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German Pages [230] Year 2017
Alexander Demandt
UNTERGÄNGE DES ABENDLANDES Studien zu Oswald Spengler
Alexander Demandt
UNTERGÄNGE DES ABENDLANDES Studien zu Oswald Spengler
Böhlau Verlag Köln Weimar Wi en | 2017
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Oswald Spengler (Foto: bpk-Bildagentur)
© 2017 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Kornelia Trinkaus, Meerbusch Satz: Michael Rauscher, Wien Einbandgestaltung: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Druck und Bindung : Balto Print, Vilnius Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50831-9
Inhalt
Vorwort.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Spengler noch immer oder immer wieder ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Erste Erfolge 9 | 2. Die Nachkriegszeit 11 | 3. Themen der Spenglerliteratur 13 | 4. Europathologie 15 | 5. Spengler für gestern und heute 17 II. Morphologie der Weltgeschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Lebensalter-Gleichnis 20 | 2. Vorreiter 22 | 3. Spenglers Hochkulturen 26 | 4. Antike und Abendland 29 | 5. Unbegreifliche Kultur seelen 34
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III. Ein Requiem für Europa. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur Vita 37 | 2. Zur Theorie 39 | 3. Spätzeiten 40 | 4. Stilbestimmendes Seelentum 43 | 5. Naturmetaphern 44 | 6. Politische Praxis 45
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IV. Spengler und andere Untergänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Untergang im Altertum 48 | 2. Ein Thema mit Variationen 52 | 3. Grund zum Pessimismus ? 55 | 4. Untergang heißt Übergang 58 | 5. Der zweite Untergang 61
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V. Endzeit-Prophetien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Finalismus 63 | 2. Dein Reich komme 65 | 3. Irdische Zukunfts erwartung 68 | 4. Die jüngsten Visionen 70
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VI. Spengler und die Spätantike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Was leisten Metaphern ? 75 | 2. Zyklustheorien 76 | 3. Das magische Jahrtausend 78 | 4. Problematische Kulturgrenzen 83 | 5. Pseudomorphose ? 85 | 6. Der Geist der Geschichte 87 | 7. Fünf Zukunftsbilder 89 | 8. Drei Großperioden 93
75
VII. Spenglers »ahistorische« Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Spenglers antikes Erbe 96 | 2. Was ist ahistorischer Geist ? 101 | 3. Mythos ist Geschichte 103 | 4. Das Problem der Chronologie 107 | 5. Geschichte als Beispielsammlung 111 | 6. Gezählte Zeit 115
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Inhalt
VIII. Spengler und Groege. Die Zukunft des Russentums . . . . . . . . . . . . . . . 117 1. Groeger und William 118 | 2. Die Bylinen 120 | 3. Dostojewski 121 IX. Eduard Meyer und Oswald Spengler. Läßt sich Geschichte voraussagen ?.. . . . . 123 1. Wozu Wissenschaftsgeschichte ? 123 | 2. Wer war Eduard Meyer ? 125 | 3. Wer war Spengler ? 134 | 4. Spengler oder Meyer ? 138 | 5. Das Problem der Prognose 140 X. Geschichtsbiologismus. Oswald Spengler bei Konrad Lorenz. . . . . . . . . . . . 145 1. Evolution statt Fortschritt 146 | 2. Kulturen sind lebende Systeme 147 | 3. Selbstdomestikation 149 | 4. Von der Dekadenz zum Übermenschen 150 | 5. Zivilisationskritik 152 XI. War Spengler konservativ ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 1. Zweimal Damaskus 155 | 2. Das Debakel 157 | 3. Cäsarismus ! 158 | 4. Der neue Staat 160 | 5. Weltpolitik 162 | 6. Hitler ein Caesar ? 166 | 7. Polare Ordnungsbegriffe 167 | 8. Summa politica 168 XII. Spengler und die Weltgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 1. Vorgeschichte – Geschichte – Nachgeschichte 170 | 2. Doppelsinn der Grundbegriffe 171 | 3. Zivilisation ist Zoologie 172 | 4. Wirtschaft, Technik, Politik 173 | 5. Geld- oder Volksherrschaft ? 174 | 6. Die Großstadt 175 | 7. Cäsarismus 175 | 8. Fellachentum 176 | 9. Weltherrschaft ? 177 | 10. Großdeutschland ! 178 | 11. Die Farbige Welt revolution 179 XIII. Was bleibt von Spengler ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 1. Formen der Rezeption 181 | 2. Was heißt »Untergang« ? 184 | 3. Kultur versus Zivilisation 185 | 4. Die Erfindung der Kulturseele 188 | 5. Moral ist kein Thema 190 | 6. Anregendes und Abstoßendes 190 Anhang. Eduard Meyer über Spenglers Untergang des Abendlandes.. Nachwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Publikationsnachweis der Urfassungen. . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vivat historia et pereat mundus
Vorwort
»Spengler ist kein Klassiker«, schrieb Hermann Lübbe in dem von Peter Christian Ludz und ihm herausgegebenen Sammelband zum hundertsten Geburtstag des Geschichtsphilosophen 1980.1 Den »Begriff des Klassischen« erläuterte Lübbe 1994 durch »rezeptionsgeschichtliche Alterungsresistenz«,2 das heißt durch ein fortdauerndes Interesse der Leserschaft. Daß dies erlösche, begründet der Philosoph mit Spenglers »extrem historischer Fremdheit« gegenüber unserem Wert- und Weltverständnis heute. Fremdheit aber motiviert nicht Desinteresse. Lübbe konstatiert den Untergang des Abendländlers Spengler, der sich freilich ebenso in die Länge zieht wie der Untergang des spenglerschen Abendlandes selbst. Als 1917, also vor hundert Jahren der erste Band abgeschlossen war und 1918 bei Wilhelm Braumüller in Wien erschien – erst 1919 ging Spengler zu C. H. Beck – da erregte er ein beispielloses Aufsehen. Kein deutsches Werk über Geschichte hat ein ähnlich starkes und anhaltendes Echo gefunden. Begeisterte Zustimmung fand es in der historisch interessierten Leserschaft, so von Stefan Zweig und Thomas Mann bis zu Konrad Lorenz und Henry Kissinger, während die Fachwelt distanziert reagierte. Ausnahmen machen der britische Geschichtsphilosoph Arnold Toynbee und Eduard Meyer, der große Berliner Universalhistoriker, die sich mit Spenglers Thesen konstruktiv befaßten. Fortan blieben die Skepsis gegenüber dem Fortschrittsoptimismus und der Gedanke an den Niedergang des Westens als Themen auf dem Tisch. 1919 bis 1933 folgten Spenglers politische Schriften. Sie standen im Dienst einer moralischen Aufrüstung nach dem verlorenen Weltkrieg und wirken auf uns heute abstoßend durch Spenglers Nationalismus und seine überscharfe, ja kommandohafte Diktion. Spengler erklärte die Demokratie zwar für die zeitgemäße Staatsform, »entlarvte« sie jedoch als Geldherrschaft und anfällig für den Cäsarismus, mit dem er in der Form Mussolinis, nicht in der Hitlers, sympathisierte. 1933 prognostizierte Spengler den Zweiten Weltkrieg, der den Sieger zum Herrn der Welt machen werde, bis die »Farbige Revolution«, die Rache der Kolonialvölker, das Ende des Abendlandes besiegeln werde. Hier steht der Gedanke an das Schicksal Roms im Hintergrund. Der »Untergang« findet zweimal statt, einmal als 1 Lübbe in : Ludz 1980, 1. 2 Lübbe in : Demandt/Farrenkopf 1994, 129.
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Vorwort
Hochkultur, der liegt hinter uns, andermal als Zivilisation, das steht uns bevor. Die Kulturkritik der Europathologen zeigt : Es gibt Anlässe, sich an Spenglers Ausführungen zu erinnern. Die hier zusammengefaßten Aufsätze zu Spengler waren zumeist Vorträge, gehalten auch in Italien, Frankreich und Belgien, mehrfach auf Tagungen, deren letzte 2016 stattfand. Es geht um die inhaltliche Auseinandersetzung mit Spenglers Geschichts- und Politikverständnis, seine Vorhersagen und seine Wirkungsgeschichte bis in die jüngste Zeit zu David Engels 2014. Als Papst Hadrian VI. 1522 das Wort fiat iustitia, et pereat mundus prägte, wünschte er Gerechtigkeit, auch wenn die Welt irgendwann gemäß dem Willen Gottes untergeht. Zusätzlich wünschen wir, daß bis dahin auch der Sinn für Geschichte lebendig bleibe und wie den ersten Untergang des Abendlandes so auch den zweiten überdauern möge. Lindheim, Epiphanias 2017
Alexander Demandt
Die einen Denker sehen klar, was andere undeutlich sahen, die anderen sehen undeutlich, was noch niemand sah. Paul Valéry
I. Spengler noch immer oder immer wieder ?
»Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte.« Schillers Wort über Wallenstein gilt ähnlich für Oswald Spengler. Die Urteile über ihn und sein Werk gingen und gehen weit auseinander. Enthusiastische Zustimmung einerseits und eiskalte Ablehnung andererseits polarisierten das Publikum. In beiden Fällen stand eine zeitbedingte Grundstimmung im Hintergrund, die immer für die Einstellung bedeutsam ist und es schwermacht, die dauerhafte intellektuelle Substanz in dem Wust von Wörtern zu erkennen. Das zeigt die wechselhafte Geschichte der Rezeption vom Leben und Denken Spenglers mit ihren Höhen und Tiefen.
1. Erste Erfolge
Hätte je ein Buch mit dem hochgelehrten Titel ›Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte‹ zu einem Publikumserfolg werden können ? Der Untertitel als Haupttitel von Spenglers Werk hätte dies in die Dormitorien der Bibliotheken verbannt. Aber ›Der Untergang des Abendlandes‹ schlug ein. Man fragte bang : Steht er bevor ? Ist er im Gang ? Oder liegt er bereits hinter uns ? Man kaufte. Die Erstauflage bei Braumüller in Wien 1918 war nach Monaten vergriffen. Sechs Verlage, die das Manuskript abgelehnt hatten, mußten das bereuen. 1919 übernahm C. H. Beck das Werk. Der Absatz erzielte Rekordzahlen, übertroffen nur von Walter Flex mit seiner Novelle ›Wanderer zwischen beiden Welten‹, bis 1966 über eine Million verkaufte Exemplare.1 Dort wie hier ging es um die Verarbeitung des Weltkriegserlebnisses. Die weißen Ränder der meisten antiquarisch angebotenen Ausgaben des ›Untergangs‹ zeigen, daß die wenigsten Käufer sich durch den gesamten Text durchgearbeitet haben. Außer kühnen Gedanken und überraschenden Einsichten enthält 1 Rebenich 2013, 273 ; 287 ff. Die wie hier mit Autor und Erscheinungsjahr oder Stichwort abgekürzt zitierten Schriften sowie die Kürzeln für Spenglers Werke finden sich mit vollem Titel im Literaturverzeichnis am Ende dieses Buches. Dort sind auch die mit Großbuchstaben abgekürzten Werke Spenglers aufgeschlüsselt.
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Spengler noch immer oder immer wieder ?
er schwer verständliche Begriffe und Aussagen. Was meint die »Struktur des Wachseins« (UA. I 72), was die »traumsichere Logik allen Daseins (UA. I 152) ? Was heißt das : »Nachbilden läßt sich nur Lebendiges« oder »Das Ich überwältigt das Du« (UA. I 247 ff.) ? Das grenzt an Heideggerei. Trotz der partiellen Rezeption des ›Untergangs‹ waren die Reaktionen heftig, positiv wie negativ. Es kam zum »Streit um Spengler«, den Manfred Schröter 1922 und 1949 dargestellt hat. Es ging um die Frage, ob Spengler »recht hat« und wieweit er »wissenschaftlich« arbeitet. Ersteres setzt er voraus, letzteres lehnt er ab. Die »Perücken der Fachwissenschaft« (B. 517) verachtete er. Über Geschichte könne man überhaupt nur als Dichter oder Seher schreiben. Er wollte beides sein (UA. I 199). Ein neuer Publikumserfolg, wiederum sechsstellig, war Spenglers politisches Manifest ›Jahre der Entscheidung‹ vom August 1933. Darin prophezeite er den Zweiten Weltkrieg, den Kampf um die Weltherrschaft und den Vormarsch der Völker aus der Dritten Welt, die »Farbige Weltrevolution« analog zum Einbruch der Germanen ins Römische Reich (JE. 147 ff.). Politisch heißt es : »Die Nationalsozialisten glauben, ohne und gegen die Welt fertig zu werden und ihre Luftschlösser bauen zu können« (JE. 3). Goebbels aber schätzte Spengler. Dieser hatte 1919 ›Preußentum und Sozialismus‹ zu verbinden gesucht ; Goebbels verquickte »Preußentum und Nationalsozialismus« am »Tag von Potsdam« zu Frühlingsanfang 1933. Er bemühte sich für die Rundfunkrede zum Tage um Spengler, doch der winkte ab.2 Spengler liebäugelte mit Mussolini, aber verachtete Hitler. Der seinerseits konnte – kunst- und kulturbewußt – einen Propheten des Kulturverfalls nicht brauchen. Da Spengler neben Hitlers Pseudo-Cäsarismus auch die medial manipulierte Massendemokratie als verkappte Geldherrschaft abwertete (UA. II 566 ff), war er 1945 wiederum verpönt. Der Beck-Verlag mußte den Verkauf seiner Bücher einstellen, da sich die amerikanische Zensurbehörde als »rigoros« erwies.3 Spengler galt und gilt als »Wegbereiter des Nationalsozialismus«, als Hauptvertreter der 1949 von Armin Mohler – nach Hugo von Hofmannsthal – kreierten »konservativen Revolution«. Als Gegner des Kapitalismus im Westen, als Ideologe des »Abendlandes« im Osten gebrandmarkt, war der »konservative« Spengler beiderseits des Eisernen Vorhangs tabu. »Abendland« war drüben ein Reizwort, in der Sowjetunion stand Spengler auf dem Index. Er paßte politisch in kein System und wurde nach seinen Sympathisanten klassifiziert.4 Indes : Unsere Gegner können wir uns aussuchen, unsere Bewunderer müssen wir hinnehmen. 2 Lantink 1995, 324 ff.; 346 ff. 3 Rebenich 2013, 306. 4 Zu Spengler nach 1945 : Lantink 1995, 17 ff.
Die Nachkriegszeit
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Nach 1945 geriet Spengler in den Schatten der Theologia Historici von Arnold Joseph Toynbee (1949, 259), der auf Spengler fußend5 eine eigene Zyklentheorie von – zuletzt – 21 Kulturen entwickelt hatte. Sein ›Study of History‹ erschien in zwölf Bänden von 1934 bis 1961. Die Folge der Kulturen deutet Toynbee als religiösen Fortschritt zu einem künftigen Kingdom of God weltweiter Brüderlichkeit auf Erden unter dem »Helm des Papsttums«.6 An die Stelle von Spenglers eigengesetzlicher Kulturentwicklung tritt die Verantwortlichkeit der Handelnden, die nach dem Muster challenge and response so oder anders reagieren können und damit am Kulturverfall seit Salamis moralisch schuldig sind. Toynbee ersetzt den stoischen Schicksalsgedanken Spenglers durch den Glauben an den göttlichen Heilsplan und das Wirken des Heiligen Geistes. Als Professor für Byzantinistik in London galt Toynbee im Unterschied zu dem freischaffenden Philosophen Spengler als seriöser Wissenschaftler. Für die Verbreitung seiner faktenreichen, aber gedankenarmen Lehre sorgte die einbändige Kurzfassung von D. C. Somervell aus dem Jahre 1946, gefolgt von dem zweibändigen deutschen Kompendium Jürgen von Kempskis 1950 und 1958. Breitenwirkung erzielten die preiswerten Darstellungen von Otmar Anderle 1955 und Joseph Vogt 1961.
2. Die Nachkriegszeit
Trotz der Verfemung als Mann der Rechten machte sich das Interesse an Spengler auch in der zweiten Nachkriegszeit bald wieder geltend. Während Toynbee den Leser im akademischen Sinne belehrt und ermüdet, bildet Spengler eine fortwährende und fortwirkende Provokation. Das reizt. Er wird studiert, kommentiert, kritisiert. Das deutschsprachige Publikum bedienen acht Neuauflagen des ›Untergangs‹ bei Beck 1950 bis 1998 und zwei gekürzte Ausgaben 1959 und 1965, weiterhin fünf Lizenzausgaben 1978 bis 2011, sowie Taschenbucheditionen 1972 bis 2006 in 16. Auflage. Im Ausland erschienen nach 1945 mehrere Übersetzungen : zweimal, 1957 und 1991 ins Italienische, 1962 ins Amerikanische, Dänische und Finnische, 1964 ins brasilianische Portugiesisch, 1990 ins Kroatische, 1993 ins Russische, 1994 ins Ungarische, 2002 ins Spanische, 2004 ins Griechische, 2010 ins Tschechische und ins Serbische, 2012 ins Estnische und 2013 ins Schwedische. Orientalische Sprachen fehlen verständlicherweise. Es geht nicht um das Morgenland. In der Auseinandersetzung mit Spengler prallen die Positionen nicht mehr so hart aufeinander wie beim »Streit um Spengler« in den zwanziger Jahren, doch la5 Toynbee 1948/49. 6 Demandt 2011, 287 f.
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Spengler noch immer oder immer wieder ?
gen und liegen die Stellungnahmen noch weit auseinander. Tiefgründige, meist politisch motivierte Ablehnung (nicht nur von Marxisten7) und bisweilen bekenntnishafte Zustimmung (also von Spenglerianern8) stehen einander gegenüber, und auch die abwägenden Urteile zeigen in der Regel eine Schlagseite. Das Interesse ist beträchtlich. Die Zahl der Publikationen über Spengler seit 1945 liegt weit über 300. Sie reichen von der kurzen, aber prägnanten Äußerung Golo Manns von 1955 bis zum zweibändigen Werk von Gilbert Merlio 1982. Prominente Autoren aus vielen Professionen haben sich über Spengler geäußert : der Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker 1946, der Kunsthistoriker Hans Sedlmayr und der Philosoph Karl Löwith 1949, weiterhin der Politiker Henry Kissinger, der Soziologe Theodor W. Adorno und der Staatsrechtler Carl Schmitt, alle 1950, danach der Pädagoge Eduard Spranger 1953, 1954, 1960, die Philosophen Georg Lukács 1954, Arnold Gehlen 1957, Raymond Aron 1961 und Ernst Bloch 1962, sowie der Verleger Wolf Jobst Siedler 1965, der Biologe Konrad Lorenz 1973, der Philosoph Hermann Lübbe 1980, der Politologe Hennig Ottmann 2010 und immerhin zwei Historiker : Ernst Nolte 1991 und Bedrich Loewenstein 2009. Man sieht : Die Zunft ziert sich. Außer den Stimmen aus Deutschland gibt es solche aus Österreich, der Schweiz, Holland, Belgien, Frankreich, Dänemark, Rußland, sowie zahlreich aus Italien und dem englischsprachigen Raum. Wesentlich für das Verständnis von Mann und Werk sind die neuen Quellen editionen : die 1963 von dem Rumänen Anton Mirka Koktanek herausgegebenen Briefe von und an Spengler, eine Auswahl auf 776 Seiten, ergänzt durch den Briefwechsel mit Groeger, ediert von Xenia Werner 1987 ; sodann Fragmente aus dem Nachlaß, seine markigen, oft sibyllinischen Antworten auf ›Urfragen‹ 1965 und seine Bemerkungen zur ›Frühzeit der Weltgeschichte‹ 1966, in denen Spengler das »Erwachen der Seele« und ihre »Entfaltung« in vier Stufen skizziert, dabei gegen die Fachwelt der Prähistorie opponiert und seine Begriffe von Kultur und Geschichte revidiert.9 Beide Sammlungen verdanken wir ebenfalls Koktanek, der 1968 auch die ausführlichste Biographie vorgelegt hat. Die frühen Tagebücher von 1913 bis 1919 wurden von Spengler nach den ›Selbstbetrachtungen‹ Marc Aurels ›Eis Heauton‹ betitelt, »An sich selbst«, obschon als Formulierung des Verfassers es eigentlich ›Eis Meauton‹ heißen müßte, »An mich selbst«. Sie erschienen zuerst – beschämend – in italienischer Übersetzung 1993 von Giovanni Gurisatti in Mailand – dort in der Bahnhofsbuchhandlung von mir erworben. War und ist doch die Zuwendung zu Spengler in Italien deut7 Thirring 1947, Lukács 1954, Bloch 1962, Kon 1964, Ruch 1972, Buchholz 1984. 8 Baltzer, Thöndl, Farrenkopf, Engels. 9 Ferrari Zumbini 1975.
Themen der Spenglerliteratur
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lich unbefangener als in Deutschland. Seine Tagebücher gab es hier erst 2007 auf Deutsch im Lilienfeld-Verlag, ohne den fälligen Hinweis auf Gurisatti. Die Lektüre tut weh. Sie zeigt ein völlig zerrüttetes, zerrissenes Psychogramm, im schärfsten Gegensatz zu dem jupiterhaften Charakterbild, das die Publikationen von Spengler erwecken. Die weiteren noch unpublizierten Nachlaßmaterialien, 1989 vom C. H. Beck-Verlag an die Bayerische Staatsbibliothek in München abgegeben, harren der Bearbeitung, die unter dem Titel ›Politica‹ erscheinen und Ausfälle gegen den Nationalsozialismus enthalten sollen. Kostproben liefert die große, deutsch geschriebene Spengler-Arbeit des Niederländers Francis Lantink von 1995. Biographien in deutscher Sprache bieten nach Koktanek kritisch Detlef Felken 1988 und wohlwollend Frank Lisson 2005. Umfassende Darstellungen von Werk und Vita stammen aus Frankreich (Merlio), den USA (Farrenkopf ), den Niederlanden (Botermann) und Italien (Conte). Povera Germania !
3. Themen der Spenglerliteratur
Die Themen der spezielleren Spengler-Literatur lassen Schwerpunkte erkennen – und vermissen. Kommentare und Kritik zu Spenglers philosophischer Konzeption treten deutlich zurück. Sein Grundkonzept : Zyklusstruktur der Entwicklung, Stileinheit der Kulturbereiche, kulturspezifische Zeit- und Raumbegriffe, Relativität mathematischer Evidenz, Abgrenzung und Vergleichbarkeit der Hochkulturen,10 Geschichte davor und danach ?, organologisch-biologische Letztinstanz,11 Dekadenzmerkmale der »Spätzeiten«12 – all das kommt vor, aber bleibt eher am Rande des Interesses ebenso wie Spenglers erklärungsbedürftigen oder kritikwürdigen Schlüsselbegriffe Kulturseele und Weltgefühl, physiognomischer, kosmischer oder metaphysischer Takt, wie Homologie und Analogie,13 wie Morphologie und Pseudomorphose14, die ja aus der Naturwissenschaft stammen. Die meistbehandelte Frage ist Spenglers politische Haltung und Bedeutung im Hinblick auf seine unterschiedlich eingeschätzte Nähe zum allbeherrschenden Fokus Hitler(ismus).15 Wie braun war er wirklich ? Daneben geht es um seine Kultur- und Zivilisationskritik ( ?), seinen Pessimismus ( ?), aber auch um seine »Modernität« ( !).16 10 Rüsen 2002, 240 ff. 11 Dray 1980. 12 Paulus 1951 ; Hermann 1997 ; Engels 2013. 13 Hans Meyer 1976. 14 Demandt bei Ludz 1980. 15 Koktanek 1966 ; Thöndl 1993 ; Vollnhals bei Demandt/Farrenkopf 1994 ; Henkel 2007. 16 Herf 1984 ; Merlio bei Demandt/Farrenkopf 1994, 115 ff.
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Spengler noch immer oder immer wieder ?
Noch immer stehen Spenglers Geistesverwandten, seine Vorläufer und Vorbilder auf dem Programm. Obligat sind seine beiden Inspiratoren Goethe und Nietzsche,17 aber auch Ibn Khaldun († 1406),18 Vico († 1744),19 Herder,20 Kant,21 Ernst von Lasaulx,22 Nikolaj Danilewski,23 Wilhelm Worringer und Alois Riegl,24 Kurt Breysig und Walther Rathenau,25 Max Weber,26 Eduard Meyer27 und Karl Lamprecht.28 Vielfach ist unklar, wen von seinen Vordenkern Spengler tatsächlich rezipiert hat. Die Arbeiten seines Nächstverwandten, des Marburger Staatsrechtlers Karl Friedrich Vollgraff († 1863), scheint Spengler nicht gekannt zu haben.29 Was er der Antike verdankt, resümiert Anderle 1969. Umgekehrt behandelt die Sekundärliteratur ebenso die Rezeption Spenglers durch Spätere. Wo er selbst nicht mehr fasziniert, da fasziniert noch die Faszination, die er ausgeübt hat. Wir finden ihn bei Arnold J. Toynbee,30 Eduard Spranger,31 Ezra Pound,32 Thomas Mann,33 Ludwig Wittgenstein,34 Ernst Jünger,35 Walter Benjamin36 und Samuel Huntington.37 Die Behandlung Spenglers in Frankreich zeigt Merlio (1982), die in den USA Trigg (1968) und Farrenkopf (2001), die in Italien Thöndl (1993, 2010) und Azzaro (2003, 2005). In Italien wurde Spengler stärker als in irgendeinem anderen Land aufgenommen. Das war nach dem Verriß des ›Untergangs‹ 1920 durch Benedetto Croce, den Nestor der italienischen Philosophen, nicht zu erwarten. Er sprach von dem »berüchtigten Wälzer«, 17 Grützmacher 1950 ; Kornhardt 1949/50 ; Baeumler bei Koktanek, Spengler-Studien 1965 ; Ferrari Zumbini 1976 und 1999 ; Janensch 2006. 18 Fisch 1985. 19 Rauhut 1955. 20 Paulus 1951. 21 Kissinger 1950. 22 Schoeps 1953. 23 Sorokin 1953 ; MacMaster 1954 ; Afanassiev 2006. 24 Bienefeld 1996 ; Ferrari Zumbini 1999. 25 Azzaro 2005. 26 Farrenkopf 1992. 27 Demandt 1987. 28 Bruch bei Demandt/Farrenkopf 1994, 1 ff. 29 Schoeps 1953. 30 Rothacker 1950 ; Werner 1955. 31 Englert bei Koktanek 1965. 32 Bush 1976. 33 Koopmann 1980 ; Ottmann bei Demandt/Farrenkopf 1994, Beßlich 2002. 34 Haller 1982. 35 Lübbe bei Demandt/Farrenkopf 1994. 36 Ophälders 2012. 37 Thöndl 1997.
Europathologie
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von der »spenglerischen Pastete«, den »schwülstigen Extravaganzen« des »Halb philosophen«.38 In ihm selbst und dem Erfolg des Buches sah Croce den lebenden Beweis für dessen These vom geistigen Niedergang des Westens. In seinen späteren Jahren ist Croce dann doch auf die Linie der Leser Spenglers eingeschwenkt, freilich ohne ihn zu nennen. Er spricht von der Pathologie des Geistes, von moralischem Siechtum und Dekadenz, er blickt in eine düstere Zukunft und beklagt den Niedergang der Zivilisation, forciert und kaschiert durch die Technik. Gemäß dem »notwendigen Rhythmus der Geschichte«, dem Wechsel von Vitalität und Erschlaffung, droht uns das Schicksal einer »dritten Barbarei«, das ein »deutscher Autor« vorhergesagt habe – so Croce 1944. Er attackiert die totalitären Mächte sowie Militarismus, Nationalismus und Kapitalismus. 1946 schrieb er ›La fine della società‹, 1949 und 1950 fürchtete er etwas »unglaublich viel Größeres und Tieferes als den Niedergang der griechisch-römischen Kultur« durch die »Rebellion aller schwarzen und gelben Rassen und überhaupt aller Völker von außereuropäischem Blut und Geist«. Das ist Spenglers »Farbige Weltrevolution«.39 Anders als Spengler bekennt sich Croce zum Kulturpessimismus, aber sieht einen Hoffnungsschimmer, falls die Europäer sich zu einer »neuen Religion«, der christlichen Ethik bekehren.
4. Europathologie
Croces Krisenstimmung rückt ihn durchaus in die Nähe Spenglers. Ein größerer Teil der Nachkriegsliteratur gilt der Kulturkritik, die man aus ihm herauslas, und dem Pessimismus, den man ihn hineinlegte. Sein Protest dagegen 1921 (RA. 63 ff.) kam nicht an. 1919, im Jahr der Erstpublikation Spenglers bei C. H. Beck, hatte der Verlag das Buch von Theodor Lessing ›Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen‹ publiziert, ein Werk, das jeder Form von Historie den Boden entzieht und damit frontal gegen Spenglers Geschichtsvision gerichtet war. Als aber Lessing 1921 ebenfalls bei Beck sein Pamphlet ›Die verfluchte Kultur‹ herausbrachte, traf sich dies nicht nur mit der Zivilisationskritik seines Freundes Ludwig Klages,40 sondern mit dem ganzen Antimodernismus, dem man auch Spengler zurechnet. Dabei übersah man, daß Spengler durchaus Elemente der Modernität bietet.41 Dazu 38 B. Croce, Theorie und Geschichte der Historiographie, 1930, 286 ; Azzaro 2005, 601 ff.; Conte 2007, 195. 39 JE. 147 ff.; Conte 2007, 164 ff.; 256 ff. 40 Er kehrte Lessing als Juden später den Rücken, Th. Lessing, Einmal und nie wieder, 1932/35/71, 373 ff. 41 Dazu die Arbeiten von Herf und Merlio.
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Spengler noch immer oder immer wieder ?
zählen seine Kritik am linearen Fortschritt, sein Denken in grenzübergreifenden Einheiten, seine Synthese der verschiedensten Lebensbereiche und sein Verzicht auf Eurozentrismus, wenn auch eher im Ansatz als in der Ausführung, da ihm begreiflicherweise die Kenntnis der außereuropäischen Geschichte nicht in gleichem Maße zur Verfügung stand. Seine Einsicht in die Standortgebundenheit des Historikers, sein Bekenntnis zur Relativität des Geschichtsbildes wurde von Stefan Zweig am 17. Februar 1920 mit Einsteins Relativitätstheorie in Verbindung gebracht, der Vergleich wurde mehrfach gezogen.42 Spenglers Kraftwort »Es gibt keine ewigen Wahrheiten« (UA. I 55) unterstellt freilich, daß eben dies eine »ewige Wahrheit« sei und enthält somit einen Selbstwiderspruch. Wenn alles relativ ist, dann ist auch dies relativ und nicht allgemeingültig. Spengler spricht hier wie der Kreter Epimenides, der sagte, alle Kreter seien Lügner (Tarski). Spengler vertritt Modernität in manchen Thesen seiner Geschichtstheorie, aber kritisiert Modernität in bestimmten Aspekten der Lebenspraxis, so die Kommerziali sierung der Kunst, die Manipulierbarkeit der öffentlichen Meinung, die Konsum haltung des Publikums, die Ambivalenz der Technisierung und die Allgewalt der Finanzen. Seine in diesem Sinne pessimistischen Ausführungen wurden auch nach 1945 mehrfach behandelt.43 Es ist nicht zu bestreiten, daß Spenglers Herz für die »untergegangene« Kultur schlug, da er die zivilisatorische Spätzeit in die Nähe des »Fellachentums«, ja der »Zoologie« rückte. Die Metaphern von Aufstieg und Niedergang, von Jugend und Alter, von Blühen, Reifen und Welken setzen unbestreitbare Wertakzente. »Untergang« kann man nicht schönreden, die Gleichsetzung mit »Vollendung« ist nicht glaubwürdig. Spengler war klug, als er sein Werk nicht »die Vollendung des Abendlandes« nannte, was er bereits im zweiten Satz auf der ersten Seite seines Werkes als gleichbedeutend mit »Untergang« bezeichnet und 1921 nochmals hervorhebt (RA. 63). Er fühlt sich als »Pessimist« mißverstanden, doch ist zu fragen : Wenn ein Autor sich mißverstanden glaubt – sind daran immer die Leser schuld ? Wer Spengler den zahlreichen Kulturkritikern des 20. Jahrhunderts zuzählt, sollte aber nicht übersehen, daß Spengler nirgendwo ein »Zurück zur Kultur« empfiehlt, keine Therapie für die »Zeitkrankheit« vorschlägt, gegen die der Dadaist Hugo Ball, der Byzantinist Arnold Toynbee, der Theologe Romano Guardini und der radikalste aller Kulturkritiker, der Pneumopathologe Eric Voegelin,44 den Katholizismus beleben wollten. Als konsequenter Fatalist findet sich Spengler mit den Lebensbedingungen der Spätzeit ab und verzichtet auf die Klage über den kulturellen Niveauverlust zugunsten eines gestelzten Stolzes auf den technischen 42 Karl Heim bei Wolf Goetze in Reusch 1938, 50. 43 Stern 1963 ; Trigg 1969 ; Eckermann 1980 ; Möller bei Ludz 1980 ; Popov 1982 ; Bollenbeck 2007. 44 Voegelin 2008 ; Demandt 2014.
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Fortschritt (UA. I 58) und der Forderung, das einzig Mögliche, das »Notwendige« sei zu tun oder nichts.45 Er warnt vor der Gefährdung der abendländischen Zivilisation durch die Dritte Welt (JE. 147 ff.). Anders als die Hochkultur, deren Lebenszeit auf ungefähr tausend Jahre beschränkt sei, gibt es für die bei ihm anschließende Zivilisationsphase kein natürliches Ende, sondern nur noch wechselnde Machtverhältnisse, die nach dem Erlöschen der schöpferische Lebenskraft einer Kultur politisch-militärisch bestimmt werden und zufällig sind. Spengler verdeutlicht das an dem »verwitterten Baumriesen«, der nach seinem Absterben »noch Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch die morschen Äste emporstrecken« kann, bis ein Windstoß ihn umwirft (UA. I 143). Mit den toten Bäumen meint er die Völker, die ihre Kulturzeit hinter sich haben, aber noch existieren. Es sind ja nicht wenige.
5. Spengler für gestern und heute
Oswald ist der Name eines in Süddeutschland volkstümlichen Heiligen, der zu den »Wetterherren« zählt. Sie haben die Herrschaft über Wetter und Unwetter, Oswald zumal über Hagel und Sturm. In diesem Sinne war Spengler für das geistige Klima seiner Zeit signifikant, gerade für deren rauhe Atmosphäre. Indem er auf den Punkt brachte, was viele empfanden, ist er sowohl passiver Ausdruck der Stimmung im Lande als auch aktiver Faktor in ihr und für sie. In dieser doppelten Rolle bleibt er ein Indikator, ein Forschungsgegenstand. So wie er selbst historische Personen und Ereignisse als Symbole kultureller Situationen interpretiert, so dient er wiederum seinerseits uns als Indiz für sein halbes Jahrhundert. Es fehlt indessen nicht an Autoren, die Spengler nicht nur als Zeugen seiner Zeit, sondern auch als Deuter ihrer eigenen, unserer Zeit betrachten, die ihn nicht nur als Kritiker unter Kritikern behandeln, sondern selbst zu diesen gehören und bei Spengler Verständnishilfe für die Probleme der Gegenwart finden. Der gefühlvolle Begriff »Abendland« wird dabei zumeist vermieden. So schrieb Max Horkheimer von der »Schwäche der zivilisierten Völker«, von den »Zeichen des Zerfalls der westlichen Zivilisation«. Er erkennt sie in der schwachbrüstigen »Bereitschaft, mit den Barbaren zu verhandeln«, womit er die Sowjets meinte.46 Symptome des Kulturverfalls im Sinne Spenglers notieren und monieren Borkenau (1955), Baltzer (1956, 1959, 1962), Lorenz (1974, 1983) Farrenkopf (1989, 1991, 1994), Bouveresse (1996), Krebs (2008), Rohbeck (2013) und Engels (2013). 45 Engels 2008. 46 Horkheimer 1974, 104.
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Spengler hatte das Ende der antiken Kultur gleichgesetzt mit der Schlacht bei Actium 31 v. Chr., dem Sieg von Augustus über Marc Anton und Kleopatra und dem Beginn der Kaiserherrschaft. Dem folgt Engels und zieht den Vergleich zur gegenwärtigen »Krise« der Europäischen Union. Zu den Parallelen zwischen dem spätrepublikanischen Rom und unserer Gesellschaft zählt der Brüsseler Althistoriker : Kinderlosigkeit und Familienzerfall, Individualismus und Materialismus, Kosmopolitismus und Kulturmischmasch, Politikverdrossenheit und Entmündigung durch eine bürokratische Zentralgewalt, religiöse Indifferenz gegenüber dem Glauben unserer Väter bei Zunahme fremder Kulte, ein undurchschaubares Rechtswesen und ein Großstadtpublikum, das – nach Juvenal X 81 – für panem et circenses lebt. So sah das auch Spengler (RA. 136). Gewiß sind diese Sachverhalte nachweisbar. Doch der damit eingeleitete Untergang Roms ist mit Spenglers »negerhaften Kämpfen« um die Kaisermacht etwas einseitig gekennzeichnet. Folgte nicht mit der Pax Romana jene Zeit, die Edward Gibbon 1776 die »glücklichste und ersprießlichste Periode der Menschheit« nannte, the most happy and properous period of the human race ?47 Nicht das Ende der antiken Kultur, sondern das der postkulturellen Zivilisation in der und durch die Völkerwanderung brachte den »Untergang«. Die Aktualisierung Spenglers mittels des Krisenbegriffs verschiebt die Parallelität der Kulturentwicklung. Denn Spengler verstand im ›Untergang‹ die Gegenwart nicht als Krise, der Begriff taucht im Sachregister nicht auf. »Krise« bezeichnet eine Entscheidungssituation, die für uns heute bereits vorüber ist ; der Übergang des Abendlandes von der Kultur in das »Fellachentum« der Zivilisation (UA. II 22 ff.) hat bereits stattgefunden. In der herrschenden Zivilisationsphase entscheidet sich nichts mehr, was kulturphilosophisch irgend von Belang wäre. Es gibt nach dem Ende der Kulturzeit wie vor ihrem Beginn nur noch Machtkämpfe zuvor zwischen »Ameisenvölkern« (UA. II 57 f.), hernach zwischen »Negerstämmen« (UA. II 62). Der Krisenbegriff hat sich gewandelt. Griechisch krisis bezeichnet ein punktuelles Ereignis. Im Johannes-Evangelium (12,31) ist es das bevorstehende Weltgericht, in der medizinische Sprache Galens meint es den Moment, in dem sich entscheidet, ob eine Krankheit zur Genesung oder zum Tode führt.48 Bei den Historikern wurde der Begriff zeitlich gestreckt. Für Jacob Burckhardt (WB. 159 ff.) ist Krise die »beschleunigte Bewegung«. Der »Weltprozeß gerät plötzlich in furchtbare Schnelligkeit«. Die Krise Roms kam in der Völkerwanderung. Das erhöhte Tempo der Veränderung in den Lebensumständen brachte den Begriff der Krise in Konjunktur. Die heute – nicht nur von David Engels – diagnostizierte »Krise« steht in der Kette der seit Napoleon sich nahtlos ablösenden 47 E. Gibbon, The History of the Decline and Fall of the Roman Empire, 1776 ff., Kap. 3. 48 Walter 2014.
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und unentwegt beklagten Kontinentalkrisen Europas. Das Lamento hält an. Krisen, Kriege, Katastrophen ! Die jüngste, gewiß nicht die letzte, ist die Flüchtlingskrise. Ist das nicht nun doch eine Variante der von Spengler 1933 (JE. 147) und nochmals 1936 (RA. 339 f.) vorausgesagten »Farbigen Weltrevolution« ? Spengler fürchtete die altersschwache Kriegsmüdigkeit Europas, die erloschene Abwehrkraft gegenüber den gewaltbereiten Völkern, doch benötigen diese, wie sich zeigt, gegenüber Europa gar keine Waffen. Wenn Spenglers Hinweis auf die Parallele zur Völkerwanderung taugt, zieht sich das noch über Jahrhunderte hin, jedenfalls solange das Wohlstandsgefälle fortbesteht. Noch wächst es. In dieser Krisenpermanenz bietet der Rückgriff auf Spengler den Autoren wie dem Publikum eine historische Bestätigung. Wieder zitiert man das Wort Adornos von 1950 (1955, 52) : »Der vergessene Spengler rächt sich, indem er droht, recht zu behalten.« Die im Sinne Lübbes bisher »alterungsresistente« communis opinio einer Dauerkrise macht aus einem »Spengler noch immer« einen »Spengler immer wieder«.
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Wir leben im Zeitalter der Geschichtsmorphologie. Benn 1934
II. Morphologie der Weltgeschichte
Am 25. November 1796 erscheint in Goethes Tagebuch das zuvor unbekannte Wort »Morphologie«.1 Der von ihm damals angekündigte Aufsatz ›Morphologie als Wissenschaft‹ wurde zwar nie geschrieben, doch ist klar, was er damit meint. Morphologie ist Gestaltlehre, der Versuch, Phänomene von ähnlichem Bauplan nach Typen zu ordnen und als Metamorphosen des Urphänomens zu verstehen, das dem jeweiligen Typus zugrundeliegt. Goethe spricht von einer »Hilfswissenschaft der Physiologie« und wendet sie zunächst auf die Botanik, sodann auf die Biologie insgesamt an. Alles Organische sei mit der vergleichenden Methode nach dem Muster von idealer Urform und realer Umbildung zu erfassen. In seinem Brief an Schiller vom 12. November 1796 wendet er die »berühmte Morphologie« auch auf die Mineralogie an ; der Nutzen dieser Betrachtung reicht ihm »bis zur geistigen Äußerung des Menschen« und wird damit zu einer Universalwissenschaft. Goethes morphologischer Denkansatz begegnet uns bei Literatur- und Kunstwissenschaftlern, Biologen und Medizinern, bei Geographen und Linguisten, Psychologen und Philosophen, indem jeweils das Organisationsprinzip eines Forschungsbereichs verwendet wird, um Erscheinungen zu gliedern. Mit dem Untertitel ›Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte‹ zu Spenglers ›Untergang des Abendlandes‹ fand der Begriff Eingang in die Geschichtsphilosophie. Spenglers morphologische Geschichtsbetrachtung kennt, anders als Kant und Hegel, keinen einheitlichen, in Europa zentrierten fortschrittlichen Gesamtprozeß, keine Entwicklung der Menschheit auf ein Ziel hin, sondern sieht in der Weltgeschichte mehrere wesentlich selbständige Kulturen, die nach einem gleichsam organischen Gesetz aufkeimen, ihre Individualität entfalten und dann wieder abblühen. Die Suggestion eines organologischen Strukturmodells hat eine lange Vorgeschichte.
1. Das Lebensalter-Gleichnis
Zu allen Zeiten sind Geschichtsmodelle von Metaphern inspiriert worden. Um die unüberschaubare Masse historischer Fakten zu gliedern, bediente man sich der 1 Kuhn 1988, 188 ff.
Das Lebensalter-Gleichnis
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Analogie und der Allegorie, indem man Erfahrungen aus dem Alltag auf die Geschichte übertrug. Bildliche Wendungen wie »die Quelle unseres Wissens« oder »das Netz von Ursachen« oder »die Kette von Ereignissen« bringen Anschaulichkeit in unsere Vorstellungen. Von besonderer Wichtigkeit sind Geschichtsmetaphern aus der belebten Natur. Ihre Verwendung liegt nahe, denn auch der Mensch ist ein organisches Wesen. So hat man früh die biologischen Gesetze, namentlich das funktionale Gefüge und die individuelle Entwicklung, von der Natur auf die Kultur übertragen. Das zeigt der Vergleich zwischen der Generationenfolge und den Blättern der Bäume, die im Frühjahr hervortreiben und im Herbst wieder abfallen, in der Ilias, ebenso in der Fabel des Menenius Agrippa von Magen und den Gliedern bei Livius : Um die aus Protest gegen den Senat ausgewanderte plebs Romana zurückzuholen, verglich der Redner die Funktion des Volkes mit den arbeitenden Gliedmaßen, die Tätigkeit des leitenden Senats mit der Aufgabe des Magens. Nur im Zusammenwirken gedeihe das Ganze.2 Die einflußreichste Naturmetapher für das Geschichtsdenken ist der Vergleich der Völker, Staaten und Kulturen mit den Lebensaltern eines Organismus. So wie jedes Lebewesen wächst, blüht und vergeht, schrieb Platon, so geschieht es auch mit dem Menschen und mit seinen Werken. Dieselbe Ansicht von der naturgemäßen Entwicklung und Vergänglichkeit haben Polybios und Sallust ausgesprochen : omnia orta occidunt et aucta senescunt.3 Durchgeführt wurde die Parallele zwischen dem Leben eines einzelnen Menschen und der Geschichte eines Volkes zuerst von Seneca für den populus Romanus. Seneca formulierte den Lebensrhythmus als allgemeines Weltgesetz : »Alles hat seine Zeit, es muß geboren werden, wachsen und erlöschen.« Das spielte er an Rom durch.4 Roms Säuglingsalter (infantia – die Zeit vor der Sprache) setzte er in die Zeit des Königs Romulus, der Rom gleichsam gezeugt und erzogen habe. Das Knabenalter (pueritia) entspreche der folgenden Königszeit, in der die Stadt gewachsen sei. Unter dem letzten König Tarquinius Superbus sei Rom mündig geworden (adulta), habe die Herrschaft abgeschüttelt und sich Gesetze gegeben. Erwachsen geworden (iuvenescere), habe Roma alle Länder und Meere unterworfen, bis es keinen äußeren Gegner mehr gab und sich die Kräfte gegen die eigenen Eingeweide kehrten. Das ist die Zeit der Bürgerkriege in der späten Republik. Roms Greisenalter begann für Seneca, als Rom unter die Herrschaft eines Einzelnen, eines Kaisers, zurückkehrte. Das schien ihm eine zweite Unmündigkeit (infantia). Der demnach 2 Ilias VI 145 ff.; Livius II 32,9-12. 3 Platon, Staat 546 A ; Polybios VI 51,4 ; Sallust, Jugurtha II 3. 4 Seneca, epistula 71,12 ff.; Lactanz, Institutiones VII 15, 14 ff.
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nahe Tod Roms wird nicht ausgesprochen, ergibt sich aber aus der Logik des Bildes und aus dem Glauben des Philosophen an den Weltuntergang.5 Das Bild von Kindheit, Erwachsenwerden und Greisentum eines Volkes kannte ebenso die jüdisch-christliche Literatur,6 es wurde aufgegriffen in der Aufklärung. In der Bibel war es die paidagogia theou, die Erziehung des auserwählten Volkes zur ewigen Herrlichkeit Gottes ; bei den Aufklärern war es die Entwicklung der Menschheit zur Vernunft nach dem Gesetz des Fortschritts. Namentlich Herder, Hegel und Saint-Simon haben von dieser Parallele Gebrauch gemacht.7 Mit dem historischen Idealismus und der deutschen Romantik wurde das LebensalterGleichnis in seiner römischen Form erneuert. Als Vergleichsgegenstand wählte man wieder Einzelvölker, entsprechend der Vorstellung von der Individualität der Volksgeister. Hatte das 18. Jahrhundert durch Bilder aus der Mechanik den Glauben an die Machbarkeit der Geschichte ausgesprochen, so bevorzugte die Romantik im 19. Jahrhundert Metaphern aus der Natur, um die Unverfügbarkeit des Staats- und Kulturlebens auszudrücken. Der Staat erscheint in diesem Sinne bei Ranke als »lebendiges Prinzip«, das seiner eigenen »Regel des Werdens« gehorche und nicht durch abstrakte Reformideen französischer oder englischer Herkunft »umgemodelt« werden könne. Die organische Staatsmetaphorik ist demgemäß konservativ, am deutlichsten vielleicht bei dem Staatsrechtler Heinrich Leo, einem der letzten Fürsprecher der amerikanischen Negersklaverei : »Die Natur eines Staates hat ebenso bestimmt und gleichmäßig ihren Organismus und ihren organischen Entwicklungsgang wie die Natur irgendeines Gewächses.«8
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Der Kreislauf des Lebens bietet die Anschauungsform für zyklische Geschichtsprozesse, wie sie seit Vico bei neuzeitlichen Denkern mehrfach vorkommen.9 In seltener Vollständigkeit wurde das Modell ausgestaltet durch den Marburger Staatswissenschaftler Karl Vollgraff. Er erhob in seinem Werk ›Die Systeme der praktischen Politik im Abendlande‹ feierlich Protest gegen die Aufklärung.10 Vollgraff entwickelte eine Kulturanthropologie, die sich gegen die Vorstellung einer ganzheitlichen 5 Seneca, Naturales Quaestiones II 30,5. 6 Demandt 1978, 40 ff. 7 Th. Ramm (Hg.), Der Frühsozialismus. Ausgewählte Quellentexte, 1956, 69. 8 Leo, Naturlehre 121 ff.; 166. 9 Demandt 1978, 252 ff. 10 Schoeps 1953.
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Weltgeschichte wandte. Vollgraff glaubte, jedes Volk entfalte seinen individuellen Charakter in drei Stadien nach dem Muster des organischen Lebens. Auf Entwicklung, Blüte und Ableben folge die Fäulnis (Zersetzung) oder die Mumifizierung (Erstarrung), die historisch gleichgültig sei. Jeder Untergang ist mithin notwendig und innenbedingt.11 Vico und Vollgraff scheinen Spengler unbekannt geblieben zu sein. Dagegen schätzte er den Frankfurter Völkerkundler Leo Frobenius und den Berliner Althistoriker Eduard Meyer. Frobenius (1873 bis 1938) hat seine räumlich gedachte ›Kulturkreislehre‹ seit 1896 entwickelt, ihre Grundzüge bietet er 1921 in seiner kleinen Schrift ›Paideuma, Umrisse einer Kultur- und Seelenlehre‹, neu erschienen 1953. Sein Material waren im wesentlichen die Kulturen Zentralafrikas, das er zwölfmal bereist hat. Gefördert wurde er insbesondere durch Kaiser Wilhelm II., dem er auch nach der Abdankung im Doorner Arbeitskreis verbunden blieb. Frobenius gliederte die empirische Welt in drei übereinanderliegende Sphären : die anorganische Natur, die organische Natur und die menschliche Kultur. Letztere umfaßte bei ihm ausdrücklich die prähistorischen und ethnologischen Völker. Die Kulturen sind für Frobenius »selbständige organische Wesen«, die als überpersön liche Subjekte dem Menschen als Objekt gegenübertreten. »Nicht der Wille des Menschen bringt die Kulturen hervor, sondern die Kultur lebt auf den Menschen … durchlebt den Menschen.« Jede Kultur verwirklicht nach Frobenius etwas »Seelenhaftes«, und diese Kulturseele nennt er »Paideuma«. Dieser griechische Ausdruck bezeichnet ursprünglich den Stoff des Unterrichts, der Bildung (paideusis).12 Kulturen entfalten sich in den Schritten der Lebensalter. Frobenius meint, daß jede Kultur »eine Geburt, ein Kindes-, ein Mannes- und ein Greisenalter« erlebte. Die Kulturformen sind eigenen Wachstumsprozessen unterworfen, die dem natürlichen Entwicklungsgang des menschlichen Individuums entsprechen. »Plump und unbeholfen gebärden sie sich in ihrer Jugend, energisch und zielbewußt im Mannesalter, kindisch sind die Greisenkulturen.« Mit diesen Analogien will Frobenius keine Tatsachen behaupten, sondern bloß Verständnishilfen für Tatsachen anbieten. Als Methode des Verstehens von Kulturen sei die rationale Analyse ungeeignet, dazu bedürfe es nicht der Zerlegung in die Bestandteile, sondern – echt goetheanisch – der Anschauung des Ganzen durch »lebendige Intuition.«13 Spengler zitiert Frobenius mehrfach, und noch häufiger beruft er sich auf den universalhistorisch arbeitenden Eduard Meyer (1855 bis 1930), mit dem er be11 Vollgraff I–IV 1828/29. 12 Platon, Gesetze 747 c. 13 Frobenius, Paideuma, 1921/1953, 9 ; 12.
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freundet war.14 Meyer benutzte die griechisch-römische Antike als zyklische Einheit, die von einer primitiven Frühzeit über eine fortschreitende Modernisierung zu einer dekadenten Spätphase führte und abermals in der Primitivität endete. Als Leitfaden wählte Meyer die Wirtschaft. Den Grund für diese Wahl bot die damals verbreitete These von Karl Bücher, der die Wirtschaftsgeschichte nach dem hegelianischen Fortschrittsprinzip in drei Stufen von der Haus- zur Volks- und Weltwirtschaft dargestellt hatte.15 Weil dabei aber der »unermeßliche Rückschritt, der in der Zeit von Hadrian bis auf Karl den Großen sich vollzogen hat«,16 nicht in Erscheinung trat, übertrug Meyer den Dreischritt von der Menschheit allein auf die Antike. Die Zeit von Homer und Hesiod sah er geprägt einerseits durch einen ritterlichen Adel, der mit seinem höfischen Leben und den epischen Sängern, mit seinem Gefolgschaftswesen und seinen Fehden so sehr an das europäische »Mittelalter« erinnert, daß Meyer diesen Begriff auf die frühgriechische Zeit übertrug. Durch aufkommendes Städtewesen, durch fortschreitende Arbeitsteilung und vor allem durch die beginnende Geldwirtschaft gewannen Handwerk und Handel an Bedeutung. Ohne Export und Import konnten die Städte gar nicht mehr leben. Das 7. und 6. Jahrhundert v. Chr. in Griechenland entsprächen dem 14. und 15. Jahrhundert, das 5. dem 16. und die Folgezeit dem Hellenismus. Den Höhepunkt der antiken Kultur erblickte Meyer im klassischen Athen, namentlich in der Person des Sokrates.17 Gegenüber der Aufgabe einer nationalen Einigung hätten die Griechen allerdings versagt. Die letzte Chance verspielten die Tyrannen von Syrakus, so daß die Randmacht im Norden Makedonien die Führung übernahm und die Polisautonomie beendete. In den Großreichen des Hellenismus mit seiner Weltkultur erreichte die griechische Geschichte ihren Abschluß. Schon Droysen hatte den Hellenismus als die »moderne Zeit des Altertums« bezeichnet, und dem folgte nach Ranke und Marx auch Meyer.18 Als dauernde Errungenschaft des freien Griechentums betrachtete Meyer die Entwicklung des Individualismus. Sie war für ihn schon in den autobiographischen Äußerungen Hesiods zu greifen und führte über Sokrates zum Gottkönigtum Alexanders, der wiederum die griechische »Vollfreiheit« beendete. So erscheint der Weg von Askra über Athen nach Alexandria als Modernisierungs- und Erschöpfungsprozeß. Die Kultur wurde breiter, flacher, anfälliger. Der als Heilmittel
14 Christ 1972, 286 ff.; Calder/Demandt 1990. 15 H. Schneider, Die Bücher-Meyer-Kontroverse, in : Calder/Demandt 1990, 417 ff. 16 Ed. Meyer, Kleine Schriften I 157. 17 Ed. Meyer, GdA. IV 2, 150 ff. 18 A. Demandt, Hellenismus – die moderne Zeit des Altertums ? In : B. Funck (Hg.), Hellenismus, 1996, 17 ff.
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gegen den Bürgerzwist gedachte Absolutismus erwies sich als Gift.19 Die Kriege zwischen den hellenistischen Mächten ermöglichten es der Randmacht im Westen Rom, erst ihre Vorherrschaft, dann ihr Universalreich aufzurichten. Das antike Rom hat laut Meyer, wenn auch verspätet, eine ganz ähnliche Entwicklung wie Griechenland durchgemacht : von einer bäuerlichen, kleinräumigen Gesellschaft zum kapitalistischen Universalsystem. Den mit dem Abzug des Pyrrhos 275 v. Chr. erreichten Idealzustand eines geeinten Italiens habe man leichtfertig zugunsten immer weiterer Expansion geopfert. Das Imperium Romanum der Kaiserzeit habe Frieden und Wohlstand gebracht, wie es das nie zuvor, nie hernach gegeben habe. Dennoch war das eine »Friedhofsruhe«. Mit dem Verlust der politischen Selbständigkeit hätten die Völker ihre Schaffenskraft, ihren Patriotismus und ihre kulturellen Eigenarten eingebüßt. Hier spricht Meyer als Nationalist. Seit Augustus herrschten Standesdünkel und Lebensgenuß bei den Oberschichten, bestimmten Vergnügungssucht und Erlösungsbedürfnis das Leben der Unterschichten. Es ist für uns heute schwer begreiflich, aber die Idee des Friedens, zumal die Pax Romana, ist durch namhafte Autoren entschieden abgelehnt worden. Schon Heraklit tadelte Homer für den Vers : »Möchte der Streit doch aus Himmel und Erde verschwinden !« weil ohne Gegensatz kein Leben, keine Harmonie möglich sei.20 Scipio Nasica wandte sich gegen die Zerstörung Karthagos, weil der äußere Feind die innere Erschlaffung verhindere.21 Horaz prägte für das Weltgeschehen die Formel rerum concordia discors, die Manilius umkehrte in discordia concors – zerstrittene Eintracht oder einträchtiger Streit.22 In diesem Sinne betrachteten Darwin und die Darwinisten den Kampf als Normalität und Movens des Fortschritts, und sinngleich verkündete Mommsen am 24. Februar 1881 : »Der ewige Friede ist unter allen Umständen nicht bloß ein Traum, den heute auch Kant nicht träumen würde, sondern nicht einmal zu wünschen.«23 Am 11. Oktober 1916 kritisierte Eduard Schwartz den »entnationalisierten Schematismus« und den »rein animalischen Lebensgenuß« im Weltreich des Augustus : »So etwa sah der einzige Weltfrieden aus, der einmal Wirklichkeit geworden ist, die Pazifisten haben schwerlich Ursache, mit diesem Paradigma besonders zufrieden zu sein.«24 Mit Augustus begann für Mommsen der Abend, für Schwartz der Herbst, für Meyer das Greisenalter Roms.25 Endlich sei das Imperium aufgrund innerer Fäul19 Ed. Meyer, Hellenismus 60. 20 Heraklit VS. 22 A 22 ; Ilias XVIII 107. 21 Orosius IV 23,10. 22 Horaz, Briefe I 12,19 ; Manilius I 142. 23 Mommsen RA. 106 ; 142 ; anders 322. 24 Ed. Schwartz, Gesammelte Schriften I 1938/63, 173 ff. 25 Ed. Meyer, Staat 97.
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nis unter dem Ansturm der Germanen auseinandergebrochen. Die Kultur sank zurück in die Barbarei. Die Hauptschuld maß Meyer, ganz wie Mommsen, politisch dem Imperialismus, ökonomisch dem Kapitalismus, sozial dem Großstadtleben zu. Letztlich scheiterte die antike Kultur an moralischem Versagen. Man widerstand den Verlockungen der Macht und des Wohlstandes nicht. Den gemäß dem klassischen Dekadenzmodell verlaufenden Zyklus26 – die Figur übernahm Max Weber 189627 – erachtete Meyer als ein allgemeines Muster der Kulturentwicklung, das schon der arabische Historiker Ibn Khaldun erkannt habe.28 Meyer gewann die Überzeugung, daß die von Hegel und den Hegelianern vertretene Annahme eines steten Fortschreitens der menschlichen Kultur »ein Postulat des Gemütslebens, nicht eine Lehre der Geschichte« sei.29 Wie schon Gibbon und Mommsen betonte Meyer, »daß die Geschichtsbetrachtung immer von der Gegenwart ausgeht.« Geschichte und Gegenwart stehen durch Kausalität und Analogie in Verbindung.30 So wird erst in wechselseitiger Beleuchtung die Geschichte für die Gegenwart bedeutsam und die Gegenwart durch die Geschichte verständlich. Dieser Zusammenhang wurde blitzartig klar mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Er bedeutete für die Geschichtsphilosophie eine Kehre. Zahlreiche, nicht nur deutsche Denker gewannen jetzt die Überzeugung, daß der Niedergang der antiken Kulturen sich an uns wiederhole. Zu diesen Autoren gehörte Spengler.
3. Spenglers Hochkulturen
Wie die meisten Geschichtsphilosophen war Oswald Spengler (1880 bis 1936) kein Berufshistoriker. Er wurde 1904 mit einer Arbeit über Heraklit rite promoviert, war dann Oberlehrer für Mathematik und Physik und lebte nach dem Ersten Weltkrieg von Erbschaften und Honoraren als Privatier in München. Lehrstuhlangebote lehnte er ebenso ab wie die Übernahme des Kulturhistorischen Instituts, das Karl Lamprecht (1856 bis 1915) in Leipzig begründet hatte. Lamprecht vertrat eine Kulturphilosophie, die biologischen Denkmustern verpflichtet war und nach dem »biogenetischen Prinzip« und dem »Gesetz der psychischen Relationen« den »Gesamtverlauf des geschichtlichen Lebens« erkennen wollte.31 26 A. Demandt, Geschichte als Argument, 1972, 18 ff. 27 Max Weber, Soziologie, Weltgeschichtliche Analysen, Politik, 2006, 99 ff. 28 Ed. Meyer, GdA. I 1, 83. 29 Ed. Meyer, GdA. I 1, 182 f. 30 E. Gibbon, Memoirs of My Life 1796/1966, 6 ; 136. 31 Lamprecht, Einführung in das historische Denken, 1912.
Spenglers Hochkulturen
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Spenglers Interesse für Geschichte und Geographie hat sich früh in phantastischen Konstruktionen geäußert. Vierzehnjährig entwarf er das Projekt »Afrikasien« – eine Zukunftsvision.32 Ein neuer Napoleon erobert West-Afrika und gründet eine Stadt mit Namen »Berlin«. Gestützt auf europäische Söldner baut er in Afrika und Asien ein gigantisches Imperium auf, das nach strengster Staatsraison regiert wird und nun die alten Kolonialmächte vernichtet. England, Frankreich und vor allem Rußland werden in ihre ethnischen Bestandteile aufgelöst : Moskau, Weißrußland und die Ukraine werden selbständig, Sibirien gehört sowieso zu Afrikasien. Auch die Vereinigten Staaten von Amerika zerfallen. In Afrikasien wird ein staatlicher Frondienst, eine künstliche Staatssprache und eine Staatsreligion – der afrikanische Sonnenkult für Ornu – eingeführt. Genaue Buchführung erlaubt die Kontrolle aller Bürger. Spengler konzipiert eine Verfassung, einen kompletten Staatsschematismus sowie ein Gesetzbuch. Durch die Schwächung seiner Nachbarn, die Klientelstaaten von Afrikasien geworden sind, kann sich Deutschland halten, ja zu Großdeutschland erweitern – freilich im Bunde mit Afrikasien. Abgesehen von diesem Trost entspricht Spenglers Konzept von 1894 einer damals verbreiteten Furcht vor einem Weltkrieg zwischen den europäischen Mächten, während dessen die Kolonialvölker sich erheben und eine Hegemonie der Dritten Welt begründen könnten – so Seestern alias Ferdinand Grauthoff ›1906‹. Spenglers Ruhm gründet sich auf seinen zweibändigen ›Untergang des Abendlandes‹. Das Werk, ausgelöst durch die Marokko-Krise 1911 und 1917 abgeschlossen, erschienen 1918, traf die Nachkriegsstimmung in Deutschland auf den Nerv. Am 5. November 1919 nannte Stefan Zweig in einem Brief an Romain Rolland das Werk Spenglers »ein erstaunliches Buch, das überleben wird«. Und am 14. Januar 1920 heißt es : Es sei »ein Epilog auf das tausendjährige Geschlecht der Europäer«, die »größte historische Vision seit Hegel.« Spenglers ›Untergang‹ erlebte in zwanzig Jahren 75 Auflagen und bestimmte das Geschichtsbild einer Generation. Spengler gehört mit Gottfried Benn, Carl Schmitt und Ernst Jünger zu den Rechtsintellektuellen, die sprachlich glänzend, aber inhaltlich düster sind. Als seine Lehrer bezeichnete Spengler erstens Goethe, von dem er den »Gedanken der selbständigen, pflanzenhaften Kulturindividuen« und die Methode der »exakten sinnlichen Phantasie« übernommen habe, und zweitens Nietzsche, mit dem er die Vorliebe fürs Heroische und den Stilbegriff teilt.33 Spengler beginnt : »In diesem Buch wird zum ersten Mal der Versuch gewagt, Geschichte vorauszubestimmen. Es handelt sich darum, das Schicksal einer Kultur, und zwar der einzigen, die heute auf diesem Planeten in Vollendung begriffen ist, der westeuropäisch-amerikanischen, in den noch nicht abgelaufenen Stadien zu verfolgen.« 32 Koktanek, 1968, 29 ff. 33 Spengler an Misch 5. Januar 1919 (B. 116 ff.) ; Janensch 2006.
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Die Möglichkeit hierzu wird von Spengler selbst historisch, wenn man so will, aus seiner eigenen Theorie begründet. Er bescheinigt der nordeuropäischen Kultur ein besseres Geschichts- und Zeitbewußtsein, als frühere Kulturen es besaßen. Das 20. Jahrhundert erhob Spengler zum Zeitalter der Psychologie im Sinne Nietzsches. Insofern glaubt Spengler, in diesem historischen Bewußtsein einen Punkt zu besitzen, der es gestatte, auch die eigene Kultur aus derselben inneren Distanz zu betrachten wie die vergangenen. Gegenstand von Spenglers Geschichtsmorphologie sind die von und seit ihm so genannten »Hochkulturen«. Die prähistorische und ethnologische »Vorkultur« schloß er aus seiner Betrachtung aus, insofern bleibt sein Bild, wie Frobenius bemerkte, ein Torso.34 Spengler übergeht ebenso die Bauern-, Arbeiter- und Volkskulturen innerhalb einer Hochkultur, die sich seiner Meinung nach in den Städten abspielt, vielleicht noch in Klöstern und auf den Landsitzen des Adels. Ausdrucksformen der Hochkulturen sind die künstlerischen und wissenschaftlichen Leistungen, die politischen, ökonomischen und religiösen Systeme. In erklärtem Gegensatz zu Eduard Meyer und den zeitgenössischen Geschichtsschreibern betrachtet Spengler nicht die Geschichte von Staaten oder Völkern, nicht die von Einzelnen oder Klassen, sondern die Geschichte von Kulturen, die als übergreifende Einheiten aufgefaßt werden. Die Hochkulturen füllen die Zeit der »Hochgeschichte«, der die Vorgeschichte vorausgeht, die Nachgeschichte folgt (FW. X). Der Vorgeschichte widmete sich Spengler seit 1924 und unterschied eine a-, b- und c-Kultur, drei Stufen der Ablö sung des Menschen von der Natur, der dieser nur insofern verbunden blieb, als er ein »erfinderisches Raubtier« ist (MT. 14 ff.; 26). Die Hochkultur ist nun die d-Stufe. Die Nachgeschichte beginnt mit dem Übergang von der Kultur zur Zivi lisation. Die im Deutschen seit Kant 178435 übliche Unterscheidung zwischen Kultur im Sinne von höherem Geistesleben, und Zivilisation, bezogen auf Umgangsformen und Lebensbedarf,36 wird von Spengler temporal verwendet, indem »Kultur« die Zeit schöpferischer Geisteswerke meint, »Zivilisation« hingegen für die Zeit danach verwendet wird. »Kultur« ist wie bei Nietzsche ästhetisch gefaßt.37 Dieser bezeichnete damit die stilistische Einheit aller Lebensäußerungen. Während Hegel mit dem Blick von oben, fixiert auf die Politik, die wirtschaftliche Basis nicht erreichte, Marx mit der Sicht von unten, fixiert auf die Sozialökonomie, die Kunst nicht erfaßte, umgreift Spenglers Stilästhetik in der Kulturphase die Basis wie den Überbau, auch die Finanzen und die Musik. 34 Frobenius, Paideuma 15. 35 Kant I 234. 36 Demandt, Nationalkultur und Universalzivilisation. In : Ders., 2005, 209 ff. 37 Nietzsche I 233.
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4. Antike und Abendland
Spengler entsagt dem üblichen Eurozentrismus, verwirft die Idee einer linearen Entwicklung und rechnet mit einer Mehrzahl von Hochkulturen, die teils nacheinander, teils gleichzeitig und immer wesenhaft unabhängig voneinander wachsen, blühen und vergehen, aber insgesamt keine kohärente Folge, »keine organische Einheit« bilden.38 Das Schema Antike – Mittelalter – Neuzeit verwirft er (UA. I 20 ff.). Seine Methode ist die Parallelisierung entsprechender Entwicklungsstufen in verschiedenen Kulturen und der Nachweis der Formverwandtschaft aller Erscheinungen derselben Kultur. Die Analogie zwischen Alexander und Napoleon, zwischen England und Karthago, zwischen Florenz und Athen habe man längst erkannt, bloß noch nicht theoretisch begründet. Diese, wie er meint, aus einem richtigen Instinkt, aber ohne ausreichende Methode gezogenen Parallelen will er durch eine Technik des Vergleichs auf eine gesicherte Grundlage stellen, die der Strenge des Mathematikers nichts nachgeben soll (UA. I 5). Dem dienten Analogien zwischen der antiken und der westeuropäischen Kultur ; jene große Parallele, die auch Vico und Droysen, Karl Marx und Eduard Meyer schon gesehen hatten, und die tatsächlich zur Annahme eines normalen Kulturverlaufs einladen. In beiden Kulturen finden wir am Anfang einen ritterlich-feudalen Lebensstil. Die Welt Homers und die des Nibelungenliedes sind ähnlich : Eine mythische Heldenzeit wird in epischer Form gestaltet und als Lebensideal einer ritterlichen Welt empfunden. Der Kampf und die Jagd sind die Beschäftigungen einer adligen Schicht, die von ihren arbeitenden Hintersassen ernährt und von Sängern unterhalten wird. Die Grundeinheit der Gesellschaft ist eine patriarchalische familia unter Einschluß des Gesindes. Spengler verweist sodann auf dieselben Auflösungserscheinungen der patriarchalisch-ritterlichen Frühzeit. In Griechenland nach 800 v. Chr., in Europa nach 1200 n. Chr. zerfallen die locker gefügten, durch Stämme getragenen Gebiete in kleinere, aber intensiv strukturierte Einheiten. In Griechenland sind das die Poleis ; in Europa, namentlich in Deutschland, die Territorien. Die Staatlichkeit entwickelt sich im räumlich engeren Rahmen durch Geldwirtschaft, Gesetzgebung und Bürokratie. Der Staat konzentriert immer mehr Rechte auf sich : so die Gerichtshoheit, die Finanzhoheit und die Wehrhoheit. Am Ende steht jeweils der voll entwickelte Staat : Der Polis eines Perikles stellt Spengler den Absolutismus von Ludwig XIV. und Friedrich dem Großen zur Seite. Eine Parallelität zeigt auch die soziale Entwicklung. Wie der frühgriechische, so hat auch der europäische Adel seine Vorrechte allmählich eingebüßt zugunsten 38 Spengler 5. Januar 1919 an Misch (B. 116 ff.) ; ders., UA. I 143 ; II 43.
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eines Bürgertums, das in Griechenland wie in Europa in den Städten heranwuchs und dem Landbesitz des Adels den Geldbesitz von Handel und Gewerbe entgegenstellen konnte. Beide Male geht der Prozeß vom Gefolgschaftsverband zum Ständestaat, von monarchischer zu demokratischer Verfassung, von traditioneller zu institutioneller Regelung des gemeinsamen Lebens. Innerhalb der Kunst dominieren anfangs sakrale Zwecke. Der ideelle Mittelpunkt der griechischen Polis ist der Tempel der Stadtgottheit, das Herz der mittelalterlichen Stadt ist die Kathedrale des Schutzheiligen. Der griechische Künstler stellt die allseits bekannten Mythen, der europäische die biblische Geschichte oder Heiligenlegenden dar. Beide Male verläuft die Kunstentwicklung von strengeren zu gelösteren Formen : in Griechenland von der dorischen zur korinthischen Ordnung, von archaischer Statik zu hellenistischem Pathos, in Europa von der formstrengen Romanik zum prunkvollen Barock. Pathetische und verspielte Formen finden wir beiderseits am Ende. Der Begriff Barock wurde von Heinrich Wölfflin ja auf den Pergamon-Stil übertragen. Inhaltlich zeigt die antike Kunst eine Erweiterung der Themen : neben die mythologischen Stoffe treten später profane und historische, ähnlich wie das in der europäischen Malerei zu sehen ist. Die Darstellung der nackten Frau ist in der archaischen Zeit verpönt und wird danach dort wie hier statthaft. In der Literatur kommt es wie bei den Griechen so bei den europäischen Völkern nach den Epen der Frühzeit zu einer Klassik. In Athen ist sie stärker gebündelt zwischen Aischylos und Aristophanes, in Europa verteilt sie sich auf einen größeren Zeitraum zwischen Shakespeare und Goethe. Die Lektüre der städtischen Spätzeit ist jeweils der Roman, dort Petron, hier Cervantes. Das Geistesleben ist bei Griechen wie Europäern zunächst ganz von der Religion geprägt : Im Verlaufe der Zeit kommt es jedoch zu volkstümlichen Protestbewegungen, die auf eine stärker persönliche, emotionale Bindung abzielen und sich gegen die Formalisierung wenden. Spengler parallelisiert das Verhältnis zwischen der olympisch-apollinischen Religion und den orphisch-dionysischen Mysterienkulten mit dem Verhältnis zwischen katholischer Anstaltskirche und den religiösen Neuerungsbewegungen der Reformation. Daneben hebt Spengler die Analogie in der philosophischen Aufklärung heraus. Bei den Griechen wird sie getragen von den Vorsokratikern und den Sophisten, in Europa von den Philosophen und Naturforschern der Zeit zwischen Kepler und Kant. Beide Male findet Spengler am Ende die großen abschließenden Systeme : Platon und Aristoteles auf der einen ; Goethe, Kant und Hegel auf der anderen Seite. Er hätte auch Marx nennen können. Die zentrale Phase wird in Griechenland um die Mitte des 4. Jahrhunderts, in Europa um 1800 abgeschlossen. Die Denksysteme vollenden sich gleichzeitig mit dem Staatswesen.
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Die nun folgende Abwärtsentwicklung der Spätzeit beider Kulturen wird eingeleitet durch Erschütterungen : in Griechenland durch soziale Unruhen, die zweite Tyrannis und Alexander, in Europa durch die Französische Revolution und Napoleon. Es kommen die starken Männer als Anführer der Massen, die radikalen Volksführer, die ein unzufriedenes, verführbares Großstadtpublikum vorfinden. Die intensive Phase wird durch eine extensive abgelöst. Eine kosmopolitische Weltstadt-Zivilisation entsteht auf der Basis von Geldwirtschaft, Fernhandel und Technik. Archimedes und Euklid dort, Kepler und Newton hier rücken die mathematisch-naturwissenschaftlichen Studien in den Vordergrund. Der Weg vom Nürnberg der Meistersinger nach New York und Moskau ähnelt dem vom Athen des Sokrates nach Alexandria und Rom. In der modernen Weltstadt herrscht das Geld, und es macht für Spengler keinen grundsätzlichen Unterschied, ob die Form dieser Herrschaft ein ptolemäischer Staatssozialismus, eine spätrepublikanische Plutokratie oder aber eine kapitalistische Massendemokratie ist. Die bloße Existenz der voll entwickelten Geldwirtschaft wirft dem, der das Geld verwaltet, auch die Macht in den Schoß.39 Die neuen, nachfolgenden Machtgebilde entstehen am Rande des kulturellen Mutterlandes. Randmächte der Spätzeit sind Makedonien, die hellenistischen Großreiche und das Imperium Romanum in der Antike ; englisches Commonwealth, russisches Reich und Nordamerika in der Moderne. Großraumbildungen werden auch im Zentralraum versucht, scheitern aber zunächst : Napoleon schafft es ebensowenig wie Pyrrhus. Die alte Welt exportiert ihre Kultur : Im Hellenismus lösen sich griechische Denk- und Lebensformen von ihren Trägern und werden zwischen Indus und Atlantik dominant, und dementsprechend wird seit 1800 die europäische Lebensweise international. Politisch wird die alte Welt jedoch abhängig. So wie Griechenland von den hellenistischen Mächten umworben und schließlich von Rom unterworfen wurde, so interessieren sich Amerika und Rußland für Europa und suchen, es von sich abhängig zu machen. Die Kunst der Spätzeit ist gekennzeichnet durch einen »Historismus« : So wie seit der hellenistischen Zeit die ältere Kunst als Musterbuch einer Kulturindustrie fungierte, was unsere Archäologen vor Datierungsprobleme stellt, so beginnt mit dem 19. Jahrhundert das umfängliche Kopieren der älteren Stile im Klassizismus, in der Neugotik, dem Neobarock usw. Es kommt wenig an neuen Ideen, aber viel technische Perfektion hinzu. Daneben zeigt sich ein Zug ins Kolossale und Bizarre. Im Hellenismus haben Künstler das Scheußliche, das Ekelerregende dargestellt, sowohl die Maler40 als auch die Bildhauer – denken wir an die Krüppel im 39 Spengler UA. II 583 ff. ›Das Geld‹. 40 Plinius Naturalis Historia XXXV 115.
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Pergamonmuseum. Man brauchte stärkere Reizmittel. Der Römer Cestius baute sein monumentales Grabmal in Form einer Pyramide, sein Landsmann Eurysaces in Form eines Backofens. Entweder wird geistlos kopiert, oder man ist krampfhaft originell – jedenfalls hat man keinen Stil, der Ausdruck eines Gruppenbewußtseins wäre. Das Geistesleben der Spätzeit wird von Spengler durch die Verschulung charakterisiert. Die vorsokratischen Philosophen waren Individuen, später ist man Platoniker, Aristoteliker, Epikureer oder Stoiker, so wie man seit dem 19. Jahrhundert Kantianer, Hegelianer, Marxist oder eben Spenglerianer ist. Inhaltlich stimmen die späten Lehren durch ihre Betonung der Ethik überein, wie immer die aussehen mag. Jedenfalls haben die überlieferten Verhaltensnormen ihre Selbstverständlichkeit verloren und weichen diversen Doktrinen. Diese können stärker auf den Dienst an der Gemeinschaft abgestellt sein, wie im Altertum bei Zeno und Marc Aurel, in der Neuzeit Kant und Marx, oder stärker das private Seelenheil im Auge haben, wie bei den Griechen Epikur, in der Neuzeit Schopenhauer. Als herrschende Ansicht der Spätzeit nennt Spengler den Fatalismus und die Wohlstands-Ideologie. Ersterer zeigt sich in der Antike im Schicksalsglauben der Stoa, in der Neuzeit im Fortschrittsglauben von Kant und Marx. Die Zeugnisse für den Wohlstandsgedanken im späten Altertum liefern die verfeinerte Wohnkultur, Straßenbauten, Wasserleitungen, panem et circenses.41 Dem Zirkus- und Bäderwesen in Rom entsprechen Kino und Fußball heute. Die Religion der Spätzeit wirkt nicht mehr politisch einheitstiftend wie zuvor. Ein Pluralismus entsteht ; exotische und esoterische Kulte werden schick, die Anhänger in jeder Weltstadt haben. Ursprung ist der Orient. Das Festwesen wird säkularisiert, Sport- und Kulturveranstaltungen lösen sich aus ihren alten sakralen Bindungen. Auch in spätgriechischer Zeit wurden noch Tempel gebaut, so wie heute noch Kirchen entstehen, aber der Anteil der Kultbauten am gesamten Bauvolumen sinkt dort wie hier. Erst ganz zum Schluß kommt es zu einer neuen religiösen Inbrunst, einer »Zweiten Religiosität«, einem Fundamentalismus. Spengler glaubte, daß die Herrschaft des Geldes dem Cäsarismus unterliegen werde, dem straff organisierten Militarismus der starken Männer. Was diese von der alten Kultur übrigließen, hinge von Zufällen ab. Jedenfalls sei die Kultur kein echtes Anliegen mehr, sondern bloß noch Freizeitprogramm. Mit der Römerzeit, genau : seit dem Sieg des Augustus bei Actium 31 v. Chr., sei die antike Kulturentwicklung abgeschlossen. Was dann komme, seien bloß noch »negerhafte« Machtkämpfe zwischen einzelnen Caesaren, bei denen es völlig belanglos sei, wer gewinne (UA. II 61). Für die Gegenwart gelte Entsprechendes : die Welt sei zur 41 Juvenal X 81.
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Beute geworden. Die Mischung von Zivilisation und Barbarei könne so oder anders dosiert sein, eine kulturelle Weiterentwicklung sei ebensowenig möglich wie in der römischen Kaiserzeit. 1921 beendete Spengler seinen Aufsatz ›Pessimismus ?‹ mit dem Satz : »Zu einem Goethe werden wir Deutschen es nicht wieder bringen, aber zu einem Cäsar«. Und 1933 beschloß er seine ›Jahre der Entscheidung‹ mit der Aufforderung, die Würfel des großen Spiels zu ergreifen. Der Zweite Weltkrieg stehe bevor (JE. XI). Am Untergang des Abendlandes ändert das nichts mehr, er bestand im Übergang von der Kultur zur Zivilisation. Das Ende hat daher eigentlich schon unter Napoleon stattgefunden. Es war bloß ein scholastischer Untergang, doch könnte dem noch ein politischer folgen. Spengler erwartete die »farbige Weltrevolution«, eine »Revolution von außen«, den Einbruch der Dritten Welt aufgrund des Bevölkerungsdrucks (JE. 147 ff.; RA. 292 f.). Sowohl das späte Griechentum als auch das späte Rom litten an Nachwuchsmangel. Es gab immer weniger Kinder. Das Familienförderungsprogramm der Kaiser von Augustus bis Marc Aurel scheiterte. Dagegen vermehrten sich die Barbaren, insbesondere die Germanen, die zunehmend ins Reich eindrangen und Funktionen übernahmen, die sie unentbehrlich machten. Gleichzeitig begünstigte die Frauenemanzipation die Kinderlosigkeit (RA. 158 f.). 1927 schrieb der selbst ehe- und kinderlose Spengler das Vorwort zu einem Aufsatz des Statistikers Richard Korherr zu dem bedrohlichen Geburtenrückgang in Deutschland (RA. 135 ff.). Eine mögliche nacheuropäische Hochkultur erwartete Spengler zeitweise – ähnlich wie vor ihm Hegel, Lasaulx und Tocqueville – in Rußland. »Das Russentum ist das Versprechen einer kommenden Kultur, während die Abendschatten über dem Westen länger und länger werden« (PS. 98). Den Marxismus hielt Spengler für eine europäische Überfremdung Rußlands, einen vorübergehenden Irrtum. Jeder Sozialismus ersticke an der Bürokratie. Rußland werde zum Privateigentum zurückkehren (JE. 153). Die strukturelle Parallelität zwischen der antiken und der abendländischen Kultur motiviert Spenglers Prognose : »Das Römertum … wird uns immer den Schlüssel zum Verständnis der eigenen Zukunft bieten« (UA. I 53). Die Entwicklung der Antike erhebt Spengler zum Interpretationsmuster auch für die anderen Hochkulturen (UA. I 142). Er unterscheidet insgesamt deren acht : die babylonische, ägyptische, chinesische, indische, antike, arabische, mexikanische und die abendländische Kultur. Jede, die nicht wie die mexikanische »geköpft« werde (UA. II 51), durchlaufe einen Lebenszyklus von ungefähr tausend Jahren. In dieser Zeit entfalte sie ihr immanentes Prinzip (UA. I 147). Die Magie des Dezimalsystems mit seinen durch Nullen ausgezeichneten »runden« Jahreszahlen zeigt zwar keinerlei Entsprechung zum Geschichtsablauf, wird aber ihm aufgenötigt wie das Gradnetz dem
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Wasserplaneten Erde. Spengler denkt matheschematisch in Jahrtausenden, beginnend mit der im 6. Jahrhundert festgeschriebenen Geburt Christi.
