neuartigen Differenzen zu bestehen oder sich zu etablieren scheinen? Auf welche Prozesse und welche Strukturen kann dies zurückgeführt werden? Noch stärker im Hinblick auf die bisherigen Interessen der vorliegenden Arbeit formuliert wäre die Frage, wie ein theoretischer Erklärungsversuch dafür aussehen könnte, dass es auf globaler Ebene zu einer relativ stabilen Etablierung bestimmter Unterscheidungen kommt, die in der Moderne universal zur Verfügung stehen und weltweit verwendet werden. Der hauptsächliche Grund, der das Luhmannsche Theorieprogramm für die in der vorliegenden Arbeit verfolgte Fragestellung so interessant macht, ist, dass zumindest der späte Luhmann seine Beschreibungen der modernen Gesellschaft, die sich besonders in den Monographien zu den einzelnen Funktionssystemen und in Die Gesellschaft der Gesellschaft niederschlagen, explizit nicht als Beschreibung bestimmter Phänomene, sondern als theoretische Beobachtungen bestimmter in der Gesellschaft ablaufender und sich bereits selbst im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung beobachtender
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Kommunikationszusammenhänge versteht.213 Die Titel der späteren Monographien Luhmanns zu den einzelnen Funktionssystemen müssen daher auch genau in diesem Sinne verstanden werden. „Die Religion der Gesellschaft“ beschreibt somit nicht ,die Religion‘ im Sinne eines ,Phänomens‘, sondern das, was in der (Welt-)Gesellschaft als ausdifferenzierter Kommunikationszusammenhang ,Religion‘ fungiert.214 Ein solches Verständnis des Luhmannschen Theorieinteresses ist die Grundlage der im folgenden skizzierten Überlegungen.215 Als Ausgangspunkt der Luhmannschen Theorie kann die Operativität des Sozialen verstanden werden, die er über den Grundbegriff der Kommunikation konzeptualisiert. Ausgehend von der Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation216 interessiert er sich für die Selbststabilisierung kommunikativer Zusammenhänge und die Ausbildung gesellschaftlicher Strukturen, die (wie etwa im Fall der „Funktionssysteme“) weder auf eine vorgängige ,Gesellschaftsstruktur‘ noch auf notwendigerweise zu erfüllende Funktionen der Gesellschaft zurückgeführt werden können – als operative Ereignisreihen aber dennoch nicht weniger ,real‘ sind.217 213 Die im Folgenden vertretene Interpretation der Luhmannschen Gesellschaftstheorie und besonders die in diesem Zusammenhang identifizierten Probleme in dessen Beschäftigung mit ,Religion‘ sind selbstverständlich nur eine mögliche Interpretation des Luhmannschen Spätwerks. Gleichzeitig findet sich, wie im Folgenden gezeigt wird, auch in den späteren Monographien eine Überlappung verschiedener Interessen, die sich vermutlich primär durch die jahrzehntelange Arbeit an der Theorie der Gesellschaft erklären lassen. Zum anderen sind die im Folgenden thematisierten und aus religionswissenschaftlicher Sicht problematischen Aspekte der Luhmannschen Religionstheorie – gerade im Hinblick auf die Frage nach dem ,Phänomen Religion‘ – wohl auch darauf zurück zu führen, dass dessen akademische Diskussionspartner in Sachen Religion zunächst vor allem innerhalb der Theologie zu finden waren. 214 Vgl. zu einer ähnlichen Perspektive, jedoch ohne explizit diesen Schluss zu ziehen, auch bereits Beyer, Peter, What Counts As Religion in Global Society? From Practice to Theory, in: ders. (Hg.), Religion im Prozeß der Globalisierung, Würzburg 2001, 125 – 150. Als eine Sammlung Luhmannscher Texte, die ein ähnliches Interesse bereits im Titel trägt, siehe Luhmann, Niklas, Theories of Distinction. Redescribing the Descriptions of Modernity, hg. von W. Rasch, Stanford 2002. 215 Die hier dargestellten Überlegungen zu differenzierungstheoretischen Problemen und der Frage, wie funktionale Differenzierung auf der Ebene der Weltgesellschaft theoretisch weiterführend gedacht werden kann, basieren nicht zuletzt auf der intensiven Diskussion dieser Thematik im Kontext des Graduiertenkollegs „Weltgesellschaft“ an der Universität Bielefeld, dem der Verfasser der vorliegenden Arbeit von 2006 – 2009 angehörte. Sie gehen unter anderem auf Debatten in der dortigen AG „Funktionale Differenzierung“ zurück. Siehe in diesem Zusammenhang daher auch die Dissertation von Stefan Priester (Arbeitstitel „Film als Weltkunst“) sowie die im Graduiertenkolleg „Auf dem Weg in die Wissensgesellschaft“ (Univ. Bielefeld) entstandene Dissertation von Kaldewey, David, Wahrheit und Nützlichkeit. Selbstbeschreibungen der Wissenschaft zwischen Autonomie und gesellschaftlicher Relevanz, Bielefeld 2013. 216 Vgl. Luhmann, Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation. 217 Vgl. auch Nassehi, Armin, Funktionale Differenzierung – revisited. Vom Setzkasten zur Echtzeitmachine, in: E. Barlösius et al. (Hg.), Gesellschaftsbilder im Umbruch. Soziologische
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Während dieser Aspekt der Theorie funktionaler Differenzierung in der systemtheoretischen Konzeption Luhmanns und ihrer Weiterentwicklung durch Armin Nassehi und Urs Stäheli im nächsten Abschnitt noch einmal aufgegriffen wird, interessiert im Folgenden zunächst Luhmanns Beschreibung von ,Religion‘. Wie erscheint in der Perspektive der systemtheoretischen Weltgesellschaftstheorie, die zentral auf der Theoriefigur der funktionalen Differenzierung aufbaut, nun ,Religion‘? Und was kann diese zu den in dieser Arbeit bisher skizzierten Betrachtungen des globalen Religionsdiskurses beitragen? Luhmanns Analysen in seinem Spätwerk Die Religion der Gesellschaft stellen – so meine These – einen Versuch dar, die zwei Herausforderungen einer Diskurstheorie der ,Religion‘ und einer Religionstheorie gleichzeitig zu bearbeiten. Auch wenn sich bei genauer Lektüre erkennen lässt, dass Luhmann durchaus versucht, diese zwei Dimensionen seiner Analyse zunächst auseinander zu halten (u. a. indem er die Selbstbeobachtung der ,Religion‘ von einer Fremdbeschreibung unterscheidet), wird die Schwierigkeit eines solchen Versuchs von ihm nicht explizit thematisiert und besonders das Verhältnis seiner beiden Analysen zueinander nicht geklärt. Es tauchen hier somit verschiedene Probleme auf, die es erschweren, an seine (,diskurstheoretische‘) Beschreibung der Konstitution von ,Religion‘ als eines sich selbst beobachtenden und selbst unterscheidenden Kommunikationszusammenhangs in der modernen Gesellschaft anzuknüpfen, ohne seine religionstheoretischen Überlegungen ebenfalls rezipieren zu wollen. Aus religionswissenschaftlicher Sicht wäre daher vorzuschlagen, diese beiden theoretischen Interessen zunächst einmal klar zu trennen, wie ich bereits im ersten Teil der Arbeit argumentiert habe. Es ist aber bereits hier anzumerken, dass Luhmanns Theorie, auch wenn sie dieses Problem nicht direkt thematisiert, mit der Theoriefigur der Selbst- und Fremdbeobachtung sowie der Unterscheidung zwischen Operativität/Beobachtung erster Ordnung und Beobachtung zweiter Ordnung durchaus eine Möglichkeit anböte, diese zwei Interessen zu unterscheiden. Und auch wenn man die hier im Anschluss an bestimmte Aspekte der Luhmannschen Theorie vorgeschlagene Betrachtung ablehnen mag, wäre ein alternatives Angebot zumindest auf dem gleichen theoretischen Niveau zu konzipieren.218
Perspektiven in Deutschland, Opladen 2001, 155 – 176, hier: 157 – 159; ders., Der soziologische Diskurs, 250, 422. 218 Es geht dabei – wie bereits mehrfach gesagt – nicht darum, zu behaupten, dass sich diese beiden Interessen vollständig trennen lassen, und letztlich ließe sich gerade Luhmanns Theorie als ein Versuch verstehen, trotz dieser Problematik eine komplexe Religionstheorie vorzulegen. Dennoch ist zur Herausarbeitung der Problematik und zur ,Entwirrung‘ der gegenwärtigen religionswissenschaftlichen Debatten die hier vorgeschlagene Unterscheidung möglicherweise hilfreich.
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Niklas Luhmanns Beschäftigung mit „Religion“ ist ein zentraler Aspekt seiner soziologischen Arbeit und steht, so könnte man sagen, sowohl am Anfang als auch am Ende seiner gesellschaftstheoretischen Überlegungen.219 Diese Zentralstellung der Religionssoziologie in der Systemtheorie ist unter anderem in seiner Religionstheorie selbst begründet, da Luhmann diese eng an den Sinnbegriff bindet, der gleichzeitig einer der grundlegendsten Begriffe seiner Theorie ist. Anstelle einer ausführlichen Rekonstruktion der systemtheoretischen Beschreibung von „Religion“, soll hier allerdings nur ein einzelner zentraler Aspekt von Luhmanns Spätwerk Die Religion der Gesellschaft vor dem Hintergrund der in der vorliegenden Arbeit vorgeschlagenen Unterscheidung von Diskurstheorie/Religionstheorie angesprochen werden: Luhmann setzt in seiner Analyse von „Religion“ auf zwei Ebenen an. Zum einen möchte er – in Abgrenzung zur soziologischen Tradition und zur Diskussion über „Wesensbestimmungen“ innerhalb der Religionswissenschaft – „Religion“ nicht definieren, sondern daraufhin beobachten, wie sie sich selbst unterscheidet: Religion [scheint] zu jenen Sachverhalten zu gehören, die sich selbst bezeichnen, sich selbst eine Form geben können. Aber das heißt dann auch, daß die Religion sich selber definiert und alles, was damit inkompatibel ist, ausschließt. […] Angesichts eines solchen Sachverhalts kann Religion extern nur im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung, nur als Beobachtung ihrer Selbstbeobachtung definiert werden – und nicht durch ein Wesensdiktat von außen.220
Im Kontext seiner soziologischen Theorie sei „Religion“ daher „ausschließlich als kommunikatives Geschehen“ aufzufassen: Es geht also ausschließlich um religiöse Kommunikation, um religiösen Sinn, der in der Kommunikation als Sinn der Kommunikation aktualisiert wird. Im Unterschied zu den Aussagen, die die Religion über sich selber macht, haben wir es demnach nicht mit religiösen Entitäten (Gottheiten zum Beispiel) zu tun, von denen gesagt wird, daß sie existieren. Uns interessiert nur, daß dies gesagt wird.221
Anhand seiner Analyse der „Codierung“ religiöser Kommunikation beschreibt Luhmann, wie sich „Religion“ dadurch „selbst unterscheidbar 219 Zu Luhmanns Religionstheorie aus der Sicht der Sekundärliteratur siehe Kött, Andreas, Systemtheorie und Religion. Mit einer Religionstypologie im Anschluss an Niklas Luhmann, Würzburg 2003. Anders als zu den meisten anderen Funktionssystemen der Gesellschaft gibt es zum Thema „Religion“ von Luhmann zwei Monographien, die im Abstand von 20 Jahren ausgearbeitet wurden und daher auch seine Theorieentwicklung reflektieren. Daneben gibt es zahlreiche weitere kleinere Schriften und Bemerkungen zu „Religion“ in vielen anderen Texten sowie eine längere Studie in Aufsatzform. Vgl. Luhmann, Niklas, Funktion der Religion, Frankfurt am Main 1977; ders., Die Religion der Gesellschaft; ders., Die Ausdifferenzierung der Religion, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft 3, Frankfurt am Main 1989, 259 – 358. 220 Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, 15. 221 Ebd., 40.
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[macht], nämlich als ein System mit diesem (und keinem anderen) Code.“222 Er ist zwar, ähnlich wie auch die soziologische Tradition, auf der Suche nach einer Unterscheidung, „die es ermöglicht, Religion als Religion zu erkennen“, möchte dies aber nicht als externer Beobachter „von außen“ tun.223 Statt dessen möchte er die Frage anders fassen: Wir verschieben deshalb die Fragestellung und fragen nur einen einzigen Beobachter : die Religion selbst. Die Frage lautet dann: woran erkennt religiöse Kommunikation, daß es sich um religiöse Kommunikation handelt? Oder in anderen Worten: wie unterscheidet die Religion sich selbst? Als externe Beobachter verlassen wir uns dann auf die Selbstbeobachtung der Religion. Wir schreiben nicht vor, wir nehmen hin, was sich selbst als Religion beschreibt.224
All dies lässt erkennen, dass Luhmann der späten Fassung seiner Beschäftigung mit Religion zunächst nicht eine „Religionsdefinition“ zugrunde legen möchte, sondern von „Religion“ als einem kommunikativen Geschehen in der Gesellschaft ausgeht, das sich selbst als solche identifiziert. Und die Aufgabe der soziologischen Analyse wäre damit die Rekonstruktion dieses sich selbst unterscheidenden und bezeichnenden Kommunikationszusammenhangs. Ich würde dies als ein zu dem bereits erwähnten diskurstheoretischen Zugang parallel gelagertes Interesse verstehen, das nicht nach dem ,Phänomen Religion‘ fragt, sondern nach ,Religion‘ als einem kommunikativen (,diskursiven‘) Zusammenhang, dessen Operativität und dessen Geschichte als sich selbst stabilisierende Kommunikationskette zu rekonstruieren wäre. Gleichzeitig lässt sich aber bei Luhmann ein zweites Interesse erkennen, das von ihm selbst nicht klar von dieser Untersuchung der sich selbst bezeichnenden „Religion“ getrennt wird. Am deutlichsten wird dies in seiner Diskussion der „Funktion“ der „Religion“. Nach seiner Auseinandersetzung mit der Selbstunterscheidung und -bezeichnung von „Religion“ greift er in einem späteren Kapitel seines Buchs die Frage nach der „Funktion“ auf, und weist darauf hin, dass hier nun explizit eine externe Beschreibung der „Religion“ durch die Soziologie erfolgt. Zunächst abstrahiert Luhmann den Funktionsbegriff, um diesen als Frage nach einem „Bezugsproblem“ zu reformulieren, für welches dann durchaus mehrere Lösungen angegeben werden könnten:225 Der mit Funktionalisierung angestrebte Gewinn liegt nicht in der Problemlösung selbst (denn es kann sich ja auch, ja es wird sich zumeist um längst gelöste Probleme handeln), sondern im Hinweis auf eine Mehrheit von funktional äquivalenten Pro-
222 223 224 225
Ebd., 54. Ebd., 57. Ebd., 57 – 58. Vgl. ebd., 116.
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blemlösungen, also in der Etablierung von Alternativität oder funktionaler Äquivalenz.226
Gleichzeitig stellt Luhmann mit dieser Fassung des Funktionsbegriffs klar, dass es sich hierbei um eine externe Beobachtung handelt: „Funktionen sind immer Konstruktionen eines Beobachters. […] Wer ist der Beobachter, wenn es um die Frage nach der Funktion der Religion geht: das Religionssystem selbst oder die Wissenschaft als externer Beobachter?“227 Diese Frage beantwortet Luhmann später explizit: „Um das Kontingenzschema der Frage nach der Funktion ausreizen zu können, müssen wir deshalb die Position eines externen Beobachters einnehmen.“ Damit steht gleichzeitig fest, „daß unsere Frage nach der Funktion nicht ohne weiteres in dieses System hineincopiert werden kann.“228 Eben genau dies ermöglicht es dann aber, aus der „Distanz eines externen Beobachters“ die „Frage nach der Funktion der Religion zu stellen.“229 Als Antwort auf diese Frage stellt Luhmann dann unter anderem als Funktionsbestimmung fest: Je nachdem, welche Formulierung man für das Ausgangsproblem der Unbestimmbarkeit aller selbstreferentiell operierenden Sinnverwendung bevorzugt: die Religion bezieht sich auf dieses Problem und bietet speziell dafür Lösungen an. Religion garantiert die Bestimmbarkeit allen Sinnes gegen die miterlebte Verweisung ins Unbestimmbare.230
Im Zusammenhang der Theorieproblematik, auf die ich hier hinweisen will, geht es nun allerdings nicht um die konkreten Antworten, die Luhmann auf die Frage nach der „Funktion der Religion“ gibt, sondern darum, dass Luhmann an dieser Stelle offensichtlich einen deutlichen Wechsel seines Theorieinteresses vollzieht. Zwar setzt er einerseits weiterhin die Unterscheidung von Selbstbeobachtung (des Religionssystems) und Fremdbeobachtung (etwa durch die Soziologie) voraus, um zu verdeutlichen, dass diese unterschiedlichen Beobachter durchaus anderes unter „Religion“ verhandeln können (und aus Sicht der Theorie auch: müssen).231 Im weiteren Verlauf seines Buches werden jedoch diese beiden Ebenen nicht mehr konsequent auseinanderge226 227 228 229 230
Ebd., 116 – 117. Ebd., 118. Ebd., 119. Ebd., 120. Ebd., 127. Vgl. auch: „Religion scheint immer dann vorzuliegen, wenn diese Vorgaben zum Problem werden, das heißt: wenn man einzusehen hat, weshalb nicht alles so ist, wie man es gerne haben möchte“ (ebd., 122). 231 Die Theorie bietet mit der Figur des Beobachters durchaus eine Möglichkeit an, diese unterschiedlichen Perspektiven innerhalb der Systemtheorie selbst darzustellen. Denn letzten Endes lässt sich auch die Unterscheidung von Diskurstheorie und Religionstheorie nicht als kategorische Trennung verstehen oder als Behauptung einer vollständigen Unabhängigkeit von religiöser Selbstbeobachtung und wissenschaftlicher Fremdbeobachtung, sondern durchaus als ein zirkuläres Verhältnis, das in der vorliegenden Arbeit jedoch mit dieser Unterscheidung analysiert wird, um bestimmte Probleme sichtbar zu machen.
