Unternehmerische Führung und Kultur in Non-Profit-Organisationen: Erfolgsbeispiele und aktuelle Trends 3658409827, 9783658409821, 9783658409838

Das Management von Non-Profit-Organisationen (NPO) erfährt derzeit einen Paradigmenwechsel, in dem sich Erwartungen und

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Über die Herausgeber
Teil I Unternehmerische Führung und Kultur
1 Die Idee der unternehmerischen Führung im Dritten Sektor
Literatur
2 Internationale Managementforschung zu Unternehmerischer Führung und Kultur in Non-Profit-Organisationen
2.1 Methode
2.2 Ergebnisse
2.2.1 Konzeptualisierung, Definition und Anwendung des Konstrukts
2.2.2 Inhaltliche Erkenntnisse des Forschungsstrangs
2.2.3 Einflussfaktoren
2.2.4 Auswirkungen
2.3 Fazit und Ausblick
Literatur
3 Fallstudienüberblick und Methodik
Literatur
Teil II Frühe Beispiele unternehmerischer Initiative
4 Wir sind Pfarrer Sieber – von einer unternehmerischen humanitären Initiative zu einem professionellen Hilfswerk
4.1 Wie alles begann
4.2 Initiativen in unruhigen Zeiten
4.3 Eine organisatorische Wende wird nötig
4.4 Eine professionelle Geschäftsführung wird eingerichtet
4.5 Herausforderungen für die fortschreitende Institutionalisierung
4.6 Eine neue Außenwahrnehmung
4.7 Spenderpflege im Transformationsprozess
4.8 Fazit
5 Die SOS-Kinderdörfer: Von der regionalen Aktivistengruppe zum weltweiten Netzwerk
5.1 Das Start-up Hermann Gmeiners und seiner Weggefährten
5.2 Ein Start-up wofür?
5.3 Bewundert und belächelt
5.4 Das Ziel: Eine breite Bewegung
5.5 Eine Bewegung der Jungen in konservativem Umfeld
5.6 Durchbruch dank Direkt-Marketing
5.7 Die Kraft des Storytellings
5.8 SOS wird international
5.9 Die SOS-Kinderdörfer als „Stille Größe“
5.10 Innovation im Fundraising
5.11 Ein neues Standbein des Fundraisings
5.12 Neue Wege der Spenderbindung
5.13 Der Nachhaltige Pfad
5.14 Digitalisierung als Chance
5.15 Transparenz und Wirksamkeit
5.16 Die Stärken der Marke „SOS“
5.17 Der „Faktor“ Mensch
Literatur
Teil III Unternehmertum in der Sozialen Integration
6 Unternehmerische Führung in Schweizer Sozialen Organisationen
6.1 Ziele und Erfolgsfaktoren von Sozialunternehmen
6.2 Datenbasis der Untersuchung
6.3 Managementerfolg in Sozialunternehmen
6.4 Untersuchungsmodell und Variablenmessung
6.5 Analyseergebnisse
6.6 Schlussfolgerungen
Literatur
7 Stiftung Wendepunkt: Wie aus Unternehmerischer Führung und Kultur ein integrativer Lebensraum entsteht
7.1 Beschrieb
7.2 Geschichte, Rückblick, Ausrichtung
7.3 Was ist vorhanden, wird wie umgesetzt? Beispiele, Kunden-/Mitarbeitenden-Aussagen usw
7.4 Unternehmerisch sein als Haltung
Literatur
8 Stiftung Lebenshilfe: Krise als Basis für eine konsequente Bedarfsorientierung – Umsetzung von vier Strategiezyklen
8.1 Ein Wirken, das sinnstiftend, entwicklungsfördernd und persönlich ist
8.2 Bedarfsorientierung
8.3 Der Zeit voraus
8.4 Gelegenheiten beim Schopf packen
8.5 Neuausrichtung des Bildungsangebots
8.6 Gründung einer interinstitutionellen Berufsschule
8.7 Kooperation in der Branche zur Bündelung von Kräften
8.8 Arbeitsmarktintegration in der Region: Initiativen mit kantonaler Ausstrahlung
8.9 Lh heute: ein Unternehmen mit zweifachem sozialem Auftrag
8.10 Professionalisierung des Begleithandelns
Literatur
9 Unternehmerisches Handeln im regulierten Markt – dargestellt am Beispiel der Gesellschaft für Arbeit und Wohnen (gaw)
9.1 Kurzportrait der gaw
9.2 Unternehmerische Führung in der gaw
9.2.1 Innovationsorientierung
9.2.2 Proaktivität
9.2.3 Risikobereitschaft
9.2.4 Autonomie
9.2.5 Gemeinschaftliche Mobilisierung
9.3 Fazit
Literatur
10 Die Stiftung Battenberg – Entwicklung zum wirtschaftlich-sozialen Unternehmen
10.1 Einleitung
10.2 Stiftungsporträt
10.2.1 Stiftung Battenberg als Berufliches Ausbildungszentrum
10.2.2 Stiftung Battenberg als wirtschaftlich-soziales Unternehmen
10.3 Strategie 2015 – Neuausrichtung
10.3.1 Wirtschaftlich-soziales Unternehmen
10.3.2 Unternehmensentwicklung 2010–2022
10.3.3 Ist-/Soll-Profil unternehmerische Führung
10.3.4 Wettbewerbsfähig dank Strategie 2015
10.4 Strategie 2025
10.4.1 Leitbild
10.4.2 Strategien und Teilstrategien
10.4.3 Krisensituation Corona
10.5 Marktliberalisierung
10.6 Führungsstatements
10.7 Anhang
Literatur
11 Powercoders: Im Dienst der nächsten Generationen
Teil IV Unternehmertum in der Internationalen Hilfe
13 Emanzipation von europäischer Projektfinanzierung durch lokale Verankerung. Unternehmerische Führung am Beispiel zweier Verbände im Kontext der Entwicklungszusammenarbeit
13.1 Einleitung
13.2 Herausforderungen für Verbände in Transformationsländern
13.3 Partnerorganisationen von Schweizer Hilfswerken – die Beispiele CASMED und ANAK
13.4 Unternehmerische Ansätze im Bemühen um Unabhängigkeit
13.4.1 Innovationsorientierung
13.4.2 Proaktivität
13.4.3 Risikobereitschaft
13.4.4 Aggressivität
13.4.5 Kooperative Mobilisierung
13.5 Schlussfolgerungen und Empfehlungen
Dokumente von CASMED
Anhang
Literatur
12 „Velafrica“ schafft Mobilität mit Perspektiven
12.1 Kurzpräsentation der Organisation
12.2 Innovationsorientierung
12.3 Proaktivität
12.4 Risikobereitschaft
12.5 Autonomie
12.6 Gemeinschaftliche Mobilisierung
12.7 Kooperative Mobilisierung
12.8 Abschluss
Literatur
Teil V Unternehmertum im Gesundheitssektor
18 Schweizerischer Gehörlosenbund: Auf dem Weg zur unternehmerischen Führung
18.1 Kurzporträt des Schweizerischen Gehörlosenbundes
18.2 Analyse der Situation und Wechsel zur unternehmerischen Führung
18.3 Zukunftsorientierung
18.3.1 Strategieverankerung
18.3.2 Markenentwicklung des Schweizerischen Gehörlosenbundes
18.3.3 Organisationskulturanalyse
18.3.4 Analyse des Führungsverständnisses
18.3.5 Führungsplattform
18.3.6 Web-Basiertes HR-Instrument: Quercus App
18.3.7 Proaktivität
18.4 Aktivität
18.4.1 Autonomie und Eigeninitiative der Mitarbeitenden
18.4.2 Aggressivität
18.5 Gemeinschaftliche Mobilisierung
18.5.1 Projektgruppe „Transformer“ im Change-Prozess
18.5.2 Begleitung des Change-Prozesses durch externe Change-Moderator_innen
18.5.3 Inoffizielle Austauschmöglichkeiten
18.6 Kooperative Mobilisierung
18.7 Ausblick
Literatur
17 Klinik Selhofen – Angebotsentwicklung mit einer lösungs- und ressourcenorientierten Haltung
17.1 Unsere gemeinsame Haltung
17.2 In Bewegung bleiben und vorausdenken
17.3 Wagen und gewinnen oder einstampfen
17.4 Stärken ins Zentrum rücken
17.5 Selbstbewusst mit unternehmerischem Interesse
17.6 Veränderungen breit abstützen
17.7 Fazit
Literatur
16 Spitex Zürich Sihl – in einem gestalterischen Prozess von einem hierarchischen Betrieb zu einer agilen Netzwerkorganisation
16.1 Kurzbeschreibung der agilen Netzwerkorganisation Spitex Zürich Sihl
16.1.1 Organisation und Führung
16.1.2 Umfeld und Freiheitsgrade der SZS
16.2 Status quo und unternehmerische Führung
16.2.1 Dezentrale Strukturen bedingen Autonomie
16.2.2 Mastery führt zu weiterer Proaktivität und Innovation
16.3 Der Weg zur agilen Netzwerkorganisation und unternehmerische Führung
16.3.1 Mut zur Führung – Risikobereitschaft auf dem Weg zur Selbstorganisation
16.3.2 Gemeinschaftliche Mobilisierung verbindet
16.3.3 Kooperative Mobilisierung
16.4 Die kontinuierliche Weiterentwicklung
16.5 Zusammenfassung
Literatur
15 Unternehmerische Kultur und Organisationserfolg in Pflegediensten
15.1 Unternehmerische Orientierung im Vergleich von PO und NPO
15.2 Untersuchungsmethode und Datensatz
15.3 Die Verbreitung unternehmerischer Kultur in den gemeinnützigen Spitex-Organisationen
15.4 Unternehmerische Kultur und Zielerreichung
15.5 Unternehmerische Orientierung und Organisationserfolg im Vergleich
15.6 Schlussfolgerungen
Literatur
14 Unternehmerisch sein – ein Kulturmerkmal des Weißen Kreuzes
14.1 Freiwilligkeit als Basis im Weißes Kreuz
14.2 Unternehmerisch sein – nicht nur eine Haltung des Managements
14.3 Von der Rettungsorganisation zur gemeinnützigen Hilfsorganisation
14.4 Innovationsorientierung
14.5 Proaktivität
14.6 Risikobereitschaft
14.7 Autonomie
14.8 Aggressivität
14.9 Gemeinschaftliche Mobilisierung
14.10 Kooperative Mobilisierung
14.11 Schlussbemerkung
Literatur
Teil VI Unternehmerische Wirtschaftsverbände
21 Der Touring Club Schweiz als unternehmerischer Verein
21.1 Die Geschichte des TCS
21.2 TCS, der Verein
21.3 TCS, das Unternehmen
21.3.1 Innovationsorientierung
21.3.2 Proaktivität
21.3.3 Risikobereitschaft
21.3.4 Autonomie
21.3.5 Aggressivität
21.3.6 Gemeinschaftliche Mobilisierung
21.3.7 Kooperative Mobilisierung
21.4 Schlusswort
Literatur
20 Strategie und Führung in Gewerkschaften am Beispiel der IG Metall – Kooperative und beteiligungsorientierte Ansätze für die Transformation
20.1 Einleitung
20.2 Die IG Metall
20.3 Strategische Herausforderungen
20.4 Erfolgreiche Führung
20.5 Fazit
Literatur
19 Regional verankert und international ausgerichtet: Unternehmerische Führung der Betonverbände Baden-Württemberg
19.1 Unternehmerische Führung in Wirtschaftsverbänden: Theoretische Einordnung
19.2 Präsentation der Organisationen
19.3 Unternehmerische Führung
19.3.1 Innovationsorientierung
19.3.2 Proaktivität
19.3.3 Risikobereitschaft
19.3.4 Autonomie
19.3.5 Aggressivität
19.3.6 Gemeinschaftliche Mobilisierung
19.3.7 Kooperative Mobilisierung
19.4 Unternehmerisches Handeln in Wirtschaftsverbänden – Auswirkungen auf Erfolg der Mitglieder?
Literatur
Teil VII Unternehmerische Genossenschaften
23 Unternehmerische Führung von Wohnbaugenossenschaften
23.1 Wohnbaugenossenschaften in der Schweiz
23.2 Unternehmerische Führung in Wohnbaugenossenschaften
23.3 Innovation und Expansion bei Wohnbaugenossenschaften
23.4 Strategische Orientierungen bei den Wohnbaugenossenschaften
23.4.1 Grundhaltung Kontinuität-Konsolidierung
23.4.2 Unternehmerische Orientierung 1: Expansion
23.4.3 Unternehmerische Orientierung 2: Innovation
23.4.4 Unternehmerische Orientierung 3: Innovation und Expansion
23.5 Ausprägungen der unternehmerischen Führung in den unterschiedlichen Strategietypen
23.6 Fazit
Literatur
22 Unternehmerische Orientierung und Zielerreichung von Selbsthilfegenossenschaften
22.1 Einleitung
22.2 Untersuchungsmodell
22.2.1 Unternehmerische Orientierung
22.2.2 Unternehmerische Kooperation und gemeinschaftliche unternehmerische Mobilisierung der Mitarbeitenden
22.2.3 Unternehmerische Orientierung (EO) und Erfolg
22.2.4 Unternehmerische Kooperation, gemeinschaftliche unternehmerische Mobilisierung und unternehmerische Orientierung
22.3 Methodik
22.3.1 Datensatz
22.3.2 Messgrößen
22.3.3 Resultate
22.4 Diskussion
22.5 Fazit für das Genossenschaftsmanagement
Anhang
Literatur
Teil VIII Unternehmertum in Kultur, Bildung und Sport
30 Der Schweizerische Esports-Verband – Unternehmertum nutzen, um die Kraft des Wandels in einem schnelllebigen Umfeld nutzbar zu machen
30.1 Einleitung
30.2 Die Swiss Esports Federation: Geschichte, Mission und Aktivitäten
30.3 Esports und Verbände in der Schweiz: Charakteristiken und Herausforderungen
30.4 2019: Umstrukturierung hin zu einer mehr „unternehmerischen“ Art der Führung
30.5 Die SESF Management-Säulen
30.5.1 Innovation & Autonomie
30.5.2 Proaktivität & Aggressivität
30.5.3 Mobilisierung der Gemeinschaft
30.6 Fazit
Literatur
29 Rudergesellschaft Speyer 1883 e. V.: Kleine Schritte machen Veränderungen besonders erfolgreich!
29.1 Die Rudergesellschaft Speyer 1883 e. V.
29.2 Phase 1 – Neumitglied (2007–2008)
29.3 Phase 2 – Eingeladenes Mitglied im Sportausschuss (2008–2016)
29.3.1 Kompetenzmodell zur Zielentwicklung und Zukunftssicherung nutzen
29.3.2 Der 7-Schritte-Plan zur Entwicklung zukunftssichernder Kompetenzen
29.3.3 Erfolgsfaktoren 07/2008 bis 12/2016
29.4 Phase 3: Gewähltes Mitglied im Vorstandsteam (03/2017–2022)
29.4.1 Erfolgsfaktoren 03/2017 bis 11/2019
29.4.2 Die Erfolge der Interventionsphasen 2 und 3
29.5 Das Vorstandsteam als Erfolgsmotor
29.6 Die Veränderungen des Kompetenzportfolios des Vereins
29.7 Zusammenfassend die Ergebnisse bezogen auf das Modell „Unternehmerische Führung in NPO“
Literatur
28 Die Sektion München des Deutschen Alpenvereins: Seit vielen Jahren unternehmerisch unterwegs!
28.1 Portrait der Sektion München
28.2 Die Merkmale unternehmerischer Führung
28.2.1 Innovationsorientierung
28.2.2 Proaktivität
28.2.3 Risikobereitschaft
28.2.4 Autonomie
28.2.5 Aggressivität
28.2.6 Gemeinschaftliche Mobilisierung
28.2.7 Kooperative Mobilisierung
28.3 Schlussbetrachtung
Literatur
27 LIDO – Gründung und Entwicklung eines unternehmerischen Interessenverbands
27.1 LIDO auf einen Blick
27.2 Die Geburt eines kollektiven Willens
27.2.1 Die Grundsätze – Kooperative Mobilisierung
27.2.2 Wer nicht wagt, der nicht gewinnt – Risikobereitschaft
27.2.3 Ein Identitätsproblem – Prinzip der Proaktivität
27.3 Professionalisierung des Verbandes – Prinzip der Autonomie
27.4 Das erste Marketingkonzept – Prinzip der Innovation
27.5 Das Jahr des Durchbruchs – Mobilisierung der Gemeinschaft
27.6 Der Verband in Zahlen
27.6.1 Finanzielle Entwicklung
27.6.2 Sponsoring
27.7 Die Mobilisierung von Freiwilligen
27.7.1 Vorstandssitzungen
27.7.2 Workshop
Literatur
26 50 Jahre Agogis – Praxis macht Bildung
26.1 Agogis: Bildungsunternehmen und Arbeitgeberverband
26.2 Innovationsorientierung in Agogis
26.3 Risikobereitschaft in Agogis
26.4 Gestaltungsfreude in Agogis
26.5 Proaktivität in Agogis
26.6 Autonomie in Agogis
26.7 Gemeinschaftliche Mobilisierung in Agogis
26.8 Treiber der unternehmerischen Orientierung in Agogis
26.9 Schluss
25 „Entdecke – fiire – hälfe“ – Das Stadtfest Luzern als innovative Finanzierungsquelle sozial-karitativer Projekte
25.1 Lange Tradition – Reaktionen auf veränderte Umstände
25.2 Unternehmerisches Handeln
25.3 Innovative, aber unsichere Finanzierungsquelle
25.4 Innovation aus dem Erfolg heraus
25.5 Herausforderungen annehmen
25.6 Gesellschaftlicher Mehrwert
25.7 Mobilisierung
25.8 Strukturen professionalisieren – Autonomie gewähren
25.9 Risikobereitschaft und Risikominderung
25.10 Ein kühnes Projekt – Tatbeweis erbracht
Literatur
24 Kreativ, innovativ, sozial und nachhaltig. Bedingungen und Voraussetzungen unternehmerisch orientierter Kulturorganisationen
24.1 Einleitung
24.2 Komplexe Bedingungen für unternehmerisches Handeln
24.2.1 Unterschiedliche Veränderungs- und Innovationsdynamiken
24.2.2 Hybride Ressourcenmodelle
24.2.3 Multiple institutionelle Normen
24.3 Unternehmerische Orientierung und Kulturorganisationen
24.3.1 Innere Einflussfaktoren einer unternehmerischen Kultur
24.4 Ausblick
Literatur
Manifest für das Unternehmertum im NPO-Sektor
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Unternehmerische Führung und Kultur in Non-Profit-Organisationen: Erfolgsbeispiele und aktuelle Trends
 3658409827, 9783658409821, 9783658409838

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Philipp Erpf Markus Gmür Hrsg.

Unternehmerische Führung und Kultur in Non-ProfitOrganisationen Erfolgsbeispiele und aktuelle Trends

Unternehmerische Führung und Kultur in Non-Profit-Organisationen

Philipp Erpf · Markus Gmür (Hrsg.)

Unternehmerische Führung und Kultur in Non-ProfitOrganisationen Erfolgsbeispiele und aktuelle Trends

Hrsg. Philipp Erpf Verbandsmanagement Institut (VMI) Universität Freiburg Freiburg, Schweiz

Markus Gmür Verbandsmanagement Institut (VMI) Universität Freiburg Freiburg, Schweiz

ISBN 978-3-658-40982-1 ISBN 978-3-658-40983-8 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-40983-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Ulrike Loercher Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort

Das Management von Non-Profit-Organisationen (NPO) ist aus betriebswirtschaftlicher Perspektive durch besondere Herausforderungen gekennzeichnet. Solche sind beispielsweise der Werte- und Missionsfokus, der gemeinnützige Anspruch, die mitgliedschaftliche Trägerschaft und damit verbunden die basisdemokratische Entscheidungsfindung, der Kollektivgutcharakter der Leistungen oder die komplexen Erwartungen der Stakeholder. Diese Herausforderungen gilt es zu meistern, um bestmöglich die übergeordneten Ziele zu erreichen und eine sichtbare und nachhaltige Wirkung zu erzielen. Unternehmerische Führung und Kultur wird in der Managementlehre der Privatwirtschaft seit mehr als dreißig Jahren wissenschaftlich untersucht und inzwischen als wesentlicher Erfolgsfaktor für die Zielerreichung unter komplexen und dynamischen Bedingungen angesehen. Bislang gibt es jedoch nur wenige fundierte Erkenntnisse zur Frage, inwiefern und unter welchen Voraussetzungen eine ausgeprägte Unternehmerische Führung und Kultur auch in Organisationen des NPO-Sektors mit einer überdurchschnittlichen Zielerreichung einhergehen. Hier setzte vor sechs Jahren ein breit angelegtes Studienprojekt am Verbandsmanagement Institut der Universität Freiburg/Schweiz an. Ziel war es, in Kooperation mit vielen Partnerinnen und Partnern aus dem Verbands- und NPO-Sektor entlang einer Reihe von Branchen- und Einzelfallstudien das Wesen und die Managementkonsequenzen einer unternehmerischen Ausrichtung zu erfassen und zu durchdringen. Die nun vorliegende Buchpublikation fasst die bislang erreichten Ergebnisse zusammen. Im Verlauf der Entstehungsgeschichte dieses Sammelbands waren anfänglich einige Vorbehalte zu überwinden: Unternehmerische Führung sei nur für Wirtschaftsbetriebe geeignet und dem NPO-Sektor fremd; sie führe dazu, dass die Besonderheiten von zivilgesellschaftlich und gemeinnützig engagierten Organisationen negiert würden; negative Effekte für die spezifische Kultur und Arbeitsweise in diesem Sektor könnten nicht durch die ungewissen positiven Wirkungen kompensiert werden. Inzwischen hat sich der Tonfall in der Diskussion verändert, und es verbreitet sich die Erkenntnis, dass NPO mit einer ausgeprägten Unternehmerischen Führung und Kultur sehr wohl gegen innen und außen erfolgreich sind und so ihre Anliegen aussichtsreich und zukunftsträchtig vertreten.

V

VI

Vorwort

Wir bedanken uns ausdrücklich bei der Stiftung der Schweizerischen Gesellschaft für Organisation und Management (SGO-Stiftung) für die Förderung dieses Sammelbandes, namentlich bei Robert Zaugg und Markus Sulzberger. Wir bedanken uns bei Nathalie C. Maring für die Projektverantwortung in Layout und Formatierung, bei Melchior Etlin sowie Natalija Bozic für das Lektorat und schließlich beim Team von Springer Gabler für die professionelle Unterstützung. Der abschließende Dank geht an die Autorinnen und Autoren dieses Werkes – und der dahinterstehenden Organisationen – für ihre Offenheit und ihren Einsatz bei der Verfassung ihrer Beiträge. Die Zusammenarbeit hat uns fachlich und menschlich viel Freude bereitet. Freiburg/Schweiz im September 2023

Philipp Erpf Markus Gmür

Inhaltsverzeichnis

Teil I

Unternehmerische Führung und Kultur

1

Die Idee der unternehmerischen Führung im Dritten Sektor . . . . . . . . . . . . Markus Gmür

2

Internationale Managementforschung zu Unternehmerischer Führung und Kultur in Non-Profit-Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dorothea Maria Stock und Philipp Erpf

3

Fallstudienüberblick und Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philipp Erpf

Teil II 4

5

3

11 27

Frühe Beispiele unternehmerischer Initiative

Wir sind Pfarrer Sieber – von einer unternehmerischen humanitären Initiative zu einem professionellen Hilfswerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Zingg und Markus Gmür

33

Die SOS-Kinderdörfer: Von der regionalen Aktivistengruppe zum weltweiten Netzwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wilfried Vyslozil und Wolfgang Kehl

47

Teil III

Unternehmertum in der Sozialen Integration

6

Unternehmerische Führung in Schweizer Sozialen Organisationen . . . . . . . Jonas Baumann-Fuchs und Markus Gmür

7

Stiftung Wendepunkt: Wie aus Unternehmerischer Führung und Kultur ein integrativer Lebensraum entsteht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jonas Baumann-Fuchs

85

Stiftung Lebenshilfe: Krise als Basis für eine konsequente Bedarfsorientierung – Umsetzung von vier Strategiezyklen . . . . . . . . . . . . . . Martin Spielmann

95

8

69

VII

VIII

9

Inhaltsverzeichnis

Unternehmerisches Handeln im regulierten Markt – dargestellt am Beispiel der Gesellschaft für Arbeit und Wohnen (gaw) . . . . . . . . . . . . . . . . . Martin Müller

109

10 Die Stiftung Battenberg – Entwicklung zum wirtschaftlich-sozialen Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Markus Gerber und Jean-Daniel Pasche

119

11 Powercoders: Im Dienst der nächsten Generationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mathias Morgenthaler Teil IV

Unternehmertum in der Internationalen Hilfe

12 „Velafrica“ schafft Mobilität mit Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marco Buser 13 Emanzipation von europäischer Projektfinanzierung durch lokale Verankerung. Unternehmerische Führung am Beispiel zweier Verbände im Kontext der Entwicklungszusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Baumann Teil V

137

147

163

Unternehmertum im Gesundheitssektor

14 Unternehmerisch sein – ein Kulturmerkmal des Weißen Kreuzes . . . . . . . . Ivo Bonamico und Angelika Ladurner

183

15 Unternehmerische Kultur und Organisationserfolg in Pflegediensten . . . . . Markus Gmür und Ueli Löffel

197

16 Spitex Zürich Sihl – in einem gestalterischen Prozess von einem hierarchischen Betrieb zu einer agilen Netzwerkorganisation . . . . . . . . . . . . Devrim Yetergil Kiefer, Anne Messinger, Margit Schneider, Santhosh Kaduthanam und Franz Röösli

211

17 Klinik Selhofen – Angebotsentwicklung mit einer lösungs- und ressourcenorientierten Haltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Judith Briod und Claudia Weibel

229

18 Schweizerischer Gehörlosenbund: Auf dem Weg zur unternehmerischen Führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Harry Witzthum

239

Inhaltsverzeichnis

Teil VI

Unternehmerische Wirtschaftsverbände

19 Regional verankert und international ausgerichtet: Unternehmerische Führung der Betonverbände Baden-Württemberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Lotz und Dorothea Stock 20 Strategie und Führung in Gewerkschaften am Beispiel der IG Metall – Kooperative und beteiligungsorientierte Ansätze für die Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Gröbel, Christian Kühbauch und Tobias Söchtig 21 Der Touring Club Schweiz als unternehmerischer Verein . . . . . . . . . . . . . . . Johanna Grombach Wagner Teil VII

263

289 299

Unternehmerische Genossenschaften

22 Unternehmerische Orientierung und Zielerreichung von Selbsthilfegenossenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ueli Löffel und Markus Gmür 23 Unternehmerische Führung von Wohnbaugenossenschaften . . . . . . . . . . . . . Peter Suter und Markus Gmür Teil VIII

IX

317 339

Unternehmertum in Kultur, Bildung und Sport

24 Kreativ, innovativ, sozial und nachhaltig. Bedingungen und Voraussetzungen unternehmerisch orientierter Kulturorganisationen . . . . Diana Betzler

371

25 „Entdecke – fiire – hälfe“ – Das Stadtfest Luzern als innovative Finanzierungsquelle sozial-karitativer Projekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patrick Deicher

391

26 50 Jahre Agogis – Praxis macht Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Osbahr

405

27 LIDO – Gründung und Entwicklung eines unternehmerischen Interessenverbands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bernhard Lang, Mattia von Ritter und Alessandro Izzo

415

28 Die Sektion München des Deutschen Alpenvereins: Seit vielen Jahren unternehmerisch unterwegs! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Charles Giroud und Thomas Urban

431

29 Rudergesellschaft Speyer 1883 e. V.: Kleine Schritte machen Veränderungen besonders erfolgreich! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Martina Schott

445

X

Inhaltsverzeichnis

30 Der Schweizerische Esports-Verband – Unternehmertum nutzen, um die Kraft des Wandels in einem schnelllebigen Umfeld nutzbar zu machen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gabriel Ratano Manifest für das Unternehmertum im NPO-Sektor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

467

489

Über die Herausgeber

Dr. Philipp Erpf ist Direktor Weiterbildung des Instituts für Verbands-, Stiftungsund Genossenschaftsmanagement (VMI) der Universität Freiburg in der Schweiz. Nebst seiner Geschäftsführungsfunktion ist er verantwortlich für den Weiterbildungsbereich des Instituts. In seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit widmet er sich Social Entrepreneurship sowie Unternehmerischer Führung und Kultur in Non-Profit-Organisationen. Zuvor war er Organisationsberater in Bern, Zug und München sowie Medien- und Kommunikationstrainer. Prof. Dr. Markus Gmür ist Direktor Forschung des Instituts für Verbands-, Stiftungs- und Genossenschaftsmanagement (VMI) sowie Inhaber des Lehrstuhls für NPO-Management an der Universität Freiburg in der Schweiz. Seine Schwerpunkte in Forschung, Weiterbildung und Beratung erstrecken sich über Führung und Organisation, Strategie und Governance sowie Personal- und Freiwilligenmanagement von Verbänden und anderen Non-Profit-Organisationen. www.vmi.ch

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Teil I Unternehmerische Führung und Kultur

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Die Idee der unternehmerischen Führung im Dritten Sektor Markus Gmür

Der Dritte Sektor der privaten Stiftungen, Verbände und weiterer Non-ProfitOrganisationen durchläuft einen Paradigmenwechsel. Interessenverbände und Hilfswerke, gemeinnützige Institutionen der Gesundheit und sozialen Integration, der Bildung und Forschung, darstellender Kunst und Kultur, den Vereinen in Sport und Freizeit, den genossenschaftlichen Solidargemeinschaften und -betrieben, den fördernden und operativen Stiftungen, Kirchen und anderen religiösen Vereinigungen sind in vielen Ländern mit veränderten Erwartungen und Rahmenbedingungen konfrontiert, die sie in ihrem Management herausfordern. Die sich über zwei Jahre erstreckenden Einschränkungen durch die Covid-19-Pandemie haben in vielen Bereichen katalysierend auf die Veränderungen gewirkt, aber sie waren nur ein Faktor unter vielen, von denen einige bereits am Ende des letzten Jahrhunderts wurzeln. Staat und Verwaltung repräsentieren volkswirtschaftlich den ersten Sektor, die Wirtschaftsunternehmen den zweiten Sektor, und ihre Organisationen unterscheiden sich in wesentlichen Merkmalen vom Non-Profit-Sektor. Die Organisationen der öffentlichen Verwaltung und Dienstleistungen wurzeln im Streben von Staat und Regierung, einen Ordnungsrahmen für das Gemeinwesen bereitzustellen, zu erhalten und mit steuerund abgabenfinanzierten Leistungen auszukleiden, die politisch erwünscht aber weder marktwirtschaftlich noch durch solidarische Anstrengung zustande gekommen sind. Gesetzmäßigkeit und politischer Opportunismus bilden die übergeordnete Richtschnur für ihre Aktivitäten und für die Entscheidungen ihres Managements. Die marktwirtschaftlichen Organisationen wurzeln hingegen im privaten Erwerbsmotiv. Sie sind den M. Gmür (B) Institut für Verbands-, Stiftungs- und Genossenschaftsmanagement (VMI), Universität Freiburg/ Schweiz, Freiburg, Schweiz E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Erpf und M. Gmür (Hrsg.), Unternehmerische Führung und Kultur in Non-Profit-Organisationen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40983-8_1

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Marktbedingungen von Angebot und Nachfrage unterworfen und agieren im Wettbewerb sowie im Rahmen der staatlichen Regulierung. Ihr Management folgt dem Primat der Gewinnerzielung in stetiger Abfolge von Innovationen und Effizienzsteigerungen. In diesem Kontext wurde auch der Begriff des Unternehmertums geprägt: Der Begriff bezeichnet ein Handeln, das eine bestehende institutionelle und wirtschaftliche Ordnung herausfordert, möglichen Entwicklungspfaden vorausgreift, auf die daraus entstehenden Fragen mit neuartigen Lösungsvorschlägen antwortet, dafür beträchtliche Ressourcen risikoreich einsetzt, die eigenen Ziele selbstbewusst und nötigenfalls auch aggressiv verfolgt und dafür mit flexiblen Organisations- und Personalstrukturen arbeitet. Die kennzeichnende Besonderheit von Organisationen des Dritten Sektors besteht darin, dass sie ihre Wurzeln in einer zivilgesellschaftlichen Initiative haben. Sie bündeln und verkörpern das ideelle Anliegen einer gesellschaftlichen Gruppe, und meistens beanspruchen sie damit, in einem breiteren öffentlichen Interesse zu handeln. Sie füllen mit ihren Leistungen Lücken in der staatlichen bzw. der marktwirtschaftlichen Güterversorgung. Nicht selten stellen sie damit Bereiche der staatlichen Ordnung respektive bestehende Marktgleichgewichte infrage. Das schafft eine bemerkenswerte Parallele zu unternehmerischer Initiative im Wirtschaftssektor. Der wichtigste Unterschied besteht darin, dass dort der zentrale Treiber auf einer erwerbswirtschaftlichen Zielsetzung beruht, hier dagegen auf einem ideellen Zweck. Davon unberührt bleibem aber die Wege zur Zielerreichung und damit die Merkmale des Unternehmertums. Diese kennzeichnen auch die Anfänge der meisten Non-Profit-Organisationen, auch wenn sie in späteren Entwicklungsphasen in den Hintergrund treten mögen. Besondere Herausforderungen des NPO-Managements Das Management von Organisationen des Dritten Sektors ist aus betriebswirtschaftlicher Perspektive durch besondere Herausforderungen gekennzeichnet. Sie ergeben sich aus typischen NPO-Spezifika wie dem Werte- und Sachzielfokus, der mitgliedschaftlichen Trägerschaft, dem Kollektivgutcharakter der Leistungen, den komplexen StakeholderErwartungen sowie dem Umstand, dass die Leistungsempfängerinnen und -empfänger oftmals nicht dieselben sind, die für die Leistungen auch bezahlen: 1. Werte- und Sachzielorientierung: NPO verfolgen an erster Stelle Werte und Sachziele und unterscheiden sich dadurch von erwerbswirtschaftlichen Organisationen. Solche Ziele können bedarfswirtschaftlicher, humanitärer oder weltanschaulicher Natur sein. Die Erreichung dieser Ziele ist ein Indikator für Organisationserfolg, wobei die Messung des Zielerreichungsgrads oft herausfordernd ist. Im Lebenszyklus einer NPO gilt es stets zu überprüfen, ob der ursprüngliche Sinn und Zweck der NPO immer noch aktuell, sinnvoll und relevant erscheint und ob das auch noch im Bewusstsein der Mitglieder verankert ist. Hintergrund dafür ist eine zunehmende Kritik an der auf Dauer gestellten öffentlichen finanziellen Unterstützung. Sie entzündet sich insbesondere dann, wenn die aktuelle Problemlösungsfähigkeit einer NPO nicht mehr offensichtlich ist.

1 Die Idee der unternehmerischen Führung im Dritten Sektor

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2. Effizienzsicherung: Die ausgeprägte Orientierung an Sachzielen, wie sie für vielen NPO kennzeichnend ist, steht in Konkurrenz zu einer Entscheidungsfindung unter Effizienzund Effektivitätszielen. Wenn eine Organisation aber nur beschränkte Ressourcen zur Verfügung hat, liegt es in der Verantwortung des Managements, dieser Herausforderung Rechnung zu tragen, ohne damit die Sachzielorientierung aufzuheben. Erfolgreiches Management einer NPO sollte im Idealfall also über eine fortschreibende Planungsund Kontrollfunktion hinausgehen und stets Effizienz- und Effektivitätsziele im Auge behalten. 3. Ressourcenmobilisierung: Mitglieder stellen die wesentlichen Ressourcen zur Verfügung, damit Verbände und Vereine ihren Zweck erfüllen und die damit in Verbindung stehenden Kollektivleistungen erzeugen können: Sie entrichten finanzielle Beiträge, besetzen Ehrenämter, erbringen unentgeltliche Hilfsleistungen oder tragen durch ihre aktive Mitgliedschaft zur Verwirklichung des Verbandszwecks bei. Stellt sich die Organisation in den Dienst eines öffentlichen Interesses, das über den Mitgliederkreis hinausgeht, ist sie auch in der Lage, zusätzliche Beiträge von Dritten zu gewinnen: Spenden, Subventionen, Entgelte für Arbeitsleistungen oder politische Unterstützung. Diese internen sowie externen Beiträge immer wieder für den akuten Bedarf oder auf Dauer zu mobilisieren, ist eine dritte Kernaufgabe im Verbandsmanagement, die über deren Erfolg entscheidet. Der Druck vonseiten der Mitglieder sowie externer Ressourcengebenden nimmt stetig zu und verlangt nach exakten Nachweisen für Optimierungen, Effizienzsteigerungen und Wirkungszuwächsen. 4. Abstimmung von Mitgliedererwartungen: Die Mitgliedschaft in einem Verband oder Verein beruht in der Regel auf Freiwilligkeit. Sie lässt sich weder anordnen noch durch ökonomische Abhängigkeit (z. B. die Notwendigkeit, den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten) oder Anreize sicherstellen. Der wahrgenommene Member Value als Grundlage für Beitritt und Verbleib ergibt sich aus einem vielfältigen Mix von Übereinstimmungen aus individuellen Bedürfnissen auf der einen und organisationalen Aktivitäten sowie Leistungen auf der anderen Seite (Gmür, 2015). Die vorrangigen Mitgliedererwartungen zu begreifen und entsprechende Aktivitäten zu initiieren bzw. passende Leistungsangebote zu entwickeln und anzubieten, ist deshalb eine der Kernaufgaben im Verbandsmanagement. Unternehmerische Orientierung im NPO-Management In der Entwicklung der Managementlehre von NPO standen die beiden Herausforderungen der Werte- und Sachzielorientierung respektive die Effizienzsicherung meist im Mittelpunkt des Interesses. Professionalisierung im Verbandsmanagement war darauf gerichtet, unter den erschwerten Bedingungen komplexer Zielsysteme und beschränkter administrativer Ressourcen das Möglichste an Effektivität und Effizienz zu erreichen (Gmür, 2016). Eine solche Haltung wird auch als Managerialismus bezeichnet und kritisch beleuchtet (Meyer & Maier, 2017). Demgegenüber wurde den beiden anderen Herausforderungen bis vor wenigen Jahren eher wenig Aufmerksamkeit geschenkt (Gmür, 2012; Michel & Gmür, 2015).

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In der NPO-Managementforschung spielt die Untersuchung einer unternehmerischen Orientierung bislang nur eine untergeordnete Rolle. In der Managementforschung privatwirtschaftlicher Unternehmen findet man solche Ansätze dagegen seit den 1980er Jahren (Miller, 1983; Covin & Slevin, 1989). Die bisher veröffentlichten Studien aus dem Dritten Sektor verwenden deshalb überwiegend adaptierte Messkonzepte aus der Unternehmensforschung. In dieser geht man unter dem Begriff der „Entrepreneurial Orientation“ als Kulturelement von einem Konstrukt mit folgenden Elementen aus (Lumpkin & Dess, 1996; Hughes & Morgan, 2007): • Proaktivität: Die Organisation strebt danach, ihr Aktivitätsfeld gezielt zu gestalten, anstatt sich Initiativen anderer Organisationen anzuschließen und einsetzende Entwicklungen abzuwarten. Die Beobachtung der Marktbedingungen zielt darauf ab, Veränderungen zu antizipieren und zu entdecken, die sich in der Zukunft fortsetzen. Eigene Leistungen werden auf die erwarteten Entwicklungen konzipiert, anstatt sie auf gegenwärtige Bedürfnisse anzulegen. • Innovationsorientierung: Die Organisation bietet laufend neue Produkte und Leistungen an und eröffnet sich damit neue Aktivitätsfelder. Der Neuigkeitsgrad dieser innovativen Schritte ist hoch. Bereits etablierte Problemlösungen sind nur von Interesse, wenn sie sich verbessern oder anderweitig einsetzen lassen. Wo die Organisation mit eigenen Innovationen Erfolg erzielt hat, sucht sie nach Wegen, diese in effiziente Routinen überzuführen oder gewinnbringend abzustoßen. So gewinnt sie Freiräume, um sich neuen Herausforderungen widmen zu können. Kontinuität und Routine haben hingegen nur einen geringen Stellenwert. • Risikobereitschaft: Die Organisation geht immer wieder Risiken ein, die beträchtliche Entwicklungsschritte, aber auch mögliche Rückschläge erwarten lassen. In einer engen Sicht und in letzter Konsequenz sind es meist finanzielle Risiken. Diese können auch mit individuellen sozialen Risiken (z. B. Verlust von Sicherheit, Verbundenheit, Zuwendung, Anerkennung, Macht) verbunden sein. Die Risikobereitschaft hat emotional eine aufputschend positive Qualität; rational ist sie mit der Erwartung verbunden, vorübergehende Verluste mit anschließend außerordentlichen Gewinnen (über)kompensieren zu können. Diese drei Merkmale lassen sich unter dem Oberbegriff der Zukunftsorientierung zusammenfassen. Sie bedingen sich gegenseitig: Damit Innovationsvorhaben zielgerichtet ansetzen können, ist eine vorausschauende Beobachtung des Organisationsumfelds unabdingbar. Die Risikobereitschaft ist ebenfalls eine Voraussetzung dafür, dass Innovationsvorhaben angegangen werden. Damit eine zukunftsorientierte Haltung auch zu entsprechenden nachhaltigen Maßnahmen führt, müssen unternehmerische NPO eine Reihe von weiteren Merkmalen aufweisen, die sich unter dem Oberbegriff der Aktivität zusammenfassen lassen. Während die beiden ersten Merkmale bereits Teile des Konstrukts für marktwirtschaftliche Unternehmen

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sind, ergänzen die beiden letzten Merkmale das Konstrukt für die Anwendung auf Non-Profit-Organisationen: • Aggressivität (Durchsetzungsorientierung): Die Organisation fordert mit ihrem Leistungsangebot, ihrer Arbeitsweise und ihrer Öffentlichkeitsarbeit andere Organisationen bewusst heraus. Sie stellt sich als die überlegene Alternative dar und wertet Konkurrenzangebote in der Selbstdarstellung ab. Auf diesem Weg versucht sie, das natürliche Legitimitätsdefizit ihrer Innovation (im Sinne von Skepsis gegenüber Neuem) in Abgrenzung zu etablierten Angeboten zu vermindern. • Autonomie: In der Organisation wird dem Engagement der Mitarbeitenden – sowohl individuell, als auch im Team – viel Raum gegeben. Das Management teilt seinen Einfluss mit aktiven angestellten und freiwilligen Fachkräften. Denkbar wäre auch, die Idee der unternehmerischen Autonomie auf die Organisationsebene zu verlagern. Das würde sich dann in der Suche nach eigenen Wegen und einer Skepsis gegenüber Kooperationen zeigen. Eine solche Sichtweise steht aber bislang nicht im Fokus der empirischen Forschung. • Gemeinschaftliche Mobilisierung: Die Organisation gibt dem Austausch und der Zusammenarbeit zwischen den Mitarbeitenden viel Raum, damit dort ein stabiles Fundament für unternehmerische Orientierung entsteht, also Innovationen erdacht, Initiativen beschlossen, Risiken geklärt, sich die Mitarbeitenden gegenseitig in ihren Initiativen bestärken sowie unterstützen und sich dabei eine durchsetzungsorientierte Kultur an der Basis entwickelt. • Kooperative Mobilisierung: Die Organisation nutzt Kooperationen mit anderen Organisationen in ihrem Umfeld vor allem dazu, Impulse für unternehmerische Orientierung, also Ideen für Innovationen und Initiativen auch für die Mitarbeitenden, zu bekommen, Risiken beherrschen und damit auch selbstbewusster mit ihren Produkten und Leistungen auftreten zu können. Eine wichtige forschungsmethodische Frage ist, ob sich die genannten Elemente gegenseitig bedingen (reflexives Konstrukt) oder besser als prinzipiell unabhängig voneinander zu betrachten sind (formatives Konstrukt). Wenn man das Konstrukt reflexiv begreift, ist die unternehmerische Orientierung eine Haltung, die das Handeln von Einzelpersonen, Gruppen oder ganzen Organisationen prägt. Ihren Ausdruck findet sie in den obengenannten Elementen, und zwar stets interdependent: Innovation ist kaum ohne Risikobereitschaft vorstellbar und bedingt Proaktivität; Autonomie korrespondiert mit Aggressivität, und diese ist mit dem Eingehen von Risiken verbunden; das Verfolgen von innovativen Pfaden wird wiederum durch Autonomie begünstigt usw. Man kann das Konstrukt aber auch formativ begreifen. Nach diesem Ansatz ist die unternehmerische Orientierung ein Ergebnis verschiedener und möglicherweise ineinandergreifender Bestrebungen, die mit den oben genannten Elementen beschrieben werden. Die Merkmale können sich gegenseitig bedingen, müssen es aber nicht: Autonomie lässt sich ohne Durchsetzungsorientierung schaffen, Innovation

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kann auch ohne Kooperationen mit anderen Organisationen entstehen, Risikobereitschaft mag rein gegenwartsorientiert sein, Proaktivität kann auch Bewährtes zum Ergebnis haben und Aggressivität muss nicht aus hohen Risiken resultieren. Anderson et al. (2015) vertreten einen kombinierten Ansatz: Innovativität und Proaktivität seien als Managerverhalten zu konzipieren (und ihrerseits reflexiv zu konstruieren), die Risikobereitschaft dagegen als Einstellung. Sie können in ihrer empirischen Studie zeigen, dass sich ungünstige Rahmenbedingungen für unternehmerische Aktivität zwar auf das Verhalten, nicht aber auf die Einstellungen auswirken. Welche Sichtweise sich am Ende durchsetzen wird, ist noch eine offene Frage und erfordert weitere empirische Evidenz.

Literatur Anderson, B. S., Kreiser, P. M., Kuratko, D. F., Hornsby, J. S., & Eshima, Y. (2015). Reconceptionalizing entrepreneurial orientation. Strategic Management Journal, 36(10), 1579–1596. Covin, J. G., & Slevin, D. P. (1989). Strategic management of small firms in hostile and Benign environments. Strategic Management Journal, 10(1), 75–87. Gmür, M. (2012). Was treibt eine Organisation an? Grundriss einer Typologie organisationaler Kräfte. Verbands-Management, 38(1), 28–35. Gmür, M. (2015). Member Value Optimierung im Verband. Verbands-Management, 41(1), 6–11. Gmür, M. (2016). Entwicklungslinien der Betriebswirtschaftslehre von Organisationen «not-forprofit». Die Unternehmung, 70(4), 448–470. Hughes, M., & Morgan, R. E. (2007). Deconstructing the relationship between entrepreneurial orientation and business performance at the embryonic stage of firm growth. Industrial Marketing Management, 36(5), 651–661. Lumpkin, G. T., & Dess, G. G. (1996). Clarifying the entrepreneurial orientation construct and linking it to performance. Academy of Management Review, 21(1), 135–172. Meyer, M., & Maier, F. (2017). Managerialismus – eine Herausforderung (nicht nur) für NPOs. Die Unternehmung, 71(2), 104–125. Michel, U., & Gmür, M. (2015). Masse mit Klasse in der Mitgliedergewinnung. VerbandsManagement, 41(3), 28–36. Miller, D. (1983). The correlates of entrepreneurship in three types of firms. Management Science, 29(7), 770–791.

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Prof. Dr. Markus Gmür ist seit 2008 Direktor Forschung des Instituts für Verbands-, Stiftungs- und Genossenschaftsmanagement (VMI) sowie Inhaber des Lehrstuhls für NPO-Management an der Universität Freiburg in der Schweiz. Seine Schwerpunkte in Forschung, Weiterbildung und Beratung erstrecken sich über Führung und Organisation, Strategie und Governance sowie Personal- und Freiwilligenmanagement von Verbänden und anderen Non-ProfitOrganisationen. www.vmi.ch

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Internationale Managementforschung zu Unternehmerischer Führung und Kultur in Non-Profit-Organisationen Dorothea Maria Stock und Philipp Erpf

Die Forschung zu Unternehmerischer Führung und Kultur (in der internationalen Forschungsliteratur als „unternehmerische Orientierung“ bezeichnet) hat in den vergangenen Jahren eine rasante Entwicklung durchlaufen. Vielfältige Studien setzen sich in unterschiedlichen Kontexten damit auseinander, und es gilt als erforscht, dass eine ausgeprägte Unternehmerische Führung und Kultur den Erfolg von gewinnwirtschaftlichen Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen fördert (Rauch et al., 2009; Soares & Perin, 2019; Tremml, 2019). Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass sich die Non-Profit-Management-Forschung zunehmend mit diesem Konstrukt auseinandersetzt. Mit dem Ziel, eine adäquate Zusammenfassung des aktuellen Forschungsstandes zu erarbeiten und fundierte Empfehlungen für die Weiterentwicklung bisheriger Erkenntnisse zu geben, haben Stock und Erpf (2022) deshalb ein systematisches Review zu unternehmerischer Orientierung in NPO durchgeführt. Die zugehörige Publikation beantwortet im Wesentlichen vier Forschungsfragen: 1. Welche Konstrukte von Unternehmerischer Führung und Kultur haben sich in der NonProfit-Forschung am besten bewährt? 2. Welche Einflussvariablen erklären das Ausmaß von Unternehmerischer Führung und Kultur in NPO? D. M. Stock (B) · P. Erpf Institut für Verbands-, Stiftungs- und Genossenschaftsmanagement (VMI), Universität Freiburg/ Schweiz, Freiburg, Schweiz E-Mail: [email protected] P. Erpf E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Erpf und M. Gmür (Hrsg.), Unternehmerische Führung und Kultur in Non-Profit-Organisationen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40983-8_2

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D. M. Stock und P. Erpf

3. Welche Organisationsziele können durch Unternehmerische Führung und Kultur unterstützt werden? 4. Was sind die Implikationen für zukünftige Forschung und Praxis? Im Folgenden werden Einblicke in die Methodik, den Ablauf und einige Kern-Ergebnisse des Forschungsprojekts gegeben. Der aktuelle Stand der Veröffentlichungen zum Thema wird beschrieben und das Verständnis von unternehmerischer Orientierung in NPO definiert. Daneben wird Aufschluss über Bedingungen, die sich förderlich auf Unternehmerische Führung und Kultur auswirken, sowie Effekte, die daraus entstehen, gegeben.

2.1

Methode

Die Qualität eines Review-Projekts hängt maßgeblich von der Recherche und Auswahl passender Studien ab und folgt deshalb einer strukturierten Vorgehensweise (Hammersley, 2001; Lasserson et al., 2020). Zunächst wird die Suche nach Studien auf verschiedenen wissenschaftlichen Publikationsplattformen durchgeführt, darunter JSTOR, ScienceDirect, SAGE Publications und Google Scholar. Der Fokus liegt dabei auf Veröffentlichungen in Peer-Review Zeitschriften, weil diese die internationalen Qualitätsstandards für wissenschaftliche Arbeiten erfüllen. Auf allen Veröffentlichungs-Plattformen werden zuvor festgelegte, identische Kombinationen von Suchbegriffen genutzt. Darunter befinden sich neben der Konstruktbezeichnung auch weniger naheliegende Schlagworte, wie „Unternehmerische Haltung [und] NPO“ oder „Non-Profit Unternehmertum“. Basierenden auf den Forschungsfragen werden Kriterien für die Aufnahme und den Ausschluss von Studien in das Sample definiert (H. Cooper & Hedges, 2019). Als passend werden Publikationen dann erachtet, wenn diese Unternehmertum in NPO bzw. mindestens eine der fünf Dimensionen laut Titel oder Abstrakt untersuchen und Referenzen zu etablierten Studien des Forschungsstrangs aufweisen, wie beispielsweise zu Lumpkin und Dess (1996) oder Covin und Slevin (1989). Studien, die laut Titel oder Abstract explizit „Entrepreneurial Orientation“ in NPO untersuchen, werden auch ohne diese Bezüge eingeschlossen, um etwaige neue Zugänge zu finden. Veröffentlichungen zu „Sozialem Unternehmertum“ werden eingeschlossen, wenn die jeweiligen angenommenen Definitionen NPO explizit integrieren oder die durchgeführten empirischen Untersuchungen zu einem Großteil in NPO erhoben wurden. Aus dieser Recherche ergibt sich ein Sample von 72 Studien. In einem letzten Schritt werden die Literaturlisten dieser Publikationen durchgesehen. Daraus ergibt sich die finale Auswahl von 76 Veröffentlichungen. Alle Studien werden mithilfe eines Kodier-Systems hinsichtlich unterschiedlicher Kriterien analysiert.

2 Internationale Managementforschung …

2.2

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Ergebnisse

Die Kategorisierung der Studien zeigt, dass es verglichen mit dem Ursprung des Konstrukts und der Veröffentlichung ersten Studien im gewinnwirtschaftlichen Kontext (Covin & Slevin, 1989; Miller, 1983) rund 15 Jahre dauert, bis Unternehmerische Führung und Kultur auch Gegenstand der Non-Profit-Management-Forschung wird (Miller, 1983; Wales et al., 2011). Wenig überraschend stammen frühe Publikationen hauptsächlich aus westlichen Kontexten und weisen erst ab 2010 eine größere geographische Vielfalt auf. Abgesehen von einzelnen Einbrüchen, beispielsweise in 2015 und 2018, ist ein steigender Trend an veröffentlichten Studien zum Thema sichtbar, der für wachsendes Interesse am Forschungsgegenstand spricht. Die Analyse der untersuchten NPO-Typen gibt Aufschluss über die organisationale Generalisierbarkeit bisheriger Ergebnisse. Dazu wurden alle 66 empirischen Studien anhand der jeweils untersuchten Sektoren in den internationalen Klassifikationsrahmen für NPO (ICNPO nach Salamon und Anheier (1996)) eingeordnet. Die Ergebnisse in Tab. 2.1 zeichnen ein fragmentiertes Bild: Während die große Anzahl an Erhebungen in gemischten Sektoren dafür spricht, dass bislang generierte Einblicke für den gesamten Dritten Sektor gelten, wurden einige Typen bislang kaum oder nicht betrachtet, darunter beispielsweise Berufs- und Wirtschaftsverbände, internationale NPO oder Umweltorganisationen. Zudem zeigt sich, dass die Forschungsgemeinschaft bei der Durchführung von Studien überwiegend auf quantitative Methoden setzt, während die Anzahl qualitativer Erhebungen überschaubar ist. Gerade weil qualitative Studien unternehmerische Vorgehensweisen gut beschreiben, greifbar machen und konkrete Empfehlungen für die Praxis ermöglichen, ist es kritisch zu betrachten, dass hier so ein Ungleichgewicht herrscht. Der vorliegende Sammelband soll Abhilfe schaffen. Der Grund dafür liegt wohl darin, dass sich der Forschungsstrang wesentlich auf die frühen quantitativen Erhebungen von Covin und Slevin (1989) stützt und die Übertragung in inhaltsbasierte Methoden schleppend verläuft. Vier Publikationen zielen darauf ab, ein Messinstrument für Unternehmerische Führung und Kultur in NPO zu entwickeln.

2.2.1

Konzeptualisierung, Definition und Anwendung des Konstrukts

Im Hinblick auf die Definition von unternehmerischer Orientierung in NPO werden in der Forschungsgemeinschaft im Wesentlichen zwei Kernherausforderungen diskutiert: Die erste im Folgenden erläuterte Debatte bezieht sich auf die passende KonstruktSpezifikation, währen die zweite auf die inhaltliche Anpassung der Dimensionen an den speziellen Kontext abzielt. Tab. 2.1 verschafft einen Überblick darüber. Die Frage nach einer entweder reflexiv-eindimensionalen oder formativmehrdimensionalen Konstrukt-Spezifikation von unternehmerischer Orientierung teilt den Forschungsstrang in zwei Lager. Covin und Slevin (1989) gehen im Sinne eines

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Tab. 2.1 Beschreibung vorliegender Studien zu Unternehmerischer Führung und Kultur in NPO (Quelle: eigene Darstellung)

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(Fortsetzung)

2 Internationale Managementforschung …

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Tab. 2.1 (Fortsetzung) .RPELQDWLRQ YRQ (2'LPHQVLRQHQ 4XDQWLWDWLYH 6WXGLHQ (LQGLP 0XOWLGLP %HLGHV ,112 352 5,6.



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reflexiven Verständnisses ursprünglich davon aus, dass die etwaig vorhandene unternehmerischer Orientierung von Organisationen mithilfe von drei eng zusammenhängenden Dimensionen (Innovativität, Proaktivität, Risikoneigung) als Indikatoren sichtbar gemacht werden kann. In diesem Verständnis variiert nur die Stärke der vorgefundenen unternehmerischen Orientierung, aber nicht die Beschaffenheit des Konstrukts. Im Gegensatz dazu vertreten Lumpkin und Dess (1996) die multidimensional-formative Sichtweise, der zufolge Organisationen deshalb als unternehmerisch eingestuft werden, weil sie die zuvor festgelegten Dimensionen aufweisen. Die verschiedenen Dimensionen sind als definitorische Bausteine zu verstehen, stehen nicht zwangsläufig in einem Zusammenhang zueinander, und entsprechend ist es möglich, dass sich die Art der unternehmerischen Orientierung zwischen Organisationen in Abhängigkeit von den jeweils ausgeprägten Bestandteilen unterscheidet. Um der Beschreibung des Konstrukts noch besser gerecht zu werden, haben sie zwei weitere konstitutive Dimensionen, Autonomie und Aggressivität, hinzugefügt (Eberl, 2004; Wales et al., 2020). Mit dem Ziel herauszufinden, ob einer

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der beiden Zugänge möglicherweise vorteilhaft ist, werden die Konstruktspezifikationen der 51 empirisch-quantitativen Studien analysiert. Dabei zeigt sich ein inkonsistentes Bild: Einige Studien wenden beide Zugänge an (Ofem et al., 2020), andere beziehen sich theoretisch auf die Sichtweise von Covin und Slevin (1989), werten aber ihre Ergebnisse multidimensional aus (Alarifi et al., 2019), und schließlich sind auch gemischte Konzeptualisierungen vorzufinden (Almeida et al., 2019). Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass jüngere Publikationen die beiden Lager zunehmend auflösen, indem sie annehmen, dass beide Sichtweisen „ein und dieselbe“ Unternehmerische Führung und Kultur auf unterschiedlichen organisationalen Ebenen messen (Wales et al., 2020) und es keine „wahre“ Lösung gibt (Covin & Wales, 2012). Entsprechend sollte der mehrdimensionale Zugang gewählt werden, um die organisationale Konfiguration von unternehmerischer Orientierung zu ermitteln, während sich das eindimensionale Verständnis für Fragen nach neu gestarteten Initiativen und Auswirkungen eignet (Wales et al., 2020). Angeschlossen an diese Debatte sowie mit Blick auf den spezifischen Non-ProfitKontext stellt sich die spannende Frage, anhand welcher Dimensionen das Konstrukt Unternehmerische Führung und Kultur inhaltlich definiert wird. Aus der Tab. 2.1 gehen nicht nur die jeweils angewendeten Kern-Dimensionen, sondern auch zusätzliche Merkmale, die als relevante Ergänzungen hinzugefügt wurden, hervor. Es zeigt sich, dass der überwiegende Teil der Studien die klassischen drei Dimensionen Innovativität, Proaktivität und Risikoneigung anwendet und integriert. Daneben kristallisieren sich drei wesentliche Motive heraus, die als Anpassungen an die Besonderheiten von NPO in das Konstrukt aufgenommen werden: 1) Als Produkt des gewinnwirtschaftlich orientierten Ursprungs und in Übereinstimmung mit der Kategorisierung als geschäftsmäßiges Verhalten finden sich „Marktorientierung“, „wirtschaftliche Handlungen“ und das Ausnutzen von Gelegenheiten (Lyne et al., 2017; Schmitz & Scheuerle, 2012). 2) Weil das Hauptabgrenzungsmerkmal des Non-Profit-Kontexts die Ausrichtung auf ein ideelles Ziel ist, ist es naheliegend, dass die Verfolgung einer sozialen Mission bzw. eines ideellen Zwecks und damit einhergehendes Engagement sowie Leidenschaft für eine übergeordnete Vision als zusätzliche Bestandteile integriert werden (Tan & Yoo, 2015; Weerawardena et al., 2019). 3) Schließlich finden sich Aspekte, die auf das gemeinschaftliche und reziproke Wesen von NPO abzielen, indem sie den Austausch bzw. die Zusammenarbeit mit Stakeholdern ergänzen (Hu & Pang, 2013; Khan & Bashir, 2020; Lacerda et al., 2020). Die Studien, die sich auf die Entwicklung eines Messinstruments für Unternehmerische Führung und Kultur in NPO fokussieren, integrieren diese Aspekte als Referenzrahmen auch in die Kerndimensionen. Es findet sich beispielsweise folgende Frage nach Innovativität: „Wir suchen nach neuen Wegen der Zusammenarbeit mit externen Stellen wie Regierungsbehörden, Unternehmen oder anderen gemeinnützigen Organisationen“ (Dwivedi & Weerawardena, 2018) oder folgende Proaktivitäts-Frage: „Unsere Organisation hat eine starke Tendenz, anderen bei der Erfüllung ihres sozialen Auftrags voraus zu sein“ (Kraus et al., 2017). Lediglich zwei Studien wählen ausschließlich anhand von markt- und gewinnorientierten Initiativen einen komplett anderen Zugang zu unternehmerischer Orientierung in NPO

2 Internationale Managementforschung …

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(Faulk et al., 2020; Leroux, 2005). Zusammenfassend bleibt der Charakter von Unternehmerischer Führung und Kultur durch die weitgehende Beibehaltung der Dimensionen zwar erhalten, allerdings sorgen Ergänzungen des Konstrukts, sowie spezifische Bezüge bei der Formulierung der erhobenen Fragen für eine Anpassung an die Besonderheiten des Non-Profit-Kontexts.

2.2.2

Inhaltliche Erkenntnisse des Forschungsstrangs

Die Forschungsgemeinschaft zu unternehmerischer Orientierung in NPO hat einen beachtlichen Wissensschatz hervorgebracht. Die Tab. 2.2 präsentiert exemplarisch elf Studien, die einige unmittelbare Einblicke in bestehende Erkenntnisse bieten. Ausgewählt sind Publikationen, die entweder repräsentativ für mehrere Ausarbeitungen stehen oder die besonders außergewöhnlich in ihrem Zugang sind. Im Anschluss daran wird ein breiter Überblick über den aktuellen Kenntnisstand zu Einflussfaktoren, Auswirkungen, Kontingenz- sowie Moderationseffekten gegeben.

