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German Pages 490 Year 2021
Geschichte in Wissenschaft und Forschung
David Engels
Oswald Spengler Werk, Deutung, Rezeption
Verlag W. Kohlhammer
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Umschlagbild: Oswald Spengler in Berlin 1922, Fotograf: Scherl / Süddeutsche Zeitung Photo
1. Auflage 2021 Alle Rechte vorbehalten © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Print: ISBN 978-3-17-037494-2 E-Book-Format: pdf: ISBN 978-3-17-037495-9 Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.
Inhaltsverzeichnis Vorwort .........................................................................................................
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Einleitung ..............................................................................................
Einführendes 2
Oswald Spengler und der „Untergang des Abendlandes“: eine Einführung ................................................................................... 23
3
Methodologische Überlegungen zum Umgang mit Spenglers Kulturmorphologie ........................................................... 43
4
Von der Einsamkeit des Spenglerianers .......................................... 59
Spenglers Quellen 5
Hegel, Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismus ............................................................ 67
6
Spenglers Entwurf einer neuen Philosophiegeschichte ............... 93
7
Die Rezeption von Karl Marx in Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“ ................................................... 115
Historische Einzelfragen 8
Die Entstehung des Islam und Spenglers „magische Kultur“ ....... 141
9
Die Stellung des Alten Iran in Oswald Spenglers Geschichtsphilosophie ....................................... 163
10 Babylonien, Indien, Mexiko und China im „Untergang des Abendlandes“ .......................................................... 190 11 Oswald Spengler, Cecil Rhodes und Iulius Caesar: Zivilisation zwischen Kolonialismus und Caesarismus ................. 205 12 Die „Jahre der Entscheidung“ und die Krise des 20. Jahrhunderts im Geschichtsbild Oswald Spenglers ................. 225
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Inhaltsverzeichnis
Spenglers Rezeption 13 André Fauconnet und Oswald Spengler ........................................... 249 14 Die Rezeption Oswald Spenglers bei Francis Scott Fitzgerald ...... 295 15 Lovecraft, Oswald Spengler und die Berge des Wahnsinns .......... 317 16 Die Rezeption Oswald Spenglers bei Henry Miller ......................... 343 17 Die Geschichtsbilder von Karl Jaspers und Oswald Spengler ....... 359
Spengler heute 18 Spengler im 21. Jahrhundert ............................................................. 375 19 Überlegungen zu einer neuen komparatistischen Geschichtsphilosophie ..................................... 415 20 Ausblick: Spengler morgen? .............................................................. 435 Publikationsnachweis ................................................................................. 443 Literatur ........................................................................................................ 445 Register ......................................................................................................... 477
Vorwort Vorliegender Band umfaßt den Großteil der von mir bislang verfaßten und teils publizierten, teils unpublizierten akademischen Abhandlungen zu Oswald Spengler und versucht, diese manchmal mehrere Jahre zurückliegenden Schriften zu aktualisieren und in einen sinnvollen Bezug zueinander zu setzen. Der Gedanke, dieses Material eines Tages zu sammeln und zu vereinheitlichen, hatte sich zwar bereits seit einiger Zeit eingestellt, wäre aber ohne eine äußere Anregung wahrscheinlich viele Jahre lang nicht umgesetzt worden. Mein herzlicher Dank gilt daher Dr. Peter Kritzinger vom Lektorat Geschichte / Politik / Gesellschaft bei Kohlhammer, der der eigentliche Initiator dieses Bandes ist und dessen Ausführung mit Enthusiasmus und Sachverstand begleitete. Ebenfalls möchte ich den Herausgebern der Bände und Zeitschriften, bei denen die jeweilige Erstveröffentlichung vieler dieser Aufsätze geschah, für die freundliche Genehmigung zur Verwendung des Materials danken. Aber ganz besonders verpflichtet fühle ich mich jenen zahlreichen Freunden und Kollegen, die im Laufe der vergangenen Jahre mein Interesse am Grundgedanken des Spengler’schen Kulturkomparatismus geteilt und in unzähligen belebten Diskussionen vertieft und bereichert haben. Viele dieser Kollegen sind mittlerweile auch in die 2017 gegründete „Oswald Spengler Society“ (www.oswaldspenglersociety.com) eingetreten, um die kritische Auseinandersetzung mit Leben, Werk und Rezeption Oswald Spenglers zu verdichten und unseren selbständigen kulturmorphologischen Studien einen freundschaftlichen akademischen Rahmen zu geben. Ihnen, unter denen ich pars pro toto Alexander Demandt, Robert Merry, Gerd Morgenthaler und Max Otte nennen will, sei dieser Band gewidmet. Warschau, den 27. August 2020
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Einleitung
1.1
Eine Heranführung
Leben und Werk Oswald Spenglers sind, nachdem das Interesse am Autor des „Untergangs des Abendlandes“ mehrere Jahrzehnte lang eher verhalten war, zunehmend wieder in den Mittelpunkt allgemeiner Beachtung geraten. Die Gründe hierfür sind offensichtlich, hat sich doch nach dem Aufbruchsoptimismus der 1990er Jahre vielerorts im Westen eine Krisenstimmung eingestellt, welche die lange Zeit für überzogen geltende Losung vom allmählichen „Untergang des Abendlandes“ für viele Menschen erneut zu einem realistischen Deutungsmuster der Gegenwart gemacht hat. Gleichzeitig steigt auch außerhalb des europäischen Kulturbereichs das Interesse an einem Geschichtsdenker, der als einer der ersten Historiker das eurozentrische Denkmuster aufgebrochen hat, die radikale Gleichwertigkeit aller menschlichen Hochkulturen postulierte, den asiatischen Völkern eine wesentliche Rolle bei der Ablösung der westlichen Welthegemonie vorhersagte und die Wiedergeburt des Islam als treibende historische Kraft erahnte. Während es nun kaum an Gesamtdarstellungen zu Spenglers Leben und Werk mangelt, ist doch festzustellen, daß eine ernsthafte Beschäftigung mit der weitgestreuten Rezeption Spenglers weiterhin ebenso ein Desiderat der Forschung ist wie eine Auseinandersetzung mit den zahlreichen historischen Einzelbetrachtungen und Vorhersagen des Geschichtsphilosophen, und zwar nicht aus dem Blickwinkel bloßen antiquarischen Interesses, sondern vielmehr vom Prüfstand der modernen Geschichtswissenschaft und der Erfahrungen des 21. Jahrhunderts aus. Der vorliegende Band möchte zumindest ansatzweise dazu beitragen, diese Lücken zu füllen, indem er eine Reihe von Einzelbeiträgen, die von mir im Laufe der letzten Jahre an verschiedensten Orten publiziert bzw. mündlich präsentiert wurden, zusammenfaßt und als inhaltlich geschlossene Einheit dem an Spengler interessierten Leser an die Hand gibt. Schwerpunkt bilden dabei zunächst einige bislang nur selten ins Auge gefaßte methodologische Fragen der SpenglerStudien, dann die Rolle des deutschen Idealismus (von Hegel bis Marx) als wichtiger Inspirationsquelle Spenglers, ferner historische Einzelfragen (allen voran die Sicht Spenglers auf die außereuropäischen Kulturen wie China, Indien, Iran, Mesopotamien, die islamische Welt und Zentralamerika), weiterhin die komplexe Rezeption Spenglers im französischen, US-amerikanischen und deutschen Raum und schließlich die Aktualität des Spengler’schen Denkens im 21. Jh.
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Oswald Spengler: Werk, Deutung, Rezeption
Jede Forschungsaktivität hat eine Initialzündung, die sie auch inhaltlich erst recht verständlich macht, daher seien zu Beginn dieses Bandes einige persönliche Anmerkungen erlaubt. In meinem Fall ist das Interesse an Oswald Spengler über den Umweg meiner langjährigen Faszination für das Werk Thomas Manns zustandegekommen. Gerade die Lektüre des „Doktor Faustus“, der mich jahrelang begleitete, und in dem Mann eine ebenso subtile wie beängstigende Parallele zwischen der deutschen Geschichte und der Biographie des dämonischen Komponisten Adrian Leverkühn lieferte, erwies sich als in solchem Grade getränkt von kulturphilosophischen und kulturmorphologischen Überlegungen, daß ich nicht umhin konnte, mich genauer mit Spengler als einem der wichtigsten Ideengeber dieses Buchs auseinanderzusetzen. Die Lektüre des „Untergangs des Abendlandes“ sollte mich dann bis heute prägen, wenn sie auch von Anfang an unter einem doppelten Stern stand. Auf der einen Seite war die generelle Zustimmung zum morphologischen Grundgedanken, dem zufolge alle menschlichen Hochkulturen eine analoge Entwicklung durchlaufen; auf der anderen Seite die Einsicht in die Grenzen und Fehler des monumentalen Werks, allen voran die nur skizzenhafte Ausführung der Grundthese immer dann, wenn die Kulturen außerhalb des Mittelmeerraums betroffen waren, sowie die meines Erachtens ungenügende metaphysische Fundierung des dem „Untergang“ zugrundeliegenden Vitalismus, der in seinem Antagonismus zur unbelebten Materie unausweichlich in das Paradox eines ungelösten Dualismus führen und daher vor einer ganzen Reihe von philosophischen Grundfragen scheitern muß. Neben meinem Interesse an der weitgespannten Rezeption Oswald Spenglers in Literatur wie Geschichtsschreibung galt mein Augenmerk daher schon seit meinem Studium dem Versuch zu zeigen, wie sich die von Spengler herausgearbeiteten morphologischen Entwicklungsschritte einer jeden Kultur mit dem in 100 Jahren Forschung erheblich angewachsenen Wissen gerade zu außereuropäischen Kulturen verbinden ließen und sich zudem durch eine Ankoppelung an die idealistische Philosophie untermauern lassen könnten. Rasch mußte ich dabei aber feststellen, daß die akademische Welt des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts kein idealer Ort für geschichtsphilosophische Spekulationen war: Wenn überhaupt, beschränkte sich das Interesse an gesamtgeschichtlichen Überlegungen auf eine kommentierte Wiedergabe der verschiedenen geschichtsphilosophischen Positionen der Vergangenheit oder war im Relativismus und Subjektivismus des Konstruktivismus beziehungsweise in der Teleologie verschiedenster post-marxistischer Schulen gefangen: Den kulturkomparatistischen Ansatz nicht nur ernst zu nehmen, sondern aus den sich ergebenden Resultaten auch Schlußfolgerungen zu ziehen, die über das jeweilige einzelne Fallbeispiel hinausgingen, war und ist zumindest an westlichen Universitäten ein mittlerweile weitgehend unübliches Unterfangen, wenn auch das seit einigen Jahren verstärkte Einsetzen komparatistischer Untersuchungen in der angelsächsischen Wissenschaftssphäre (sowohl im
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Bereich der Geschichtsforschung als auch der Wirtschaftswissenschaften) zeigt, daß sich das Blatt allmählich wieder wendet und die Zeit reif sein könnte für neue geschichtsphilosophische Synthesen, welche über die Naivität ungetrübten Fortschrittsglaubens bzw. das in seinem eigenen Relativismus gefangenen Popper’schen Geschichtsdenken hinausgehen. Alle diese Themen – Spenglers Werk, seine Rezeption und schließlich die Möglichkeit eines kritischen Weiterdenkens seiner kulturmorphologischen Ansätze – stellen den Kern meiner bisherigen Auseinandersetzung mit dem „Untergang des Abendlandes“ und den Folgeschriften dar und finden sich in diesem Band erstmals vereint und in einen inneren Zusammenhang gebracht, um gewissermaßen aus verschiedenen Stoßrichtungen die möglichen Antworten auf die Frage „Was bleibt von Spengler?“ auszuloten.