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halten und es bleibt oft unklar, auf welche „Religion“ – die sich selbst beobachtende, oder die etwa über ihre Funktion vom Soziologen bestimmte „Religion“ – sich Luhmanns Aussagen über „Religion“ nun beziehen. Dies zeigt sich meiner Ansicht nach beispielsweise in folgender Bemerkung Luhmanns, welche das Kapitel zur „Funktion der Religion“ abschließt: Um so wichtiger dürfte es sein, an Erkennungskriterien wie Code und Funktion festzuhalten und gegebenenfalls diese Begriffe auf das Problem der Selbstbeobachtung von Religion als Religion und der Grenzziehung des Religionssystems zuzuschneiden. Denn anderenfalls könnte jede nicht anders zu erklärende Seltsamkeit als Religion fungieren.232
In dieser Formulierung ist nicht länger zu erkennen, dass die Frage nach dem Code, die Luhmann als eine der grundlegenden Bedingungen für die Selbstidentifikation von „Religion“ als „Religion“ bestimmt hat, und die Frage nach der „Funktion“, die er eindeutig als eine Fremdbeobachtung durch die Soziologie beschrieben hat, von ihm in seinen Aussagen über „Religion“ auseinander gehalten werden. Ähnlich zeigt sich etwa auch im Kapitel über „Selbstbeschreibungen“, dass beide Theorieinteressen weiterhin verbunden bleiben, weshalb Luhmann dort etwa formulieren kann: „Der Grund für die Insulierung233 muß in der Eigenart des Mediums Sinn und damit in der besonderen Funktion von Religion gesucht werden.“234 Entscheidend ist hier nun nicht vorrangig, ob sich innerhalb der Luhmannschen Theorie diese beiden Interessen nicht vielleicht doch kohärent verbinden ließen, sondern die Tatsache, dass hier mit dem wiederholten Rekurs auf die „Funktion der Religion“ zumindest nicht mehr – wovon Luhmann zu Beginn ausgehen wollte – nur „ein einzige[r] Beobachter : die Religion selbst“235 gefragt wird. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit lässt sich im Anschluss an die Unterscheidung von Diskurstheorie und Religionstheorie die These vertreten, dass es sich bei den von Luhmann ja auch selbst zunächst unterschiedenen Interessen um zwei verschiedene Beobachtungs- und Frageweisen handelt, deren theoretische Grundlage und deren ,Ergebnisse‘ nicht ohne weiteres jeweils im Rahmen der anderen Perspektive in Anspruch genommen werden können. Gerade weil in der Systemtheorie, wie wir gesehen haben, für jede Beobachtung eine Systemreferenz angegeben werden kann und muss, lässt sich nicht wie selbstverständlich davon ausgehen, dass die Beobachtung von „Religion“ aus der Perspektive der Wissenschaft (wie etwa der Soziologie) mit 232 Ebd., 146. 233 Der Begriff „Insulierung“ verweist in diesem Zusammenhang auf eine interne Differenzierung des Religionssystems, durch welche neue abgegrenzte „Religionen“ entstehen, ein Vorgang, den Luhmann in Übernahme einer biologischen Metapher als ,Insulierung von Populationen‘ beschreibt. Vgl. ebd., 343 – 344. 234 Ebd., 343. 235 Ebd., 57.
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der Selbstidentifikation von „Religion“ übereinstimmt. Genau hier arbeitet Luhmann trotz der explizit dargestellten Voraussetzungen seiner Betrachtung von „Religion“ somit nicht trennscharf. Es ließe sich hier einwenden, dass es sich bei beiden Beschreibungsinteressen in gewissem Sinne um externe Beobachtungen handle, denn in beiden Fällen werde ,Religion‘ ja innerhalb einer soziologischen Analyse beschrieben. Dennoch lässt sich der folgende Unterschied feststellen: Während das erste Interesse darauf zielt, zu beobachten und zu rekonstruieren, wie sich ,Religion‘ als sich selbst stabilisierender Kommunikationszusammenhang selbst beschreibt und unterscheidet, geht das zweite Interesse darüber hinaus (bzw. setzt ganz anderes an) und versucht, ,Religion‘ von außen als eine Einheit zu beschreiben (etwa über die Bestimmung einer Funktion) und somit als externer Beobachter ,die Religion‘ zu unterscheiden. Ich würde argumentieren, dass es sich hier genau um eine zu der in dieser Arbeit getroffenen Unterscheidung parallel gelagerte Differenz zwischen einem diskurstheoretischen (,rekonstruierenden‘) und einem religionstheoretischen (,notwendig konstruierenden‘) Zugang handelt.236 Die hier in meiner Lesart von Luhmanns Religion der Gesellschaft identifizierte Problematik kann im Folgenden nicht detailliert systemtheoretisch aufgearbeitet werden, böte aber für eine ausführlichere Beschäftigung mit der im Kontext dieser Theorie vorliegenden Beschreibung von ,Religion‘ zahlreiche Anknüpfungspunkte. Auch kann hier die Frage nicht geklärt werden, was es tatsächlich bedeuten würde, die Luhmannsche Einsicht in die grundlegende Bedeutung der Selbstthematisierung von ,Religion‘ als ,Religion‘ zur Grundlage einer (religionswissenschaftlichen) Differenzierungstheorie zu machen, auch wenn diese Frage im nächsten Abschnitt noch einmal in einigen wenigen Aspekten aufgegriffen wird. An dieser Stelle soll statt dessen die hier über die Unterscheidung von Diskurstheorie/Religionstheorie herausgestellte Problematik an einem weiteren Theorieentwurf zur ,Religion‘ in der Weltgesellschaft diskutiert werden, der Studie von Peter Beyer.237 An Beyers an Luhmann anschließender Analyse ist interessant, dass er sich zwar auf Luhmanns Theorie bezieht, jedoch – so meine These – tatsächlich größtenteils ein rein ,diskurstheoretisches‘ Interesse verfolgt. Da aber gleichzeitig die mit der in der vorliegenden Arbeit vorgeschlagenen Unterscheidung verbundene Problematik nicht explizit reflektiert wird, erscheinen in seiner Studie genau diejenigen Momente für die hier verfolgte Frage als besonders aufschlussreich, in denen er Schwierigkeiten hat, sich gegenüber einer religionstheoretischen Fragestellung abzugrenzen. Es kommt an dieser Stelle zu 236 Die Beschränkung auf die Selbstbeobachtung von ,Religion‘ als ,Religion‘ würde – so könnte man sagen – in diesem Sinne der Foucaultschen Beschränkung auf die Positivität des Diskurses entsprechen. 237 Siehe Beyer, Religions in Global Society.
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Unklarheiten und Brüchen in seiner Analyse, die das bereits bei Luhmann identifizierte Problem noch einmal klar heraustreten lassen. Beyer ist sich der Herausforderungen einer theoretischen Beschreibung von ,Religion‘ deutlich bewusst, und schränkt daher gleich am Anfang seines Buches den Anspruch seiner Analyse stark ein. Seine theoretischen Überlegungen würden „only in contemporary global society“ gelten,238 und das Ziel sei somit nicht eine universale Religionstheorie, sondern ein beschreibender und an einer historischen Analyse orientierter Versuch über die sich globalisierende Gesellschaft der letzten Jahrhunderte: To date, scholarly work that has focused on religion as a whole has tended to construct theories that seek to encompass religion – however defined more precisely – in all times and places. Such a ,universal‘ theory of religion is not my purpose here. Instead, mine is a descriptive and historical task, not one of universal typology let alone sociological law and prediction. Although I work with a host of generalized sociological concepts, I claim validity for them only as reflective of a particular historical situation, the globalizing society of the present and recent centuries. My effort does not pretend to be a theory of religion for all times and societies. To be sure, nothing stops it from being applied to these other situations, but it is not for them that the theory is constructed.239
Sein grundlegender Ausgangspunkt im Anschluss an Luhmann ist die Annahme, dass sich „Religion“ als eines von mehreren ausdifferenzierten Funktionssystemen in der heutigen Weltgesellschaft beschreiben lasse. Die Behauptung, dass es in dieser tatsächlich „function systems“ im Sinne bestimmter Kommunikationszusammenhänge gebe, sei dabei als eine historisch orientierte Aussage zu verstehen, die in ihrer Reichweite sehr begrenzt bleibe.240 Beyer betont, dass die Differenzierungstheorie keine Ausdifferenzierungsteleologie impliziere, also die Vorstellung dass diejenigen Funktionssysteme, die sich heute beschreiben lassen, in irgendeiner Form das Ergebnis eines notwendig in dieser Weise ablaufenden Prozesses seien. Vielmehr sind Funktionssysteme historisch kontingente Ergebnisse der Verflechtung zwischen einer ganzen Reihe von Vorgängen, die nicht auf irgendeine Form der Notwendigkeit grundlegender gesellschaftlicher Bezugsprobleme zurückzuführen sind. Auch wenn Beyer also den Geltungsanspruch seiner Theorie zeitlich stark einschränkt und nur auf die moderne Weltgesellschaft bezieht, sieht er den Differenzierungsprozess, als dessen Ergebnis sich – zwar in Folge kontingenter Vorgänge, aber deswegen nicht weniger real – auch ein Funktionssys238 Ebd., 2. 239 Ebenda. Vgl. hierzu auch Beyer, What Counts As Religion als frühere Fassung eines solchen Versuchs. 240 Beyer, Religions in Global Society, 3.
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tem „Religion“ entwickelt habe, als einen Vorgang an, der seinerseits auch mit für die Herausbildung dessen verantwortlich ist, was Beyer als „world society“ bezeichnet. Funktionssysteme sind in diesem Sinne zwar Ergebnis einer Vielzahl verschränkter kontingenter historischer Prozesse, deren tatsächliche Ausdifferenzierungsgeschichte nur aus einer globalen Perspektive erklärbar ist, sie sind aber – als Kommunikationszusammenhänge – gleichzeitig in der Form real, dass sie in der heutigen Weltgesellschaft tatsächlich existieren. Trotz dieser bereits sehr starken Limitierung der Reichweite seiner theoretischen Beschreibung sieht sich Beyer schon in der Einleitung seines Buchs gezwungen, seinen Entwurf noch einmal zu hinterfragen und einzugrenzen. Obwohl er nur den Anspruch erhebt, die Form beschreiben zu wollen, die „Religion“ in dem von ihm beschriebenen Sinne in der modernen Weltgesellschaft einnimmt, schränkt er die Geltung seiner theoretischen Rekonstruktion weiter ein. Das Funktionssystem „by no means includes everything conceivably religious […]. And there is much of religious importance that hovers at the margins and even outside of these religions.“241 Vor dem Hintergrund der hier interessierenden Problematik und der Unterscheidung von Diskurstheorie und Religionstheorie lässt sich an dieser Stelle fragen: Wer beobachtet hier? Wer geht davon aus, dass es ,Religiöses‘ auch außerhalb des Funktionssystems ,Religion‘ gibt oder geben müsse? Einerseits weist Beyer in seiner Formulierung durch das Wort „conceivably“ bereits darauf hin, dass derjenige, der so etwas behauptet, selbst auf eine bestimmte Weise beobachten muss, und dass es nicht etwa das ,Wesen eines Phänomens‘ ist, das Beyers Konzeption hier widerspricht. Wer hier widerspricht, ist also vielmehr selbst ein Beobachter. In erster Linie zielt Beyer an dieser Stelle wohl auf einen anderen wissenschaftlichen Beobachter, der mit einem anderen Religionsbegriff operiert, und daher andere Dinge als ,Religion‘ oder als ,religiös‘ ansieht, als Beyer dies tut. Diese würden, da sie nicht zur Operativität des ausdifferenzierten Kommunikationszusammenhangs ,Religion‘ gehören, von Beyer zunächst nicht als ,Religion‘ verstanden werden. Es könnte sich also um einen religionswissenschaftlichen Beobachter handeln, der etwa ,Kapitalismus als Religion‘ verstehen möchte, von ,politischen Religionen‘ spricht, oder auch Fragen stellt wie: „Ist nicht auch Wissenschaft als religionsproduktive Kraft Teil der Religionsgeschichte der Moderne und somit selbst teilweise ein religiöses Phänomen?“ Diese Einwände und Kritiken, denen Beyer mit der erneuten Einschränkung der Reichweite seines Ansatzes vorweggreifen möchte, deren Legitimität er aber gleichzeitig insofern bestätigt, als dass er davon ausgeht, dass sich ,Religiöses‘ durchaus auch ausserhalb des Funktionssystems ,Religion‘ finden ließe, weisen erneut auf die grundlegende Frage hin, welcher ,Realitätsgehalt‘ 241 Ebd., 3 – 4.
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diesem ,Funktionssystem Religion‘ zugesprochen wird, und wie sich dieser zu einem ,Phänomen Religion‘ verhält. Denn wenn Beyer den Luhmannschen Vorschlag, ,Religion‘ nicht mit Hilfe einer religionstheoretischen Definition zu bestimmen, sondern darauf zu achten, wie sich ,Religion‘ als ein Kommunikationszusammenhang in der Weltgesellschaft selbst herausbildet und selbst beobachtet, tatsächlich konsequent befolgen würde, dann müsste an dieser Stelle ein solcher Einwand nicht etwa berücksichtigt werden, sondern konsequent abgelehnt werden. Denn dessen Stichhaltigkeit könnte, wie in der vorliegenden Arbeit bereits mehrfach betont, nur auf zwei Gründe zurückgeführt werden, die aber beide im Kontext einer ,diskurstheoretischen‘ Perspektive (und so soll die Luhmannsche Beobachtung der Selbstbeobachtung hier verstanden werden) nicht mehr relevant sind. Einerseits wäre dies der Einwand, dass es aus religionswissenschaftlicher Sicht verschiedene Gründe gebe, eine Religionstheorie so anzulegen, dass auch andere Sachverhalte unter den Religionsbegriff fallen, die nicht zu einem in der Weltgesellschaft operierenden Kommunikationszusammenhang ,Religion‘ gehören, und die sich nicht selbst in dieser Weise beobachten. Eine solche Theorie ist sicherlich möglich, und aus Sicht der Religionswissenschaft auch legitim. Sie zielt aber gleichzeitig auf eine heuristisch verstandene Konzeptionalisierung von ,Religion‘, über die sich eine andere Form der Theoriebildung eben gerade nicht in der Form kritisieren ließe, dass diese andere Theorie das ,Phänomen Religion‘ nicht ausreichend beschreibe.242 Eine solche Kritik wäre andererseits nun dann möglich, wenn man doch von einem einheitlichen ,Phänomen Religion‘ ausgeht, was dann die Feststellung erlauben würde, dass die von Beyer beschriebenen und rekonstruierten Kommunikationszusammenhänge dieses Phänomen zwar größtenteils treffen mögen, dass dieses ,Phänomen Religion‘ in diesen aber nicht aufgeht, und sich daher ,Religion‘ oder ,Religiöses‘ auch außerhalb des Funktionssystems ,Religion‘ findet und als Teil des ,Phänomens Religion‘ eindeutig identifizieren lässt. Gerade an der Auseinandersetzung mit dieser Problematik lässt sich somit erkennen, dass es beim Einlassen auf theoretische Einwände entscheidend ist, genau anzugeben, aus welcher Warte – also in der Sprache der Systemtheorie: als Beobachtung welches Systems – ein solcher Einwand formuliert wird. Denn wenn eine solche Systemreferenz nicht berücksichtigt wird, wird sehr schnell der Anschein erweckt, dass es tatsächlich ,die Realität (von Religion)‘ sei, die sich der vorgeschlagenen theoretischen Beobachtung widersetze. Im Kontext einer Theorie, die gerade im Hinblick auf die mit ihr implizierte Theorie funktionaler Differenzierung die dort ausdifferenzierten Funktionssysteme eben nicht als Phänomene, sondern als bestimmte Perspektiven und sich selbst stabilisierende Kommunikationszusammenhänge versteht, kann 242 Vgl. hierzu auch die abschließenden Bemerkungen in Abschnitt 2.4 der vorliegenden Arbeit.
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eine solche Behauptung jedoch nicht länger stichhaltig sein, mag sie noch so viel Alltagsplausibilität aufweisen. Mit dieser Feststellung soll – wie bereits in Teil I der Arbeit betont – gleichzeitig nicht ausgesagt werden, dass andere Theorievarianten, oder die Rede von einem ,Phänomen Religion‘ (auch innerhalb der Religionswissenschaft) generell für unmöglich gehalten wird. Vielmehr wäre aber zu fordern, dass die jeweilige Theorieperspektive sich in diesen Fragen explizit und deutlich positioniert, und gleichzeitig erkennen kann, dass bestimmte Probleme, die in ihrer Sichtweise dann als Probleme auftauchen, möglicherweise für eine andere Perspektive, wie etwa die hier vorgeschlagene Frage nach dem globalen Religionsdiskurs, keine besondere Relevanz mehr haben. Denn diese hätte, wie hier erneut erkennbar geworden sein sollte, deutlich andere Problemlagen in den Blick zu nehmen.