5. Unbegreifliche Kulturseelen
Spengler sah die einzelnen Kulturen nicht nur in ihrer formalen Analogie, sondern verstand sie zugleich als Individualitäten. Er spricht von »Kulturseelen«. Sie entstehen zufällig im »zwecklosen Spiel der lebendigen Natur«42 und sind geprägt durch die jeweilige Landschaft, ähnlich der Kulturkreislehre von Frobenius. So gibt es bei Spengler die apollinische Seele der antiken Kultur, die magische der arabischen, die faustische der abendländischen Kultur. Als Seele bezeichnete er das »innere Wesen des lebendigen Seins, etwas, das dem Denken und Forschen unzugänglich bleibt« und nur erschaut werden kann. »Seele« ist ihm ein »Wort für Unbegreifliches« (UF. 31 ; 34)«. Jede einzelne kulturelle Erscheinung erklärt Spengler einerseits aus dem Entwicklungsstadium der betroffenen Kultur, andererseits aus ihrem besonderen seelischen Prinzip. Eine Kausalität zwischen den einzelnen Phänomenen bestreitet er, alle sind gleichsam verschiedene Blätter, Blüten und Früchte auf demselben Baum. Spengler deutet alle kulturellen Phänomene als ästhetische Symbole, als Ausdrucksformen der jeweiligen Kulturseele gemäß ihrer momentanen Altersstufe. Er vergleicht die Geschichte mit dem Text einer bisher unverständlichen Sprache, für die seine Theorie die Deutung liefern soll (UA. I 9). Seine Idee der Kulturseele veranschaulicht Spengler wiederum durch eine Gegenüberstellung von antikem und abendländischem Denken. Im Altertum findet er eine körperhaft-statische, im Abendland eine raumhaft-dynamische Idee hinter den verschiedenen Erscheinungen. Er stellt der griechischen Statue das gotische Tafelbild gegenüber, dem Tempel als Baukörper die Kirche als umbauten Raum. In der Wirtschaft vergleicht er die antike Münze als Wertobjekt mit dem modernen Wechsel als abstraktem Guthaben, in der Mathematik die anschauliche Geometrie Euklids mit der neuzeitlichen Integral- und Differentialrechnung. Jede Kultur habe ihre eigene Mathematik, das jeweils gepflegte Zahlenspiel entspreche dem kultureigenen Formideal (UA. I 78 ff.). Aus dieser »Physiognomik« ergibt sich die These von der inneren Einheit aller Kulturerzeugnisse einer Zeit und eines Raumes. Die Idee einer allumfassenden Stileinheit, einer Formenverwandtschaft, war in Anlehnung an Nietzsche43 für die materielle Kultur von den Kunsthistorikern der Wiener Schule von Wickhoff, Riegl und Dvorak entwickelt worden und wurde 42 Spengler 5. Januar 1919 an Misch (B. 116 ff.). 43 Nietzsche I 140.
Unbegreifliche Kulturseelen
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von Spengler auf alle Kulturprodukte ausgeweitet.44 Spengler findet verblüffende Zusammenhänge, etwa dem zwischen Atelierbraun, Protestantismus und Infinitesimalrechnung als Abkehr vom Gegebenen oder seine Rückführung von Feuerwaffen, Buchdruck und Entdeckungsfahrten auf das Prinzip der Fernwirkung. Ein Schwachpunkt in Spenglers System ist seine – später aufgegebene – Ansicht, daß einerseits die Kulturen einflußlos nebeneinander blühen, sich untereinander nicht befruchten und nur durch Mißverständnisse kommunizieren, andererseits aber als ganze bisweilen nicht ihre eigene, sondern eine fremde Idee verwirklichen. Sein Musterbeispiel ist das von ihm als »magische Kultur« bezeichnete Millennium nach Christus im Mittelmeerraum. Damals habe die ostmediterrane, von Spengler »arabisch« genannte Bevölkerung ihre wesensfremde griechisch-römische Kulturformen benutzt, so wie Rußland seit Peter dem Großen in unpassenden europäischen Stiefeln einherzustolzieren versuchte. Um die Idee des kulturellen Seelentums zu retten, bedient sich Spengler der aus der Mineralogie entlehnten Metapher der Pseudomorphose. Sie täuscht eine Möglichkeit vor, Spenglers System vor Gegenbeispielen zu schützen. Aber das erfordert ein Interpretationsmodell, das äußere und innere Form, Kulturerscheinung und Kulturseele, Lebenswirklichkeit und Lebensgefühl unterscheidet (UA. I 136 ; 140), entsprechend dem Denkansatz des deutschen Idealismus. Es ist die Vorstellung, daß sich in den Kulturphänomenen höhere Potenzen oder tiefere Kräfte spiegeln oder verbergen. Jeweils untersteht alles gleichzeitige Geschehen einer Kultur einem bestimmten Chronokrator, dem Weltgeist oder – so hier – seinen Abkömmlingen, der jeweiligen Kulturseele. Spengler erklärt : »Geschichte ist ein Ganzes von organischer Logik« und schreibt : »Kultur ist ein Gewächs« (UF. 119 ; JE. 63). Dennoch ist seine Kulturmorphologie kein Biologismus. Darwin mit seinem »Kampf der Regenwürmer« trifft Spenglers Spott (UA. I 201 f.). Er verortet die »Welt als Geschichte« als eigenen Kosmos über der »Welt als Natur«, so wie Frobenius.45 Die Natur liefert nur die Anschauungsformen. So betrachtet Spengler seine Hochkulturen als »höhere« Organismen, die in »erhabener Zwecklosigkeit« das Gesetz ihres Seelentums erfüllen, nach dem sie angetreten (UA. I 28). Sie besitzen kein System, sondern eine Physiognomie, lassen sich nicht ausrechnen, sondern bloß intuitiv erfassen. Das »idiotische Rassegeschwätz« der Biologisten verachtete er ; »Rassereinheit ist ein groteskes Wort« (FW. 123 ; JE 157). Auch Spengler spricht von Rassen, aber für ihn sind diese nicht die biologische Grundlage, sondern die Folge von Kulturen. In polemischer Antithese zur herrschenden Rassenlehre erklärte Spengler, ein alt 44 Bienefeld 1996. 45 UA. I 6 ; 65 ; Frobenius, Paideuma 9.
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ägyptischer Isispriester und ein moderner Bankdirektor hätten mehr rassische Gemeinsamkeit als beide mit gleichzeitigen Tagelöhnern. »Zuletzt hat jeder einzelne Mensch und jeder Augenblick seine eigene Rasse« (UA. II 155). Biologistische Züge sieht Spengler in der Geschichte unter- und außerhalb der Hochkulturen, vorher und nachher. In der Zivilisation wie in der Kultur herrscht »Zoologie« (UA. II 60). Sie ist nicht das Ergebnis einer biologischen Degeneration oder einer moralischen Dekadenz, sondern der gesetzmäßig eingetretene Zustand, der aus Altersgründen erloschenen, erstarrten, vollendeten Kultur. Sie kann im Zustand der Geschichtslosigkeit noch Jahrtausende dastehen wie ein toter Baumriese (UA. II 143). In der Zivilisation geht es nur noch um Geld (als Macht über Sachen), um Technik (als Macht über die Natur) und um Politik (als Macht über Menschen). Dies gilt für die ägyptische Kultur nach der Ramses-Zeit, für die antike Kultur nach Augustus und für die abendländische Kultur in der heutigen Zeit. Hier entscheidet der »Wille zur Macht«. Das kreative Denken ist erschöpft und das »Wiederkäuen des Gedachten beginnt in immer kleineren Formaten«. Und dann nochmals das Bild der Bäume : »Die Fellachenzeit ist wie ein Waldbrand am Tage nachher, wo immer wieder hier und da ein ohnmächtiges Flämmchen auflodert« (UF. 338). Wäre dann auch Spengler selbst ein solches ?
Omnia orta occidunt et aucta senescunt. Sallust
III. Ein Requiem für Europa
1947 publizierte Carl Friedrich von Weizsäcker seine »Geschichte der Natur«. In ihr gab er einen Ausblick auf die Abfolge der hohen Kulturen. Er erkannte darin ein gewisses Regelmaß : Ein stabiles, später als primitiv empfundenes Anfangsstadium mythischen Denkens geht über in ein rationales, differenziertes Verhalten. Kunst und Philosophie blühen auf, Städte und Verwaltung wachsen, es kommt zu einer Expansion. Auf später Stufe entfalten sich Technik und Zivilisation, es gibt nun Skeptizismus und Kitsch. Unterdes sind unvermerkt Nachbarn erstarkt, sie überrennen die alte Kultur, lernen von ihr, um – oft nach einem Jahrtausend – selbst deren Schicksal zu teilen. »Manchen von Ihnen«, so Weizsäcker an seine damaligen Göttinger Hörer, »wird sich bei meinen letzten Sätzen der Name Spengler auf die Lippen gedrängt haben. Ich möchte mich mit keiner von Spenglers einzelnen Behauptungen identifizieren. Aber er hat der Lehre vom gesetzmäßigen Aufstieg und Niedergang der Kulturen Ansehen verschafft. Und ich glaube, daß diese Lehre unsere höchste Aufmerksamkeit verdient. Diese Lehre ist Geschichtsmorphologie«. Was Weizsäcker wünschte, trat ein, ja war längst eingetreten. Spengler hatte Aufmerksamkeit gefunden, nicht zuletzt, weil sein Hauptwerk »Der Untergang des Abendlandes« (1918) die zentrale These im Titel verrät, ähnlich wie Theodor Lessings »Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen« (1916) oder Helmuth Plessners Buch »Die verspätete Nation« (1934).
1. Zur Vita
Spengler wurde 1880 in Blankenburg am Harz geboren. Sein Vater war ein pedantischer Postsekretär, seine Mutter die lieblose, leichtsinnige Tochter eines Solotänzers und Ballettmeisters, Enkelin einer Berliner Jüdin. Vierzehnjährig übte sich Oswald in experimenteller Historiographie. Er entwarf das Projekt »Afrikasien« – eine Zukunftsvision. Ein neuer Napoleon erobert West-Afrika und gründet eine Stadt mit Namen Berlin. Gestützt auf europäische Söldner, baut er in Afrika und Asien ein gigantisches Imperium auf, das nach strengster Staatsraison regiert wird und nun die alten Kolonialmächte vernichtet. England, Frankreich und vor allem Rußland
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werden in ihre ethnischen Bestandteile aufgelöst. Moskau, Weißrußland und die Ukraine machen sich selbständig, Sibirien gehört sowieso zu Afrikasien. Auch die Vereinigten Staaten von Amerika zerfallen. In Afrikasien wird ein staatlicher Frondienst, eine künstliche Staatssprache und eine Staatsreligion – der afrikanische Sonnenkult für Ornu – eingeführt. Genaue Buchführung erlaubt die Kontrolle aller Bürger. Spengler entwirft eine Verfassung, einen perfekten und kompletten Staatsschematismus sowie ein Gesetzbuch. Durch die Schwächung seiner Nachbarn, die Klientelstaaten von Afrikasien geworden sind, kann sich Deutschland halten, ja zu Großdeutschland erweitern – freilich im Bunde mit Afrikasien. Abgesehen von diesem Trost entspricht Spenglers Konzept von 1894 einer damals verbreiteten Furcht vor einem Weltkrieg, in dem die Kolonialvölker der lachende Dritte wären. Spengler studierte Biologie und Mathematik und promovierte in Philosophie über Heraklit. Note : rite. 1908 wurde er Oberlehrer in Hamburg, seit 1911 lebte er in München von seiner mütterlichen Erbschaft, später auch von seinen literarischen Einkünften. Am Ersten Weltkrieg nahm er nicht teil. Wegen chronischer Kopfschmerzen war er »dauernd dienstuntauglich«. Dieses Manko kompensierte er durch seinen Sprachstil, der im kasernenhaften Kommandoton gehalten ist. Im Mai 1918 schickte er den ersten Band seines »Untergangs« an Walther Rathenau, der postwendend seinen Respekt bezeugte. 1922 erschien der zweite Band. »Das gottlose Werk einer gottlosen Zeit«, schrieb die Frankfurter Zeitung. Spenglers Werk traf die Nachkriegsstimmung in Deutschland auf den Nerv : Vorreiter im Untergang ! Es erlebte bei C. H. Beck in zwanzig Jahren 75 Auflagen (über 200.000 Exemplare) und bestimmte das Geschichtsbild einer Generation. Spengler, Meisterdenker der »Konservativen Revolution«, gehört mit Gottfried Benn, Carl Schmitt und Ernst Jünger zu den Rechtsintellektuellen, die sprachlich glänzend, gedanklich provozierend, inhaltlich düster sind. Schon vor 1945 lagen sie politisch quer, sie waren nicht rechts genug, nach Kriegsende erschienen sie zu rechts ; Spengler wurde durch seinen englischen Nachdenker Toynbee verdrängt, dessen christlicher Optimismus mit seiner Vision weltweiter Brüderlichkeit wiederum dem Zeitgeist entsprach. Als seine Lehrer bezeichnete Spengler Goethe, von dem er die Methode der »exakten sinnlichen Phantasie« übernommen habe, und Nietzsche, mit dem er die Vorliebe für’s Heroische und den Stilbegriff teilt. Man nobilitiert sich durch seine Ahnen, auch die geistigen. Spengler beginnt : »In diesem Buch wird zum ersten Mal der Versuch gewagt, Geschichte vorauszubestimmen. Es handelt sich darum, das Schicksal einer Kultur, und zwar der einzigen, die heute auf diesem Planeten in Vollendung begriffen ist, der westeuropäisch-amerikanischen, in den noch nicht abgelaufenen Stadien zu verfolgen.« Das freilich unterbleibt. Für die um 1800 eingetretene nachkulturelle Zivilisation benennt Spengler keine »Stadien«.
Unbegreifliche Kulturseelen
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2. Zur Theorie
Spengler erklärt seine besondere Befähigung zur Geschichtsphilosophie mit einer These aus eben dieser Geschichtsphilosophie, daß nämlich die nordeuropäische Kultur, der er selbst angehört, ein besseres Geschichts- und Zeitbewußtsein besäße als frühere Kulturen. Dieses zeige ein Vergleich mit der Antike : Das Fehlen einer populären Zeitrechnung bei Griechen und Römern habe ein Gefühl der Geschichtslosigkeit zur Folge gehabt, eine wirkliche Unterscheidung zwischen Mythos und Geschichte sei ausgeschlossen gewesen. Die historische Überlieferung habe im Bewußtsein selbst des Gebildeten mangels Zeitindikatoren ein omnipräsentes Sammelsurium gebildet. Aus diesem Grunde habe es auch kein Entwicklungsdenken gegeben, wie Spengler an den antiken Biographien zu erkennen glaubt. In der abendländischen Geschichte indessen sei ein Zeitbewußtsein lebendig, das auf verschiedene Weise seinen Ausdruck gefunden habe : einerseits in der Pietät gegenüber Antiquitäten, die Spengler bereits bei Petrarca feststellt ; andererseits im Sammeln, Suchen und Forschen, das in der modernen Geschichtswissenschaft und Denkmalpflege gipfelt. Das 20. Jahrhundert erhob er zum Zeitalter der historisch analysierenden Psychologie im Sinne Nietzsches. Insofern glaubte Spengler in diesem spezifisch abendländischen Bewußtsein einen Punkt zu besitzen, der es gestatte, auch die eigene Kultur aus derselben inneren Distanz, gewissermaßen von außen zu betrachten wie die vergangenen. Gegenstand von Spenglers Geschichtsmorphologie sind die von und seit ihm so genannten »Hochkulturen«. Die prähistorischen und ethnologischen »Flachkulturen« der schriftlosen Naturvölker schloß er aus seiner Betrachtung aus, darum nannte der Afrikaforscher Leo Frobenius Spenglers Werk einen »Torso«. Ebenso ignoriert Spengler die Bauern-, Arbeiter- und Volkskulturen, da sich wahre Geschichte in den Städten abspiele, vielleicht noch in Klöstern und auf den Landsitzen des Adels. Historisch relevant sind für ihn die künstlerischen und wissenschaftlichen Leistungen, der Stil der politischen, ökonomischen und religiösen Systeme. Also ein selektiver Geschichtsbegriff. Spengler wendet sich frontal gegen drei Grundannahmen unter den Historikern : erstens gegen die Konzeption eines linearen Fortschritts in der Geschichte, der wie ein Bandwurm ein Glied nach dem anderen ansetze, zweitens gegen das »sinnlose« Dreiperiodenschema Altertum-Mittelalter-Neuzeit und drittens gegen den Eurozentrismus. Darin sah er eine »kopernikanische Wende« der Geschichtsbetrachtung. Spengler rechnet mit acht Hochkulturen, die teils nacheinander, teils gleichzeitig, immer jedoch wesenhaft unabhängig voneinander wuchsen, blühten und vergingen : der altorientalischen, ägyptischen, indischen, chinesischen, antiken, arabischen, mittelamerikanischen und abendländischen.
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Jede Kultur fülle etwa tausend Jahre, die abendländische rechnet er grob von 1000 bis 2000 n. Chr. Spenglers Methode ist die Parallelisierung entsprechender Entwicklungsstufen in verschiedenen Kulturen und der Nachweis der Formverwandtschaft aller Erscheinungen derselben Kultur. Die Analogie zwischen den Eroberern Alexander und Napoleon, zwischen den Seemächten England und Karthago, zwischen den Kulturmetropolen Florenz und Athen habe man längst erkannt, bloß noch nicht theoretisch begründet. Diese, wie er meinte, aus einem richtigen Instinkt, aber ohne zureichende Methode gezogenen Parallelen wollte er durch eine Technik des Vergleichs auf eine gesicherte Grundlage stellen, die der Strenge des Mathematikers nichts nachgeben sollte. Er will zum Text der Geschichte die Grammatik liefern. Spengler vergleicht Antike und Abendland. Dies ist sein Musterfall. In beiden Kulturen findet er am Anfang eine Phase, die durch einen ritterlich-feudalen Lebensstil gekennzeichnet ist. Die Welt Homers und die des Nibelungenliedes sind ja unbestreitbar ähnlich : Eine mythische Heldenzeit wird in epischer Form gestaltet, von Barden besungen und als Lebensideal einer ritterlichen Welt empfunden. Der Kampf, die Minne und die Jagd sind die Beschäftigungen einer adligen Schicht, die von ihren arbeitenden Hintersassen ernährt wird. Die Grundeinheit der Gesellschaft ist beide Male eine Großfamilie unter Einschluß des Gesindes. Eine ländliche Stammesstruktur zeigt eine bloß rudimentäre, prekäre Staatlichkeit, die durch Personenverband und Gefolgschaftswesen geprägt ist. Noch fehlt die stabile Institution.
3. Spätzeiten
Spengler verweist darauf, daß diese patriarchalisch-ritterliche Frühzeit im Altertum wie in Westeuropa dieselben Auflösungserscheinungen zeitigt. Denn in Griechenland nach 800 v. Chr., in Europa nach 1200 n. Chr. lösen sich die locker gefügten, durch Stämme getragenen Großraumordnungen auf zugunsten kleinerer, aber intensiv strukturierter Einheiten. In Griechenland sind das die Stadtstaaten, die Poleis Athen, Sparta, Korinth usw., in Europa, namentlich in Deutschland, sind es die Territorien Sachsen, Hessen, Bayern usw. Die Staatlichkeit entwickelt sich kleinräumig in dieselbe Richtung : sie intensiviert sich. Der Staat konzentriert immer mehr Rechte auf sich, in Griechenland auf Kosten der alten Stämme, in Mitteleuropa auf Kosten der Sippen- und Familiengerechtsame : Die Gerichtshoheit und die Wehrhoheit kommen von der Sippe an die politische Gemeinschaft. Den anfangs beherrschenden Adel löst hier wie dort das Bürgertum der Städte ab. Handwerk und Handel gewinnen an Bedeutung. Am Ende steht jeweils der
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voll entwickelte Staat : Der Polis eines Perikles stellt Spengler den Absolutismus von Ludwig XIV und Friedrich dem Großen zur Seite. Der Staat ist dort wie hier perfekt. In der Kunst findet sich ein ähnlicher Gleichlauf. In der Antike wie im Abendland dominieren anfangs sakrale Zwecke. Die Kunst stand im Dienst der Religion. Der kultische Mittelpunkt der griechischen Polis war der Tempel der Stadtgottheit, Athena in Athen, Juppiter in Rom. Das geistliche Zentrum der mittelalterlichen Stadt ist die Kathedrale des oder der Schutzheiligen. Sankt Peter in Rom, Notre Dame in Paris. Der griechische Künstler stellt die mythologischen Überlieferungen, der europäische die biblische Geschichte dar. Formal verläuft die Kunstentwicklung beide Male von strengeren zu gelösteren Formen, von religiösen zu weltlichen Themen. Die Darstellung der nackten Frau wird statthaft. Am Ende prostituiert sich das Bizarre, Groteske, Absurde. Im Hellenismus wurde Schmutzmalerei (Rhyparographie) salonfähig. In der Literatur kommt es wie bei den Griechen so bei den europäischen Völkern nach den Epen der Frühzeit zu einer Klassik. Die Lektüre der städtischen Spätzeit ist jeweils der Roman. Daneben hebt Spengler die Analogie in der philosophischen Aufklärung heraus. Bei den Griechen wird sie getragen von den Vorsokratikern und den Sophisten, in Europa von den Philosophen und Naturforschern der Zeit zwischen Kepler und Kant. Beide Male findet Spengler am Anfang eine mythische Verhaftung in Homer oder der Bibel und nach einer Periode der Skepsis am Ende die großen abschließenden Systeme : Platon und Aristoteles auf der einen, Goethe, Kant und Hegel auf der anderen Seite. Er hätte auch Marx nennen können. Die nun folgende Abwärtsentwicklung der Spätzeit beider Kulturen wird eingeleitet durch Erschütterungen : in Griechenland durch soziale Unruhen, durch die jüngere Tyrannis und Alexander, in Europa durch die Französische Revolution und Napoleon. Es kommen die starken Männer als Anführer der Massen, die radikalen Volksführer, die ein unzufriedenes, verfügbares und verführbares Großstadtpublikum vorfinden. Die ältere, intensive Phase wird durch eine jüngere, extensive abgelöst. Eine kosmopolitische Weltstadt-Zivilisation entsteht auf der Basis von Geldwirtschaft, Fernhandel und Technik. Archimedes und Euklid dort, Kepler und Newton hier rücken die mathematisch-naturwissenschaftlichen Studien in den Vordergrund. Der Weg vom Nürnberg der Meistersinger nach New York und Moskau ähnelt dem Weg vom Athen des Sophokles nach Alexandria und Rom. In der modernen Weltstadt herrscht das Geld, und es macht für Spengler keinen Unterschied, ob die Form dieser Herrschaft wie im hellenistischen Ägypten ein ptolemäischer Staatssozialismus, wie in Rom eine spätrepublikanische Plutokratie oder aber wie bei uns eine kapitalistische amerikanische Massendemokratie ist. »Demokratie ist die vollendete Gleichsetzung von Geld und politischer Macht« (UA. II
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603). Aber : »Durch das Geld vernichtet die Demokratie sich selbst, nachdem das Geld den Geist vernichtet hat« (II 578). Die bloße Existenz der in der Spätzeit voll entwickelten Geldwirtschaft, so Spengler, wirft dem, der das Geld verwaltet, auch die Macht in den Schoß. Das war nicht immer so. Barbarenvölker wie Germanen und Hunnen, Araber und Mongolen haben ihre Kriege gegen sehr viel reichere, hochzivilisierte Spätkulturen gewonnen. Bei diesen bestimmten Geld und Genuß das Denken. Die Zeugnisse für den Wohlstandsgedanken im späten Altertum liefern die verfeinerte Wohnkultur, Straßenbauten, Wasserleitungen, panem et circenses (Juvenal X 81). Zirkus- und Bäderwesen in Rom, Bildschirm und Fußball heute. Die neuen Machtgebilde entstehen am Rande des alten kulturellen Mutterlandes. Das Erbe der Hochkultur geht an ihre Stiefkinder. Randmächte der Spätzeit sind (gegenüber dem griechischen Zentralraum) Makedonien, die hellenistischen Großreiche und das Imperium Romanum ; und (gegenüber dem europäischen Zentralraum) englisches Commonwealth, russisches Reich, Nordamerika. Großraumpolitik im Zentralgebiet scheitert, dort bei Pyrrhus, hier bei Napoleon. Die alte Welt exportiert aber ihre Kultur : Im Hellenismus lösen sich griechische Denkund Lebensformen von ihren bisherigen Trägern und werden von Syrern und Kelten, Juden und Parthern, Etruskern und Römern übernommen. Parallel dazu wird seit 1800 die europäische Lebensweise international üblich. Politisch wird die Alte Welt jedoch abhängig. So wie Griechenland von Rom zwar bewundert, aber unterworfen wurde, so Europa von Amerika. Schon 1914 fürchtete Spengler, mit Deutschlands Sieg ( !) werde »ein vollkommen seelenloser Amerikanismus zur Herrschaft gelangen« (B. 29). Welch ein Paradoxon ! Spengler glaubte, daß die Herrschaft des Geldes irgendwann dem Caesarismus unterliegen werde, dem von ihm bewunderten straff organisierten Militarismus der starken Männer. Was diese von der alten Kultur übrig ließen, hinge von Zufällen ab. Jedenfalls sei die Kultur in Spätzeiten kein echtes Anliegen mehr, sondern bloß noch Konsumartikel, Reizmittel, Freizeitprogramm. Mit der Römerzeit, genau : seit dem Sieg des Augustus bei Actium 31 v. Chr. sei die antike Kunst- und Kulturentwicklung abgeschlossen. Was dann komme, seien bloß noch »negerhafte« Machtkämpfe von einzelnen Caesaren, bei denen es völlig belanglos sei, wer sie gewinne. Für die Gegenwart gelte Entsprechendes : Die Welt sei zur Beute geworden, wer sie einbringe, das sei sub specie historiae gleichgültig. Die Kunst dient dem ästhetischen Kitzel, die Literatur dem gehobenen Zeitvertreib, die Geisteswissenschaft der Büchervermehrung, dem Selbstlauf eines Betriebs, und nicht mehr, wie zu Humboldts Zeiten, der Menschenbildung. Die Mischung von Zivilisation und Barbarei am Ende könne so oder anders dosiert sein, eine kulturelle Weiterentwicklung sei im Abendland ebensowenig möglich wie einst in der römischen Kaiserzeit. Das Römerreich war kulturell steril, »nur ein skrupelloses Geschäftsunternehmen«.
Stilbestimmendes Seelentum
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Der Untergang des Abendlandes liegt somit bereits hinter uns, er bestand in der Vollendung der Kultur und im Übergang zu einer ubiquitären, geistlosen, rein praktischen Zivilisation mit ihren materiellen Annehmlichkeiten des Lebens. Spenglers Unterscheidung von Kultur und Zivilisation ist oft angegriffen worden, gewiß zu Unrecht, weil differenzierte Ausdrucksweise den Reichtum einer Sprache ausmacht. Eine nacheuropäische Hochkultur erwartete Spengler später, 1924 mit einiger Vorsicht – ähnlich wie vor ihm Hegel, Lasaulx und Tocqueville – in Rußland. »Das Russentum ist das Versprechen einer kommenden Kultur, während die Abendschatten über dem Westen länger und länger werden«. Den Marxismus allerdings hielt Spengler für eine europäische Überfremdung Rußlands, einen vorübergehenden Irrtum. Mit dieser Prognose hat er recht behalten.
4. Stilbestimmendes Seelentum
Spengler rechnet mit einer vorgegeben begrenzten Lebens- und Gestaltungskraft seiner Kulturen, die sich erschöpfen, wenn sie ihr »Seelentum« zum Ausdruck gebracht, ihren Lebenskreis vollendet haben. In erklärtem Gegensatz zu der bei Historikern üblichen Kausalerklärung versteht Spengler Geschehenes nicht als Folge von vorausgegangenem Geschehen, sondern als sichtbares Zeugnis der jeweiligen »Kulturseele«, die er im Abendland »faustisch«, in Griechenland »apollinisch«, bei den Arabern »magisch« nennt. Diese dem »Volksgeist« der Romantik verpflichtete Idee der Kulturseele entwickelte Spengler wiederum aus einer Gegenüberstellung von antikem und abendländischem Denken. Er sucht die Unterschiede. Im Altertum findet er, durchaus einleuchtend, eine körperhaft-statische, im Abendland ein raumhaft-dynamisches Prinzip hinter den verschiedenen Erscheinungen. Er stellt der griechischen Statue das gotische Tafelbild gegenüber, dem Tempel als Baukörper die Kirche als umbauten Raum. In der Wirtschaft vergleicht er die antike Münze als Wertobjekt mit dem modernen Wechsel als abstraktem Guthaben, in der Mathematik die anschauliche Geometrie Euklids mit der abstrahierenden neuzeitlichen Integral- und Differentialrechnung. Jede Kultur habe ihre eigene Mathematik, das jeweils gepflegte Zahlenspiel entspreche der Kulturseele. Aus diesem Ansatz ergibt sich die These von der stilistischen Einheit aller Kulturerzeugnisse einer Zeit und eines Raumes, wie sie in dieser Strenge von niemandem vertreten worden ist, nicht einmal von Marx, der den kulturellen Überbau aus dem sozialökonomischen Unterbau ableitete, die Kunst jedoch aus dem logischen Gefüge der Produktionsverhältnisse herausgelassen hatte. Einen Phidias, einen Sophokles konnte und wollte Marx aus der Struktur der Sklavenhaltergesellschaft
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nicht ableiten. Hier sah er überzeitliche Leistungen verwirklicht. Spengler hingegen bindet die Kunst nicht nur ein, er findet in ihr vielmehr den gemeinsamen Nenner für die Kulturphänomene insgesamt. Angeregt von der Wiener kunsthistorischen Schule übertrug er den Stilbegriff auf alle Lebensbereiche. Eine innere Verbindung zwischen feudalen Besitzverhältnissen und scholastischer Philosophie, zwischen merkantilistischer Wirtschaft und Bachschen Oratorien, zwischen Eisen bahnbau und Rilkescher Lyrik ist nicht leicht plausibel zu machen. Spengler aber versucht es nicht ohne Erfolg. Seine Interpretation gleichzeitiger Zusammenhänge verblüfft mitunter, etwa dem zwischen Atelierbraun, Protestantismus und Infinitesimalrechnung als »Abkehr vom Gegebenen«. Das hat etwas für sich, auch seine Rückführung von Feuerwaffen, Buchdruck und Entdeckungsfahrten auf das »Prinzip der Fernwirkung« leuchtet ein. In derartigen Brückenschlägen beweist er mitunter eine geniale Subtilität. Spenglers Werk ist freilich auch ebenso geistreich ironisiert worden. Seinen Titel persiflierte Klabund alias Alfred Henschke für seine köstliche Groteske von 1922 mit ›Der Kunterbuntergang des Abendlandes‹. Im Hinblick auf die Beziehungslehre Spenglers publizierte das »Musical Quarterly« 1928 in Philadelphia (XIV 2, S. 155 ff.) einen Fragenkatalog für Examenskandidaten mit 24 Aufgaben des folgenden Typus : 1) Wie verhält sich nach Spengler der doppelte Kontrapunkt zur doppelten Buchführung im Weltbild von Ptolemaios Euergetes ? 2) Worin besteht die Homologie des Raumgefühls zwischen den Concerti grossi von Händel und Hannibals Alpenüberquerung ? 3) Inwiefern entspricht die verminderte Quinte in Richard Wagners Fafner-Motiv dem kältesten Punkt auf dem Relief des Berliner Pergamon-Altars ? anzugeben in Fahrenheit !
5. Naturmetaphern
Spenglers Kulturmorphologie ist trotz seiner organologischen Metaphorik kein Biologismus in der Art der Geschichtsphilosophien von Gobineau, Chamberlain oder Konrad Lorenz. Seine Kulturen sind keine gewöhnlichen, sondern »höhere« Organismen, die in »erhabener Zwecklosigkeit« das Gesetz erfüllen, nach dem sie angetreten. Sie keimen, blühen und vergehen oder erstarren nur in uneigentlichem, übertragenem Sinne, wie er das für die ägyptische Kultur nach der Ramses-Zeit, für die antike Kultur nach Augustus und die abendländische Kultur nach Napoleon annahm. Mit dem Geschichtsbiologismus auf darwinistischer Grundlage geht Spengler hart ins Gericht. Jegliche Bedeutung der biologischen Rasse für die Geschichte wird in Bausch und Bogen verworfen. Auch Spengler spricht von Rassen, aber für ihn sind diese nicht die Grundlage, sondern die Folge von Kulturen. In
Politische Praxis
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polemischer Antithese zur herrschenden Rassenlehre erklärte Spengler, ein altägyptischer Isispriester und ein moderner Bankdirektor hätten mehr physiognomische Gemeinsamkeit als beide mit gleichzeitigen Tagelöhnern. So wie Spengler biologische Ausdrücke zum Verständnis der kulturhistorischen Vorgänge verwendet, so benutzt er auch Bilder aus der anorganischen Natur, aus der Mineralogie. Um zu erklären, was er als kulturelle Pseudomorphose bezeichnet, beschreibt er den Vorgang, wie sich flüssige Lava bisweilen in vorgefundenen Hohlformen auskristallisiert und so eine ihr wesensfremde Gestalt annimmt. Diesen Prozeß sieht er in der arabischen Kultur verwirklicht. Im 1. Jahrtausend nach Christus habe sich das »magische Seelentum« der Araber dem übermächtigen Formenschatz der antiken Kultur angepaßt und damit eine ihm eigentlich nicht gemäße Gestalt gewonnen. So bezeichnet Spengler das Pantheon als Moschee und Diocletian als Kalifen. Spenglers Annahme, daß sich die Geschichte in der Pseudomorphose gewissermaßen selbst verfälsche, ist nicht akzeptabel. Kulturen sind Konglomerate, die aus dem Gestaltungswillen in einer Gesellschaft und zahlreichen Einflüssen einerseits von den Nachbarn, andererseits aus der Geschichte hervorgehen. Von daher lassen sich auch kaum Grade von Artgemäßheit in kulturellen Manifestationen unterscheiden.
6. Politische Praxis
Wie die meisten Geschichtsphilosophen wünschte sich auch Spengler eine praktische Wirkung, pädagogisch wie politisch. Da auf dem Sektor der Kunst und Literatur die Höhepunkte überschritten seien, sollten sich, so meinte er, die jungen Leute lieber der Technik zuwenden, sollten Brücken bauen statt Gedichte schreiben. Spenglers politisches Credo hieß »Preußentum und Sozialismus« (1919). Die Reihenfolge ist nicht zufällig : Ein stoisches Pflichtbewußtsein soll das Zusammenleben bestimmen. Bismarck habe es vorgelebt. »Parlamentarismus ist ein Unglück«. Spengler suchte ohne Erfolg Kontakt zu Militärs wie Seeckt und Ludendorff, mit Erfolg zu Männern der Wirtschaft wie Albert Vögler und Paul Reusch, dem er eine Totenmaske Napoleons verehrte. Er träumte von einem »Direktorium«, einer »nationalen Loge« und hoffte auf einen deutschen Mussolini. Dieser ließ Spenglers »Jahre der Entscheidung« (Koktanek : Jahre der Fehlentscheidung) 1933 sofort ins Italienische übersetzen. Spengler hatte seine Schrift beschlossen mit der Aufforderung, »die Würfel des großen Spiels« zu ergreifen, und prophezeite : »Wir stehen vielleicht schon dicht vor dem zweiten Weltkrieg«. Bereits 1921 hatte Spengler seinen Aufsatz »Pessimismus ?« mit dem fatalen Ausblick beendet : »Zu einem Goethe werden wir Deutschen es nicht wieder bringen,
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aber zu einem Cäsar«. Leider nein ! Denn der Caesar redivivus begründete keine Jahrtausende währende Staatsform. Spengler hatte Hitler zwar 1932 faute de mieux gewählt, und am 25. Juli 1933 begegnete er ihm in Bayreuth. Das Gespräch erstickte in einem Monolog des Führers über die politische Unfähigkeit des Protestantismus. Angebote zur PropagandaArbeit durch Goebbels lehnte Spengler ab. Sein Wort vom nationalsozialistischen Prolet-Arier kennzeichnet seine Haltung. Er definierte den Nationalsozialismus als die Organisation der Arbeitslosen durch die Arbeitsscheuen. Im November 1933 entlarvte der NS-Philosoph Alfred Bäumler im Schinkelsaal der Deutschen Hochschule für Politik zu Berlin Spengler als undeutschen Ästheten, er gehöre »in die Rumpelkammer der Geistesgeschichte«, so im »Völkischen Beobachter«. Man erklärte, Spengler habe den Rassegedanken nicht begriffen, man wollte von einem Untergang des Abendlandes nichts wissen. Albert Speer rechnete gemäß seiner Ruinentheorie mit dem dereinstigen Verfall seiner Monumentalbauten. Im Jahr von Spenglers Tod 1936 publizierte eine amerikanische Zeitung, »Hearst’s International Cosmopolitan« Spenglers politisches Testament. Die Umfrage des Blattes : Ist Weltfriede möglich ? hatte er verneint. Er glaubte an einen Konflikt mit der Dritten Welt, welcher er die Rolle der Germanen gegenüber der antiken Kultur zuwies. Wir denken zurück : An der Grundüberzeugung des vierzehnjährigen Afrikasien-Konstrukteurs hatte sich nichts geändert. Hat er nichts dazugelernt oder sah er schon als Knabe richtig ? Wer sich mit Spengler befaßt, muß sich auf die Frage einstellen : Hatte er recht ? Die Antwort kann, wie in Fällen dieser Art gewöhnlich, weder ein klares Nein noch ein klares Ja sein. Kritik verdient Spenglers Kulturkonzept, das Zivilisation abwertet, sich auf »Hochkulturen« beschränkt, Einflüsse ausschließt und kulturübergreifende Kontinuitäten leugnet. Wer nimmt ihm das ab ? Daß der Gehalt der griechischen Philosophie, die Botschaft des antiken Christentums oder der Geist des römischen Rechts in der abendländischen Rezeption mißverstanden oder verfälscht worden sei, ist kaum zu vertreten. Ebenso problematisch sind Spenglers »Kulturseelen«, sind seine organologische und mineralogische Metaphorik und seine Annahme einer eigendynamischen Kulturentwicklung. Zustimmung hingegen verdient der Versuch, Kulturen als Verständniseinheiten zu konzipieren, die über die Volks- und Staatsgrenzen hinausgehen. In wesentlichen Punkten wurde Spengler bestätigt durch zwei neuere amerikanische Geschichtsphilosophen – so dissonant sie auch sind. 1992 verkündete Francis Fukuyama das »Ende der Geschichte«, genauer : das inzwischen eingetretene Endstadium der Geschichte, seit es auf der Welt keine prinzipielle Alternative zum demokratischen Kapitalismus mehr gibt, die Aussicht auf Selbstbehauptung besitzt. In der Sprache Spenglers ist dies die universal und geschichtslos gewordene
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westliche Zivilisation. 1993 setzte dem Samuel Huntington die Prognose vom »Zusammenstoß der Kulturen« entgegen, gemeint ist die Auseinandersetzung der christlich geprägten europäisch-amerikanischen Welt mit dem Islam, möglicherweise in militärischer Form. Dies wäre nach Spenglers Voraussage der Aufstand der Kolonialvölker gegen die Herrschaft der Weißen. Im Sinne Spenglers wäre zwar die Folge der Hochkulturen zu Ende, aber politisch noch Einiges zu tun. Spenglers Fatalismus begnügt sich nicht mit einem : »Wer nur den lieben Gott läßt walten«. Sein Schlußspruch ist ein von Cicero latinisierter Vers des Stoikers Kleanthes, den Seneca (ep. 107, 11) überliefert : Ducunt fata volentem, nolentem trahunt. Frei verdeutscht : »Willigen wir ein, so führt uns das Schicksal an der Hand, willigen wir nicht ein, so reißt es uns an der Kette«. Wir müssen somit selbst handeln, und zwar gemäß dem, was das Fatum erlaubt und erfordert. Was aber ist das ? Spenglers Grabstein auf dem Münchener Nordfriedhof ist ein Würfel aus dunklem Porphyr. Dieser Monolith zeigt einen Riß, der durch den Namen Spengler geht. Einen solchen Spalt erkennen wir auch in der Lehre Spenglers. Der Riß trennt Prognose und Programm. Wer weiß, was geschehen wird, sagt nicht, was getan werden soll. Schicksal ist das, was wir nicht ändern können, also das Vergan gene. Ändern können wir das Bestehende ; wie weit, das wissen wir nicht von vornherein, das kommt auf den Versuch an. Das meint ein Spruch aus demselben Seneca-Brief (107, 9) : Optimum est pati, quod emendare non possis. Am besten ist es, den Zustand, den du nicht verbessern kannst, geduldig zu ertragen. Aber nur den.
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Certis sunt cuncta temporibus : nasci debent, crescere, extingui. Seneca
IV. Spengler und andere Untergänge
»Ich habe schon als Kind immer die Idee in mir getragen, ich müßte eine Art Messias werden. Eine neue Sonnenreligion, ein neues Weltreich, ein Zauberland, ein neues Deutschland, eine neue Weltanschauung, das war zu neun Zehnteln der Inhalt meiner Träume.« So schrieb Spengler in seinen Selbstbetrachtungen zur Zeit des Ersten Weltkriegs (EH. 78). Man kann nicht sagen, daß ihm das völlig mißlungen sei. Denn so wie es Lutheraner, Hegelianer und Wagnerianer gibt, so gibt es auch bekennende Spenglerianer, nicht nur in Deutschland. Ihre Sorge gilt dem Abendland, das ist Europathie. Betroffen ist der Okzident, das Land der untergehenden Sonne, solis occidentis. Das Wort »Europa« alias Okzident stammt aus dem Land der aufgehenden Sonne, solis orientis, aus dem Orient und geht zurück auf semitisch ereb – »finster«. Die Idee vom Nieder- oder Untergang ist mithin nicht zufällig ein Leitmotiv der europäischen Geistesgeschichte, beginnend mit Homer und keineswegs endend mit Spengler. Schluß ist erst, wenn man »Okzident« für den Namen einer Zahnpasta hält.
1. Untergang im Altertum
»Essetai hēmar – einst wird kommen der Tag, da die heilige Ilios hinsinkt, Priamos selbst und das Volk des lanzenkundigen Königs«. Mit diesen Worten verkündet Agamemnon in der Ilias (IV 164 f.) den bevorstehenden Untergang Trojas. Auch sein Gegner Hektor ist sich dessen bewußt und wiederholt die Verse (VI 448 f.). Seit Homer ist »Untergang« eines der großen Themen der Geschichtsliteratur. Homer beschreibt die Katastrophe der Stadt selbst nicht, seine Ilias behandelt nur eine Episode während der Belagerung Trojas. Doch steht deren schicksalhaftes Ende von Anbeginn fest (VIII 69 ff.) und wird mehrfach vorausblickend angedeutet. Der Autor weiß immer mehr als die Gestalten, die er behandelt. Aber auch die siegreichen Achäer Agamemnons erwartet keine glänzende Zukunft. Denn der alte Nestor weiß um die größere Vergangenheit und den Niedergang der Gegenwart : Seine Zeitgenossen Achill und die Kämpfer um Troja seien Schwächlinge im Ver-
Untergang im Altertum
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gleich zu Theseus, Herakles und den anderen alten Heroen, die er, Nestor noch selbst erlebt habe (I 260 ff.). Dieser Abstieg von Theseus zu Achill und Nestor wird von dem Dichter um eine zweite Stufe erweitert, indem er sich selbst und seine Zeitgenossen als ein gesunkenes Geschlecht betrachtet, verglichen mit den Helden vor Troja (V 304). Den hier angedeuteten Dekadenzprozeß ergänzt eine organische Metapher für zyklische Bewegung, indem Homer die Geschlechter der Männer mit den Blättern der Bäume vergleicht, die im Frühling sprießen, im Herbst abfallen und im folgenden Lenz sich wieder erneuern (VI 146 ff.). Die grundlegenden Denkfiguren der Geschichtsmorphologie Spenglers, sprich : schicksalhafter Untergang und organischer Kreislauf haben somit eine tief in die Vergangenheit reichende Wurzel. Ein folgenreiches Denkmodell für den zyklischen Niedergang entwarf wenig später als Homer der böotische Dichter Hesiod in seiner Lehre von den Metallzeitaltern. Am Anfang, so heißt es, schufen die Olympier ein goldenes Geschlecht von Menschen, die göttergleich glücklich lebten, ohne Mühsal, Krankheit und Alter. Dann aber versanken sie in der Erde und wirken seither als gute Geister. Darauf entstand nach dem Willen der Götter ein geringeres, silbernes Geschlecht, das aber undankbar war und sich weigerte, Opfer zu bringen. Darum vertilgte sie Zeus, doch leben auch sie fort als niedere Dämonen. Als drittes schuf der Göttervater ein ehernes Geschlecht von Kriegern, deren Waffen aus Bronze waren, denn es gab noch kein Eisen. Sie vertilgten sich gegenseitig. Hesiod erwähnt sodann als viertes ein heroisches Geschlecht, das eigentlich mit dem vorigen identisch ist. Dazu zählen Agamemnon, Achill und die Helden von Troja. Es folgt das fünfte Geschlecht, das eiserne, dem Hesiod selber angehört, wie er klagt. Denn jetzt regieren Übel aller Art. Zwist herrscht zwischen Kindern und Eltern, unter Brüdern und Nachbarn ; Anstand und Gerechtigkeit sind dahin. Niemand fürchtet die Strafe der Götter, an welcher der Dichter nicht zweifelt, denn auch dieses Geschlecht geht seinem Ende entgegen und weicht irgendwann einem nicht näher ausgeführten sechsten, besseren – so hofft Hesiod (Werke und Tage 109 ff.). Der Untergang kommt, aber bleibt nicht das letzte Wort. Auch die Lehre der Vorsokratiker vom Weltuntergang als ekpyrōsis im Feuer oder als kataklysmos im Wasser führt zu einem neuen Weltenzyklus. Wie in der griechischen Literatur, so fehlt es auch in der biblischen Tradition nicht an Untergängen. Kaum älter als Homer und Hesiod ist die Überlieferung von der Sintflut und von Sodom und Gomorrha im ersten Buch Mose und die Erzählung vom Ende der Rotte Korah im vierten : Und die Erde tat ihren Mund auf und verschlang sie mit ihren Häusern, mit allen Menschen, die bei Korah waren, und mit all ihrer Habe (16,32). Aus der Zeit des geteilten Reiches vernehmen wir die in Untergangsvisionen schwelgenden Propheten. Amos, Hosea und Jesaia
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malen in grellen Farben das Ende des Nordreichs Israel durch die Assyrer, die 721 Samaria eroberten. Jeremia und Zephanja prophezeien und beklagen die Niederlage des Südreichs Juda und die Zerstörung Jerusalems samt dem Tempel durch Nebukadnezar 586. Deutero-Jesaia prophezeit den Sturz des Chaldäer-Reiches um Babylon durch den Perser Kyros 539. Bei Hesekiel sodann lesen wir vom Strafgericht Gottes über die stolze Inselstadt Tyros, die allerdings erst unter Alexander 333 fiel ; und im Buch Jona findet die angedrohte Zerstörung von Niniveh nicht statt, weil das Volk wider Erwarten Buße tut ; aber bei Nahum ist es um Ninive geschehen, Gottes schreckliches Strafgericht soll den Juden zur Warnung dienen. Dahinter steht vermutlich die Katastrophe von 612 – wie vermutlich alle eingetroffenen Voraussagen nachträglich formuliert sind. Die biblischen Untergangsvisionen kosmischen Ausmaßes sind nicht gänzlich trostlos. Sie enthielten die Erwartung eines »neuen Himmels in einer neuen Erde« – wie bei Jesaia (65,17). Die in der Bibel durchgängige Verbindung der Untergangsthematik mit der prophetischen Attitüde findet sich auch bei späteren Autoren bis hin zu Spengler, der sich im ersten Satz seines Hauptwerks als Künder der Zukunft vorstellt. Daß er dies als erster wage, ist sein erster Irrtum, denn Aberdutzende von Autoren haben Geschichte vorauszubestimmen versucht. Die bei Spengler universalhistorisch ausgeweitete Verknüpfung von Ausblick und Untergang findet sich in der biblischen Tradition kanonisch in den beiden Visionen des Buches Daniel. Es handelt sich zum einen um den Traum Nebukadnezars vom Koloß auf tönernen Füßen, zum anderen um die Erscheinung der vier Tiere aus dem Abgrund. Beidemal geht es um Bilder für die in vier Stufen abwärts führende Abfolge der Weltreiche. Dem babylonischen Imperium Nebukadnezars folgt das der Meder, dann kommt das der Perser mit Kyros und schließlich das der Griechen unter Alexander und den Diadochen. Nachdem die drei ersten Reiche untergegangen sind, steht nun, so der Autor, der Sturz des letzten und damit das Ende der Geschichte überhaupt bevor. Denn in Kürze erscheint auf den Wolken des Himmels der Messias und vollzieht das Jüngste Gericht. Der angeblich im 6. Jahrhundert zur Zeit Nebukadnezars verfaßte Text stammt in der vorliegenden Form von einem unbekannten Autor aus dem Jahre 164 v. Chr. und ist eine Kampfschrift aus dem Makkabäerkrieg. Der hier prophezeite Untergang des Morgenlandes, ja der Welt betrifft nicht das Volk Israel, denn dieses wird durch den Messias zu neuer Herrlichkeit erhöht. Bei den Griechen und Juden hinterläßt der Weltuntergang mithin einen Hoffnungsschimmer. Ganz anders der Pessimismus im republikanischen Rom : Hier steht das endgültige Ende vor Augen. Während der jüngere Scipio im Sommer 146 v. Chr. das brennende Karthago betrachtete, die Stadt, die er selber erobert hatte, da kamen ihm, wie sein Begleiter Polybios (XXXVIII 22) berichtet, die Tränen. Er dachte daran, wie zuvor die Reiche der Assyrer, der Meder, der Perser und das
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der Makedonen zugrunde gegangen waren, und das nicht durch eine vermeidbare Schuld, sondern gemäß dem dämonischen Gesetz des Lebens, das ebenso wie den einzelnen Menschen auch Städte, Völker und Staaten dem Wechsel des Glücks und dem Gebot der Sterblichkeit unterwirft. Scipio denkt an den künftigen Untergang Roms, indem er sich an das Ende Trojas erinnert und den oben zitierten Homer zitiert : »Einst wird kommen der Tag, da die heilige Ilios hinsinkt«. Das organische Werden und Vergehen gilt wie für die Natur so auch für die Geschichte. Scipios Pessimismus war kein Einzelfall. Eine ganze Reihe namhafter Autoren sah parallel dem äußeren Aufstieg Roms zur Weltmacht den inneren Verfall der Sitten und der Lebenskraft. Gemäß dem klassischen Dekadenzmodell, wonach innere Stärke zu äußeren Erfolgen führt, diese aber Erschlaffung und innere Schwäche bewirken, sah man Roms Wachstum mit gemischten Gefühlen. Scipio flehte zu den Göttern, sie mögen Rom vor weiterem Zugewinn bewahren und in der bestehenden Größe erhalten, so Valerius Maximus (IV 1,10). Zur Zeit Caesars vertrat Lucrez (V 64 ff.) die Lehre von der Vergänglichkeit aller Dinge, ja der Welt als ganzer. Zeitgleich brachte Sallust das auf die Formel omnia orta occidunt et aucta senescunt – alles was entstanden ist, zerfällt wieder, und was wächst, das altert zugleich (Jugurtha 2,3). Er bezog das auf Rom und sah in der Rolle des Geldes und des steigenden Wohlstands den Keim des Verfalls. In den Bürgerkriegen nach Caesars Tod erfaßte Horaz (Epoden 16) die Verzweiflung : Suis et ipsa Roma viribus ruit – An ihren eigenen Kräften geht Roma zugrunde. Der Dichter verortet sich selbst im eisernen Zeitalter. Er fordert, die verfluchte Stadt zu verlassen, auf die Schiffe zu gehen und eine neue Heimat zu suchen und wäre es fern im Atlantischen Ozean auf den Inseln der Seligen. Die unter Augustus propagierte Romideologie von der Ewigen Stadt überzeugte nicht alle. Livius beklagt in seiner Einleitung ganz im Geiste Sallusts den durch Roms Wachstum bedingten, durch Geldgier und Luxus ausgelösten Verlust an virtus, an Tugend und Tüchtigkeit, so daß die Römer weder die Laster noch die Mittel dagegen zu tragen vermögen. Eine Erklärung für diesen Zustand suchte unter Nero Seneca in dem Lebensaltergleichnis, das den Gang der Geschichte Roms mit der organischen Entwicklung eines Individuums parallelisiert. Es nimmt die organologische Konzeption Spenglers vorweg und verbindet wiederum Untergang und Zukunftsschau. Überliefert ist der Text bei dem Kirchenvater Lactanz (Institutiones VII 15), der die christliche Lehre von der Vergänglichkeit alles Irdischen hier durch einen heidnischen Philosophen bestätigt sieht. Nicht unkundig, schreibt er, teilt Seneca die Zeiten Roms in Abschnitte ein. Die erste Kindheit setzt der Philosoph unter Romulus an, von dem Roma erzeugt und erzogen wurde. Die Jugend verbrachte sie unter den übrigen Königen, die sie vergrößert und mit Einrichtungen versehen ha-
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ben. Unter der Herrschaft des Tarquinius habe die schon beinahe Erwachsene die Knechtschaft abgeschüttelt, um statt den Königen Gesetzen zu gehorchen. Am Ende des Heranwachsens, zur Zeit der Punischen Kriege, habe sie die volle Reife ihrer Kräfte gewonnen. Nach dem Untergang der alten Nebenbuhlerin Karthago, streckte sie die Hände über Land und Meer in alle Welt aus, bis alle Könige und Völker unterjocht und keine Feinde mehr übrig waren. Darauf machte sie üblen Gebrauch von ihren Kräften und begann sich selbst zugrunde zu richten. Nun trat sie ins Greisenalter ein, als sie von Bürgerkrieg und inneren Übeln zerrüttet, wieder unter die Herrschaft eines Einzigen geriet, gewissermaßen in eine zweite Kindheit zurückfiel. Durch den Verlust der Freiheit, die Brutus verteidigt hatte, war sie dermaßen geschwächt und gealtert, daß sie sich alleine nicht mehr aufrecht erhalten konnte und als Krückstock die Regenten benötigte. Da dieses so ist, folgert Lactanz, was anderes ist zu erwarten, als daß dem Greisenalter der Tod folgt ? Ihre eigenen Propheten verkünden Rom das Ende. Lactanz nennt die Sibyllinischen Orakel, von denen insbesondere das achte Buch aus der Zeit Marc Aurels den künftigen Untergang Roms in Feuer und Schwefel erzählt. Es sind keine heidnischen Texte, sondern Gedichte, die in den Kontext der christlichen Eschatologie und der jüdischen Apokalyptik gehören. In der Kaiserzeit konkurrieren pessimistische und optimistische Visionen und variieren das Thema Endzeit.
2. Ein Thema mit Variationen
Endzeiterwartung steht am Anfang des Christentums. Johannes der Täufer und Jesus von Nazareth glaubten das Ende des alten Aion nahe. Der Verweis Jesu bei Matthäus (24,15 ; 24,30 ; 26,64) auf die Danielprophetie zeigt, daß bereits damals das vierte und letzte Weltreich aktualisiert und auf das Imperium Romanum bezogen wurde. Flavius Josephus (Antiquitates X 10,4) bestätigt das aus jüdischer Sicht. Roms bevorstehender Untergang sollte das Werk des Messias sein, der wie ein riesiger Stein, von unsichtbaren Händen herabgerissen, alles zermalmt und, sich in einen Berg verwandelnd, die ganz Welt erfüllt (Daniel 2,35 u. 45). Die von Jesus in den Evangelien angekündigten Geburtswehen des neuen Aion werden in der Offenbarung des Johannes als kosmisches Szenarium ausgemalt und in der gleichzeitigen jüdischen Apokalyptik phantasievoll variiert. Die unter die neutestamentlichen Apokryphen aufgenommenen Schriften des syrischen Baruch, des Vierten Buchs Esra und der schon genannten Sibyllinen überbieten einander in geradezu barocker Bilderfülle für die angebrochene Endzeit. Die Topoi der senectus mundi, der ultima aetas und der plenitudo temporis bleiben Leitmotive des christlichen Geschichtsdenkens bei den spätantiken Kirchenvätern, bis zu Otto
Ein Thema mit Variationen
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von Freising, Joachim von Fiore und Engelbert von Admont zur Stauferzeit, ja bis zu Luther, Thomas Münzer und Bossuet. Biblische Endzeit- und Untergangsvisionen finden sich bei Mystikern wie Jacob Böhme und Quirinius Kuhlmann im 17. Jahrhundert, im Pietismus des 18. Jahrhundert bei Johann Albrecht Bengel 1740 und Friedrich Christoph Oetinger 1765. Sie erscheinen noch bei den Zeugen Jehovas unserer Tage. Doch darüber ist nicht zu spötteln, denn der Beschleunigung des Weltendes dient die zweite Bitte des Vater-Unser »Dein Reich komme«. Die Endzeitgefühle konterkarieren die immer daneben vorhandene optimistische Sicht, zumal die im 16. Jahrhundert aufkeimende Fortschrittsidee, und widerlegen die schon für die augusteische Zeit verfehlte Annahme von einem einheitlichen Zeitgefühl. Immerhin kann man von dominanten Strömungen, von Haupt- und Nebenwegen des Denkens sprechen. Denn mit dem Einsetzen der Aufklärung gewinnt der Optimismus den Vorrang, das lehrt schon die Lichtmetaphorik des Begriffs »Aufklärung«, enlightenment, les lumières. Die positive, auf Fortschritt gestimmte Sicht kulminierte im deutschen Idealismus mit der Geschichtsphilosophie Hegels, obschon auch bei ihm das Lebensaltergleichnis den Tod, die »Eule der Minerva« die Nacht ankündigt und vom »Untergang der reellen Welt« die Rede ist. Die pessimistische Unterströmung schon bei Rousseau blieb lebendig und kam mit dem Weltschmerz der Romantik wieder ans Licht. Die Melancholie der Ossianstimmung fand einen deutschen Stoff in dem 1782 zuerst ganz publizierten Nibelungenlied aus der Stauferzeit. Es besingt den tragischen Tod Siegfrieds und den heroischen Untergang der Burgunden am Hofe Etzels. 1802 hielt August Wilhelm Schlegel in Berlin vielbeachtete Vorlesungen darüber, 1827 erschien die Übersetzung durch Karl Simrock, und fortan galt das Gedicht als deutsches Nationalepos : das Hohe Lied auf eine Katastrophe. Das Untergangsmotiv begegnet uns im Biedermeier ebenso als Thema der Geschichtsphilosophie. 1829 publizierte der Marburger Staatswissenschaftler Karl Vollgraff in feierlichem Protest gegen die Aufklärung eine Kulturanthropologie, die sich gegen die Vorstellung einer ganzheitlichen Weltgeschichte wandte. Vollgraff glaubte, jedes Volk entfalte seinen individuellen Charakter in drei Stadien nach dem Muster des organischen Lebens. Auf Entwicklung, Blüte und Ableben folge Fäulnis (Zersetzung) oder Mumifizierung (Erstarrung). Kein anderer Vorläufer Spenglers kommt dessen morphologischem Konzept so nahe wie Vollgraff, der gleichwohl bei Spengler nicht genannt wird. Zeugnisse für eine kulturelle Abendstimmung, für Herbstgefühle und Untergangsvisionen wurden ubiquitär. 1849 verkündete Donoso Cortés in Madrid : »Die europäische Gesellschaft liegt im Sterben«. Die herannahende Katastrophe »werde alles übertreffen, was im Laufe der Geschichte über die Menschheit hereingebrochen ist«. Die Prognosen verdichten sich dann gegen Ende des 19. Jahrhun-
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derts zum fin de siècle. Es ist die Zeit der Décadence. Verlaine definierte sie als die »Kunst, in Schönheit zu sterben«. Die Zeitschrift ›Le Décadent‹ erschien in Paris seit 1886. In Deutschland findet sich Untergangsmystik bei Richard Wagner. Stimuliert durch die gescheiterte Revolution von 1848 glaubte Wagner an die erforderliche Zerstörung der bestehenden Weltordnung und sublimierte diese Idee in seiner 1876 uraufgeführten ›Götterdämmerung‹, in der alles ohne einen tröstlichen Ausblick zugrunde geht. Drei Jahre später, am 18. August 1879, notiert Cosima jedoch in ihrem Tagebuch : »Förmliches Gesicht einer Zerstörung alles Bestehenden, vom Wühlen rohester Gewalt, endliches Auftreten eines Wiederverkünders des Christentums.« Spengler verehrte Wagner, ein alljährlicher Besuch des ›Tristan‹ gehörte in sein Lebensprogramm. Wagner wurde durch Nietzsche zum Prototypen der Dekadenz erklärt. Aber auch der von Spengler hochgeschätzte Nietzsche selbst hatte den Untergang vor Augen. Seine Hoffnung auf eine Zukunft durch den Übermenschen steht quer zu der Katastrophe, auf welche die »ganze europäische Kultur« sich zubewegt, »unruhig, gewaltsam, überstürzt : einem Strom ähnlich, der ans Ende will«, so 1888 im ›Willen zur Macht‹ (Nr. 3). Jacob Burckhardt verglich 1890 die kommende Katastrophe mit einem Eisenbahnunglück. »Einmal werden der entsetzliche Kapitalismus von oben und das begehrliche Treiben von unten wie zwei Schnellzüge auf denselben Gleisen gegeneinander prallen«, so am 21. Dezember an Preen. Burckhardt sah sich wie einst der Asket Severinus bei Eugippius in der Völkerwanderung als Eremit, der in der Zeit des Kultursturzes die Kontinuität der Bildung wahrte. Ganz trostlos sind die Untergangspredigten selten, so auch nicht bei Spengler. Einen Silberstreif am Horizont bot ihm zeitweilig die vorsichtig formulierte Erwartung einer neuen Hochkultur im Osten nach dem Untergang des Abendlandes, so am 14. Juli 1915 und wieder am 12. Oktober 1916, unmittelbar vor der russischen Revolution, die er bereits 1915 als Folge der Niederlage im Felde vorausgesagt hatte. Daß Spengler auch den Marxismus in Rußland für vorübergehend erklärte, galt bis 1990 als seine markanteste Fehlprognose. Im Vorfeld des Ersten Weltkriegs sind es die Dichter und Literaten, die den Zusammenbruch wittern. In dem fiktiven Brief des Lord Chandos, des Herzogs von Buckingham, an Francis Bacon bei Hugo von Hofmannsthal aus dem Jahre 1902 beschreibt der Dichter das zeitbedingte Versagen seines sprachlichen Weltverständnisses und verweist auf das Untergangsszenario von Alba Longa bei Livius und auf das »brennende Karthago« bei Polybios, womit er Scipio zitierend das eigene Ende befürchtet. Das Unheil fasziniert und wird von Hofmannsthal durch Ästhetisierung verarbeitet, indem es als »göttlich« und als »vollste erhabene Gegenwart« apostrophiert wird.
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Die Schreckbilder zu Spenglers Zeit häuften sich. So in Hofmannsthals Drama ›Elektra‹ von 1903, bei Grauthoffs Zukunftsroman ›Neunzehnhundertsechs. Der Zusammenbruch der alten Welt‹, weiter in Alfred Kubins Roman ›Die andere Seite‹ von 1908, und in der Rede von Ludwig Klages auf dem Hohen Meißner 1913, wo er, das »Kriegsgespenst« vor Augen, den »Untergang der Seele« befürchtete, ein Opfer der dämonischen Technik. All diese Texte münden in die 1914 geschriebene Apokalypse ›Der Untergang der Erde am Geist‹ von Theodor Lessing. Bekannt wurde der Autor durch sein Buch ›Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen‹ (1919). Lessings radikale Zivilisations- und Fortschrittskritik prognostiziert ein Ende der Menschheit in den »ungeheuren Speichern des Todes« (24). Er schreibt : »Voraussehen läßt sich, daß die künftige Physik Energieauslösungen bewerkstelligen wird, welche das ganze Sein oder Nichtsein der Erde in die Hand des Menschen legen, voraussichtlich sogar in die Hand einiger weniger Einzelmenschen« (32). Der Prozeß der Kultur erscheint hier als ein Absturz in Raten, hinein in ein selbstgeschaufeltes Grab wie bei Goethe im Faust II. Während Klages noch an eine Umkehrmöglichkeit glaubte – er sprach zur Freideutschen Jugend – vertrat Lessing einen anthropologischen Untergangsfatalismus. Ihn verschärfte er nochmals 1921 in seinem Pamphlet ›Die verfluchte Kultur‹. Der Mensch ist nicht der Schöpfer der Kultur, sondern ihr Diener, ihr Sklave, ihr Opfer. Kategorisch heißt es : »Europa wird sich selbst verbrennen auf dem Aschenberge seiner großen Leistungen.« Die angenommenen Gründe für die Katastrophe unterscheiden sich beträchtlich, aber das Resultat ist immer dasselbe. So zuletzt, zeitgleich mit Spengler Hugo Ball, der Begründer des Dadaismus, in seiner Züricher Rede vom 7. April 1917 auf Kandinsky. »Eine tausendjährige Kultur bricht zusammen«. Er spricht von einer »in Trümmer gegangenen Welt«, übrig blieb die »Massenkultur der modernen Großstadt« in einem »zusammenbrechenden Jahrtausend«. Der Autor denkt weiter : »Ein tausendjähriger Augiasstall ist zu säubern.« Auslöser dieser Verzweiflung war der Erste Weltkrieg.
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Texte der genannten Art zeigen eine Gewitterstimmung, die sich 1914 entlud. In dieser Atmosphäre schrieb Spengler sein Buch. Mit der alliterierenden Pathosformel seines Titels variierte der Otto Seecks ›Geschichte des Untergangs der antiken Welt‹, die seit 1895 in den Schaufenstern der Buchläden lag, und damit traf er den Nerv der durch den verlorenen Ersten Weltkrieg erschütterten Generation. Spengler wußte sehr wohl, daß sein Buch »durch die Verkettung von Zufälligkeiten Mode« geworden war (RA. 63) und niemals annähernd das Echo gefunden hätte,
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wenn er statt der in der Tat »bestürzenden Aufschrift« sein Werk die ›Vollendung des Abendlandes‹ betitelt hätte. Der »eigentliche Sinn« des Begriffes wäre dadurch nicht verändert worden, schreibt er. Schon im zweiten Satz seines Werkes ist ja von »Vollendung« die Rede. Aber wenn Spengler unsere abgestorbene Kultur mit einem »verwitterten Baumriesen« verglich (UA. I 143), kann man das Vollendung nennen ? Der melancholische Grundton der Weltsicht Spenglers spricht schon aus Versen des Siebzehnjährigen, wo er ein »Leben ohne Fülle« beklagt und sich für »die Einsicht in ein hoffnungsloses Sein« bedankt (K. 44). Die ›Selbstgespräche‹ im Tagebuch Spenglers von 1913 bis 1919 sind ein einziges Lamento über sich selbst und seine »ekelerregende« Zeit. Spenglers apologetische Selbstinterpretation in dem Aufsatz ›Pessimismus‹ von 1921 beginnt mit in der Feststellung, es gebe Menschen, welche den »Untergang der Antike mit dem Untergang eines Ozeandampfers verwechseln«. Nichts lag näher als genau diese Verwechslung ; die Katastrophe der Titanic 1912 war noch keine zehn Jahre vorüber. Schließlich bezeugt die gesamte Tradition der Untergangsthematik in der Geschichte des historischen Denkens den pejorativen Sinn des Wortes »Untergang« und seiner Äquivalente wie Abschluß, Verfall, Ermüdung, Zusammenbruch, Ende, Greisentum, Altersschwäche und Tod, wie Erstarren, Absterben, Abwelken, Verflachen, Verdorren und Erlöschen. Ausdrücke, die auch Spengler alternativ gebraucht. Die dramatische Irritation durch das Wort »Untergang« hat der Autor bewußt in Kauf genommen. Sein nachgereichter Beschwichtigungsversuch hätte sich auf sanfte Formen des Untergangs berufen können. Zwar ist der destruktive Beigeschmack so gut wie immer vorgegeben, doch ist er bald stärker, bald schwächer ausgeprägt. Den Begriff »Untergang« relativierte und differenzierte bereits der Geograph Strabon unter Augustus. Strabon (IX 5,12) räsoniert einmal über das Verschwinden von Völkern, da eine große Anzahl älterer Völkernamen schon zu seiner Zeit nicht mehr in Gebrauch war. Zwei mögliche Formen unterscheidet er. Es ist zum einen die physische Vernichtung eines Volkes, in der Regel durch einen verlorenen Krieg, und zum andern eine Verwandlung, indem ein Volk seine politische oder kulturelle Zugehörigkeit ändert, seine Sprache oder seine Wohnsitze aufgibt und daher seinen Namen wechselt. In einem solchen, sehr viel häufigeren Fall betrifft der Untergang nicht ein Volk als biologische Gruppe, sondern nur eben ein Idiom, eine Religion oder einen Staat. Auf diese Weise verschwanden beispielsweise die Kanaaniter, die Phönizier und die Etrusker. Kaum wurde je ein Volk zur Gänze ausgerottet. So haben die Römer im Jahre 146 v. Chr. Karthago entvölkert und gründlich zerstört, aber Religion und Sprache lebten im Umland fort, und Caesar ließ die Stadt an Ort und Stelle unter dem alten Namen wieder aufbauen. In der Spätantike war Karthago nach Rom und Konstantinopel die drittgrößte
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Stadt im Reich. Kann man mit Bertolt Brecht sagen, Karthago sei 146 v. Chr. untergegangen ? 1951 warnte er mit dem Hinweis auf den dritten punischen Krieg vor einem dritten Weltkrieg, der, vom Weißen Haus in Washington ausgelöst, den Untergang des Westens bewirken würde. Caesar eroberte Gallien, aber auch hier blieben Sprache, Religion und die Mehrheit der Bevölkerung erhalten. Nur die Stämme als politische Einheiten gab es nicht mehr. Ihr anfänglicher Widerstand ging nicht um die Existenz, sondern um die Identität, die Individualität. Politik ist Kampf ums Sosein. Aus Stammesgebieten wurden Verwaltungseinheiten, aus Galliern Römer, aus Altem entstand Neues. Wo in der Geschichte von »Untergang« gesprochen wird, ist mithin sehr genau zu prüfen, was, wann und wieviel verschwunden ist. Denn unser Prägnanzbedürfnis verallgemeinert vorschnell und verabsolutiert ganz spontan den Gehalt eines Begriffs, zumal dann, wenn er so stark emotional gefärbt ist wie der Begriff »Untergang«. Spengler hat die Idee vom Untergang des Abendlandes erklärtermaßen der Rede vom »Untergang der Antike« nachgebildet. Daher ist zu fragen, was denn damals eigentlich untergegangen ist. Denn der Name »Antike« ist als Sammelbegriff für eine historische Epoche ein Produkt des 18. Jahrhunderts. Zuvor waren »Antiken« alte Gegenstände, Antiquitäten. Das »Ende der Antike« bezieht sich bei Seeck und der Geschichtswissenschaft sonst auf den politischen Zerfall des Imperium Romanum und den Rückgang der Zivilisation in der und durch die Völkerwanderung. Decline and Fall ist seit Edward Gibbon, ja schon vor ihm bei Machiavelli, Montesquieu und Voltaire als Menetekel für Europa verstanden worden. Dutzende von Autoren haben die Parallele gezogen, darunter namhafte Vertreter des historischen Materialismus, die im naturnotwendigen »Untergang der Sklavenhalterformation« das Memento mori ! für den Kapitalismus erblickten. Merkwürdigerweise hat Spengler die Hochkultur der Antike aber nicht in der Spätantike untergehen lassen, sondern bereits achthundert Jahre früher mit Alexander und der Zivilisation des Hellenismus und dann nochmals dreihundert Jahre später mit Augustus und dem Seesieg bei Actium am 2. September 31 v. Chr., als das Schiff der Kleopatra sich zur Flucht wandte und Antonius ihr folgte (UA. II 60). Eine solche Periodisierung befremdet. In den Augen konservativer Senatoren war damals die römische Republik untergegangen, beileibe nicht die antike Kultur, wie Spengler erklärt. Mit vollem Recht galt und gilt die augusteische Zeit, das saeculum Augustum (Sueton Aug. 100,3), als ein kultureller Höhepunkt der Weltgeschichte. Ein seltsamer Untergang ! Er wäre uns zu wünschen ! Wenn Spengler vom »Lebensüberdruß« unter Augustus spricht (MT. 82), so projiziert er seinen eigenen Daseinsekel in eine Zeit, von der er keine nähere Kenntnis besitzt. Wir haben Zeugnisse für eine geradezu euphorische Stimmung unter Augustus.
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4. Untergang heißt Übergang
Spengler rechtfertigt sein eigenwilliges Urteil, indem er mit dem Untergang der Kultur den Übergang in die Zivilisation verbindet. Mit dem Begriff »Zivilisation« kennzeichnet er nicht, wie sprachüblich, einen allzeit vorhandenen Sachkomplex menschlicher Tätigkeit, nämlich die Techniken, sondern so wie schon Vollgraff und vor allem Nietzsche chronologisch eine Entwicklungsphase, die momentane Spätzeit, die nicht mehr die »Einheit des künstlerischen Stils in allen Lebensbereichen«, also Kultur im Sinne Nietzsches besitzt. In der Zeit der Spenglerschen »Zivilisation« herrscht stilistische Beliebigkeit, der Stil der Stillosigkeit. Anything goes. Spätzeit, das heißt : Großstadt und Weltbürgertum, heißt Bürokratie und Vermassung, heißt panem et circenses, Gier nach Geld und Macht. Das ist in Spenglers Abendland wesentlich Herrschaft der Hochfinanz und Macht mittels Medien und Maschinen. 1914 prophezeite Spengler den Deutschen einen »vollkommen seelenlosen Amerikanismus«, materialistisch, militaristisch, animalisch wie im »Rom der ersten Kaiserzeit« (B. 29). Die immer wieder aus ihm herausbrechende Zeitkritik aber sucht er krampfhaft zu unterdrücken. Er will nicht moralisieren, da sich die Geschichte für ihn im großen und ganzen zwangsläufig vollzieht. Die Freiheit des Einzelnen besteht darin, das was an der Zeit ist, zu erkennen und zu ergreifen oder aber es zu verkennen und zu versäumen. Spenglers Zauberwort lautet »Schicksal«. Schicksal ist ein Wort für Verlierer. Der Eintritt in die zivilisatorische Endzeit muß laut Spengler von den Beteiligten nicht kulturnostalgisch beklagt werden, denn er entspricht ihrer veränderten Interessenlage. Sie führen den Niedergang zwar schicksalhaft, jedoch nicht unfreiwillig selbst herbei. Die Zivilisation ist gewollt, daher wird das Ende der Kultur hingenommen, ja nur von wenigen bemerkt und beklagt. Betroffenheit bei Lesern erweckt jedoch ihre irrige Gleichsetzung des gesetzmäßigen Untergangs der Kultur mit dem kontingenten Untergang der Zivilisation irgendwann später, ein Mißverständnis, das durch Spenglers zweideutige Verwendung der Wörter »Kultur« und »Abendland« ausgelöst wurde. Denn beide bezeichnen einerseits im engeren Sinne die nach tausend Jahren bereits abgeschlossene Hochkultur und umgreifen andererseits im weiteren Sinne zugleich die beliebig lange nachfolgende zivilisatorische Phase. Spengler verkündet mithin wie der Antike so dem Abendland ein doppeltes Finale. Der Untergang findet zweimal statt. Das erste Mal handelt es sich um die seit Napoleon akute Agonie der faustischen Hochkultur, das Erlöschen der künstlerischen Schöpferkraft. Dieser Untergang ist scholastischer Natur, weil er auf einem eingeengten Kulturbegriff beruht. Der Abstieg erfolgt in Stufen, merkwürdi-
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gerweise wie bei Alexander und Augustus auf militärisch-politischer Ebene : 1806 mit Napoleon, 1870 bei Sedan, 1911 in Agadir, 1914 bei Kriegsausbruch. Wieso tangieren politische Fehlentscheidungen eines einzelnen Staates, die man aus der Zeitung erfährt, den Niedergang einer ganzen Kultur ? Kulturverfall ist doch ein ästhetisches Phänomen, das nicht wissenschaftlich bewiesen, sondern allein intuitiv erschaut werden könne, sofern der Spenglersche »physiognomische« Tiefblick vorhanden ist. Wem der fehlt, der spürt diesen Untergang nicht. Das Ende der abendländischen Hochkultur liegt gemäß Spengler hinter uns, das Ende der Zivilisation aber steht uns noch bevor. Wir befinden uns wie die späten Römer in der »Zoologie« (UA. II 60) zwischen zwei Untergängen. Unsere eigene faustische Zivilisation unterscheidet sich allerdings von allen früheren durch ihren dynamischen, planetarischen Charakter. Anders als das normale postkulturelle Fellachentum und die angeblich geschichtslose römische Kaiserzeit haben wir doch noch Geschichte vor uns (UA. II 57). Sie ist gekennzeichnet durch drei von Spengler klar gesehene, im Gang befindliche Prozesse, erstens einen politisch-militärischen, zweitens einen technisch-industriellen und drittens einen demographisch-ökonomischen. Den ersten, politisch-militärischen Aspekt akzentuiert Spengler durch die Gleichsetzung der Zivilisationsphase mit Imperialismus und Cäsarismus. 1921 prophezeite er den Deutschen – vergeblich ! – einen neuen Caesar, 1933 schrieb er : »wir stehen vielleicht dicht vor dem Zweiten Weltkrieg.« Der Sieger werde »Herr der Welt«. Hier wiederholt er Nietzsche, der schon 1886 in ›Jenseits von Gut und Böse‹ (Nr. 208) verkündet hatte, das nächste Jahrhundert bringe den »Kampf um die Erdherrschaft«. Das trat bekanntlich ein, doch Amerika als möglichen Sieger nahm Spengler nicht in Betracht. Spenglers Paradigma war die römische Kaiserzeit. Er sprach von den »immer negerhafteren Kämpfen« um die Macht (UA. II 61), bei denen es historisch gleichgültig gewesen sei, wer siegte. Hinsichtlich des gegenwärtigen, fortdauernden Imperialismus aber müsse und werde Deutschland sich ruhmreich behaupten. Unsere eigenen künftigen Kriege sind dann allerdings nicht mehr »negerhaft«, sondern heroisch. Spengler träumte 1915 von einem Imperium Germanicum nach römischem Muster (B. 44) und 1931von einem glanzvollen Abgang der Deutschen von der Weltenbühne, ähnlich dem frühen Tod des Helden Achilleus in der griechischen Sage (MT. 88). Eine Kriegsschuldfrage stellte sich für Spengler als Anhänger Herklits nicht, »Kampf ist der Vater aller Dinge.« Schuldhaft erschien ihm lediglich mangelnde Wehrbereitschaft. Das tadelt Spengler. Er predigte Willen zur Macht, war persönlich jedoch nicht kriegsverwendungsfähig – außer für die Schreibstube, so am 14. Februar 1917 (B. 67). Der zweite Aspekt der Zivilisation neben dem politisch-militärischen, der technisch-industrielle ist mit dem ersten eng verzahnt. Denn der faustische Imperialis-
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mus wird getragen von der Industrietechnik der modernen Waffen. Als Lebenshilfe im weiten Sinne ist die Technik ein Machtmittel, das sich entwickelt hat, sich weiter entwickelt und, wie er anmerkt, seinen Höhepunkt noch vor sich hat. Hier akzeptiert Spengler den sonst von ihm bestrittenen Fortschritt. Der Pferdefuß allerdings ist die dämonische Seite der Technik. Die Maschinen werden »bedient«, sie beherrschen, ja versklaven den Menschen. Der Ingenieur ist »ein Priester der Maschine«, der »Glaube an die Technik« ist eine »materialistische Religion« (UA. II 628). Sie aber führt zur »seelischen Verödung«, zur Dekadenz und wird mit dem Absterben der faustischen Zivilisation überall auslaufen. Und dies geschehe, noch bevor die Umwelt völlig ruiniert, die Energiequellen gänzlich ausgeschöpft sind. »Eine Müdigkeit verbreitet sich«. Der bevorstehende Untergang der abendländischen Zivilisation zeigt sich für Spengler bereits jetzt auf dem dritten Gebiet, in dem laufenden demographischökonomischen Prozeß. Ihn thematisierte er 1927 in seinem Vorwort zu dem Buch von Richard Korherr über den Geburtenrückgang und 1931 in seiner Schrift ›Der Mensch und die Technik‹. Hier geht es zum einen um den schon 1911 in der Berliner Mittwochsgesellschaft (Besier Nr. 615) als gefährlich empfundenen Nachwuchsmangel alias Rassenselbstmord, der ebenso im späten Rom feststellbar ist und neuerdings, nach der rasanten Bevölkerungsvermehrung des 19. Jahrhunderts angeblich nicht nur Deutschland bedroht – auch Spengler selbst war unverheiratet und kinderlos. Zum anderen geht es um das für Europa verhängnisvolle demographische und ökonomische Potential der Dritten Welt. Spenglers Furcht vor der »farbigen Revolution« wurzelt einerseits im vermeintlich grassierenden Pazifismus der weißen Rasse, die eines Tages von den Farbigen entmachtet werden könnte so wie Rom einst von den Germanen, andererseits in der steigenden Wirtschaftskraft der Entwicklungsländer. 1931 verweist er auf die wachsenden Industriegebiete in Ostasien, zumal in Japan, aber auch in Indien, Südamerika und Südafrika, wo nach europäischen Methoden, aber mit niedrigeren Löhnen eine für das Abendland »tödliche Konkurrenz« entsteht. Der wirtschaftliche Wettbewerb dient seiner Meinung nach nicht einem wachsenden Wohlstand aller Partner, sondern erscheint als ein verhüllter, aber gnadenloser Kampf auf Leben und Tod. Das sah schon Karl Marx in seiner Kapitalismuskritik nicht viel anders. Dem Europäer gibt Spengler keine Chance. Der »gewohnte Luxus des weißen Arbeiters«, heißt es, werde ihm zum Verhängnis. »Das Schwergewicht der Produktion verlagert sich unaufhaltsam« in die Dritte Welt. Die daraus folgende Arbeitslosigkeit bei uns sei keine Krise, »sondern der Beginn einer Katastrophe«.