2.2.3

Einflussfaktoren

Die bislang erforschten Einflussfaktoren auf Unternehmerische Führung und Kultur lassen sich in fünf Gruppen einteilen, die sich auf Vorstand, Management, die Ressourcenausstattung, die Organisation und die Beschaffenheit des Umfelds beziehen (siehe Abb. 2.1). So wirkt sich ein Vorstand, der sich aktiv und engagiert für den Verband einsetzt und diese Rolle insbesondere bei der strategischen Ausrichtung der Organisation ausfüllt (Coombes et al., 2011; Morris et al., 2007), positiv auf Unternehmerische Führung und Kultur aus. Zudem zeigt sich, dass das Präsidium mit unterschiedlichen Geschlechtern besetzt sein sollte (Smith, 2007). Positive Einflussfaktoren des Managements zeigen sich einerseits in teambezogenen Aspekten, darunter in einem transformationalen Führungsstil, sowie in ermutigendem und unterstützendem Verhalten gegenüber Mitarbeitenden (Lages et al., 2017; Morris et al., 2007; Stull & Singh, 2005). Gleichzeitig wirken sich aber auch vorherige Erfahrungen in der freien Wirtschaft sowie die persönliche Unternehmerische Führung und Kultur von Führungskräften positiv aus (Rüsch, Lachmann, Wilkesmann & Bastini, 2019; Tan & Yoo, 2015). Faktoren, die auf die Ressourcenausstattung abzielen, zeichnen ein interessantes Bild: Während sich die Kürzung staatlicher Budgets, der Zufluss von Spenden und finanzielle Unabhängigkeit positiv auf Unternehmerische Führung und Kultur auswirken (Leroux, 2005; Lyne et al., 2017; Voss et al., 2005), zeigen sich bei Kundeneinnahmen sowie finanzieller Sicherheit der NPO gegenteilige Effekte (Smith, 2007; Voss et al., 2005). Daraus lässt sich erstens ableiten, dass gesicherte Mittelzuflüsse wohl einen gewissen organisationalen Trägheitszustand hervorrufen, weil keine Notwendigkeit zu unternehmerischer Aktivität besteht. Zweitens ist ein möglichst

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D. M. Stock und P. Erpf

Tab. 2.2 Einblick in Studien zu Unternehmerischer Führung und Kultur in NPO. (Quelle: eigene Darstellung) Dimensionen 1

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Erhebung (Typ der NPO), Anzahl der Ort Befragten Voss, Z. G., Voss, G. B. & Moormann, C. (2005) INNO, PRO, RISK, AUTO, AGG NPO (Theater), 136 USA Als eine von nur wenigen quantaven Veröffentlichungen erforscht diese Studie alle fünf Dimensionen im Zusammenhang mit Stakeholder-Unterstützung. Unternehmerische Orienerung wird jeweils als abhängige und unabhängig Variable in Beziehung zum Erhalt von Spenden, Einküne aus dem Verkauf von Lizenzen an andere Theater sowie aus Ticketverkäufen an Theaterbesucher:innen untersucht. Die Ergebnisse weisen keine konsistenten Werte auf. Morris, M. H., Coombes, S. M. T., Schindehue, M. & Allen, J. A (2007) INNO, PRO, RISK NPO, 145 USA Die Studie erforscht interne bzw. organisaonale Vorläufer und Auswirkungen von Unternehmerischer Orienerung und bezieht Marktorienerung in die Analyse mit ein. Es zeigt sich, dass ein transformaonaler Führungssl, ein akver Vorstand sowie ein breiter Ermessenspielraum für Mitarbeitende Unternehmerische Orienerung fördern. EO und Marktorienerung stehen in posivem Zusammenhang zueinander. Allerdings wurde kein signifikanter Effekt von EO auf Erfolg nachgewiesen. Coombes, S. M. T., Morris, M. H., Allen, J. A. & Webb, J. W. (2011) INNO, PRO, RISK NPOs (Kunst, Kultur), USA 140 Organisaonen mit 439 Befragten Diese Erhebung setzt sich mit den Eigenschaen des Vorstands im Zusammenhang mit Unternehmerischer Orienerung auseinander. Ein Vorstand, der sich wesentlich um strategische Fragen bemüht, akv engagiert ist und übereinsmmend handelt, fördert Unternehmerische Orienerung in NPOs. Während dies sozialen Erfolg steigert, werden finanzielle Erfolgsindikatoren insignifikant negav berührt. Andersson, F. O. & Helm, S. (2012) INNO, PRO, RISK NPO, 145 USA Als eine der wenigen Studien des Samples setzt diese Erhebung ausschließlich finanzielle Kennzahlen zur Ermilung des Zusammenhangs zwischen Unternehmerischer Orienerung und Erfolg an. Es zeigt sich, dass unternehmerische NPOs höhere Ausgabe für Administraon und Programme haben, sowie höhere Gesamteinküne erzielen. Hinze, V. & Ingerfurth, S. (2013) INNO, PRO, RISK Krankenhäuser, 152 (42 staatl., 28 Deutschland gewinnwirt., 60 non-profit) Diese Erhebung vergleicht die Auswirkung von Unternehmerischer Orienerung und Erfolg im Hinblick auf die Eigentumsform von Krankenhäusern. Es zeigt sich, dassprivate Nonprofit- und gewinnwirtschaliche Krankenhäuser signifikant höhere Unternehmerische Orienerung aufweisen, als öffentlich geführte. Chen, H. L. & Hsu, C.-H. (2013) INNO, PRO, RISK Dienstleistungsorganisaonen, 307 Taiwan Diese Publikaon steht stellvertretend für die Debae um das ideale Ausmaß von Unternehmerischer Orienerung im Hinblick auf die Erfolg fördernde Wirkung. Die Ergebnisse zeigen, dass ein n-förmiger Zusammenhang von INNO, PRO, RISK zu Erfolg vorliegt, der durch die Generierung von Marknformaonen und deren Weitergabe innerhalb der Organisaon abgeschwächt wird. Daneben sein noch Bhuian, S. N., Menguc, B. & Bell, S. J. (2005) zu nennen, die herausfinden, dass sich mielmäßig ausgeprägte EO bei hoher Marktorienerung am stärksten auf Erfolg auswirkt.

(Fortsetzung)

2 Internationale Managementforschung …

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Tab. 2.2 (Fortsetzung) 7

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Lurtz, K. & Kreutzer, K. (2017) INNO, PRO, RISK, Zusammenarbeit

NPO (Kinderhilfe, Entwicklungsarbeit), Deutschland eine Organisaon mit 17 Interviews Die Studie ermielt in einem qualitaven Ansatz, wie sich Unternehmerische Orienerung in der Gründung von Geschäseinheiten innerhalb einer NPO zeigt. Unter anderem wird ermieln, dass sich die Dimensionen aufeinanderfolgend bemerkbar machen: 1. Bedarf erkennen, Proakvität; 2. Gelegenheiten suchen und idenfizieren, Innovavität; 3. Idee arkulieren, finanzielles Risiko outsourcen; 4. Ressourcen mobilisieren, Zusammenarbeit. Es handelt sich um eine der meistzierten qualitaven Studien des Forschungsstrangs. Kraus, S., Niemand, T., Halberstadt, J., Shaw, E. & Syrja, P. (2017) INNO, PRO, RISK, Soziales Engagement Feedback-Geber, 18; Expert:innenEU, USA, Befragung, 82 internaonal Mit Hilfe einer Delphi-Studie, sowie einer Expert:innen-Erhebung wird eine Messinstrument für Unternehmerische Orienerung entwickelt, das ebenfalls hohe Anpassungen an den speziellen Kontext aufweist. Mehrere Studien im Sample verweisen auf diese Skala. Dwivedi, A. & Weerawardena, J. (2018) INNO, PRO, RISK, Soziale Mission Organisaonen mit sozialem Zweck, USA Nachhalgkeit, Wirkungsorienerung 507 In dieser Publikaon wird eine Skala für Unternehmerische Orienerung entwickelt und an 507 NPOs getestet, sowie ein posiver Zusammenhang zu sozialen Innovaonen nachgewiesen. Das entstandene Messinstrument weist in den Formulierungen der Items verglichen mit anderen Messinstrumenten eine hohe Anpassung an den speziellen Kontext auf. Wulandari, R. (2019) INNO, PRO, RISK, AUTO, AGG Kirchen, 19 Indonesien Obwohl diese qualitave Studie einen deskripven Charakter hat, wird darin die Manifestaon der fünf Dimensionen von Unternehmerischer Orienerung plakav greiar. Sowohl der Forschungsgenstand "Kirchen" bzw. Pastoren als Unternehmer, als auch der Erhebungskontext Indonesien sind außergewöhnlich im Sample. Es sein noch auf Corrêa et al. (2017) verwiesen, die eine ähnliche Erhebung in Brasilien durchgeführt haben. Nunez-Pomar, J. M., Escamilla-Fajardo, P. & Prado-Gasco, V. (2020) INNO, PRO, RISK Sportclubs, 407 Spanien Die Studie setzt sich mit Unternehmerischer Orienerung in Sport-Clubs auf regionaler und naonaler Ebene auseinander. Es zeigt sich, dass Unternehmergeist den sozialen Erfolg von Sportsclubs fördert, jedoch wirken die Dimensionen in unterschiedlichem Ausmaß bei öffentlicher oder privater Finanzierung.

breitgefächerter Finanzierungsmix vorteilhaft, der Unabhängigkeit schafft und der weder überwiegend auf staatlicher Förderung noch zum großen Teil auf Kundeneinnahmen basiert. Daneben wirken sich die organisationale Marktorientierung, die Lernorientierung sowie ein motivierendes Klima, das Entwicklung ermöglicht, als positive Einflussfaktoren auf Unternehmerische Führung und Kultur aus (Choi, 2014; Escamilla-Fajardo et al., 2019). Schließlich haben auch verschiedene Umweltfaktoren eine förderliche Wirkung, darunter Dynamik, Komplexität und Unsicherheit (Hinz & Ingerfurth, 2013; Hu et al., 2014; Weerawardena & Mort, 2012).

Mediatoren Marktorienerung Lernorienerung Kundenzufriedenheit Markteffekvität

Autonomie Aggressivität

Innovavität Proakvität Risikoneigung

Klassische Dimensionen

Moderatoren Marktorienerung Sozio-ökonom. Kontext

Zusammenarbeit Iniave Reziprozität Sozialer Zweck Intern. Austausch Gelegenheit

Ergänzungen (Auszüge)

Unternehmerische Orienerung

Konngenzfaktoren Große Organisaon (nach Mitarbeitenden, Anzahl der Kunden, Anzahl der Mitglieder Angliederung an Dachorganisaon/Kee

o Hauptsächlich männl. Unternehmer o Anteil philanthropischer Spenden

Auswirkungen

Organisaonale Auswirkungen Wissensmanagement Partnerschaen & Zusammenarbeit Marktorienerung

Ausgaben für Verwaltung Stakeholder-Beziehungen (Kunden, Spenden)

Ressourcenbezogene Faktoren Ausgaben für Programme Wachstum Nachhalger Organisaonsfortbestand Orga. Kapazität (HR, Finanzen, Infrastruktur)

Missionsbezogene Faktoren Soziale Innovaonen (Produkte & Services) Ergebnisinnovaonen Implemenerung neuer soz. Geschäseinheit

Erfolg Missions-Erfolg Finanzieller Erfolg

Abb. 2.1 Bisherige Erkenntnisse zu Unternehmerischer Führung und Kultur in NPO. (Quelle: eigene Darstellung)

Legende Posiver Zusammenhang Gemischte Ergebnisse o Negaver Zusammenhang

Umwelaktoren Dynamik Komplexität Unsicherheit

Organisaonale Faktoren Marktorienerung Lernorienerung Klima

o Kundeneinnahmen o Finanzielle Sicherheit

Ressourcenbezogene Faktoren Kürzung staatl. Budgets Finanzielle Unabhängigkeit Spendeneinahmen

Management Faktoren Transformaonaler Führungssl Team-Empowerment & Unterstützung Erfahrung in der Privatwirtscha Pers. unternehmerische Orienerung

Vorstandsfaktoren Strategische Ausrichtung Akvismus und Engagement Geschlechtlich gemischtes Präsidium

Einflussfaktoren

Konngenzfaktoren Kollaboraves Engagement Größe der NPO Munifizenz Webewerb(er) Alter der NPO

20 D. M. Stock und P. Erpf

2 Internationale Managementforschung …

2.2.4

21

Auswirkungen

Bei der Analyse der Auswirkungen, die Unternehmerische Führung und Kultur in NPO hervorruft, haben sich vier Gruppen herausgebildet, die auf Erfolg, missions- und ressourcenbezogene Faktoren sowie organisationale Aspekte abzielen (ebenfalls Abb. 2.1). Die Frage nach der Erfolgswirksamkeit ist eine der wichtigsten und meist beforschten im Kontext von unternehmerischer Orientierung (Gupta & Wales, 2017). Dementsprechend setzen sich insgesamt 33 Publikationen mit dieser Frage auseinander, von denen 21 quantitative und fünf qualitative Studien signifikant positive Effekte dokumentieren. Die meisten Studien (19) setzen für die Messung von Erfolg sowohl die Erreichung von ideellen Missionszielen als auch finanzielle Indikatoren ein (Almeida et al., 2019; Baumann-Fuchs & Gmür, 2019). Studien, die diese Aspekte getrennt analysieren oder nur jeweils einen der beiden in den Blick nehmen, ziehen übereinstimmende Schlussfolgerungen (Andersson & Helm, 2012; Chen & Hsu, 2013; Gmür & Löffel, 2019). Unterschiedliche Kontingenzfaktoren gehen mit den Auswirkungen auf Erfolg einher. So fördert kollaboratives Engagement sowie die Größe der NPO den Erfolg, während zur Beschaffenheit des Wettbewerbs sowie zum Alter der NPO gemischte Ergebnisse vorliegen (Alarifi et al., 2019; Núñez-Pomar et al., 2020; Ofem et al., 2020). Daneben werden weitere, die Mission betreffende Faktoren gefördert, wie soziale und Ergebnisinnovationen sowie die Implementierung neuer sozialer Geschäftseinheiten (Choi & Choi, 2014; Dwivedi & Weerawardena, 2018). Ähnlich wie bei den Einflussfaktoren zeigt sich auch hier ein gemischtes Bild bei den Auswirkungen auf die Ressourcenausstattung. Zwar werden Wachstum, nachhaltiger Fortbestand der Organisation sowie Kapazitäten gesteigert (Addicott, 2017; Baumann-Fuchs & Gmür, 2019; Svensson et al., 2020), allerdings gehen damit höhere Ausgaben für Programme einher (Andersson & Helm, 2012). Ebenso wie bei Ausgaben für Verwaltung (Jaskyte, 2020) zeigt sich hier eine ambivalente Argumentation, die Produkt der klassischen NPO-Zielkonflikte ist: Während mehr Programme zu mehr Verwaltungsaufwand, jedoch auch zu einer besseren Erreichung der ideellen Mission führen, kann Unternehmerische Führung und Kultur gleichzeitig zu verschlankten internen Prozessen führen und die Kosten für Verwaltung senken. Übergreifend kann hier geschlussfolgert werden, dass Unternehmerische Führung und Kultur möglicherweise ein zeitsensibles Konstrukt ist, das zwar kurzfristig unterschiedliche ressourcenrelevante Effekte hervorruft, jedoch langfristig positive Auswirkungen in NPO hat. Schließlich werden auch organisationale Aspekte gefördert, wie beispielsweise Wissensmanagement, Partnerschaften und Zusammenarbeit oder Marktorientierung (Addicott, 2017; Hu et al., 2014; Ma et al., 2012). Der letztgenannte Aspekt hat ebenso moderierende, wie mediierende Wirkung (Chen & Hsu, 2013; Pinheiro, Daniel & Moreira, 2020). Daneben moderiert der sozio-ökonomische Kontext die Auswirkungen von unternehmerischer Orientierung und Lernorientierung. Kundenzufriedenheit und Markteffektivität wirken als Mediatoren (Felício et al., 2013; Khan & Bashir, 2020; Liu et al., 2014).

22

2.3

D. M. Stock und P. Erpf

Fazit und Ausblick

Zusammenfassend kann der Stand der Forschung zu Unternehmerischer Führung und Kultur in NPO als vorangeschritten, jedoch nicht als umfassend bezeichnet werden. Viele non-profit-spezifische Aspekte werden berücksichtigt und nehmen Einzug in das Konstrukt sowie in die erweiterten Dimensionen. Dies gibt Anlass, Unternehmerische Führung und Kultur als aussichtsreiche organisationale Ausrichtung von NPO anzusehen. Allerdings bleiben eine Reihe von Fragen unbeantwortet. So werden einige Arten von NPO bislang spärlich oder überhaupt nicht untersucht, darunter beispielsweise Wirtschafts-, Umwelt- oder internationale Organisationen. Weiterhin liegen bislang noch keine Erkenntnisse zur Rolle des organisationalen Netzwerks und dessen förderliche Wirkung auf die Unternehmerische Führung und Kultur von NPO vor. Ähnlich verhält es sich mit ressourcenrelevanten Stakeholdern, wie beispielsweise Mitgliedern, Freiwilligen und Mitarbeitenden. Interessant sind hierbei nicht nur die von den jeweiligen Gruppen ausgehenden Impulse, sondern auch das Potenzial, das in deren Interaktion liegt. In Hinblick auf die Auswirkungen von Unternehmerischer Führung und Kultur sollten diese Stakeholder ebenfalls in den Blick genommen werden: Steigt der wahrgenommene Mehrwert für die Mitglieder durch eine hohe unternehmerische Ausprägung? Werden mehr Spenden und Beiträge eingenommen, und engagieren sich Freiwillige in größerem Ausmaß? Damit einhergehend sollte untersucht werden, ob der übergreifende Ruf von NPO beeinflusst und dadurch einflussreichere Partner-Organisationen und -Unternehmen gewonnen werden können. Spannend ist hierbei auch, ob eine Unternehmerische Führung und Kultur Wege und Strategien der öffentlichen und politischen Interessenvertretung berührt und die erfolgreiche Platzierung von Positionen fördert. Diese Fragen werden in den folgenden Fallstudien exemplarisch behandelt. Der vorliegende Sammelband leistet damit einen ersten Zugang, um diese bestehenden Forschungslücken zu füllen.

2 Internationale Managementforschung …

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Dorothea Maria Stock studierte BWL für Stiftungen und Verbände sowie Wirtschaftspsychologie mit Schwerpunkt auf nachhaltiger Unternehmensführung. Seit Anfang 2019 arbeitet sie beim Deutschen Verbände Forum und ist Redaktionsmitglied des Verbändereports. Parallel forscht sie als externe Doktorandin des Verbandsmanagement Instituts (VMI) der Universität Freiburg in der Schweiz zu unternehmerischer Orientierung von Verbänden und NPOs.

Philipp Erpf ist Direktor des Instituts für Verbands-, Stiftungsund Genossenschaftsmanagement (VMI) der Universität Freiburg in der Schweiz. Nebst seiner Geschäftsführungsfunktion ist er verantwortlich für den Weiterbildungsbereich des Instituts. In seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit widmet er sich Social Entrepreneurship sowie Unternehmerischer Führung und Kultur in Non-ProfitOrganisationen. Zuvor war er Organisationsberater in Bern, Zug und München sowie Medien- und Kommunikationstrainer.

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Fallstudienüberblick und Methodik Philipp Erpf

Seit 2014 erforscht das Institut für Verbands-, Stiftungs- und Genossenschaftsmanagement (kurz VMI) der Universität Freiburg soziales Unternehmertum, welches als hybride Organisationsform verstanden wird, die sich zwischen gewinnorientierter Unternehmensund etablierter NPO-Tätigkeit verortet (Erpf, 2014; Erpf & Gmür, 2017). Soziales Unternehmertum wurde einerseits als Alternative zu rücksichts- und bedingungsloser Gewinnverfolgung, andererseits als moderner Gegenentwurf zu einer überkommenen, altruistisch verwurzelten Wohltätigkeit positioniert. Von den damit lancierten Diskussionen geht zunehmend ein Veränderungsdruck aus, dem NPO begegnen können, indem sie eine Unternehmerische Führung und Kultur etablieren und leben. Für die NPO-Forschung führt dies zur Fragestellung, ob NPO, die durch eine Unternehmerische Führung und Kultur geprägt sind, ihre Mission- und Wirkungsziele effektiver und effizienter erreichen (Erpf & Gmür, 2017; Gmür & Erpf, 2017). Unternehmerische Orientierung (unter dem Begriff Entrepreneurial Orientation) wird in Wirtschaftsunternehmen seit den 1990er Jahren als Erfolgsfaktor für die Zielerreichung unter komplexen und dynamischen Marktbedingungen angesehen. Bislang gibt es jedoch nur wenige Untersuchungen zur Frage, ob eine ausgeprägte Unternehmerische Führung und Kultur auch in Organisationen des NPO-Sektors mit einer überdurchschnittlichen Zielerreichung einhergehen. Hier setzt das vorliegende Buchprojekt an, welches das konzeptionelle Ziel verfolgt, das in der betriebswirtschaftlichen Forschung bereits etablierte Konstrukt der Unternehmerischen Führung und Kultur auf die Besonderheiten von NPO anzupassen. Dazu P. Erpf (B) Institut für Verbands-, Stiftungs- und Genossenschaftsmanagement (VMI), Universität Freiburg/ Schweiz, Freiburg, Schweiz E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Erpf und M. Gmür (Hrsg.), Unternehmerische Führung und Kultur in Non-Profit-Organisationen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40983-8_3

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P. Erpf

wurden empirisch zwei Wege verfolgt: Zum einen wurden Fallstudien von Organisationen mit charakteristischen Merkmalen unternehmerischer Führung identifiziert und porträtiert. Zum anderen wurden Befragungen von Stichproben ausgewählter Teilbereiche des Dritten Sektors der Schweiz durchgeführt, um die Erkenntnisse aus den Fallstudien auf annähernd repräsentativer Basis zu erhärten. Die quantitativen Studien wurden an internationalen Konferenzen (z. B. Academy of Management Konferenz 2018 und 2020) vorgestellt und in wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht. Sie liegen hier in angepasster und thematisch spezifizierter Form vor und verweisen stets auf die Originalquelle. Die qualitativen Studien wurden mittels eines mehrstufigen Verfahrens ermittelt. Zwei Netzwerkveranstaltungen im 2019 dienten dazu, das Konzept der Unternehmerischen Führung und Kultur einem breiten Publikum von Praktikerinnen und Praktikern vorzustellen und mit diesen zu diskutieren. Das Buchprojekt wurde vorgestellt und Organisationen bzw. deren Vertretungen, die ihre Organisation als ausgeprägt unternehmerisch bezeichnen, konnten die Herausgeber im Nachgang kontaktieren. Sie verfassten erst einen Kurzbeschrieb, in welchem sie die Dimensionen der Unternehmerischen Führung und Kultur beschrieben und unter anderem auf die folgenden Fragen antworteten: Inwiefern ist die Organisation innovationsorientiert, proaktiv etc.? Was macht sie anders als andere Organisationen im selben Bereich? Inwiefern hat sie etwas Neuartiges, etwas Mutiges und Selbstbewusstes geschaffen? Woran sieht man, dass die Veränderung mit einem besonderen Anliegen und einem unternehmerischen Geist geschaffen wurde? Das Herausgeberteam hat die Kurzbeiträge im Anschluss inhaltlich gesichtet und die Passung für den Sammelband kritisch beleuchtet. Im Falle einer thematischen Stimmigkeit wurden die Autorinnen resp. Autoren aufgefordert, einen Beitrag im Sinne einer Selbsteinschätzung zu verfassen. Die Fallstudien beschreiben demzufolge eine organisational subjektive Sichtweise, in welchem die Dimensionen sowie zum Teil auch weitere Merkmale einer ausgeprägten unternehmerischen Haltung, Führung und Kultur reflektiert und beschrieben werden. In Einzelfällen haben die Herausgeber weitere Organisationen gezielt angeschrieben, bei denen sie in Weiterbildungsformaten des VMI und durch Gespräche eine starke Unternehmerische Führung und Kultur ausmachen konnten. Diese Beiträge flossen ebenfalls in den Sammelband. Dies führte dazu, dass einzelne Kapitel zusammen mit den Herausgebern, durch projektbegleitende Organisationsberaterinnen und -berater oder durch professionelle Journalistinnen resp. Journalisten verfasst wurden. Alle Kapitel wurden inhaltlich durch die Herausgeber redigiert, durch einen Lektor sowie eine Lektorin sprachlich geprüft und durch eine Projektmitarbeiterin koordiniert und in ein einheitliches Layout gebracht. Insgesamt flossen so vier empirische Studien sowie 24 Fallstudien in diesen Sammelband mit ein, welche nach Organisationstypen gruppiert wurden. Die Abb. 3.1 zeigt das methodische Vorgehen. Die empirischen und fallbezogenen Studien werden jeweils in einleitenden Teilüberblicken kurz eingeführt und beschrieben.

3 Fallstudienüberblick und Methodik

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Dissertationsprojekt zu Sozialem Unternehmertum

Erforschung Unternehmerischer Führung und Kultur (Initiierung über konzeptionelle Studien)

Qualitative Studien (24 Fallstudien)

Quantitative Studien (4 Erhebungen)

Erkenntnisse zu Unternehmerischer Führung und Kultur in Non-Profit-Organisationen

Abb. 3.1 Methodisches Vorgehen zur Entstehung dieses Sammelbandes

Literatur Erpf, P. (2014). Social Entrepreneurship – Standortbestimmung zur aktuellen Diskussion. VerbandsManagement, 41(2), 31–41. Erpf, P. (2017). What is social entrepreneurship and how can it be differentiated from business entrepreneurship? Die Unternehmung, 71(2), 197–208. Erpf, P., & Gmür, M. (2017). Der Schlüssel zum Verbandserfolg: Unternehmerische Orientierung. Verbändereport, 8, 6–11. Gmür, M., & Erpf, P. (2017). Unternehmerische Organisationen im Dritten Sektor. VerbandsManagement, 43(2), 41–50.

Philipp Erpf ist Direktor des Instituts für Verbands-, Stiftungsund Genossenschaftsmanagement (VMI) der Universität Freiburg in der Schweiz. Nebst seiner Geschäftsführungsfunktion ist er verantwortlich für den Weiterbildungsbereich des Instituts. In seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit widmet er sich Social Entrepreneurship sowie Unternehmerischer Führung und Kultur in Non-ProfitOrganisationen. Zuvor war er Organisationsberater in Bern, Zug und München sowie Medien- und Kommunikationstrainer.

Teil II Frühe Beispiele unternehmerischer Initiative

Unternehmerisches Denken und Handeln ist keine Erfindung der Managementlehre, auch wenn die internationale Managementforschung diese Perspektive seit den 1980er Jahren aufgegriffen und wissenschaftlich erschlossen hat. Wenn man den Dritten Sektor überblickt, wird man viele Organisationen entdecken, die von Persönlichkeiten gegründet wurden, die ohne spezifische Managementerfahrungen, aber mit einer optimistischen Grundhaltung und einem festen Glauben an die Gestaltungskraft einer Mission ein Hilfswerk gegründet und zu einem nachhaltigen Erfolg geführt haben. Sie haben unternehmerisch gehandelt und eine Organisation mit einer Unternehmerischen Führung und Kultur geschaffen, ohne dass sie sich selbst als Unternehmer bezeichnet hätten. Wahrscheinlich hätten sie das sogar von sich gewiesen. Zwei Fallbeispiele solcher unternehmerischen Gründungen sollen am Beginn unserer Reise durch die Welt unternehmerischer Organisationen mit zivilgesellschaftlichen Wurzeln stehen. Es handelt sich um zwei mittlerweile etablierte Hilfswerke, eines entstanden in Zürich, das andere in Innsbruck. Beide wurden von außerordentlichen Persönlichkeiten initiiert, die von ihren Zeitgenossen eigenwillig wahrgenommen wurden, denen es aber gelang, einen wachsenden Kreis von Unterstützerinnen und Unterstützern zu mobilisieren. Beide Hilfswerke sind mit einer religiösen Grundierung entstanden, das eine aus dem Kontext der reformierten Kirche, das andere mit einer katholischen Verankerung, was sich auch im direkten Vergleich in ihrer Unterschiedlichkeit ausdrückt. Beide haben eine akute Krisenlage ihrer Zeit adressiert: das eine an den vermeintlichen Rändern der Mehrheitsgesellschaft in einer insgesamt wohlhabenden Stadt, die aber ratlos einer Notlage, die sie gern verdrängt hätte, gegenüber stand; das andere adressierte eine Notlage in der Mitte der Gesellschaft und ihrer Keimzellen, der Familien im Österreich der Nachkriegszeit, in der als Ergebnis von Zerstörung und Vertreibung viele Menschen unter prekären Bedingungen lebten. Das Sozialwerk Pfarrer Sieber wurde 1964 vom jungen Pfarrer Ernst Sieber und einer Gruppe von Helferinnen und Helfern in Zürich während eines extrem kalten Winters ins Leben gerufen, um obdachlose Menschen vor dem Erfrierungstod zu bewahren. Ernst Sieber initiierte in der Folge während der Jugendunruhen 1968 mit politischer Unterstützung eine Arbeitsgemeinschaft für Jugendprobleme und erweiterte seine Bemühungen nach den Opernhauskrawallen 1980, richtete im Zürcher Umland landwirtschaftliche Wohnund Arbeitsprojekte ein, schaffte eine sozialmedizinische Infrastruktur für die offene

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Teil II: Frühe Beispiele unternehmerischer Initiative

Drogenszene Ende der 1980er Jahre in der Stadt und weitete das Angebot von Notschlafstellen für Randständige aus. Als Ernst Sieber im Mai 2018 stirbt, nehmen tausend Menschen am Trauergottesdienst in Zürich und dreitausend Menschen an der Abschiedsund Erinnerungsfeier teil. Der Beitrag von Christoph Zingg, dem langjährigen Geschäftsführer des Hilfswerks während der späteren Entwicklungsphase, zeichnet aber nicht nur die unternehmerische Gründungs- und Entwicklungsgeschichte nach, sondern auch die Herausforderung an ein Management, das den unternehmerischen Geist erhalten und gleichzeitig in professionelle Bahnen lenken will, um den Erwartungen eines stetig wachsenden Kreises an Unterstützerinnen und Unterstützern gerecht zu werden. Der besondere Erfolg dieses Hilfswerks besteht wohl gerade darin, dass es gelungen ist, eine zuvor nicht existierende Brücke von den etablierten Eliten zu den Randständigen zu schlagen und sie offensichtlich nachhaltig zu befestigen. Die SOS-Kinderdörfer wurden von Hermann Gmeiner und seinen Weggefährten Ende der 1940er Jahre ins Leben gerufen. Wie der Autor des Beitrags, Wilfried Vyslozil, schreibt, waren sie optimistisch, aber mittellos: „In gewisser Weise gehörten die frühen Pioniere der SOS-Bewegung selbst zu den Entwurzelten, denen zu helfen sie angetreten waren – bis auf eine Ausnahme“ in der Person von Maria Hofer, die über ihr sozialpädagogisches Engagement hinaus das Startkapital aus ihrem familiären Erbe bereitstellte und die damit als die zweite außerordentliche Gründerpersönlichkeit anzusehen ist. In dem Beitrag wird die Entwicklungsgeschichte von den Anfängen bis zur heutigen Gestalt eines weltweit tätigen Hilfswerks nachgezeichnet, das heute an 721 Standorten in 137 Ländern in 3237 Projekten insgesamt fast 300.000 Kinder betreut (https://www.sos-kinderdoerfer.de/ informieren/wo-wir-helfen abgerufen am 30.11.2022). Es hat sich als professionell tätiges Hilfswerk weit über die ursprünglich engen Grenzen des ersten Kinderdorfs in Imst (Tirol) hinausbewegt, und transportiert doch immer noch den Pioniergeist seiner Gründungsgeneration in jedes seiner Projekte hinein. Bei aller Progressivität werden in dem Beitrag aber auch die blinden Flecke reflektiert: „Gmeiner hat vom Pioniergeist der Frauen seiner Bewegung sehr profitiert, allerdings blieb der Zugang zu Entscheidungspositionen den Frauen lange verwehrt. Bei den SOS-Kinderdörfern weltweit werden derzeit fünf von neun Bereiche von Frauen geleitet.“ Das ist am Ende des Beitrags ein bemerkenswertes Detail, ausgerechnet in der Geschichte einer Organisation, die sich Kindern und familiären Notlagen ansonsten in pionierartiger Weise zugewandt hat.

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Wir sind Pfarrer Sieber – von einer unternehmerischen humanitären Initiative zu einem professionellen Hilfswerk Christoph Zingg und Markus Gmür

Am 19. Mai 2018 stirbt der Zürcher Obdachlosenpfarrer Ernst Sieber (vgl. Abb. 4.1 und 4.2) im Alter von 91 Jahren. Rund tausend Menschen folgten der Einladung der Familie Sieber am 27. Mai ins Zürcher Großmünster zum Trauergottesdienst. Rund 3000 Menschen fanden sich am 2. Juni auf dem Zürcher Platzspitz zu einer Abschiedsund Erinnerungsfeier ein, die vom Sozialwerk Pfarrer Sieber gemeinsam mit dem Präsidialdepartement der Stadt Zürich organisiert wurde. Weggefährten des Pfarrers, Schutzbefohlene, Hilfesuchende, Politikerinnen und Musiker erinnerten sich an diesem Ort, der in den 1980er Jahren für Tausende Süchtige zur Hölle auf Erden wurde, an den charismatischen, umtriebigen und in seinen Aktionen kompromisslosen Mann, der die Ärmsten seiner Zeit als seine Freunde bezeichnet und der mit seinen Gründungen und seinem politischen und medialen Wirken wesentlich Einfluss auf die Zürcher Sozial- und die landesweite Drogenpolitik der letzten 50 Jahre genommen hatte. Und dem auch die Kirchen viel verdanken: In seinem Wirken fanden auch Kirchenferne etwas Sinnvolles – ein sympathisches Abbild dessen, was sie als gelebtes und glaubwürdiges Christen- und Menschentum erwarteten und erwarten.

C. Zingg Disentis/Mustér, Schweiz E-Mail: [email protected] M. Gmür (B) Institut f¨ur Verbands-, Stiftungs- und Genossenschaftsmanagement (VMI), Universität Freiburg/ Schweiz, Freiburg, Schweiz E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Erpf und M. Gmür (Hrsg.), Unternehmerische Führung und Kultur in Non-Profit-Organisationen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40983-8_4

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C. Zingg und M. Gmür

Abb. 4.1 Pfarrer Ernst Sieber. (Quelle: Sozialwerk Pfarrer Sieber)

Abb. 4.2 Medienmitteilungen zum Tod von Pfarrer Sieber

4.1

Wie alles begann

Im Winter 1963/64 fror der Zürichsee zu. Der Winter war so kalt, dass viele Obdachlose in Zürich durch den Erfrierungstod bedroht waren. Der junge Pfarrer Ernst Sieber eröffnete mit Helferinnen und Helfern eine Notschlafstelle in einem Bunker unter dem Zürcher Helvetiaplatz, und so konnten sie den frierenden Stadtstreichern einen Platz zum Aufwärmen bieten. In dieser Bunkergemeinschaft wurde bereits sichtbar, nach welchen Prinzipien auch die zukünftigen Sieber-Gründungen funktionieren sollten: hochgradig autonome Gruppen, der Glaube an die heilende Kraft der Gemeinschaft, ein Ort, ein Kopf – und möglichst wenig Administration. Die Bunkergemeinschaft bestand weiter bis

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1975, danach zog sie in die neu eröffnete Wohn- und Arbeitsgemeinschaft „Suneboge“ an der Zürcher Gerechtigkeitsgasse um. Das Haus und sein Trägerverein existieren heute noch und sind spezialisiert auf die Unterbringung von schwer alkoholkranken Menschen (vgl. www.suneboge.ch). In vergleichbarer Weise reagierte Pfarrer Sieber auf die Globuskrawalle 1968: Gemeinsam mit Stadtbehörden und Kirchenvertretern gründete er die Zürcher Arbeitsgemeinschaft für Jugendprobleme (ZAGJP). Die ZAGJP erwirkt die Eröffnung einer Auffangund Anlaufstelle im Kirchgemeindehaus Wollishofen, die bis 2006 geöffnet bleiben sollte. Daneben eröffnet er den „Lindenhofbunker“ als Ersatz für den besetzten Globus. Der Lindenhofbunker wurde nach drei Monaten durch ein illegal aufgestelltes Barackendorf in Zürich-Altstetten ersetzt, das nachträglich durch die Stadtbehörden, insbesondere unter Einfluss der damaligen Sozialvorsteherin Emilie Lieberherr legalisiert wurde. Hier zeigt sich eine zweite Besonderheit von Siebers Wirken: Sieber fragt nicht, Sieber macht, und Bewilligungen kann man nachreichen. Hauptsache, die Menschen haben erst einmal ein Dach über dem Kopf! Aus dem Barackendorf in Altstetten entstand das Christuszentrum, das bis heute, ebenfalls als eigenständiger Verein, mit einem Schwerpunkt in der Wohnund Arbeitsintegration psychisch beeinträchtigter Menschen aktiv ist (vgl. www.christusz entrum.ch).

4.2

Initiativen in unruhigen Zeiten

1980 kam es in Zürich wiederum zu Jugendunruhen, die sogenannten „Opernhauskrawalle“ (vgl. Abb. 4.3). Sieber reagierte mit dem Kauf eines Bauernhofs im zürcherischen Stallikon, den gesellschaftsverdrossene Jugendliche bespielen wollten, und gründete die Stiftung „Puureheimet Brothchorb“. Die Stalliker Bevölkerung hatte keine Freude an diesen Plänen; es brauchte einen Bundesgerichtsentscheid im Jahr 1988, damit die bereits 1981 gegründete Stiftung ihren Betrieb aufnehmen konnte. Heute wird die Einrichtung als landwirtschaftliche Wohn- und Arbeitsgemeinschaft geführt; mit 14 Plätzen für Menschen, die in der Folge ihrer Suchtmittelabhängigkeit psychisch oder physisch beeinträchtigt sind. Auf dem Hof wird nach biodynamischen Richtlinien gewirtschaftet. Hier wird ein drittes Merkmal Sieberschen Wirkens sichtbar: Pfarrer Sieber als Pionier setzte den ersten Stein, Struktur und Inhalt für die jeweiligen Gründungen. Mitte der 80er Jahre etablierte sich auf dem Zürcher Platzspitz die nach dem Berliner Bahnhof Zoo größte offene Drogenszene Europas. Bis zu dreitausend Menschen kamen hier täglich zusammen – sie konsumierten, dealten, prügelten, prostituierten, vergewaltigten, und es starben hier schwerst suchtmittelabhängige Menschen in aller Öffentlichkeit. Unfassbares, hässliches Elend – Politik und Gesellschaft waren lange Zeit hilflos, repressive Maßnahmen wirkungslos.

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Abb. 4.3 Pfarrer Sieber mit Eselin als vermittelnder Exponent der Opernhauskrawalle 1980. (Quelle: Sozialwerk Pfarrer Sieber)

Pfarrer Sieber war nicht der Einzige, der sich dieses Elends annahm, aber wohl derjenige, der, nicht zuletzt aufgrund seiner Prominenz, am ehesten gehört wurde. Im November 1987 begründete Ernst Sieber – auch das mehr oder weniger geheim und ohne Zustimmung der Gesundheitsbehörden – die notfallmäßige medizinische Versorgung von drogensüchtigen Obdachlosen im Keller des heutigen Fachspitals „Sune-Egge“. Die Einrichtung wurde schnell zu einer Art Sterbehospiz: Die Würde, die den Süchtigen die Lebensumstände und die Gewalt auf dem Platzspitz genommen hatten, sollten sie wenigstens im Sterben wiedererhalten. Im Frühjahr 1988 offerierte die Besitzerin des Hauses die gesamte Liegenschaft dem umtriebigen Pfarrer und seiner Familie unter der Bedingung, dass eine geeignete Rechtsform bereitgestellt würde – es war die Geburtsstunde der Stiftung „Sozialwerke Pfarrer Sieber“. Noch im Laufe des gleichen Jahres wurde das sozialmedizinische Angebot legalisiert, und im Februar 1989 erhielt die junge Stiftung von der Gesundheitsdirektion die Bewilligung zur Führung eines Krankenhauses. Der „Sune-Egge“, wie das Haus nun hieß, bot 28 Betten an und betrieb ein kleines Ambulatorium. In der Folge gründete Sieber mit seinen Getreuen eine Einrichtung nach der anderen – immer nach dem bekannten Muster: eine dörfliche Gemeinschaft, ein Ort – ein Kopf, möglichst wenig Administration und wenn nötig, dann halt auch einmal vorläufig illegal. Die Öffentlichkeit war dem Zürcher „Stadtheiligen“, wie er inzwischen da und dort genannt wurde, dankbar für seine Lösungen und seinen Pragmatismus angesichts des bedrückenden und beschämenden Elends, und sie ließ ihn nicht nur gewähren, sondern versorgte ihn auch mit finanziellen Mitteln.

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Abb. 4.4 Pfarrer Sieber vor einer seiner dörflichen Gründungen

Mehr als 30 Einrichtungen entstanden so bis Ende der 1990er Jahre: Dorfgemeinschaften, Anlaufstellen, Notschlafeinrichtungen aber auch Öffentlichkeitsaktionen. Dies geschah stets nach dem bekannten Muster. Das „Sieberdörfli“ (vgl. Abb. 4.4) wurde zum geflügelten Wort, und oft nach dem Opportunitätsprinzip: Wurde Pfarrer Sieber ein Haus angeboten, egal wo und egal in welchem Zustand, hatte er auch schon eine Idee, was damit noch getan werden könnte. Und immer stärker band er auch seine eigene Familie mit ein – von seinen insgesamt acht Kindern (davon vier leibliche und vier Pflegekinder) arbeiteten zeitweise deren sechs in Leitungspositionen, meist Standortleitungen, mit. Die Stiftung umfasste zeitweise fast 300 Mitarbeitende.

4.3

Eine organisatorische Wende wird nötig

In der zweiten Hälfte der 1990er werden erstmals kritische Stimmen laut in Bezug auf die administrative Führung und auf die Qualität der Stiftungsleitung: BVG-Beiträge wurden nicht eingezahlt, Stiftungsjuristen nahmen persönliche Aufträge entgegen und ließen sich dafür bezahlen. Höhepunkt war der sogenannte Gillman-Skandal: Einer von Siebers Schwiegersöhnen hatte sich immer wieder Mittel aus den noch prall gefüllten Stiftungskassen „geliehen“, um eigene Liegenschaftsgeschäfte zu finanzieren. Pfarrer Sieber informierte die irritierte Öffentlichkeit, er sei „Seelsorger, nicht Zahlsorger“. Das nahm man ihm gerade noch so ab – so schnell wollten die Zürcherinnen und Zürcher ihren Stadtheiligen nicht demontieren lassen. Die Unterstützung für die inzwischen riesige Organisation nahm aber ab und Mitte 2004 stand die Stiftung unvermutet vor dem Konkurs.

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Abb. 4.5 Stiftungsrat der Sozialwerke Pfarrer Ernst Sieber. (Quelle: Sozialwerk Pfarrer Sieber)

Das Konkursbegehren war bereits geschrieben als sich über die reformierte Landeskirche des Kantons Zürich ein anonymer Spender meldete und eine Million Franken anbot. Nach Eingang dieses Angebots doppelte der Kirchenrat nach, setzte ebenfalls eine Million ein und beauftragte den amtierenden Kirchenratspräsidenten sowie die damalige Finanzverantwortliche der Zürcher Kirche mit der Organisation der Sanierungsarbeiten. Die Zürcher Stiftungsaufsicht stimmte den vorgelegten Sanierungsplänen zu – unter einer einzigen, aber einschneidenden Bedingung: Die ganze Familie Sieber muss raus! Der neue Stiftungsrat (vgl. Abb. 4.5) und die neue Geschäftsleitung leisteten in der Folge ganze Arbeit: Rund 25 Einrichtungen wurden aufgehoben und die Zahl der Mitarbeitenden wurde halbiert. Nach vorläufigem Abschluss der Sanierungsarbeiten umfassten die Sozialwerke Pfarrer Sieber noch die Standorte „Sunestube“, „Nemo“, das sogenannte „Urdörfli“, das Spital „Sune-Egge“ und die Therapiestation „Sunedörfli“. Der in seiner Ehre und Seele tief verletzte Stiftungsgründer wirbelte seinerseits weiter, gründete mit Weggefährten flugs den Verein „Pfuusbus“ zum Betrieb ebendieser Notschlafstelle (vgl. Abb. 4.6) sowie den Verein der „Dorfgemeinschaft Spiesshof Ramsen“. Das leerstehende Kirchgemeindehaus Seebach wurde ihm zur Einrichtung des „BrotEgge“ überlassen, einer Anlaufstelle, wie sie früher in Wollishofen betrieben worden war. Um Pfarrer Sieber einigermaßen unter Kontrolle zu halten, wurde er ins Ehrenpräsidium der Stiftung berufen. In allem handelten die Verantwortlichen weise: Während Pfarrer Sieber weiterhin in der Art, für den ihn die breite Öffentlichkeit liebte, weibeln durfte, konnte im Hintergrund der Neuaufbau der Stiftung weitergetrieben werden. Erfolgreichster Moment dieser Zeit war zweifellos die Wiedererlangung des ZEWOGütesiegels im Jahr 2010. Nächster wichtiger Schritt war nun die Aufhebung oder die Zusammenführung der in den Sanierungsjahren bewusst in Kauf genommenen Parallelstrukturen.

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Abb. 4.6 Die Notschlafstelle Pfuusbus. (Quelle: Sozialwerk Pfarrer Sieber)

4.4

Eine professionelle Geschäftsführung wird eingerichtet

Als der Geschäftsführer (Erstautor dieses Beitrags) im Jahr 2011 die operative Führung der Stiftung übernahm, existierte ein offizielles, auch auf der Homepage und im Jahresbericht veröffentlichtes Organigramm, überschrieben mit dem an sich griffigen Claim „Auffangen – Betreuen – Weiterhelfen“, und eine gelebte Realität, die um einiges wilder aussah. Die Bleistiftskizze (vgl. Abb. 4.7) war der Versuch, das effektiv Vorfindliche abzubilden: ein buntes Konglomerat von Einrichtungen, die zur Stiftung gehörten, von Neugründungen von Pfarrer Sieber sowie von Ideen, die sich im Laufe der Jahre ein bisschen verselbstständigt hatten. Die Notwendigkeit, aus dem Vorfindlichen eine in sich sinnstiftende Angebots- und Wertschöpfungskette zu formen, war augenfällig. In der Folge analysierte die Geschäftsleitung gemeinsam die Pfade unserer Anspruchsgruppen, die Profile der einzelnen Betriebe und Angebote wurden geschärft und besser aufeinander abgestimmt und einige aus diesen Umformungsarbeiten sichtbar gewordenen Löcher wurden gestopft. Außerdem wurde sukzessiv Einfluss auf die von Pfarrer Sieber nach seinem Ausschluss aus der Stiftung gegründeten Vereine genommen, indem sich Leitungsmitglieder der Sozialwerke Ernst Sieber (SWS) in die Vorstände dieser Vereine wählen ließen. Dabei wurde stets das Ziel verfolgt, das Vertrauen des Stiftungsgründers in die Stiftung wiederzugewinnen; es sollte wieder zusammenwachsen, was zusammengehört. Manchmal gelang es, ihm die Sinnhaftigkeit der laufenden Entwicklungen aufzuzeigen, manchmal gelang es nicht. Das Schlimmste, was hätte passieren können, nämlich, dass er sich öffentlich gegen die Stiftung gestellt hätte, blieb aber aus.

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SWS-NETZWERK

Abb. 4.7 Skizzenhafte Darstellung des Einrichtungsnetzwerks unter dem Stiftungsdach. (Quelle: Sozialwerk Pfarrer Sieber)

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Abb. 4.8 Die Angebots- und Wertschöpfungstreppe der Stiftung. (Quelle: Sozialwerk Pfarrer Sieber)

Die aus diesen Umformungsarbeiten entstandene Wertschöpfungskette (vgl. Abb. 4.8) hat bis heute Gültigkeit. Sie sieht so aus, sie folgt nach wie vor dem Claim „Auffangen – Betreuen – Weiterhelfen“, sie bildet den Weg ab, den wir den uns anvertrauten Menschen anbieten, und sie bildet gleichzeitig den Finanzierungsschlüssel ab. In einem nächsten Schritt wurden Geschäftsfelder entworfen: Das erste, der Bereich „Auffangen“, wurde 2016 realisiert, d. h. es wurden alle niederschwelligen, gassennahen Einrichtungen und Angebote unter eine Bereichsleitung gestellt, die den Auftrag hatte, die einzelnen Angebote so beweglich wie möglich zu halten und die interne Durchlässigkeit den Bedürfnissen der Anspruchsgruppen entsprechend zu gestalten.

4.5

Herausforderungen für die fortschreitende Institutionalisierung

Ein für die Stiftung und ihre gesamte Entwicklung einschneidendes Ereignis war 2012 die Aufnahme des Fachspitals „Sune-Egge“ in die Zürcher Spitalliste, und zwar mit einem besonders ausformulierten Auftrag: die Akutversorgung Abhängigkeitserkrankter. Damit sollten in erster Linie die anderen Spitäler auf dem Platz Zürich entlastet werden – die im Rahmen der verbindlichen Einführung der Fallkostenpauschalen notwendig gewordene straffe Durchsetzung von Patientenprozessen würde durch diese vergleichsweise kleine Gruppe von Patientinnen und Patienten massiv beeinträchtigt. In dem Moment, als der „Sune-Egge“ auf die Spitalliste kam, war auch der Weg offen für Tarifverhandlungen mit den Krankenkassen und dem Kanton. Diese gestalteten sich aus zwei Gründen schwierig: Einerseits, und darüber war sich die Geschäftsleitung im Klaren, passten die typischen Patientinnen und Patienten der SWS nicht ins System: Multimorbidität, Mehrfachdiagnosen, fehlende Benchmarks, die unüblich langen Liegezeiten

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von durchschnittlich knapp 100 Tagen, besondere Pflegeaufwendungen und die für unsere Arbeit unverzichtbare Beziehungsarbeit, die sich in keinem System und keiner Tarifstufe adäquat abbilden lässt, stellten die Tarifpartner immer wieder vor maximale Herausforderungen. Dabei wurde erneut eine Qualität des Sieberschen Menschenbildes zentral: keine faulen Kompromisse! Früher ging es darum, dass Ausgegrenzte wieder einen geschützten Platz erhielten. Heute geht es darum, dass „Systeminkompatible“ nicht aus dem System fliegen. Wenn auch als Patientengruppe klein und letztlich unbedeutend: Die der SWS anvertrauten Menschen und ihre Bedürfnisse müssen im System genauso berücksichtigt werden wie irgendwelche Blinddärme, Hüftgelenke, Brustvergrößerungen oder Magenbänder! Dieser Sturheit erachteten sich die SWS den von ihnen betreuten Menschen als schuldig. Die zweite Herausforderung – und hier holte uns der Seelsorger, der kein Zahlsorger sein wollte, ein: Der Siebersche Ruf im Umgang mit Geld war für die Weiterentwicklung ein Belastungsfaktor. Immer wieder wurde die Geschäftsleitung mit Geschichten über den vormals oft manipulativen Umgang mit Zahlen oder der Inkompetenz bezüglich Rechnungswesen, Kennzahlen und Statistiken konfrontiert. Es war eine notwendige, wenn auch für die Organisationskultur schwierige Entscheidung, die sogenannte ReKoleZertifizierung einzuleiten. Am Ende eines langwierigen Prozesses konnte die Geschäftsleitung dem Stiftungsrat die frohe Kunde überbringen, dass die Institution als erst zweite Einrichtung im Kanton Zürich – nach der Hirslanden-Gruppe – diese Qualitätsprüfung bestanden hätte und dass nur noch ein paar kleinere Nachbesserungen nötig wären. Und die Wirkung war die gewünschte: Drei Monate danach unterschrieben wir die ersten Verträge mit den großen Kassenverbünden, dem Tarif-Suisse und der Helsana Gruppe. Angesichts der schieren Unmöglichkeit, unsere Leistungen durch das Regelwerk der Fallkostenpauschale zu unterstützen, konnten wir uns im Akut-Bereich auf Tagespauschalen verständigen, die degressiv angewendet werden: Die ersten 20 Tage sind die teuersten, dann entwickelt sich der Tarif schrittweise nach unten, bis er nach 120 Liegetagen praktisch gleichauf ist mit dem Pflegetarif, der dann nicht mehr nur von Kassen und Kanton getragen wird und dem eine andere Systematik zugrunde liegt.

4.6

Eine neue Außenwahrnehmung

Mit der ZEWO-Zertifizierung und den Entwicklungen rund um den „Sune-Egge“ – Spitalliste, ReKoLe-Zertifizierung und erfolgreiche Tarifverhandlungen – hatte die Geschäftsleitung einen guten Teil der angestrebten Reputationstransformation geschafft. Die Beziehungen zum fachlichen, politischen und gesellschaftlichen Umfeld konnten nun aktiv durch eine eigenständige und qualifizierte Organisation gestalten werden. Sie war nun mehr als nur ein Anhängsel des berühmtesten Pfarrers der Schweiz, dem – und das hat sich bis zu seinem Tod nie geändert – nach wie vor viele Sympathien zuflogen.

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Es galt nun, einen Imagetransfer zu lancieren mit dem Ziel, die dem Gründer und Pionier zugeschriebenen Stärken auf die Organisation SWS zu übertragen. Im Außenauftritt wurde in der Folge großen Wert auf ein starkes Kollektiv gelegt: „Wir sind Pfarrer Sieber“ – der Slogan, der im vergangenen Sommer nochmals an Aktualität und Dringlichkeit gewann, entstand in diesem Zusammenhang. Die Geschäftsleitung nutzte die Möglichkeit, die sich 2013 mit der Neugestaltung der Webpage bot, dieses Kollektiv zu betonen: Wir – das sind unsere Mitarbeitenden, das sind aber auch unsere Spenderinnen, und das sind unsere Gäste, Bewohner, Patientinnen, Klienten. Die Organisation begann sich gleichermaßen subtil und hartnäckig vom Pfarrer wegzubewegen und hin zu den Themen, die sie als Kollektiv beschäftigen und das entsprechend nach außen zu kommunizieren. Im Zentrum der Kommunikation standen nicht mehr nur der Pfarrer, sondern die Menschen, für die das von ihm gegründete Werk da sein sollte, und ihre Themen: Obdachlosigkeit, Einsamkeit, Ausgrenzung, Unsichtbarkeit. WIR tun Gutes – und wir reden darüber. Zwischen 2012 und 2017 hat sich das Verhältnis der Publikationen, die über den Pfarrer, und der Publikationen, die über die Organisation erschienen, sichtbar und massiv verändert: Während in 2012 noch 25 % der Medienberichte auf die Person von Ernst Sieber Bezug nahmen und 75 % auf das Hilfswerk, verdoppelten sich nach fünf Jahren die Berichte über das Hilfswerk, während sich die Zahl der Berichte zur Person im selben Zeitraum halbierte. Zur Gunst der Stunde gehörte zweifellos der Umstand, dass auch unser Stiftungsgründer nicht jünger wurde, allerdings wurde er im Alter aber auch nicht berechenbarer, und seine persönliche Medienaffinität war ungebrochen hoch. Zum angestrebten Imagetransfer gehörte auch, dass am Ende auch seine letzten Gründungen – der „Brot-Egge“ in Zürich-Seebach, der „Pfuusbus“ und die Notwohnsiedlung „Brothuuse“ subtil an die Stiftung herangeführt und integriert werden konnten. Dies gelang, weil die Geschäftsleitung Ernst Sieber gegenüber immer transparent war und weil er spürte, dass der Respekt nicht nur ihm und seinem Namen galt, sondern auch seinen Gründungen und den Idealen, auf denen sie beruhten. Dass die SWS schließlich mit dem Flughafen Zürich einen Zusammenarbeitsvertrag abschließen konnten in Bezug auf die Betreuung Obdachloser am Flughafen zeigt, dass die Organisation inzwischen wirklich als valable und verlässliche Partnerin wahrgenommen wird.

4.7

Spenderpflege im Transformationsprozess

Notwendig zum Gelingen des gesamten Reputations- und Imagetransfers waren und bleiben Anpassungen im Fundraising und in der Spenderpflege. Dies betrifft insbesondere die Botschaft, die Verwendung der Spenden und die Ansprache der Spenderinnen und Spender. Das für das Hilfswerk notwendige Spendenaufkommen – ohne Erbschaften und Legate – betrug pro Jahr zwischen sechs und sieben Millionen Franken. Wie

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für viele andere spendenbasierte NPO ist für die SWS die Vorweihnachtszeit die wichtigste Spendenzeit und die Weihnachtskampagne diejenige, die das Spendenjahr letztlich zum Erfolgs- oder eben Misserfolgsjahr macht. Was die Positionierung in diesem hart umkämpften Markt erleichterte, war stets der Umstand, dass die Themen nicht nur sachlich, sondern auch emotional sehr gut in diese Jahreszeit passten: Einsamkeit, Kälte, Dunkelheit, Wärme, Obdach. Im Jahr 2010 konnte eine sehr erfolgreiche Kampagne realisiert werden: An rund 100.000 Adressen waren Kälteschutzdecken als Give-away verschickt worden. Dieses in jeder Hinsicht passende Gadget generierte zwischen Dezember 2010 und Januar 2011 rund 1,8 Mio. Spendenfranken. Die Decke war in einen Cellophanumschlag eingewickelt, auf dem Deckblatt Pfarrer Sieber, in eine Decke eingewickelt und mit behandschuhtem Finger auf sich selber zeigend, abgebildet (vgl. Abb. 4.9). Die Botschaft war klar: Unterstützen Sie MICH, Pfarrer Sieber. In den Folgejahren wurde der Fokus in der Kampagne subtil von Pfarrer Sieber weg verändert: hin zum Obdachlosen, der in der Unterführung am Hardplatz bei Bier und Kerze sein Weihnachtsfest feiern muss, zum Obdach- und Wohnungssuchenden, zur Langzeit-Wohnungslosigkeit, also weg vom Pfarrer und hin zum Menschen in Not. Auch die Spendenkanäle wurden variiert: SMS-Spenden, Fernsehspots, Plakate. Die Spenderinnen und Spender wurden zunehmend als Aktive angesprochen. Für die Kampagne von 2017 „Schlafen an bester Lage“ wurden sie aufgefordert, an bester Lage, also an öffentlichen Plätzen, ÖV-Haltstellen, in Parks und auf oder unter Brücken, Botschaften für Obdachlose mit Kreide auf den Boden zu schreiben, zu fotografieren und zu posten. Für diese Aktion erhielt das Kommunikationsteam den Innovationspreis des Fundraising-Verbands (vgl. Abb. 4.10).

Abb. 4.9 Give-Away im Rahmen der Spendenkampagne 2010. (Quelle: Sozialwerk Pfarrer Sieber)

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Abb. 4.10 Werbeplakate zu den Spendenkampagnen 2013 bis 2018. (Quelle: Sozialwerk Pfarrer Sieber)

Die Frage, wofür die Organisation steht, deren Gründer sich schrittweise aus der operativen Tätigkeit zurückzog, stellte sich aber nicht nur gegenüber den externen Unterstützerkreisen, sondern musste auch für die Mitarbeitenden geklärt werden: Was muss drin sein, wo Pfarrer Sieber darauf steht? Im Sommer 2015 wurden angestellte und freiwillige Mitarbeitende gebeten, in einem Satz auszudrücken, was ihre Arbeit in ihren Augen wichtig und wertvoll macht. Von 180 brieflichen Einladungen zur Mitwirkung kamen immerhin 130 zurück, mit wirklich wunderschönen und bewegenden Sätzen. Diese Sätze haben wir über mehrere Schritte und Führungsstufen verdichtet, bis sieben zentrale Werte herausdestilliert werden konnten: Gerechtigkeit, Menschlichkeit, Menschenwürde, Augenhöhe, Wertschätzung, Demut, eingebettet in die christlichen Grundwerten Glaube, Liebe und Hoffnung. Dieser Wertekanon bildet in den Augen der Leitung und den Mitarbeitenden das Fundament für alle Leistungen und Aktivitäten der Sozialwerke Pfarrer Sieber.

4.8

Fazit

Im Jahr, das auf den endgültigen Abschied vom Stiftungsgründer folgte, durfte die Organisation eine positive Zwischenbilanz ziehen: Obschon das Aushängeschild fehlte, konnten erneut genügend Freiwillige für den „Pfuusbus“ gewonnen werden. Das Gönnerforum, das alle zwei Jahre im November angeboten wird, war innert weniger Tage ausgebucht. Die erste Sieber-Zeitung, die ohne Beteiligung des Stiftungsgründers produziert werden musste, erreichte ein erfreuliches Echo, und am 30. Dezember 2018 konnte die Stiftung bei den Spendeneinnahmen erstmals die Grenze von 8 Mio. überschreiten, bei einem budgetierten Zielwert von 7 Mio. Franken. Die Organisationsleitung war sich aber bewusst darüber, dass die Nagelprobe erst nach zwei Jahren anstünde, wenn auf die Euphorie des Entwicklungsschritts die Verstetigung einsetzt. Erst dann würde sich erweisen, ob die in den letzten Jahren eingeleiteten Maßnahmen auch langfristig greifen und nachhaltig sein

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würden. Letztlich ging es nicht ums Überleben, sondern ums Weiterleben. Als dann in den Folgejahren weitere Spendenzuwächse realisiert und die Grenze von 10 Mio. überschritten wurde, wuchs auch die Gewissheit: Die Transformation von einer unternehmerisch spontanen zu einer unternehmerisch professionellen Organisation war gelungen! Im Sommer 2018 gab sich die Organisation ein neues Logo: eine Bildmarke und eine kleine, aber entscheidende textliche Veränderung: Aus „Sozialwerke Pfarrer Sieber“ wurde „Sozialwerk Pfarrer Sieber“: Wir rückten zusammen, wir wurden eins. Wir sind Pfarrer Sieber.

Christoph Zingg leitete das Sozialwerk von Pfarrer Sieber von 2011 bis 2021. Seit seinem Einstieg hat er die Emanzipation des Werks von der starken Gründerfigur subtil, aber stetig vorangetrieben. Nach einer kaufmännischen Ausbildung im Baugewerbe hat er auf dem zweiten Bildungsweg die Matura nachgeholt und anschließend in Bern Theologie studiert. Nach 10 Jahren Pfarramt im Engadin engagiert er sich seit 2001 in der Großstadt-Diakonie, zuerst als Leiter der Zürcher Stadtmission, bevor er in die Stiftung SWS eintrat. Seit Ende 2021 ist Christoph Zingg als Pfarrer in der Region Cadì und Geschäftsführer der Fundaziun „Tür auf – mo vinavon“ mit Sitz in Disentis tätig.

Prof. Dr. Markus Gmür ist seit 2008 Direktor Forschung des Instituts für Verbands-, Stiftungs- und Genossenschaftsmanagement (VMI) sowie Inhaber des Lehrstuhls für NPO-Management an der Universität Freiburg in der Schweiz. Seine Schwerpunkte in Forschung, Weiterbildung und Beratung erstrecken sich über Führung und Organisation, Strategie und Governance sowie Personal- und Freiwilligenmanagement von Verbänden und anderen Non-ProfitOrganisationen. www.vmi.ch

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Die SOS-Kinderdörfer: Von der regionalen Aktivistengruppe zum weltweiten Netzwerk Wilfried Vyslozil und Wolfgang Kehl

Die SOS-Kinderdörfer unterhalten ein weltumspannendes Netzwerk von über 500 SOSKinderdörfern und zahlreichen Zusatzeinrichtungen in 137 Ländern. Der Auftrag der SOS-Kinderdörfer ist es, Kindern, die ihre Herkunftsfamilie verloren haben oder dem Risiko ausgesetzt sind, sie zu verlieren, einen sicheren Ort zu geben, an dem sie wieder Anschluss an die Gesellschaft sowie den Zugang zur Bildung finden. Die SOSKinderdörfer schaffen so wesentliche Voraussetzungen, damit Kinder und Jugendliche ihr Leben in dem Umfeld, in das sie hineingeboren worden sind, selbstständig meistern können. Ausgeführt wird dieser Auftrag in einem weltumspannenden Netzwerk von über 500 SOS-Kinderdörfern und zahlreichen Zusatzeinrichtungen in 137 Ländern der Erde. Wie schafft es eine Organisation dieser Größenordnung, die darüber hinaus föderal und nicht zentralistisch organisiert ist, immer wieder aufs Neue, innovativ, mobilisierend und mit dem erforderlichen Maß unternehmerischer Risikobereitschaft diesen Auftrag zu erfüllen und gleichzeitig eine große Zahl an Unterstützerinnen sowie Unterstützern zu motivieren, zu gewinnen und zu binden?