7.4 Zusammenfassung und Ausblick: Eine religionswissenschaftliche Differenzierungstheorie? Im Anschluss an die bisher vorgestellten Überlegungen sollen zum Abschluss zwei zentrale Aspekte sowohl des Kapitels, als auch der gesamten Arbeit noch einmal zusammenfassend aufgenommen werden. Dies ist zum einen die Frage nach einer ,Theorie der Moderne‘ und zum anderen die Frage nach einer ,religionswissenschaftlichen Differenzierungstheorie‘, die, wie wir gesehen haben, im hier vertretenen Verständnis eng zusammenhängen. Eine religionswissenschaftliche Differenzierungstheorie (und dies wäre zunächst nur eine Differenzierungstheorie, die sich primär für die Kategorie ,Religion‘ interessiert), müsste sich – dies hat der letzte Abschnitt deutlich gemacht – zunächst davon verabschieden, dass diese Differenzierungstheorie ein ,Phänomen Religion‘ beschreibt. Vielmehr beschreibt sie, wie im Rückgriff auf systemtheoretische Begrifflichkeiten formuliert werden könnte, einen sich selbst stabilisierenden Kommunikationszusammenhang in der Moderne. ,Differenzierung‘ in diesem Sinne verweist niemals auf ein religionstheoretisches Modell von ,Religion‘ (denn ein solches hat keine Geschichte243) sondern auf ,Religion‘ als einen in historischen Prozessen entstandenen – ausdifferenzierten – operativen Kommunikationszusammenhang, dessen Einheit nicht in einem ,Phänomen Religion‘ begründet liegt, sondern allein in der durch den rekursiven Anschluss von Kommunikationen an Kommunikationen erfolgenden autopoietischen Selbstidentifikation von ,Religion‘ als ,Religion‘.244 243 Im hier vertretenen Verständnis hat ein religionstheoretisches Modell keine Geschichte im Sinne eines ,Phänomens‘, sondern allenfalls in Form einer Theoriegeschichte. 244 All dies ist offensichtlich im Rückgriff auf die Begrifflichkeiten der Systemtheorie formuliert.
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Es ist nun gerade die Leistung der Luhmannschen Theorie, für ein solches Verständnis von Differenzierung eine theoretische Begriffssprache von hoher Komplexität entwickelt zu haben, die auf die radikale Operativität des Sozialen verweist, und eben nicht die Ausdifferenzierung von ,Phänomenen‘ beschreibt, sondern von ,Funktionssystemen‘, das heißt durch spezifische binäre Codierung sowie symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien charakterisierte Perspektiven. Mit Luhmann wird es also möglich, die Selbststabilisierung von Kommunikationszusammenhängen – und wie man hier nun, ohne dies an dieser Stelle theoretisch einholen zu können, auch formulieren könnte: Diskursen – zu beschreiben, ohne von ,Phänomen‘ sprechen zu müssen.245 Dies betrifft unter anderem – und für die Differenzierungsfrage besonders relevant – auch die Frage nach den von der Systemtheorie beschriebenen ,Strukturen‘. So betont etwa Armin Nassehi: Luhmanns Theorie selbstreferentieller Systeme ist noch mehr als die frühere Variante einer funktional-strukturellen Systemtheorie eine Theorie, die Systeme nicht für stabile Strukturzusammenhänge hält, sondern sich gerade für den Strukturaufbau von Systemen interessiert.246
Worauf es im Kontext der systemtheoretischen Variante der Differenzierungstheorie daher besonders ankommt, und dies ist gerade im Hinblick auf die auch im sechsten Kapitel diskutierten historischen Beispiele entscheidend, ist, dass die hier behaupteten Differenzierungen stets als unwahrscheinliches Ergebnis der sich selbst stabilisierenden rekursiven Verknüpfung von Kommunikationen verstanden werden müssen, denen ihr differenzierter Status und ihre Strukturhaftigkeit somit nur insofern zukommen, als sie sich in genau diesem beobachteten Moment als Strukturen bewähren. Hier gilt – um darauf erneut zu verweisen –, dass eine alternative Formulierung zwar durchaus möglich ist, aber eben gerade nicht in der ,Sprache der Phänomene‘, sondern unter Rückgriff auf eine andere Theorie erfolgen müsste. 245 Diese Verknüpfung von Luhmannscher und diskurstheoretischer Begrifflichkeit erfolgt hier nur illustrativ, da eine ausführliche Begründung und die Frage nach der Möglichkeit einer solchen Verbindung in der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden kann. Siehe aber zumindest die folgende Literatur für erste Ideen hierzu: Stäheli, Sinnzusammenbrüche; Bublitz, Hannelore, Der ,Schatten der Wahrheit‘. Gesellschaft als dasjenige, von dem man später sagen wird, dass es existiert hat, in: A. Demirovic (Hg.), Komplexität und Emanzipation. Kritische Gesellschaftstheorie und die Herausforderung der Systemtheorie Niklas Luhmanns, Münster 2001, 73 – 100; Andersen, Niels u., Discursive Analytical Strategies. Understanding Foucault, Koselleck, Laclau, Luhmann, Bristol 2003; Link, Jürgen, Wieweit sind (foucaultsche) Diskursund (luhmannsche) Systemtheorie kompatibel? Vorläufige Skizze einiger Analogien und Differenzen, kultuRRevolution 45 – 46, 2003, 58 – 62; Geest, Dirk, Systemtheorie und Diskursivität, kultuRRevolution 50, 2006, 70 – 77; Stäheli, Urs, Semantik und/oder Diskurs. ,Updating‘ Luhmann mit Foucault?, kultuRRevolution 47, 2004, 14 – 19; Becker, Reinhardt, Niklas Luhmann, in: C. Kammler et al. (Hg.), Foucault Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart 2008, 213 – 217. 246 Nassehi, Der soziologische Diskurs, 250.
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Nassehi nimmt dies in seiner Weiterentwicklung der Luhmannschen Differenzierungstheorie als Ausgangspunkt, um im Hinblick auf die funktional differenzierte Weltgesellschaft von einer „Gesellschaft der Gegenwarten“ zu sprechen, in welcher Strukturen nur in dem Sinne ausbildet werden, dass diese als sich selbst stabilisierende Ereignisreihen verstanden werden können, die sich „in Echtzeit bewähren müssen“.247 In diesem Zusammenhang weist er auf Folgendes hin: Empirisch ist dann von Interesse, wie es in einem sozialen System gelingt, mit der prinzipiellen Offenheit von Gegenwarten umzugehen, d. h. man wundert sich empirisch weniger über den Wandel und die Instabilität als über Stabilität und Wiederholbarkeit. Ein System besteht insofern nicht aus einer festgelegten Struktur, sondern erzeugt sich durch die Prozesse und den Dauerzerfall seiner Ereignisse.248
Im Kontext besonders der Luhmannschen Fassung der Systemtheorie wäre diese Feststellung Nassehis letztlich banal, wenn dieses grundlegende Kennzeichen der Theorie nicht so hartnäckig missverstanden würde. So wird aus dem in Luhmanns Werk durchaus eine zentrale Rolle spielenden Interesse an der überraschenden Stabilität von Strukturen die Vorstellung, dass dieser von grundlegend stabilen Strukturen ausgehen würde. Vielmehr ist aber gerade die Systemtheorie wie vielleicht wenige andere komplexe Theorieentwürfe darauf angelegt, dass Stabilität eben nicht vorausgesetzt wird, sondern als ein theoretisch erklärungsbedürftiger Sachverhalt verstanden wird. Auch Nassehi verdeutlicht diese radikal operative Intention des Luhmannschen Theoriedesigns in seiner Weiterentwicklung der Theorie funktionaler Differenzierung. So handelt es sich bei der Systemtheorie Luhmannscher Prägung seiner Ansicht nach eben gerade nicht um eine Theorie, die von einer stabilen Ordnung von Strukturen (etwa Funktionssystemen) ausgeht, sondern um eine radikal „operative, also auf echtzeitliche Ereignisse aufgebaute Sozialtheorie“.249 Sie basiert somit grundlegend auf der Zeitlichkeit des Sozialen: Nimmt man nämlich den operativen Charakter der Systemtheorie wirklich ernst, ist der Aggregatzustand der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft exakt dadurch zu charakterisieren, dass sich Ereignisse je in einer Gegenwart zu bewähren haben.250
Diese Betonung der Ereignishaftigkeit der Gesellschaft führt zu einer Vorstellung von funktionaler Differenzierung, in der nicht etwa von den stabilen, funktional ausdifferenzierten Strukturen der Funktionssysteme die Rede sein 247 Nassehi, Geschlossenheit und Offenheit, 81, Hervorhebung entfernt. 248 Nassehi, Der soziologische Diskurs, 387 – 388. 249 Nassehi, Armin, Die Theorie funktionaler Differenzierung im Horizont ihrer Kritik, Zeitschrift für Soziologie 33/2, 2004, 98 – 118, hier: 102. 250 Ebd., 104.
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kann, sondern vielmehr von deren je operativer Hervorbringung durch die Anschlusszusammenhänge von Operationen: Die Gestalt der funktional differenzierten Gesellschaft ist also nicht einfach durch die fest stehende, stabile Existenz von Funktionssystemen gegeben, sondern durch die operative Anschlussroutine von Kommunikationen, die unterschiedliche Systemzusammenhänge emergieren lassen und sich dadurch füreinander indifferent halten können.251
Damit erscheinen soziale Systeme und besonders Funktionssysteme nicht mehr als „Superstrukturen, die Ereignisprogramme ablaufen lassen“, sondern als „Ereignisreihen […], die sich selbst in ihrer ereignishaften Dynamik stabilisieren.“252 Sie können im Anschluss an Nassehi grundlegend über die operative und ereignishafte Erhaltung von Grenzen charakterisiert werden, was wiederum Peter Beyer wie folgt formuliert: „Social subsystems are therefore structures of boundary creation and boundary maintenance, […] ways of continuously regenerating certain kinds of boundaries of meaning.“253 In diesem Sinne scheint etwa – um nur ein Beispiel herauszugreifen – auch die von Andreas Reckwitz vorgenommene Beleuchtung der Luhmannschen Theorie funktionaler Differenzierung aus der Perspektive der „Kulturtheorien“ deren Eigenart gerade nicht wahrzunehmen zu können.254 Reckwitz Betrachtung mündet letztlich in die Überzeugung, man müsse im Hinblick auf die kulturtheoretische Kritik an den ,großen Erzählungen‘ der Moderne „das Phänomen der funktionalen Ausdifferenzierung gesellschaftlicher ,Teilsysteme‘ im strikten Sinne Luhmanns für eine Theorie der Moderne […] relativieren.“255 Anstelle der von Luhmann seiner Ansicht nach vertretenen „Logik der Trennung“ würde somit eine „Logik der Überschreitung scheinbar vorgegebener Differenzen“ und eine „Logik […] der Markierung neuer Differenzen“ treten. Während Luhmann „Grenzen des Sozialen und der Moderne“ als „eindeutig“ verstehe, würden diese von Kulturtheoretikern als „uneindeutig“ konzipiert.256 In dieser Betrachtung durch Reckwitz wird jedoch gerade die unter anderem von Nassehi herausgestellte Dynamisierung, die jedoch erst den Ausgangspunkt der Luhmannschen Differenzierungstheorie und deren Unterschied zur Systemtheorie Talcott Parsons’ markiert, völlig verkannt. Auch wenn sich sicherlich sagen lässt, dass Luhmann sich während der Arbeit an seiner Theorie der Gesellschaft primär für die Stabilisierung von Strukturen 251 252 253 254
Ebd., 102. Nassehi, Der soziologische Diskurs, 252. Beyer, Religions in Global Society, 12. Vgl. Reckwitz, Andreas, Die Logik der Grenzerhaltung und die Logik der Grenzüberschreitungen. Niklas Luhmann und die Kulturtheorien, in: G. Burkart/G. Runkel (Hg.), Luhmann und die Kulturtheorie, Frankfurt am Main 2004, 213 – 240. 255 Ebd. 256 Ebd.
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und die Frage nach der Möglichkeit sozialer Ordnung interessiert hat,257 ist der Ausgangspunkt für diese Frage eben nicht die Voraussetzung dieser Strukturen, sondern die Frage nach deren Entstehung trotz ihrer Unwahrscheinlichkeit. Aus diesem Grund ist es leicht, innerhalb der gesellschaftlichen ,Praxis‘ auf hybride Formen zu stossen, die sich zum Beispiel den Strukturen der Funktionssysteme nicht zu fügen scheinen. Viel entscheidender, und einer solchen Beobachtung logisch auch vorausgehend, ist jedoch die Frage, wie es zu diesen Differenzierungen überhaupt erst kommt. In diesem Sinne zeigt sich bei Reckwitz schon in seiner Formulierung die paradoxe Grundlage seiner Kritik an Luhmann, indem er von einer „Überschreitung scheinbar vorgegebener Differenzen“ spricht.258 Wenn jedoch die Differenzen nur ,scheinbar‘ vorgegeben sind, dann lässt sich auch keine Überschreitung dieser Grenzen feststellen.259 In diesen Zusammenhang gehört auch die anhand des empirischen Vorfindens von „prallem Leben“ in „Laborsituationen“260 immer wieder geäußerte Kritik an der Theorie funktionaler Differenzierung, die bereits zu den ,klassischen‘ Anfragen an diese gehört.261 Hier wird dann oft ins Feld geführt, dass sich die von dieser behaupteten klaren Trennungen zwischen Systemlogiken und die gegenseitige „legitime Indifferenz“ im Rahmen von empirischen Beobachtungen so gar nicht wieder finden lassen würden.262 Vielmehr sei im Alltag anstelle einer Trennung und relativen Autonomie eher eine Fusion von Systemlogiken zu finden. Diese Ansicht wird etwa von Karin Knorr-Cetina
257 Siehe etwa auch Luhmann, Niklas, Wie ist soziale Ordnung möglich?, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft 2, Frankfurt am Main 1981, 195 – 285. 258 Reckwitz, Die Logik der Grenzerhaltung, 235. 259 Vgl. hierzu auch das Kapitel 3 „Zur Gegenstandsbestimmung der Differenzierungstheorie“ in Kaldewey, Wahrheit und Nützlichkeit, 67 – 102. Kaldewey weist mit Fran Osrecki hier auch darauf hin, dass eine solche Behauptung, die von der Überschreitung von Grenzen ausgeht, diese damit aber erst einmal voraussetzen muss, und dies dann theoretisch nicht erklären kann. Sie basiert somit auf einem „retrospektiven Realismus“, insofern hier gesellschaftswissenschaftliche Beschreibungen der Welt im Rückblick und im Gestus der Ablehnung als tatsächliche Beschreibung der empirischen Verfasstheit der Vergangenheit verstanden werden. Vgl. Osrecki, Fran, Die Diagnosegesellschaft. Zeitdiagnostik zwischen Soziologie und medialer Popularität, Bielefeld 2011, 200 – 201. 260 Nassehi, Die Theorie funktionaler Differenzierung, 108. 261 Vgl. Tyrell, Anfragen. 262 So etwa Berger, Johannes, Neuerliche Anfragen an die Theorie der funktionalen Differenzierung, in: U. Schimank/H.-J. Giegel (Hg.), Beobachter der Moderne. Beiträge zu Niklas Luhmanns „Die Gesellschaft der Gesellschaft“, Frankfurt am Main 2003, 207 – 230, hier: 209 – 210, der an die von Tyrell aufgezeigte Problematik der Trennung von Subsystemen anschließt und eine auf Autopoiesis setzende Theorie strikt ablehnt.
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vertreten und als die „Unterkomplexität der Differenzierungstheorie“ bezeichnet.263 Auch hier wäre neben der konkreten Auseinandersetzung mit diesen Einwänden und der Frage nach der Möglichkeit einer Formulierung von Differenzierungstheorie, die diese zu entkräften versucht,264 primär darauf hinzuweisen, dass das Ansetzen an der Operativität und Ereignishaftigkeit des Sozialen es Luhmanns Theorie ermöglicht, nicht nur den Aufbau von Strukturen, sondern auch deren gleichzeitige Brüchigkeit theoretisch in den Blick zu nehmen. Dass dies meistens allerdings so nicht wahrgenommen wird, ist vorrangig auf eine stark verkürzte Rezeption der Theorie zurückzuführen, und nicht darauf, dass hier eine unüberwindbare Stabilität von Differenzierungen behauptet wird. Eine Theorie, welche sich mit diesen ,Unterscheidungen der Moderne‘ und damit auch mit den ,Unterscheidungen der Religion‘ befassen möchte, muss aus diesem Grund beides theoretisch in den Blick nehmen können, sowohl die Etablierung von Unterscheidungen, als auch deren Überschreitung. Sie muss Analysewerkzeuge für deren Stabilität, wie auch für deren Brüchigkeit anbieten können. Und genau aus diesem Grund scheint die systemtheoretische Theorie funktionaler Differenzierung – selbst wenn Luhmanns eigenes Interesse primär auf der Frage nach der Etablierung von Differenzen gelegen haben mag – sehr viel komplexere Theoriewerkzeuge anzubieten, als dies die nur immer schon von Hybridität ausgehenden „Kulturtheorien“ bieten können.265 Denn Hybridität lässt sich als solche nur verstehen vor dem Hintergrund von Grenzen, die im Hybriden dann überwunden werden.266 Eine religionswissenschaftliche Differenzierungstheorie im hier angezielten Verständnis, welche die Herausforderungen der im sechsten Kapitel prä263 Knorr Cetina, Karin, Zur Unterkomplexität der Differenzierungstheorie. Empirische Anfragen an die Systemtheorie, Zeitschrift für Soziologie 21/6, 1992, 406 – 419. 264 Siehe hierzu unter anderem erneut die Arbeiten von Nassehi, Die Theorie funktionaler Differenzierung; ders., Der soziologische Diskurs. Vgl. ebenfalls Kaldewey, Wahrheit und Nu¨ tzlichkeit, 67 – 102. 265 Siehe etwa Reckwitz, Die Logik der Grenzerhaltung. 266 Hier liegt eine Problematik vor, die sich auch im Bezug auf die Herausforderungen in der Entwicklung eines religionswissenschaftlich weiterführenden Konzepts von „Synkretismus“ stellen. Es könnte dabei etwa der Anschluss an Charles Stewart gesucht werden, der in einem neueren Beitrag zu dieser Problematik darauf hingewiesen hat, dass ein Konzept von „Synkretismus“, bzw. von „Hybridität“ immer beides erklären muss, sowohl das Hybride, als auch die Stabilisierung von Trennungen. So formuliert er : „Hybridity must be understood against the flow of time as a particular moment when exogenous traditions appear new and different to each other. After a while, when hybrids are formed, they become their own new entities perceived as zones of difference to other hybrid entities. Yesterday’s hybrid becomes one of the progenitors of tomorrow’s hybrid. It’s hybrids all the way down. But there is a cycle that begins with the encounter between two mutually apparent zones of difference. Hybridization begins in these moments and the resulting mixtures have life cycles. People go from dynamic consciousness of their process of mixing to a situation of taking their own composition for granted“ (Creolization, Hybridity, Syncretism, Mixture, Portuguese Studies 27/1, 2011, 48 – 55, hier: 53).