Der zweite Untergang
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5. Der zweite Untergang
Damit sieht sich Spengler vor einem Untergang, der nun nicht mehr rein kulturell, d. h. akademisch, sondern handfest ökonomisch und politisch ist. Das von uns bereits erreichte Ende der Hochkultur ist nur in der Wesensschau erkennbar, aber der noch bevorstehende Zusammenbruch der Zivilisation manifestiert sich nüchtern in Zahlen der Wirtschaft und der Bevölkerung. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn Deutschland durch den »Sieg des Blutes« die von Spengler erträumte Weltherrschaft erreicht haben würde. Die erwartete Katastrophe besteht nicht im Untergang der Bevölkerung, denn diese lebt, wenn auch vermindert, weiter. Vielmehr gleiten wir hinüber in den vierten Aggregatszustand nach der Urzeit, der Hochkultur und der Zivilisation, ins Fellachentum, in die Barbarei, in die Primitivität der Naturvölker, die auf tiefem technischem Niveau pflanzenhaft und ohne Ziel dahinvegetieren. Das Leben wird wieder so, wie es vor dem Aufstieg in die Hochkultur, also in der Vorkultur der Urvölker aussah. Der Unterschied ist nur, daß Urvölker beweglich und kriegerisch sind, sie machen Beute, während Fellachenvölker seßhaft und friedfertig sind, sie werden zur Beute. Die Städte schrumpfen und veröden, man lebt wieder ländlich, so, wie nach dem Untergang des Imperiums auf dem Forum Romanum, einst pulsierender Mittelpunkt einer Welt, die Kühe weideten. Das Forum hieß im Mittelalter Campo Vacchino ; das Kapitol, ehedem Kultzentrum des Orbis terrarum, war der Monte Caprario, der Ziegenberg. Das Dasein von Fellachen, Hottentotten und Barbaren ist nicht ereignislos, aber geschichtslos, weil die Ereignisse nicht mehr Stufen einer Entwicklung, nicht mehr Ausdruck einer Kulturseele »höheren Menschentums« sind (UA. I 83) und folglich keinen Symbolwert mehr besitzen. Das gilt für die zivilisatorische Nachkultur wie für die barbarische Vorkultur. »Der primitive Mensch hat Geschichte nur im biologischen Sinne«. Ihm geht es nur noch um sein mehr oder weniger animalisches Wohlbefinden. Für Spengler ist das »Zoologie«. Der Untergang eines Germanenstammes, wie ihn Tacitus (Annalen XIII 56) von den Brukterern beschreibt, war für Spengler ebenso belanglos wie der Untergang eines Ameisenvolkes (UA. II 57 ff.). Als Künder einer Katastrophe reiht Spengler sich ein in die altehrwürdige Tradition der Unheilspropheten, die ja nur selten, so wie Jonas, Unrecht behielten. Anders als jene argumentiert Spengler tendenziell rational, aber ebenso kategorisch wie jene, denn als bekennender Fatalist glaubt er, das Schicksal, inexorabile fatum bei Vergil lasse sich nicht abwenden, sondern nur entweder mit offenen Augen vollziehen oder mit geschlossenen Augen erdulden. Spengler fühlt sich »wie unter Leuten, die ihre eigenen Augen verbunden haben, um den Einsturz des Hauses nicht zu sehen«. Die Antike, so meint er, sei gestorben, ohne es zu bemerken. Aber »wir werden mit Bewußtsein sterben und alle Stadien der Auflösung mit dem Scharfblick des erfahrenen
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Arztes verfolgen«. Das Leben sei ein ewiger Kampf, desgleichen die Geschichte. Es geht mitnichten um Krieg oder Frieden, sondern allein um Sieg oder Niederlage ; man ist Hammer oder Amboß. Pazifismus ist für Spengler Altersschwäche. Oder geht es nicht vielmehr um den Kampf als Selbstzweck ? Materia virtutis im antiken Sinne ? Wenn Optimismus Feigheit ist, wie er behauptet, dann gilt das gewiß nicht für die Siegesgewißheit des Angreifers, sondern nur für den Schwächeren, der die Niederlage vor Augen hat, dann deutet dies auf den Willen zum Untergang. Das Libretto auf Spenglers Welttheater steht ein für alle Mal fest. Die Rollenverteilung hingegen erweist sich erst. Man würde sehen, so schrieb er 1933, wer die Würfel Caesars ergreift (JE. 165). Weltpolitik ist ein Glücksspiel. Dabei ist es letztlich unvorhersehbar und belanglos, wer gewinnt. Es kommt nicht auf den Erfolg an, sondern auf die Haltung. Zu den Pflichten der deutschen Jugend gehört die Bereitschaft, sich als »Material für große Führer« aufzuopfern (PS. 155), tapfer in den Tod zu gehen – so fordert Spengler zehn Jahre nach Langemarck. Er mußte den Ort nicht nennen. Spengler verortet sich noch nicht, wie wir heute, im postheroischen Zeitalter. Spenglers oft zitiertes Vorbild ist jener standhaft pflichtbewußte römische Wachposten, der am 25. August 79 n. Chr. vor dem Tor von Pompeji sehenden Auges auf verlorenem Posten ausgeharrt hat, bis er im Aschenregen des Vesuvs erstickt ist. Er hielt durch, weil man vergessen hatte, ihn abzulösen. Das, ja das imponierte Spengler (MT. 89). Nur hat es jenen Soldaten nie gegeben. Spengler war kein Archäologe. Sein Kronzeuge für eine heroische Lebensauffassung ist eine Romanfigur im Stil von Bulwer-Lytton 1834. Gegeben hat es freilich Langemarck. Die stürmisch angreifenden Kriegsfreiwilligen des 26. Reservekorps der 6. Armee haben sich dort am 10. November 1914 allerdings nicht mit dem »Deutschlandlied auf den Lippen« zusammenschießen lassen, »wie das Gesetz es befahl«, sondern haben unter hohen Verlusten die englischen Stellungen genommen. Sie kämpften als Optimisten, nicht als Feiglinge. Und auch Leonidas fiel 480 v. Chr. in den Thermopylen nicht, »wie das Gesetz es befahl«. Das meinte der Dichter Simonides. Die Spartaner versuchten vielmehr, den persischen Vorstoß aufzuhalten, um den Rückzug der griechischen Flotte durch den Golf von Euböa zu decken. Es ging um Zeitgewinn. Heroismus kulminiert nicht in einem Pflichtbewußtsein um seiner selbst willen. Der Einsatz des Lebens muß eine wenn auch noch so geringe Aussicht auf Erfolg haben. Spengler war kein Althistoriker, sonst hätte er ein anderes, wohlbezeugtes Opfer des Vesuvausbruchs gewählt : den älteren Plinius. Als Flottenkommandant in Misenum ließ er sich vom Aschenregen des speienden Vulkans nicht abhalten, an den Fuß des Vesuvs zu rudern, um die dortigen Bewohner zu retten. Dies gelang. Er selbst aber ist dort an den Schwefeldämpfen erstickt.
Nun kommt das Ende über dich, denn ich will meinen Grimm über dich senden. Hesekiel
V. Endzeit-Prophetien
In seinem zweiten Marburger Semester, am 12. August 1802, schreibt Jakob Grimm an seinen Herzensfreund Paul Wigand in Kassel : »Ich hoffe, daß Sie mir in dieser Welt noch einige Mal schreiben, denn sehen werden wir uns wohl in ihr nicht mehr ; alle hiesigen orthodoxen alten Weiber glauben steif und fest, daß den 13. September die Welt unterginge, und wer wollte so gottlos seyn und widersprechen ?« Am Tage danach, am 14. September, meldete Grimm dann, »daß leider die Welt noch steht. Ich hatte mich schon darauf zurecht gemacht, Papier, Dinte und Federn beigesteckt, um in der neuen Welt nicht ganz müßig zu sitzen, und nun muß ich alles wieder auspacken. O Jammer … ich hatte mich schon so gefreut auf die Reise nach dem Himmel.« Endzeitängste, zuletzt entfacht durch einen esoterischen Interpreten des MayaKalenders für den 21. Dezember 2012, sind eine Kulturkonstante. So lange Menschen über Geschichte geschrieben haben, so lange haben sie auch über das Ende der Geschichte reflektiert. Seit frühesten Zeiten gibt es Zeugnisse dafür, daß man sich am Ende der Geschichte glaubte. Die Vorstellung herrschte, daß die Dinge sich schneller veränderten als je zuvor, daß die Lebensumstände sich verschlechterten, so daß mit dem Ende aller Dinge zu rechnen sei, oder soweit verschlechtert hätten, daß ein neuer Anfang kommen müsse. Der Glaube an eine Wende und die Furcht vor dem Ende erwachsen aus einer angespannten Gefühlslage : dort aus Hoffnung, hier aus Verzweiflung. Sie finden Ausdruck in religiösen wie in säkularen Darstellungsformen.1 Die dominante Endzeitvision des 20. Jahrhunderts war Spenglers ›Untergang des Abendlandes‹. Sie steht in einer langen Tradition.
1. Finalismus
Das früheste Zeugnis für eine pessimistische Gegenwartsdiagnose finden wir in den Mahnworten eines ägyptischen Weisen namens Ipuver, überliefert auf einem Papyrus des zweiten Jahrtausends v. Chr.: »So ist es : Räuber sind reich geworden, 1 Demandt 1993.
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alles ist zur Plünderung freigegeben ; die Wüste wächst, und das Land dreht sich wie eine Töpferscheibe.« Nichts steht mehr fest. Klagen über die Zeit in der griechischen Tradition sodann äußert Hesiod um 700 v. Chr. Ihm verdanken wir den locus classicus für die absteigenden Altersphasen der Menschheit, beginnend mit dem Goldenen Zeitalter, genauer : mit dem Goldenen Geschlecht. Ihm folgte das Silberne Zeitalter, bis Zeus auch dies beendete und das Eherne Zeitalter heraufführte, das mit dem Heroischen Zeitalter des Trojanischen Krieges verbunden ist. Hesiod nun befindet sich im letzten, im Eisernen Zeitalter, in dem Gesetz und Recht der Gewalt gewichen sind.2 Hesiod war ein Dichter, kein Historiker. Die griechischen Geschichtsschreiber wie Herodot und Thukydides machen keinen Gebrauch von der Idee des Eisernen Zeitalters. Dennoch glauben beide, den Höhepunkt einer Entwicklung erreicht zu haben, den größten aller Kriege. Das war für Herodot der Perserkrieg, für Thuky dides der Peloponnesische Krieg. Thukydides begründet sein Urteil mit einer Fortschrittstheorie. Er weiß von einer technischen Entwicklung, wodurch die Waffen immer wirksamer, die Kriege immer größer und verderblicher geworden seien. Insofern ist sein Bild von der Zukunft pessimistisch. Das Geschichtsverständnis änderte sich mit dem Aufstieg Roms, wie Polybios ihn nach dem Hannibalkrieg darstellt. Er hatte selbst gegen die Römer gekämpft, war aber als Geisel in Rom von den Scipionen aufgenommen worden und erlebte im Umgang mit ihnen eine politische Bekehrung. Er erkannte Roms Leistung in der Vereinigung der gesamten Mittelmeerwelt zu einem organischen Ganzen (I 3,3 f.), dessen Gedeihen in Frieden bevorstand. Das Imperium Romanum war für ihn die letzte Stufe der Geschichte. Der Optimismus des Polybios zeigt indessen keine eschatologischen Züge. Ein Zustand endlosen Glücks in der Zukunft widerspräche der für einen Griechen selbstverständlichen Überzeugung, daß alles fließt, daß allein dem Wandel Dauer zukommt. Polybios hat Roms Schicksal zutreffend vorausgesagt : »Überall, wo Freiheit und Macht lange zugleich bestehen, werden die Menschen nach dem Gesetz der Natur der herrschenden Verhältnisse überdrüssig. Sie suchen sich einen Herrn, der die Lage ändert, und wundern sich dann, welch schlechten Tausch sie gemacht haben« (VIII 24,1). Kündet diese Regel nicht die römische Kaiserherrschaft ? Von einem Glauben an Roms Ewigkeit war Polybios ebensoweit entfernt wie sein Gönner Scipio. Als er Karthago zerstört hatte, trat ihm der Untergang Trojas vor Augen (XXXVIII 22), und er zitierte Homer : »Einst wird kommen der Tag, da die heilige Ilios hinsinkt« (Ilias VI 448 f.). Dabei dachte er an das Ende Roms in der Zukunft. 2 Hesiod, Werke und Tage I 109 ff.
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Roms außenpolitische Erfolge endeten im innenpolitischen Kampf der Prokonsuln um die Macht. In den letzten Jahren der Republik mehren sich die Stimmen der Verzweiflung. Macht hatte zu Geldgier und Luxus geführt, dieser, so glaubte man, begünstige ein Lasterleben, und der Sittenverfall müsse den Zusammenbruch des Staates bewirken. Lucrez (V 95 f.; 238 ff.) sah dem Untergang der Welt entgegen, denn sie sei sterblich. Sallust richtete in offenen Briefen Rettungsrufe an Caesar, der die Macht des Geldes bändigen solle. Horaz (Epode 16) sprach von einem Fluch auf Rom, begründet in dem Brudermord des Romulus an Remus. Die Römer mögen, so rät er ihnen, ihre unselige Stadt verlassen und sich auf den Inseln der Seligen im Atlantischen Ozean eine neue Heimat suchen. In der gleichen Atmosphäre erwuchs jedoch eine große Hoffnung. Man erwartete einen göttlichen Retter, wie Vergil ihn in seiner vierten Ekloge aus dem Jahre 40 v. Chr. ankündigt. Er sollte nach der ultima aetas der Gegenwart das Goldene Zeitalter für Rom, ja für die Welt zurückbringen. Die Erwartungen richteten sich auf Augustus, dessen Herrschaftsantritt in Kleinasien als evangelion begrüßt, in Rom als reparatio felicium temporum gefeiert wurde.3 Die Erwartungen erfüllten sich. Das Reich hatte seine Wachstumsgrenzen erreicht, die letztgültige Staatsform gefunden. Die Pax Romana sicherte Frieden und Wohlstand, den Sklaven winkte die Freilassung, die Provinzialen erhielten das Bürgerrecht. Die Geschichte schien am Ende. Zu erwarten war eine fortschreitende Zivilisierung und Urbanisierung. Die Historiographie verwandelte sich in eine Folge von Kaiserbiographien.
2. Dein Reich komme
Ungelöst blieben zwei Probleme : Christen innerhalb und Barbaren außerhalb des Reiches. Die Rolle des Christentums ist widersprüchlich, weil viele Juden und alle Christen die römische Auffassung von der mit Augustus angebrochenen neuen Zeit teilten und das Römische Reich als die letzte Weltordnung betrachteten. Juden und Christen sahen jedoch nicht in Augustus, sondern im Messias den Retter. Dies war für die Christen Jesus von Nazareth, der den neuen Aion bringen sollte. Die Predigt Johannes des Täufers, das Himmelreich sei nahe herbeigekommen, war auch die Botschaft Jesu. Als ihn die Jünger um ein Gebet ersuchten, wie es Johannes seine Jünger gelehrt hatte, gab er ihnen das Vater Unser mit der zweiten Bitte »Dein Reich komme«.4 Dieser Wunsch verwandelte sich nach Jesu Tod in die Hoffnung auf seine baldige Wiederkehr. Der Erfolg der Jesus-Religion ist nicht 3 Demandt 2001. 4 Lukas 11,1 f.
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zu verstehen ohne die Propheten des Alten Testaments, die nach dem Niedergang des Königreiches Davids darauf gehofft hatten, daß Gott seinen Gesalbten senden werde, der nicht nur Israel wieder aufrichten, sondern darüber hinaus den Frieden des Paradieses wiederherstellen würde, in dem die Wölfe bei den Lämmern liegen und die Schwerter zu Pflugscharen umgeschmiedet werden. Jesaja erblickte im Perserkönig Kyros den Messias.5 Wie immer : zu früh. Erwartung und Enttäuschung wiederholen sich seitdem periodisch. Die Messiasgestalten der Juden entfachten Strohfeuer, denken wir an Sabbatai Zewi aus dem griechisch-türkischen Smyrna, der für 1666 die Erlösung verkündete, oder an Jakob Frank, der bis 1791 in Offenbach als Messiaskönig hofhielt. Stendhal notierte am 9. Januar 1817, ein gewisser Rosenfeld habe 1760 gepredigt, er sei der Messias, Friedrich der Große der Satan und Christus ein falscher Prophet. Rosenfeld heiratete sieben Frauen, mit denen er die sieben Siegel der Johannes-Apokalypse lösen wollte, landete aber nach zehn Jahren als Betrüger im Gefängnis. Der klassische Text der jüdischen Endzeiterwartung ist das Buch Daniel. Während des Makkabäeraufstandes verkündete der unbekannte Autor das Erscheinen des Heilands, der den »Koloß auf tönernen Füßen« zerschmettern, das heißt die Abfolge der vier Weltreiche beenden und die Herrschaft Gottes bringen sollte. Nachdem das ausblieb, hat Jesus diese Prophezeiung aufgenommen und wiederum in die Zukunft verschoben,6 wo sie bis heute verblieb. Messiaserwartungen liegen den beiden großen Kriegen der Juden gegen die Römer zugrunde, die Tausende von Toten forderten. Sowohl der Retterkönig Menahem 66 n. Chr. als auch der »Sohn des Sterns« Bar Kochba 135 n. Chr. galten als Nachkommen Davids. Die Endzeitprophetien der Juden haben sich in mehreren Texten niedergeschlagen. Unter den Qumran-Rollen ist es das ›Buch des Kampfes der Söhne des Lichtes gegen die Söhne der Finsternis‹. Das Licht kommt aus dem Osten, die Finsterlinge wohnen im Westen, in Rom. Der Endkampf hat die mythische Länge von 40 Jahren. Die Juden, Heiden und Engel besiegen die Trabanten des Teufels, während die Priester die Schlacht mit Trompetensignalen leiten. Am Ende steht die ewige Erlösung der Frommen. Ähnliche Visionen enthalten unter den Apokryphen zum Alten Testament das vierte Buch Esra und der syrische Baruch, unter den jüdisch-griechischen Sibyllinischen Orakeln aus Alexandria das achte Buch mit der Ankündigung, wenn der Phönix zum fünften Male erscheine, zöge ein messianischer König von Osten nach Rom und vernichte Stadt und Rech : »Und ein heiliger Herr wird den ganzen Erd-
5 Jesaja 2,4 ; 11,6, 44,28. 6 Matthäus 24,15.
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kreis regieren / dann auf ewige Zeit, nachdem er die Toten erweckt hat.«7 Weniger tröstlich sind die Prophezeiungen des nahen Weltuntergangs, die in der Kaiserzeit von Wanderpredigern in Rom und in den Provinzen verkündet wurden.8 Gegen derartige Unruhestifter mußten Gesetze erlassen werden.9 Geteilte Gefühle begleiten die Endzeiterwartungen der Urchristen. Grundlage war die Ölbergpredigt Jesu,10 abgewandelt und ausgestaltet in der Johannes-Apokalypse. Die Zeit bis zum Gericht blieb der Mission vorbehalten ; sobald diese alle Menschen erreicht haben würde, genauer : sobald die vorausbestimmte Zahl der 144 000 Heiligen, denen das Himmelreich beschieden sei, voll wäre, käme das Weltgericht. Dies glaubte auch Augustinus. Die Geschichte gehe weiter, ut numerus omnium nostrum usque in finem possit impleri – damit die Zahl aller Unsrigen bis zum Ende erfüllet würde.11 In der Zeit Augustins, als die Germanen ins Reich eingebrochen waren und Rom erobert hatten, erklärte Orosius (VII 39,1 ff.), die Goten hätten dort den heilsnotwendigen Katholizismus gesucht und gefunden. In grandiosen Untergangsvisionen schwelgte der heidnische ›Asklepios‹ des Pseudo-Apuleius.12 Der aus dem spätantiken Alexandria stammende Text macht den Abfall vom Götterglauben, das heißt die Christen, für das Ende verantwortlich. Kirchenväter wie Ambrosius von Mailand (ep. 19) wiederum sahen in den Germanen wo nicht die Schuldigen, so doch die Vollstrecker. Das apokalyptische Barbarenvolk Gog wird mit den Goten gleichgesetzt, die Wehen der Endzeit vollziehen sich in der Völkerwanderung. Die Verbreitung der Endzeiterwartung im Orient zeigt sich ebenfalls in der Frühgeschichte des Islam. Der Inhalt der ersten Predigt Mohammeds nach der Berufung zum Propheten durch den aus dem Buch Daniel bekannten Engel Gabriel war eine Warnung vor dem nahen Gottesgericht. Er selbst wurde von seinen Anhängern in Medina mit dem von den dortigen Juden erwarteten Endzeit-Messias identifiziert. Nach der Lehre des Islam ertönt vor dem Ende vom Jerusalemer Tempelberg aus die Posaune des Engels Israfil.13 In späterer Zeit wurde als Bote des Endes die Figur des Mahdi entwickelt, die immer wieder zu Unruhen in der islamischem Welt geführt hat. Während des gesamten Mittelalters kehren derartige Endzeitängste wieder.14 Eine große Zahl apokalyptischer Schriften, meist Aktualisierungen von Daniel, er 7 Sibyllinische Orakel, VIII 169 f. 8 Scriptores Historiae Augustae, Marcus 13 ; Kelsos bei Origenes, Contra Celsum 7,9. 9 Digesten III 19,30 ; Paulus, Sententiae V 21,1. 10 Matthäus 24, 3 ff. 11 Augustinus, Enarratio in Psalmos 34,29. 12 Hermetica, ed. W. Scott I 1924, III 25, 342 ff. 13 Koran 39,68 ; Al-Qazwini, Die Wunder des Himmels und der Erde (um 1280), 1986, 67. 14 W. Verbeke (ed.), The Use and Abuse of Eschatology in the Middle Ages, 1988.
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schien in Byzanz. Jegliche Krise stimulierte Endzeitprophetien, ob Seuche, Hunger oder Krieg.15 Ähnlich im Westen. Agnellus, der Bischof von Ravenna im 9. Jahrhundert, verfaßte eine lange Lamentatio zum Thema prope est finis, das Ende ist nahe, prope est terminus et destructio mundi, die Welt wird zerstört. Vae vobis miseris, Herr errette uns !«16 Otto von Freising widmete um 1150 das ganze achte Buch seiner Chronik dem Weltende. Es wird minutiös beschrieben. Um 1300 griff Engelbert von Admont das Thema auf, sein Buch ›De ortu et fine Romani Imperii‹ erschien 1553 im Druck. Der Herausgeber, Gaspar Bruschius, bestätigte, daß die Welt in den letzten Zügen liege, und berechnete das Ende für das Jahr 1588. Neben diesen pessimistischen Endzeiterwartungen finden sich indessen auch optimistische Stimmen. Die Johannes Apokalypse (20,1 ff.) verhieß vor dem Jüngsten Gericht ein Zwischenspiel, das Tausendjährige Reich irdischen Wohlergehens. Diese Idee wurde von Augustinus (CD. XX 7) aus asketischer Gesinnung abgelehnt, doch war der Wunsch nach einer irdischen Endzeit auch unter Christen nicht zu unterdrücken. Diese Hoffnung inspirierte Joachim von Floris um 1200 zur seiner Prophezeiung eines Dritten Reiches : Nach der Zeit des Vaters und der des Sohnes käme die des Heiligen Geistes. Die Hoffnung der Millenaristen aber zerschlug sich, wie so viele. Die Mission kam nicht zum Ende, der Paraklet erschien nicht, und so verbreitete sich auf dem linken Flügel der Reformation die Auffassung, daß man die neue Zeit nicht abwarten, sondern herbeiführen müsse. Als humanistisches Curiosum wirkt ein Satz bei Enea Silvio Piccolomini. Nach seiner Papstwahl schrieb er als Pius II 1461 an Mohammed II, der gerade Konstantinopel erobert hatte, er möge Christ werden, und wenn das geschehen sei, kehrte das Goldene Zeitalter wieder, das des Augustus.17
3. Irdische Zukunftserwartung
Das Bestreben, den Übergang in die Endzeit gewaltsam zu beschleunigen, finden wir bei den Hussiten, den Wiedertäufern und ähnlich bei den Puritanern in Neu-England. Die religiöse Verheißung einer Zukunft im Himmel verwandelte sich in die säkulare Bemühung, die irdischen Lebensbedingungen zu verbessern. Enthusiastische Erwartungen entfachte die Französische Revolution, zumal bei Condorcet.18 Die deutschen Theoretiker des Fortschritts, unter ihnen Lessing und 15 W. Brandes, Die apokalyptische Literatur. In : Quellen zur Geschichte des frühen Byzanz, 1990, 305 ff. 16 Agnellus, MGH. Scriptores rerum Langobardorum I, 325. 17 Gregorovius, Rom VII 195. 18 Loewenstein 2009, 185 ff.
Irdische Zukunftserwartung
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Herder, stehen noch ganz im Banne der christlichen Denktradition. Sie vertrauten auf die göttliche Lenkung der menschlichen Geschicke, erwarteten jedoch kein plötzlich hereinbrechendes Himmelreich, sondern einen stetigen Fortschritt zur Vernunft und zur Humanität auf Erden. So schrieb Hölderlin im Spätsommer 1793 aus Tübingen an seinen Bruder : »Wir leben in einer Zeitperiode, wo alles hinarbeitet auf bessere Tage.« Aufklärung und Bildung des Menschengeschlechts seien seine »seligste Hoffnung«. Freiheit und Tugend würden das »Geschlecht der kommenden Jahrhunderte« beglücken. Ihnen galt die ganze Liebe des Dichters. Hölderlin hatte Kant gelesen. In seiner ›Beantwortung der Frage : Was ist Aufklärung ?‹ stellte Kant 1784 fest : »Wenn denn nun gefragt wird : Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter ? So ist die Antwort : nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.« Ob dieses Zeitalter in einen Zustand der Vernunft führen würde, ließ Kant offen, er war aber fest davon überzeugt, daß der Progreß nicht unterbrochen würde. In der allgemeinen Begeisterung für die Ideale der Französischen Revolution und der gesamteuropäischen Anteilnahme an deren Verlauf offenbarte sich für ihn ein Wille zur Besserung, der früher oder später Erfolg haben müsse, so 1797 im ›Streit der Fakultäten‹. 1795 hatte er einen ›philosophischen Entwurf zum ewigen Frieden‹ publiziert, eine Idee und eine Aufgabe, die »nach und nach aufgelöst, ihrem Ziele … beständig näher kommt«. Weniger Geduld mit der Endzeit hatte Hegel. Er glaubte, die Aufklärung habe ihr Werk getan. Im preußisch-protestantischen Staat seiner Zeit wähnte er die Freiheit und damit die Geschichte vollendet. So lesen wir in seiner Geschichtsphilosophie von 1831 : »Mit diesem formell absoluten Prinzip (der Freiheit) kommen wir an das Letzte Stadium der Geschichte, an unsere Welt, an unsere Tage.« Sein Bild von der Eule der Minerva zeigt, daß der Tag vorüber ist, blendet freilich aus, daß jetzt die Nacht zu erwarten wäre. Jedenfalls meint er, zu tun sein nun nichts mehr, die Stunde des Philosophierens habe geschlagen. Der Glaube an das nahe Zeitenende, wie es schon in der Französischen Revolution auftaucht, begegnet uns wieder bei den Frühsozialisten, bei Saint-Simon 1814, der sich am Beginn eines Goldenen Zeitalters wähnte, und bei Auguste Comte, der nach einem ersten Zeitalter der Religion und einem zweiten der Metaphysik ein drittes, letztes Zeitalter der positiven Wissenschaft ausrief. Sowohl Saint-Simon als auch Comte benutzten christliche Endzeitmotive in verweltlichter Form.19 Dies gilt ebenso für die einflußreichste Endzeitprophezeiung des 19. Jahrhunderts, die von Marx und Engels.20 Sie wähnten sich dreimal : 1848, 1852 und 1871 vor der Weltrevolution, die über die Diktatur des Proletariats in die klassenlose Gesellschaft 19 Demandt 2011, 155 ff. 20 Demandt 2011, 227 ff.
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hinüberführen und das Glück des Urkommunismus auf höherer Stufe erneuern würde. Hier haben wir das Modell der Heilsgeschichte, vom Kopf auf die Füße gestellt, wie Marx seine Umsetzung der Philosophie Hegels kennzeichnete. Dem Paradieseszustand entspricht die klassenlose Urgesellschaft. Sie sendet mit dem von Engels so genannten »Sündenfall« der Arbeitsteilung. Die sich anschließende eigentliche Geschichte ist antagonistisch strukturiert, wie bei Augustinus im Nebenund Gegeneinander von Civitas Diaboli und Civitas Dei, so wieder 1848 im ›Kommunistischen Manifest‹ von Marx und Engels antagonistisch im Klassenkampf der Unterdrückten gegen die Ausbeuter. Den Abschluß der Geschichte bildet für die Christen das Gottesreich, für die Kommunisten die klassenlose Gesellschaft. Vo raus gehen dort das Tausendjährige Reich und das Weltgericht, hier die Diktatur des Proletariats und die Weltrevolution. Das Endparadies unterscheidet sich vom Urparadies in beiden Fällen darin, daß es keinen zweiten Sündenfall geben wird. Unter den zahlreichen Verfechtern einer Endzeitidee in unserem Jahrhundert ragt Oswald Spengler hervor. »Das Ende dämmert auf«, so sein Prophetenwort in den ›Urfragen‹ (S. 350). Wie aber das Ende aussehe, wird nicht gesagt. Anders Spenglers britischer Nachdenker Toynbee. Er glaubte an einen Weltensabbat des Friedens und der Brüderlichkeit unter der Schirmherrschaft des Papstes, an die Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden.21
4. Die jüngsten Visionen
Die apokalyptischen Erwartungen gegen Ende des vergangenen Jahrtausends zeigen zahlreiche Schattierungen. Das Spektrum der Spekulationen reicht von der atomaren Katastrophe mit der Selbstauslöschung der Menschheit22 oder der gleichermaßen tödlichen Umweltzerstörung23 bis zur doch endlich erreichbaren demokratisch befriedeten Weltgesellschaft. Die optimistische Version bot 1989 Francis Fukuyama.24 Er orientierte sich an Alexandre Kojève, der 1947 Hegels Endzeitvorstellungen marxistisch interpretierte und einen homogenen Universalstaat vor der Verwirklichung glaubte.25 Für ihn war dieser sozialistisch geprägt. Fukuyama konstatierte, daß mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion der letzte Weltzustand erreicht sei. Zu allen Zeiten hätten 21 Demandt 2011, 285 ff. 22 G. Anders, Endzeit und Zeitenende. Gedanken über die atomare Situation, 1972. 23 R. Maurer, Offene Gesellschaft, Ende der Geschichte, ökologische Krise. In : Dialektik 2003, 145 ff. 24 Fukuyama, Das Ende der Geschichte, 1993. 25 A. Kojève, Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens, 1975.
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sich mindestens zwei grundsätzliche Positionen gegenübergestanden : Griechen gegen Perser, Römer gegen Barbaren, Kaiser gegen Papst, Christen gegen Muslime, dynastische Legitimation gegen Volkssouveränität, demokratische Kräfte gegen totalitäre Systeme. Mit dem Ende des Sozialismus gebe es keine erfolgversprechende Alternative mehr zu einer liberalistisch-kapitalistischen Demokratie. Was die Zukunft jetzt noch zu bieten habe, sei nichts anderes als die Durchsetzung dieses Prinzips im globalen Maßstab und verdiene daher nicht mehr die Bezeichnung »Geschichte«. In den behandelten Endzeitprophetien spielt die Magie des runden Jahres 2000 noch keine Rolle. Sie begegnet in unserem Zusammenhang, wenn auch nur andeutungsweise bei Spengler, indem er den Tausendjahreszyklus, den er bei all seinen Hochkulturen annimmt, im Falle des Abendlandes zwischen die Jahre 1000 und 2000 setzt. Die Bedeutung von Jahrzehnten, Jahrhunderten und Jahrtausenden für das Geschichtsbewußtsein findet sich zuerst bei den Römern.26 Sie haben in Anlehnung an etruskisches Gedankengut runde Jubiläen gefeiert. Die verläßlich bezeugten Säkularfeiern beginnen unter Augustus und beziehen sich auf die Gründung Roms. Einen magischen Zug besaßen sie darin, daß man durch das Feiern des Übergangs den Segen des alten Abschnitts auf den neuen zu übertragen meinte. Dies zeigen beispielsweise die Jubiläumsmünzen der Kaiser mit der Aufschrift : Votis X Mvltis XX, ›Gemäß dem Gelübde mögen wie das erste Jahrzehnt auch das zweite und viele andere glücklich verlaufen‹. Das größte Fest dieser Art war die Tausendjahrfeier Roms unter Philippus Arabs im Jahre 248. Gigantische Zirkusspiele feierten das Ereignis. Man propagierte eine neue aurea aetas, obschon das Imperium damals vor dem Abgrund stand. Daß die späteren Säkularfeiern unter den christlichen Kaisern nicht mehr begangen wurden, zählte für heidnische Autoren wie Zosimos (II 7) zu den Ursachen des Niedergangs. Die runden Jubiläen der christlichen Tradition beginnen nicht mit dem Jahr Eintausend, das man schlicht verschlafen hat, sondern mit dem Anno Santo 1300 unter Bonifaz VIII. Seit dem 17. Jahrhundert sind sie ubiquitär. Die Jahreswenden 1800 und 1900 wurden gefeiert, die Begrüßungen zum Jahr 2000 erzielten einen Rekord an Rekorden. Jean Baudrillard hielt 1984 an der Freien Universität einen Vortrag, in dem er erklärte, es finde nicht statt. L’an 2000 ne passera pas.27 Seine These : Bis dahin gäbe es keine Geschichte mehr. Dies aber liege nicht an einem Mangel an Ereignissen, sondern an deren Überstürzung. Durch den Sensationsbedarf der Medien überschlügen sich die Katastrophen, kein Geschehnis habe noch Zeit, die Wirkung zu entfalten, wodurch es Geschichte wird. Die Übersättigung 26 Demandt 2015, 371 ff. 27 Jean Baudrillard, Das Jahr 2000 findet nicht statt, 1994.
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mit Aktuellem führe zu einer chaotischen Tatsachenmenge, die keine historische Struktur mehr erkennen lasse. Endzeit-Idee und Geschichtslosigkeit nach dem Jahre 2000 verknüpfte schon Ernst Jünger 1932. Seine letzte Prognose auf das 21. Jahrhundert gab er 1993.28 Er glaubte, daß sich der bereits zu beobachtende Ausstieg des Menschen aus der Geschichte nach der Jahrtausendwende fortsetzen werde. Seit 200 Jahren befänden wir uns in einer »Weltrevolution«, die uns in gewisser Weise schon jetzt aus der Geschichte verdrängt habe. Er spricht von apokalyptischen Visionen am Ende des Jahrtausends, indem er den Untergang der Titanic 1912 als prophetisches Zeichen wertet. Jünger zitiert Fukuyama mit Nietzsches Karikatur vom letzten Menschen, der es sich in der Zivilisation behaglich macht. Eine allgemeine Fellachisierung greife um sich – hier hören wir Spengler –, zwar auf unterschiedlichem Niveau, so doch im Einvernehmen darüber, daß ein historisches Bewußtsein entbehrlich wird. »Man lebt für den Tag.« Jünger prophezeit den Weltstaat, nicht jedoch den Weltfrieden. Er rechnet mit einer Zunahme des Terrorismus, dessen Bekämpfung durch »Polizeiaktionen kleineren und größeren Umfangs« keine geschichtliche Dignität besitze. Ähnlich hatte sich Mommsen29 über die Catilinarische Verschwörung geäußert, sie gehöre nicht in die seriöse Geschichte, sondern in die Kriminalakten. Eine konkrete Zukunftsvision lieferte Ernst Nolte. Er hat 1999 in seinem Alterswerk mit dem Titel ›Historische Existenz‹ eine umfassende Geschichtsphilosophie vorgelegt, die den Hintergrund für seine Faschismustheorie liefert. Nolte quantifiziert den Geschichtsbegriff. Die Entwicklung des Kosmos vom Urknall zum Wärmetod sei nur im allerweitesten Sinne Geschichte, ebenso die unbewußt erfolgende Evolution. Die eigentliche Geschichte gliedert Nolte in die Abschnitte : Die Vorgeschichte bis zur Neolithischen Revolution, die er mit der Einführung von Ackerbau und Viehzucht um 10 000 v. Chr. beginnen und mit der Entstehung von Stadt und Schrift um 3000 v. Chr. enden läßt. Die damit eröffnete Geschichte sei die der Hochkulturen, gekennzeichnet durch sogenannte »historische Existenzialien« : Religion, Staat, Adel, Krieg und Revolution, Stadt und Land, Historie und Wissenschaft. Diese Existenzialien sieht Nolte einem Transformationsprozeß ausgesetzt, der ihr Wesen ändert. Religion zerfällt in Fundamentalismus und Folklore, der Staat verschwindet im Netzwerk der Globalisierung, an die Stelle des Adels treten Funktionseliten, Krieg gibt es nur noch in Form von Grenzkonflikten in Entwicklungsländern und Polizeieinsätzen der Weltorganisationen. Revolution wird in Form von Protestaktionen eine unvermeidliche, 28 E. Jünger, Gestaltwandel. Eine Prognose auf das 21. Jahrhundert. In : Die Zeit, Nr. 29, 16. Juli 1993, 36. 29 Römische Geschichte III 1856/1909, 175.
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aber unbedeutende Begleiterscheinung von Veränderungen der Produktion. Die Unterschiede zwischen Stadt und Land verschwinden, die Wissenschaft produziert noch Bücher und Maschinen, sie verliert hingegen ihre Bedeutung für die Menschenbildung. Das Geschichtsbewußtsein beschränkt sich auf die Erinnerung von Greueltaten einer Zeit, mit der man nichts mehr zu tun haben will. Die Nähe zum kommenden Jahrtausend empfand Nolte als einen bevorzugten Auslug, mit dem neuen Millennium läßt er die 5000 Jahre der eigentlichen Geschichte enden. Die von Spengler dem Abendland nach dem Untergang um das Jahr 2000 vorausgesagte geschichtslose Zivilisation weitet Nolte aus auf die Zukunft der Menschheit insgesamt. Mit einiger Vorsicht, aber doch sehr konkret beschreibt Nolte die dann uns bevorstehende Nachgeschichte. Voll entfaltet sieht er das posthistorische Zeitalter der »wissenschaftlich-technischen Konkurrenzökonomie« im Jahre 2200. Die Medizin ist der Krankheiten Herr geworden, das Durchschnittsalter der Menschen auf 200 Jahre gestiegen. Der Verkehr vollzieht sich mit Hubschraubern. Zu den Planeten besteht Pendelverkehr, in fast lichtschnellen Raketen genießen Weltraumpassagiere eine vorläufige Unsterblichkeit. Die Sahara ist bewässert, der Hunger gebannt. Auf einer Insel im Weltmeer regeln die Deputierten aller Länder ihre Probleme im – frei nach Habermas – herrschaftsfreien Dialog. Machtpolitik ist dem Interessenausgleich gewichen, Handarbeit auf Roboter verlagert. In Noltes »Lustmeer der Nachgeschichte« herrscht die schon von Friedrich Engels herbeigesehnte »eifersuchtslos ausgelebte Sexualität«. Freilich : Im fortschrittlichsten Land der Welt ist gerade davon bislang wenig zu spüren. Nolte mißt den Problembereichen unserer Zeit keine geschichtsträchtige Zukunft zu. Bevölkerungswachstum, Wohlstandsgefälle, Massenwanderung, Fundamentalismus, Umweltbedrohung, Technikfolgen, all dies löst sich offenbar globaldemokratisch ohne Geschichte, undramatisch. So gewiß wir das wünschen müssen, so ungewiß ist die Annahme einer solchen Endzeit. Nolte ist selbst nicht glücklich mit dieser Aussicht. Er entwirft eine Utopie, von der aus er nostalgisch zurückblickt auf Mea Shearim, das Viertel der orthodoxen Juden in Jerusalem, wo der Fromme täglich Gott dafür danke, nicht als Frau geboren zu sein. Dieser Menschentyp verschwindet. Für ein neues, nachgeschichtliches Zeitalter benötigt Nolte einen neuen Menschen, den perfekt sozialisierten Kosmopoliten, sozusagen den wohltemperierten Endzeitbürger. Das Geschehen in der bereits erreichten Nachgeschichte ist nur als Paradox zu formuliere, ähnlich wie das Romano Guardini 1950 in seinem Buch ›Ende der Neuzeit‹ getan hat. Der nicht-humane Mensch, die nicht-natürliche Natur, die nicht-kulturelle Kultur waren ihm schon damals Endzeitprodigien. Vorerst werden uns die vor Augen liegenden Probleme mit Geschichte versorgen : der Fundamentalismus als Antwort auf die Rationalisierung, der Regiona-
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lismus als Gegenbewegung zur Globalisierung, der demographische Druck der armen, aber menschreichen Länger auf die reichen, aber menschenarmen. Ebenso die Folgen des technisch-zivilisatorischen Fortschritts, der die Spannung zwischen Arm und Reich verschärft, der die Belastung der Beschäftigten und die Zahl der Arbeitslosen steigert, der die Ressourcen erschöpft und mit Abfall und Unrat nicht fertig wird. Und sollten all diese Kräfte ihre Sprengkraft verloren haben, ist noch immer kein Endzeit-Sabbat in Sicht. Die großen Probleme der Menschheit werden nicht gelöst, sondern ungelöst abgelöst durch größere Probleme. Mittelfristig müssen wir uns gemäß Jacob Burckhardt30 mit dem allgemeinmenschlichen Drang zu »periodischer großer Veränderung« abfinden. Welchen Grad an durchschnittlicher Glückseligkeit dem Menschen auch gewährt sei, eines Tages erschalle der Ruf Lamartines : La France s’ennuye !, und die Geschichte hat uns wieder. Aber auf ewig ? Kaum. Denn dem Wachstum der Wirtschaft und der Weltbevölkerung korrespondiert die Abnahme der Ressourcen. Wer meint, es würden »immer« neue Rohstoffquellen erschlossen, sollte angeben, wie viele Jahrtausende er mit »immer« meint. Die Entwicklung verlief und verläuft zeitlich und räumlich ungleichmäßig, so auch die Ausbeutung der Ressourcen. Irgendwann entbrennt der Kampf um die Wasserstellen. Oder ist er nicht schon im Gang ? Kurzfristig sind jene Völker überlegen, die am meisten schaffen, langfristig jene, die am wenigsten bedürfen. Auf Steinzeitniveau war die Menschheit der Natur vorzüglich angepaßt. Das böte ihr Zukunft. Rechnen wir die steinzeitliche Urgeschichte von 600 000 bis 3000 v. Chr., so füllen danach die fünftausend Jahre Hochkultur bis zu uns weniger als ein Hundertstel der Menschheitsgeschichte. Eine Blase im kosmischen Geschehen. Der Irrtum aller Endzeitpropheten besteht in der Vorstellung über Zeit und Art des Endes. Der Grundgedanke der Endlichkeit selbst ist damit nicht erledigt. Anschauung erlöschenden Lebens und aufgebrauchter Ressourcen vermittelt das Aussterben der Grönländer im Mittelalter und das Schicksal der Osterinsel in der Neuzeit. Dort vollzog sich im Kleinen, was im Großen der Menschheit insgesamt bevorsteht. Finis saeculi.
30 Burckhardt 1868/1955, 169.
Ultima Cumaei venit iam carminis aetas. Vergil
VI. Spengler und die Spätantike
»Aber es gibt Menschen«, schrieb Spengler 1921, »welche den Untergang der Antike mit dem Untergang eines Ozeandampfers verwechseln« (RA. 63). Damit kritisierte er das Mißverständnis seiner Titel-Metapher vom Untergang des Abendlandes die von seinen Lesern deswegen so bedrohlich empfunden wurde, weil sie sich selbst auf eine sinkende Kultur-Titanic versetzt fühlten. Angesichts der Verbreitung von Schiffs-Metaphern in der historisch-politischen Sprache1 fällt es schwer zu glauben, daß Spengler eine solche Befürchtung nur versehentlich geweckt hätte. Denn hätte er sich mit seinem Untertitel Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte begnügt, so wäre kaum jenes Echo eingetreten, das ihm einen Jubiläumsband zu seinem hundertsten Geburtstag bescherte.2
1. Was leisten Metaphern ?
Im Anschluß an die zitierte Wendung erklärt Spengler, statt »Untergang« hätte er ebenso gut »Vollendung« sagen können. Wer die »Morphologie« gelesen hat, wird dem zustimmen (UA I 3.) Denn eine Schiffskatastrophe ist ein vermeidbares Unglück, die Erfüllung einer Kultur hingegen schien Spengler der schicksalhafte Abschluß einer vorgeschriebenen Entwicklung. Spenglers »Untergang« steht symmetrisch zu einem »Aufgang«. Als Bezugsgegenstand im Herkunftsbereich der Metapher ist gemäß der traditionellen Lichtsymbolik für Kultur an einen gesunkenen Stern zu denken, den wir freilich nicht mit kopernikanischen Augen sehen, nicht als den perspektivischen Irrtum deuten dürfen, der er ist. Spenglers Versicherung, »Untergang« und »Vollendung« seien in seinem Sinne gleichbedeutend, beleuchtet den Vorzug von Metaphern für Geschichte. Zuerst erregt man Aufsehen, dann Unbehagen, darauf interpretiert man sich, schaltet die in Kauf genommene Fehldeutung aus und hat sich im Bewußtsein der Leserschaft 1 H. Quaritsch, Das Schiff als Gleichnis, in : Recht über See, Festschrift Stödter, 1979, 251–268 ; A. Demandt 1978, 190–198. 2 Ludz 1980.
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verankert. Wenn es so einfach ist, den Gefühlswert eines Leitbegriffs umzukehren, unterscheidet sich die Werbung für ein Buch durch seinen Titel nicht wesentlich von den Gepflogenheiten der Marktwirtschaft. Die Hälfte des Absatzes bringt das Etikett. Der Leser, der sich durch den schockierenden Titel zur Anschaffung des Werkes hat bewegen lassen, fühlt sich durch die Lektüre und die Selbstinterpretation des Autors um die Bestätigung seiner Besorgnis betrogen. Er müßte, wäre ihm danach zumute, aufatmen. Beginnt er, darüber nachzudenken, wie er auf eine falsche Fährte von Assoziationen gelockt werden konnte, so hilft ihm Spengler durch den eingangs zitierten Satz : Der Leser hat beim Untergang des Abendlandes an den »Untergang der Antike« gedacht. Die Vorstellung vom Schiffsunglück war und ist im Zusammenhang mit dem Ende Roms gebräuchlich. Sie begegnet als naufragium rei publicae bereits in zeitgenössischen Quellen, wurde immer wiederholt und zuweilen, so vom Abbé Galiani, erfolglos kritisiert.3 »Wie die Ratte das untergehende Schiff, so verließ zuletzt Constantin das zerrüttete Land« und ging nach Byzanz, schrieb Justus von Liebig.4 »Untergang« stand im Titel vielgelesener Bücher von Otto Seeck und Ludo Moritz Hartmann.5 Die Analogie zwischen der europäischen und der antiken Kulturkatastrophe lag nahe. Häufig wird sie aus der Nachkriegsstimmung des gebildeten Deutschland abgeleitet : »Wenn es schon aus ist mit uns, dann soll es auch mit den anderen vorbei sein.« So gewiß eine solche Stimmung verbreitet war, so wenig erschöpft sie die Gründe für jene Parallelisierung. Sie ist wesentlich älter als denen, die sie zogen, bewußt war. Sie reicht zurück bis in die frühe Neuzeit.
2. Zyklustheorien
Im mittelalterlichen Geschichtsdenken herrschte die Vorstellung, das römische Reich habe in Franken und Deutschen seine legitime Fortsetzung gefunden und dauere als letztes der vier bei Daniel (Kap. 2) vorausgesagten Weltreiche bis zum Erscheinen des Antichrist. Jenes von uns als »Untergang Roms« bezeichnete Ge-
3 MGH. Auctores antiquissimi IX 309, 311. Die Briefe und Dialoge des Abbé Galiani, in Auswahl übersetzt und herausgegeben von A. v. Gleichen-Rußwurm, 1907, 295 (Brief vom 1. 1. 1774 an Mme. d’Epinay). 4 J. v. Liebig, Die Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie, (1840) I Bd., 8. Aufl., 1865, 103. 5 O. Seeck, Geschichte des Untergangs der antiken Welt, I (- VI) 1895 ff.; L. M. Hartmann, Der Untergang der antiken Welt, sechs volkstümliche Vorträge, 1. Aufl. 1903, 2. Aufl. 1910.
Zyklustheorien
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schehen6 verschwand im Bewußtsein einer imperialen und religiösen Kontinuität, die ihr definitives Ende erst am 6. August 1806 fand, als Franz I von Österreich die römisch-deutsche Kaiserwürde niederlegte. Bereits im Gefolge der oberitalienischen Opposition gegen die Hoheitsansprüche der deutschen Kaiser jedoch hatte sich ein Gespür für die Vergangenheit der antiken Kultur entwickelt, war der Bruch zwischen antiker und mittelalterlicher Welt sichtbar geworden. Die Renaissance verfocht das Programm einer Erneuerung der antiken Kultur und damit der Kultur, wie man sie begriff, überhaupt. Das bestimmende Denkbild war der wieder ausschlagende Baum, renasci bedeutet primär das Nachwachsen abgefallener Blätter und ähnliches.7 Mit der Pflanzenmetaphorik gelangte die Vorstellung von Periodizität ins Geschichtsdenken. Freilich dachte man zunächst nur an die Wiederholbarkeit des Aufstiegs, aber die Symmetrie der Logik forderte auch eine Wiederholbarkeit des Untergangs, zumal eine zyklische Geschichtsvorstellung gerade von jenen Autoren gelehrt wurde, die man jetzt las und empfahl, beispielshalber von Polybios. In voller Klarheit sah dies Machiavelli. Er kalkulierte eine mögliche Wiederholung des Barbarensturms ein, meinte aber fürs erste keinen befürchten zu müssen. Anders urteilte Vico. In seiner 1725 erschienenen Scienza Nuova verfocht er eine Zyklentheorie, die Aufstieg und Niedergang Roms verallgemeinerte und auch der eigenen Kultur einen solchen Ablauf zusprach.8 In der Geschichtsliteratur der Aufklärung wurde der Untergang der antiken Welt als Lehrstück traktiert, das man beherzigen müsse, entweder um eine Wiederholung zu vermeiden – so Montesquieu – oder um den »Fortschritt« zu begreifen – so Gibbon und Herder.9 Stets spürten die Autoren eine innere Nähe zur Spätantike, und dieses Gefühl hielt auch im 19. Jahrhundert an. Als im Gefolge der Freiheitskriege die nach dem deutschen Humanismus zweite Welle der Germanenbegeisterung aufkam, wurden die Helden der Völkerwanderung ein beliebtes Identifikationsobjekt,10 doch blieb auch die römische Innenperspektive lebendig, die der Parallele eine pessimistische 6 Zum folgenden : W. Rehm, Der Untergang Roms im abendländischen Denken, 1930/1966 ; Mazzarino, Das Ende der antiken Welt, 1959/ 1961 ; Demandt 1984/2014. 7 L. Bösing, Multa renascentur, Rheinisches Museum für Philologie 113, 1970, 246–261 ; Demandt 1978, 101 ff. 8 N. Machiavelli, Discorsi II 8 ; G. B. Vico, Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker, übersetzt von E. Auerbach 1924/1965, 402 ff., 416 ff.; Anderle 169, 197–223. 9 Montesquieu, Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence, 1734 ; E. Gibbon, The History of the Decline and Fall of the Roman Empire, Kapitel 38, 1781 (ed. Bury IV 1909 172–181) ; J. G. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 1791, Buch XIV. 10 R. Kuehnemund, Arminius or the Rise of a National Symbol in Literature, 1953/1966.
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Wertung verlieh. 1888 tauchte das Schlagwort fin de siècle auf und lieferte der Niedergangsstimmung ein gern benutztes Etikett. Vergleiche der Gegenwart mit dem alexandrinischen oder dem spätrömischen Zeitalter begegnen uns beim Grafen Gobineau, bei Karl Marx, Jacob Burckhardt, Friedrich Nietzsche, Thomas Hodgkin und vielen anderen.11 Das Verfallsbewußtsein hat seinerseits, gelöst von der uns interessierenden Parallele, seine Geschichte. Spätzeitgefühle haben sich in der christlichen Tradition auf die apokalyptische Endzeiterwartung gestützt, verbanden sich zuvor mit dem Gedanken einer alternden Welt und der Hoffnung auf einen neuen kosmischen Zyklus und lassen sich in der europäischen Denkgeschichte zurückverfolgen bis zu Hesiod.12
3. Das magische Jahrtausend
Als Spenglers These vom Ende der europäischen Kultur erschien, hatte der Erste Weltkrieg die schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Spenglers Buch fand in der Öffentlichkeit eine aus Spätzeitstimmung und Geschichtswissen gespeiste Erinnerung an den Fall Roms vor. Dies verschaffte dem Autor einen Kredit, der uns den Publikumserfolg verstehen hilft,13 den aber Spengler gleichwohl gar nicht in Anspruch genommen hat. Denn die Vorgänge, die im Geschichtsunterricht unter dem Stichwort »Untergang der Antike« gelehrt wurden, waren für Spengler kein solcher. Spengler läßt die antike Kultur mit dem Sieg des Augustus bei Actium 31 v. Chr. enden, so wie Vergil in dem vierten Hirtengedicht die ultima aetas im Gesang der Sibylle von Cumae mit Augustus verband. Spengler eröffnet zugleich einen neuen Kulturzyklus : die magische oder arabische Kultur, die das ganze erste Jahrtausend nach Christus füllt. Die Wirren der 11 A. Gobineau, Die Ungleichheit der Menschenrassen, 1855/1935 3 ; 74 f., 115 (die Zeit Ciceros und die unsere sind »vollständig ähnlich«) ; W. Kaegi, Jacob Burckhardt. Eine Biographie, III 1956, 384 ff.; Nietzsche I, 100, 261, 313, 380 ; Th. Hodgkin, Italy and Her Invaders, 1879/1892 II, 610 ff.; Ders., The Fall of the Roman Empire and Its Lessons for Us, The Contemporary Review 73, 1898, 51–70. Zum Pessimismus sonst vgl. Max Nordau, Entartung I/II 1892/3 ; W. Rathenau, Zur Kritik der Zeit, 1912 ; E. Hammacher, Hauptfragen der modernen Kultur 1914 ; H. Delbrück, Die gute alte Zeit, Preußische Jahrbücher 71, 1893, 1–28 ; G. Steinhausen, Verfallsstimmung im kaiserlichen Deutschland, Preußische Jahrbücher 194, 1923, 153–185 ; G. Watson, The Myth of Catastrophe, The Yale Review 65, 1975/1976, 357–369. 12 Demandt 1978, 36 ff.; H. Leisegang, Denkformen, 2. Aufl. 1951, 417 ff. 13 Gewiß kommen hier noch andere Tendenzen hinzu, die Spengler zu bündeln verstand, insbesondere das Bedürfnis nach einer wissenschaftlichen Ersatzreligion, die zugleich die Geschichte deutete und Handlungen anwies, und die Bereitschaft einer plötzlich kaiserlosen und darum führergläubigen Gesellschaft.
Das magische Jahrtausend
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Völkerwanderung, traditionell mit dem Ende des Altertums verbunden, fallen bei Spengler in den Sommer der magischen Kultur. Die Völkerwanderung selbst war für ihn »ein Zufall, ohne alle tiefere Notwendigkeit« (UA I 143, II 130). Wo die ältere Historiographie den Bruch zwischen Antike und Mittelalter verzeichnete, sah Spengler nur einen Entwicklungsschritt der magischen Kulturseele. Insofern vertrat er im Gegensatz zur herrschenden Ansicht nicht den Katastrophen, sondern den Kontinuitäts-Charakter der Spätantike. Der Leser, der fürchtete, ihm würden die Turbulenzen des 5. Jahrhunderts prophezeit, atmet ein zweites Mal auf. Wie die bildlichen Assoziationen, so werden die historischen Analogien korrigiert. Statt innerer Dekadenz und äußerer Ohnmacht, die man in der Spätantike gemeinhin erblickte, erwartet uns die Meeresstille des Kaiserfriedens. Spengler (MT. 82) parallelisierte die Gegenwart mit dem Zeitalter des Augustus. Wahrlich kein Grund zum Pessimismus, es sei denn, die Sehnsucht nach einem neuen Goethe überwöge die nach einem neuen Caesar, den Spengler 1921 ankündigte.14 Ebenso wie Nietzsche erwartete Spengler den Kampf zwischen dem Geld und einzelnen Gewaltmenschen und stellte deshalb die Zukunft unter das Motto des Caesarismus, einen Begriff, der im Frankreich des 19. Jahrhunderts attraktiv genug war, die Herrschaft Napoleons und Napoleoniden zu bezeichnen.15 Wie kam Spengler zu seiner eigenwilligen Deutung des ersten Jahrtausends als kultureller Einheit ? Gewisse Traditionen gab es dafür. Daß mit Augustus eine welthistorische Zäsur gesetzt sei, war die heilsgeschichtlich begründete Auffassung der frühchristlich-mittelalterlichen Augustus-Theologie, die eine providenzielle Gleichzeitigkeit zwischen dem irdischen und dem himmlischen Friedensbringer verfocht.16 Dies liegt der Zeitrechnung nach Christi Geburt zugrunde, die gleichwohl seit der frühen Neuzeit hinter einer anderen Epochengliederung zurückgetreten ist : der Einheit des Imperium Romanum bis 476. Spenglers hellenozentrische Auffassung von der Antike hat indessen Vorläufer in den klassizistisch-philhellenischen Strömungen seit dem 18. Jahrhundert, die auch im Fortschrittsgedanken der Aufklärung eine Rolle spielen. Das Imperium Romanum war bloßes Anhängsel der antiken Kultur für Herder, Condorcet und Humboldt, es besaß keine eigene historische Würde, schon weil sein Zusammenbruch als Wirkung menschlichen Verschuldens oder göttlicher Vergeltung betrachtet wurde. Ob Spengler auch für 14 Spengler UA. I, 79. Zu den Betroffenen zählt Friedrich Meinecke, der in seinem Büchlein »Die Deutsche Katastrophe« von 1946 die Bildung von »Goethegemeinden« in jeder größeren Ortschaft empfahl, um den Hitler-Schock zu verarbeiten. 15 Émile Littré, Étude sur les barbares et le moyen âge, 1867, p. XIV wehrte sich gegen den Terminus césarisme, weil er den modernen Caesaren abträglich sei. Zum ganzen vgl. D. Groh, Cäsarismus. In : Geschichtliche Grundbegriffe I, 1972, 726–771, zu Spengler 767. 16 E. Peterson, Theologische Traktate, 1951, 83 ff.
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den Schlußpunkt seiner arabischen Kultur an ältere Periodisierungen anknüpfen konnte, scheint zweifelhaft. Vermutlich resultiert er aus der »magischen Zahl« Tausend. Ein Anschluß an die Forschung liegt indessen wiederum in inhaltlichen Aussagen über die Kultur des ersten Jahrtausends vor, so bezüglich des orientalischen Einschlags der Kaiserzeit. Spengler nannte Diocletian einen Kalifen (UA. I 96), nachdem Ludo Moritz Hartmann ihn als Sultan bezeichnet hatte.17 Das geht zurück auf die bereits zeitgenössische Kritik an den persischen Einflüssen auf Diocletians Herrscherzeremoniell.18 »Einflüsse« aus dem Orient sind vielfach belegt und zuweilen beklagt worden : »Schon längst ist der syrische Orontes in den Tiber geflossen, hat seine Sprache, seine Sitten, seine Blas- und Saiteninstrumente und die dortigen Trommeln mitgebracht und die Mädchen, die sich am Zirkus feilbieten müssen« (Juvenal 3, 62 ff.). Irreführend ist es freilich, wenn Spengler das Orientalische auf das Arabische zuspitzt. Die Juden, Ägypter und Nordafrikaner sind in der ersten, die Perser in der zweiten Jahrtausendhälfte kulturell mindestens ebenso bedeutend gewesen wie die Araber.19 Unbekannt dürfte es Spengler geblieben sein, daß die von ihm systematisch verstandene Parallele zwischen der Spätantike und der Reformationszeit (UA II 361 ff.) schon vor ihm gezogen wurde.20 Indem Spengler die kulturelle Wasserscheide der Spätantike bestritt und eine durchgehende Kontinuität annahm, stand er im Einklang mit führenden Forschern seiner Zeit, so mit Alfons Dopsch, Ernst Komemann und Henri Pirenne.21 Letztere haben erst der Ausbreitung des Islam epochesetzende Bedeutung zugemessen, doch hat schon diese Zäsur begründeten Widerspruch erfahren. Das hat vermutlich methodische Gründe. Das Bedürfnis nach Einschnitten resultiert aus der Benennung von Perioden. Zwischen Namen gibt es keinen Übergang, Namen fordern klare Geltungsgrenzen. Die Ebene der Begrifflichkeit ist durch Grenzscheiden bezeichnet, wie sie auf der Ebene der Wirklichkeit nicht vorliegen. Sie müssen von dort nach hier übertragen werden, und dabei kommt es begreiflicherweise zu Kontroversen, in denen der Vorwurf auftaucht, daß die begriffliche Trennung 17 Hartmann (s. Anm. 5) 37, vermutlich nach J. R. Seeley, Lectures and Essays, 1870, 40 und 56 : »complete Oriental sultanism was introduced by Diocletian«. 18 A. Alföldi, Die monarchische Repräsentation im römischen Kaiserreiche, 1970, 6 f. 19 C. H. Becker, Spenglers magische Kultur, Zeitschr. der dt. Morgenländ. Ges. 77, 1923, 225–227 ; 266. 20 Kaufmann, in : Philologus 34, 1876, 235. 21 A. Dopsch, Wirtschaftliche und soziale Grundlagen der europäischen Kulturentwicklung aus der Zeit von Caesar bis auf Karl den Großen, 1918/1924 ; E. Kornemann, Die römische Kaiserzeit. In : A. Gercke und Ed. Norden, Einleitung in die Altertumswissenschaft III, 1912, 205–296 ; H. Pirenne, Mahomet et Charlemagne, 1937.
Das magische Jahrtausend
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ein Kontinuum zergliedere. Denn alles historische Geschehen baut auf Überliefertem auf, und dementsprechend haben selbst Eroberer wie Germanen und Araber an Vorgefundenes angeknüpft. Spengler befindet sich somit in seinem Urteil über das erste Jahrtausend ein Stück weit im Einklang mit der Forschung und verdient insbesondere in seiner Kritik daran, wie die historischen Fächergrenzen unser Geschichtsbild deformieren (UA. II 228), das Ohr der Zukunft. In anderen Punkten indessen zeigen sich Diskrepanzen zwischen dem Bilde, das Spengler von der Spätantike entwirft, und den Resultaten, die von der Wissenschaft teils vor, teils nach ihm gewonnen worden sind. Dies läßt sich an der folgenden Miniatur Spenglers aufweisen : »Spätantike : Nun bedeckt sich das Gebiet von Spanien bis zum Euphrat mit weißen Städten, die sich gleichen ; alle mit Marmorhallen, Amphitheatern, Tempeln in einem verwaschenen griechischen Stil, unzähligen Statuen, Brunnen. Mit einer Menge, die Latein oder Griechisch spricht, obwohl sie aus den Völkern von der Nordsee bis zum Indischen Ozean gemischt ist, rasselos, müde, genußsüchtig, abergläubisch. Die alten Sprachen sterben ab oder werden in verschollenen Dörfern geredet, über den Bauernglauben legt sich eine Mischmaschreligion. Die Wälder werden selten, der Regen auch. Die Bauern verschwinden. Die großen Städte haben sie aufgesogen. Entlassene Sklaven aller Kontinente leben spärlich auf den Vignen. Das große Leben des Geistes geht nur in vier bis fünf Städten vor sich und in diesen nur in einer kleinen gesellschaftlichen Oberschicht. Verschwindet diese, so ist nichts mehr da. Und sie verschwindet. Neue Familien, denen innerlich die Reife fehlt, ersetzen das erloschene Blut, aber ihre große Verfassung ist äußerlich. Sie machen die Römer nach, sie sind keine Römer« (FW. 478). Gemeint ist hier offenbar die römische Kaiserzeit insgesamt. Die Homogenität der Stadtkultur, die Verdrängung der Volkssprachen durch die Weltsprachen ist richtig gesehen, jedoch die Charakteristik der Bevölkerung weckt Zweifel : »rasselos« müßte man auf den Rückgang ethnischer Individualität beziehen, »müde« ließe sich allenfalls hinsichtlich einer gewissen Resignation gegenüber der Barbarengefahr des 5. Jahrhunderts rechtfertigen, denn an sonstiger Aktivität mangelt es nicht. Genußsucht und Aberglaube haben sich nicht erkennbar vermehrt. Der Begriff »Mischmaschreligion« bedeutet anscheinend so viel wie »Synkretismus«, doch zeigt sich die Mischung weniger in den Elementen der einzelnen Religionen als in dem Nebeneinander von Angehörigen unterschiedlichen Glaubens. Die ortsfeste Polisgemeinde wird verdrängt durch missionierende Kulte, die überall ihre Konventikel gründen. Es handelt sich um die orientalischen Erlösungsreligionen, unter denen sich das Christentum durchgesetzt hat. Wenn dies eine Mischmaschreligion ist, dann gibt es überhaupt nur solche, denn jede Religion enthält heterogene Elemente.
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Die Abnahme der Bewaldung trifft zu im Vergleich zwischen der hochantiken und der neuzeitlichen Mittelmeerlandschaft. Ob die Spätantike diesen Prozeß beschleunigt hat, ist zweifelhaft. In Hinsicht auf die zurückgehende Haus- und Schiffsbautätigkeit wäre eher mit einer vorübergehenden Regeneration des Waldbestandes zu rechnen. Eine Verringerung der Niederschläge gilt für Mitteleuropa sicher nicht : Seit 100 v. Chr. wird das Klima nach Ausweis der Moorforschung wieder feuchter. Die Landflucht, die Spengler behauptet, ist unbewiesen. Alles deutet Vielmehr darauf hin, daß in der Spätantike eine Bevölkerungsverschiebung von den Städten aufs Land stattgefunden hat. Die Städte kümmern seit dem 4. Jahrhundert, von einem Verschwinden der Bauern kann keine Rede sein. Das Geistesleben war zu allen Perioden des Altertums an die Städte und die Oberschichten gebunden. Daneben entwickeln sich jedoch gerade in der Spätantike neue Kulturträger in den Villen der Grundherren und in den Klöstern. Spenglers letzte Bemerkungen über die neuen Familien gelten wohl den Aniciem, den Symmachi und den übrigen Senatorengeschlechtern, die vergeblich versucht haben, die römische Tradition gegen das Christentum zu bewahren. Daß sie keine »echten«, sondern nur »nachgemachte« Römer waren, ist eine Kritik an deren Selbstverständnis, zu dem Spenglers Vorstellung von »wahrem Römertum« schwerlich ausreicht. Spengler hat in der zitierten Passage eine Sammlung von Spätzeitsymptomen geliefert, die schon mit seinen eigenen Frühzeitimpulsen der magischen Kultur nicht übereinstimmt. Eine historische Kritik an Spenglers Äußerungen zur Spätantike im Untergang trifft vornehmlich die Geschichte des Christentums und der Germanen. Die notwendigen Einwände gegen Spenglers Behauptungen über die frühe Kirchengeschichte hat H. v. Soden zusammengestellt.22 Eine Korrektur der Vorstellungen Spenglers von den Germanen müßte vor allem darauf hinweisen, daß wir bei ihnen keineswegs eine stationäre Primitivkultur vor uns haben, sondern sehr wohl Entwicklungen aufzeigen können. Diese liegen zum ersten in der Vermehrung und Ausdehnung der germanischen Stämme im nord-, mittel- und osteuropäischen Raum, zum zweiten in deren durch den Kontakt mit Rom geförderten technischen Fortschritten, namentlich im Kriegswesen, und zum dritten in dem politischen Strukturgewinn vom kleinräumigen Stammestum über Heerkönigsverfassung und Großverband zur völkerwanderungszeitlichen Erbmonarchie nach römischem Muster. Von daher ist die Auflösung des Imperiums durch die Germanen im 5. Jahrhundert alles andere als ein bloßer Zufall.
22 H. v. Soden, Urchristentum und Geschichte II, 1956, 1 ff.; 21 ff.
Problematische Kulturgrenzen
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4. Problematische Kulturgrenzen
Die Kritik an Spenglers Ausführungen über das erste Jahrtausend muß indessen noch tiefer gehen. Spenglers Kulturmorphologie beruht auf dem Prinzip, sämtliche Erscheinungen innerhalb einer Kultur als zusammengehörig zu erweisen und aus dem Lebensgefühl, dem Seelentum der jeweiligen Kultur abzuleiten. Der inneren Einheit der Kulturen entspricht ihre scharfe Abgrenzung untereinander. Verbindungen zwischen den Kulturen stören deren monadischen Charakter und werden daher verkleinert oder bestritten. Diese doppelte Operation des Bindens und Lösens macht nun für das erste Jahrtausend besondere Schwierigkeiten. Im allgemeinen verdient Spengler Zustimmung, wo er Zusammenhänge herstellt ; wo er indessen solche zerreißt, weckt er Bedenken. Es ist ihm gelungen, einige überraschende Beziehungen aufzuweisen : so in der Kuppelarchitektur zwischen dem Pantheon und dem Aachener Dom, im Gedanken der Staatskirche zwischen den Sassaniden, den christlichen Imperatoren und den arabischen Kalifen, im Prinzip der kanonischen Schrift zwischen den zahlreichen gleichzeitigen Kodifikationen religiöser Überlieferung bei Persern, Christen und Juden, und der Sammlung rechtlicher Satzungen bei Byzantinern und Germanen. Spenglers Grenzmarken der magischen Kultur indessen überzeugen nicht. Die einzelnen Komponenten der Kultur des ersten Jahrtausends greifen tatsächlich nach beiden Seiten über die Zäsuren hinaus. Das römische Weltreich bestand schon vorher, änderte zu Beginn der Zeitenwende seine Verfassung und löste sich im 5. Jahrhundert auf. Das Jahr 1000 beendete keinen der bestehenden Staaten. Die damals entstandenen romanisch-germanischen Völker begannen ihre Geschichte erst gerade, die hellenistischen Kulte und der Zervanismus existierten lange vor dem magischen Jahrtausend, endeten aber in ihm. Christentum und Islam bildeten sich in seinem Verlauf und dauern ebenfalls an. Das Judentum erstreckt sich über die Zeit vor und nach der magischen Kultur. Griechische und lateinische, persische und semitische Sprach- und Literaturgeschichte ignorieren Spenglers Kulturschwellen. In der Kunstgeschichte sind sie ebensowenig erkennbar, in der Geistesgeschichte bleiben sie völlig belanglos : Wie sollen wir einen Tacitus ohne Thukydides, einen Porphyrios ohne Platon, einen Avicenna ohne Aristoteles verstehen und umgekehrt ohne Augustinus einen Thomas, einen Luther begreifen ? Spenglers These, daß über die Kulturgrenzen keine (echte) Verständigung möglich sei (UA. I 171 ; II 52), schließt er für sich selber aus. Hat er etwa den Heraklit nicht begriffen ? Dann müßte man ihm den Doktortitel aberkennen. Verständnisschwierigkeiten zwischen Menschen beruhen auf individuellen und sozialen Differenzen, die innerhalb derselben Kultur erheblich krasser sein können als zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen im Sinne Spenglers. Die Traditionen der po-
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litischen, ethnischen, religiösen, sprachlichen und künstlerischen Kulturelemente übergreifen Anfang und Ende der magischen Hochkultur. Ihr fehlen die Grenzen, fehlt die Mitte : Wir haben die Wahl zwischen dem Rom Trajans, dem Konstantinopel Justinians, dem Kairo Omars, dem Baghdad Harun al Raschids, dem Aachen Karls des Großen. Das »magische Seelentum« ist ein schwacher Kitt dieser polyzentrischen Welt. Die Geschichte des magischen Jahrtausends besitzt nicht dieselbe Geschlossenheit wie die antike Periode zuvor und die abendländische Periode danach. Sie läßt sich nicht als Hochkultur gleichen Ranges zwischen jene einschieben. Die Bindungen unter den bestimmenden Kräften innerhalb des magischen Zeit- und Verkehrsraumes waren schwächer als nach außen : Das Rom Trajans hat mit dem Kairo Omars weniger zu tun als ersteres mit dem Rom Sullas und letzteres mit dem Kairo Saladins. Es ist daher kein bloß arbeitstechnisch begründeter Zustand, wenn im ersten Jahrtausend Althistoriker und Mediaevisten, Byzantinisten, Orientalisten und Kirchenhistoriker nebeneinander forschen. Jede dieser Disziplinen befaßt sich mit einer Gruppe von Menschen, die sich von anderen gleichzeitigen Gruppen abgesetzt haben und sich mit Menschen jenseits von Spenglers Kulturgrenzen verbunden wußten, die durch ihre Traditionen ein eigenes Identitätsbewußtsein ausgebildet haben. Indem Spengler sie, der Symmetrie seines Kultur-Oktetts zuliebe, unter der Einheit des magischen Lebensgefühls zusammenfaßt und von Älteren wie Jüngeren abschneidet, geht er am Selbstverständnis der Betroffenen so weit vorbei, daß diese immer wieder Anwälte finden werden. Trotz der von Spengler mit Recht herausgestellten Querverbindungen bündeln sich die zahlreichen Überlieferungsstränge kaum zu einem einzigen, nach dem Bilde eines Pflanzenlebens oder eines Jahreslaufes darstellbaren Komplex. Die Mittelmeerwelt des ersten Jahrtausends besitzt durchaus den ihr von Spengler zugeschriebenen zentralen Charakter. Hier prallen die Gegensätze aus allen Himmelsrichtungen aufeinander, hier konkurrieren Gruppierungen unterschiedlichsten Zuschnitts, hier verknoten sich Fäden älterer und jüngerer Entwicklungen wie selten sonst. Gerade in diesen Konflikten und Kontrasten, in diesem Aufhören und Anfangen liegt der historische Reiz jener Zeit. Trefflich hat sie Herder in seinen Fragmenten zur deutschen Literatur (III 1,1) gekennzeichnet : »Römer und Barbaren vermischen ihre Denkart : ein heiliger orientalisch-hellenistischer Geschmack kömmt dazu, um ihr eine neue Richtung zu geben. So gären griechisch-römischnordisch-orientalisch-hellenistische Dämpfe ganze Jahrhunderte : sie brausen gewaltig auf : die Hefen sinken endlich langsam, und nun ! was ist ausgegäret ? ein neuer moderner Geschmack in Sprachen, Wissenschaften und Künsten.« Der vergleichsweise heterogene Charakter der magischen Kultur war Spengler bewußt. Die Schwierigkeit, ihren Konglomerat-Eindruck durch eine monolithi-
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sche Interpretation zu überwinden, hat er gesehen, doch hielt er das für machbar. »Die magische Kultur ist geographisch und historisch die mittelste in der Gruppe hoher Kulturen, die einzige, welche sich räumlich und zeitlich fast mit allen andern berührt. Der Aufbau der Gesamtgeschichte in unserem Weltbilde hängt deshalb ganz davon ab, ob man ihre innere Form erkennt, welche durch die äußere gefälscht wird.« (UA. II 228) Mit diesen Worten wies Spengler der magischen Kultur eine Sonderstellung in seinem Konzept zu. Sie ist begründet einerseits in der zentralen Position und andererseits in der Abartigkeit der »äußeren Form«. Die Einbeziehung dieser magischen Kultur wird zum experimentum crucis für die ganze Theorie, weil dann, wenn eine Subsumierung unter das Grundschema mißlingt, dieses selbst zerbricht. Denn in einem solchen Falle müßte entweder für das Geschehen des ersten Jahrtausends ein abweichender Kulturtypus geschaffen werden oder aber dieses Geschehen aufgeteilt und den räumlich und zeitlich angrenzenden Kulturen zugeschlagen werden. Das wiederum brächte diese aus der Fasson. Darum ist es verständlich, wenn Spengler der Einordnung der magischen Kultur in seinen Achterzyklus besonderen Wert zumaß.
5. Pseudomorphose ?
Unter den möglichen Bedenken gegen den Normalcharakter der magischen Kultur hat Spengler das Nebeneinander von absteigenden antiken und aufsteigenden orientalischen Kräften anerkannt. Um die kulturelle Einheit zu retten, bediente er sich der aus der Mineralogie entlehnten Metapher der Pseudomorphose. »In einer Gesteinsschicht sind Kristalle eines Minerals eingeschlossen. Es entstehen Spalten und Risse ; Wasser sickert herab und wäscht allmählich die Kristalle aus, so daß nur ihre Hohlform übrigbleibt. Später treten vulkanische Ereignisse ein, welche das Gebirge sprengen ; glühende Massen quillen herein, erstarren und kristallisieren ebenfalls aus. Aber es steht ihnen nicht frei, es in ihrer eigenen Form zu tun ; sie müssen die vorhandenen ausfüllen und so entstehen gefälschte Formen, Kristalle, deren innere Struktur dem äußeren Bau widerspricht, eine Gesteinsart in der Erscheinungsweise einer fremden. Dies wird von den Mineralogen Pseudomorphose genannt. Historische Pseudomorphosen nenne ich Fälle, in welchen eine fremde alte Kultur so mächtig über dem Lande liegt, daß eine junge, die hier zu Hause ist, nicht zu Atem kommt und nicht nur zu keiner Bildung reiner, eigener Ausdrucksformen, sondern nicht einmal zur vollen Entfaltung ihres Selbstbewußtseins gelangt. Alles was aus der Tiefe eines frühen Seelentums emporsteigt, wird in die Hohlformen des fremden Lebens ergossen ; junge Gefühle erstarren in ältlichen Werken und statt des Sichaufreckens in eigener Gestaltungskraft wächst nur der
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Haß gegen die ferne Gewalt zur Riesengröße. Dies ist der Fall der arabischen Kultur.« (UA. II 227) Die historische Literatur hat, ihrer allgemeinen Sympathie gegenüber Metaphern entsprechend, Spenglers Bild von der Pseudomorphose überwiegend freundlich aufgenommen.23 Der Grund dürfte darin liegen, daß dieses Bild eine Möglichkeit vortäuscht, Regeln vor Gegenbeispielen zu schützen. Eben dies aber rechtfertigt unser Mißtrauen. Die Geologen sind imstande, arteigene und artfremde Formung von Lava zu unterscheiden, weil sie die flüssige wie die feste Substanz vorfinden, Molekular- und Kristallstruktur vergleichen können. Hier hat die Unterscheidung von äußerer und innerer Form einen Sinn. Der Historiker indessen vermag Kultur, separat von der Form, in der sie sich ausprägt, nicht zu greifen. Form ist der Kultur nichts Äußerliches. Kultur präsentiert sich immer erst, nachdem sie Gestalt gewonnen hat. Ihr Geist, ihr Wesen oder wie wir ihren Inhalt sonst nennen wollen, muß und kann aus der Form abstrahiert werden. Sobald dies jedoch nicht zum Zwecke des Verstehens, sondern in kritischer Absicht erfolgt, nimmt jener Inhalt die Form an, die ihm die Vorstellung des Abstrahierenden aufdrängt. Wer behauptet, ein kultureller Inhalt habe nicht die ihm gemäße Form gefunden, der argumentiert nicht vom Inhalt her, sondern von dessen zu erwartender Verformung, von einer anderen Formtradition, einem fremden Formenkanon. Er spielt »richtige« gegen verfälschte, ungemäße Formen aus und setzt damit eine postulierte gegen die realisierte Formgebung. Eben dies tut Spengler. Durch Analogie innerhalb der Geschichte gewinnt er einen Einheitstypus von Hochkultur, rechtfertigt ihn durch Analogien mit der organischen Welt, findet in einem Falle eine Abweichung und erklärt diese durch Analogie aus der unbelebten Natur. Es ist schwer vorstellbar, welche Gesetze sich nicht beweisen, welche Verstöße sich nicht entschuldigen lassen, wenn die Herkunft der Analogien unerheblich ist. Die Metaphorik der Pseudomorphose soll beglaubigen, daß die Unstimmigkeit zwischen der konkreten Gestalt der magischen Kultur und dem abstrakten Typus der spenglerischen Hochkultur nicht Schuld des Schemas, sondern Schuld der Geschichte sei. Der Kulturtypus stimme schon, nur die Ereignisse seien nicht verlaufen, wie sie hätten verlaufen sollen. Spengler arbeitet mit dem Prinzip von Regel und Ausnahme, wobei letztere der Fall einer anderen Regel ist. Indem die Fälle beider Regeln nach ihrer Brauchbarkeit für die Beglaubigung der Regeln ausgesucht 23 Ed. Meyer, Spenglers Untergang des Abendlandes, 1924, 1771 ; 1925, 15 (s. Anhang) ; Adolf von Harnack an Spengler : B. 200. Koktanek 1965, 237 ; H. I. Marrou, Die Dekadenz des klassischen Altertums (1957), in : K. Christ (Hg.), Der Untergang des römischen Reiches, 1970, 396–403 ; J. Vogt, Wege zum historischen Universum, 1961, 64 ; 71. »Das Gebilde der sogenannten arabischen oder magischen Kultur … ist wohl das Fragwürdigste in der ganzen Konstruktion« (61).