1.2
Der Determinismus als rezeptionsgeschichtlicher Stolperstein
Neben dem fundamentalen Zweifel an einer nicht offenen oder fortschrittsorientierten, sondern vielmehr zyklischen und deterministischen Geschichtsphilosophie stößt das Interesse an Spengler freilich auch auf andere Hindernisse, die teils dem psychologischen Unbehagen geschuldet sind, welches eine jede deterministische und obendrein, was die Nutzanwendung auf die Zukunft des Westens betrifft, pessimistische Philosophie im Zeitalter absoluten Individualismus einflößen muß, teils aber auch einem kuriosen Fehlverständnis der Grundlagen des „Untergangs des Abendlandes“. Wie Spengler sehr wohl wußte, war der enorme, auch wirtschaftliche Erfolg des Buchs eigentlich einem Mißverständnis geschuldet, war es doch vor allem der Begriff des „Untergangs“, dem Spengler sowohl einen Großteil seiner Verkaufszahlen als auch die Kritik der zu Superlativen wenig aufgelegten Fachhistoriker verdankte, obwohl das Werk trotz seines zugegebenermaßen oft theatralischen Duktus im strengen Sinne ja keineswegs das rasche Ende der abendländischen Kultur in Feuer und Blut ankündigte, sondern vielmehr ein langsames, wenn auch von gewaltsamen inneren wie äußeren Auseinandersetzungen begleitetes Verdämmern. Spengler selbst schrieb in offensichtlicher Vorahnung dieses Mißverständnisses bereits in der „Einleitung“ zum „Untergang“: „Es gibt Menschen, welche den Untergang der Antike mit dem Untergang eines Ozeandampfers verwechseln. Der Begriff einer Katastrophe ist in dem Worte nicht enthalten. Sagt man statt ‚Untergang‘ ‚Vollendung‘, ein Ausdruck, der im Denken Goethes mit einem ganz bestimmten Sinn verbunden ist, so ist die ‚pessimistische‘ Seite einstweilen ausgeschaltet, ohne daß der eigentliche Sinn des Begriffs verändert worden wäre.“ (UdA, S. 63–64)
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Oswald Spengler: Werk, Deutung, Rezeption
Nun soll keineswegs geleugnet werden, daß die Titelwahl wie auch der „imperatorische“ Stil des Buchs einer solchen Fehldeutung durchaus Vorschub leisteten und Spenglers mokante Haltung gegenüber potenziellen Mißverständnissen daher wenigstens zum Teil nicht ganz gerechtfertigt ist. Nichtsdestoweniger ließe sich die Frage aufwerfen, ob dem wissenschaftlichen Hauptargument langfristig nicht eher damit gedient worden wäre, wenn Spengler eine weniger publikumsbekömmliche und polemische, dafür aber unaufgeregtere und sachlichere Auseinandersetzung mit dem Thema des Verfalls der westlichen Kultur verfaßt hätte, wie bereits 1925 einer der frühesten Spengler-Kenner, André Fauconnet, hellsichtig begriffen hatte: „Spengler a-t-il recherché le succès? Ce n’est pas certain. En tout cas, il l’a obtenu. Il n’a pas à en être fier! Il mériterait mieux que tout ce bruit... Certaines pages de lui, les moins acrimonieuses, les plus belles, auraient dû lui valoir la vraie récompense... celle d’être méconnu.“1
Auch heute findet die Debatte um Oswald Spengler immer noch unter grundfalschen Prämissen statt, und dies kurioserweise in doppelter Verschränkung der jeweiligen weltanschaulichen Voraussetzungen der Leser. Gerade diejenigen, die, wie Spengler selbst, eine tiefe innere Verbundenheit zur abendländischen Geschichte empfinden, tendieren dazu, seine Vorhersagen zu einer bloßen Dystopie zu verniedlichen, die es zu verhindern gilt, so daß es auch in politischen Kreisen bis heute zu den verschiedensten Versuchen gekommen ist, den „Untergang des Abendlandes“ als eine Art „Warnung“ mißzuverstehen. Doch wer den Begriff des „Untergangs“ im Mund führt, um vor den möglichen Konsequenzen „progressiver“ Entwicklungen wie Individualismus, Modernismus, Liberalismus, Technokratie usw. zu warnen, und dazu gleich noch eine Reihe von Reformen vorschlägt, wie diese Entwicklungen sich zurückdrängen lassen sollen, hat vom eigentlichen Geist Spenglers wenig, eigentlich nichts verstanden: Es besteht keinerlei Grund zur Annahme, dem Abendland bliebe das Schicksal aller anderen Hochkulturen erspart, denn aus der Geschichte läßt sich nicht lernen, wie man es besser machen kann, sondern nur, wie beschränkt unser Handlungsspielraum eigentlich ist: „Wir haben nicht die Freiheit, dies oder jenes zu erreichen, aber die, das Notwendige zu tun oder nichts. Und eine Aufgabe, welche die Notwendigkeit der Geschichte gestellt hat, wird gelöst, mit dem einzelnen oder gegen ihn.“ (UdA, S. 1195)
Die moderne Welt der abendländischen Spätzivilisation ist, Spengler zufolge, unser unausweichliches Schicksal, das man zwar bedauern mag und in das man zumindest ein wenig vom Geist vergangener Zeiten hineinzuretten versuchen mag; eine wie auch immer geartete „Rückkehr“ in die Vergangenheit wäre allerdings völlig illusorisch, ja geradezu schädlich, da sie zu historischen Verwerfungen führen müßte, die das Ende letztlich noch beschleunigen würden 1
Fauconnet 1925, S. 260.
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– ein Fehlverständnis, dem selbst Thomas Mann angeblich unterlegen war, bevor er bemerkte, daß Spengler seinen Determinismus ebenso ernst nahm, wie er ihn auch formuliert hatte, so daß Mann sich, als er seine Wende vom Kaiserreich zur Republik vornahm, gezwungen sah, sich von ihm abzuwenden – und zwar nicht aus inhaltlichen, sondern gleichsam moralischen Gründen: „Es läge anders, wenn diese Haltung Ironie bärge, wie wir anfänglich glaubten, wenn seine Prophezeiung polemisches Mittel der Abwehr bedeutete. Wirklich kann man eine Sache wie die ‚Zivilisation‘, nach Spengler der biologisch-unvermeidliche Endzustand jeder Kultur und nun auch der ‚abendländischen‘, ja prophezeien – nicht damit sie kommt, sondern damit sie nicht kommt, vorbeugenderweise also, im Sinne geistiger Beschwörung; und so, dachte ich, verhalte es sich hier. Als ich aber erfuhr, daß dieser Mann seine Verkalkungs-Prophetie stockernst und positiv genommen haben wolle und die Jugend in ihrem Sinn unterweise, das heißt sie anhalte, an Dinge der Kultur, der Kunst, der Dichtung und Bildung nur ja nicht ihr Herz und ihre Leidenschaft zu verschwenden, sondern sich an das zu halten, was einzig Zukunft sei und was man wollen müsse, um überhaupt noch irgend etwas wollen zu können, nämlich an den Mechanismus, die Technik, die Wirtschaft oder allenfalls noch die Politik; als ich gewahr wurde, daß er tatsächlich dem Willen und der Sehnsucht des Menschen die kalte ‚naturgesetzliche‘ Teufelsfaust entgegenballt, da wandte ich mich ab von so viel Feindlichkeit und habe sein Buch mir aus den Augen getan, um das Schädliche, Tödliche nicht bewundern zu müssen.“2
– ein „Sich-Abwenden“ freilich, daß nach dem Zusammenbruch des alten Europas im Abgrund des Totalitarismus der im „Doktor Faustus“ verarbeiteten Erkenntnis weichen sollte, daß das Zeitalter von Humanismus und Bürgerlichkeit, als dessen letzten Vertreter Mann sich sah, tatsächlich wie von Spengler vorausgesagt geschwunden war … Doch auch diejenigen, die Spenglers scheinbaren Konservatismus ablehnen und viele jener von Spengler als spätzeitliche Phänomene diagnostizierten Elemente als den eigentlichen Sinn der europäischen, wenn nicht gar der Menschheitsgeschichte idealisieren und in Spengler nur den irrationalistischen „Trommler der Reaktion“ sehen, irren, wie etwa der marxistische Philosoph Lukács: „Von Schelling und Schopenhauer geht ein steiler Weg abwärts – über Nietzsche, Dilthey, Spengler usw.“3
Nicht nur kann klar gezeigt werden, daß Spenglers Geschichtsdeterminismus erstaunlicherweise gerade in seinem Pessimismus bereits recht genau bei Hegel angelegt ist, der sicherlich kaum des Irrationalismus zu bezichtigen ist, und er zudem viele der Marx’schen Analysen zur wirtschaftsgeschichtlichen Entwicklung des Westens zustimmend übernimmt. Es ist auch offensichtlich, daß gerade Spenglers Kulturmorphologie letztlich keine Ablehnung, sondern vielmehr die ultimative Legitimation des (freilich nur vorübergehenden) Sieges 2 3
Mann 1923. Lukács 1954, S. 657.