W. Vyslozil (B) · W. Kehl München, Deutschland E-Mail: [email protected] W. Kehl E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Erpf und M. Gmür (Hrsg.), Unternehmerische Führung und Kultur in Non-Profit-Organisationen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40983-8_5

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5.1

W. Vyslozil und W. Kehl

Das Start-up Hermann Gmeiners und seiner Weggefährten

Zu Beantwortung der Frage lohnt es sich, zurück zu den Ursprüngen im NachkriegsInnsbruck der späten 1940er Jahre zu gehen. Der Begriff „Start-up“, der wirtschaftsgeschichtlich relativ neu ist und zumeist außerhalb der Branche der NGOs angewandt wird, hilft weiter. Die Initiative des Gründers Hermann Gmeiner und seiner kleinen Schar an Mitstreiterinnen und Mitstreitern Ende der 40er Jahre des letzten Jahrhunderts erfüllt durchaus die Kriterien, die heutzutage mit „Start-ups“ assoziiert werden. Diese Kriterien sind in die DNA der Organisation eingeflossen, und es obliegt heute dem Management und den Mitarbeitenden der SOS-Kinderdörfer, diese DNA immer wieder abzurufen und zeitgemäß mit Inhalten zu befüllen. Gmeiner brachte die typischen Eigenschaften eines Start-up-Unternehmers mit: Bereitschaft, viel zu arbeiten und Verantwortung zu übernehmen; Optimismus und Glaube an die Möglichkeit des eigenen Erfolges; hohes Selbstvertrauen; Risikobereitschaft und die Fähigkeit, Rückschläge wegzustecken; hochgradige Motivation und Begeisterungsfähigkeit. Getrieben war Gmeiner von seinen ganz persönlichen Erfahrungen: Der frühe Verlust der eigenen Mutter, verbunden mit dem Konstrukt einer Ersatzfamilie, wie sie unter der Leitung seiner älteren Schwester dennoch einen sicheren Hafen für ein traumatisiertes Kind bieten kann (Gmeiner, 1989). Die eigene Verlusterfahrung hat Gmeiner angetrieben, für Kinder mit ähnlichem Bruch in der Biographie einen Familienersatz – und so ein Gegenmodell zu den üblichen kasernenartigen Einrichtungen für Waisenkinder zu schaffen.

5.2

Ein Start-up wofür?

Einen „Markt“ für diese Idee musste Gmeiner nicht erschließen, es gab ihn: Im Innsbruck der Nachkriegsjahre herrschten slumartige Wohnverhältnisse, oft mussten sich zehn Menschen einen Raum teilen (Schreiber & Vyslozil, 2001). Ein Drittel der österreichischen Kinder hatte kein eigenes Bett. Hunger und Armut beherrschten den Alltag. Zur ökonomischen Not kamen die psychischen Belastungen der Kriegs- und Nachkriegskinder angesichts der Erfahrung von Krieg und Zusammenbruch, angesichts veränderter Ideale, angesichts toter bzw. vermisster Väter und angesichts verwitweter oder lediger Mütter, die weit über die Grenzen des Erträglichen belastet waren. Auf der anderen Seite waren auch die staatlichen Behörden, Kirchen und Verbände mit der Aufgabe, diese Situation zu bereinigen, aus Mangel an Geld und Fachkräften heillos überfordert – oder schlichtweg unwillig, weil die betroffenen Kinder und Mütter an einem restaurativen Familienideal gemessen wurden, dem zu entsprechen ihnen schlichtweg unmöglich war. Kleinkriminalität, Bettelei oder Gelegenheitsprostitution passten nicht ins

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Bild. Es darf den Verantwortlichen unterstellt werden, dass es ihnen mehr um die Isolierung der Betroffenen von der Umwelt in mittelalterlich anmutenden Anstalten ging als um eine ressourcenaufwändige Begleitung der Kinder in Not. Eine Ausgangssituation, wie sie die SOS-Kinderdörfer auch heute noch an sogenannten sozialen Brennpunkten vorfinden (Abb. 5.1 und 5.2). Diese Ausgangssituation hat nicht nur Gmeiner, sondern auch seine Weggefährtinnen und Weggefährten angetrieben. Gmeiner war sicherlich die schillerndste Figur dieser Aktivistenschar mit der außerordentlichen Begabung, die Gruppe anzuführen (Schreiber & Vyslozil, 2001). Letztere bestand aus acht Leuten, unter ihnen Studierende der Medizin, Chemie oder Rechtswissenschaften (Schreiber & Vyslozil, 2001). Bemerkenswert für die damalige Zeit war der hohe Anteil an Frauen in der Gruppe um Hermann Gmeiner. Allen gemeinsam war, dass sie ihrerseits die erwähnten typischen „Gründer-Eigenschaften“ besaßen, ferner, dass sie noch in der Ausbildung waren. Und mittellos. In gewisser Weise gehörten die frühen Pioniere der SOS-Bewegung selbst zu den Entwurzelten, denen zu helfen sie angetreten waren – bis auf eine Ausnahme: Maria Hofer. Gmeiner hatte sie bei seiner Jugendarbeit im Innsbrucker Dekanat kennengelernt. Sie war zunächst eine der ganz wenigen sozialpädagogischen Fachkräfte bei SOS. Später sorgte sie beim Erwerb des Grundstücks bzw. beim Bau des ersten SOS-Kinderdorfs in Imst für das Startkapital: Sie ließ sich ihr Erbe ausbezahlen und investierte es in SOS. Nach

Abb. 5.1 Auslöser für die Initiative Hermann Gmeiners, die schließlich in ein weltweites Netzwerk der SOS-Kinderdörfer mündete, war das Schicksal von Kindern in Österreich unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Mädchen wie dieses im zerbombten Innsbruck waren oft auf sich allein gestellt. (Foto: SOS-Kinderdorf Hermann-Gmeiner-Akademie, Archiv)

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Abb. 5.2 In Syrien sind die SOS-Kinderdörfer eine der ganz wenigen Organisationen, die sich seit Ausbruch des Krieges bis heute um Kinder und Familien kümmern können. (Foto: Alea Horst)

heutiger Definition brachte sie das „Venture Capital“ ein und schuf somit zumindest eine erste, vorübergehende materielle Grundlage für die Organisation. Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die mittellose Gruppe um Gmeiner in Ermangelung externer Geldgebenden von Anbeginn an intensiv und kreativ Fundraising betreiben musste. Auch hier folgt SOS der „Start-up“-Logik: Finanzierung aus eigener Tasche am Anfang, danach Unterstützung aus dem Bekanntenkreis, schließlich Erschließung des „Marktes“. Als entscheidender Erfolgsfaktor für Start-ups wird heutzutage ein fruchtbares regionales Gründer-Ökosystem angeführt, das unter anderem aus dem Zusammenspiel von Talenten, erfolgreichen Unternehmerinnen und Unternehmern, Finanzierungsmöglichkeiten und bürokratiearmer Politik heraus entsteht.

5.3

Bewundert und belächelt

Hier war die Ausgangslage für Gmeiner und seine Gruppe zumindest zwiespältig: Einerseits schaffte Gmeiner es, durch sein Auftreten, sein Charisma und seine Beharrlichkeit, bei vielen Menschen Respekt, wenn nicht gar Bewunderung auszulösen. Andererseits standen die meisten Entscheidungstragenden (in der überwiegenden Zahl Männer) in Verwaltung und Politik Gmeiners Ideen sehr skeptisch gegenüber. Nur ganz vereinzelt, wie später im Falle des Bürgermeisters des Tiroler Marktfleckens Imst, der das Grundstück für das erste SOS-Kinderdorf zu Verfügung stellte, konnte SOS nach zähen Verhandlungen Vertrauen in und Unterstützung für das neue Betreuungsmodell gewinnen. In der Mehrzahl wurde SOS und vor allem auch Gmeiner selbst belächelt oder gar abgewiesen, obwohl

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anerkannt wurde, dass für die Betreuung von Waisenkindern und entwurzelten Familien ein riesengroßer Bedarf gegeben war. SOS fand sich in einem extrem konservativen und wenig innovativen Umfeld wieder. Aber auch innerhalb der Gruppe um Gmeiner musste noch geklärt werden, in welche Richtung das soziale Engagement von SOS eigentlich gehen sollte. Klar war, dass, wie Gmeiner stets wiederholte, „etwas für die Allgemeinheit getan werden muss“. Ob es sich um ein Hilfswerk für Waisenkinder mit einer entsprechenden Unterbringung handeln solle, um eine Vermittlungsstelle für Adoptiveltern, um eine Einrichtung zum Schutz lediger, junger Mütter oder um eine Arbeitsgemeinschaft von Fachleuten, bestehend aus Ärztinnen und Ärzten, Schwestern sowie Erzieherinnen resp. Erzieher, war lange diskutiert worden – genauso wie die Struktur von SOS, von der Gmeiner zunächst vorschwebte, sie nach dem Vorbild eines Ordens zu gestalten. Ebenso unklar war die Frage, wie die Mittel der Organisation gewonnen werden sollten. Es wurden „Frauenringe“ eingerichtet, in denen Mitstreiterinnen nach dem Prinzip von Multiplikatoren Kleinspenden bei Bekannten und Nachbarn gewinnen sollten. Auch hier erntete der neue Verein vielerorts zunächst ein mitleidiges Lächeln. Als sich die Gruppe darauf fokussierte, verlassenen Kindern eine Mutter und ein Zuhause zu geben, setzte diese Entscheidung auch beim Fundraising neue Energien frei. Gmeiner hatte erkannt, dass das soziale Engagement und das Fundraising nur dann ein Erfolg werden konnte, wenn rasch ein vorzeigbares Resultat erzielt wurde und man den Beweis erbrachte, dass die Gesellschaft effizient arbeitete und die Gelder sinnvoll verwendete. Deshalb wurde der Bau der ersten Häuser eines SOS-Kinderdorfes als Ziel ausgerufen. Die Idee zu einem Kinderdorf, in dem Waisen und vernachlässigte Kinder in einer Ersatzfamilie untergebracht werden, war hingegen nicht neu, sie hatte Vorläufer in anderen Ländern, vor allem in Form des Pestalozzi-Kinderdorfs in der Schweiz. SOS legte erfolgreich großen Wert auf die Idee, das eigene SOS-Kinderdorf als eine Tiroler Einrichtung zu beschreiben, die auch in der örtlichen Bevölkerung gut verwurzelt sei. In der Folge wurde SOS von anderen Kinderdorf-Trägern als Konkurrent angefeindet, allein SOS und allen voran Gmeiner blieben beharrlich dabei, sich von anderen Organisationen ähnlichen Charakters abzuheben. Hier zeigt sich ein weiteres typisches Merkmal von Start-up-Unternehmen: Autonomie genießt hohen Stellenwert.

5.4

Das Ziel: Eine breite Bewegung

Dieses Ansinnen, etwas Eigenes aufbauen zu wollen, verbunden mit den leeren Kassen der öffentlichen Hand und deren sehr skeptischen Entscheidungstragenden, haben dazu geführt, dass SOS von Anbeginn an kreativ mit der Frage nach Geld umzugehen gelernt hat. Zwar gab es vereinzelt wohlhabende Menschen, die Gmeiner mit seinem gewinnenden Auftreten überzeugen konnte, und die man heute als „Großspenderinnen resp.

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-spender“ bezeichnen würde, aber SOS hat sich schnell dazu entschieden, den Weg über kleine Spenden aus der breiten Bevölkerung zu gehen. Das diente dazu, die Idee tief in der regionalen Tiroler Bevölkerung zu verwurzeln, folgte aber auch der Logik, dass sich Kleinspenden aus dem Charakter einer „Bewegung“ heraus zu immer mehr Spenden addieren würden. Diese Bewegung sollte in einem zweiten Schritt helfen, verstärkt das Interesse wohlhabender Kreise zu wecken. Den Gedanken, SOS zu einer breit aufgestellten Bewegung zu verdichten, fasste Gmeiner so zusammen: „Zuerst kamen die Armen, dann die Rentner und Arbeiter. Später die Bürgerlichen und die Reichen“ (Gmeiner, 1989). Eine Art Grassroot-Bewegung also, deren Vorgehen sich im Nachhinein als logisch erwiesen hat. Die breite Spenderbasis ist bis heute ein stets wiederkehrendes Moment im Fundraising, der Anteil an kleinen Spenden macht bis heute die Mehrheit der Spenden aus. Neben Handzettelaktionen in Innsbrucker Kinos, durchgeführt von hoch motivierten Freiwilligen, neben dem Multiplikatoren-Prinzip der „SOS-Frauenringe“ gab es auch Versuche von Sammlungen, Postkartenverkäufen und Plakat-Aktionen, die mangels Genehmigung Ärger mit den Behörden auslösten. Rückblickend kann gesagt werden, dass hier auch Neid und Denunziantentum mitwirkten. Da SOS stets nachweisen konnte, dass die gesammelten Gelder tatsächlich gemäß den Statuten des Vereins eingesetzt wurden, verschafften diese Episoden den SOS-Kinderdörfern Publicity, die schließlich sogar positiv gesehen werden konnten. SOS wurde im April 1949 gegründet, im November des gleichen Jahres folgte die erste Weihnachtskarten-Aktion der SOS-Kinderdörfer. 40.000 Karten waren gedruckt worden, die Kosten wurden erst nach Monaten bezahlt. In einer Baracke am Innsbrucker Rennweg mit zwölf Bänken und Tischen machten freiwillige Jugendliche und Frauen aus dem Unterstützerkreis die Aussendungen fertig: Begleitbriefe mussten abgezogen und die Sendungen kuvertiert und postfertig gemacht werden. Es wurde Nächte lang durchgearbeitet. Diese Episode verdient deshalb Erwähnung, weil aus dieser Aktion heraus das Fundraising über Direct Mails entstand, das zur tragenden Säule der Spendenwerbung über die nächsten Jahrzehnte in vielen Ländern werden sollte.

5.5

Eine Bewegung der Jungen in konservativem Umfeld

Die Unabhängigkeit von öffentlichen Geldgebern im Nachgang dieser Aktion führt dazu, dass aus SOS damals eine „Nicht-Regierungsorganisation“ wurde. Die Politik wurde von Menschen gesetzteren Alters betrieben, das Land verfügte über keine hohen Budgets, und soziale Fürsorge war nicht das Geschäftsfeld, in das die öffentliche Hand zu investieren gewillt war. Den verkrusteten öffentlichen Strukturen, besetzt mit Menschen gesetzten Alters, stand mit SOS eine Organisation gegenüber, die aus jungen, begeisterten und innovativen Menschen bestand. Bei einer Feier im SOS-Kinderdorf Imst im Dezember 1954

5 Die SOS-Kinderdörfer: Von der regionalen …

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konnte deshalb nicht ohne Genugtuung festgehalten werden, dass das Kinderdorf in seinem fünfjährigen Bestehen trotz großer Verdienste um das Land Tirol keine öffentlichen Mittel in Anspruch genommen hatte. Die große Zurückhaltung der Politik und die leeren Kassen von SOS in den frühen Jahren bei gleichzeitigem Wunsch nach Autonomie haben auf die Organisation erheblichen finanziellen Druck ausgeübt, der sich über die Jahre hinweg zu einem bemerkenswerten Alleinstellungsmerkmal von SOS entwickelt hat: Noch heute ist es, wenn es um die Belange von Kindern im Sinne von Advocacy oder Programmarbeit geht, essentiell, unabhängig von einzelnen großen Geldgebern auftreten und handeln zu können. Damals wie heute hat das den Preis, sich immer wieder aufs Neue Rückhalt und finanzielle Mittel selbst erschließen zu müssen. So ist sichergestellt, dass SOS sich ausschließlich am Wohle der Kinder und nicht am Wohlwollen einflussreicher Unterstützender orientieren kann. Der Erfolg dieser ersten Spendenkampagnen beruht darauf, dass SOS sowohl in der Programmarbeit als auch im Auftreten in der Öffentlichkeit den Nerv der Tiroler Gesellschaft mit ihrer Werthaltung traf. Der Erfolg ist aber auch auf genaue Planung und gelungene Abwägung der Risiken durch die ganze Führungsriege von SOS zurückzuführen.

5.6

Durchbruch dank Direkt-Marketing

Im Gegenzug erweckten diese Erfolge auch Widerspruch bei Organisationen ähnlichen Zuschnitts außerhalb Tirols. SOS wurde vorgeworfen, mit aggressiven Werbemethoden auf den Markt zu gehen – ein Vorwurf, den seine Urheber im Laufe der Zeit selber konterkarierten, indem sie die Werbemethoden von SOS übernahmen. Dass sich das Fundraising via Direct Mail in den folgenden Jahren und Jahrzehnten bei vielen Organisationen in Österreich und anderen (europäischen) Ländern so erfolgreich entwickeln konnte, ist zum großen Teil in der Pionierarbeit der SOS-Kinderdörfer in Tirol begründet. Weihnachts- und Osterkarten, wie sie seit Jahrzehnten von vielen namhaften Organisationen zur Spendengenerierung verschickt werden, haben ihren Ursprung in der Baracke der SOS-Kinderdörfer, die damals als Büro der jungen Organisation diente. Bereits 1951 wurden 1,6 Mio. Weihnachtskarten an 400.000 Haushalte verschickt.

5.7

Die Kraft des Storytellings

Auch der „SOS-Kinderdorfbote“ entwickelte sich zum Klassiker des SOS-Fundraisings. Als vierteljährlicher Bericht enthielt er viele emotionalisierende Geschichten rund um das SOS-Kinderdorf, ein Zahlschein lag bei. Anfang 1954 gab es 70.000 Bezieherinnen und Bezieher, am Jahresende 130.000. Das kleine Heft dient noch heute als Musterbeispiel

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W. Vyslozil und W. Kehl

für Storytelling der damaligen Zeit, das es geschafft hat, nicht nur Spenden zu gewinnen, sondern ein tieferes Interesse der Menschen an den SOS-Kinderdörfern zu wecken. Noch heute gehört die Publikation in immer wieder angepasster Form zum Standard-Repertoire der Außendarstellung der SOS-Kinderdörfer. Das Fundraising der SOS-Kinderdörfer ist ein herausragendes Beispiel für die rasche Professionalisierung einer Organisation. Der Idealismus, der die Gründer angetrieben hatte, wurde mit einer steilen Lernkurve Schritt für Schritt in erfolgreiches unternehmerisches Handeln umgesetzt. Die Vielzahl der Aussendungen und der eingehenden Spenden hatten in den ersten Jahren ein umfangreiches Karteiwesen zur Folge. Es herrschten für heutige Begriffe vorsintflutliche Verhältnisse, alles musste händisch bearbeitet werden. Das Anfang der 60er Jahre eingeführte Lochkartensystem stellte bereits einen bedeutenden Fortschritt dar und hat die Bearbeitung wesentlich erleichtert. 1967 wurde erstmals eine EDV-Anlage angeschafft, und drei neue Mitarbeitende mit der geheimnisvollen Berufsbezeichnung „Programmierer“ wurden vorgestellt. SOS hat als eine der ersten Organisationen dieser Branche erkannt, dass die Adressen der Spendenden das eigentliche Kapital darstellten. Wenn heute in der Branche von Datenbanken, Auswertungen, Data Science und ähnlichem gesprochen wird, dann kann festgehalten werden, dass die SOS-Kinderdörfer schon von Anbeginn ganz besonders aktiv und erfolgreich auf diesem Gebiet gearbeitet haben (Abb. 5.3). Parallel dazu sind die SOS-Kinderdörfer in atemberaubender Geschwindigkeit über Tirol hinausgewachsen: Die Idee einer neuen Betreuung wurde in zwölf SOSKinderdörfern Österreichs umgesetzt, gleichzeitig nahmen die Aktivitäten internationale Dimensionen an. Deutschland, Frankreich und Italien waren die ersten „SOS-KinderdorfLänder“ außerhalb Österreichs. Vor allem in Deutschland traten die SOS-Kinderdörfer einen bemerkenswerten Siegeszug an: Vom Gegenwind der Politik und Verwaltung, wie SOS ihn in den Gründerjahren

Abb. 5.3 Gmeiners Werben mit einem Reiskorn für den Bau des ersten außereuropäischen Kinderdorfes in Korea war eine revolutionäre Idee des Fundraisings und Storytellings. Heute gilt es vor allem, auch auf dem Feld der digitalen Kommunikation und des Fundraisings die Rolle als Pionier aufrecht zu erhalten. (Fotos: SOS-Kinderdorf Hermann-Gmeiner-Akademie, Archiv)

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in Tirol erlebt hatte, konnte in Deutschland keine Rede sein. Die SOS-Kinderdörfer in Österreich dienten Gmeiner und seinen Weggefährtinnen resp. Weggefährten als Referenzprojekte für Deutschland, die über jeden Zweifel erhaben waren. Verglichen mit Imst war der Bau des ersten SOS-Kinderdorfes in Dießen am Ammersee im Jahre 1956 ein leichtes Unterfangen, das von breiter Zustimmung getragen wurde. In nur wenigen Jahren wurden in Deutschland 16 SOS-Kinderdörfer unter der Führung eines eigenen SOS-Kinderdorf-Vereins gebaut.

5.8

SOS wird international

Ab 1963 breiteten sich die SOS-Kinderdörfer über Europa hinaus aus (Gmeiner, 2003). Den Anstoß hierzu gab eine österreichische Entwicklungshelferin, die in Südkorea tätig war und anlässlich eines Heimaturlaubs Gmeiner die Situation in dem ostasiatischen Land schilderte. Mit Hilfe von Sponsoren reiste Gmeiner nach Südkorea und fand dort Verhältnisse vor, die an die Not im Nachkriegs-Innsbruck erinnerten. Der Kalte Krieg und die politische Großwetterlage weckten im Westen große Sympathien für Südkorea. Mit einer genialen Idee erreichten die SOS-Kinderdörfer eine neue Dimension des Fundraisings: In mehreren europäischen Staaten versandte SOS bunte Kärtchen, auf denen ein koreanischer Junge und eine große, gelbe Sonne abgebildet waren. In der Mitte befand sich auf jeder Karte ein Reiskorn, umrahmt mit den Worten „Reis bedeutet Leben, Glück, Gesundheit, Friede und Wohlstand“. SOS bat um den Gegenwert eines US-Dollar pro Reiskorn. Das Ergebnis war phänomenal: 450.000 Menschen gaben ihre Spende. Mit diesem Betrag konnte das erste außereuropäischen SOS-Kinderdorf in Daegu in der Nähe von Seoul gebaut werden. Weitere SOS-Kinderdörfer außerhalb Europas sollten rasch folgen. Dabei wurde deutlich, dass in diesen neuen Ländern keine Chance bestand, die dafür erforderlichen Mittel zu erwirtschaften. Das Geld musste also in Europa und anderen westlichen Industrienationen gewonnen werden. 1962 wurde in Vaduz der „Hermann-Gmeiner-Fonds“ gegründet, um in den wohlhabenden Ländern jene Mittel aufzutreiben, die für den Bau von SOSKinderdörfern in weniger wohlhabenden Ländern nötig waren. Um diesem Fonds eine breitere Plattform zu verschaffen, wurde er 1963/64 nach Deutschland verlegt – durchaus im Bewusstsein, dass dem bereits bestehenden deutschen SOS-Kinderdorf e. V. eine Konkurrenz im eigenen Land zur Seite gestellt wurde. Darüber hinaus war die Existenz zweier SOS-Vereine in einem Land mit juristischen Hürden verbunden und in der Öffentlichkeit durchaus erklärungsbedürftig. Der „Hermann-Gmeiner-Fonds Deutschland“ (HGFD) wurde später in „SOS-Kinderdörfer weltweit“ umbenannt, um seinen Satzungszweck als Förderverein für SOS-Projekte in aller Welt schon im Namen zum Ausdruck zu bringen. Nach diesem Vorbild wurden bis 1999, also 50 Jahre nach der Vereinsgründung in Innsbruck, 17 weitere internationale Fördervereine in Europa und den USA gegründet.

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Über 6,3 Mio. Menschen unterstützten die SOS-Kinderdörfer – die Idee, aus der Tiroler Initiative eine Bewegung zu machen, war aufgegangen. Die SOS-Kinderdörfer sind nach Korea 1963 in ganz Asien heimisch geworden. Eines der bedeutendsten Länder für die SOS-Kinderdörfer wurde Indien – ein Land, von dem Gmeiner anfangs glaubte, dass es aufgrund des Kastensystems nicht für SOS geeignet sei. 1967 begannen die SOS-Kinderdörfer, Mittel- und Südamerika zu erschließen. Österreicher und Deutsche, die mittlerweile in Südamerika lebten, riefen lokale Initiativen ins Leben mit dem Ziel, neue SOS-Kinderdörfer zu gründen. Darunter waren viele Angehörige der Kirchen, was auch zu Konflikten führte: Die Wertvorstellungen konservativer Kirchenkreise waren mit der Ideologie der SOS-Kinderdörfer nicht immer vereinbar. Konflikte mit der Kirche haben die SOS-Kinderdörfer immer wieder begleitet. Neben ideologischen Diskrepanzen bei Pädagogik und Wertevermittlung im Umgang mit Kindern war auch die Konkurrenz zwischen kirchlichen Trägern der Sozialfürsorge und den SOS-Kinderdörfern ein wesentlicher Faktor. Ab 1970 wurde der Fokus auf Afrika gelegt. Und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erfolgte ab 1991 eine besonders Akzentuierung in Osteuropa und Zentralasien (Abb. 5.4).

Abb. 5.4 Zentrale Botschaft der SOS-Kinderdörfer an die Betroffenen in unseren Programmen aber auch an die unterstützende Öffentlichkeit ist: „Jedem Kind ein liebevolles Zuhause.“ Der Bedarf an solch einem Zuhause hat sich angesichts weit verbreiteter Armut, zunehmender Umweltkatastrophen, Migrationsbewegungen und bewaffneter Konflikte nicht verändert. Die Fotos zeigen eine SOS-Kinderdorf-Mutter in Korea, wo in den 60er Jahren das erste außereuropäische SOSKinderdorf gebaut wurde (Foto: SOS-Kinderdorf Hermann-Gmeiner-Akademie/Archiv) und eine SOS-Kinderdorf-Mutter im SOS-Kinderdorf Jimma/Äthiopien (Foto: Lars Just).

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5.9

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Die SOS-Kinderdörfer als „Stille Größe“

Die finanziellen Mittel für diesen Siegeszug um die Welt zu beschaffen war die Aufgabe des HGFD. Erreicht wurde das Ziel vor allem über Direkt-Marketing. Das Storytelling hierzu war einfach: Einem Kind in einem SOS-Kinderdorf ein neues und liebevolles Zuhause zu geben, bedurfte keiner großen Erläuterung und war einleuchtend. DirektMarketing, das Verschicken von Spendenaufrufen und Informationen über die Arbeit der SOS-Kinderdörfer, war lange Zeit eine Art Monokultur. Die Bedingungen waren günstig: Die Herstellungskosten, das Porto und auch die Beschaffung immer neuer Adressen waren preiswert. Mit Direkt-Marketing erzielte der HGFD deshalb eine so immense Reichweite, dass Medienarbeit und PR lange Zeit als prestigeträchtig, aber nicht als zwingend erforderlich angesehen wurden. Die SOS-Kinderdörfer wurden in der Medienlandschaft als „Stille Größe“ wahrgenommen, die es gar nicht nötig hatte, wie andere Organisationen mit bezahlter Werbung um öffentliche Wahrnehmung zu heischen. Obwohl es keine großangelegte PR-Abteilung gab, war die Marke SOS mit seinem hellgrünen Logo, das zwei Kinder um ein wachsendes Bäumchen zeigt, bekannt wie keine zweite in diesem Sektor. Prominente Unterstützung, Events oder Sendezeiten im Fernsehen wurden auf der Basis persönlicher Beziehungen des Managements angebahnt. Externe Dienstleistende wie Agenturen gab es keine – außer den Druckereien für die Mailings. Auch die Mitarbeitenden zogen ihre Motivation aus dem Wachstum der Organisation: Jedes Jahr konnten sich alle über die Eröffnung mehrerer neuer SOS-Kinderdörfer freuen. Man konnte sich zurecht als teilhabend und mitwirkend an diesem Erfolg fühlen. Viele Mitarbeitende hatten ihre Lieblingsprojekte, je nach eigener Herkunft oder persönlichen Interessen. Das sehr erfolgreiche Fundraising dieses Zuschnitts hatte man selbst erfunden, und zuerst mit Stolz, später durchaus mit gebotener Aufmerksamkeit, konnten die Kolleginnen und Kollegen des HGFD mitverfolgen, wie andere Organisationen versuchten, dieses SOS-Erfolgsrezept zu kopieren.

5.10

Innovation im Fundraising

Ab Mitte der 1990er Jahre wurde klar, dass sich auch die SOS-Kinderdörfer neue oder zumindest erweiterte Strategien für die Zukunft würden ausdenken müssen. Die Gründe hierfür sind vielfach: Die Konkurrenz auf dem Markt hat das Erfolgsrezept der SOS-Kinderdörfer übernommen, der Wettbewerb nahm zu – bei gleichzeitig steigender Zahl der Organisationen auf dem Spendenmarkt. Der Kampf um die Gunst oder auch nur um den Zugang zu Spenderinnen und Spender wurde energischer. Ab der Jahrtausendwende stiegen auch die Kosten für das Direkt-Marketing: Die Produktion wurde teurer, der Zugang zu einer sinkenden Anzahl von verfügbaren Adressen wurde beispielsweise durch Datenschutzregelungen aufwändiger, das Porto wurde besteuert.

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Vor allem aber: Das Verhalten im Spendenmarkt hat sich in dem Maße verändert, in dem die nachwachsende Generation nicht mehr über Briefe, sondern auf digitalen Kanälen kommuniziert. Nicht nur die Kommunikation, sondern auch das Konsumverhalten veränderte sich tiefgreifend. Das Zeitalter des Internets und weiterer neuer Kommunikationsformen hatte begonnen. Das Stammkapital der SOS-Kinderdörfer, die Adressen nämlich, mussten unter diesen sich wandelnden Bedingungen noch einmal neu beleuchtet werden. Die Kernkompetenz der SOS-Kinderdörfer, die erfolgreiche Kommunikation mit den Unterstützenden, musste erweitert werden.

5.11

Ein neues Standbein des Fundraisings

Die Analysen in der Datenbank, die Vorbereitungen der Kampagnen sowie die Auswertungen der Ergebnisse wurden nochmals verfeinert. Neue Zielgruppen wurden definiert. Vor allem Spendende, die sich besonders großzügig gezeigt hatten, wurden zu einer neuen Gruppe der „Großspenderinnen und Großspender“ systematisch zusammengefasst. Für diese Zielgruppe wurde ein eigener Zweig des Fundraisings aufgebaut, der sich seither der intensiven Betreuung dieser Menschen widmet. Im Laufe dieser Entwicklung fand eine Diversifizierung statt: Aus dem einen großen Fundraising, das die unzähligen Haushalte angesprochen hat, wurden zwei Standbeine: Zum einen die Haushalte, die bisher schon angesprochen wurden. Zum anderen die intensivierte Einzelbetreuung besonderer Zielgruppen, mittlerweile unter dem Titel „Leadership Giving“ zusammengefasst. Sie umfasst Großspenderinnen und -spender, Stiftungen, Öffentliche Geldgeber und Kooperationen mit Firmen. Das ist von der Grundqualität her nicht neu, bereits Gmeiner hat ein Netzwerk mit Gönnern, Unternehmern und Vertretern aus Verwaltung und Politik aufgebaut. Neu ist die Intensität und Systematik, mit der die SOS-Kinderdörfer inzwischen auf diesem Gebiet tätig sind. Ausgehend von der Erkenntnis der ersten Stunde, dass Informationen und Daten über die Unterstützerinnen und Unterstützer das Stammkapital des Fundraisings darstellen, haben die SOS-Kinderdörfer diese bewährte Philosophie auf neue Wege gebracht: Die deutschsprachigen Vereine („SOS-Kinderdorf e. V.“, „SOS-Kinderdorf Österreich“ und der „HGFD/SOS-Kinderdörfer weltweit“) haben in Innsbruck 2001 die Tochterfirma „Joint Systems“ gegründet; der „Schweizer Kinderdorf-Verein“ kam ein Jahr später dazu. Was mit Gmeiners ersten Computer 1967 begonnen hatte, erreicht hier eine neue Dimension. Joint Systems ist ein internationales Dienstleistungsunternehmen mit Schwerpunkt Marketing und Informationssystem im Non-Profit-Bereich. Als Tochtergesellschaft der SOS-Kinderdörfer liefert Joint Systems einen nachhaltigen Beitrag zur Unterstützung des Fundraisings. Zum Portfolio gehören Auswertungen, Spenderbewertungen, Benchmarkingstudien, Projektleitung, Testberatung, Abgleiche, Selektionen und vieles mehr. Wie Synergieeffekte und spezielle Anwendungsbedürfnisse umgesetzt werden konnten, zeigt

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die Programmierung des neuen CRM-Systems FRNow: Kein Anbieter auf dem Markt konnte den SOS-Kinderdörfern ein akzeptables Preis-Leistungsverhältnis bieten, sodass Joint Systems dieses neue System selbst programmiert hat. Es ging 2016 live. Wie kaum eine zweite NGO haben die SOS-Kinderdörfer das Know-how rund um Daten auf derart professionellen Weise innerhalb der Organisation platziert. Die Diversifizierung des Fundraisings bezog sich aber nicht nur auf eine spezifischere Betreuung einzelner Marktsegmente, sie bezog sich auch auf den Einsatz neuer Kanäle. Seit dem Jahrtausendwechsel sind das vor allem die digitalen Kanäle, zunächst das Internet, nachfolgend diverse Social-Media-Kanäle.

5.12

Neue Wege der Spenderbindung

Die Marktentwicklung und ein zunehmender Kostendruck haben 2012 zu einer Strategieanpassung geführt: Weg von Einzelspenden, von denen jede einzeln durch Marketingmaßnahmen angetriggert werden musste, hin zu einem Dauerengagement der Unterstützerinnen sowie Unterstützer in Form von Patenschaften und anderen Committed-GivingProdukten. Das hat die Anzahl der inzwischen kostenintensiv gewordenen Mailings drastisch reduziert: 2008 hat der HGFD 22 Mio. Mailings verschickt, 2018 waren es noch 11,4 Mio., also gut die Hälfte. Die Fokussierung auf Dauerengagements hat auch Neuerungen bei der Neuspendergewinnung nach sich gezogen: Bei Face-to-Face-Kampagnen werden erfolgreich jüngere Menschen, die nicht mehr auf Mailings reagieren, für ein langfristiges Engagement zugunsten der SOS-Kinderdörfer gewonnen. Dieser Ansatz wurde im weiteren Verlauf mit Door-to-Door-Kampagnen erweitert. Beide Varianten der Neuspendergewinnung sind inzwischen branchenüblich. Bei den SOS-Kinderdörfern gehören sie zu den Themenfeldern mit der höchsten Wachstumsrate. Die Diversifizierung des Fundraisings im Zeitalter des Generationenumbruchs und der völlig neuen Kommunikationsmöglichkeiten umfasst nicht nur Zielgruppen und Kanäle, sondern auch die weitere Aufbereitung der Kernbotschaft aus den Gründerjahren. Das zentrale Anliegen, nämlich die Fürsorge um das verlassene Kind, fand Eingang in den Claim „Jedem Kind ein liebevolles Zuhause“. So sehr dieser berührende Satz im Kern erhalten bleibt, so sehr muss beim Storytelling darauf geachtet werden, dass der Anspruch der SOS-Kinderdörfer die Menschen auch bei deren eigener Grundmotivation abholt: Braucht jemand, der sich für das Anliegen von SOS begeistern soll, eher Fakten und Wirkungsnachweise? Reicht ihm ein knapper, aufrüttelnder Aufruf zur raschen Unterstützung? Möchte sie emotional tiefer in die Welt der SOS-Kinderdörfer mit ihren immer wieder berührenden Geschichten eintauchen? Die Faszination dessen, was für Kinder und Jugendliche geleistet werden kann, kann in vielen verschiedenen Schattierungen dargestellt werden. Unterstützt wird die immer wieder neue Ausgestaltung des Markenkerns von einer engen Markenführung. Das „liebevolle Zuhause für jedes Kind“ wird aufgeschlüsselt in

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zwei wesentliche Bestandteile gesunder kindlicher Entwicklung: Das Vorhandensein tragfähiger und vertrauensvoller Beziehungen als Garant für Geborgenheit. Und aus dieser Geborgenheit heraus das Selbstvertrauen des Kindes, sich seine Welt neugierig selbst zu erschließen – Bildung im weitesten Sinne des Wortes. Bindung, Bildung und die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit sind die Elemente einer wünschenswerten kindlichen Entwicklung und werden als solche kommuniziert. Die klare Positionierung der frühen Jahre der SOS-Kinderdörfer wird somit aufrechterhalten.

5.13

Der Nachhaltige Pfad

Der Generationenwechsel und der Strukturwandel auf dem deutschen Spendenmarkt werden begleitet von den Auswirkungen der Globalisierung auf das gesamte weltweite Netz der SOS-Kinderdörfer. Länder, die noch vor wenigen Jahren zu den klassischen Empfängerländern gehörten sind heute mindestens Schwellenländer, in denen einerseits die Lebenshaltungskosten steigen, andererseits aber auch genügend eigene Wirtschaftskraft gegeben ist. Prominente Beispiele hierfür sind China, Brasilien, Indien und Russland. In den drei erstgenannten Ländern gibt es eine große Zahl von SOS-Kinderdörfern, deren Unterhalt von Europa aus zu bestreiten gleichsam schwierig wie unlogisch ist. Demgegenüber gibt es Länder, die auch mittelfristig nicht an Wirtschaftskraft zulegen werden, Beispiele hierfür sind die Länder der Sahelzone. „SOS-Kinderdörfer weltweit“ in München haben dieser Entwicklung Rechnung getragen und 2012 für die gesamte Föderation der SOS-Kinderdörfer den „Sustainable Path“ (nachhaltiger Pfad) angestoßen: SOSVereine in Schwellenländern werden darauf vorbereitet, dass sie nach einer Übergangsfrist von einigen Jahren durch eigenes Fundraising ihre laufenden Kosten selber tragen. Somit werden europäische Fördervereine wie „SOS-Kinderdörfer weltweit“ von explodierenden Unterhaltskosten entlastet und können gleichzeitig Mittel für Projektländer umschichten, die ohne Unterstützung von Europa ihre Projekte nicht aufrechterhalten können. Weitere freiwerdende Mittel werden in den Aufbau von Fundraising-Kompetenzen in den Ländern investiert, die angehalten sind, ihre Kosten mittelfristig selbst zu tragen. Die SOS-Vereine in Argentinien, Russland oder Thailand, die mit Patenschaften und Faceto-Face-Kampagnen ein steiles Wachstum verzeichnen, sind ein gutes Beispiel für die flexible Anpassung an den weltweiten Strukturwandel. Dem euphorischen Wachstum der SOS-Kinderdörfer von den 1960er bis zu den Nullerjahren steht somit eine Konsolidierungsphase gegenüber. Dabei wird auch überprüft, ob der Bedarf bestimmter SOS-Einrichtungen immer noch gegeben ist, oder ob die einst ausschlaggebenden Standortkriterien wie zum Beispiel Armut nicht längst überholt sind. Manches in den 1970ern in ärmlicher Umgebung gegründete SOS-Kinderdorf wurde zum Kristallisationspunkt lokal-urbaner Entwicklung und liegt nunmehr in einer prosperierenden Siedlung, in welcher der Bedarf an einem SOS-Kinderdorf nicht mehr gegeben ist. In

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einigen Ländern hat sich auch die Gesetzgebung der Jugendwohlfahrt so geändert, dass der Betrieb eines SOS-Kinderdorfes nicht mehr möglich ist. Demgegenüber hat SOS das Portfolio seiner Programme erheblich erweitert: Längst geht es nicht mehr ausschließlich darum, Kindern, die ihrer Herkunftsfamilie verlustig gingen, zu betreuen, sondern auch Herkunftsfamilien so durch Bildungsprogramme, Beratungsangebote und finanzielle Unterstützung zu stabilisieren, dass die Familie erhalten werden kann und der Bedarf einer Unterbringung des Kindes in einer SOS-Einrichtung oder einer anderen Form der langfristigen „Fremdunterbringung“ gar nicht erst entsteht. Diese Idee ist insofern nicht neu, als Gmeiner in der Gründungszeit über derartige Ansätze nachgedacht hatte, dann aber den Fokus auf das Kinderdorf gelegt hat. Die Fortentwicklung dieser Idee in den letzten 20 Jahren ist demgegenüber nicht „top-down“ geschehen, sondern wurde von SOS-Vereinen in verschiedenen Ländern schrittweise eingeführt und „bottom-up“ ins Programmportfolio der Organisation aufgenommen. Es sind vor allem diese Programme, verbunden mit Bildungsinitiativen, die gute Chancen haben, von öffentlichen Geldgebern unterstützt zu werden. Die Etablierung neuer Programmansätze geht hier einher mit der Erschließung neuer Fundraising-Potenziale, vor allem im Leadership-Giving.

5.14

Digitalisierung als Chance

Die Diversifizierung des Fundraisings und die Anpassung der Programmarbeit der SOSKinderdörfer sind zwei Beispiele dafür, wie die SOS-Kinderdörfer dem Wandel der Rahmenbedingungen Rechnung tragen, ohne dabei ihr ursprüngliches Wesen zu verlieren. Der nächste Strukturwandel ist bereits in vollem Gange: die Digitalisierung, unter der hier nicht nur die Übertragung analoger Informationen auf digitale Technologien verstanden werden soll, sondern eine radikale Veränderung bei Arbeits- und Kommunikationsprozessen innerhalb eines Vereins bzw. einer weltumspannenden Föderation. Umstrukturierungen, Redundanzen von früher Wichtigem, neue Zuständigkeiten werden nur schwer absehbare neue Anforderungen an die Mitarbeitenden der SOS-Kinderdörfer stellen. Nicht wenige bisherige Funktionen werden obsolet werden, noch mehr neue werden hinzukommen. Die Rolle des Fördervereins als Bindeglied zwischen Unterstützerinnen, Paten und Spenderinnen einerseits und den Begünstigten in den Programmen andererseits wird neu ausbalanciert, wenn nicht gar neu definiert werden müssen. Was passiert beispielsweise, wenn Unterstützerinnen resp. Unterstützer das SOS-Programm ihrer Wahl direkt, online und ohne Vermittlung durch den Förderverein auf digitalen Kanälen unterstützen wollen? Innerhalb der SOS Föderation wird ein Förderverein wie „SOS-Kinderdörfer weltweit“ mit seinem ausgeprägten Know-how ein wichtiger Bestandteil sein. Von der Erfahrung, wie sie in den oben beispielhaft angeführten Strategieanpassungen beschrieben wurden, wird die Föderation auch auf lange Sicht profitieren können. Ferner verstehen sich die

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SOS-Kinderdörfer weltweit als ein Impulsgeber, der im Sinne der frühen Dynamik immer wieder Neuerungen auslösen wird.

5.15

Transparenz und Wirksamkeit

Nach außen werden die SOS-Kinderdörfer weltweit auch dann noch der Treuhänder unserer Qualitätsarbeit sein, wenn Unterstützerinnen und Unterstützer Projekte direkt und ohne Vermittlung der SOS-Kinderdörfer weltweit fördern wollen – abgesehen davon, dass diese Treuhänderschaft in der Beziehungspflege mit Großspenderinnen, Stiftungen und öffentlichen Geldgebern auf unabsehbare Zeit gebraucht werden wird. Die Verlässlichkeit unseres Engagements zugunsten von Kindern und Jugendlichen wird dabei unterstützt von Nachweisen der Transparenz im Umgang mit anvertrauten Finanzmitteln. Diese Nachweise werden unter anderem durch Wirtschaftsprüfungen sowie durch die Verleihung des DZI (Spendensiegel des Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen) erbracht. Ebenso wird es verstärkt darauf ankommen, die Wirksamkeit unseres Engagements nachzuweisen. Von SOS mit externen Partner initiierte Studien zur Wirksamkeit der Arbeit der SOSKinderdörfer zeigen schon heute, dass die Unterstützung einzelner Kinder oder Familien auf das gesamte Umfeld des Kindes bzw. der Familie ausstrahlt und so ein nachhaltiger Effekt eintritt, der über die Verbesserung des Lebenswegs eines Kindes weit hinausreicht. Dabei wird wie auch in der Vergangenheit deutlich, dass das Anliegen der SOSKinderdörfer weit über die individuelle Unterstützung von Kindern und Familien hinausreicht: Es geht um Werte. Entstanden ist dieser Anspruch an Werten und deren Implementierung zu einer Zeit, als die Folgen der zivilisatorischen Katastrophe des Zweiten Weltkrieges an jeder Ecke zu greifen waren. Getragen haben diese Werte über lange Jahrzehnte – und heute haben sie im Zeitalter auseinanderdriftender Gesellschaften neue Aktualität erreicht.

5.16

Die Stärken der Marke „SOS“

Einige Charakteristika der SOS-Kinderdörfer, die, wie eingangs beschrieben, in die DNA der Organisation eingegangen und 70 Jahre später immer noch wirkungsmächtig sind, seien hier noch einmal zusammengefasst: • Der „Markt“ für das Anliegen der SOS-Kinderdörfer ist damals wie heute gegeben: Kinder bleiben auf sich selbst angewiesen zurück, leiden Not in ihrer Herkunftsfamilie, entbehren eines sicheren Zuhauses und sind von der Einbindung in ihrer Gesellschaft ausgeschlossen.

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• Der Ansatz, diesen Kindern über den Bruch ihrer Biographie hinwegzuhelfen, war damals neu, um nicht zu sagen unorthodox. Auch heute wird darauf geachtet, ob das Angebot für die Kinder noch den Bedürfnissen und Möglichkeiten entspricht oder erweitert bzw. neu aufgesetzt werden muss. Daraus ist eine Vielzahl von Begleitmöglichkeiten für das bedrohte Kind entstanden. • Das Engagement für diese Kinder setzt ein hohes Maß an Zivilcourage voraus. Sei es in Krisengebieten; sei es, weil die Versuchung der umgebenden Gesellschaft, diese Kinder „auszublenden“ groß ist; sei es, weil die betroffenen Kinder nicht überkommenen kulturellen Vorstellungen entsprechen (z. B. unehelich geborene Kinder); sei es, weil Kinder aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Herkunft oder ihrer Religion diskriminiert werden. • Demgegenüber ist die soziale Anerkennung des zivilgesellschaftlichen Engagements der SOS-Kinderdörfer auch sehr hoch. • Die SOS-Kinderdörfer treten nicht nur für einzelne Menschen ein, sondern verkörpern dabei Werte der Zivilgesellschaft. Das Stammkapital der SOS-Kinderdörfer besteht aus: • inzwischen über Jahrzehnte hinweg erworbene Expertise bei der Betreuung und Begleitung von Kindern, die längst wissenschaftlich anerkannt ist und immer weiter fortgeschrieben wird; • engen Beziehungen zu den Unterstützern, die der Marke SOS mit großem Vertrauen begegnen; • einer Vielzahl von Informationen (Daten) über die Unterstützer, die es ermöglicht, diese Beziehungen zu unterhalten bzw. anzupassen; • (wahrhaftiges) Storytelling, das die Verlässlichkeit, Faszination und emotionale Kraft unserer Organisation sowohl nach innen als auch nach außen transportiert; • hohe Autonomie der Organisation. Dies betrifft politische Beziehungen aber auch die Befähigung zum eigenen Entscheiden und Handeln: Das Wissen um die entscheidenden Themen wurde und wird immer in der eigenen Organisation gepflegt und ausgebaut. Es sind dies vor allem das Wissen um die Betreuung der Kinder, die interne und externe Kommunikation und das Fundraising einschließlich der dahinterliegenden Daten. Dieses Wissen muss innerhalb der Organisation gepflegt und verbreitet werden. Es darf beispielsweise nicht an Agenturen ausgelagert werden.

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5.17

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Der „Faktor“ Mensch

Aus dem „Start-up“ der späten 1940er Jahre ist ein weltumspannendes Netzwerk zivilgesellschaftlichen Engagements geworden. Der auch in schwierigen Zeiten anhaltende Erfolg der SOS-Kinderdörfer weist eine ganze besondere Konstante auf: das Engagement und die Motivation der Mitarbeitenden. Der unbedingte Wille zur Veränderung sozialer Missstände ist zwar ganz besonders von Hermann Gmeiner verkörpert worden. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine Weggefährtinnen und Weggefährten ebenso hartnäckig und ausdauernd an der Definition des Organisationsziels mitgearbeitet und dieses dann gegen vielfältige Widerstände auch umgesetzt haben. Das Gleiche gilt für die vielen Freiwilligen, ohne die die schnell wachsenden Fundraising-Aktionen nicht zu stemmen gewesen wären. Eine hohe intrinsische Motivation aller Beteiligten war ein wesentlicher Garant für den Erfolg. Er ist es auch heute noch. Bei praktisch jedem Einstellungsgespräch begründen Bewerberinnen und Bewerber ihre Motivation mit den Worten: „Ich möchte etwas Sinnvolles machen.“ Nicht wenige davon haben zuvor in der sogenannten Freien Wirtschaft gearbeitet und sind dabei quantitativen Zielvorgaben gefolgt. Das scheint viele Menschen nicht (mehr) zu befriedigen. Zwar gibt es auch bei den SOS-Kinderdörfern Einnahmenplanungen und -ziele, sie sind aber kein Selbstzweck, sondern dienen in erster Linie der Planung und Ausgestaltung der Programme, in denen für Kinder, Jugendliche und Familien eine große Verantwortung übernommen wird. Gmeiners Team hatte unmittelbaren Kontakt zum Erfolg des eigenen Tuns. Das ist heute in einer großen Föderation signifikant anders: Wer auf dem deutschen Markt Fundraising betreibt, hat nicht zwangsläufig Kontakt zu den Projekten, die damit unterstützt werden. Es ist also eine wesentliche Aufgabe für das Management und die Personalführung bzw. Personalentwicklung, eine Nähe zwischen der eigenen Arbeit der Mitarbeitenden und dem Ergebnis für Kinder und Jugendliche herzustellen. Es ist ferner eine wichtige Aufgabe, die hohe Grundmotivation, mit der Menschen bei SOS einsteigen, aufrechtzuerhalten. Und es ist die Aufgabe der Organisation, Angebote zu schaffen, damit sich die Mitarbeitenden mit den Werten der Organisation identifizieren können und über die Programme für Kinder hinaus die Dimension der SOS-Kinderdörfer als zivilgesellschaftlich prägende Kraft verinnerlichen können (Abb. 5.5). Die Identifikation der Mitarbeitenden mit Zielen und Werten der Organisation wird durch gezielte Personalentwicklung gefördert: Es gibt Markentrainings und Einführungstage, „Study Tours“ in ausgewählte Projekte, in deren Nachgang Mitarbeitende über ihre Begegnungen in den Programmen berichten. Und es gibt ein „Harvesting“, bei dem langjährige Mitarbeitende aus verschiedenen Ländern jüngeren Mitarbeitenden zum Austausch begegnen. Bemerkenswert ist auch die Alterskurve der Mitarbeitenden bei den SOSKinderdörfern: Gmeiner und seine Gefährtinnen resp. Gefährten waren Studierende (die

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Abb. 5.5 Supervisionen und Erfahrungsaustausch unter Mitarbeitenden werden bei den SOSKinderdörfern groß geschrieben – nicht nur bei Mitarbeitenden, die mit unseren Leistungsempfänger_innen arbeiten, sondern auch in Verwaltung, Fundraising, Personalentwicklung und vielem mehr. (Foto: Emil Steixner)

wegen ihres jugendlichen Alters oft genug belächelt wurden). Wer demgegenüber als Vierzigjähriger um die Jahrtausendwende zu den „SOS-Kinderdörfern weltweit“ stieß, durfte sich einer Minderheit der sehr Jungen zugehörig fühlen. Angesichts eines Generationenwechsels und angesichts des immens gestiegenen Bedarfs an Fachwissen für neue Technologien und Strategien ist der Altersdurchschnitt inzwischen wieder auf 45 Jahre gesunken. Auch die seinerzeit auf Gmeiner sehr hierarchisch zugeschnittene Organisationsstruktur hat sich gewandelt. Die Hierarchien wurden stark verflacht, Führungsverantwortung auf viele, auch jüngere Schultern verteilt. Innovation wird nicht top-down verordnet, sondern bottom-up, zum Beispiel bei Innovations-Wettbewerben, eingefordert. Gmeiner hat vom Pioniergeist der Frauen seiner Bewegung sehr profitiert, allerdings blieb der Zugang zu Entscheidungspositionen den Frauen lange verwehrt. Bei den SOSKinderdörfern weltweit werden derzeit fünf von neun Bereichen von Frauen geleitet. Eine Belegschaft, die in ihrer soziodemographischen Zusammensetzung das Gesamtbild der sie umgebenden Gesellschaft spiegelt, die Möglichkeit, das Vorgehen der SOS-Kinderdörfer proaktiv mitzugestalten, eine zivilgesellschaftlich relevante und sinnstiftende Aufgabe sowie ausgeprägtes Fachwissen innerhalb der Organisation tragen dazu bei, das Anliegen der SOS-Kinderdörfer immer wieder mit neuer Energie aufzuladen und voranzutreiben.

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Literatur Gmeiner, H. (1989). Eindrücke, Gedanken, Bekenntnisse (7. Aufl.). SOS-Kinderdorf-Verlag. Gmeiner, H. (2003). Die SOS-Kinderdörfer (40. Aufl.). SOS-Kinderdorf-Verlag. Schreiber, H., & Vyslozil, W. (2001). Die Dynamik der frühen Jahre. SOS-Kinderdorf-Verlag.

Wilfried Vyslozil war von 2008–2021 als Vorstand des „SOSKinderdörfer weltweit e. V. – Hermann Gmeiner Fonds Deutschland“ aktiv. Davor leitete er 15 Jahre lang den Verein „SOSKinderdorf“ in Österreich. In seiner früheren Forschungs- und Lehrtätigkeit an den Universitäten Linz und Innsbruck sowie der CEU Business School (NMC) lag sein Schwerpunkt auf Social Management und Organizational Change.

Wolfgang Kehl, (Jahrgang 1961) arbeitet seit 2000 beim „HermannGmeiner-Fonds Deutschland/SOS-Kinderdörfer“ weltweit. Zuvor Ausbildung zum Journalisten bei Tageszeitungen, Studium der Orientalistik, berufliche längere Auslandsaufenthalte in Bulgarien, Iran, Jemen, Russland. Bei SOS zunächst im Bereich „Kommunikation und Medien“ seit nunmehr über zehn Jahren verantwortlich für den Fundraising-Bereich „Freunde und Paten“. Schwerpunkt seiner Arbeit ist das „Storytelling“ in Theorie und Praxis.

Teil III Unternehmertum in der Sozialen Integration

Der dritte Teil widmet sich NPO, welche die soziale Integration in den Fokus ihres Wirkens stellen. Ausgangspunkt ist eine Studie, die eine Befragung von 257 Sozialunternehmen vornimmt (Kapitel 6: Unternehmerische Führung in Schweizer Sozialen Organisationen). Diese schweizerischen Organisationen fördern Integration in den Bereichen Wohnen, Arbeit sowie Bildung und bieten Beratungsdienstleistungen für ihre Klientinnen und Klienten an. Die Studie zeigt auf, dass Organisationen mit einer profilierten Unternehmerischen Führung und Kultur erfolgreicher sind als solche, die weniger stark veränderungsund marktorientiert ausgerichtet sind, weniger Risiken eingehen und ihre Mitarbeitenden weniger stark einbeziehen. Diese Erkenntnisse werden gestützt und illustriert anhand von fünf Fallstudien: Im Fallbeispiel der Stiftung Wendepunkt wird aufgezeigt, wie über eine ausgeprägte Umsetzung der Dimensionen der Unternehmerischen Führung und Kultur ein großes Bauprojekt entstehen kann, das verschiedenste Formen der Integration ermöglicht (Kapitel 7: Stiftung Wendepunkt: Wie aus Unternehmerischer Führung und Kultur ein integrativer Lebensraum entsteht). Der sogenannte Wendepark fördert die soziale und berufliche Integration mit einem ganzheitlichen Ansatz, der sich insbesondere durch die aktive Gestaltung gemeinschaftsfördernder Angebote, die partizipative Kultur und das kostenattraktive Bauen auszeichnet. Ziel dabei ist ein respektvolles Zusammenleben von Ethnien und Generationen aus unterschiedlichen sozialen Gesellschaftsschichten. Die zweite Fallstudie der Stiftung Lebenshilfe (Kapitel 8: Stiftung Lebenshilfe: Krise als Basis für eine konsequente Bedarfsorientierung – Umsetzung von vier Strategiezyklen) ist gleich in mehrfacher Hinsicht interessant. Die Organisation setzte proaktiv auf die Berufsausbildung und Arbeitsintegration von Kindern mit Unterstützungsbedarf, lange bevor die Eingliederungsmaßnahmen der Invalidenversicherung eingeführt wurden. Sie geriet aufgrund von politischem Druck unter Legitimationsdruck, reagierte jedoch antiintuitiv auf die Krise in selbstbewusster Manier indem sie eine Expansionsstrategie verfolgte: Bedarfslücken wurden geschlossen, die Infrastruktur erneuert und erweitert und das Arbeitsangebot vergrößert. Heute ist die Stiftung Lebenshilfe eine Sozialfirma mit zweifachem sozialem Auftrag, und ihre breite Palette an Dienstleistungen sind den marktwirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten wie Kosten- und Termindruck sowie

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Teil III: Unternehmertum in der Sozialen Integration

einer schwankenden Auftragslage beziehungsweise Kundinnen- und Kundennachfrage ausgesetzt. Die dritte porträtierte Organisation ist die Gesellschaft für Arbeit und Wohnen (Kapitel 9: Unternehmerisches Handeln im regulierten Markt – dargestellt am Beispiel der gaw), die für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen Angebote im Bereich Arbeits- und Wohnintegration zur Verfügung stellt. Sie behauptet sich in der freien Marktwirtschaft und ist somit möglichst nahe am ersten Arbeitsmarkt. Das Kapitel illustriert, dass dies vor allem über eine ausgeprägte Unternehmerische Führung und Kultur möglich ist: Die Innovationsorientierung führte zur Übernahme einer Migros-Filiale im Franchise-Modell und eines Eis-Herstellers sowie zur Eröffnung eines Restaurants und eines Kiosks. Die Erschließung dieser neuen Geschäftsfelder demonstrierte auch eine hohe Risikobereitschaft, und eine beachtliche Summe der neuen innovativen Vorschläge kam im Sinne der Autonomie aus den Reihen der Mitarbeitenden. Die Stiftung Battenberg durchlebte in den letzten zehn Jahren einen strategisch gelenkten organisatorischen Change-Prozess und wandelte sich vom beruflichen Ausbildungszentrum zum wirtschaftlich-sozialen Unternehmen (Kapitel 10: Die Stiftung Battenberg – Entwicklung zum wirtschaftlich-sozialen Unternehmen). Die Fallstudie zeigt umfassend auf, wie eine strategische Neueinrichtung als Organisationsentwicklungsprozess mittels einer Balanced Scorecard geplant, gesteuert, umgesetzt und kontrolliert werden kann. Diese strategische Neuausrichtung wird dabei eingehend mit den sieben Merkmalen der Unternehmerischen Führung und Kultur abgeglichen und gespiegelt. Der Beitrag zeigt demzufolge, dass fundierte Strategiearbeit auch unter den Gesichtspunkten einer unternehmerischen Haltung und Ausrichtung erfolgreich betrieben werden kann. Abgerundet wird die Beitragsreihe zur sozialen Integration durch einen journalistisch aufbereiteten Beitrag zu den Powercoders (Kapitel 11: Powercoders: Im Dienst der nächsten Generationen). Die Programmierschule für Flüchtlinge ist ein mehrfach preisgekröntes Erfolgsprojekt. Die Fallstudie porträtiert mit persönlichen Einblicken die inspirierende Geschichte eines Gründungspaares und zeigt eine Vielzahl von ganz konkreten Umsetzungsbeispielen der Unternehmerischen Führung und Kultur auf.

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Unternehmerische Führung in Schweizer Sozialen Organisationen Jonas Baumann-Fuchs und Markus Gmür

Sozialunternehmen sind wie viele andere Organisationen des Dritten Sektors einem zunehmenden Legitimationsdruck ausgesetzt: Der zunehmende Wettbewerb um knapper werdende Mittel von der öffentlichen Hand oder aus dem Spendenmarkt treibt sie dazu an, wachsende Anteile ihres Budgets über marktfähige Leistungen zu erwirtschaften (LeRoux, 2005). Sie sehen sich auch der Erwartung ausgesetzt, sich bewährte betriebswirtschaftliche Konzepte als Professionalisierungsausweis zu eigen zu machen. Effizienz und Effektivität werden zur Richtschnur im dritten Sektor, und dies zunehmend auch für Organisationen, die sich für Menschen einsetzen, die an diesem modernen Rationalitätsverständnis vorübergehend oder nachhaltig scheitern und auf organisierte private Unterstützung angewiesen sind (Dart, 2004; Gmür, 2010). Die Organisationen können diesen Herausforderungen auf vielfältige Weise begegnen: durch Lobbyarbeit und Vernetzung zur Absicherung und Stärkung des traditionellen Rückhalts in Politik, Philanthropie und Gesellschaft, durch verstärkte Bemühungen um Effektivitäts- und Effizienz-, aber auch Wirkungsnachweise in ihrer Arbeit oder durch eine Konzentration auf Leistungen, deren Legitimations- und Finanzierungsbasis noch Der Text ist weitgehend deckungsgleich mit: Baumann-Fuchs, J., & Gmür, M. (2019). Unternehmerische Führung in Schweizer Sozialen Organisationen. In: Verbands-Management 45(2), S. 6–16. J. Baumann-Fuchs (B) Kultivierer GmbH, Thun, Schweiz E-Mail: [email protected] M. Gmür Institut f¨ur Verbands-, Stiftungs- und Genossenschaftsmanagement (VMI), Universität Freiburg/ Schweiz, Freiburg, Schweiz E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Erpf und M. Gmür (Hrsg.), Unternehmerische Führung und Kultur in Non-Profit-Organisationen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40983-8_6

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J. Baumann-Fuchs und M. Gmür

ungefährdet erscheint (Gmür, 2012; Gmür et al., 2018). Ein Lösungsansatz könnte aber auch darin bestehen, eine verstärkt unternehmerische und marktorientierte Führung und Organisationskultur zu entwickeln, die dazu befähigt, flexibel und innovativ auf veränderte Rahmenbedingungen zu reagieren und sich neue Aktivitätsfelder und Arbeitsweisen zu erschließen. Die nachfolgend präsentierte Studie beruht auf einer Befragung von 257 Sozialunternehmen aus der ganzen Schweiz, die im Bereich der Integration Wohn-, Arbeits-, Bildungs- oder Beratungsdienstleistungen für Klientinnen und Klienten anbieten und sich dabei noch überwiegend über Leistungsverträge oder andere öffentliche Gelder finanzieren. Sie zeigt, dass Betriebe mit einer ausgeprägt Unternehmerischen Führung und Kultur erfolgreicher sind als solche, die weniger stark veränderungs- und marktorientiert ausgerichtet sind, weniger Risiken eingehen und ihre Mitarbeitenden weniger stark einbeziehen.