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werden, wird das Verfahren beliebig. Die Zusammensetzung der Einzelphänomene zu Gesamtkomplexen erscheint als ästhetisches Problem. Da Spengler die Historie nicht als Wissenschaft, sondern als Kunst begriff (UA. I 128 ff.; 199), kann es nicht verwundern, wenn seine Resultate im einzelnen künstlich sind. Die magische Kultur entspringt einer Pseudomorphose in anderem Sinne : Der knetbare Stoff der Geschichte paßt sich den Hohlformen des Philosophengehirns an.
6. Der Geist der Geschichte
Spenglers zweischichtiges Interpretationsmodell, das äußere und innere Form, Kulturerscheinung und Kulturseele, Lebenswirklichkeit und Lebensgefühl unterscheidet (UA. I 136, 140), entspricht einem verbreiteten Denkansatz, den er dem Deutschen Idealismus entnehmen konnte. Es ist die Vorstellung, daß sich in den Kulturphänomenen höhere Potenzen oder tiefere Kräfte einesteils zeigen, andernteils verbergen. Die Geschichte wird aufgefaßt als ein vordergründiges Geschehen, in welchem hintergründige Ideen, Wesen oder Mächte »zum Ausdruck kommen«. Dieser Gedanke hat eine doppelte Wurzel. Einerseits führt er auf die platonische Ideenlehre zurück, gemäß der die uns begegnenden Dinge bloß der Schatten der Ideen sind. Und andererseits basiert er auf der bei Griechen wie Juden vertretenen Annahme, daß jedes Volk seinen Gott, seinen Genius, seinen Schutzengel besitze.24 Seit Herder sind diese Traditionen verschmolzen in der Vorstellung, in der Geschichte verwirkliche sich der »Geist der Völker«. Volksgeist, Zeitgeist und Weltgeist könnte man als die Produkte der »faustischen« auf Geschichte bezogenen Rezeption dieser Denkform ansehen,25 während die »magische«, auf Natur angewandte Ausprägung die Beziehungslehre der Astrologie darstellt : Alle Substanzen sind mit Planeten und Konstellationen verbunden26. Beidemal untersteht das gleichzeitige Geschehen einem bestimmten Chronokrator. Das zugehörige Denkbild dieser Vorstellung ist das Welttheater.27 Auf der Bühne der Geschichte begegnen uns nicht Menschen, sondern Masken, lateinisch : personae.28 24 Platon, Staat, Buch VII ; Daniel 10, 13 ff. spricht von den Schutzengeln der Perser, Griechen und Juden. Vgl. O. Nußbaum, s. v. Geleit, in : Reallexikon für Antike und Christentum 9, 1976, 961 ff. 25 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820), § 352, bediente sich der biblischen »Volksgeister« als Metaphern und machte damit die Herkunft des Gedankens deutlich. 26 Ein astrologisches Weltsystem liefert : Picatrix, Das Ziel des Weisen von Pseudo-Magriti. Translated into German from the Arabic by Hellmut Ritter and Martin Plessner, London 1962. Ritter nennt das Werk ein »arabisches Handbuch hellenistischer Magie«. 27 Demandt 1978, 344 ff. 28 M. Fuhrmann, Persona, ein römischer Rollenbegriff. In : Poetik und Hermeneutik VIII, 1979, 83 ff.
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Und unter dieser Prämisse kann es passieren, daß einem Spieler eine unangemessene Rolle aufgedrängt wird, daß ein Drama mißlingt. So meinte Spengler, die magische Seele sei in die ihrem Charakter ungemäße antike Kostüme gezwängt worden ; so behauptete er, in der Schlacht bei Actium habe die verkehrte Partei gesiegt (UA. II 230) ; so versetzte er die christlichen Kirchenväter in die arabische Scholastik (UA. II 292) und erklärte, die späten Römer seien keine solchen, sondern nachgemachte (s. o.). Eine ähnliche Denkweise liegt zugrunde, wenn Herder meinte, das Wesen des deutschen Volkstums sei durch den Einfluß von Antike und Christentum überfremdet worden : Stets glaubt der Interpret, er wüßte, wie es hätte sein müssen, und behauptet, die Menschen besser zu verstehen als sie sich selbst verstanden. Er wirft wie der Schneider im Himmel mit dem Schemel Gottes nach der diebischen Waschfrau. Immer wenn historische Potenzen wie Staaten und Völker, Kulturen und Religionen im Laufe ihrer Geschichte Gestalt gewinnen oder diese verändern, erhebt sich die Frage, ob sie durch die Geschichte verfälscht oder verwirklicht werden. Die Antwort hängt davon ab, wie das Prädikat der Eigentlichkeit verliehen wird. Mit Gründen vertretbar ist eine Entscheidung da, wo die Potenz im vorgeschichtlichen Zustand faßbar ist. Man kann das nachbiblische Christentum vom Evangelium her kritisieren. Man kann den praktizierten Sozialismus aus den Schriften von Marx und Engels angreifen. Eine Methode, Erscheinung und Wesen zu trennen, ist hier angebbar. Freilich wird sie von den jeweiligen Machthabern bestritten, aber wir haben wenigstens jenen Ansatzpunkt, der im Vergleich zwischen einer Kulturseele oder einem Volksgeist und der zugehörigen Geschichte fehlt. Soweit derartige Prinzipien aus der Realität abstrahiert sind, erlauben sie keine Kritik, sondern nur ein Verständnis. Für die altägyptische, die griechische und die mittelalterlich-christlich-europäische Welt beispielshalber hat es einen guten Sinn, von einer Eigenart zu sprechen, die in zahlreichen, vielleicht allen Äußerungen durchschlägt und sich von dem Stil unterscheidet, der außerhalb, vor- und nachher herrschte. Es gibt dafür einen naheliegenden Grund. In diesen Fällen handelt es sich um Kommunikationseinheiten, die synchron durch Verkehr, diachron durch Überlieferung besonders eng verbunden waren. Aus dem nach außen schwächeren und im Inneren intensiveren Kontakt erwachsen großräumig und langfristig einheitliche Kulturkomplexe, Stile im Sinne Spenglers. Diese Hochkulturen zeigen in ihren Entwicklungen Parallelen, doch müßte ihrer physiognomischen Individualität mehr Raum gegeben werden, als Spengler dies zugunsten seines Normaltypus von Hochkultur zugesteht. Mit einer flexibleren Interpretation der Geschichte verliert die aus ihr ableitbare Prognose an Bestimmtheit, aber nicht an Wert.
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»In allen Wissenschaften sind die größten Erfindungen nur durch Analogien gemacht worden« heißt es bei Herder,29 und dies dürfte auch Spenglers Auffassung gewesen sein. Da er seine Vorstellung vom Untergang des Abendlandes aus seiner Konzeption vom Ende der Antike gewonnen hat (UA. I 143), ist es erforderlich, letztere zu prüfen, bevor erstere beurteilt werden kann. Sehen wir ab von extremen Stellungnahmen, die den Anfang der Schlußphase der antiken Kultur bereits mit dem Ausbruch des peloponnesischen Krieges 431 v. Chr. verbinden (so Toynbee) oder ihr Ende erst im Fall Konstantinopels 1453 erblicken (wie Gibbon), so sind drei Schlußpunkte diskutabel. Der früheste liegt bei Alexander : Mit ihm sind alle später bedeutsamen kulturellen Elemente der Antike im Prinzip ausgebildet, und was folgt, läßt sich unter dem Begriff des Hellenismus fassen, der die Variationen zum gegebenen Thema bringt. Im Sinne Spenglers eröffnet Alexander den Übergang von der Kultur zur Zivilisation. Als mittlerer Endpunkt ist die Konsolidierung des Imperium Romanum zu nennen, weil damit der Hellenismus seine abschließende politische Ordnung gewonnen hat. Dies war Spenglers eigene Zäsur. Sie ist deswegen merkwürdig, weil politische Kriterien bei ihm sonst kein eigenes Gewicht haben. Möglicherweise hat ihn beeindruckt, daß Augustus innerhalb der römischen Geschichte das Resultat einer Entwicklung darstellt, die mit ihm endet. Als jüngster Abschluß kommt die traditionell sogenannte Spätantike in Betracht, die den Übergang vom Polytheismus zum Christentum unter Constantin, die Auflösung des Reichsverbandes in der Völkerwanderung und die Dreiteilung Europas in eine germanische, eine byzantinische und eine arabische Sphäre herbeigeführt hat. Das Latein verwandelte sich damals aus der Sprache des römischen Volkes in die der katholischen Kirche. Dies wäre das Ende des mit Alexander beginnenden zivilisatorischen Finale der Antike : »So ist die Antike das einzige Beispiel einer im Augenblick ihrer vollen Reife abgebrochenen Zivilisation.« (UA. II 131)
7. Fünf Zukunftsbilder
Für die Analogie zwischen dem Ausgang der antiken und dem der abendländischen Kultur stehen uns mithin drei Möglichkeiten offen, die alle aus Spenglers eigenem Ansatz herzuleiten sind. Er selbst hat sie zur Prognose benutzt, und die seit Spengler verstrichene Zeit ist ein Anreiz, seine Vorhersagen am inzwischen erfolgten Geschehen zu messen. Zum siebzigsten Geburtstag hat dies Adorno getan. Er hat Spenglers Vorhersagen bis 1950 bestätigt, meinte allerdings, für die weiteren Aus29 J. G. Herder. Über Bild, Dichtung und Fabel (1787), I4, in : Ders. Sämtliche Werke zur schönen Literatur und Kunst XIII, 1821, 45.
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sichten sei das immer noch kein Grund zur Hoffnungslosigkeit. Zum hundertsten Geburtstag 1980 hat sich das Bild kaum verändert, und daher ist zu fragen, was überhaupt eintreten müßte, um Spenglers Prognosen zu widerlegen. Überschauen wir darum die plausibleren unter den künftigen Entwicklungsmöglichkeiten. Nehmen wir die finsterste Aussicht vorweg : das Ende Europas durch den Atomschlag. Gewiß konnte Spengler diesen nicht ahnen, trotzdem dürfte er ihn als eine Bestätigung seiner These über alle Erwartungen hinaus betrachten. Sofern ihn das Ende der Antike zu der These vom Untergang des Abendlandes gebracht hat, läge allerdings der Fall vor, daß trotz bestätigter Vorhersage deren Herleitung nicht einsehbar ist. Denn mit dem Untergang der Antike wäre das atomare Ende nur dann vergleichbar, wenn wir nun doch an einen explodierenden Ozeandampfer dächten. Wir müßten das Vorurteil der Leser gegen den Willen des Autors rehabilitieren und uns darüber hinwegsetzen, daß eine solche Kulturkatastrophe nicht nur in der Antike, sondern überhaupt beispiellos wäre, auch in Mittelamerika keine Parallele fände (UA. II 51). Übrig bliebe allein die Lehre von der Vergänglichkeit der Kultur im Spätstadium, wobei die Todesart variabel wäre. Der Atomtod ließe sich als Charaktersymptom der europäischen Kultur deuten : Ein derartiger Abschluß wäre einmalig, aber kennzeichnend für den faustischen Stil. Das andere Extrem neben der denkbar größten wäre die denkbar geringste Änderung : der Status quo. Die Welt bleibt trotz schwankender Schwerpunktverschiebungen dreigeteilt, Konflikte treten zwischen und innerhalb der Blöcke, aber nur örtlich begrenzt auf. Der Wohlstand insgesamt und die Kluft zwischen armen und reichen Ländern wachsen fort, während die europäische Technik sich weiter über die Erde verbreitet. In diesem Falle könnten wir uns in den frühen Hellenismus einordnen : Der Alexanderkrieg wäre vorbei (UA. I 194), ein Gleichgewicht der Mächte gestattete den Ausbau einer weltweiten Zivilisation. Die Differenz zwischen den beiden Spätkulturen bestünde nur im individuellen Gepräge des grundsätzlich gleichen Verlaufstypus. Der Untergang des Abendlandes sänke ab zu einem akademischen Problem : Im Sinne von Spenglers Entwicklungsrhythmus läge er hinter uns, wäre eigentlich ein Übergang zur Kulturlosigkeit. Spengler hat ja nur das Ende der Kulturentwicklung verkündet, die Dauer der Zivilisation hat er offengelassen (UA. I 143). Da uns ohnedies an Zivilisation mehr liegt als an Kultur, gäbe ein solcher Untergang keinen Anlaß zur Sorge. Wir könnten Spengler zustimmen, vorausgesetzt, wir akzeptieren seine auf Kant zurückgehende Zweiteilung von Kultur und Zivilisation. Daß wir dazu Grund haben, erweisen die zunehmend erkennbaren Schattenseiten unserer technischen Lebenswelt. Orwells Vision einer – wenn auch erst nach 1984 zu erwartenden – totalitär- technokratischen Gesellschaftsmaschinerie verträgt sich mit einer Fortdauer der außenpolitischen Kräftelage ebenso wie mit den im folgenden zu erwägenden Verschiebungen.
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Die dritte Möglichkeit einer künftigen Entwicklung wäre der Aufstieg einer der beiden Nordmächte zur Hegemonie. 1933 sprach Spengler vom bevorstehenden Kampf um die Weltherrschaft (JE. 165). Sollte sie den Vereinigten Staaten zufallen, so wäre als Parallele in der Antike der römische Imperialismus zu erwägen. Die Römer waren kulturell so hellenisiert wie die Amerikaner europäisiert sind, beidemal handelt es sich um Vielvölkerstaaten in spätentwickelten Randzonen des alten Kulturraumes mit überlegenen physischen Reserven. Angesichts des Stils amerikanischer Außenpolitik im letzten Jahrhundert hat diese Möglichkeit einiges für sich. Ebenso wäre es denkbar, daß der Kommunismus unter russischer Führung die Hegemonie übernähme.30 Bereits im 19. Jahrhundert ist nach den Lateinern und den Germanen den Russen als unverbrauchtem, lernfähigen Barbarenvolk die Weltherrschaft vorausgesagt worden.31 Als Symptom für eine solche Entwicklung könnte man das russische Engagement in der Dritten Welt und Schwächezeichen im Westen anführen : eine zunehmende Schwierigkeit, die zerbröselnde europäisch-amerikanische Industriegesellschaft zu regieren, eine wachsende Planung und Kollektivierung im öffentlichen Leben (sozusagen die innere Sozialisierung) und dann jenen metaphysischen Hunger einer »zweiten Religiosität« (UA. II 380 ff.), der sich zu erheblichen Teilen neomarxistisch befriedigt. Sollte es zum russischen Protektorat über die Welt kommen, hätten wir die Wahl zwischen zwei Analogien. Spengler selbst glaubte, in Rußland entwickle sich eine neunte Hochkultur nach dem üblichen Typus, eingeleitet durch die petrinische Pseudomorphose, eine oberflächliche Europäisierung, deren letzter Ausläufer der Bolschewismus sei (UA. II 232 ff.). Man könnte jedoch auch anders argumentieren : Wie das Christentum im römischen Reich aus dem kulturellen Altland vordrang, zunächst verfolgt, dann Staatsreligion wurde, so erging es dem Marxismus in Rußland. Glaubte Spengler, im Zeitalter des Augustus zu leben, so dürfte er sich nicht ins damalige Rom, sondern müßte sich ins gleichzeitige Athen denken. Dem Mittelmeer in der Antike entspräche der Atlantik in der Moderne, der slawische Osten wäre heute, was damals der germanische Norden war. Alternativ hierzu ließe sich indessen wiederum die Parallele zu Rom ziehen. Zugunsten der inneren Verwandtschaft der Sowjetunion mit dem Imperium Romanum wäre einiges anzuführen. Die zunehmende Europäisierung Rußlands spricht für diese zweite Analogie : Eine bloße Pseudomorphose ist hier noch weniger glaubhaft als in der Spätantike. 30 Das Folgende, 1980 geschrieben, wurde inhaltlich nicht korrigiert. 31 Vorsichtig vertreten durch Danilewski (1871) 1920, 208 ff.; entschieden durch Dostojewski (1876), 1963, 226 ff.; ähnlich im Westen G. Washburn, The Coming of the Slav. In : The Contemporary Review 73, 1898, 1–13.
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Spinnen wir die Parallelen weiter, so entwickelt sich aus der skizzierten Möglichkeit die vierte : Es wäre denkbar, daß der Westen an seiner Dekadenz, der Osten an seiner Brutalität zerbricht. Dann könne die Dritte Welt ihre Reserven mobilisieren und jene Rolle übernehmen, die von den Germanen in der Spätantike gespielt wurde. Es entstände eine neue Hochkultur im Süden, vermutlich in Afrika, während die alten europäischen Kulturvölker samt ihren zivilisierten Kolonialrandmächten in Amerika und Rußland zu Fellachen herabsänken. Für eine solche Analogie spricht die Bevölkerungsentwicklung ; so wie die Germanen den Römern ihren Menschenreichtum voraushatten, so könnten die Afrikaner, vielleicht auch die Asiaten, sich eines Tages ausdehnen. Parallelen zur spätantiken Germanisierung des Imperiums, das barbarische Söldner und Siedler aufnahm, liefern unsere Gastarbeiter. Hegels Rede von der mangelnden Kulturfähigkeit der Neger hat ähnlichen Wert wie die des Aristoteles von den Untermenschen aus dem Barbaricum. Irgendwann kommt die Ahnung, daß man über die Nachbarn umlernen muß. Tacitus hatte zu den Germanen ein ähnliches Verhältnis wie die europäische Intelligenz bis Lewis Henry Morgan zu den Irokesen, den edlen Wilden.32 Vielleicht verwirklicht sich diese vierte Zukunftsperspektive in einer Form, die als fünfte zu zählen wäre : wenn uns nämlich eine neue Völkerwanderung erspart bliebe und die Alte Welt auf dem erreichten Niveau fortdauern könnte, so wie Byzanz in der mittelalterlichen Staatenwelt weiterlebte. Es wäre doch denkbar, daß die Entwicklungsländer ihre Bezeichnung rechtfertigen und sich über die Entwicklungshilfe oder auf dem Umweg über militärische oder kommunistische Entwicklungsdiktaturen so weit zivilisieren, daß eine demokratiefähige Gesellschaft entsteht. Im Ostblock könnte der Wunsch nach wirtschaftlicher Zusammenarbeit mit dem Westen und der Gegendruck der Bevölkerung unter der Führung der Intellektuellen, die ja schon das Zarenreich unterminiert haben, langfristig eine Aufweichung bewirken. Die nationalen Regungen unter den Verbündeten Moskaus, die ethnischen Sonderinteressen in der Sowjetunion und die Dissidenten allerorts lassen sich als Anzeichen eines solchen Vorganges auslegen. Am Ende stünde eine weltweite Staatengemeinschaft nach dem Muster des Westens : Demokratie im Inneren, Freizügigkeit nach außen, Rivalitäten zwischen den Staaten zu Sportaktionen gebändigt.
32 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 1961, 158 ff.; Aristoteles, Politik, 1252 b 9 ; Tacitus, Germania pass.; L.H. Morgan, Die Urgesellschaft, 1877/1908, 126 f. u. a.
Drei Großperioden
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8. Drei Großperioden
Wäre dies die Zukunft, so wäre die Analogie zum Untergang Roms nur dann zu ziehen, wenn wir uns von dessen zyklischer Interpretation durch Spengler befreiten und uns der progressiven Deutung durch Aufklärer wie Herder anschlössen. Er verstand Roms Ende als das Resultat einer militärisch-imperialistischen Gewaltpolitik : Ein zusammeneroberter Vielvölkerstaat habe keine Dauer haben können und sich auflösen müssen in die Eigenständigkeit der Nationen, die dann getrennt nach Lebensart, aber vereint im Glauben an die Humanität den Kosmos der europäischen Völker bildeten.33 Ein dem vergleichbarer Schritt läge in unserer letzten Prognose, freilich zugleich ein anderer Übergang als jener zwischen Hochkulturen. Vielmehr verschmölzen diese zu einer einzigen Stufe einer dreigliedrigen Weltgeschichte : von der Stammeskultur über die Hochkulturen zur Weltkultur. Wir selbst stünden im Eingang zu letzterer. Spengler könnte auch eine derartige Endphase akzeptieren : In seiner Terminologie wäre das nach den primitiven und den hohen Kulturen bloß kein »drittes Zeitalter«, sondern ein Anhängsel des zweiten, die universale und permanente Zivilisation des späten Europa (UA. II 43), die dauert so lange, wie die technische Begabung der Europäer anhält. Spengler hat aus dem Prinzip des faustischen Lebensgefühls die abendländische von allen früheren Zivilisationen unterschieden. Im Gegensatz zur Erstarrung der ägyptischen, byzantinischen, chinesischen Spätphase, insbesondere zum »ruhend gesättigten Sein der antiken Kaiserzeit« (UA. II 627) sei die Spätmoderne durch ihr »Allegro con brio« (UA. I 146), den beispiellos dynamischen Technisierungsprozeß und dessen Verbreitung über die Welt gekennzeichnet, in der auch keine russische Hochkultur Zukunft hat. Die Parallelität zwischen dem Ende der antiken und dem der okzidentalen Kultur kann mithin unterschiedliche Formen annehmen, je nachdem, ob uns der Atomkrieg, der Status quo, die Hegemonie einer Supermacht, eine Schwerpunktverschiebung in die Dritte Welt, oder ein Pluriversum zivilisierter Staaten bevorsteht. Jede dieser Ereignisfolgen läßt sich, wie zu zeigen war, in irgendeinem Sinne mit Spenglers These vom Untergang des Abendlandes vereinbaren und dem Geschehen am Ausgang der Antike gleichordnen. Die Unbestimmtheit, mit welcher der fünf Prognosen denn nun zu rechnen sei, resultiert aus den grundsätzlichen Schwierigkeiten, Geschichte in die Zukunft zu spiegeln. Denn stets brauchen wir zweierlei : einerseits die unstreitige Kenntnis des bisherigen Geschehens und andererseits eine bewährte Form der Fortschreibung durch Analogien, Prozeßmodelle oder Entwicklungstendenzen. Wie kontrovers das zur Vorhersage gebrauchte Ge33 Zu Herder, Ideen vgl. Anm. 8.
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schichtswissen ist, zeigt sich darin, daß für das Ende der antiken Kultur Zeitpunkte von Alexander bis Mohammed angegeben werden. Und wie problematisch die Vermittlungstechnik ist, ergibt sich daraus, daß eine zyklische Analogie zwischen dem späten Altertum und der jüngeren Neuzeit, eventuell im Rahmen eines Prozeßmodells von Hochkulturen überhaupt, und eine lineare, als Fortschritt gedeutete Tendenz der Universalgeschichte als Prognoseform konkurrieren. Die darin begründete Unsicherheit in der Vorhersage empfiehlt Skepsis. Wenn die Analogie zum Ende der Antike solch divergierende Prognosen wie Atomtod oder Universalzivilisation nicht zu entscheiden gestattet, dann ist sie nichts wert. Es wäre kein Kunststück, über die fünf aufgezeigten Zukunftsvarianten weitere zu entwerfen, etwa die politische Vereinigung der europäischen und europäisierten Länder der Nordhalbkugel bei deren anhaltender kultureller Überlegenheit über die Dritte Welt ; oder der plötzliche Niedergang der okzidentalen Zivilisation, ohne daß irgendwo eine neue Kultur entstünde ; oder das Aufblühen von zahlreichen kleinräumigen Kulturzentren mit individueller Physiognomie. Derartige beliebig vermehrbare Perspektiven entwerten das prognostische Potential der spenglerschen Analogien. Die Geschichte liefert uns nicht nur den Stoff für unsere eigene Theorie, sondern gestattet auch die Prüfung älterer Entwürfe, an deren bestem die unsere sich wird messen müssen. Die Prognosen eines Condorcet, eines Hegel, eines Marx sind durch den Fortlauf der Dinge zwar auch bis zu einem gewissen Grade bestätigt worden, haben im ganzen indessen stärkere Korrekturen hinnehmen müssen als Spenglers Zukunftsbild. Möglicherweise beruht dies darauf, daß er jünger ist als jene. Für den Fall, daß einer der fünf skizzierten Fortgänge einträte, ließe sich das bei wohlwollender Interpretation als Bestätigung von Spenglers Ansatz auffassen. Freilich ist das nur im Vorgriff möglich, denn wenn es soweit ist, wird es zu spät sein. Trifft uns der Atomschlag, bliebe niemand übrig, der Spengler recht geben könnte. Dauert der Status quo, wird Spengler durch Buchproduktion und Medienkonsum an den Rand gerückt, bis der Untergang des Abendlandes einmal im Fernsehen erscheint. Wer Spengler aus historischen Gründen noch liest, kann ihn nicht mehr beurteilen, weil das Wissen aus den Köpfen in die Bibliotheken gewandert ist. Kommt es zu einer Weltherrschaft, so rechtfertigt sie sich durch eine eigene Geschichtsphilosophie. Verlagert sich der Herd der Geschichte in die Dritte Welt, so müßte Spengler nach seiner eigenen Theorie vergessen werden. Denn er bestritt ja eine Verständigung zwischen den Kulturen (UA. I 39) und wollte bewußt eine faustische Geschichtsphilosophie schaffen, die nur in seinem Kulturkreise Chancen hätte, begriffen zu werden. Sollte schließlich eine Gemeinschaft zivilisierter Staaten nach dem Ideal der UNO entstehen, so hätten alle optimistischen Geschichtsdenker Aussichten auf ein Standbild, nicht aber ein Mann, der sich (UA. I p.IX) auf
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Nietzsche berief, der schrieb : »So will ich ihnen vom Verächtlichsten sprechen : das aber ist der letzte Mensch … Sein Geschlecht ist unaustilgbar wie der Erdfloh … ›Wir haben das Glück erfunden‹ … sagen die letzten Menschen und blinzeln«.34 In der Spätantike haben Orakel der alten Götter deren eigenes Ende vorausgesagt, sogar den Tod des Zeus.35 Damit konnten sie aus dem praktischen Sieg des Christenglaubens eine theoretische Bestätigung des Heidentums gewinnen. In ähnlicher Lage befindet sich Spengler. Er bestritt die Existenz ewiger Wahrheiten und wollte die Philosophie seiner, und nur seiner Zeit beschreiben (UA. I 30, 55, 61 f.). Noch in unserem Jahrhundert werde die Kritik dem Glauben, der »zweiten Religiosität« weichen, indem der Spätmensch »die Bücher weglegt«, also auch die seinen (UA. I 544). So konnte Spengler der Möglichkeit getrost ins Auge sehen, von künftigen Generationen Widerspruch zu erfahren oder gar vergessen zu werden. Eben dieses würde seine Vorhersage erfüllen und seine Selbsteinschätzung bekräftigen. Ein solches Gefühl der Unangreifbarkeit erwächst aus der Bereitschaft zum Untergang, dem dessen Prophet auch selbst nicht entrinnt : Findet der Untergang statt, so reißt er den Propheten mit. Er hätte recht, aber würde vergessen. Bleibt der Untergang aus, so ist der Prophet widerlegt. Er verdiente, vergessen zu werden und wird es dann auch. Entweder geht es ihm an die physische oder an die intellektuelle Existenz. Ein tragisches Schicksal : Die Vollendung wäre der Untergang. Käme es 2018 zu einem hundertjährigen Gedenken für das Erscheinen von Spenglers Buch, so wäre dieses aus einem Instrument der Geschichtsdeutung zu einem Gegenstand der Geschichtsschreibung geworden. Wollen wir ihm das wünschen ? Für Spengler wäre das ein Verlust, aber für das Publikum ein Gewinn. Denn was uns die Geschichte selbst nicht lehren kann, das lehrt uns die Geschichte ihrer Deutung.
34 F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra (1883) I, Vorrede § 5. 35 W. Scott, Hermetica I, 1924, 344.
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Historia vero testis temporum, lux veritatis, vita memoriae, magistra vitae, nuntia vetustatis. Cicero
VII. Spenglers »ahistorische« Antike
Oswald Spengler hat 1918 und wieder 1922 erklärt, die antike Kultur beruhe auf einem »ahistorischen Geiste«, und das gelte insbesondere für die Hellenen.1 Das Fehlen eines »historischen Organs« vermerkt er in der griechischen Literatur, in der Kunst, im Recht, im Naturverständnis. Überall sieht er reine Gegenwart, das Naheliegende, ohne Rückblick in die Vergangenheit, ohne Ausblick in die Zukunft, kurz : eine »Verneinung der Zeit«, und das gilt ihm ebenso für das Geschichtsbild. Diese These hat heftigen Widerspruch erfahren, schon in dem Sonderheft des ›Logos‹ 1920/21, das dem »Streit um Spengler« gewidmet ist. Darin behandelte Eduard Schwartz spenglerkritisch das »Verhältnis der Hellenen zur Geschichte«, und andere folgten.2 Auch Eduard Meyer (1924, 1767) widersprach. Noch 1946 äußerte sich Walter F. Otto diesbezüglich als Gegner Spenglers. Für ihn waren die Griechen vielmehr »das historischste aller Völker«.3 Wenn Gelehrte von Rang in einer wesentlichen Frage entgegengesetzter Meinung sind, kann es nicht darauf ankommen festzustellen, wer von beiden recht hat. Ergiebiger ist der Versuch herauszufinden, wie die Autoren zu ihrer gegenteiligen Ansicht gelangt sind. Das führt zu einer Klärung des jeweiligen Geschichtsbegriffs und kann zu einem vertieften Verständnis dessen beitragen, was mit »historisch« beziehungsweise »ahistorisch« gemeint sein kann.
1. Spenglers antikes Erbe
Spenglers These ist schon vom Begriff her paradox. Otto erinnert daran, daß das Wort historia griechisch ist und von Herodot, dem pater historiae,4 auf seine Geschichtsschreibung angewandt wird. Er nennt sie historiēs apodexis - »Darstellung 1 2 3 4
UA. I 10 ff.; 133 ; 335 ; 497 ; II 73. Schröter 1949, 61 f. Otto 1949, 14. Cicero, De legibus I 5.
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des Erkundeten«. In einem weiten chronologischen, geographischen und thematischen Rahmen beschreibt er die Perserkriege. Im Unterschied zu seinen Vorgängern, den Logographen, ist er ein glänzender Erzähler und der Überlieferung gegenüber keineswegs unkritisch, so wie auch zuvor schon Hekataios von Milet. Im Unterschied zu dem kulturhistorisch aufgeschlossenen Herodot konzentriert sich sein Fortsetzer Thukydides streng auf das politisch-militärische Geschehen des Peloponnesischen Krieges, dessen sorgsam recherchierte Geschichte für die spätere Historiographie vorbildlich wurde. Dies gilt auch für die seitdem bevorzugte Thematik der Historiker, die politische Geschichte.5 Daneben fehlt es in der griechischen Literatur nicht an Werken zur Kultur- und Ortsgeschichte, an Biographien, Monographien zu antiquarischen und historischen Themen und Erinnerungsträgern verschiedenster Art wie Inschriften, Denkmälern und Gedenktagen im Jahreslauf. Nicht nur den Terminus historia mit seinen Ableitungen verdankt Spengler der Antike, sondern auch seinen Zentralbegriff »Kultur«. Aus dem Zeitwort colere – »pflegen, bearbeiten, ausbilden« haben die Römer colonus – »Bauer, Siedler«, weiterhin cultus – »Anbau, Ausbildung, Behandlung« und cultura abgeleitet. Das Wort bezeichnet in der Landwirtschaft den Anbau des Feldes, die Veredelung von Nutzpflanzen und dann auch die Kultivierung des Geistes. Cicero spricht in den Tuskulanen (II 13) von cultura animi, im Sinne der Philosophie, die schlechte Anlagen »mit der Wurzel« ausreißt und die »Saat« der guten Eigenschaften aufgehen läßt. Bei Horaz im ersten seiner Briefe (39 f ) ist cultura die Bemühung, wiederum im Sinne der Philosophie, die Laster und Leiden der Seele zu überwinden, die animalischen Triebe in uns zu zügeln und zu zähmen. Griechisch gleichbedeutend ist paideia, die Kindererziehung, die Bildung. Sowohl cultura als auch paideia bezeichnen nicht wie unser Wort »Kultur« einen Tätigkeits- und Sachbereich, eine höhere Lebensform, sondern einen zielgerichteten Vorgang in der Richtung auf eine zivilisierte Menschlichkeit, auf Humanität, also »Kultivierung«. Dieser Zeitbezug findet sich noch in Wörtern wie »Pilzkultur«, ist aber sonst in unserem Wort »Kultur« verschwunden. Das steht nun quer zu Spenglers These von der »Verneinung der Zeit« (UA. I 11) in der Antike im Gegensatz zu unserem dynamischen Denken. Den modernen Kulturbegriff prägte Herder. Römischen Ursprungs ist ebenso das Wort »Zivilisation«. Lateinisch civis ist der Bürger, der Angehörige einer civitas, einer organisierten größeren Lebensgemeinschaft, klassisch : einer Stadt. Civilis heißt ein »gesittetes« Verhalten, das dem Gemeinwohl zuträglich ist. Wo Zivilisation und Kultur unterschieden werden, 5 Strasburger, H., Die Entdeckung der politischen Geschichte durch Thukydides (1954). In : Ders., Studien, 1982, II 527 ff.
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steht erstere für die elementaren, praktischen Dinge, für den körperlichen Bereich, letztere für Kunst, Religion und den geistigen Kosmos. Er zeichnet bei Spengler die Hochkultur aus. Indem Spengler den »ahistorischen Geist« der Griechen und Römer mit Hilfe der Begriffe Historie, Kultur und Zivilisation kritisiert, steht er auf dem Boden der antiken Tradition, die ihm überhaupt neun Zehntel seiner philosophischen Terminologie liefert.6 Diese gewissermaßen homöopathische Konstellation wiederholt sich bei Spenglers Fatalismus, seinem Glauben an die höhere Notwendigkeit des historischen Geschehens. Denn er entlehnt auch seine Schicksalsidee der Antike, wo er sie allerdings für sinnlos erklärt. Indem er den »vollkommenen Unsinn des blinden Verhängnisses« im »ahistorischen Seelentum« der Antike anprangert (UA. I 184 ff.), reduziert er das Geschichtsverständnis der »euklidischen Seele« auf die Feststellung bloßer Tatsachen, auf eine Folge von »geschichtsfeindlichen, dämonischen, absurden Zufällen« ohne innere »Logik des Geschehens«. Dagegen sei »unsere Geschichte die der großen Zusammenhänge«, gestiftet durch die tiefe Symbolik alles Geschehens, die den Zufall zum »Schicksal« nobilitiert, das nicht rational erkannt, sondern nur erlebt, erschaut und erfühlt werden könne. Der antike Fatalismus erschöpft sich laut Spengler in Zufälligkeit. Und dennoch beruft er sich auf ihn. Denn die Quintessenz am Schluß seines Werkes lautet : Ducunt fata volentem, nolentem trahunt (UA. II 630). »Das Schicksal lenkt und leitet den, der ihm folgt, es zerrt und zieht den, der das nicht will.« Spenglers heroische Schicksalsidee ist nicht nur dieselbe wie gemäß jenem Spruch bei den Stoikern Seneca (ep. 107, 11) und Kleanthes (um 260 v. Chr.),7 sondern – via Kant8 oder Schopenhauer9 – von dort auch übernommen. Die Stoiker sahen ihren Ahnherrn in Heraklit, über den Spengler 1904 seine Doktorarbeit geschrieben hat (RA. 1 ff.). Darin behandelt er auch die Begriffe Tyche, Ananke und Heimarmene, den von Heraklit und der Stoa verwendeten Schicksalsbegriff. Dieser bezeichnet das von den Moiren, den Parzen uns Menschen »zugeteilte Los«, lateinisch fatum. Spengler paraphrasiert Diogenes Laertios (IX 2) : Heimarmene ist das »überall und unbedingt waltende Schicksal«, das durch Gegensätze Harmonie erzeugt, bei Plutarch (Moralia 1026) konkretisiert durch Heraklits Bild von Leier und Bogen (RA. 20). Naturgeschehen ist hier ein ästhetisches Phänomen, so wie die morphologisch strukturierte Kultur bei Spengler. In der Charakterisierung seines griechischen spiritus rector aus Ephesos spiegelt Spengler sich selbst. Er kennzeichnet Heraklit als »tragische Persönlichkeit« von 6 7 8 9
Analogie, Analysis, Cäsarismus, Chronologie, Dynamik, Symbol, System usw. Epiktet, Encheiridion 53. Insel I 219 ; V 685. Insel IV 253.
Spenglers antikes Erbe
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»großer und vornehmer Lebensauffassung« in der Zeit des »Untergangs« des hellenischen Adels, als »Aristokraten«, der den »Unterschied von Herrschenden und Gehorchenden« liebte. Heraklit war für Spengler ein »Psychologe«, ein »Realist« mit einer »ausgesprochenen Abneigung gegen eigentlich wissenschaftliche Detailforschung«. Ebenso Spengler. An Heraklits Ideen rühmt er den »intuitiven Charakter«, an seiner Sprache das »satte und farbenreiche Pathos«, an seinem Denken den »wahren Imperatorenstil« und – oho ! – die »Überspannung des Originalitätstriebes«. In seinen nach Marc Aurel ›Eis heauton‹ betitelten Tagebuchblättern beklagt Spengler sein heraklitisch »krankhaftes Bedürfnis nach Einsamkeit« (Nr. 20 ; 99) und seine Neigung zum Weinen (Nr. 50 ; 65 ; 123). Sie überfiel ihn noch 1928 (UF. 367). Weinte doch auch Heraklit gemäß Seneca,10 so wie Spengler, der Philosoph mit den hängenden Mundwinkeln. Man denkt an den verschlossenen Mund von Sigmund Freud. In dem Brief Senecas, dem Spengler seinen Schlußspruch verdankt, wird der Freund Lucilius getröstet, dem Sklaven entlaufen waren. Er möge sich mit dem Unabänderlichen ohne Groll abfinden, das stoische Credo. Doch was ist unabänderlich ? In Menschendingen entscheidet das nur der Versuch, die Lage zu ändern. Seneca erlebte das in eigener Person, erst Erzieher, dann Opfer von Nero. Das gemahnt entfernt an Spenglers Schicksal unter Hitler. Wie für den Geschichtsbegriff und den Schicksalsglauben ist Spengler auch für den Entwicklungsgedanken der Antike verpflichtet, wo er ihn freilich bestreitet : »Hat je ein Grieche das Bewußtsein einer historischen Entwicklung zu irgendeinem Ziele besessen ?«, fragt er (UA. I 190). Das Wort »Entwicklung«, nachgewiesen seit 1645, ist eine Lehrübersetzung von lateinisch evolutio zu evolvere – »auswickeln«, griechisch anaptyssein. Dahinter steht das Bild einer Buchrolle, eines Volumen, die ihren Inhalt durch »Aufrollen« preisgibt. Übertragen verwendet schon Sophokles diesen Vorgang : »Die Zeit, die alles sieht und hört, entrollt auch alles«, sie bringt nach und nach alles ans Licht.11 Das, was allmählich ans Licht kommt, existiert im Dunkel zuvor schon, so wie der Inhalt einer noch geschlossenen Buchrolle. Wenn Spengler von Entwicklung »zu irgendeinem Ziele« spricht, so klärt das nur den teleologischen Gehalt, den der Begriff »Entwicklung« ohnehin enthält und der ihn vom Begriff »Veränderung« unterscheidet. Aufgrund seiner monadischen Kultur idee bescheinigt Spengler der apollinischen Kultur ein anderes Zeitbewußtsein als der faustischen Kultur, übersieht dabei aber, daß letztere sich aus ersterer »entwickelt« hat. Dies gilt ebenso für das europäische Geschichtsverständnis, einschließlich Spenglers, auch wenn er die Vorstufen seiner Theorie verschleiert. 10 Seneca, Dialoge IV 10,5 ; IX 15,2. 11 Gellius XII 11,6.
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Die Präexistenz des in jeder Entwicklung vorausgesetzten Telos ist nach Sachgebieten sinnverschieden. Der Inhalt einer Buchrolle steht fest, bevor sie aufgerollt wird. Die Gestalt einer Pflanze ist nur im Prinzip in dem Samen enthalten, aus dem sie sich entwickelt, wie Augustinus (CD. XXII 24) vermerkt. Das Ergebnis einer historischen Entwicklung hingegen existiert nur begrifflich vor seiner Verwirklichung, und auch das nur als eine von mehreren Möglichkeiten. Betrachten wir den Ersten Weltkrieg als das Resultat einer Entwicklung, so haben wir dieses, der Zeit vorgreifend, bereits im Sinn, wenn wir die Folgen der Tirpitzschen Flottenpolitik kommentieren. Theodor Lessing (1927, 237 ff.) nannte das logificatio post festum. Hinterher meint man zu wissen, nicht nur wie es gekommen ist, sondern auch wie es »kommen mußte«. Wenn Spengler bei den Griechen den Gedanken einer »historischen Entwicklung zu irgendeinem Ziel« vermißt, so ist schon auf Thukydides zu verweisen. Er beschrieb in seiner ›Archäologie‹, seinem ersten Buch, die Vorgeschichte des Peloponnesischen Krieges als eine lange Folge von Stufen demographischer, politischer und zivilisatorischer Entwicklung, von ökonomischen und technischen Fortschritten bis auf seine Zeit. Im zweiten Jahrtausend v. Chr. schilderte der Grieche Polybios den Aufstieg Roms zur Weltmacht, die im Kampf mit Karthago das Mittelmeergebiet zu einem einzigen Verkehrsraum vereinigte. Unter Augustus verfolgte Livius denselben Plan, zeitlich verlängert, zeigte aber so wie schon Polybios einen gegenläufigen Prozeß, indem parallel zur äußeren Machtentfaltung eine innere Schwächung, ein Sittenverfall eintrat, der in den Bürgerkrieg mündete. Eingeflochten sind bei Livius die Etappen der römischen Verfassungsentwicklung, die schon Cicero in seinem Dialog über den Staat als Prozeß beschrieb. Zwar ist das, was er in der Königszeit entstanden glaubte, legendär, aber es ist gedanklich Teil einer von Spengler bestrittenen Entwicklung. Cicero verbildlicht sie durch den Lebensaltervergleich. Er zeigt, wie das Volk unter Romulus geboren wurde, das Stadium des in der Wiege schreienden Säuglings hinter sich ließ und beinahe die Pubertät erreichte (II 21). Von der republikanischen Verfassung heißt es, daß sie »geboren wurde«, wuchs und mit dem Erwachsenenalter ihre volle Kraft gewann (II 3). Spengler vermerkt nicht, daß seine Grundidee vom organischen Wachsen, Blühen und Vergehen der Kulturen (UA. I 143) sich dem »ahistorischen Geist« der Antike verdankt. Zwar dachte die Antike nicht in »Kulturen« im Sinne historischer Komplexe grenzübergreifender Lebensformen, doch war ihr die Parallelisierung der Geschichte von Völkern und Staaten mit der natürlichen Entwicklung des einzelnen Menschen vertraut. Selbst für die Natur und die Welt als ganze wurde ein Prozeß des Alterns angenommen, und zwar ebenso wie bei Spengler von Autoren, die sich in der Spätphase dieses Vorgangs zu befinden glaubten.
Was ist ahistorischer Geist ?
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Das Lebensaltergleichnis findet sich bei den Griechen, die sich selbst als junges Volk mit den Ägyptern als altem Volk verglichen. Kriterium des höheren Alters war die tiefere Weisheit. Die Römer wiederum verstanden sich als junge Nation im Gegensatz zu den inzwischen gealterten Griechen. Kriterium der Jugendlichkeit war die politisch-militärische Stärke. Den Altersvergleich zwischen Griechen und Ägyptern bringt Platon im ›Timaios‹ (22 B), Aristoteles in der ›Politik‹ (1329 B). Den Altersunterschied zwischen Griechen und Römern als Völkern betont Cicero (rep. I 58) und nach ihm Julian Apostata (Caesares 324 B). Im allgemeinen haben sich die Römer indes als gealtertes Volk empfunden. Das war ein Ausdruck ihres Dekadenzbewußtseins, ihres Pessimismus, so wie man den auch bei Spengler empfunden hat. Alter ist Schwäche, dort verminderte Vitalität in der Politik, hier erloschene Produktivität in der Kultur. Den Untergang Roms hatte der jüngere Scipio vor Augen angesichts des brennenden Karthago. Städte, meinte er, müssen eines Tages sterben so wie Menschen.12 Das Ende der Welt ahnte Lucrez im Hinblick auf Symptome der Erschöpfung wie bei einer alternden Frau (V 65 f.). Die ganze Folge der menschlichen Lebensalter fand Seneca wieder in der Geschichte Roms vom Säuglingsalter unter Romulus über die Kindheit unter den späteren Königen, die Mündigkeit mit der Begründung der Republik, das reife Alter mit der Unterwerfung »aller Länder und Meere« bis zum hinfälligen Greisenalter unter den Kaisern.13 Der Topos von der senectus Romae und vom mundus senescens im Lebensgefühl der Kaiserzeit stand in Opposition zum Zweckoptimismus der kaiserlichen Propaganda.14 Im neuzeitlichen Geschichtsdenken begegnet uns der Lebensaltervergleich bei Vico, Herder und Hegel, denen Spengler hier eher verpflichtet ist als den genannten antiken Autoren der Antike. Er grenzt sich ab gegen sie, nachdem er von ihr das Modell für den Lebenszyklus der Kultur und den Titel für sein Werk übernommen hat.15
2. Was ist ahistorischer Geist ?
Spengler unterscheidet ahistorischen Geist von Geschichtslosigkeit. Ersterer ist eine kulturspezifische Bewußtseinshaltung der »apollinischen Seele«, letztere ein angeblich universalhistorisches Realphänomen bei vorkulturellen Naturvölkern 12 Polybios XXXVIII 22. 13 Lactanz, Institutio VII 15,14 ff. 14 Demandt 1965, 118 ff.; ders., 1978, 37 ff. 15 Ihn inspirierte Otto Seeck, Geschichte des Untergangs der antiken Welt, I 1895.
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und in nachkulturellen Fellachenzivilisationen. In beiden Fällen deutet Spengler Kriege nur als zoologische Vorgänge, wie die Kämpfe zwischen Ameisenvölkern, so die »immer negerhafteren Kämpfe um den Cäsarentitel« (UA. II 57 ff.). In der okzidentalen Zivilisation zählt dazu der Zweite Weltkrieg. Historisches Geschehen ist für Spengler nur, was als Ausdruck einer »Kulturseele« in Betracht kommt. Ahistorischer Geist erfordert nicht Geschichtslosigkeit auf der Ereignisebene,16 wie denn die Antike wahrlich nicht arm an Geschichte war. Umgekehrt muß Geschichtslosigkeit nicht zu ahistorischem Geist führen. Denn eine Kultur, die ihre Geschichte hinter sich hat, kann sich deren sehr wohl bewußt sein. Spenglers Beispiel ist die »Geschichtslosigkeit« des keineswegs »ahistorischen« späten Ägypten zur Zeit Herodots, als am Nil die Zustände von »feierlicher Dauer« waren, verglichen mit dem »Tempo der Entwicklung« bei den Griechen (UA. II 60). Spengler stellt den »ahistorischen« Kulturen der Antike und der Inder die »historischen« der Ägypter und der Abendländer gegenüber. Den »ahistorischen« Geist im alten Indien, die subjektive Zeitlosigkeit, verrät ihm das Fehlen von Uhren im Alltag (UA. I 173), von individuellen Porträts in der Kunst und der Verzicht auf Namen und Zeitangaben in der literarischen Überlieferung. Historiographie fehlt im alten Indien. Anders die »historische« Seele des pharaonischen Ägypten. Sie erkennt Spengler im Ewigkeitswillen der Obelisken, Pyramiden und Mumien, in den Tempelinschriften mit den Königsnamen im Gedanken an die Nachwelt. »Die ägyptische Kultur ist eine Inkarnation der Sorge« (UA. I 15). Den Begriff »ahistorisch« grenzt Spengler ebenfalls ab gegen den Begriff »antihistorisch«. Dieser bezeichnet eine »systematische Veranlagung« Einzelner (UA. I 130), die »aus theoretischen Gründen das Historische in sich, das vorhanden ist«, unterdrücken und verwerfen. Modernes Beispiel wäre Schopenhauer,17 der den Wert der Geschichte für die Erkenntnis des Menschen bestritt. »Die Geschichte zeigt uns die Menschheit, wie uns eine Aussicht von einem hohen Berge die Natur zeigt : Wir sehen vieles auf ein Mal … aber deutlich wird nichts.« Das wahre Leben spielt sich im Detail ab, in der Biographie, in der Geschichte eines Dorfes, die im Wesentlichen der Geschichte eines Reiches gleicht. »Hat einer den Herodot gelesen, so hat er, in philosophischer Absicht, schon genug Geschichte studiert.18 Nicht das Vergängliche, das Zeitbedingte, sondern das Unveränderliche, Wesenhafte bietet Einsicht in das Menschenlos. Daher stimmt Schopenhauer der Ansicht des Aristoteles zu, der in seiner ›Poetik‹ (1451 b) erklärte, die Poesie sei »philosophischer und wichtiger« als die Historie. Die Geschichte zeige nur das 16 Demandt 1997 ; Thöndl 1997. 17 Die Welt als Wille und Vorstellung II, Kap. 38. 18 a. O. I § 51 ; 53.
Mythos ist Geschichte
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Vorübergehende, die Dichtung aber das Grundsätzliche, Allgemeinmenschliche. Dabei dachte Aristoteles zuvörderst an die Tragödie. Ihr Stoff war der Mythos.
3. Mythos ist Geschichte
Der Umgang der Griechen und Römer mit dem Mythos war für Spengler ein Symptom ihres »ahistorischen Geistes«. Zwar wußte man auch damals, daß es um vergangene Ereignisse geht, aber diese waren im Bewußtsein des Volkes gegenwartsnah, ja allgegenwärtig. Das führte zu einem Durch- und Nebeneinander von Vergangenheit und Gegenwart, von Geschichte und Mythos, der gewöhnlich als Geschichte galt. Er diente dem Bedarf an ruhmvoller Vergangenheit. Spengler (UA. I 13) nennt als Beispiel die Erfindung der bis in vortrojanische Zeit zurückreichenden Urgeschichte Messenes nach der Gründung der Stadt durch Epaminondas 370 v. Chr.19 Treffender wäre der Fall der attischen Phylen, in welche die Bürger Athens eingeteilt waren. Die vier alten Phylen der ionischen Stadt galten als Nachkommen des mythischen Ahnherrn Ion, wie noch Euripides in seiner ›Ion‹ benannten Tragödie (1575 f.) wußte. Als dann Kleisthenes 509 v. Chr. die Athener in zehn künstlich zusammengesetzte Phylen eingeteilt hatte, gab er wiederum jeder Phyle einen mythischen Ahnherrn. Er schickte eine Liste mit hundert Namen attischer Heroen nach Delphi, von denen die Pythia zehn auswählte, die dann Stammväter der neu geschaffenen Phylen wurden.20 Tradition ist machbar. Den Vorrang der Olympischen Spiele vor allen anderen griechischen Agonen begründete Pausanias (VIII 2,2) damit, daß sie älter seien als die Menschheit, denn schon Kronos und Zeus hätten sich dort im Wettkampf gemessen. Der Mythenglaube war omnipräsent. Zwar hat schon Hekataios von Milet heftige Kritik an ihm geübt, doch war er selbst keineswegs frei davon. Auch Herodot äußert verschiedentlich Skepsis, entscheidet sich dann aber doch – erfreulicherweise –, Erzähltes weiterzuerzählen, legein ta legomena (VII 152). Selbst für Thukydides (I 9 ff.) ist Homer ein Gewährsmann. In der Zeit Marc Aurels behandelte Pausanias in seinem Reiseführer die mythischen Ursprünge der von ihm beschriebenen Denkmäler, wie wenn das historisch wäre. Die gesamte griechische Mythologie ist landschaftlich verortet und wird durch lokale und gegenständliche Erinnerungsträger beglaubigt. In Delphi sah Pausanias den Stein, den Kronos anstelle des neugeborenen Zeus verschlungen hatte (X 24,6), bei Panopeus gab es noch Reste von dem Lehm, aus dem Prometheus die ersten Menschen geknetet hatte. Das 19 Diodor XV 66,2. 20 Aristoteles, Athenaion Politeia 21,6.
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konnte Pausanias am Geruch erkennen (X 4,4). Die Waffen und Knochen der Heroen wurden wie mittelalterliche Reliquien in Tempeln gezeigt.21 Alexander fand den Schild Achills knapp tausend Jahre später in Troja,22 den Speer Achills sah Pausanias (III 3,8) in Phaselis, das Schwert Memnons in Nikomedia und den Anker des Midas in Ankyra (I 4,5). In Troja bestaunte er die Kniescheibe des Ajax, groß wie ein Diskus (I 35,5). Die Gebeine des Orestes wurden laut Herodot (I 67 f.) in Tegea gefunden und als siegbringende Talismane nach Sparta entführt. Entsprechendes geschah mit den Knochen des Theseus, die Kimon 475 v. Chr. durch ein Vogelzeichen auf Skyros fand und nach Athen brachte.23 Fossile Saurierknochen hat man den Heroen und Giganten zugewiesen. Wenn das Interesse der Griechen an der Vergangenheit nicht sauber zwischen Mythos und Geschichte unterschied, so gilt das für alle frühen Völker. Heinrich der Löwe brachte 1173 aus dem Heiligen Land eine Walfischrippe mit, die vom Riesen Goliath stammen sollte. Sie hing lange im Braunschweiger Dom. Im Abendland herrschte das mythische biblische Geschichtsbild bis in die Aufklärung, als Voltaire 1765 unter dem Pseudonym »Abbé Bazin« in Amsterdam für Katharina die Große einen Abriß der Weltgeschichte publizierte, der die biblische Überlieferung beiseite ließ und statt mit der Theologie – ganz modern – mit der Geologie einsetzte. Das von Spengler in der Antike zu Unrecht vermißte Interesse an der Zukunft zeigt sich in der hohen Wertschätzung des Tatenruhms durch die Historiographie bei Griechen wie Römern.24 Chronologie ist dafür nicht erforderlich. Mythos und Geschichte gehen für den antiken Menschen nicht nur nahtlos ineinander über,25 sondern sie prägen sich auch wechselseitig. Die Amazonensage hat die Erzählung vom Alexanderzug bereichert um die Begegnung mit der Königin Thalestris, und umgekehrt hat der Alexanderzug die Reisen von Herakles und Dionysos bis Indien ausgedehnt, wo Alexander deren Spuren vorfand.26 Ähnliches gab es in christlicher Zeit, wenn Columbus auf seiner dritten Reise 1498 notierte, am Golf von Paria (Venezuela) den Eingang ins Paradies entdeckt zu haben. Mythos wurde als Geschichte verstanden, und Geschichte wurde in den Mythos zurückgespiegelt. Mythischen Heroen hat man die Grundgesetze der Staaten und Gemeinschaften zugeschrieben. Die Juden ehrten Moses als ihren Gesetzgeber, die Athener schrieben Theseus die Einrichtung der Demokratie zu,27 die Kreter 21 F. Pfister, Der Reliquienkult im Altertum, 1909–1912. 22 Arrian I 11,7 f.; VI 9,3 ; Diodor XVII 18,1 ; 21,2 ; Pseudo-Kallisthenes I 42,6. 23 Plutarch, Theseus 36. 24 Plinius, epistulae VI 16,1 ; Demandt 2015, 485 ff. 25 Aristoteles, Rhetorik II 22,6 ; Plutarch, Sulla 13. 26 A. Demandt, Alexander d. Gr., 2013, 246 ff. 27 Pausanias I 3,3.
Mythos ist Geschichte
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führten ihre Sozialordnung auf Minos zurück,28 und die Römer hielten Romulus für den Stifter der beiden Grundpfeiler der res publica, der Auspizien und des Senats.29 Der spartanische Staatsgründer Lykurg ist wenigstens eine halbmythische Figur. Von Kyros bis Augustus wurde das Leben historischer Gestalten später mit Märchenmotiven angereichert.30 Das betrifft insbesondere die Geburt und die Kindheit, wie wir das von Moses und Alexander, von Scipio und Jesus kennen. Die Motive sind kanonisch. Wie das Zeiterleben rückwirkend auf die Wiedergabe des Mythos abfärbt, ist den Dramen des Euripides abzulesen.31 Probleme der Gegenwart erscheinen im Spiegel der Vergangenheit. Phrynichos (›Der Fall von Milet‹)32 und Aischylos (›Die Perser‹) behandeln in ihren Dramen die selbsterlebten Perserkriege wie Stoffe aus der Sagenwelt. Umgekehrt zeigt die Ilias als Muster der späteren Kriegsdarstellungen, wie der Mythos die Gestaltung von Geschichte beeinflußt, nicht nur bei den Griechen, sondern auch bei den Römern. Die zehnjährige Belagerung von Veji33 ist nach dem zehnjährigen Kampf um Troja34 gebildet. Plutarch (Moralia 305 A ff.) hat in seinem ›Parallela Minora‹ einen ganzen Katalog von Entsprechungen zwischen griechischen und römischen Ereignissen aus Geschichte und Mythos zusammengestellt, um deren Glaubwürdigkeit zu beweisen. Der Glaube an die Geschichtlichkeit mythischer Erzählung hatte politische Auswirkung. Mit der angeblichen Abstammung von Göttern und Heroen konnte man Ansehen und Einfluß gewinnen. Homerische Helden wurden zu Ahnherren von Peisistratos, Miltiades, Kimon, Euagoras von Salamis und anderen. Speusippos, Neffe und Nachfolger Platons, erklärte in der Totenrede auf ihn, Platon sei von Apollon gezeugt worden.35 Mit der Äneaslegende wehrten sich die Römer gegen den Vorwurf, Barbaren zu sein.36 Ob Caesar und Augustus an ihre Abstammung von Venus und ihrem Vater Juppiter geglaubt haben, wie Spengler (UA. I 10) annahm, wissen wir nicht, aber sie haben das wirkungsvoll propagiert. Mythen begründeten den Herrschaftsanspruch Spartas auf die Peloponnes, den Athens gegenüber Salamis, Amphipolis, Delos, Eleusis, Megara und die Troas ; Philipp und Alexander beriefen sich auf das Erbe ihres »Ahnherrn« Herakles in Nordgriechen28 Pausanias III 2,4. 29 Cicero, De re publica II 17. 30 Herodot I 108 ff.; Sueton, Augustus 94,3. 31 H. Strasburger II 984 f. 32 Herodot VI 21. 33 Florus I 6. 34 Ilias XII 15 ; Odyssee XVI 18. 35 Diogenes Laertios III 2. 36 H. Strasburger, Zur Sage von der Gründung Roms (1968). In : Ders., Studien II 1982, 1017 ff.
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land. Speusipp sah darin einen Rechtsgrund.37 Tausend Jahre verschwinden, wenn Pyrrhos als »Nachkomme« Achills gegen die Römer als »Nachkommen« des Trojaners Aeneas kämpft, wenn die Römer die Feindschaft gegenüber Karthago mit dem bei Vergil (Aeneis IV 625) poetisch gestalteten Fluch der Dido auf den treulosen Liebhaber begründen, der von Naevius nur ersonnen wurde, um die Punischen Kriege mythologisch zu verankern. Die Politisierung des Mythos ist besonders bizarr, wenn Agathokles als Tyrann in Sizilien gegen Ithaka und Kerkyra zieht, um den gemäß Homer (Odyssee IX 105 ff.) von Odysseus geblendeten Kyklopen Polyphem zu rächen, den man auf Sizilien lokalisierte.38 Die Präsenz des geschichtlich verstandenen Mythos erklärt manche örtlichen Rituale. Als Jason und Medea vom Argonautenzug nach Korinth zurückkehrten und Jason seine Frau verstieß, tötete diese ihre gemeinsamen Kinder. Zur Sühnung brachten die Korinther als Mitschuldige, wie Aelian (Varia Historia V 21) um 230 n. Chr. erzählt, noch immer Totenopfer. Nach dem Fall Trojas vergewaltigte Ajax aus Lokroi die Königstochter Kassandra. Dafür sandten noch zur Zeit Plutarchs (Moralia 557 D) um 100 n. Chr. die Lokrer jährlich zwei Klagejungfrauen an den Altar Athenas nach Troja. Religiöse Rituale dienten der Selbstentlastung von Unrecht aus mythischer Urzeit. Die Verschmelzung von Mythos und Geschichte zeigt sich auch in der griechischen Kunst. So häufig in Reliefs und auf Vasen mythische Ereignisse dargestellt werden, so selten sind historische Darstellungen. Geschichtliche Vorgänge aber konnten in mythischer Verkleidung wiedergegeben werden. So zeigt der Fries des Pergamonaltars den Kampf der Götter gegen die Giganten, meint aber den Sieg der Griechen über die Galater. Der Krieg gegen die Perser erscheint in der Form des Amazoneneinfalls nach Attika.39 Versuche, Mythos und Geschichte zu trennen, unternahmen in der Zeit Caesars der Geograph Strabon und der Gelehrte Varro. Strabon (I 2,17 ; 2,39) argumentierte sachbezogen, indem er einen geschichtlichen Kern von unwahrscheinlichen Ausschmückungen zu befreien suchte. Varro40 differenzierte zeitbezogen. Er unterschied drei Perioden : ein unbekanntes Zeitalter bis zur Großen Flut, ein mythisches bis zur ersten Olympiade und ein historisches seitdem. Aber auch im historikon entstanden noch Geschichtslegenden. Das gilt beispielsweise für die ausführlich überlieferten Kriege der Spartaner gegen die Messenier, die irgendwann zwischen dem 8. und dem 6. Jahrhundert stattfanden. Der Held der Mes37 E. Bickermann/J. Sykutris, Speusipps Brief an König Philipp, 1928. 38 Demandt 1992, 134. 39 Platon, Menexenos 9 ; Pausanias I 15. 40 Censorinus 21,1.
Das Problem der Chronologie
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senier Aristomenes wurde noch in historischer Zeit zur schillernden Sagengestalt. Die Legendenbildung über Alexander begann schon zu seinen Lebzeiten durch seinen wundersüchtigen »Kriegsberichterstatter« Kallisthenes. Der Glaube an Legenden ist keine antike Besonderheit, noch immer wird ja die Bibel unreflektiert historisch ernstgenommen, obschon das seit Reimarus im 18. Jahrhundert nicht mehr angeht. Diese Parallelität schwächt Spenglers Gegenüberstellung der »ahistorischen« Antike mit dem »historischen Sinn unserer westeuropäischen Kultur« (UA. I 19).
4. Das Problem der Chronologie
Der Hauptgrund Spenglers für seine These vom »ahistorischen Geiste« der Antike ist das Fehlen einer durchlaufenden Jahreszählung, die eine Zeitrechnung ermöglicht. Für ein allgemeines Geschichtsbewußtsein fordert er eine chronologische Ordnung, die das Geschehen als Ganzes gliedert und dem Einzelnen, »für den es Geschichte gibt«, ermöglicht, das Alter des jeweils Berichteten zu erkennen. Spengler vermißt einen »Kalender«, der »im Gebrauch ist«, nach dem »das Leben der Gesamtheit« läuft (UA. I 13). Gemeint ist allerdings nicht ein Kalender für die Jahreseinteilung, sondern eine allgemein anerkannte numerische Ära für das »tägliche Rechnen mit Jahreszahlen«. Daran hapert es in der Antike tatsächlich. Die praktischen Folgen dieses Defizits erläutert Spengler an einer griechischen Inschrift, wahrscheinlich aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. Sie fixiert eine Symmachie, ein Kriegs- und Verteidigungsbündnis zwischen zwei Städten auf der Peloponnes, zwischen Elis und Heraia, das hundert Jahre »von diesem Jahr an« gelten sollte.41 Wie naiv ! Welches Jahr gemeint war, wird nicht gesagt. Schon bald muß man vor der Frage gestanden haben, wann der Vertrag denn nun geschlossen worden war. Das erinnert uns an die Kerbe, die der Schildbürger in die Bordwand schnitzte, um sich zu merken, wo ihm die silberne Kanne ins Meer gefallen ist. Das Problem der Altersbestimmung wiederholte sich bei allen auf längere Laufzeiten abgeschlossenen Verträgen, beispielsweise beim Nikiasfrieden von 421 v. Chr. zwischen Athen und Sparta. Er sollte 50 Jahre währen, doch erübrigte sich die Abzählung, da der Krieg sieben Jahre später wieder ausbrach.42 Herodot (IX 26) erwähnt einen Vertrag zwischen den zurückkehrenden Herakliden und den Peloponnesiern, nach Euseb 1248 v. Chr., der hundert Jahre gelten sollte. Selbst wenn es in jener Zeit bei den Griechen schon Schrift gegeben hätte – sie begegnet in Griechenland um 800 41 UA. I 13 ; F. Bölte, Heraia. In : RE. VIII 1912, 413. 42 Thukydides V 18 ; VII 18.
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v. Chr. – wäre die Einhaltung des Vertrags nicht zu gewährleisten gewesen, da man keine Ära hatte. Wußte Herodot das nicht ? Die griechischen Historiker bemühten sich um genaue Zeitangaben, doch bleibt das auf Binnenchronologie beschränkt. Herodot vermerkt sorgfältig die Zeitabstände zwischen den von ihm berichteten Ereignissen nach Jahren, Jahreszeiten und Monaten. Er erklärt, Hesiod und Homer hätten »höchstens vierhundert Jahre« vor seiner Zeit geschrieben (II 53), kann aber dem späteren Leser nicht mitteilen, was »seine Zeit« heißt. Er erfährt nicht, wann Herodot selbst gelebt hat und wie dementsprechend Hesiod und Homer zu datieren sind. Wußte Homer, wie weit der Trojanische Krieg zurücklag ? Thukydides wird gerühmt für die Sorgfalt, mit der er die Ereignisse des Peloponnesischen Krieges nach Sommern und Wintern ordnete. Er bietet aber keine Zeitangaben für die Vorgeschichte, auf die er bis zu Minos, also über fast ein Jahrtausend, zurückblickt. Dreimal datiert er durch eine Zahl von Jahren »vor dem Ende dieses Krieges« (I 13 bis ; 18), doch sagt er dem Leser nicht, ob er den Nikiasfrieden 421 oder die Kapitulation Athens 404 meint. Wenn er eingangs eponyme Beamte nennt (II 1), so nützt das einem Leser nur, sofern er diese zeitlich einordnen kann. Die Athener datierten ihre Staatsakte nach »eponymen« Jahresbeamten, nach Archonten. Die um 400 v. Chr. durch Hellanikos von Lesbos erstellte Liste ist für die Frühzeit höchst unsicher. Den ältesten Archon von 682 v. Chr. nennt die Parische Marmor-Chronik von 263 v. Chr. Archontendatierung verwendete Aristoteles in seiner Schrift über den Staat der Athener. Die amtliche Datierung in Rom benutzte die Jahreskonsuln. Sie werden seit 509 v. Chr. von Livius in seinem Geschichtswerk aus augusteischer Zeit genannt. Doch auch hier sind die älteren Namen nachträglich konstruiert, da 387 im Galliersturm Rom abbrannte. Eponyme Datierungen geben einem Leser Auskunft über das Alter eines Ereignisses nur, wenn er über eine bis zu seiner Gegenwart geführte Liste verfügt, an der er die vergangenen Jahre abzählen kann. Eine solche Liste besaß Ciceros Freund Atticus (Atticusbriefe IV 10,2). Auch Cicero mußte sie wohl parat haben, wenn ihm ein Falerner Wein angeboten wurde, der aus dem Konsulat vor 40 Jahren stammte.43 Wer keine à jour ergänzte Namenreihe hatte, mußte einen Sklaven zum Forum schicken, wo Augustus die Konsularfasten inschriftlich hatte anbringen lassen. Horaz (carmina III 28) bestellt Caecuber-Wein aus dem Konsulatsjahr des Bibulus (59 v. Chr.), des Kollegen und Gegners Caesars ; das war eher ein Wortspiel mit bibere – »trinken« als eine Altersangabe, denn wer erinnerte sich wohl noch, wie lange das her war ? In den Provinzen mußte 43 Macrobius, Saturnalia II 3,2.
Das Problem der Chronologie
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man die Jahreskonsuln beim Statthalter erfragen, der sie bisweilen auch selbst erst im Sommer erfuhr. Für ein historisches Zeitbewußtsein bot eine Liste von Beamtennamen keine Basis. Dafür bedarf es, wie Spengler betonte, einer numerischen Jahresbestimmung. Eine solche war die Olympiadenzählung der Griechen. Sie geht auf den Sophisten Hippias aus Elis um 400 v. Chr. zurück. Die alle vier Jahre abgehaltenen Spiele hat er numeriert und dazugesetzt, welches Jahr in der jeweiligen Viererperiode gemeint war. Der Katalog beginnt 776 v. Chr., genannt wird der Sieger im Stadionlauf. Daß die Aufzeichnungen so früh, also schon vor Homer begannen, dürfen wir ausschließen, die Nachrichten bei Ephoros (um 340), Timaios (um 260) und Eratosthenes (um 230) sind verdächtig. Verwendet wurde diese Ära bei Polybios und einzelnen Historikern der Kaiserzeit, systematisch in der Weltchronik des Kirchenvaters Euseb. Sie war nie populär. Wer wußte schon, in welcher Olympiade er sich befand ? In der Zeit nach Alexander verbreitete sich im griechischen Osten die Seleukidenära, die Zählung der Jahre seit 312 v. Chr. Das war eine numerische Ära, doch auch ihr Gebrauch war regional beschränkt. Denn es gab daneben über hundert auf lokalen Stadtmünzen, zumal Kleinasiens, dokumentierte Ären, die aber nicht für stadtgeschichtliche Ereignisse verwendet wurden, sondern nur das Prägejahr verzeichneten.44 Sie bezeugen kein Geschichtsbewußtsein. Wo das Epochenjahr die Aufnahme ins Römische Reich betraf, war die Ära ein Politikum. Eine numerische Ära in Rom war die Rechnung ab urbe condita, a. u. c. nach der Gründung Roms. Das Epochenjahr 753 v. Chr. wurde zur Zeit Ciceros (De divinatione II 8) von dem Astrologen Tarutius berechnet, der die Romuluslegende mit einer angeblichen Sonnenfinsternis und dem Stand der Sterne kombinierte. Das Geschichtswerk des Livius trägt zwar den Titel ›Ab urbe dondita‹, doch er bezeichnet die Jahre nicht a. u. c., sondern durch die Regierungszeiten der Könige und dann durch die Konsuln. Die Stadtära wurde nirgends durchlaufend genutzt, sie diente um 170 n. Chr. Gellius (XVII 21) für einige Zeitbestimmungen vor dem Zweiten Punischen Krieg und sonst gelegentlich zu Distanzangaben von Amtsjahren und dann zur Berechnung der Tausendjahrfeier 247 n. Chr. durch Kaiser Philippus Arabs, den Araber aus Schachba. Weil es keine allgemeine Jahresrechnung gab, arbeiten die antiken Autoren oft mit Synchronismen. Herodot (V 60) datiert einen Dreifuß zu Theben in die »Zeit des Ödipus«. Polybios (I 6,2) datiert die Eroberung Roms durch die Gallier ins Jahr des Antalkidasfriedens. Quintilian (XII 10,4) datiert Sokrates in die Zeit des Peloponnesischen Krieges – aber wer wußte jeweils, wann das war ? Unhistorisch 44 W. Leschhorn, Antike Ären. Zeitrechnung, Politik und Geschichte im Schwarzmeerraum und in Kleinasien nördlich des Tauros, 1993.
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sind die Synchronismen durch die »Gleichzeitigkeitsfabel«,45 so die Nachricht bei Herodot (VII 166), der Seesieg über die Perser bei Salamis habe am selben Tag stattgefunden wie die Niederlage der Karthager bei Himera auf Sizilien. Herodot und Aristoteles (Poetik 59 a 25) setzten damals offenbar verfügbare Kalenderkonkordanzen voraus, die es nicht gab. Jede griechische Stadt hatte ihren eigenen Kalender, und ein Reisender wußte nie, in welchem Jahr er sich befand. In der mythischen Zeit ist das zudem anachronistisch. Vergil erzählt in seiner Aeneis (V 46 ff.), der Held habe auf Sizilien seinem Vater an dessen Todestag ein Opfer gebracht. Schon Aeneas müßte sonst einen Kalender besessen haben, so wie das zu Zeiten Vergils selbstverständlich war. Das Jahr 238 n. Chr. bezeichnet Censorinus in seiner Schrift ›De die natali‹ (21,6 ff.) nach acht verschiedenen Systemen. Dieses Mehrfachangebot erweckt den Eindruck einer chronologischen Hilflosigkeit mangels einer ortsübergreifend verständlichen Zeitleiste. Damit überlieferte Geschichtsvorgänge nicht chronologisch in der Luft schweben, müssen sie in einen zeitlichen Zusammenhang gestellt werden. Dies beabsichtigt die Weltgeschichte Diodors, die vom Trojanischen Krieg bis Caesar reicht und die Jahre durch attische Archonten, Olympiasieger und Konsuln bezeichnet. Doch auch sie informiert den Leser über den Zeitenabstand nur, wenn er selbst über die Eponymenlisten bis zu seiner eigenen Zeit verfügt. Eine solche besaß allenfalls ein Gelehrter im kaiserzeitlichen Athen. Ein schwammiges Zeitbewußtsein zeigt stets ein Selbstbezug. Wenn Livius (pr. 5) als »unsere Zeit«, nostra aetas, die Jahre des Bürgerkriegs seit Sulla 88 v. Chr. bezeichnet, mag das angehen, aber es berührt doch seltsam, wenn der ältere Plinius (XXVIII 12) im Jahre 77 n. Chr. ein Ereignis aus dem Jahre 216 v. Chr. als »in unserer Zeit« (nostra aetas) stattgehabt schreibt. Tacitus (Dialogus 16) überbietet das noch, indem er einen Redner im gleichen Jahr 77 sagen läßt, Demosthenes habe »vor 300 Jahren«, sozusagen »in unserem Jahr«, ja in »unserem Monat« gelebt. Wahrhaft »alte Redner« seien Odysseus und Nestor 1300 Jahre vor unserem saeculum gewesen. Tacitus denkt in kosmischen Zeiten, im Vergleich mit denen Geschichtszeit zusammenschrumpft. Zeitangaben durch Selbstbezug informieren den Leser nur, wenn er weiß, wann der Autor geschrieben hat. Pausanias meint mit der Wendung »zu meiner Zeit« die Jahre etwa 120 bis 175 n. Chr., wie wir heute wissen, da uns bekannt ist, wann Pausanias geschrieben hat. Aber wer wußte das in der Spätantike ? Dasselbe Problem betrifft Wendungen bei Pausanias wie »ein, zwei, drei Generationen vor mir«.46 Wo Geschichte ohne Chronologie überliefert wird, kommt es zu Anachronismen. Herodot (I 29) verbindet Kroisos mit Solon über ein halbes Jahrhundert hinweg, 45 Hennig 1942. 46 Ch. Habicht, Pausanias und seine Beschreibung Griechenlands, 1985, 18 ff.
Geschichte als Beispielsammlung
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mit Alkmaion über wenigstens 70 Jahre (VI 125). Livius überträgt Gegebenheiten seiner Zeit über Jahrhunderte zurück in die Darstellung der frühen Republik.47 Bei Justin (XXVIII 1,6 ; 2,1) begründen die Römer ihre Hilfe für die Akarnanen 239 v. Chr. mit deren Fernbleiben vom Zug gegen Troja, gegen die Vorfahren der Römer, während die Ätoler damals den Römern ihre Furcht vor Hannibal entgegenhielten, der erst 216 Rom bedrohte. Gellius (XVII 21,1) kritisiert Autoren seiner Zeit um 170 n. Chr., die Karneades mit Alexander, Panaitios mit dem älteren Scipio verbinden, also jeweils rund 150 Jahre zurückversetzen. Bisweilen gibt es groteske Zeitensprünge. Philostrat bemerkt in seinen Sophisten-Viten (529) aus der Zeit Hadrians, die Megarer seien den Athenern noch immer gram, weil Perikles 432 v. Chr. eine Hafensperre verhängt hatte, also vor über einem halben Jahrtausend, »so als ob nichts geschehen sei«. Wenn Synesios von Kyrene (ep. 148) um 410 n. Chr. an seinen Studienfreund Olympios schrieb, seine Landsleute wähnten noch immer Agamemnon an der Regierung und die Blendung des Polyphem durch Odysseus habe im vergangenen Jahr stattgefunden, so ist das als Karikatur zu werten. Aber es ist kein Einzelfall. Die homerische Zeit lag irgendwo im Gestern. Auch der große Historiker Prokop (Bellum Gothicum VIII 22,7 ff.) läßt ein historisches Distanzgefühl vermissen. Als er 546 mit Belisar in Rom war, bestaunte er das »Schiff des Aeneas«, für das die Römer eine Halle gebaut hatten. Prokop beschreibt es ausführlich und bewundert den perfekten Erhaltungszustand, gemäß dem Versprechen Juppiters in der Aeneis (IX 80 ff.), das dem Schiff Unzerstörbarkeit verhieß. Prokops Zeitgenosse Jordanes schrieb im Jahre 551 in seiner Gotengeschichte (108), bei dem Angriff der Germanen im Jahre 262 n. Chr. auf Troja habe es die Bewohner besonders hart getroffen, weil sie sich nun gerade erst ein wenig vom Krieg gegen Agamemnon erholt hätten, quantulum se reparantes.
5. Geschichte als Beispielsammlung
Die chronologischen Unzulänglichkeiten der antiken Geschichtsüberlieferung, die Spengler als »ahistorischen Geist« bezeichnet, wurden im Altertum kaum als Manko empfunden. Geschichte hat man nicht genetisch als »Ganzes von organischer Logik« (UF. 119) betrachtet, sondern exemplarisch verstanden. Sie diente weniger der Orientierung in der Zeit, nicht der Verortung des Geschehens im linearen Zusammenhang und nicht der Erklärung des Gewordenen aus dem Werden, wo jedes Ereignis Glied einer Kette, singulärer Ausdruck eines Lebensalters, e ines Entwicklungsstadiums ist. Geschichte erscheint nicht als eine Gesamtheit von 47 Howald 1944, 169 f.
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individuellen Situationen in unumkehrbarer Folge, sondern fungiert primär als Beispielsammlung, als ein Vorrat von wiederholbaren, typisch menschlichen Verhaltensweisen. Je prägnanter diese in einem Vorgang zum Ausdruck kamen, desto reizvoller waren sie für den Autor. Die Zeitstellung war unerheblich. Die Andersartigkeit des modernen Geschichtsverständnisses formulierte 1942 Friedrich Meinecke :48 »Erst der Historismus mit seinem Individualitäts- und Entwicklungsgedanken hat wahrhaft zeitlich denken gelehrt.« Der antike Schlüsselbegriff exemplum, griechisch paradigma, war das Thema der Göttinger Doktorarbeit von Spenglers Nichte Hildegard Kornhardt 1936. Paradigmatik ist eine eigene Form der historificatio von Geschehen, nicht nur Stilmittel, sondern Denkform. Das ist für Spengler das »Anekdotische«, das er an der antiken Geschichtsliteratur moniert (UA. I 189). Ihr ging es um ein Verständnis der Gegenwart durch Verweis auf Parallelfälle aus der Vergangenheit und um Maßstäbe für das Verhalten im Blick auf die Zukunft. Geschichte bietet Muster für das Denken und Handeln. Die antiken Historiker betrachten und behandeln die Geschichte nicht um ihrer selbst willen. Es gab – wie Spengler (UA. I 18) bemerkt – keinen antiken Schliemann, aber eben einen Homer. Wie schon dieser49 wollte Herodot die »großen und erstaunlichen« Taten für die Zukunft vor dem Vergessen bewahren. Thukydides schrieb, um das Verhalten von Menschen in Ausnahmezuständen kundzutun, wie es gemäß der unveränderlichen menschlichen Natur, der anthrōpeia physis, immer zu erwarten ist (I 22,4 ; III 45,7). Das ist Anthropologie. Die Seuche in Athen 430 schildert er, damit man später Bescheid wisse, wenn sie wiederum auftritt (II 48). Hier ist Thukydides Naturforscher. Polybios, dessen Zeitbestimmungen Cicero (rep. II 27) rühmt, verfolgte gleichfalls ein praktisches Ziel. Er fragte nach den Prinzipien, die politischen Erfolg verheißen, und fand sie in der Staatsordnung und im Sozialverhalten der Römer. Geschichte ist ihm das beste Lehrbuch für Staatsmänner und Feldherrn.50 Insofern schreibt er als Politologe. Das Interesse ist systematisch. Die lateinischen Historiker sortierten die Geschichte, die res gestae, nach moralischen Kriterien. Livius (Praefatio 10) schrieb, um dem Leser vorbildliches Handeln zur Nachahmung zu empfehlen und vor schändlichem Tun zu warnen. Auch bei Sallust, Tacitus und Ammianus Marcellinus ist die praktisch-didaktische Absicht offenkundig.51 Ihr zuliebe gestatte man laut Cicero (Brutus 42 ; 62) Rednern sogar, Geschichte zu fälschen. So hätten sich Roms Nobiles zu Unrecht Ruhmestaten 48 Werke IV 1965, 223. 49 Ilias VI 358 ; Odyssee VIII 521 f. 50 Polybios I 1 ; VI 1 ff.; IX 2,5 ; X 47,12. 51 Demandt 1965, 11 ff.