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Oswald Spengler: Werk, Deutung, Rezeption
vieler klassischen „antikonservativen“ Positionen liefert, zählen doch „Sozialisten, Impressionisten, elektrische Bahnen, Torpedos und Differentialgleichungen“ (UdA, S. 54) fest zum spätzeitlichen Schicksal des Abendlandes hinzu, so daß nur Träumer eine Rückkehr in eine längst überlebte Vergangenheit erhoffen können: „Wer sich dies nicht eingesteht, zählt unter den Menschen seiner Generation nicht mit. Er bleibt ein Narr, ein Charlatan oder ein Pedant.“ (UdA, S. 62)
In diesem Sinne ist eigentlich erstaunlich, daß eine positive „linke“ SpenglerRezeption bis heute weitgehend ausgeblieben ist: Genau wie Marx konstatiert Spengler schließlich eine generelle Entwicklung von einem primitiv-monokratischen über ein feudales und ein bürgerliches bis hin zu einem hochkapitalistischen Wirtschaftssystem und differiert vom marxistischen Determinismus nur insoweit, als er diese Entwicklung nicht der Weltgeschichte als Ganzem, sondern vielmehr jeweils jeder einzelnen Hochkultur zuschreibt, und am Ende einer jeden Einzelentwicklung nicht die Diktatur des Proletariats und den Sozialismus verortet, sondern den krisenhaften Übergang vom Monopolkapitalismus über eine caesaristische Diktatur hin zu einer plebiszitär abgesicherten und sozial engagierten Monarchie – und somit wieder zum Ausgangspunkt eines jeden Zyklus: „Durch das Geld vernichtet die Demokratie sich selbst, nachdem das Geld den Geist vernichtet hat. Aber eben weil alle Träume verflogen sind […], erwacht endlich eine tiefe Sehnsucht nach allem, was noch von alten, edlen Traditionen lebt. Man ist der Geldwirtschaft müde bis zum Ekel. Man hofft auf eine Erlösung irgendwoher […]. Aber eben deshalb erhebt sich nun der Endkampf zwischen Demokratie und Cäsarismus, zwischen den führenden Mächten einer diktatorischen Geldwirtschaft und dem rein politischen Ordnungswillen der Cäsaren.“ (UdA, S. 1143)
Freilich: Spengler läßt, im Gegensatz zu Marx, keinerlei Hoffnung auf ein utopisches „Ende der Geschichte“ offen – doch ebensosehr betrachtet er jede Möglichkeit einer echten, inneren Restitution überlebter Gesellschaftsformen (etwa des 19., 18. oder 17. Jahrhunderts) als chimärisch.
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Menschlichkeit als geschichtsphilosophische Qualität
Spengler befindet sich also, heute wie damals, in einer Art von ideologischem Niemandsland, und seine Wertschätzung wie Ablehnung basieren auf Prämissen, die, streng genommen, am echten Kern seines Denkens vorbeigehen, nämlich einem ehernen Determinismus, der sich sowohl gegen rückwärtsgewandten konservativen wie auch gegen progressiven linksliberalen Optimismus
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sperrt, und vom ersten zwar den Geist der Liebe zur Vergangenheit übernimmt, von letzterem aber die Einsicht in die Unumkehrbarkeit historischer Entwicklung, wenn auch nicht in einem utopischen Sinne, sondern unter der zyklischen Grundannahme, daß gerade inmitten der am höchsten zivilisierten Verhältnisse zunehmend wieder atavistische Muster erscheinen und der Abschluß der Geschichte einer jeden Kultur paradoxerweise erschöpft wieder an den Anfang zurückführt, wenn auch ohne jede Möglichkeit eines unmittelbaren kreativen Neubeginns. Dies erklärt auch Spenglers Haltung gegenüber der modernen parlamentarischen Demokratie, die nicht etwa von einer grundsätzlichen Ablehnung geprägt wäre (welche dem rein deskriptiv und nicht normativ argumentierenden Historiker, als den Spengler sich sehen will, ohnehin unangemessen wäre), sondern vielmehr von der Überzeugung, daß diese nur eine vorübergehende Erscheinung einer jeden Kultur darstellt, nicht aber den teleologischen Endpunkt der Menschheitsgeschichte, da sie sich früher oder später notwendigerweise aus ihrer inneren Dynamik heraus in ihr Gegenteil wandeln müsse; ein weiterer Punkt, in dem Spenglers sozioökonomische Theorie sich mit der Marx’schen Analyse des bürgerlichen Parlamentarismus durchaus berührt. So liest man bei Spengler: „Daß ein Wahlrecht annähernd leistet, was der Idealist sich dabei denkt, setzt voraus, daß es keine organisierte Führerschaft gibt, die in ihrem Interesse und im Maßstabe des verfügbaren Geldes auf die Wähler einwirkt. Sobald sie da ist, hat die Wahl nur noch die Bedeutung einer Zensur. […]. Endlich erwacht ein Gefühl davon, daß das allgemeine Wahlrecht überhaupt kein wirkliches Recht enthält, nicht einmal das der Wahl zwischen den Parteien, weil die auf seinem Boden erwachsenen Machtgebilde durch das Geld alle geistigen Mittel der Rede und Schrift beherrschen und damit die Meinung des Einzelnen über die Parteien nach Belieben lenken.“ (UdA, S. 1131–1332)
Dies ist aber nicht die Aussage eines „Anti-Demokraten“, der aus der verfügbaren Zahl möglicher Gesellschaftsordnungen die eine präferiert und die andere verwirft, sondern vielmehr die Einsicht eines Denkers, der sich keiner Illusion über die Eigengesetzlichkeit der Geschichte hingibt und den Liberalismus somit nicht aus prinzipiellen politischen Gründen ablehnt, sondern vielmehr als eine bloß vorübergehende historische Erscheinung relativiert. Freilich, nicht nur Spenglers historischer Determinismus und seine kritische Haltung gegenüber der Möglichkeit, historischen Erfolg auf bestimmte Staatsformen zurückzuführen, sind für viele Leser grundlegende Stolperstein bei der Lektüre seines Werks: Auch die auf den ersten Blick fatalistische und elitäre Grundhaltung des Geschichtsphilosophen scheint in fundamentalem Gegensatz zu den Prämissen der Weltauffassung unseres frühen 21. Jahrhunderts zu stehen. Und in der Tat: Spengler war in seinem Denken wie so viele seiner Zeitgenossen (von rechts wie links) vom Elitismus Nietzsches beeinflußt, der freilich seinerseits auch nur einer von vielen Exponenten der Lebensphilosophie war; einer philosophischen Schule, deren Bandbreite ebenso
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Oswald Spengler: Werk, Deutung, Rezeption
vielseitig wie unbestimmt von Goethes Pantheismus und Schopenhauers Pessimismus über sozialdarwinistische Spekulationen bis hin zum Ästhetizismus der Décadence reichte. Allerdings ist festzuhalten, um ein altes und unbegründetes Vorurteil gleich zu Beginn auszuräumen, daß Spenglers Elitismus sich radikal vom Eurozentrismus und Rassismus vieler seiner Zeitgenossen unterscheidet. So betont Spengler zum einen, daß alle Hochkulturen ausnahmslos als eigengesetzliche und radikal gleichwertige Verkörperungen des gesamtmenschlichen Potentials zu werten seien, und erklärt zum anderen, daß wahre „Rasse“ nicht in einer wie auch immer gearteten Reinheit der Abstammung liege, sondern ausschließlich in der Intensität, mit der ein Mensch sich mit dem Geschick seiner Kultur identifiziere: „Es kann nicht oft genug wiederholt werden, daß diese physiologische Herkunft nur für die Wissenschaft und niemals für das Volksbewußtsein vorhanden ist […]. ‚Rasse haben‘ ist nichts Stoffliches, sondern etwas Kosmisches und Gerichtetes, gefühlter Einklang eines Schicksals, gleicher Schritt und Gang im historischen Sein.“ (UdA, S. 755)
Dies ändert freilich nichts an der Tatsache, daß Geschichte für Spengler weitgehend der Kampf des Menschen gegen seine natürliche Umwelt sei, „und zwar im Sinne Nietzsches als ein Kampf aus dem Willen zur Macht, grausam, unerbittlich, ein Kampf ohne Gnade“ (MuT, S. 13), und der Mensch als „erfinderisches Raubtier“ dazu tendiere, nicht nur mit seinesgleichen zu kooperieren, sondern auch Rangunterschiede zu bilden. Spenglers Elitismus differiert daher vom zeitgenössischen Liberalismus insoweit, als konkrete Staatsformen, die moderne Demokratie eingeschlossen, für ihn keinen intrinsischen Wert an sich besitzen, sondern in ihrer Güte immer von der Gesinnung ihrer Bürger, der moralischen Qualität ihrer Elite und ihrem geschichtlichen Kontext abhängen. Überall seien es daher letztlich – mal mehr, mal weniger gezügelt durch Gesetz, Herkommen und öffentliche Meinung – die Starken, die sich zu Priestern, Fürsten, Wirtschaftsmagnaten, Gewerkschaftsführern oder Parlamentariern aufschwingen. Der wahre Gehalt der Menschheitsgeschichte liegt deshalb für Spengler nicht etwa in einem teleologischen Anwachsen des Zugangs immer breiterer Massen zu politischer Selbstbestimmung, wie etwa bei Hegel, sondern vielmehr in der Eigendynamik, mit der in jeder Hochkultur die Ausübung von Macht einem Prozeß zuerst steigender, dann wieder sinkender Selbstbeschränkung unterworfen wird, wobei die moderne parlamentarische Massendemokratie (im Gegensatz zur ganz anders gearteten antiken Demokratie) keineswegs den Zenith, sondern den Abschluß dieses Vorganges ausmache: „Je gründlicher die gewachsenen Gliederungen der Stände und Berufe politisch ausgelöscht werden, desto formloser, desto hilfloser wird die Wählermasse, desto unbedingter ist sie den neuen Gewalten ausgeliefert, den Parteileitungen, welche der Menge mit allen Mitteln geistigen Zwanges ihren Willen diktieren.“ (UdA, S. 1133)
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Es ist unbestritten, daß Spenglers Idealisierung der menschlichen Raubtiernatur, in der fraglos wie bei Nietzsche ein Gutteil Überkompensation eigener Schwächen steckte, wie Spenglers Tagebücher zeigen, allzu leicht das Leid jener aus den Augen verliert, welche Opfer jener „Schlachtbank“ werden, auf welcher, um mit Hegel zu sprechen, „das Glück der Völker, die Weisheit der Staaten und die Tugend der Individuen zum Opfer gebracht worden ist“. Und in der Tat: Das fast genüßliche Betonen der ultimativen Machtlosigkeit der Vielen angesichts der Herrschaft der Wenigen wird bei der überwiegenden Mehrzahl der Leser auf Unverständnis stoßen und muß sich zu Recht dem Vorwurf aussetzen, insofern bei dem Versuch einer umfassenden Geschichtsdeutung versagt zu haben, als er eine Eingliederung der für das Lebensgefühl ungezählter Menschen zentralen Dimension unverschuldeten Leids und politischer wie gesellschaftlicher Ungerechtigkeit willentlich ausgelassen zu haben scheint bzw. da, wo das Thema sich ergab, am Versuch einer tieferen Sinngebung scheiterte, wie Spengler zufolge ohnehin der gesamte Prozeß des Aufstiegs und Niedergangs der Hochkulturen außerhalb seiner ästhetischen Qualität und seiner geheimnisvollen Wundersamkeit keinen dem Menschen rational zugänglichen metaphysischen Sinn besitzt: „Es ist ein Schauspiel, das in seiner Zwecklosigkeit erhaben ist, zwecklos und erhaben wie der Gang der Gestirne, die Drehung der Erde, der Wechsel von Land und Meer, von Eis und Urwäldern auf ihr. Man mag es bewundern oder beweinen — aber es ist da.“ (UdA, S. 1107)