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Ziele und Erfolgsfaktoren von Sozialunternehmen

Die Forschung in den letzten Jahren zu Sozialunternehmertum hat sich wiederholt damit beschäftigt, in welcher Beziehung wirtschaftliche und soziale Ziele stehen. Ursprünglich wurde davon ausgegangen, dass Management und Mitarbeitende vor allem Zielkonflikte erlebten und die Organisationen dadurch vorwiegend in der Realisierung ihrer sozialen Mission geschwächt würden. In jüngerer Zeit überwiegen hingegen Studien, die zeigen, wie sich soziale und wirtschaftliche Zielsetzungen gegenseitig bedingen und sogar stärken können (Smith et al., 2010; Di Zhang & Swanson, 2013; Stevens et al., 2014; Child, 2016; Fitzgerald & Shepherd, 2018). Miller-Stevens et al. (2018) haben für die USA untersucht, inwiefern sich die Wertvorstellungen von Managern aus gewinnorientierten Sozialunternehmen von denen klassischer NPO unterscheiden. Die NPO-Manager und -Managerinnen betonten stärker Dienstleistungsorientierung, Wohltätigkeit und Altruismus, Integrität und Gerechtigkeit sowie Verantwortung, aber auch Effektivität und Effizienz. Die Vertreterinnen resp. Vertreter der gewinnorientierten Sozialfirmen bewerteten für sich nur zwei Werte höher, nämlich Unternehmertum und Innovation. Keine signifikanten Unterschiede gab es etwa für Transparenz, Gleichheit und Fairness, Flexibilität, Freiheit und Individualismus. Dieses Ergebnis lässt erwarten, dass auch innerhalb einer Branche die Gewinnorientierung einen Einfluss darauf hat, welche Arbeitsweisen und Managementprinzipien eine vorrangige Rolle spielen. Eine Reihe von Untersuchungen beschäftigte sich mit der Frage, welche Merkmale von Führung und Steuerung sich positiv auf das Zielsystem von Sozialfirmen auswirkt. Die Studie von Zeides und Gmür (2012) arbeitet anhand von Daten aus 30 deutschen Pflegeeinrichtungen im Diakonischen Werk heraus, dass ein überdurchschnittlicher wirtschaftlicher Erfolg (Umsatzrentabilität) u. a. mit einer ausgeprägten Dienstleistungsorientierung korrespondiert. Auf Grundlage zweier Datensätze von britischen und japanische Sozialunternehmen können Liu et al. (2014) für Großbritannien und

6 Unternehmerische Führung in Schweizer Sozialen Organisationen

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Japan sowie Pinheiro et al. (2021) für Portugal zeigen, dass eine ausgeprägte unternehmerische sowie marktliche Orientierung mit einer überdurchschnittlichen wirtschaftlichen und sozialen Zielerreichung einhergeht. Die Studien von Battharai et al. (2019) und Syrjä et al. (2019) können dies ebenfalls mit Daten von britischen bzw. finnischen Sozialunternehmen belegen, diesmal für Markt- und Innovationsorientierung. Demgegenüber fanden Duvnäs et al. (2012) für finnische Sozialunternehmen ein paar Jahre zuvor noch keinen solchen Zusammenhang. Sie weisen aber darauf hin, dass dies wohl auf fehlende Freiheitsgrade für das Management zurückzuführen ist, da die Tätigkeit von Sozialfirmen in Finnland noch stark reguliert war. In der australischen Untersuchung von Miles et al. (2012) zeigt sich ebenfalls kein signifikant positiver Einfluss einer unternehmerischen Führung. Die Autoren erklären dies nicht nur mit institutionellen Restriktionen, sondern vermuten Zielkonflikte, die durch einen verstärkten Fokus auf wirtschaftliche Rahmenbedingungen erzeugt würden. Es besteht die Gefahr, dass die Aufmerksamkeit vom Sachzweck abgezogen und auf die monetäre Zielverfolgung gelenkt wird. Eine weitere australische Studie von Newman et al. (2017) fokussiert auf die Führungsbeziehung und zeigt, dass sich eine betont unternehmerische Führung einerseits förderlich auf die Innovationsbereitschaft der Mitarbeitenden wirkt, andererseits jedoch keinen Einfluss auf die Mitarbeiterbindung hat. Dass eine starke Beteiligung und Einbindung der Mitarbeitenden aber ihrerseits wichtig für die Innovationsfähigkeit in der Organisation ist, legen die Befunde der US-amerikanischen Studie von Shier et al. (2019) nahe. Der Innovationsmotor wäre demnach in Sozialunternehmen ohne ausgeprägte Gewinnorientierung weniger an der Organisationsspitze, sondern vielmehr an der Basis zu finden. Schließlich ist auch noch die finnische Studie von Tykkylainen et al. (2016) zu erwähnen, die sich mit der Wachstumsorientierung von Sozialunternehmen befasst und zeigt, wie ein Wachstumsziel durch die soziale Mission als Entwicklungsimpuls auf der einen Seite befördert wird; auf der anderen Seite kann eine starke Missionsorientierung ein Wachstum auch hemmen, wenn es als Ausdruck reiner Kommerzialisierungsinteressen angesehen wird.

6.2

Datenbasis der Untersuchung

Die Grundgesamtheit für die vorliegende Studie bilden 1194 Soziale Organisationen in der gesamten Schweiz; ausgeklammert blieben reine Pflegeeinrichtungen. In der Schweiz gibt es keine offiziellen und vor allem keine auch nur annähernd vollständigen Register für Sozialunternehmen. Deshalb wurde eine eigenständige Recherche zur Ermittlung der Grundgesamtheit angestellt: Ausgehend von Mitgliederverzeichnissen einschlägiger Verbände (Arbeitsintegration Schweiz, Insos, Curaviva, Heiminfo, Cisa Schweiz) wurden die dort verzeichneten Organisationen im Internet identifiziert und, wo möglich, die Kontaktdaten der Geschäftsführenden ermittelt. Zusätzlich wurde mit einer Suche über einschlägige Stichworte (z. B. Arbeitsintegration, Sozialfirma, Wohnen) und in sozialen Netzwerken nach weiteren Einzelorganisationen gesucht, bis keine weiteren Ergebnisse mehr erzielt werden konnten.

72

J. Baumann-Fuchs und M. Gmür

Alle Organisationsleitungen wurden im Frühsommer 2018 per E-Mail kontaktiert (davon 87 % deutsch, die übrigen französischsprachig) und eingeladen, einen OnlineFragebogen auszufüllen. Damit wurden auch die Organisationen in der italienischsprachigen Schweiz abgedeckt. Insgesamt resultierten aus der Befragung 257 auswertbare Fragebögen, die ganz oder überwiegend ausgefüllt wurden. Die Rücklaufquote betrug 22 % für den deutschsprachigen und 15 % für den französischsprachigen Raum. Eine Repräsentativitätsprüfung zeigt, dass die verschiedenen Größenklassen in der Stichprobe der Grundgesamtheit weitgehend entsprechen. Die 257 Sozialfirmen weisen in mehrerlei Hinsicht eine erhebliche Vielfalt auf: Im Mittel (Median) realisieren sie einen jährlichen Umsatz von knapp 5 Mio. Franken, wobei 18 % unter 1 Mio. liegen und auf der anderen Seite 27 % über 10 Mio. Franken. Sie beschäftigen im Mittel rund 40 Mitarbeitende (Vollzeitäquivalente) und bieten 60 Klientenplätze an. 90 % ihrer Einnahmen erzielt das mittlere Sozialunternehmen derzeit noch aus staatlichen Leistungsverträgen oder Subventionen. 54 % der Organisationen haben Einnahmen aus Marktleistungen, die im Mittel etwa 20 % der Gesamteinnahmen ausmachen; nur bei jeder 14. Organisationen machen die Markteinnahmen mehr als die Hälfte des Jahresumsatzes aus. Schließlich finanziert sich die Hälfte der Organisationen auch noch über Spenden von anderen Organisationen oder Privatpersonen, wobei der Einnahmenanteil im Mittel nur 2–3 % ausmacht. Nach ihren Aktivitätsbereichen befragt, gaben 67 % an, über Wohnplätze zu verfügen, 56 % sind in der Arbeitsmarktintegration tätig. Drei Viertel der Organisationen arbeiten in der Rechtsform einer Stiftung (39 %) oder eines Vereins (37 %); 8 % sind Aktiengesellschaften, 5 % GmbHs und 3 % Genossenschaften; den Rest bilden vor allem öffentlich-rechtlichen Organisationen. Befragt nach ihrer Gewinnorientierung erklärten 34 %, dass der „not-for-profit“Gedanke absolut im Vordergrund stehe, während 12 % dem eher widersprachen. 52 % der Befragten gaben auf einer 10-stufigen Skala an, dass eine Profitabilität eine eher oder sehr hohe Bedeutung habe; für wiederum 12 % war sie höchst bedeutsam. Darin kommt eine zunehmend doppelseitige Identität in vielen Sozialen Organisationen zum Ausdruck.

6.3

Managementerfolg in Sozialunternehmen

Zielsetzung der Studie war es, die Erfolgsfaktoren von Sozialunternehmen im Schweizer Kontext zu identifizieren. Das Spektrum der Erfolgsmaße sollte dabei dem breiten Zielsystem einer NPO in Auseinandersetzung mit vielfältigen Anspruchsgruppen gerecht werden. Zu diesem Zweck wurden vier verschiedene Erfolgsmaße festgelegt (vgl. Tab. 6.1): 1. Positive Resonanz: Sie wird als Durchschnitt aus drei subjektiven Beurteilungen berechnet: Zufriedenheit der wichtigsten Stakeholder, Reputation als Arbeitgeber sowie Markterfolg im Vergleich zu den Wettbewerbern. Dieses Erfolgskriterium tritt an die

6 Unternehmerische Führung in Schweizer Sozialen Organisationen

73

Stelle des finanziellen Erfolgskriteriums, das in einem von NPO dominierten Feld als nicht sinnvoll angesehen und nicht selten tabuisiert wird. 2. Wachstum: Die Organisationen wurden zum einen danach gefragt, wie wichtig für sie in den letzten zehn Jahren ein Wachstum war, und zum anderen, wie gut sie ihr Wachstumsziel erreicht haben (jeweils auf einer unspezifizierten Skala von 1 bis 10). Für die Analyse des Wachstumserfolgs wurden diejenigen Organisationen ausgeklammert, bei denen dieses Ziel explizit keine oder nur eine geringe Bedeutung hatte (Werte von 3 oder niedriger). 3. Zunahme der Marktfinanzierung: Gefragt wurde hier, wie sich der Einnahmenanteil aus Marktleistungen in den letzten zehn Jahren verändert hat. Die Organisationen sollten angeben, ob dieser stabil war oder (stark) zugenommen bzw. zurückgegangen ist. Zusammen mit dem Wachstumskriterium wird daraus abgeleitet, wie erfolgreich die Organisation in ihrem Marktumfeld agiert. 4. Mitarbeiterseitige Kündigungen: Die Befragten sollten angeben, wie hoch in den letzten zehn Jahren der Anteil der Beschäftigten war, der von sich aus das Unternehmen verlassen hat. Dies bietet einen Anhaltspunkt dafür, wie gut die Organisation ihre mitarbeiterbezogenen Ziele (z. B. Identifikation oder Mitarbeiterbindung) erreicht. Tab. 6.1 zeigt nicht unerwartet, dass die teilnehmenden Organisationen ihre Erfolgsfähigkeit überwiegend positiv beurteilen. Die großen statistischen Streuungen erlauben aber dennoch interferenzstatische Aussagen darüber, worin sich mehr und weniger erfolgreiche soziale Organisationen voneinander unterscheiden. Die vier Erfolgskriterien korrelieren untereinander nur gering: Organisationen mit positiver Resonanz erreichen auch eher ihre Wachstumsziele (r = +0.28) und haben eine geringere Fluktuation (r = −0.22); darüber hinaus gibt es aber keine signifikanten Zusammenhänge, und insbesondere nicht zur Veränderung in der Marktfinanzierung. Tab. 6.1 Organisationserfolg der Sozialunternehmen Erfolgsmass

Skalierung

Verteilung (Range)

Positive Resonanz

10 Stufen pro Item

Von 4,3 bis 9,7

Wachstumsziel erreicht (wenn Wichtigkeit >3 von 10)

10 Stufen

Von 1 bis 10

Anteil der Marktfinanzierung

5 Stufen Spezifiziert

Stark gesunken 2 % Gesunken 8 % Gleichbleibend 57 % Gestiegen 26 % Stark gestiegen 7 %

Mitarbeiterseitige Kündigungen

In % pro Jahr

0 bis 40 %

Median

N

8,0

214

8

150

Gleichbleibend

190

5%

187

74

J. Baumann-Fuchs und M. Gmür

6.4

Untersuchungsmodell und Variablenmessung

Die Variable der unternehmerischen Führung nimmt eine zentrale Stellung im Untersuchungsmodell (vgl. Abb. 6.1) ein. Ausgegangen wurde von dem in der Forschung vorherrschenden Konstrukt der Entrepreneurial Orientation (Lumpkin et al., 2013). Die methodische Herausforderung bestand darin, die Messinstrumente auf die Besonderheiten von Sozialunternehmen anzupassen und genügend Raum für weitere, möglicherweise relevante Aspekte zu haben, ohne den für die Befragten noch akzeptablen Umfang des Befragungsinstruments zu sprengen. Weil nicht vorhanden, konnten nur wenige bewährte Skalen aus anderen Studien genutzt werden, so dass die Studie trotz ihrer Verankerung in der bisherigen Forschung einen explorativen Charakter hat. Unternehmerische Führung setzt sich aus acht Items zusammen, die beschreiben, wie sehr sich das Management mit Veränderungen im Umfeld der Organisation befasst, wie es darauf reagiert (z. B. mit Feedbacks an Kundinnen oder Klienten) und welche Maßnahmen es trifft, um diese möglichst gut bewältigen zu können (vgl. Tab. 6.2). Das Konstrukt ist zwar durch bisherige Skalen in der Forschung inspiriert, ist aber letztlich ein Ergebnis der statistischen Analyse: Gebildet ist es aus Items, die miteinander korrelieren und auch inhaltlich einen plausiblen Zusammenhang aufweisen. Von anderen Konstrukten, die

Führung und Management

Organisationserfolg

Unternehmerische Führung

Positive Resonanz

Strategieverankerung

Wachstum

Externe Evaluation

Zunehmende Marktfinanzierung Kaum mitarbeiterseitige Kündigungen

Organisationskultur Interne Kommunikation Konsens in der Leitung Wachstumsorientierung

Kontrollvariablen

Gewinnorientierung

- Organisationsgrösse (Mitarbeiterzahl) - Finanzierungsstruktur (Anteile öffentlicher Beiträge, Markterlöse, Spenden) - Rechtsform (Verein, Stiftung, Kapitalgesellschaft) - Fragebogensprache (Deutsch, Französisch)

Organisationsstruktur Formalisierung & Standardisierung Hierarchisierung Machtposition Strateg. Gremium Machtposition Geschäftsführung

Abb. 6.1 Untersuchungsmodell

6 Unternehmerische Führung in Schweizer Sozialen Organisationen

75

Tab. 6.2 Das Konstrukt der unternehmerischen Führung Item

Beschreibung

INN1

Hat immer wieder innovative Produkte/Dienstleistungen/ Lösungsansätze hervorgebracht

3,91

INN2

Produkte/Dienstleistungen heben sich von der Konkurrenz ab

3,74

PRO1

Diskutiert in strategischen und operativen Gremien immer wieder Umfeldveränderungen

4,10

PRO2

Achtet auf gute Vernetzung und investiert viel Zeit zur Beobachtung von Veränderungen

4,38

RSK

Hat schon öfter Produkte/Dienstleistungen mit beträchtlichen finanziellen Risiken lanciert

3,17

AUT1

Im Betrieb soll man Verantwortung auch über die bekannten Aufgaben hinaus übernehmen

4,01

AUT2

Bei der Rekrutierung werden breit qualifizierte und interdisziplinäre Teams angestrebt

4,12

LRN1

Produkte/Dienstleistungen werden regelmäßig nach Kunden-/ Klientenbefragungen angepasst

4,01

LRN2

Fehler werden intern analysiert und diskutiert und entsprechende Maßnahmen eingeleitet

4,40

Konstrukt der „Unternehmerischen Führung“ (Cronbach alpha = ,74)

Mittelwert auf Skala 1–5

3,99

bisher in der Forschung zur unternehmerischen Orientierung verwendet wurden, unterscheidet es sich vor allem dadurch, dass es den Aspekt der internen Reflexion und dem Lernen aus Fehlern ergänzt. Neben der unternehmerischen Führung wurde eine Reihe weiterer Merkmale im Management sowie der Organisationsstruktur und -kultur erhoben (vgl. Abb. 6.1 und Tab. 6.3). Die Strategieverankerung ergibt sich aus drei Fragen darüber, wie die grundlegenden Ziele der Organisation verdeutlicht, in individuelle Ziele heruntergebrochen und zur Mitarbeitermotivierung genutzt werden. Außerdem wurde erfragt, ob das strategische Gremium (in der Regel Vorstand oder Stiftungsrat) sich von Zeit zu Zeit evaluieren lässt (Externe Evaluation). Merkmale der Organisationsstruktur und -kultur wurden über sechs verschiedene Variablen erfasst: Die Interne Kommunikation setzt sich aus fünf Items zusammen, in denen gefragt wurde, wie intensiv der Austausch und die Feedbacks über die Organisationsziele und -leistungen sind, wie stark die Mitarbeitenden in Entscheidungen einbezogen und darüber hinaus informelle Treffen stattfinden und institutionalisiert sind. Konsens in der Leitung fasst drei Fragen zusammen, in denen die befragten Geschäftsleiterinnen und -leiter einschätzten, wie sehr ihre Werte und Vorstellungen mit denen im

76

J. Baumann-Fuchs und M. Gmür

Tab. 6.3 Übersicht zu den Erfolgsfaktoren im Untersuchungsmodell Messung

Skala

Range

Mittelwert

Unternehmerische Führung

9 Items (alpha = ,74)

1 bis 5

1,9–5,0

3,95

Strategieverankerung

3 Items (alpha = ,72)

1 bis 5

1,0–5,0

3,89

Externe Evaluation

1 Item

1 bis 5

Interne Kommunikation

5 Items (alpha = ,82)

1 bis 5

1,8–5,0

4,30

Konsens in der Leitung

3 Items (alpha = ,80)

1 bis 5

1,0–5,0

4,43

Wachstumsorientierung

1 Item

1 bis 10

1–10

5,69

Gewinnorientierung

1 Item

1 bis 10

1–10

6,20

Formalisierung & Standardisierung

5 Items (alpha = ,82)

1 bis 5

1,0–5,0

4,11

Hierarchisierung

Anzahl Hierarchieebenen

Machtposition Strateg. Gremium

1 Item

1 bis 5

Machtposition Geschäftsführung

1 Item

1 bis 5

Führung und Management

1–5

2,40

Organisationskultur

Organisationsstruktur



1–8

3,82 2,96

1–5

3,62

ehrenamtlichen Leitungsgremium übereinstimmten bzw. in gemeinsame strategische Leitlinien einflossen und wie sehr sie durch das Gremium gestützt fühlten. Die Wachstumsund Gewinnorientierung der Organisationen wurde anhand zwei einfacher Fragen gemessen. Schließlich wurde die Organisationsstruktur zweidimensional abgebildet, wie es auch der Forschungstradition entspricht: Die erste Dimension bilden Formalisierung und Standardisierung mit Items zu Stellenbeschreibungen, Mitarbeitergesprächsleitfäden, Leistungsprozessen sowie zur Regelung der Aufgabenteilung zwischen hauptamtlicher und ehrenamtlicher Leitung. Die zweite Dimension steht für die Zentralisierung: Dazu wurden drei weitere Merkmale erfasst, die statistisch nur in geringem Masse miteinander zusammenhängen (Korrelationskoeffizienten jeweils unter 0,1): die Anzahl der Hierarchieebenen als Ausdruck dafür, wie lang die Kommunikationswege zwischen Spitze und Basis sind, sowie der Einfluss von haupt- und ehrenamtlicher Leitung. Schließlich wurden als Kontrollvariablen die Größe der Organisation (gemessen an der Mitarbeiterzahl in Vollzeitstellen), die Zusammensetzung ihrer Einnahmen (Finanzierungsstruktur), ihre Rechtsform sowie die wichtigsten Arbeitsbereiche und die Sprachregion berücksichtigt.

6 Unternehmerische Führung in Schweizer Sozialen Organisationen

6.5

77

Analyseergebnisse

Betrachtet man nur die einfachen Beziehungen zwischen den vier Erfolgsmaßen einerseits und den vermuteten Einflussfaktoren, so zeigen sich je nach Erfolgsmaß jeweils unterschiedlich starke Zusammenhänge (vgl. Tab. 6.4). Ein fast durchgängig positiver Effekt zeigt sich bei der unternehmerischen Führung und bei der Strategieverankerung, allerdings liegen die Zusammenhänge in Bezug auf die Fluktuationsrate nahe null. Ähnlich ist das Bild bei der internen Kommunikation, wo der Effekt aber stärker für die Fluktuation und kaum für die Finanzierung und das Wachstum vorhanden ist. Tab. 6.4 Nicht-parametrische Korrelationen zwischen Organisationsmerkmalen und -erfolg Zune hme nde Ma rktfina nzie rung

Ka um mita rbe ite rs e itige Kündigunge n

P os itive Re s ona nz

Wa chs tum

Unternehmerische Führung

+ ,32**

+ ,23**

+ ,16*

+ ,03

Strategieverankerung

+ ,25**

+ ,19*

+ ,19**

- ,03

+ ,11

+ ,01

+ ,02

+ ,24**

Interne Kommunikation

+ ,46**

+ ,26**

+ ,07

+ ,16*

Konsens in der Leitung

+ ,.27**

+ ,13

+ ,01

+ ,02

Wachstumsorientierung

+ ,09

+ ,30**

+ ,34**

- ,01

Gewinnorientierung

+ ,01

+ ,03

+ ,30**

- ,05

Formalisierung & Standardisierung

+ ,28**

+ ,09

+ ,04

- ,15*

Hierarchisierung

+ ,15*

+ ,06

+ ,03

+ ,12

- ,01

+ ,02

+ ,13

+ ,19*

Machtposition Geschäftsführung

+ ,15*

+ ,06

+ ,08

- ,06

Größe der Organisation

+ ,07

+ ,11

+ ,01

- ,18*

Rechtsform AG oder GmbH

- ,06

+ ,09

+ ,22**

+ ,03

Finanzierungsanteil Markterlöse

- ,09

+ ,06

+ ,16*

- ,14

Finanzierungsanteil Philanthropie

- ,20**

+ ,01

+ ,11

+ ,01

- ,11

- ,12

+ ,02

+ ,14

Externe Evaluation

Machtposition Strategisches Gremium

Sprache Französisch

Anmerkung: Spearman-Korrelation mit Signifikanzniveaus * = p(t) < .05 / ** = p(t) < .01

78

J. Baumann-Fuchs und M. Gmür

Mitarbeiterseitige Kündigungen sind vor allem da niedrig, wo sich das leitende Gremium immer wieder einer externen Beurteilung aussetzt und eine intensive interne Kommunikationskultur herrscht, was sich im letzteren Fall auch positiv auf die Resonanz gegenüber den Stakeholdern und der Realisierung von Wachstumszielen auswirkt. Außerdem zeigt auch ein konsensorientiertes Zusammenwirken von haupt- und ehrenamtlicher Leitung positive Tendenzen, wiederum am stärksten für die Resonanz der Stakeholder. Innerhalb der Auswahl von Organisationen, die dem Wachstum mehr als nur eine geringe Bedeutung zuweisen, korreliert die Bedeutung von Wachstum mit der Erreichung der Wachstumsziele. Zusammen mit der Gewinnorientierung hängt die Wachstumsorientierung mit einer Verschiebung im Finanzierungsmix zusammen: Der Anteil von Einnahmen aus Marktleistungen nimmt bei einer solchen Organisationskultur zu. Formalisierung, Standardisierung, Hierarchisierung und eine starke Position der Geschäftsführung, also Indikatoren einer professionalisierten Organisationsstruktur, hängen mit einer positiven Resonanz zusammen, zeigen aber nur schwache Zusammenhänge mit Wachstum, Marktfinanzierung und mitarbeiterseitiger Fluktuation. Der Effekt auf die positive Resonanz zeigt sich zudem nur im unteren und mittleren Bereich, schwächt sich also mit zunehmendem Strukturierungsgrad ab. Bei den Kontrollvariablen sind ebenfalls ein paar markante Zusammenhänge erkennbar: Große und kleine Organisationen erreichen ihre Ziele in ähnlicher Weise (Koeffizient ist positiv, aber nicht signifikant); allerdings nimmt mit der Größe auch die Fluktuationsrate zu. Dass größere Organisationen in den vergangenen Jahren etwas stärker gewachsen sind als kleine (auch wenn der Zusammenhang statistisch nicht ganz signifikant ist), ergibt sich fast zwangsläufig; gleiches gilt für den Zusammenhang zwischen einer gesteigerten Marktfinanzierung und dem gegenwärtigen Anteil von Einnahmen aus Marktleistungen. Schließlich schätzen sich eher spendenabhängige Organisationen kritisch ein und zeigen eine (wenn auch nicht signifikant) stärkere Neigung zur Marktfinanzierung. Möglicherweise erklärt sich dieses Muster dadurch, dass solche Organisationen sich insbesondere gegenüber der öffentlichen Hand als schwach ansehen und beständig nach alternativen Finanzierungen umsehen (müssen). Keine Unterschiede zeigen sich im Vergleich der verschiedenen Arbeitsbereiche (z. B. Integration, Wohnen, Bildung usw.), weshalb diese Variable keine weitere Erwähnung findet. In den multilinearen Regressionsanalysen für positive Resonanz, Wachstum und Mitarbeiterfluktuation bestätigt sich das Ergebnisbild der Einzelbetrachtung, jedoch werden dadurch die Variablen mit den stärksten Zusammenhängen nochmals hervorgehoben (vgl. Tab. 6.5). Die Stichprobengröße ist jeweils reduziert, weil nur vollständige Datensätze berücksichtigt wurden (listenweiser Fallausschluss). Da die Zunahme der Marktfinanzierung als abhängige Variable nur sehr eingeschränkt als intervallskaliert angesehen werden kann, wurde für dieses Modell als Test für die Modellrobustheit auch noch eine ordinale Regressionsanalyse durchgeführt: Bei einem Pseudo R-Quadrat (Cox und Snell) von 27 % ergeben sich auf diesem Weg dieselben drei signifikanten Koeffizienten wie bei der multilinearen Regression:

6 Unternehmerische Führung in Schweizer Sozialen Organisationen

79

Tab. 6.5 Regressionsanalysen für die verschiedenen Erfolgskriterien

Unternehmerische Führung

P os itive Re s ona nz

Wa chs tum

+ ,22*

+ ,25*

Strategieverankerung

Zune hme nde Ma rktfina nzie rung

Ka um mita rbe ite rs e itige Kündigunge n

+ ,19(*)

- ,22(*)

Externe Evaluation

+ ,26**

Interne Kommunikation

+ ,44**

Wachstumsorientierung

+ ,35** + ,24*

+ ,26**

Machtposition Strategisches Gremium Machtposition Geschäftsführung

+ ,16(*) + ,13(*)

Rechtsform AG oder GmbH

+ ,20*

Finanzierungsanteil Philanthropie

- ,26**

Sprache französisch

- ,12(*)

Erklä rte Va ria nz S ignifika nz de s Ge s a mtmode lls (F) S tichprobe ngröß e

43 %

23 %

29 %

18 %

7,00**

1,96*

3,53**

1,78*

165

120

158

149

Anmerkung: (*) = p(t) < .10 / * = p(t) < .05 / ** = p(t) < .01

• Eine ausgeprägt unternehmerische Führung stärkt die (zumindest intern wahrgenommene) positive Resonanz, d. h. die Stellung der Organisation in der Leistungserbringung und als Arbeitgeberin. Sie ist auch mit einem überdurchschnittlichen Wachstumserfolg verbunden. Als Nebenbedingung für die Resonanz spielt eine starke Zentralisierung, also eine Machtkonzentration bei der Geschäftsführung, eine wichtige Rolle. • Ein intensiver Austausch mit den Mitarbeitenden sowie zwischen ihnen stärkt ebenfalls die positive Resonanz, trägt aber insbesondere als entscheidender Faktor zu einer niedrigen Rate an mitarbeiterseitigen Kündigungen bei. • Wachstumsorientierte Organisationen erreichen nicht nur dieses Ziel, sondern sie neigen auch eher zu einer Erhöhung des Einnahmenanteils aus Marktleistungen. Eine solche Erhöhung setzt aber zusätzlich eine gute Strategieverankerung voraus. Spendenabhängige Organisationen sind in der Einschätzung ihrer Resonanz insgesamt skeptischer. Die Bedeutung der Rechtsform für die Finanzierung bestätigt sich auch in

80

J. Baumann-Fuchs und M. Gmür

der Regressionsanalyse. Andere Kontrollvariablen, und insbesondere auch die Organisationsgröße, sind neben den wenigen signifikanten Faktoren nicht entscheidend für die Zielerreichung.

6.6

Schlussfolgerungen

Unternehmerische Führung ist aus Sicht der untersuchten Organisationen und ihrer Repräsentantinnen resp. Repräsentanten mit einer überdurchschnittlichen Zielerreichung verbunden. Sozialfirmen, die besonderes Gewicht auf Veränderungen in ihrem Leistungsprogramm legen und sich dabei von ihren Wettbewerbern bewusst abheben, die ihr Umfeld aufmerksam beobachten und sich zu diesem Zweck vernetzen, die dabei auch ab und zu beträchtliche Risiken eingehen, agieren nach außen unternehmerisch. Nach innen tun sie es, indem sie eine interdisziplinär zusammengesetzte Belegschaft aufbauen und die einzelnen Mitarbeitenden in verschiedener Hinsicht in die Verantwortung für das Unternehmen miteinbeziehen. Und schließlich stellen sie ihr Angebot immer wieder infrage und nehmen Fehler ganz offen zum Anlass, auch in ihren Prozessen nach Verbesserungsmöglichkeiten zu suchen. Unternehmerische Organisationen sind selbstbewusster und sie wachsen auch häufiger. Innerhalb der Gruppe der unternehmerisch geführten Organisationen finden sich sowohl solche, die danach streben, Gewinne aus ihrer Tätigkeit zu erzielen, als auch solche, die sich völlig dem „not-for-profit“-Gedanken verpflichten oder auch sonst kein Interesse an finanziellen Überschüssen haben. Im sozialen Bereich unternehmerisch zu führen, heißt nicht zwangsläufig, wie ein Wirtschaftsbetrieb zu agieren, und es bedeutet auch nicht zwangsläufig, dass die soziale Mission zugunsten eines einseitigen Managerialismus verraten wird. Neben der unternehmerischen Führung weisen die Pflege einer internen Kommunikationskultur, eine gute Verankerung der Organisationsziele und -strategien sowie eine Wertekongruenz in der Organisationsleitung einen starken Zusammenhang mit der erfolgreichen Zielerreichung auf. Das zeigt sozialen Organisationen, dass sie ihre Erfolge auf Wegen erreichen, die Wertvorstellungen und Gesellschaftsbild ihrer eigenen Arbeit entsprechen und dass dies auch jenseits einer verkürzten Vorstellung von Kommerzialisierung erreicht werden kann. Die latente Gefahr, dass ein ausgeprägter unternehmerischer Fokus dazu führt, sich von tradierten Werten der Integrationsarbeit zu entfernen und der sozialen Zielsetzung nicht mehr dieselbe Aufmerksamkeit zuzuwenden, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Wie so oft im Engagement für eine gemeinnützige Organisation gilt es auch hier, in einem vielfältigen Zielsystem eine gute Balance zu finden und zu erhalten.

6 Unternehmerische Führung in Schweizer Sozialen Organisationen

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Jonas Baumann-Fuchs ist Sozialunternehmer, Organisationsberater, Coach/Supervisor und Fachpsychologe für Psychotherapie (FSP), Executive MBA (VMI). 2011 gründete er eine Sozialunternehmung für ganzheitliche wirtschaftliche und soziale Integration. Dort lernte er die Chancen aber auch die Gefahren und Grenzen unternehmerischer Kultur hautnah kennen. www.kultivierer.ch

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Prof. Dr. Markus Gmür ist seit 2008 Direktor Forschung des Instituts für Verbands-, Stiftungs- und Genossenschaftsmanagement (VMI) sowie Inhaber des Lehrstuhls für NPO-Management an der Universität Freiburg in der Schweiz. Seine Schwerpunkte in Forschung, Weiterbildung und Beratung erstrecken sich über Führung und Organisation, Strategie und Governance sowie Personal- und Freiwilligenmanagement von Verbänden und anderen Non-ProfitOrganisationen. www.vmi.ch

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Stiftung Wendepunkt: Wie aus Unternehmerischer Führung und Kultur ein integrativer Lebensraum entsteht Jonas Baumann-Fuchs

7.1

Beschrieb1

Im Rahmen meiner Tätigkeit als Organisationsberater begleite ich die Stiftung Wendepunkt (siehe Abb. 7.1) bereits seit längerer Zeit rund um die Fragen des Unternehmertums. Aus diesen Begegnungen ist dieses Kapitel entstanden. „Mit dem Wendepunkt erleben Menschen Wendepunkte.“ Für diese Vision setzt sich die Stiftung Wendepunkt seit 1993 ein, indem sie Menschen in ihrer beruflichen und sozialen Integration unterstützt. Die Stiftung Wendepunkt ist eine attraktive Partnerin für die Wirtschaft und staatliche Stellen. Dank einer breiten Palette an Produkten und Dienstleistungen sowie sinn- und anspruchsvollen Tätigkeiten können Menschen zielgerichtet gefördert und Aufträge in sehr guter Qualität zu marktwirtschaftlichen Bedingungen ausgeführt werden. Die Angebote zur beruflichen und sozialen Integration umfassen: • Programme zur vorübergehenden Beschäftigung von Stellensuchenden, Schulabgängern und Asylsuchenden • Integrationsprogramme, Teillohn und langfristige Arbeitsplätze für Sozialhilfebeziehende • Potentialabklärungen für Arbeitsmarktintegration • Integrations- und berufliche Maßnahmen im Auftrag der IV 1 Die Informationen hierzu stammen von der Webseite der Stiftung Wendepunkt (2022a).

J. Baumann-Fuchs (B) Kultivierer GmbH, Thun, Schweiz E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Erpf und M. Gmür (Hrsg.), Unternehmerische Führung und Kultur in Non-Profit-Organisationen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40983-8_7

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Abb. 7.1 Die Stiftung Wendepunkt ist eine wirtschaftliche Unternehmung mit sozialem Auftrag. Menschen stehen bei der täglichen Arbeit im Mittelpunkt. (Quelle: Stiftung Wendepunkt)

• • • • •

Angepasste Arbeitsplätze für Menschen mit psychischer Leistungsbeeinträchtigung Coaching Berufsbildung Betreutes, teilbetreutes und begleitetes Wohnen und Wohn-Coaching Kindertagesstätte Integrativer Lebensraum – wo Wohnen, Arbeiten und Gestalten sich verbinden

Die Stiftung bietet in folgenden Bereichen Dienstleistungen und Produkte an und arbeitet dabei sehr eng mit der Wirtschaft zusammen: • • • • • • • • • • • • • • •

Konfektionierung/Verpackerei Lettershop Montage/Logistik Lagerlogistik Allround Service Garage/Metallwerkstatt Projekt Restwert Veloafrica Velo-Sammelstelle Annahmestelle Elektromaterial Servicecenter Administration Produktion Handwerk (siehe Abb. 7.2) Fensterladenrenovation Gartenbau Gastronomie Konditorei (siehe Abb. 7.3)

7 Stiftung Wendepunkt: Wie aus Unternehmerischer …

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Abb. 7.2 Ziel ist es, Menschen attraktive Arbeits- und Wohnplätze zu bieten und dadurch die Chancen einer Wiedereingliederung für eine selbstbestimmte Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. (Quelle: Stiftung Wendepunkt)

Abb. 7.3 Wenn die von Hand hergestellten Produkte die Kundinnen und Kunden überzeugen, zeigt dies den bei der Stiftung Wendepunkt beschäftigten Menschen, dass ihre Arbeit geschätzt wird. Das motiviert sie, ihr Potenzial auszuschöpfen. (Quelle: Stiftung Wendepunkt)

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Tochterunternehmungen: • • • •

Doppelpunkt AG (Holzbau und Malerei) Drehpunkt Personal GmbH (Personalvermittlung und -verleih) SOVA Social Value GmbH (Beratung und Befähigung) Glanzpunkt AG (Dienstleister für Facility Services – Reinigung, Hauswartung und Gartenunterhalt)

Was in einer Rupperswiler Garage bescheiden begonnen hat, wurde zu einer führenden Sozialunternehmung in den Bereichen Arbeiten, Bilden, Wohnen und Integrieren mit Hauptsitz in Muhen und Betrieben an mehreren Standorten sowie Tochterunternehmungen im Kanton Aargau. Die insgesamt 900 Arbeits-, Abklärungs-, Ausbildungs-, Wohnund Tagesplätze werden von 200 Fachpersonen auf christlicher und sozialer Grundlage geführt, mit dem Ziel, Menschen attraktive Arbeits- und Wohnplätze zu bieten und dadurch die Chancen einer Wiedereingliederung zu ermöglichen. Die Stiftung ist in ISO-9001, eduQua und SODK Ost + zertifiziert. Weitere Informationen: www.wende.ch.

7.2

Geschichte, Rückblick, Ausrichtung2

1993 begann der Gründer Hans-Peter Lang bescheiden in einer Rupperswiler Garage. Er stammte aus einer Arbeiterfamilie und war Bauunternehmer; genau dieser unternehmerische Geist prägte die Stiftung stark. So waren die Pausen wie auch die Arbeitsstartzeiten nach unternehmerischen Grundsätzen reguliert – und Leistung ganz natürlich und zentral. Bereits vorhandene gute Aufträge sorgten trotz sehr knappem Gründungskapital für die nötige Liquidität. Erst später kamen dann Leistungsverträge mit der öffentlichen Hand dazu. Von Beginn weg wichtig war das Menschenbild, denn in der Stiftung Wendepunkt stehen die Menschen im Zentrum, Respekt und Wertschätzung werden gelebt, auch motiviert aus der Präambel der Schweizerischen Bundesverfassung (1999): „Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen.“ Oder mit einem Zitat aus der Bibel formuliert: „Was ihr getan habt für eine(n) meiner geringsten Brüder und Schwestern, das habt ihr mir getan.“ (Matthäus 25,40) Für den Wendepunkt ist klar, die christliche Grundlage ist nicht gleichbedeutend mit einem Missions- oder Evangelisationsauftrag. Hans-Peter Lang wusste von Beginn weg, dieses Unternehmen gehört nicht mir. Es war nicht seine Identität, und so konnte er auch immer wieder loslassen. Als umtriebiger, unternehmerischer Pionier hat er die Kultur jedoch geprägt und vorgelebt. Stets war ihm bewusst: Wenn es dem Betrieb gut geht, dann können mehr Menschen beschäftigt werden. 2 Aus Gesprächen und Interview mit Hanspeter Lang, Gründer der Stiftung Wendepunkt.

7 Stiftung Wendepunkt: Wie aus Unternehmerischer …

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Ihr Geheimnis des Erfolgs: unternehmerisches Handeln gekoppelt mit sozialem Charakter – auf der Basis christlicher Grundlagen. Zielfokus über all die Jahre ist stets die Integration in die Wirtschaft. Der Arbeitsbereich und der Sozialbereich sind getrennt aber stark zusammenarbeitend, der Arbeitsbereich ist primär auftrags- und weniger problemorientiert, im Sozialbereich stehen die sozialen und gesundheitlichen Themenstellungen und die Menschenorientierung im Vordergrund. Im Wendepunkt sind Herzensbeziehungen (auch zwischen operativer und strategischer Ebene) sehr wichtig, denn nur so entsteht Vertrauen, das für die Leiterschaft nötige, schnelle Reagieren möglich macht. So können auch heute noch mutige und vertrauensvolle Dinge gewagt werden, ohne dass die Resultate vorab bekannt sind. Menschen dienen und Entwicklung fördern sind bis heute die Grundlagen für die tägliche Arbeit.

7.3

Was ist vorhanden, wird wie umgesetzt? Beispiele, Kunden-/ Mitarbeitenden-Aussagen usw

Aus Beobachtungen, Gesprächen mit Kaderangestellten und dem Gründer der Stiftung sowie Workshops mit der Geschäftsleitung habe ich den Dimensionen entlang verdichtet, wie und wo die Stiftung Wendepunkt unternehmerische Elemente umsetzt. In regelmäßigen Weiterbildungen und Workshops, begleitet von Fachpersonen, unterhalten sich die Führungskräfte und Mitarbeitenden über Unternehmertum, woraus resultiert, dass Prozesse entsprechend überarbeitet und getrimmt werden. Dabei lassen sich folgende Schwerpunkte herausschälen: • Kontinuierliche, breite und niederschwellige Innovations- und Strategieprozesse, die Prozessoptimierungen sammeln, Marktentwicklungen analysieren und Wachstumsfelder aufzeigen, in die gezielt investiert wird. • Eine konsequente Kundinnen- und Kundenorientierung, was auf die Preise, Qualität, Termine aber auch die Problemlösekompetenzen und die Serviceorientierung Auswirkungen zeigt. • Ein Controlling, das Erlösentwicklungen und Wirtschaftlichkeit der einzelnen Marktleistungen systematisch aufzeigt. • Gepflegte Kooperationen mit Firmen im 1. Arbeitsmarkt. • Die Stärkung des Unternehmergeistes sowohl in operativen wie auch im strategischen Gremien, in Inhalt und Besetzung, was auch die Schaffung einer Stelle für Unternehmensentwicklung und Marketing zur Folge hatte. Aus Beobachtungen, Interviews und Gesprächen mit dem Gründer, dem Vorsitzender der Geschäftsleitung sowie einem weiteren Mitglied der Geschäftsleitung, entstanden die folgenden Textteile, die ich bewusst den unterschiedlichen unternehmerischen Elementen zuordnete.

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Innovationsorientierung Das Bestreben der Sozialunternehmung ist seit Beginn, den Nöten und Bedürfnissen mit Angeboten im Arbeits- und Wohnbereich zu begegnen. Dafür sucht sie kontinuierlich nach neuen Lösungen, die den Menschen und der Gesellschaft dienen (Missionsorientierung). Insgesamt sind die Angebote stets verbunden mit einer Leistungsorientierungskultur (Effizienz und Effektivität) – keine reine Beschäftigung, sondern immer Training als Basis für die persönliche Weiterentwicklung. Sehr oft werden Führung sowie Mitarbeitende von Kontakten in Netzwerk inspiriert, diese Offenheit dafür gehört in die DNA des Unternehmens. Proaktivität Führend sein bedeutet, wissen was in der gesamten Landschaft abgeht, wo der Schuh gesellschaftlich, ganzheitlich drückt, welche Felder es zu besetzen gilt, notfalls auch mal mit einem Pilotprojekt. Durch diese Haltung werden die Netzwerke (Wirtschaft und Soziallandschaft) immer grösser und stärker. Anfänglich noch stark vom Gründer gelebt und geprägt, vielleicht sogar abhängig, wurden diese Aspekte immer stärker auch vom Kader aufgegriffen und übernommen. Risikobereitschaft Die Risikobereitschaft hängt sehr eng mit der gelebten Fehlerkultur zusammen. Der Umgang mit Fehlern muss vorgelebt und immer wieder thematisiert werden. Der Alltag soll nicht von der Angst vor dem Scheitern dominiert sein. Alle Kalkulation muss stets auch Risiken berücksichtigen und beinhalten. Zertifizierungen strukturieren das Vorgehen stärker, es ist jedoch wichtig, immer auch ein Auge darauf zu halten, dass sie unternehmerische Impulse nicht aushebeln. Verliert Standardisierung und Formalisierung die alltägliche Lebendigkeit, hemmt sie Innovation und Risikobereitschaft – ein bewusstes Gegensteuern war immer wieder nötig, denn die maximale Sicherheit ist nicht gewünscht. Herausfordernd ist die Balance zu wahren zwischen dem Alltag, der alle stark absorbiert und der Vorausschau und Neuprojekten. Dies betrifft ebenso die finanziellen Ressourcen, da hat die Stiftung Wendepunkt ganz bewusst immer Mittel für Entwicklung im Budget eingestellt. Autonomie Die Mitarbeitenden werden immer wieder in Ideenworkshops einbezogen und sind dank maximaler Transparenz im Unternehmen auch nahe am Puls dran. Zudem ist eine gewisse Unabhängigkeit von staatlichen, kirchlichen, philanthropischen oder wirtschaftlichen Geldern hilfreich, denn dadurch gehen Freiräume und Handlungsspielräume für Entwicklungen auf. Echte Wertschätzung und das Vertrauen in Mitarbeitende helfen, ihnen Bereiche und Aufgaben anzuvertrauen, als sei es ihre eigene Firma. Zudem stärkt dies die Identität, dass alle im gleichen Boot sitzen.

7 Stiftung Wendepunkt: Wie aus Unternehmerischer …

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Aggressivität Es ist notwendig, mit gewisser Sturheit auch in Krisenzeiten an Ideen dran zu bleiben. Dies bedeutet jedoch immer, Menschen gegenüber respektvoll zu sein und trotzdem mit Überzeugung und Überzeugungskraft zielorientiert zu bleiben. Diese Kultur wurde zumindest anfänglich stark von den Führungspersönlichkeiten geprägt. Auch heute wird dieses Element stark von Persönlichkeiten (jedoch eben mehrere) im Unternehmen geprägt und in die Kultur reingetragen. Gemeinschaftliche Mobilisierung Das Sozialunternehmen verfolgt eine sehr hohe Informationsdichte mit regelmäßigen Austauschmöglichkeiten. Es wird sowohl über Erfolge als auch Misserfolge informiert, und bezüglich den Zielen herrscht eine maximale Transparenz. Die christliche Wertebasis als bereits gegebene Grundlage und die Möglichkeit am täglichen Morgengebet für Mitarbeitende teilzunehmen, schaffen leichtere und schnellere Identität und Orientierung. Kooperative Mobilisierung Wie die Wirtschaft es ja auch macht, kennt auch die Stiftung Wendepunkt ihre Konkurrenz, handelt jedoch auch partnerschaftlich. Kann ein Unternehmen einen Auftrag alleine nicht leisten, sind Kooperationen gesucht und wichtig. Auch bezüglich Lösungen für neue Problemstellungen sucht die Stiftung Wendepunkt diese teilweise auch im Verbund mit anderen Anbietenden. Das umfangreiche und gut gepflegte Netzwerk in Politik, Wirtschaft und auch Soziallandschaft dient dazu, früh und effizient, zielorientierte Lösungsmöglichkeiten einzubringen. Meist werden die unternehmerischen Aktivitäten der Stiftung durch Beziehungen mit unternehmerischen Menschen inspiriert und initiiert.

7.4

Unternehmerisch sein als Haltung

Seit der Gründung lebt das unternehmerische Element in der Stiftung und hat sich unterdessen auf verschiedene Mitarbeitende ausgedehnt. Wo Mitarbeitende unternehmerisch handeln, sind sie auch bald einmal in Führungsverantwortlichkeiten, dadurch ist das unternehmerische Element vielleicht in Führungsgremien ausgeprägter anzutreffen. Das Sozialunternehmen investiert aber immer wieder Zeit und Geld, Mitarbeitende zu unternehmerischem Denken und Handeln zu bewegen. Sicher sind einzelne Bereiche – besonders die wirtschaftsnäheren Unternehmungen – stärker in der unternehmerischen Haltung. Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass diese stärker in einem kompetitiven Umfeld eingebunden sind. Besonders die Tochterunternehmen sind so aufgestellt, dass sie unter der Leitung von unternehmerischen Geschäftsführenden noch ausgeprägter stets den Markt und die Kunden im Auge behalten.

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Abb. 7.4 Der Wendepark zeichnet sich besonders aus durch die aktive Gestaltung der gemeinschaftsfördernden Angebote, die partizipative Kultur und das kostenattraktive Bauen. Damit wird bewusst in ein respektvolles Zusammenleben von Generationen und Ethnien aus unterschiedlichen sozialen Gesellschaftsschichten investiert. Das attraktive und erschwingliche Wohnangebot mit natürlichen Begegnungszonen ermöglicht eine gesundheitsfördernde Wohnumgebung. (Quelle: Stiftung Wendepunkt)

Ein unternehmerisches Großprojekt, der Wendepark in Oftringen3 Weitere Informationen unter: www.wendepark.ch Der Wendepark zeigt beispielhaft auf, wie in der Stiftung Wendepunkt die oben aufgeführten unternehmerischen Haltungen ganz praktisch umgesetzt werden (siehe Abb. 7.4). Wo Räume und Träume entstehen Unsere Gesellschaft befindet sich im wirtschaftlichen, technologischen und sozialen Wandel. Durch die Zuwanderung, Vereinsamung im Alter, zunehmende Individualisierung, die digitale Revolution und die Transformation der Arbeitswelt ändern sich die Lebensbedingungen. In der Zukunft entstehen neue Bedürfnisse in Bezug auf Wohnen, Arbeiten und der Gestaltung des Zusammenlebens. Um Menschen im Leben voranzubringen, suchen wir stets nach neuen Ansätzen und künftigen gesellschaftsrelevanten Lösungen. Der Wendepark ist eine Antwort darauf. Der Zukunftsreport von Oona Hory-Strathern zeigt auf, wie das „neue Wohnen“ aussieht, und davon ist das Projekt Wendepark auch inspiriert: Je hektischer der Alltag, desto grösser unser Bedürfnis nach Formen des Rückzugs. Der Hygge-Lebensstil (Begriff aus der dänischen Sprache, über den Umweg des Norwegischen) ist Ausdruck einer neuen, sozialen Form von Geborgenheit. Die zehn wichtigsten Hygge-Faktoren sind: Atmosphäre, Dankbarkeit, Frieden, Genuss, Gleichheit, Harmonie, Komfort, Präsenz, Schutz und Zusammensein. 3 Die Informationen hierzu stammen von der Webseite zum Wendepark (Stiftung Wendepunkt

2022b).

7 Stiftung Wendepunkt: Wie aus Unternehmerischer …

93

Die Autorin schreibt: „Im Unterschied zu Cocooning ist Hygge nicht individualistisch, sondern setzt an Kommunikationsbedürfnissen und der Sehnsucht nach Komfort, Gehaltenwerden, Gebundensein und Geborgenheit an. In Differenz zur Wellness geht es nicht nur um (Selbst-)Verwöhnung und passive Entspannung, sondern um aktives Gestalten unseres unmittelbaren Lebensumfeldes. Hygge handelt von sozialer, aber auch ästhetischer Wärme“ (Horx-Strathern, 2016). Die bedeutsamen Dinge des Lebens stehen im Zentrum, Freunde, Familie, Genuss, Zeit … positive Erlebnisse auf der Basis eines Miteinanders. Menschen erleben Wendepunkte Mit dem visionären, pionierartigen Projekt soll die soziale und berufliche Integration ganzheitlich gefördert werden. Der Wendepark zeichnet sich besonders aus durch die aktive Gestaltung der gemeinschaftsfördernden Angebote, die partizipative Kultur und das kostenattraktive Bauen. Damit wird bewusst in ein respektvolles Zusammenleben von Generationen und Ethnien aus unterschiedlichen sozialen Gesellschaftsschichten investiert. Das attraktive und erschwingliche Wohnangebot mit natürlichen Begegnungszonen ermöglicht eine gesundheitsfördernde Wohnumgebung. Lebensraum mit Potenzial Der architektonisch neuartige Wohnungsbau stützt das Konzept des aktiv gestalteten, integrativen Lebensraums. Bei der Konstruktion wurde durch die spiegelbildliche Gestaltung sowie durch die kompakt entworfenen Mietwohnungen ohne unnötigen Verkehrsflächen ein Modellprojekt mit Strahlkraft weit über den lokalen Standort hinaus geschaffen. Vielfältige Begegnungsorte wie Innenhof, individuelle und gemeinschaftliche Balkone, verschiedene Spiel- und Gartenbereiche, ein Gemeinschaftsraum mit Küche sowie ein Coworking-Raum mit Sitzungszimmer auf dem Areal unterstützen das integrative Konzept und die Vernetzung im Quartier sowie in der Gemeinde. Zukunftsmodell der Stiftung Wendepunkt Nebst der Entwicklung hat die Stiftung Wendepunkt den Wendepark mit den 55 Mietwohneinheiten mit 2 ½ bis 5 ½ Zimmerwohnungen auch gebaut und betreibt ihn. Ziel ist es, ein innovatives und ganzheitliches Modell mit Vorbildcharakter zu entwickeln und in der Zukunft zu multiplizieren. Der Wendepark soll ein Ort sein, • • • • • • •

wo Menschen aufeinander zugehen, sich unterstützen und wohlfühlen; wo Räume den Austausch untereinander und das Beisammensein fördern; wo Menschen zusammen planen, gestalten und erleben; wo Räume Platz für Vielfalt, Kreativität und Inspiration schaffen; wo Menschen ihr Potenzial entfalten, gestärkt werden und aufblühen; wo Räume Geborgenheit, Ruhe und Lebensfreude schenken; wo Menschen persönliche Wendepunkte erleben.

Diese Vision der Gemeinschaft im Wendepark lebt vom Engagement der Mieterinnen und Mieter sowie der Vernetzung von Freiwilligen. Ein soziokultureller Animator schafft

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die Voraussetzungen für die Förderungen von pulsierendem, gemeinschaftlichem und partizipativem Leben im Wendepark. Einordnung dieses Projektes Dieses Projekt zeigt viele Facetten unternehmerischen Handelns. Die Gesellschaft braucht und sucht neue Wohnmodelle, das Quartier als „kleines Dorf“ ist in der Städteentwicklung längst auf dem Monitor. Dieses Bedürfnis wurde mit dem Wendepark aufgegriffen und mit der Mission der Stiftung Wendepunkt abgestimmt in dieses große Bauprojekt gegossen. Dabei wurden Kapital und Zeit investiert, um mit großer Intensität am Ball zu bleiben und diese Vision konkret auf den „Boden“ zu bringen. Ohne das gute Netzwerk zu Behörden, Unternehmen und Dienstleistern wäre das Projekt in dieser Dimension nicht zu stemmen gewesen.

Literatur Die Informationen dieses Kapitels stammen vorwiegend aus Beobachtungen, Workshops sowie Gesprächen und Interviews mit dem Gründer Hanspeter Lang, dem Geschäftsführer Sascha Lang sowie dem Leiter Unternehmensentwicklung und Mitglied der Geschäftsleitung Philipp Schön. Horx-Strathern, O. (2016). Der Hygge-Trend (Auszug aus dem Zukunftsreport 2017). https://www. zukunftsinstitut.de/artikel/zukunftsreport/der-hygge-trend/. Zugegriffen: 28. Okt. 2022. Stiftung Wendepunkt. (2022a). Stiftung Wendepunkt. Ein Unternehmen mit sozialem Auftrag. https:// www.wende.ch/de/stiftung-wendepunkt./stiftung-wendepunkt.html. Zugegriffen: 28. Okt. 2022. Stiftung Wendepunkt. (2022b). Wendepark. https://wendepark.ch/. Zugegriffen: 28. Okt. 2022.

Jonas Baumann-Fuchs ([email protected]) ist Unternehmer, Organisationsberater, Coach/Supervisor und Fachpsychologe für Psychotherapie (FSP), Exekutive MBA (VMI). Nach jahrelanger Führungstätigkeit in einer Sozialfirma gründete er 2011 eine Sozialunternehmung für ganzheitliche wirtschaftliche und soziale Integration; dort lernte er die Chancen, aber auch die Gefahren und Grenzen unternehmerischer Kultur hautnah kennen. Heute berät er vor allem Unternehmen, die sich im Schnittstellenbereich zwischen Wirtschaft und Staat bewegen. Neben den praktischen Erfahrungen kann er auf die Forschung im Rahmen seiner Masterarbeit „Erfolgsfaktoren in der Kultur und der Führung von sozialen Organisationen“ sowie die kontinuierliche Weiterentwicklung dieser Forschungsschwerpunktes greifen. www.kultivierer.ch

8

Stiftung Lebenshilfe: Krise als Basis für eine konsequente Bedarfsorientierung – Umsetzung von vier Strategiezyklen Martin Spielmann

8.1

Ein Wirken, das sinnstiftend, entwicklungsfördernd und persönlich ist

Die Lebenshilfe wurde 1961 aus der Not geboren. Zur Gründungszeit konnten Kinder mit einem Handicap noch keine Schulen besuchen. Frau Luzia Fehlmann, die für ihren Sohn mit Trisomie 21 eine schulische Grundbildung anstrebte, und der Heilpädagoge Valentin Reichenbach, der zum Thema „Lernen mit Down-Syndrom“ promoviert hatte, starteten mit sechs Kindern und einem innovativen pädagogischen Konzept, das auf die Entwicklung der Kinder zu eigenständigen Persönlichkeiten fokussierte. Die Gründungsgeneration verfolgte das Ziel der sozialen Integration von Menschen mit Behinderung, die als gleichwertig zu behandeln seien (heute würde man von Inklusion sprechen). Dementsprechend investierte sie in die Kommunikationsfähigkeit der begleiteten Menschen, noch bevor es Logopädie gab. Ebenso setzte sie auf die Berufsausbildung und Arbeitsintegration, lange bevor die Eingliederungsmaßnahmen der Invalidenversicherung eingeführt wurden und agierte dementsprechend bereits in der Gründungsphase ausgeprägt proaktiv.

Dieser Beitrag basiert auf den Erfahrungen des Autors während seiner Zeit als Geschäftsführer der Stiftung Lebenshilfe. Weitere Informationen zur Geschichte der Lh: https://www.stiftung-lebens hilfe.ch/geschichte.php M. Spielmann (B) Berikon, Schweiz E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Erpf und M. Gmür (Hrsg.), Unternehmerische Führung und Kultur in Non-Profit-Organisationen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40983-8_8

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96

8.2

M. Spielmann

Bedarfsorientierung

Die Schaffung von bedarfsgerechten Angeboten für Menschen mit Unterstützungsbedarf, die es oft erforderlich macht, Neuland zu betreten, und die Vision von Menschlichkeit, Wertschätzung, Akzeptanz, Zutrauen und Vertrauen, die hinter der Überzeugung steht, dass jeder Mensch lernen und sich entwickeln kann: sie sind für die heutige Stiftung Lebenshilfe (Lh) handlungsweisend und kulturprägend geblieben und bilden die Grundlage für ihre Entwicklung. Den Startschuss dazu gab eine Krise. Die Ablösung der Gründungsgeneration gestaltete sich schwierig und die Schule der Lh geriet als die kleinere von zwei heilpädagogischen Angeboten in der Region unter Legitimationsdruck. Im Jahr 2000 fiel der Entschluss des Aargauer Regierungsrates, die Schule der Lh zu schließen. Zu diesem Zeitpunkt wurden 29 Kinder unterrichtet, in den sechs Werkstätten 40 Personen beschäftigt und in drei Wohnhäusern 26 Menschen begleitet. In der Stiftung arbeiteten 45 Mitarbeitende, und der Umsatz belief sich auf 4 Mio. Franken. Man besann sich auf die Wurzeln der Bedarfsorientierung und der Entwicklungsförderung, um die Lh neu auszurichten (siehe dazu Abb. 8.1). Erstmals wurde eine Zehnjahresstrategie erarbeitet, in deren Fokus die fehlenden Angebote für erwachsene Menschen mit Unterstützungsbedarf standen. Um diese Bedarfslücke zu schließen, wurde eine Strategie der Expansion ausgearbeitet und umgesetzt.

Kleingruppe

Weberei

Druckerei

Töpferei

Textilwerk.

Seife/Kerze Lädeli

Küche Hausdienst Hauswart

Bereich Wohnen

Heilpädagogische Sonderschule

Abb. 8.1 Die Lh 2000 nach dem Verlust der heilpädagogischen Sonderschule und die daraufhin identifizierten Bedarfs-, resp. Entwicklungsfelder. (Quelle: Stiftung Lebenshilfe, 2001, S. 2 f.)

8 Stiftung Lebenshilfe: Krise als Basis …

97

Bedarfsanalyse

Differenzierte Arbeitsangebote für Menschen mit leichterer geistiger und/oder psychischer (sozial/emotional) Behinderung Angebote nach der berufspraktischen Bildung, Integration

Vernetzung Umwelt

Schwerstmehrfachbehinderte

Kleingruppe

Weberei

Druckerei

Töpferei

Textilwerk.

Seife/Kerze Lädeli

Küche Hausdienst Hauswart

Bereich Wohnen

Differenziertes Wohnangebot

Berufliche Eingliederung Berufsvorbereitung, -findung Integration

Heilpädagogische Sonderschule

Abb. 8.1 (Fortsetzung)

Grenzbereich sozial-emotionale sozio-kulturelle Behinderung

98

M. Spielmann

Im Wohnbereich zeichnete sich ein erhöhter Bedarf an pflegeintensiven Plätzen ab. Im Zeitraum von 2002 bis 2008 erneuerte deshalb die Lh ihre überalterte Infrastruktur grundlegend. Für 16 Mio. Franken wurden zwei Neubauten realisiert, zwei neu erworbene Häuser umgebaut und das Wohnangebot von 26 auf vorerst 78 Wohnplätze erweitert. Die Wohneinheiten waren rollstuhlgängig und größtenteils mit Pflegebadewannen ausgerüstet. Getreu den Prinzipien aus Gründungszeiten wurden sie zudem in verschiedenen Wohnquartieren realisiert, um die Integration der begleiteten Menschen in der Nachbarschaft zu fördern. Dieses Konzept der Dezentralität sollte zehn Jahre später auch durch die kantonalen Behörden als beispielhaft propagiert werden. Auch der Arbeitsbereich wurde neu ausgerichtet. Gemäß dem modularen Begleitkonzept sollten sich die begleiteten Menschen, je nach Lebensphase und persönlichen Ressourcen, zwischen unterschiedlich stark begleiteten Angebotsarten innerhalb der Lh bewegen können. Nach Möglichkeit sollten sie auch im ersten Arbeitsmarkt arbeiten können – entweder im Rahmen der Ausführung von Kundenaufträgen oder dauerhaft als Lh-Mitarbeitende, die als Leihpersonal in der freien Wirtschaft im Einsatz sind. Dazu war es erforderlich, das Arbeitsangebot, das seit der Gründung aus der kunsthandwerklichen Beschäftigung bestand, zu vergrößern und breiter aufzustellen. Im Jahr 2003 wurden eine Industriemontage- und eine Gartengruppe gegründet. Im 2006 neu errichteten Haupthaus „Heuwiese“ wurden sechs Beschäftigungswerkstätten sowie neue geschützte Arbeitsplätze in der Küche und Hauswirtschaft untergebracht. Das tagesstrukturierende Angebot konnte mit diesen Maßnahmen bis 2008 von 40 auf 100 Arbeitsplätze im geschützten Rahmen ausgebaut werden. Ein Teil dieser Expansion ist auf die Initiative von Mitarbeitenden zurückzuführen, die neue Geschäftsfelder ins Spiel brachten, in denen sie über berufliche Erfahrungen und Kontakte verfügten. Dies gilt in hohem Masse für die Gartengruppe, die innert weniger Jahre zu einer kompetitiven Mitanbieterin in der Region heranwachsen konnte. Es gilt aber auch für die Produktion von Fußbettsandalen, die 2008 auf Initiative einer Mitarbeiterin durch die Lh übernommen und zur Ledermanufaktur aufgebaut werden konnte. Die Lh gewährte den Mitarbeitenden viel Autonomie und Freiraum zur Entwicklung eigener Initiativen, was sich in diesen erfolgreich etablierten Geschäftsfeldern zeigt.

8.3

Der Zeit voraus

Die Zehnjahresstrategie wird alle fünf Jahre in einem breit abgestützten Prozess erneuert. Dieser dauert über ein Jahr und umfasst verschiedene Anlässe. Die ganze Belegschaft, alle begleiteten Personen und seit kurzem auch deren Angehörige und Beistände werden konsultiert, wenn es darum geht, zukunftsrelevante Entwicklungen zu erfassen und strategische Lösungsansätze auszuarbeiten. Das Schaffen bedarfsgerechter Angebote blieb über

8 Stiftung Lebenshilfe: Krise als Basis …

99

alle Jahre hinweg das Leitmotiv der Unternehmensentwicklung und begründete eine Vielzahl von innovativen Projekten, bei denen die Lh eine ausgeprägte Innovationsorientierung aufwies. 2011 wurde das Wohnen mit Coaching aufgebaut. Dieses Angebot richtet sich an Personen mit punktuellem Unterstützungsbedarf, die das Ziel verfolgen, selbständig wohnen zu können. In Wohnungen, die von der Lh gemietet sind, trainieren sie in DreierWohngemeinschaften eine eigenständige Lebensweise: von der Haushaltführung, über die Bewältigung von Alltagsproblemen bis hin zur Pflege von sozialen Kontakten. Die agogische Begleitung ist aufsuchend und wird von den Betroffenen abgerufen. Mit diesem Angebot wurde eine Wohnform geschaffen, die es den jüngeren Menschen mit leichten Beeinträchtigungen ermöglicht, ihre Ressourcen im eigenen Tempo zu entwickeln, ein möglichst normalisiertes Leben zu führen und wenn immer möglich den geschützten Rahmen der Lh verlassen zu können. Sie bildet eine wichtige Grundlage für das modulare Begleitkonzept im Wohnen. Die begleiteten Menschen sollen, je nach Lebensphase und persönlichen Ressourcen, zwischen unterschiedlich stark begleiteten Angebotsarten wechseln und auch die Lh verlassen können, um in einer eigenen Wohnung selbständig zu leben. Das proaktive Angebot ist seiner Zeit voraus. Um es erwachsenen Menschen mit Beeinträchtigungen zu erleichtern, vermehrt auch außerhalb der klassischen Sozialeinrichtungen wohnen und arbeiten zu können, haben die kantonalen Behörden eine Teilrevision des Aargauer Betreuungsgesetzes lanciert, die ambulante Angebote für Menschen mit Beeinträchtigung finanziell mit den stationären Angeboten gleichstellt. Die Gesetzesänderungen sollen 2022 in Kraft treten.