Geschichte als Beispielsammlung
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zugeschrieben und ein verlogenes Geschichtsbild erzeugt. Livius (VIII 40) beklagt eine systematische Geschichtsfälschung durch die Ruhmsucht der Vornehmen bei ihren Totenfeiern, und Plinius (NH. XXXV 8) bezeugt die Aneignung fremder Heldenbilder durch die Familie Messala. Historiographie war lange eine Sache von Senatoren. Geschichte diente der Politik und war ein fester Bestandteil der rhetorischen Praxis, so noch bei Cicero, der die historia als magistra vitae bezeichnet (De oratore II 36) und bei Quintilian in seinem Rhetorikbuch (Institutio II 4,18). Er konstatiert die dichterische Freiheit, die poetica licentia, in der Wiedergabe von Geschichte bei Römern wie Griechen, wo oft genug Zeit, Ort und Person zweifelhaft seien. Er kennt das Gewicht von Geschichte als Argument52 und empfiehlt den Rednern die allzeit wirksame Berufung auf möglichst alte Zeugnisse, auch wenn sie erfunden sein sollten (XII 4,1 f.). Den Homervers, der den Athenern den Besitz von Salamis sicherte, soll Solon in die Ilias (II 558) eingeschmuggelt haben.53 Ammian (XXXI 5,11) tröstet sich über den Goteneinbruch von 376 mit historischen Parallelen, die sich freilich als schief erwiesen. Für das antik aktualisierende Funktionsverständnis von Geschichtsüberlieferung sind genaue chronologische Angaben unerheblich. Als Kaiser Claudius im Jahre 48 die Verleihung des Bürgerrechts an die Gallier mit dem Hinweis auf die einstige Einbürgerung der Claudier in Rom rechtfertigte,54 mußte er nicht angeben, wann das genau war. Aristoteles bemerkt in seiner Schrift über das Gedächtnis (453 a), daß Leute sich zutreffend an Ereignisse erinnern, ohne sagen zu können, wann sie stattgefunden haben. Die antiken Erfinderkataloge, so der des Plinius (NH. VII 191 ff.), verzeichnen genau, welchem Mann, welcher Stadt der Ruhm für welche segensreiche Neuerung zukommt, verschweigen aber meist, wann das war. Das ist kein hinreichender Einwand gegen die mögliche Geschichtlichkeit des Erinnerten und noch weniger ein Argument gegen ein historisches »Gedächtnis«, das Spengler (UA. I 11) der Antike abspricht. Sie besaß für ihn kein »historisches Organ«. Handlungsbestimmende Folgerungen zieht auch Spengler aus der Geschichte, genauer : aus seiner Konzeption von Geschichte. »Wenn sich Menschen der neuen Generation der Technik statt der Lyrik, der Marine statt der Malerei, der Politik statt der Erkenntniskritik zuwenden, so tun sie, was ich wünsche« (UA. I 54). Dauerhafte Leistungen auf den Gebieten der Dichtung, der Kunst und der Philosophie seien nicht mehr möglich ; was da produziert würde, bliebe ephemer. Anders als die zeitlos und allgemeinmenschlich gültigen Erkenntnisse und Ratschläge, die 52 Demandt 1972. 53 Aristoteles, Rhetorik I 15,13. 54 Tacitus, Annalen IX 24.
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antike Historiker aus der Geschichte ableiteten, wendet sich Spengler mit seinem Rat nur an die Zeitgenossen und begründet ihn mit der Zivilisationsphase, die er erreicht sieht. Sie entscheidet über das, was »notwendig« ist und daher sinnvollerweise erstrebt werden kann. »Man tue das Notwendige oder nichts« (UA. I 53). Er formuliert kultur- und zeitgebundene Verhaltensregeln, keine »ahistorischen«, immer gültigen Maximen. Historische Ereignisse fanden in der Antike Interesse durch ihren Unterhaltungs wert (wie heute) und durch ihren Lehrgehalt (anders als heute). Dieser erwies sich als wesentlich lebensnäher als unser chronologisch exaktes Geschichtswissen. In der Zeit Ciceros verfaßte Cornelius Nepos zwanzig Kurzbiographien von griechischen Staatsmännern. Sie sind zeitlich gereiht, doch erfahren wir nicht, wann sie gelebt haben. Von Valerius Maximus unter Tiberius stammt ein umfangreiches Kompendium historischer Ereignisse, für den rhetorischen Gebrauch nach Sachgebieten gegliederte exempla. Seine ›Memorabilia‹ bieten Hunderte von Beispielen aus den verschiedensten Bereichen der Religion, der Politik, des Krieges, der Moral usw. ohne chronologische Angaben. In den unschätzbaren Parallelbiographien Plutarchs großer Griechen und Römer gibt es ganz selten Daten. In seiner Enzyklopädie der Tafelkultur berichtet Athenaios Sitten aus tausend Jahren ohne chronologische Einordnung. Als Pausanias seinen Kunstführer für GriechenlandTouristen schrieb, zog er das »historische Wann und Warum überhaupt nicht in Betracht«, wie Spengler (UA. I 18) vermerkt. Pausanias liefert er eine Fülle historischer und legendärer Nachrichten, doch Olympiadenjahre und Archonten nur zu wenigen Ereignissen. Die von ihm dann genannten Jahresbeamten schweben frei in der Vergangenheit. Gelegentlich heißt es von solchen : »Sie lebten in alter Zeit, so daß wir keine Überlieferung besitzen«, so zu Ptolemaios und Attalos um 200 v. Chr. (I 5,5 f.). Das auf einzelne Handlungen, res gestae, und ihren moralischen und pragmatischen Lehrgehalt gerichtete Geschichtsinteresse fördert die Bildung von Kategorien und Typen des Geschehens. Livius umkleidet die Geschehnisse der frühen Republik mit Einzelheiten, wie sie bei der Wirkung einer Niederlage, dem Ausbruch einer Verschwörung, einer Revolte im Heer üblicherweise vorkommen. Er präsentiert eine Heldengalerie nach dem Tugendregister des mos maiorum, während Tacitus die Figuren der frühen Kaiserzeit nach dem Lasterkatalog der Dekadenz schematisiert. Die Bilder wiederholen sich und führen zur Vorstellung einer ewigen Litanei in der Geschichte. »Nichts Neues unter der Sonne« lesen wir im Prediger Salomonis (1,9). Daß die Zeiten sich nicht ändern, die Zukunft der Vergangenheit gleicht, meinten auch Aristoteles (Rhetorik II 20,8) und Marc Aurel (IV 32). Er hat seine Tagebücher mit Ortsangaben versehen, aber nicht datiert. Geschichte ist für ihn belanglos. Es gibt nichts für einen Philosophen Bemerkens-
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wertes auf der Weltbühne, immer nur und immer wieder Geburten und Todesfälle, Hochzeiten und Scheidungen, Ackerbau und Viehherden, Gerichtslärm und Marktbetrieb, Heere und Barbarenvölker, Feste und Totenklagen. In vierzig Jahren passiert dasselbe wie in zehntausend (VII 48 f.; XI 1) und so in der »alten, mittleren und neueren Geschichte« (VI 37 ; VII 1 ; VIII 6). Es ist ewig das alte Stück, nur die Schauspieler wechseln (X 27). Hier herrscht in der Tat ein »ahistorischer Geist«, aber eben den finden wir auch bei Schopenhauer, der in der Geschichte ein Kaleidoskop erblickt (Paralipomena 233) und bei Gottfried Benn, der eine Seite aus dem ›Ploetz‹ ohne Eigennamen referiert und so ein Bild absurder Komik erzeugt.55
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Ein nachantikes Zeitbewußtsein entwickelte sich erst mit der Ausbreitung und Ausgestaltung des Christentums im ersten nachchristlichen Jahrtausend, das Spengler der »arabischen Kultur« zuweist. Die numerische Zeitrechnung der Inkarnationsära nach Christi Geburt ergab sich aus dem Erfordernis der vorausblickenden Osterfestberechnung. Künftige Jahre lassen sich nicht durch Herrscherjahre oder nach Konsuln eponym benennen, sondern nur numerisch bezeichnen. So entstand im 6. Jahrhundert die Zählung der Anni Domini. Damit wurde eine langfristig zeitgebundene Planung möglich, beispielsweise die Ankündigung eines Heiligen Jahres seit 1300. Der gemeine Mann erfuhr aber erst mit der Verbreitung gedruckter Jahreskalender – seit 1513 durch Friedrich Peypus in Nürnberg –, in welchem Jahre des Herrn er sich befand, wann Ostern und Pfingsten zu feiern seien. Zugleich griff der Kalender stärker als zuvor ins private wie ins öffentliche Leben ein, seit jeder Tag einem oder mehreren Heiligen gewidmet war. Ihre Fürbitte brauchte man beim Jüngsten Gericht. Auch die Reformation brachte keine Entspannung der Zeitökonomie. Luther bemerkte in seinen Tischgesprächen 1538 : »Der Kalender regiert die ganze Welt.«56 Die Regulierung des Tageslaufs durch Uhren intensivierte sich seit dem Frühmittelalter mit den Stundengebeten der Mönche. Seit dem Hochmittelalter regulierte der Glockenschlag der Turmuhren alle städtischen Lebensbereiche vom Beginn der Arbeit bis zur Schließung der Stadttore und der Löschung des Feuers. Das war für Spengler ein Wesensmerkmal für den historischen Zeitsinn des faustischen »Weltgefühls« (UA. I 18 ; 543). Die Zeiteinteilung wurde mit dem sich anbahnenden »Untergang des Abendlandes« immer engmaschiger, der Termindruck immer 55 Benn, Zum Thema Geschichte, 1943. In : Ders., Essays, Reden, Vorträge, 1962, 371 ff. 56 Clemen 1930, 211.
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stärker. Ist das noch das »historische Weltgefühl« der okzidentalen Kultur (UA. I 18) oder schon die »Geschichtslosigkeit« der turbulenten globalen Zivilisation ? Spenglers apodiktisch formulierte These vom »ahistorischen« Geist der griechisch-römischen Antike hat, so wie die meisten seiner Grundgedanken, Gehalt, bedarf aber der Klärung und der Einschränkung. Dabei ergeben sich Einsichten in Form und Funktion von Geschichte überhaupt, die ohne die Provokation des Geschichtsphilosophen kaum gewonnen worden wären. Die kritische Beschäftigung mit ihm und seinem gedankenreichen Werk ist noch immer ertragreich. Er ist weiterhin »alterungsresistent« im Sinne Hermann Lübbes. Wie lange er das bleiben wird und bleiben muß, um als »Klassiker« zu gelten – wer will das sagen ?
Rossica non leguntur
VIII. Spengler und Groeger Die Zukunft des Russentums
Die vier Himmelrichtungen hatten für die deutsche Kulturgeschichte sehr unterschiedliche Bedeutung. Einfluß von Süden begann bereits in der Römerzeit, setzte sich fort mit der Italienpolitik der deutschen Kaiser und erreichte im Humanismus einen ersten Höhepunkt. Anregungen aus dem Westen, zumal aus Frankreich, sind seit der Gotik spürbar, dominierten im Barock des Sonnenkönigs und zeigen sich mit der Französischen Revolution. Die deutsche Aufklärung zehrte von französischen und englischen Autoren, die Technik von Erfindungen aus England. Im Verhältnis zum Norden und Osten war Deutschland eher der gebende als der nehmende Nachbar, zunächst durch die Christianisierung. Der Norden genoß stets eine germanophil geprägte Sympathie, während der slawische Osten vielfach als fremd empfunden wurde – abgesehen etwa von Bruno Bauer 18531 – so wie auch umgekehrt im Russischen das Wort niemc für »Deutsch«2 eine Negation enthält. Die Urbedeutung ist »stumm, unverständlich, fremd« im Gegensatz zu »slawisch«, das auf slovo – »Wort« zurückgeht. Ähnlich nannten auch die Griechen ihre unverständlichen Nachbarn, die nur »Bla-Bla« sprachen, »Barbaren«. Die lange Geschichte der Ost-West-Kontakte und -Konflikte steht im Hintergrund. Ex oriente lux, ex oriente crux. Deutsche Gelehrte spielten seit Peter dem Großen eine bedeutende Rolle in Rußland. Zar Alexander I erneuerte 1802 die 1632 von Gustav Adolf gestiftete Deutsche Universität Dorpat. Eine russische Universität in Deutschland gab es nie. Die Rezeption deutscher Intelligenz in Rußland von Leibniz bis Marx erklärt, daß stets mehr Russen deutsch als Deutsche russisch sprachen und lasen. Rossica non leguntur heißt es resignierend 1924 bei Rostovtzeff. Russisches wird in der Originalsprache nicht gelesen, es muß übersetzt werden. Dies geschah bereits sehr bald nach dem ersten Erscheinen russischer Literatur im 19. Jahrhundert. Die sprachlichen Voraussetzungen hatte zu Beginn des Jahrhunderts Puschkin, der »russische Dante«, geschaffen, doch wirkten im Westen erst die großen Romane von Tolstoi, Turgenjew und Dostojewski. Spengler las sie schon als Primaner, insbesondere liebte er Dostojewski, den er, zwar nur mit 1 Rußland und das Germanentum. 2 So schon um 1115 in der Nestor-Chronik. Trautmann 1931, 2 ; 59 ; 143.
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Spengler und Groeger
Mühe, auch russisch verstand.3 Er war für Spengler der Inbegriff der »russischen Seele«. Wenn sich Spengler für das russische Schrifttum stärker interessierte als für westliches, so beruhte das nicht allein auf ästhetischen Motiven, sondern auch auf seiner Aversion gegen den »vollkommen seelenlosen Amerikanismus« (B. 29) und der Annahme, der abendländischen Kultur werde im dritten Jahrtausend noch eine neunte, dann allerletzte folgen.
1. Groeger und William
Das persönliche und systematische Interesse Spenglers an Rußland erklärt seinen Kontakt mit dem Slawisten Wolfgang Eduard Groeger. 1987 publizierte Xenia Werner ein schmales, aber ansprechendes Bändchen : Der Briefwechsel zwischen Oswald Spengler und Wolfgang E. Groeger über russische Literatur, Zeitgeschichte und soziale Fragen.4 Es handelt sich um 17 Stücke aus den Jahren 1923 bis 1925, darunter sieben, meist kurze, aus Spenglers Feder. Xenia Werners Buch ist mit einer kundigen Einleitung, erklärenden Anmerkungen und einem Register wohl ausgestattet. Es wirft ein Schlaglicht auf die Beziehungen zwischen Rußland und dem Westen in den zwanziger Jahren. So erwähnt Groeger am 3. Dezember 1923 ein kürzlich erschienenes Dekret zur Bücherzensur, das die »Vernichtung aller Bücher vorschreibt, die mit der Politik der Sowjetregierung nicht übereinstimmen«. Genannt werden die Werke von und über Platon, Descartes, Kant, Spencer, Schopenhauer, Mach, James, Carlyle, Nietzsche, Solowjew »und ähnliche«. Aus den Bibliotheken seien zu entfernen Evangelium, Koran und Talmud. Verboten sei auch Spenglers zweiter Band vom ›Untergang des Abendlandes‹.5 Die Publikation der Briefe war für Spenglerkenner eine Überraschung, denn der Name Groeger war in der Spenglerliteratur zuvor unbekannt.6 Groeger (1882– 1950) stammt aus Riga, studierte bis 1916 Philologie und Jura in Moskau und lebte mit seiner Familie ab 1921 in Berlin, damals ein Zentrum russischer Emigration. Groeger erhielt die preußische Staatsangehörigkeit, wurde damit Deutscher und machte sich einen Namen als Übersetzer und Nachdichter, vor allem russischer Literatur, darunter das Poem ›Die Zwölf‹ von Aleksandr Blok. 1921 lobte Thomas Mann Groeger in den ›Süddeutschen Monatsheften‹.7 3 4 5 6 7
UA. II 237 ; Koktanek 1968, 20 ; 45. Hamburg : Helmut Buske Verlag, 1987. Werner 1987, 18 ; 45 ; 57. Zu Spengler und Rußland : G. L. Ulmen in : Ludz 1980, 123 ff.; Kraus 1998 ; Afanassiev 2006. Xenia Werner in : Ilja, der Räuber Nachtigall, Bylinen, 1986, 155 ff.
Groeger und William
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Den Anlaß des Kontakts mit Spengler bot das Buch des in Rußland geborenen Amerikaners Maurice William, The Social Interpretation of History, 1920, das Groeger übersetzte und, offenbar auf Wunsch des Autors, mit einem Vorwort Spenglers publizieren wollte. Das ist erstaunlich, weil William sozialistische Ideen vertrat, während Spengler enge, persönliche Beziehungen zu Paul Reusch und anderen Großindustriellen pflegte. Was Spengler und William gleichwohl verband, war die Ablehnung des Marxismus. Groeger besuchte Spengler Ende August 1923 in München, es kam zu einem Interview, das als Vorwort zum Buche Williams abgedruckt wurde. 1924 erschien es in Berlin bei Trowitzsch unter dem Titel : »Die soziale Geschichts-Auffassung. Eine Widerlegung der marxistischen wirtschaftlichen Geschichtsauffassung.« In seinem bei Werner wiedergegebenen Vorwort8 bekennt sich Spengler zum »preußischen« Sozialismus. Wie William stellt er das sozialistische Prinzip (den Dienst an der Gemeinschaft) über das kapitalistische Prinzip (den Gewinn für die eigene Tasche). Er betont die Forderung »Eigentum verpflichtet« und beruft sich für sie auf den Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I (PS. 43). Anders als Marx würdigt Spengler die »Führerarbeit« der Ingenieure, Unternehmer und Organisatoren der Wirtschaft und stellt ihre Leistung über die der Handarbeiter in den Fabriken. Eine Gefahr sieht Spengler im politischen Machtstreben der Wirtschaftsführer und in ihrem »Verantwortungsgefühl dem eigenen Unternehmen gegenüber« auf Kosten der Verpflichtung gegenüber der Gesamtheit der Nation. Dies müsse »mit rücksichtsloser Energie erzwungen« werden. Zu Recht, so Spengler, bezeichne William die Klassenkampflehre als »sozialpathologische« Propaganda »bezahlter Arbeiterführer« und Berufsmarxisten. Spengler erklärt : »Im Grunde ist der Marxismus bereits tot«, jedenfalls außerhalb Rußlands, im Westen ersetzt durch eine Lohnbewegung, die zwischen Werkarbeit und Kapitalgewinn vermittelt und die Interessengemeinschaft der »Volksgenossen« herstellt. Auch William unterstreicht die unentbehrliche »Interessenharmonie« innerhalb der »Volksgemeinschaft«.9 Als Amerikaner, so Spengler, überschätze William aber die »wirtschaftlichen Triebkräfte im Verhältnis zu den politischen Leidenschaften«, die Spengler sehr zu Recht in Deutschland spürt. »Ehrgeiz, nationaler Stolz und Machtwille« sieht er neben und über dem Streben nach Wohlstand wirksam. Kollektive Stimmung verkörpere sich in »starken Einzelmenschen«. Dahinter steht Spenglers Prognose des Cäsarismus. Er glaubte und wünschte, daß die nahe Zukunft den starken Männern und den selbstbewußten Nationen gehöre (UA. II 518 ff.; PS. 155 f.). Dagegen war William davon überzeugt, daß allenthalben Demokratie und »echter« Sozialismus sich durchsetzen und ein zivilisatorischer 8 Es fehlt in der Bibliographie bei Koktanek, 1968, 476 f. 9 Groeger bei Werner 1987, 39 f.
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Spengler und Groeger
Fortschritt sich ausbreiten werde. Williams Buch hat in Amerika und Deutschland kaum gewirkt, wohl aber in China, wo es 1924 dazu beigetragen haben soll, daß sich der Begründer des modernen China Sun Yat-sen vom Marxismus löste.10
2. Die Bylinen
Durch Spenglers Vermittlung konnte Groeger am 17. November 1923 einen Vertrag mit C. H. Beck über die Publikation seiner Bylinen-Übersetzung abschließen. Bei seinem Besuch in München hatte Groeger Spengler um Vermittlung gebeten, und August Albers, der Programmleiter des Verlags, stimmte zu. Bylinen sind altrussische Heldenlieder, die mündlich weitergegeben wurden. Sie stehen in der langen Tradition der Barden-Poesie, die mit dem blinden Sänger Demodokos in der Odyssee (VIII 44 ff.) beginnt, bei Römern,11 Kelten,12 Hunnen13 und Germanen14 bezeugt und seit dem 11. Jahrhundert auch aus Rußland bekannt ist. Stoff boten die Kämpfe mit den Tataren. Als die Texte zu Beginn des 19. Jahrhunderts gedruckt erschienen, belebten sie den russischen Nationalstolz. Was dann den Druck der ›Bylinen‹ bei Beck verhindert hat, ist unklar. Erst 1986 hat Xenia Werner aus Groegers Nachlaß 13 Lieder in der Insel-Bücherei Nr. 696 in Leipzig vorgelegt. Für Spengler sind die Bylinen morphologisch »gleichzeitig« mit der germanischen Heldendichtung der Völkerwanderungszeit, hier in der vorkulturellen Phase der abendländischen Hochkultur, dort in der Inkubationszeit der künftigen russischen Hochkultur (PS. 110). Mit einer solchen rechnete er am 14. Juli 1915 und am 12. Oktober 1916 (B. 41 ff.; 54 ff.). »Russentum ist das Versprechen einer kommenden Kultur, während die Abendschatten über dem Westen länger und länger werden« (PS. 98). Der Geist indessen sei verschieden. »Der ganze unermeßliche Unterschied zwischen der russischen und der faustischen Seele liegt schon in diesen Gesängen.« In den Bylinen findet Spengler die Abwehr des Fremden, eine Auseinandersetzung, die prägend für Rußland blieb. Das zweite nachchristliche Jahrtausend wird dort in die präkulturelle Phase eingeordnet, parallel zur Stellung der Frankenzeit in der abendländischen Geschichte. Peter der Große erscheint als »Zeitgenosse« Karls des Großen, er sei das »Verhängnis des Russentums«, das er nach dem Vorbild »Westeuropas umgefälscht«, in eine »unechte Geschichte gezwängt habe« (UA. II 231 f.). 10 X. Werner 1987, 66. 11 Cicero, Tusculanen IV 2,3. 12 Pompeius Festus 25. 13 Priskos 13,1, Blockley. 14 Tacitus, Annalen II 88.
Dostojewski
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Das verstand Spengler als »Pseudomorphose«, analog zur angeblichen Fälschung der magischen Kultur des ersten Jahrtausends durch das antike Erbe. Die nächste Verfremdung des Russentums war für Spengler der Marxismus, der wegen seines unrussischen Charakters keine Zukunft habe. Der Deutung des Marxismus durch Spengler steht die Deutung Spenglers durch den Marxismus gegenüber. Sein Werk wird als »ideologische Widerspiegelung der allgemeinen Krise des Kapitalismus« abgetan.15 Spengler prophezeite : Sobald der Marxismus überwunden sei, werde sich die russische Hochkultur artgerecht entfalten. Geistige Grundlage werde eine neue Religion sein, der Glaube eines noch schlummernden, unmündigen Volkes, das dritte Christentum nach dem antiken Christentum des ersten Jahrtausends und dem abendländischen Christentum des zweiten Jahrtausends (PS. 111) : Das Russentum werde seine bisher okzidental bestimmte Fehlentwicklung »beiseite schieben und über Byzanz wieder unmittelbar an Jerusalem anknüpfen.« Herrschaftsform sei dann ein »neuer Zarismus« (PS. 102 f.). Das nehmen wir Spengler eher ab als die Prognose einer »neuen Religion«.
3. Dostojewski
Herold des »kommenden Rußlands« ist für Spengler Dostojewski (UA. II 234). Seinem Christentum »gehört das dritte Jahrtausend« (UA. II 234 ; 237). Er ist ein Heiliger, ein urchristlicher Apostel. Spengler vermittelte dem Beck-Verlag Groegers Übersetzung von Nikolaus Berdjajews Buch ›Die Weltanschauung Dostojewskis‹. Es erschien 1925 und schließt : »Dostojewski – das ist jener tiefste der Werte, durch den das russische Volk sein Dasein auf der Welt rechtfertigen, auf den es hinweisen kann auf dem Jüngsten Gericht der Völker.« Zu Recht betont Spengler die innere Distanz Dostojewskis zur westlichen Kultur. Diesem wie Danilewski 1871 in seinem Buch ›Rußland und Europa‹16 und den Slawophilen allgemein erschien »Europa« im Gegensatz zu Rußland als dekadent. Auch Berdjajew konstatiert die »Dehumanisation« der westlichen Moderne, veranschaulicht in den stilisierten Menschenbildern Picassos. Berdjajew sieht sich wie Spengler in der »seelenlosen« Zivilisation mit ihrem »ökonomischen Materialismus« am Ende einer organischen Kulturentwicklung weltweit und glaubt sich an der »Schwelle der neuen Ära«, auf dem »Weg zur anderen Welt«, zu einem »transzendenten Ausgang der Geschichte« in der »Übergeschichte«.17 15 I. S. Kon, Die Geschichtsphilosophie des 20. Jahrhunderts. Kritischer Abriß, 2. Aufl. I/II 1966, I, 185. 16 Deutsch von K. Nötzel 1920. 17 N. Berdjajew, Der Sinn der Geschichte, 1923/25, 239 ; 250 ; 270.
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Spengler und Groeger
1876 formulierte Dostojewski hierzu eine konkrete Prognose.18 Er knüpft an die Reformen Peters des Großen an, dem er – ganz anders als später Spengler – das Verdienst zuweist, Rußland nach Europa geöffnet zu haben, nicht aber, um von dort technische Neuerungen zu übernehmen, sondern um nach dort die russische Weltmission zu vermitteln. Dabei gehe es nicht um Aufklärung, Wissenschaft oder Zivilisation, sondern um brüderliche Liebe in der ganzen Menschheit. Berufen sei Rußland als Hüter der Wahrheit und der orthodoxen Rechtgläubigkeit im Geiste Christi. Die friedliche Vereinigung der Völker beginne mit dem Panslawismus unter den schützenden Fittichen Rußlands und der Gewinnung von Konstantinopel als geistigem Zentrum, was früher oder später ganz unvermeidlich von selber geschehe. So vollende sich die Allversöhnung der Völkerschaften, die Erneuerung der Menschen und die Herrschaft Christi. Wer an einem solchen Wunder zweifle, den erinnert Dostojewski an ein anderes : Wie jüngst eine riesige Europa beherrschende Macht »vom Sturme Gottes hinweggefegt« wurde und ein neues Reich sich erhob, dem ein an Kraft ähnliches die Erde noch nicht getragen habe. Das war 1870. Sedan beglaubigt Harmagedon. Dostojewskis Prognose unterscheidet sich von derjenigen Spenglers durchaus, hat aber gemeinsam mit ihr den universalen Zug. Denn die letzte Hochkultur endet nach Spengler in einer globalen Zivilisation nicht unbedingt »zivilisierter« Völker. Drei Stufen sind erkennbar : Der Vorgeschichte folgte die »Hochgeschichte« der acht Kulturen und dieser nun die »Nachgeschichte« (FW. X). Daß diese erst am Ende des dritten Jahrtausends nach der russischen Kultur erreicht werde, widerspricht Spenglers Hinweis darauf, daß die Zivilisation der abendländischen Kultur bereits die »ganze Erdoberfläche ergriffen« habe und kein Ende abzusehen sei (UA. I 143). Die moderne Industrie habe die alten Kulturgebiete überlagert, die »Natur wird erschöpft, der Erdball dem faustischen Denken in Energien geopfert« (UA. II 43 ; 627). Wo ist da noch Mutterboden für das »Samenkorn« einer neuen Kultur, die doch so, wie alle älteren landschaftsgebunden sein müßte ? Für eine künftige russische Kultur gibt es demnach keinen Platz, weder auf Erden noch im System Spenglers. Zudem bestreitet er die Möglichkeit, eine künftige Kultur vorherzusehen, grundsätzlich (UA. II 42 f.). Nehmen wir das ernst, so verteidigen wir Spengler gegen Spengler. Dann streichen wir die Erwartung einer russischen Hochkultur im dritten Jahrtausend aus dem Zeitplan des Weltgeistes und beziehen Rußland ein in die »kulturlose« Globalzivilisation abendländischer Prägung. Die »verspätete Nation« sind nicht die Deutschen, sondern die Russen, in puncto Fortschritt wie in puncto Dekadenz. Denn die Zukunft des Russentums ist ein Teil der Zukunft der Menschheit. 18 F. M. Dostojewski, Tagebuch eines Schriftstellers, 1963, 225 ff.
Illud teneto : nervos atque artus esse sapientiae non temere credere. Q. Cicero
IX. Eduard Meyer und Oswald Spengler Läßt sich Geschichte voraussagen ?1
Immanuel Kant2 stellte 1784 die Frage, »wie es unsre späten Nachkommen anfangen werden, die Last von Geschichte, die wir ihnen nach einigen Jahrhunderten hinterlassen möchten, zu fassen ?« Die Antwort gab Friedrich Nietzsche 1874 in seiner Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung.3 Er forderte, daß die Geschichte nur soweit betrieben werden sollte, als sie dem Leben diene. Dies leiste sie in drei Formen : als monumentalische Historie, die das Große bewundert, als antiquarische Historie, die das Alte um seiner selbst willen liebt, und als kritische Historie, die das Brauchbare vom Unbrauchbaren trennt, um aus der Vergangenheit Baustoff für die Zukunft zu gewinnen.
1. Wozu Wissenschaftsgeschichte ?
Nietzsches drei Zugänge zur Allgemeingeschichte eröffnen uns auch drei Seiten sinnvoller Wissenschaftsgeschichte. Die monumentalische Wissenschaftshistorie wurzelt in der Totenehrung. Sie zeigt uns die Heroen unseres jeweiligen Faches von ihrer besten Seite, und das mit Recht. Denn durch sie zeichnen sich die Größen ja gerade aus. Das Mittelmäßige und Alltägliche können wir überall studieren, nicht zuletzt an uns selbst. Die echten Leistungen aber sollten im Bewußtsein bleiben, um uns als Maßstab und Anreiz zu dienen. Sie sind Muster für die Zukunft. Daß Meyer und Spengler zu den großen Autoren unseres Faches zählen, bezweifelt nur, wer sie nicht gelesen hat. Meyer ist der neben Theodor Mommsen bedeutendste deutsche Althistoriker. Während Mommsen sich ganz auf die römische Geschichte konzentrierte und in einem von ihm selbst erkannten und beklagten 1 Anregung verdanke ich den Teilnehmern der Eduard-Meyer-Tagung in der Reimers-Stiftung Bad Homburg im November 1987 und Dr. E. Flaig. 2 Kant 1921, I 239. 3 F. Nietzsche, Werke in drei Bänden, 1960, I 219 ff.
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Eduard Meyer und Oswald Spengler
Spezialistentum endete,4 hat Meyer gegen den Zug der Zeit einen universalhistorischen Ansatz gewählt und diesen durch theoretische Überlegungen vertieft. Er hatte zwar nie eine solch große Leserschaft wie Mommsen, dennoch hat er das Geschichtsverständnis von Max Weber, Michael Rostovtzeff und, wie wir sehen werden, von Arnold Toynbee und Oswald Spengler entscheidend beeinflußt. Spengler hingegen ist vielleicht stärker durch seine Wirkung als durch sein Werk bemerkenswert. Vom »Untergang des Abendlandes« hat der Verlag C. H. Beck in München bis 1990 über 300 000 Exemplare verkauft. Spengler vertritt die einflußreichste nach- und nichthegelianische Geschichtsphilosophie, eine kulturmorphologische Zyklustheorie, die das Denken einer ganzen Generation geprägt hat. Die antiquarische Wissenschaftshistorie sodann bringt uns die Forscher als Menschen näher und zeigt uns die Tradition, in der wir stehen. Nietzsche (1 227) spricht vom »Wohlgefühl des Baumes an seinen Wurzeln.« Der Zukunftsaspekt dieses Ansatzes liegt in der Forschungsökonomie. Wenn eine Forschung nichts mehr zu erforschen hat, kann sie immer noch die Forschung erforschen und findet in sich selbst einen unerschöpflichen Stoff. Das führt indes leicht ins Pittoreske und Pikante. Um das zu vermeiden, verzichte ich darauf, die Äußerungen des Rathenau-Biographen Harry Graf Kessler5 zu zitieren, der Spengler nach einer Begegnung in Weimar 1927 als einen »halbgebildeten Scharlatan« und »Nietzsche-Pfaffen« bezeichnete. Ebenso versage ich es mir, meinen ersten Besuch vom 17. Juli 1986 in der Mommsenstraße 7/8 von Groß-Lichterfelde zu beschreiben, wo im verlassenen Arbeitszimmer Eduard Meyers hinter grauen Fenstern dick bestaubte Bücher und Papiere sich auf Tisch und Boden türmten, die ganze Etage bewohnt von einer neunzigjährigen Nichte ( ?) des Historikers und einer hundertjährigen Schildkröte, die sich friedlich und niedlich von Meyers letzten Briefen und Tagebüchern ernährte. Für die kritische Wissenschaftshistorie schließlich ist derartiges Klatsch. Sie fragt nicht nach dem Bewundernswerten und nicht nach dem Unterhaltsamen, sondern nach dem Verwendbaren. Sie bemüht sich um abwägende Bestandsaufnahme in der Absicht, erreichte Einsichten zu vertiefen und begangene Fehler zu vermeiden. Dazu bedarf es freilich der Fachkompetenz des Kritikers und seiner Bereitschaft, den Gelehrten aus seiner Zeit zu verstehen. Wissenschaftsgeschichte ohne Fachkompetenz bleibt belanglos für die Wissenschaft ; Wissenschaftsgeschichte ohne Willen zum Verständnis führt zur ideologischen Schulmeisterei. War einst jede Epoche unmittelbar zu Gott, so ist nun jede Epoche mittelbar zu Hitler. Meyer und Spengler bieten dafür Angriffspunkte. Beide gehören wie Gottfried Benn, Carl Schmitt und Ernst Jünger zu den Rechtsintellektuellen. Sie haben den Vorzug, weniger Illusionen als die Linksin4 Th. Mommsen, Reden und Aufsätze, 1905, 198. 5 H. Graf Kessler, Tagebücher 1918–1937, 1961, 43 ff.
Wer war Eduard Meyer ?
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tellektuellen zu hegen, müssen sich aber von diesen sagen lassen, zur Bestätigung ihrer pessimistischen Weltsicht beigetragen zu haben. Die monumentalische, die antiquarische und die kritische Fragestellung suche ich im folgenden zu verbinden.
2. Wer war Eduard Meyer ?
Eduard Meyer6 wurde 1855 als Sohn eines Gymnasiallehrers geboren. Als zwölfjähriger Schüler der Hamburger Gelehrtenschule, des Johanneums, verfaßte er eine Tragödie über Caesars Tod in fünf Akten. Den Text fanden wir zwischen den von der Schildkröte verschonten Papieren. In der Prima entwarf er seine spätere Habilitationsschrift.7 Während des Studiums lernte er orientalische Sprachen, die er wie kein zweiter seines Fachs vor oder nach ihm beherrschte. Mit zwanzig Jahren promoviert, wurde Meyer Hauslehrer beim englischen Gesandten Sir Philip Francis in Konstantinopel, leistete ein Jahr Wehrdienst, habilitierte sich mit 24 Jahren in Leipzig und übernahm dann Professuren in Breslau, Halle und seit 1902 in Berlin, wo er bis 1923 lehrte. Reisen in die Mittelmeerländer (1884, 1887/88, 1925/26),8 nach England (1876) und Rußland (1925, 1928) sowie zwei Gastprofessuren in den Vereinigten Staaten (1904 Chicago, 1909/10 in Harvard) rundeten sein Weltbild. Meyers zweite Amerikareise 1909/10 glich einem Triumphzug. Die Presse feierte ihn als den most eminent living historian.9 Meyer bekleidete leitende Stellungen im Deutschen Archäologischen Institut, im Kartell der Deutschen Akademien, in der deutschen Orient-Gesellschaft und seit 1902 in der RömischGermanischen Kommission, der er 1927 in Frankfurt die Geburtstagsrede hielt. Meyer war siebenfacher Ehrendoktor, Geheimrat und trug den Pour le Mérite der Friedensklasse. 1919 wurde er Rektor der Friedrich-Wilhelms-Universität. Damals entstanden Einrichtungen, die uns heute selbstverständlich sind : die Mensa, eine Unterstützungskasse für arme Studenten, der Allgemeine Studentenausschuß und die Vorläuferin der Deutschen Forschungsgemeinschaft.10 Meyers Schriftenverzeichnis umfaßt 570 Titel,11 darunter die achtbändige ›Geschichte des Altertums‹, ein Gesamtbild der Antike vom ältesten Orient bis zur Alexanderzeit. Es folgten Bücher über die Entstehung des Judentums (1896), über 6 K. Christ, Von Gibbon zu Rostovtzeff, 1972, 286 ff. Dazu die autobiographische Skizze bei H. Marohl, Eduard Meyer-Bibliographie, 1941 und ausführlicher Calder/Demandt 1990. 7 Marohl a. O. 9. 8 Polverini hierzu anderen Ortes (s. Mnemosyne, Supplementum 112, 1990, S. VII). 9 Chambers bei Calder/Demandt 1990, 97 ff. 10 Unte bei Calder/Demandt 1990, 505 ff. 11 S.o. Anm. 6.
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Eduard Meyer und Oswald Spengler
die Mormonen (1912), über Caesar und Pompeius (1918) und über die Ursprünge des Christentums (1921/23). Im Weltkrieg verfaßte er historisch-politische Werke über Nordamerika und England, letzteres nach Friedrich Meinecke12 eher ein »Werk der Leidenschaft als der Wissenschaft.« Besonders wirksam wurden Meyers theoretische Schriften, die in der Nachfolge von Droysens Historie stehen. Sie wurden ins Japanische und Russische übersetzt. Meyers Umgang mit der Geschichte gehört nach der Typologie Nietzsches in die kritische Historie. Sein »Leitstern« war das Wort Epicharms (GdA. I 1, X), das Quintus Cicero, der Bruder des Redners,13 latinisierte (s. o.). Zu Deutsch : »Nerven und Gelenke des Geistes sind : Nichts blindlings glauben !« Meyer suchte in der Geschichte Bausteine für eine »einheitliche, historisch begründete Weltanschauung.«14 Er besaß die von Novalis15 am echten Gelehrten bewunderte »Universaltendenz«. Das Altertum schien Meyer aus zwei Gründen dafür geeignet. Zum ersten habe es die Grundlagen gelegt für alle weitere Entwicklung. Athen sei der »Ort, dem wir alles verdanken, was wir an geistiger Kultur, an wahrer Bildung besitzen, ohne den wir Barbaren sein würden.«16 Gleichwohl war Meyer kein Klassizist : Die Antike wird nicht verklärt, sondern mit all ihren Schattenseiten wiedergegeben. Zum zweiten liefert die griechisch-römische Geschichte ein Modell, weniger ein Vorbild als ein Schaubild, das verkleinert, aber maßstabgetreu das Schicksal der romanischgermanischen Völker vorwegnimmt.17 Zwischen beiden Kulturen glaubte Meyer eine »Parallelität der Entwicklung« (Weltgeschichte 39) zu erkennen. Diese Ansicht hat er schon 1895 auf dem Frankfurter Historikertag ausgeführt (Kl. Schr. I 179 ff.). Dort beschrieb er die griechisch-römische Antike als zyklische Einheit, die nach seiner Ansicht von einer primitiven Frühzeit über eine fortschreitende Modernisierung zu einer dekadenten Spätphase führte und abermals in der Primitivität endete. 12 23.V.1915 an Dove. F. Meinecke, Werke VI 1962, 61. 13 Commentariolum petitionis 39, im Anhang der Cicero-Briefe ›Ad Quintum fratrem‹ aus Polybios XVIII 40. 14 GdA I 1, S. IX. Meyer nennt dies die »innerste Triebfeder« bei der Ergreifung seines Berufes. Aus ihr erklärt sich auch sein Interesse an Religionsgeschichte. Meyer benutzt die Wissenschaft einerseits als kritisches Werkzeug gegenüber vorgegebenen Weltanschauungen und andererseits als Instrument zur Gewinnung einer eigenen. Er rechnet mit dem »bewußt und unbewußt in einem jeden arbeitenden Bestreben, zu einem einheitlichen Gesamtbilde der menschlichen Entwicklung zu gelangen«, und unterscheidet dafür zwischen einem unwissenschaftlichen und einem wissenschaftlichen Vorgehen. Im Gegensatz zu den »ewigen« Wahrheiten der Religion betonte Meyer, »daß die wissenschaftliche Discussion ihrem Wesen nach unendlich ist, und daß, wo eine Generation schon geglaubt hat, fast am Ziele zu sein, die nächste in ihrem Resultat nur neue Probleme erkennt« (Sitzungsber. Berl. Akad. 104, 1013). 15 Novalis, Werke und Briefe, Insel 1942, 410. 16 Meyers Brief vom 10.IV.1884. 17 Meyer, England 210.
Wer war Eduard Meyer ?
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Als Leitfaden wählte Meyer die Wirtschaft.18 Den Grund für diese Wahl bot die damals verbreitete These von Karl Bücher, der die Wirtschaftsgeschichte nach dem hegelianischen Fortschrittsprinzip in drei Stufen von der Haus- zur Volks- zur Weltwirtschaft dargestellt hatte, wobei der »unermeßliche Rückschritt, der in der Zeit von Hadrian bis auf Karl den Großen sich vollzogen hat«, nicht in Erscheinung trat (Kl. Schr. I 174). Die Zeit von Homer und Hesiod sah Meyer geprägt durch einen ritterlichen Adel, der mit seinem höfischen Leben und den epischen Sängern, mit seinem Gefolgschaftswesen und seinen Fehden so sehr an das europäische »Mittelalter« erinnert, daß Meyer diesen Begriff auf die frühgriechische Zeit übertrug.19 Durch aufkommendes Städtewesen, durch fortschreitende Arbeitsteilung und vor allem durch die beginnende Geldwirtschaft gewannen Handwerk und Handel an Bedeutung. Ohne Export und Import konnten die Städte gar nicht mehr leben. Das 7. und 6. Jahrhundert v. Chr. in Griechenland entsprächen dem 14. und 15. Jahrhundert, das 5. dem 16. und die Folgezeit dem Hellenismus. Den Höhepunkt der antiken Kultur erblickte Meyer im klassischen Athen, namentlich in der Person des Sokrates.20 Gegenüber der Aufgabe einer nationalen Einigung hätten die Griechen allerdings versagt.21 Die letzte Chance verspielten die Tyrannen von Syrakus, so daß die Randmacht Makedonien die Führung übernahm und die Polisautonomie beendete. In den Großreichen des Hellenismus mit seiner Weltkultur erreichte die griechische Geschichte ihren Abschluß.22 Schon Droysen23 hatte den Hellenismus als 18 Ob diese Wahl glücklich war, ist zu bezweifeln. Denn man kann zwar den Aufstieg der antiken Wirtschaft mit dem im europäischen Mittelalter vergleichen, doch fehlt hier die ökonomische Dekadenzphase, die in der Völkerwanderungszeit am Ende des Altertums zu beobachten ist, als die Naturalwirtschaft wiederum die Geldwirtschaft verdrängte, die Arbeitsteilung zurückging und der Fernhandel an Bedeutung verlor. 19 Meyer, Theorie 27. Ebenso betonte Wilamowitz, Reden und Vorträge, 1902, 127, daß die frühgriechischen Jahrhunderte »auf fast allen Gebieten überraschende Analogien zu dem Mittelalter der christlichen Periode bieten« (1897). 20 GdA. IV 2, 150 ff. 21 GdA IV 2, 150 ff.; Kl. Sehr. I 267. Die Vorstellung, daß die Geschichte bestimmten Völkern und Männern bestimmte Aufgaben stelle (vgl. 281 ; 272 f.), dürfte Meyer indirekt von Hegel haben, während seine Annahme, daß diese Aufgabe die Gewinnung der nationalen Einheit sei, eine Rückblendung eigener Ideale auf die Griechen zu sein scheint. 1919 stellte Meyer (Caesar S. X) fest, daß das deutsche »Volk der großen weltgeschichtlichen Aufgabe, die ihm gestellt war, nicht gewachsen ist«, womit er anscheinend die Selbstbehauptung als Kultur- und Machtstaat meint. 22 Wenn Meyer seine Geschichte des Altertums mit dem Scheitern der nationalen Einigung im großgriechischen Westen beendet, so ist dies weniger abrupt, als bisweilen behauptet wird. Denn Meyer endet in der Zeit »wo die griechische Kultur ihr Höchstes geleistet hat und reif geworden ist, zur Weltkultur zu werden.« Dieses Resultat empfindet Meyer insofern als tragisch, als fortan »die Nation politisch alle Bedeutung verloren« habe (GdA V 514). 23 1843 im unterdrückten Vorwort zur Geschichte des Hellenismus II : J.G. Droysen, Historik 1960, 384.
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die »moderne Zeit des Altertums« bezeichnet, und dem folgte Meyer. Als dauernde Errungenschaft des freien Griechentums betrachtete er die Entwicklung des Individualismus. Sie führte zum Gottkönigtum Alexanders, der wiederum die griechische »Vollfreiheit« beendete. So erscheint der Weg von Askra über Athen nach Alexandria als Modernisierungs- und Erschöpfungsprozeß. Die Kultur wurde breiter, flacher, anfälliger.24 Der als Heilmittel gegen den Bürgerzwist gedachte Absolutismus erwies sich als Gift (Hellenismus 60). Die Kriege zwischen den hellenistischen Mächten ermöglichten es der Randmacht Rom, ihr Universalreich aufzurichten. Rom hat nach Meyer, wenn auch verspätet, so doch eine ganz ähnliche Entwicklung wie Griechenland durchgemacht, von einer bäuerlichen, kleinräumigen Gesellschaft zum kapitalistischen Universalsystem. Den mit dem Abzug des Pyrrhos erreichten Idealzustand eines geeinten Italien25 habe man leichtfertig zugunsten immer weiterer Expansion geopfert. Das Imperium Romanum der Kaiserzeit habe zwar Frieden und Wohlstand gebracht, wie es das nie zuvor, nie hernach gegeben habe. Dennoch war das eine »Friedhofsruhe«. Mit dem Verlust der politischen Selbständigkeit hätten die Völker ihre Schaffenskraft und ihre kulturellen Eigenarten eingebüßt. Seit Augustus herrschten Geldgier und Lebensgenuß bei den Oberschichten, Stumpfsinn und Erlösungsbedürfnis bei den Unterschichten. Es ist für uns heute schwer begreiflich, aber die Pax Romana ist durch namhafte Autoren entschieden abgelehnt worden. Mommsen26 verkündete am 24. III. 1881 : »Der ewige Friede ist unter allen Umständen nicht bloß ein Traum, den heute auch Kant nicht träumen würde, sondern nicht einmal zu wünschen.« Am 11. X. 1916 kritisierte Eduard Schwartz den »entnationalisierten Schematismus« und den »rein animalischen Lebensgenuß« im Weltreich des Augustus. »So etwa sah der einzige Weltfriede aus, der einmal Wirklichkeit geworden ist, die Pazi24 Ernst Badian nannte dies die »Flaschentheorie« der Kultur : Für wenige reicht sie aus ; läßt man zu viele teilhaben, lohnt es für keinen. Die Reduzierung der Kultur auf eine begrenzte Menge an geistigen Konsumgütern ist in der Tat merkwürdig. Diese Vorstellung übernahm Michael Rostovtzeff, Gesellschaft und Wirtschaft im römischen Kaiserreich II 1925/29, 247. Er erklärte den Verfall der antiken Kultur durch die »allmähliche Absorbierung der gebildeten Schichten durch die Massen«, forderte eine Massenkultur, aber endete in der Frage : »Ist nicht jede Kultur zum Verfall verurteilt, sobald sie die Massen zu durchdringen beginnt ?« 25 Meyer (Weltgeschichte 97) kritisiert Mommsen darin zu Recht, daß dieser den Römern die Einigung der italischen Nation zugutegehalten habe, da eine solche doch erst durch die Romanisierung Italiens geschaffen worden sei. Dennoch betrachtet auch Meyer den Übergang nach Sizilien 264 v. Chr. als Verrat am nationalen Prinzip. Wer, wie Meyer, Völker als zusammengewachsene Gruppen betrachtet, dürfte zwischen einer nationalistischen und einer imperialistischen Außenpolitik nicht den scharfen Unterschied machen, den Meyer betont. 26 Th. Mommsen, Reden und Aufsätze, 1905, 106.
Wer war Eduard Meyer ?
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fisten haben schwerlich Ursache, mit diesem Paradigma besonders zufrieden zu sein.«27 Mit Augustus begann für Mommsen28 der Abend, für Schwartz29 der Herbst, für Meyer (Staat 97) das Greisenalter. Endlich sei das ganze Reich auf Grund seiner inneren Fäulnis unter dem Ansturm der Germanen zusammengebrochen. Die Kultur sank zurück in die Barbarei. Die Hauptschuld maß Meyer, ganz wie Mommsen, politisch dem Imperialismus, ökonomisch dem Kapitalismus, sozial dem Großstadtleben zu. Letztlich scheiterte die antike Kultur an moralischem Versagen. Man widerstand den Verlockungen der Macht und des Wohlstandes nicht. Den darin klassisch ausgeprägten Kreislauf – die Figur übernahm Max Weber 189630 – erachtete Meyer als ein allgemeines Modell der Kulturentwicklung, das schon der arabische Historiker Ibn Chaldun um 1400 erkannt habe (GdA I 1, 83). Meyer gewann die Überzeugung, daß die von Hegel und den Hegelianern vertretene Annahme eines steten Fortschreitens der menschlichen Kultur »ein Postulat des Gemütslebens, nicht eine Lehre der Geschichte« sei (GdA I 1, 181 f.). Wie Mommsen betonte Meyer, »daß die Geschichtsbetrachtung immer von der Gegenwart ausgeht.«31 Geschichte und Gegenwart stehen durch Kausalitäten und Analogien in Verbindung. So wird erst in wechselseitiger Beleuchtung die Geschichte für die Gegenwart bedeutsam und die Gegenwart durch die Geschichte verständlich. Dieser Zusammenhang wurde blitzartig klar mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Er bedeutet für die Geschichtsphilosophie eine Kehre. Zahlreiche, nicht nur deutsche Denker gewannen jetzt die Überzeugung, daß der Niedergang der antiken Kultur sich an uns wiederhole. Zu diesen Autoren gehören nicht nur Toynbee und Spengler, sondern auch Eduard Meyer. 1902 hatte er noch gemeint, der Gleichtakt zwischen Antike und Abendland höre im 16. Jahrhundert auf. Denn das Altertum sei in eine Universalmonarchie gemündet, in der Moderne dagegen behaupteten sich die Staaten nebeneinander und entfalteten in bald friedlichem, bald kriegerischem Wettstreit ihre Kultur (Kl. Schr. I 258). Densel27 Ed. Schwartz, Weltreich und Weltfriede (Rede 11.X.1916). In : Ders., Gesammelte Schriften I 1938/1963, 173 ff.; 192. 28 Th. Mommsen, Römische Geschichte III 1856/1909, 630. 29 S.o. Anm. 27, S. 185. 30 M. Weber, Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur (1896), in : Ders., Soziologie, weltgeschichtliche Analysen, Politik, 1968, S. 3. Weber spricht vom »Kreislauf der antiken Kulturentwicklung« infolge ihrer »inneren Selbstauflösung.« Auch bei ihm spielen ökonomische Entwicklungsfehler die Hauptrolle. 31 GdA I 1, 191 ; Kl. Schr. II 585. Meyer behauptet nicht, daß die Vergangenheit nur soweit interessant sei, als sie zur Gestaltung der Gegenwart entscheidend beigetragen habe, sondern meint, daß die Vergangenheit nur soweit erforschbar ist, als sie in der Gegenwart erhaltene Spuren hinterlassen habe ; GdA I 1, 188.
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Eduard Meyer und Oswald Spengler
ben fundamentalen Unterschied zwischen Antike und Moderne verfocht Friedrich Meinecke32 noch 1915. Die optimistische Ansicht von der offenen Zukunft Europas, so konstatiert Meyer, habe der Kriegsausbruch widerlegt.33 Nun habe der Kampf um die Universalhegemonie ebenfalls Europa erfaßt. Meyer parallelisierte seine Zeit mit der Hannibals. So wie damals die antike Kultur, habe jetzt die moderne ihren Zenit überschritten, gleichgültig, wer siegen werde.34 Europa hätte seine Weltgeltung verloren und sei nach einer archaischen und einer klassischen Periode in die Spätzeit eingetreten. Der letzte Akt hätte begonnen, unklar war lediglich die Verteilung der Rollen. Am Anfang des Krieges glaubte Meyer noch, Deutschland spiele die Rolle Roms ; sollte Deutschland jedoch unterliegen, übernähme Rußland die Führung auf dem Kontinent. Käme es zu einem Erschöpfungsfrieden, würde die Entscheidung bloß vertagt. Lachender Dritter sei heute wie damals letztlich Asien. Mit diesem Zeitbild nahm Meyer Spengler vorweg. Gegen Ende des Krieges gab Meyer den Glauben an Deutschlands römische Rolle auf. Nun wurden Hannibal und Hindenburg verglichen, beide als heroisch gescheiterte Vorkämpfer des Staatenpluralismus gegen die neue Weltmacht (Kl. Schr. II 543). Bei der Gleichsetzung von Deutschland und Karthago, die später Bertolt Brecht übernahm, ließ Meyer sich auch dadurch nicht stören, daß die Karthager keine eigene Kultur besaßen und zudem Semiten waren, die Meyers Neigung nicht genossen.35 Die Rolle Roms übertrug Meyer den Vereinigten Staaten. Innen- wie außenpolitisch sah er zwischen Rom und Amerika »die schlagendste Analogie.«36 Dafür gab es Gründe. Innenpolitisch : Völkermischmasch, Pazifismus, Landflucht, Plutokratie, Sektenwesen. Außenpolitisch : Internationaler Friede, homogene Zivilisation. Den alten Vorwurf gegen die Römer, ihre gerechten Kriege seien selbstgerechte Kriege, wendete Meyer gegen Amerika, dessen Politik zugunsten des Weltfriedens und der Völkerverbrüderung pure Heuchelei sei.37 So wie die Randmacht Rom kulturell hellenisiert worden war, um dann die Ökumene politisch zu romanisieren, so würde die Randmacht Amerika kulturell europäisiert, um jetzt die Welt 32 F. Meinecke, Nach der Revolution, 1919, 72. 33 Daß Meyer schon sehr früh pessimistischen Anwandlungen unterlag, zeigt der von Hoffmann bei Calder/Demandt 1990, 209 ff. publizierte Auszug aus dem Vortrag von 1874. 34 Diese Parallelisierung findet sich bereits in dem 1902 verfaßten, später »an einigen Stellen« erweiterten Artikel über den ›Gang der Alten Geschichte‹, Kl. Schr. I 214 ; 256 ; II 537 ; 576 ; England 200 ff. Zu Meyers Pessimismus im Weltkrieg vgl. Meinecke (o. Anm. 12) 76 von 1915. 35 Meyer, Hannibal 79 f.; GdA 12, 415 f. 36 Nordamerika 37 ; Weltgeschichte 71 ; 103 ; Caesar 5 ; Heimstätten 50 ; Hellenismus 73. 37 Meyer, Amerika 250 ; 253 ; 288.
Wer war Eduard Meyer ?
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zu amerikanisieren. Das war für Meyer das Ende der europäischen Kultur. Kulturelle Leistungen seien nur von freien Völkern zu erwarten, die mal friedlich, mal kriegerisch miteinander konkurrierten, nicht bei Satelliten von Weltmächten, die – damals Rom, heute Amerika und Rußland – nie aus der Halbbarbarei herausgekommen seien. Die Schuld am Ende der Antike treffe Rom, die Schuld am Ende Europas treffe England beziehungsweise Amerika.38 Trotzdem wäre Roms Aufstieg ebensowenig zu verhindern gewesen, wie der Aufstieg Amerikas.39 Den Übergang zur Weltmacht sah Meyer bei den Römern im Griff nach Sizilien während des Ersten Punischen Krieges 264, bei den Amerikanern im Griff nach Kuba und den Philippinen 1898.40 Eine letzte Chance hätten die europäischen Mächte vielleicht dann gehabt, wenn sie im amerikanischen Sezessionskrieg die Südstaaten unterstützt und damit eine Teilung herbeigeführt hätten.41 Die römische Rolle der Angloamerikaner ist nach dem Ersten Weltkrieg mehrfach, unter anderem durch Meyers Schüler Ulrich Kahrstedt42 und durch Meyers Kollegen Friedrich Meinecke hervorgehoben worden. Meinecke sah, analog zur Pax Romana, eine Pax Anglosaxonica kommen, deren Macht wirtschaftlicher Natur war. Unter der »Glasglocke der angelsächsischen Weltherrschaft« könnten die Nationalstaaten Europas vielleicht in einer »Scheinautonomie« fortbestehen, so wie die Griechenstädte im Römerreich. Gewiß aber erwarte uns eine »allgemeine Mischmaschkultur unter angelsächsischen Vorzeichen,« vor der es Meinecke schauderte. Mit der »Autonomie der Staaten und Nationen ist es, weltgeschichtlich gesehen, nun doch einmal vorbei.«43 Meinecke hegte dieselben Befürchtungen wie Meyer (Weltgeschichte 23) gegenüber der kulturellen »Einförmigkeit eines entnationalisierten Weltreichs.« Preußen-Deutschland parallelisierte Meinecke nicht, wie Meyer, mit Karthago, sondern wie Kahrstedt mit Makedonien-Griechenland, fraglos eine ergiebigere Analogie. Sie entspricht der schon im 16. Jahrhundert aufkeimenden Wahlverwandtschaft zwischen Deutschen und Griechen, die dann von Winckelmann und 38 England 204 ; 212 ; Weltgeschichte 52 ; Hellenismus 73 ; Kl. Schr. I S. V. 39 Unklar ist bei Meyer das Verhältnis zwischen Notwendigkeit und Moral. Auf der einen Seite betrachtet er die Entwicklung zur Großraumordnung als notwendig, da die Kleinstaaten sich als politisch unfähig erwiesen hätten. Er wirft sogar den Römern vor, diese Politik nicht hinreichend energisch verfolgt zu haben. Auf der anderen Seite wird der Expansionismus prinzipiell kriminalisiert. 40 Meyer, Hannibal 70. 41 Meyer, Kl. Schr. I 256. 42 U. Kahrstedt, Pax Americana 1920. Unabhängig von der antiken Parallele erörtert das Bewußtsein vom Niedergang Europas zwischen den Flankenmächten : G. Barraclough, Europa, Amerika und Rußland in Vorstellung und Denken des 19. Jahrhunderts, Hist. Zeitschrift 203, 1966, 280 ff. 43 Meinecke (s. Anm. 29) 98 ff.
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Herder, von Schiller, Hölderlin und Wilhelm von Humboldt angenommen wurde. Für Meinecke hat das Ende der griechischen Freiheit 168 v. Chr. bei Pydna den Niedergang der antiken Kultur besiegelt. »Nur der Geist,« ruft Meinecke seinen Lesern zu, »der kein unentrinnbares Fatum über sich anerkennt, kann dieses Fatum unwirksam machen.«44 So wenig wie Meinecke war Meyer ein Fatalist. Das zeigt sich schon in seinen scharfen Moralurteilen. Anders als später Spengler sah Meyer im Kulturkreislauf bloß eine Erfahrungstatsache, kein »blindwirkendes Naturgesetz.«45 Regenerationen hielt er 1902 (Theorie 26 f.) noch für möglich. Die Parallelität zwischen Antike und Moderne verstand er wie Geschichte überhaupt als Folge von drei Faktoren : von verantwortlichen Entscheidungen Einzelner, von zeitbestimmenden Ideen und von unberechenbaren Zufällen (Kl. Schr. II 576). Meyer glaubte, Geschichte liefere nicht nur Bausteine für die Erkenntnis der Welt, sondern auch Werkzeuge zu ihrer Gestaltung, und hat darum im Weltkrieg publizistisch zu wirken versucht.46 Wilamowitz nannte Meyer 1925 einen der »tapfersten Kämpfer für die Ehre unseres Vaterlandes.«47 Zutiefst überzeugt von Deutschlands Recht auf einen »Platz an der Sonne«, sah Meyer (Weltgeschichte 13 f.) ganz wie Meinecke in Deutschland das letzte Bollwerk des Nationalismus und der Völkervielfalt gegenüber dem Internationalismus der Angloamerikaner, die allen Völkern ihre Demokratie, ihren Kapitalismus, ihre Zivilisation aufzwingen wollten. Annexionen schienen ihm zeitweilig zur außenpolitischen Defensive nötig, ohne daß er ihren innenpolitisch korrumpierenden Charakter verkannt hätte. Das lehrte ihn Rom. In seinen patriotischen Schriften 44 a.O. 78 ff.; 106. Die Parallelisierung mit dem späten Griechenland zog auch der von Meyers Gegner G.F. Nicolai (Die Biologie des Krieges 1919, 13) und Albert Einstein im Oktober 1914 verfaßte ›Aufruf an die Europäer‹. Dort wird befürchtet, daß »Europa infolge seiner mangelhaften Gesamtorganisation dasselbe tragische Geschick erleide, wie einst Griechenland.« 45 GdA I 1, 84. Meyer verband mit dem Begriff des Naturgesetzes die Vorstellung einer Notwendigkeit im Geschehen, die zwar das Leben von Pflanzen und Tieren, nicht aber das Handeln des Menschen regiere. Eine solch strikte Fassung des Gesetzesbegriffs macht diesen indes ebenfalls für die Naturwissenschaften unbrauchbar, da deren »Gesetze« auch nur Ereignisfolgeregeln sind, die auf Erfahrung beruhen. Insofern besteht zwischen den Gesetzen, die Meyer für die Geschichte ablehnt, und den Entwicklungstendenzen bzw. Kreislaufmodellen, die er anwendet, nur ein gradueller Unterschied. Daneben hat er freilich bisweilen die unbedingte Geltung von Gesetzen in der Geschichte – wenn auch unbegründet – behauptet, so seine These, daß »jede Idee, die sich verwirklicht, in ihr Gegenteil umschlägt« (GdA I 1 § 103 S. 182). Zwei Beispiele dafür : 1. Nachdem die griechische Freiheit den Individualismus ermöglicht hat, zerstört das höchste Individuum, der Gottkönig Alexander, wiederum die Freiheit. 2. Nachdem die griechisch-okzidentale Kultur in Alexanders Siegeszug ihre Überlegenheit gegenüber dem Orient bewiesen hat, erliegt sie selbst der inneren Orientalisierung (Kl. Schr. I 297 f.). 46 Hierzu Sösemann in : Calder/Demandt 1990, 446 ff. 47 U.v. Wilamowitz-Moellendorff, Eduard Meyer, Süddeutsche Monatshefte 22, Januar 1925, 55 ff.
Wer war Eduard Meyer ?
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hat Meyer sich zu Ausfällen gegen die Westmächte hinreißen lassen, die der alliierten Greuelpropaganda gegen die deutschen »Hunnen« kaum nachstehen.48 Als die Entente 1919 die Auslieferung und Aburteilung des Kaisers und der sogenannten Kriegsverbrecher verlangte, ging über Deutschlands Hochschulen ein Sturm der Entrüstung. Meyer gab damals bekannt, er habe die Ehrendoktordiplome von Oxford, Liverpool, St. Andrews, Chicago und Harvard zerrissen (Kl. Schr. I S. VI). Durch den Frieden von Versailles habe Amerika eine »unübersehbare Folge weiterer vernichtender Kriege« programmiert und die Kultur Europas »rettungslos dem Untergang überantwortet« (Amerika 288 f.). Noch 1929 schrieb er an Spengler, Amerika sei ihm »mit seiner inneren Verlogenheit und salbungsvollen Überhebung« der »widerwärtigste unserer Feinde« (B. 533). Mit Weimar fand sich Meyer nur schwer ab. Sein Einwand gegen die parlamentarische Demokratie war, daß sie »dem Einzelnen die Verantwortung abnimmt und sie durch Uniformierung und Reglementierung zu ersetzen sucht.«49 Der Parlamentarismus sei die »elendste aller Staatsverfassungen«, aber die amerikanische Präsidialdemokratie imponierte Meyer (Amerika S. VII). 1924 fürchtete er, daß ein Volk, das der Demokratie »einmal verfallen ist, davon nicht wieder loskommt (B. 327 ff.)«. Immerhin konstatierte Meyer schon in seiner Rektoratsrede 1919, »daß eine gefallene Monarchie sich nicht wieder aufrichten läßt. Das deutsche Kaiserreich sei »nicht, wie wir geglaubt haben, ein Abschluß, sondern nur ein Durchgangspunkt der Entwicklung gewesen« (Kl. Schr. II 584). Nur scheinbar habe Deutschland mit der Demokratie die Staatsform der Feinde angenommen. In Wahrheit lebe selbst in der deutschen Sozialdemokratie ein Pflichtbewußtsein und ein Idealismus, der mit dem angelsächsischen Individualismus und dem französischen Materialismus nichts zu tun habe (a.O. 557 ff.). In ihrem Kampf gegen die »furchtbare Gestalt des seelenlosen, rein mechanischen Kapitalismus« hätte die Sozialdemokratie allerdings versagt – so Meyer in seinem Brief an Spengler vom 25. VI. 1922 (B. 202), in dem er den Mord an Rathenau beklagte. Meyer, der in seiner Jugend Sympathie für den Sozialismus erkennen ließ,50 trat 1924 für eine Bodenreform ein. Meyers innenpolitische Haltung entspricht Spenglers Auffassung von »Preußentum und Sozialismus.« 1925 war Meyer (Rußland 101 ff.) zusammen mit Max Planck und Heinrich Lüders Ehrengast der Sowjetunion zur 200-Jahrfeier der russischen Akademie der 48 Dazu : A.J. Toynbee, The German Terror in Belgium 1917 ; ders., The German Terror in France 1917 (das Exemplar dieser Kampfschrift in der Universitätsbibliothek der FU Berlin trägt den Stiftungsvermerk der World Brotherhood). 49 Vossische Zeitung 19. IX. 1915. 50 So im Brief vom 26.I.1872. Hoffmann in : Calder/Demandt 1990, 208 ff.
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Wissenschaften in Leningrad und Moskau. Obwohl Meyer überzeugt war, daß »das russische Reich nicht in den Kreis der europäischen Kultur gehört« (Weltgeschichte 10), bewunderte er das neue Rußland. Der Zarismus sei unheilbar verrottet gewesen, die Revolution habe kommen müssen, und Lenin sei der größte Staatsmann seit Bismarck gewesen. Den Spekulationen auf einen Zusammenbruch des kommunistischen Regimes trat er entgegen. Rußland sei innerlich gefestigt und könne nicht erobert werden. Seine Macht überrage nicht nur die europäischen Staaten. Meyer lehnte den Marxismus ab, er prophezeite Glasnost, eine allmähliche Abkehr von Dirigismus und Dogmatismus und eine Rückwendung zur bürgerlichen Normalität. So auch Spengler. Ohne Geld, ohne Eigentum, ohne Polizei könne ein Staat nicht bestehen. Eine außenpolitische Anlehnung Deutschlands an Rußland schien Meyer im Sinne Bismarcks sympathisch, da Rußland sich Deutschland gegenüber kulturell offen zeige. Deutsch sei die einzige für alle Studenten der Sowjetunion obligate Fremdsprache. Über die Hälfte der zur Feier delegierten Gelehrten war aus Deutschland gekommen, nur ein einziger aus Amerika. Meyer steht in der Tradition der national-konservativen Sympathie für Rußland, die in der Ablehnung Napoleons wurzelt. Schon Fichte51 stellte 1807 die »russische Kraft« den »ein wenig entnervten europäischen Nationen« gegenüber. Das Fazit zog Meyer in einem Brief vom 1. X. 1925 an Spengler (B. 417) : Rußland böte Deutschland »gewaltige Aussichten sowohl auf wirtschaftlichem Gebiet wie auf dem der internationalen Politik.« Auf der »Russischen Historikerwoche« 1928 in Berlin hielt Meyer die Festrede beim Empfang der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas.52 In seinen letzten Jahren löste sich Meyer von der Untergangsstimmung der Nachkriegsjahre. 1926 betonte er, »daß zu pessimistischer Auffassung nicht der mindeste Grund vorliegt.« Der »deutsche Idealismus« werde sich behaupten.53 1930 ist Meyer gestorben.
3. Wer war Spengler ?
Spengler ist 1880 in Blankenburg am Harz geboren. In seinem Elternhaus trafen eine artistische und eine kleinbürgerliche Tradition aufeinander. Spenglers Vater 51 J.G. Fichte, Machiavelli, 1807/1918, 23. 52 H. Jonas, Die russische Historikerwoche und die Ausstellung ›Die Geschichtswissenschaft in Sowjetrußland‹. In : Osteuropa 3, 1927/28, 751 ff.; 762. 53 So Meyer in seiner Antwort auf die durch Karl Alexander von Müller in den Süddeutschen Monatsheften (Nr. 24, Dez. 1926, 169 ff., 195 f.) publizierte Frage über die ›Deutsche Zukunft‹. Meyer betonte die Leistungen der Notgemeinschaft und den Leistungswillen der jüngeren deutschen Gelehrten.
Wer war Spengler ?
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war Postsekretär, seine Mutter die Tochter eines Solotänzers und Ballettmeisters, Enkelin einer Berliner Jüdin. Als Schüler erfand Spengler Kontinente, Völker und Staaten, konstruierte deren Verfassung, Religion und Geschichte über Jahrtausende (K. 29 ff.). Spengler studierte Biologie und Mathematik und promovierte in Philosophie über Heraklit. 1908 wurde er Oberlehrer in Hamburg, seit 1911 wohnte er in München und lebte von seiner mütterlichen Erbschaft, später auch von seinen literarischen Einkünften. Im Weltkrieg schrieb er den ersten Band seines Hauptwerkes ›Der Untergang des Abendlandes‹. Am 11. Mai 1918 schickte er ein Exemplar an Rathenau, der am 15. respektvoll antwortete. 1922 erschien der zweite Band. »Das gottlose Werk einer gottlosen Zeit« schrieb die ›Frankfurter Zeitung‹.54 Spengler eröffnete sein Buch, das er eine »Formenlehre« der Weltgeschichte nannte, mit dem Satz : »In diesem Buche wird zum ersten Male der Versuch gemacht, Geschichte vorauszubestimmen. Es handelt sich darum, das Schicksal einer Kultur, und zwar der einzigen, die heute auf diesem Planeten in Vollendung begriffen ist, der westeuropäisch-amerikanischen, in den noch nicht abgelaufenen Stadien zu verfolgen.« Die Möglichkeit hierzu fand Spengler in der Zyklusgestalt der Hochkulturen. Er bestritt nicht nur wie Meyer den Fortschritt, sondern auch die Einheit der Weltgeschichte. Die von Meyer zwischen griechisch-römischer und romanisch-germanischer Geschichte angenommene Analogie weitete Spengler aus auf die Geschichte von insgesamt acht selbständigen Hochkulturen, die sich ohne nennenswerten äußeren Einfluß nach einem inneren Gesetz aus einem primitiven Frühstadium zu einem kulturellen Höhepunkt erhoben hätten, um von dort unweigerlich in eine zivilisatorische Spätphase herabzusinken. Der Kreislauf vollende sich in etwa tausend Jahren. Wie lange die Spätzeit dauere, sei unberechenbar und unerheblich. Während Meyer (Mormonen 12) die Analogie als heuristisches Instrument betrachtete, um die Besonderheiten der einzelnen Erscheinungen zu ermitteln, diente sie Spengler dazu, ein Schema zu entwickeln, in das sich alles einordnen ließ. Spengler betrachtet die Kulturen als höhere Organismen, die einem strengen Determinismus gehorchen. Die abendländische Kultur befinde sich in ihrer alexandrinischen Schlußperiode und verbreite ihre Zivilisation über die Welt wie einst der Hellenismus. Spenglers Bild der Zukunft ähnelt demjenigen Meyers. Die Gegenwart verlegte Spengler allerdings nicht mit Meyer in die Zeit von Cannae 216 v. Chr., nicht mit Kahrstedt in die Zeit nach Kynoskephalai 197 v. Chr. oder mit Meinecke in die Zeit von Pydna 168, wo es jeweils um die Entscheidung zwischen hellenistischem Staatenpluralismus und römischer Hegemonie ging, sondern in die Periode von Actium 31 54 Spengler B. 101 f.; Reusch 1938, 91.
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v. Chr., als nur noch zur Debatte stand, welcher Typ von Weltstaat gewänne. So wie die späte römische Republik zwischen Optimaten und Popularen zerrieben wurde, so stünde Europa die Auseinandersetzung zwischen einem liberal-demokratisch verbrämten Kapitalismus und dem preußisch-sozialen Militarismus bevor. Spenglers Sympathie gehörte letzterem. Anders als Meyer und Meinecke glaubte er, daß die Westeuropäer zu dekadent seien, um eine römische Rolle spielen zu können (B. 113). Sie erhoffte er für die siegreichen Deutschen (B. 32), »die letzte Nation des Abendlandes« (UA. II 129). Die Schrift ›Preußentum und Sozialismus‹ sollte zunächst ›Römer und Preußen‹ heißen, wie ein Brief vom 1. November 1918 bezeugt (B. 108). Freilich fürchtete Spengler schon am 25. Oktober 1914, mit Deutschlands Sieg werde »ein vollkommen seelenloser Amerikanismus zur Herrschaft gelangen« (B. 29). Das verband ihn mit Meyer. Amerikanismus, der Inbegriff der kulturlosen Zivilisation ! Deutschlands Gleichsetzung mit dem kaiserzeitlichen Rom mündet in den Ruf nach dem Retter. »Nur eine ganz starke diktatorische Gewalt auf demokratischer Basis und mit sozialistischer Tendenz« könne Deutschland noch retten, schrieb Meinecke 1919.55 Und bei Spengler heißt es 1921 (RA. 79) : »Zu einem Goethe werden wir Deutschen es nicht wieder bringen, aber zu einem Cäsar.« Spengler bemühte sich bis 1925 um politischen Einfluß. Er suchte ohne Erfolg Kontakt zu Militärs wie Seeckt und Ludendorff, mit Erfolg Verbindung zu Männern der Wirtschaft, zu Albert Vögler und Paul Reusch, Größen in der Montanindustrie. Der Hochverräter Wolfgang Kapp hatte Reusch 1920 zum Wirtschaftsminister,56 möglicherweise auch den völlig falsch eingeschätzten Eduard Meyer (B. 204) als Mitglied seiner Revolutionsregierung ausersehen.57 Spengler verehrte Reusch eine Totenmaske Napoleons, träumte von einem »Direktorium«, einer »nationalen Loge« und hoffte auf einen deutschen Mussolini.58 Gegenüber Hitler empfand Spengler wenig Sympathie, dennoch hat er ihn 1932 faute de mieux gewählt. Am 25. Juli 1933 kam es in Bayreuth zu einem von Spengler ersehnten Gespräch zwischen beiden, das jedoch umschlug in einen Monolog des Führers über die Führungslosigkeit der evangelischen Kirche (K. 99 ff.).59 An55 S.o. Anm. 32, 104. 56 B. Herzog, Die Freundschaft zwischen Oswald Spengler und Paul Reusch, In : Koktanek 1965, 77 ff., 82. 57 E.J. Gumbel, Vier Jahre politischer Mord, 1922, 99. 58 Koktanek 1965, 221 ; 331 f. Spengler sandte Mussolini seine Schriften, die jener mehrfach zitierte : B. Mussolini, Opera omnia XXVI 122 f. (zu dem Buch Spenglers ›Jahre der Entscheidung‹ in der Zeitung ›Popolo d’Italia‹ 15. Dez. 1933) ; XXIX 426 ; XXXII 188. 1928 erschien die Arbeit von Richard Korherr über den Geburtenrückgang (1927) mit Vorworten von Spengler und Mussolini in der ›Libreria del Littorio‹, Rom, auf italienisch (freundlicher Hinweis von L. Canfora). Vgl. RA. 135 ff.; B. 559. 59 K. 439 f. Wenn H.R. Trevor-Roper, Hitlers letzte Tage, 1985, 58 zutreffend berichtet, warnte Spengler Hitler vor seiner »Prätorianergarde«, der SA, und betrachtete ihn somit als deutschen Caesar.
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gebote zur Propagandaarbeit durch Goebbels lehnte Spengler ab, ebenso die ihm im gleichen Jahre angetragenen Lehrstühle im Leipziger Lamprecht-Institut und an der Marburger Philipps-Universität (K. 452). Die Abrechnung des Nationalsozialismus mit Spengler vollzog der Berliner Philosophieprofessor Alfred Baeumler im November 1933. Baeumlers Vortrag im Schinkelsaal der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin entlarvte Spengler als Aristokraten und Verächter der Arbeiterschaft, als einen »umgekehrten Marxisten,« dessen extremer Individualismus und undeutscher Ästhetizismus keinen Sinn für Volk und Rasse habe. Spenglers übernationaler Cäsarismus sei mit dem nationalen Führertum Hitlers unvereinbar. Punkt für Punkt widerspreche Spenglers Theorie dem Nationalsozialismus, der nach dem Zeitalter des Imperialismus ein Zeitalter der »Volkskonzentration« heraufführe. Spengler gehöre in die »Rumpelkammer der Geistesgeschichte.« Baeumlers Vortrag wurde in der ›Deutschen Allgemeinen Zeitung‹ vom 29. XI. 1933 und im ›Völkischen Beobachter‹ vom 1. XII. 1933 referiert, blieb aber anscheinend ungedruckt. Der Autor hat sich 1965 nochmals über Spengler geäußert,60 nun in etwas anderem Sinne kritisch, ohne seinen Vortrag von 1933 zu erwähnen. Spengler ignorierte die innerdeutschen Vorgänge, er blickte über Europas Grenzen hinaus. Im Januar 1936, im Jahr seines Todes, publizierte eine amerikanische Zeitung, ›Hearst’s International Cosmopolitan‹, Spenglers politisches Testament (RA. 292 f.). Es ist seine als Kabeltelegramm eingegangene Antwort auf die von der Zeitung erhobene Umfrage : ›Ist Weltfriede möglich ?‹ Darin schrieb Spengler, wenn die weißen Völker des Krieges müde sein sollten, »dann würde die Welt das Opfer der Farbigen sein, wie das römische Reich den Germanen zufiel.« Als Vormacht der Farbigen betrachtete Spengler stets Asien und Rußland. Die petrinische und die marxistische Europäisierung erschienen ihm oberflächlich, die Verlegung der Hauptstadt von Petersburg nach Moskau sei die Rückwendung nach Asien. »Das Russentum ist das Versprechen einer kommenden Kultur, während die Abendschatten über dem Westen länger und länger werden.«61 »Wir sind nicht mehr der führende Staat in Mitteleuropa, sondern der Grenzstaat gegen Asien (PS. VIII)«. All das lag nicht auf Hitlers Linie. Erst am 19. III. 1945 kam Hitler zu der Einsicht, daß die Zukunft nicht den Deutschen, sondern den Slawen gehöre, dem »stärkeren Ostvolk.«62 Spengler ist 1936, als unverbesserlicher Schwarzseher von der Partei verfemt, in seiner Münchener Wohnung gestorben.
60 Koktanek 1965, 99 ff. 64. 61 PS. 98. Zu Spenglers Verhältnis gegenüber Rußland : G.L. Ulmen in : Ludz 1980, 123–173, und X. Werner 1987. 62 A. Speer, Erinnerungen, 1969, 446.
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4. Spengler oder Meyer ?
Spengler hat den ersten Band seines ›Untergangs‹ an zahlreiche Männer in Wirtschaft und Gesellschaft verschickt, unter anderem an Meyer. Dieser hat zunächst jedoch nicht reagiert. Erst als Spengler auch den zweiten Band sandte, antwortete Meyer am 25. Juni 1922. Trotz »schärfstem Widerspruch« gegen die »Halbwahrheiten« der Parallelen, insbesondere gegen Spenglers Idee einer (römisch-)arabischen Kultur in der Spätantike, stimmte Meyer im Blick auf die Gegenwart zu (B. 202 ff.). Es entwickelte sich eine Korrespondenz ; am 25. März 1923 besuchte Spengler Meyer in Groß-Lichterfelde. Weitere Besuche folgten. Daraus entstand eine Freundschaft, die angesichts der unterschiedlichen Charaktere nicht leicht zu verstehen ist. Meyer, der positivistische, ja pedantische Professor, der stets dem Historismus verpflichtet blieb – Spengler, der dilettierende, systematisierende Prophet mit seinem Kasernenhofkommandoton … Im September 1924 erschien zum Historikertag, wieder in Frankfurt, eine Sondernummer (45) der ›Deutschen Literaturzeitung‹, in der sich Meyer (1759 ff.) mit Spengler auseinandersetzte. Während die Fachwelt die »Spenglerei« überwiegend ablehnte, war Meyer im Prinzip einverstanden. Die abendländische Kultur zeige die gleichen Rhythmen wie die Antike und lasse das gleiche Ende erwarten. Der Untergang Roms sei seit dem 19. Jahrhundert ein Menetekel auch für uns. Die kulturellen Interessen seien den materiellen gewichen. Europas große Leistungen in Kunst und Musik, in Literatur und Philosophie lägen unwiderruflich in der Vergangenheit, alle wirtschaftlichen und technischen Fortschritte böten dafür keinen Ersatz. Im Weltkrieg hätten die Völker Europas ihre Führungsrolle verspielt und seien in ihr zivilisatorisches Endstadium eingetreten. Das könne nun Jahrhunderte so weitergehen, bliebe aber ein Leben der Kultur- und Geschichtslosigkeit. Schon 1923 hatte Meyer bei seinem Vortrag in Uppsala über den »Niedergang des Hellenismus in Asien« (Hellenismus 61) Spenglers Begriff der Amerikanisierung für die normale Endphase einer Kultur übernommen. Meyers Kritik an Spengler betraf zunächst die angebliche Eigenständigkeit der Hochkulturen. Diese seien in Wahrheit keine geschlossenen, sondern durchlässige Systeme von vielfältiger Wechselwirkung. Ohne den Einfluß des Orients wäre die griechische Kultur nicht entstanden,63 ohne das antike und christliche Erbe wäre auch die faustische Kultur nicht zu denken. Allzu spekulativ erschienen Meyer Spenglers Quasibiologismus und die Annahme von Kulturseelen, die den kulturellen Erscheinungen vorausgingen. Meyer erklärte die innere Einheit der antiken, arabischen und der okzidentalen Kultur aus Angleichungsprozessen innerhalb der 63 Dies ist das Leitmotiv in Meyers ›Geschichte des Altertums‹.