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sentierten Beispielbetrachtungen aufnehmen können will, muss jedoch – so lässt sich in Aufnahme der Kritik an Luhmanns Primärinteresse formulieren – die funktionale Differenzierung gerade im Kontext der Weltgesellschaft viel stärker als eine umkämpfte Differenzierung verstehen, deren Stabilität keineswegs gesichert ist, sondern die vielmehr immer wieder neu ausgehandelt wird. Eine solche Perspektive auf Differenzierung, welche im Extremfall auch den Zusammenbruch von stabilen Ordnungen fokussiert, trifft sich mit dem Interesse Urs Stähelis an der Luhmannschen Systemtheorie, welchem er in Anknüpfung an poststrukturalistische Theorieentwürfe nachgegangen ist. Stäheli identifiziert innerhalb der poststrukturalistischen Ansätze bei allen Unterschieden ein gewisses gemeinsames Interesse am „Zusammenbruch“ und dem „Fehlschlagen von Signifikationsprozessen“, der „Unmöglichkeit vollständigen Sinns“ und dem „Auftreten von Dislokationen“.267 Dieses Problem, das ihm auch den Titel für seine Studie aufgibt, wird nun, so Stäheli, von ihm im Rahmen einer „parasitäre[n] Lektürestrategie“ im Theoriekontext der Systemtheorie diskutiert: Dieses Interesse am Scheitern des Sinns und an Sinnbrüchen verschiebt ein Problem, das die Selbstbeschreibung der Systemtheorie nicht als eigenes betrachtet, auf ihr Terrain. Es soll gezeigt werden, daß dieses Problem die Systemtheorie jedoch wie ein Parasit begleitet, obgleich es meist durch komplexe Kontrollmechanismen invisibilisiert und entparadoxiert wird.268
Stäheli interessiert sich dabei nicht primär für eine neuartige systemtheoretische Bearbeitung dieses Problems, sondern vielmehr dafür, wie dieses Problem innerhalb der Systemtheorie „an den Rändern der Theorie“ immer schon vorhanden ist, und dennoch von Luhmann in seiner Radikalität trotz der operativen Theorieanlage nicht ausreichend beachtet oder sogar durch bestimmte Theorieentscheidungen „invisibilisiert“ wird.269 Dieses Problem des Scheiterns von Sinnprozessen, des Misslingens von Kommunikation, kommt für die Systemtheorie vor allem deswegen nicht in den Blick, weil sie sich – anders als poststrukturalistische Theorien wie die Dekonstruktion, die gerade nach „dem notwendigen Fehlschlagen von Sinn fragt“ – in erster Linie für die Erklärung des Sachverhaltes interessiert, dass Kommunikation immer wieder trotz ihrer extremen Unwahrscheinlichkeit zustande kommt und die kommunikative Reproduktion der Gesellschaft – autopoietisch – aufrechterhalten wird.270 Stähelis grundsätzliche Frage ist also „ob und wie die Systemtheorie Mo267 268 269 270
Stäheli, Sinnzusammenbrüche, 19. Ebd. Ebd., 20. Ebd.
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mente der Dislokation und des Scheiterns zu denken vermag.“271 Im Kontext der vorliegenden Arbeit sind Stähelis Überlegungen nicht zuletzt deshalb hoch relevant, da er sich anhand der hier nun bereits mehrfach thematisierten Problematik einer Vorstellung von ,Strukturen‘ im Kontext der systemtheoretischen Differenzierungstheorie auch bereits mit der Frage nach der konstitutiven Rolle von ,Semantiken‘ sowie der Problematisierung dieser Unterscheidung befasst hat, welche in die Frage nach der Grenzziehung von Funktionssystemen mündet.272 Auch Peter Beyer hat, wie wir bereits gesehen haben, in seiner Beschreibung der Operativität der Funktionssysteme dem kontingenten und ständig umkämpften Status dieser modernen Konstruktionen und ihrer Grenzen zentrale Aufmerksamkeit gewidmet. Im Anschluss an Stäheli lässt sich dieser Aspekt noch weiter in den Mittelpunkt rücken. So weist dieser unter anderem auf die konstitutive Rolle von Semantiken und Selbstbeschreibungen für die Grenzziehung der Funktionssysteme hin: Semantiken dienen [bei Luhmann, A.H.] als bloße Indikatoren für ihnen zugrunde liegende Strukturen – werden aber meist nicht in ihrer konstitutiven Rolle für die Herstellung von Gesellschaftsstrukturen gewürdigt. Würde die Systemtheorie ihr eigenes differenztheoretisches Potential ernster nehmen, dann müsste sie sich für jene diskursiven Kämpfe interessieren, in denen um die nicht zuletzt kulturelle Bestimmung einer Funktion und um die Grenzziehung von Funktionssystemen gerungen wird.273
Aus einer solchen Perspektive folgt für das Verhältnis von Semantik und Struktur (systemtheoretisch gesprochen) zum einen, dass eine reine Rekonstruktion von semantischen Veränderungen zwar aufschlussreich sein kann, jedoch immer um die Frage nach gesellschaftsstrukturellem Wandel ergänzt werden muss. Zum anderen sind Strukturen und Semantiken keine zwei unterschiedlichen Realitätsebenen, sondern beides Formen im Medium von Sinn. Daher ist die Frage nach Strukturen eher eine Frage nach der operativen und performativen Herstellung von Struktur in Kommunikationsprozessen: 271 Ebd., 21. 272 Siehe zur Frage nach dem Verhältnis von Struktur und Semantik und der Möglichkeit einer Unterscheidung zwischen diesen Stäheli, Urs, Die Nachträglichkeit der Semantik. Zum Verhältnis von Sozialstruktur und Semantik, Soziale Systeme 4/2, 1998, 315 – 340; Kogge, Werner, Semantik und Struktur – eine ,alteuropäische‘ Unterscheidung in der Systemtheorie [überarbeitete Version, unveröffentlichtes Manuskript], in: A. Reckwitz/H. Sievert (Hg.), Interpretation, Konstruktion, Kultur. Ein Paradigmenwechsel in den Sozialwissenschaften, Opladen 1999, 67 – 99; Stichweh, Rudolf, Semantik und Sozialstruktur. Zur Logik einer systemtheoretischen Unterscheidung, Soziale Systeme 6/2, 2000, 237 – 250. In größerem Zusammenhang wird dies auch diskutiert in Gumbrecht, Hans U., Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte, München 2006. 273 Stäheli, Urs, Differenzierte Moderne? Zur Heterogenität funktionaler Differenzierung am Beispiel der Finanzökonomie, in: T. Bonacker/A. Reckwitz (Hg.), Kulturen der Moderne. Soziologische Perspektiven der Gegenwart, Frankfurt am Main 2007, 183 – 197, hier : 185.
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Zugespitzt heißt dies: Die Theorie funktionaler Differenzierung sollte die Semantiken und Selbstbeschreibungen von Funktionssystemen nicht auf den Ausdruck einer Gesellschaftsstruktur reduzieren, sondern deren konstitutiven Beitrag für die funktionale Differenzierungsform berücksichtigen. Dies eröffnet unmittelbar kulturund wissenssoziologische Fragestellungen: Nun interessiert, auf welche Weise ein System seine Differenzierungsform repräsentiert – Repräsentation meint hier einen performativen Prozess der re-presentation, d. h. eine Darstellung und Inszenierung, die für das Dargestellte konstitutiv sind.274
Auch in diesem Sinne sind Differenzierungen somit nicht als vorgängige Strukturen ,in der Welt‘ zu verstehen. Vielmehr sedimentieren sie sich in Semantiken (Texten, Bildern etc.) und müssen sich jeweils in Anschlussgegenwarten bewähren. Differenzierungstheorie stellt daher eine theoretische Modellierung dieser Prozesse dar und versucht diese ,Grenzkämpfe‘ innerhalb abstrakter theoretischer Modelle zu beschreiben. In der Forschungspraxis, so ließe sich im Anschluss an Stäheli sagen, lässt sich allerdings immer nur Semantik analysieren, und damit die Auseinandersetzung um die Bewahrung oder Untergrabung von Unterscheidungen. Es ist nicht zuletzt dieses Interesse und diese Form der Theoretisierung von radikaler Operativität und der Beschreibung von Strukturen, an denen sich Luhmannsche Systemtheorie und bestimmte diskurstheoretische Entwürfe treffen könnten, auch wenn dies in der vorliegenden Arbeit nicht weiter ausgeführt werden kann. Über eine Beschäftigung mit der systemtheoretischen Fassung des Begriffs der „Semantik“ versucht Stäheli daher, die verschieden poststrukturalistisch inspirierten Anfragen an die Systemtheorie zu verbinden. Denn auf dieser Ebene von „wiederholbaren, sinnhaften Elementen, die von Kommunikationen verwendet werden“, werden die zuvor thematisierten Problemfelder in ihrer Kombination relevant.275 Ein solcher Fokus auf den konstitutiven Beitrag von Semantiken zur Systemgenese ermöglicht ein erweitertes Verständnis der für die Systemtheorie grundlegenden Struktur/Semantik-Unterscheidung, welches im Hinblick auf die Analyse von empirischem Material neue Perspektiven eröffnen kann.276 In diesem Sinne wäre es zunächst die Aufgabe einer religionswissenschaftlichen Differenzierungstheorie, sich mit differenzierungstheoretischen Überlegungen, die hier nur in einer ersten Annäherung präsentiert werden konnten, auseinander zu setzen, und diese auf die in der vorliegenden Arbeit vorgeschlagene Perspektive auf die Unterscheidungen der Religion zu beziehen. 274 Ebd., 186. 275 Stäheli, Sinnzusammenbrüche, 24. 276 Siehe zum systemtheoretischen Konzept von Semantik u. a. Luhmann, Niklas, Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft 1, Frankfurt am Main 1980, 9 – 70; ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft.
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Anhand der Beschäftigung mit Theorien funktionaler Differenzierung lässt sich darüber hinaus erkennen, dass in diesen ,Religion‘ einerseits durchaus als ein ,differenziertes Phänomen‘ betrachtet wird. Wie sich andererseits letztlich auch im Anschluss an Beyer formulieren ließe, ist ein solches Verständnis von ,funktional differenzierter Religion‘ als eines sich selbst stabilisierenden Kommunikationszusammenhangs – eines ,Diskurses‘, wie man jetzt auch sagen könnte – jedoch nicht identisch mit der Postulierung eines ,Phänomens Religion‘. Vielmehr fokussiert ein Verständnis von funktionaler Differenzierung im Anschluss an Stäheli gerade auf die Brüchigkeit der Unterscheidungen zwischen Gesellschaftsbereichen und die Umkämpftheit von Differenzierungen. Für eine ,religionswissenschaftliche Differenzierungstheorie‘ kann es somit nicht darum gehen, selbst nun ein ,Phänomen Religion‘ zu beschreiben, sondern vielmehr darum, diese Kämpfe um die Unterscheidungen der Religion zu beobachten und zu rekonstruieren. Sollte auf diese Weise eine ,Theorie der Moderne‘ angestrebt werden, wie sie im Kontext dieses Kapitels gefordert wurde, muss diese daher mit der Komplexität lokaler Situationen umgehen können und gleichzeitig ihre Fähigkeit zur Abstraktion erhalten. Der Einwand, dass sich die Verhältnisse in historischen Situationen immer viel komplexer darstellen, als dies in einer theoretischen Betrachtung wiedergegeben werden kann, trifft zwar einerseits zu, seine Berücksichtigung verhindert andererseits aber jegliche Theoriebildung. Im Anschluss an das bereits zum Ende der Einleitung der vorliegenden Arbeit genannte Problem der Komplexität historischer Situationen ist Theoriebildung jedoch unverzichtbar, um nicht nur Partikularitäten beschreiben zu können.277 Natürlich könnte eine legitime Folgerung aus der Beschäftigung mit diesem Problem auch sein, Theorien nicht mehr auf einer entsprechenden globalen Ebene anzulegen, und statt dessen auf Mikrotheorien, oder Theorien mittlerer Reichweite zurückzugreifen. Ein solches Vorgehen wäre jedoch keine Antwort mehr auf die Frage, ob sich eine Einheit von ,Religion‘ auch dann beschreiben lässt, wenn diese weder als Artefakt einer heuristischen Theorie noch als in einem ,Phänomen Religion‘ begründet, sondern als eine historisch kontingente Einheit des globalen Religionsdiskurses verstanden werden soll.
277 So wird jede Analyse lokaler Verhältnisse in der Weltgesellschaft ergeben – wie im Laufe der Arbeit und besonders im sechsten Kapitel auch diskutiert wurde –, dass man dort auf eine je lokale Komplexität trifft, in der es alles Mögliche zu beobachten gibt, das mit der hier angezielten globalen Ebene zunächst vielleicht wenig zu tun hat. Andererseits ließe sich die These aufstellen, dass man dennoch sehr schnell überrascht wäre, festzustellen, dass sich tatsächlich lokale Partikularitäten, die ohne jeglichen Bezug auf einen globalen Zusammenhang verstanden werden können, immer seltener beobachten lassen, und dass dies theoretisch eingeholt werden müsste. Siehe dazu zum Beispiel Appadurai, Arjun, Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis 1996.
Schlussbemerkung: Die Möglichkeit einer ,Globalen Religionsgeschichte‘, der globale Religionsdiskurs und die Unterscheidungen der Religion Ausgehend von einer Beschäftigung mit Burkhard Gladigows Konzept der „Europäischen Religionsgeschichte“ hat die vorliegende Arbeit versucht, seinem Hinweis auf eine ,religionsgeschichtliche Konstellation‘ nachzugehen, welche nicht auf das geographische Europa beschränkt ist, sondern sich – so die These dieser Arbeit – als globaler Religionsdiskurs charakterisieren lässt. Schon diese Formulierung weist darauf hin, dass, entgegen der bei Gladigow zu findenden Zurückstellung der Frage nach dem Religionsbegriff, eine Auseinandersetzung mit dieser von ihm aufgeworfenen globalen Dimension ohne eine Reflexion auf den religionswissenschaftlichen Umgang mit ,Religion‘ nicht weiterführend ist. In Teil I der vorliegenden Arbeit wurde darunter jedoch nicht primär die Forderung nach einer konkreten Religionsdefinition verstanden, sondern vielmehr der Vorschlag einer Unterscheidung von zwei religionswissenschaftlichen Perspektiven, die mit den Stichworten Religionstheorie und Diskurstheorie bezeichnet wurden. Während eine religionstheoretische Herangehensweise an ,Religion‘ diese Kategorie selbst zur Bezeichnung bestimmter Sachverhalte einsetzen möchte, und damit zum Beispiel auf einen Vergleich zielt – eine Form der Theoriebildung, die in der vorliegenden Arbeit dezidiert nicht gewählt wurde1 –, interessiert sich die diskurstheoretische Beschäftigung mit ,Religion‘ für die Art und Weise, wie sich das ,Reden über Religion‘ global etabliert hat. Unter Rückgriff auf diese Unterscheidung wurde in Teil II der Arbeit anhand der gegenwärtigen religionswissenschaftlichen Debatte zur Kritik am Eurozentrismus des Religionsbegriffs einerseits, und zur Identifizierung von außereuropäischen ,Äquivalenten‘ dieses Begriffs andererseits, auf eine Reihe theoretischer Problemlagen hingewiesen. Die Frage nach ,Äquivalenten‘ und die damit zusammenhängende Zirkularität in der Identifikation der Charakteristika von ,Religion‘, ebenso wie die Diagnose einer globalen Ausbreitung eines ,europäisch-westlichen‘ Verständnisses, führen in komplexe Theorieprobleme, für die eine Lösung nicht in Sicht ist. Es wurde die These vertreten, 1 Siehe hierzu und zu den damit verbundenen Schwierigkeiten ausführlich Mohn, Jürgen, Komparatistik als Position und Gegenstand der Religionswissenschaft. Anmerkungen zum religionswissenschaftlichen Vergleich anhand der Problematik einer Komparatistik des Zeitverständnisses im Christentum (Augustinus) und im Buddhismus (Do¯gen), in: R. Bernhardt (Hg.), Komparative Theologie. Interreligiöse Vergleiche als Weg der Religionstheologie, Zürich 2009, 225 – 276.