Allein, die sicherlich berechtigte Empörung über Spenglers mangelndes Mitleid mit den Opfern der Geschichte ist noch lange kein Beweis dafür, daß die Geschichte selber faktisch ein größeres Erbarmen mit ihren Akteuren kennt: Aus einer sittlichen Forderung an die menschliche Zukunft folgt noch lange keine rückwirkende Korrektur der historischen Fakten, oder, in Spenglers Worten: „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht: sie hat immer den stärkeren, volleren, seiner selbst gewisseren Leben Recht gegeben, Recht nämlich auf das Dasein, gleichviel ob es vor dem Wachsein recht war, und sie hat immer […] die Menschen und Völker zu Tode verurteilt, denen die Wahrheit wichtiger war als Taten, und Gerechtigkeit wesentlicher als Macht.“ (UdA, S. 1194)
Zweifellos: Hierbei handelt es sich um eine Einsicht, mit der der Mensch sich nicht abfinden kann, abfinden darf, wenn er weiterhin die Hoffnung hegen will, sein Leben so zu gestalten, daß es auf Gerechtigkeit und nicht auf Zynismus hin ausgerichtet ist – aber aus der normativen Verkehrtheit jener Aussage folgt noch nicht ihre faktische Fehlerhaftigkeit. Und zudem: Gerne gestehen wir uns dies freilich nicht ein, doch ist die Einsicht in die fundamentale Divergenz zwischen einer letztlich in vielerlei Hinsicht deterministisch festgelegten Weltgeschichte auf der einen Seite und unserem transzendent verankerten, jedoch nie wirklich von Erfolg gekrönten Streben nach Gerechtigkeit auf der anderen Seite bereits in voller Wucht im christlichen Denken etwa eines
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Oswald Spengler: Werk, Deutung, Rezeption
Augustinus und seiner Dichotomie zwischen der „civitas terrena“ und der „civitas caelestis“ präsent: Während wir auf Erden den vielfältigen Gegebenheiten unserer physischen, gesellschaftlichen oder eben auch kulturmorphologischen Begrenzungen unterworfen sind, kann nur im Jenseits echte Gerechtigkeit und Sinngebung unseres Leidens erwartet werden: „Zweierlei Liebe also hat die beiden Staaten gegründet, und zwar den Weltstaat die bis zur Verachtung Gottes gesteigerte Selbstliebe, den himmlischen Staat die bis zur Verachtung seiner selbst gehende Gottesliebe. […] Jenen beherrscht in seinen Fürsten oder in den von ihm unterjochten Völkern die Herrschsucht; in diesem sind sich gegenseitig in Liebe dienstbar die Vorgesetzten durch Fürsorge, die Untergebenen durch Gehorsam.“4
Freilich, Spengler blendet letztere Dimension völlig aus und macht sein Werk dadurch erkenntnistheoretisch zu einem bloßen Fragment – doch bedeutet dies eben nicht, daß die Analyse dessen, was Spengler als relevant betrachtet, grundlegend falsch ist, und das nicht nur für die Geschichte der fernen Vergangenheit, sondern auch unsere eigene Zivilisation.
1.4
Aufbau
Wenn der vorliegende Band auch zusammengesetzt ist aus Publikationen, die im Laufe der letzten Jahre in verschiedensten wissenschaftlichen Zeitschriften und Sammelbänden erschienen sind, so darf doch behauptet werden, daß er eine gewisse innere Kohärenz aufweist, die nicht nur durch das allen Artikeln zugrundeliegende gemeinsame Oberthema, nämlich Oswald Spengler, vorgegeben ist, sondern auch durch den (mal mehr, mal weniger offensichtlichen, aber immer doch gegenwärtigen) Versuch, Spengler auch heute noch, mehr als 100 Jahre nach der Publikation des „Untergangs des Abendlandes“ im Jahre 1918, als Denker ernst zu nehmen. Freilich wird dieser Ansatz im folgenden aus verschiedenen Stoßrichtungen unternommen. Ein erster Abschnitt ist einleitenden und methodischen Fragen gewidmet: Auf eine allgemeine Einführung zu Leben und Werk Oswald Spenglers (Kap. 2) folgen einige methodologische Überlegungen zum wissenschaftlichen Umgang mit dem „Untergang des Abendlandes“ (Kap. 3), in welchem die verschiedenen gegenwärtigen Herangehensweisen kritisch differenziert und analysiert werden. Ein essayistischer Text mit dem Titel „Von der Einsamkeit des Spenglerianers“ (Kap. 4) lotet schließlich auf eher persönliche Weise die zahlreichen Widerstände aus, denen sich jeder ausgesetzt fühlt, der sich auch innerlich auf die Möglichkeit einläßt, Geschichte nicht als offenen Prozeß, 4
Aug., civ. Dei 14,29 (Übers. BdK).
1 Einleitung
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sondern vielmehr ein in seinen Umrissen deterministisch vorgegebenes Schicksal zu betrachten. Ein zweiter Abschnitt befaßt sich mit Spenglers Quellen. Das Thema ist ein weites Feld, das hier wesentlich im Hinblick auf den Einfluß der Hegel’schen Dialektik behandelt werden soll. Ein erster Aufsatz ist einem Vergleich der Geschichtsphilosophie Spenglers mit derjenigen Hegels gewidmet (Kap. 5) und versucht, hinter Spenglers scheinbar antipodischer Haltung vielmehr die erstaunliche Sinnesverwandtschaft beider Philosophen in einigen zentralen Bereichen ihres Denkens herauszustellen. Hiervon ausgehend ist eine zweite Abhandlung Spenglers Versuch gewidmet (Kap. 6), die Philosophiegeschichte als einen Prozeß wahrzunehmen, der nicht rein relativ, sondern vielmehr geschichtsphilosophisch sinnhaft verläuft. Wo grundlegende Übereinstimmungen mit Hegel vorliegen, da kann auch zumindest formal eine Parallelität mit Marx nicht völlig fernliegen: Und so zeigt der dritte Beitrag dieses Abschnitts (Kap. 7), daß zwischen Spenglers und Marx’ Deutung zumindest der wirtschafts- und gesellschaftsgeschichtlichen Entwicklung des Abendlands in der Neuzeit durchaus relevante Ähnlichkeiten aufzuweisen sind. Ein dritter Abschnitt trägt den Titel „Historische Einzelfragen“ und geht dem Forschungsdesideratum nach, Spenglers Geschichtsdenken nicht verkürzt auf die Frage nach seiner Deutung des frühen 20. Jahrhunderts zu begrenzen, sondern seine unbestreitbaren Verdienste um den kulturkomparatistischen Ansatz kritisch nachzuvollziehen und überall dort, wo die Lücken und Fehler der Spengler’schen Geschichtsphilosophie offensichtlich werden, über mögliche Stoßlinien einer konstruktiven Überarbeitung zu reflektieren. Dies gilt zuallererst für die wohl problematischste Facette des Geschichtsbilds des „Untergangs“, nämlich das Konzept der „magischen“ Kultur (Kap. 8), welche messianistisches Judentum, Zoroastrismus, frühes und byzantinisches Christentum und Islam als Ausprägungen desselben kulturellen Weltgefühls interpretiert. Hiervon ausgehend werden wir uns mit dem Problem der „persischen“ Kultur beschäftigen (Kap. 9), welche Spengler wohl zu Unrecht als Teil der „magischen“ sieht. Daraufhin soll die Rolle der babylonischen, indischen, mexikanischen und chinesischen Kulturen im „Untergang des Abendlandes“ beleuchtet werden (Kap. 10), die im Gegensatz zu den antiken, magischen und abendländischen Kulturen nur kursorische Betrachtung erfahren haben und in vielerlei Hinsicht interessante Ansätze aufweisen, aber eine grundlegende Überarbeitung verdienen. Das Augenmerk verschiebt sich dann auf die abendländische Zivilisation und ihre Zukunft: Zunächst soll die erstaunlich prominente und gerade im Rahmen der historischen Entstehungszeit des „Untergangs“ hochinteressante Rolle Cecil Rhodes’ als Vorläufer des modernen Caesarismus untersucht (Kap. 11) und daraufhin eine kurze Analyse der politischen Streitschrift „Jahre der Entscheidung“ versucht werden (Kap. 12), in der Spengler nicht nur seine Opposition angesichts der Machtergreifung der
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Oswald Spengler: Werk, Deutung, Rezeption
Nationalsozialisten äußerte, sondern auch die seines Erachtens grundlegenden Zukunftsfragen der abendländischen Geschichte skizzierte. Ein vierter Abschnitt ist der Rezeption Oswald Spenglers gewidmet, vor allem, aber nicht ausschließlich in der angelsächsischen Literatur. Zuerst ist es der französische Germanist André Fauconnet (Kap. 13), ein persönlicher Bekannter Spenglers, der als einer der wichtigsten Vektoren der frühen französischen Spengler-Rezeption zu betrachten ist, und zwar nicht nur auf Grundlage seines wissenschaftlichen Oeuvres, sondern auch seines bislang unveröffentlichten Briefwechsels mit Spenglers Familie und dessen Vertrauten. Die Analyse der (überaus positiven) angelsächsischen Rezeption Spenglers umfaßt daraufhin das Werk Francis Scott Fitzgeralds (Kap. 14), H.P. Lovecrafts (Kap. 15) und Henry Millers (Kap. 16), die alle in verschiedenster Weise die Lektüre Spenglers als bedeutenden Umbruch in ihrer weltanschaulichen Entwicklung erfahren haben und in ihrem Werk zutiefst von den Grundthesen des „Untergangs“ beeinflußt waren. Ein letztes Kapitel behandelt dann die Rezeption Oswald Spenglers bei Karl Jaspers (Kap. 17), dessen Konzept einer linearen, vor allem durch die „Achsenzeit“ geprägten Entwicklung der menschlichen Geschichte auf den ersten Blick zwar grundlegende Unterschiede zu Spenglers zyklischem und kulturalistischem Weltbild aufweist, tatsächlich aber auch interessante Analogien zum kulturmorphologischen Ansatz erkennen läßt. Ein fünfter und letzter Abschnitt schließlich untersucht das oft und wiederholt aufgeworfene Themenfeld „Spengler heute“ und vertieft eine Reihe von Ansätzen, welche im Vorfeld bereits gelegentlich angeklungen sind. Es kann zwar nicht darum gehen, hier in aller Vollständigkeit ein alternatives geschichtsphilosophisches Modell vorzulegen, aber doch immerhin, in Anlehnung an viele der von Spengler entwickelten Gedanken in Umrissen aufzuzeigen, was von der Spengler’schen Geschichtsmorphologie weiterhin Gültigkeit beanspruchen kann und was nicht (Kap. 18), und wie auf dieser Grundlage ein alternativer Weg aufgezeichnet werden könnte, Spenglers kulturkomparatistische Grundhypothese mit einer idealistischen metaphysischen Fundamentierung und einer an den heutigen Wissensstand angepaßten Interpretation vor allem der außereuropäischen Hochkulturen (Kap. 19) zu versehen. Ein kurzer Ausblick (Kap. 20) faßt dann die Ergebnisse dieser Studien zusammen und umschreibt davon ausgehend lohnenswerte weitere Forschungsfelder der Zukunft.