8.4

Gelegenheiten beim Schopf packen

Nicht alle Ideen ließen sich sofort umsetzen. Dies gilt vor allem für das Angebot des Wohnens mit Intensivbetreuung. Dem bedarfsorientierten Konzept verpflichtet, versuchte die Lh erstmals 2005 grünes Licht zu erhalten, um ein spezialisiertes Wohnangebot für eine intensivbetreute Kleingruppe auf die Beine zu stellen – zunächst ohne Erfolg. 2011 war der Moment gekommen. Personelle Veränderungen in der kantonalen Verwaltung eröffneten die einmalige Gelegenheit, die Projektidee erneut zu unterbreiten. Diesmal stieß sie auf Interesse, und die Lh erhielt den Auftrag, ein Angebot „Wohnen mit Intensivbetreuung“ aufzubauen. Zielgruppe sind Personen mit einer kognitiven Beeinträchtigung, die stark herausfordernde Verhaltensweisen zeigen, in erster Linie schwere Formen von Selbst-, Fremd- und Sachaggression und -verletzung, Stereotypien und Zwänge. Diese Verhaltensweisen werden von allen Beteiligten als äußerst belastend und nur schwer beeinflussbar erlebt – allen voran von den Betroffenen selber, deren soziale Teilhabe aufgrund der Verhaltensauffälligkeiten massiv eingeschränkt ist. Eine

100

M. Spielmann

Begleitung im herkömmlichen Wohngruppenalltag ist daher nicht möglich. Ein gut qualifiziertes Team ist für eine gelungene Begleitung entscheidend, ebenso wie Infrastrukturen, die die größtmögliche Sicherheit von allen Beteiligten ermöglichen. Das Projekt startete 2012 in einem eigens dafür erstellten Bauprovisorium mit Kleingruppe von vier Personen. Ein Jahr später wurde eine weitere Gruppe gleicher Größe gebildet. Die Lh errichtete ihr jüngstes Wohnhaus, um die acht Plätze des Wohnens mit Intensivbegleitung aus dem Bauprovisorium abzulösen. Dieses bot zusätzlich Raum für zwei sechser Wohngruppen für Personen mit erhöhtem Pflegebedarf und eine Beschäftigungswerkstatt mit zehn Plätzen.

8.5

Neuausrichtung des Bildungsangebots

Das Bildungsangebot wurde in der Zeitspanne von 2002 bis 2008 komplett umgebaut. Im Fokus stand neu die berufliche Integration von Menschen mit Unterstützungsbedarf im ersten Arbeitsmarkt. Seit 2001 bietet die Lh ein breites Spektrum an beruflichen Maßnahmen an, die es jungen Menschen mit Lernbeeinträchtigungen ermöglichen, im Anschluss an die obligatorische Schule eine erstmalige berufliche Ausbildung zu absolvieren. Mit finanzieller Unterstützung der Invalidenversicherung (IV) erlernen sie einen Beruf und besuchen eine Berufsschule. Ziel ist, dass sie die Erwerbsfähigkeit erlangen und wenn immer möglich im ersten Arbeitsmarkt beruflich tätig sein können, ganz nach dem Motto „Eingliederung vor Rente“. Die IV-unterstützte erstmalige Berufsausbildung wird in der Lh auf allen Stufen angeboten: als Praktische Ausbildung (PrA) nach INSOS (früher IV-Anlehre), als Grundbildung mit eidgenössischem Attest (EBA) oder als Grundbildung mit eidgenössischem Fähigkeitszeugnis (EFZ). Zusätzlich werden Abklärungsmaßnahmen mit Eignungstests und andere berufliche Maßnahmen umgesetzt, um die Betroffenen bei der Berufsfindung zu unterstützen. Seit 2008 bietet die Lh auch Integrationsmaßnahmen an für Menschen, die schon im Erwerbsleben sind, jedoch ihren Beruf aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben können und Unterstützung bei der beruflichen Neuorientierung bzw. beruflichen Reintegration brauchen. In der Lh werden aktuell über 70 IV-Eingliederungsmaßnahmen pro Jahr umgesetzt. Von Beginn an war ihr Begleitkonzept darauf ausgerichtet, die beruflichen Maßnahmen möglichst im ersten Arbeitsmarkt zu realisieren und damit den begleiteten Personen die Möglichkeit zu geben, unter normalen Bedingungen in einem Unternehmen zu arbeiten. Zu diesem Zweck pflegt die Lh seit fast zwanzig Jahren ein Netzwerk von Partnerunternehmen, die passende Einsatzplätze zur Verfügung stellen und damit die Integration von zahlreichen Menschen mit Leistungsbeeinträchtigungen ermöglichen. Mit diesem arbeitsmarktnahen Konzept war die Lh ihrer Zeit voraus. Es sollte bis Anfang der 2010er Jahre dauern, als es zur Gründung des gleichnamigen Vereins in der

8 Stiftung Lebenshilfe: Krise als Basis …

101

Schweiz kam, bis das sogenannte „Supported Employment“ und das Prinzip „first place then train“ in der Branche breit Fuß zu fassen begann.

8.6

Gründung einer interinstitutionellen Berufsschule

2008 gründete die Lh die interinstitutionelle Berufsschule in Aarau zur Sicherstellung einer schulischen Ausbildung bei IV-Anlehren sowie eines Stützunterrichts bei EBAGrundlehren. Angefangen hatte alles mit einer Idee: Das duale Bildungssystem, das die praktische Berufsausbildung am Arbeitsplatz mit dem Unterricht in einer Berufsschule vereint, sollte auch für Lernende möglich sein, die in den sozialen Einrichtungen eine praktische Ausbildung nach INSOS absolvieren. Auch PrA-Lernende sollen in Kontakt mit Lernenden aus anderen Betrieben kommen und damit einen Schritt in Richtung Integration und Normalisierung ihrer Lebensverhältnisse tun können. 2007 initiierte die Lh Gespräche mit sechs sozialen Einrichtungen, die PrA-Lehrstellen anboten. Die meisten zeigten Interesse an einer interinstitutionellen Berufsschule, sodass die Lh das Pilotprojekt lancieren und sicherstellen konnte, dass der Branchenverband AVUSA die ideelle Trägerschaft übernimmt. Die Berufsschule startete als „Berufsschule AVUSA“ mit 21 Lernenden aus acht sozialen Einrichtungen aus dem Kanton Aargau. Mittlerweile schicken 22 Stiftungen aus vier Kantonen ihre IV-Lernenden in die interinstitutionelle Berufsschule, die seit 2014 „Berufsschule Scala“ heißt und definitiv von der Lh geführt wird. Die Anzahl Schülerinnen und Schüler ist auf 108 angestiegen. Der allgemeinbildende Unterricht wurde in Anlehnung an die Lehrpläne der gewerblichen Berufsschulen für die EBA-Ausbildungen erarbeitet. Damit wird, ganz im Sinne des modularen Begleitkonzepts der Lh, den PrA-INSOS-Lernenden ein allfälliger Wechsel in die EBA-Ausbildung erleichtert. Der Fachkundeunterricht wird in 18 verschiedenen Berufsrichtungen angeboten. Durch die intensive Zusammenarbeit der Lehrkräfte, die teilweise noch aus den Partnerinstitutionen stammen, ist aus zahlreichen Einzelkämpfenden ein Scala-Team entstanden, das an der Schulentwicklung aktiv partizipiert. Zwischen der Berufsschule und den beteiligten Stiftungen hat sich über die Jahre eine vertrauensvolle und konstruktive Partnerschaft entwickelt. Der Austausch zwischen Berufsbildenden und Lehrpersonen wird intensiv gepflegt. Es werden die Unterrichtsinhalte und -materialien mit den praktischen Anforderungen abgestimmt – dies im starken gemeinsamen Interesse, die Lernenden bestmöglich zu fördern.

102

8.7

M. Spielmann

Kooperation in der Branche zur Bündelung von Kräften

Im August 2019 wurde die Firma Learco AG mit Sitz in Aarau operativ. Diese etabliert, begleitet und überwacht eine umfassende Palette von IV-Maßnahmen, die in der Stiftung Lebenshilfe und in drei anderen Aargauer Stiftungen für Menschen mit Beeinträchtigungen umgesetzt werden. Die Kooperation der vier Sozialeinrichtungen wurde 2016 auf Initiative der Lh lanciert. In einem mehrjährigen Projekt wurden deren Eckwerte ausgearbeitet und die behördlichen Bewilligungen für dieses neuartige Gebilde sichergestellt. Den Ausschlag für das Kooperationsprojekt hatten ungünstige Rahmenbedingungen gegeben, die es den einzelnen Einrichtungen zunehmend erschwerten, Eingliederungsmaßnahmen kostendeckend durchzuführen. Ihre personellen Ressourcen reichten oft nicht aus, um die Angebote weiterzuentwickeln und die notwendige Expertise aufzubauen, die für Integrationserfolge im ersten Arbeitsmarkt unabdingbar ist. Die diesbezüglichen Anforderungen der IV-Stellen waren so kaum erfüllbar, was sich negativ auf die Verfügungsraten auswirkte und die Rentabilitätsprobleme der Angebote in den Einrichtungen zusätzlich verschärfte. Die vier Sozialeinrichtungen waren sich indessen einig, dass die IV-unterstützten beruflichen Maßnahmen ein unverzichtbares Angebot sind für junge Menschen, die nicht in der Lage sind, eine Sek-II-Ausbildung bzw. eine Grundbildung im regulären Berufsbildungsbetrieb zu absolvieren. Die Idee entstand deshalb, die Kräfte zu bündeln – ganz im Sinne der kooperativen Mobilisierung. Die Firma Learco wurde als gemeinsame Geschäftseinheit implementiert, die das Contracting mit den zuweisenden IV-Stellen abwickelt, Maßnahmen im ersten Arbeitsmarkt mittels Jobcoaching realisiert und die Qualität der Maßnahmenumsetzung in den Betrieben der vier Kooperationspartner sicherstellt. Noch bildet die ehemalige Abteilung der beruflichen Integration der Lh das personelle Herzstück und den Löwenanteil der abgewickelten Maßnahmen. Unter der Führung der vier gleichberechtigten Eigentümer soll sich Learco aber weiterentwickeln und als gut vernetzter, geografisch breit aufgestellter Anbieter von qualitativ hochstehenden Eingliederungslösungen für junge Erwachsene mit Unterstützungsbedarf im Kanton Aargau etablieren.

8.8

Arbeitsmarktintegration in der Region: Initiativen mit kantonaler Ausstrahlung

Seit 2001 besteht zwischen der Lh und der Hochschule für Heilpädagogik in Zürich (HfH) eine Partnerschaft. Deren Fokus liegt aktuell auf den Themen „Erwachsene und alte Menschen mit Behinderung“ sowie „Jugendliche und junge Erwachsene im Übergang zur Berufswelt“. Die Kooperation bezweckt den gegenseitigen Austausch: Praxiskonzepte, betriebliche Weiterbildungen und Begleitleistungen der Lh sollen auf dem neuesten

8 Stiftung Lebenshilfe: Krise als Basis …

103

wissenschaftlichen Stand basieren, während Forschungsprojekte, Weiterbildungen und Dienstleistungen der HfH durch Praxiserfahrungen bereichert werden sollen. Ein weitreichendes Projekt war die Studie „Evaluation der Arbeitsmarktintegration in der Region Aargau Süd“, die 2008 durch die Lh geführt und durch die Zürcher Hochschule für Heilpädagogik wissenschaftlich begleitet wurde. Ziel des Projekts war, die Situation von erwerbslosen Personen, Sozialhilfeempfängerinnen und -empfängern sowie Personen im geschützten Arbeitsmarkt in der Region zu erfassen und Empfehlungen zur Eingliederung dieser Personen im ersten Arbeitsmarkt zu formulieren. Die Studie kam zum Schluss, dass zwischen den verschiedenen Stellen, die sich mit der Integration von Menschen mit erschwertem Zugang zum ersten Arbeitsmarkt befassten, ein erhöhter Koordinationsbedarf bestand und eine Fachstelle sinnvoll sein könnte, die sicherstellt, dass die Betroffenen nicht zwischen den Türen und Angeln verschiedener Instanzen steckenbleiben. Die Idee fiel bei politischen Behörden auf fruchtbaren Boden. 2012 wurde das Pilotprojekt „Eine Pforte“ gestartet. Die IV und die Arbeitslosenversicherung des Kantons Aargau bauten zusammen mit zehn Gemeinden im Bezirk Kulm eine gemeinsame Anlaufstelle für stellenlose Personen auf. Diese in der Schweiz erstmalige interinstitutionelle Zusammenarbeit verfolgte das Ziel, Stellenlose aus einer Hand, zügig und unbürokratisch zu beraten und sie bei der Stellenfindung bzw. beim Stellenerhalt zu unterstützen. Aufgrund der guten Erfahrungen im Pilotprojekt wurde beschlossen, die Kooperation der beiden Sozialversicherungen auf den ganzen Kanton Aargau auszuweiten. Als erste Stelle eröffnete im Frühling 2019 die „Kooperation Arbeitsmarkt“ im ehemaligen Pilotprojektstandort Menziken ihre Tore. Seit dem Pilotprojekt „Eine Pforte“ beschäftigen sich die kommunalen Behörden in der Region intensiv mit der beruflichen Integration von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die entweder schon in der Sozialhilfe sind oder drohen, Sozialhilfeempfängerinnen resp. -empfänger zu werden. Es wurden in den letzten zehn Jahren zahlreiche Projekte zur Unterstützung von jüngeren Menschen mit erschwerten Integrationsvoraussetzungen lanciert. Unter ihnen sind seit einigen Jahren vermehrt auch Menschen aus dem Asyl- und Flüchtlingswesen. Für diese Zielgruppe fehlte ein wirksames Angebot, das eine beruflich ausgerichtete Tagesstruktur bietet und die Betroffenen dabei unterstützt, die erforderlichen Arbeitskompetenzen und -erfahrungen zu erwerben. Die Lh, die über ein gutes Netzwerk an Partnerbetrieben in der Wirtschaft und langjährige Erfahrung in der Integration von Menschen mit erschwertem Arbeitsmarktzugang verfügt, lancierte 2017 in Kooperation mit drei Gemeinden das Projekt „Jugend, Bildung, Arbeit“ (JuBiAr) und beschaffte mittels Fundraising die zur Projektumsetzung notwendigen Geldmittel. Ziel des Projekts war die Entwicklung, Umsetzung und Etablierung eines Angebots, das die beruflichen Integrationschancen von jungen Menschen mit Flüchtlingsund Asylhintergrund nachhaltig verbessert. Die Teilnehmenden des Intensivprogramms sollten mittels Schulung, Coaching und praktischen Einsätzen auf die Anforderungen

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M. Spielmann

der Arbeitswelt vorbereitet und dabei unterstützt werden, ihren Weg in Richtung selbständige Lebensführung zu gehen. Dazu gehörte auch, dass die Teilnehmenden konkrete Anschlusslösungen haben. Nach zweijähriger Durchführung konnte das Projekt abgeschlossen werden. Für einen Großteil der über 60 Programmteilnehmenden eröffneten sich sehr konkrete berufliche Perspektiven, oft eine Anstellung, eine Lehrstelle oder ein Praktikum auf dem Weg dorthin. Der Kanton Aargau hat JuBiAr in sein Förderprogramm für Menschen mit Flüchtlings- und Asylhintergrund aufgenommen, die beim Finden konkreter Anschlusslösungen individualisierten Support benötigen.

8.9

Lh heute: ein Unternehmen mit zweifachem sozialem Auftrag

Die Lh hat sich in den letzten 15 Jahren weiter in Richtung Sozialfirma entwickelt, zu deren Angeboten die Integration von Menschen mit Leistungsbeeinträchtigungen in den ersten Arbeitsmarkt gehört und die mit ihren Dienstleistungen und Produkten Markterlöse erzielt (siehe hierzu Tab. 8.1 sowie Abb. 8.2). Auch letzteres gehört zur Tradition der Lh. Während in der Pionierphase die Verkaufstätigkeit vor allem auf die Weihnachtsausstellungen beschränkt blieb, sind die Lh-Werkstätten heute mit ihrer breiten Palette an industriellen und privaten Dienstleistungen den marktwirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten, wie dem Kosten- und Termindruck und einer schwankenden Auftragslage oder Kundennachfrage, ausgesetzt. Ausgeprägt gilt dies für das Hotel und Restaurant zum Schneggen. Das Reinacher Traditionshaus, das die Lh als Pächterin seit 2011 betreibt, wird mit Fachpersonal aus der Gastronomie als Integrations- und Ausbildungsbetrieb geführt. Bis zu acht Personen mit Leistungseinschränkungen sind zeitgleich in Praktika, geschützten Arbeits- oder Ausbildungsplätzen im Einsatz und arbeiten Hand in Hand mit der sechsköpfigen Belegschaft in der Küche, dem Restaurantservice oder in der Hauswirtschaft. Seit April 2019 betreibt die Lh zudem das neu eröffnete Personalrestaurant der Bertschi AG in Dürrenäsch. Vier Mitarbeitende und ein Lernender an geschützten Arbeitsplätzen sind Teil der Küchenbrigade bzw. des Reinigungsteams, die vor Ort beim Kunden im Einsatz sind. Wenn man die berufliche Integration im ersten Arbeitsmarkt anstrebt, ist eine Tätigkeit unabdingbar, die möglichst nahe an dessen Bedingungen ist. Die Erwartungen der Leistungsfinanzierenden, dass die Sozialinstitutionen einen Beitrag zur Integration leisten und langfristig einen gesellschaftlichen Mehrwert generieren sollten, sind dementsprechend hoch. Zum einen ist die IV gemäß dem Prinzip „Integration vor Rente“ daran interessiert, dass Eingliederungsmaßnahmen möglichst arbeitsmarktnah durchgeführt werden. Zum anderen erwarten zunehmend auch die kantonalen Behörden – nicht zuletzt aus Kostengründen –, dass Menschen mit Beeinträchtigung weitgehend in die Gesellschaft integriert

8 Stiftung Lebenshilfe: Krise als Basis …

105

Tab. 8.1 Die Stiftung Lebenshilfe in Zahlen. (Quelle: Stiftung Lebenshilfe, 2022) Leistungen 2022 Begleitete Menschen

380

Plätze Wohnen

110

Plätze Beschäftigung (Kunsthandwerk)

98

Plätze Werkstätten

70

Plätze Berufliche Integration

49

Plätze Berufsschule Scala

120

Personal Vollzeitstellen

195

Mitarbeitende (inkl. Praktikantinnen/Praktikanten und Lernende)

280

Budget 2022 (CHF) Erträge total

22,1 Mio

Begleitleistungen im Auftrag Kantone

12,2 Mio

Begleitleistungen im Auftrag IV

1,7 Mio

Selbstzahlende (Wohnen)

5,4 Mio

Produkte und Dienstleistungen

2,8 Mio

Abb. 8.2 Entwicklung der Anzahl Plätze 1961–2020. (Quelle: Stiftung Lebenshilfe)

106

M. Spielmann

sind und nur so viel institutionell organisierte Begleitung wie nötig erhalten, sei es in der Schule oder in Bezug auf die Wohn- und Arbeitssituation.

8.10

Professionalisierung des Begleithandelns

Die hohen Anforderungen lassen sich nur erfüllen, wenn auf allen Unternehmensebenen professionell gehandelt wird. Gemäß dem Berufskodex von Avenir Social, dem Berufsverband für soziale Arbeit, kennzeichnet sich professionelles Handeln in den sozialen Berufen dadurch aus, dass es fachlich begründet ist, sich an berufsethischen Standards und an wirksamen Methoden orientiert. Zudem sollen die Qualität des Handelns laufend reflektiert und die Reflexionserkenntnisse zur ständigen Weiterentwicklung genutzt werden. Dies bedingt, dass das agogische Personal seine Haltungen und Handlungen und deren Wirkungen in jeder Situation reflektiert und es nicht dem Zufall überlässt, ob sie zum Ziel führen oder nicht. Um die Professionalisierung voranzutreiben, werden in der Lh die Prozesse laufend optimiert und mit dem neuesten state-of-the-art der Sozialpädagogik in Einklang gebracht. Dabei stehen nicht nur die Ansprüche und Erwartungen der begleiteten Menschen im Fokus, die die Nutzniessenden der Begleitleistungen sind, sondern auch jene der Leistungsfinanzierenden. Diese Optik macht es erforderlich, die Begleitprozesse breiter zu denken. So hat die Lh beispielsweise die Begleitung im Wohnen mit Intensivbetreuung nach Phasen strukturiert. Diese bilden stufenweise ab, wie Menschen mit herausfordernden Verhaltensweisen stabilisiert und weitergebracht werden können – idealerweise bis zur Integration in weniger kostenintensive Wohn- und Beschäftigungsangebote. Die Lh ist seit ihrer Gründung einen langen Weg gegangen. Prägend waren die veränderten regulatorischen Anforderungen im Laufe der Zeit. Die Finanzierung der Leistungen ist gesetzlich klar geregelt, was mit ebenso klaren Anforderungen an die Professionalisierung der Leistungserbringung verbunden ist. Vorwiegend liegt aber der Keim für das Vorwärtsstreben im Dienste der Menschen mit Beeinträchtigung in den Wurzeln der Unternehmung. Mit den Gründern verbindet die Lh die Bedarfs- und Lösungsorientierung, den Mut zum Innovativen und Visionären und die humanistische Haltung.

Literatur Stiftung Lebenshilfe. (2001, 27. März). Bedarfsplanung Neukonzeption. Entwicklung 2001 – 2010 [Planungspapier]. Unveröffentlichtes Dokument. Reinach, AG. Stiftung Lebenshilfe. (2022). Geschichte. https://www.stiftung-lebenshilfe.ch/geschichte.php. Zugegriffen: 3. Okt. 2022.

8 Stiftung Lebenshilfe: Krise als Basis …

107

Martin Spielmann war von 1999–2020 Geschäftsleiter der Stiftung Lebenshilfe. Seit 1984 war er in der Behindertenarbeit in unterschiedlichen Bereichen und Funktionen tätig. Im Erstberuf war er Maschinenzeichner, anschließend absolvierte er die Ausbildung zum Sozialpädagogen bei AGOGIS sowie ein Nachdiplomstudium zum Leiter Sozialpädagogische Institution bei der Hochschule Luzern (HSLU).

9

Unternehmerisches Handeln im regulierten Markt – dargestellt am Beispiel der Gesellschaft für Arbeit und Wohnen (gaw) Martin Müller

9.1

Kurzportrait der gaw

Die „Gesellschaft für Arbeit und Wohnen“ (gaw) ist eine privatwirtschaftliche Unternehmung mit sozialer Zielsetzung. Gegründet wurde sie 1987 als Verein mit Sitz in Basel und dem Zweck, für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen Angebote im Bereich Arbeits- und Wohnintegration zur Verfügung zu stellen. Die gaw betreibt heute an acht Standorten Betriebe mit 200 begleiteten Arbeits- und Ausbildungsplätzen sowie 35 teilbetreuten Wohnplätzen. Betreut und gefördert werden diese Mitarbeitenden, Auszubildenden, Bewohnerinnen und Bewohner von 100 Fachmitarbeitenden. Im Bereich Arbeitsintegration bietet die gaw begleitete Ausbildungen, berufliche Maßnahmen und begleitete Arbeitsplätze in den Branchen Verkauf, Küche, Lebensmittelproduktion, Hauswirtschaft, Verpackung/Versand sowie Büro/IT an. Im Bereich Wohnintegration besteht das Angebot aus stationären Wohnplätzen in einem der beiden Wohnhäuser sowie aus ambulanten Wohnbegleitungen in drei Wohngemeinschaften. Die gaw orientiert sich an ihrer Vision „Wir sind erste Wahl in der Arbeits- und Wohnintegration für Menschen mit psychischer oder geistiger Beeinträchtigung in der Region Basel“ (gaw, 2011) sowie gemäß ihrer Mission an den Bedürfnissen ihrer Anspruchsgruppen. Laut ihrer Strategie (gaw, 2019b) will sie mindestens 60–70 % des Umsatzes mit Eigenleistungen erzielen. Tätig ist die gaw in den Branchen Detailhandel, Gastronomie, Lebensmittelproduktion, Hauswirtschaft sowie Versand/Verpackung. Die Fachmitarbeitenden in den Betrieben kommen aus diesen Branchen und werden in der gaw in den M. Müller (B) Gesellschaft für Arbeit und Wohnen, Basel, Schweiz E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Erpf und M. Gmür (Hrsg.), Unternehmerische Führung und Kultur in Non-Profit-Organisationen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40983-8_9

109

110

M. Müller

Bereichen Psychopathologie und Arbeitsagogik weitergebildet, um so unserem Anspruch der „Dualen Professionalität“ zu genügen. Der Umsatz der gaw betrug 2022 27 Mio. Franken und stieg damit in den letzten 10 Jahren um 60 %. Der Umsatzanteil der Integrationsleistungen für IV und Kantone betrug im Jahr 2022 25 %, der Anteil der betrieblichen Leistungen 75 %. Die Eigenkapitalquote stieg in den letzten 10 Jahren von 17 % im Jahr 2012 auf 54 % im Jahr 2022.

9.2

Unternehmerische Führung in der gaw

Die gaw versteht sich seit ihrer Gründung als eine lernende und sich ständig weiterentwickelnde Organisation, die sich an den Bedürfnissen des Marktes orientiert. Diese Bedürfnisse sind so vielfältig wie unsere Kundinnen und Kunden. Im Bereich der Integrationsangebote sind dies die IV-Stellen sowie die Kantone. Im Bereich der Betriebe (Eigenleistungen) sind dies zum einen Privatpersonen, die als Konsumentinnen resp. Konsumenten in einem unserer Migros-Partner-Läden einkaufen oder ein Catering bestellen, zum anderen sind dies Unternehmen, die als Händler unsere Glace-Produkte bestellen oder bei unserem Ressort Verpackung/Versand einen Auftrag platzieren. Die IV-Stellen, ihr Kontraktmanagement sowie die Kantone verstehen sich selber nicht nur als Auftraggeber und Aufsicht, sondern stärker als früher auch als Kundschaft. Sie erwarten vom Anbieter qualitativ gute Dienstleistungen zu einem attraktiven Preis, das Erfüllen von Wirkungszielen sowie die volle Kennzahlentransparenz. In der Region Basel gibt es zahlreiche soziale Unternehmen/Institutionen mit ähnlichen Angeboten, die Konkurrenz und der Markt spielen also. Im Bereich der Betriebe gelten schon immer die Gesetze des Marktes. Das Produkt und die Dienstleistung der gaw muss den sich verändernden Kundenbedürfnissen entsprechen, da gibt es keinen „Sozialbonus“. Diesen will die gaw auch gar nicht, denn als Ausbildungsbetrieb will und muss sie genauso professionell arbeiten wie die Betriebe im ersten Arbeitsmarkt, denn nur so genügt sie dem Anspruch, unsere Lernenden und Mitarbeitenden mit Beeinträchtigung auf diesen ersten Arbeitsmarkt vorzubereiten. Die gaw versteht sich deshalb als marktorientierte und damit unternehmerisch denkende und handelnde Organisation. So stehen im Leitbild der gaw folgende Sätze: „Als kundenorientiertes und innovatives Unternehmen sind wir offen für Neues und Fremdes.“ Und: „Als etablierter Anbieter bewähren wir uns in der freien Marktwirtschaft und gewährleisten damit größtmögliche Nähe zum ersten Arbeitsmarkt.“ (gaw, 2019a). Im Folgenden soll aufgezeigt werden, in welchen fünf der sieben Bereichen die gaw „unternehmerisch“ führt und wie sie das in der Praxis umsetzt.

9 Unternehmerisches Handeln im regulierten …

9.2.1

111

Innovationsorientierung

Innovation ist ein großes Wort. Das Neugierig-Sein, das Offen-Sein für Neues, das sich permanent verbessern wollen, ist die Basis für Innovationen. Im Rahmen der ISO-Normen (die gaw ist seit 1998 ISO-zertifiziert) ist dieses Streben nach Verbesserung ein wichtiger Teil, insbesondere seit ISO 2009:2015. Das dort verlangte systematische Ausrichten an den Markttrends und den Bedürfnissen der Anspruchsgruppen hat in der gaw bewirkt, dass sich alle damit regelmäßig und vertieft auseinandersetzen. Das Leistungsangebot hat sich seit der Gründung der gaw stark verändert und erweitert, immer wieder hat man neue Angebote entwickelt, eingeführt und in Einzelfällen auch wieder verworfen. Die Übernahme einer Migros-Filiale als Franchise-Nehmer im Jahr 2000 und damit das erstmalige Anbieten von Verkaufsausbildungen im Lebensmittelbereich in einem professionellen Umfeld war sicherlich innovativ. Diese Art von Zusammenarbeit gab es im Raum Basel damals nicht und ist heute noch ein „USP“ der gaw. Auch die Übernahme des Glace-Herstellers Gelati Gasparini im Jahr 2002, das Eröffnen des Restaurants Balade im 2009 und des Breite Kiosks im 2016 sowie die Übernahme des Süßwaren-Herstellers Sweet Basel 2022 waren Entscheide, die für eine Organisation im Sozialbereich ungewöhnlich waren und die gaw auch stark prägten und prägen. Solche Neuerungen und Erweiterungen im Leistungsangebot sind möglich, weil sowohl Vorstand wie auch Geschäftsleitung der einhelligen Meinung waren und sind, dass die gaw nicht stehenbleiben darf, sondern sich weiterentwickeln und am Puls des Marktes bleiben soll. Es war auch immer das klare Ziel des Vorstandes, dass die gaw finanziell stark genug sein soll, um sich solche Neuerungen und Erweiterungen leisten zu können. Auch mit dem Risiko, dass nicht alles erfolgreich ist und vielleicht auch eine Idee scheitert. Auch die Organisationsstruktur der gaw wurde mehrmals überarbeitet, und es wurden durchaus innovative Ideen umgesetzt. So schuf sie 1997 eine Abteilung „Coaching“ und führte bereits 1998 das Qualitätsmanagement ein. Der Entscheid, die Förderkoordinatoren (Sozialpädagogen) der beiden Abteilungen Detailhandel & Produktion und Gastronomie nicht zentral dem Coaching zu unterstellen, sondern dezentral in diesen beiden Abteilungen zu etablieren, um so die Förderung nahe an den Betrieben zu positionieren, war ebenfalls neuartig. 2018 wurde die Personaladministration zum Bereich Human Resources erweitert, personell verstärkt, aus der Finanzabteilung herausgelöst und neu in der Geschäftsleitung positioniert. Das war angesichts der Größe der gaw und im Vergleich zu anderen sozialen Unternehmen eher ungewöhnlich aber aufgrund der gestiegenen Ansprüche an die gaw als Arbeitgeber klar gerechtfertigt. Die große Bedeutung, die das Qualitätsmanagement in der gaw hat, bringt es mit sich, dass das permanente Suchen nach Verbesserungsmöglichkeiten (KVP) und innovativen Konzepten gelebt wird. Sowohl das Fachpersonal wie auch die Klientinnen und Klienten können und sollen Verbesserungsvorschläge einreichen und tun es auch. In den Jahren

112

M. Müller

2020 und 2021 kamen so neun bzw. vier solcher Vorschläge zusammen, die dann geprüft und bei einem „Okay“ auch umgesetzt werden.

9.2.2

Proaktivität

Die bereits erwähnte Übernahme eines Migros-Quartierladens im Jahr 2000, die Übernahme eines Glace-Produktionsbetriebes im Jahr 2002, die Eröffnung eines Kiosks im Jahr 2016, die Übernahme eines Süßwaren-Herstellers im Jahr 2022 – diese für die gaw und die Branche neuen Geschäftsfelder wurden gestartet, weil die gaw Chancen sah für eine noch bessere und effektivere Integrationsarbeit für Lernende und Mitarbeitende mit psychischer Beeinträchtigung. Diese Initiativen hatten alle einen vorausschauenden Charakter und sollen die Positionierung der gaw als Kompetenzzentrum in der Branche fördern. Schon früh erkannte die gaw, dass sich die Sozialbranche den Gesetzmäßigkeiten der Privatwirtschaft annähern wird. Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil sich der Vorstand der gaw schon seit langem und mehrheitlich aus Mitgliedern aus der Privatwirtschaft zusammensetzte und so frühzeitig die Zeichen der Zeit erkannte. Die sozialen Organisationen, die in früheren Jahren hauptsächlich von den stabilen Tarifen von Bund und Kantonen leben und bei eigenen Kostensteigerungen Tariferhöhungen beantragen konnten, mussten sich früher kaum um betriebswirtschaftliche Themen, Marketing und Kundenorientierung kümmern. Was im Gesundheitswesen und im Altersund Pflegebereich aber schon bald Einzug hielt, erreichte nun auch die Sozialbranche. Staatliche Tarife waren auf einmal nicht mehr so stabil oder steigend, sondern konnten auch (zum Teil aus politischen Gründen) sinken. Und die Auftraggeber IV und Kantone begannen, trotz aller Regulierung marktwirtschaftlich aufzutreten, Kostensteigerungen infrage zu stellen und limitierende Normkosten einzuführen. Dies bedeutete für die sozialen Organisationen, dass sie sich strategisch verstärkt betriebswirtschaftlich sowie marktund kundenorientiert ausrichten mussten. Diese strategische Veränderung steuerte auch die Rekrutierung der Kaderstellen und vor allem der Geschäftsleitung. So waren schon bei der Rekrutierung des neuen Geschäftsführers im Jahr 2010 primär betriebswirtschaftliches und Marketing-Know-how erwünscht und auch bei den nachfolgenden Rekrutierungen auf Geschäftsleitungsebene waren dieselben Kompetenzen gefragt. So sind die Mitglieder der aktuellen Geschäftsleitung der gaw fast ausschließlich Quereinsteiger aus der jeweiligen Branche der Privatwirtschaft (und nicht aus anderen sozialen Institutionen) und bringen so ein vielfältiges Know-how sowie Erfahrung aus bereits „ökonomisierten“ Branchen mit.

9 Unternehmerisches Handeln im regulierten …

9.2.3

113

Risikobereitschaft

Jede betriebliche Neuerung und vor allem das Eröffnen von neuen Geschäftsfeldern birgt Risiken. Diese müssen aber kalkulierbar sein, und es war und ist der gaw stets klar, dass sie auch im Falle eines Worst Case, d. h. eines Scheiterns dieser Neuerung, nicht als Ganzes gefährdet sein darf. Der Einstieg der gaw in den Detailhandel mit der Eröffnung von Migros-Partner-Filialen, der Einstieg in die Glace-Produktion, die Eröffnung eines A-la-Carte-Restaurants in der Basler Innenstadt oder die Eröffnung eines Kioskgeschäftes waren allesamt risikobehaftet. Im Fall des Restaurants trat der WorstCase-Fall auch tatsächlich ein, und es wurde nach fünf Verlustjahren wieder geschlossen. Diese kalkulierbaren Risiken ist die gaw eingegangen, weil sie überzeugt war, dass sie damit die Bedürfnisse der Anspruchsgruppe „Zuweisende Stellen“, also IV und Kanton, nach arbeitsmarktnahen Integrationsangeboten damit noch besser erfüllen kann. Und der Erfolg hat ihr bislang recht gegeben – der gewünschten Positionierung der gaw als „der Lebensmittler“ in der regionalen Sozialbranche ist sie dadurch klar nähergekommen. Die Risikobereitschaft der gaw zeigt sich vor allem auch darin, dass sie sich in fremde Branchen hineinwagte, ohne bereits über entsprechendes internes Know-how zu verfügen. Dieses Know-how musste zuerst herangebildet und/oder eingekauft werden. So dauerte es zum Beispiel einige Jahre, bis die gaw auch ein wirklich professioneller Detailhändler wurde. Diese Geduld und Beharrlichkeit sind aber Teil der gaw-Kultur und eine wichtige Voraussetzung für das Eingehen solcher Risiken. Die 75 % Umsatz (2022) mit Eigenleistungen sind naturgemäß risikobehafteter und volatiler als die 25 % Umsatz mit IV und Kanton. Insbesondere die in der gaw stark vertretene Lebensmittelbranche (Detailhandel, Gastronomie, Lebensmittelproduktion) ist sehr kompetitiv (zusätzlich auch aufgrund der Grenzlage) und zudem investitionsintensiv. Als Beispiel sei die zunehmende Regulierungsdichte und das damit enger werdende Gesetzeskorsett im Lebensmittelbereich genannt, das immer wieder Investitionen auslöst. Bei wichtigen Entscheiden überlegt man sich, welches die Chancen und Risiken bei einem Ja-Entscheid sind, aber immer häufiger auch, welches die Risiken bei einem NeinEntscheid sind. So ist zum Beispiel die heutige Vielfalt der gaw-Geschäftsfelder Chance und Risiko zugleich. Chance, weil sich Schwankungen in verschiedenartigen Geschäftsfeldern ausgleichen können (hat sich bewährt in der Corona-Krise). Risiko, weil sich das Kader der gaw und insbesondere die Geschäftsleitung sowie der Vorstand mit den unterschiedlichsten branchenspezifischen Fragestellungen auseinandersetzen muss. Die gaw gewichtete aber insgesamt die Chancen stets höher als die Risiken. Dennoch: wäre die gaw „nur“ in der Gastronomie tätig oder „nur“ im Wohnbereich, ergäben sich nebst weniger Risiken sicherlich auch verstärkt die bekannten Skaleneffekte. Die erwähnten und bewusst eingegangenen unternehmerischen Risiken hätte die gaw auch vermeiden können, indem sie sich auf ihre angestammten Bereiche Versand/ Verpackung, Gastronomie und Hauswirtschaft im Arbeitsbereich sowie den Wohnbereich beschränkt hätte. Auch dieser Entscheid wäre aber risikobehaftet gewesen, denn genau in

114

M. Müller

diesen Bereichen bewegen sich sehr viele soziale Organisationen, und eine klare Positionierung der gaw wäre immer schwieriger geworden. Eine klare Positionierung ist jedoch eine wichtige Voraussetzung für künftigen Erfolg am Markt. Die Risikobereitschaft der gaw ist ein Ausdruck der gaw-Kultur und Teil der gaw-Strategie. So steht dort: „Wir streben ein selektives Wachstum der bestehenden Geschäftsfelder mittels Eröffnung von neuen, Übernahme von bestehenden Betrieben oder Kooperationen an.“ (gaw, 2019b) Stillstand oder einfach Weiterführen des Bestehenden entspricht nicht der gaw-Kultur. Dies impliziert, dass sie sich bewegen und weiterentwickeln will. So hat man vor einigen Jahren entschieden, dass als Budgetvorgabe nicht mehr „Ausgeglichenes Ergebnis“ steht, sondern ein quantifiziertes positives Ergebnis. Damit intern allen bewusst ist, dass die gaw auch als NPO darauf angewiesen ist, Gewinne zu erzielen, um damit Investitionen in die Zukunft des Unternehmens finanzieren zu können.

9.2.4

Autonomie

Fünf konkrete Beispiele dazu, woher Initiativen und Ideen für die Weiterentwicklung der gaw stammen können: Erstes Beispiel: In der gaw kennt man im Rahmen des Qualitätsmanagements das Instrument der „Rückmeldung“, mit dem nebst dem Aufzeigen von Prozessfehlern auch Verbesserungsvorschläge eingereicht werden können. Vor einigen Jahren hat ein Mitarbeiter mit Beeinträchtigung bemängelt, dass das Fachpersonal eine Woche mehr Ferien habe als sie selbst. Daraufhin hat die Geschäftsleitung aufgrund der nachvollziehbaren Argumentation entschieden, dass die Ferien der Mitarbeitenden mit Beeinträchtigung um eine Woche angehoben wurden. Zweites Beispiel: Der Leiter eines gaw-Ressorts und sein Abteilungsleitender erfuhren, dass das Betreiben eines benachbarten Quartierkiosks neu ausgeschrieben wurde und schlugen vor, dass sich die gaw bewirbt. Dies wurde gemacht und tatsächlich erhielt die gaw den Zuschlag und stieg so ins Kiosk-Geschäft ein. Drittes Beispiel: Der Ressortleiter eines gaw-Wohnhauses erkannte das Potenzial des ambulant begleiteten Wohnens in Wohngemeinschaften und schlug der Geschäftsleitung die Eröffnung einer Wohngemeinschaft vor, in Ergänzung zum stationären Wohnangebot. In der Branche keine neue Idee, aber für die gaw war es etwas Neues. Der Vorschlag wurde umgesetzt, und heute betreibt die gaw bereits drei solcher Wohngemeinschaften und erweiterte damit ihr Angebot am Markt. Viertes Beispiel: In der gaw wird seit 2017 in Ergänzung zu den Jahreszielen ein übergreifendes Jahresmotto formuliert, das mittels verschiedenster Aktivitäten umgesetzt wird. Die bisherigen Jahresmottos lauteten: 2019: „Voneinander lernen“; 2020: „miteinander – füreinander“; 2021: „Wir ziehen alle am gleichen Strang“; 2022: „Miteinander die Zukunft gestalten“. Diese vier Mottos stammen allesamt via interner Umfrage von Mitarbeitenden (mit und ohne Beeinträchtigung) der gaw, nicht von der Geschäftsleitung.

9 Unternehmerisches Handeln im regulierten …

115

Fünftes Beispiel: Seit 2019 und (nach Corona) wieder 2022 führt die gaw sogenannte „Lunch&Learn“-Anlässe durch. Alle Mitarbeitenden können daran teilnehmen und während einer Mittagspause interessante Inputs zu aktuellen Themen von internen und externen Referierenden erhalten und dabei Neues erfahren und lernen. Diese fünf Beispiele zeigen auf, dass Ideen für die Weiterentwicklung der gaw und für Wachstumschancen nicht nur von der Geschäftsleitung, sondern auch von der gesamten Belegschaft stammen. Und sie zeigen auch auf, dass die Mitarbeitenden zum einen die entsprechende Plattform und zum anderen die Motivation und das Know-how für dieses Mitwirken haben. Auch in der Strategieerarbeitung ist nicht nur das Know-how der Geschäftsleitungsmitglieder gefragt, sondern auch das des restlichen Kaders und der Ressorts. So werden deren Ideen und Inputs beim Erarbeiten der strategischen Schwerpunkte des Folgejahres an der jährlichen GL-Tagung eingeholt und fließen in die Anträge zuhanden der Strategiesitzung mit dem Vorstand mit ein. Dadurch soll gewährleistet sein, dass die finalen strategischen Schwerpunkte beim Verkünden an der Personalsitzung im Herbst keine allgemeine Überraschung mehr sind und dass alle Teams bei der Umsetzung dann auch mit anpacken. Zum Thema der Mitwirkung und des Freiraums der Mitarbeitenden beim Entwickeln von eigenen Initiativen passt das Jahresmotto der gaw, 2019, ganz gut: „Voneinander lernen“. Denn Basis fürs Mitwirken und Mitwirken lassen ist das Bewusstsein bei der Leitung und bei den Mitarbeitenden, dass in jeder Organisation sehr viel und sehr vielfältiges Know-how vorhanden ist, das entdeckt und genutzt werden will. Dies gilt speziell für die gaw mit ihren sehr unterschiedlichen Geschäftsfeldern und den entsprechend vielfältigen Kompetenzen und Erfahrungen in den Teams. Es liegt daher auf der Hand, dass ein Unternehmen nicht auf dieses große (und oft schlummernde) Potenzial verzichten kann und soll.

9.2.5

Gemeinschaftliche Mobilisierung

In den vorangegangenen Merkmalen der unternehmerischen Führung ging es darum aufzuzeigen, mit welchen Instrumenten in der gaw das unternehmerische Denken und Handeln gefördert und gelebt wird. Womit aber gelingt es, aus dem großen Engagement aller Mitarbeitenden auch eine gemeinsame und zielorientierte Leistung zu erzielen? Eine wichtige Voraussetzung für unternehmerisches Denken und Handeln ist die Transparenz bei den Unternehmenskennzahlen. In jedem Team, nicht nur im Kader, sollen die Kennzahlen für das Ressort, die Abteilung und die gesamte gaw bekannt sein. Zu diesem Zweck werden die monatlichen Umsatz- und Ertragszahlen auf dem Kaderlaufwerk abgelegt, damit dieses seine Teams zeitnah informieren kann. Neu eingeführt wurde im letzten Jahr ein Kennzahlen-Dashboard, das mit einem Ampelsystem und graphisch aufbereitet das Arbeiten mit Kennzahlen erleichtert.

116

M. Müller

Für die gemeinschaftliche Mobilisierung ist das mittlere Kader entscheidend. Sie sind das Bindeglied zwischen den Mitarbeitenden und der Geschäftsleitung und deshalb ein wichtiger „Hebel“ beim Umsetzen von Initiativen. Das mittlere Kader soll sich auch als Team verstehen, das ressort- und abteilungsübergreifend denken und handeln soll. Aus diesem Grund startete die gaw 2014 mit den Kadersitzungen, zunächst zweimal, ab 2018 viermal pro Jahr. Zum einen, um das vielfältige Know-how abzuholen und Synergien zwischen den einzelnen Ressorts und Abteilungen zu erzielen. Zum anderen, um aus dem Kader (inklusive Geschäftsleitung) ein Team zu formen, das gemeinsame Haltungen und Ideen entwickelt und so geeint und damit intern wirksam auftritt. Die Themen der Kadersitzungen variieren, je nach Aktualität und strategischem Bedarf.

9.3

Fazit

Die gaw hat seit ihrer Gründung eine Kultur des sich Weiterentwickelns und Lernens und hat sich in ihrer Geschichte auch tatsächlich ständig verändert und sich dem Marktumfeld angepasst. Die aktuelle und seit 2011 gültige Vision „Wir sind erste Wahl“ gibt dazu den Rahmen für sämtliche Bestrebungen, besser zu werden. Besser in der Förderarbeit, besser in der betrieblichen Arbeit. Unternehmerische Führung ist dazu das richtige Instrument und die richtige Haltung. In fünf der sieben Merkmalen unternehmerischer Führung hat die gaw in den letzten Jahren viel umgesetzt und viel erreicht, ist aber noch lange nicht am Ziel. Bei den zwei nicht erwähnten Merkmalen sehen wir im Fall der „Aggressivität“ keinen großen Zusatznutzen, im Fall der „Kooperativen Mobilisierung“ aber noch viel unausgeschöpftes Potenzial. Die gaw bleibt dran.

Literatur gaw. (2011). Vision. https://www.gaw.ch/Profil.html. Zugegriffen: 24. Okt. 2022. gaw. (2019a). Leitbild. https://www.gaw.ch/dateien/Leitbild_gaw.pdf. Zugegriffen: 24. Okt. 2022. gaw .(2019b). Strategie. Unveröffentlichtes Dokument.

9 Unternehmerisches Handeln im regulierten …

117

Martin Müller, lic.oec.HSG, ist seit 2010 Geschäftsführer der Gesellschaft für Arbeit und Wohnen (www.gaw.ch) in Basel. Zuvor war er tätig in Führungsfunktionen in den Bereichen Detailhandel und Konsumgüterindustrie. Neben seiner Haupttätigkeit engagiert er sich im Vorstand von zwei Branchenverbänden.

Die Stiftung Battenberg – Entwicklung zum wirtschaftlich-sozialen Unternehmen

10

Markus Gerber und Jean-Daniel Pasche

10.1

Einleitung

Die Stiftung Battenberg fokussiert sich seit dem Jahr 2010 stark auf die Unternehmensentwicklung. Dies führte zu einem praktisch permanenten organisatorischen Change-Prozess, der vor allem proaktiv und teilweise auch reaktiv ausgelöst wurde. Die unternehmerische Führung stellte dabei eine neue Haltung des strategischen und operativen Managements dar und wurde in den ersten Jahren zwangsläufig top-down gelebt. Mit dem partizipativ erarbeiteten neuen Leitbild und der Strategie 2025 der Stiftung kann die unternehmerische Führung und das „unternehmerisch Sein“ nun auf allen Stufen gelebt und als Kulturmerkmal verankert werden. Die Fallstudie zeigt anhand der Unternehmensentwicklung seit dem Jahr 2010 sowie eines strategischen Ausblicks das aktuelle Profil der unternehmerischen Führung der Stiftung Battenberg auf und wie sie dieses weiterentwickeln will.

10.2

Stiftungsporträt

Die Stiftung Battenberg wurde 1962 als private Stiftung mit Sitz in Biel gegründet. Sie steht unter Eidgenössischer Stiftungsaufsicht. Der statutarische Stiftungszweck (Statuten, 2013, S. 1) lautet wie folgt: „La fondation a pour but la réadaption professionnelle, M. Gerber (B) · J.-D. Pasche Stiftung Battenberg, Biel, Schweiz E-Mail: [email protected] J.-D. Pasche E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Erpf und M. Gmür (Hrsg.), Unternehmerische Führung und Kultur in Non-Profit-Organisationen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40983-8_10

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M. Gerber und J.-D. Pasche

l’occupation et l’hébergement de personnes handicapées. A cet effet, elle peut créer et exploiter les institutions nécessaires. Le centre accueille des personnes handicapées des deux sexes, sans discrimination de religion, de région et de langue. Les bénéficiaires de prestations de l’assurance-invalidité fédérale seront admis en priorité.“ Am Anfang stand im Jahr 1962 die Initiative von weitsichtigen Patrons vor allem aus der Uhrenindustrie, die angesichts des damals bereits ausgeprägten Fachkräftemangels die Integration von behinderten Menschen in den Arbeitsprozess fördern und sie für qualifizierte Tätigkeiten in den Produktionsstätten der Uhrenindustrie ausbilden lassen wollten. Der Stiftungsidee und dem Ausbildungsangebot war großer Erfolg beschieden, sodass bereits drei Jahre später eine Wohnstätte errichtet wurde, um Auszubildende aus der ganzen Schweiz aufnehmen und an den Ausbildungsprogrammen teilhaben lassen zu können. Mit den Jahren wurden die Berufsfelder, in denen die Stiftung Battenberg Ausbildungen anbietet, gemäß dem Bedürfnis der Wirtschaft Schritt für Schritt diversifiziert und ausgebaut, etwa in den Branchen Elektronik, Mechanik, Polygrafie, und Administration. Über den Zeitraum von 2010 bis 2022 wandelte sich die Stiftung Battenberg vom Beruflichen Ausbildungszentrum zum wirtschaftlich-sozialen Unternehmen.

10.2.1 Stiftung Battenberg als Berufliches Ausbildungszentrum Die Entwicklung der Stiftung Battenberg, geführt als Berufliches Ausbildungszentrum, lässt sich über den Zeitraum von 1965 bis 2009 mit nachfolgenden Meilensteinen zusammenfassen: 1965

Eröffnung des Ausbildungszentrums mit Wohnheim unter dem Namen „Centre suisse de formation professionnelle horlogère pour invalides“ in Biel

1972–74

Erste Vergrößerung des Zentrums, Aufbau einer geschützten Werkstatt mit 50 Arbeitsplätzen für die Uhrenmontage

1975/76

Der konjunkturbedingte Abbau der Plätze in der Uhrenmontage führte zur Diversifikation des Ausbildungsangebots

1976

Namensänderung in Stiftung Battenberg

1994–95

Zweite Vergrößerung des Zentrums fokussiert auf die Branche Elektronik

2000

Auslagerung des Ausbildungsbereichs „Druckvorstufe und Druckerei“ an einen weiteren Standort

2003

Erstmalige Zertifizierung nach ISO 9001

10 Die Stiftung Battenberg – Entwicklung zum wirtschaftlich …

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10.2.2 Stiftung Battenberg als wirtschaftlich-soziales Unternehmen Die Entwicklung der Stiftung Battenberg, geführt als zweisprachiges, wirtschaftlichsoziales Unternehmen für die Berufliche Integration und Bildung, lässt sich über den Zeitraum von 2010 bis 2022 mit nachfolgenden Meilensteinen zusammenfassen: 2010

Partizipativer Strategieprozess nach SKU Methode der Ganzheitlichen Strategischen Führung (Schweizer Kurse für Unternehmensführung SKU, 2007)

2011

Strategie 2015 mit dem Battenberg-Geschäftsmodell

2012

Schaffung des „Prix Passerelle d’intégration“

2014

Eröffnung des Dienstleistungszentrums am Zweitstandort im Zentrum von Biel

2015

50 Jahre Jubiläum – Eröffnung des Restaurants Battenberg und Erneuerung des Gastronomiebereichs Unter dem Motto „Aktiv im Arbeitsleben – Zusammenarbeit mit der Wirtschaft“ feierte die Stiftung Battenberg am 3. Dezember 2015, am Internationalen Tag von Menschen mit Behinderung, zusammen mit mehr als 200 Gästen ihr 50-jähriges Bestehen. Die Jubiläumsuhr (siehe Anhang) konnte nur durch das präzise Zusammenwirken der Bereiche Mechanik, Marketing & Kommunikation, Kaufmännische Dienstleistungen und der Uhrmacherei realisiert werden. Es ist die Identifikation unseres Tuns – sowohl rückblickend auf unsere 50-jährige Geschichte als auch vorausschauend auf unserem Weg in die Zukunft. Den Weg ebnen – Seit 50 Jahren hilft die Bieler Stiftung Battenberg Menschen mit Beeinträchtigungen, den Einstieg in die Arbeitswelt zu meistern.

2018

Absorption der Bieler Stiftung AK15 per Fusion Partizipativer Strategieprozess, der sich methodisch an der Publikation „Strategieplanungsprozess, Analysen, Optionen, Projekte“ von Grünig und Kühn (2014) orientiert

2019

Strategie 2025 mit neuer Geschäftsbereichsorganisation und Geschäftsleitung unter dem Strategiemotto „Gemeinsam innovativ die Zukunft gestalten“

2021

Übernahme des Standorts Nidau des Vereins atelier93 in Dietikon, Zürich. Nidau hat im Bereich Arbeitsmarktintegration eine besondere Bedeutung für die Schweiz. Bereits 1993 entstand hier eines der ersten Ateliers für Arbeitsmarktintegration überhaupt, es war der erste Standort und namensgebend für den späteren Verein atelier93.ch. Mit vereinten Kräften der Mitarbeitenden haben wir zwei Erstaudits bestanden und freuten uns über die neuen Labels „Management Excellence NPO“ und „Zweisprachigkeit“.

2022

Einführung der neuen partizipativen Führung in der ganzen Stiftung, dies nach Abschluss und Evaluation des strategischen Pilotprojekts

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M. Gerber und J.-D. Pasche

10.3

Strategie 2015 – Neuausrichtung

10.3.1 Wirtschaftlich-soziales Unternehmen Die national tätige, zweisprachige Bieler Stiftung Battenberg richtet sich mit der Strategie 2015 (vgl. Abb. 10.1) neu aus und wird vom Beruflichen Ausbildungszentrum zum wirtschaftlich-sozialen Unternehmen. Die strategischen Entwicklungsziele der Stiftung Battenberg: • Sie führt ein neues Geschäftsmodell ein und öffnet sich für zusätzliche Zielgruppen und Auftraggebende. • Sie stärkt die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft mit der Passerelle zum ersten Arbeitsmarkt und bietet neu Trainingsarbeitsplätze als Sprungbrett in den Arbeitsmarkt. • Sie stärkt die Kundenorientierung, bringt regelmäßig Innovationen auf den Markt und erhöht damit ihre Wettbewerbsfähigkeit. • Sie nützt ihre Ressourcen und Potenziale optimal und sichert die nötige Ertragskraft für die mittel- und langfristige Fortführung und Weiterentwicklung der Stiftungstätigkeit.

Service Public

Wirtschaft Erster Arbeitsmarkt

Geschäftsmodell Battenberg

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Führung Strategie 2015

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Biel-Bienne 1.12.2011

Struktur

Abb. 10.1 Strategiefokus 2015 (Strategie, 2015)

Kultur

Wirtschaftlich-soziales Unternehmen

Menschen beruflich integrieren

Schweiz/Suisse

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Abb. 10.2 Strategie 2015 – BSC Perspektiven (Strategie, 2015)

10.3.2 Unternehmensentwicklung 2010–2022 Die strategische Entwicklung wird pragmatisch mit der Planungs-, Bewertungs- und Controlling-Methode Balanced Scorecard (BSC) unterstützt. Die Planung und das Controlling auf Ebene Strategieumsetzung werden somit unter den vier Perspektiven Kundenund Leistungsempfänger, Finanzen, Prozesse und Potenziale sichergestellt (vgl. Abb. 10.2). Die nachfolgende Matrixdarstellung (vgl. Tab. 10.2) zeigt die durch die Strategien 2015 und 2025 ausgelöste Unternehmensentwicklung der Zeitperiode 2010–2022 schwerpunktmäßig zu den vier Perspektiven A – D der Balanced Scorecard (BSC) zugeordnet auf. Zusätzlich wird eine pragmatische Verbindung zu den sieben Merkmalen der unternehmerischen Führung hergestellt (vgl. Tab. 10.1). Tab. 10.1 Zuordnung und Verbindung

BSC Perspektiven (A-D)

Merkmale unternehmerischer Führung (1–7)

A. Kunden und Leistungsempfänger B. Potenziale C. Prozesse D. Finanzen

1. Innovationsorientierung 2. Proaktivität 3. Risikobereitschaft 4. Autonomie 5. Aggressivität 6. Gemeinschaftliche Mobilisierung 7. Kooperative Mobilisierung

Tab. 10.2 Merkmale der unternehmerischen Führung

(Fortsetzung)

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Tab. 10.2 (Fortsetzung)

10 Die Stiftung Battenberg – Entwicklung zum wirtschaftlich …

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Tab. 10.3 Merkmale der unternehmerischen Führung II

10.3.3 Ist-/Soll-Profil unternehmerische Führung In der Tabelle 10.3 wird anhand der Unternehmensentwicklung seit dem Jahr 2010 das Ist-Profil, Stand 2020, (hellgrau) der unternehmerischen Führung der Stiftung Battenberg aufgezeigt. Auf der Basis des neuen Leitbilds und der Strategie 2025 will die Stiftung Battenberg die unternehmerische Führung in der Stiftung weiterentwickeln und das SollProfil (dunkelgrau) erreichen.

10.3.4 Wettbewerbsfähig dank Strategie 2015 Mit der Strategie 2015 und dem neuen Geschäftsmodell mit der Passerelle Battenberg zum ersten Arbeitsmarkt entwickelte sich das wirtschaftlich-soziale Unternehmen Battenberg in den Jahren 2010–2017 grundsätzlich positiv. Die Stiftung Battenberg konnte in dieser Zeit ihr oberstes Ziel, die Integrationsorientierung, wesentlich entwickeln und stärken, die Auftragsbasis diversifizieren, den Umsatz markant erhöhen und die Wirtschaftlichkeit sowie die Investitionskraft steigern. Die mehrjährige Change-Erfahrung führte zu einer hohen Veränderungskompetenz des

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strategischen und operativen Battenberg-Teams. Diese Kompetenz war inzwischen zur entscheidenden Schlüssel-Ressource gereift. Die Unternehmensentwicklung in den Jahr 2010–2017 schaffte Potenzial und ermöglichte im Jahr 2018 die größte Veränderung in der Geschichte der Stiftung. Unter dem Motto „gemeinsam-stärker@biel-bienne-innovation“ wurde die Bieler Stiftung AK15 per 1. Januar 2018 durch Absorptionsfusion in die Stiftung Battenberg integriert. Dadurch wurde die Marktposition der Stiftung gestärkt sowie das Markpotential erhöht. Das wirtschaftlich-soziale Unternehmen Battenberg schließt das Geschäftsjahr 2019 als Non-Profit-Organisation (NPO) zum zehnten Mal in Folge mit einem kleinen Gewinn ausgeglichen ab. Im Zehnjahresvergleich konnte die Stiftung ihren Gesamterlös mehr als verdoppeln und ihre Wirtschaftlichkeit sowie ihre Investitionskraft wesentlich verbessern: Die EBITDA-Marge (Gewinn vor Zinsen, Steuern, Abschreibungen auf Sachanlagen und Abschreibungen auf immaterielle Vermögensgegenstände) konnte um 7,3 % gesteigert werden (2009: –1,0 %, 2019: 6,3 %). Dies erlaubte der Stiftung Battenberg in den letzten Jahren, regelmäßig und mehrheitlich aus eigener Kraft wesentliche Investitionen zu tätigen. Mit der Strategie 2025 soll diese Entwicklung gesichert und weitergeführt werden.

10.4

Strategie 2025

Die Stiftung Battenberg muss, wie jedes Unternehmen und jede Institution, anhand des folgenden Frageschemas ihre wirtschaftliche Nachhaltigkeit und die entsprechenden Potenziale immer wieder überprüfen: Was wollen wir in Zukunft tun? Was sind unsere Ziele? – Wie entwickelt sich unsere Umwelt und welchen Einfluss hat sie auf unsere Institution? – Wer sind unsere Wettbewerber? – Macht die von uns angestrebte Tätigkeit in der heutigen Welt noch Sinn? – Welche Mittel stehen uns zur Verfügung? Die Antworten auf diese Fragen bilden die Grundlage für die Strategieprozesse der Stiftung Battenberg. Nach der Fusion müssen im Rahmen des Integrationsprozesses schrittweise die Organisations- und Infrastrukturen restrukturiert und konsolidiert werden, dies mit dem Ziel die Kosten zu reduzieren und die Effizienz und Effektivität zu verbessern. Im Geschäftsjahr 2019 wurde auf der Basis der Vorarbeiten der Mitarbeitenden zum Leitbild in einem breiten partizipativen Strategieprozess und unter Beizug externer Moderation und von Experten die Strategie 2025 erarbeitet. Mit dem partizipativ erarbeiteten neuen Leitbild (Abschn. 10.4.1; vgl. Abb. 10.3) und der Strategie 2025 (Abschn. 10.4.2; vgl. Abb. 10.4) der Stiftung kann die unternehmerische Führung und das „unternehmerisch Sein“, basierend auf den übergeordneten Grundlagen, auf allen Stufen gelebt und als Kulturmerkmal verankert werden.