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dass die vorhandenen religionswissenschaftlichen Positionen, welche sich mit diesen Fragen auseinandersetzen, zumeist – und oft entgegen ihres Selbstverständnisses – als Religionstheorien auftreten, oder das Gesuchte als ein einheitliches ,Phänomen‘ bereits voraussetzen. ,Religion‘ erscheint in dieser Perspektive dann primär als ein Problem, und es zeigt sich, dass die entsprechenden Autoren als Religionswissenschaftler letztlich auch über die Authentizität der von außereuropäischen Akteuren über ,Religion‘ und ,Religionen‘ getroffenen Aussagen entscheiden müssen. Um diese Probleme zu vermeiden, und andere, möglicherweise interessantere Beobachtungen und Fragestellungen zu eröffnen, wurde daher ein zweifacher Perspektivenwechsel vorgeschlagen. Auf diese Weise lassen sich die hier vorliegenden Fragen aus einer genuin diskurstheoretischen Perspektive behandeln, indem von der Wahrnehmung problematischer Eurozentrismen auf die Frage nach Charakteristika des Religionsdiskurses umgestellt wird. Auch dessen weltweite Verbreitung erscheint dann nicht mehr primär als Problem, sondern ebenso als Charakteristikum und sogar als Bedingung der Möglichkeit der Genese dieses Diskurses. Der erste dieser Perspektivenwechsel hat zu einer heuristischen Bestimmung von zwei Charakteristika des modernen Religionsdiskurses geführt. Zwei Unterscheidungen der Religion, die diesen Diskurs charakterisieren, wurden mit den Stichworten Pluralität und Differenzierung bezeichnet, und verweisen darauf, dass im Kontext des modernen Religionsdiskurses von ,Religion‘ immer als einer Pluralität von ,Religionen‘ gesprochen wird, sowie von ,Religion‘ im Unterschied zu einer Reihe anderer ,Bereiche‘. In der Folge wurde diese Frage dann auf eine globale Ebene gehoben. So wurde der moderne Religionsdiskurs zunächst als globaler Religionsdiskurs bestimmt, der letztlich erst in dieser globalen Dimension verständlich ist und rekonstruierbar wird. Ein Vorschlag zu einer solchen Rekonstruktion wurde unter Rückgriff auf weitere theoretische Überlegungen, besonders auf Lydia H. Lius Konzept der translingual practice sowie auf Georg W. Bertrams Rekonstruktion der Derridaschen Dekonstruktion als einer Theorie des Bedeutungsgeschehens entwickelt. Im Anschluss an Liu erscheint ein Ausweg aus der Sackgasse möglich, in welcher sich die Frage nach ,Äquivalenten‘ gegenwärtig befindet, indem statt dessen nach der Herstellung hypothetischer Äquivalenzen in einer historischen Praxis gefragt wird. Die damit implizierte Frage nach der Kategorie der Bedeutung konnte anhand einer Auseinandersetzung mit dem Derridaschen Zeichenmodell weiter illustriert werden, auch wenn die dort eröffneten Potentiale im Folgenden nicht weiter ausgeführt oder detailliert verfolgt werden konnten. Ein kurzer Überblick über die zweifache Entdeckung des ,Buddhismus‘ im europäisch-westlichen und asiatischen Kontext (am Beispiel Ceylons) leitete die im Folgenden im Mittelpunkt stehenden historischen Beispielbetrachtungen ein. Ausgehend von der über die Unterscheidungen der Religion eröffneten diskurstheoretischen Perspektive, wurde anhand asiatisch-bud-
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dhistischer Kontexte beispielhaft der Religionsdiskurs im kolonialen Ceylon und Burma des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sowie im Siam der Mitte des 19. Jahrhunderts betrachtet, und demonstriert, welche Fragestellungen sich dort anhand der hier vorgeschlagenen Perspektive entwickeln lassen. Die in den historischen Beispielbetrachtungen aufscheinenden Problemlagen haben in Teil III der Arbeit im Anschluss an David Scott und Talal Asad zur Frage nach der Notwendigkeit einer Theorie der Moderne geführt. Als eine Möglichkeit, diese Herausforderung anzugehen, schien der Anschluss an Weltgesellschaftstheorien vielversprechend. Gleichzeitig bot sich dadurch die Möglichkeit, über die zentrale Bedeutung der Theorie funktionaler Differenzierung in der systemtheoretischen Variante der Weltgesellschaftstheorie einen Topos auf theoretischer Ebene erneut aufzugreifen, der sich bereits bei Gladigow als grundlegend erwiesen hatte, und der auch in der Bestimmung der Charakteristika des modernen Religionsdiskurses als eine der Unterscheidungen der Religion angesehen wurde. In der Auseinandersetzung mit der Frage nach der Differenzierung von ,Religion‘ wurde unter erneutem Rückgriff auf die Unterscheidung von Religionstheorie und Diskurstheorie auf ein ungelöstes Problem in Luhmanns Spätwerk hingewiesen, welches sich auch in einer Studie Peter Beyers identifizieren ließ. Denn auch Luhmann und Beyer unterscheiden nicht klar zwischen diesen beiden Herangehensweisen und setzen damit mehr ,Religion‘ voraus, als ihnen möglicherweise lieb ist. Anhand neuerer Vorschläge zur Theorie funktionaler Differenzierung wurde gleichzeitig deutlich, dass es für eine weltgesellschaftliche Perspektive (gerade auch im Hinblick auf die Beispielbetrachtung zum Siam des 19. Jahrhunderts) weiterführend sein könnte, die ständige Umkämpftheit der innerhalb dieser Theorie beschriebenen Differenzierungen stärker in den Blick zu nehmen, und den globalen Religionsdiskurs als eine stetige Auseinandersetzung um die Unterscheidungen der Religion zu verstehen. Würde man im Anschluss an Gladigow versuchen, die von Beginn des hier verfolgten Projekts an im Hintergrund stehende Frage nach der Möglichkeit einer ,Globalen Religionsgeschichte‘ zu beantworten, ließen sich zugespitzt folgende Thesen formulieren: Eine Globale Religionsgeschichte muss erstens eine diskurstheoretische sein, das heißt, sie muss ,Religion‘ als einen globalen Diskurs behandeln und dessen Geschichte rekonstruieren. ,Religion‘ im Sinne einer von der Religionswissenschaft verwendeten theoretischen Heuristik dagegen hat keine Geschichte (oder vielmehr : erneut nur eine Theorie- sowie eine Diskursgeschichte). Ein ,Phänomen Religion‘ jedoch kann – und sollte – gerade innerhalb einer religionswissenschaftlichen Analyse nicht vorausgesetzt werden. Damit ist nicht gesagt, dass nicht versucht werden könnte, einzelne konkrete ,religionsgeschichtliche Phänomene‘ in ihrer Geschichtlichkeit zu rekonstruieren. Deren Verständnis als Religion basiert jedoch (zumindest aus Sicht der Religionswissenschaft!) nicht auf ihrem wesenhaften Zusammenhang mit einem
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,Phänomen Religion‘, sondern entweder auf einem von der Religionswissenschaft postulierten religionstheoretischen Modell, oder – wie in der vorliegenden Arbeit anzudeuten versucht wurde – auf einem diskursiven Zusammenhang mit dem Religionsdiskurs. Eine Globale Religionsgeschichte muss daher eine Geschichte des globalen Religionsdiskurses sein.2 Sie muss zweitens eine Theorie der Moderne sein, das heißt sie muss den globalen Rahmen, in dem sich dieser Religionsdiskurs entwickelt hat, auch theoretisch in den Blick nehmen. Hier könnte beispielsweise an Weltgesellschaftstheorien angeschlossen werden, welche darauf zielen, die Emergenz einer eigenständigen globalen Ebene des Sozialen theoretisch zu beschreiben. In ihrer systemtheoretischen Fassung als operative Theorie könnten diese gleichzeitig Anschlussmöglichkeiten für die hier als ,diskurstheoretisch‘ bezeichnete Perspektive bieten. Sie muss drittens, dies ergibt sich zwangsläufig aus der Verflechtungsgeschichte der globalen Moderne, ihre kolonialgeschichtliche Dimension ernst nehmen, denn wie sich im Rahmen der vorliegenden Arbeit gezeigt hat, lässt sich der globale Religionsdiskurs ohne Berücksichtigung seiner kolonialen Dimension nicht sinnvoll rekonstruieren. ,Religion‘ muss als ein zentrales Instrument kolonialer Machtprozesse betrachtet werden, und nicht zuletzt aus diesem Grund ist für eine kulturwissenschaftliche Religionswissenschaft eine viel intensivere Auseinandersetzung mit den Postkolonialismus-Studien geboten. Sie muss viertens, dies wurde in der vorliegenden Arbeit nicht ausführlich thematisiert und weist über sie hinaus, eine Genealogie sein. Wie schon von Michael Bergunder betont wurde, und wie sich in Aufnahme der Überlegungen Lydia H. Lius bekräftigen lässt, muss eine ,Globale Religionsgeschichte‘, die eben nicht ein einheitliches ,Phänomen Religion‘ zugrunde legen möchte, und gleichzeitig versucht, die „Chimäre des Ursprungs“ (Foucault) zu vertreiben, als eine von der Gegenwart aus in die Geschichte zurückblickende, genealogische Perspektive konzipiert werden.3 Diese beginnt nicht am und 2 Damit ist nicht gesagt, dass die Religionswissenschaft die Frage nach ,Religion‘ nicht auch anders bearbeiten könnte. So etwa beispielsweise indem doch von der möglichen Einheit eines ,Phänomens Religion‘ hinter den Diskursen ausgegangen wird. Ein solcher Ansatz wird sehr deutlich in folgender Aussage von Gustavo Benavides: „For, if true reflexivity were to be exercised – when dealing with religion, for example – then one would have to be prepared to consider whether underlying the cacophony of discourses, one can discern sets of constraints – biological, cognitive, ultimately evolutionary – that give rise to the cluster of practices and representations labeled as ,religion‘ and which also constrain in some way the theories that seek to make sense of that religion“ (There Is Data for Religion, Journal of the American Academy of Religion 71/4, 2003, 895 – 903, hier 896). Wenn ein solches Projekt verfolgt wird, scheint es mir allerdings entscheidend zu sein, dies dann auch klar herauszustellen. Einen Ausgangspunkt könnten dann, wie bei Benavides bereits angedeutet, vor allem naturwissenschaftlich-anthropologische und kognitionswissenschaftliche Theorien bilden. 3 Vgl. Foucault, Michel, Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: ders., Von der Subversion des Wissens, hg. von W. Seittner, Frankfurt am Main 1987, 69 – 90, hier: 73.
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sucht nicht nach dem Ursprung des Religionsdiskurses, sondern folgt von der Gegenwart aus den diskursiven Verflechtungen von ,Religion‘ in die Vergangenheit.4 In dieser Weise muss sie von der Frage nach der Existenz von Äquivalenten auf die Rekonstruktion von deren Genealogien umstellen. Dabei ist nicht von ,ursprünglichen Bedeutungen‘ oder von ,Religionsbegriffen in anderen Kulturen‘ auszugehen, sondern historisch zu rekonstruieren, wie es dazu gekommen ist, dass dharma, din, shu¯kyo¯, a¯gama oder sa¯sana heute als Äquivalente der Kategorie ,Religion‘ fungieren. Dies bedeutet, genealogisch vorzugehen, also von der Gegenwart aus eine Rekonstruktion diskursiver Veränderungen und diskursiver Netzwerke rückwärts in die Vergangenheit anzustreben. Die Frage, aus welchen Gründen etwa gerade der Begriff dharma im Kontext von translingual practice zu einem ,Religionsäquivalent‘ geworden ist, bleibt so weiterhin möglich. Religionswissenschaftlich wäre sie allerdings eine historische Frage und nicht Ergebnis der Überzeugung, dass dharma der ,Religionsbegriff des Hinduismus‘ sei.5 Wenn im Anschluss an diese vier Vorschläge gesagt wird, dass eine ,Globale Religionsgeschichte‘ fünftens auch eine differenzierungstheoretische sein muss, verweist dies vor allem auf die Umstrittenheit der Kategorie ,Religion‘ im globalen und besonders im kolonialen Kontext. Damit verbindet sich, dass dieser Streit selbst zum globalen Religionsdiskurs gehört und die Unterscheidungen der Religion diesem Diskurs und seiner Geschichte nicht vorausgehen, sondern als temporär stabilisierte Semantiken ebenso wie als immer wieder erneut in Frage gestellte Grundlage für jede Aussage über ,Religion‘ erst im Kontext dieses Diskurses hervorgebracht werden. Aus diesem Grund verortet sich jede Perspektive, welche diese mit ,Religion‘ verbundenen Unterscheidungen zwischen dieser und Anderem wie etwa ,Politik‘ oder ,Wissenschaft‘ in Anspruch nimmt, selbst im Kontext des globalen Religionsdiskurses – und bleibt, auch noch in expliziter Negation dieser Unterscheidungen, als Sprecherposition innerhalb dieser diskursiven Formation erkennbar. Insofern eine Beschäftigung mit den Theorien gesellschaftlicher Differenzierung dann (wie in der Zusammenfassung des letzten Kapitels) die Frage nach der Notwendigkeit einer ,religionswissenschaftlichen Differenzierungstheorie‘ aufwirft, und damit in bisherigen Theorieentwürfen die Behaup4 Vgl. Bergunder, Michael, Was ist Religion? Kulturwissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Religionswissenschaft, Zeitschrift für Religionswissenschaft 19/1 – 2, 2012, 3 – 55, hier: 41 – 47. 5 Vgl. ausführlicher zu einem solchen hier als ,genealogisch‘ bezeichneten Ansatz den in der vorhergehenden Fußnote zitierten Aufsatz von Michael Bergunder sowie ders., Was ist Esoterik? Religionswissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Esoterikforschung, in: M. Neugebauer-Wölk (Hg.), Aufklärung und Esoterik. Rezeption – Integration – Konfrontation, Tübingen 2008, 477 – 507. Siehe ebenso den Versuch einer rückwärts erzählten ,Geschichte des Buddhismus‘ durch Berkwitz, Stephen C., The History of Buddhism in Retrospect, in: ders. (Hg.), Buddhism in World Cultures. Comparative Perspectives, Santa Barbara 2006, 1 – 44.
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tung verbunden wird, dass aus Sicht der Religionswissenschaft diese oder jene differenzierungstheoretische These revidiert werden müsse,6 stellt sich die Frage, welchen ,Realitätsstatus‘ und ,Phänomenbezug‘ diese Theorievorschläge für ihre religionswissenschaftlich-differenzierungstheoretischen Beschreibungen letztlich vorsehen möchten.7 Gerade das interdisziplinäre Umfeld, in dem die vorliegende Arbeit entstanden ist, hat erkennbar werden lassen, dass eine solche Forderung nach einer Revision der Differenzierungstheorie sich aus der Sicht jeder kultur- und gesellschaftswissenschaftlichen Disziplin stellen lassen würde – und etwa im Hinblick auf ,Kunst‘ oder ,Wissenschaft‘ schon mehrfach gefordert wurde.8 Dies erfordert meiner Ansicht nach aber nicht vorschnell eine Verabschiedung differenzierungstheoretischen Denkens, sondern deutet vielmehr darauf hin, dass im Zusammenhang mit diesem andere theoretische Fragen identifiziert werden müssen, sowie darauf, dass Differenzierungstheorie aus religionswissenschaftlicher Sicht auch andere Probleme identifizieren muss als etwa in einem sich explizit als soziologisch verstehenden Kontext. Wenn sich für die Religionswissenschaft als ihr zentrales Problem tatsächlich die Kategorie ,Religion‘ selbst bestimmen ließe – und nicht, wie etwa für die Religionssoziologie ,Religion‘ in ihrem Bezug zur Kategorie ,Gesellschaft‘ – lässt sich hieraus auch bereits ein unterschiedliches Interesse an differenzierungstheoretischen Fragestellungen ableiten. Gleichzeitig kann dann behauptet werden, dass auch die ,Realität‘ von ,Religion‘ (zumindest aus wissenschaftlicher Sicht) für die unterschiedlichen Disziplinen jeweils eine andere ist, nicht zuletzt, weil diese jeweils andere Interessen verfolgen und andere Fragen stellen. In diesem Sinne gilt für das religionswissenschaftliche Arbeiten im Rückblick auf die vorliegende Arbeit, dass der Forschende vor der grundlegenden Entscheidung steht, ob er ,Religion‘ als theoretische Kategorie einsetzen 6 So etwa Jürgen Mohn: „Die gesellschaftliche Ausdifferenzierungsthese von Luhmann ist von der Weberschen Zwischenbetrachtung her zu revidieren: Religion ist kein abgekapselter autonomer Bereich, sondern ihre Orientierungsleistungen sind als religiöse Dispositionen auch in den Sphären der Kunst, Politik, Philosophie und der Wissenschaft (nicht zuletzt der Religionswissenschaft) zu finden“ (Von der Religionsphänomenologie zur Religionsästhetik. Neue Wege systematischer Religionswissenschaft, Münchner Theologische Zeitschrift 55/4 2004, 300 – 309, hier: 308). 7 Aus Sicht der im letzten Kapitel angedeuteten Interpretation der Luhmannschen Differenzierungstheorie ist daher auch eine Perspektive zu kritisieren, welche differenzierungstheoretische Beschreibungen als normative Beschreibung von Phänomen versteht, wie dies etwa Thomas Schwinn zu tun scheint: „Religion verschwindet nicht im Modernisierungsprozess, sie muss sich vielmehr mit einem Teilbereichstatus begnügen“ (Weltgesellschaft, multiple Moderne und die Herausforderungen für die soziologische Theorie, in: B. Heintz et al. (Hg.), Weltgesellschaft. Theoretische Zugänge und empirische Problemlagen, Stuttgart 2005, 205 – 222, hier: 215, meine Hervorhebung). Hier wäre zunächst die Frage zu stellen, wie eine solche theoretische Perspektive ihr Verhältnis zu dem von ihr beschriebenen ,Phänomen‘ versteht. 8 Siehe etwa Knorr Cetina, Karin, Zur Unterkomplexität der Differenzierungstheorie. Empirische Anfragen an die Systemtheorie, Zeitschrift für Soziologie 21/6, 1992, 406 – 419.