EINFÜHRENDES
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Oswald Spengler und der „Untergang des Abendlandes“: eine Einführung
2.1
Einleitung „In diesem Buche wird zum erstenmal der Versuch gewagt, Geschichte vorauszubestimmen. Es handelt sich darum, das Schicksal einer Kultur, und zwar der einzigen, die heute auf diesem Planeten in Vollendung begriffen ist, der westeuropäischamerikanischen, in den noch nicht abgelaufenen Stadien zu verfolgen.“ (UdA, S. 3)
Dies sind die kühnen ersten Worte von Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“, dessen Ziel es war, die mögliche Zukunft des Westens auf der Grundlage der Methode des Kulturvergleichs zu skizzieren und die Blaupause für jede einzelne menschliche Hochkultur zu liefern. Spengler betrachtete sich selbst oft als einen der letzten Vertreter der bürgerlichen Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts und fühlte sich mit dem 20. Jahrhundert zutiefst unzufrieden, ein Eindruck von „Unzeitgemäßheit“, der auch einige seiner Zeitgenossen wie Thomas Mann und Hermann Hesse prägte und die nostalgischen Anklänge in Spenglers Schriften ebenso erklärt wie seine (nicht immer überzeugenden) Versuche, seine innere Melancholie zu überwinden, indem er sich als hartnäckiger Verfechter von Technologie, Imperialismus und Massenzivilisation ausgab. Oswald Spenglers Ruhm gründet auf seiner monumentalen historischen Studie „Der Untergang des Abendlandes“, die zu zeigen versuchte, daß alle menschlichen Zivilisationen ähnliche Entwicklungsphasen durchlaufen, die in etwa den verschiedenen Altersstufen eines biologischen Wesens entsprechen. Während der 1920er Jahre wurden Spenglers Ideen nicht nur in Deutschland, sondern überall in Europa und Amerika breit diskutiert, und obwohl die akademische Welt im allgemeinen skeptisch blieb, beeinflußte Spenglers Prophezeiung eines bevorstehenden Niedergangs und schlußendlichen Untergangs der abendländischen Zivilisation viele Schriftsteller und Künstler; damals wie heute. Spengler versuchte sich auch in der Politik und unternahm es in einer Reihe kleinerer Abhandlungen wie „Preußentum und Sozialismus“, „Politische Pflichten der deutschen Jugend“ und „Neubau des Deutschen Reiches“, die Idee einer konservativen Renaissance Deutschlands nach der Niederlage im Weltkrieg zu fördern. Der Aufstieg des Nationalsozialismus allerdings versetzte Spengler allmählich in eine Situation ideologischer Opposition, wie sein Essay „Jahre der Entscheidung“ zeigt, in welchem er Hitlers Rassentheorie kritisierte und sich somit zur persona non grata machte. Nach dem Zweiten Weltkrieg prägten
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Einführendes
Spenglers Elitismus und seine Erwartung eines deutsch dominierten Europas als modernes Äquivalent des Römischen Reiches die Rezeption seines Werkes bis in die 1990er Jahre. Durch diese einseitige Verengung auf den unmittelbaren zeithistorischen Aspekt wurde die Komplexität seines Denkens freilich stark verschleiert, das so moderne Debatten wie die Technikkritik, ökologische Probleme, interreligiöse Fragen, den Aufstieg Asiens und die vorgeschichtliche Evolution vorwegnimmt. Seit dem Ende des Kalten Krieges wird Spenglers Werk allerdings nach und nach wiederentdeckt und diskutiert und bietet eine faszinierende – wenn auch höchst kontroverse – Perspektive auf die zahlreichen Herausforderungen, mit denen die westliche Welt seit Beginn des 21. Jahrhunderts konfrontiert ist.
2.2
Leben und Umfeld
Oswald Arnold Gottfried Spengler wurde am 29. Mai 1880 in Blankenburg im Harz als Sohn des strengen und eher anti-intellektuellen Postbeamten Bernhard Spengler und der zu Depression neigenden Pauline Grantzow in einer Familie von Kunstliebhabern geboren.1 Oswald war das älteste überlebende Kind ihrer Ehe, aus der auch drei Mädchen hervorgingen, Adele, Gertrud und Hildegard, von denen die jüngste später bei ihrem Bruder als Haushälterin leben sollte. 1891 zog die Familie nach Halle an der Saale, wo Spengler als Schüler der Francke’schen Stiftungen ausgebildet wurde, einer religiös motivierten und stark vom protestantischen Pietismus geprägten Bildungseinrichtung. Die Geschwister erinnerten sich später an ihre Kindheit als schwierig und traurig, und Oswald, der zeitlebens unter starken Kopfschmerzen litt, versuchte, sich dadurch eine gewisse innere Autonomie zu sichern, daß er sich von seinen Mitschülern fernhielt, verschiedensten autodidaktischen Studien frönte, in großer Detaildichte imaginäre Weltreiche beschrieb2 und mit siebzehn Jahren ein Drama mit dem Titel „Montezuma“ verfaßte.3 Wegen eines schweren Herzfehlers vom Militärdienst freigestellt, belegte Spengler Veranstaltungen in Mathematik, Naturwissenschaften und Philosophie an den Universitäten Halle, München und Berlin und promovierte 1904 mit einer Arbeit über Heraklit mit dem Titel „Der metaphysische Grundgedanke der Heraklitischen Philosophie“.4 Im Jahr 1905 legte er auch die für den Beruf des Gymnasiallehrers erforderliche Staatsexamensarbeit vor, diesmal über die 1
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Zu Spenglers Leben und Zeit s. allg. Koktanek 1968; Merlio 1982; Naeher 1984; Felken 1988; Farrenkopf 1992/1993; Van der Goten 2016. Zu einer psychologischen Auswertung dieser frühen Werke s. Van der Goten 2016. Oswald Spengler, Montezuma. Ein Trauerspiel (1897), in: Birkenmaier 2011. „Der metaphysische Grundgedanke der Heraklitischen Philosophie“, abgedruckt in: RuA.