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Abb. 10.3 Leitbild Fokusbereiche (Geschäftsbericht, 2019)

10.4.1 Leitbild Unser Ziel Unser Ziel ist die Integration von Menschen mit besonderen Bedürfnissen in den Arbeitsmarkt und in die Gesellschaft als aktive Mitglieder. Den langfristigen Erfolg unserer Stiftung sichern wir durch eine stetige Weiterentwicklung unserer Dienstleistungen und Produkte, die Optimierung unserer Wirtschaftlichkeit, eine breit abgestützte Finanzierung sowie gut funktionierende Netzwerke. Unser Selbstverständnis Die gemeinnützige Stiftung Battenberg ist ein national tätiges, zweisprachiges, wirtschaftlich und sozial erfolgreiches Unternehmen. Auf den drei Pfeilern berufliche und soziale Integration, berufliche Bildung und Wohndienstleistungen basierend, bieten wir Menschen mit besonderen Bedürfnissen eine individuell abgestimmte Begleitung in den Arbeitsmarkt. Unsere Tätigkeitsfelder Wir bieten berufliche und soziale Integrationsdienstleistungen, vermitteln berufliche Bildung und fördern die individuelle Autonomie. Im Rahmen dieser Tätigkeiten erbringen wir markt- und wettbewerbsfähige Dienstleistungen und erzeugen Produkte für den freien Markt. Wir ermöglichen berufliche Grundbildung für den Erst- und Wiedereinstieg, angepasste Arbeitsplätze, Abklärung, Training, Coaching und Beratung. Wir schaffen Wohnraum mit individuell angepassten Dienstleistungen. Unsere Stakeholder Unsere Zielgruppen sind Menschen mit besonderen Bedürfnissen bezüglich Integration in den Arbeitsmarkt, Beschäftigung und Förderung. Wir arbeiten eng und partnerschaftlich mit öffentlich-rechtlichen und privaten Institutionen zusammen und erbringen für diese Leistungen. Unsere leitenden Werte Jeder Mensch besitzt seine eigenen Fähigkeiten und Ressourcen. Wir begegnen einander mit Respekt und Wertschätzung und nehmen jeden Menschen als eigenständige Persönlichkeit wahr. Wir handeln verantwortungsvoll bezüglich sozialer, wirtschaftlicher, technologischer und ökologischer Entwicklungen, dies im Sinne der Nachhaltigkeit. Wir bekennen uns zu Teilhabe, Selbstbestimmung und Wahlfreiheit.

10 Die Stiftung Battenberg – Entwicklung zum wirtschaftlich …

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Unsere Mitarbeitenden Unser Erfolgsfaktor ist die Bereitschaft der Mitarbeitenden, sich mit der Vision und dem Auftrag der Stiftung zu identifizieren, sich dafür zu engagieren und die Unternehmenskultur positiv mitzugestalten. Wir bekennen uns auf allen Stufen zu einer proaktiven, zukunftsorientierten, unternehmerischen Führung und Weiterentwicklung der Stiftung. Die Mitarbeitenden entwickeln mit ihrer Sozial-, Fach- und Führungskompetenz die Stiftung Battenberg innovativ und marktorientiert weiter. Wir achten auf die Gesundheit und fördern die kontinuierliche Aus- und Weiterbildung. Unsere Arbeitsweise Wir agieren kundenorientiert und kooperativ. Das begleitende Case Management berücksichtigt die komplexen Lebenssituationen der Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Dank flachen Hierarchien mit Entscheidungskompetenzen auf sämtlichen Stufen schaffen wir kurze Entscheidungswege. Wir fördern die Autonomie, Eigenverantwortung und die Mitsprache aller Mitarbeitenden. Eine professionelle, interdisziplinäre Zusammenarbeit ermöglicht Fortschritt. Unser internes Qualitätsmanagement garantiert effiziente Prozesse und eine kontinuierliche Verbesserung.

10.4.2 Strategien und Teilstrategien Im Jahr 2010 hat die Stiftung die Strategie 2015 entwickelt, in den Jahren 2019 und 2020 folgen die Arbeiten zur Strategie 2025. Der Markt verändert sich immer schneller, und als Marktteilnehmer muss man sich strategisch und operativ agil auf diese Veränderungen ausrichten können. Davon sind auch NPO nicht ausgenommen. Das Marktumfeld ist in den letzten zehn Jahren viel anspruchsvoller geworden: erhöhter Druck auf die Ergebnisse, finanzieller Druck, Forderungen nach mehr Flexibilität, kürzere Maßnahmen für die Klientinnen und Klienten der Stiftung. Mit einem Wort ist mit weniger mehr zu leisten. Ausdruck der Veränderungen im Markt war auch die Fusion der Stiftung Battenberg mit der Stiftung AK15: Es geht nun zum einen darum, komplementäre Aktivitäten, zusätzliche Räumlichkeiten und unterschiedliche Bedürfnisse beim Personal so zu bewältigen, dass eine gemeinsame Unternehmenskultur heranwachsen kann. Diese Entwicklung birgt Chancen für die Zukunft der Stiftung, aber auch Risiken. Heute steht die Stiftung Battenberg zum andern vor zahlreichen wichtigen Herausforderungen, die es erforderlich machen, die Ressourcen, die Potenziale und die Funktionsweise zu analysieren und die Richtung festzulegen, die es künftig einzuschlagen gilt. Die Welt, auch diejenige der NPO, verändert sich schnell und wartet nicht. In einem sich entwickelnden Wettbewerbsumfeld müssen das Profil geschärft und die hieraus gewonnenen Vorzüge optimal genutzt werden, um die sich bietenden Chancen ergreifen zu können. Die Gesamtstrategie 2025 der Stiftung Battenberg ist in Abb. 10.4 zusammengefasst und unterteilt sich in die Marktstrategie (extern) und in die Ressourcenstrategie (intern).

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Abb. 10.4 Strategiehaus 2025 (Geschäftsbericht, 2019; Stiftung Battenberg, 2020)

Für die Umsetzung wurde im Jahr 2020 auf Basis der Strategie und des Geschäftsmodells die Aufbauorganisation gestrafft und in fünf marktorientierte Geschäftsbereiche gegliedert, ergänzt durch die Stabsbereiche Unternehmens- und Organisationsentwicklung sowie Finanzen und Controlling. Für die operative, unternehmerische Führung wurde neu

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eine Geschäftsleitung eingesetzt, die die markt- und kundenorientierte Umsetzung der Strategie 2025 fokussiert und das neue Leitbild vorlebt. Für die ersten Umsetzungsjahre der Strategie 2025 wurden adäquate Finanz- und Liquiditätsdispositionen getroffen, die die notwendigen strukturellen Anpassungen und Restrukturierungen ergänzen sowie die Entwicklungsmaßnahmen ermöglichen sollen. Das proaktive Ressourcenmanagement ist und bleibt ein zentrales Element der unternehmerischen Führung.

10.4.3 Krisensituation Corona Die Stiftung Battenberg ist ein Unternehmen mit einem sehr heterogenen Umfeld. Sie führt einen öffentlichen Gastronomiebetrieb, betreibt unterschiedliche Wohngruppen, bietet Ausbildungsplätze in unterschiedlichsten Berufsfeldern mit unterschiedlich ausgestalteten Arbeitsplätzen an, führt arbeitsmarktliche Abklärungen und Maßnahmen durch, betreibt geschützte Werkstätten und bietet Beschäftigungs- und Integrationsprogramme für die Sozialhilfe an. In einer Situation wie der Corona-Krise sind Lösungswege zu beschreiten, die den unterschiedlichen Bedürfnissen der heterogenen Klientel einerseits und anderseits der Mitarbeitenden und der Auftraggebenden, darunter die IV als Hauptauftraggeberin, gerecht werden. Der Stiftungsrat hat am 16. März 2020 zur Bewältigung der Situation einen Krisenstab einberufen, der paritätisch mit je drei Mitgliedern des Stiftungsrats und der Geschäftsleitung besetzt wurde. Damit waren kurze Entscheidungswege und rasche Anpassungen an die sich verändernden Gegebenheiten sichergestellt. Auf operativer Ebene wurde die Geschäftsleitung mit einem Corona-Präventionsausschuss interdisziplinär verstärkt. Damit war gewährleistet, dass alle relevanten Unternehmensbereiche und die spezifischen Interessen und Bedürfnisse aller Klientinnen sowie Klienten jederzeit adäquat berücksichtigt wurden. Parallel und interaktiv zum Krisenmanagement wurde der laufende strategische Umsetzungsprozess mit den neuesten Erkenntnissen aus der Corona-Krise ergänzt und das Chancen- und Risikomanagement verstärkt. Dies mit dem Ziel, die Risiken zu minimieren und die Chancen und Opportunitäten, die die Krise hervorbringt, zu nutzen. Die negativen Auswirkungen der Krise erforderten jedoch außerordentliche betriebswirtschaftliche Maßnahmen, diese wiederum führten zu entsprechenden Anpassungen in den operativen und strategischen Plänen sowie in den Ressourcen. Im Spannungsfeld zwischen den strategischen Investitionen und dem steigenden Kosten- und Restrukturierungsdruck sind gerade in Krisenzeiten Agilität und Resilienz sowie unternehmerische Führung(sentscheide) gefordert.

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10.5

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Marktliberalisierung

Die Schweiz hat die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) 2014 ratifiziert. Dies stellt einen Meilenstein auf dem Weg zur Gleichstellung und zur Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung dar. Die vollständige gesellschaftspolitische und praktische Umsetzung im gesellschaftlichen Zusammenleben bleibt jedoch eine große Herausforderung und wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Die Dienstleistungsbedürfnisse von Menschen mit Behinderung verändern sich in der Folge Schritt für Schritt, wie auch die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen neugestaltet werden. Die per 1. Januar 2022 in Kraft gesetzte siebte IV-Revision, die zum Teil kantonal geplante Umstellung von der Objekt- zur Subjektfinanzierung oder die Veränderung in der kantonalen Zuweisungspraxis via öffentliche Ausschreibungen oder offene, qualifizierte Akkreditierungsverfahren für die Dienstleistenden sind Beispiele hierfür. Insgesamt werden diese Neuerungen zu einer Marktliberalisierung und damit einer Verstärkung des Wettbewerbs- und Kostendrucks in der Branche der sozialen Dienstleistungsorganisationen führen. Die Branchenstrukturen werden noch stärker unter Druck geraten, und es gilt, Geschäftsmodelle, Dienstleistungen und Strukturen der Organisationen zukunftsorientiert zu reformieren. Die Stiftung Battenberg hat mit der Übernahme der Stiftung AK15 per Absorptionsfusion im Jahr 2018 und der Übernahme des Standorts Nidau des Vereins atelier93 in Dietikon, Zürich ihr Angebot diversifiziert und ihre Marktposition gestärkt sowie das Markpotential erhöht. Sie fokussierte in den ersten Jahren nach der Übernahme auf die markt- und kompetenzorientierte Integration dieser beiden Organisationen in die Stiftung und erarbeitete die Strategie 2025. Wir integrieren Menschen, partnerschaftlich, marktorientiert, zuverlässig. Aktuell, im Jahr 2022, befindet sich die Stiftung Battenberg im zweiten Umsetzungsjahr der Strategie 2025 und ist, trotz den erschwerten Rahmenbedingungen, u. a. aufgrund der Krisen der letzten Zeit, grundsätzlich auf Kurs. Als nächste Schritte stehen die Restrukturierung und Konsolidierung der Organisations-, Infrastrukturund Kostenstrukturen an; dafür werden die Digitalisierung und die neue partizipative Führung zentrale Erfolgsfaktoren sein. Dies ist ein entscheidender Schritt, denn der Kostenund Konkurrenzdruck haben sich innert kurzer Zeit stark erhöht. Das Innovations- und Kooperationspotential sowie die Marktpositionierung der einzelnen Dienstleistungsorganisationen und -unternehmen werden für eine positive Unternehmensentwicklung entscheidend sein. Die Stiftung Battenberg wird im Rahmen ihres aktuellen Geschäftsmodells weiter markt- und kundenorientiert auf Innovation und Kooperation setzen und zusätzlich strukturelle und zweckorientierte Innovationen und Diversifikationen prüfen. Das agile unternehmerische Führen, strategisch wie operativ, wird damit auch in der sozialen Dienstleistungsbranche zum Erfolgsfaktor.

10 Die Stiftung Battenberg – Entwicklung zum wirtschaftlich …

10.6

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Führungsstatements

Die strategische Führung der Stiftung Battenberg wurde mit den zwei Strategieprozessen 2015 und 2025 (vgl. Abb. 10.5) sowie den Umsetzungszyklen grundsätzlich gut etabliert, muss jedoch weiter professionalisiert und in regelmäßigen Zyklen sowie noch stärker partizipativ und kooperativ erfolgen. Aus dem Gesagten lassen sich folgende Führungserkenntnisse ableiten: • Die Strategie darf nicht nur an der Spitze der Stiftung beschlossen, sondern muss auf jeder Ebene und in jedem Geschäftsbereich gelebt werden. Das ist die Voraussetzung für den Erfolg. Um die Strategie realistisch und durchführbar zu machen, sind daher alle Ebenen der Stiftung, Stiftungsrat, Management und Mitarbeitende sowie die externen Stakeholder, in die Analyse der aktuellen Situation und die Festlegung möglicher Handlungsfelder einzubeziehen. • Das Ziel muss für alle Beteiligten sein, der Organisation eine erfolgreiche Zukunft zu sichern und für ein angenehmes, motivierendes und innovationsförderndes Arbeitsumfeld zu sorgen, und dies in einem sich stark verändernden Marktumfeld. • Das in einem partizipativen Prozess ausgearbeitete Leitbild soll die Mitarbeitenden leiten sowie motivieren und Tag für Tag fruchtbar, kunden- und marktorientiert in den Arbeitsprozess einfließen. Abb. 10.5 Strategie 2025 – BSC Perspektiven (Geschäftsbericht, 2019)

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M. Gerber und J.-D. Pasche

• Unsere Mitarbeitenden sind der Schlüssel zum Erfolg und das Potenzial für die Zukunft des wirtschaftlich-sozialen Unternehmens Battenberg. Wir danken allen Personen und Einrichtungen, die uns unterstützen, seien es Mitarbeitende der Stiftung, Kunden, Auftraggebende, Spenderinnen oder unsere öffentlichen sowie privaten Partner.

Logo der Stiftung Battenberg (www.battenberg.ch; Stiftung Battenberg, 2022)

10.7

Anhang

Jubiläumsuhr 1965–2015 (Geschäftsbericht, 2015; Stiftung Battenberg, 2016)

Literatur Grünig, R., & Kühn, R. (2014). Strategieplanungsprozess, Analysen, Optionen, Projekte. Haupt. Laloux, F. (2015). Reinventing Organizations, Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. Vahlen. Verein Schweizer Kurse für Unternehmensführung SKU. (2007). Methode der Ganzheitlichen Strategischen Führung (Diplomkurs). https://sku.ch/sku-management-programm. Zugegriffen: 24. Okt. 2022.

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Stiftung Battenberg. (2013). Statuten. Unveröffentlichtes Dokument. Stiftung Battenberg, Strategie. (2015). Unveröffentlichtes Dokument. Stiftung Battenberg. (2016). Geschäftsbericht 2015. Stiftung Battenberg im Jubiläumsjahr (1965– 2015). Stiftung Battenberg. (2020). Geschäftsbericht 2019. Stiftung Battenberg. (2022). Startseite. www.battenberg.ch. Zugegriffen: 24. Okt. 2022.

Markus Gerber, dipl. Betriebsökonom FH, dipl. NPO-/ Verbandsmanager VMI, Universität Freiburg und Certified Board Member, Rochester-Bern Executive Programs, leitet seit 2009 als Direktor die deutsch- und französischsprachige Stiftung Battenberg in Biel. Seit 2019 ist er ehrenamtlich Verbandspräsident von PluSport Behindertensport Schweiz, nachdem er bereits seit 2014 Vorstandsmitglied von PluSport Schweiz war. In der SBS Schweizerische Bibliothek für Blinde, Seh- und Lesebehinderte engagiert er sich seit 2019 ehrenamtlich als Verwaltungsrat. Zuvor war er Staatsbuchhalter des Kantons Bern (1998–2003) und in der Folge (2003–2009) Amtsvorsteher der Finanzverwaltung des Kantons Bern. In den Jahren 1987 bis 1998 war er in leitenden und geschäftsführenden Funktionen in zwei international tätigen Schweizer Industriekonzernen tätig. Jean-Daniel Pasche, Dr.iur. begann seine Karriere als Jurist beim Bundesamt für geistiges Eigentum (heute Eidg. Institut für geistiges Eigentum) im Jahr 1981. 1990 wurde er zum Vize-Direktor des Amtes ernannt. Per 1. Juli 1993 wechselte er als Direktor zum Verband der Schweizerischen Uhrenindustrie FH in Biel. Am 1. Juli 2002 übernahm er dort vollamtlich die Funktion des Präsidenten (executive President). Er ist auch Vorstandsmitglied der Swiss-Arab Chamber of Commerce in Genf und Präsident des Stiftungsrates der Stiftung Battenberg (Berufliche Integration und Bildung) in Biel.

Powercoders: Im Dienst der nächsten Generationen

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Mathias Morgenthaler

Seit Christian und Bettina Hirsig Kinder haben, wägen sie genau ab, wofür sie ihre Zeit und Arbeitskraft einsetzen. Powercoders, ihre Programmierschule für Flüchtlinge, ist fünf Jahre nach der Gründung eine Erfolgsgeschichte. Nun will das Berner Unternehmerpaar auch in Nordafrika die Berufsperspektiven benachteiligter Menschen verbessern – mithilfe der DEZA und verschiedener Stiftungen. Es gibt Menschen, die sind froh, wenn das Leben in geordneten Bahnen verläuft und die Dinge sich nicht zu sehr verändern; und es gibt Menschen wie Bettina und Christian Hirsig (siehe Abb. 11.1), die immer dann etwas Neues in Angriff nehmen, wenn man von außen den Eindruck hat, sie hätten sich doch gerade erst neu erfunden. So auch diesmal: Während der Autor erfahren möchte, wie das alles angefangen hat mit der NonProfit-Organisation Powercoders, einer Programmierschule für Flüchtlinge, ist Christian Hirsig mit einem Bein schon in der Tür. Was gut funktioniert, interessiert ihn traditionellerweise deutlich weniger als das, was gerade entsteht – an diesem Tag nimmt die erhoffte Kooperation mit der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) konkrete Formen an, was für Hirsig ähnlich bedeutend ist wie für andere Unternehmer eine Finanzierungsrunde. Das Unternehmerpaar Hirsig war nicht immer im Social Business tätig, sondern hat in der Privatwirtschaft erste Berufserfahrung gesammelt: Christian Hirsig, in dessen Familie Unternehmertum der Normalfall war, stieg nach dem Betriebswirtschaftsstudium an der Berner Fachhochschule zunächst bei der Post ins Berufsleben ein und half dort, das Dieser Beitrag basiert auf einem Gespräch, das am 1. Juni 2022 mit Bettina und Christian Hirsig in Bern stattfand. M. Morgenthaler (B) Beruf+Berufung Education GmbH, Bern, Schweiz E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Erpf und M. Gmür (Hrsg.), Unternehmerische Führung und Kultur in Non-Profit-Organisationen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40983-8_11

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M. Morgenthaler

Abb. 11.1 Sie haben Powercoders gegründet: Bettina und Christian Hirsig. (Quelle: Pascal Triponez)

Projekt „Webstamp“ zu realisieren; bald entschied er sich, die „einengenden Strukturen“ des Staatsbetriebs zu verlassen und die Firma Atizo zu gründen, eine Plattform zur Generierung von Ideen. Bettina Hirsig, auch sie Tochter eines Unternehmers, hat nach dem Wirtschaftsstudium in Bern bei Wander Traditionsmarken wie Caotina und Ovomaltine vermarktet und Führungsverantwortung übernommen. Im Jahr 2014 konnte Christian Hirsig seine Anteile an Atizo verkaufen – er wurde dadurch zwar nicht zum Millionär, gewann durch den tiefen sechsstelligen Erlös aber doch Spielraum für besondere Projekte. Vor kurzem zum ersten Mal Eltern geworden, gönnten sich die Hirsigs 2015 eine Auszeit ohne berufliche Verpflichtung, bereisten zu dritt die Welt, genossen die Zeit mit ihrem kleinen Sohn und gründeten gemeinsam die Firma Tmrrw AG mit dem Ziel, künftig sinnvolle Dinge voranzutreiben und nie so viel zu arbeiten, dass die Familie darunter zu leiden hätte. Christian Hirsig hatte als Kind wenig von seinem Vater gehabt, weil dieser als Unternehmer fast pausenlos gearbeitet hatte. Weil auch er gerne und viel arbeitet, hat er sich fixe Auflagen gemacht: 11 von 14 Morgen- und Abendessen pro Woche will er im Familienkreis genießen, zwei Tage sind fix für die Kinderbetreuung reserviert. Diese Prioritäten haben ihn nicht daran gehindert, große Projekte wie Powercoders erfolgreich auf dem Markt zu etablieren. Als eine seiner größten Stärken bezeichnet der 42-Jährige die Fähigkeit, „mit einer guten Portion Naivität Dinge anzupacken, von denen andere lieber die Finger lassen“. Regelmäßig wagt er sich dabei in Fachgebiete vor, in denen er selber Laie ist, und verfolgt Ideen, die andere ihm zugetragen haben. So kam es auch zum Powercoders-Projekt: 2016, nach dem Familien-Sabbatical-Jahr, wurde er vom US-Außenministerium mit 44 anderen jungen Europäern zu einem Innovationsworkshop eingeladen. Dort lernte er eine tschechische und eine österreichische Unternehmerin kennen. Die eine baute erfolgreich eine Programmierschule für Frauen auf, die andere

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erzählte von einem Koch- und Cateringprojekt mit Flüchtlingen. Und mitten im Gespräch sagte eine der beiden im Halbernst zu Hirsig, er könnte ja beides kombinieren und eine Programmierschule für Flüchtlinge gründen. Viele andere hätten es beim Konjunktiv belassen, doch Hirsig liebt nichts so sehr wie Ideen aufzugreifen, die in der Luft liegen und derer sich noch niemand angenommen hat. „Ich sehe meistens mehr Chancen als Gefahren – so war es auch in diesem Fall“, erinnert er sich. Zwar sei er selber weder ein Programmiercrack noch ein Asylexperte, aber für ihn sei klar gewesen, dass Integration am besten über den Arbeitsmarkt gelinge und dass angesichts des sich verstärkenden Fachkräftemangels in IT-Berufen auch die Wirtschaft Interesse an einem solchen Projekt haben müsste. Mehr als diese Grundüberzeugung brauchte Hirsig nicht, um sich der Sache anzunehmen. Er ist sogar überzeugt, dass es besser ist, zu Beginn nicht allzu viel von einer Sache zu verstehen, weil man dadurch weniger Bedenken hat als die erfahrenen Spezialisten und mit mehr Phantasie an ein Projekt herangeht. Nach der Rückkehr in die Schweiz machte sich Hirsig mit der ihm eigenen freudigen Neugier kundig, redete mit einem Kollegen, der gerade in einer Asylunterkunft seinen Zivildienst absolvierte, tauschte sich mit IT-Spezialisten, Personalverantwortlichen großer Firmen, Vertretern einer Stiftung und einer Bank aus – und im Lauf dieser Gespräche entwickelte sich eine solche Eigendynamik, dass es gar nicht mehr zur Debatte stand, ob er das Projekt realisieren würde, weil sich die Gespräche längst ums Wie drehten. Hirsig holte eine Sozialarbeiterin mit indischen Wurzeln und einen Programmierlehrer an Bord, und bereits Anfang 2017 startete im Effinger-Coworking in Bern der erste Lehrgang (Abb. 11.2). Gut fünf Jahre später ist Powercoders längst ein mehrfach preisgekröntes Erfolgsprojekt. Über 200 Flüchtlinge sowie Migrantinnen und Migranten aus 28 Herkunftsländern haben die dreimonatige Programmierschulung bei Powercoders durchlaufen, 90 % davon einen Praktikumsplatz, rund 60 % eine dauerhafte Anstellung gefunden – auch dank der Mithilfe von rund 250 IT-Trainern und Job-Coaches, die sich ehrenamtlich für das Projekt ins Zeug legen. Das Powercoders als Verein organisiert ist, habe speziell in der Anfangszeit geholfen, sagt Bettina Hirsig, weil dadurch für alle offensichtlich gewesen sei, dass der Zweck über dem Geld-Verdienen stehe. Die ersten 80.000 Franken steuerte Migros Kulturprozent bei, danach kam rasch eine weitere halbe Million von Stiftungen und vom Bund zusammen. „Die erste Million haben wir vor allem erhalten, weil wir kein profitorientiertes Unternehmen waren“, sagt Christian Hirsig. „Danach kam uns aber zugute, dass wir von Anfang an sehr wirtschaftlich gedacht und eigene Mittel generiert haben.“ So sei Powercoders eine gute Mischung aus einer Hilfsorganisation und einem marktorientierten Unternehmen. Laut Bettina Hirsig, die Powercoders heute operativ führt, sind im Team schon früh Leistungskennzahlen (KPIs) definiert worden. „Für die Mitarbeitenden war es motivierend, ein Businessmodell mitzuentwickeln, als wäre es ein normales Start-up, und gleichzeitig zu wissen, dass das gesellschaftliche Ziel der Berufsintegration über allem anderen steht“, sagt Bettina Hirsig.

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Abb. 11.2 Powercoders bietet eine dreimonatige Programmierschulung an. (Quelle: © Powercoders)

Wesentlicher Pfeiler dieses Geschäftsmodells ist, dass rund 60 % der Einnahmen im freien Markt erzielt werden. 10.000 Franken erhält Powercoders durchschnittlich als Spende von Unternehmen pro platzierte IT-Fachkraft, weitere 7000 Franken pro Kopf steuern die Flüchtlingssozialdienste der Kantone bei. Dank diesem NischenGeschäftsmodell kann das Social-Entrepreneur-Paar Hirsig heute befriedigt bilanzieren, Powercoders gehe es „gut“; man habe Reserven anlegen und erzielte Überschüsse in das bestehende und in neue Projekte reinvestieren können, etwa in Futurecoders, ein Bootcamp für Jugendliche aus benachteiligten Familien. Die Reserven sind insofern wichtig, als inzwischen neun Personen auf der Lohnliste stehen und die Zahl der Asylanträge von Jahr zu Jahr stark schwanken kann. Hatte das Staatssekretariat für Migration im Jahr 2015 rund 35.000 Asylanträge gutgeheißen, fiel dieser Wert im Jahr 2020 auf gut 8000 positive Asylbescheide zusammen. „Für uns heißt das, dass der Nachschub an Talenten innert fünf Jahren um fast 80 % eingebrochen ist“, resümiert Bettina Hirsig, „teils wegen der Covid-Restriktionen, teils wegen einer veränderten Migrationspolitik“. Powercodes hat proaktiv auf diese Entwicklung reagiert und statt zu klagen auf Innovation gesetzt: So wurde das Programm auch für Migrantinnen resp. Migranten ohne Flüchtlingsstatus geöffnet; durch eine engere Zusammenarbeit mit den regionalen Arbeitsvermittlungszentren und Sozialdiensten konnten zusätzliche Teilnehmende angesprochen und gewonnen werden. Weiter hat Powercoders die Zusammenarbeit mit Organisationen im gleichen Tätigkeitsfeld gesucht, etwa dem Verein Hi/Coders, der erfolgreich Flüchtlinge schult; und als am Schweizer Fernsehen ein Beitrag über eine IT-Jobplattform für Ukrainische Flüchtlinge ausgestrahlt wurde, griff Bettina Hirsig schon am nächsten Morgen zum Telefon, um eine Kooperation mit Powercoders in die Wege zu leiten. „Es

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braucht eine gesunde Aggressivität, wenn man in diesem Feld etwas bewegen will“, sagt Christian Hirsig, und Bettina Hirsig ergänzt, nichts motiviere ihren Mann so sehr wie wenn jemand ihm sage, das gehe leider nicht. Warum läuft da einer zur Hochform auf, wenn andere längst die Segel streichen würden? Gegen Ende der Schulzeit habe sein Vater für ihn eine Lehrstelle bei der Mobiliar Versicherung organisiert, weil er ihm nicht zugetraut habe, dass er es an die Wirtschaftsmittelschule schaffe. Da habe er alles darangesetzt, ihm das Gegenteil zu beweisen. Und dieser Reflex kommt noch immer zum Tragen, wenn es in einer Sache zuerst ein Nein absetzt; wenn zum Beispiel der Personalverantwortliche einer Schweizer Großbank zunächst Bedenken anmeldet, ob es aus Sicherheitsüberlegungen möglich sei, Flüchtlinge in der IT-Abteilung der Bank einzustellen. Hirsig insistierte nicht nur mehrmals, sondern stellte schließlich den Kontakt zwischen dem Kadermann der Bank und einem Vertreter des Nachrichtendiensts des Bundes her, damit dieser ihm in allen Details erkläre, wie genau Asylsuchende vor einer Aufnahme geprüft werden. Die Hartnäckigkeit hat sich ausbezahlt: Inzwischen sind schon 23 Powercoders-Absolventen für die entsprechende Großbank tätig. „Das Schwierigste ist für mich nicht, etwas Riskantes zu wagen, sondern wenn mir jemand sagt, etwas sei nicht möglich und ich müsste das akzeptieren“, sagt Christian Hirsig. Dass er Mühe habe, ein Nein zu akzeptieren, sei Stärke und Schwäche zugleich; Schattenseiten dieser Charaktereigenschaft seien, dass er kein guter Verlierer sei und ihm oft die Geduld fehle, wichtige Dinge im Team zu besprechen und auszubalancieren. „Christian ist ein Überzeugungstäter, der schnell vorangeht, manchmal auch mit dem Kopf durch die Wand“, sagt Bettina Hirsig über ihren Mann. So ist es kein Zufall, dass er Powercoders lanciert und die richtigen Leute an Bord geholt hat, inzwischen aber sie das Unternehmen führt. „Ich mag es, Dinge zu verbessern und die Organisation so zu gestalten, dass sich alle wohl fühlen und alle Verantwortung übernehmen“, sagt Bettina Hirsig, die sich in der Aufbauphase im zweiten Glied um Kommunikation, Finanzen, rechtliche Fragen und Einstellungen gekümmert hatte und danach die operative Führung übernahm. Bei der Führung setzt die Chefin auf Mitbestimmung und Agilität. So können die Angestellten bei Powercoders ihre Löhne innerhalb gewisser Bandbreiten selber festlegen. „Wir haben keine Mühe, gute Leute zu finden, auch wenn die Löhne bei uns etwa 20 % unter dem liegen, was man in der Privatwirtschaft verdienen würde“, sagt Bettina Hirsig. Wichtiger als das Lohnoptimum sei den Mitarbeitenden, dass sie in einem kleinen Team eigenverantwortlich etwas Sinnvolles bewegen könnten. Dass Agilität bei Powercoders mehr als ein Schlagwort ist, zeigte sich nach Ausbruch der CoronaPandemie: Nur zwei Wochen nach dem ersten Lockdown hatte das Team die dreimonatige Programmierausbildung von Präsenzunterricht auf Online-Schulung umgebaut. Auch bei der Weiterentwicklung der Powercoders-Idee waren nicht ausschließlich Christian und Bettina Hirsig federführend. Stellvertretend sei die Geschichte von Hussam Allaham erwähnt, der 2015 als Flüchtling aus Syrien über den Libanon in die Schweiz kam, 2017 den ersten Powercoders-Lehrgang durchlief, daraufhin in der Organisation

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die Industriepartnerschaften übernahm und nun treibende Kraft beim Projekt „Remotecoders“ ist. „Im Frühling 2017 führte ich ein langes Gespräch mit Hussam“, erinnert sich Christian Hirsig. „Er fand unser Projekt gut, wollte aber darauf hinarbeiten, solche Ausbildungen näher an den Krisenherden anzubieten.“ Die Syrerinnen und Syrer würden eine ganze Generation verlieren, habe ihm Hussam gesagt, nur eine kleine Minderheit habe das Glück, in der Schweiz eine Chance zu bekommen. Ursprünglich war geplant, dass der Verein Powercoders als Franchisegeber diverse Programmierschulen in anderen Ländern aufzubauen hilft, etwa in Istanbul, wo zwei Millionen Syrer leben. Wegen des starken Frankens und unterschiedlichen Herausforderungen an den verschiedenen Standorten erweis sich dies aber als schwierig. Im Herbst 2021 gründete Hussam Allaham gemeinsam mit Christian Hirsig die Schwesterorganisation „Remotecoders“ mit dem Ziel, im Mittleren Osten und Nordafrika IT-Talente auszubilden und ihnen so neue Jobperspektiven zu geben. Dass das Projekt über die Schweiz hinauswachsen muss, steht für Christian Hirsig außer Frage. „In Europa finden viele Unternehmen nur mit Mühe qualifizierte IT-Fachleute, in Nordafrika gibt es für Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen, Frauen, Flüchtlinge und Migrant_innen zu wenig Arbeitsmöglichkeiten“, erläutert der Unternehmer. Remotecoders will nun einen ersten Schulungsstandort in Kairo eröffnen, mit dem Ziel, dass die Absolventinnen und Absolventen danach entweder in der lokalen IT-Industrie arbeiten oder remote, also aus der Ferne, für europäische Unternehmen tätig sein können. Die Nachfrage nach IT-Sachkundigen dürfte einstweilen hoch bleiben: Allein in der Schweiz werden bis im Jahr 2028 Studien zufolge 117.000 neue ICT-Fachkräfte benötigt, für den EU-Raum sind schon für 2025 rund 1,5 Mio. vakante Stellen prognostiziert. Die Idee, nicht nur in der Schweiz, sondern auch in den Herkunftsländern jener, die als Flüchtlinge zu uns kommen, IT-Ausbildungen anzubieten, kommt deshalb genau zur richtigen Zeit und erfährt entsprechend viel Unterstützung. So hat die DEZA 1,2 Mio. Franken für das Remotecoders-Projekt gesprochen, vier Stiftungen und die Industrie steuern weitere 1,2 Mio. Franken bei. Christian Hirsig sagt, das Momentum sei jetzt ideal für eine erfolgreiche Mobilisierung verschiedener Kräfte. „Die Schicksale vieler Flüchtlinge und ihrer Familien bewegen viele Menschen in der Schweiz. Wir haben ein Format entwickelt, das uns ermöglicht, etwas zu tun, um ihre Lebensbedingungen und Perspektiven zu verbessern.“ Das unternehmerische Timing sei bei solchen Projekten entscheidend, sagt Hirsig. Er hat im Projekt „Swisspreneur“ mit dem Berner Unternehmer Alain Chuard zusammengearbeitet, der seine Softwarefirma Wildfire vor zehn Jahren für einen dreistelligen Millionenbetrag an Google verkaufen konnte. Vom passionierten Snowboarder und Surfer Chuard habe er gelernt, wie essenziell es sei, „die richtige Welle zu erwischen, um die gewünschte Kraft zu entfalten“, sagt Hirsig. Die Prioritäten liegen bei Christian und Bettina Hirsig allerdings anders als damals bei Chuard. Sie peilen nicht den millionenschweren Exit an, sondern haben sich früh entschieden, materielle Abstriche in Kauf zu nehmen, um Gutes tun zu können für die

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nachfolgenden Generationen. Bettina Hirsig erinnert sich noch genau, wie sie vor einigen Jahren fassungslos das Pressebild angeschaut hat, das einen 3-jährigen Jungen zeigte, der leblos am Strand lag. „Wir waren da gerade zum zweiten Mal Eltern geworden und fragten uns: In welche Welt werden unsere Kinder da geboren? Welche Fragen werden sie uns in 30 Jahren stellen? Wie können wir gute Vorbilder sein?“ Eine Konsequenz war, dass Bettina und Christian Hirsig sich entschieden, für sich nicht das finanzielle Optimum anzustreben, sondern eine Mischung aus sinnvollem Wirken und hoher Lebensqualität. „Wir kamen zum Schluss, dass 130.000 Franken Familieneinkommen für uns ausreichen, um ein sorgenfreies Leben führen zu können“, sagt Christian Hirsig und fügt sogleich an, sie hätten beide das Privileg gehabt, in wohlhabenden Familien ohne Geldsorgen aufzuwachsen. Dennoch war es ein wegweisender Entscheid, sich beim gemeinsamen Tun ganz auf den Impact zu fokussieren und nicht darauf zu schielen, was den größten finanziellen Gewinn versprechen würde. Die freiwillige Beschränkung ist nicht nur Powercoders und dem Folgeprojekt Remotecoders sowie der Familienzeit zu viert zugutegekommen, sondern sie lässt dem Unternehmerpaar auch genug Spielraum, immer mal wieder etwas Neues ausprobieren zu können – beispielsweise das Projekt „Geile Eier“, das zunächst ein Brunch-Format war und später durch ein Kochbuch ergänzt wurde. Oder, Anfang August 2022 lanciert, „Poko Book Quizzes“, eine App, dank der man in Quizform mit dem Inhalt von Sachbüchern vertraut gemacht wird. Denn auch wenn Bettina und Christian Hirsig einen klaren Wertekompass in ihrem Leben haben: In allzu geordneten Bahnen sollte dieses dann doch nicht verlaufen. Schließlich liegen noch viele Ideen in der Luft, derer sich bisher niemand angenommen hat.

Mathias Morgenthaler ist Coach, Autor und Erwachsenenbildner. Er hat in den letzten 25 Jahren über 1000 Interviews zum Thema „Beruf + Berufung“ geführt und in diversen Zeitungen publiziert (u. a. „Tages-Anzeiger“, „Der Bund“). Als Coach berät Morgenthaler Einzelpersonen und Unternehmen in der Frage, wie Menschen beruflichen Erfolg und persönliche Erfüllung in Einklang bringen. Er ist Initiant der Veranstaltungsreihe „Berufungs-Forum“, Seminarleiter und ein gefragter Referent und Interviewpartner zum Thema „Arbeitswelt der Zukunft“. Morgenthaler ist Autor der Bestseller „Aussteigen – Umsteigen“ und „Out of the Box“. Er ist Mitgründer des Bildungsunternehmens „Beruf + Berufung Education“ und Betreiber der Plattform www.beruf-berufung.ch.

Teil IV Unternehmertum in der Internationalen Hilfe

Der vierte Teil zeigt anhand von drei Erfolgsbeispielen auf, wie Unternehmerische Führung und Kultur in der internationalen Hilfe umgesetzt werden kann, um die Mission zu erreichen, die Wirkung zu vergrößern und finanziell unabhängiger zu werden. Velafrica macht jährlich 20.000 ausgediente Fahrräder wieder fahrtauglich und schifft sie nach Afrika mit dem Ziel, den Menschen bessere Lebens- und Einkommensbedingungen über den Zugang zu Mobilität zu verschaffen (Kapitel 12: „Velafrica“ schafft Mobilität mit Perspektiven). So verbindet die Organisation auf innovative Weise die Themen Nachhaltigkeit, Arbeitsmarktintegration und Entwicklungszusammenarbeit. Sie hat proaktiv und unter Risikobereitschaft kooperativ mobilisierend eine Diversifizierung im Netzwerk der Zulieferer und Werkstätten vorgenommen und lebt unter der Haltung der „Velonomie“ eine mitarbeitendenorientierte Autonomie, die auch gemeinschaftliche Mobilisierung ermöglicht. Im zweiten Beitrag werden mit CASMED und ANAK (Kapitel 13: Emanzipation von europäischer Projektfinanzierung durch lokale Verankerung. Unternehmerische Führung am Beispiel zweier Verbände im Kontext der Entwicklungszusammenarbeit). zwei nichtprofitorientierte Leistungserbringer aus der Republik Moldova und dem Kosovo im Gesundheits- und Sozialbereich beleuchtet, die sich dank und trotz ihrer Partnerschaft mit Schweizer Hilfswerken um Unabhängigkeit von ausländischer Finanzierung und gleichzeitig um die Finanzierung durch einheimische Behörden und Akteure bemühen. Die beiden Organisationen weisen vor allem fünf Merkmale von Unternehmerischer Führung und Kultur auf, welche die Emanzipierung von ausländischer Finanzierung fördern: Innovationsorientierung, Proaktivität, Risikobereitschaft, Aggressivität und kooperative Mobilisierung.

„Velafrica“ schafft Mobilität mit Perspektiven

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Kurzpräsentation der Organisation

Die Organisation „Velafrica“ (www.velafrica.ch) sammelt ausgediente Velos, macht sie wieder flott und verschifft sie nach Afrika. Jährlich gelangen so über 20.000 Velos in sieben Länder. Rund vier Fünftel der Velos werden nach Tansania, Burkina Faso, Madagaskar und Südafrika geliefert. Die verbleibenden Velos gehen an vier kleinere Partnerbetriebe in Ghana, Gambia und der Elfenbeinküste. Zusätzlich zu den Velos werden jährlich Tausende von Ersatzteilen an die Velozentren geliefert (vgl. Abb. 12.1). Die größte Nachfrage besteht dabei nach Velo-Schläuchen, Rädern und Ketten. Mit diesen Aktivitäten verfolgt Velafrica das Ziel, Menschen in Afrika eine „Mobilität mit Perspektiven“ zu ermöglichen, um so zur Verbesserung ihrer Lebens- und Einkommensbedingungen beizutragen. Um eine nachhaltige Nutzung der Velos zu gewährleisten und jungen Menschen bessere Zukunftschancen zu bieten, setzt sich Velafrica für die Ausbildung von Velomechanikerinnen und Velomechanikern ein. 70 Ausbildungsplätze waren im Jahr 2019 in den Velozentren belegt. Das Velo ermöglicht der Bevölkerung ein schnelleres Vorwärtskommen und den einfacheren Transport von schweren Lasten. Es sichert den Zugang zu Arbeitsplätzen, zur Schule und zu Gesundheitszentren. Diverse Programme zur Förderung der Velomobilität wie „Bike-to-School“ werden initiiert und unterstützt (vgl. Abb. 12.2). In der Schweiz trägt die Organisation zur beruflichen Integration erwerbsloser Menschen bei und leistet mit dem Recycling von Velos zudem einen wichtigen ökologischen Beitrag. M. Buser (B) B’VM | Beratungsgruppe für Verbands-Management, Bern, Schweiz E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Erpf und M. Gmür (Hrsg.), Unternehmerische Führung und Kultur in Non-Profit-Organisationen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40983-8_12

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Abb. 12.1 Die Velozentren in Afrika, Stand 2019. (Quelle: Velafrica, 2019b)

Abb. 12.2 Schulkinder, die vom Angebot „Bike-to-School“ profitieren. (Quelle: www.velafrica.ch, © Chimwemwe Mkandawire)

12 „Velafrica“ schafft Mobilität mit Perspektiven

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Abb. 12.3 Die Werkstätten in der Schweiz, Stand 2019. (Quelle: Velafrica, 2019b)

Velafrica zählt beim Sammeln ausgedienter Velos und bei deren Verarbeitung auf ein breites Netz verlässlicher Partnerorganisationen (vgl. Abb. 12.3). Gemeinden, Unternehmen, Vereine, Pfarreien und Parteien engagieren sich mit Velosammlungen. Soziale Betriebe der Arbeitsintegration unterstützen Velafrica in der Logistik und der Veloverarbeitung. Im Jahr 2019 beschäftigte Velafrica 18 Mitarbeitende mit rund zehn Vollzeitstellen. Darüber hinaus engagierten sich 67 Personen ehrenamtlich für Velafrica, die rund 3500 h Freiwilligenarbeit leisteten. Der Sitz der Organisation befindet sich in Bern. Trägerschaft von Velafrica ist die Stiftung Sinnovativ.

12.2

Innovationsorientierung

Velafrica verbindet auf innovative Weise die folgenden drei Themen: 1. Nachhaltigkeit: Recycling und Instandstellung von ausgedienten Fahrrädern 2. Arbeitsmarktintegration: Ausbildung, Qualifizierung und Beschäftigung von Erwerbslosen und anderen Gruppen in der Schweiz 3. Entwicklungszusammenarbeit: Aufbau von Velowerkstätten und Förderung der Velomobilität in Afrika Die wohl einzigartige Wirkungskette (vgl. Abb. 12.4), welche diese drei Themen miteinander verbindet, wurde im Laufe der Jahre immer wieder weiterentwickelt und laufend optimiert. Velafrica war und ist kontinuierlich auf der Suche nach innovativen Weiterentwicklungsmöglichkeiten des eigenen Leistungsangebots. Eine wichtige Rolle spielen zurzeit einzelne Pilotprojekte im Ausland. Im Velo-Recycling in der Schweiz hat Velafrica über die letzten Jahre eine starke Position erarbeitet, sodass für einen größeren Mengenausbau über den Heimmarkt hinausgedacht werden muss. In anderen westeuropäischen Ländern

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Abb. 12.4 Die Wirkungskette von Velafrica. (Quelle: Velafrica, 2019b)

haben Abklärungen ein attraktives Wachstumspotenzial ergeben. Erste Erfahrungen sammelt Velafrica nun in Deutschland und Italien. Diese Bemühungen können sich nicht auf das Recycling beschränken, sondern müssen von Anfang an auch die Instandstellung und Verladung im Ausland miteinbeziehen. Das liegt daran, dass beim Import von gesammelten Fahrrädern in die Schweiz Zollgebühren erhoben werden, wodurch die Weiterverarbeitung in der Schweiz mangels Wirtschaftlichkeit nicht infrage kommt. Velafrica steht also vor der Herausforderung, dass eine Ausweitung der Aktivitäten ins Ausland den Neuaufbau eines beträchtlichen Teils der Wirkungskette erfordert. Diese Aufgabe wird erschwert durch den Umstand, dass es kaum vergleichbare Projekte im Ausland gibt, und der Aufbau von Partnerschaften entsprechend aufwendig ist. Beispielsweise gibt es zwar in England gemeinnützige Organisationen, die Fahrräder sammeln und nach Afrika exportieren. Eine Aufbereitung findet dort aber nicht statt, sodass ein wesentlicher Teil der Lieferungen von minderwertigem Nutzen ist. Die Behörden von Tansania haben zum Beispiel auf solche Entwicklungen reagiert, indem sie Stichproben durchführen und bei mangelhafter Qualität die Einfuhr von gebrauchten Fahrrädern verhindern. Es führt für Velafrica also kein Weg daran vorbei, für eine Mengenausweitung auch die Instandstellung im Ausland komplett neu aufzubauen. Es liegt auf der Hand, dass solche weitreichenden Veränderungen neben der Innovationsorientierung auch eine substanzielle Risikobereitschaft erfordern. Auf diese wird weiter unten noch eingegangen.

12 „Velafrica“ schafft Mobilität mit Perspektiven

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Die Pilotprojekte für das Velo-Recycling in anderen europäischen Ländern sind primär durch die Nachfrage in Afrika getrieben. Es wird erwartet, dass in den heutigen Partnerländern jährlich rund 50.000 Occasion-Velos abgesetzt werden könnten, was mehr als einer Verdoppelung gleichkäme. Die Organisation beschreitet den aufwendigen Weg der Expansion ins Ausland, um das Sachziel in der Entwicklungszusammenarbeit noch besser zu erfüllen. Sollte sich die Liefermenge auf diesem Weg nicht wie gewünscht steigern lassen, so wäre es für die Verantwortlichen grundsätzlich vorstellbar, die Wirkungskette komplett neu zu gestalten. Die heutige „Dualität“ – Nachhaltigkeit und soziale Integration in Europa einerseits, Mobilitätsförderung in Afrika andererseits – könnte entkoppelt werden. Die Nachfrage in Afrika müsste dann zumindest teilweise durch den Import von kostengünstigen neuen (d. h. nicht recycelten) Fahrrädern aus China und Indien gedeckt werden. Für die Erreichung der sozialen Zielsetzungen in der Schweiz bräuchte es in diesem Fall unter Umständen ebenfalls neue Ansätze. Ein weiteres Entwicklungsfeld liegt in der zunehmenden Bedeutung von Elektrovelos. Schon 2017 hat Velafrica eine externe Studie zum Thema durchführen lassen. Seither werden die Abklärungen fortgeführt, um ein umfassendes Verständnis für den Markt zu entwickeln. Auch hier sind Pilotprojekte im Entstehen, die erste Erfahrungen mit dem Export ermöglichen sollen. Die bisherigen Erkenntnisse zeigen, dass die hauptsächlichen Herausforderungen bei den höheren Kosten für die Instandstellung zu erwarten sind: Oft müssen bei ausgedienten Elektrovelos der Akku, die Elektronik oder der Motor repariert werden. Ganz neue Finanzierungsquellen für diese Aufwendungen wären zwar grundsätzlich denkbar, insbesondere über das Instrument der vorgezogenen Recyclinggebühren (VRG). Dazu wären aber Anpassungen in den Regulierungen und gegebenenfalls auch in der Gesetzgebung notwendig, welche eine entsprechend längere Vorlaufzeit und gegebenenfalls gezielte Lobbyingaktivitäten erfordern würden. Was die bisherigen Abklärungen zum Recycling von Elektrovelos ebenfalls ergeben haben: Die Stromproduktion und -verteilung in Afrika sollte voraussichtlich keine entscheidende Hürde darstellen. Aus anderen Projekten der Entwicklungszusammenarbeit gäbe es bereits Erfahrungen und Ansätze, auf denen aufgebaut werden kann. Dies würde es Velafrica unter anderem ermöglichen, klimafreundliche Lösungen für die teilweise erheblichen Transport- und Logistik-Probleme in afrikanischen Großstädten zu bieten. Damit könnte – neben dem bereits etablierten Velo-Recycling in der Schweiz – ein zusätzlicher Beitrag zum Thema „Sustainable Mobility“ geleistet werden.

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Proaktivität

Nebst ständiger Innovation im Leistungsangebot legt Velafrica auch großen Wert auf Proaktivität, d. h. auf die vorausschauende und gezielte Gestaltung des eigenen Wirkungsgebiets. Insbesondere im Vergleich zu anderen Organisationen der Arbeitsmarktintegration konnte sich Velafrica hier vorteilhaft positionieren. Ein anschauliches Beispiel sind die

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Kooperationspartner, welche die gesammelten Fahrräder in der Schweiz aufbereiten. Velafrica hat in diesem Bereich bewusst für eine breite Abstützung gesorgt. In den Anfängen erfolgte die Instandstellung ausschließlich in der eigenen Werkstatt in Bern, welche Plätze im Bereich der Arbeitsintegration anbot. Diese wurden damals primär durch das kantonale Amt für Wirtschaft (ehemals „beco“) finanziert. Im Lauf der Jahre baute Velafrica ein starkes Netzwerk von Partnerorganisationen auf. Mittlerweile umfasst dieses 35 Standorte in der Schweiz (vgl. Abb. 12.3). Diese Diversifizierung war einerseits notwendig, um die Mengenausweitung im Velo-Recycling zu ermöglichen. Andererseits sollte dadurch die Abhängigkeit von einer kleinen Anzahl an „Zulieferern“ reduziert werden. Das Klumpenrisiko liegt dabei weniger in der Aufbereitung der Fahrräder an sich, sondern vielmehr in der Herausforderung, die Integrationsplätze in den einzelnen Institutionen ausreichend zu belegen. Letzteres ist ausschlaggebend für die Finanzierung dieses Teils der Wirkungskette. Die Aktivitäten bei den arbeitsmarktlichen Maßnahmen unterliegen sowohl zyklischen Veränderungen (Schwankungen in der Zahl und Art der Arbeitslosen, die an Integrationsangeboten teilnehmen) als auch fachlichen Weiterentwicklungen, die zu veränderten Anforderungen führen. Während früher die Beschäftigung und praktische Qualifizierung von Arbeitslosen im Vordergrund stand, wird heute stärker auf Coaching und Beratung gesetzt. Für einen solchen Integrationsansatz sind die Angebote von Velafrica nur bedingt geeignet. Es bewährt sich deshalb, dass schon früh aus Eigeninitiative weitere Partnerschaften in anderen sozialen Bereichen aufgebaut wurden. So gibt es heute Werkstätten mit Beschäftigten aus dem Migrationsbereich, mit geschützten Arbeitsplätzen im Rahmen der Invalidenversicherung und seit neustem auch Kooperationen mit Institutionen im Justizvollzug. Auch diese Bereiche erfahren ihrerseits Schwankungen sowie Veränderungen bei den Rahmenbedingungen. Die Streuung des Beschaffungsmarkts über mehrere „Branchen“ erhöht aber die Wahrscheinlichkeit, dass nachteilhafte Umfeldentwicklungen nicht zeitgleich in allen Bereichen erfolgen. Zudem ist mit diesem Modell auch eine Diversifizierung der Geldgeberorganisationen gewährleistet, da unterschiedliche staatliche Stellen beteiligt sind. So gefährden Sparvorgaben in einem Bereich nicht die Existenz der ganzen NPO, da die anderen Bereiche in der Regel nicht gleichzeitig betroffen sind.

12.4

Risikobereitschaft

Velafrica hat wiederholt die Bereitschaft bewiesen, ambitionierte Ziele zu formulieren und zu deren Erreichung auch Maßnahmen zu ergreifen, bei denen das Gelingen unsicher ist. Dies zeigt sich einerseits bei den Aktivitäten, die im Abschnitt „Innovationsorientierung“ bereits erläutert wurden. Die Pilotprojekte für das Velo-Recycling im Ausland sind mit erheblichem Risiko verbunden, da parallel zum Einsammeln der ausgedienten Velos auch gleich die Kapazität zu deren Instandstellung und Verschiffung aufgebaut werden muss. (Die etablierten Partnerschaften in der Schweiz können wie erwähnt aufgrund der fälligen

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Zollgebühren nicht mit neuen Verarbeitungsschritten im europäischen Ausland kombiniert werden.) Gelingt das Vorhaben bei einem Teil der Wirkungskette nicht, kann die Expansion keinen Beitrag an die Aktivitäten in Afrika leisten, und das ganze Pilotprojekt scheitert. Sollte sich Velafrica für einen gezielten Vorstoß in den Bereich der Elektrovelos entscheiden, so bringt auch dieses neue Betätigungsfeld einiges an Unwägbarkeiten mit sich. Die Diversifizierung bei den „Zulieferern“ in der Schweiz war ebenfalls ein riskantes Unterfangen. Es musste in spezialisierte Mitarbeitende investiert werden, die potenzielle Partnerbetriebe identifizierten und die Kooperationen aufbauten und gestalteten. Im Verlauf dieser Entwicklung kam es naturgemäß auch zu Rückschlägen. So mussten zum Beispiel Versuche abgebrochen werden, in den Werkstätten auch Mitarbeitende zu beschäftigen, die eine Teilnahme über ihre privaten Unfallversicherungen hätten finanzieren können. Als zusätzliches Beispiel für die Risikobereitschaft sind die wirtschaftlichen Verpflichtungen anzuführen, die Velafrica als soziales Unternehmen auf sich nimmt, um die langfristigen Erfolgsvoraussetzungen zu stärken. Velafrica arbeitet darauf hin, die Kooperationsstrukturen in Afrika so zu entwickeln, dass eine Teilhaberschaft von Velafrica möglich wird. Die NPO ist bereit, das wirtschaftliche Risiko ihrer Partnerorganisationen mitzutragen und diese gegebenenfalls mit eigenen Investitionen zu stärken. Die Absicht dahinter ist primär eine Beteiligung am Geschäftserfolg der lokalen Partnerorganisationen. Die daraus resultierenden Erträge sollen in die Weiterentwicklung von Velafrica investiert werden können. Seit 2019 hat Velafrica bereits einen Sitz im Verwaltungsrat von jedem Velozentrum, mit dem man in Burkina Faso kooperiert. Als nächstes sollen die einzelnen GmbHs der Velozentren in Tansania unter dem Dach einer Aktiengesellschaft zusammengeführt werden. Velafrica würde sich an dieser Dachgesellschaft beteiligen. Neben der Durchführung von Schulungen für alle dortigen Velozentren soll die neu zu gründende AG auch eigene Mittel in den Aufbau von weiteren Ablegern in Tansania investieren. Die Einflussnahme von Velafrica könnte durch ein größeres finanzielles Engagement in den Partnerorganisationen gesteigert werden, womit im wirtschaftlichen Erfolgsfall auch die verfügbaren Mittel steigen würden. An diesem Punkt zeigt sich aber eine Herausforderung, die sicher auch für andere unternehmerische NPO relevant ist: Um noch schneller auf Opportunitäten reagieren und riskante Geschäftsideen umsetzen zu können, fehlt der Organisation das (freie) Kapital. Es gäbe durchaus Wege, sich diesen finanziellen Spielraum zu verschaffen. Eine Möglichkeit wäre nach Einschätzung der Verantwortlichen, die Schiffscontainer mit aufbereiteten Fahrrädern online an die Meistbietenden zu versteigern, anstatt sie zu festgelegten Konditionen an die Partnerorganisationen zu liefern. Wenn aber die langfristige Zusammenarbeit mit den lokalen Partnerorganisationen – und damit der Social Impact in Afrika – im Vordergrund bleibt, werden kapitalintensive Vorhaben weiterhin eine nachgeordnete Rolle spielen.

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Autonomie

Die Autonomie der Mitarbeitenden hat bei Velafrica seit jeher einen großen Stellenwert. Passend zum eigenen Tätigkeitsgebiet wird diese Haltung intern als „Velonomie“ bezeichnet. Einen Schub hat die Übertragung von Eigeninitiative an alle Mitarbeitenden im Jahr 2018 erfahren: Damals hat sich der Gründer aus dem operativen Geschäft zurückgezogen. Die Nachfolgeregelung für eine Person, die während mehr als 20 Jahren prägend war, hat das damalige Leitungsteam dazu bewogen, die bereits vorhandenen Ansätze weiter zu stärken und neue Organisationsmodelle auszuprobieren. Am Ursprung dieser Weiterentwicklung stand die Überzeugung, dass Formen der Selbstorganisation und Agilität dazu beitragen, dass die Individuen nicht ausbrennen. Gerade in sozialen Institutionen ist dies oft ein zentrales Thema. Als es darum ging, eine Nachfolgelösung für den Gründer zu finden, hat man sich bewusst dagegen entschieden, den bisherigen „Mister Velafrica“ durch eine einzige Person zu ersetzen. Die Verantwortung sollte breiter abgestützt werden, auch um allen Mitarbeitenden eine ausgewogene und selbstbestimmte Work-Life-Balance zu ermöglichen: „Es gibt noch anderes im Leben“, so ließ sich einer unserer Gesprächspartner zitieren. Von Anfang an stand dabei neben der beruflichen auch die individuelle Entwicklungsmöglichkeit der Mitarbeitenden im Raum. Velafrica will als Arbeitgeberin Rahmenbedingungen schaffen, in denen sich die Beteiligten entfalten und ihren eigenen Interessen und Neigungen nachgehen können. Um sicherzustellen, dass die Eigeninitiative ihre Wirkung im Einklang mit den Sachzielen der Organisation entfaltet, wird organisationsintern großer Wert auf klare normative und strategische Vorgaben gelegt, an denen sich die Mitarbeitenden orientieren können: • Vision: Unsere Vision ist eine Welt, in der alle Menschen die Vorteile der Velomobilität zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen nutzen können. • Mission: Velafrica ermöglicht Menschen in Afrika mit erschwinglichen und guten Recycling-Velos eine nachhaltige Mobilität zur Verbesserung ihrer Lebens- und Einkommensbedingungen. In der Schweiz trägt das Velorecycling von Velafrica zur beruflichen Integration erwerbsloser Menschen bei. • Strategische Schwerpunkte für die Tätigkeit in Afrika: Social Bicycle Enterprise Development – Employability and Skills – Bicycle Mobility for All • Strategische Schwerpunkte für die Tätigkeit in der Schweiz: Collection and Recycling of Bicycles – Public Awareness and Engagement – Refurbishment and Integration Im Sommer 2017 wurde im Hinblick auf den bevorstehenden Rückzug des Gründers ein umfassender Organisationsentwicklungsprozess gestartet. Neben der Erarbeitung einer neuen Gesamtstrategie stand insbesondere die Entwicklung eines innovativen Zusammenarbeitsmodells im Vordergrund. „Wichtig war uns die Teilung der Verantwortung und der Einbezug der Mitarbeitenden“ (Velafrica, 2019a, S. 5). Ein wichtiger Schritt

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in diesem Prozess war, dass sich die damalige Geschäftsleitung mittels Gesprächen und Besuchen einen Einblick in die Funktionsweise verschiedener innovativer Organisationen verschaffte. Dabei wurden gezielt auch profitorientierte Firmen näher angeschaut. Aufgrund der ambitionierten Zielsetzungen und dem sehr komplexen sozialen und wirtschaftlichen Umfeld von Velafrica war man auf der Suche nach einem „Organisationsmodell und Zusammenarbeitsformen, welche uns ermöglichen, den Zweck von Velafrica umzusetzen und agil auf Veränderungen reagieren zu können“ (Velafrica, 2019a, S. 4). Das Holacracy-Modell (Robertson, 2016) war den Verantwortlichen zu jenem Zeitpunkt bereits bekannt. Eines der Kernelemente ist „die Trennung von Rolle und Identität, um die Verschmelzung der Menschen mit ihrer Stellenbezeichnung aufzulösen“ (Laloux, 2015, S. 120). Die vertiefte Auseinandersetzung mit Organisationen, welche ihre Zusammenarbeit nach diesen oder ähnlichen Prinzipien gestalteten, ließ die Idee reifen, auch für Velafrica ein solches Modell einzuführen. In mehreren Teamworkshops im Jahr 2018 wurde der Grundstein für ein Organisationsmodell gelegt, das inzwischen auf allen Ebenen von Velafrica unter der Bezeichnung „Velocracy“ eingeführt ist. Dieses Modell orientiert sich an folgenden Elementen (Velafrica, 2019a, S. 6): • • • • • • •

Mitgestaltung und Evolution Zusammenarbeit für den Velafrica-Zweck Weiterentwicklung von Lösungsprozessen Effektivere Handlungsweisen und Organisationsabläufe Vereinbarungen und Verantwortlichkeiten Stetige Entwicklung der Organisation Organisationsstruktur ohne klassische Pyramidenorganisation

Grundlegend für „Velocracy“ ist die Zusammenarbeit aller Mitarbeitenden in der Struktur von Kreisen und in Rollen, die von den Mitarbeitenden ausgefüllt werden (vgl. Abb. 12.5). Alle Mitarbeitenden sind zunächst einmal in einer „Grundfunktion“ vertraglich bei Velafrica angestellt. Mit dieser Funktionsbezeichnung treten sie auch nach außen auf (https:/ /velafrica.ch/wer-wir-sind/team). Darüber hinaus nehmen alle Mitarbeitenden eine oder mehrere Rollen wahr, welche für die Erfüllung der Vision und die Erreichung der strategischen Ziele benötigt werden (Velafrica, 2019a, S. 9). Zusätzlich haben Mitarbeitende auch die Möglichkeit, außerhalb der zugeordneten Rollen eigene Ideen umzusetzen. Damit dieses „individuelle Handeln ohne zugewiesene Rolle“ ebenfalls den gemeinsamen Zielsetzungen dient, sind die Rahmenbedingungen dafür klar festgelegt (Velafrica, 2019a, S. 16 f.). „Mit der Velocracy stellt Velafrica hohe Anforderungen an die Mitarbeiter*innen. Gleichzeitig sind wir überzeugt, dass unsere Kompetenzen und Fähigkeiten damit optimal zum Zug kommen.“ (www.velafrica.ch)

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Abb. 12.5 Das Kreismodell von Velafrica. (Quelle: Velafrica, 2019a)

Die Einführung von Selbstorganisation war nicht durch eine Krise ausgelöst worden – und auch die Weiterentwicklung des Modells soll ein fester Bestandteil des Prozesses sein und nicht erst als Reaktion auf eine Krise erfolgen müssen. „Velocracy“ wurde deswegen so ausgestaltet, dass es mit den zukünftigen Herausforderungen mitwachsen kann. Es wird darauf geachtet, dass ein kontinuierlicher Erneuerungsprozess stattfinden kann. Dies wird unter anderem durch eine klare Trennung zwischen operativem Geschäft und Fragen der Governance gewährleistet: In jedem Kreis findet einmal pro Monat ein Governance-Meeting statt. Dieses dient dazu, den Rahmen der operativen Tätigkeiten weiterzuentwickeln und so „Velocracy“ laufend zu optimieren. Es liegt auf der Hand, dass so umfassende Veränderungen in der Zusammenarbeit ein sorgfältiges Vorgehen und ausreichend Zeit erfordern. Der Prozess war von Anfang an durch einen Coach und Organisationsentwickler begleitet, der über große Erfahrung im Bereich Holacracy und Selbstorganisation verfügt. Zudem hatte ein Mitglied der Geschäftsleitung ebenfalls Kenntnisse in agilen Organisationsformen. Diese Person hat

12 „Velafrica“ schafft Mobilität mit Perspektiven

157

den Entwicklungsprozess vorangetrieben und war auch maßgeblich an den Besuchen in innovativen Firmen beteiligt. Die Beteiligten waren sich einig, dass es ohne dieses persönliche Engagement heute wohl kein „Velocracy“ geben würde. An diesen Erfahrungen bestätigt sich die Einschätzung, dass die Motivation und Grundhaltung des Top Managements zu den maßgebenden Einflussfaktoren für die Einführung von hierarchiefreien Organisationsmodellen gehören (Laloux, 2015, S. 238 f.). Zudem ist erfolgsrelevant, dass ein solcher Modellwechsel nicht aufgrund von äußerem Druck geschieht, sondern aus freien Stücken, in Übereinstimmung mit dem Welt- und Menschenbild der Verantwortlichen. „Velafrica versteht sich als innovatives, soziales Unternehmen. Durch die Velocracy versuchen wir, diesem Anspruch gerecht zu werden. Die Erfahrungen mit der neuen Organisationsund Zusammenarbeitsform zeigen bis anhin, dass wir mutig mit Herausforderungen umgehen und in der Regel gute und tragfähige Lösungen für reale und relevante Probleme finden.“ (www.velafrica.ch)

12.6

Gemeinschaftliche Mobilisierung

Im Rahmen von „Velocracy“ haben die Zusammenkünfte der Mitarbeitenden einen hohen Stellenwert. Wie oben beschrieben, erfolgt die selbstorganisierte Steuerung innerhalb von mehreren Kreisen, die einen klar definierten Zweck haben, welcher den jeweiligen Beitrag eines Kreises zur Vision von Velafrica beschreibt. Für die Zusammenarbeit sind folgende Grundsätze festgelegt (Velafrica, 2019a, S. 13 f.): • • • •

Wir wollen Lösungen erarbeiten Arbeiten im Rahmen der Verantwortlichkeiten in der Rolle Befugnis zum Handeln Spannungen als grundlegendes Element der Zusammenarbeit

Die Mitarbeitenden sind angehalten, im Rahmen der „Velocracy“-Spielregeln ihre Ideen einzubringen und Eigeninitiative zu ergreifen. Angestrebt wird „ein Arbeitsumfeld und eine Kommunikationskultur […], die die Lösungssuche für anstehende Herausforderungen aber auch für Opportunitäten und Potentiale ermöglicht“ (Velafrica, 2019a, S. 13). Das autonome Handeln – innerhalb der eigenen Rolle und teilweise auch ohne zugewiesene Rolle – erfordert eine kontinuierliche Abstimmung zwischen den Beteiligten. Dazu stehen folgende Gefäße zur Verfügung: • Triage- oder Koordinationsmeeting (wöchentlich): Koordination des operativen Geschäfts eines Kreises gemäß der Planung und den Jahreszielen

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M. Buser

• Governance-Meeting (monatlich): stetige Entwicklung der Rahmenbedingungen für die operativen Tätigkeiten eines Kreises, wie z. B. die Anpassung/Einführung von Rollen oder die Überarbeitung des Zwecks • Teammeeting (monatlich): Austausch unter allen Mitarbeitenden zu aktuellen Themen sowie informelle Kontakte • Fokusmeeting „Purpose und Strategie“ (quartalsweise): organisationsübergreifender Rückblick zur Zielerreichung der strategischen Schwerpunkte des letzten Quartals und Ausblick auf die kommenden sechs Monate, bei Bedarf Anpassung der Prioritäten • Fokusmeeting „Finanzreporting“ (quartalsweise): organisationsübergreifendes Controlling, Abrechnung und Finanzplanung Darüber hinaus nutzt Velafrica auch Retraiten für die vertiefte gemeinsame Planung von inhaltlichen Themen sowie Teamanlässe, die in erster Linie der Beziehungspflege und der Stärkung der Organisationskultur dienen. Beide Anlässe finden ein- bis zweimal pro Jahr statt und werden teilweise miteinander kombiniert. Eine wichtige Rolle in diesem selbstorganisierten und lösungsorientierten Miteinander spielen die „Spannungen“. Diese sind definiert als „jede Art von Anliegen, welche die operativen Aspekte aber auch die Organisationsstruktur und -prozesse von Velafrica betreffen“ und eine Lücke zwischen dem Ist-Zustand und dem in „Velocracy“ beschriebenen Idealzustand betreffen (Velafrica, 2019a, S. 14). Für die Grundhaltung ist entscheidend, dass Spannungen nicht als störend empfunden werden, sondern jeweils eine Gelegenheit zur Weiterentwicklung und Verbesserung darstellen. Der Abbau von Spannungen erfolgt über konkrete Vorschläge derjenigen Mitarbeitenden, welche die Spannung ausgemacht haben. Für die Entwicklung von Vorschlägen gibt es formalisierte Verfahren, die geschult und gemeinsam eingeübt wurden. Der Leitsatz „Stop Complaining – Start Prototyping“ soll dabei die Ermächtigung und Handlungsorientierung der Mitarbeitenden zum Ausdruck bringen. Charakteristisch für holokratische Methoden wie „Velocracy“ ist, dass solche Vorschläge im Konsent-Verfahren behandelt werden: Können bei einem Vorschlag keine begründeten Einwände vorgebracht werden, gilt dieser als genehmigt; es braucht keinen Konsens, d. h. keine aktive Zustimmung aller Beteiligten zu einem Vorschlag. Auch für dieses einwandorientierte Vorgehen gibt es formalisierte Abläufe, die gezieltes Training und eine laufende Optimierung erfordern. All diese Elemente tragen dazu bei, dass die Mitarbeitenden sich gegenseitig im Verfolgen ihrer Initiativen bestärken. Ein Gesprächspartner bezeichnete Velafrica als „Robinson-Spielplatz“, den die Mitarbeitenden fortlaufend umgestalten können und sollen. Die Beispiele für erfolgreiche Impulse sind breit gefächert: Im Rahmen der Jahresplanung 2020 regte eine Mitarbeiterin an, das Konzept der Velafrica-Zeitung komplett umzustellen. Der Vorschlag wurde anschließend im zuständigen Kreis entschieden und dann operativ umgesetzt. Eine Vorgesetzte war bei der Nachfolgeregelung für einen austretenden Mitarbeiter überzeugt, dass die Aufteilung des Pensums auf zwei Mitarbeitende

12 „Velafrica“ schafft Mobilität mit Perspektiven

159

dem Zweck des Kreises besser dienen würde. Dies wurde im Konsent-Verfahren entschieden. Auch ganz handfeste Fragen, die früher ein internes Bewilligungsverfahren durchlaufen hätten, werden heute direkt durch die Beteiligten gelöst: Sei es die Umnutzung eines Archiv-Raums zu einem Arbeitsplatz für Video-Konferenzen oder auch einfach die Zuteilung eines Stehpults an einen Mitarbeitenden, der dafür Bedarf angemeldet hat. Diese starke Gewichtung der Mitwirkung hat nach Aussagen der Beteiligten dazu beigetragen, viele Organisationsabläufe einfacher und direkter zu gestalten. Zeit, die früher in internen Prozessen gebunden war, kann nun für die Umsetzung von Maßnahmen und neuen Ideen genutzt werden: „Wir wollen Zeit darin investieren, was uns den Zielen näherbringt“ (Velafrica, 2019a, S. 6).