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möchte, um damit zu interessanten Beschreibungen zu gelangen, oder ob ,Religion‘ als ein Diskurs in den Blick kommt, der dann nicht auf ein hinter diesem liegendes ,Phänomen‘ verweist, sondern gerade in seiner Positivität interessiert. Mit einer solchen Bestimmung ist nicht impliziert, dass die Myriaden der zumeist als ,religionsgeschichtliche Phänomene‘ verstandenen Einzelbeobachtungen ,nicht real‘ seien, oder nichts weiter als ,westliche Erfindungen‘ darstellen würden. Vielmehr lassen sich partikulare Beobachtungen zu einer Unmenge von ,religionsgeschichtlichen Phänomen‘ sehr wohl anstellen. Worauf die vorliegende Arbeit einzig und allein hinzuweisen versucht hat, und wozu sie zumindest einen kleinen Beitrag leisten wollte, ist die Frage, was es für die Religionswissenschaft tatsächlich heißt, eine solche Beobachtung unter Rückgriff auf die Kategorie ,Religion‘ zu vollziehen. Wenn man aus diskurstheoretischer Perspektive die zentrale Aufgabe der Religionswissenschaft in der historischen Rekonstruktion des globalen Religionsdiskurses sieht, dann stellt sich, wie in der Einleitung der vorliegenden Arbeit angedeutet, die zentrale Frage, wie die Masse des hierfür relevanten Materials betrachtet und geordnet werden kann. Lassen sich heuristische Vorschläge dafür machen, wie zentrale Charakteristika des modernen ,Redens über Religion‘ bestimmt werden können? In diesem Sinne ist die hier vorgeschlagene Heuristik der Unterscheidungen der Religion zu verstehen, die davon ausgeht, dass der Religionsdiskurs nicht zuletzt um die zwei hier identifizierten Unterscheidungen kreist. Eine diskurstheoretisch informierte Analyse von ,Religion‘ sollte diese daher als zwei derjenigen Unterscheidungslinien im Blick behalten, an denen sich die Macht aber auch die Brüchigkeit des modernen Religionsdiskurses in seiner globalen Dimension immer wieder erweist. Sie erscheinen im Zentrum des Religionsdiskurses zwar als seine Einheit, als umkämpfte Unterscheidungen aber gleichzeitig nicht als sein ,Wesen‘, sondern „as an empty center and a perpetual question rather than as established facts“.9
9 Nedostup, Rebecca, Superstitious Regimes. Religion and the Politics of Chinese Modernity, Cambridge 2009, 3. Sie beschreibt auf diese Weise die ihre Studie beschäftigende Frage nach dem Verhältnis von ,Religion‘ und ,Säkularismus‘ im China der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: „At its most basic, secularism proposes the division of religion from the political, social, and economic realms of public activity, as well as an inherent intellectual division between the numinous and the philosophical. When this book refers to ,secularism‘ and ,the proposition of secularization‘, this is what I mean. […] These two separations lie at the heart of this book, though as an empty center and a perpetual question rather than as established facts.“
Epilog But we are already speaking Latin. … Does not „the question of religio“, however, quite simply merge, one could say, with the question of Latin? By which should be understood, beyond a „question of language and of culture“, the strange phenomenon of Latinity and of its globalization. … For everything that touches religion in particular, for everything that speaks „religion“, for whoever speaks religiously or about religion, Anglo-American remains Latin. Religion circulates in the world, one might say, like an English word that has been to Rome and taken a detour to the United States. … But by ineluctable contagion, no semantic cell can remain alien, I dare not say „safe and sound“, „unscathed“, in this apparently borderless process. Globalatinization …, this word names a unique event to which a meta-language seems incapable of acceding, although such a language remains, all the same, of the greatest necessity here. For at the same time that we no longer perceive its limits, we know that such globalization is finite and only projected. What is involved here is a Latinization and, rather than globality, a globalization that is running out of breath, however irresistible and imperial it still may be. (Derrida, Faith and Knowledge, 66 – 67)
In der vorliegenden Arbeit wurde versucht, ,Religion‘ diskurstheoretisch zu betrachten. Eine solche Herangehensweise wurde von Hans G. Kippenberg bereits vor etwa drei Jahrzehnten gefordert und wird gegenwärtig erneut diskutiert.1 Schon Kippenberg hatte eine auf einem „Diskursmodell“ aufbauende Religionswissenschaft gefordert, welche nicht das „Verhältnis von 1 Siehe Kippenberg, Hans G., Diskursive Religionswissenschaft. Gedanken zu einer Religionswissenschaft, die weder auf einer allgemein gültigen Definition von Religion noch auf einer Überlegenheit von Wissenschaft basiert, in: B. Gladigow/H.G. Kippenberg (Hg.), Neue Ansätze in der Religionswissenschaft, München 1983, 9 – 28; von Stuckrad, Kocku, Discursive Study of Religion. From States of the Mind to Communication and Action, Method & Theory in the Study of Religion 15/3, 2003, 255 – 271; ders., Reflections on the Limits of Reflection. An Invitation to Discursive Study of Religion, Method & Theory in the Study of Religion 22/2 – 3, 2010, 156 – 169; ders., Secular Religion. A Discourse–Historical Approach to Religion in Contemporary Western Europe, Journal of Contemporary Religion 28/1, 2013, 1 – 14; ders., Discursive Study of Religion. Approaches, Definitions, Implications, Method & Theory in the Study of Religion 25/1, 2013, 5 – 25 sowie die bereits mehrfach zitierten Beiträge von Michael Bergunder.
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Wort und Sache“ sondern „Inhalte in ihrer Rolle als Rede“2 untersuchen und dabei nicht länger einen wissenschaftlichen Überlegenheitsanspruch samt einer allgemein gültigen Definition von ,Religion‘ vertreten solle. Bereits in seinem frühen Aufsatz hatte er diesem Vorschlag jedoch die religionstheoretische Aussage an die Seite gestellt, dass „Religion eben nicht nur aus kognitiven Aussagen besteht, sondern auch die innere Natur des Menschen: seine Bedürfnisse, Hoffnungen, Träume formt und objektiviert. Religion ist auch Arbeit an der inneren Natur des Menschen.“3 In ähnlicher Weise fordern er und Kocku von Stuckrad zwanzig Jahre später in ihrer Einführung in die Religionswissenschaft unter Rückgriff auf die Diskursbegrifflichkeit den Abschied von einer Zentralperspektive und deren Ersetzung durch eine Mehrzahl von Perspektiven auf ,Religion‘.4 Neben dieser Kritik finden sich dort allerdings – ohne dass eine konkrete Religionstheorie angegeben wird – Aussagen wie die folgenden: Zur selben Zeit [1789, A.H.], als George Washington sich so pathetisch an das amerikanische Volk wandte, vollzog sich nämlich in Frankreich ein Prozess der Eliminierung alles Religiösen aus dem öffentlichen Raum.5 Religionen besitzen die Kraft, soziale Bindungen zu schaffen. Zugleich sind sie nicht zuletzt wegen dieser Kraft eine Quelle von Gewalt. Dieses Dilemma nicht allein der europäischen Religionsgeschichte ist seit Jahrhunderten immer wieder Gegenstand von systematischen Überlegungen gewesen.6
Die obigen Zitate lassen erkennen, dass die beiden Autoren in Reaktion auf die zunehmende Kritik an allgemeinen Religionsdefinitionen zwar eine Pluralität von heuristischen Arbeitsbegriffen von ,Religion‘ fordern, die Kategorie aber nach dieser Kritik und ohne Verweis auf ein konkretes Religionsverständnis weiterhin zur Beschreibung von ,Religionen‘ und ,des Religiösen‘ verwenden. Was jedoch soll sich der Leser darunter in den obigen Zitaten, etwa in der Aussage zur französischen Revolution, vorstellen? Inwiefern wird „alles Religiöse[]“ aus dem öffentlichen Raum eliminiert? Und was könnte dies heißen? Ließe sich – wenn schon eine religionstheoretisch grundierte Aussage getroffen wird – nicht durchaus auch die sehr viel anders gelagerte These vertreten, dass hier eher von einer ,Entchristlichung‘ des öffentlichen Raums gesprochen werden könnte? Vor dem Hintergrund der in der vorliegenden Arbeit präsentierten Überlegungen wäre an dieser Stelle somit erneut die Frage nach dem Umgang mit ,Religion‘ im Rahmen einer diskurstheoretischen Perspektive zu stellen. 2 Kippenberg, Diskursive Religionswissenschaft, 28. 3 Ebd., 16. 4 Vgl. Kippenberg, Hans G./von Stuckrad, Kocku, Einführung in die Religionswissenschaft. Gegenstände und Begriffe, München 2003, 14 – 15. 5 Ebd., 95. 6 Ebd., 48.
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In einer Rückbesinnung auf Michel Foucault könnte man sagen, dass – zumindest in der Archäologie des Wissens – dessen zentraler Impetus sich in der folgenden Formulierung zeigt: In einem Wort, man möchte sich gänzlich der „Dinge“ enthalten […]; die regelmäßige Formation der Objekte, die sich nur im Diskurs abzeichnen, an die Stelle des rätselhaften Schatzes der „Dinge“ von vor dem Diskurs setzen; diese Gegenstände ohne Beziehung zum Grund der Dinge definieren, indem man sie aber auf die Gesamtheit der Regeln bezieht, die es erlauben, sie als Gegenstände eines Diskurses zu bilden, und somit ihre Bedingungen des historischen Erscheinens konstituieren; eine Geschichte der diskursiven Gegenstände schreiben, die sie nicht in die gemeinsame Tiefe eines Urgrunds stieße, sondern den Nexus ihrer Regelmäßigkeiten entfaltete, die ihre Dispersion steuern. […] Eine Aufgabe, die darin besteht, nicht – nicht mehr – die Diskurse als Gesamheit von Zeichen (von bedeutungstragenden Elementen, die auf Inhalte oder Repräsentationen verweisen), sondern als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen.7
Der hier erkennbare zentrale Ausgangspunkt der Foucaultschen Perspektive – „sich gänzlich der ,Dinge‘ [zu] enthalten“ – scheint mir jedoch weder bei Kippenberg, noch bei von Stuckrad (der sich explizit auf Foucault beruft) ausreichend berücksichtigt zu sein. Vielmehr verwenden beide Autoren immer wieder selbst die Kategorie ,Religion‘, obwohl sie für sich gleichzeitig eine Diskurstheorie in Anspruch nehmen. Eine an die Radikalität dieses Foucaultschen Vorschlags anschließende Perspektive, würde es sich dagegen – wie es in der vorliegenden Arbeit zumindest versucht wurde – zur Aufgabe machen, ,Religion‘ konsequent als einen Diskurs zu behandeln. Letztlich wäre damit nicht viel mehr geleistet, als eine Rückbesinnung auf Foucault. ,Diskurstheoretische Religionswissenschaft‘ müsste dann bestimmt werden als der Versuch, sich tatsächlich des ,Dings Religion‘ zu enthalten. Dies ist nicht die einzige Möglichkeit, Religionswissenschaft zu betreiben, würde es aber erfordern, diese Enthaltung auch konsequent umzusetzen, und gerade darin ihre Herausforderung sehen. Es scheint, dass viele der bisherigen Vorschläge zu einer ,diskursiven Religionswissenschaft‘ im Gegensatz eher dazu dienen, die leidige Diskussion um den Religionsbegriff loszuwerden. Eine diskurstheoretisch ausgerichtete Religionswissenschaft würde dagegen (wie in der Konzeption Michael Bergunders8) ihr zentrales Problem weiterhin in genau diesem Begriff sehen, und versuchen zu verstehen, was es aus diskurstheoretischer Warte heißt, sich genau diesen Begriff als zentrales wissenschaftliches Problem aufzugeben. Auf diese Weise könnte die Religionswissenschaft – als eine Disziplin, die nicht 7 Foucault, Michel, Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1973, 72 – 73. 8 Vgl. Bergunder, Michael, Was ist Religion? Kulturwissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Religionswissenschaft, Zeitschrift für Religionswissenschaft 19/1 – 2, 2012, 3 – 55.
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von einer bestimmten Theorie und nicht von einem eindeutigen Gegenstandsbezug her bestimmt werden kann – ihre Einheit finden. Demgegenüber bleibt auch in von Stuckrads neueren Beiträgen zu einer „discursive study of religion“ relativ unklar, wie das, was für ihn zum ,Diskurs Religion‘ gehört, letztlich identifiziert wird. So beschreibt er den Religionsdiskurs in einer Kurzdefinition als „the societal organization of knowledge about religion“, wobei „religion“ dabei auf „contributions to a discourse on religion“ verweist.9 Auch er nimmt an dieser Stelle die Laclausche Diskurstheorie in Anspruch um „religion“ als „leeren Signifikanten“ zu charakterisieren. In all dem bleibt jedoch ungeklärt, auf welche Weise sich Diskursbeiträge ein- und abgrenzen lassen, um zu entscheiden, welche Beiträge als Beiträge zum Religionsdiskurs zu behandeln sind. Eine solche Abgrenzung ist jedoch notwendig und wird auch vorausgesetzt, wenn von Stuckrad etwa erwähnt, dass es im Kontext einer spezifischen Forschungsfrage nötig sein könnte „to address lines of continuity and change in juridical treatment of religion since Roman times“.10 Wie jedoch, und dies war die grundlegende Fragestellung der vorliegenden Arbeit, ist eine solche Eingrenzung diskurstheoretisch und – ebenso entscheidend – über eine Vielzahl von Sprachen hinweg möglich? Es scheint in von Stuckrads Ansatz dagegen weiterhin – wie Michael Bergunder für die religionswissenschaftliche Diskussion generell konstatiert11 – im Hintergrund ein unerklärtes, ,intuitives‘ Verständnis von ,Religion‘ zu stehen, das es erlaubt, Beiträge zum Religionsdiskurs zu identifizieren.12 In diesem Sinne findet von Stuckrad die Einheit des Religionsdiskurses, wie etwa im folgenden Zitat zu sehen ist, in nicht weiter explizierten „religious semantics“: As long as the cultural communication about football does not involve references to what the actors regard as religious, football does not belong to the religious field of discourse; however, when people start using religious semantics in their communication about football – which can also be non-verbal, such as the building of a prayer room in a football stadium – football definitely belongs to the religious field of discourse and is worthy the attention of scholars of religion. Religious fields of discourse cut across the lines of boundaries of social networks. As actors we encounter religious practitioners and experts, but also politicians, lawyers, scientists, journalists, artists, scholars of religion, as well as the institutions related to these
9 10 11 12
Von Stuckrad, Discursive Study of Religion, 17, Hervorhebung entfernt. Ebd., 20. Bergunder, Was ist Religion?, 16 – 17. Darauf weist auch die Tatsache hin, dass er in seiner Rekonstruktion der diskursanalytischen Theorieentwicklung die Bedeutung von „tacit knowledge“ hervorhebt und dies mit dem „Westen“ verbindet: „people in Western societies can simply assume that their communication partners share this knowledge“ (von Stuckrad, Discursive Study of Religion, 10).
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groups. The religious fields of discourse are both our object of study and our academic habitat.13
Wenn jedoch so vorgegangen wird, ist weiterhin die Frage ungeklärt, wie sich diese „religious semantics“ bestimmen lassen. Denn deren Identifikation kann nur dann unter Verweis auf Selbstbeschreibungen als ,religiös‘ erfolgen, wenn die Übersetzungproblematik und damit die Frage nach der Einheit des globalen Religionsdiskurses ausgeblendet bleibt. Anstatt diese Frage in den Mittelpunkt einer diskursiven Religionswissenschaft zu stellen, setzt von Stuckrads Analyse so den globalen Religionsdiskurs als Bedingung der Möglichkeit der eigenen Analyse bereits voraus. Es ist diese Problematik, zu deren Bearbeitung die vorliegende Arbeit mit den Unterscheidungen der Religion beizutragen versucht hat. Gleichzeitig ergibt sich aus dieser Analyse, dass sich auch die Religionswissenschaft bewusst machen muss, dass sie sich selbst innerhalb des modernen und globalen Religionsdiskurses bewegt, oder allerhöchstens in einem geringen Abstand zu diesem, der erst durch die kritischen Studien der letzten Jahrzehnte eröffnet worden ist. Gleichzeitig macht erst dieser Abstand es möglich, zu erkennen, dass diese Art und Weise des ,Redens über Religion‘, welche auch die Religionswissenschaft noch immer prägt, nicht die einzig mögliche Art war, von ,Religion‘ zu sprechen, und wohl auch nicht die letzte Art sein wird.14 Sie ist aber vor allem nicht – so hat die vorliegende Arbeit zu argumentieren versucht – in einem diesem Sprechen zugrunde liegenden ,Phänomen Religion‘ begründet, sondern wird bestimmt durch die Regeln der diskursiven Formation des globalen Religionsdiskurses, einer Formation in der wir uns selbst noch befinden und in die wir uns selbst ständig wieder einschreiben, auch wenn eine neue Sprache sich vielleicht bereits andeutet. Noch scheint uns diese jedoch nicht vollständig zugänglich. Und genau dies lässt uns vermuten, dass wir es hier tatsächlich mit einem Diskurs zu tun haben.
13 Von Stuckrad, Reflections on the Limits, 166, meine Hervorhebung. 14 Vgl. Foucault, Archäologie des Wissens, 189 – 190.