2 Oswald Spengler und der „Untergang des Abendlandes“
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Entwicklung des Auges: „Die Entwicklung des Sehorgans bei den Hauptstufen des Tierreichs“.5 Trotz seiner Abneigung gegen das Unterrichtswesen (allein der Anblick des Schulgebäudes, in dem er seine erste Stelle antreten sollte, bescherte ihm einen Nervenzusammenbruch) scheint Spengler von seinen Schülern, wenn auch nicht von seinen Kollegen geschätzt worden zu sein und arbeitete bis 1911 als Lehrer in Saarbrücken, Düsseldorf und Hamburg, bis das kleine Erbe, das er nach dem Tod seiner Mutter erhielt (sein Vater war bereits 1901 verstorben), es ihm ermöglichte, sich vom Schulwesen zurückzuziehen und als freier Schriftsteller zu leben. Spengler zog nach München und begann, neben zahlreichen kleineren Beiträgen für verschiedene Zeitschriften und mehreren Romanskizzen sein großes wissenschaftliches Werk „Der Untergang des Abendlandes“ zu verfassen. Die fast sieben Jahre dauernde Niederschrift dieser Studie war ein überaus qualvoller Prozeß, wie Spenglers Tagebücher aus dieser Zeit, „Eis heauton“ („Über sich selbst“), zeigen, welche wertvolle Einblicke in seine Persönlichkeit und seine permanenten Selbstzweifel erlauben. Der erste Band des „Untergangs des Abendlandes“ erschien 1918, kurz vor Ende des Weltkriegs, und machte ihn auf Anhieb zu einer Berühmtheit. Während Spengler den zweiten Band verfaßte (erschienen 1922, gefolgt von einer vor allem stilistisch überarbeiteten Ausgabe des ersten), begann Spengler auch, sich mit den Folgen der deutschen Niederlage auseinanderzusetzen und sich aktiv in zeitgenössische politische Fragen einzubringen. Als erstes Ergebnis erschien 1919 das Büchlein „Preußentum und Sozialismus“, auf das zahlreiche kürzere Texte wie etwa „Politische Pflichten der Deutschen Jugend“ und „Neubau des Deutschen Reiches“ folgten, welche jedoch die im „Untergang“ entwickelten Positionen nur marginal ergänzten. Als eingefleischter und von tiefen psychologischen Problemen beschwerter Junggeselle gründete Spengler nie eine Familie, sondern lebte bis zu seinem Ende zusammen mit seiner Schwester Hildegard, die nach dem Tod ihres Mannes nach München zog und als Spenglers Haushälterin fungierte.6 Nachdem Spengler zu einer Art Berühmtheit geworden war, entwickelte er zeitweise ein großes Interesse nicht nur an der Tagespolitik, sondern auch an wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen7 und engagierte sich auch persönlich in verschiedenen konservativen und elitären Kreisen,8 doch seine diesbezüglichen Unternehmungen, darunter die Unterstützung der gescheiterten Machtübernahme des Generals Hans von Seeckt im Jahre 1924, offenbarten nur seine persönlichen Unzulänglichkeiten, wenn es darum ging, den Intrigen des 5
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„Die Entwicklung des Sehorgans bei den Hauptstufen des Tierreiches“ ist leider heute verschollen. Sie und ihre Tochter Hilde organisierten später Spenglers literarische Fragmente und waren wichtige Zwischenglieder zwischen der frühen Spengler-Forschung und dem Archivmaterial. S. jetzt Otte 2018a und 2018b. Vgl. Henkel 2012.
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Einführendes
politischen Alltags zu folgen und adäquat mit Gegnern und Rivalen umzugehen. In den folgenden zehn Jahren ließ Spengler daher seine politischen Ambitionen langsam fallen und konzentrierte sich stattdessen auf die Neubewertung von Fragen, die der „Untergang des Abendlandes“ offen gelassen hatte, obwohl er in seiner Arbeit durch gesundheitliche Probleme, allen voran eine Gehirnblutung im Jahre 1927, stark behindert wurde. 1931 veröffentlichte er nichtsdestoweniger „Der Mensch und die Technik“, eine visionäre Reflexion über die Geschichte und die umweltbedingten Unzulänglichkeiten der Technologie, und zwar von den frühesten Zeiten bis zum vorausgesagten Ende des Westens. Leider wurden die großen Projekte, die Spengler nach der Veröffentlichung des „Untergangs“ zu skizzieren begonnen hatte, nie vollendet und blieben eine Sammlung von verschiedensten Fragmenten und Aphorismen. Das posthum gesammelte und unter den Titeln „Urfragen“ und „Frühzeit der Weltgeschichte“ publizierte Material war jedoch umfangreich genug, um die Umrisse und zumindest den allgemeinen Inhalt von Spenglers diesbezüglichen Überlegungen verständlich zu machen.9 Spenglers letzte Jahre wurden durch den Aufstieg Hitlers überschattet. Während Spengler auf der Grundlage seiner vergleichenden Methode die Umwandlung ultrakapitalistischer Massendemokratien in diktatorische Regime als unvermeidlich angesehen und eine gewisse Sympathie für Mussolinis faschistische Bewegung als erstes Symptom dieser Entwicklung geäußert hatte (eine Sympathie, die Mussolini erwiderte, der die Übersetzung von Spenglers Schriften ins Italienische befürwortete),10 sah er den Nationalsozialismus viel kritischer. Als Bewunderer des Geistes der alten preußischen Aristokratie verabscheute er den seiner Ansicht nach zutiefst proletarischen und demagogischen Charakter von Hitlers Partei und hielt die arische Rassenlehre für Unsinn, da er selbst von einer radikalen Parallelität und somit Gleichheit zwischen allen vergangenen und gegenwärtigen Zivilisationen ausging.11 Trotz einer unfruchtbar verlaufenden persönlichen Begegnung mit Hitler und dem anfänglichen Versuch des Regimes, Spengler für sich zu gewinnen, um von seinem internationalen Ansehen zu profitieren, brachte Spengler nach und nach seine offene Verachtung für den angeblichen „nationalen Aufstand“ zum Ausdruck; eine kritische Haltung, die 1933 in der Veröffentlichung der „Jahre der Entscheidung“ gipfelte, in denen er das neue Regime offen kritisierte, wenn 9
10 11
Koktanek publizierte auch eine Auswahl aus Spenglers Briefen, welche es ermöglicht, einen Einblick in das weite politische wie intellektuelle Netzwerk des Geschichtsphilosophen zu erhalten (Br.); dazu kommt dann noch die Separatsammlung BrG. Trotzdem bleibt ein großer Teil des Nachlasses immer noch unveröffentlicht in der Münchener Staatsbibliothek, nicht zuletzt wegen der äußerst schweren Lesbarkeit von Spenglers Handschrift, welche ganz geprägt ist durch Abkürzungen und die psychomotorischen Auswirkungen seines Gehirnschlags vom Jahr 1927 (Spengler Nachlaß, Sign. Ana 533). Vgl. Thöndl 2010. Vgl. Thöndl 1993.
2 Oswald Spengler und der „Untergang des Abendlandes“
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auch aus der antiliberalen Perspektive, die sich aus seinem Glauben an die unvermeidliche Entwicklung der Geschichte ergab. Im Jahr 1934 hielt Spengler sogar die Trauerrede für eines der Opfer der Zerschlagung des (angeblichen) Röhm-Putsches, und 1935 schied er aus dem Vorstand des einflußreichen Nietzsche-Archivs aus, weil dieses das neue Regime ausdrücklich unterstützte. Nachdem Spengler angeblich das Ende des Dritten Reiches innerhalb der nächsten zehn Jahre vorhergesagt hatte,12 starb er am 8. Mai 1936 an einem Herzinfarkt. Die ihm von einigen seiner Bewunderer gewidmete Festschrift wurde in aller Stille veröffentlicht;13 ein von Mussolini versprochener Beitrag wurde zurückgezogen, wohl um diplomatische Reibereien zu vermeiden.14
2.3
Quellen
Spengler selbst verspürte in der Einleitung zum „Untergang des Abendlandes“ den Drang, „noch einmal die Namen zu nennen, denen ich praktisch alles verdanke: Goethe und Nietzsche. Von Goethe habe ich die Methode, von Nietzsche die Fragestellungen“. (UdA, S. IX). Obwohl der Einfluß von Goethes Vitalismus – vor allem sein Interesse an den botanischen Wissenschaften und an dem, was er „Urpflanze“ und somit Blaupause für alle anderen Lebewesen nannte – und von Nietzsches Kulturkritik in der Tat überall im „Untergang“ spürbar sind,15 waren Goethe und Nietzsche (von denen keiner ein Historiker war) keineswegs die einzigen Quellen Spenglers. Spengler selbst, wie jedes selbst ernannte Genie, bestand im allgemeinen freilich auf der absoluten „Neuheit“ seiner Theorie: „Ich betrachte es als die kopernikanische Entdeckung im Bereich der Historie, daß in diesem Buche ein System an seine Stelle tritt, in dem Antike und Abendland neben Indien, Babylon, China, Ägypten, der arabischen und mexikanischen Kultur – Einzelwelten des Werdens, die im Gesamtbild der Geschichte ebenso schwer wiegen, die an Großartigkeit der seelischen Konzeption, an Gewalt des Aufstiegs die Antike vielfach übertreffen – eine in keiner Weise bevorzugte Stellung einnehmen.“ (UdA, S. 24)
Diese Behauptung ist nicht unproblematisch. Bereits die von Spengler in seinen Fußnoten zitierte wissenschaftliche Literatur zeigt schon das breite Spektrum der von ihm herangezogenen Werke an, von denen viele einige Schlüsselmerkmale seiner Theorie vorweggenommen haben, darunter vor allem der universelle und zyklische Ansatz der Weltgeschichte, wie er von dem 12 13 14 15
Frank 1955, S. 247. Reusch/Korherr 1937. Vgl. Engels 2013a (= Kap. 13). Zum Verhältnis Spenglers zu Goethe und Nietzsche s. Janensch 2006.