12.7

Kooperative Mobilisierung

Velafrica hat sich von Beginn weg als soziales Unternehmen verstanden und sich entsprechend positioniert. Die Kooperation mit anderen Organisationen wurde deshalb immer auch dazu genutzt, um unternehmerische Impulse für die eigene Entwicklung zu erhalten. Schon früh wurde mit der Universität St. Gallen (HSG) eine Wirkungsstudie durchgeführt, was später zur festen Anstellung eines HSG-Absolventen bei Velafrica führte. Im Jahr 2009 kürte die Schwab Foundation den Velafrica-Gründer zum „Swiss Social Entrepreneur of the Year“. Seither haben die Verantwortlichen immer wieder Gelegenheiten kreiert, um inhaltlich und konzeptionell herausgefordert zu werden und das Know-how von Vertreterinnen resp. Vertretern aus der Privatwirtschaft zu nutzen. 2016 schaffte es die Bewerbung von Velafrica in die Endausscheidung im internationalen „UBS Social Innovators“-Programm. Als Finalist profitierte Velafrica von einem maßgeschneiderten einjährigen Mentoring-Programm der UBS und Ashoka, dem weltweit größten Netzwerk für soziale Unternehmen. Insbesondere die anspruchsvollen Fragen der Skalierung und nachhaltigen Finanzierung des Geschäftsmodells konnten dort durchleuchtet und weiterentwickelt werden. Im gleichen Jahr erhielt Velafrica von der Swiss Re Foundation die Auszeichnung als „Charity of the year“. Seither haben Verantwortliche von Velafrica außerdem an einem Programm für soziales Unternehmertum an der Harvard Kennedy School teilgenommen. Einige dieser Kooperationsformen waren unter anderem im Stiftungsrat umstritten, da unternehmerisches Denken innerhalb der Stiftung Sinnovativ teilweise als kulturfremdes Element wahrgenommen wurde. Im Gespräch nannten die Beteiligten insbesondere die Zusammenarbeit mit der HSG sowie die Bewerbung für das „UBS Social Innovators“Programm, die beide zunächst auf Ablehnung stießen. Mittlerweile haben sich solche Austauschbeziehungen „über den Tellerrand hinaus“ aber etabliert, und es werden Überlegungen angestellt, einige der gemachten Erfahrungen auch für andere Einrichtungen der Stiftung Sinnovativ zu nutzen.

160

M. Buser

Mit den 35 Werkstätten, in denen die gesammelten Fahrräder aufbereitet werden, pflegt Velafrica ebenfalls eine enge Partnerschaft. Obwohl alle beteiligten Institutionen nicht-gewinnorientiert arbeiten, hat auch diese Kooperation einen unternehmerischen Charakter. Die Zusammenarbeit zwischen Velafrica und den Werkstätten ist als Franchising-Modell ausgestaltet. Die Partnerorganisationen verpflichten sich zum Beispiel, Marketing-instrumente von Velafrica zu verwenden und Qualitätsstandards zu befolgen. Velafrica stellt im Gegenzug die entsprechenden Hilfsmittel zur Verfügung und investiert auch in den Aufbau von Arbeitsplätzen in den Werkstätten oder in die Weiterbildung von Arbeitsagoginnen und Arbeitsagogen. Auch die Zusammenarbeit mit den Velozentren in Afrika wird dazu genutzt, laufend neue Impulse zu generieren. Die Zentren sind teilweise bereits als (soziale) Unternehmen organisiert bzw. sollen in diese Richtung entwickelt werden. Die enge gegenseitige Zusammenarbeit und auch die wirtschaftliche Beteiligung von Velafrica (vgl. Abschn. 12.4) garantieren einen regen Austausch. Die Unternehmerinnen und Unternehmer in Afrika sind in die Erarbeitung der Gesamtstrategie von Velafrica eingebunden und können so zusätzlichen unternehmerischen Einfluss ausüben. Dies sorgt dafür, dass den Partnerorganisationen ausreichend Freiheiten zugestanden werden. Zum Beispiel haben diese für den Bezug von Ersatzteilen auch Verträge mit anderen Lieferanten abgeschlossen. Auch lokale Bedürfnisse der Kundschaft werden so frühzeitig erkannt. Es zeigt sich unter anderem, dass Fahrräder an gewissen Verkaufspunkten in Afrika zu einem Bedürfnis der Mittelklasse für die Freizeitgestaltung werden. Dies eröffnet den Velozentren neue Möglichkeiten und muss von Velafrica in der Weiterentwicklung des Beschaffungsmarkts berücksichtigt werden. Eine wichtige Rolle in der kooperativen Mobilisierung spielt nicht zuletzt der Beirat von Velafrica (https://velafrica.ch/wer-wir-sind/team). Dort sind Fachspezialistinnen und -spezialisten vertreten, die mehrheitlich aus der Privatwirtschaft stammen und gezielt ihre unternehmerische Sichtweise einbringen können. Der Beirat trifft sich zweimal jährlich. Dessen Mitglieder übernehmen fallweise auch die Schirmherrschaft über größere Projekte und stehen den operativen Verantwortlichen beratend zur Seite. Diese Formen der intensiven Zusammenarbeit tragen maßgeblich zum Erfolg und zur kontinuierlichen Entwicklung der Organisation bei. Der Nutzen von solchen Kooperationen liegt dabei gleichermaßen bei Velafrica als auch bei den involvierten Stakeholdern. Nach Einschätzung der Beteiligten gibt es Bereiche, in denen Velafrica die treibende Kraft ist, während bei anderen primär die Partnerorganisationen für Innovation sorgen.

12.8

Abschluss

Dieser Einblick in die Arbeitsweise von Velafrica sollte aufzeigen, wie es dank einer ausgeprägten unternehmerischen Kultur gelingt, die eigenen Ziele besser zu erreichen als andere Organisationen in einem vergleichbaren Tätigkeitsgebiet. Velafrica bewegt sich

12 „Velafrica“ schafft Mobilität mit Perspektiven

161

in einem dynamischen und komplexen Umfeld. Die einzigartige Wirkungskette kombiniert breit gefächerte Aktivitäten in Afrika, in der Schweiz und seit neustem auch in weiteren europäischen Ländern. Eine hohe Anpassungsfähigkeit und der Wille zur kontinuierlichen Weiterentwicklung sind dabei wichtige Voraussetzungen. Ebenso bedeutsam ist aber die menschliche Komponente. Velafrica setzt auf die Kraft von eigenverantwortlichen Mitarbeitenden, die ihre Kompetenzen und Fähigkeiten für die Realisierung der Vision einsetzen. Erst dieses Zusammenspiel der Beteiligten und ein hoher Grad an Selbstorganisation und Motivation machen den Erfolg von Velafrica aus.

Literatur Laloux, F. (2015). Reinventing Organizations. Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. Hahlen. Robertson, B. J. (2016). Holacracy. Ein revolutionäres Management-System für eine volatile Welt. Hahlen. Velafrica. (2019a). Velocracy. Unser Organisationsmodell mit Perspektiven (unveröffentlichtes Dokument). Velafrica. (2019b). Wirkungsbericht 2019b. www.velafrica.ch. Zugegriffen: 8. Febr. 2021.

Marco Buser ist Berater und Partner der Beratungsgruppe für Verbands-Management (B’VM). Neben seiner Beratungstätigkeit leitet er dort den Schweizerischen Verband der Ernährungsberater/ innen (SVDE) und ist Mitglied der Geschäftsleitung der B’VM AG. Zuvor war er in der Geschäftsführung und Organisationsentwicklung von verschiedenen Jugendorganisationen tätig. Er hat Politik- und Islamwissenschaft in Bern, Genf und Kairo studiert und absolvierte ein Nachdiplomstudium in Organisationsberatung und Coaching (ZHAW) sowie den Diplom-Lehrgang Verbands-/NPO-Management am VMI.

Emanzipation von europäischer Projektfinanzierung durch lokale Verankerung. Unternehmerische Führung am Beispiel zweier Verbände im Kontext der Entwicklungszusammenarbeit

13

Christoph Baumann

13.1

Einleitung

Es liegt in der Natur vieler Entwicklungsprojekte, dass begünstigte Non-ProfitOrganisationen als Durchführungspartnerinnen der ausländischen Geber zur Erreichung derer themenspezifischer Projektziele gefördert werden, nicht jedoch als eigenständige Trägerinnen ihrer Entwicklungspolitik. Zwar haben sich Geldgeber 2005 mit der auch von der Schweiz unterzeichneten Erklärung von Paris (OECD, 2005/2008) auf eine nachfrageorientierte Kapazitätsentwicklung, lokale Ownership und Leadership in dieser Entwicklung geeinigt (OECD/DAC, 2010). Dieser Paradigmenwechsel muss aber in vielen Projekten erst noch in realistische Maßnahmen übersetzt und die lokalen Verbände tatsächlich als eigenständige, sich am lokalen Markt orientierende Organisationen gefördert werden. Gleichermaßen sind Interventionen Mangelware, die einer unternehmerischen Führung der NPO zustattenkommen, und zwar mit dem Ziel, dass deren Management in der Lage ist, die Organisation langfristig und autonom – sprich: ohne Entwicklungsgelder – zu steuern und vorwärts zu bringen. So zielen Geber bei der Förderung von Managementkapazitäten der Partnerorganisationen in der Regel auf deren Fähigkeiten in Projektmanagement ab, nicht jedoch auf die Führung eines Unternehmens.

C. Baumann (B) Basel, Schweiz E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Erpf und M. Gmür (Hrsg.), Unternehmerische Führung und Kultur in Non-Profit-Organisationen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40983-8_13

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C. Baumann

Vor dem Hintergrund der immensen Erwartungshaltung von Geberorganisationen an ihre Partner, die ambitionierten gesellschaftspolitischen Entwicklungsziele im klar festgelegten Rahmen mit oft rigiden Vorgaben zu erreichen, sind Merkmale einer unternehmerischen Führung oft nur ansatzweise ausgeprägt. Mitarbeitende von Partnerorganisationen sehen sich durch das teilweise Intervenieren des Gebers in die Gesamtorganisation betreffende Managementfragen (beispielsweise Personalfragen, Jahresplanung, Finanzmanagement) oft veranlasst, mehr die Interessen des Gebers und dessen Projekt im Blick zu behalten als jene der eigenen NPO. In Bezug auf die unternehmerische Führung präsentiert sich die Situation von Drittleistungs-NPO in den ehemals sozialistischen Staaten der ehemaligen Sowjetunion und des Westbalkans besonders nachteilig. Sie rücken in den Fokus dieses Beitrags, der unternehmerische Ansätze in einem moldawischen Hauspflegedienst (CASMED) und im Nationalen Verband für Autismus in Kosovo (albanisch Asociacioni Nacional i Autizmit në Kosovë, ANAK) beleuchtet. Der Beitrag beruht auf den Forschungsbeiträgen des Autors zum Thema der Förderung der Managementkapazitäten in Non-Profit-Organisationen im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit (Baumann, 2018, 2019). Die untersuchten Beispiele sind Verbände, die von führenden Schweizer Hilfswerken unterstützt und als „Best Practices“ empfohlen worden sind. Für die Beiträge wurden Quellen der Verbände und Hilfswerke analysiert und die Geschäftsführerinnen der NPO sowie deren Ansprechpersonen bei den Hilfswerken befragt (vgl. Verzeichnisse der Verbandsdokumente, Projektdokumentationen und Interviews). Der aktuelle Stand der Unternehmensentwicklung wird in diesem Beitrag nicht thematisiert.

13.2

Herausforderungen für Verbände in Transformationsländern

NPO in Transformationsländern, die etwa im Sozial- und Gesundheitsbereich den Bedarf von Dritten decken, sind mit komplexen, unternehmerischen Herausforderungen konfrontiert. Zunächst ist festzuhalten, dass unter den kommunistischen Regierungen bis um die Wende 1989 keine freie Meinungsäußerung und auch keine vom Staat unabhängige Organisation als NPO möglich war. Zivilgesellschaftliche Aktivitäten wurden in den meisten Ländern völlig unterbunden. Die Bevölkerung verfügte demnach über keinerlei „Erfahrungen mit demokratischen und zivilgesellschaftlichen Organisationsund Partizipationsformen“ (Egger, 2006, S. 159). Gleiches galt auch für den Staat, der die Möglichkeiten und Vorteile der Einbindung von intermediären Organisationen ebenso nicht kannte, wie die Beauftragung von Non-Profit-Organisationen, um spezifische Leistungen zu erbringen. Ideologische Hinterlassenschaften des sozialistischen Systems waren dem Aufbau professionell geführter NPO abträglich: Konformismus, Intoleranz, mangelnde Kompromissfähigkeit, Misstrauen und eine starke Orientierung an Führungsfiguren behinderten

13 Emanzipation von europäischer Projektfinanzierung durch lokale …

165

die Herausbildung einer internen Non-Profit-Governance, Mitbestimmung, Mitgliederpartizipation, Willensbildung und Konsensfindung (Egger, 2006, S. 167). Dill et al. (2012) sehen, am Beispiel Kroatiens, in diesen Hinterlassenschaften eine Herausforderung für den Aufbau von NPO-Leadership. Diese seien auch einer auf demokratischen Werten basierenden Zusammenarbeit mit den Behörden wenig zuträglich (Dill et al., 2012, S. 316). NPO ohne starke Verbandelung mit den Behörden haben ein beträchtliches Misstrauen gegenüber den Institutionen und dennoch ein erhebliches Alimentationsbedürfnis (Egger, 2006, S. 173 ff.). Das Resultat sind Organisationen, die zum einen „die Faust im Sack“ machen, andererseits auch nicht fähig oder willens sind, Probleme ohne den Staat anzugehen. Kommt dazu, dass die Länder einen gehörigen Reformbedarf haben, den sie aber kaum mit Nachsicht decken können. Das macht die Rahmenbedingungen für die NPO unberechenbar. So ist deren Professionalisierung und unternehmerische Orientierung hochgradig von politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsprozessen abhängig. Die erhebliche Unvorhersehbarkeit der Entwicklungen stellt hohe Ansprüche an DrittleistungsNPO und deren Förderer. Als größte Herausforderung gilt dabei sicher der Aufbau von Partnerschaften mit der öffentlichen Hand, die eigentlich die Aufgabe hat, soziale Grundleistungen zu erbringen. Nur fehlen dieser zum einen die Mittel dazu, diese hinlänglich zu bewältigen. Zum anderen stellt Outsourcing sozialer und gesundheitlicher Leistungen durch die in Reformprozessen festgefahrenen Transformationsstaaten noch nicht die gängige Praxis dar. Als Folge der Pfadabhängigkeit von den einst totalitären Regimes ist nämlich nur der Staat als Erbringer von gemeinnützigen Leistungen legimitiert, während NPOs im besten Fall staatliche Zuschüsse erhalten (vgl. Potluka et al., 2017). Untersuchungen in neuen EU-Mitgliedsstaaten (Rikmann & Keedus, 2012) lieferten Hinweise, dass Regierungen in Transformationsländern noch während Jahren wenig Bereitschaft zeigen dürften, Partnerschaften mit NPO einzugehen. Das blockiert die Entwicklung von Kapazitäten zur Erbringung von Drittleistungen in NPO. USAID (2017) hat gar bemerkt, dass in Osteuropa und Zentralasien der Staat die Finanzierung von NPO reduziert hat. An die Stelle respektive als Ergänzung zur staatlichen Finanzierung von öffentlichen Leistungen im Sozial- und Gesundheitsbereich sind längstens Entwicklungsorganisationen getreten, welche mit direkter Projektfinanzierung von Drittleistungs-NPO zur Verbesserung der sozialen Situation der Menschen in den Transformationsländern beitragen. Diesbezüglich ist anzumerken, dass NPO in Rollen schlüpfen, die ebenso auch Privatfirmen ausüben könnten. Doch ausländische Geber ziehen im Rahmen von mit Spendengeldern finanzierten Projekten die Beauftragung von NPO jener von Privatfirmen verständlicherweise vor. Andererseits verfügen diese begünstigten NPO nur eingeschränkt über einen zivilgesellschaftlichen Kern, sondern sehen im Status als NPO in erster Linie eine Notwendigkeit, um an Gelder zu kommen. So erstaunt wenig, dass diese Drittleistungs-NPO selten eine starke Mitgliederbasis haben, gar einem unternehmerischen Gedanken oder einem Entwicklungsprojekt entspringen. Oft werden sie von starken

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C. Baumann

Geschäftsführenden gegründet und geleitet, die der Form halber einen Vorstand aus befreundeten Personen ohne klar zugewiesene Rolle in der Organisation ernennen. Auch wenn viele Geber darauf hinwirken, dass lokale Institutionen das Leistungsangebot kurz- bis mittelfristig finanzieren, dürften sie in der Regel über einen längeren Zeitraum hinweg die mit Abstand wichtigste Finanzierungsquelle einer NPO bleiben. Versiegt diese Quelle, muss sich die NPO inhaltlich neu ausrichten – was nicht dem Grundgedanken einer von einer Mission geleiteten Non-Profit-Organisation entspricht, sondern deren privatwirtschaftlichen Charakter unterstreicht –, das Geschäftsfeld verkleinern oder gar aufgeben. In jedem Fall wird die NPO versuchen, die Finanzierung des Geschäfts durch diesen oder ggf. weitere ausländische Geber sicherzustellen.

13.3

Partnerorganisationen von Schweizer Hilfswerken – die Beispiele CASMED und ANAK

In diesem Kontext und daraus resultierender Herausforderungen entscheiden sich NonProfit-Organisationen in Transformationsländern nur ausnahmsweise für eine unternehmerische Führung, die sich von europäischer Projektfinanzierung emanzipieren will und konsequent das Ziel einer lokalen Finanzierung ihrer sozialen Mission verfolgt. In diesem Beitrag werden mit CASMED und ANAK zwei nichtprofitorientierte Leistungserbringer im Gesundheits- und Sozialbereich portraitiert, die sich trotz und dank ihrer Partnerschaft mit Schweizer Hilfswerken nachweislich stark um Unabhängigkeit von ausländischer Finanzierung und gleichzeitig um die Finanzierung durch einheimische Behörden und Akteure bemühen. Beide Organisationen erhalten als Drittleistungsanbieter Beiträge von lokalen Institutionen und Begünstigten. Der Hauspflegedienst CASMED (Centre for Social and Medical Home Assistance) ist eine NPO im Norden der Republik Moldova. Er wurde zwischen 2006 und 2010 im Rahmen eines Pilotprojekts der NPO „Pro Cooperare Regional˘a“ mit Unterstützung des Schweizer Hilfswerks HEKS getestet. Zur Sicherstellung der Nachhaltigkeit des Hauspflegedienstes entstand 2011 auf Empfehlung von HEKS die eigenständige Institution CASMED, getragen von fünf Mitglieds-NPO, darunter auch Pro Cooperare Regional˘a. Dort ist die Geschäftsstelle von CASMED für die medizinischen und Pflegeleistungen zuständig und die Mitglieder als Vertragspartner für Leistungen im Bereich der Haushaltshilfe. CASMED bemüht sich seit der Gründung um die Unabhängigkeit von ausländischen Gebern. HEKS hat von Projektbeginn an eine Mitfinanzierung durch lokale Behörden, die Krankenkasse sowie Begünstigte eingefordert. Die Hauspflege inklusive Haushaltshilfen wird zu 30 % von den lokalen Behörden gedeckt, 10–20 % bezahlen die Begünstigten, während CASMED respektive die Hilfswerke 50–60 % der Kosten tragen (Sociopolis, 2018, S. 91). Die nationale Krankenkasse finanziert darüber hinaus ärztliche Hausbesuche (722 im Jahr 2017).

13 Emanzipation von europäischer Projektfinanzierung durch lokale …

167

Abb. 13.1 Reisebegleitung: Gasco Victor, Person mit Behinderung, aus dem Dorf Hitresti wird von der Sozialarbeiterin, Valentina Donighevici, besucht. (Foto: CASMED)

Im Jahr 2011 hatten CASMED und seine Partner neun Mitarbeitende, die Leistungen (Hauspflege und Haushaltshilfe) in insgesamt fünf Gemeinden erbrachten; im Jahr 2018 kümmerten sich 114 Mitarbeitende aus 16 Partnerorganisationen um 2100 alte Menschen in 65 Gemeinden. Bei einem Jahresumsatz von ca. 380.000 Franken (2018) leisteten die Mitarbeitenden Pflege, Hausarbeit und medizinische Betreuung bei insgesamt 68.000 Hausbesuchen (siehe Abb. 13.1 und 13.2). Dabei fielen Kosten von durchschnittlich 180 Franken pro Begünstigte an. Der Nationale Verband für Autismus in Kosovo (ANAK) ist einer von zwei landesweit aktiven Verbänden in Kosovo, die sich für bessere Leistungen für Menschen mit Autismus einsetzen. Der 2012 gegründete Verein erbringt dabei direkte Dienstleistungen für Menschen mit Autismus, unterstützt die Integration ins Bildungssystem, bietet Weiterbildungen für Fachleute (siehe Abb. 13.3) und Eltern an, übersetzt Fachliteratur, nimmt eigene Untersuchungen zur Verbreitung des Autismus in Kosovo vor und setzt sich mit Kampagnen (siehe Abb. 13.4) und durch aktives politisches Lobbying für die Interessen von Betroffenen ein. Das Schweizer Hilfswerk Solidar Suisse unterstützte ANAK seit 2013 beim Ausbau seiner organisatorischen Kapazitäten sowie spezifisch bei der Entwicklung und Bekanntmachung einer Position zur nationalen, staatlichen Krankenversicherung. Im Unterschied zu CASMED war ANAK bereits vor dem Engagement weitgehend von ausländischen Gebern unabhängig. Dabei führte die Partnerschaft mit dem Hilfswerk nicht zu einer Verdrängung lokaler Geldquellen, sondern zu einer Professionalisierung des Verbands, der die Erschließung weiterer lokaler Finanzierungsquellen ermöglichte. Der Autismusverband ist mit fünf Angestellten eine kleine Organisation,

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C. Baumann

Abb. 13.2 Bewegungsübungen nach einem Schlaganfall: Zastinceanu Ecaterina, Kundin aus dem Dorf Glinjeni, und Lulea Brumari, Krankenschwester. (Foto: CASMED)

weitere, freie Berater in der Bereitstellung der Leistungen federn die starken Schwankungen der Nachfrage ab. ANAK generiert einen Jahresumsatz von etwa 100.000 Franken, wobei nur 40 % des Budgets von zwei Hilfswerken getragen werden.

Abb. 13.3 Weiterbildung von Sozialarbeitenden. (Foto: ANAK)

13 Emanzipation von europäischer Projektfinanzierung durch lokale …

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Abb. 13.4 Sensibilisierungskampagne zum Thema „Autismus und Talente“. (Foto: ANAK)

13.4

Unternehmerische Ansätze im Bemühen um Unabhängigkeit

Die beiden Verbände weisen vor allem fünf Merkmale von unternehmerischer Führung auf, welche die Emanzipierung von ausländischer Finanzierung fördern: Innovationsorientierung, Proaktivität, Risikobereitschaft, Aggressivität und kooperative Mobilisierung. Im Folgenden wird beschrieben, wie die portraitierten NPO diese Elemente umsetzen.

13.4.1 Innovationsorientierung Die Förderung von Innovationen im Dienstleistungsportfolio von Partnerorganisationen steht – nebst der Finanzierung der Leistungen – bei Entwicklungsorganisationen häufig im Vordergrund ihrer Unterstützung. Neue Leistungen sollten jedoch nicht nur während der Dauer eines Entwicklungsprojekts, sondern auch längerfristig angeboten und genutzt werden. Dies gelingt oftmals nicht, weil Innovationsorientierung im Entwicklungskontext nicht als wichtiges Merkmal unternehmerischer Führung gefördert wird, sondern als Merkmal eines ausländischen Hilfsprojekts. Nachhaltig wird ein Angebot nur, wenn es als Tagesgeschäft selbsttragend, d. h. mit lokalen Mitteln finanziert werden kann, während die Entwicklungspartner nur die Dienstleistungsentwicklung (Innovation) finanzieren. Dies trifft im Fall von ANAK teilweise zu. Innovation wird als klassische Geschäftsentwicklung (Advantage Seeking) auf der Grundlage vorhandener Potenziale verstanden, und Solidar Suisse unterstützt als Geldgeber die Entwicklung der Leistungen: therapeutische

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Leistungen, die Unterstützung von Kindern in Regelschulen durch Beratung von Lehrkräften und die Anwendung neuer Diagnoseinstrumente. Diese Kernleistungen werden zum großen Teil ohne ausländische Finanzhilfe angeboten. Das Tagesgeschäft von CASMED wird dagegen vorwiegend mit Entwicklungsgeldern finanziert, was noch keine Nachhaltigkeit gewährleistet. Deshalb sind als strategische Erneuerung Innovationen im Leistungsangebot notwendig, ein neues Geschäftsmodell und der Aufbau neuer lokal getragener Geschäftsfelder (Opportunity Seeking). Dafür sind die Voraussetzungen verhältnismäßig günstig. So treibt eine unternehmerisch denkende Geschäftsführerin die Wandlung von einem Hauspflegedienst zu einem Kompetenzzentrum im Bereich Gesundheit und Altenpflege voran. Der Hauspflegedienst ist dabei als Teil eines weit gefassten Konzepts eines sozialen, an Alten und Pflegebedürftigen ausgerichteten Zentrums zu verstehen. Neue Leistungen sind in der Entwicklung: die Förderung altersfreundlicher Gemeinschaften, die Akkreditierung als Trainingszentrum zur Ausbildung von Pflegefachkräften und Physiotherapeuten, der Aufbau eines Rehabilitationszentrums inkl. Physiotherapie, die Einrichtung von Drogerien und der Ausbau von Projektberatungen für Anbieter von Gesundheitsleistungen. Die Geschäftsführerin will mit diesem Wandel dem Umstand Rechnung tragen, dass die Erfüllung des Hauptzwecks der Organisation (Hauspflegedienst) ohne internationale Hilfe nicht tragfähig ist, weil die Beiträge der staatlichen Krankenkasse viel zu niedrig sind. In beiden Beispielen werden das Wandlungsmanagement und die Innovationsförderung in Eigenverantwortung aktiv von der jeweiligen Geschäftsführerin gesteuert und nicht von den ausländischen Gebern. Diese wesentliche Charakteristik für eine unternehmerische Führung ist in geberfinanzierten NPO in Transformationsländern untypisch. Innovative Prozesse in der Dienstleistungsentwicklung werden bei CASMED maßgeblich durch die Geschäftsführung gefördert. Deren Finanzierung spielt dabei eine zentrale Rolle. So hat CASMED 2017 einen Reservefonds eingerichtet, der aus selbst erwirtschafteten Mitteln aus Beratungsleistungen gespiesen wird. Damit werden Projekte zur Innovation und strategischen Erneuerung finanziert. HEKS unterstützt keine Reservenund Eigenkapitalbildung, bietet aber bei konkreten Vorhaben zum Ausbau des Hauspflegedienstes Hand. Zudem kann HEKS über eine Mikrofinanzkommission Darlehen für unternehmerische Projekte sprechen. Schließlich hat HEKS die NPO in Moldawien besonders flexibel gefördert und dabei auch Budgetänderungen akzeptiert, um unter dem Jahr Innovationen und Planänderungen zu ermöglichen. Um Innovation zu schaffen hat sich CASMED für einen hybriden Prozessansatz der Strategieentwicklung entschieden. Zwar hat die Leitung der NPO auch eine formalisierte Strategie 2016–2020 erarbeitet und dabei HEKS sowie das Schweizerische Rote Kreuz als wichtigste Geldgeber einbezogen. Darüber hinaus pflegt sie jedoch eine Kultur der gelenkten Evolution: Experimentieren, verschiedene Strategien verfolgen, erfolgreiche Projekte konsolidieren, andere aufgeben. Diese Flexibilität bei der strategischen Entwicklung und im Opportunity Seeking sind für die Geschäftsführung zentral. HEKS bewertet dagegen die Beidhändigkeit des Change-Managements kritisch, weil die Dienstleistungsqualität

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im Tagesgeschäft unter den Innovationsvorhaben auch schon gelitten hat. Gleichzeitig schätzt die Geschäftsführerin die Flexibilität von HEKS im gegenwärtigen Wandlungsprozess, während andere Geber strategische Änderungen nicht tolerieren und die NPO in der Projektlogik einfrieren. ANAK und CASMED legen viel Wert darauf, dass ihre Dienstleistungen so weit als möglich als Drittleistungen im Auftrag lokaler Stakeholder bezahlt werden. Eine erfolgversprechende Strategie zur lokalen Ressourcenbeschaffung verlangt jedoch, wie in der Einleitung erwähnt, danach, überhaupt erst die rechtlichen Rahmenbedingungen – Mandat und Budget der öffentlichen Behörden für die Leistungserbringung und deren Outsourcing – zu schaffen. Beide Verbände setzen sich dafür mit intensivem und für die jeweiligen Verhältnisse innovativem Lobbying für eine langfristige Lösung ein, nämlich die Deckung von Grundleistungen aus der Krankenversicherung. Kurz- bis mittelfristig streben sie beharrlich einen Finanzierungsmix an, der sich aus Leistungsentgelten (medizinische, therapeutische und soziale Leistungen, Beratungen, Trainings), Beiträgen von Entwicklungspartnern und öffentlichen Institutionen wie Gemeinden, Firmenspenden sowie aus Einnahmen aus Benefizanlässen und anderen Veranstaltungen zusammensetzt. Als innovativ – wenn auch nur bedingt als Lösung tauglich – kann die Planung des anspruchsvollen Vorhabens von CASMED bezeichnet werden, mit dem Aufbau eines Reha-Zentrums für Wohlhabende die nicht gedeckte Finanzierung des Hauspflegedienstes quer zu subventionieren. Während CASMED noch zu 84 % aus Entwicklungsgeldern finanziert wird, generiert ANAK die meisten Einnahmen aus Leistungsentgelten. Doch auch CASMED fordert von den Begünstigten eine finanzielle Beteiligung an den Kosten und arbeitet entschieden an einem nachhaltigen Finanzierungsmodell. Beide Verbände wurden von den Hilfswerken erfolgreich dabei unterstützt, weitere internationale Partner zu finden. Sie profitierten von Expertise, Fundraising-Instrumenten, Studienreisen und Kontakten. Besonders innovative Wege beschreiten die beiden Verbände im Management ihrer Personalressourcen. Für ANAK ist seine Arbeitsmarktstrategie ein Managementerfolgsfaktor. Das Schlüsselpersonal, das direkt mit den Menschen mit Autismus arbeitet, muss sich dabei zunächst in freiwilligem Engagement bewähren. Zur Stellenbesetzung mit Freiwilligen werden Studierenden der Fakultät für Psychologie unbezahlte Praktika angeboten; gute Praktikantinnen und Praktikanten erhalten bisweilen im Anschluss eine Festanstellung. Mit dieser Rekrutierungsstrategie stellt ANAK sicher, dass Mitarbeitende über die notwendigen Eigenschaften und Fähigkeiten für die Arbeit mit autistischen Personen verfügen: extreme Geduld, Wachsamkeit, gesunder Menschenverstand, körperliche Geschwindigkeit. Nebst der Stellenbesetzung verfolgt ANAK auch bei der Mitarbeiterbindung einen für hiesige Verhältnisse innovativen Ansatz, der nicht von finanziellen Anreizen bestimmt wird. Anstatt dessen betreibt der Verband ein internes Marketing von Erfolgserlebnissen, das auch die Eltern von Kindern mit Autismus miteinschließt: Mitarbeitende werden so für konkrete Leistungen gewürdigt, bindet sie in die Organisation ein und stärkt das Vertrauen der Eltern in die Mitarbeitenden. Nicht zuletzt wird dem Wohl

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der Mitarbeitenden ein besonderer Stellenwert beigemessen, indem die Motivation zur Arbeit mit autistischen Kindern gefördert wird. So hat ANAK teilweise auf neue Fälle verzichtet, damit ihre Therapierenden nicht ausbrennen. Gleichzeitig erhalten letztere mit Unterstützung von Solidar Suisse fachärztliche Beratung in Stresssituationen. Für CASMED stellt die Verfügbarkeit von qualifiziertem Personal aufgrund der Emigration die größte Herausforderung dar. Die Geschäftsführung bezeichnet das Team als den mit Abstand wichtigsten Erfolgsfaktor. Obschon CASMED und sein wichtigster Geldgeber HEKS bemerkenswerten Aufwand für die Aus- und Weiterbildung betrieben, seien diese gemäß Geschäftsführerin nur Überbrückungsmaßnahmen ohne nachhaltige Wirkung. Um den Fachkräftemangel nachhaltig zu entschärfen, steht ein innovatives HR-Modell zur Debatte, das zwischen „qualifizierten Krankenschwestern“ und „Hilfskrankenschwestern“ unterscheidet. Ebenso will CASMED mit der Akkreditierung als Ausbildungszentrum die Verantwortung für die Rekrutierung von Pflegefachkräften gleich ganz selbst übernehmen. CASMED strebt eine Restrukturierung der Organisationsstruktur an. Um das Geschäftsmodell als Drittleistungs-NPO langfristig zu verwirklichen, beabsichtigt er weitere Angebote (v. a. ein Rehabilitationszentrum für Wohlhabende) zu entwickeln, mit deren Nettogewinn die soziale Kernleistung des Hauspflegediensts finanziert würde. Die Geschäftsführerin erwägt deshalb die Überführung der NPO in ein Sozialunternehmen unter ihrer Leitung. Diese Umwandlung würde kaum auf Widerstände treffen, da die NPO nur fünf Mitglieder hat, die allesamt abhängig vom Geschäftserfolg von CASMED sind. Außerdem signalisierte HEKS, das innovative Vorhaben zu unterstützen.

13.4.2 Proaktivität Die Emanzipierung von ausländischer Finanzierung wurde bereits am Merkmal der Innovationsorientierung angesprochen. Sie lässt sich durchaus auch als proaktive Haltung des Managements der beiden Organisationen verstehen. Es ist zu erwarten, dass die ausländischen Geldquellen dereinst versiegen werden. Im Gegensatz zu anderen Organisationen, mit denen sie im direkten Wettbewerb stehen, warten sie diesen Moment jedoch nicht ab, sondern scheuen keine Bemühungen zur lokalen Mittelbeschaffung. So positioniert sich ANAK schon heute als Fachorganisation und kompetenter Partner von Institutionen und Fachleuten aus den Bereichen klinische Psychologie, Kinderpsychologie, Organisations-, Schul- und Beratungspsychologie. Damit erhält er direkte Aufträge von der kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik wie auch von der Fakultät für Psychologie. Diese sind zwar weniger einträglich als Donationen von ausländischen Partnern, doch gewinnt ANAK dadurch einen Vorsprung gegenüber dem größten Wettbewerber, der den Abzug der Geber abwartet. Die proaktive Haltung von CASMED äußert sich darin, dass er sein Dienstleistungsportfolio und dessen Finanzierung auf künftig schwindende Spendengelder vorbereitet

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und weiterentwickelt. Im Unterschied zu rein ausländisch finanzierten Hauspflegediensten Moldawiens hat CASMED neue und mit Risiken behaftete Geschäftsideen entworfen. Neue Dienstleistungen sollen dabei aus lokalen Erträgen finanziert werden. Bereits wurde die Neupositionierung als Kompetenzzentrum im Bereich Gesundheit und Altenpflege in die Wege geleitet. Diese Positionierung soll dabei ein Vehikel sein, um neue Dienstleistungen einzuführen, welche zu erwartende Bedürfnisse der alternden Gesellschaft vorwegnimmt und die teilweise auch ohne staatliche Zuschüsse finanziert werden können. Angesichts des zu erwartenden Abbaus ausländischer Geberfinanzierung sowie einer ungewissen zukünftigen Kooperation mit Staat und Krankenkasse scheint eine proaktive Entwicklung des Geschäftsmodells unvermeidlich. Im diversifizierten Finanzierungsmix sollen dabei Erträge aus dem Verkauf von neuen Dienstleistungen und Produkten einen prominenteren Anteil an den Gesamteinkünften einnehmen.

13.4.3 Risikobereitschaft Von der Entwicklungshilfe unterstützte Non-Profit-Organisationen sehen sich in der Regel dann dazu veranlasst, Risiken einzugehen, wenn Geldgeber eine Mitfinanzierung verlangen. Da die meisten NPO in den Transformationsländern kaum über Eigenkapital verfügen, handelt es sich jedoch beim Beitrag der NPO an die Entwicklung oder Erbringung einer Leistung, wenn überhaupt, um oft schwer quantifizierbare Sachbeiträge, die mit wenig Risiko verbunden sind. Das Risiko für den Erfolg oder Misserfolg einer (neuen) Leistungserbringung trägt hingegen der Geldgeber aus dem Ausland, wobei die begünstigte NPO bei schlechtem Geschäftsgang mit einem allfälligen Reputationsverlust leben muss. Unternehmerische Investitionen der unterstützten NPO in ein risikoreiches Vorhaben, wie auch selbständig getroffene unternehmerische Entscheide, die auch mal einen Imageschaden oder Ertragsausfälle nach sich ziehen, sind dagegen selten. Im Fall der beiden untersuchten NPO sind in unterschiedlicher Ausprägung Merkmale einer Risikobereitschaft festzustellen. ANAK hat etwa teilweise darauf verzichtet, aus qualitativen Gründen respektive zum Schutz der Therapierenden neue Fälle von Kindern mit Autismus aufzunehmen. Er ging damit das beachtliche Risiko eines Mitgliederschwundes ein, der mit Ertragsausfällen verbunden ist. ANAK unterscheidet sich damit von Wettbewerbern, die Einnahmen vor qualitativ zufriedenstellende Leistungen stellen. Die Qualitätsstrategie ist für ANAK trotz des damit verbundenen Risikos Erfolg versprechend, weil es die Glaubwürdigkeit des Verbands nachhaltig stärkt. Beim Hauspflegedienst CASMED äußert sich die Risikobereitschaft einerseits in den zuvor angesprochenen teils riskanten Plänen, mit hohen Investitionskosten verbundene, neue Geschäftsfelder zu erschließen. Andererseits ist ein Risiko im seit einigen Jahren gepflegten, im Entwicklungskontext unüblichen, projektübergreifenden Programm- und Steuerungssystem erkennbar. Dieses richtet sich nach der Mission aus und nicht nach den Vorgaben der Geldgeber. Es fördert so die Identität und Positionierung gegen Innen und

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Außen, schmälert aber auch die Sichtbarkeit und den Gestaltungsspielraum der Geldgeber. Trotz vorwiegend europäischer Projektfinanzierung erweckten Programmgestaltung und Auftritt nämlich nicht den Eindruck, dass sich CASMED als Durchführungsorganisation von ausländischen Projekten versteht. Ausdruck dieses Selbstverständnisses ist der jährlich veröffentlichte Leistungsbericht, der nicht als Auflistung von Geberprojekten präsentiert wird, sondern als umfassendes Programm, indem jede Aktivität auf die andere abgestimmt ist und der Mission zudient. Projekte finden darin keine Erwähnung. Der Jahresbericht bringt damit eine übergeordnete Programmperspektive des Verbands zum Ausdruck. Die Verfolgung dieses eigentlich vorbildlichen Ansatzes der Programmsteuerung ist mit einem erheblichen Risiko verbunden. Partnerschaften auf einer Augenhöhe entsprechen nicht unbedingt den Vorstellungen vieler Geber, während Transparenz der begünstigten NPO zu ihrem Nachteil ausgelegt werden kann. CASMED läuft damit Gefahr, dass sich Geldgeber zurückziehen. Im Fall eines wichtigen Gebers aus Ostmitteleuropa hat sich der Hauspflegedienst selber dazu entschlossen, die Partnerschaft zu kündigen, weil der Geber nach Auskunft der Geschäftsführerin die Arbeit verkomplizierte. Er ging damit ein bemerkenswertes Risiko ein, weil er seine in Eigenverantwortung ausgeübte Programmsteuerung über die Partikularinteressen der Geber stellte und sich dadurch trotz Einbußen langfristig mehr Erfolg versprach.

13.4.4 Aggressivität Ein kämpferisches Auftreten gegenüber Geldgebern und Konkurrenz ist bei CASMED deutlich erkennbar, wie andere Merkmale seiner unternehmerischen Führung bereits andeuteten. Die NPO verfolgt eine andere Preispolitik als die anderen großen Wettbewerber in Moldova, indem für die Finanzierung sowohl lokale Institutionen, die öffentliche Krankenkasse als auch das Klientel einen Beitrag zu leisten haben. Gegenüber der interessierten Öffentlichkeit und Politik verkauft CASMED diese Preispolitik respektive den als Gemeinschaftsaufgabe strukturierten Hauspflegedienst als zukunftsgerichtetes Erfolgsmodell, das Potenzial hat auch ohne ausländische Geber funktionieren zu können. Damit fordert CASMED – im Unterschied zu allen anderen großen Hauspflegediensten – die unterfinanzierten Institutionen heraus, das Leistungsangebot inkl. Outsourcing an Verbände wie CASMED dank Gebühren für die Klienten auszubauen. Andere Organisationen stellen sich der großen Herausforderung eines solchen Finanzierungsmixes nicht, sondern begnügen sich damit, dank Zuschüssen von Entwicklungsorganisationen und Staat kostenlose Leistungen anbieten zu können. Mit einer zu erwartenden Abkehr der ausländischen Geber dürfte das Modell von CASMED an Bedeutung gewinnen und sich die Erfahrung damit für die Organisation auszahlen. Schließlich steckt auch im Programm- und Steuerungssystem von CASMED ein nicht unerhebliches Konfliktpotential. Die erwähnte Kündigung einer Partnerschaft mit

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einem Geber indiziert dabei eindrücklich die (riskante) Bereitschaft, mit Aggressivität Geldgebern gegenüberzutreten, welche das Geschäft der NPO inkl. seiner Ausrichtung, Strukturen und Prozesse „top down“ vorgeben wollen.

13.4.5 Kooperative Mobilisierung Es liegt in der Natur von partnerorientierten Ansätzen in der Entwicklungszusammenarbeit, dass Entwicklungsorganisationen direkt oder indirekt ihren Partnerorganisationen Impulse geben, Ideen etwa für neue Leistungen, deren Vermarktung und Finanzierung. Beide Beispiele haben im Verlauf der Partnerschaft solche Impulse und Ideen in konkrete Leistungen übersetzt. Kooperationen mit zielverwandten NPO sowie der damit verbundene Lerneffekt spielen darüber hinaus bei beiden NPO wichtige Rollen in der unternehmerischen Weiterentwicklung. So lancierte CASMED neue Dienstleistungen und Aktivitäten auf Initiative von seinen Mitglied-NPO; dies förderte auch Innovationen wie das geplante Kompetenzzentrum. Der Kern des Geschäftsmodells ist gar die Synergie mit seinen Mitgliedern: CASMED bietet die Pflegeleistungen an, die Mitglieder dagegen die Hausarbeit. Das Modell des Hauspflegedienstes geht dabei auf ein rumänisches Modell zurück, das mit Unterstützung von HEKS an Moldawien angepasst worden ist. ANAK wiederum nutzt Partnerschaften mit der Psychiatrie und Kinderärzten systematisch und gezielt, um neue Kundinnen resp. Kunden zu gewinnen. Kooperationen dienen so vor allem dem langfristigen Ziel der Beschaffung und der Herausbildung eines konstruktiven Umfelds zur Erbringung der Dienstleistungen – und eher in zweiter Linie der Innovation. Nicht zuletzt mobilisieren sowohl ANAK als auch CASMED zielverwandte NPO, um über Lobbying lokale Finanzierungsquellen zu erschließen. Diese flankierenden Maßnahmen haben einen hohen Stellenwert angesichts der schwierigen Umstände des Dritten Sektors in den Transformationsländern. Eine Einflussnahme auf die Rahmenbedingungen mit dem Ziel der Institutionalisierung der NPO-Leistungen entspricht der Logik vieler Entwicklungsprojekte. Sie hat bei beiden untersuchten Organisationen und ihren Schweizer Geberorganisationen eine wichtige Rolle in ihren Projekten gespielt. Der Aufbau von Lobbying-Kapazitäten beinhaltete daher nicht nur das Verfassen von Studien und evidenzbasierten Positionspapieren, sondern auch der Austausch, Plattformen und Kooperation mit anderen Organisationen zur Erhöhung ihrer Schlagkraft.

13.5

Schlussfolgerungen und Empfehlungen

Verbände, die Drittleistungen anbieten, haben in den ehemals sozialistischen Ländern in Südost- und Ostmitteleuropa einen schweren Stand. Eine Hinterlassenschaft der totalitären Regierungen ist zum einen das Misstrauen gegenüber nichtstaatlichen Organisationen, weshalb die Staaten nur sich selbst als öffentliche Dienstleister anerkennen. Zum

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anderen führten der erhebliche Reformstau und gleichzeitig geringe Kapazitäten dazu, dass Kooperationen zwischen Staat und Non-Profit-Organisationen in vielen Bereichen noch lange nicht so ausgestaltet werden, wie man es aus Mitteleuropa kennt. Ausländische Institutionen sind deshalb für viele NPO ein Segen: sie springen dort ein, wo die Empfängerländer versagen und machen sich dadurch unentbehrlich. Die Emanzipation der NPO von ausländischer Geberfinanzierung kommt dadurch fast einer Bankrotterklärung gleich. Doch die Entwicklungshilfe wird nicht unendlich fortgesetzt werden können. Umso mehr müssen NPO diesen Herausforderungen begegnen, um ihre Mission langfristig zu erfüllen. Eine Unternehmerische Orientierung wird somit unabdingbar. Dieser Beitrag hat zwei von Schweizer Hilfswerken unterstützte Verbände vorgestellt: CASMED, ein überregionaler Hauspflegedienst in Moldawien, und ANAK, ein nationaler Verband für Autismus in Kosovo. Beide Beispiele kennzeichnen sich zumindest durch einige Merkmale unternehmerischer Führung. Die Innovationsorientierung ist wohl das herausragende Merkmal in beiden NPO, was typisch für viele geberfinanzierte NPO ist. Es liegt in der Natur der Entwicklungszusammenarbeit. Die beiden Verbände unterschieden sich jedoch von anderen vergleichbaren NPO durch eine langfristige unternehmerische Entwicklung dank Orientierung an Bedürfnissen von lokalen Akteuren und Begünstigten. Beide verlangen mutig und selbstbewusst finanzielle Beiträge von lokalen Begünstigten, anstatt sich wie die Konkurrenz nur auf vom Ausland bezahlte Charity sowie eine geringe staatliche Unterstützung zu verlassen (Proaktivität, Aggressivität und Risikobereitschaft). Beide NPO ordnen ihr Geschäft der Erfüllung der Mission unter, nämlich der Wirkung der Leistungen auf die alternde Gesellschaft in Moldawien resp. die Verbesserung der Lebenslage der Menschen mit Autismus. Einer der Verbände hat dafür gar die Partnerschaft mit einem ausländischen Geber in Kauf genommen, der andere temporäre Einnahmeausfälle. Der unternehmerische Geist zielt auf langfristige Veränderung ab, politisches Lobbying mit zielverwandten NPO (kooperative Mobilisierung), Öffentlichkeitsarbeit und lokales Fundraising sind deshalb besonders wichtig. Autonomie und gemeinschaftliche Mobilisierung sind dagegen nur sehr bedingt Merkmale für eine unternehmerische Führung in den beiden Verbänden. Zwar werden Mitarbeitende gefördert und in die Prozesse der Leistungserbringung und -verbesserung einbezogen, was in vielen NPO nicht unbedingt beobachtet werden kann. Eine unternehmerische „Bottom-up“-Kultur existiert hingegen nicht, auch weil dafür das entsprechende Personal fehlt. Es ist zu ergänzen, dass genau diese beiden Merkmale, welche die interne Governance ansprechen, jene sind, auf die die Entwicklungsorganisationen kaum Einfluss ausüben können und bei denen sich die Partnerorganisationen keinen Einfluss von außen wünschen. Die zuvor genannten Merkmale unternehmerischer Führung von Drittleistungsanbietern des Non-Profit-Sektors können Entwicklungsorganisationen jedoch durchaus im positiven Sinne fördern. Dabei ist aber ein Paradoxon der Entwicklungszusammenarbeit

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zu berücksichtigen, nämlich vorausschauende, unternehmerisch orientierte DrittleistungsNPO zu stärken und gleichzeitig die Entwicklungsprojekte nach den Strukturen der Empfängerländer respektive nach den Projektzielen der Geberorganisationen auszurichten. Dieser potenzielle Zielkonflikt von unternehmerischer Führung und Fremdsteuerung kann aufgelöst werden, indem bei der Förderung des unternehmerischen Managements insbesondere folgenden fünf Punkten Beachtung geschenkt wird (was den Schweizer Hilfswerken bei den beiden untersuchten Verbänden teilweise gut gelungen ist): 1. Auswahl einer NPO, die a) bereits mehrheitlich unabhängig von ausländischen Gebern ist; b) bei lokalen Stakeholdern verankert ist; und c) eine Mission hat, die zu den thematischen Entwicklungszielen der Hilfsorganisation beiträgt; 2. Tagesgeschäft: Die Entwicklung eines tragfähigen Tagesgeschäfts (Kerngeschäft) ist das Hauptziel der Kooperation; die NPO betreibt bereits ein Tagesgeschäft mit Erträgen aus lokalen Finanzierungsquellen; die Entwicklungsorganisation leistet Beiträge an die Innovation; 3. Programmsteuerung: Beiträge an das Gesamtprogramm anstatt Projektbeiträge leisten; die proaktive Gesamtplanung und -steuerung sowie die Koordination der Geldgeber muss in der unternehmerischen Verantwortung der NPO liegen; 4. Eigenkapital und Reserven fördern durch a) Beiträge an das Organisationskapital anstelle von Projektfinanzierung und b) die Gewährung eines Gemeinkostenzuschlags, der unternehmerisches Handeln, Innovation und Risikobereitschaft erst zulässt; 5. Interne Governance sollte nicht im Vordergrund der Förderung stehen: ein Einmischen in die Organisationspolitik, in Entscheidungsprozesse, in Kompetenzen und Strukturen oder in die Personalpolitik wird weder geschätzt noch lassen sich diesbezüglich Erfolge in Bezug auf unternehmerische Orientierung nachweisen.

Dokumente von CASMED • Centre for Social and Medical Home Assistance „CASMED“ Strategic Plan 2016–2020 • Jahresberichte der Gesamtorganisation von CASMED, 2011–2013, 2014, 2015, 2016, 2017 • Progress Report 2011–2018 • Statuten • Externe Diagnose der Managementkompetenz der Geschäftsführerin, 2018 • Quartalsberichte und Jahresberichte an HEKS 2014-2017 • Monitoring-Matrix • Audit • Jahrespläne 2017 und 2018

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• Evaluation report der Diakonie ECCB – Center of Relief and Development, Prague, 2016 • Webseite: www.casmed.md Projektdokumentation von HEKS • Projektdokumente „Development of the Home Care Service CASMED“, 2011–2013, 2014–2016 sowie 2017–2020, inkl. Budgets, Logical Frameworks und Begleitdokumentation • Projektbericht 2011–2013 • Jahresberichte sowie Quartalsberichte 2011 bis 2016 • Jahresplan 2011 • Phasenabschlussbericht 2011–2012 • Financial statements 2011 und 2012 • Mid-term Evaluation Report von SRK, 2015 Dokumente von ANAK • • • • • • •

Statuten Finanzberichte 2016 bis 2018 Liquiditätsplan Juni 2018 bis Juni 2019 Protokoll der Mitgliederversammlung 2018 Interne Analyse der Zahlungsmoral der Kundschaft von ANAK, 2018 Projektvorschlag an Solidar Suisse, 2018 Position Paper: Empowering and expanding evidence based services for autism in Kosovo, 2016 • Jahresbericht 2016 an Solidar Suisse • Webseite: http://www.autizmi.org/ Projektdokumente von Solidar Suisse Research on Autism in Kosovo. Detailed measurement of group needs through parents of children with autism, von ANAK und Solidar Suisse, 2016

Anhang

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Tab. 13.1 Verzeichnis der Interviews, Befragungen und Auskünfte Name

Organisation

Funktion

Art, Ort und Dauer der Befragung

Datum

Deva, Jeta

ANAK (Nationaler Verband für Autismus in Kosovo)

Geschäftsführerin, Gründungsmitglied

Schriftliche Befragung zu Bewertungskriterien

11.07.2018

Hoxha, Ilir

Solidar Suisse

Schriftliche Auskunft

18.06.2018

Hug, Vincent HEKS

Länderverantwortlicher Moldawien

Schriftliche Auskunft Interview, 1,5 Std., Zürich

08.04.2018 26.04.2018

Postolachi, Natalia

CASMED (Centre for Home Social and Medical Assistance)

Geschäftsführerin

Schriftliche Befragung zu Bewertungskriterien Interview, 2 Std., Skype

19.04.2018

Solidar Suisse

Programmleiter Südosteuropa

Schriftliche Auskunft

10.04.2018

Rogger, Cyrill

20.04.2018

Literatur Baumann, C. (2018). Erfolgreiche Förderung der Managementkapazitäten von NonprofitOrganisationen im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit in Transformationsländern. Master Thesis, Universität Freiburg i. Ü. Baumann, C. (2019). NPO-Managementerfolg dank internationaler Zusammenarbeit. VerbandsManagement, 45(3), 30–38. Dill, A. P., Zrinšˇcak, S., & Coury, J. M. (2012). Nonprofit Leadership Development in the PostSocialist Context: The Case of Croatia. Administration in Social Work, 36(3), 314–341. Egger, M. (2006). Die Auslandsarbeit der politischen Stiftungen zwischen Entwicklungs- und Transformationskontext: Eine Untersuchung der Tätigkeit der Friedrich-Ebert-Stiftung in Lateinamerika und Osteuropa – Eine Studie zum organisationalen Lernen. Freie Universität Berlin. OECD. (2005/2008). The Paris declaration on aid effectiveness (2005). Accra Agenda for Action (2008). http://www.oecd.org/development/effectiveness/34428351.pdf. Zugegriffen: 21. Jan. 2020. OECD/DAC. (2010). Inventory of donor approaches to capacity development: What we are learning. https://www.eda.admin.ch/dam/deza/en/documents/die-deza/strategie/202116-inventorydonor-approaches_EN.pdf. Zugegriffen: 21. Jan. 2020. Potluka, O., Spacek, M., & von Schnurbein, G. (2017). Impact of the EU structural funds on financial capacities of non-profit organizations. VOLUNTAS: International Journal of Voluntary and Nonprofit Organizations, 28, 2200–2223.

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C. Baumann

Rikmann, E., & Keedus, L. (2012). Civic sectors in transformation and beyond: Preliminaries for a comparison of six central and eastern european societies. VOLUNTAS: International Journal of Voluntary and Nonprofit Organizations, 24, 149–166. Sociopolis. (2018). Home-based medical and social care services assessment in the republic of Moldova. http://casmed.md/wp-content/uploads/2018/12/studiul-.pdf. Zugegriffen: 21. Jan. 2020. USAID. (2017). CSO sustainability index for central and eastern europe and eurasia, 20. www.usaid. gov/sites/default/files/documents/1866/CSOSI_Report_7-28-17.pdf. Zugegriffen: 25. Feb. 2017.

Dr. Christoph Baumann ist Direktor von NIRAS Suisse AG, die als Teil der NIRAS Gruppe Mandate in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit umsetzt. Nebst seiner Geschäftsführungsfunktion ist er verantwortlich für die Entwicklung des Schweizer Markts. In seiner Leitungs- und Beratungstätigkeit plant, berät und implementiert er schwerpunktmäßig Projekte in den Bereichen Wirtschafts- und Beschäftigungsförderung, Berufsbildung, Marktsystementwicklung, Ernährungssicherheit, Governance, öffentliche Grundleistungen, Inklusion und Stärkung von Zivilgesellschaft. Zuvor war er in Geschäftsführungs-, Leitungs- und Beratungsfunktionen für Hilfswerke und Beratungsfirmen in der Entwicklungszusammenarbeit tätig. Er absolvierte 2018 den Executive MBA in Non-Profit-Management an der Universität Freiburg in der Schweiz.