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jeweiligen Kulturkreise (SB Berlin 1924, 156). Auch Spenglers Fatalismus fand Meyers Beifall nicht. Er glaubte an eine individuelle Handlungsfreiheit der Völker, die zwar selbst Ergebnisse historischer Entwicklung seien, damit aber wiederum zu Triebkräften weiterer historischer Entwicklung würden (Theorie 31). Die Priorität der Kultur bei Spengler ersetzte Meyer durch die Priorität der Politik. Waren die Völker bei Spengler bloß mehr oder weniger zufällige Gewächse auf der sie tragenden Kultur, so sah Meyer umgekehrt in den freien, staatlich verfaßten Völkern den Wurzelboden kultureller Leistung (Weltgeschichte 7). Gleichwohl schrieb er am 19. IX. 1915 in der Vossischen Zeitung : »Das höchste Erzeugnis der geschichtlichen Entwicklung ist das, was wir Kultur nennen.« Spengler hat diese Kritik hingenommen (K. 360). Er ließ sich darüber hinaus von Meyer für ein Museumsprojekt gewinnen – es ging um die Turfan-Funde und den Hellenismus in Mittelasien (B. 327). Der Plan zerschlug sich trotz Spenglers Bereitschaft, aber die Verbindung blieb bestehen. Meyer nahm Spengler als Wissenschaftler ernst. Er warnte ihn vor historischen Phantasien (B. 501 ; 562) und widersprach seinen abwegigen Ideen mit großer Nachsicht, so der Vorstellung, daß die minoische Kultur auf Kreta ihre Anregungen aus Spanien empfangen habe.64 Spengler nennt als seine Inspiratoren nur Goethe und Nietzsche.65 Von Goethe habe er die Methode, die Erscheinungen mit Hilfe einer »exakten sinnlichen Phantasie« zu erfassen, Nietzsche verdanke er die Fragestellungen, insbesondere meint er wohl den Begriff Kultur als »Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäußerungen eines Volkes«66 und das Gespür für decadence. In der Hochschätzung Goethes stimmt Spengler mit Meyer überein, nicht jedoch im Urteil über Nietzsche, den Meyer (Weltgeschichte 36 f.) den »undeutschesten« aller Philosophen nannte. Erregte doch schon die pure »Nähe eines Deutschen« bei Nietzsche Verdauungsprobleme. So im ›Ecce Homo‹ 1888. Eduard Spranger67 und Hans Joachim Schoeps68 haben gezeigt, daß wichtigere Voraussetzungen für Spenglers Lehre bei Herder, Vollgraff und Lasaulx liegen, die 64 B. 557 ff. Dazu noch eine mit Bleistift geschriebene Postkarte (jetzt im Meyer-Nachlaß der Staatsbibliothek in Berlin-West) vom 18.IV.1928 aus Sevilla an Meyer : »Ihnen und Ihrer Frau Gemahlin die besten Grüße aus dem schönen Andalusien (von wo die minoische Kultur stammt). Darf man zur Vollendung von GdA II schon gratulieren ? Oswald Spengler.« Auf der Bildseite, die den Alcazar darstellt : »Grundriß mit Hof und Durchblicken wie in Knossos.« Eine zweite Karte (ebenda) vom 2.X.29 aus Ballenstedt kündigt Spenglers Besuch bei Meyer an. 65 UA. I S. IX ; Janensch 2006. 66 Nietzsche (s.o. Anm. 3) 1140. 67 E. Spranger, Die Kulturzyklentheorie und das Problem des Kulturverfalls. In : ders., Gesammelte Schriften V, 1969, 1 ff. 68 H.J. Schoeps, Vorläufer Spenglers, 1953.
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Spengler nicht anführt. Ob er sie überhaupt gelesen hat, wissen wir nicht. Als nächstliegender Vermittler ist Eduard Meyer zu vermuten, dessen Kreislaufmodell demjenigen Spenglers so weitgehend entspricht, daß Spenglers Abhängigkeit von Meyer in der Konzeption augenfällig ist.69 Unter den Autoren, die Spengler zitiert, steht Meyer mit großem Abstand an der Spitze. Er hat nicht nur Stoff, sondern auch Ideen geliefert. Offener urteilte Arnold Toynbee, er räumte ein, daß Meyers Schrift über den ›Gang der Alten Geschichte‹ von 1902 seiner Konzeption von geschlossenen Kulturen zugrundeliege. Toynbees Übereinstimmungen mit Spengler beruhen wesentlich auf der Abhängigkeit beider von Meyer.70 Meyers Tod 1930 hat Spengler tief getroffen. Er verehrte in ihm eine Vatergestalt. Meyer sei der einzige, der ihn ganz begriffen habe.
5. Das Problem der Prognose
Bei Novalis71 lesen wir den Satz : »Echt historischer Sinn ist der prophetische Visionssinn, erklärbar aus dem tiefen unendlichen Zusammenhange der ganzen Welt.« Für Novalis schließt die Geschichte den Blick auf die Zukunft ein. Demgegenüber heißt es bei Schelling :72 »Der Mensch hat nur deswegen Geschichte, weil, was er tun wird, sich nach keiner Theorie zum Voraus berechnen läßt.« Für Schelling schließt die Geschichte den Blick auf die Zukunft aus. Wer hat recht ? Spengler vertrat die Auffassung von Novalis, Meyer hielt es mit Schelling. Mehrfach hat Meyer (Kl. Schr. I 35 ; II 538) die prognostische Kompetenz des Historikers ebenso energisch bestritten, wie Spengler dieselbe behauptet hat. Wenn Meyer trotzdem Prognosen gestellt hat und sich dabei von Spengler weder in der Methode (der Analogie) noch im Resultat (der Dekadenz) unterschied, fragt sich, wieso er davor zurückschreckte, sich zu dem zu bekennen, was er tat. Der Grund liegt im herkömmlichen Wissenschaftsverständnis des Historikers. Für ihn ist nur das Wirkliche erforschbar. Die Kunst des Möglichen bleibt Sache der Politik. Die Historiker unterscheiden sich von den Politikern unter anderem 69 Welchen Anregungen wiederum Meyer das Kreislaufmodell verdankt, ist ebenso unklar. Auch er nennt seine Inspiratoren nicht. 70 Meyer, KI. Schr. 1 1924, 213 ff.; A.J. Toynbee, A Study of History X 1954, 233 ; ders., Experiences 1969, 109 : Eduard Meyer combined a mastery of Greek and Latin sources for the pre-modern history of the western end of the Oikoumene with some first-hand knowledge of the Sumerian, Akkadian and Egyptian languages and scripts. He pushed his mental horizon as far eastward as the Bactrian Greeks pushed their conquests in India. 71 S.o. Anm. 15, 417. 72 F.W. Schelling, System des transzendentalen Idealismus, 1800, 416.
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darin, daß sie in die Vergangenheit, nach hinten blicken, nicht nach vorne, nicht in die Zukunft. Ihr Wahlspruch lautet : »Lehrst du wen historisch sehen, mußt du ihm den Kopf verdrehen.« Der Gegensatz zwischen erforschbarer Vergangenheit und unergründbarer Zukunft läßt sich jedoch abschwächen. Natürlich stimmt die Behauptung, daß wir nicht in die Zukunft vorausblicken können. Dennoch beruht alles rationale Handeln auf Erfahrungen, die uns lehren, was zu erwarten ist, bisweilen »todsicher«. Und die entsprechende Annahme, daß uns die Vergangenheit offen stehe, ist mindestens irreführend. Das erweist auch unsere eigene Lebensgeschichte. Über das, was wir selbst erfahren haben, können wir verläßliche Aussagen machen, jedenfalls sofern wir unserer Erinnerung trauen dürfen. Ähnliches gilt aber auch für unsere eigene Zukunft. Über das, was wir tun werden, können wir Versprechungen abgeben. Das wußte schon Kant (I 631), als er 1797 schrieb, eine Geschichte a priori sei dann möglich, »wenn der Wahrsager die Begebenheiten selber macht«, genauer : machen kann. Soweit unser Handeln Einfluß auf das hat, was überhaupt geschieht, ist es von der allgemeinen Zukunft nicht sauber abzugrenzen. Das Maß für diesen Einfluß ist unsere Macht, und sie ist zugleich das Maß für unser Vermögen, Aussagen über die allgemeine Zukunft in eigener Verantwortung zu machen. Zu den Mitteln der Zukunftsgestaltung gehört die Zukunftsvorhersage. Die Soziologen73 sprechen von self fulfilling prophecy und von self destroying prophecy. Wenn eine Prognose das Prognostizierte herbeiführen oder verhindern kann, läßt sich der prognostische Wert nur feststellen, sofern sich beantworten läßt, ob das vorausgesagte Ereignis auch dann eingetreten wäre, wenn es nicht vorhergesagt worden wäre. Eine solche Antwort gibt der griechische Mythos, wo Oedipus das Orakel gerade deswegen erfüllt, weil er ihm ausweicht. Hier sind die Vorhersage und ihre Kenntnis Bedingungen der Erfüllung. In der Geschichte ist der Zusammenhang dagegen meist ambivalent, weil sich die Vorhersage positiv oder negativ auswirken kann, so daß sich beide neutralisieren. Als Spengler ein Zeitalter des Cäsarismus prophezeite, hat das Anhängern dieser Idee wie Ludendorff und Reusch Mut gemacht und Gegner wie Rathenau und Graf Kessler zur Wachsamkeit gerufen. Jedermann glaubt, der Unterschied zwischen Voraussicht und Rückblick liege darin, daß die Zukunft uns bestenfalls Möglichkeiten zeige, die Vergangenheit hingegen unumstößliche Tatsachen enthalte. Jedermann hätte damit recht, wenn jedermann wüßte, was eine historische Tatsache ist. Voltaire wußte das, als er die histoire 1764 eine fable convenue nannte. Tatsachen sind tatsächlich bloß Inhalte von Hypothesen, auf die man sich geeinigt hat, d.h. Vermutungen, mit denen wir 73 Vgl. hierzu die einschlägigen Aufsätze bei E. Topitsch (Hg.), Logik der Sozialwissenschaften. 1968.
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uns abgefunden haben. So wie wir in Unkenntnis künftigen Geschehens mehrere Möglichkeiten bedenken müssen, so müssen wir ebenso in Unkenntnis vergangenen Geschehens mehrere Möglichkeiten einkalkulieren. Der Kautel »Es kann so, kann aber auch anders kommen« entspricht die Kautel »Es kann so, kann aber auch anders gewesen sein.« Die Wißbarkeit des Vergangenen wird leicht überschätzt, die Vermutbarkeit des Künftigen oft unterschätzt. In beiden Fällen können wir nur Grade von Wahrscheinlichkeit erreichen. Die Behauptung einer historischen Tatsache steht unter doppeltem Vorbehalt. Der erste ergibt sich aus der veränderbaren Quellenlage. Meinungsänderungen dieses Typs gehorchen im allgemeinen dem Gesetz des wissenschaftlichen Fortschritts. Der zweite Vorbehalt liegt in der Deutungsproblematik. Die veränderte politische Einstellung verändert das Bild der Vergangenheit ohne das Hinzutreten neuer Quellen. Derartiges hängt vom Zeitgeist ab, der hin- und herschwankt. Wie fest eine historische »Tatsache« steht, merken wir, wenn wir an ihr rütteln. Zwischen dem Schluß auf Vergangenes und dem Schluß auf Künftiges besteht eine logische Symmetrie. Beidemal gehen wir von der Gegenwart aus, beidemal urteilen wir nach Erfahrungsregeln. Vergangene Tatsachen erschließen wir, indem wir von einer gegenwärtig vorliegenden, als Wirkung interpretierten Quelle über Erfahrungsregeln auf ein als Ursache interpretiertes, in der Vergangenheit liegendes Ereignis folgern. So lesen wir bei Meyer (GdA I 1, 188) : »Historisch ist derjenige Vorgang, der … erkennbar weiter wirkt.« Genau derselbe, nur in umgekehrter Richtung beschrittene Weg erlaubt uns Schlüsse auf die Zukunft. Wir sehen gegenwärtige, als Ursachen interpretierte Indizien, nehmen unsere Erfahrungsregeln zu Hilfe und folgern auf die Konsequenzen. Wenn wir die Indizien richtig deuten und zutreffende Erfahrungsregeln richtig anwenden, dann müßten wir mit derselben Sicherheit, mit der wir auf Vergangenes schließen, Künftiges vorhersagen können. Die Erfahrungsregeln des historischen Schließens bestehen darin, daß wir Entwicklungen verlängern und Konstellationen übertragen. Ersteres ist eine lineare, letzteres eine zyklische Argumentationsfigur. Beide gehören zusammen. Spenglers Beispiel ist der wachsende Baum. Er war einmal kleiner, wird einmal größer, doch ist dafür gesorgt, daß er nicht in den Himmel wächst. Wir beobachten den Vorgang und schließen ein Stück weit in die Vergangenheit, ein Stück weit in die Zukunft. Ein Stück weit, denn die Prozesse in unserer Erfahrungswelt haben Anfang und Ende ; die Dauer übertragen wir von bekannten auf unbekannte Fälle. Das lineare wie das zyklische Argument sind Analogieschlüsse. Bei der linearen Analogie übertragen wir Information von einer Zeit auf die andere, bei der zyklischen Analogie übertragen wir Information von einem Gegenstande auf den anderen. Letzteres setzt voraus, daß beide Gegenstände zur selben Gattung gehören.
Spengler oder Meyer ?
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Dies ist bei Bäumen einfacher auszumachen als bei politischen Konstellationen oder gar bei Hochkulturen. Spenglers These (UA. I 4 ff.), die einzig verläßliche Technik des Parallelisierens gefunden zu haben, ist kaum haltbar. Zu jedem historischen Vorgang gibt es eine unbestimmbare Zahl von Analogien. Sie differieren im Grade der Ähnlichkeit, d.h. in der Zahl der Entsprechungen. Man wende gegen eine Parallele nicht ein, sie liege weit ab. Schon eine einzige Übereinstimmung rechtfertigt die Suche nach einer zweiten. Darin besteht der heuristische Wert von Analogien. Ohne diesen Schlüssel können wir in den Bereich fremden Geschehens nicht vordringen. Von der heuristischen gehen wir zur typologischen Analogie über, indem wir Begriffe bilden. Ohne sie können wir das Selbsterlebte nicht verstehen.74 Spenglers Anspruch, als erster die Geschichte vorauszusagen, ist unbegründet. Dies tat schon Scipio Africanus, als er beim Untergang Karthagos an den Untergang Trojas erinnerte und den Untergang Roms prophezeite (Polyb. 38, 22) ; das tat schon Seneca (NQ. VI 5,3 ; VII 25,4 f.), als er einen endlosen Fortschritt der Wissenschaften voraussagte. Die beiden Grundfiguren geschichtsphilosophischer Prognose, Linearität und Zyklik, waren bereits im Altertum ausgebildet. Sie vertragen sich insofern, als sie sich auf unterschiedliche Sachbereiche beziehen. Die Wissenschaften wachsen. Die politischen Mächte kommen und gehen. Fortschrittsund Kreislaufidee dürfen sich, je auf ihre Weise, als bestätigt erachten. Natürlich sind unserem Blick in die Zukunft Grenzen gesetzt. Die Warnung Meyers ist berechtigt, da wir es hier nicht mit strenger Wissenschaft zu tun haben, die zu sicheren Resultaten führt. Das beweisen schon die zahlreichen Fehlprognosen : Denken wir an den römischen Glauben an das imperium sine fine, an die christliche Erwartung des nahen Jüngsten Gerichts, an die Vision Marxens von der Weltrevolution. Wer aus dem Nebeneinander von eingetretenen und ausgebliebenen Prognosen folgert, daß Schelling gegen Novalis recht behalten habe, historische Prognosen, samt und sonders unseriös sind, der sollte bedenken, daß auch nicht alle Prognosen des Arztes zutreffen und dennoch ernst zu nehmen sind. Es gibt drei Schwierigkeiten bei Aussagen über Künftiges. Es sind erstens unsere Ängste und Wünsche. Wir geben Meyer und Spengler gern zu, daß wir uns vor den Illusionen des Fortschritts hüten müssen, aber auch Sehwarzseher sind keine 74 Das beste über die Analogie als Erkenntnismittel findet sich bei Goethe (Ausgabe letzter Hand 50, 147) : »Jedes Existirende ist ein Analogon alles Existirenden ; daher erscheint uns das Dasein immer zu gleicher Zeit gesondert und verknüpft. Folgt man der Analogie zu sehr, so fällt alles identisch zusammen ; meidet man sie, so zerstreut sich alles in’s Unendliche. In beiden Fällen stagnirt die Betrachtung, einmal als überlebendig, das anderemal als getödtet.« Grundlage für die Bedeutung der Analogie in der neueren Theoriediskussion ist J.G. Droysen, Historik, 1937, 88 ; 159 f. Zur ideologischen Komponente in der Verwendung von Analogien vgl. L. Canfora, Analogia e storia. L’uso politico dei paradigmi storici, 1982.
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Eduard Meyer und Oswald Spengler
Hellseher. Unsere Emotionen müssen wir kontrollieren. Die Zukunft erscheint im Spiegel der Vergangenheit nur, sofern wir uns selbst durchschauen. Zum andern geschieht dauernd Neues. Unsere Erfahrungen müssen ständig verbessert und erweitert werden. Neues passiert überwiegend im Speziellen, während sich im Generellen zumeist Altes wiederholt. Aussagen über Kommendes sind desto verläßlicher, je allgemeiner sie sind, je mehr sie den unberechenbaren Zufall einkalkulieren. Der nächste Winter kommt gewiß, aber wann genau und wie kalt, weiß niemand. Umgekehrt sind Aussagen über Vergangenes desto sicherer, je spezieller sie sind, je mehr sie die Deutungs- und Verallgemeinerungsproblematik vermeiden. Das Todesdatum Caesars ist sicherer zu bestimmen als das Wesen des römischen Imperialismus. Zum dritten verändern neue Ereignisse alte Begriffe. Für uns heute klingen Wörter wie Volk und Rasse, Nationalismus und Sozialismus anders als für Meyer und Spengler. Das hat zur Folge, daß bei manchen Prognosen hinterher nicht klar ist, ob der Prognostizierende recht oder unrecht hatte, weil unklar ist, ob er das Eingetretene gemeint hat oder nicht. Wer den historischen Visionssinn eines Novalis besitzt und dennoch die Warnung von Schelling berücksichtigt, lernt aus den Fehlern der anderen. Meyer und Spengler haben die Entwicklung in Umrissen richtig vorausgesehen. Meyers Urteil über das Ende der politischen Weltgeltung Europas war richtig, richtig war zudem die darin enthaltene Prognose, daß der Versuch, diese Vormacht wiederherzustellen, scheitern würde. Der erwartete starke Mann kam, aber war kein Caesar ; darin irrte Spengler. Treffend war dafür seine Einsicht in den Übergang von der Kultur in die Zivilisation. Große Leistungen sind seither in Technik und Naturwissenschaft, kaum in Literatur und Kunst zu verzeichnen. Wo ist heute der Homer, der noch nach zweieinhalb tausend Jahren gelesen wird ? Spengler und Meyer täuschten sich in Einzelheiten und Wertungen. Diese sind gewöhnlich von der opti- oder pessimistischen Stimmung des Autors abhängig. Denn selbst wenn wir das künftige Geschehen klar vor Augen hätten, wüßten wir noch lange nicht, was die künftigen Menschen dabei empfinden werden. Über Politik und Kultur, über Wirtschaft und Gesellschaft lassen sich Prognosen begründen, nicht aber über das Glück der Nachwelt. Das hat etwas Enttäuschendes, aber auch etwas Tröstliches. Soweit die Optimisten recht behalten haben, haben sie weniger Grund zum Stolz auf den Fortschritt, als sie meinten. Soweit die Pessimisten recht behalten haben, haben sie weniger Grund zur Klage über den Verfall, als sie meinten. Bisher haben wir die von Meyer befürchtete Amerikanisierung Europas und den von Spengler befürchteten Untergang des Abendlandes ganz gut überstanden.
Lex universa est, quae jubet nasci et mori. Publilius Syrus
X. Geschichtsbiologismus Oswald Spengler bei Konrad Lorenz
Charles Darwin hat die Geschichtsphilosophie um den biologischen Aspekt erweitert und modernisiert. Die drei darwinistischen Prinzipien struggle for life, natural selection und survival of the fittest als die Triebkräfte der Evolution wurden seither ebenso in der Menschheitsgeschichte wirksam gesehen. Das ist Biologismus. Auch die Sprache Spenglers ist reich an Begriffen und Bildern aus der Natur. Ist das bereits Biologismus ? »Geschichte ist ein Ganzes von organischer Logik«, heißt es bei Spengler. »Kultur ist ein Gewächs«, erklärt er. Denn »allem Historischen liegen allgemeine biographische Urformen zugrunde«.1 Kultur »erblüht«, sie ist »pflanzenhaft gebunden« und durchläuft die gleichen Altersstufen wie der einzelne Mensch.2 Dieselbe biologische Denkform findet sich schon bei Leo Frobenius, wenn er 1894 von der »organischen Eigenart der Kulturen« sprach und Kultur als »selbständigen Organismus« verstand, der auf den Menschen lebt, sie durchlebt. Kulturelles Handeln ist demnach die Funktion einer höheren Kraft, die bei Frobenius Paideuma, bei Spengler »Kulturseele« heißt.3 So wie hier die Kulturphilosophie sich der Biologie bedient, so hat sich umgekehrt die Biologie auf die Kulturphilosophie berufen und beides zu einem Gesamtbild verschmolzen. Das zeigen die Schriften des Verhaltensforschers und Nobelpreisträgers Konrad Lorenz aus den Jahren 1940 bis 1983. Seine als Naturwissenschaft verstandene Kulturethologie4 ist geprägt von Darwin und von Spengler. Mit letzterem teilt Lorenz eine konservative Grundstimmung und das Gefühl, in einer Spätzeit zu leben. 1973 heißt es : »Oswald Spengler war der erste, der erkannte, daß Kulturen immer dann verfallen und zugrunde gehen, wenn sie das Entwicklungsstadium der Hochkultur erreicht haben.« Lorenz teilt diesen Eindruck und verzeichnet die »Verfallserscheinungen unserer eigenen Kultur« mit ihren »pathologischen Störungen«. 1 2 3 4
Spengler UF. 119 ; JE. 63 ; UA. I 3. Spengler UA. I 142 f. Frobenius 1921/1953, 9. Lorenz 1973/83, 104.
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Oswald Spengler bei Konrad Lorenz
1. Evolution statt Fortschritt
Lorenz bekämpft, so wie Spengler, den »Irrglauben an den sogenannten Fortschritt«. Er schreibt : »Der Versuch, Sinn und Richtung in das evolutive Geschehen hineinzuinterpretieren, ist genauso verfehlt wie die Bestrebungen … aus geschichtlichen Ereignissen Gesetzlichkeiten zu abstrahieren, die es erlauben, den weiteren Verlauf der Geschichte vorauszusagen«.5 Mit der Absage an die Vorhersehbarkeit distanziert er sich von Spengler und beruft sich auf Poppers Kritik am Historizismus.6 Aber ebensowenig wie Popper hält Lorenz den Verzicht auf Gesetzlichkeit, auf Richtungs- und Zielvorgaben durch. Lorenz liefert Prognosen, er ist Arzt und stellt ein Rezept in Aussicht, das Heilung verspricht.7 Jede Therapie beruht auf Prognostizierbarkeit, wie sie allem rationalen Handeln zugrunde liegt. Lorenz unterstellt der Naturgeschichte eine Höherentwicklung, der Menschheitsgeschichte hingegen eine Abwärtsbewegung, ohne an seinem Konzept der Einheit beider Entwicklungsstränge irre zu werden. Sein Credo lautet, »daß das Universum von einem einzigen Satz von untereinander widerspruchsfreien Naturgesetzen regiert wird.«8 Darwin verstand die Evolution als progress towards perfection,9 und ebenso meint Lorenz, die Evolution befinde sich, zwar auf einem Zickzackweg, aber doch in der »allgemeinen Richtung des großen organischen Werdens vom Niedrigeren zum Höheren« und sei wie ein erfolgreiches »kommerzielles Unternehmen« durch »Wert-Zuwachs« gekennzeichnet.10 Lorenz verwendet Kategorien des Konkurrenzkapitalismus, den er verteufelt. Lorenz meinte 1940, das Leben der Urmenschen sei gesund gewesen, das der Spätzeitmenschen dagegen sei und mache krank. Der in der Urzeit tägliche Kampf mit den Unbilden der Witterung, mit den wilden Tieren und den feindlichen Nachbarstämmen habe durch Auslese eine hohe Erbgesundheit bewirkt. Die einst vorhandenen »feindlichen Außenfaktoren« hätten »Härte, Heldenhaftigkeit, soziale Einsatzbereitschaft« herausgezüchtet. So ähnlich stellte man sich jedenfalls das Leben der alten Germanen vor, und auch Lorenz dürfte sie im Sinn gehabt haben, solange er dem »nordischen Gedanken« anhing.11
5 Lorenz 1983, 25. 6 K. Popper, Das Elend des Historizismus, 1965. 7 Lorenz 1983, 14 f. 8 Lorenz 1973/83, 87. 9 Darwin 1859, 489. 10 Lorenz 1963/65, 320 ; 1973, 44 ; 256 f.; 1973/83, 14. 11 Lorenz 1940, 67 ; 71.
Kulturen sind lebende Systeme
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2. Kulturen sind lebende Systeme
Die Menschheitsgeschichte besteht für Lorenz aus dem Nach- und Nebeneinander separater Kulturen. Er beruft sich mit der Ablehnung einer »einheitlichen geschichtlichen Entwicklung der ganzen Menschheit« auf Spengler und Toynbee. Die Geschichtsmorphologie habe gezeigt, »daß die Einheit der menschlichen Zivilisation ebenso eine Fiktion ist wie die Einheit der phyletischen Entwicklung des Lebensstammbaums.« Vielmehr wachse »jede einzelne Kultur« so wie jede biologische Art »auf eigene Rechnung und Gefahr«. Lorenz deutet die Kulturgeschichte und die Naturgeschichte nach dem gleichen Muster. Er schreibt : »Kulturen entstehen also nicht, wie eine vereinheitlichende Geschichtsphilosophie postulierte, in linearer Aufeinanderfolge und einer einheitlichen Gesetzlichkeit folgend, sondern genau wie Tier- und Pflanzenarten es tun, unabhängig von einander, polyphyletisch.« Jede Kultur bildet eine Welt für sich, genau so wie die »Mannigfaltigkeit der phylogenetisch entstandenen Lebensformen.«12 Das erinnert an Spenglers Kulturinseln in der Vergangenheit des Menschen. So wie Spengler konzentriert sich Lorenz auf »jene komplexen Systeme, die wir mit den Geschichtsforschern Hochkulturen nennen.« Für ihre Entstehung prägte Lorenz das Wort »Fulguration«. Diese versteht Lorenz analog zu »jenen Evolutionsschritten, denen Tierarten ihre Entstehung verdanken«. Fulguration ist mithin in der Kulturgeschichte das, was in der Naturgeschichte die Mutation ist. Fulguration scheint eine Art Geistesblitz der Gottnatur zu sein. »Evolution« und »Schöpfung« sind für Lorenz dasselbe.13 Im Unterschied zu dem Atheisten Spengler hält Lorenz am Gottesgedanken fest, vermeidet aber den Namen unter Berufung auf das zweite Gebot im jüdischen Sinn.14 Obschon Lorenz der Evolution eine Höherentwicklung zuschreibt, verwirft er jeden Plan im Weltgeschehen als idealistische Täuschung. Stattdessen beharrt er darauf, daß so wie in der Phylogenese auch in der Geschichte ausschließlich alles »von Zufall und Notwendigkeit« gelenkt werde.15 Damit erledigt er das Problem der historischen Erklärung, denn Zufall kann man nicht erklären und Notwendigkeit muß man nicht erklären, sie erklärt sich selbst. Der darin enthaltene Fatalismus, von Lorenz zu Unrecht geleugnet,16 gemahnt wiederum an Spenglers finales 12 Lorenz 1973, 236 f.; 257. 13 Lorenz 1965, 15 ; 69. 14 Lorenz 1983, 282. 15 Lorenz 1973, 238. 16 Lorenz 1973, 320.
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Oswald Spengler bei Konrad Lorenz
Credo, sein von Schopenhauer übernommenes Senecazitat : Ducunt fata volentem, nolentem trahunt.17 »Jede Kultur ist« für Lorenz »ein auf natürlichem Wege entstandenes lebendes System« und besitzt ein von ihren einzelnen Trägern unabhängiges Eigenleben.18 Die Verwandtschaft zwischen Kulturen und biologischen Arten ist bei Lorenz nicht metaphorisch, sondern substantiell. Er wundert sich »über die erstaunlichen Analogien zwischen der phylogenetischen und der kulturellen Entstehung von Symbolen« und sucht am Anfang menschlicher Kultur jene »traditionsgemäße Ritenbildung«, die er von seinen Graugänsen her kennt.19 Lorenz betrachtet einerseits Kulturen als biologische, »lebende Systeme« und versteht andererseits biologische Arten als kommerzielle »Unternehmen mit gekoppeltem Macht- und Wissensgewinn« wie die Badische Anilin & Soda-Fabrik.20 Dies ist das Beispiel von Lorenz. Zu ihrer »Höherentwicklung« bedürfen Kulturen bei Lorenz der Isolation.21 So wie biologische Arten ihre eigene Umwelt benötigen und sich nicht kreuzen dürfen, um nicht zu »verbastarden«,22 so müssen auch Kulturen sich vor der Vermischung hüten. Während Spengler glaubte, daß Kulturen keine Einflüsse von außen aufnehmen können, sagt Lorenz, daß sie dies nicht tun sollten, da es zu seinem Bedauern dennoch geschieht. Er empfiehlt, so wie Spengler 1924 den Stolz auf die eigene Gruppe,23 ihn betrachtet er als instinkthafte Abwehr artfremder Einflüsse. Differenzierung wertet er als Charakterbildung, als Höherentwicklung. 1940 fürchtete er die Verunreinigung des Blutes durch Heiraten »vollwertiger« Menschen, die dem »Soll-Typ« der Rasse entsprechen, mit Rassefremden und Asozialen. Noch 1973 unterschied er zwischen »vollwertigen« und »minderwertigen« Menschen, distanzierte sich aber von einem Plädoyer für die Gaskammer. Nun forderte er statt der rassischen die kulturelle Reinheit. Für sie schien Lorenz insbesondere die Amerikanisierung verderblich.24 Das verbindet Lorenz mit Spengler (B. 29). Lorenz spricht von dem »drohenden moralischen und kulturellen Zusammenbruch der Vereinigten Staaten, der höchst wahrscheinlich die ganze westliche Welt mit in seinen Strudel reißen wird.«25 17 Schopenhauer IV 153 ; Seneca, Brief 107,11. 18 Lorenz 1973, 252 ; 1974/1978, 335 ; 1963/1965, 114. 19 Lorenz 1963/65, 111 ; 114. 20 Lorenz 1973, 235 ; 1976/1982, 96. 21 Lorenz 1967, 385 f.; 1973, 253 ff. 22 Lorenz 1973, 255. 23 Spengler PS. 147. 24 Lorenz 1940, 75 ; 1973/1983, 8 ; 58 ; 94 ; Demandt, Reinheit, 2010. 25 Lorenz 1973/83, 94.
Selbstdomestikation
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Die Entwicklung der einzelnen Kulturen vollzieht sich im Wettbewerb mit Nachbarkulturen. Dem Kampf ums Dasein in der Natur entspricht der Kampf der Kulturen in der Geschichte. Die dabei entfaltete Aggressivität ist biologisch sinnvoll26 und wird zu Unrecht als das »sogenannte Böse« verketzert. Wenn in diesem Prozeß einzelne Kulturen auf der Strecke blieben, war das nach Lorenz extraspezifische »kreative Selektion«. Die Vernichtung der Schwachen ist ein Prinzip der progressiven Evolution und damit auch der Geschichte. Ihr Ergebnis ist der Sieg der abendländischen Industriezivilisation. Aus ethnologischer Sicht hatte bereits Frobenius den Weltverkehr für das Ende der Kulturen verantwortlich gemacht.27
3. Selbstdomestikation
Die Europäisierung der Welt ist für Lorenz aber kein Glücksumstand. Denn fortan entfällt die Konkurrenz zwischen den Kulturen zugunsten der Konkurrenz innerhalb der Globalzivilisation, und deren Wirkung auf die Menschen ist laut Lorenz teuflisch. Denn sie besiegelt die Dekadenz.28 Sein paläontologisches Exempel ist der eiszeitliche Höhlenbär. Er war so stark, daß er keine Feinde mehr besaß, verfiel der Selbstdomestikation und starb aus.29 Dieser angeblich lebensuntüchtige Ursus spelaeus brachte es allerdings auf eine halbe Million Jahre. Die moderne Zivilisation ist erst zwei Jahrhunderte alt, hätte nach dem Beispiel von Lorenz also noch eine gute Zukunft. Aufwärts ging es, solange die einzelnen Kulturen untereinander in extraspezifischer Konkurrenz standen.30 Das ermöglichte die Ausbildung der jeweiligen Eigenart. Die moderne Industrie jedoch produziere eine charakterlose Universalzivilisation, eine allgemeine »Vulgarisation«, »Verhäßlichung« und »Entdifferenzierung«. Lorenz beklagt die »Gleichmachung aller Völker«. Dadurch verliere »die interkulturelle Selektion ihre schöpferische Wirkung«, und daraus folge ein »Rückgängigwerden der Menschheitsentwicklung.«31 Den Verfallsprozeß stellte Lorenz 1943 unter den Begriff der Selbstdomestikation, der »Verhausschweinung« des Menschen. Er ermittelte, daß reinrassige Menschen den Wildformen, mischrassige den Zuchtformen der Tiere nahekämen. Beidemal entstünden ähnliche Resultate. Äußerlich : Mopsgesicht, Hängebauch und verkürzte Extremitäten. Innerlich : Gefühlsschwäche, überentwickelter Intellekt, unterentwic26 Lorenz 1963/65, 64 ; 77 ; 236. 27 Frobenius 1921/53, 106. 28 A. Demandt, Biologistische Dekadenztheorien. In : Saeculum 36, 1985, 4 ff. und ders. 2002, 66 ff. 29 Lorenz 1983, 55. 30 Lorenz 1973, 257. 31 Lorenz 1973, 257 f.; 1973/83, 21 ; 30 ; 63 ; 105.
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Oswald Spengler bei Konrad Lorenz
kelter Instinkt, Verlust des ästhetischen und moralischen Urteilsvermögens und soziale Verhaltensgestörtheit.32 In seinen Nachkriegsschriften hält Lorenz am warnenden Lehrbeispiel der Haustiere fest. Ihr Aussehen sei häßlich, ihr Verhalten pervers. Die »Vermehrung des Freß- und Begattungsverhaltens« sei typisch für Großstädter wie für domestizierte Haustiere. Lorenz vertritt einen Bellizismus, er tadelt die »Verweichlichung« im Frieden, an der schon manche Kultur zerbrochen sei.33 Den positiven Auswirkungen der extraspezifischen Selektion (zwischen den Arten) stellt Lorenz ambivalente Konsequenzen der intraspezifischen Auslese (innerhalb der Arten) gegenüber. Einerseits heißt es : »Es ist für die Art, für die Zukunft immer von Vorteil, wenn der stärkere von zwei Rivalen das Revier oder das umworbene Weibchen erringt«. Andererseits registriert Lorenz geradezu »satanische Wirkungen« der innerartlichen Konkurrenz.34 Er stößt sich an jenen übertrieben entwickelten Organen, die nur dem Balzgeschäft dienen : das im Grunde überflüssige Geweih des Hirschen, das er nur zum Brunftkampf gegen seinesgleichen verwende, und die unpraktisch langen Schwingen des Argusfasans, die bloß dem Weibchen imponieren sollen. Lorenz erklärt dies für unvernünftig.35 Angebliche Fehlentwicklungen tadelt er, so übrigens schon Darwin, in der Natur wie beim Menschen. Spengler findet falsche Formen in der kulturellen Pseudomorphose, umstandsbedingt »notwendig« wie in der Geologie und daher nicht zu tadeln. Lorenz aber moralisiert und moniert »Fehlverhalten, so den amerikanisch übersteigerten Sex-Appeal von Filmschauspielerinnen, wie Lippenstift und Dauerwelle. Sowohl ihr Auftreten als auch ihren Erfolg bei Männern wertete Lorenz als »Dekadenz«.36 Auch Spengler verabscheute die Erotik.37 Er hatte »schreckliche Angst vor allem Weiblichen«.38 Die ›acht Todsünden der zivilisierten Menschheit‹ lauten bei Lorenz : Übervölkerung, Umweltzerstörung, Streß, Gefühlskälte, Degeneration, Traditionsfeindlichkeit, Indoktrinierbarkeit und Atombombe.
4. Von der Dekadenz zum Übermenschen
Spezifisch für den Homo sapiens ist nach Lorenz sein doppeltes Normensystem. Als Kulturwesen untersteht er selbstgeschaffenen Traditionen, die sich rasch wandeln. 32 Lorenz 1940, 52 ff. 33 Lorenz 1973/83, 12 ; 44 ; 1974/78, 352 f.; 1983, 116 ff. 34 Lorenz 1963/65, 47 ; 1973/83, 33. 35 Lorenz 1963/ 65, 62 ; 1973, 256. 36 Lorenz 1940, 62. 37 Spengler RA. 136. 38 Spengler EH. 42 ; 45.
Von der Dekadenz zum Übermenschen
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Als Naturwesen hingegen ist er durch sein dauerhaftes Erbgut, seine gesunden Instinkte programmiert. Alles was Physis, natürlich ist, das ist gut. Alles was Nomos, künstlich ist, das ist bedenklich, ja schlecht. Diese Gegenüberstellung finden wir schon bei Sophisten im 5. Jahrhundert v. Chr.39 Lorenz beklagt die Diskrepanz zwischen dem durch die Natur Gebotenen und dem durch die Zivilisation Geforderten. Hier, in dieser biopsychischen Spannung, sucht er die Erklärung für Spenglers Kulturverfall und die Wurzel der modernen Dekadenz. Lorenz erkennt den Wert der Tradition als schützenswertes Identitätskriterium, glaubt aber, daß die Last der Tradition im Laufe der Kulturgeschichte immer schwerer geworden sei. Bedrohlich sei dies, seitdem die revolutionäre Zivilisationsentwicklung unserem phylogenetisch vererbten Normensystem »davongelaufen« sei.40 Diese Entwicklung ist für Lorenz die Folge der durch die Sprache begünstigten Lernfähigkeit des Menschen. Sie habe üble Auswirkungen. Die moderne Kultur habe ein derart umfassendes Ritual- und Gesetzeswesen entwickelt, daß unser spontan-kreatürliches Verhalten entweder in dieser an Max Weber erinnernden »Zwangsjacke« erstickt werde41 oder aber im Aufbäumen dagegen die Kultur insgesamt zugrunde gehe. Denn auch das »totale Abreißen aller Tradition«, das im Gang sei, ende im Kulturtod.42 Durch genetischen Verfall des Instinkts werden gemeinschaftsgefährdende »Sozial-Parasiten« nicht mehr ausgemerzt. Nach all dem drohe unserer Zivilisation eine »Apokalypse«, und zwar in einer »besonders gräßlichen Form«.43 Schon 1940 befürchtete er eine »Involution«, den kulturellen Wärmetod. Derartige Vorwürfe werden seit dem 18. Jahrhundert dem durch Rituale und Ränge verkrusteten Byzantinismus gemacht. Er habe das freie Leben getötet, die Römer in die Kirchendogmen gebunden und schließlich den Germanen ausgeliefert.44 So wie Spengler45 wehrt sich Lorenz gegen den Vorwurf des Pessimismus.46 Während Spengler mit seinem Wort »Optimismus ist Feigheit« sich als Philosoph und Realist gebärdete, präsentiert sich Lorenz als Arzt und Optimist. Schließlich gibt er unserer Spezies noch eine Chance, wenn sie nämlich biologisch denken und wieder naturkonform leben lerne. Unsere schwerkranke Zivilisation könne als erste 39 Antiphon der Sophist, in : Die Fragmente der Vorsokratiker, ed. Hermann Diels/Walter Kranz 1934 ff., 87 A 44. 40 Lorenz 1973, 252 ; 1973/83, 63. 41 Demandt, Der Fall Roms, 2014, 289. 42 Lorenz 1973, 298. 43 Lorenz 1973/83, 52 ; 54 ; 66. 44 Demandt, Der Fall Roms, 2014, 456. 45 Spengler RA. 63 ff. 46 Lorenz 1973/83, 7 ; 1983, 203 f., 241 ff.
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Oswald Spengler bei Konrad Lorenz
und damit letzte aller Kulturen den nahen Untergang vermeiden, sobald sie ihr Verhalten den Erkenntnissen der Verhaltensforscher anpasse.47 Sollten die Zeitgenossen die Mahnungen des Biosophen aber mißachten, so übernimmt die Evolution die Höherentwicklung. Sie merzt uns aus, wie alle lebensuntauglichen Arten, aber die Mutation produziert ja stets neue, »wertvollere« Arten. Der Jetztmensch ist gemäß Lorenz sowieso nur ein vorläufiges Produkt der Evolution, noch nicht ganz das »endgültige Ebenbild Gottes«.48 Lorenz deutet den homo sapiens im Sinne Nietzsches als Zwischenstufe zwischen einem tierischen Wesen und einer Art Übermensch. Er erwartete dessen Verwirklichung von der »Weltvernunft des Logos«,49 offenbar einem Derivat aus dem Johannesevangelium oder von Hegels Weltgeist. Anders als Spengler endet Lorenz doch, wie schon Darwin, in der Nähe von Hegel. Lorenz prophezeit als Nachfolger des gegenwärtigen, insuffizienten Menschentyps, dem er selbst angehört, den »wahrhaft humanen Menschen« der Zukunft,50 sozusagen den Homo humanissimus Laurentianus, den wohltemperierten Endzeit bürger,51 wie er Aldous Huxley schon 193252 vorschwebte. Die Antike sah das einst realistischer. Seneca erwartete vor dem Weltuntergang in der bevorstehenden Sintflut einen anderen Typ. Es ist der wieder tierähnliche Mensch.53 Und auch Lorenz sollte eigentlich einen solchen naturwüchsigen Steinzeitmenschen erhoffen, der auf dem von uns dereinst geplünderten Planeten zu überleben vermag ; nennen wir ihn Homo robustus ultimus.
5. Zivilisationskritik
Ein Vergleich zwischen Spengler und Lorenz zeigt die Unterschiede zwischen Morphologie dort und Biologismus hier. Lorenz fügt die spenglerschen Hochkulturen in sein allumfassendes Evolutionskonzept ein. Einen ähnlichen übergeordneten Rahmen kennt Spengler nicht. Während seine Hochkulturen eigengesetzlich entstehen, blühen und absterben, entwickeln sie sich bei Lorenz in der Konkurrenz miteinander, so wie die Arten beim Kampf ums Dasein, wobei die stärkeren die schwächeren verdrängen und so durch »kreative Selektion« die evolutionäre Höherentwicklung bewirken. Ein solcher Fortschrittsgedanke fehlt bei Spengler. 47 Lorenz 1973, 255 ; 258 ; 320 f.; 1983, 55. 48 Lorenz 1963/65, 322 ff. 49 Lorenz 1963/65, 327. 50 Lorenz 1963/65, 323 ; 327. 51 Lorenz 1963/65, 323 ; 327 ; Demandt, Endzeit, 1993, 207. 52 Huxley, Brave New World, 1932. 53 Seneca, Naturales Quaestiones III 30,7 f.
Zivilisationskritik
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Beide Autoren erkennen den weltweiten Sieg der westlichen Zivilisation, den sie aber unterschiedlich bewerten. Indem nach Lorenz heute an die Stelle des förderlichen Wettbewerbs verschiedener Kulturen die verderbliche Konkurrenz innerhalb derselben Kultur getreten ist, steuert die Menschheit auf ihren Untergang zu. Für einen weiteren Wertzuwachs der Evolution bedarf es daher eines neuen, wahrhaft humanen Menschen. Da die dafür erforderliche Mutation aber nicht vorhersehbar ist, fordert Lorenz mit seiner »Predigt« gegen die »technokratische Religion« vom Jetztmenschen, noch immer auf dem Wege zur Dehumanisierung, »Reue und Umkehr«. 1940 hatte er Humanitätsgefühle noch als Degenerationserscheinung denunziert, nach 1945 aber bekannte er sich selbst zu ihnen. Wie Lorenz seither den unerbittlich Arten vernichtenden Darwinismus und das Gebot der Humanität vereinbart, bleibt offen.54 Dieses Dilemma hatte schon Darwin, hat es aber nicht ernst genommen. Er glaubte an den Fortschritt, obschon er sah, daß Humanität die Schwachen vermehrt und damit zur Degeneration führt.55 Die Lösung fand sein Neffe Sir Francis Galton. Er hat 1908 in London die bis heute bestehende Eugenics Society, die Gesellschaft für Menschenzüchtung gegründet. Lorenz verdrängte diese Konsequenz und verkleisterte den Gegensatz zwischen kultureller Dekadenz und evolutionärem Fortschritt mit moralisierender Zivilisationskritik. Ein solches Problem hatte Spengler nicht. Man muß ihn nicht mögen, aber Konsequenz kann man ihm nicht absprechen. Alles was im Rahmen der Hochkultur geschieht, ist ein Produkt aus dem Charakter der jeweiligen Kulturseele und deren Altersstufe. Die Kultur des Abendlandes ist nicht schuldhaft krank, wie Lorenz meint, sondern schlicht aus Altersgründen erloschen und erledigt. Spengler erhob keine Anklage. Er war bekennender Fatalist. Kulturkritik, die ja allenfalls bei Ludwig Klages, Theodor Lessing oder Emil Cioran die eigentliche Kultur meint, betrifft bei Lorenz und sonst die Zivilisation. Kulturkritik wäre in Spenglers System sinnlos. Spengler war kein Kulturkritiker.56 Er predigt nicht : Zurück zur Tradition ! Zurück zur Kultur ! Zurück zur Natur !, sondern er forciert vielmehr vorwärts den Marsch in die Zivilisation, die vielgeschmähte. Sie ist unser Schicksal. Spengler begeistert sich für die Höchstleistungen der modernsten Technik und erklärt, die jungen Leute sollten keine Gedichte schreiben, sondern Brücken bauen.57 Wer heute noch an eine Rettung der Kultur glaubt, dem ruft er zu : lasciate ogni speranza ! Im Stichwortregister zum ›Untergang‹ fehlt der Begriff »Dekadenz«. Auch Humanität und Degeneration gibt es dort nicht, Spengler vertritt keinen Mora54 Lorenz 1973/83, 7 ; 1983, 20. 55 Darwin 1871/1982, 171 ff. 56 Anders Bollenbeck 2007, 215 ff. 57 Spengler UA. I 54 ; 58.
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Oswald Spengler bei Konrad Lorenz
lismus, keinen Biologismus. Er verachtet Darwin mit seinem »Kampf zwischen den Regenwürmern.«58 Biologie ist für Spenglers Hochkulturen lediglich Metapher, Anschauungsform, Erklärungsmuster. Selbst die anorganische Natur liefert ihm Denkbilder, so für die Pseudomorphose.59 Spengler verortet die Welt als Geschichte als eigenen Kosmos über der Welt als Natur,60 so wie Frobenius.61 Spengler rauchte gern gute Zigarren, aber immer nur zur Hälfte.62 Ebenso halbierte er die Geschichte, indem er sich auf die Hochkulturen beschränkte. Außerhalb, vorher und nachher herrscht »Zoologie«, also auch in der Zivilisationsphase, in der sich Spengler selber befindet. Hier geht es nur noch um Geld (als Macht über Sachen), um Technik (als Macht über die Natur) und um Politik (als Macht über Menschen). Auf diesen Gebieten haben die Deutschen ihre »historische Sendung« zu erfüllen. Ist doch das »deutsche Volk das unverbrauchteste der weißen Rasse« und allen anderen in seiner »rassemäßigen Gesundheit« voraus. So schrieb er 1927. Politische Schwächen geißelte er gleichwohl. Verrät nicht das doch Optimismus ? Schon 1924 hat er die deutsche Jugend an ihre politischen Pflichten erinnert.63 Für die kulturlose Gegenwart, die Zeit nach dem Untergang der Abendsonne, greift Spengler zurück auf Nietzsche und »den Willen zur Macht« und sohin mittelbar nun doch ungewollt auf Darwin und den Kampf ums Dasein.64 Spengler sieht ihn in der Politik voraus. Sein Mensch ist kein Halbaffe, keine Graugans und kein handzahmes Haustier. Sein Mensch ist ein Raubtier.65 Aber betrachten und behandeln echte Raubtiere denn ihre Artgenossen als Beutetiere ? Weltfriede ist für Spengler eine Illusion, Pazifismus eine ethisch bemäntelte Altersschwäche und eine Einladung an vitale Nachbarvölker zum Angriff.66 Kriege kommen, nicht unbedingt zwischen den weißen Völkern, aber sicher zwischen diesen und den Farbigen der Dritten Welt in ihrem Drang nach westlichem Wohlstand. Spenglers Menetekel ist das Ende des Imperium Romanum durch die Germanen, und daran denkt auch Lorenz, wenn er vom Untergang im Wohlstand verweichlichter Zivilisationen spricht.67 Bei allem, was Spengler und Lorenz trennt : Darin sind sie sich einig. 58 Spengler UA. I 201 f. 59 Spengler UA. II 227 ; Demandt in : Ludz 1980, 36 ff. 60 Spengler UA. I 6 ; 65. 61 Frobenius 1921/1953, 9. 62 Arnold Oskar Meyer bei Reusch 1938, 110. 63 Spengler RA. 136 ; PS. 127. 64 Georg Escherich bei Reusch 1938, 34 65 Spengler MT. 14. 66 Spengler UA. II 222 f. 67 Spengler RA. 292 f.
Consuetudinis amor magnus est. Sym machus
XI. War Spengler konservativ ?
Die Römer gaben ihrem höchsten Staatsgott Iuppiter den Beinamen Conservator. Tacitus (Historien III 74) berichtet, Kaiser Domitian habe Iovi Conservatori auf dem Kapitol ein sacellum und einen Altar errichtet und seine Taten dort in Marmor meißeln lassen. Zahlreiche Inschriften und Münzen waren Iuppiter, dem »Bewahrer« von Kaiser und Reich, gewidmet. Cicero (Phil. III 28) nennt sich als Staatsmann conservator libertatis, der die Freiheit im Staate bewahrt und beschützt. Somit hat der Begriff conservare schon antik einen politischen Sinn, stets gerichtet gegen äußere und innere Gefährdungen des Gemeinwesens in seiner hergebrachten Form. Gegen die gewaltsame Christianisierung Roms durch die Kaiser nach Constantin beriefen sich die altgläubigen Senatoren auf die bewährte Tradition und die »Liebe zum Gewohnten«, so Symmachus (Relatio 3) 384 gegenüber Gratian. In der modernen Verwendung richtet sich der Begriff »konservativ« nicht gegen destruktive Kräfte, sondern gegen progressive, auf rasche Veränderung gerichtete Interessen, wie sie seit der Französischen Revolution im Schwange waren. In diesem Sinne nannte Chateaubriand 1818 seine Zeitschrift ›Le Conservateur‹. »Konservativ« heißt seitdem »traditionsbewußt«, kritisch bis obstinat gegenüber optimistischen Reformplänen und weitreichenden Änderungswünschen. Soweit diese sinnvoll erscheinen, wird aus »konservativ« leicht »restaurativ« oder gar »reaktionär«. Salomonisch formulierte Lord Salisbury um 1890 das Ziel der Konservativen dahingehend, »Veränderungen zu verzögern, bis sie harmlos geworden sind«.1 In jedem Falle geht es dem Konservativen um das Altbewährte, um die Erhaltung der für ihn wesentlichen Bestandteile der überlieferten Lebens- und Staatsordnung. Gilt das auch für Spengler ?
1. Zweimal Damaskus
Im Jahre 1911 hatte Spengler sein erstes, außenpolitisches Damaskus, sein Erwek kungserlebnis. Das war die Marokko-Krise, ausgelöst durch Wilhelm II und seinen »Panthersprung« nach Agadir, mit dem der Kaiser Weltpolitik zu machen 1 A. Rödder, Was ist heute konservativ ? 2012, 19.
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versuchte. Nach dem schmachvollen Scheitern plante Spengler, seine »Gedanken über Deutschland« niederzuschreiben und ihnen den Titel ›Konservativ und liberal‹ zu geben. Dies wurde zum Kern seines Hauptwerks (PS. VI). Der ›Untergang des Abendlandes‹ erhielt dann aber nicht den Untertitel ›Konservativ und liberal‹, denn nichts konnte irreführender sein als ein solches Selbstmißverständnis. Spengler bemerkte 1923 selbst, daß die konservative Partei 1830 als »Abwehrgebilde« gegen den Liberalismus entstand, daß »liberal« und »konservativ« Gegensätze sind (UA. II 559 ff.). Sie haben auch heute nur eine kleine Schnittmenge. Der deutsche Liberalismus – »eine Sache für Tröpfe« (PS. 35) – hat Spengler aus guten Gründen nicht unter seine Vordenker aufgenommen, wohl aber tat und tut dies der deutsche Konservatismus.2 Spengler gilt als Konservativer,3 ja als »geistiger Vater« von Armin Mohlers »konservativer Revolution«.4 Diesen Begriff prägte Hugo von Hofmannsthal 1927 in seiner Münchener Rede über das ›Schrifttum als geistiger Raum der Nation‹. Darin behandelte er einen Prozeß, der die seit dem 16. Jahrhundert herrschende Spaltung der deutschen Nation überwinden sollte und im »Dienst an der eigenen Seele« Geist und Leben zur »Bildung einer wahren Nation« zu vereinen strebe. Hofmannsthal nennt in seiner schöngeistigen Schau keine konservativen Revolutionäre beziehungsweise revolutionären Konservative mit Namen. Dies aber tat Armin Mohler in seiner Dissertation von 1949, aus der dann sein Handbuch wurde. Die subsumierten Autoren verband wenig mehr als die Ablehnung des Marxismus und der liberalen Demokratie. Mohler wußte um die Spannbreite dieser Denker, die sich nie als Gruppe verstanden, aber durch das gemeinsame Etikett zusammengeschoben werden. Obschon der Sammelname »konservative Revolution« im heutigen Sinn von einem Mann stammt, der selbst dieser Richtung nahestand, wird der Ausdruck überwiegend von Gegnern verwendet und in das politisch dominante Denkschema Rechts-Links auf der rechten Seite eingeordnet. In dieser Zweiteilung der Positionen gibt es keine anerkannte Mitte, weil diese von der Linken der Rechten zugeordnet wird, gegen die sich die Mitte gleichwohl abzugrenzen sucht. »Konservativ« wird als fortschrittsfeindlich, als änderungsresistent pauschaliert. Wo aber bleibt da die konservative »Revolution« ? 1993 hat Stefan Breuer5 den Widersinn in diesem Begriff herausgestellt, da diese »Revolution«, so wie der Untergang des Abendlandes, nie stattgefunden hat. Breuer hat gezeigt, wie absurd es ist, wenn man Spengler 2 Diese Form statt »Konservativismus« verwende ich mit Jacob Burckhardt, Historische Fragmente, 1957, 24. 3 Felken1988 ; G. Merlio in : Gangl 2009, 9 ff. 4 Mohler 1949/1994. 5 Breuer 1993. Ausführlich zum Begriff : Merlio 2003.
Das Debakel
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mit den bayerischen Monarchisten und dem katholischen Zentrum zu den Konservativen rechnet. Aber es geschieht. Was wir wirklich sind, das sind wir in den Augen der Anderen. Was Spengler wollte, zeigt die erste Schrift, die er 1919 bei Beck in München publizierte, ›Preußentum und Sozialismus‹. Er wollte nichts konservieren, nichts restituieren, weder die christliche Religiosität noch die humanistische Schulbildung, weder das Gottesgnadentum noch den Biedermeier und die gute alte Zeit. Spengler wollte etwas erreichen. Dafür setzte er allerdings auf den »preußischen Konservatismus« (B. 115), indem er auf die friderizianische Tradition zurückgriff, so wie ja auch alle anderen politischen Richtungen das Erbe ihrer Vordenker konservierten. Selbst der Kommunismus hielt konservativ an Marx und Engels fest. Der erste führende Politiker, an den Spengler sich wandte, war Walther Rathenau, der dann 1922 einem rechtsradikalen Anschlag zu Opfer fiel. Am 11. Mai 1918 schickte Spengler ihm seinen ›Untergang des Abendlandes‹, wofür Rathenau mit der Einladung zu einem Gespräch dankte (B. 101 f.). Rathenau hatte soeben, wie er schreibt, den »dogmatischen Sozialismus« ins Herz getroffen,6 aber beileibe nicht den sozialen Gedanken. Der verband ihn mit Spengler.
2. Das Debakel
Am 7. November 1918 erlebte und erlitt Spengler nach Agadir sein zweites, nun innenpolitisches Damaskus, die Revolution in München (B. 11). Noch im Mai hatte er vom Sieg und von einem deutschen Protektorat bis zum Ural geträumt (B. 97). Die Niederlage und das Ende der Monarchie brachten ihn an den Rand der Verzweiflung. Aber nur an den Rand. 1932, im Jahr der Entscheidung, begrüßte er zynisch Versailles und die Revolution als die »für uns mildeste Form, das Notwendige zu erleiden« (PS. VI). Schon 1919 erhoffte er Rettung aus der Anarchie durch »eine Diktatur, irgendetwas Napoleonisches« (B. 113), so wie nach dem 18. Brumaire 1799 geschehen. Seit Platon weiß man : Chaos und Not münden in die Macht eines Tyrannen, eines Ordnungsstifters. Die Novemberrevolution mißlang. Deutschland wurde aus einer konstitutionellen Monarchie weder eine Räterepublik à la Liebknecht noch eine Militärdiktatur à la Ludendorff, sondern eine parlamentarische Demokratie. Das war laut Spengler die zeitgemäße Staatsform der Zivilisation, bis nach ihr der Cäsarismus triumphiert. Ihn ersehnte Spengler (PS. 63 ff.; 104 f.). Er schmähte das Weimarer Parlament, jenen »Biertisch höherer Ordnung« (PS. 7). Die dem Fraktionszwang 6 W. Rathenau, Von kommenden Dingen, 1918, 14.
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hörigen Abgeordneten, nicht die Wähler, bezeichnet er als »Stimmvieh« (PS. 60). Er verwarf den »kapitalistisch-parlamentarischen Liberalismus«, der das Glück des Einen auf das Unglück des Anderen baue. Darin war er einig mit der extremen Rechten und der radikalen Linken, mit den schärfsten Gegnern der Konservativen. Spengler verstand sich als politischer Denker.7 »Jede Zeile, die nicht geschrieben ist, um dem tätigen Leben zu dienen, scheint mir überflüssig« (RA. 64). Er favorisierte einen starken Staat, einen populistischen Cäsarismus, so wie der gar nicht so liberale Theodor Mommsen den dictator perpetuus Caesar als überparteiliches »Volkshaupt«, als »Demokratenkönig« bewunderte.8 Demokratie ist bei Spengler bezeichnend für Spätkulturen, wenn sich das Leben in der Großstadt konzentriert. Die Städte sind die Geldplätze, und die Gier nach Geld macht die Volksherrschaft früher oder später zur Geldherrschaft, die Demokratie zur Plutokratie. Diese Gefahr beschrieb schon Aristoteles.9 Spengler resümiert : »Der Geist denkt, das Geld lenkt« (UA. II 499). Auch das Ende der römischen Republik hatte einst Sallust in seinem zweiten Brief an Caesar (7,3 ff.) auf die Macht des Geldes zurückgeführt, das aus den eroberten Provinzen in die Hände der Prokonsuln geriet und durch Brot und Spiele zur Willensbildung der Wähler eingesetzt wurde. Wie in Rom, so in Weimar ! Die »freie Meinung« wird von der »freien Presse« erzeugt. Diese aber dient dem, der sie besitzt, der das Geld hat. Wirklich frei ist nur ein Northcliffe oder ein Hugenberg, modern gesprochen : ein Axel Springer oder ein Berlusconi, wenn er von der Haftstrafe verschont bleibt.10 Die Herrschaft über die Masse hängt ab von der Verfügung über die Medien und von der Überzeugungskraft eines Redners, eines Demagogen, der sich zum Träger des Volkswillens zu stilisieren vermag.
3. Cäsarismus !
Und damit ist Spengler beim Cäsarismus. Schon Jacob Burckhardt hatte ihn prophezeit.11 Dieser soll über den Parteienegoismus und die Hochfinanz siegen, so wie einst in Rom Caesar zunächst sich über seine Verschuldung bei Crassus populär zu machen verstand, indem er sich durch exorbitant aufwendige Spiele in der Arena 7 H. Möller, Oswald Spengler – Geschichte im Dienste der Zeitkritik. In : Ludz 1980, 49 ff.; C. Vollnhals, Praeceptor Germaniae. Spenglers politische Publizistik. In : Demandt/Farrenkopf 1994, 171 ff.; Farrenkopf 2001. 8 Th. Mommsen, Römische Geschichte III 1856/1909, 481 ; 488. 9 Aristoteles, Rhetorik I 4,12 vgl. 8,4. 10 Scripsi 2014. 11 J. B. Burckhardt, Historische Fragmente 1957, 281.
Cäsarismus !
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der Volksgunst versicherte, sich anschließend durch Siegesruhm und Kriegsbeute politisch in den Sattel schwang und zuletzt die senatorische Plutokratie, genannt Republik, ablöste. Die konservativen Caesarmörder kämpften nicht für die Freiheit des Volkes, sondern für die Interessen der senatorischen Kapitalisten (UA. II 541), wie aus Ciceros Briefen zu ersehen ist.12 Spengler bemerkt : »Durch das Geld vernichtet die Demokratie sich selbst, nachdem das Geld den Geist vernichtet hat« (UA. II 578). Spengler verband Cäsarismus und Sozialismus. Er schrieb 1919 : »Wir Deutsche sind Sozialisten« (PS. 4 ; 105). Er meinte damit nicht den marxistischen Sozialismus im Sonderinteresse des Proletariats, sondern den Staatssozialismus Bismarcks (PS. 36), der nach seinen Gesprächen mit Ferdinand Lassalle die gesetzliche Versicherung für die Arbeiter einführte, und diese Neuerung gegen Rechts und Links, gegen die überwiegend katholischen Konservativen und gegen die protestantisch geprägte liberale Fortschrittspartei durchsetzen mußte (K. 184). Spengler denkt an den Stoizismus Friedrichs des Großen, der sich 1740 den ersten Diener seines Staates nannte (PS. 69) und sich damit auf den Pflichtgedanken berief, wie er aus den Selbstbetrachtungen von Marc Aurel zu uns spricht und schon bei dem Diadochen Antigonos Gonatas († 239) bezeugt ist, der die Königsherrschaft als endoxos douleia kennzeichnete, als ruhmvolle Sklavenarbeit.13 Das »Urbild eines Sozialisten« ist für Spengler Friedrich Wilhelm I, der Soldatenkönig (UA. I 179 ; 441), der typische Landesvater. Und indem er die Einordnung des Einzelnen in die politische Gemeinschaft über die Bereicherung und die Beglückung des Individuums stellt (PS. 5 ; 32), berührt er sich hier mit den antiliberalen Konservativen. Bewußt knüpft Spengler an den Pflichtgedanken von Immanuel Kant (V 20 ff.) und an das protestantische Arbeitsethos an, wie es von Max Weber bei den Calvinisten herausgestellt worden ist.14 Es liegt schon bei Luther vor, der in der göttlichen Weltordnung jedem Stand, jedem Menschen sein Amt zuweist und dem Gelehrten wie dem Handwerker, dem Fürsten wie dem Bauern die gleiche Würde zuerkennt. Luthers konservativer Unmut galt den neureichen »Pfeffersäcken«. Er wettert gegen die Fugger und Welser, die Großkapitalisten seiner Zeit,15 und genau dies liegt auch in der Stoßrichtung Spenglers. Sein sozialistisches Feindbild ist der angloamerikanische liberale Kapitalismus (PS. 75), und darin weiß er sich einig mit Ferdinand Lassalle und August Bebel. Mit Lassalle teilt er die Idee eines nationalen 12 Cicero an Atticus V 21,10 ff.; VI 1,5 f.; 2,8 f., 3,5. 13 Aelian, Varia Historia II 20. 14 M. Weber, Asketischer Protestantismus und kapitalistischer Geist (1905). In : Ders., Soziologie, Weltgeschichtliche Analysen, Politik, 1968, 357 ff. 15 M. Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation (1520), 466 Weimarer Ausgabe.
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Ständestaates unter einem Volkskaiser (PS. 69), und Bebel bewundert er für dessen beinahe schon militärisches Organisationstalent (PS. 8 ff.). Spengler vertrat einen nationalen Sozialismus. Er verwirft den Marxschen Internationalismus, das »Proletarier aller Länder, vereinigt euch !« Dabei interessiert ihn nicht, ob diese Idee gut oder schlecht ist, sondern er hält sie für einfach illusionär und kann dafür auf die Bewilligung der Kriegskredite durch die Sozialdemokraten am 4. August 1914 verweisen. Er stellt dem deutschen Idealtyp des Ordensritters den englischen Wikinger gegenüber, der die Welt als Beute betrachtet und sie sich in der Form des politischen Imperialismus und des ökonomischen Kolonialismus aneignet (PS. 51 ff.). Der darin zum Ausdruck kommende »Wille zur Macht« ist Spengler sympathisch. Für diese Wikingermentalität gab es eine doppelte Rechtfertigung, eine aus der Biologie und eine aus der Bibel. Darwin lehrte den Kampf ums Dasein und den Erfolg des Besten als ein Gesetz der Natur und der Menschenwelt. Darwins Vergleich der edlen Angelsachsen mit den »primitiven« Iren ist rassistisch.16 Die Genesis sodann liefert die Worte Gottes an Adam und Eva : »Machet euch die Erde untertan !« und wiederum Gottes Rat an Noah und seine Söhne : »Seid fruchtbar und mehret euch und erfüllet die Erde. Furcht und Schrecken vor euch komme über alle Tiere auf Erden … in eure Hände seien sie gegeben !«17 Eine materialistische Gesinnung und das biblische Erbe zugleich kritisiert der Idealist Spengler an dem Materialisten Marx, dem es um Kommunismus, das heißt um Besitzverhältnisse ging, um rein materielle Güter. Arbeit ist für Marx eine Ware, ihm fehlt laut Spengler der Sinn für die Würde der Arbeit (PS. 78). Von Pflichtgedanken und Verantwortungsbewußtsein ist im ›Kapital‹ nicht die Rede. Wenn einst an die Stelle der Herrschaft der Kapitalisten die Diktatur des Proletariats träte, würde sozusagen der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben. »Der Marxismus verrät in jedem Satze, daß er aus einer theologischen und nicht aus einer politischen Denkweise stammt« (PS. 77). Er betrachte die Arbeit als Unglück, so wie Gott sie als Strafe für den Sündenfall über die Menschen verhängt hat. Die Arbeitsbedingungen des 19. Jahrhunderts legten das nahe.
4. Der neue Staat
Spengler sieht Deutschland nach dem Krieg in »verzweifelter Lage«. Aber er schöpft wieder Hoffnung. Ende 1918 hatte er die kriegsmüden Deutschen als ver16 Ch. Darwin, Die Abstammung des Menschen (1871/82), hg. v. Ch. Vogel 1982, XXXII. 17 1. Mose 1,28 ; 4,1 f.
Der neue Staat
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ächtlichen, gemeinen Pöbel verunglimpft (B. 111 ff.), 1924 sind sie für ihn das »unverbrauchteste unter den Völkern Europas«, und dies lasse erwarten, daß die »heranwachsende Generation einst wieder in die Lage versetzt werden wird, eine geschichtliche Rolle zu spielen«. Von Dekadenz ist keine Rede. Das Wort »Dekadenz« habe ich bei Spengler nicht gefunden, im Stichwortregister des ›Untergangs‹ fehlt es. Auch außerhalb Deutschlands herrscht Vitalität. Überall in Europa zeige sich etwas Neues, »Verbände von Männern, die aus Begeisterung für eine Sache bereit sind, ihr Leben einzusetzen«. Muster sind für Spengler die Action Française und der Faschismus in Italien. Aber auch Lenin und Cecil Rhodes werden gerühmt. Erforderlich ist die »Verehrung für einen Führer«. 1921 erwartete und erhoffte Spengler einen deutschen Cäsar (RA. 79). Caesars Nachfolger Augustus hatte die republikanischen Ämter und den Staatsnamen res publica der Form nach bestehen lassen, und so meint Spengler, könne auch die Demokratie unter dem ersehnten Führer formal andauern (PS. 145). Und eben dies geschah ja 1933. Die Verfassung von Weimar wurde nie förmlich außer Kraft gesetzt. In jenem Punkt war Hitler einmal konservativ, jedenfalls konservativer als Spengler. Dieser erklärte Staatsstreich und Diktatur zu »festen Bestandteilen« zeitgemäßer Politik (PS. 295), während Hitler nach dem Fehlschlag des 9. November 1923 auf »legalem Weg« die Macht erstrebte. Wie sich Spengler nach gelungenem Staatsstreich den ›Neubau des Deutschen Reiches‹ vorstellt, zeigt seine so betitelte Denkschrift von 1924 (PS. 185 ff.). Spengler träumte von einem »Staatsschiff«, wo alle in die gleiche Richtung rudern, von einem Volkskörper, der aber zur Zeit von Geschwüren und Parasiten geplagt sei. Aus Spenglers organischem Staat wurde 1933 der organisierte Staat. Und sein Pflichtideal lebte 1949 auf in der »Solidarität« des Realsozialismus, im deutschdemokratischen Arbeiter- und Bauernstaat. Nur wo dort das Wort »sozialistisch« auftaucht, verwendet Spengler das Wort »germanisch«. Spenglers Staatsbürger bilden eine klassenlose Volksgemeinschaft. Es gibt keine Interessenverbände, denn »jeder ist ein Diener des Staates« (B. 112). Jeder Bürger ist Arbeiter, jeder Arbeiter ein Staatsangestellter, wie in der DDR. Spenglers Verbindung von Heroismus und Arbeit verkörperte dort der »Held der Arbeit«. Spenglers »Zukunftsstaat ist der Beamtenstaat« (PS. 96). Spengler selbst wäre darin nicht der Privatier, der er war, sondern Mitglied im Schriftstellerverband, vielleicht Kultusminister ; seine Hauptaufgabe wäre eine zentrale Pressezensur im nationalen Interesse (K. 289). Spenglers Kanzler regiert autoritär. Er wählt sich einen »Generalstab« von Ministern und einen »Verwaltungs«- und »Staatsrat« von Fachleuten (PS. 70) und läßt die Gesetze vom Reichstag absegnen. Dieser besteht aus 150 Abgeordneten der vier zugelassenen Parteien, tagt zweimal im Jahr und kann vom Kanzler jederzeit aufgelöst werden. Es ist ein Führerstaat. »Pöbelhaftes Auftreten« wird geahndet
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(PS. 210 ff.). Spengler reformiert zudem das Recht, die Wirtschaft und das Bildungswesen. Anstelle des weltfremden humanistischen Gymnasiums tritt nationalpolitische Erziehung und polytechnischer Unterricht mit Arbeitseinsätzen in der Produktion. Die humanistischen Ideale seien verblichen (PS. 227 ff.). Schreibt so ein Konservativer ? Der Übergang des Abendlandes zur Zivilisation liegt hinter uns, die kulturelle Schöpferkraft Europas ist erloschen. Was jetzt noch an Dichtung, Musik und Malerei produziert werde, diene nur noch der Unterhaltung, der Sensationsgier, dem Nervenkitzel. Die Devise heiße wieder wie in der spätrömischen Großstadtzivilisation panem et circenses.18 Bemerkenswerte Leistungen erwartete Spengler jetzt im Bereich der Technik, für die er sich aus ästhetischen Gründen begeisterte (UA. I 58). Er forderte die Jugend auf, keine Verse zu schmieden, sondern Maschinen zu bauen und die neuartige technische Intelligenz zu nutzen (UA. I 54). Das ist eher progressiv als konservativ gedacht. Anders als bei den meisten Kulturkritikern seiner Zeit19 gibt es bei Spengler keine Naturschwärmerei, keine Technikfeindlichkeit.20 Er kennt kein Zurück zur Kultur.
5. Weltpolitik
Die kommende globale Politik ist der Kampf um die Vormacht auf dem Globus. Spengler parallelisiert : Das Ende der antiken Hochkultur mündete ins Imperium Romanum. Was heute, 1933, bevorsteht, ist der Weltstaat, das Imperium mundi. Fraglich ist allein, wem es zufällt (JE. 41). Was der antiken Hochkultur folgte, waren die »immer negerhafteren Kämpfe« der Kaiserkandidaten um die Macht, bei denen es letztlich gleichgültig gewesen sei, wer gewinnt. Die Zivilisation ist ein Rückfall in die Zoologie (UA. I 60 f.). Spengler war es freilich nicht gleichgültig, welchem Volk der nun doch nicht unbedingt »negerhafte« Griff nach der Weltmacht gelingt. Versailles entmutigt ihn nicht. Er lernt aus der Geschichte nicht, Maß zu halten, sondern Hassen und Hoffen (PS. 147). Der Weltkrieg war für Deutschland eine heilsame Katastrophe, die »mildeste Form, das Notwendige zu erleiden«. Er sieht 1919 mit »Behagen, wie die Entente den Deutschen zur Vergeltung erzieht«. Spengler denkt wohl an Nietzsches Wort : »Was uns nicht umbringt, macht uns stärker.« So wie Deutschland 1806 bei Jena und Auerstedt 18 UA. I 4 f.; II 587 nach Juvenal X 81. 19 Bollenbeck 2007. 20 G. Merlio, Spengler und die Technik. In : Ludz 1980, 100 ff.; Michaela Nacci, Dominio, destino, declino. Spengler e la tecnica. In : Guerri/Ophälders 2005, 65 ff.
Weltpolitik
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seine notwendige Züchtigung erfahren habe, um dann 1813 Napoleon zu besiegen, so sei auch der Weltkrieg eine notwendige »Katastrophe« gewesen »auf dem Weg zum Ziel« (B. 126 f.). Ist eine solche außenpolitische Zukunftsvision konservativ ? Um das Großreich der Endzeit, dieses schicksalhaft vorgezeichnete äußere Ziel zu erreichen, mahnt Spengler die Studenten, sich den beiden inneren Gefahren, dem Marxismus und dem Börsenkapitalismus entgegenzustellen. Spengler findet es höchst bedenklich, wie das Privateigentum an den Produktionsmitteln durch das Aktienwesen und die Kreditvergabe anonym wird und wie durch die Manipulation von Bankiers und Spekulanten die Wirtschaft und damit die Politik in die Gewalt einiger weniger Finanzhaie gerät (PS. 139 ff.). Es ist, wie wenn Spengler den New Yorker Börsenkrach fünf Jahre später mit seinen fatalen Folgen vorhergesehen hätte. Gefürchtet hat er derartiges. Ein solches Unheil sei zu verhindern. Um die schmerzlich entbehrte »Weltgeltung« wieder zu gewinnen, solle sich die akademische Jugend gründlich mit der Weltwirtschaft und der Weltpolitik befassen (PS. 155). Entscheidend sei nicht, was innerhalb Deutschlands geschehe ; es komme darauf an, was »außerhalb der Grenzen erzielt wird«. Wenn demnächst »in den schweren Zeiten, die uns bevorstehen, starke Männer zum Vorschein kommen, Führer, denen wir unser Schicksal anvertrauen dürfen«, so brauchen sie eine ihnen »ergebene Gefolgschaft«. Mit dem »Auftauchen entscheidender Persönlichkeiten« würden alle Probleme gelöst (PS. 183). Deutschland warte auf einen Mann, »dem man das Schicksal des Landes in die Hände legen darf« (PS. 145). Schon 1918 fehlte ein »großer Mann aus der Tiefe«, ihm wären alle gefolgt (PS. 12). Deutsche Tugend sei, »sich als Material für große Führer zu erziehen in stolzer Entsagung, zu persönlicher Aufopferung bereit«. Also sprach Spengler am 26. Februar 1924 in Würzburg (PS. 129 ff.), just an jenem Tage, als, wie er wußte, in München unter großem Polizeiaufgebot der Hitler-Prozeß eröffnet wurde (B. 301). Spenglers Cäsarismus ersetzt die Innenpolitik rivalisierender Interessengruppen durch eine zentralistische Verwaltung und steht unter dem Primat der Außenpolitik (UA. II 493). Spengler verkündet : »Ich lehre hier den Imperialismus« (UA. I 48), den Wettbewerb der Staaten um die Vorherrschaft. Er wird – bei allem Respekt vor ökonomischen und demographischen Faktoren – letztlich militärisch entschieden. Spengler war, so wie Lassalle, mit einer Arbeit über Heraklit promoviert worden (RA. 1 ff.) und machte sich dessen Wort zu eigen : »Der Krieg ist der Vater aller Dinge.«21 Er variiert : »Der Krieg ist der Schöpfer aller großen Dinge. Alles Bedeutende im Strom des Lebens ist durch Sieg und Niederlage entstanden« (UA. II 446). Auch der Faust ? Auch die Missa Solemnis ? Unbegreiflich die Absage 21 Diels/Kranz, die Fragmente der Vorsokratiker I 1934, 22 B 53.
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an die Kulturgeschichte 1919 : »Weltgeschichte ist Staatengeschichte, Staatengeschichte ist Kriegsgeschichte.« Das sei nicht zu bedauern. Denn Friede führe zur Erschlaffung (JE. 10 f.), aber Krieg, den Spengler nur aus der Literatur kannte, »ist die ewige Form höheren menschlichen Daseins, und Staaten sind um des Krieges willen da ; sie sind Ausdruck der Bereitschaft zum Krieg« (PS. 55). Das ist Bellizismus aus der Heimat. Spengler war selber nicht kriegsverwendungsfähig. Die Friedensbemühungen seiner Zeit verhöhnt er. Der Völkerbund ist ihm ein »Schwarm von Sommerfrischlern, die am Genfer See schmarotzen« (JE. 11). Außenpolitisches Ideal Spenglers war ein deutsch geführtes Imperium mundi (JE. 41 f.). Schon als Gymnasiast hatte er ein phantastisches Großreich »Afrikasien« entworfen, minutiös ausgearbeitet mit seiner zentralen Verwaltung, einem neuen Gesetzbuch, einer Staatsreligion und einer Hauptstadt am Kongo namens »Berlin«. Auch realitätsnähere Visionen von Großdeutschland gibt es, ein aufgeblähtes Bismarckreich und eine Neuordnung für Europa (K. 29). Man denkt an die Schriften Max Webers von 1916, der, bescheidener als Spengler, ein deutsch geprägtes Mitteleuropa gegen die angelsächsische society im Westen und gegen den russischen Expansionsdrang von Osten gerichtet propagierte,22 oder man denkt an Carl Schmitts Großraumtheorie von 1939, die gegen den Weltherrschaftsanspruch des amerikanischen Kapitalismus das Recht der Nichteinmischung, eine umgekehrte Monroe-Doktrin für die Deutschen in Europa und die Japaner in Asien forderte.23 Spengler zwingt sich zur Hoffnung auf deutsche Größe. Gleichwohl war er sich des Erfolgs seines Appells nicht sicher. Als Alternative zweiter Wahl anstelle der vielleicht doch nicht erreichbaren »Weltgeltung« (PS. 143) empfiehlt Spengler einen heroischen Abgang von der Weltenbühne, eine Art fulminanter Götterdämmerung. Ahnte er 1945 ? Was einzig »unser würdig ist«, das ist die Entscheidung Achills in der griechischen Sage : »Lieber ein kurzes Leben voll Taten und Ruhm als ein langes ohne Inhalt.« Spenglers finaler Hinweis auf den standhaften Wachsoldaten am Tore von Pompeji, dessen Knochen man in der Asche gefunden habe, weil man vergessen hatte, ihn abzulösen (MT. 88 f.), läßt einen Althistoriker schmunzeln. Spengler war eben auch Dichter. Welche Rolle Spengler sich selbst im Dasein gewünscht hat, verrät sein Tagebuch in drei Varianten. Es ist zum ersten die Position eines allmächtigen Günstlings am Hof eines tüchtigen Herrschers im 18. Jahrhundert (EH. 32). Wir denken an Jud Süß bei Karl Alexander von Württemberg oder an den Grafen Brühl unter August dem Starken. Etwas anspruchsvoller war Spenglers Wunsch, ein neuer Na22 M. Weber, Gesammelte politische Schriften, 1958, 127 ff. 23 Schmitt, C., Großraum gegen Universalismus (1939). In : Ders., Positionen und Begriffe 1940/1988, 295 ff.