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Einführendes
angesehenen deutschen Historiker Eduard Meyer vertreten wurde, den Spengler sehr schätzte, und mit dem er eine freundschaftliche Korrespondenz unterhielt.16 Ferner ist klar, daß wesentliche Teile von Spenglers persönlichem Weltbild tief vom zeitgenössischen Konzept der Philosophie des Vitalismus beeinflußt waren,17 also dem Glauben, daß alle lebenden Organismen ebenso wie ihre gesellschaftlichen Schöpfungen sich grundlegend von anorganischen Einheiten unterscheiden und einem eigenen Satz von Gesetzen unterworfen sind, die nicht nur durch die Mechanik von Aktion und Reaktion, sondern vielmehr durch das Schicksal von Geburt, Blüte, Verfall und Tod gekennzeichnet sind. Darüber hinaus geht die Vorstellung, daß Zivilisationen im großen und ganzen den Entwicklungsschritten eines Lebewesens folgen und daher mit Bezug auf dieses gemeinsame Muster auch miteinander verglichen werden können, bis auf die klassische Antike und sogar darüber hinaus zurück, obwohl wir nicht sicher sein können, inwieweit sich Spengler selbst dessen bewußt war.18 Cato der Ältere, Cicero, Seneca, Florus und Ammianus Marcellinus hatten alle den Aufstieg, die Reife und den Niedergang des römischen Staates mit den verschiedenen Altersstufen des Menschen verglichen, ein Ansatz, der einen enormen Einfluß auf viele spätere Historiker ausübte, darunter sogar Francis Bacon, der die biologische Analogie nutzte, um verschiedene abendländische Reiche seiner Zeit miteinander zu vergleichen.19 Bis zu einem gewissen Grad lag diesem Muster auch eine andere, ebenso einflußreiche Geschichtsinterpretation zugrunde, nämlich der dialektische Ansatz, der zuerst in den theologischhistorischen Spekulationen des Joachim von Fiore formuliert wurde, welcher die Heilsgeschichte mit den drei Personen der Heiligen Dreifaltigkeit verglich, und dann in der Geschichtsphilosophie Hegels, welcher nicht nur die drei dialektischen Phasen der menschlichen Evolution mit den drei Zeitaltern des Menschen parallelisierte, sondern ähnlich wie Giambattista Vico auch zu zeigen versuchte, wie sich der Geist eines jedes Volkes, der „Volksgeist“, auf dialektische und biologische Weise entwickelte.20 Auch Dilthey, Lessing, Danilewskij, Adams, Frobenius und Lamprecht werden in der Forschung häufig als mögliche Ideengeber erwähnt.21 Nichtsdestoweniger hat Spengler freilich recht, wenn er behauptet, daß niemand in der westlichen Geschichtsschreibung den historischen Komparatismus so weit vorangetrieben hat wie er selbst, und obwohl er sich hauptsächlich mit 16 17 18 19
20 21
Vgl. Demandt 1990. S. allg. Dempf 1922/1923; Schoeps 1955; Zumbini 1994. Engels (Hg.) 2015. Zur antiken Lebensalterlehre s. vgl. Eyben 1973; Gatz 1967; Häussler 1964; Ruch 1972; Ferguson 1975; Engels 2009b. Zu Hegel und Spengler s. Jähnig 1965; Engels 2009a (= Kap. 5); Engels 2019a. Dilthey: Magnano San Lio 2009; Lessing und Frobenius: Chouillou 2014; Danilewskij 1869/1920; Adams 1895; Lamprecht: vom Bruch 1994.
2 Oswald Spengler und der „Untergang des Abendlandes“
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der klassischen, der arabischen und der europäischen Zivilisation befaßte und die Grundzüge der anderen nur skizzierte,22 kann man das geballte universalgeschichtliche Wissen, das in den „Untergang des Abendlands“ einfloß, zumindest bis zur Veröffentlichung von Toynbees noch monumentalerer Geschichtsstudie getrost als unübertroffen bezeichnen, so daß das Werk auch auf jene Leser, die Spenglers Hypothese nicht akzeptierten, eine starken und nachhaltigen Eindruck machte.
2.4
Grundlagen
Spenglers Geschichtsphilosophie23 beruht auf zwei Grundannahmen. Zum einen ging Spengler von der Existenz sozialer Gebilde mit dem Namen „Kulturen“ als den größtmöglichen Akteuren der Menschheitsgeschichte aus, welche selbst an sich weder ein wirkliches philosophisches Ziel noch einen metaphysischen Sinn hat: „Niemand erwartet von einer Raupe, die er täglich wachsen sieht, daß sie möglicherweise ein paar Jahre damit fortfährt. Hier hat jeder mit unbedingter Gewißheit das Gefühl einer Grenze, das mit einem Gefühl für die innere Form identisch ist. Der Geschichte des höhern Menschentums gegenüber aber herrscht ein zügelloser, alle historische und also organische Erfahrung verachtender Optimismus in bezug auf den Gang der Zukunft, so daß jedermann im zufällig Gegenwärtigen die „Ansätze“ zu einer ganz besonders hervorragenden linienhaften „Weiterentwicklung" feststellt, nicht weil sie wissenschaftlich bewiesen ist, sondern weil er sie wünscht. Hier wird mit schrankenlosen Möglichkeiten — nie mit einem natürlichen Ende — gerechnet und aus der Lage jedes Augenblicks heraus eine völlig naive Konstruktion der Fortsetzung entworfen. Aber „die Menschheit“ hat kein Ziel, keine Idee, keinen Plan, so wenig wie die Gattung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat. „Die Menschheit“ ist ein zoologischer Begriff oder ein leeres Wort. Man lasse dies Phantom aus dem Umkreis der historischen Formprobleme schwinden und man 22 23
Hierzu dann Engels 2020a (= Kap. 8), Engels 2017c (= Kap. 9); Engels 2020b (= Kap. 10). Als allg. Einführung in das Werk Spenglers vgl. Schröter 1949; Stuart Hughes 1952; Baltzer 1956; Stutz 1958; Baltzer 1959; Baltzer 1962; Koktanek 1965; Drascher 1965; Bäumler 1965; Van Scheltama 1965; Stier 1965; Wenzel 1965; Koktanek 1968 ; Ludz 1980; Lübbe 1980; Möller 1980; Strong 1980; Parent 1981; Merlio 1982; Bouveresse 1983; Naeher 1984; Felken 1988; Fischer 1989; Demandt/Farrenkopf 1994); Demandt 1994; Kaiserreiner 1994; Swassjan 1998; Boterman 2000; Farrenkopf 2001; Conte 2004; Guerri/Ophälders 2004; Thöndl 2004; Urbaniak 2006; Osmancevic 2007; Witte 2008; Csejtei/Juhász 2009; Gangl/Merlio/Ophälders 2009; Demandt 2009; Ophälders 2009; Gasimov/Lemke Duque 2013 ; Merlio/Meyer 2014; Van der Goten 2016; De Winde u.a. 2016 ; Demandt 2017 ; Fink/Rollinger 2018; Engels/Otte/Thöndl 2018 ; Houellebecq/Engels/Otte/Morgenthaler 2019; Merlio 2019 sowie das neue „Oswald Spengler Journal“ (1, 2018/2019). S. auch die umfassende Bibliographie in „Nouvelle École“ 1959/1960, 2010/2011 und auf der Webseite der Spengler-Gesellschaft (www.oswaldspenglersociety.com).
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Einführendes wird einen überraschenden Reichtum wirklicher Formen auftauchen sehen. Hier ist eine unermeßliche Fülle, Tiefe und Bewegtheit des Lebendigen, die bis jetzt durch ein Schlagwort, durch ein dürres Schema, durch persönliche „Ideale“ verdeckt wurde. Ich sehe statt jenes öden Bildes einer linienförmigen Weltgeschichte, das man nur aufrecht erhält, wenn man vor der überwiegenden Menge der Tatsachen das Auge schließt, das Schauspiel einer Vielzahl mächtiger Kulturen, die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoß einer mütterlichen Landschaft, an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist, aufblühen, von denen jede ihrem Stoff, dem Menschtum, ihre eigne Form aufgeprägt hat, von denen jede ihre eigne Idee, ihre eignen Leidenschaften, ihr eignes Leben, Wollen, Fühlen, ihren eignen Tod hat.“ (UdA, S. 28–29)
Diese Kulturen – nach Spengler sind es neun (die ägyptische, die babylonische, die indische, die chinesische, die griechisch-römische, die „magische“ oder „arabische“, zu der das frühe und byzantinische Christentum ebenso wie der Islam gehören, die mesoamerikanische, die abendländische und schließlich die russische) – koexistieren in Zeit und Raum und interagieren somit bis zu einem gewissen Grad miteinander, haben aber keine wirkliche „innere“ Verbindung miteinander. Ihre Entwicklung folgt also nur ihrer eigenen, inneren Logik und kann nicht durch äußere Faktoren beeinflußt werden, mit Ausnahme der „mexikanischen Kultur“, die von den Eroberern buchstäblich „enthauptet“ worden sei – ein weiterer und trauriger Beweis für das Fehlen eines echten „Sinns“ in der Geschichte, wenn man Spengler glauben schenkt. Spenglers zweite große Hypothese ist, daß die innere Entwicklung dieser Kulturen im wesentlichen parallel verläuft und genau den Evolutionsstufen eines Lebewesens entspricht,24 eine Idee, die, wie wir gesehen haben, nicht nur in der Philosophie des Vitalismus verwurzelt ist, wie sie sich im 19. Jahrhundert entwickelte, sondern letztlich bis in die Antike zurückreicht: „Kulturen sind Organismen. Weltgeschichte ist ihre Gesamtbiographie. Die ungeheure Geschichte der chinesischen oder antiken Kultur ist morphologisch das genaue Seitenstück zur Kleingeschichte des einzelnen Menschen, eines Tieres, eines Baumes oder einer Blume. Das ist für den faustischen Blick keine Forderung, sondern eine Erfahrung. Will man die überall wiederholte innere Form kennenlernen, so hat die vergleichende Morphologie der Pflanzen und Tiere längst die Methode dazu vorbereitet. Im Schicksal der einzelnen, aufeinander folgenden, nebeneinander aufwachsenden, sich berührenden, überschattenden, erdrückenden Kulturen erschöpft sich der Gehalt aller Menschengeschichte. Und läßt man ihre Gestalten, die bis jetzt nur allzu tief unter der Oberfläche einer trivial fortlaufenden ‚Geschichte der Menschheit‘ verborgen waren, im Geiste vorüberziehen, so muß es gelingen, die Urgestalt der Kultur, frei von allem Trübenden und Unbedeutenden aufzufinden, die allen einzelnen Kulturen als Formideal zugrunde liegt.“ (UdA, S. 140–141)
24
Noch die letzten philosophischen Überlegungen Spenglers waren vom Gedanken an die Unausweichlichkeit dieses Biologismus erfüllt, vgl. U 350 (Aph. XII 41): „Es ist feige, an die willkürliche Verlängerung des Lebens zu glauben, von einzelnen Völkern und Kulturen. Das ist Ausweichen vor der Tatsache der Vollendung.“
2 Oswald Spengler und der „Untergang des Abendlandes“