Teil V Unternehmertum im Gesundheitssektor

Non-Profit-Organisationen im Gesundheitssektor sind traditionell durch eine ausgeprägte Professionalisierung gekennzeichnet. Die Leistungserbringung beruht auf Wertvorstellungen der medizinischen und pflegerischen Berufe und auf dem menschlichen Wohlergehen oder gar der Lebensrettung, und das schließt auch die Interessenverbände für Menschen mit Beeinträchtigungen mit ein. Diese professionellen Werte stehen in starkem Kontrast zu einer auf Wirtschaftlichkeit gerichteten Sachlogik, wie sie die Managementlehre kennzeichnet. Gleichzeitig können sich die Dienstleisterinnen und Interessenverbände schon lange nicht mehr den Spannungen zwischen dem Kostendruck durch die fortschreitende Professionalisierung und insbesondere auch Akademisierung ihrer Leistungserbringung und durch den steten wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt einerseits sowie den Kosteneindämmungsbestrebungen von Seiten der Gesundheitspolitik und den Krankenversicherungen auf der anderen Seite entziehen. Ein Weg, wie diesen großen Herausforderungen begegnet werden kann, sieht eine wachsende Zahl von NPOs in einer Unternehmerischen Führung und Kultur, wie stellvertretend ein Rettungsdienst, eine mobile und eine stationäre Krankenversorgungseinrichtung sowie ein nationaler Interessenverband zeigen. Ergänzt werden diese Beispiele durch eine Branchenstudie zu mobilen Pflegediensten. Das Südtiroler Weiße Kreuz zeichnet sich als Rettungsorganisation durch eine außerordentliche Verankerung in der Region und ihrer Bevölkerung aus, die sich nicht zuletzt am hohen Anteil an ehrenamtlich erbrachten Leistungen zeigt. Trotz einer starken Verankerung wird diese NPO durch Veränderungen der politischen Rahmenbedingungen, der Gesellschaftsstruktur und der zunehmend individualistischen Werthaltungen herausgefordert. Sie reagiert darauf mit einem Ausbau des Managementsystems und einer verstärkt marktorientierten Haltung, die sich unter anderem in einem Ausbau sozialer Dienstleistungsangebote über die Rettungstätigkeit hinaus niederschlägt. Und letztlich ist auch der Rechtsformwechsel vom gemeinnützigen Verein zu einem der ersten italienischen Sozialunternehmen eine Widerspiegelung dieser Entwicklung. Die häusliche Krankenpflege, in der deutschsprachigen Schweiz gemeinhin als Spitex bezeichnet, ist ein Sektor, der starke strukturelle Veränderungen durchläuft. Diese betreffen nicht nur das Dienstleistungsangebot, seine Finanzierungsgrundlagen und die Anbieterstruktur, sondern auch die dafür praktizierten Organisationsmodelle, etwa in Auseinandersetzung mit dem niederländischen Buurtzorg-Modell für agile Pflegeteams. Der

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Teil V: Unternehmertum im Gesundheitssektor

erste von zwei Beiträgen zu diesem Sektor beruht auf einer vergleichenden Befragung von Organisationen der sogenannten öffentlichen Spitex, die teils kantonal, teils lokal und meistens als gemeinnützige Vereine auftreten, sowie von Organisationen der sogenannten privaten Spitex; letztere umfassen ein breites Spektrum von teils gewinnorientierten, teils als NPO gegründeten Diensten ohne öffentlichen Versorgungsauftrag, die lokal als Konkurrenten der öffentlichen Spitex-Organisationen auftreten. Die Studie bringt zu Tage, dass sich die öffentliche und die private Spitex nicht wesentlich im mittleren Grad der Unternehmerischen Orientierung voneinander unterscheiden; auf beiden Seiten ist die Varianz innerhalb der beiden Gruppen von Organisationen aber beträchtlich. Dabei scheinen die öffentlichen Spitex-Dienste auf eine lokale Konkurrenzlage vor allem mit erhöhter Aggressivität, aber weniger mit verstärkter Innovationsorientierung zu reagieren. Das Fallbeispiel einer ausgeprägt unternehmerischen Spitex-Organisation in der Stadt Zürich zeigt, wie diese NPO Grundgedanken des niederländischen Buurtzorg-Modells aufgreift, aber in eigener Weise zu einer agilen Netzwerkstruktur ausgestaltet und so eine Unternehmerische Führung und Kultur schafft, bei der ein hoher interner Autonomiegrad als Schlüssel zu Zukunftsorientierung und mobilisierender Aktivität dient. Die Suchtfachklinik Selhofen repräsentiert den Sektor der stationären Krankenbetreuung. Die Unternehmerische Orientierung kommt hier vor allem in der erfolgreichen Etablierung des lösungs- und ressourcenorientierten Ansatzes und in der Pionierrolle bei der Ausweitung des Angebots in den neuen Bereich der sogenannten Online-Sucht zum Ausdruck. Dies gelang, weil die Einrichtung bereits früh durch eine unternehmerische Führungskraft geprägt wurde und eine entsprechende unternehmerische Kultur auch mit dem Generationenwechsel in der Leitung erhalten werden konnte. Der letzte Beitrag stellt mit dem Schweizerischen Gehörlosenbund einen Dachverband auf dem Entwicklungspfad hin zu einer unternehmerischen Mitgliederorganisation vor. Ein wesentlicher Schritt war dabei der Wandel von einer klassischen Linienhierarchie hin zu einer bereichsübergreifenden Teamzusammenarbeit auf der Führungsebene und die Etablierung eines gemeinsamen Führungsverständnisses, das Innovation und Eigeninitiative sowie eine umfassende unternehmerische Grundhaltung praktiziert und wertschätzt. Vorgestellt werden verschiedene Instrumente, die dazu beitragen diese Kulturentwicklung auch in der alltäglichen Führung und Zusammenarbeit zum Ausdruck zu bringen.

Unternehmerisch sein – ein Kulturmerkmal des Weißen Kreuzes

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Ivo Bonamico und Angelika Ladurner

14.1

Freiwilligkeit als Basis im Weißes Kreuz

In Südtirol gab es bereits vor dem Ersten Weltkrieg einen Rettungsdienst, der traditionsgemäß und ähnlich wie im Feuerwehrwesen von Freiwilligen getragen wurde. Im Jahr 1912 gründete das Bozner Spitalkomitee eine Rettungsgesellschaft. Ihre 40 freiwilligen Helfer eilten im ersten Jahr schon zu 659 Einsätzen. In den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde dieser Verein jedoch aufgelöst, da zur Zeit des Faschismus die Ausführung von Tätigkeiten aller Vereine verboten wurde. Während sich geschichtlich seit dieser Zeit viel geändert hat, blieb diese Tradition der Ehrenamtlichkeit im Interesse der Bevölkerung weiterhin aufrecht. Seit der Gründung des Weißen Kreuzes im August 1965 wird die Organisation strategisch von ehrenamtlichen und operativ von hauptamtlichen Mitarbeitenden geführt. Mehr als die Hälfte der gesamten Arbeitsstunden wird heute von Freiwilligen verrichtet, was ersichtlich macht, dass die Organisation vor allem vom ehrenamtlichen Engagement getragen wird. Sämtliche Angebote werden gemeinsam von den hauptamtlichen Angestellten und den ehrenamtlich tätigen Freiwilligen ausgeführt. Mit der Gründung eines Vereins vor mehr als 50 Jahren konnten die angebotenen Dienste besser strukturiert und vor allem flächendeckend angeboten und weiter ausgebaut werden.

I. Bonamico · A. Ladurner (B) Weißes Kreuz, Bozen, Italien E-Mail: [email protected] I. Bonamico E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Erpf und M. Gmür (Hrsg.), Unternehmerische Führung und Kultur in Non-Profit-Organisationen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40983-8_14

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I. Bonamico und A. Ladurner

Heute ist der Landesrettungsverein Weißes Kreuz eine Non-Profit-Organisation (NPO), die sich nicht nur auf ihre Kerntätigkeiten im Rettungsdienst und Krankentransport konzentriert, sondern sich laut aktuellem Leitbild auch als eine „nicht gewinnorientierte, politisch unabhängige und gemeinnützige Hilfsorganisation“ versteht (Weißes Kreuz, 2017). Sämtliche Leistungen werden von den knapp 500 Festangestellten und von den mehr als 3800 ehrenamtlich tätigen Freiwilligen erbracht (Stand: 31.12.2022). Strukturell besteht das Weiße Kreuz aus 33 Sektionen (Rettungswachen), welche landesweit in Südtirol sowie in der italienischen Nachbarprovinz Belluno angesiedelt sind. Das Weiße Kreuz ist heute vor allem eine NPO, deren Besonderheit darin besteht, dass sie aus gemeinschaftlichem Engagement erwachsen ist, aber dieses Merkmal auch in den Jahren seit der Gründung im Zuge der Professionalisierung und Strukturierung beibehalten hat. Darin unterscheidet sich heute der Verein von vielen gemeinnützigen, sozialen Organisationen in Südtirol, aber vor allem und besonders von gewinnorientierten Betrieben.

14.2

Unternehmerisch sein – nicht nur eine Haltung des Managements

Aufgrund des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Wandels in den vergangenen Jahren, hat sich auch die Organisationskultur im Verein entsprechend verändert. Zwar blieben die Einstellung und das Verhalten sowie das Freiwilligenengagement der Mitarbeitenden im Verein beinahe unverändert, doch die Erwartungshaltung der Freiwilligen, aktiv in der Organisation mitzuarbeiten und somit den Organisationsentwicklungsprozess mitzugestalten, nahm einen immer höheren Stellenwert ein. Die Erfüllung der Erwartungen stellten die Mitarbeitenden mit ihrer Leistung für das gemeinsame Ziel in Verbindung. Die Vereinsführung stellte zunächst Anreize bereit, um die Helferinnen und Helfer zu ihrer Leistung für die gemeinsame Zielerreichung zu bewegen (wie fundierte ErsteHilfe-Ausbildung, Mitgliedschaft im Verein mit allen Vorteilen eines zahlenden Mitglieds, Bereitstellung von Dienstbekleidung und professionell ausgerüsteten Fahrzeugen, etc.). Aber das Management des Weißen Kreuzes hatte bald erkannt, dass es um weit mehr als nur materielle Anreize geht – nämlich um eine gemeinschaftliche Mobilisierung von Ressourcen, sprich um die Entwicklung einer unternehmerischen Organisationskultur. Diese bezieht dabei die Mitarbeitenden in die Verantwortung für unternehmerisches Handeln mit ein. Die Mitarbeitenden bestimmen mit ihren Werten, Motiven und Emotionen die Merkmale im Weißen Kreuz, somit die Organisationskultur, die sich aus den geteilten Werten und Überzeugungen aller Organisationsmitglieder ergibt. Es ist ausgehend von der individuellen Identifikation eine kollektive, organisationale Identifikation mit dem Verein erkennbar.

14 Unternehmerisch sein – ein Kulturmerkmal des Weißen Kreuzes

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Besonders in den letzten Jahren ist es dem Weißen Kreuz gelungen, eine Organisationskultur durch gemeinsame Werte, Motive und Bedürfnisse zu entwickeln, die neben einer sozial engagierten Ausrichtung auch ein unternehmerisches Handeln miteinschließt. Dies hat dem Weißen Kreuz dazu verholfen, erfolgreicher zu sein als andere gemeinnützige Organisationen und Vereine in Südtirol, die es versäumt hatten, eine entsprechende Kultur zu entwickeln. Die steigenden Zahlen sowohl bei den Helferinnen und Helfern als auch bei den Fördermitgliedern des Vereins bestätigen den Erfolg.

14.3

Von der Rettungsorganisation zur gemeinnützigen Hilfsorganisation

Unter Mithilfe der Schweizer Beratungsgruppe für Verbandsmanagement (kurz B‘VM) initiierte die Vereinsführung vor knapp zehn Jahren einen Reorganisationsprozess, welcher bereits erste Ansätze einer unternehmerischen Orientierung aufwies. In diesem über mehrere Jahre dauernden Organisationsentwicklungsprozess gelang es dem Weißen Kreuz laut Berater André Bürki (2017), „sich von einem lose organisierten Rettungsnetzwerk zu einer hochprofessionellen NPO zu entwickeln“. Ging es zunächst um die Strukturierung der Aufbau- und Ablauforganisation sowie die Konsolidierung des zentralen Rechnungswesens mit den Buchhaltungen der über 30 Sektionen, konnte nach dieser Grundlagenarbeit ein Leitbild entwickelt und davon abgeleitet eine Strategie definiert werden. Diese zog den Aufbau einer Marketingabteilung und eines Personal- und Freiwilligenmanagements nach sich (vgl. Bürki, 2017). Der Leitbildentwicklungsprozess im Jahr 2007 gab den Anstoß, sich erstmals eingehender mit dem Auftrag und den Leistungen des Vereins auseinanderzusetzen. Der Auftrag war klar definiert: Rettung und Krankentransport gehören zu den Kerntätigkeiten des Vereins, welche laut Leitbild zum Wohle der Bevölkerung im Auftrag der Südtiroler Landesregierung ausgeführt werden. Eine Vielzahl an Mitarbeitenden, die sich aus Freiwilligen, Ehrenamtlichen, Hauptamtlichen sowie Zivil- und Sozialdienern jeder Altersgruppe zusammensetzt, führte damals wie heute diesen Auftrag gemäß den vorgegebenen Qualitätsmaßstäben aus (vgl. Weißes Kreuz, 2017). Doch seit der Gründung des Vereins im Jahr 1965 hat sich vieles verändert. Sowohl organisatorische als auch strategische und gesellschaftspolitische Veränderungen hatten einen enormen Einfluss auf den Auftrag sowie die Leistungen des Weißen Kreuzes. Das Management konnte diese Veränderungen entweder ignorieren und immer wieder auf ihren traditionellen Leistungsauftrag verweisen, sich durch politische Vernetzung vor dem Druck der Veränderung schützen oder sich an einem Wirtschaftsunternehmen orientieren. Das Weiße Kreuz entschied sich für Letzteres. Gemeinsam mit der Schweizer Beratungsgruppe für Verbandsmanagement wurde der Verein strategisch und organisatorisch neu ausgerichtet und hat sich durch erste Ansätze einer unternehmerischen Haltung hin zu einer gemeinnützigen Hilfsorganisation entwickelt.

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I. Bonamico und A. Ladurner

Grundsätzlich kann unternehmerische Führung als ein wesentlicher Erfolgsfaktor für eine NPO angesehen werden; sie kann aber auf der anderen Seite auch eine Herausforderung für das Management darstellen. Eine Auseinandersetzung mit Fragestellungen auf verschiedenen Ebenen wird daher notwendig: Wie stark setzt sich das Management mit den Veränderungen im Umfeld auseinander? Wie reagiert die Organisation auf Rückmeldungen ihrer „Kundschaft“? Ist die Führung bereit, für Entwicklungen auch Risiken einzugehen? Wie selbstbewusst werden eigene Produkte und Dienstleistungen gestaltet? Wie interdisziplinär sind die Teams zusammengestellt? Die Fragen beziehen sich auf einzelne Merkmale unternehmerischer Führung (Innovation, Proaktivität, Risikobereitschaft, Autonomie, Aggressivität und gemeinschaftliche Mobilisierung), auf welche die Autoren Gmür, Baumann-Fuchs und Löffel in ihren Beiträgen eingehen, und die wir in den nachfolgenden Seiten auf die Realität des Landesrettungsvereins herunterbrechen und beschreiben (vgl. Gmür & Baumann-Fuchs, 2019; Gmür & Löffel, 2019).

14.4

Innovationsorientierung

Im Rahmen der Leitbild- und Strategieentwicklung hat das Weiße Kreuz festgestellt, dass sich in den vergangenen Jahren die Anforderungen der Bevölkerung und der Bedarf des Kostenträgers verändert haben. Effizienz und Effektivität wurden zunehmend zur Richtschnur im dritten Sektor. Dies gilt auch für Organisationen wie das Weiße Kreuz, wo das Wesen in der sozialen und gerechten Einstellung liegt. Das Management war sich einig: Der gemeinnützige Leistungsauftrag steht weiterhin im Vordergrund. Das bestehende Angebot an Leistungen aber musste sich unternehmerisch und marktorientiert weiterentwickeln. Neue innovative Dienstleistungen und Produkte mussten aufgrund der Veränderungen im Umfeld entstehen. Der nächste Schritt im Reorganisationsprozess war somit der Aufbau eines auf diesen geänderten Bedarf abgestimmten Leistungskonzeptes. Bei der Erarbeitung des Konzeptes wurden zunächst die bewährten Produkte und Dienstleistungen des Vereins analysiert, bewertet und aktualisiert. Diese wurden in strategische Geschäftsfelder (SGF) gegliedert. Strategische Geschäftsfelder bestehen laut Definition grundsätzlich aus Einheiten, die voneinander abgegrenzte heterogene Tätigkeitsfelder einer Organisation repräsentieren und eigenständige Aufgaben zu erfüllen haben. Entsprechend dieser strategischen Einheiten wurde die Organisation des Vereins aufgebaut. Ziel des Leistungskonzeptes war es, nicht nur die bestehenden Dienste dem Bedarf des Kostenträgers und den Kundinnen- resp. Kundenanforderungen anzupassen, sondern vor allem neue und innovative Dienstleistungsangebote zu entwickeln, aber auch den Mitarbeitenden neue Möglichkeiten zu bieten, sich aktiv für die Mitmenschen einzubringen,

14 Unternehmerisch sein – ein Kulturmerkmal des Weißen Kreuzes

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sich persönlich weiterzuentwickeln und als Mitdenker und Gestalterinnen des Vereins zu wirken. Beim Aufbau von neuen strategischen Geschäftsfeldern konzentrierte sich das Management vor allem auf das Angebot an sozialen Dienstleistungen, die in den letzten fünf Jahren in das Leistungsspektrum des Vereins mitaufgenommen wurden. Besonders in den vergangenen beiden Krisenjahren wurde ein erhöhter Bedarf an neuen Leistungsangeboten von Seiten der Südtiroler Bevölkerung deutlich. Eine neue Abteilung für soziale Dienste wurde im Verein aufgebaut, welche die entwickelten Dienstleistungen im sozialen Bereich koordiniert und organisiert: Einkaufsdienste, Medikamententransporte, Begleitdienste in Pflegeheimen, Durchführung von Testungen und Impfungen, Führung von Teststationen, Verteilung von Impfstoffen sowie Führung von Quarantänestationen in Pandemiezeiten. Diese Dienste befinden sich teilweise noch in der Entwicklung bzw. im Aufbau. Durch den gesellschaftspolitischen Wandel gewinnen die genannten Dienste zunehmend an Bedeutung. Einerseits bedarf es dieser unterstützenden Dienste für die alternde Bevölkerung, andererseits werden auch die Mitarbeitenden im Verein immer älter und müssen sich beruflich neu orientieren. Letztere können vielfach die Kerntätigkeiten nicht mehr ausführen und brauchen ein angepasstes Tätigkeitsfeld im sozialen Umfeld. Das Management hat beim Leistungskonzept vor allem berücksichtigt, dass dem gemeinnützigen Auftrag besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird: Die Südtiroler Bevölkerung kennt und schätzt seit der Gründung vor allem die Kerntätigkeiten des Weißen Kreuzes. Aber auch für die Mitarbeitenden sind ein klarer Auftrag und eine gemeinsame Zielsetzung entscheidend für ihre Motivation und Identifikation mit der Organisation. Im Rahmen des Organisationsentwicklungsprozesses konnte das Weiße Kreuz somit eine marktorientierte Führung und Kultur entwickeln, die dazu befähigt, flexibel und innovativ auf veränderte Rahmenbedingungen zu reagieren, um somit neue Tätigkeitsfelder zu erschließen (vgl. Abb. 14.1).

14.5

Proaktivität

Eine vom Weißen Kreuz im August 2004 durchgeführte Befragung bei den Patientinnen und Patienten sowie eine 2002 durchführte Umfrage im Rahmen einer Diplomarbeit bei 100 Mitarbeitenden im Verein lieferten wertvolle Informationen für den Aufbau des Leistungskonzeptes. Gleichzeitig wurde eine Einflussnahme-Beeinflussungs-Matrix erstellt, die sowohl die Einflussnahme als auch die Beeinflussbarkeit der Anspruchsgruppen auf die Austauschprozesse der Organisation darstellte (Bonamico & Ladurner, 2006, S. 183). Aufgrund dieser Analysen, Bewertungen und Rückmeldungen von den Anspruchsgruppen konnte das Weiße Kreuz bereits vor mehreren Jahren rasch und zielgerichtet auf erwartete Entwicklungen reagieren. Der Landesrettungsverein hatte zwar bis dahin keinen direkten Mitbewerber, und es bestand nicht die Notwendigkeit, beispielsweise schneller

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I. Bonamico und A. Ladurner

Abb. 14.1 Tätigkeitsfelder 2022

als das Italienische Rote Kreuz zu agieren. Aber der Markt verlangte einen Wandel und eine entsprechende Reaktion darauf. Die Installierung eines effektiven und effizienten Ressourcenmanagements sowie eines strategischen und operativen Controllings waren die unmittelbaren Folgen des Leistungskonzeptes. Durch die daraus folgende Strukturierung und Professionalisierung der Abläufe konnte das Weiße Kreuz ein integriertes Managementsystem aufbauen und bereits vor mehr als zehn Jahren erstmals eine ISO-Zertifizierung erlangen (vgl. Bürki, 2017). Damit war der Grundstein gelegt, periodische Umfragen bei den Anspruchsgruppen des Vereins, wie Patientinnen, Kunden, Angestellten sowie Freiwilligen, durchzuführen. Die Ergebnisse daraus dienten dem Management als wertvolle Inputs für Veränderungen im Leistungsangebot.

14 Unternehmerisch sein – ein Kulturmerkmal des Weißen Kreuzes

14.6

189

Risikobereitschaft

Das Weiße Kreuz ist heute organisatorisch genauso aufgebaut, wie es die strategischen Schwerpunkte verlangen. Die ehrenamtlichen Gremien sind lückenlos in der operativen Struktur abgebildet. Die ehren- und hauptamtlichen Führungsorganisationen in den leistungserbringenden Sektionen sind miteinander in konsequenten Führungsrhythmen verknüpft und koordiniert (vgl. Bürki, 2017). Dies war nicht immer so. Lange Zeit waren die einzelnen Sektionen (Rettungswachen) vollkommen autonom, vor allem bei der Ausübung ihrer finanziellen Geschäftsgebarung. Aufgrund von finanziellen Ungleichgewichten zwischen den größeren und kleineren Sektionen sowie aufgrund der veränderten strategischen und organisatorischen Rahmenbedingungen stellte sich vermehrt die Frage der Zentralisierung. Natürlich wollte keine Sektion ihre unabhängige Stellung innerhalb des Vereins aufgeben, aber die Anforderungen wiesen hin auf eine zentrale Finanzgebarung im Verein. Auch auf der organisatorischen Ebene war damals das Zusammenspiel zwischen Hauptund Ehrenamtlichen in den Sektionen nicht klar geregelt. Die internen Aufgabenzuteilungen und Verantwortlichkeiten waren ebenfalls nicht eindeutig. Das Management wollte im Veränderungsprozess keine Risiken eingehen. Man erkannte, dass innerhalb des Weißen Kreuzes die Führung eine sehr bedeutsame Rolle spielt. Allerdings konnte man aufgrund der organisatorischen Besonderheit nicht auf klassische Managementmodelle zurückgreifen. Somit begann die Führung, sich verstärkt am Freiburger Managementmodell für Non-Profit-Organisationen (FMM) zu orientieren. Es wurden im Rahmen des Veränderungsprozesses diverse betriebswirtschaftliche Instrumente und Methoden eingeführt, die letztendlich eine große Akzeptanz bei den Mitarbeitenden brachte und eine eng abgestimmte Zusammenarbeit zwischen Ehrenamt und Hauptamt zur Folge hatte. Bei der Anwendung des FMM wurden kontinuierliche Führungsrhythmen auf allen Ebenen der Organisation eingeführt, Kostenstellen definiert, Funktionsbeschreibungen erstellt, ein Zielvereinbarungssystem umgesetzt, ein Controllingsystem sowie ein professionelles Personal- und Freiwilligenmanagement aufgebaut. Letzteres beinhaltet heute neben der Personaladministration eine vorbildhafte Personalentwicklung mit Angeboten zur Förderung, Erhaltung und Weiterbildung für die Mitarbeitenden (vgl. Abb. 14.2).

14.7

Autonomie

Das Weiße Kreuz hat bereits vor Jahren begonnen, finanzielle und personelle Ressourcen konsequent in die Unterstützung der Identifikation von Freiwilligen und Hauptamtlichen mit der eigenen Organisation zu investieren. Ebenso hat die Organisation auf Maßnahmen im Bereich der Personalerhaltung und der ständigen Aus- und Fortbildung gesetzt und

190

I. Bonamico und A. Ladurner

Abb. 14.2 Schwerpunkte Freiwilligenmanagement

damit eine Art von Unternehmenskommunikation entwickelt, die in der Lage ist, auf allen Stufen die Anliegen der Mitarbeitenden regelmäßig aufzunehmen. Bereits vor 15 Jahren wurde ein Pool für Nachwuchsführungskräfte aufgebaut, wo junge und potenzielle Führungskräfte, sowohl ehrenamtliche als auch hauptberufliche, eigene Entwicklungsperspektiven für sich und im Weißen Kreuz entwickeln können. Dabei werden ihnen moderne Führungsinstrumente nähergebracht. Ihr Gesamtverständnis für Aufbau, Struktur und Strategie des Landesrettungsvereins wird ebenfalls gefördert. Damit erhalten die Nachwuchsführungskräfte die Möglichkeit, von Umsetzenden zu Mitgestaltenden zu werden. Der Verein verfolgt dabei das Ziel, Führungspositionen möglichst mit Personen aus den eigenen Reihen zu besetzen. Die Ausbildung im Nachwuchspool beinhaltet sowohl theoretische Inhalte wie Kommunikation, Führung und Team als auch praktische Übungen und Fallbeispiele zum eigenen Führungsverhalten und -verständnis. Durch diese gezielte persönliche Förderung der individuellen, fachlichen, funktionalen und kommunikativen Kompetenzen sind die Mitarbeitenden imstande, die Weiterentwicklung der Organisation mitzugestalten. Dafür stehen ihnen diverse Möglichkeiten und Instrumente im Verein zur Verfügung, wo sie ihre Initiativen und Vorschläge deponieren können: Ein modernes Projektmanagement bildet beispielsweise die laufenden Projekte und Initiativen ab, die von den Mitarbeitenden eingebracht werden. Eine innovative Collaboration-Plattform und ein Intranet-Portal dienen zum internen Wissensaustausch aber auch zum Einbringen von Vorschlägen. Periodisch durchgeführte Umfragen bieten den Mitarbeitenden ebenfalls die Möglichkeit, ihre Anregungen zur Weiterentwicklung des Vereins einzubringen. Im Oktober 2019 hatten alle hauptamtlichen Mitarbeitenden des Weißen Kreuzes die Möglichkeit, an einer Mitarbeiterbefragung teilzunehmen, die gemeinsam mit einem Beratungsunternehmen umgesetzt wurde. Dabei wurde das Ziel verfolgt, die Zufriedenheit

14 Unternehmerisch sein – ein Kulturmerkmal des Weißen Kreuzes

191

der Mitarbeitenden zu messen und zu erfragen, wie sie die interne Zusammenarbeit wahrnehmen. Weiteres Ziel war das Erkennen von Stärken und Verbesserungspotenzialen in der Organisation sowie das Ableiten von weiterführenden Maßnahmen zur Weiterentwicklung. Das Ergebnis einer anderen Umfrage zum Thema Arbeits- und Gesundheitsschutz war der Anstoß für die Entwicklung eines Gesundheitsförderungsprogramms für alle Mitarbeitenden. Auch der Aufbau eines organisationsinternen Coachingmodells (OIC) gab den Mitarbeitenden, vor allem den Führungskräften im Verein, die Möglichkeit, sich persönlich und fachlich weiterzuentwickeln und von der Organisation in ihrer Arbeit professionell begleitet zu werden. Die Mitarbeitenden fühlen sich durch diese Maßnahmen und Projekte in der Organisation miteingebunden und sind auch bereit, Mitverantwortung für ihr Handeln im Verein zu übernehmen.

14.8

Aggressivität

Das Weiße Kreuz ist heute eine Organisation, die mittlerweile laut interner Statistik 95 % der Rettungs- und Krankentransporte in Südtirol abwickelt und einen großen Teil der Bevölkerung zu seinen Fördermitgliedern zählt. Damit muss sich der Verein in den Kerndienstleistungen mit einer kleinen Anzahl an Mitbewerbern auseinandersetzen und braucht sich in Bezug auf den Leistungsauftrag am Markt nicht zu behaupten (Bonamico & Ladurner, 2006, S. 184). Vielmehr sprechen wir im Kontext des Gesundheits- und Sozialwesens von einem Wachstumsmarkt mit verschiedenen Playern und Anbietern. Außerdem hat sich das Umfeld des Weißen Kreuzes verändert, welches zunehmend als schwierig eingeschätzt wird. Zum einen steigt der Wettbewerbsdruck, zum anderen haben die Forderungen vonseiten der Kostenträger zugenommen. Diese Aspekte sind sehr wohl eine Herausforderung für das Weiße Kreuz, besonders bei der Ausübung der sozialen und innovativen Dienstleistungen. Und diese Herausforderung kann eine Organisation entweder bewusst annehmen, sie kann sich ihr stellen oder sie auch verdrängen. Die Vereinsführung hat schon vor Jahren erkannt, dass das Weiße Kreuz an den Herausforderungen wächst, wenn sie sich mit ihr bewusst auseinandersetzt und eine unternehmerische Haltung einnimmt. Der Rettungsverein hat aus diesem Grund in den vergangenen Jahren begonnen, mit seinen Mitbewerbern, wie z. B. dem Italienischen Roten Kreuz, der Caritas und anderen gemeinnützigen Vereinen eine gute Zusammenarbeit und Partnerschaft aufzubauen. Insgesamt scheint eher eine Kultur des Miteinanders statt eines Gegeneinanders vorzuherrschen. Seit 2004 übernimmt die Einsatzzentrale des Weißen Kreuzes beispielsweise neben der Disposition der eigenen Krankentransporte auch jene des Italienischen Roten Kreuzes Bozen. Einzelne Gemeinschaftsprojekte, wie die Führung eines Aufnahmezentrums für

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I. Bonamico und A. Ladurner

Flüchtlinge in Bozen im Jahr 2017, wurden mit dem Roten Kreuz und dem Verein Volontarius erfolgreich umgesetzt. Das Projekt Wünschewagen wurde 2018 nach Ideengabe des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB) Deutschland gemeinsam mit der Caritas aus der Taufe gehoben und ist aus dem Verein nicht mehr wegzudenken.

14.9

Gemeinschaftliche Mobilisierung

Unternehmerische Führung bedarf einer Organisationskultur, die sich an Veränderungen orientiert und welche die Mitarbeitenden in die Mitverantwortung für ihr Handeln einbezieht. Voraussetzung dafür ist die Pflege einer internen Kommunikationskultur und die Ausrichtung der Tätigkeit der Organisation an den Wertvorstellungen und einem Gesellschaftsbild, die ihrer eigenen Arbeit entsprechen. Bereits im Jahr 2007 hat sich das Weiße Kreuz im Leitbild- und Strategieentwicklungsprozess mit den Grundsätzen und Werten des Vereins auseinandergesetzt. Knapp zehn Jahre später (2017) wurde das bestehende Leitbild überarbeitet und dem gesellschaftlichen Wandel angepasst. Erstmals war im Leitbild von Werten die Rede (vgl. Weißes Kreuz, 2017: „Wir begegnen einander gleichwertig, unabhängig von unserem Tätigkeitsbereich. Wertschätzung und Respekt gebührt allen, mit denen wir zusammenarbeiten und denen wir unsere Leistungen anbieten. Wir bieten allen Menschen unvoreingenommen unsere Unterstützung im Sinne einer schnellen und fachgerechten Hilfe an, unabhängig von Geschlecht, Alter, Herkunft, sozialer Stellung und Religion der Hilfebedürftigen“). Im August 2019 wurden diese Werte und Haltungen im Rahmen von Workshops mit den Führungskräften im Verein konkretisiert. Ergebnis war ein gemeinsam erarbeitetes Dokument mit den zehn wichtigsten Grundsätzen zu den Werten in der Führungsarbeit im Weißen Kreuz (vgl. Weißes Kreuz, 2019, Werte und Haltungen in der Führung). Ziel der Vereinsführung ist es, dass diese Wertvorstellungen besonders von den haupt- und ehrenamtlichen Führungskräften im Verein umgesetzt und in der Zusammenarbeit gelebt werden. Führungskräfte nehmen in einer Organisation eine Vorbildfunktion ein. Durch Vorleben der Werte und Haltungen können sich Einstellungen und Verhaltensweisen aller Mitarbeitenden neu ausrichten. Eine neue und gefestigte Organisationskultur kann oder konnte dadurch entstehen. Laut Ergebnisse einer Umfrage im Jahr 2017 bei 1636 Freiwilligen, durchgeführt beim Weißen Kreuz von einem Beratungsteam des VMI (Verbandsmanagement Institut der Universität Freiburg, Schweiz), identifizieren sich mehr als 70 % der Befragten mit den Wertvorstellungen der Organisation. Die hohe Identifikation widerspiegelt eine große Zufriedenheit und eine enorme Bindung der Mitarbeitenden an den Verein. Grundsätzlich erzeugen die Werte von Mitarbeitenden auf der individuellen Ebene eine Identifikation mit der Organisation und korrelieren in der Regel durch Interaktion mit den

14 Unternehmerisch sein – ein Kulturmerkmal des Weißen Kreuzes

193

Abb. 14.3 Identifikation mit Wertvorstellungen, VMI-Umfrageergebnisse Freiwillige (2017)

Wertvorstellungen und Grundsätzen des Vereins. Damit entsteht eine emotionale Bindung zum Weißen Kreuz, was sich wiederum in einer gefestigten Organisationskultur niederschlägt (vgl. Greulich, 2017). Die Abb. 14.3 zeigt beispielsweise die Identifikation der Freiwilligen mit den Wertvorstellungen des Weißen Kreuzes (vgl. Lichtsteiner & Brupbacher, 2017). Die Darstellung impliziert eine hohe organisationale Bindung. Die Haltung gegenüber Mitarbeitenden spielt somit in der Führung beim Weißen Kreuz eine bedeutende Rolle. Die Organisation erfüllt als Arbeitgeberin beispielsweise nicht nur die vorgeschriebenen Richtlinien zum Arbeits- und Gesundheitsschutz, sondern bietet darüber hinaus, so wie oben erwähnt, gezielt Angebote für die Mitarbeitenden an, wie etwa Gesundheitsförderung oder organisationsinternes Coaching. Schließlich steht auch Teamarbeit im Vordergrund, sei es bei der operativen Tätigkeit als auch bei der Weiterentwicklung der Organisation. Schon seit vielen Jahren gibt es beim Weißen Kreuz diverse Arbeitsgruppen, die sich aus Mitarbeitenden, Freiwilligen und Ehrenamtlichen mit unterschiedlichen Funktionen zusammensetzen. Diese werden vor allem genutzt, um Entscheidungen für den Vorstand vorzubereiten, Innovationen voranzutreiben, neue Impulse und Initiativen zu starten sowie den Zusammenhalt zwischen Haupt- und Ehrenamt weiter zu stärken.

14.10 Kooperative Mobilisierung Schon seit Jahren hat es sich das Management des Weißen Kreuzes strategisch zum Ziel gesetzt, die bestehenden Netzwerke auszubauen und Kooperationen mit nationalen und internationalen Organisationen und Verbänden einzugehen. Auf nationaler Ebene arbeitet der Verein eng mit ANPAS zusammen, um einerseits nationale Informationen in einer kurzen Zeit aus Rom zu erhalten und andererseits, um wertvolle Erfahrungen und Wissen mit nationalen Organisationen auszutauschen. Seit 2015 ist Weiß-Kreuz-Direktor Ivo Bonamico unter anderem Generalsekretär von Samaritan International, einem aus insgesamt 20 Mitgliedsorganisationen in 19 Ländern

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bestehenden Verband. Samaritan International (kurz SAM.I) ist laut Leitbild ein europäisches Netzwerk von gemeinnützigen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) mit Standort in Brüssel. Der Verband dient zur Koordination der Aktivitäten untereinander, zur Entwicklung von neuen, grenzüberschreitenden Partnerschaften, und er vertritt die Interessen seiner Mitglieder gegenüber der Europäischen Union. Insbesondere in Fragen der Notfallvorsorge unterstützen die Mitgliedsorganisationen auch praktisch die Entwicklung zu einem vereinten Europa. Obwohl das Weiße Kreuz aufgrund seiner geringen Größe im europäischen Kontext wenig Gewicht hat, eröffneten sich durch die Mitgliedschaft des Vereins bei SAM.I vielseitige Möglichkeiten zur Organisationsentwicklung. Durch den Austausch von Wissen und Erfahrung zwischen den einzelnen Mitgliedsverbänden und durch gemeinsame, erfolgreiche Projekttätigkeiten auf EU-Ebene konnte das Weiße Kreuz in den vergangenen Jahren vielfach neue Impulse für die eigene Ausrichtung und unternehmerische Orientierung gewinnen. Innovative Projekte, wie z. B. das EU-Projekt zu digitalen Ausbildungsmodellen, an welchen das Weiße Kreuz mitwirkt, bieten der Vereinsführung besonders die Möglichkeit, über den Tellerrand hinauszuschauen, den eigenen Erfahrungshorizont zu erweitern und Informationen aus erster Hand aus Brüssel zu aktuellen Themen zu erhalten. Die Vereinsführung nutzt das Netzwerk aktiv seit 2014. Ziel ist unter anderem, sich international neben den großen Hilfsorganisationen und Wohlfahrtsverbänden gut zu positionieren, bei EU-relevanten Themen mitzuarbeiten und diese auch mitzugestalten. Es konnten beispielsweise für den Verein angemessene Rahmenbedingungen für das Freiwilligenmanagement geschaffen und der internationale Austausch von Freiwilligen gefördert werden. Das Weiße Kreuz nutzt demzufolge Kooperationen mit anderen Organisationen, um Impulse für unternehmerische Orientierung zu erhalten.

14.11 Schlussbemerkung Bisher ging man davon aus, dass Management und Mitarbeitende im Spannungsfeld von sozialen und wirtschaftlichen Zielen stehen und in diesem Zusammenhang besonders die sozialen Ziele geschwächt würden. In jüngerer Zeit überwiegen Studien die aufzeigen, wie sich soziale und wirtschaftliche Zielsetzungen gegenseitig bedingen und sogar stärken können. Der italienische Staat hat erkannt, dass der dritte Sektor ein großes wirtschaftliches Potenzial aufweist und darauf reagiert, indem er den Sektor einer Reform unterzog und dabei die Möglichkeit schuf, Tätigkeiten von allgemeinem, sozialem Interesse mit betriebswirtschaftlichen Instrumenten und Zielsetzungen zu verbinden. Das Weiße Kreuz als NPO hat diese rechtlichen Voraussetzungen genutzt und 2018 als eine der ersten italienischen Organisationen ein Sozialunternehmen in Form einer GmbH

14 Unternehmerisch sein – ein Kulturmerkmal des Weißen Kreuzes

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gegründet, die Weißes Kreuz Service GmbH. Als Sozialunternehmen kann das Weiße Kreuz damit betriebswirtschaftlich orientierte Tätigkeiten auslagern (wie z. B. externe Ausbildung, Pistenrettung, u. a.) und durch unternehmerische Führung mögliche wirtschaftliche Erfolge einfahren. Dabei gilt es, dass für eine NPO einige Besonderheiten beachtet werden müssen: die Einbindung der Mitarbeitenden, die Innovationsorientierung und interne Kommunikation, aber vor allem die gemeinschaftliche Mobilisierung der Ressourcen zu einer entsprechenden Organisationskultur.

Literatur Bonamico, I., & Ladurner, K. (2006). Erfolgreiches Management in einer sozialen NonprofitOrganisation. In B. Helmig & R. Purtschert (Hrsg.), Nonprofit-Management. Beispiele für BestPractices im Dritten Sektor (2. Aufl, S. 173–195). Gabler. Bürki, A. (2017). Landesrettungsverein Weißes Kreuz Südtirol – Schritt für Schritt zur Management Excellence – eine Erfolgsstory besonderer Art. B’VMessage. Gmür, M., & Baumann-Fuchs, J. (2019). Erfolgsfaktor Führung. Sozialwirtschaft, 6, 20–22. Gmür, M., & Löffel, U. (2019). Unternehmerische Kultur und Zielerreichung in Pflegediensten. Verbands-Management, 45(2), 17–25. Greulich, J. (2017). Möglichkeiten der Förderung der rationalen und emotionalen Bindung von Arbeitnehmern an das Unternehmen (Dissertation). Technische Universität Dortmund. Lichtsteiner, H., & Brupbacher, N. (2017). Freiwilligenimage – Resultate der Mitgliederbefragung [Abschlussbericht]. Unveröffentlichtes Dokument. VMI, Universität Freiburg/CH. Weißes Kreuz. (2017). Leitbild. Unveröffentlichtes Dokument. Weißes Kreuz. (2019). Werte und Haltungen in der Führung [Ergebnisprotokoll aus Workshop mit Führungskräften]. Unveröffentlichtes Dokument.

Ivo Bonamico ist seit dem 1. Januar 2001 Direktor des Landesrettungsvereins Weißes Kreuz, vorher als Assistent der Direktion und als Vizedirektor im Verein tätig. Ivo Bonamico ist in Bozen geboren, verheiratet und Vater von drei Buben. Bevor er seine Karriere beim Weißen Kreuz angefangen hat, studierte er Rechtswissenschaften an der Universität von Bologna. Nach Abschluss seines Studiums hat er mehrere Jahre lang in einem international tätigen Dienstleistungsunternehmen, vorher in Mailand und dann in Bozen gearbeitet. Seit 2011 ist er unter anderem auch Geschäftsführer des Vereins Heli Flugrettung Südtirol und seit 2015 Generalsekretär von Samaritan International, einem internationalen Verband mit Sitz in Brüssel. Im Jahr 1999 hat Bonamico am Verbandsmanagement-Institut (VMI), das an der Universität Freiburg in der Schweiz angesiedelt ist, den Postgraduate-Lehrgang für Verbands- und Non-Profit-Management absolviert.

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I. Bonamico und A. Ladurner

Angelika Ladurner ist seit zehn Jahren im Landesrettungsverein Weißes Kreuz im Bereich Qualitätsmanagement und Organisationsentwicklung tätig, zu Beginn als Führungskraft einer Abteilung und seit 2017 als Leiterin des Bereiches Qualitäts- und Projektmanagement. Nach ihrem Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Universität Innsbruck arbeitete Ladurner insgesamt 11 Jahre lang als Beraterin für Organisationsentwicklung und Managementsysteme. Ladurner ist zertifizierte Auditorin für integrierte Managementsysteme und ausgebildete Coach.

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Unternehmerische Kultur und Organisationserfolg in Pflegediensten Markus Gmür und Ueli Löffel

Dienstleistungen der häuslichen Krankenpflege und Haushaltshilfe sind in der Schweiz traditionell in der Hand gemeinnütziger Organisationen, überwiegend in der Rechtsform des Vereins. Fast 600 unabhängige Organisationen sind in Kantonalverbänden und im Dachverband Spitex Schweiz zusammengeschlossen. In der deutschsprachigen Schweiz dominieren kleinere und mittelgroße Organisationen mit einem lokalen oder regionalen Wirkungskreis; vor allem in der Romandie sind es größere, kantonale Institutionen. Neben der gemeinnützigen Spitex gibt es über 200 private, d. h. gewinnorientierte SpitexOrganisationen, die in einem eigenen Verband (Association Spitex Privée Suisse ASPS) zusammengeschlossen sind, sowie eine größere Zahl von Einzeldienstleistenden. Der Marktanteil der gemeinnützigen Spitex beim Personal, bei Klientinnen und Klienten sowie beim Ertrag beträgt gegenwärtig rund 70 % (BfS, 2021). Die noch bestehende Dominanz der Letzteren beruht in den meisten Fällen auf Leistungsaufträgen mit den Gemeinden bzw. Kantonen. Die Wachstumsrate ist allerdings geringer als bei den privaten Spitex-Anbietern. Befürchtet wird eine Schwächung der Vormachtstellung, sollten Leistungsaufträge der Kantone und Gemeinden zukünftig öffentlich ausgeschrieben werden. Neben der sich verändernden Konkurrenzlage, die vor allem die Grundpflege betrifft

Der vorliegende Text stellt eine Zusammenführung von zwei früheren Veröffentlichungen dar: 1) Gmür & Löffel (2019) und 2) Gmür & Löffel (2022). M. Gmür (B) · U. Löffel Institut für Verbands-, Stiftungs- und Genossenschaftsmanagement (VMI), Universität Freiburg/ Schweiz, Freiburg, Schweiz E-Mail: [email protected] U. Löffel E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Erpf und M. Gmür (Hrsg.), Unternehmerische Führung und Kultur in Non-Profit-Organisationen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-40983-8_15

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(Ecoplan, 2014), hat auch der Druck von Stakeholdern zugenommen (Hehli, 2018). In der Selbstwahrnehmung der Organisationen ist die Lage jedoch immer noch komfortabel, auch bedingt durch die demografische Entwicklung mit einem wachsenden Anteil älterer Bevölkerung und einem daraus resultierenden wachsenden Markt. Gemeinnützige Spitex-Organisationen haben verschieden Möglichkeiten, wie sie auf das veränderte Umfeld reagieren können. Sie können sich der Veränderung verweigern, auf den traditionellen Leistungsauftrag hinweisen und sich durch politische Vernetzung dem Veränderungsdruck widersetzen. Sie können sich Wirtschaftsunternehmen angleichen, die Kosten reduzieren, um wettbewerbsfähiger zu werden und die Effizienz und Effektivität erhöhen. Oder sie können, als dritten Weg, den gemeinnützigen Auftrag unternehmerisch weiterentwickeln und zusätzliche Leistungen mit höheren Margen anbieten. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, in welchem Umfang gemeinnützige SpitexOrganisationen bereits eine unternehmerische Kultur ausgebildet haben und ob sich diese auf ihren Erfolg unter den Bedingungen eines wachsenden Marktes und parallel dazu zunehmender Konkurrenz auswirkt.

15.1

Unternehmerische Orientierung im Vergleich von PO und NPO

Während sich bereits verschiedene Forschungsarbeiten damit auseinandergesetzt haben, inwiefern das Konstrukt der unternehmerischen Orientierung für eine Untersuchung von NPO angepasst werden sollte (stellvertretend Lurtz & Kreutzer, 2017), finden sich kaum theoriegestützte Überlegungen darüber, ob und warum sich die Ausprägung bei erwerbswirtschaftlichen Unternehmen und NPO dort unterscheiden sollten, wo sie in direktem Wettbewerb zueinanderstehen. Davis et al. (2011) argumentieren mit Bezug auf die neoinstitutionalistische Theorie (DiMaggio & Powell, 1983), dass sich PO und NPO in ihrem Management einander annähern werden, wo sie denselben Legitimierungserfordernissen ausgesetzt sind. Demgegenüber liefert die Meta-Analyse von Comondore et al. (2009) Evidenz dafür, dass sich NPO-Pflegeeinrichtungen stärker als ihre erwerbswirtschaftliche Konkurrenz auf die Qualität der Betreuung konzentrieren. Hinz und Ingerfurth (2013) sowie Davis et al. (2011) verweisen zudem auf Vorgängerarbeiten ohne eigene empirische Evidenz, wonach sich NPO durch eine verstärkte Innovationsorientierung (Schlesinger & Gray, 2006) und eine niedrigere Risikoneigung (Hull & Brian, 2006) auszeichneten. Organisationale Orientierungen lassen sich aus der Perspektive von Typologien der strategischen Positionierung untersuchen und sind auch schon in der NPOManagementforschung zur Anwendung gekommen. So haben Mazzarol und Soutar (2008) die strategische Ausrichtung und ihre Erfolgswirkungen von australischen Bildungseinrichtungen in Anlehnung an die generischen Strategien von Porter (1985) im Dreieck von Kostenführung, Leistungsdifferenzierung und Schwerpunktsetzung analysiert. Der Status als öffentliche oder private NPO bzw. als erwerbswirtschaftliches Unternehmen wurde

15 Unternehmerische Kultur und Organisationserfolg in Pflegediensten

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dabei nicht kontrolliert. Brown und Iverson (2004) gehen in ihrer Untersuchung von US-amerikanischen NPO von Miles und Snow (1978) und deren Unterscheidung von Defenders (verteidigen bestehende Positionen vor allem durch Effizienz- und Größenvorteile) und Prospectors (erobern neue Positionen vor allem durch Innovation) aus. Sie ermitteln eine strategische Vielfalt innerhalb ihres Sample von NPO, haben aber keine erwerbswirtschaftliche Vergleichsbasis. Helmig et al. (2014) untersuchen mit demselben Ausgangspunkt 173 deutsche Krankenhäuser und vergleichen deren strategische Ausrichtung über die Sektoren hinweg. Unter den Organisationen mit einer klaren Profilierung als Defenders oder Prospectors (was allerdings nur für jedes achte Krankenhaus zutrifft) finden sie gewinnorientierte Institutionen überdurchschnittlich häufig unter den Defenders, bei den Prospectors dagegen nur NPO. Die Perspektive von Miles und Snow (1978) erscheint im Fall der vorliegenden Studie naheliegend: Die untersuchten Organisationen lassen sich eindeutig den beiden strategischen Positionen zuordnen, denn eine öffentliche Spitex befindet sich stets in der Defenderposition, während die erst später in den Markt eingetretenen privaten Dienste eine Prospectorrolle einnehmen. Aus diesem Grund wäre nach Miles und Snow zu erwarten, dass die privaten Spitex-Organisationen unter diesen Bedingungen einen durchschnittlich höheren Grad an unternehmerischer Orientierung aufweisen müssten.

15.2

Untersuchungsmethode und Datensatz

Zur Teilnahme an der Studie wurden alle Spitex-Organisationen der Schweiz eingeladen, die 2018 Mitglied von einem der beiden Verbände waren: 570 öffentliche und 240 private Spitex-Organisationen erhielten, jeweils adressiert an die Geschäftsleitung, einen Fragebogen, den sie online ausfüllen konnten. An der Befragung nahmen schließlich 160 öffentliche und 47 private Organisationen teil, was Rücklaufquoten von 28 % bzw. 21 % entspricht. Die Spannweite der teilnehmenden Organisationen bewegt sich zwischen sehr kleinen Organisationen mit nur zwei bis fünf Beschäftigten und sehr großen Diensten mit bis zu 2800 Angestellten (FTE). Der Median beträgt bei der öffentlichen Spitex 23 Vollzeitbeschäftigte, bei den privaten Diensten sieben Beschäftigte. Die Repräsentativitätsprüfung zeigt, dass die Stichprobe der Grundgesamtheit bezüglich Organisationsgröße und regionaler Verteilung weitgehend entspricht. Kleine Organisationen mit weniger als zehn Mitarbeitenden und große Organisationen mit über 100 sind aber jeweils leicht unterrepräsentiert. Um die Untersuchung an die bisherige Forschung zur unternehmerischen Orientierung anschlussfähig zu machen, wurden für die Messung der unternehmerischen Kultur auch die üblichen Itembeschreibungen von Covin und Slevin (1989) sowie Lumpkin und Dess (1996) übernommen und in den Formulierungen nur unwesentlich an den Kontext der Spitex-Organisationen angepasst (vgl. Tab. 15.1). Grundlegend erweitert wurde das Konstrukt durch die neue Dimension der „Gemeinschaftlichen Mobilisierung“. Dem liegt

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die Überlegung zugrunde, dass eine Besonderheit von Vereinen, Verbänden und anderen NPO darin besteht, dass sie aus gemeinschaftlichem Engagement erwachsen sind und dieses Merkmal auch im Zuge der Professionalisierung im Umgang der Mitarbeitenden und im Austausch mit der Leitung weitgehend erhalten. Darin unterscheiden sie sich tendenziell von gewinnorientierten Betrieben und grenzen sich damit nicht selten bewusst von ihnen ab. Dieses Merkmal der Organisationskultur wird dann bedeutsam, wenn es um die Mobilisierung von Ressourcen geht. Wir gehen deshalb davon aus, dass dieses Merkmal die unternehmerische Kultur von NPO kennzeichnet und deshalb zusätzlich in das im Profitsektor entwickelte Konstrukt integriert werden sollte. Die Zielerreichung von Spitex-Organisationen wurde in der Studie auf zweierlei Weise gemessen (vgl. Tab. 15.2): Zum einen wurde die Umsatzentwicklung in den vergangenen Jahren als durchschnittliche Wachstumsrate erfragt. Während rund ein Viertel der Organisationen einen weitgehend konstanten Umsatz erzielte oder gar einen Rückgang Tab. 15.1 Die Messung der unternehmerischen Kultur Dimensionen

Itembeschreibungen (mit siebenstufigen Likert-Skalen) In den letzten fünf Jahren haben wir viele Veränderungen an unseren Dienstleistungen vorgenommen.

Zukunftsorientierung

Innovation Es gab in den letzten fünf Jahren grundlegende und weitreichende Veränderungen in unseren Dienstleistungen. Typischerweise starten wir Aktivitäten, auf die dann unsere Konkurrenz reagiert.

Proaktivität

Es kommt sehr häufig vor, dass wir die ersten sind, die mit neuen Dienstleistungen oder Arbeitsweisen im Markt auftreten. Wir sind überze ugt, dass es in unserer Branche notwendig ist, s in großen Schritten zu verfolgen.

eine Ziele mutig und

Risiko bereitschaft In einer unsicheren Entscheidungslage wagen wir etwas, damit wir hinterher auch große Erfolge erzielen können.

Aktivität

Bei uns herrscht die Überzeugung, dass die besten Ergebnisse erzielt werden, wenn man seine Prioritäten selbstständig setzt.

Autonomie Initiativen und Vorschläge von unseren M itarbeitenden spielen eine entscheidende Rolle für unsere unternehmerische Weiterentwicklung. Gegenüber unserer Konkurrenz verhalten wir uns herausfordernd und kämpferisch.

Aggressivität Im Wettbewerb sind wir eine konkurrenzorientierte und kämpferische Organisation. Mitarbeiter treffen finden vor allem dafür statt,

dass …

- wir wichtige Innovationen in unseren Dienstleistungen realisieren können.

Gemeinschaftliche Mobilisierung

- wir schneller als unsere Wettbewerber sind. - wir uns gegenseitig darin bestärken,

größere Risiken einzugehen.

- unsere Mitarbeitenden neue Impulse bekommen und Initiativen starten können. - wir im Wettbewerb konkurrenzorientiert und kämpferisch auftreten können.

15 Unternehmerische Kultur und Organisationserfolg in Pflegediensten

201

Tab. 15.2 Messung der Zielerreichung von Spitex-Organisationen Subjektiver Erfolgsindex

Wachstumserfolg



Antwortmöglichkeiten:

• • • •

Die Zufriedenheit unserer Klienten ist außerordentlich hoch Wir schaffen es immer, die Qualitätsstandards zu halten Unsere Mitarbeitenden sind ausgesprochen stolz, dass sie bei uns arbeiten Qualifiziertes Personal arbeitet lieber bei uns als bei einer privaten [bzw. öffentlichen] SpitexOrganisation Die Zusammenarbeit mit unseren Kooperationspartnern verläuft immer reibungslos

Median (auf einer Skala von 0,00 bis 1,00): 0,84

Öffentl. Spitex 12%

Private Spitex 11%



Umsatzrückgang



Umsatz gleichbleibend

15%

25%



Umsatzwachstum bis 2%

18%

11%



Umsatzwachstum 3 bis 5%

23%

9%



Umsatzwachstum 6 bis 10%

20%

11%



Umsatzwachstum über 10%

12%

33%

Median

3% 3% Wachstum Wachstum

zu verzeichnen hatte, berichteten drei Viertel von einem mehr oder weniger starken Wachstum, das bei jeder achten Organisation über 10 % betrug. Das zweite Erfolgskriterium wurde als formativer Index aus sechs Aussagen über die Erfüllung institutionalisierter Erwartungen (Qualitätsnormen, Klientinnen/Klienten, aktuelle und potenzielle Mitarbeitende, Kooperationspartner, Kanton/Gemeinde) gebildet. Der Mittelwert lag auf der fünfstufigen Skala sehr hoch, wobei der Wert 5 für den höchsten Zielerreichungsgrad steht. Für das oberste Quartil lagen die Werte bei 4,5 oder höher und für das unterste Quartil niedriger als 4,0. Somit resultiert aus dieser Messung zwar eine schmale, aber für die statistische Analyse ausreichende Bandbreite. Als Kontrollvariablen wurden die Organisationsgröße (gemessen an der Anzahl Vollzeitstellen) und die wahrgenommene Wettbewerbsintensität erhoben. Bei den öffentlichen Spitex-Organisationen konnte diese sich im Bereich von 0 (= Monopol, keine private Spitex im eigenen Markt) bis 1,0 (= mindestens eine Wettbewerberin und hohe Rivalität mit Verdrängungswettbewerb) bewegen; 33 % der Organisationen befinden sich aktuell in einer Monopolsituation. Für die privaten Spitex-Dienste ist immer eine Konkurrenzsituation gegeben, die aber im Grad der wahrgenommenen Rivalität variieren kann.

15.3

Die Verbreitung unternehmerischer Kultur in den gemeinnützigen Spitex-Organisationen

In der Charakterisierung als mehr oder weniger unternehmerische Organisation gehen die Einschätzungen der Befragten weit auseinander, wie dies Tab. 15.3 zeigt. In allen drei Dimensionen reichen die Profile beinahe über das ganze Spektrum von einer völlig fehlenden (=Wert 0) bis zu einer vollständigen Übereinstimmung (=Wert 1). Die Mittelwerte bewegen sich in der Nähe der Skalenmitte. Die mittlere Streuung in der Spalte ganz rechts

202

M. Gmür und U. Löffel

zeigt, in welchem Bereich sich die mittlere Hälfte der Organisationen bewegt. Diese Vielfalt ist bemerkenswert und ist gleichzeitig auch typisch für die spezifische Marktsituation mit einer ausgeprägten regionalen Segmentierung bei gleichzeitig stark wachsender Nachfrage. Das erlaubt jeder Organisation ihr ganz eigenes Profil auszubilden, ohne sich an anderen Organisationen ausrichten zu müssen. Die drei Dimensionen sind untereinander mittelstark positiv korreliert. 70 % der Organisationen geben an, dass sich in ihrem Aktivitätsgebiet mindestens ein Wettbewerber (d. h. in der Regel eine oder mehrere private Spitex-Dienste) bewegt. Von diesen nehmen 40 % einen privaten Spitex-Dienst als unmittelbare Konkurrenz wahr, die aktiv Klientinnen resp. Klienten abwirbt und Marktanteile dazugewinnt. Die Organisationen mit und ohne Konkurrenz unterscheiden sich nur in einem Merkmal der unternehmerischen Kultur signifikant, nämlich der Aggressivität, während die Mittelwerte bei den übrigen Merkmalen nahezu gleich sind. Größere Spitex-Organisationen weisen mehr Merkmale einer unternehmerischen Kultur auf als kleinere; insbesondere sind sie stärker zukunftsorientiert. Dies lässt sich damit erklären, dass der Aufbau einer unternehmerischen Kultur freie Ressourcen erfordert. Weiter besteht zwischen der Defizitgarantie der Gemeinde oder des Kantons und der unternehmerischen Kultur ein negativer Zusammenhang: Organisationen mit einer Defizitgarantie weisen demnach einen tieferen Grad an unternehmerischer Kultur auf. Eine Erklärung hierfür wäre, dass sich Organisationen ohne Defizitgarantie unternehmerischer verhalten müssen, um im Markt zu bestehen.

Tab. 15.3 Unternehmerische Kultur bei den befragten Spitex-Organisationen Dimension

Median (Skala 0–1)

Range Minimum – Maximum

Mittlere Streuung (1. – 3. Quartil)

Zukunftsorientierung (Innovation, Proaktivität, Risikobereitschaft)

0,64

0,17–0,94

0,50–0,75

Aktivität (Autonomie, Aggressivität)

0,50

0,04–0,96

0,36–0,63

Gemeinschaftliche Mobilisierung

0,50

0,00–0,95

0,30–0,65

Unternehmerische Kultur gesamt (Mittelwert aus den drei Dimensionen)

0,54

0,15–0,92

0,41–0,64

15 Unternehmerische Kultur und Organisationserfolg in Pflegediensten

15.4

203

Unternehmerische Kultur und Zielerreichung

Organisationen mit einer ausgeprägten unternehmerischen Managementkultur sind im Durchschnitt tendenziell erfolgreicher als solche, die keine entsprechende Kultur entwickelt haben. Allerdings gilt das vor allem für die Dimension der gemeinschaftlichen Mobilisierung, nur eingeschränkt für die Zukunftsorientierung und kaum für die Aktivität (Autonomie und Aggressivität). Das zeigen die statistischen Zusammenhänge in Tab. 15.4. Die Korrelationsmatrix zeigt im grau unterlegten Bereich die direkten Zusammenhänge zwischen den Erfolgsmaßen auf der einen Seite und den Merkmalen der unternehmerischen Kultur bzw. einer Reihe von Kontextvariablen auf der anderen Seite: Diese zeigen, dass größere Spitex-Dienste einen niedrigeren Erfolgsindex und eine höhere Wachstumsrate aufweisen. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Kausalität beidseitig plausibel ist: Größere Organisationen wachsen eher, und (in der Vergangenheit) wachsende Organisationen sind überdurchschnittlich groß. Ebenfalls ersichtlich wird, dass der Erfolg geringer ist, wenn die Organisation einem intensiven Wettbewerb ausgesetzt ist und in ihrer Region ein Fachkräftemangel herrscht. Da die Zielerreichung von einer Reihe an Faktoren beeinflusst wird, die jenseits einer unternehmerischen Kultur wirken, wird die Korrelations- durch eine multiple Regressionsanalyse ergänzt (vgl. Tab. 15.5). Da die drei Dimensionen der unternehmerischen Kultur hoch untereinander korreliert sind, wird für jede einzelne Dimension ohne Berücksichtigung der beiden anderen eine Berechnung zusammen mit den Kontrollvariablen Tab. 15.4 Korrelationsmatrix Va ria ble n Va

MW

Subjektiver Erfolgsindex

1-5

Wachstumse rfolg Organisationsgrö

ß e (Mitarbeitende log)

1

2

4,31

1

0,03

2

+,16

3,21

3

-,20

+,18

3

4

5

6

7

8

Defizitgarantie Kanton/Gemeinde

j/n

0,54

4

+,16

-,09

-,22

Konkurrenten in der Region

j/n

0,71

5

-,07

-,03

+,19

+,07

Wettbewerbsintensität

0-1

0,32

6

-,29

-,19

+,29

+,03

+,75

Fachkräftemangel

0-1

0,55

7

-,22

-,18

+,19

+,09

+,12

+,24

Zukunfts orie ntie rung

0-1

0,61

8

+,05

+,21

+,37

-,20

+,06

+,04

Aktivitä t

0-1

0,48

9

-,06

+,12

+,28

-,23

+,16

+,11

,00

+,49

Ge me ins cha ftliche Mobilis ie rung

0-1

0,51

10

+,19

+,17

+,15

+,01

+,05

-,01

-,13

+,49

Anmerkung: Pearson Koeffizienten über 0,15 sind in der Regel auf dem 5 %-Fehlerniveau signifikant und fett markiert

9

-,12

+,38

204

M. Gmür und U. Löffel

Tab. 15.5 Zusammenhänge zwischen unternehmerischer Kultur und Zielerreichung S ubje ktive r Erfolgs inde x 1a 1b 1c 1d

2a

Organisationsgröß e (Mitarbeitende log)

-,09

-,05

-,10

-,10

+,18

+, 2 1

+, 2 0

Defizitgarantie Kanton/Gemeinde j/n

+,14

+,13

+,12

+,14

-,01

-,02

-,03

-,02

Konkurrenten in der Region j/n

+, 2 7

+, 2 9

+, 2 6

+, 2 6

+,24

+,25

+,24

+,23

Wettbewerbsintensität

-, 4 6

-, 4 7

-, 4 4

-, 4 4

-, 4 0

-, 4 1

-, 3 9

-, 3 9

Fachkräftemangel

-,14

-, 1 5

-,13

-,13

-,11

-,12

-,11

-,11

Zukunfts orie ntie rung

+,10

Aktivitä t

-,01

+,04 +, 1 8

Unte rne hme ris che Kultur ges a mt

+,10 +,13

19 %

18 %

5 ,2 7

5 ,0 0

Stichprobengröß e N Modellgüte (F -Test)

+,19

+,10

G e me ins cha ftliche Mobilis ie rung Erklärte Varianz (r 2)

Wa chs tums e rfolg 2b 2c 2d

+,10

21 %

20 %

13 %

12 %

6 ,0 1

5 ,4 6

3 ,0 8

2 ,9 0

140

13 %

13 %

3 ,1 3

3 ,1 2

132

Anmerkung: Multilineare Regression mit standardisierten Koeffizienten; signifikante Koeffizienten mit p(t)