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Index
Aberglaube 123, 183, 186, 193Fn187, 292, 357, 364Fn365 a¯gama 298–302, 308, 443 agency, indigene 198, 200, 209–211, 270, 281, 288–290, 372–373, 381 Alabaster, Henry 327, 336–337, 338Fn283 Almond, Philip C. 260–262, 263Fn29, 263Fn30, 266–267, 268Fn54 Anschlussfähigkeit 395 Apriori, historisches 245–246 Äquivalente siehe auch Religion, Äquivalente von – Herstellung hypothetischer 89, 99, 138, 226, 292, 294, 308 Äquivalenz – funktionale 108, 110–111, 116–117, 223, 226 – hypothetische 91, 107, 135, 138, 219, 223–224, 226, 231, 233, 247–249, 252, 302–303, 308, 324–325, 360, 362 – semantische 77, 85Fn29, 108, 110–111, 117, 223, 226 – strukturelle 110–111 Asad, Talal 184–188, 201–202, 375–379, 388Fn79, 413Fn195, 415–416 Ausdifferenzierung 27–28, 30, 34, 66, 105Fn102, 116–119, 188, 392, 397, 408–409, 412, 415, 425–426, 429, 431, 444Fn6 – der Religion 71, 94Fn64, 105Fn102, 109–110, 112–114, 117 Authentizität 104, 132–135, 211, 375, 440 bada 303, 305–308, 362 Balagangadhara, S.N. 212Fn55, 289Fn112 Bangkok Recorder 339–340 Bastian, Adolf 331, 336–337 Bayly, Christopher A. 168Fn103, 198–199, 353
Bechert, Heinz 13, 265Fn38, 284, 298Fn144, 356 Beckford, James A. 60–63 Bedeutung 44–45, 52–53, 78, 88–90, 115, 118, 127, 134, 150–151, 180–182, 215, 222–224, 226–245, 247–249, 251–252, 295, 302–303, 308–309, 443 Bell, Catherine 188–190 Benavides, Gustavo 442Fn2 Beobachtung zweiter Ordnung 116Fn149, 120, 417–420 Bergunder, Michael 63–64, 147Fn28, 149Fn30, 150–152, 241Fn171, 251–253, 442–443, 449–450 Bertram, Georg W. 234Fn129, 235–248 Beweis 340–343, 348–349 Beyer, Peter 161Fn79, 172–173, 176Fn130, 202Fn28, 416, 424–427, 431, 435, 437 Blackburn, Anne M. 280–282, 289 Bloch, Esther 212–213, 255Fn1 Bradley, Dan Beach 330Fn249, 332Fn255, 333, 339 Brahmanismus siehe Hinduismus von Brück, Michael 358 Buddha 260–268, 277, 279, 296–297, 305–306, 311, 327Fn239, 331, 343–350, 357 Buddhismus 14, 17, 67, 95, 111–113, 120–122, 124, 165, 167, 169Fn108, 170, 192, 207, 231Fn121, 255–366 – als Gegenstand des Religionsdiskurses 258–260, 266, 270, 289, 309, 352 – als Phänomen 294, 308–309, 358 – als Religion 79Fn7, 115Fn148, 258–269, 285–287, 290–291, 307–308, 311, 338, 344–346, 352, 357–358, 360–362, 364–366 – als Weltreligion 268–269 – als westliche Erfindung 92, 285–287
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Index
– Begriff des 85Fn29, 214–216, 256, 292, 294–323 – chinesischer 120–122 – Einheit des 255, 259, 263–264, 304–305, 312 – europäische Entdeckung des 258–269, 288 – Formation des 16, 290–291, 295–323 – koloniale Konstruktion des 207, 209, 256 – Laien im 274–275, 277–280, 282–284, 303–304, 311–323, 363 – Mönche im 111, 255, 266, 274Fn76, 275–279, 281–284, 296–297, 300–301, 303–304, 310, 312, 314–316, 319–320, 322, 331, 335, 363 – protestantischer 272, 274, 276–284, 287, 295, 322, 361 – Reformbewegungen im 272–275, 279, 311, 313–317, 319–320, 326, 331, 336, 350, 352, 356–357, 359, 361, 365 – tibetischer 111–112 – und Moderne siehe Modernismus, buddhistischer – und Wissenschaft 291, 293, 326–327, 338, 340–345, 351, 355–361, 364 – Ursprung des 262, 264–265 Buddhist Theosophical Society 278 Buddhisten 210, 270–271, 274Fn76, 279, 284–286, 291, 304–306, 310–312, 320–321, 323, 363–364 Buddhistischer Modernismus siehe Modernismus, buddhistischer Burma 213, 261, 283–284, 287, 292, 303–307, 311–323, 334, 362 Burnouf, Eug{ne 258Fn10, 264Fn34, 267 Burris, John P. 164Fn86 buruyu üjel 112–113 Byrne, Peter 40–41 Carter, John R. 297–302 Caswell, Jesse 330, 332Fn255, 336, 350Fn320 Ceylon 213, 261, 272–282, 284Fn106, 287, 289, 291–292, 295–303, 310–311,
313Fn193, 315, 326, 362, 363Fn364, 364, 379, 385 Charakteristika – der Europäischen Religionsgeschichte 29–30, 33 – des europäisch-westlichen Religionsverständnisses 94Fn64, 124, 127–129 – der Religion 40, 42–43, 48–51, 88, 107, 123–124, 128–131, 139, 160–188, 210 – des Religionsbegriffs 82, 88–89, 96–98, 104–107, 128, 130, 136Fn188, 156, 160 – des Religionsdiskurses 78, 91, 99, 103, 107, 128–131, 137–138, 142, 147, 148–149, 150Fn31, 161Fn78, 166, 168, 172–173, 176, 190–192, 202–203, 214–215, 225, 250, 258–260, 263, 285, 292–293, 295, 302, 308–309, 324, 327, 338, 359, 405, 445 siehe auch Religionsdiskurs, Differenzierung als Charakteristikum des; Religionsdiskurs, Pluralität als Charakteristikum des Chatterjee, Partha 279 Chidester, David 168–169, 202–206 China 93, 119–124, 193Fn187, 219, 221–222, 224–225, 227Fn106, 228Fn110, 229–230, 256, 259Fn10, 260–261, 271, 291, 332Fn255, 333Fn256, 334, 343, 345, 348, 356, 445Fn9 chos lugs 112–114 Christentum 14, 42, 82, 95, 100–102, 106, 113, 121, 157–159, 162–163, 165, 170, 175, 188, 192, 207–208, 215, 263, 268–269, 278, 280, 296, 302, 305–307, 309–310, 330, 340, 341Fn294, 346–348, 350, 354 – und Wissenschaft 354–355 Christozentrismus 105 close reading 19 Code 421, 423 Comaroff, Jean 201 Comaroff, John L. 201 Conrad, Sebastian 35Fn34, 199 Cooper, Frederick 201, 289–290 dao 122–123, 207 Daoismus 121, 124, 170, 209, 321, 365
Index Deeg, Max 108–109 Definition – polythetische 38 – von Religion 27, 30–31, 34, 38–48, 62Fn84, 64, 69, 82, 85Fn27, 86Fn34, 94–96, 97Fn78, 100, 151, 172, 181, 205, 215, 219, 359–360, 421, 427, 439, 448 Dekonstruktion 234–236, 240, 434 Derrida, Jacques 56Fn62, 151, 226, 231–248, 447 dharma 87–89, 112, 207, 268, 296–298, 298Fn144, 302, 305, 331, 362, 443 Dharmapala, Anagarika 279 Dialog, interreligiöser 253 difforance 235, 237–239, 241–243, 248 Differenzierung 15, 34, 94, 129Fn178, 138, 237–241, 243–245, 248, 293, 360, 370, 384–385, 390, 403–410, 428, 432–434 siehe auch Religionsdiskurs, Differenzierung als Charakteristikum des – als umkämpft 138, 434–437 – funktionale 29, 396–397, 399, 401–402, 406, 408Fn164, 413–416, 434, 436 – regionale 400 – segmentäre 406, 412, 414–415 – stratifikatorische 28–29, 396, 406, 411–412, 414 – Zentrum/Peripherie 406, 412, 414 Differenzierungstheorie 30, 34, 53, 71, 73, 116–118, 138–139, 370, 384Fn67, 387, 403–417, 425, 428–431, 433, 435–436, 443–444 siehe auch Theorie funktionaler Differenzierung – religionswissenschaftliche 29–30, 72, 138–139, 424, 428, 433–434, 436, 443–444 – systemtheoretische 406–417 – Unterkomplexität der 433 Diffusion 27, 198, 214, 391, 416 din 87–88, 334 Diskurs 130–131, 142–151, 164Fn86, 216–218, 245–247, 445, 449, 451 – als Praxis 125–126, 231, 145–147, 218–219, 449 – Aussagen 246 – Einheit des 137–138, 145–147, 149, 150,
477
152, 160, 215–218, 233, 246–247, 249–250 – Formationsregeln des 131Fn182, 146–147, 193Fn188, 216, 234, 245–247, 249, 252, 303, 309, 364 – globaler 56–57, 70, 78, 104, 126Fn176, 138, 148, 193, 197, 203, 216–217, 218Fn67, 233–235, 247, 249–250, 252, 288, 441 siehe auch Religionsdiskurs, globaler – und Nicht–Diskursives 125–126, 146Fn22, 234 Diskurstheorie 43–48, 52–58, 61, 63, 70–72, 84, 88–90, 98, 125–126, 128, 130, 137–138, 141–152, 160, 173, 177, 182, 205, 215–219, 251–253, 256–257, 285–286, 292, 308–309, 441–442, 445, 447–451 siehe auch Unterscheidung von Religionstheorie und Diskurstheorie Druckerpresse 275–276, 280, 282, 301, 311, 313, 317–318, 329Fn247, 332Fn255, 363 DuBois, Thomas D. 182Fn151, 215 Dubuisson, Daniel 81–83, 99Fn84, 210 Eckert, Andreas 35Fn34 Eliten 13–14, 169, 198, 208–211, 214, 228, 269, 277, 308, 324–325, 329–331, 334–339, 348 , 358, 360 Empirie 60, 73, 95, 128, 143Fn6, 286, 340, 349, 356–357, 392–393, 405, 413, 430, 432, 436 Erkenntnistheorie 21Fn13, 52Fn57, 67–69, 81, 113, 144, 222, 370–371 Essentialismus 40–46, 48–49, 55, 59, 118, 151–152, 179, 185, 251, 253, 355, 371, 373, 393 essentially contested concepts 20, 58 Europa 26–27, 29–30, 32–33, 35, 77, 84, 86, 109, 153, 162, 168, 184, 198, 200, 206, 259, 271, 376, 382, 389, 396 Expansion, europäische 111, 162, 178, 190, 195, 201, 204, 214, 374 Europäische Religionsgeschichte 25–35 Eurozentrismus 64, 77, 84, 88, 107, 126–127, 136, 151, 198, 200–201, 382
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Index
Familienähnlichkeit 38–45, 48–49, 65 farang 329–330, 333–338, 360 Feil, Ernst 20, 79Fn8, 83, 153–157, 160, 165, 176–177, 196 Feldbauer, Peter 200–201 Fitzgerald, Timothy 19, 38, 39–40, 43–48, 52–56, 70, 81, 85, 176–184, 187–188, 195, 203 Ford Campany, Robert 101, 119–124, 131Fn183 Formationsregeln siehe Diskurs, Formationsregeln des Foucault, Michel 125Fn174, 131Fn182, 137Fn189, 141–142, 143Fn6, 145–148, 164Fn86, 193Fn188, 215–216, 218, 245–247, 294, 308, 379–381, 384, 424Fn236, 429Fn245, 442, 449, 451 Freiberger, Oliver 108–109, 274Fn76, 311Fn187 Fremdheit 122, 195–196, 203, 214 Frykenberg, Robert E. 209–210 Funktionale Differenzierung siehe Differenzierung, funktionale Funktionalismus 116–117, 421 Gallie, Walter B. 20, 58 Genealogie 78, 89, 116, 118, 138–139, 149Fn30, 184, 442–443 Geschichte, geteilte 35, 199–200, 202–203 Gesellschaft 100, 104, 157, 183, 186, 376, 383–384, 386–387, 392, 412, 430, 444 siehe auch Weltgesellschaft – Begriff der 391, 395, 397–398 – Differenzierungsform der 396, 406, 408, 410–412, 414, 436 – Grenzen der 395–397 – moderne 187–188, 201, 395–397, 401, 404–406, 408, 411, 414–415, 417, 419 – Strukturwandel der 31, 435–436 – Theorie der 28, 144–145, 187–188, 391–392, 394–396, 400–401, 403–404, 408, 417, 420, 431 siehe auch Weltgesellschaftstheorie Gladigow, Burkhard 13–14, 25–35, 71–72, 441
Globale Religionsgeschichte 31, 33, 35, 64, 291, 441–445 Globalgeschichte 196, 198–202, 207, 223, 288Fn111 Globalisierung 35Fn34, 61, 200, 206, 416, 425, 448 Gombrich, Richard F. 273–283 Graf, Friedrich W. 78, 85Fn29 Greve, Jens 387–392 Habermas, Jürgen 380, 393 Hall, Stuart 199, 228 Hallisey, Charles 206, 269Fn60, 288 Handlungstheorie 96, 391, 394, 410 Harrison, Peter 157–159, 160, 166Fn96 Hart, Roger 230 Haußig, Hans–Michael 85Fn29, 85Fn30, 88Fn44, 226 Heidentum 165, 185, 259–260 Heilige, das 62 Heintz, Bettina 387–392 Heintz, Peter 390–391 Heuristik 37Fn1, 51, 56Fn62, 57, 59, 65–68, 70, 72–73, 78, 91, 98, 107, 130Fn180, 131, 137, 143Fn6, 149–150, 160, 166, 171, 172, 190–194, 220, 249–250, 263, 286, 290, 293, 309, 338, 359, 361–362, 364, 405, 427, 437, 441, 445, 448 Hinduismus 92, 95, 165, 170, 207–214, 255–256, 263–265, 267–268, 270, 289Fn112, 306, 345–346, 348, 350–351, 355, 365 – koloniale Konstruktion des 102–103, 207–214 Holt, John C. 283 Homogenität 323, 375–377, 379, 388, 390–391, 416 Houtman, Gustaaf 283–284, 303 Huff, Toby E. 355–356 Hybridität 166, 169Fn108, 228, 232, 321–322, 327, 337, 345, 359, 372, 432–433 Identität 40, 194, 210, 280–281, 292, 310 – buddhistische 210, 270–271, 274Fn76,
Index 292, 303–304, 310–312, 314, 316, 320–321, 323, 363–364 – hinduistische 212 – kollektive 280, 316, 320, 323, 363 Inkommensurabilität 132, 221–222, 226, 229–230 Integration 189, 354, 398, 406 Islam (auch Mahometanismus) 42, 95, 113, 121, 155, 158, 161–162, 165, 167, 170, 187, 191–192, 208–209, 293, 305–307, 345–346, 355–356 islam 87–88 Isomorphie 390–391 Japan 193Fn187, 222, 227Fn106, 260–261, 287, 291, 329Fn245, 333Fn256 Jones, J.T. 330, 332Fn255 Judentum 42, 95, 158, 165, 170, 208–209, 346 Kalama Sutta 357 Kaldewey, David 432Fn259 Katholizismus 159, 266, 278, 332–334, 347, 349 Keller, Reiner 143Fn6 Keppens, Marianne 212–213, 255Fn1 King, Richard 110Fn119, 149Fn31, 211, 256, 263Fn30, 269–271 Kippenberg, Hans G. 85Fn29, 447–448 Kirichenko, Alexey 303–307 Kitchanukit 324, 326–327, 335Fn268, 336–352, 360–361 Klassifikation 40, 44, 94, 99, 115, 142, 158, 161–168, 170–172, 174, 181, 191, 206, 210, 214, 260, 280, 294, 328, 349, 358 Kleine, Christoph 64, 108–109, 253–254 Knorr Cetina, Karin 432–433 Kognitionswissenschaft 40, 57, 60, 78Fn6, 189, 194, 355, 442Fn2 Kollmar-Paulenz, Karenina 109–119, 136Fn188, 220Fn72, 271 Kolonialgeschichte 383, 442 Kolonialismus 39, 53–54, 195, 200, 203–204, 207, 210, 211–212, 289–290, 372–375, 442 Komlosy, Andrea 200–201
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Kommunikation 201, 317, 391–398, 410411, 418, 425–426, 428–429, 431, 436 siehe auch Religion, als Kommunikation – Misslingen von 434–435 – Unwahrscheinlichkeit von 393, 418, 434 Komplexität 27, 41–42, 50–52, 57Fn62, 372, 405, 411, 414, 417, 429, 433, 437 Konstruktivismus 52Fn57, 60–61, 68–69 Kontinuität 80, 98, 129, 168, 225, 247, 275, 281, 303, 323, 355, 372 – und Diskontinuität 80, 98, 213, 227–228, 232, 256, 284–285, 291, 293, 311, 363 Kosmologie 328, 330, 343–344, 349–350 Krech, Volkhard 64–66 Kultur 43, 81, 105, 108, 118, 145, 203Fn31, 204–205, 222, 390, 431, 433 Kulturwissenschaft 14–15, 19–20, 25, 38, 60, 72, 85, 151, 212Fn55, 221, 354, 369–371, 381Fn51, 386, 393, 403, 407, 442 Laclau, Ernesto 63, 125–126, 146Fn22, 151–152, 251–252, 450 Laien siehe Buddhismus, Laien im Landwehr, Achim 143–146, 216 Lawson, E. Thomas 40–41 Liu, Lydia H. 17Fn4, 133Fn184, 138Fn190, 219–232, 233, 247 Long, Charles H. 203–204 Lopez, Donald S. 268, 326 Luhmann, Niklas 16Fn3, 18–19, 21Fn13, 28–29, 34, 52Fn57, 65–66, 73, 116–117, 236Fn133, 388, 391–392, 393–403, 404–405, 406–424, 429–436, 444Fn6, 444Fn7 Macht 44–47, 52–55, 142, 179, 182, 198, 201, 203, 211–212, 214, 216, 228–230, 253, 289, 313, 323, 371–385, 390, 442, 445 Magie 100, 123, 193Fn187, 292, 364Fn365 Mahometanismus siehe Islam Maier, Charles S. 199 Malalgoda, Kitsiri 296, 299, 302 Marchart, Oliver 370–371
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Index