Weltpolitik
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poleon zu sein und die Landkarte zu ändern (EH. 39). Drittens heißt es : »Ich habe schon als Kind immer die Idee in mir getragen, ich müßte eine Art Messias werden, eine neue Sonnenreligion stiften, ein neues Weltreich, ein Zauberland, ein neues Deutschland« (EH. 124). Das Wort »Neues Deutschland« hatte Zukunft. Auch andere schwärmten wie Spengler : Lassalle hatte mit der Messiasrolle kokettiert ;24 Ludwig Klages und Theodor Lessing träumten von der Gründung einer »neuen Weltreligion«, von einem »Welterlöserwerk«.25 Derartige Jugendphantasien scheinen nicht sonderlich konservativ. Am wenigsten die Identifikationsfigur Herostrat, über den Spengler eine Tragödie verfassen wollte (K. 72 ; 124). Die politische Messiasrolle wurde, wie Spengler wußte und wünschte, auf der Weltbühne angeboten. Mit dem »Führer«, der angeblich kein Messias sein wollte,26 kam Spengler nicht zurecht, wohl aber mit dem Duce, obwohl dieser Spenglers Idee von einem künftigen Imperium Germanicum (B. 41 ff.) ablehnte. Am Tag nach Spenglers Tod verkündete Mussolini die Erneuerung des römischen Großreiches, à la maniera Italiana. Spengler hatte seine Schriften Mussolini zugeschickt. Dieser machte sich mit Spenglers Gedanken vertraut,27 beide publizierten gemeinsam das Vorwort zu einer Schrift über den als bedrohlich empfundenen Geburtenrückgang in Europa (K. 376 f.). Spengler war selbst allerdings ehe- und kinderlos, getreu dem Worte Schopenhauers »Der Wegweiser geht nicht mit«. Das Thema Nachwuchsmangel lag spätestens seit 1911 auf dem Tisch.28 Mussolini ließ Spenglers Schrift ›Jahre der Entscheidung‹ von 1933 ins Italienische übersetzen, nachdem er sie selbst positiv rezensiert hatte. Spengler skizziert die internationale Vernetzung und erklärt, ein Verzicht auf Weltpolitik schütze nicht vor ihren Folgen (JE. 57). In der Wirtschaft warnte er vor den billigen Arbeitskräften der Dritten Welt und deren Verfügung über die Erdölreserven (JE. 35 ; 121). Der Klassenkampf schwäche die Abwehr äußerer Bedrohung, der einst das römische Reich erlag (JE. 129). Die weißen Völker seien gefährdet durch die expandierenden Völker aus Asien und Afrika. »Da liegen die Würfel des ungeheuren Spiels. Wer wagt es, sie zu werfen ?« Spengler ruft auf zur Beteiligung am Glücksspiel der Weltpolitik und verheißt dem Gewinner die Weltherrschaft (JE. 57 ; 165). Konservativ ist das wiederum kaum, auch wenn es an die Forderung nach einem »Platz an der Sonne« erinnert, den der Reichskanzler Bernhard von Bülow am 6. Dezember 1897 erhob. 24 K. Haenisch (Hg.), Ferdinand Lassalle. Der Mensch und Politiker in Selbstzeugnissen, 1925, 25 ff. 25 Th. Lessing 1932/1971, 200 ; 264. 26 Picker 1963, 316. 27 Thöndl 2005, 351 ff. 28 Besier 1990, 272 ff.
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War Spengler konservativ ?
6. Hitler ein Caesar ?
Spenglers Biograph Koktanek (K. 410) persiflierte den Titel der Kampfschrift in ›Jahre der Fehlentscheidung‹, ex post zu Recht. Spengler hatte 1932 seine Wahlstimme Hitler gegeben, faute de mieux. Das für ihn teils bedrohliche, teils erbärmliche Bild der Konkurrenten Hitlers bestimmte seine Entscheidung. War der charismatische, ja messianische Revolutionär Hitler konservativ ? Sein »Neubau ( !) des Deutschen Reiches« war doch innovativ ! Goebbels freilich reklamierte durch den »Tag von Potsdam« am 21. März 1933 die altpreußische Tradition.29 Das war politisches Theater. Hitler bediente sich ideologisch wie bei den Darwinisten und den Völkischen so auch bei den Konservativen, aber ebenso bei den Sozialisten und selbst bei der Kirche für seine Rituale, Symbole, Rhetorik und die allumfassende »Weltanschauung«. Hitler fand aus allen Richtungen, bei den Konservativen, den Sozialisten und bei den Kirchen sowohl Gegner als auch Anhänger. Er wurde nie exkommuniziert. Goebbels versuchte vergebens, Spengler zu gewinnen. Eine enttäuschende Be gegnung mit Hitler bei der Eröffnung der Festspiele in Bayreuth am 25. Juli 1933 (K. 439 f.) nahm Spengler zum Anlaß, dem Führer, den er nie namentlich nennt, seine ›Jahre der Entscheidung‹ zu schicken. Das war töricht. Denn Spengler hatte darin von den »Luftschlössern« der Nationalsozialisten gesprochen, das Wort »arisch« in Gänsefüßchen gesetzt und den biologischen Rassebegriff der Antisemiten verhöhnt (JE. 3 ; 157). Den Gedanken an einen Angriff auf Rußland erklärte er für »sinnlos« (JE. 44). Die ungemein scharfe Abrechnung mit ihm vollzog der Nationalsozialist Alfred Baeumler im November 1933 im »überfüllten Schinkelsaal der Deutschen Hochschule für Politik« zu Berlin.30 Der Vortrag mußte durch Lautsprecher in Nebenräume übertragen werden. Die in- und ausländische Presse war erschienen. Spengler in war in aller Munde. Es hieß im ›Völkischen Beobachter‹, Spengler sei ein undeutscher Ästhet und gehöre in die »Rumpelkammer der Geistesgeschichte«. Das Blatt : »Wie ein Protest klang diesmal das Heil Hitler am Schluß dieses großartigen Vortrags, für den die Zuhörer mit ungeheurem Beifall dankten.« Der Autor des ›Untergangs‹ wurde abserviert (K. 447 ff.).31 Seine Schriften aber blieben auf dem Markt. Eine letzte Wortmeldung war im Januar 1936 Spenglers Antwort auf die Rundfrage der Zeitschrift ›Hearst’s International-Cosmopolitan‹ »Ist Weltfriede mög29 Dr. J. Goebbels, Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei, 1934, 285 f. 30 DAZ (Deutsche Allgemeine Zeitung) Mittwoch 29. 11. 1933 ; Völkischer Beobachter (Norddeutsche Ausgabe) Berlin, 1. Dezember 1933. Dazu auch ›Nationalsozialistische Revolution und Oswald Spengler‹, in : Münchener Neueste Nachrichten Nr. 230 vom 24. August 1933. 31 Fauconne 1945, 69 ff.
Polare Ordnungsbegriffe
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lich ?« Das Problem war 1933 brieflich zwischen Albert Einstein und Sigmund Freud behandelt worden. Beide waren erklärte Pazifisten ; sie erörterten die notwendigen institutionellen und psychologischen Voraussetzungen für eine Sicherung des Weltfriedens, glaubten aber realistischerweise nicht an die Realisierbarkeit.32 Spengler hingegen deutete den Pazifismus als Burn Out Syndrom der Spätkultur analog zur Fellachisierung im späten Ägypten und der Wehrdienstverweigerung im späten Rom mit der jeweiligen Folge einer Fremdherrschaft. Spengler hatte dicht vor sich den »zweiten Weltkrieg« im Auge (JE. XI) und den Aufstieg der Dritten Welt.33 Falls der Westen die Waffen niederlege, würden die militanten Asiaten sie ergreifen und die Vorherrschaft auf dem Globus übernehmen (RA. 292 f.). Aber von Kriegsmüdigkeit konnte damals doch wahrlich keine Rede sein !
7. Polare Ordnungsbegriffe
Kehren wir zurück zu unserer Frage, ob Spengler ein konservativer Denker war, so stehen wir vor der Fragwürdigkeit polarer Ordnungskategorien in der Politik. Vorwärts oder rückwärts, links oder rechts, progressiv oder konservativ sind standortbedingte, perspektivische Begriffe, nach beiden Richtungen steigerbar. Zu jeder Position gibt es Palmströms »kategorischen Komparativ«. Wer sich als konservativ bezeichnet, steht links von einem, der erzkonservativ ist. Jeden müssen wir fragen, wie konservativ er eigentlich ist und was er genau bewahrt wissen möchte. Alles läßt sich nicht halten. Wer will, daß alles bleibt, wie es ist, will nicht, daß es bleibt (Erich Fried). Kontrovers ist nicht das Prinzip, sondern allein das Ausmaß, das Tempo und die Form der Veränderung. Polare Ordnungsbegriffe verwendet der Politiker, wenn es um Ja-Nein-Entscheidungen geht. Der Historiker aber sollte die Sancta Simplicitas von dichotomischen Kategorien vermeiden. Was verbirgt sich nicht alles hinter solchen Schlagworten ? Unter der progressiven Parole firmieren die Aufklärung, die Bauernbefreiung und die Menschenrechte, aber auch Erscheinungen wie die Guillotine, der Gulag und die Atombombe. Selbst Hitler glaubte, mit seiner Judenvernichtung der Zukunft »unzählige Konflikte« zu ersparen.34 Das schien ihm fortschrittlich. In konservativem Geist geschah ebenso Unterschiedliches. Konservativ inspiriert wurden der Kölner Dom und das Ulmer Münster vollendet. Konservativ motiviert entstanden die großen Kunst- und Urkundensammlungen des 19. Jahrhunderts, 32 Freud 1986, 271 ff. 33 F. M. Cacciatore, Das Bündnis zwischen weißer und farbiger Revolution. In : Gangl 2009, 99 ff. 34 Picker 1963, 152.
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War Spengler konservativ ?
die Denkmalpflege und Naturschutz. Unter konservativer Flagge segelte aber auch Metternich 1819 mit den Demagogenverfolgungen und seinem neo-absolutistischen »Bund von Thron und Altar«, segelte Friedrich Wilhelm IV, als er die 1849 die Kaiserkrone verschmähte und die Paulskirche desavouierte, segelte Papst Pius IX mit seinem Manifest gegen die Moderne, dem Syllabus vom 8. Dezember 1864, in dem er Protestantismus, Liberalismus und Rationalismus verurteilte, die Buchdruckerkunst beklagte und überhaupt die menschliche Vernunft als Richtschnur des Denkens und Handelns verwarf.35 Konservativer geht es nicht. Aber es gab auch Fortschritte innerhalb des Konservatismus. 1967 wurde endlich der päpstliche Index librorum prohibitorum außer Kraft gesetzt. Bis dahin gehörten auch Spenglers ›Jahre der Entscheidung‹ zu den verbotenen Büchern. 1946 erschien dieser Titel ebenfalls auf der ›Liste der auszusondernden Literatur‹ (S. 397), die von der sowjetischen Militärregierung in Berlin veranlaßt worden war. In der DDR war das Wort »Abendland« verpönt, dort stand der Politiker Spengler im Feindbild. Das war im Westen nicht viel anders. Der Denker galt als Faschist und war tabu.36 Der Schulterschluß von Demokraten, Nationalsozialisten, Katholiken und Sowjets gegen Spengler erweist ihn als Fall für sich. Seine Einordnung als »konservativ« ist jedenfalls irreführend und unklug. Konservative tun sich keinen Gefallen, wenn sie Spengler als ihren Ahnherrn betrachten.
8. Summa politica
Der Philosoph Schelling37 schrieb 1803 : »Die neue Welt ist in allen Beziehungen die Welt der Mischung.« Das gilt auch für die Prinzipien von Progressivität und Konservatismus. Beide sind unerläßlich, aber beide haben nur einen begrenzten Sinn. Sie relativieren sich gegenseitig. Akzeptabel ist weder der romantische Traum von einer Rückkehr hinter die Aufklärung in eine mittelalterlich-katholische Gesellschaft Europas, wie dies Eric Voegelin vorschwebte,38 noch ein hemmungs- und rücksichtsloser Wachstumsfetischismus im Namen der Modernisierung, vor dem Hermann Lübbe warnt. Lübbe, bis 1970 sozialdemokratischer Staatssekretär, vertritt einen »strukturellen Konservativismus«, der die Verluste des sogenannten Fortschritts vermindern und vermeiden möchte.39 Lübbe verweist auf die Bewe35 C. Mirbt, Quellen zur Geschichte des Papsttums, 1901, 366 ff. »Irrtum« Nr. 12 und 22. 36 Das hat sich geändert seit Huntington 1996. Merry 2013. 37 Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, 1803, 314. 38 E. Voegelin, Die neue Wissenschaft der Politik, 1952/59 ; ders., Anamnesis, 1966/2005 ; ders., Realitätsfinsternis, 1971/2010 ; Demandt, Voegelin, 2014. 39 Lübbe 1997, 328 ff.
Summa politica
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gung der Grünen, die gegen industrielle Kommerzialisierung opponierten und das Eigenrecht der Natur in Erinnerung brachten. Das Ziel war progressiv, der Weg konservativ. Der Begriff »konservativ« wird oft im Sinne von »rückschrittlich« mißdeutet. Und doch ist der konservative Gedanke – meist unausgesprochen – ausgesprochen lebendig. Er ist parteipolitisch im Rechts-Links-Schema nicht fixiert, in allen Parteien gibt es ihn, und in der Öffentlichkeit ist er omnipräsent. Das lehren bei den Lebensmitteln die Natur- und Biowelle, das unterstreichen die Bemühungen um Landschafts- und Klimaschutz, der Widerstand gegen die Atom-Energie und gegen architektonische Großprojekte der Elbphilharmonie in Hamburg, des Flughafens Schönefeld in Berlin, des Superbahnhofs von Stuttgart Einundzwanzig. Wachsende Wertschätzung des Alten zeigt der Nostalgie-Komplex in seinen zahlreichen Facetten zwischen Museen der fünfziger Jahre, Kunstauktionen und Flohmärkten. Zurück in die Vergangenheit oder gar zu Spengler will niemand, es geht um Bewahrung des Bewährten, um eine menschenwürdige Zukunft.40 Eine konservative Grundhaltung kann heute schwerlich mehr, aber auch nicht weniger bedeuten als die Aufforderung, dem unvermeidlichen und im allgemeinen durchaus begrüßenswerten Wandel der Zeiten nicht mehr an unersetzlichem Kulturgut und an lebensnotwendigen Naturschätzen zu opfern als unbedingt erforderlich ist. Einen wirksamen Schutz überlieferter Güter sind wir unseren Enkeln schuldig. Denn wir verdanken der Vergangenheit mehr, als wir der Zukunft hinterlassen.
40 Rödder s. Anm. 1.
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Ich bin Kosmopolit, Bürger der Welt. Diogenes
XII. Spengler und die Weltgesellschaft
Das Wort »Weltgesellschaft« kommt bei Spengler nicht vor. Gleichwohl schätzt er Begriffe, die mit dem Wort »Welt« zusammengesetzt sind. Er spricht von Weltanschauung und Weltbild, von Weltangst und von Weltsehnsucht, von Weltblick und Weltgefühl, von Welthaftigkeit und Weltsystem, dann aber auch von Weltwirtschaft und natürlich von Weltgeschichte im Sinne von Menschheitsgeschichte.
1. Vorgeschichte – Geschichte – Nachgeschichte
Die seit dem 17. Jahrhundert übliche Dreiteilung der Geschichte in Altertum, Mittelalter und Neuzeit lehnt Spengler als ein »sinnloses Schema« ab, weil es eine durchlaufende Entwicklung unterstellt. Das terminologische Problem der Verlängerung in neuere, neueste Geschichte, Zeitgeschichte, Gegenwartsgeschichte karikiert er mit dem unappetitlichen Bild des »Bandwurms, der unermüdlich Epochen ansetzt« (UA. I 20 ; 28). Gleichwohl zerfällt die Geschichte der Menschheit auch für ihn in drei, allerdings anders gefaßte Großperioden. Die erste ist die Urzeit seit der Menschwerdung bis zum Aufblühen der ersten Hochkulturen um 3000 v. Chr. Diese frühe Zeit bleibt im Untergangsbuch ebenso außer Betracht wie die barbarische Vorzeit späterer Kulturvölker. Eine Schlacht zwischen zwei Germanenstämmen ist so unwichtig wie die »zwischen zwei Ameisenvölkern«. Das ist »Zoologie« (UA. II 57). Gemäß dem von Hegel inspirierten Begriff der Prähistorie handelt es sich ja um »Vorgeschichte«, noch nicht um eigentliche Geschichte. Erst in den nach 1924 entstandenen, 1966 publizierten Fragmenten zur ›Frühzeit der Weltgeschichte‹ spricht Spengler von a-, b-, c-Kulturen ohne Städte und ohne Schrift (FW. 430). Ihnen läßt er mit den d-Kulturen die zweite Großperiode folgen. Das ist die Zeit der Hochkulturen, ein Begriff, den das Grimmsche Wörterbuch 1877 noch nicht kennt. Spengler nennt dies die »Geschichte des höheren Menschentums als einer organischen Einheit von regelmäßiger Struktur« (UA. I 63). Es ist die »Hochgeschichte« nach der »Vorgeschichte« und vor der »Nachgeschichte« (FW. X). Spengler unterscheidet acht Hochkulturen : die babylonische, ägyptische, chinesische, indische, antike, arabische, mexikanische und abendländische Kultur. Jede durch-
Doppelsinn der Grundbegriffe
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laufe einen Zyklus von rund tausend Jahren gemäß dem ihr innewohnenden Seelentum, ganz eigengesetzlich, ohne wesentliche Einwirkung älterer oder benachbarter Kulturen (UA. II 42). Die Idee einer künftigen russischen Hochkultur (PS. 24) wird 1924 einmal angedacht, aber nicht ausgeführt. Das wäre auch nur ein »matter Nachzügler«. Die Hochkulturen sind das Thema Spenglers, der somit eher Kulturphilosoph als Geschichtsphilosoph ist. Alle Kulturen durchlaufen drei Stadien, von der Archaik über die Klassik zur Zivilisation der Spätzeit. In dieser jeweils letzten Phase erkennt Spengler eine universalistische Tendenz, eine Ausbreitung über den Ursprungsraum hinaus. An der Expansion der chinesischen Kultur in Ostasien und am Hellenismus im gesamten Mittelmeergebiet und darüber hinaus wird das deutlich. Das gilt auch für die »westeuropäisch-amerikanische« Kultur, die Spengler von rund 1000 bis 2000 n. Chr. ansetzt (UA. I 259). Die großen Kulturleistungen sieht Spengler an die je spezifische Landschaft gebunden, in denen sie entstehen. Die Werke der Zivilisation hingegen sind überall zu Hause, einer unbegrenzten Verbreitung fähig (UA. II 128). Da die unsere als die erste und einzige Kultur ihre Zivilisation über den gesamten Planeten verbreitet, gibt es keinen jungfräulichen Mutterboden mehr für eine künftige Kultur, so daß sie die letzte ist und bleiben wird. Insofern beginnt mit ihrem Ende, mit dem Untergang des Abendlandes, die dritte Großperiode, die nachkulturelle Posthistorie, eben die spenglersche Nachgeschichte. Wenn Spengler selbst bestreitet, daß mit ihr ein »drittes Zeitalter« beginne, weil die »Zivilisation, welche heute die ganze Erdoberfläche ergriffen hat«, europäisch geprägt sei ( UA. II 43), so handelt es sich doch um eine grundsätzlich neue Gesamtlage. Der quantitative Unterschied der globalisierten europäischen Spätkultur gegenüber den früheren wird zum qualitativen Merkmal, zur Sonderstellung des Abendlandes innerhalb der acht Hochkulturen. Die Überwindung des Eurozentrismus, die der Konzeption Spenglers nachgerühmt wird, findet hier ihre Grenze. Das Ende der europäischen Hochkultur ist das Ende der zweiten Großperiode, der Abfolge der Hochkulturen. Nun beginnt die dritte Großperiode. Der Untergang des Abendlandes ist der Übergang in die Weltgesellschaft.
2. Doppelsinn der Grundbegriffe
Die Weltgesellschaft ist nicht eigentlich Thema bei Spengler. Dennoch können wir seine Vorstellung von ihr erkennen einerseits aus dem, was er den Zivilisationsphasen generell zuschreibt, andererseits aus seinen politischen Zukunftserwartungen und Zukunftsforderungen. Der Begriff der Zivilisation hat bei Spengler einen chronologisch übergreifenden Doppelsinn. Zum einen bezeichnet er die
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Spengler und die Weltgesellschaft
letzte Phase jeder Hochkultur, gehört also noch zu ihr. Zum anderen steht er für das Leben eines Volkes in der Zeit nach dem Ende der Hochkultur. Im ersten Fall ist Zivilisation die späte Form von Kultur, im zweiten der Gegensatz zu ihr. Somit hat auch der Begriff »Kultur« eine zweifache Bedeutung, indem er einerseits ihre zivilisatorische Spätphase einschließt, andererseits aber gegen die nachkulturelle, angeblich kulturlose Zivilisation abgegrenzt wird. Zum dritten ist damit auch der Begriff der Geschichte ambivalent, weil er auch für das Geschehen in der Nochnicht-Geschichte und das in der Nicht-mehr-Geschichte verwendet wird und verwendet werden muß. Spengler spricht hier von »Scheingeschichte« (UA. II 60, 130), von »geschichtslosem Geschehen« ohne innere Ordnung. Zivilisation ist mithin eine Endzeiterscheinung (UA. I 51), die vor dem Kulturtod einsetzt und ihn überdauert. Endzeit ist ein Ende, aber hat kein Ende. Spengler bietet uns stattdessen das Bilde eines abgestorbenen Baumes, der noch Jahrhunderte stehen kann, bevor ein Sturm ihn umreißt (UA. I 143). Tatsächlich habe ja alle Völker, die eine Kulturblüte erlebt haben, diese als Zivilisation überdauert. Es gibt keinen Konfuzius mehr, keinen Ramses, keinen Platon ; aber Chinesen, Ägypter und Griechen gibt es sehr wohl noch. Sie alle hatten und haben für uns noch Geschichte, aber die bleibt für Spengler kulturhistorisch belanglos.
3. Zivilisation ist Zoologie
Für Spengler ist der Übergang von der Kultur in die Zivilisation der Rückfall aus der Geschichte in die Zoologie (UA. II 60). Das Geschehen, das zuvor einer streng gesetzlichen »organischen Logik« gehorchte, wabert und wuchert nun ohne innere Ordnung. Was jetzt noch an Geisteswerken geschaffen wird, ist nicht mehr an einen Zeitstil gebunden. Es herrscht der Stil der Stillosigkeit. Es gibt nur noch kurzfristige Moden. Spengler kommt von der Kunstgeschichte her, der Stilbegriff wird auf alle kulturellen Produkte angewandt, auch auf die Mathematik, die Wirtschaft und die Politik. Die Kunst jeder Zivilisationsphase sieht Spengler modellhaft in der nachklassischen Antike vorgeprägt. Sie ist gekennzeichnet durch Historismus und Eklektizismus, durch krampfhafte Originalität und exzentrische Effekthascherei. Massenweise wurden in Rom griechische Kunstwerke kopiert, industriemäßig und mit hoher technischer Perfektion. In der spätgriechischen Plastik werden Kranke, Krüppel und Betrunkene kunstwürdig, das Häßliche wird dargestellt. Plinius (NH. XXXV 112) erwähnt Rhyparographen, Schmutzmaler, sie stellen das Gewöhnliche, Dreckige dar. Das war etwas Neues. Um 200 n. Chr. wurde das Wort Pornographie erfunden ; Athenaios (567 b) bezeichnet damit Malerei seiner Zeit. In Rom stellt der Brotfabrikant Eurysaces seine Urne in einen überdimensionalen Backofen aus
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Marmor an die Gräberstraße vor der Porta Maggiore. Hier baute sich der Prätor Cestius sein Grab in Form einer Pyramide. Das ist antikes Multikulti. Derartiges hat Spengler im Auge, wenn er die Kunst seiner Zeit als »zivilisatorisch« abtut. Spengler vermeidet das Wort »Dekadenz« und wehrt sich dagegen, Pessimist zu sein (RA. 63 ff.). Er sieht sich als Realist, respektiert aber einen qualifizierten, einen »heroischen Pessimismus«. Optimismus sei Feigheit (MT. 88). Sein Bekenntnis zur modernen Technik wirkt etwas gewollt und ist rein ästhetisch, er bewundert einen zeitgenössischen Ozeandampfer so wie eine barocke Madonna, völlig losgelöst vom Gebrauchswert. In einer geradezu zyklopischen Einäugigkeit übersieht Spengler die zivilisatorischen Fortschritte in der Medizin und der Hygiene, die Verbesserungen im Verkehrs- und Nachrichtenwesen, in Versorgung und Versicherung und den gehobenen Lebensstandard überhaupt. All das wird als nicht geschichtswürdig banalisiert und bagatellisiert. Alles, was dem Wohlbefinden, dem Behagen dient, ist für Spengler verächtlich, plebejisch. So denken die letzten Menschen und blinzeln. Spenglers Vorstellung der Zivilisation ist unterkühlt bis frostig. Daher hat man ihn den Kulturkritikern zugerechnet, die ja stets im Sinne Spenglers nur Zivilisationskritiker sind. Fraglos gehört Spenglers Liebe der sterbenden oder schon gestorbenen Kultur. Aber an deren Wiederbelebung oder nur Lebensverlängerung, die doch stets das Anliegen der konservativen Kulturkritiker war und ist, daran hat er nie gedacht. Er war Fatalist. Den Fatalismus versteht er als typische Spätzeitphilosophie und bekräftigt das durch seinen Schlußspruch, ein Zitat des Spätzeitphilosophen Seneca (ep. 107, 11) : Ducunt fata volentem, nolentem trahunt – »Das Schicksal führt dich, wenn du freiwillig folgst ; es zwingt dich, wenn du unwillig bist.« Es hat keinen Sinn, den Schicksalsgang der Kultur hemmen oder ändern zu wollen, man hat ihn stoisch hinzunehmen.
4. Wirtschaft, Technik, Politik
Der Untergang des Abendlandes war der Übergang von der Kultur zur Zivilisation, nicht der Untergang der Abendländler. Europa lebt, Deutschland zumal. Gibt es auch keine hohe Kultur mehr, keine große Kunst, keine echte Geschichte, so gibt es doch noch Wirtschaft und Technik, Krieg und Politik. Spengler erhebt Forderungen an die Innenpolitik und hegt Erwartungen bezüglich der Außenpolitik, die Weltgesellschaft betreffend. Die Industriestaaten stehen im Zeichen der im Abendland entwickelten Maschinen. Die Maschinentechnik wird von Spengler geradezu dämonisiert, sie dient nicht, sondern herrscht und bestimmt das Denken und Handeln der Arbeiter und der Unternehmer. Sie alle sind »Sklaven, nicht Herren der Maschine«. Der Ingeni-
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eur ist der »Priester der Maschine«. Spengler schreibt, »Marx hat ganz recht« (UA. II 628), der ja die Abhängigkeit des Schöpfers vom Geschaffenen, sozusagen die Emanzipation des Werkzeugs mit dem Bild vom Zauberlehrling erläuterte. Der »Satanismus der Maschine« zeigt sich einerseits in ihrer Faszination bei der »Auslese des Geistes« und andererseits in ihrem »faustischen« Expansionsdrang, der die Umwelt ruiniert. Die Wälder verschwinden, unzählige Tierarten werden ausgerottet (MT. 78). »Die Natur wird erschöpft, der Erdball dem faustischen Denken in Energien geopfert« (UA. II 626 f.). Das geht so lange weiter, bis der Rationalismus eines Tages wieder in Mystik, die »zweite Religiosität«, zurückfällt, wie in der Spätantike das »Heil der Seele« den Christen wichtiger war als die Wahrung oder Steigerung des Lebensstandards. Spenglers zyklisches Denken zeigt biologistische Züge, wenn er damit rechnet, daß die intellektuelle Energie der Abendländer irgendwann erlischt, da ja schon die wissenschaftlichen Leistungen der Griechen im Hellenismus und die der Araber im Spätmittelalter erlahmt und erloschen sind. Die von Europa inspirierten technischen Leistungen der Japaner sind so wie ihre von China angeregte Kunst für Spengler nur Zeugnisse einer »Mondlichtzivilisation« (UA. II 129). So erscheint auch am Horizont der Universalzivilisation der Fundamentalismus. Dann endlich, so dürfen wir hoffen, wäre die von der und für die Maschinentechnik so schamlos ausgebeutete Natur gerettet.
5. Geld- oder Volksherrschaft ?
Die Maschinenindustrie ist die Quelle des Reichtums, verkörpert im Geld. Auch das Geld wird bei Spengler dämonisiert, man könnte auch sagen : vergeistigt. Denn es besteht ja nicht mehr aus griffigen Gold- und Silbermünzen, sondern aus bloßen Zahlen auf Konten, aus Punkten in Börsenberichten. Die Arbeiter mögen so tüchtig sein wie immer, die Fabrikanten so gewissenhaft wie sonst, die Waren mögen so gut, der Bedarf so groß gewesen sein wie eh und je – wenn die Börse kümmert oder kracht, geht die ganze Wirtschaft zu Boden (UA. II 499). Ein bloßes Zahlenspiel entscheidet über den Lebensstandard von Millionen. Das Geld wird von Spengler personifiziert. Es ist nicht nur etwas, sondern tut auch etwas. Es schafft eine Schicht von Besitzenden, von Großkapitalisten, können wir sagen, die anstelle des alten Geburtsadels einen neuen Geldadel darstellen und die Herrschaft übernehmen. Die ausrangierte Aristokratie weicht einer zeitgerechten Plutokratie. Sie dekoriert sich schamhaft mit dem Begriff »Demokratie« ; Volksherrschaft ist Geldherrschaft, denn Demokratie ist laut Spengler nichts als die »vollendete Gleichsetzung von Geld und politischer Macht« (UA. II 498 ; 603).
Cäsarismus
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Das Instrument der Herrschaft ist die öffentliche Meinung in der leichten Schattierung der Programme etablierter Parteien. Der Volkswille ist laut Spengler reine Manipulation. Sie erfolgt durch die Presse, die Stimme der Pressezaren. Spengler nennt Northcliffe auf englischer Seite, Hugenberg auf deutscher. Die Zeitung war das Medium der Meinungsmache zu Spenglers Zeiten. Es sei die Stimme der Besitzer (UA. II 501), nicht die der Öffentlichkeit. Das Palladium der Pressefreiheit habe seinen Sinn verkehrt. »Ein Demokrat vom alten Schlage würde heute nicht Freiheit für die Presse, sondern von der Presse fordern.« Aber inzwischen gehörten die Parteiführer zu den »Angekommenen«, die ihre »Stellung gegenüber der Masse« durch die Publizistik sichern müssen (UA. II 573).
6. Die Großstadt
Das Schicksal der Zivilisation entscheidet sich in den Großstädten der Spätzeiten. Denn das sind die Geldplätze, da sitzt die Macht, da entsteht die öffentliche Meinung, da spielt die Musik. Gab es je eine Börse auf einer Burg, in einem Kloster, auf einem Dorf ? »Am Anfang jeder Zivilisation«, heißt es, »entwickelt sich eine Intensität des Wirtschaftslebens« (UA. II 594), sichtbar am Wohlstand der Großstädte. Alexandria und Rom in der Kaiserzeit bieten die Parallele zu Paris, London und Berlin. Das Schlagwort lautet heute wie damals bei Juvenal (X 81) panem et circenses ( UA. II 222), wir wollen »Brot und Spiele«, damals Wagenrennen, heute Fußball. Das Familienleben verkümmert. Gegen die Kinderlosigkeit suchte Augustus mit Gesetzen vorzugehen ; Spengler, selbst ehe- und kinderlos, schrieb 1927 das Vorwort zu einem Buch gegen den Geburtenrückgang in Deutschland. Die Gesellschaft in den modernen Industriestaaten ähnelt der im römischen Kaiserreich, der Begriff »Proletarier« meint die römische Unterschicht. Spengler spricht vom »Kultus der Wissenschaft, des Nutzens, des Glücks« von einer durchweg »materialistischen Weltanschauung«. Es werde »ein vollkommen seelenloser Amerikanismus zur Herrschaft gelangen« (Briefe 29).
7. Cäsarismus
Die von den Großstädten getragene Demokratie ist für Spengler momentan zeitgemäß, aber nicht die letzte Form innerstaatlicher Machtverteilung. Denn irgendwann schlägt sie um in den Cäsarismus. Denn es kommt zu Parteikämpfen, in denen sich der Stärkste durchsetzt. Spengler denkt hier wie Platon, der in seiner ›Politeia‹ den Verfassungskreislauf beschreibt und den Umschlag der Demokra-
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tie in die Tyrannis konzipiert, nachdem das schrankenlose Freiheitsbegehren der Einzelnen zum Anarchismus führt, bis ein starker Mann wieder Ordnung schafft. Dann kommt es ganz und gar darauf an, wer das sein wird. Platon wollte aus Dionysios einen Philosophenkönig machen, aber der blieb ein Tyrann. Spengler hoffte auf einen neuen Caesar, statt dessen kam Hitler. Hitler bemerkte einmal, daß die Weltwirtschaftskrise, ausgelöst durch jüdische Bankiers, ihm die Wähler zugetrieben habe. Die Not ruft nach dem Retter. Er kann so volkstümlich sein, daß er als Verkörperung des Volkswillens erscheint. Julius Caesar ist das Muster. Der liberale Mommsen nennt den Dictator auf Lebenszeit Caesar 1857 einen Demokraten, einen Demokratenkönig (RG. III 1909, 476, 488). So sah ihn auch Mussolini (Christ 1993) ; Spengler aber unterschied Sein und Schein. Er konzedierte der Demokratie unter den Cäsaren nur die Funktion einer Fassade. Als solche bliebe die Demokratie erhalten (PS. 145). Damit beantwortet sich auch die bange Frage, was nach der Demokratie komme. Angesichts der Konjunktur dieses Zauberwortes dürfen wir vermuten, daß so wie heute auch künftig alle Systeme der Weltgesellschaft sich als demokratisch bezeichnen werden, ganz gleich, wer die Macht hat und worauf sie beruht. So wie Mommsen selbst den Vereinigten Staaten einen Cäsarismus prophezeite (RG. III 1909, 478), erwartete auch Spengler den Umschlag der »Diktatur des Geldes« in den Cäsarismus (UA. II 628). Er glaubte, daß die Macht des Geldes durch die Macht der Persönlichkeit überwunden werde, daß nicht den Wirtschaftsbossen, sondern den Volkshelden die Zukunft gehöre und gebühre.1922 sah das so aus. Spengler schwärmte für Mussolini, aber nicht für Hitler, der ihm zu proletarisch daherkam. Es ist völlig unbegreiflich, wie man Spengler mit Armin Mohler zu den Konservativen rechnen kann. War Mussolini konservativ ? Spengler offenbart eine gewisse Inkonsequenz, je nachdem er den Cäsarismus historisch oder politisch betrachtet. Bei den Bürgerkriegen der römischen Kaiser spricht er von den »negerhaften Kämpfen« um die Macht (UA. II 60 f.), bei denen es völlig gleichgültig war, wer gewinnt und sich behauptet. Pescennius Niger wäre ebenso gut gewesen wie Septimius Severus, aber Hitler ist für Spengler nicht ebenso gut wie Mussolini. In der Politik unterscheidet Spengler zwischen den Cäsaren.
8. Fellachentum
Die innenpolitische Lage in den Staaten der zivilisierten Welt kennzeichnet Spengler durch zwei Begriffe, durch Cäsarismus und Fellachisierung. Diese beiden Merkmale sind nicht so leicht vereinbar, denn Cäsarismus setzt Militanz voraus, Fella-
Weltherrschaft ?
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chentum hingegen Kriegsmüdigkeit, ideologisch gefaßt : Pazifismus. Vor Augen hat Spengler hier die Landarbeiter des nachpharaonischen Ägypten, arabisch die fellahin, die »Pflugbauern« (UA. II 202 ; 222 ff.). Nachdem die Streitwagen von Ramses nach Nubien, Libyen und bis ins obere Mesopotamien gerollt waren, wurde das Niltal seit dem 7. Jahrhundert ein Opfer wechselnder, zuletzt britischer Fremdherrschaft. Ägypten war aus einem Subjekt zu einem Objekt der Geschichte geworden. Das Volk war zu keiner politischen Selbstbestimmung, keiner Selbstverteidigung mehr fähig oder willens. Das Ende dieser Apathie 1945 hat Spengler nicht mehr erlebt. Er hätte es zurückgeführt auf den bei den Briten erschlafften Willen zur Macht. Ganz ähnlich war Griechenland nach seiner klassischen Glanzzeit seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. ein politisch-militärisches Vakuum, in der Römerzeit nur noch ein Ziel für Touristen, so wie Ägypten. Sodann Italien, einst das Machtzentrum der Mittelmeerwelt, war seit der Völkerwanderung ein politisches Loch, in das Goten, Langobarden, Araber, Deutsche, Franzosen, Spanier, Schweizer und Österreicher einströmten und Besitz ergriffen. Das in diesen Ländern von Spengler diagnostizierte Fellachentum läßt sich mit dem spätrömischen Cäsarismus verbinden, da die Legionen längst aus den Provinzen rekrutiert wurden und zunehmend durch germanische Söldner verstärkt wurden. Zum letzten Mal hat Marc Aurel ausnahmsweise eine Legion in Italien ausgehoben ; die Zeugnisse für die Wehrdienstverweigerung beginnen unter Augustus. Bei Fellachenvölkern wie bei Urvölkern gibt es für Spengler nur ein »zoologisches Auf und Nieder, ein planloses Geschehen«, keine »Weltgeschichte« (UA. II 204).
9. Weltherrschaft ?
Betrachten wir nun das zwischenstaatliche Verhältnis der Industrienationen in der laut Spengler soeben begonnenen Zivilisationsperiode, so zeigt sich ein schleichender Übergang ins Fellachentum. Zwar ist der Herrschaftswille gegenüber den Kolonialvölkern dahin, doch treibt die Rivalität zwischen den Nationen zum Kampf um die Weltherrschaft. Ihn prognostiziert Spengler in seiner Schrift von 1933 ›Jahre der Entscheidung‹. Das Buch erschien im August, im November waren 125 000 Exemplare verkauft (Rebenich 302). Spengler sieht sich im »Zeitalter der Weltkriege«, ja, »vielleicht schon dicht vor dem zweiten Weltkrieg« (JE. XI ; 16) ; ihn fürchtet er nicht, denn »einen langen Frieden erträgt niemannd« (JE. 11). Die Welt werde »umgeschaffen« wie damals durch das »beginnende Imperium Romanum«, nun aber angesichts der global verbreiteten Zivilisation auf dem ganzen Planeten zum Imperium mundi (41). Friedensbemühungen sind für Spengler Vorboten des Fellachentums, so der »Völkerbund, dieser Schwarm von Sommerfrischlern, die
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am Genfer See schmarotzen« (JE. 11). Krieg ist für die alles bestimmende Wirtschaft unvermeidlich. Es beginnt mit dem »Kampf um Absatzgebiete und Rohstoffquellen der Industrie, darunter in steigendem Maße um die Ölvorkommen«, unentbehrlich für die Verkehrstechnik, denn die Kohle gehe zu Ende (JE. 35). Es folgt der Kampf um die Hegemonie. Das »große Spiel der Weltpolitik ist nicht zu Ende« (JE. VII). »Wessen Schwert hier den Sieg erficht, der wird Herr der Welt sein. Da liegen die Würfel des ungeheuren Spiels. Wer wagt es, sie zu werfen ?« (JE. 57 ; 165). Er denkt an Caesar am Rubikon, alea iacta sit.
10. Großdeutschland !
Spengler erörtert die möglichen Kandidaten für die künftige Weltmacht. England und Frankreich hätten ihre große Zeit hinter sich. Italien und Japan kämen nur als Regionalmacht in Frage, für den Mittelmeer-Raum und Ostasien respektive. Das immense Potential Rußlands und der USA zumal scheint ihm auch nicht ohne weiteres aktivierbar. Er blickt auf die möglichen Teilnehmer am »Würfelspiel um die Weltherrschaft« und fragt : »Sollen nicht auch Deutsche darunter sein ?« (JE. 57). Eine rhetorische Frage ; sie stellen, heißt : sie bejahen. Schon als Gymnasiast entwarf Oswald mit »napoleonischer Phantasie« ein Großreich Afrikasien mit der Hauptstadt Berlin, träumte dann von einem »Großdeutschland« zwischen Atlantik und Pazifik, dessen 85-jährige Geschichte er erfand, kulminierend in der Proklamation Wilhelms II am Reichsgründungstag, dem 18. Januar 1894 : »Aus dem Deutschen Reiche ist ein Weltreich geworden« (K. 29 ff.). Die Niederlage von 1918 wird von Spengler begrüßt. Sie sei die mildeste Form gewesen, das Notwendige zu erleiden, ein schmerzhaftes, aber heilsames Lehrstück für die Vorbereitung auf die kommenden Kämpfe. 1924 erläuterte er den Würzburger Studenten die »Politischen Pflichten der deutschen Jugend« (PS. 127 ff.). In dem immer härter werdenden Ringen um Weltgeltung sollten die jungen Männer die Gesetze der Wirtschaft studieren und sich der praktischen Politik widmen. Spengler fordert Erziehung zum Haß auf Deutschlands Feinde und zur Opferbereitschaft für den nationalen Führer und Retter, den alle erhofften. Während die anderen Nationen auf dem Abstieg ins Fellachentum schon weit fortgeschritten seien, die »Verschweizerung« (JE. 131) Europas fortschreite, hätten wir als das »jüngste und unverbrauchteste unter den Völkern Europas« noch die Chance und die Aufgabe, eine »geschichtliche Rolle zu spielen« (JE. 162). Wenn Spengler die Deutschen als die »letzte Nation des Abendlandes« bezeichnet (UA. II 129), meint er die einzige Nation, die noch politisch handeln kann. Der Weg führt nach unten,
Die Farbige Weltrevolution
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während Helmuth Plessner 1935 beziehungsweise 1959 mit seiner These von der »verspäteten Nation« an einen Weg nach oben dachte. Die »geschichtliche Rolle«, die Spengler den Deutschen zuwies, hat er 1933 als Kampf um die Weltherrschaft näher bestimmt. Die Nationalsozialisten mögen sich angesprochen gefühlt haben. Aber Spengler verhöhnte ihre »Luftschlösser« und übersandte Hitler gleichwohl ein Widmungsexemplar. Spenglers Einwendungen gegen den Rassegedanken der Antisemiten (JE. 157) beruhten gewiß nicht allein darauf, daß er selbst jüdische Vorfahren hatte. Die Warnung vor einem Angriff aus Rußland (JE. 44) lehrte ihn die Erinnerung an Napoleon, der Hohn auf die Idee eines Dritten Reiches nach Joachim von Fiore (JE. 98) entsprach dessen Unglauben an einen ewigen Frieden. In einem Einparteienstaat sei die Partei keine Partei mehr, den totalen Staat hätten einst die Jakobiner verwirklicht (JE. 131 f.). Quod absit !
11. Die Farbige Weltrevolution
Der künftige Kampf um die Weltherrschaft ist für Spengler nicht das Ende der kulturlosen Geschichte in der Zivilisationsphase. Er blickt darüber hinaus. Dieser Kampf wird ja ausschließlich unter den Weißen, unter den Industrienationen geführt. Gibt es nicht auch noch die Afrikaner und die Asiaten ? Spengler nennt sie die »Farbigen«, so wie wenn weiß keine Farbe wäre. Äthiopier und Neger sind dunkelhäutig, Japaner und Chinesen sind aber nicht gelb ; gelb sind, besser : waren nur die Mäntel der Mandarine. Die Formel von der »gelben Gefahr« geht zurück auf den französischen Soziologen Jacques Novikow mit seiner Schrift von 1897 Le péril jaune, aufgegriffen in England als The Yellow Danger oder The Yellow Peril, in Deutschland verkündet durch Kaiser Wilhelm II schon vor dem Boxeraufstand. Spengler beschwor die Drohung aus der Dritten Welt zunächst im Hinblick auf die Wirtschaft angesichts der Billiglöhne und der Verlagerung nicht nur deutscher Arbeitsaufträge nach China und Indien. Darin sah er eine Ursache für die Massenarbeitslosigkeit seiner Zeit und der Zukunft. Darüber hinaus aber fürchtete er eine politische Gefahr für die gesamte westeuropäisch-amerikanische Zivilisation. Der letzte Kampf sozusagen ist nicht der um die Hegemonie, nicht ein Ost-West-Konflikt, sondern das ist der Nord-Süd-Konflikt. Dem Kampf der Industriemächte um die Hegemonie folgt der Kampf der ehemaligen Kolonialvölker gegen die Industriemächte. Spengler erwartet die »Farbige Weltrevolution« (JE. 147 ff.). Die Völker der Dritten Welt erheben sich und bedrohen unter der Führung »weißer Abenteurer« die so viel wohlhabendere Erste Welt der ehemaligen Kolonialherren, die zwar ökonomisch reich, aber politisch müde geworden sind (JE. 28), so wie das späte Rom gegen die Barbaren nicht mehr abwehrfähig, nicht mehr abwehrbereit
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war. Die Römer waren fromm und friedlich geworden, reich an Gütern, arm an Kindern ; die Barbaren aber waren arm an Gütern, reich an Kindern, alle Männer waren Krieger. Kritisch bemerkt Spengler : »Die Farbigen sind nicht Pazifisten« (JE. 164). Ewigen Frieden gibt es nicht, »denn der Mensch ist ein Raubtier« (MT. 14). Der Ausgang bleibt offen. Kulturphilosophisch aber ist das nach dem Untergang des Abendlandes belanglos, die Weltgesellschaft ist für Spengler ohne Interesse.
Omnibus veris falsa quaedam adiuncta.
Cicero
XIII. Was bleibt von Spengler ?
Im ersten Satz seines Werkes präsentiert sich Spengler als Prophet. Es geht um die Zukunft des »Abendlandes«. Wer nun fragt : »Was bleibt von Spengler ?«, der antwortet ebenfalls als Prophet, diesmal über die Zukunft des ›Untergangs‹, des spenglerschen Buches. Spengler bezeichnet sein Vorhaben bescheiden als »Versuch«, dessen Gelingen er freilich als gewiß voraussetzt. Ein Versuch, das Dauerhafte an Spenglers Werk herauszufiltern, kann dagegen des Gelingens nicht gewiß sein. Hier hilft nur die Immunisierungsklausel, die auch Spengler einbaut, wenn er fragt, »für wen« es Geschichte gibt (UA. I 10) und damit einräumt, daß auch er selbst nicht für jedermann Einsichtiges schreibt. Sein Relativismus gilt nicht nur für die (objektive) Geschichte, sondern ebenso für die (subjektive) Historie, soweit sie philosophischen Charakters ist. Philosophische Positionen leuchten nicht allen Sachkundigen und Gutwilligen ein, sind nicht für jedes Gehirn gemacht. »Für andere Menschen gibt es andere Wahrheiten« (UA. I 32). Und so hängt auch das, was von Spengler bleibt, davon ab, was bei Späteren Interesse und Zustimmung findet. Dies zumindest kann man prophezeien.
1. Formen der Rezeption
Leser von geschichtsphilosophischen Werken lassen sich in drei Rubriken einteilen. Die erste Gruppe ist vom jeweiligen Autor fasziniert. Das sind die Kantianer und die Hegelianer, die Marxisten und die Darwinisten. Es gibt aber auch die Spenglerianer. Sie kennen die Schriften ihres Meisters sehr gut, sind überzeugt, daß er recht hatte, und bilden eine Art Gemeinde. Die Anhänger Spenglers sind zahlreicher als es scheint, da sich um den engeren Kreis, der sich zu ihm bekennt, ein breite Grauzone von Leuten legt, die mit ihm sympathisieren oder doch von ihm profitieren, indem sie seine Begriffe benutzen, seine Kerngedanken übernehmen, aber sich scheuen, Spenglers Namen zu nennen. Zu letzteren zählt Sigmund Freud, der in der Kulturentwicklung einen »organischen Prozeß« sah, analog zum »Entwicklungsgang des Individuums«. Freud spricht vom »Altern der antiken Kultur« gemäß der »Geschichtsschreibung unserer Tage«. Zivilisa-
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tion fordere Triebverzicht und führe zur Kinderlosigkeit, ja zum »Erlöschen der Menschenart«.1 Die zweite Gruppe besitzt dagegen lediglich ein wissenschaftliches Interesse an dem betroffenen Philosophen. Ob er recht hatte, das lassen sie dahingestellt oder bestreiten es gar. Soweit sie sich mit Spengler befassen, untersuchen sie seine Quellen, seine Argumentationsweise und seine Wirkung. Als Zeugnis für den Zeitgeist der Zwanziger Jahre bleibt Spenglers Werk gewiß von bleibendem Interesse. Diese Leser bilden eine Diskussionsgemeinschaft, ein Zitierkartell. Die dritte Gruppe besteht aus Individualisten. Sie teilen mit den Enthusiasten der ersten Gruppe den Wunsch nach einem Weltbild, ohne sich mit dem Autor zu identifizieren. Mit der zweiten Gruppe, den Interessierten, haben sie die innere Distanz gemeinsam. Doch bleiben sie darin nicht stehen, sondern wählen und prüfen die einzelnen Thesen auf ihre sachliche Überzeugungskraft, um das Tragfähige herauszunehmen und als Baustein für das eigene Geschichtsbild zu verwenden. Die Werke der Großen werden von ihnen als Steinbruch benutzt. Sie sagen mit Novalis : »Man studiert fremde Systeme, um sein eigenes System zu finden.« Dieses letztere Verfahren ist dem Vorwurf des Eklektizismus ausgesetzt. Darf man eine monolithische Theorie wie die von Kant und Hegel, von Marx und Spengler einfach auseinandernehmen und plündern ? Ein kunstvolles Gedankengebäude als reine Materialbasis mißbrauchen ? Das könnte ein Spätzeit-Symptom sein. Wem käme hier nicht die spätantike Architektur in den Sinn, als die frühchristlichen Kirchenbaumeister bedenkenlos von Säulen und anderen Spolien aus heidnischen Tempeln und Palästen Gebrauch machten, weil sie sparen wollten oder außerstande waren, Gleichwertiges selbst zu schaffen ? Die Unterscheidung zwischen eklektischen und monolithischen Theorien ist nun aber weniger scharf, als die Begriffe dies unterstellen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, daß jede philosophische Theorie, jede religiöse Lehre, vielleicht sogar jedes Kunstwerk aus mehreren Wurzeln zusammengewachsen, aus Elementen verschiedenen Ursprungs zusammengesetzt ist. Der Vorwurf des Synkretismus ist so gut wie immer berechtigt und darum eigentlich unberechtigt. Die Verwendung älterer Materialien an sich kann nicht beanstandet werden, sonst hätten wir auch keine Odyssee, keine Divina Commedia, keinen Faust. Zu verlangen ist allein, daß die Bearbeitung originell und harmonisch ausfällt ; das Mosaik muß wiederum ein Ganzes bilden und aus der gebotenen Distanz einen in sich geschlossenen Eindruck erzeugen. Indem ich mich in derart eklektischer Absicht den großen Geschichtsphilosophien nähere, haben sie mir alle etwas zu bieten, die eine weniger, die andere mehr, auch wenn mich keine in allen Teilen zu überzeugen vermag. 1 Freud 1986, 228 ; 249 ; 266 ; 285 ; 579.
Formen der Rezeption
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Unser eigenes Weltbild ist ebenso heterogen wie die Quellen es sind, aus denen es stammt. Hier das exemplum auctoris : Bei Kant beeindruckt mich die Idee vom »Keim der Aufklärung«, den er durch die Zeiten wachsen sieht, auch wenn es vorübergehende Phasen des Stillstands und der Rückbildung gegeben hat. Denn sobald die hemmenden Faktoren überwunden waren, konnte man auf dem einmal erreichten Stand weiterbauen, ohne wieder ganz von vorne beginnen zu müssen. So konnten die Humanisten über die dunklen Zeiten des Mittelalters hinweg an die antiken Autoren anknüpfen und auf dem damals erreichten Forschungsstand weiterarbeiten. Ebenso wie Kant, und anders als Spengler schwebt mir als wünschenswertes Ziel der Geschichte eine Allianz republikanischer Staaten vor ; wie Kant entnehme ich den erreichten Fortschritten in Wissenschaft und Umgangsformen die Gewißheit, daß es sich lohnt, die Bemühungen darum fortzusetzen. Bei Hegel inspiriert mich der Gedanke vom Fortschritt der Freiheit, von der wachsenden Autonomie des Individuums gegenüber den gesellschaftlichen und geistigen Zwängen. Auch dieser Prozeß verlief nicht glatt, wer könnte das auch erwarten ? Wenn ein Extrem das Gegenextrem herausfordert, bis die Bewegung sich einpendelt, könnte das Hegels Idee der Dialektik bestätigen. Was Hegel als Wanderung des Weltgeistes faßt, erscheint in Klartext die Abfolge der kulturellen Führungsposition vom Alten Orient zu den Griechen, den Römern und weiter nach Westeuropa, von dort einerseits nach Eurasien und andererseits über den Atlantik. Die Kulturträger Islam, Indien und Fernost sind von Hegel indessen fraglos unterbewertet worden, hier teile ich die eher positive Einschätzung Spenglers. Marx ist in Mißkredit geraten durch seine Adepten. Gewiß kann man ihn nicht völlig freisprechen von dem, was in seinem Namen geschehen ist ; das aber ändert nichts daran, daß er mißbraucht worden ist. Durch einseitige Verwendung von Ideen kann man das Bild jedes Denkers verfälschen, so wie das Nietzsche und Spengler widerfahren ist. Was Marx treffend beschrieben hat, ist der soziale Aufstieg der Unterschichten, die gleichwohl dauernde Spannung zwischen Arm und Reich, die fortschreitende Beherrschung der Naturkräfte, der Fetisch-Charakter der Ware und der dämonische Charakter des Kapitalismus, dessen unersättliche Profitgier wir täglich erleben. Die von Marx beschworene Gegenkraft einer sozialen Solidarität ist ernst zu nehmen. In der Kulturphilosophie erinnert er zu Recht an die Bedeutung der ökonomischen Basis, die den Überbau allerdings nicht bestimmt, wohl aber trägt.
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2. Was heißt »Untergang« ?
Nun zu Spengler ! Selten ist es einem Autor gelungen, bereits im Titel seines Buches die Quintessenz auszusprechen. Die Formulierung ›Der Untergang des Abendlandes‹ enthält schon das gesamte Programm, an Prägnanz nur erreicht von Theodor Lessings Buch ›Die Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen‹, etwa gleichzeitig mit Spenglers ›Untergang‹ entstanden, und als Gegengewicht zu verstehen. Beide Autoren sind Pessimisten, wenn auch auf sehr unterschiedliche Art. Spenglers heroischer Pose setzt Lessing eine kritische Bloßstellung entgegen, die Geschichtsbilder als Projektion und Konstruktion entlarven will und eine Zerreißprobe darstellt, der eine Theorie standhalten muß, wenn sie überzeugen will. Ich wende sie auf Spengler an, ohne mich damit abzugeben, welche der im folgenden besprochenen Thesen geistiges Eigentum Spenglers ist oder welcher er bloß Gehör verschafft hat. Ich beginne mit der zentralen These, eben dem Untergang des Abendlandes. Ist er zu erwarten ? Wie wird er aussehen ? Hat er am Ende schon stattgefunden ? Die Anregung zu seinem Titel verdankt Spengler dem Werk von Otto Seeck : ›Geschichte des Untergangs der antiken Welt‹, zuerst erschienen 1895. Es liegt nahe, nicht nur die Titel, sondern auch die Phänomene zu parallelisieren. Seit Francis Bacon wird mit dem Gedanken gespielt, der eigenen Kultur könne etwas ähnliches bevorstehen, was der Antike zugestoßen ist. Schon Bacon bringt 1625 eine Kreislauftheorie, wonach in der Jugend eines Volkes das Waffenwerk blühe, in der Mitte die Literatur und im Greisenalter herrsche das Interesse an Technik und Kommerz, die artes mechanicae et mercaturae, das was bei Spengler dann Zivilisation heißt. Die Dominanz der Ökonomie hat Bacon wie viele vor und nach ihm mit Luxus und Erschlaffung verbunden, die er im Niedergang Roms, in declinatione imperii Romani erblickte, so daß Rom zur Beute der Barbaren werden konnte. Dieses Denkmuster finden wir dann auch bei Edward Gibbon : Die dekadenten Römer suchen ihr Heil im Christentum und werden zum Opfer der Germanen. Eine solche Parallele zwischen dem Ende der Antike und dem Abtreten Europas ist vor und nach Spengler sehr häufig gezogen worden. Spengler aber zieht sie nicht, genauer : so nicht. Entgegen der communis opinio, die den Untergang der Alten Welt in die Spätantike verlegt, erblickt Spengler in der Völkerwanderung des 5. Jahrhunderts nur ein Epiphänomen der von ihm sogenannten magischen Kultur des ersten Jahrtausends n. Chr. Das Ende der Antike verbindet Spengler bereits mit Augustus. Damals habe der Übergang von der Kultur in die Zivilisation stattgefunden. In den Großstädten des Kaiserreiches mit ihrer hektischen Gier nach Wohlstand und Lebensgenuß, nach panem et circenses habe sich die schöpferische Kraft der Griechen und Römer ausgelebt. Die Kunst befriedigt nur noch das Sen-
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sationsbedürfnis, Literatur und Theater degenerieren zur Unterhaltungsindustrie, die Politik ist kein Ausdruck kulturellen Stilwillens mehr, sondern purer Machtkampf, Imperialismus im Dienst von dolce vita. In seinem Aufsatz ›Pessimismus ?‹ von 1921 kritisiert Spengler jene Leser, die beim Untergang einer Kultur an den Untergang eines Ozeandampfers denken, an eine Katastrophe also wie den Untergang der Titanic 1912. Aber mußten die Leser das nicht ? So wie die Titanic in rauschender Ballnacht auf den Eisberg stieß, so schlitterte Europa 1914 frisch-fröhlich in den Ersten Weltkrieg, dessen Ausgang Spenglers Leser als Signal für den Untergang des Abendlandes empfanden. Dieses Mißverständnis hat Spengler provoziert und suchte es nun zu korrigieren. Er durfte die Titanic als Symbol des zivilisatorischen High Life selbst dann als Fanal des Kulturtodes im strengen Sinn verstehen, wenn sie nicht untergegangen wäre. Auch mit der Pax Augusta beginnt ja das süße Leben ; ein »Untergang«, den außer einigen Altrömern niemand als solchen empfunden hat. Und jene Altrömer um Tacitus betrauerten nicht das Ende der antiken Kultur, sondern das der mores maiorum, den Sittenverfall, und den Abgang der libera res publica, genauer : den Verlust ihrer senatorischen Standesprivilegien. Spengler meint mit der dramatisierenden These vom Untergang des Abendlandes ganz etwas anderes : das Erlöschen der kulturellen Potenz. Sie ist nicht ohne weiteres ersichtlich. Aus der Frage, ob Spengler recht hatte, wird die Frage, ob wir ein Recht haben, unserer Zeit und unserer Zukunft die von Spengler behauptete Geistlosigkeit zu attestieren. Friedrich Meinecke sprach in seiner Spenglerkritik eher umgekehrt von einer »Übersäftigkeit«, von tropisch wucherndem kulturellen Wildwuchs. In jedem Falle denken wir beim Wort »Untergang« im Hinblick auf die Antike an den Einbruch von Barbarenhorden und einen Zusammenbruch der Institutionen. Davon aber sind wir wohl noch ein Stück weit entfernt.
3. Kultur versus Zivilisation
Spengler unterscheidet zwischen Kultur und Zivilisation. Diese Trennung findet sich der Idee nach schon 1784 bei Kant und hat sich im deutschen Sprachgebrauch eingebürgert. Wenn wir – wie unvermeidlich – darüber klagen, daß der Staat zu wenig für die Kultur tue, so denken wir an die Museen und die Theater, an Schulen und Universitäten. Wir denken nicht an Straßen und Wasserleitungen, an Hospitäler und Elektrizitätswerke. Hier handelt es sich um äußere Güter, eben um Zivilisation, nicht um innere Werte, nicht um Kultur. Wenn Freud es »verschmäht, Kultur und Zivilisation zu trennen«, wirft er Mozart mit Mottenkugeln und Müllabfuhr in einen Topf (a. O. 140).
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Auch im Englischen wird die Unterscheidung in der Regel nicht gemacht, Toynbee bestritt sie ; und es gibt anglophile Autoren bei uns, die eine solche Trennung ablehnen. Dennoch ist jede Differenzierung ein Gewinn an Ausdrucksmöglichkeit, auf die man nicht verzichten sollte. Im Deutschen haben wir das Dilemma nicht, das Samuel Huntington hatte, als er 1996 The Clash of Civilizations schrieb und damit natürlich Kulturen und nicht Zivilisation meinte. Um die dennoch unabdingbare Unterscheidung zu machen, schreibt er Civilization im Sinne von »Kultur« mit einem großen Anfangsbuchstaben, civilization im Sinne von »Zivilisation« mit einem kleinen. Im Titel indessen verwendet man im Englischen nur Versalien, so daß man erst das Vorwort lesen muß, um zu wissen, was gemeint ist. Das ist unpraktisch. Anfechtbar ist Spengler, wenn er Kultur und Zivilisation als sukzessive Phasen hintereinanderschaltet. Beides läuft stets nebeneinander her, wenn auch die Gewichte sich beträchtlich verschieben. In den kulturellen Blütezeiten wohnen die Bürger in Holzhäusern und errichten Kathedralen, Spätzeiten prämieren den Komfort und bauen Supermärkte und Schnellbahnen. Jede Kultur setzt Zivilisation voraus, während Zivilisation auf Kultur verzichten kann, gewiß nicht völlig, aber weitgehend. Kirchenbau benötigt Architekten ; Architekten aber könnten sich auf den Bau von Autobahnen und Flugplätzen beschränken. Daß dies so sei, ist jedenfalls die Ansicht der Kulturkritik, die in Wahrheit Zivilisationskritik ist und als Antiamerikanismus in Europa Anhänger gefunden hat, und zwar in der rechten (völkischen) wie in der linken (proletarischen) Szene. Zivilisationskritik moniert Banausentum und Oberflächlichkeit, Genußsucht und Vermassung. In diesem Sinne hat Spengler Deutschlands Eintritt in die Zivilisation schon während des Ersten Weltkriegs angeprangert, ganz unabhängig vom militärischen Ausgang, der für seine Kulturphilosophie vollkommen gleichgültig war. Hätte Deutschland gesiegt, so wäre das Bild der Zukunft die Kaserne und nicht der Markt geworden, eine allemal kulturlose, seelenlose »Kristallisation«. In jedem Kriege gibt es einen dritten Sieger. Der erste ist die gewinnende Seite, der zweite ist der Stand der Waffentechnik, der dritte ist ein Prinzip, daß sich nun durchsetzt, und das war im Ersten Weltkrieg im Sinne Spenglers die Zivilisation. Im 19. Jahrhundert war dies der Nationalismus, im 18. Jahrhundert der Absolutismus, im 17. Jahrhundert die konfessionelle Autonomie. Ebenso gibt es stets einen dritten Verlierer. Der erste ist die unterlegene Seite, der zweite ist die politische Moral und der dritte war im Ersten Weltkrieg die feudale Gesellschaft mit der Erbmonarchie an der Spitze. Hohenzollern und Habsburg, Romanows und Osmanen traten ab. Die sich nun etablierende Massendemokratie ist für Spengler nichts als eine Herrschaft des Geldes, der Ökonomie mit ihren rein zivilisatorischen Idealen.
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Spenglers Desinteresse an der Zivilisation hat ihm den Blick auf den für sie kennzeichnenden technischen und wissenschaftlichen Fortschritt verstellt. Er wird nicht nur dementiert, sondern sogar mediatisiert. Der Fortschrittsglaube des 19. Jahrhunderts entspreche dem stoischen Fatalismus der hellenistischen Spätzeit. Eine Frage an Spengler : Wenn also der Fortschrittsglaube die zeitgemäße Philosophie ist, weswegen ist Spengler dann Fatalist ? Mir erscheint es indessen undankbar, den ungeheuren Leistungen auf zivilisatorischem Gebiet die Anerkennung zu verweigern. Bei aller Ehrfurcht vor Bach und Goethe kann ich doch den technischen, medizinischen und naturwissenschaftlichen Errungenschaften meinen Respekt nicht versagen, ihre Entwicklung aus meinem Geschichtsbild nicht ausklammern. Wenn Spengler den jahrtausendelangen Lernprozeß ignoriert, verkürzt er seinen Geschichtsbegriff um eine wesentliche Dimension. Hätte er sie einbezogen, so hätte er sein Konzept der Kulturmonaden relativieren müssen. Zivilisation ist ein kulturübergreifendes anthropologisches Anliegen ; alle Kulturen legten Wert auf sie, waren an der Metallverarbeitung interessiert, wollten wirksame Waffen, brauchbare Fahrzeuge, funktionierende Maschinen und erfolgreiche Heilmethoden haben. Sie sind überall dieselben. Darum gibt es auf diesen Gebieten einen vergleichsweise reibungslosen Transfer zwischen den Völkern. Auf dem Kultursektor sieht es etwas anders aus. Spenglers Konzept von der Pluralität der Hochkulturen, definiert durch Stadt und Schrift, hat sich durchgesetzt. Eigenwert und Selbständigkeit der altorientalischen, mittelamerikanischen und fernöstlichen Kunst werden nicht mehr bestritten. Mit seiner Absage an die Eurozentrik war Spengler seiner Zeit weit voraus. Die Geringschätzung der asiatischen Kulturen, wie Hegel sie vertrat, ist obsolet geworden. Die normale Lebensdauer von tausend Jahren für Kulturen ist allerdings zu schematisch angesetzt. Auch Aufstieg und Niedergang von Kulturen sind im Prinzip akzeptiert ; die Pluralität und die Parallelisierbarkeit von Frühzeiten, Höhezeiten und Spätzeiten sind evident. Zustimmung verdient Spengler, wenn er die Kulturleistungen von einem biologisch gedachten Volksbegriff löst und auf einer volksübergreifenden Ebene ansiedelt. Damit beschränkt er die romantische Vorstellung vom Volksgeist auf das Niveau der Folklore und stellt die Nationalkulturen in einen weiteren Zusammenhang, so die deutsche in den europäischen Rahmen, der sie immer getragen hat. Gotik und Barock, Scholastik und Humanismus, Aufklärung und Romantik gehören keiner einzelnen Nation, sind gesamteuropäische Phänomene – so wie die nun anschließende Zivilisation gleichfalls. Faszinierend ist Spenglers Fähigkeit, zeitgleiche unterschiedliche Erscheinungen einer Kultur auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, so die Körperhaftigkeit von Statue und Tempel bei den Griechen im Gegensatz zu der Raumgestaltung bei
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den Römern, architektonisch wie politisch, oder das Prinzip der Fernwirkung von Schrift, Schießpulver, Seefahrt und Bankwechsel in der Frühen Neuzeit. Trotz der damit unterstrichenen Stileinheit lassen sich auch auf der Ebene der Kultur Einflüsse von außen erkennen. Kulturen leben keineswegs so isoliert nebeneinander, wie Spengler will, sondern geben und nehmen, bereichern und befruchten einander. Spengler hat das natürlich gesehen, aber seiner Prämisse zuliebe behauptet, daß Anleihen bei fremden Kulturen diese notwendig mißverstünden. Woher weiß er das ? Quis iudicabit ? Hat er nicht selbst sich um das Verständnis eines Heraklit bemüht ? Wenn ich Cicero oder Konfuzius lese, fühle ich mich denen eher geistesverwandt als meinen Zeitgenossen Heidegger oder Derrida.
4. Die Erfindung der Kulturseele
Ein ganz großes, letztlich metaphysisches Problem ist es, wie die Einheit einer Kultur zu erklären ist. Herder sprach hier von Volksgeist, Frobenius von Paideuma, Spengler operiert mit einer Kulturseele, mit dem apollinischen, dem magischen, dem faustischen »Ursymbol« usw. Stets liegt ein Kausalbedürfnis vor, man sucht nach einer tieferen Ursache und findet Potenzen, die bei Spengler eine höhere Kraft besitzen als für einen Menschen dessen Erbanlagen. Denn das genetische Potential eines Individuums enthält lediglich eine Disposition, die entfaltet werden kann, aber nicht muß. Spenglers Kulturen aber gehorchen dem Gesetz, nach dem sie angetreten, dem Willen des Schicksals, einer unerbittlichen Notwendigkeit. Das tröstet den Gescheiterten und verleiht dem Sieger eine höhere Weihe. Spenglers mathematischer Determinismus bestreitet jegliche historische Kausalität und gestattet keinen Spielraum des Möglichen. Das aber widerspricht unserer Erfahrung, aus der wir unser Leben gestalten und so zur Geschichte beitragen. Kulturen sind keine Monaden, weder Mechanismen noch Organismen, sondern Konglomerate. Die Einheit des Stils in allen Lebensäußerungen – so definierte Nietzsche den Begriff »Kultur« – diese Einheit ist das Resultat von Anpassungsprozessen innerhalb einer kommunizierenden Gemeinschaft. Die Angehörigen einer bestimmten Kultur leben und wirtschaften zusammen, die Binnenkontakte sind stärker als die Außenkontakte, und daraus entwickelt sich ein gleichartiges Formempfinden. Zu den kulturelle Einheit stiftenden Faktoren zählen alle Arten des Austauschs und des Verkehrs, auch der Krieg, auch er assimiliert die Gegner. Die Annahme einer kulturprägenden Urkraft scheint mir entbehrlich. Das wichtigste Geistesgut, das die Kulturgrenzen überwindet, ist die Religion. Hier liegt neben der Unterschätzung der Zivilisation das andere Defizit Spenglers. Der Grund ist derselbe : die weitgehende Unabhängigkeit beider Bereiche von Ein-
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zelkulturen und ihrer jeweiligen »Kulturseele«. Wenn Spengler die Frühzeit des Christentums näher an den Islam rückt als an die abendländische Frömmigkeit, indem er beide Religionen seiner magischen Kultur zurechnet, dann beraubt er die europäische Theologie ihrer Wurzeln. Dann gäbe es zwischen Luther und Augustinus, zwischen Thomas von Aquin und Paulus nur Mißverständnisse. Zum Geist des Neuen Testaments und der Kirchenväter hätten wir keinen Zugang. Das ist absurd. Gewiß hat Spengler recht damit, daß sich eine Religion den kulturellen Rahmenbedingungen anpaßt. Aber zugleich verändert sie diese. Sie ist nicht nur Ausdruck von einer Kultur, sondern ebenso Prägekraft für eine Kultur – und das widerspricht Spenglers Konzept von kultureller Totalität oder totalitärer Kultur. Kulturen sind keine Makro-Organismen, die sich eigengesetzlich entfalten, die wachsen, blühen und welken, sondern gruppendynamisch entstehende Produkte, die inneren und äußeren Kräften unterliegen. Zu den prägenden äußeren Faktoren der europäischen Kultur gehört zuallererst die Antike mit dem Christentum. Die schon mehrfach angesprochene magische Kultur des ersten Jahrtausends n. Chr. ist überhaupt die Schwachstelle in Spenglers Oktett. Das hat schon Eduard Meyer beanstandet. Wenn Spengler die geistigen Leistungen der römischen Kaiserzeit im wesentlichen Syrern und Arabern zuschreibt, so wird ihm der Historiker darin kaum folgen. Das Pantheon in Rom, die Haghia Sophia in Konstantinopel und der Dom zu Aachen haben den Kuppelcharakter mit einer Moschee gemeinsam, aber diese Bauten stammen von westlichen Architekten, von römischen, griechischen und fränkischen Baumeistern, während die überkuppelte Omarmoschee, der Felsendom in Jerusalem nicht von arabischen, sondern von byzantinischen Vorbildern inspiriert ist. Die Jumelage von Antike, Christentum und Islam im ersten Jahrtausend ist auch durch den vielbewunderten Kunstgriff der Pseudomorphose nicht zu retten. Er beruht auf dem kardinalen Denkfehler, daß wir heute wissen könnten, wie die Kulturgeschichte verlaufen wäre, wenn …, wie sie eigentlich hätte verlaufen müssen. Spengler rechnet hier mit unverwirklichter Möglichkeit, er eröffnet eine von ihm sonst verworfene kontrafaktische Alternative ungeschehener Geschichte, doch geht er dabei weit über das historisch Plausible hinaus. Entsprechend sind auch die arrested civilizations und die abortive civilizations bei Toynbee uneinlösbare Leerformeln. Wie hätten diese civilizations, ungehindert entfaltet, ausgesehen ? Toynbee erklärt das nicht, kann das nicht erklären. Ein Historiker kann Alternativen in der Politik entwerfen, aber keine Kultur simulieren. Das aber unterstellt Spengler. Er wagt es, Grundentscheidungen des Schicksals für falsch zu erklären – so den Sieg bei Actium (UA. II 230) – was Hegel als Schulmeisterei des Weltgeists abgetan hätte, obschon er bloß die moralische Kritik an dessen Werkmeistern meint ; eine Kritik, die allerdings ebenso berechtigt wie erfolglos ist.
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5. Moral ist kein Thema
Was Spengler mit Hegel teilt, ist der Verzicht auf irgendeine Form von Moral. Gut und Böse sind, anders als bei Kant und Marx, für Spengler keine Kategorien. Sein Geschichtsbild bleibt, wie auch das von Nietzsche, rein ästhetisch. Der Grund für die moralische Abstinenz war bei Nietzsche der Ekel vor der bürgerlichen Selbstgefälligkeit der Gutmenschen, bei Spengler ist es die Flucht vor der Verantwortung in den Fatalismus, daneben, wie schon bei Zivilisation und Religion zu sehen war, eine von ihm ignorierte kulturübergreifende Entwicklung : die der Humanität. Auch sie konterkariert eine Monadologie der Kulturenfolge. Spenglers Absage an den humanitären Fortschrittsglauben hat ihm viel Beifall beschert, nicht nur nach dem Ersten, sondern erst recht nach dem Letzten Weltkrieg. Aber hat er darum recht ? Einen universalhistorischen Fortschritt aber darf man doch in der Anerkennung von Menschenrechten erkennen, in der Überwindung des Gottesgnadentums, der faschistischen und sozialistischen Zwangsstaaten, in der weit und weiter verbreiteten Ächtung der Sklaverei und der Folter, der Todesstrafe und der offenen Zensur. Die Rückschläge im 20. Jahrhundert sind nicht zu leugnen, aber gab es solche nicht auch in der Entwicklung der Technik, der Medizin und der Astronomie ? Durchschlagende Gegenbeweise bieten auch nicht die Erkenntnisse von Amnesty International. Diese Institution als solche allein spricht für verschärftes Gewissen. Wenn in Singapur einem Drogendealer eine Prügelstrafe droht, heult die Weltpresse auf. Schließlich beweist auch der Elfte September 2001 nur die Gewaltbereitschaft von Fundamentalisten und die Verletzlichkeit unserer Zivilisation, aber er ist kein Beweis für den Kulturverfall, schon gar nicht im Sinne Spenglers. In dessen Geschichtsbild gibt es für Katastrophen keinen systematischen Ort, denn Ereignisse haben keinen Eigenwert, sondern lediglich Symbolcharakter. Es sind Oberflächenphänomene, die den Entwicklungsstand der jeweiligen Kulturseele zum Ausdruck bringen. Für Spengler wäre der Elfte September ein Indiz für das, was er die »zweite Religiosität« nennt : Spätzeiten werden wieder bigott. Spengler würde allerdings Osama bin Laden und George Bush auf eine Stufe stellen.
6. Anregendes und Abstoßendes
Was also bleibt von Spengler ? Nicht alles, aber einiges. Die Geschichte vollzieht sich auf mehreren Ebenen, und eine dieser Ebenen wird durch Spenglers Hochkulturen strukturiert. Ihre relative Eigenständigkeit gegenüber anderen Kulturen, die
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stilistische Verwandtschaft auf verschiedenen Lebensbereichen derselben Kultur, die Ähnlichkeit von Früh-, Hoch- und Spätformen verschiedener Kulturen sowie die begrenzte Lebensdauer aller Kulturen – das sind bleibende Einsichten. Sie wirken als Stimulus für weitere Forschung. Jene anderen Ebenen aber, die durch politische und religiöse Machtsysteme repräsentiert sind, liegen ebenso außerhalb seines Blicks wie jene Ebenen, auf denen sich der technische und humanitäre Fortschritt abspielt, auch das hat ihm Eduard Meyer schon vorgeworfen. Spenglers Geschichtsbegriff im ›Untergang‹ schließt aus, was vor der Entstehung der Hochkulturen passiert ist, die gesamte Urgeschichte entfällt. Spengler hat das später zu ergänzen versucht, ohne eine Verbindung zu seiner Morphologie zu finden. Ebenso übersieht Spengler, was sich während der Zeit der Hochkulturen neben ihnen bei den Naturvölkern, in den »Entwicklungsländern« zugetragen hat – das hat ihm schon Frobenius entgegengehalten. Spenglers Entwurf sei ein »Torso«. Wir denken an den »Herakles« des Apollonios im Belvedere des Vatikan. Wenn er einleitend verspricht, das Schicksal der westeuropäisch-amerikanischen Kultur in ihren noch nicht abgelaufenen Stadien zu verfolgen, so löst er dies Versprechen nur insofern ein, als er erklärt, diese Kultur habe keine Stadien mehr vor sich. Sein Gedanke an eine künftige russische Hochkultur stand schon 1919 im Widerspruch zur errichten Universalzivilisation und erwies sich bald als historischer Irrtum. Die russische Geschichte ist eine Folge von Versuchen, sich zu modernisieren, sich zu europäisieren, und das wird wohl so bleiben – einschließlich der dabei vorkommenden Rückfälle. Es war ein geniale Einsicht Spenglers, daß der Marxismus nicht dauern würde. Aber die Begründung für dessen Scheitern mit der andersartigen russischen Seele traf nicht zu. Der Marxismus hielt nicht, was er versprochen hatte, das war der Grund. Er war in der Form des realen Sozialismus ein Holzweg der Modernisierung, und so hofft man nun auf Kapitalismus mit menschlichem Antlitz. Na, ja. Zutreffend prophezeite Spengler den zumindest zeitweiligen Caesarismus und den Sieg der Demokratie, die in Deutschland sozialistisch sein müsse. Tatsächlich hat sich hier die soziale Marktwirtschaft entwickelt. Die Zukunft heißt Globalität, die aus der abendländischen Kultur herausgewachsen ist. In diesem Betracht überragt sie alle anderen, alle älteren Hochkulturen. Mögen sie qualitativ gleichwertig sein – quantitativ sind sie es nicht. Die Fortschritte der Technik und der Industrie zeigen, daß die Zukunft der okzidentalen Zivilisation gehört. Der Wandel, der sich diesbezüglich während der letzten dreihundert Jahre in Europa und Amerika vollzogen hat, ist auch in den übrigen Teilen der Welt im Gang – mal mit kleineren, mal mit größeren Umwegen. Ob allein die europäische oder europäisch geschulte Intelligenz imstand sein wird, diese Hochzivilisation aufrechtzuerhalten, wie Spengler glaubte, ist noch offen. Die wis-
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senschaftlichen und technischen Leistungen der Griechen im Hellenismus gingen in der Spät- und Nachantike weitestgehend verloren. Evident ist das Interesse an ihren Errungenschaften weltweit, auch bei erklärten Gegnern westlicher Werte. Spenglers Prognose in der großen Politik hat sich immerhin in gewisser Weise bewahrheitet. Er hat 1933 den Kampf um die Weltherrschaft prophezeit. Auf die Umfrage einer amerikanischen Zeitung 1936 »Ist Weltfriede möglich ?« gingen zahlreiche Antworten vom Typus ein : »Jawohl, wenn die Menschen vernünftig sind.« Aber ob sie das denn wären, war ja gerade das Problem ! Spengler wich ihm nicht aus und prophezeite den verschärften Kampf um die Macht, wie er dem Imperialismus von Spätzeiten entspräche. Wenn seine Aufforderung, »die Würfel zu ergreifen« an Deutschland gerichtet war, handelt es sich bei dem, wie er sah, kurz bevorstehenden Zweiten Weltkrieg, um eine Entscheidung zwischen den Industriestaaten. 1945 waren von den vier militärischen Großmächten nur noch zwei übrig, der Kollaps der Sowjetunion 1990 führte zur Hegemonie der USA, die als selbsternannter Weltpolizist ihre Bomberkommandos und die ihrer Klientelstaaten einsetzen. Der neue Weltfeind ist der fundamentalistische Islam. Der Fortschrittsglaube im Gefolge von Auguste Comte rechnete mit einem Sieg der ratio über die religio. Dagegen pochte Spengler auf die Reaktivierbarkeit der Religiosität. Er erwartete eine »neue Religion« in Gestalt der byzantinischen Frömmigkeit in Rußland. Die vollzog sich aber nun nicht dort, sondern unter den Anhängern Mohammeds. Sie wehren sich militant gegen die Verwestlichung und Verweltlichung, gegen die Verfälschung ihrer Tradition, ihrer Identität durch die Globalisierung. Es ist nicht zu bestreiten : Die universal nivellierende Gewalt der Großkonzerne verarmt den Formenschatz der Regionen und Religionen. Dies zu verhindern, dürfte dem fundamentalistischen Islam ebensowenig gelingen. Geblendet von dem Fanal der brennenden Twin Towers dominieren zur Zeit in der christlichen Öffentlichkeit die Schwarzseher, doch neigen die Menschen stets dazu, das soeben Erlebte zu überschätzen, ehe sie dann nach einer Weile zu einer realistischeren Beurteilung zurückfinden. Das hat schon Thukydides (I 21) bemerkt und kritisiert. Die wirkliche Bedeutung eines historischen Ereignisses zeigt sich erst aus der Distanz. Ein Beispiel : Goethe hat mit seinem prophetischen Wort über die Kanonade von Valmy am Abend der Schlacht die Zustimmung der späteren Historiker nicht gewonnen, sie messen dem Sturm auf die Bastille einen höheren Zeit- und Zeichenwert zu. Das Aufbegehren im Morgenland verstärkt den demographischen Druck auf das Abendland. Spengler hatte 1933 als langfristigen Konflikt nicht den zwischen Ost und West, sondern den zwischen Nord und Süd vorausgesagt, zwischen den reichen Staaten und den armen Völkern. Er dachte mit der Formel von der »farbigen Weltrevolution« an eine neue Völkerwanderung, die ja einst das Römische
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Reich und die antike Zivilisation beendet hatte. Nur glaubt er, die Afrikaner und Asiaten kämen mit Waffen, denen das pazifistisch gewordene Europa nichts mehr entgegenzusetzen habe. Die »Fellachisierung« gehört zu den irritierenden Vokabeln Spenglers. Es ist befremdlich, wie die Ägypter nach ihrer tausendjährigen Hochkultur eine ebensolange Fremdherrschaft ertragen und zweimal unter äußerem Einfluß die Religion gewechselt haben. Fellachisierung ist bei ihm ein Spätzeitphänomen, wenn Völker, die ihre Glanzzeit hinter sich haben, nicht mehr willens oder fähig sind, ihre kulturelle Eigenart und ihre politische Selbständigkeit zu verteidigen, ihren Privatinteressen zuliebe sich in Abhängigkeit begeben. Spenglers Irrtum war, daß die in Europa eindringenden armen Völker dafür Waffen benötigen. Läßt sich somit das Bild einer Zukunft der Zivilisation wenigstens in Umrissen entwerfen, steht es um ein Bild der künftigen Kultur schlechter. Wie könnte das aussehen ? Zur Herausbildung einer neuen Hochkultur fehlt es an der dafür erforderlichen Abgeschiedenheit. Die Vernetzung ist weltweit so fortgeschritten, daß sich keine eigenständige Stilprovinz mehr herausbilden kann. Eine ungestörte Eigenentwicklung ist nirgends mehr möglich, auch in Rußland nicht. Damit aber ist die Zukunft der Kultur keineswegs besiegelt. Zwei Tendenzen dürften sich fortsetzen : ihre Marginalisierung und Diversifizierung. Marginalisierung ist die Verschiebung von Arbeit, Energie und Geld vom kulturellen Sektor auf den zivilisatorischen. Reines Geisteswerk gerät an den Rand der Aktivität. Die finanzielle Forschungsförderung galt im 19. Jahrhundert historischen, archäologischen und kulturellen Großunternehmen. Im 20. Jahrhundert verschwinden die ihnen zugewandten Mittel zugunsten technischer und medizinischer Mammutprojekte. Die Schwerpunkte haben sich verschoben. Bei der Betrachtung der Tempel und Kathedralen sollten wir stets die ärmlichen Häuser jener Menschen hinzudenken, denen wir diese Bauten verdanken. Die Zivilisation hat andere Prioritäten. Jeder Facharbeiter speist und lebt und wohnt heute besser als Perikles oder Barbarossa. Diversifizierung zeigt sich in der geradezu verwirrenden Vielfalt im Kulturbe trieb. Noch immer erfreut sich das geistige Leben einer erstaunlichen und begrüßenswerten Vitalität. Auf allen Gebieten florieren die Künste im Kleinformat. Die Stilrichtungen haben sich seit Spenglers Zeit immer rascher abgelöst, wurden immer kurzlebiger in der Dominanz, aber immer zählebiger in der Permanenz. Seit dem Dadaismus gibt es diesen und so ziemlich alles Spätere irgendwo und irgendwie bis heute. Trotz aller Versuche von Chefgaleristen und Kunstmanagern, bestimmende Zeitstile zu etablieren, gilt das Wort von Mao Tse-tung : Laßt hundert Blumen blühen !2 Die Kulturszene war noch nie so bunt wie heute, und das 2 27. Februar 1957. Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung, Peking 1967, 358 f.