Massenmedien 44–45, 58, 182, 325 Masuzawa, Tomoko 161–171, 174–175, 190–191, 206, 259–268, 270–271 Matthes, Joachim 99–107, 117, 119, 131–132, 135, 172 McCauley, Robert N. 40–41 McCutcheon, Russell T. 19, 82 McMahan, David L. 327, 356–359 Medien 164, 313 Metapher 16Fn3, 41, 119–123, 404 Meyer, John W. 390–391 Mission, christliche 33, 230Fn121, 261, 272, 273Fn71, 274–276, 278, 296–297, 329–339 – in Burma 303, 305–307, 315, 318 – in Ceylon 272–278, 296–302, 310 – in Siam 324, 329–331, 332Fn255, 333–348, 352, 360 Missionare, christliche 13–14, 181, 182, 205, 209, 261, 275–278, 296–303, 305–307, 313, 315, 318, 324–235, 329–339, 346–348, 350–352, 360 Mitgliedschaft 122, 179, 311, 317–318, 320–321, 363 Moderne 17, 46–47, 92, 108, 118, 168, 173–175, 182, 186–187, 191, 198–201, 215, 221, 271–272, 288, 290, 354, 356, 374–375, 379, 381Fn51, 382–386, 389, 401, 404–408, 415–417, 426, 428, 431, 433, 442 siehe auch Theorie der Moderne Modernisierungstheorie 386Fn74, 388–389, 391–392, 401, 408 Modernismus – buddhistischer 13, 71, 258, 269–285, 287–288, 290–291, 301, 311, 313, 321–322, 324–326, 356–359, 361, 365 – religiöser 293 Modernität 374, 377, 386Fn74, 401, 408 Mohn, Jürgen 37, 56Fn62, 57Fn64, 65, 444Fn6 Mönche siehe Buddhismus, Mönche im Mongkut siehe Rama IV. Mongolei 109–115, 117–119, 136Fn188 Mouffe, Chantal 63, 125–126, 146Fn22
Namensgeschichte 152, 251–252 Nassehi, Armin 52Fn57, 381Fn51, 386Fn74, 403–404, 429–431 Nationalstaat 45–46, 177–178, 182, 187, 210, 323, 372, 376, 387–391, 396, 398 Nedostup, Rebecca 445Fn9 Neologismus 83, 206, 222, 224, 226, 228Fn110, 231Fn121, 232, 238, 302, 305–306, 308 nom 112, 115 Nonhoff, Martin 216Fn65, 244, 250Fn201, 290Fn115, 352 Obeyesekere, Gananath 272, 283, 363Fn364 Objektivierung 86, 144, 390, 448 Objektivität 45, 68 Öffentlichkeit 44–45, 87, 170–171, 186–187, 214, 275–277, 280, 300, 311, 313–314, 318–320, 325, 376, 380–381, 395, 448 Olcott, Henry S. 274, 278–279, 326 Operativität 217, 393, 395Fn111, 397, 402, 409, 418–419, 421, 426, 428–431, 433–436, 442 Organisation 179, 214, 280, 292, 301, 310–311, 317–321, 323, 325, 363, 397, 406, 410Fn177, 414 Organisationen, buddhistische 273Fn71, 275, 278, 292–293, 301, 306, 314–315, 318, 321, 323, 363 Orientalismus 207, 209, 212, 268–270, 288, 353 Osrecki, Fran 432Fn259 Osterhammel, Jürgen 198Fn7 Pali 298–299, 305, 314–316, 343–344, 351, 361 Pali Kanon 255, 297–299, 350 Pattana Kitiarsa 351–352 Pennington, Brian K. 101, 110Fn119, 202, 207 Peripherie 205, 389, 406, 412, 414 Perspektivenwechsel 18, 78, 82, 125–139, 141–142, 152, 172, 190, 196–197, 219, 222, 224, 231, 284, 291, 375, 387, 390 Pluralität 16, 27, 100–101, 112, 122–124,
Index 128, 129Fn178, 136Fn188, 158–159, 190–191, 200, 263, 290–291, 302–303, 305, 396, 448 siehe auch Religionsdiskurs, Pluralität als Charakteristikum des Polkinghorne, John 354 Pollock, Sheldon 288Fn111 Postkolonialismus 60, 85, 92, 97Fn78, 107, 114, 174, 189, 207–208, 255, 282Fn101, 353, 369–375, 381Fn51, 385–386, 393, 416, 442 Postmoderne 43, 95, 107, 114, 117, 189, 369, 370 Poststrukturalismus 56Fn62, 90, 134, 234, 251, 370, 434, 436 Pragmatismus 67–68 Primat 412–417 – funktionaler Differenzierung 392, 396–397, 400–402, 405, 411–416 Protestantismus 111, 227Fn106, 261, 274, 280, 282, 296, 300, 331, 332Fn255, 333–336, 347 Publizistik – buddhistische 276, 301, 318 – christliche 275–276, 301–302, 318 Rama III. 333–334 Rama IV. 301, 330–332, 335–336, 339, 350 Randeria, Shalini 199–201 Realität 52Fn57, 81, 86Fn34, 102–104, 133, 138, 143, 145, 186, 205, 213–214, 216–217, 246, 253, 270, 311, 426–427, 444 Reckwitz, Andreas 431–433 Reden über Religion 121, 123, 125–128, 143, 150, 161, 166, 190, 197, 249 Reformation 100, 157, 159, 162, 190, 195 Regelmäßigkeit 142–150, 160, 172–173, 215–216, 234, 249–250, 252, 254, 258–259, 294, 303, 309, 449 Region 32–33, 200–201, 390, 395, 398–400, 402, 413, 416 Relativismus 226, 230–231, 233 religio 79, 83, 101, 113, 152–157, 159, 165, 190, 195–196, 217, 247, 447 Religion
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– als Allgemeinkonzept (auch Allgemeinbegriff) 100, 107, 131 – als analytische (auch theoretische) Kategorie 34, 37, 46–47, 49–50, 52–57, 59–61, 69–70, 80–81, 143, 206, 444–445 siehe auch Religionsbegriff, analytischer – als anthropologische Konstante 80–83, 100–101, 155–156, 175, 192, 194, 442Fn2 – als Differenzkonzept (auch Differenzbegriff) 100, 105, 107, 119, 131, 172, 271 – als Diskurs 57, 127–131, 137, 143, 147–152, 205, 234, 445 447–451 siehe auch Religionsdiskurs – als europäisch-westlicher Begriff 39, 78, 82, 84–85, 89, 97, 100, 102–104, 106–107, 117, 120–121, 124–125, 126Fn176, 127–129, 131–132, 139, 149, 161, 196, 201, 217–218, 226, 252, 289 – als Funktionssystem 419–427 – als Kommunikation 64–66, 95, 97Fn78, 250, 418–421, 424–428, 437 – als Objekt des Wissens 157–158 – als Phänomen 20, 40–41, 45, 48, 50–52, 55, 57–58, 61–63, 66–68, 72, 79–80, 82–84, 86Fn34, 92–93, 95, 97Fn78, 105Fn102, 115, 122, 128, 130, 132, 136, 143, 151, 173–175, 177, 181, 189–190, 192, 220, 234, 247, 250, 254, 305, 308, 355, 359–360, 418, 421, 426–429, 437, 440–442, 444–445, 451 – als sui generis 20, 72, 80–81, 173, 175, 192 – als Teilbereich 30, 108, 110, 113, 174–176, 444Fn7 – Äquivalente von 64, 77, 85Fn29, 88–90, 98–99, 103, 107–108, 115, 117, 124–125, 127, 131–136, 138, 152, 216–220, 224, 226, 231, 252–253, 256, 291–292, 294–295, 307–308, 312, 443 siehe auch Äquivalente – Begriffsgeschichte von siehe Religionsbegriff, Geschichte des – Charakteristika der siehe Charakteristika – Dekonstruktion der 78–84
482
Index
– Diskurstheorie der 43–48, 52–56 – Einheit der 71, 101, 128, 136, 175, 189, 190, 191–192, 194, 249–250, 424, 427–428, 437, 442 – Funktion der 421–423 – Globalität von (auch Globalisierung von) 15, 33, 89, 136, 197–198, 200 – in der Weltgesellschaft 425–427 – Innerlichkeit der 150, 155–157, 160 – koloniale Konstruktion von 207–214, 255–256 – Prototypen von 41–42, 49, 51, 82, 150, 188 – Religionstheorie der 39–43, 49–52 – und Nicht–Religion 46, 55, 60, 176, 180, 184, 187, 250, 309, 364Fn365 – und Recht 16, 30, 44–45, 55, 58, 186–187, 192 – und Wissenschaft 100, 179–180, 187, 192, 291–293, 327, 338, 341, 351–361, 364–365 – vierfaches Klassifikationsschema der 161–167, 191 – Vorverständnis von 86, 99, 114–116, 124, 127–128, 136–137, 139, 150–151, 193 Religionsbegriff – analytischer 92–93, 96 – Charakteristika des siehe Charakteristika – Dekonstruktion des 93 – Einzigartigkeit des 84, 86, 88 – Eurozentrismus des 64, 77–78, 84, 88, 107, 126–127, 136, 151 – Geschichte des 51, 79–80, 152–160 – Globalisierung des 53Fn58, 89, 102–103, 131, 137, 207 – impliziter 77, 91–92, 94, 97 – in außereuropäischen Kontexten 87–88, 102–103, 108–124, 207–214, 295–307 – moderne Kontur des 78, 91, 101, 107, 116, 118, 129, 161 – Paradigmen des Verständnisses des 188–190 – universaler 77, 91–96, 98 Religionsdiskurs
– als Diskurs doppelter Unterscheidung 192–193 – als historischer Gegenstand der Religionswissenschaft 150–152 – Charakteristika des siehe Charakteristika – Differenzierung als Charakteristikum des 16, 124, 129Fn178, 136Fn188, 137, 149, 160, 168, 172–188, 191–192, 195, 203, 215, 249, 290–291, 359, 361, 364 – Einheit des 130, 136, 149–150, 152, 160, 190, 193, 215, 234, 247, 249–250, 252, 428, 437, 445, 450–451 – frühneuzeitlicher 148, 162–168, 172, 190–191, 196–197, 203–204, 206, 215, 259 – Genealogie des 83, 138–139, 148, 161Fn78, 176–177, 181, 184, 190, 192, 195, 200, 203–204, 206, 259, 308, 324Fn232, 361–362, 375 – globaler 13–14, 17–18, 21, 56, 58, 63, 66, 70–71, 73, 83, 89–90, 125, 127Fn176, 134, 138–139, 150, 152, 182Fn151, 194, 196–197, 200, 205–206, 211, 213–215, 217, 219, 234, 244–245, 249–250, 252–253, 258, 260, 264, 270, 284, 286–295, 300, 302–303, 305, 307–311, 321, 323–327, 338, 352–353, 355, 358–361, 364–366, 386, 405, 407, 419, 428, 437, 441–445, 451 – Globalität des (auch Globalisierung des) 72, 137–139, 196–197, 202, 210–211, 214–215 – moderner 33, 56, 70, 72–73, 78, 91, 102–103, 123, 127Fn176, 130, 137, 139, 142–143, 148–149, 160–161, 167–178, 190–197, 200, 202, 204, 206, 208, 210–211, 214–215, 217, 225–226, 254, 256Fn7, 258–259, 263, 274Fn76, 284–285, 291–292, 315, 445 – Pluralität als Charakteristikum des 16, 137, 149, 160, 161–173, 175–176, 190–192, 195, 203, 205, 215, 249–250, 263, 290–291, 302–303, 305, 309, 338, 352, 359, 361–362, 364 Religionstheorie 38–43, 49–52, 57–61,
Index 63–69, 70–72, 92–97, 99, 104, 105Fn102, 106, 116Fn149, 128, 130Fn180, 131, 134, 136, 143, 172, 207Fn42, 211, 217, 219–220, 418Fn213, 419–428, 442, 448 siehe auch Unterscheidung von Religionstheorie und Diskurstheorie – diskurstheoretische 37Fn1, 67 Religionsvergleich 39, 51, 57, 100, 102, 108–109, 127, 158–159, 161, 165, 168–169, 172, 187, 189, 190–192, 205–206, 267–269, 305, 307, 326–327, 337, 340, 345–348, 350–351, 362, 364 Religionswissenschaft 444–445, 448–451 – als Kulturwissenschaft 14–15, 19–20, 25, 38, 97Fn78, 151, 403, 442 – Aufgabe der 46, 48, 50, 53, 56–57, 64, 69, 133, 181, 445 – diskursive 447, 450 – diskurstheoretische 20, 449–450 – historische 58Fn66 – systematische 58Fn66 Religiös/Säkular 176–177, 180–183, 184–189, 252, 292, 341Fn294, 351, 445Fn9 Reynolds, Craig J. 328–329, 340Fn293, 349–350 Riesebrodt, Martin 92–97, 117, 122, 151 Rorty, Richard 67–68, 220Fn73 Säkularisierung 26, 61, 186, 391 Säkularismus 45–47, 53, 177, 186–187, 215, 266, 341Fn294, 372, 375, 445Fn9 Saler, Benson 38–52, 54–55, 150–151 sangha 255, 273–274, 277, 282–283, 311, 314–315, 331, 350, 352 sa¯sana 87, 112, 297–298, 304, 312–313, 315–317, 319–323, 362, 443 ˇsasin 112–115 Saussure, Ferdinand de 237, 240, 242–244, 247–248 Sayadaw, Ledi 306–307, 314, 319–320 Schimank, Uwe 403–406 Schlieter, Jens 35, 85–91, 99, 226Fn95 Schmitz, Bertram 226 Schrage, Dominik 147 Schulwesen 275, 277–278
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Schwinn, Thomas 444Fn7 Scott, David 174, 295–296, 310–311, 369–375, 379–387, 407–408, 416 Searle, John R. 116Fn149 Selbstbeschreibung 34, 58Fn66, 65–66, 211, 301, 396, 411, 421–423, 434–436, 451 – und Fremdbeschreibung 419 Selbstidentifikation 63, 273Fn71, 364, 423–424, 428 Semantik 34, 321, 435–436, 443 – und Struktur 435–436 shu¯kyo¯ 206 Siam 13–16, 213Fn60, 261, 272–273, 286–287, 291–292, 301, 313Fn193, 323–353, 357Fn354, 358–361, 362 – westliche Präsenz in 329–337 Signifikant, leerer 251 Signifikat 237, 243–245, 248, 308 – transzendentales 223Fn86, 231–232, 248, 251 Sinn 27–30, 34, 94–97, 244, 395, 420, 422–423, 434–436 – Zusammenbruch von 434 Sinnproduktion 29, 34 Sinnsystem 29–30, 32, 34 Smith, Jonathan Z. 57Fn63, 120 Smith, Wilfred C. 80 Spiro, Melford 40 Sprache 41, 90, 114, 119, 144–145, 216, 221, 223–229, 231–234, 235Fn131, 236Fn134, 237, 245, 247–249, 250, 307–309, 450 Spur 239–245, 248, 252 Sri Lanka siehe Ceylon Stabilität 393, 414, 417–418, 421, 424, 427–431, 433–434, 437 Stäheli, Urs 434–437 Stausberg, Michael 59–60, 64, 116Fn149 Stewart, Charles 443Fn266 Stichweh, Rudolf 415 von Stietencron, Heinrich 208 Stoler, Ann L. 201 Struktur, gesellschaftliche 31, 145, 387, 389–390, 393, 401–402, 410–411, 413–418, 429–436 siehe auch Semantik, und Struktur
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Index
von Stuckrad, Kocku 67Fn107, 85Fn29, 448–451 Subjekt 234, 258, 270, 285–286, 290–291, 310, 364, 372, 377, 380, 383 System/Umwelt 52Fn57, 392, 396, 408–409, 410 Systemdifferenzierung 400, 408–409, 411, 414 Systemtheorie 28–29, 34, 52Fn57, 116, 129Fn178, 144Fn6, 188, 236Fn133, 381Fn50, 381Fn51, 391–403, 405–417, 419–436, 442 Taylor, Charles 356 Teil/Ganzes-Schema 409, 412 Teilsystem 31Fn25, 392, 397, 401, 409–411, 431 Tenbruck, Friedrich 69, 77, 84–85, 89 Thailand siehe Siam Thanissaro Bhikkhu 357Fn354 thathana 304–308 Theorie 52Fn57, 66–69, 73, 128, 143Fn6 Theorie der Moderne 16, 139, 369, 374–375, 385–387, 392, 405, 407, 417, 428, 431, 437, 442 Theorie des Bedeutungsgeschehens 233, 236 Theorie funktionaler Differenzierung 16, 29, 34, 386Fn74, 387, 393, 403, 407–408, 427, 430–433, 436 Theosophie 274, 278 Chaophraya Thiphakorawong 324, 335Fn268, 336–349, 349–352 Thongchai Winichakul 329Fn244, 350–351 trai phum 328–330, 341, 343–345, 349–352, 361 translingual practice 135, 138, 197, 213, 219–233, 253, 443 Transzendenz 64 Tully, James 384 Turner, Alicia M. 284, 292, 311–323, 363–364 Tweed, Thomas A. 20Fn11 Tyrell, Hartmann 101, 104, 106–107, 116, 119, 128, 131, 409Fn173
Übersetzbarkeit 221, 223–224, 230 Übersetzung 17Fn4, 63, 71, 118, 134, 151–152, 206, 218–219, 221–236, 247–248, 298–300, 327, 361–362, 451 Ungleichheit 390, 398–399, 404, 414 Universalismus 226, 230–231, 233, 386, 400, 410 Unterscheidung von Religionstheorie und Diskurstheorie 34, 37, 59–60, 64, 65–66, 69–71, 92, 96, 115, 127, 135–136, 141, 220, 420, 423–424, 426 siehe auch Diskurstheorie; Religionstheorie Unterscheidungen der Religion 13, 15, 21, 72–73, 149–150, 160, 176, 190–194, 215, 245, 249–252, 290–291, 294, 323, 352, 359, 364, 366, 403, 433, 436–437, 443, 445, 451 Vzsquez, Manuel A. 63 Verflechtungsgeschichte 17, 32–33, 35, 138, 196–204, 206–208, 213–214, 269, 287–288, 373, 442 Vergleich 28, 39, 51, 70, 86–87, 89–90, 97–98, 159, 168, 205, 211Fn78, 340–343, 351, 377, 399, 406 Wallace, B. Alan 355 Weltausstellungen 164Fn86 Weltgesellschaft 188, 376Fn29, 391–403, 410, 412–413, 415, 416–417, 424–427, 430, 434, 437Fn277 Weltgesellschaftstheorie 16, 139, 173, 188, 369, 377Fn35, 381Fn50, 381Fn51, 386–403, 405, 407, 412–413, 415–417, 419, 442 Welthorizont 395 Weltparlament der Religionen 164Fn86, 170, 279, 287 Weltreligion 19, 51, 79, 77Fn159, 161, 165–172, 189, 191, 197, 208, 213, 215, 267–269, 325 Weltsystemtheorie 388–391 Wenger, Tisa 55 Westen 33, 51, 53, 71, 83, 92–94, 105, 109, 117, 120, 185, 195, 198–199, 201,
Index 203–204, 226, 228, 247, 255, 260, 263, 267, 270, 287–288, 329, 372–373 White, Erick D. 364–365 Widerstand 313, 315, 372–373, 377–378, 385 Wiederholung 17Fn4, 239–243, 248, 252 world polity 390–391 Wyatt, David K. 239Fn246
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Zeichen 28, 143, 216Fn65, 235Fn129, 236Fn134, 237–245, 248–249, 449 – Materialität des 239, 244 Zeichensystem 28, 240, 242–243 Zeichentheorie 235Fn129, 242 Zirkularität 64–65, 69–72, 85Fn27, 85Fn30, 86, 88–89, 96, 107, 115Fn148, 123–124, 137, 139, 219Fn71, 220, 222, 251, 407, 408Fn164, 422Fn231 zong jiao 206, 219Fn70