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erinnert an das Wort Platons über die Demokratie : Bunt ist das Kleid der demokratischen Stadt (Staat 557 C). Das, was Spengler unter Hochkultur verstand, begegnet uns in den Museen, Theatern, Konzertsälen, Büchereien und Tourismusprogrammen – leider weniger und weniger in den Schulen. Das Erbe der Hochkulturen wird nicht verschwinden. Es wird gepflegt und bewahrt, es bereichert die Freizeit und lebt weiter als eines unter den zahlreichen Konsumgütern auf dem Weltmarkt. Es bleibt ein Artikel von hohem Snob-Appeal für die Upper Class und zugleich eine Herzensangelegenheit für eine kleine, zur Askese bereite Minderheit, die gleichwohl überzeugt ist, frei nach Lukas 10,42, das bessere Teil erwählt zu haben. Und das mit Recht. Der Dom von Perugia zeigt eine kostbare Reliquie, den Ring, den Joseph seiner Maria zur Verlobung geschenkt hat. Doppelt kostbar ist er, weil er einen wunderbaren Edelstein trägt. Denn dieser besitzt die seltene Eigenschaft, jedem Betrachter in derjenigen Farbe zu erscheinen, die seinem Charakter entspricht. Findet nicht ebenso jeder Leser wie in der Bibel so auch bei Spengler eben das, was seinem eigenen Wesen gemäß ist ? Und das kann sehr Verschiedenes sein. Aber irgendetwas ist es wohl immer : Wegweisendes oder Abwegiges, Überzeugendes oder Überzogenes, Anregendes oder Abstoßendes. Ein Stein des Anstoßes ist ein Eckstein. Spengler reizt zum Weiterdenken und zum Widerspruch und wird gewiß noch gelesen, wenn die Schriften über ihn – wie diese – längst vergilbt und vergessen sind. In diesem Sinne lautet die Antwort auf die Leitfrage : »Was bleibt von Spengler ?« schlicht : »Er selbst.«
Anhang Eduard Meyer über Spenglers Untergang des Abendlandes
(Rezension in : Deutsche Literaturzeitung: 45, 1924, 1759 ff.)
Je gewaltiger und allseitiger sich im Laufe des 19. Jahrhunderts die moderne, von Völkern Europas und ihren Kolonisten in den übrigen Erdteilen getragene Kultur durchbildete, desto stärker mußte sich jedem, der geschichtlich zu denken gewohnt war, die bange Frage aufdrängen, ob nicht auch über ihr unabwendbar dasselbe Schicksal schwebe, welches der antiken Kultur, und in ähnlicher, wenn auch nicht so typisch ausgeprägter Gestalt, der islamischen Kultur beschieden gewesen ist. Denn eben dadurch, daß eine Kultur ihre Höhe erreicht, zeugt sie selbst die Mittel, durch die sie sich untergräbt. Die großen Probleme, die bei ihrem Aufstieg alle geistigen Kräfte in der Tiefe erregt und zur höchsten Anspannung der Lebensenergie erweckt hatten, verlieren bei ihrem weiteren Ausbau die packende Kraft ; so beharrlich an ihrer Durchbildung fortgearbeitet wird, so rühren sie doch nicht mehr an die Grundfesten des Daseins. Eine Umwälzung, wie sie die Reformation und die fundamentale Umkehrung des gesamten Weltbildes durch Kopernikus mit allen ihren Konsequenzen gebracht haben, vermag die Gegenwart nicht mehr zu schaffen, auch nicht durch die Erschütterung des seit zwei Jahrhunderten herrschenden mechanischen Weltsystems, die wir gegenwärtig erleben ; dazu sind diese Probleme viel zu verwickelt und nur einem ganz kleinen Kreis dafür geschulter Gelehrter überhaupt verständlich, und vor allem : es handelt sich dabei nicht mehr um einen Kampf auf Tod und Leben. Auch eine geistige Bewegung, wie sie Deutschland in der Blütezeit unserer Literatur, unserer Philosophie und unserer Musik erlebt und wie sie zuletzt noch einmal der Kampf um Richard Wagner hervorgerufen hat, vermag keine auch noch so bedeutende künstlerische oder philosophische Schöpfung noch einmal wieder zu erzeugen. Bewußt oder unbewußt lastet auf uns allen das Gefühl, daß wir Epigonen sind ; trotz aller sich drängenden neuen Ideen dominiert das Erbgut der Vergangenheit, das mit zwingender Gewalt auch den gefesselt hält, der sich von ihr losreißen und das Alte durch einen Neubau ersetzen möchte. Wohl aber führt die fortschreitende Verbreitung und Popularisierung mit Notwendigkeit zu Verflachung. An Stelle der aristokratischen Durchbildung des Geistes und der Persönlichkeit tritt (1760) ständig anwachsend die demokratische Oberflächlichkeit der »allgemeinen Bildung«, welche die Probleme gar nicht mehr zu verstehen imstande ist und die freie Schöpferkraft der überragenden Individualität in Homogenität und Erstarrung zu ersticken droht.
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Die wirtschaftlichen und technischen Fortschritte des letzten Jahrhunderts, so tief sie den inneren Aufbau der Nationen umgewandelt haben, bieten dafür doch keinen Ersatz : an Stelle des geistigen Lebens drängen sie die materiellen Interessen in den Vordergrund und haben einen Wettkampf um die äußeren Güter und ein Ringen um den Besitz sowohl zwischen den Nationen wie innerhalb derselben in allen Schichten des Volkes erzeugt, wie ihn in diesem Umfang keine frühere Epoche der Geschichte gekannt hat. Wer optimistisch dachte, mochte sich dem gegenüber an die Tatsache halten, daß die moderne Entwicklung, anders als die des Altertums, eine große Anzahl lebenskräftiger und vollbewußter Nationen geschaffen hatte, deren stetes Ringen miteinander bisher jeden Versuch zur Aufrichtung einer nivellierenden, die anderen erstickenden Übermacht nach der Art der römischen vereitelt hatte, wohl aber eben diesen dauernd die höchste Anspannung aller Kräfte fordernden Wetteifer die Erhaltung und das Fortschreiten der Weltkultur zu sichern schien. Wer wie der Referent diesen Glauben hegte, ist durch den Ausbruch des Weltkriegs jäh aus seinen Träumen gerissen worden : seit dem 4. August 1914 steht es fest, daß die moderne europäische Kultur in den letzten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts ihren Höhepunkt überschritten hat und die Entwicklung in den absteigenden Ast eingemündet ist. In einer Selbstzerfleischung ohnegleichen, die alle Erzeugnisse der materiellen und technischen Entwicklung rücksichtslos zur Zerstörung verwendet, vernichtet diese Kultur sich selbst ; die Völker Europas haben die dominierende Stellung, welche sie seit dem sechzehnten Jahrhundert in der Weltgeschichte eingenommen hatten, freiwillig untergraben und im Wahnwitz blinder Selbstsucht unwiederbringlich vernichtet. Oswald Spengler hat die eben berührten Illusionen nicht geteilt. Seit dem Jahre 1911 war ihm das unmittelbare Bevorstehen der Katastrophe nicht mehr zweifelhaft. Er erkannte – was seitdem Gemeingut geworden ist und (1761) jedes Erlebnis von Tag zu Tag aufs neue bestätigt – daß die abendländische Kultur seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts in das Stadium der »Zivilisation« (in der von Nietzsche geschaffenen Bedeutung dieses Wortes) – man könnte dafür auch Amerikanisierung sagen – eingetreten ist. Damit ist für ihn ihr Schicksal, der Verlauf ihrer weiteren Entwicklung entschieden. Aus dem Bedürfnis, das dadurch gestellte weltgeschichtliche Problem in seiner ganzen Tiefe zu erfassen, als »Typus einer historischen Zeitwende, die innerhalb eines großen historischen Organismus von genau abgrenzbarem Umfang einen biographisch seit Jahrhunderten vorbestimmten Platz hatte«, ist sein Werk ›Der Untergang des Abendlandes‹1 erwachsen. 1 Oswald Spengler [Dr. phil. in München], Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Bd. 1 : Gestalt und Wirklichkeit. 33.–47. Aufl. – Bd. 2 : Welthistorische
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Dem ersten 1918 veröffentlichten Bande ist im J. 1922 der zweite gefolgt, der jenen nicht nur wesentlich ergänzt und vertieft, sondern oft geradezu den Charakter von Prolegomenen trägt ; daran schließt sich im J. 1923 eine in vielen Fällen stark eingreifende, abschließende Umarbeitung des ersten Bandes. Vorbereitet ist Spengler für seine Aufgabe durch ein erstaunlich umfangreiches, ihm ständig präsentes Wissen sowohl auf dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Gebiet, von dem er ausgegangen ist, wie auf dem historischen, einschließlich der Geschichte der Musik und der bildenden Künste. Ihn beseelt eine große Energie des Denkens, die mit kühnem Wagemut vor keinem Problem und auch vor keinem Paradoxon zurückschreckt, aber immer bis in die letzten Tiefen vorzudringen sucht. Dazu kommt die volle Beherrschung der Sprache, die Fähigkeit, lebendig wirkende Bilder zu schaffen, den Leser mit sich fortzureißen. So erklärt sich die gewaltige Wirkung, die das Buch geübt hat, obwohl es keineswegs eine leichte Lektüre ist. Der Verfasser überschüttet den Leser geradezu mit durchweg anregenden, mitunter freilich auch nur blendenden Gedanken und reißt ihn mit sich fort. Die Gefahr, daß dann oft gerade die problematischsten Sätze und Halbwahrheiten herausgegriffen und unverdaut als Schlagworte weitergegeben werden – so wenig das der sehr ernsten Absicht des Verfassers entspricht –, ist auch hier nicht ausgeblieben ; und ebensowenig hat (1762) es an scharfer Kritik und gelegentlich auch an völliger Ablehnung gefehlt. Eine derartige Kritik, die bereits zu einer umfangreichen Literatur angeschwollen ist, ist auch voll berechtigt ; nur soll man nicht glauben, daß durch Bekämpfung und Widerlegung von noch so vielen Einzelheiten die großen und bleibenden Grundgedanken irgendwie erledigt werden, und soll dabei nicht zu viel Gewicht auf die scharf zugespitzten Formulierungen legen, wobei man, wenn man sich ausschließlich an sie hält, den Sinn des Verfassers und den Kern seiner Ideen leicht verfehlt. Die Hauptsache bleibt immer, das durchaus einheitlich gedachte Werk als Ganzes aufzufassen und zu diesen Grundgedanken Stellung zu nehmen, wobei ihre Fassung im einzelnen sich dann modifizieren und ihrer gewollten Einseitigkeit entkleiden mag. Das Werk ist nicht ein ephemeres Erzeugnis, sondern ein bleibender und auf lange Zeit hinaus nachhaltig wirkender Besitz unserer Wissenschaft und Literatur. Ich möchte es in seiner Bedeutung als schöpferischer Anreger am meisten mit Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit vergleichen, so verschiedenartig – ihrer Zeit entsprechend – beide Werke auch sowohl ihrer Gestaltung wie ihrer Tendenz nach sind. Spenglers Werk ist ein Versuch, das Wesen des weltgeschichtlichen Lebens in seiner Tiefe zu erfassen. Ganz scharf wird der Gegensatz herausgearbeitet zwischen Perspektiven. 16.–30. Aufl. München, C. H. Beck (Oskar Beck), 1923, 1922 : XV u. 557 ; VII u. 635 S. 8°. Je Mark 15.
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der Auffassung der Welt als Natur und der als Geschichte. In jener herrscht die Kausalität und das Gesetz, in dieser der Zufall und das Schicksal ; jene ist mechanisch, diese organisch ; jene erfaßt das Gewordene und daher der Zeit Entrückte, diese das Werden ; jene erkennt Wahrheiten, diese erfährt Tatsachen ; jene sucht ein einheitliches Weltbild des Möglichen und daher zeitlos ständig sich Wiederholenden zu schaffen, diese will das Wirkliche in seiner einmaligen, niemals wiederkehrenden Gestalt erfassen und steht daher unter der Herrschaft der chronologischen Zeitfolge des Geschehens, im Gegensatz zu dem rein abstrakten Zeitverlauf, den die Naturwissenschaft in ihren Formeln in Rechnung stellt. In der Tat ist dieser Unterschied zwischen den beiden Anschauungsformen – ob die von Spengler dafür aufgestellte Formulierung als Gegensatz der mathematischen und der chronologischen Zahl sehr glücklich ist, erscheint mir fraglich – von fundamentaler Bedeutung. Es sind zwei Welten, die nebeneinander stehen (1763) und die dennoch fortwährend ineinandergreifen und sich ergänzen ; das Naturgesetz kennt nur allgemeine Begriffe, Abstraktionen, bis zu Stoff und Kraft hinauf, die in der realen Welt nirgends vorkommen noch vorkommen können, sondern aus den Einzelobjekten als etwas dahinter Stehendes erschlossen sind ; alles, was wirklich ist, was uns sinnlich entgegentritt, steht dagegen ausschließlich unter der Herrschaft des Zufalls, von dem es abhängt, ob überhaupt und sodann in welcher Gestalt es als Sonderwesen oder als einmaliger Vorgang in die Erscheinung tritt. So sind es die Grundfragen der gesamten Weltanschauung überhaupt, die Spengler mit starker Betonung seiner Selbständigkeit anpackt und zu klären sucht, mit der ganz scharf durchgeführten Tendenz, nicht nur die Berechtigung der geschichtlichen Auffassung und die Unabhängigkeit des geschichtlichen Lebens, sondern vielmehr dessen dominierende Stellung klarzulegen : denn jede Gestalt, in der die Naturwissenschaft auftritt, ist ja selbst ein Erzeugnis dieses geschichtlichen Lebens und daher von dessen Sondergestalt abhängig. Darauf beruht unter anderem Spenglers ganz ablehnende Stellung gegenüber dem Darwinismus, über den er sich durchweg mit unverhohlener Geringschätzung äußert ; und ebenso verwirft er die seit Lyell in Geologie und Paläontologie herrschende Auffassung von der gleichmäßig ohne Bruch fortschreitenden Bildung der Erdschichten und der Wandlung der Arten, und fordert statt dessen Rückkehr zur Katastrophentheorie (II 35 f.). Jede Naturwissenschaft ist geschichtlich nur eine der vielen Manifestationen des Geistes einer bestimmten Kulturgestaltung, und daher ebenso dem Wandel unterworfen und ebensowenig wie diese selbst allgemeingültig und für andere Zeiten und Denkweisen bindend, ja auch nur wirklich begreifbar. Diese »Seele« einer jeden Kultur, vor allem auch die unserer eigenen, und damit zugleich ihre Bedingtheit und die Gestaltungen ihres Lebens, ihr »Schicksal« zu erfassen, ist die eigentliche Aufgabe des wahren Historikers.
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Dieses Ziel ist nur durch Intuition, durch ein Hineinfühlen in die Anschauungen einer jeden Epoche zu erreichen ; es gilt, die größtenteils völlig unbewußten Voraussetzungen nachzuempfinden, die ihr Denken und Fühlen und darum auch ihre Schöpfungen und ihr Handeln beherrschen ; und dazu gehört als grundlegende Voraussetzung, daß man den Gang des (1764) geschichtlichen Lebens nicht als einen mechanisch nach Gesetzen verlaufenden Prozeß anschaut, dessen Kausalität man ergründen will, sondern als ein über den Menschen schwebendes und in ihnen sich verwirklichendes Schicksal, mit voller Empfindung der ganzen Wucht, mit der das in diesem Worte enthaltene Gefühl auf jeder lebendigen Generation lastet, nicht nur als das geheimnisvolle Bild ihrer Zukunft, sondern ebenso als das ihrer Gegenwart und ihrer Vergangenheit. Jede Kultur und jede ihrer einzelnen Epochen, so möchte ich Spenglers Gedanken fassen, fühlt sich durch dies Schicksal gebunden, es setzt ihr die Grenzen, die sie nicht überschreiten kann ; ob sie die Möglichkeiten, die ihr innerhalb dieser Grenzen bleiben, voll erfüllt oder nicht, das hängt dann von dem Zufall ab, der überall die Einzelgestaltung bestimmt. Mehrfach hat diese Auffassung einen extrem paradoxen Ausdruck gefunden, so in der Behauptung, daß es ein Zufall sei, daß die Führerschaft in der Politik und darum auch in der Kultur des sechzehnten Jahrhunderts Spanien und nicht Frankreich zufiel, oder daß die französische Revolution auch »durch ein Ereignis in anderer Gestalt und an anderer Stelle, in England oder Deutschland etwa, hätte vertreten sein können«, daß aber die »Idee«, »die innere Logik des Zeitalters«, die dort die Ausbildung des Barock, hier den Übergang von der Kultur zur Zivilisation erforderte, davon unberührt bleiben (I 194 f.). Daß hier ein starker Widerspruch eingesetzt hat, ist natürlich und durchaus berechtigt ; aber ich glaube, man hat Spenglers Gedanken mißverstanden, wenn man sie dahin deutet, als hebe er damit den wissenschaftlichen Charakter der Geschichte auf und setze ein Spiel der Phantasie an ihre Stelle. Ob man die Geschichte eine Wissenschaft nennen oder dieses Wort mit Spengler auf das Gebiet der Kausalität und daher der Naturwissenschaft beschränken will, ist ein Streit um Worte ; daß jedes Geschichtswerk, das den Namen verdient, eine Nachschöpfung der Vergangenheit ist und ist darum der künstlerischen Tätigkeit und Gestaltung gar nicht entbehren kann, wissen wir alle. Das Hineinempfinden in eine Vergangenheit ist etwas sehr anderes als die Entdeckung einer kausalen Verknüpfung und die Betrachtung mechanischer Vorgänge als Ursache und Wirkung. Die Wirkungen eines Ereignisses, von denen der Historiker redet, sind fundamental verschieden von den Wirkungen eines Naturvorgangs, und mit vollem Recht lautet z. B. der Titel eines Rankeschen (1765) Werkes ›Ursprung und Beginn‹, und nicht etwa Ursachen, ›der Revolutionskriege‹. Wesen und Wert der streng wissenschaftlichen Geschichtsforschung wird dadurch nicht berührt ; ob aber der Geschichtsschreiber die Zusammenhänge und die entscheidenden Mo-
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mente richtig erfaßt und zur Darstellung bringen kann oder ahnungslos an ihnen vorübergeht, hängt hier genau so gut wie beim Naturforscher, der der Intuition, des Blickes für die Zusammenhänge, ebensowenig entbehren kann, von seiner Individualität und damit vom Zufall ab. Gerade auf diesem Gebiet hat Spengler ganz Hervorragendes geleistet und eine Fülle fruchtbarer Gedanken und Anregungen in die Diskussion geworfen. In der Betrachtung der Weltgeschichte geht Spengler aus von der rückhaltlosen Verwerfung einer Einheit der Geschichte der Menschheit und eines Zieles, dem sie zustrebe, und daher zugleich von einer energischen Bekämpfung des Schemas Altertum, Mittelalter, Neuzeit, in dessen chronologischen Rahmen dann alle Vorgänge auf Erden so gut es gehen mag hineingezwängt werden. Das sind Ideen religiösen Ursprungs, die mit der wahren Geschichte nichts zu tun haben, wenn sie auch immer populär bleiben und für praktische Zwecke bei uns im Abendland eine relative Brauchbarkeit behalten werden. So neu und umgestaltend, wie Spengler meint, ist seine Polemik gegen dies Schema freilich nicht : es ist vielmehr wissenschaftlich bereits überwunden durch die gewaltige Erweiterung des Bereichs der Geschichte im Lauf des vorigen Jahrhunderts einerseits infolge der Verdoppelung seines Zeitraums nach oben durch die Entdeckung der alten Kulturen Vorderasiens und Ägyptens, andrerseits infolge der Ausdehnung seines Gebiets über den gesamten Erdball und der Erschließung der Geschichte und Kultur vor allem des gesamten Orients : und wenn wir jetzt z. B. von »Mittelalter« reden, so verstehen wir darunter nicht mehr die Epoche zwischen dem Absterben des römischen Reichs und der Reformation, sondern einen in seiner Eigenart scharf charakterisierten Kulturzustand, der sich in einer bestimmten Epoche der Kulturentwicklung gleichartig bei den verschiedensten Völkern vorfindet – ob man den Terminus für passend gewählt hält oder durch einen anderen ersetzen will, ist dafür gleichgültig. An Stelle des traditionellen Schemas setzt Spengler die Gliederung nach den hohen Kulturen. Voran liegt die primitive Kultur mit (1766) ihrer Homogenität, die trotz aller Wanderungen und Kämpfe und aller materiellen Errungenschaften doch ein geschichtliches Leben nicht kennt, sondern nur ein »zoologisches Geschehen« (II 57). Dann aber wachsen plötzlich an einzelnen Stellen individuell ausgeprägte Kulturen und selbständiges geschichtliches Leben empor, in Ägypten und Babylonien nach langer Vorbereitung um 3000 v. Chr., in Indien, in China, und am Ägäischen Meer in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrtausends, in Mexiko bei den Maya etwa kurz nach dem Beginn unserer Zeitrechnung (II 40 ff.) – hinzuzufügen wäre doch wohl die peruanische des Inkareiches, deren große Schöpfungen uns jedenfalls sympathischer berühren als die Mexikos. Zu ihnen tritt dann seit der letzten vorchristlichen Zeit die »arabische« oder »magische« und seit etwa 1000 n. Chr. die »abendländische« oder »faustische«. Alle diese Kulturen sind selbständige
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Organismen ; ihr Leben, in dem sich ihre Seele entfaltet, wird beherrscht von den immanenten Bedingungen ihres Daseins ; es verläuft, nach Goethes Wort, in dem Spengler den innersten Kern seiner Gedanken wiederfindet, als »geprägte Form, die lebend sich entwickelt«, »nach dem Gesetz, wonach du angetreten« ; auch für sie ist ihre Betätigung und ihr Wille »nur ein Wollen, weil wir eben sollten«. Trotz aller tiefgreifenden Unterschiede ist der Weg, den ihnen das Schicksal weist, doch überall der gleiche, selbst im zeitlichen Abstand seiner einzelnen Epochen : der hoffnungsvolle Aufstieg bis zur vollen Entfaltung der Blüte und dann der Niedergang durch die Spätzeit der Kultur zu ihrer Umwandlung in die Zivilisation, und schließlich zum Hinabsinken in einen trotz aller äußeren Errungenschaften innerlich seelenlosen und geschichtslosen Zustand des Fortvegetierens, der sich Jahrhunderte, ja Jahrtausende hindurch in den erstarrten Formen gleichmäßig fortschleppen kann, wie nach Ansicht des Verfassers die islamische Welt seit der Mongolenzeit und vollends China seit dem Ausgang der zweiten Handynastie (220 n. Chr.). Aber sie alle stehen wie Bäume bodenständig und ohne tieferen Zusammenhang weder mit den gleichzeitigen noch mit den etwa vorangehenden Kulturen nebeneinander ; soweit Berührungen und Einwirkungen vorkommen, sind sie nur äußerlicher Art und werden absorbiert, ohne das Wesen der Kulturseele zu ändern, abgesehen von dem sogleich zu besprechenden Fall einer Pseudomorphose. (1767) Infolge des Parallelismus ihrer Entwicklung gewährt die Analogie der Kulturen, deren Verlauf wir überschauen, die Möglichkeit, den Zeitmoment unseres eigenen Daseins und seinen Charakter richtig zu erfassen und dadurch auch das Schicksal zu erkennen, dem unsere Kultur entgegengeht. Daß ich den Grundgedanken dieser Auffassung des geschichtlichen Lebens zustimme, ist zu Anfang dieser Besprechung schon angedeutet. So erstmalig freilich, wie Spengler in dem Eingangssatz seines Werkes glaubt, ist dieser Versuch, Geschichte vorauszubestimmen, keineswegs. Die gleiche Anschauung beherrscht die gesamte Literatur der römischen Kaiserzeit : das Gefühl, im Greisenalter zu stehen, in einer übersättigten und verbildeten Kultur, die die Schöpferkraft der Jugend und des Mannesalters definitiv verloren hat. (Diese Stimmung ist verkannt, wenn Spengler I 551 sagt : »auch die Antike starb, aber sie wußte nichts davon ; sie glaubte an ein ewiges Sein.«) Die Idee einer mit innerer Notwendigkeit sich vollziehenden Entwicklung der Staatsgestaltungen ist seit Plato Gemeingut der griechischen politischen Theorie, und Polybios hat sie auf Rom angewendet und dessen Schicksal zutreffend vorausgesagt ; in dieser Überzeugung haben Scipio Aemilianus und sein Kreis die Lage als hoffnungslos angesehen und genau wie Spengler jeden Reformversuch als nutzlos und lediglich das Verderben beschleunigend abgelehnt und bekämpft. Ich führe das an, um zu zeigen, wie wenig zutreffend Spenglers Ansicht ist, der antiken (griechischen) Kultur fehle jeder Sinn für geschichtliche Entwick-
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lung, ihre Geschichtsdarstellung sei ausschließlich auf die politische Gegenwart des Autors eingestellt, sie sei rein statisch (I 10 ff. 193, 467, II 27). Auf Platos Geschichtstheorien, auf Aristoteles’ kultur- und verfassungsgeschichtliche Arbeiten, auf die zahllosen guten und schlechten Weltgeschichten im Stile des achtzehnten Jahrhunderts von Ephoros und seinen Zeitgenossen an bis auf Trogus, Diodor, Nikolaos will ich hier nur kurz verweisen ; ein ganz seltsames Mißverständnis aber ist es, wenn Spengler für sich Thukydides’ Äußerung anführt, daß die früheren Ereignisse im Vergleich mit dem peloponnesischem Kriege »nicht groß« gewesen seien, nämlich in Rücksicht auf ihre Machtmittel und Dimensionen, als Einleitung zu einer Geschichtsbetrachtung, in der er die fortschreitende kulturelle Entwicklung der griechischen Welt auf Grund wirklicher Beweisstücke (τεκµήρια) im Gegensatz (1768) zu der entstellten und dafür unbrauchbaren Tradition darlegen will, also wenn irgendjemand historischen Sinn zeigt und die historische Kritik und damit die Geschichte als Wissenschaft begründet hat, [so war es Thukydides. A. D.]. Spengler hat den Versuch gewagt, die meisten der angeführten Kulturen (Babylonien und Indien werden nur gelegentlich berührt) in ihrem inneren Wesen und den Grundzügen ihrer Hauptepochen zu charakterisieren. Aus dem Parallelismus ergeben sich die »Gleichzeitigkeiten« zwischen Vorgängen und Gestalten, die dem Datum nach weit voneinander abliegen, aber auf derselben Entwicklungsstufe stehen. Von diesem Mittel hat er in weitestem Umfang Gebrauch gemacht, nicht nur, um bekannte Erscheinungen in die richtige Beleuchtung zu rücken – als Beispiel nenne ich etwa die Gleichsetzung der Pythagoreer, Mohammeds und der Puritaner Cromwells, oder die von Thutmosis III., Augustus und Hoangti, dem Begründer des chinesischen Kaiserreichs (221–210 v. Chr.; in Wirklichkeit würde, soweit ich ein Urteil wagen darf, dieser wohl eher mit Caesar, die erste Handynastie mit dem von Spengler in seiner Bedeutung nicht gewürdigten Augustus zu gleichen sein) –, sondern oft auch, um auf Grund eines Postulats nur ganz dürftig bekannte oder völlig verschollene Epochen zu rekonstruieren, so vielfach in Ägypten (z. B. die Gleichsetzung der Hyksoszeit mit dem Hellenismus, der Zeit der kämpfenden Staaten in China, und weiter mit dem Sultanat und den Usurpatoren in Byzanz im 10. Jahrhundert, und mit den Machtkämpfen seit Napoleon, II 537 ff.), und ebenso bei den Mayas. Die zahlreichen Konstruktionen dieser Art enthalten fast immer etwas Anregendes, nicht selten auch etwas Zutreffendes und wirklich Förderndes ; aber vorsichtige Prüfung ist überall dringend geboten, und in vielen Fällen wird die Kritik der Sachkenner mit Recht nachdrücklich Einspruch erheben. Gewiß ist die Analogie, wo sie wirklich begründet ist, ein wesentliches Hilfsmittel der geschichtlichen Erkenntnis ; aber der historische Prozeß ist viel zu mannigfaltig, das Gebiet der Möglichkeiten viel zu groß, als daß sie allein zu einer Rekonstruktion des Wirklichen ausreichen könnte.
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Das gleiche gilt nun auch von dem Gesamtbilde der einzelnen Kulturen. In ganz hervorragender Weise hat Spengler alle ihre Schöpfungen dafür herangezogen, Musik und Drama, die bildenden Künste, Religion und (1769) Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaft, Staatgestalt und Politik und ebenso die Gestaltung des Wirtschaftslebens. Hierin liegt ein großes Verdienst seines Werkes, das eine wesentliche Förderung unserer Gesamtauffassung bringt. Aber Kritik ist auch hier durchweg unerläßlich. Einer alle Einzelheiten umfassenden Nachprüfung wird kaum irgend jemand gewachsen sein, und wer sie versuchte, müßte ein Buch von gleichem Umfang schreiben. Die für ihn bedeutsamste Offenbarung sieht Spengler, wohl auf Grund seines Studienganges, auf einem Gebiet, das dem Historiker in der Regel am fernsten liegt, in der Mathematik. Ihm da im einzelnen zu folgen, bin ich (und das gleiche gilt auch für die Musik und gar manche andere Gebiete) völlig außerstande. Doch möchte ich bemerken, obwohl in der höheren Mathematik vollständiger Laie, daß, wenn er behauptet, jede Kultur habe eine total andere, der fremden Kultur geradezu unverständliche Mathematik geschaffen, in der ihre Seele den zutreffendsten Ausdruck finde (auch für Ägypten und für Babylon wird die Existenz einer derartigen wissenschaftlichen Mathematik neben den empirischen, durch die Praxis gewonnenen Sätzen als Grundlage ihrer Weltanschauung und ihrer Kunst postuliert), und die euklidische Mathematik sei daher, wie von der »arabischen« und der indischen, so von der modernen fundamental verschieden, diese werde dadurch geradezu verfälscht, daß jene als ihre Grundlage fortgeschleppt werde, diese Behauptung meinem Denken, und ich möchte glauben, dem vieler anderen doch auch auf dem Boden der »faustischen« Kultur Erwachsenen, gänzlich unfaßbar, ja widersinnig erscheint. Und wie vollends der Satz, daß »für unser Auge Parallelen sich am Horizont berühren« (I 93, 224), die Allgemeingültigkeit der euklidischen Raumanschauungen widerlegen soll, ist mir ein vollkommenes Rätsel ; folgt doch gerade aus den Grundsätzen dieser Raumanschauung, daß zwei Parallelen sich bei größerer Entfernung scheinbar immer näher rücken und schließlich zusammenfallen (aber nicht etwa sich schneiden) müssen ; daß sie das in Wirklichkeit nicht tun, lehrt ebensowohl die Mathematik wie die praktische Erfahrung, wenn wir an ihnen entlang gehen. Und ebensowenig vermag ich einzusehen, wie daraus, daß die gedankliche Konstruktion eines gekrümmten Raumes oder eines Raumes von mehr als drei Dimensionen in sich widerspruchslos ist, folgen soll, daß der euklidische Raum nicht (1770) der einzige ist, der unserer Anschauung entspricht. Jene sind theoretisch möglich und mögen als Mittel für Rechnungen ungeheuer brauchbar sein ; aber dieser ist der einzige, den wir anschauen und uns sinnlich vorstellen können, und das ist doch das allein Entscheidende. Gewiß hat Spengler mit Recht die moderne Mathematik des Unendlichen zur Charakteristik des »faustischen« Dranges in Ungemessene und nach Überwindung
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der Sinnlichkeit verwendet ; aber ebenso zweifellos bleibt mir, nach wie vor, daß die Mathematik als Wissenschaft und das wissenschaftliche Denken überhaupt ausschließlich eine Schöpfung der Griechen ist, und daß daher jede Wissenschaft, die auf Erden existiert, auf die geistige Bewegung zurückgeht, die sich in der griechischen Welt von der Mitte des sechsten bis zum Ausgang des vierten Jahrhunderts abgespielt hat. Damit ist sie in derselben Weise die Grundlage alles höheren geistigen Lebens geworden, wie alle Kunst, die seitdem aufgetreten ist, wie auch die Indiens und Ostasiens abhängig ist von der Umgestaltung des Kunstdenkens und der Kunstformen, die sich in der gleichen Zeit auf griechischem Boden vollzogen hat. Im übrigen beschränke ich mich auf die Frage, ob die Liste der hohen Kulturen, die sich nach Spenglers Auffassung von dem Moment an, wo sie geboren werden, unabhängig voneinander parallel entwickeln, wirklich den geschichtlichen Tatsachen entspricht und daher den Schlüssel zum Problem der Geschichte bietet. Eine genauere Betrachtung zeigt sofort, daß sie keineswegs homogen sind. Die ägyptische, babylonische, indische, chinesische, mexikanische Kultur sind an ein bestimmt abgegrenztes Gebiet und ebenso an ein bestimmtes, einheitliches Volkstum gebunden ; oder falls etwa ein neuer Stamm eindringt und hier die Herrschaft gewinnt, so gehört dieser doch demselben eng beschränkten Kreise an und verschmilzt mit dem ursprünglichen Träger. Anders steht es schon mit der griechischen oder »apollinischen« Kultur, und vollends mit der »arabischen« oder der »magischen« und der abendländischen oder »faustischen«. Sie alle verbreiten sich über einen weiten Kreis sehr verschiedenartiger Völker, die griechische ist wenigstens in ihrem späteren Stadium, die beiden anderen von Anfang an weder national noch lokal gebunden. Der Unterschied tritt in der Doppelbenennung deutlich hervor, die (1771) Spengler sehr mit Recht verwendet, in dem Gefühl, daß die Benennung nach einem einzigen Volkstum unzulänglich sein würde. Unter der griechischen Kultur wird Rom mitbegriffen ; es soll lediglich ihr Endstadium, die jüngeren Epochen der Zivilisation (in deren Anfang, der hellenistischen Zeit, wir stehen) vertreten. Damit wird die Bedeutung Roms ganz wesentlich unterschätzt. M. E. wäre es viel treffender gewesen, wenn Spengler den glücklichen Ausdruck, den er in die Geschichtsbetrachtung eingeführt hat, den der Pseudomorphose – daß eine neu aufstrebende bodenständige Entwicklung durch eine mächtig darüber lagernde fremde Kultur in deren Formen gezwängt wird und nicht zur vollen Entfaltung ihres Eigenwesens gelangen kann, wie z. B. im petrinischen Rußland – auch hier verwendet hätte. Denn wenn die Form des römischen Lebens und seiner Bildung seit dem hannibalischen Kriege immer vollständiger vom Hellenismus beherrscht wird, so ist die römische Seele doch eine ganz andere. Sie manifestiert sich unter der fremden Hülle in allen wirklich bedeutsamen Schöp-
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fungen der römischen Literatur, in den Geschichtswerken und Memoiren, die die führenden römischen Staatsmänner schreiben – am Beginn der Reihe stehen Cato’s Origines mit ihrem ganz römischen oder italischen Erdgeruch, am Schluß Tacitus –, in dem historischen Epos von Naevius bis Vergil, in der Satire, lauter echt römischen Schöpfungen, denen der Hellenismus nichts Gleichartiges und Gleichwertiges an die Seite zu stellen hat ; und das gleiche gilt vom römischen Staatsbau, der Reichsorganisation und dem Reichsrecht. Die ungeheure Bedeutung des Augustus, die Spengler nicht würdigt – er wundert sich, daß ich auf den Unterschied zwischen Caesars Monarchie und Augustus’ Prinzipat ein entscheidendes Gewicht gelegt habe ; »das sind jetzt leere, staatsrechtliche Formeln« (II 61 ; 543) –, beruht darin, daß er diesem Römertum noch einmal Luft geschafft hat ; durch ihn stellt sich in den großen Schöpfungen der augusteischen Literatur, die alles, was der Hellenismus an Analogem hervorgebracht hat, weitaus überragen, Rom ebenbürtig neben das Griechentum und schafft Werte, die nie vergehen werden. Als die hellenistisch-römische Kultur in das Stadium der vollentwickelten Zivilisation und damit des Erstarrens und inneren Absterbens eingetreten ist, entsteht nach Spengler in den Gebieten des vorderen Orients eine neue ganz (1772) andersartige Kulturseele. Der Name der arabischen Kultur, den er für sie gewählt hat, ist recht unglücklich ; denn wenn auch im Bereich des Islams, in dem sie ihre abschließende Gestalt erhält, die arabische Sprache herrscht, so hat doch das echte Arabertum mit ihr vor Mohammed gar nichts, auch nach ihm nur recht wenig gemein. Treffender ist die Bezeichnung als magische Kultur auf Grund der sie beherrschenden religiösen Einstellung, wenngleich wir uns ja gewöhnt haben, unter Magiern nicht nur speziell die Priesterschaft der zoroastrischen Religion, sondern daneben nach griechischem Vorgang ganz allgemein das Zauberwesen zu verstehen, in einem Umfang, der weit über den Bereich dieser »magischen Kultur« hinausreicht. Indessen die Gruppe von Erscheinungen, die Spengler unter diesem Namen zusammenfaßt, bedarf in der Tat einer einheitlichen Bezeichnung, und so wird es in Ermangelung eines Besseren wohl dabei bleiben müssen. Die charakteristischen Züge der magischen Seele sind das Bild des Weltraums als Höhle (nach einem Ausdruck von L. Frobenius), der Dualismus, der [un]unterbrochen fortdauernde Kampf um die Weltherrschaft zwischen der guten und der bösen Macht und die Stellung des Menschen in ihrer Mitte mit der Möglichkeit, der einen oder der anderen anheimzufallen, und dementsprechend im Menschen die Scheidung zwischen den niederen, der unteren Welt angehörenden und mit dem Leibe verbundenen Lebenstrieben der Seele (nephesch, psyche) und dem von oben in den Menschen einströmenden und ihn in das göttliche Reich erhebenden Geisteshauch (rûach, pneuma) ; und weiter, daraus erwachsend, an Stelle der naturwüchsigen Gruppen des Volkstums, des Geschlechtsverbandes, des Staats, der Zu-
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sammenschluß zu einer »magischen Nation« der gleichgesinnten unter göttlicher Führung durch den consensus (Arab. idjmâ’), mit anderen Worten die Umwandlung des Staats in eine Kirche, mit der Pflicht, alle Abweichenden schonungslos zu bekämpfen und womöglich zu vertilgen, und so diese Einheit des Gottesstaats zu verwirklichen. Die Geburt dieser neuen Seele fällt in das letzte Jahrhundert v. Chr., etwa die Zeit des Augustus ; das Christentum, die Mysterienreligionen des hellenistischen Synkretismus nebst dem astrologischen Weltbild, das rabbinische Judentum, die parsische Kirche sind ihre großen Schöpfungen, der Islâm, der dem abendländischen Puritanismus entspricht, bildet den Abschluß, (1773) von dem es dann durch die Spätzeit der Kultur zur Zivilisation hinabgeht. Daß mit diesen Zügen eine eigenartige, von allen anderen abweichende Epoche der Kulturentwicklung zutreffend charakterisiert wird, liegt auf der Hand, und sie in dieser Weise zusammenfaßt und lebendig gestaltet zu haben, ist ein großes und bleibendes Verdienst des Spenglerschen Werkes. Aber eine andere Frage ist, ob es sich hier wirklich, wie bei der ägyptischen, griechischen, chinesischen Kultur, um eine neue, urplötzlich und ohne einen Zusammenhang mit dem Vorhergehenden ins Leben tretende »Kulturseele« handelt. Da erheben sich sofort die größten Bedenken, wenn wir den Umfang des ihr zugewiesenen Gebiets sowohl zeitlich wie räumlich betrachten. Der Dualismus ist iranischen Ursprungs – wenn Spengler dafür Persien sagt, so ist das nicht nur viel zu eng (der Parsismus ist niemals auf die Landschaft Persis beschränkt gewesen), sondern hat ihn mehrfach zu verhängnisvollen Mißgriffen geführt ; er ist die Schöpfung Zoroasters. Dessen Lebenszeit zweifellos nicht, wie Spengler glaubt, um 600 – sehr mit Unrecht verwendet er die elende parsische Tradition als geschichtlich brauchbar (II 248) –, sondern jedenfalls mehrere Jahrhunderte früher anzusetzen ist. Auf der anderen Seite wird der magischen Kultur ebensogut nicht nur das Judentum zugerechnet, und zwar sowohl in seiner jüngeren, dualistischen Gestalt unter parsischem Einfluß, der pharisäischen Religion, wie in der älteren, durch den Akt vom J. 444 geschaffenen, die von diesen Dingen noch gar nichts weiß – das etwa um 400 verfaßte Buch Hiob gehört nach Spengler durchaus in die Kultur der »Welthöhle« und »hat an innerer Größe in der ganzen arabischen Kultur nicht seinesgleichen« (II 295, vgl., 252 ; er hilft sich damit, daß er es »mitten in der arabischen Vorzeit entstanden sein läßt) – ; sondern auch die vorexilischen Propheten, »Weggenossen Zarathustras« (II 201, 284) gehören schon hierher. So kommen wir auf beiden Gebieten hoch ins erste Jahrtausend v. Chr. hinauf. In Wirklichkeit hat sich eine allgemeine »orientalische« Kultur, wie sie vor allem in den Lebensregeln der Weisheitsliteratur, aber auch in der Kunst und den Lebensformen hervortritt, schon seit dem zweiten Jahrtausend gebildet ; die entscheidende Wendung aber, aus der das »magische« Weltbild erwachsen ist, ist mit der Aufrichtung des Achämenidenreiches eingetreten, dem tiefgreifendsten
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Einschnitt in der (1774) Geschichte des vorderen Orients : mit dem Ende des selbständigen politischen Lebens der Völker wandelt sich das Volkstum in die Religion, und die Folge ist einerseits die Individualisierung und Assimilierung der einzelnen Kulte, andrerseits die Propaganda und der Proselytismus. Das gleiche Ergebnis zeigt ein Blick auf den räumlichen Umfang. Das zentrale Gebiet umfaßt die aramäischen Lande und dazu einerseits Iran, andrerseits Ägypten und Kleinasien. Aber nach Spengler gehört auch das gesamte Abendland seit der Kaiserzeit zum Bereich der magischen Seele, nur infolge der übermächtig darüber gelagerten Formen der »apollinischen« Kultur in Gestalt einer Pseudomorphose. Dem »arabischen Osten« rechnet er unter anderem die Gestalt des römischen Reichsrechts seit 160 n. Chr. zu, vertreten durch Papinian, Ulipian, Paulus, von denen ja allerdings der zweite und vielleicht auch der erste aus den syrischen Landen stammen (II 82 ; den Vollender des eigentlich klassischen Rechts, Julian unter Hadrian, berücksichtigt er nicht), in der Kunst die Basilika, ferner Diokletian, »den ersten Khalifen«, und ebenso das gesamte abendländische Christentum, griechisch wie römisch, wenn auch in einer durch die Pseudomorphose bewirkten Entstellung seiner »magischen« Gestalt. »Augustin ist der letzte große Denker der früharabischen Scholastik und nichts weniger als ein abendländischer Geist« (II 293). Daß diese Auffassung irgendwie Zustimmung finden wird, erscheint mir undenkbar. Nicht um die plötzliche Geburt einer neuen Seele handelt es sich, sondern um einen sich durch Jahrhunderte hinziehenden Prozeß, in dem wie die Gestalt des staatlichen und sozialen Lebens so die Ideenwelt sich wandelt und neue Gedanken und Formen schafft. Den Ausgangspunkt bildet die stille Reaktion des Orients gegen den darübergelagerten Hellenismus, die dann ständig fortschreitend auch das Abendland ergreift. Dabei spielt die Völkermischung wohl eine, aber nicht die entscheidende Rolle, wohl aber das Absterben des selbständigen staatlichen Lebens, die Nivellierung des einheitlichen Weltreichs, und das Versagen der Kraft, innerhalb der alten Kultur noch große Aufgaben zu finden und anzupacken. Und doch behauptet sich innerhalb der Homogenität auch hier noch das alte Volkstum und gelangt immer wieder zum Durchbruch ; gerade der Unterschied zwischen dem griechischen und dem römischen (1775) Christentum, zwischen den Alexandrinern und Tertullian und Augustin zeigt deutlich, daß seine Lebenskraft dennoch keineswegs erloschen ist : dort dominiert die Spekulation und daher die Dogmatik, hier die Ethik und die praktischen Aufgaben. Vom Orient gilt das gleiche. Die Sonderart der einzelnen Völker und die daraus erwachsenden Gegensätze der Anschauung brechen immer wieder hervor ; mit vollem Recht hat Spengler darauf hingewiesen, wie sie in dem Gegensatz (nach ihm dem der Pseudomorphose und der echten magischen Ideen) zwischen dem
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orthodoxen, von den Konzilien festgelegten Christentum der Staatskirche und den orientalischen Kirchen der Nestorianer und Monophysiten, des Judentums, des sassanidischen Parsisimus und schließlich des Islâms sich Luft schafft. Noch weit deutlicher redet die Geschichte des Islâms. Entstanden ist er unter Eindringen jüdischer und christlicher Einflüsse als Produkt des echt semitischen arabischen Geistes – der mit Spenglers »arabischer Kultur« nichts gemein hat – ; dann aber, als er sich die Kulturgebiete unterwirft, erfährt er langsam eine tiefe Umwandlung, die Spekulation dringt ein, gegen die sich die alte Orthodoxie von Medina vergeblich zu wehren sucht, und neben der Scholastik geht die Mystik einher. In den zahlreichen Sekten aller Richtungen, von der extremsten Orthodoxie bis zu den wirklich der »magischen« Welt angehörenden Gestaltungen des Schiitismus und des Kultus der Aliden, schaffen sich die alten Volkstümer wieder Luft. Nirgends tritt das stärker hervor als in Iran ; in dem fundamentalen Unterschied zwischen der arabischen und der sogenannten persischen Dichtung – aber Firdusi besingt die Heldengeschichte nicht etwa Persiens, sondern Irans –, bei aller Übereinstimmung der äußeren Form, offenbart sich der Kontrast zweier Welten. Die Dichtungen des persischen Sufismus, wohl die tiefste und formvollendetste Gestalt, welche die religiöse Mystik in der Weltliteratur gefunden hat, wandeln den echten, arabischen Islâm in sein diametrales Gegenteil um. In geradezu typischer Weise gelangt das bei Djelâl-eddȋn Rûmȋ zum Ausdruck, wenn er seinen Lehrer Schemseddȋn Tebrȋzȋ als höchsten Inbegriff seines Denkens die Formel lâ ilâha illâ’llâhu »kein Gott außer Allâh« verkünden läßt – in Arabien die Formel für den absoluten, unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Gottheit und Welt, hier dagegen für die (1776) pantheistische Einheit des Universums –, und wenn für die sufischen Derwische das Wort Allâh hû das Mittel wird, durch das sie zum Schauen der Gottheit und zum Aufgehen ihrer Existenz in dem Einen gelangen : »Gott ist das Es«, das ist nicht anderes als das âtman (die Weltseele) der Inder und deren Formel tat tvam asi »das Es bist du !«. So haben wir es auch hier nicht mit einer neuen, urplötzlich in die Erscheinung tretenden Seele zu tun, sondern mit einer fortschreitenden Kulturentwicklung, die unter der Wirkung sowohl der politischen wie der geistigen Vorgänge die verschiedensten Gebiete und Volkstümer ergreift und infolge der ununterbrochenen Durchkreuzung dieser Strömungen sich ständig wandelt und in mannigfaltigen, stets ebensowohl in enger Fühlung wie in innerem Gegensatz zueinander stehenden Gestaltungen sich entfaltet. Es sei aber ausdrücklich noch einmal hervorgehoben, daß wenn man Spenglers Darstellung ihrer extremen und daher mit Absicht einseitigen Fassung entkleidet, gerade diese Abschnitte zu den wertvollsten seines Werkes gehören und das Verständnis der geschichtlichen Vorgänge ganz wesentlich gefördert haben und weiter
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fördern werden. Ich möchte hier noch besonders auf den glücklichen Ausdruck »zweite Religiosität« für die Frömmigkeit des Endstadiums der Zivilisation hinweisen (II 282 ff.). Die Charakteristik, die er im Anschluß daran von dem Judentum entwirft, als dem geschichtslos gewordenen Endstadium einer »magischen« Nation mit dem Ghetto »als einem wenn auch noch so armseligen Stück Großstadt« inmitten einer ganz andersartigen Welt, in die es zersetzend eintritt, weil es sie von einer ganz anderen Ideenwelt aus anschauen muß, die auch bei besten Willen ein gegenseitiges Verstehen schlechthin unmöglich macht, ist wohl das Tiefgreifendste, was über dieses Problem gesagt ist. Und nicht anders steht es nun auch mit der »faustischen« Kultur des Abendlandes. Erwachsen ist sie in der nordgermanischen Welt aus den Vorstufen der primitiven Kultur um die Wende des ersten Jahrtausends. Das neue Christentum mit dem Marienkult als Zentrum und dem Gegenbild des Teufels und seiner Heerscharen, die Weltangst und Weltsehnsucht, die gotische Kunst und Musik, das neue mathematische Raumbild sind der typische Ausdruck ihres ersten Kulturstadiums, aber ebenso die skandinavische Mythologie und Dichtung und das germanische Epos. (1777) Aber sie umfaßt das gesamte Europa, natürlich mit Ausschluß der slawischen und griechischen Welt, und aus den verschiedensten Völkern werden neben den politischen Vorgängen bedeutende Kulturschöpfungen zur Illustration herangezogen, so Dante, Giordano Bruno, Shakespeare, die Kunst der Renaissance und des Barock, Mathematik, Naturwissenschaft, Philosophie, Musik. Aber oft genug ist hervorgehoben worden, daß daneben große Gebiete unberücksichtigt geblieben sind. Die romanischen Völker, die große Literatur der Spanier und der Franzosen fallen so gut wie völlig aus, in wesentlichen Teilen auch England ; es ist eben unmöglich, die unerschöpfliche Mannigfaltigkeit der Einzelerscheinungen als seelische Einheit zusammenzufassen. Trotz aller Phantasien von Kosmopolitismus, von Völkerbund und ewigem Frieden bleiben die Gegensätze der Volkstümer das Primäre, das innerhalb der universellen Kultur immer von neuem als die treibende Kraft hervorbricht ; Franzosen, Engländer, Amerikaner, Deutsche, Italiener sind in ihrem Weltbild, in ihrem Empfindungsleben, im sittlichen Verhalten und auch in ihrer Stellung zur Kunst von Grund aus verschieden, und ein jeder, welchem Volke er auch angehören mag, empfindet den unüberbrückbaren Gegensatz, der hier vorliegt, als die elementare Kraft seines Daseins, oder, um das moderne Wort zu gebrauchen, seiner Mentalität. In der Steigerung des Volkstums zur Nationalität, diesem letzen, in langer Züchtung hervorgetriebenen Produkt der historischen Entwicklung, die, zunächst im Anschluß an die politische Gestaltung, seit dem sechzehnten Jahrhundert sich immer kräftiger herausbildet und seit der Revolutionszeit zur dominierenden Stellung herangewachsen ist, hat diese Volkskraft und damit im Gegensatz zur Uniformität der Kultur die zentrifugale Tendenz ihre ab-
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schließende Gestaltung gefunden ; in der Idee wird sie dann gegen alle Geschichte in die Uranfänge zurückdatiert und mit naivem Glauben als ewiges Urelement des Volkstums betrachtet, das sich im Verlauf des historischen Prozesses real verwirklicht habe. So läßt sich auch hier die unendliche Mannigfaltigkeit nicht unter eine einzige Formel bringen ; vielmehr ist das Wesentliche eben dieses Ringen der verschiedenen Tendenzen, die doch wieder, über alle Gegensätze hinweg, freundlich und feindlich sich berührend in einer großen Kulturgemeinschaft stehen. Und dazu (1778) kommt nun die Erbschaft aus der antiken Kultur, die Spengler als irrelevant behandelt. Aber mag man z. B. die Übernahme des Christentums als noch so nebensächlich betrachten, weil dessen inneres Wesen sich gründlich gewandelt habe – daneben brechen aber seine ursprünglichen Grundgedanken doch immer wieder in einzelnen Persönlichkeiten wirkungsvoll hervor –, so bleibt doch dessen das Gesamtgebiet zusammenfassende Form, es bleibt die Übernahme von Schrift und Literatur, die die Kultur der merowingischen Zeit gewiß nicht aus eigener Kraft geschaffen hätte, und weiter der Besitz einer universellen Sprache, des Lateinischen, das zu seiner Verwendung eine gelehrte Erziehung und einen Gelehrtenstand in klerikalem Gewande erfordert. Und dazu kommt die durch das Imperium Romanum geschaffene Idee der Einheit der Menschenwelt, die sich in die Einheit der Christenheit umsetzt und in doppelter Gestalt, als Papsttum und als Kaisertum, zu verwirklichen sucht. Welche grundlegende Bedeutung dieser Idee und dem Ringen dieser beiden Mächte für die gesamte folgende Entwicklung zukommt, bedarf keiner weiteren Bemerkung. Für die Einwirkung gleichzeitiger Kulturen aufeinander aber genügt es, auf die Beziehungen des Abendlandes sowohl zu Byzanz wie zum Islâm zu verweisen ; Aristoteles und die Scholastik ist ihm aus der muslimischen Philosophie zugekommen, und dabei hat, wie früher bei der Überführung der hellenistisch-aramäischen Wissenschaft ins Arabische, vor allem das Judentum als Vermittler gespielt. So bewährt sich auch hier – und das gleiche gilt von allen Gebieten der Weltgeschichte – im Gegensatz zu Spengler der Begriff der Kulturkreise. Bodenständige Kulturen entstehen urwüchsig zunächst isoliert in engumschriebenen Räumen ; aber von hier strahlen sie aus auf die Nachbargebiete, sie erweitern ihren Bereich, sie treten in Berührung miteinander, gebend und nehmend, und können dadurch zu einem sich ständig vergrößernden Kreise verwachsen. Aber eben dadurch wächst auch der Widerstand der urwüchsigen Elemente des geschichtlichen Lebens, die die homogene Kultur wohl sich einzugliedern, aber nicht innerlich zu überwältigen vermag ; und zugleich wandelt sich stetig das innere Wesen, die Seele dieser Kultur, bis ihre innere Kraft erlischt, sie verflacht und in Erschöpfung erstarrt und abstirbt. Dieses Schauspiel erleben wir gegenwärtig : die europäische Kultur (1779)
hat den Versuch gemacht, über alle inneren Gegensätze hinweg den ganzen Erdball zu unterjochen ; aber ihre Einheitlichkeit war nur ein äußerer Schein, und so hat sie in dem Kampf, den die Erreichung dieses Ziels in ihrer Mitte selbst erzeugte, innerlich bereits angefressen, sich selbst die Todeswunde beigebracht, an der sie verbluten muß. Gerade diese Momente der inneren Zersetzung hat Spengler in den der Kritik der jetzt zur Herrschaft gelangten Anschauungen gewidmeten Abschnitten, den Kapiteln über Staat und Politik, über Demokratie und Parlamentarismus mit seinem wüsten Parteitreiben, über die Allmacht der Presse, über das Wesen der Großstadt, über das Wirtschaftsleben, Geld und Maschine in glänzender Weise geschildert. Sein vernichtendes Urteil teile ich durchaus und ich sehe vielleicht trüber in die Zukunft unseres Volkes als er, der von dem Zustande der Zivilisation, in den wir eingetreten sind, zwar einen bewußten Verzicht auf unerreichbare Ziele fordert, aber angesichts der großen Aufgaben, die noch geblieben sind und deren Lösung das deutsche Volk versuchen muß, trotz allem ein hoffnungsvolles Vertrauen bewahrt. Indessen mag der Einblick, den ein Historiker in die wirkenden Kräfte des geschichtlichen Lebens und in seine (1780) eigene Gegenwart gewonnen hat, auch noch so tief dringen : der Versuch, Geschichte vorauszubestimmen, muß immer problematisch bleiben ; die Möglichkeiten, die sich aus dem Zusammenwirken dieser Kräfte und aus dem Ineinandergreifen der Einzelgebiete ergeben, sind viel zu mannigfaltig, als daß sich die Gestaltung der Zukunft mit Sicherheit erkennen ließe. Wer wäre z. B. kühn genug, mit Zuversicht voraussagen zu wollen, ob die gewaltige Bewegung, welche gegenwärtig die islamischen Völker – und gleichartig die ostasiatische Welt – ergriffen hat, nur eine ephemere Erscheinung ohne tiefere Bedeutung ist, ober ob hier aus dem Gärungsprozeß, der durch die Nationalitätsidee und die abendländische Kritik in sie hineingetragen ist, eine neue Kraft erwächst, die das Antlitz der Weltgeschichte ändert ? Und so wird man schließlich die Frage aufwerfen dürfen, ob Spenglers faustische Kultur und sein gesamtes Bild der Weltgeschichte nicht doch vielleicht keineswegs ein Produkt dieser postulierten Gesamtkultur ist, sondern ein echtes Erzeugnis der spezifisch deutschen Kultur in der Gestalt, die sie am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts angesichts der ihr gestellten Probleme gewonnen hat.
Der Rabe Ralf ruft schaurig : »Kra ! Das End ist da, das End ist da !« Christian Morgenstern
Nachwort
Als 1980 der hundertste Geburtstag Spenglers anstand, suchte der Programmleiter des C. H. Beck-Verlags Ernst Peter Wieckenberg nach Autoren für den im Vorwort genannten Essayband, den Peter Christian Ludz in München herausgeben sollte. Da Ludz vorzeitig aus dem Leben schied, sprang Lübbe ein. Es war still geworden um Spengler im schwarz-weißen Blätterwald der Nachdenker. Daher kämmte Wieckenberg die Vorlesungsverzeichnisse der deutschen Universitäten durch und entdeckte, daß ich in der Freien Universität Berlin für das Wintersemester 1977/78 ein Theorie-Colloquium über Spengler angekündigt hatte. Dessen beide Bände mit dem unübersehbaren weiß-schwarzen Rücken standen in den Bibliotheken meines Vaters und in denen meiner Großväter. Sie reizten schon den Gymnasiasten, doch bewältigt wurden sie erst in der Marburger Studienzeit. Das war 1965 in meiner Dissertation, als ich das Lebensaltergleichnis bei Ammianus Marcellinus mit dem bei Spengler verglich. 1978 ging es in meinem bei C. H. Beck erschienenen Metaphernbuch auch um Spenglers zahlreiche Sprachbilder aus der Natur : den Pflanzen, den Jahres- und Tageszeiten, mit denen er die Geschichte der Hochkulturen strukturierte. Der Untergang der Sonne ist eine standortgebundene Erscheinung, der Untergang des Abendlandes nicht weniger. Aus Wieckenbergs Projekt wurde mein Text zu Spenglers Spätantike mit meiner Kritik am Begriff der Pseudomorphose, wieder gedruckt in diesem Band. Als ich 1984 meine Untergangstheorien zum Fall Roms (2. Auflage 2014) bei Beck publizierte, kam Spenglers Erklärung nicht zu kurz. Spengler taucht wieder auf 1987 in meinem Artikel ›Europessimismus‹ (in : A. D., Zeit und Unzeit, 2002, 111 ff.) und dann in den hier nochmals oder neu vorgelegten Texten. Spengler fehlt auch nicht in meinem von Wolf Jobst Siedler 1993 verlegten Buch ›Endzeit ? Die Zukunft der Geschichte‹. Es geht zurück auf meine Begegnung mit John Farrenkopf 1988 im Bratwurst-Glöckle an der Münchner Frauenkirche, als wir die Homburger Spengler-Tagung 1992 planten, für deren Finanzierung Herman Lübbe sorgte. Homburg war ein intellektuelles Gabelfrühstück. 1994 brachte Böhlau die Vorträge heraus. Vor der Jahrtausendwende kam Spengler im Kontext von Endzeitvorstellungen mehrfach zur Sprache, so auf fünf Tagungen : 2002 im Palazzo Feltrinelli zu Gargnano am Gardasee, organisiert von Maurizio Guerri und Markus Ophälders in
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Mailand ; 2004 zum Centenarium von Spenglers Promotion in Halle in Schloß Teutschenthal unter Alexander Aichele ; 2014 in Jasi, Rumänien, geleitet durch Robert Rollinger und Lucretius Birliba ; ebenso 2014 im Kloster Wöltingerode am Harz, inauguriert durch Max Otte und wiederum Rollinger sowie 2016 in Hildesheim bei Michael Gehler. Wer sich über das anhaltende Interesse an Spengler wundert, sollte ihn lesen, ihn selbst, und nicht Schriften über ihn wie diese. Das beste, was über Spenglers Doppelwerk gesagt wurde, stammt von Eduard Meyer, dessen Kommentar von 1924 ich hier nochmals vorlege. Er erschien auf braunem, zerbröselndem Papier, 1925 als schwer zugängliche Broschüre und droht vergessen zu werden. Quod absit. Meine eigenen, hier zusammengefaßten Texte sind überwiegend Vorträge. Sie behandeln jeweils besondere Aspekte im Gesamtbild Spenglers. Da dieses meist mitgeboten werden mußte, waren Wiederholungen nicht zu vermeiden. Die Stücke sind für sich zu lesen. Alle wurden nochmals durchgesehen, teilweise gründlich überarbeitet und erweitert. Sofern es sich um Essays handelte, blieb es bei der Fassung ohne Fußnoten. Die Publikation ist die Folge einer zufälligen Begegnung mit dem Verleger Axel von Ernst auf der Frankfurter Buchmesse am 13. Oktober 2007, wo am 15. Oktober 2015 das Vorhaben besprochen wurde. Im Dezember 2015 kam ein Verfasservertrag mit den Lilienfeld-Verlag zustande, den dieser im Mai 2016 mit Rücksicht auf political correctness zu erfüllen verweigerte. Darum bin ich dem Böhlau-Verlag, namentlich Johannes van Ooyen für die Übernahme des erweiterten Textes verbunden und danke für die Fertigstellung des Manuskriptes einmal mehr Hiltrud Führer, noch immer und immer wieder. Lindheim, Fastnacht 2017
Alexander Demandt
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Publikationsnachweis der Urfassungen I. Spengler noch immer oder immer wieder ? Unpubliziert, 2015. II. Morphologie der Weltgeschichte. In : Demandt 2011, 270–289. III. Ein Requiem für Europa. In : Demandt 2002, vorgetragen am 13.XII. 1999 in Weingarten (Katholische Akademie) und am 12. XI. 2004 in Teutschenthal (Universität Halle). IV. Spengler und andere Untergänge. In : De Winde, A. (u. a. Hgg.), Tektonik der Systeme. Neulektüren von Oswald Spengler, 2016, 421 ff. Va. Endzeit-Prophetien. In : H. M. Baumgartner (Hg.), Zeit, Zeitenwende, Ewigkeit, 1999, 9–22 und : Endzeit-Propheten. In : Conturen 2, 1999, 70 ff., vorgetragen am 13. XII. 1993 in Berlin (Urania), am 16. X. 1998 in München (Katholische Akademie) und am 22. X. 1999 in Garching (Hagia Chora). Vb. Historische Apokalyptik. In : Demandt/Farrenkopf 1994, 21–44, vorgetragen am 19. II. 1992 in Bad Homburg (Reimers-Stiftung). VI. Spengler und die Spätantike. In : Ludz 1980, 25–48, und A. Demandt, Geschichte der Geschichte. Wissenschaftshistorische Essays, 1997, 60 ff. VII. Spenglers »ahistorische« Antike. Kurzfassung in : Demandt 1915, 325 ff. VIII. Spengler und Groeger. Die Zukunft des Russentums. In : Germano-Slavica 6,2, 1988, 111 f. Stark erweitert. IX. Eduard Meyer und Oswald Spengler. Läßt sich Geschichte voraussagen ? In : Demandt/Calder 1990, 159–181, vorgetragen am 12. XI. 1987 in Bad Homburg (Reimers-Stiftung) X. Geschichtsbiologismus. Oswald Spengler bei Konrad Lorenz. In : Merlio/Meyer 2014, 95–106, vorgetragen am 18. III. 2011 in Paris (Sorbonne) und am 5. XII. 2011 im Max Planck-Archiv Berlin (Eckart Henning). XI War Spengler konservativ ? Nach : Oswald Spengler, ein konservativer Denker ? In : Erträge 1, 2014, 9–38, vorgetragen am 23. XI. 2012 in Berlin (Bibliothek des Konservatismus) und am 29. XI. 2014 in Wöltingerode (Max Otte). XII. Spengler und die Weltgesellschaft. Vortrag am 6. Oktober 2016 in Hildesheim bei Michael Gehler, bisher ungedruckt. XIII. Was bleibt von Spengler ? In : Demandt, Zeit und Unzeit. Geschichtsphilosophische Essays (Historica Minora II), 2002, 276–288 und : Gangl 2009, 273–285, vorgetragen am 5. IV. 2002 in Gargnano (Universität Mailand).
Anhang : Eduard Meyer über Spenglers Untergang des Abendlandes s. Literaturverzeichnis !
Abkürzungen B. edd. EH. ep. FW. GdA hg. Hgg. JE. K. MGH. MT. PS. RA. RE. UA. UF. WB.
Briefe, s. Spengler edidit, herausgegeben von Eis heauton, s. Spengler epistula, Brief Frühzeit der Weltgeschichte, s. Spengler Geschichte des Altertums, s. Ed. Meyer herausgegeben von Mehrere Herausgeber Jahre der Entscheidung, s. Spengler Koktanek 1968 Monumenta Germaniae Historica Der Mensch und die Technik, s. Spengler Politische Schriften, s. Spengler Reden und Aufsätze, s. Spengler Paulys Realencyclopädie des classischen Altertums, hg. G. Wissowa 1898 ff. Der Untergang des Abendlandes, s. Spengler Urfragen, s. Spengler Weltgeschichtliche Betrachtungen, s. J. Burckhardt
Literatur Schriften vor 1945 erscheinen hier nur, sofern sie oben im Text verwendet wurden. Nur einmal angeführte Schriften sind nicht hier, sondern in den Fußnoten mit vollem Titel verzeichnet. Beiträge zu unten genannten Sammelwerken sind nicht einzeln aufgeführt, aber suo loco zitiert. Ausführliche Literaturlisten zu Spengler bieten Merlio 1982, Felken 1988, Boterman 1992, Lantink 1995 und Engels 2012, 2015 Aaron, R., L’histoire et ses interprétations, 1961 Adorno, Th. W., Spengler nach dem Untergang. Zu Oswald Spenglers 70. Geburtstag. In : Der Monat, Mai 1950, 115 ff. Adorno, Th. W., Wird Spengler recht behalten ? In : Frankfurter Hefte 10, 1955 Afanassiev, V., Konservative russische Geschichtsphilosophie, Moskau 2006 Anderle, O., Das universalhistorische System Arnold Joseph Toynbees, 1955 Anderle, O., Toynbees Antwort an seine Kritiker. In : Historische Zeitschrift 208, 1969, 81 ff. Anderle, O., Die klassische Antike als Modell in der morphologischen Interpretation der Hochkulturen. In : Saeculum 19, 1969, 97 ff. Azzaro, P. L., Deutsche Geschichtsdenker am Anfang des 20. Jahrhunderts und ihr Einfluß in Italien. Kurt Breysig, Walther Rathenau, Oswald Spengler. In : H. Fleischer/P. Azzaro (Hgg.), Das 20. Jahrhundert. Zeitalter der tragischen Verkehrungen (Festschrift Nolte), 2003, 243 ff. Azzaro, P. L., Deutsche Geschichtsdenker um die Jahrhundertwende und ihr Einfluß in Italien. Kurt Breysig, Walter Rathenau, Oswald Spengler, 2005 Ball, H., Der Künstler und die Zeitkritik, 1984 Baltzer, A., Oswald Spenglers Bedeutung für die Gegenwart, 1959 Baltzer, A., Philosoph oder Prophet ? Oswald Spenglers Vermächtnis und Voraussagen, 1962 Baltzer, A., Untergang oder Vollendung ? Spenglers bleibende Bedeutung, 1956 Beckerath, E. v., Spengler als Staats- und Wirtschaftsphilosoph. In : Ders., Lynkeus. Gestalten und Probleme aus Wirtschaft und Politik, 1962 Bengel, J. A., Erklärte Offenbarung Johannis etc., 1740 Benn, G., Zum Thema Geschichte (1943). In : Ders., Essays I 1959, 371 ff.; 383 f. Besier, G., Die Mittwochsgesellschaft im Kaiserreich, 1990 Beßlich, Barbara, Faszination des Verfalls. Thomas Mann und Oswald Spengler, 2002 Bienefeld, H.-J., Physiognomischer Skeptizismus. Oswald Spenglers ›Morphologie der Weltgeschichte‹ im Kontext zeitgenössischer Kunsttheorien. In : Bialas, W./Stenzel, B. (Hgg.), Die Weimarer Republik zwischen Metropole und Provinz, 1996, 143 ff. Bloch, E., Spenglers Raubtiere und relative Kulturgärten. In : Ders., Erbschaft dieser Zeit, 1962, 318 ff. Bollenbeck, G., Eine Geschichte der Kulturkritik von Rousseau bis Günther Anders, 2007
Literatur
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Borkenau, F., Spengler – weitergedacht. Eine Antwort auf seine Kritiker (1955) In : Ders., Ende und Anfang, 1984, 49 ff. Boterman, F., Oswald Spengler en Untergang des Abendlandes. Cultuurpessimist en politiek activist, 1992 Bouveresse, J., Spenglers Rache, In : Neue Rundschau 4, 1996, 58 ff. Brandes, W. (u. a. Hgg.), Endzeiten. Eschatologie in den monotheistischen Weltreligionen, 2008 Breuer, St., Anatomie der konservativen Revolution, 1993 Buchholz, L.-O., Oswald Spengler. Eine Studie zur Entstehung und weltanschaulichen Wirkung eines politischen Leitbildes des deutschen Imperialismus in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts, 1984 Burckhardt, J., Weltgeschichtliche Betrachtungen, 1868/1955 (WB) Bush, R., Pound and Spengler. In : Paideuma 5, 1976, 63 ff. Cacciatore, F. M., Das Bündnis zwischen weißer und farbiger Revolution. In : Gangl (s. u !) Calder, W. M./Demandt, A. (Hgg.), Eduard Meyer. Leben und Leistung eines Universalhistorikers, 1990 Chaunu, P., Histoire et décadence, 1981 Clemen, O. (Hg.), Luthers Werke VIII, 1930 Collingwood, R. G., The Idea of History, 1946/67 Conte, D., Catene di civiltà. Studi su Spengler, 1994 Conte, D., Introduzione a Spengler, 1997 Conte, D., Storicismo e storia universale, 2000 Conte, D., Oswald Spengler. Einführung (1997), 2004 Conte, D., Weltgeschichte und Pathologie des Geistes. Benedetto Croce zwischen historischem Denken und Krise der Moderne, 2005/2007 Danilewsky, N. J., Rußland und Europa (1871), 1920 Darwin, Ch., Die Abstammung des Menschen (1871), eingeführt von Ch. Vogel, 1982 Darwin, Ch., Die Entstehung der Arten (1859), 1860/1893 Darwin, Ch., On the Origin of Species by Means of Natural Selection or the Preservation of Favoured Races in the Struggle of Life, 1859 Darwin, Ch., The Descent of Man and Selection in Relation to Sex, 1871 Demandt, A., Zeitkritik und Geschichtsbild im Werk Ammians, 1965 Demandt, A., Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken, 1978 Demandt, A., Der Fall Roms. Die Auflösung des römischen Reiches im Urteil der Nachwelt, 1984/2014. Darin : Spengler und seine Verbesserer, 446 ff. Demandt, A., Europessimismus. Ein Überblick über das Dekadenzproblem. In : Die politische Meinung 32, 1987, 6 ff. Demandt, A., Spengler und Groeger. In : Germano-Slavica 6, 2, 1988, 111 f. Demandt, A., Historische Selbstentlastung in der Antike. In : Loewenstein, B. (Hg.), Geschichte und Psychologie. Annäherungsversuche, 1992, 115 ff. Demandt, A., Endzeit ? Die Zukunft der Geschichte, 1993 Demandt, A./Farrenkopf, J. (Hgg.), Der Fall Spengler. Eine kritische Bilanz, 1994
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Literatur
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Ferrari Zumbini, M., Untergänge und Morgenröten. Über Spengler und Nietzsche. In : Nietzsche-Studien 5, 1976, 194 ff. Ferrari Zumbini, M., Untergänge und Morgenröten. Nietzsche - Spengler - Antisemitismus, 1999 Fisch, J., Kausalität und Physiognomik. Zyklische Geschichtsmodelle bei Ibn Haldun und Oswald Spengler. In : Archiv für Kulturgeschichte 67, 1985, 263 ff. Fischer, K. P., History and Prophecy. Oswald Spengler and the Decline of the West, 1977 Freud, S., Kulturtheoretische Schriften, 1986 Friedrich, H., Kulturkatastrophe. Nachrufe auf das Abendland, 1979 Frobenius, L., Paideuma. Umrisse einer Kultur- und Seelenlehre, 1921/53 Frye, N., The Decline of the West by Oswald Spengler. In : Daedalus 103, 1974, 1 ff. Fukuyama, F., The End of History and the Last Man, 1992 Gangl, M. (u. a. Hgg.), Spengler – Ein Denker der Zeitenwende, 2009 Gardiner, P., Theories of History, 1959 Gehlen, A., Die Seele im technischen Zeitalter, 1957 Goebbels, Dr. J., Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei, 1934 Gottfried, P., Oswald Spengler and the Inspiration of the Classical Age. In : Modern Age : A Conservative Review 26, 1982, 68 ff. Grützmacher, R. H., Spengler und Nietzsche. In : Die Sammlung, 1950, 590 ff. Guerri, M./Ophälders, M. (edd.), Oswald Spengler. Tramonto e Metamorfosi dell’Occidente, 2004 Gurisatti, G. (ed.), Oswald Spengler, A me stesso (Eis heauton), 1993 Haenisch, K. (Hg.), Ferdinand Lassalle. Der Mensch und Politiker in Selbstzeugnissen, 1925 Haller, R., Wittgenstein and Spengler. In : Revista de Filosofia 38, 1982, 71 ff. Heller, E., Oswald Spengler and the Predicament of the Historical Imagination. In : Ders., The Disinherited Mind, 1971, 181 ff. Henkel, M., Oswald Spengler, der Nationalsozialismus und die Nachkriegszeit (1918–1970). Vom Schrecken der Moderne. In : Historische Mitteilungen 20, 2007, 174 ff. Hennig, R., Die Gleichzeitigkeitsfabel. In : Zeitschrift für angewandte Psychologie 151, 1942, 289 ff. Henschel, G., Menetekel. 3000 Jahre Untergang des Abendlandes, 2010 Herf, J., Reactionary Modernism. Technology, Culture and Politics in Weimar and the Third Reich, 1984 Herman, A., The Idea of Decline in Western History, 1997 Herzfeld, H., Oswald Spengler und der Untergang des Abendlandes. In : Ders., Historische Theorie und Geschichtsforschung der Gegenwart, 1964 Horkheimer, M., Notizen 1950 bis 1969, 1974 Hoser, P., Ein Philosoph im Irrgarten der Politik. Oswald Spenglers Pläne für eine geheime Lenkung der nationalen Presse. In : Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 38, 1990, 435 ff. Howald, E., Vom Geist antiker Geschichtsschreibung, 1944 Hughes, H. St., Oswald Spengler. A Critical Estimate, 1952 Huntington, S. P., The Clash of Civilizations and the Remaking of the World Order, 1996 Huxley, A., Brave New World, 1932
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Literatur
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Literatur
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Literatur
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ALEXANDER DEMANDT
DER BAUM EINE KULTURGESCHICHTE
Die Bedeutung des Baumes ist so vielschichtig wie die Anzahl der Jahresringe. Als Naturdenkmal prägt er Landschaften, ist wichtiger Rohstoff und gilt als Symbol für das Leben. In Mythen, heiligen Schriften, Märchen, in der Musik, der Literatur, der Bildenden Kunst, der Philosophie, in allen Kulturen und Zeiten kommt dem Baum eine überragende Bedeutung zu. Darüber hinaus ist er mit zahlreichen Bräuchen verbunden: der Baum, der zur Geburt eines Kindes gepflanzt wird, der Maibaum, der Weihnachtsbaum. Der Historiker Alexander Demandt behandelt Baum, Wald und Holz in den Religionen, im Brauchtum und Schriftgut, im Denken und Reden und auf allen Gebieten der Literatur und der Kunst von der Antike bis zur Gegenwart. Das materialreiche Buch ist die lange erwartete, erweiterte und vertiefte Neubearbeitung seines Standardwerks „Über allen Wipfeln. Der Baum in der Kulturgeschichte“ (2002). 2., ÜBERARB. U. ERW. AUFL. 2014. 470 S. 50 S/W- UND 45 FARB. ABB. GB. MIT SU. 155 x 230 MM. | ISBN 978-3-412-22217-8
böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar
Alex Ander demAndt
PhilosoPhie der Geschichte Von der Antike zur GeGenwArt
Seit Homer und der Bibel gibt es Vorstellungen über den Lauf der Zeiten und die Stellung der Gegenwart zwischen Vergangenheit und Zukunft. Die Grund figuren bei den Klassikern der Geschichtsphilosophie sind immer ähnlich, das zeigt Alexander Demandt in diesem Buch. Er liefert einen in dieser Zu sammenschau einmaligen Überblick über das europäische Geschichtsdenken seit der Antike: Der antike Dekadenzgedanke (Hesiod, Platon), Fortschritts bewusstsein (Xenophanes, Aristoteles) und Fortschrittskritik (Diogenes, Seneca), frühe Kreislauftheorien (Salomon, Empedokles), jüdischchristliche Heilsgeschichte (Daniel, Augustinus), das Epochenbewusstsein der Renais sance (Machiavelli, Vico), die Geschichte als Aufklärung (Kant, Condorcet), Historischer Idealismus (Hegel, Humboldt), Goethes universaler Individua lismus, der Historismus (Ranke, Meinecke), der Historische Materialismus (Marx, Engels), paradigmatische Geschichtskonzepte (Nietzsche, Burck hardt), Morphologien der Weltgeschichte (Spengler, Toynbee), Geschichts biologismus (Darwin, Lorenz) und posthistorische Apokalyptik (Fukuyama, Baudrillard). 2011. 438 S. Gb. mit SU. 155 x 230 mm. iSbN 978-3-412-20757-1
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Als 1918 der erste Band von Oswald Spenglers »Untergang des Abendlandes« erschien, erregte er ein beispielloses Aufsehen. Kein deutsches Werk über Geschichte hat ein ähnlich starkes und anhaltendes Echo gefunden. Begeisterte Zustimmung fand es in der historisch interessierten Leserschaft, während die Fachwelt mit wenigen Ausnahmen distanziert reagierte. Fortan aber blieben die Skepsis gegenüber dem Fortschrittsoptimismus und der Gedanke an einen möglichen Niedergang des Westens als Themen auf der Tagesordnung. In den hier vorgelegten Aufsätzen des Althistorikers Alexander Demandt geht es um eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Spenglers Geschichts- und Politikverständnis, seine Vorhersagen und seine Wirkungsgeschichte bis in die jüngste Zeit. Nach Spengler findet der Untergang zweimal statt, einmal als Hochkultur – das liegt hinter uns, ein andermal als Zivilisation – das steht uns noch bevor. Die gegenwärtige Kulturkritik jedenfalls zeigt: Es gibt Anlässe, sich an Spenglers Ausführungen zu erinnern.
ISBN3-412-50831-4
ISBN 978-3-412-50831-9 | W W W.BOEHL AU-V ERL AG.COM