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Spengler beschränkt seine Analogien jedoch nicht nur auf botanische Bilder. Er verwendet auch das Paradigma der verschiedenen Zeitalter des Menschen und sogar den Rhythmus der vier Jahreszeiten als Vergleichsmaßstab, indem er seine Analyse an eine Reihe von suggestiven Metaphern knüpft, die alle mit dem Zyklus des Lebens verbunden sind und differenziert genug ausfallen, um eine subtile und intuitive25 Beschreibung der verschiedenen Entwicklungsschritte einer jeden Kultur zu ermöglichen, wie auch durch die Verwendung dieser Topoi in einer Reihe von synchronoptischen Vergleichstabellen gezeigt wird. Obwohl das folgende Zitat etwas lang ist, enthält es nicht nur die Blaupause der Evolution jeder Kultur und illustriert auf brillante Weise Spenglers Spiel mit historischen Referenzen und Anspielungen, sondern zeigt auch die literarische, fast poetische Qualität, die Spengler zu erreichen versuchte: „Jede Kultur durchläuft die Altersstufen des einzelnen Menschen. Jede hat ihre Kindheit, ihre Jugend, ihre Männlichkeit und ihr Greisentum. Eine junge, verschüchterte, ahnungsschwere Seele offenbart sich in der Morgenfrühe der Romanik und Gotik. Sie erfüllt die faustische Landschaft von der Provence der Troubadoure bis zum Hildesheimer Dom Bischof Bernwards. Hier weht Frühlingswind. […] Kindheit spricht ebenso und in ganz verwandten Lauten aus der frühhomerischen Dorik, aus der altchristlichen, das heißt früharabischen Kunst und aus den Werken des mit der 4. Dynastie beginnenden Alten Reiches in Ägypten. Da ringt ein mythisches Weltbewußtsein mit allem Dunklen und Dämonischen in sich und in der Natur wie mit einer Schuld, um langsam dem reinen lichtklaren Ausdruck eines endlich gewonnenen und begriffenen Daseins entgegenzureifen. Je mehr eine Kultur sich der Mittagshöhe ihres Daseins nähert, desto männlicher, herber, beherrschter, gesättigter wird ihre endlich gesicherte Formensprache, desto gewisser ist sie im Gefühl ihrer Kraft, desto klarer werden ihre Züge. In der Frühzeit war das alles noch dumpf, verworren, suchend, von kindlicher Sehnsucht und Angst zugleich erfüllt. Man betrachte die Ornamentik romanisch-gotischer Kirchenportale Sachsens und des südlichen Frankreich. Man denke an die altchristlichen Katakomben, an die Vasen des Dipylonstils. Jetzt, im vollen Bewußtsein der gereiften Gestaltungskraft, wie sie die Zeitalter des beginnenden Mittleren Reiches, der Peisistratiden, Justinians, der Gegenreformation zeigen, erscheint jeder Einzelzug des Ausdrucks gewählt, streng, gemessen, von einer wunderbaren Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit. Hier finden sich überall Augenblicke einer leuchtenden Vollendung, Augenblicke, in denen der Kopf Amenemhets III. (die Hyksossphinx von Tanis), die Wölbung der Hagia Sophia, die Gemälde Tizians entstanden sind. Noch später, zart, beinahe zerbrechlich, von der wehen Süßigkeit der letzten Oktobertage sind die knidische Aphrodite und die Korenhalle des Erechtheion, die Arabesken an sarazenischen Hufeisenbögen, der Dresdner Zwinger, Watteau und Mozart. Zuletzt, im Greisentum der anbrechenden Zivilisation, erlischt das Feuer der Seele. Die abnehmende Kraft wagt sich noch einmal, mit halbem Erfolge – im Klassizismus, der keiner erlöschenden Kultur fremd ist – an eine große Schöpfung; die Seele denkt noch einmal – in der Romantik – wehmütig an ihre Kindheit zurück. Endlich verliert
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Eine oft als unwissenschaftlich apostrophierte Vorgehensweise; vgl. etwa Musil 1921/1978, S. 1044: „Seien wir generös. Spengler meint es quasi, arbeitet mit Analogien und in irgendeinem Sinne kann man da immer recht haben.“
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Einführendes sie, müde, verdrossen und kalt, die Lust am Dasein und sehnt sich – wie zur römischen Kaiserzeit – aus tausendjährigem Lichte wieder in das Dunkel urseelenhafter Mystik, in den Mutterschoß, ins Grab zurück. Das ist der Zauber der „zweiten Religiosität“ wie ihn damals der Mithras-, Isis- und Solkult auf spätantike Menschen ausübten – dieselben Kulte, welche eine eben ertagende Seele im Osten als den frühesten, träumerischen, ängstlichen Ausdruck ihres Alleinseins in dieser Welt mit einer ganz neuen Innerlichkeit erfüllt hatte.“ (UdA, S. 144–145)
Dieses Zitat beschreibt eindringlich die Deutung, die Spengler seiner Gegenwart unterlegt, sowie die Zukunft, die er der abendländischen Welt vorhersagt, die seit Napoleon (dem groben Äquivalent zu Alexander dem Großen) in das späte Stadium der Transformation der „Kultur“ in eine „Zivilisation“ eingetreten ist, die durch Technologie, Expansion, Imperialismus und Massengesellschaft gekennzeichnet ist und ab dem Jahr 2000 voraussichtlich versteinern und untergehen wird. Diese Dichotomie zwischen „Kultur“ und „Zivilisation“, die für das Verständnis von Spenglers Geschichtsphilosophie von zentraler Bedeutung ist, stellt ein weiteres Konzept dar, das tief im deutschen Denken des 19. Jahrhunderts verankert ist, beispielsweise in Schillers Abhandlung über „naive und sentimentalische Dichtung“ (1795), in Goethes „Geistesepochen“ (1817) oder in Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“ (1918).26 Dementsprechend beschreibt Spengler den gegenwärtigen, „zivilisierten“ Zustand des Westens wie folgt: „Ich bin auf den Einwand gefaßt, daß ein solcher Weltaspekt, der über die Umrisse und die Richtung der Zukunft Gewißheit gibt und weitgehende Hoffnungen abschneidet, lebensfeindlich und für viele ein Verhängnis sei, falls er einmal mehr als bloße Theorie, falls er die praktische Weltanschauung der für die Gestaltung der Zukunft wirklich in Betracht kommenden Gruppe von Persönlichkeiten würde. Ich bin nicht der Meinung. Wir sind zivilisierte Menschen, nicht Menschen der Gotik und des Rokoko; wir haben mit den harten und kalten Tatsachen eines späten Lebens zu rechnen, dessen Parallele nicht im perikleischen Athen, sondern im cäsarischen Rom liegt. Von einer großen Malerei und Musik wird für den westeuropäischen Menschen nicht mehr die Rede sein. Seine architektonischen Möglichkeiten sind seit hundert Jahren erschöpft. Ihm sind nur extensive Möglichkeiten geblieben. […] Wenn unter dem Eindruck dieses Buches sich Menschen der neuen Generation der Technik statt der Lyrik, der Marine statt der Malerei, der Politik statt der Erkenntniskritik zuwenden, so tun sie, was ich wünsche, und man kann ihnen nichts Besseres wünschen.“ (UdA, S. 55–57)
Eine der Folgen von Spenglers kulturellem Monismus ist die Debatte darüber, inwieweit Kulturen und Zivilisationen in der Lage sind, sich gegenseitig zu beeinflussen oder gar miteinander zu verschmelzen. Nach Spengler, der das klassische deutsche Konzept des „Volksgeistes“ zu verwenden scheint, das zuerst von Herder entwickelt wurde, ist jede dieser neun Kulturen durch ein spezifisches, unnachahmliches „Seelenbild“ gekennzeichnet, das von außen weitgehend unzugänglich ist. 26
Mann 1918.
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„Ein Seelenbild ist immer nur das Bild einer ganz bestimmten Seele. Kein Beobachter wird je aus den Bedingungen seiner Zeit und seines Kreises heraustreten, und was er auch ‚erkennen‘ möge, jede dieser Erkenntnisse ist bereits ein Ausdruck seiner eignen Seele, nach Auswahl, Richtung und innerer Form.“ (UdA, S. 387)
Dies erklärt auch, warum ein wirklicher interkultureller Dialog oder eine Verschmelzung als völlig unmöglich angesehen wird: Die Übernahme des geistigen oder künstlerischen Schaffens anderer Kulturen kann nur auf einer systematischen Fehlinterpretation beruhen und muß daher letztlich rein oberflächlich bleiben, vergleichbar etwa mit der spolienhaften Verwendung baulicher Überreste vergangener Gesellschaften ohne Rücksicht auf deren ursprünglichen Zweck. „In der Tat besitzt jede Kultur ihre eigne systematische Psychologie, so wie sie ihren eignen Stil von Menschenkenntnis und Lebenserfahrung besitzt. Und wie selbst jede einzelne Stufe, das Zeitalter der Scholastik, das der Sophistik, das der Aufklärung ein Zahlenbild, Denkbild und Naturbild entwirft, das nur für sie paßt, so spiegelt sich endlich jedes Jahrhundert in einem eignen Seelenbilde. Der beste Menschenkenner Westeuropas irrt sich, wenn er einen Araber oder Japaner zu verstehen sucht, und umgekehrt. Aber ebenso irrt der Gelehrte, wenn er die Grundworte der arabischen oder griechischen Systeme mit den eignen übersetzt. Nephesch ist nicht animus, und atman ist nicht Seele. Was wir unter der Bezeichnung Wille überall entdecken, fand der antike Mensch in seinem Seelenbilde nicht.“ (UdA, S. 387–388)
Es handelt sich hier um „Seelenbilder“ wie etwa die „apollinische“ Körperhaftigkeit für die Antike, den inneren Dualismus der „Welthöhle“ für die arabischmagische Kultur, den „faustischen“ Drang für das Abendland, die unendliche „Ebene“ für die russische Kultur, usw., die Spengler wie folgt charakterisiert: „Das faustische und das apollinische Seelenbild stehen einander schroff gegenüber. Alle früheren Gegensätze tauchen wieder auf. Man darf die imaginäre Einheit hier als Seelenkörper, dort als Seelenraum bezeichnen. Der Körper besitzt Teile, im Raum verlaufen Prozesse. Der antike Mensch empfindet seine Innenwelt plastisch. [...] Das magische Seelenbild trägt die Züge eines strengen Dualismus zweier rätselhafter Substanzen, Geist und Seele. Zwischen ihnen herrscht weder das antike, statische, noch das abendländische, funktionale Verhältnis, sondern ein völlig anders gestaltetes, das sich eben nur als magisch bezeichnen läßt. [...] Eine den Leib durchdringende Substanz befindet sich in deutlichem Wertunterschied gegen eine zweite, die sich aus der Welthöhle in die Menschheit herabläßt, abstrakt, göttlich, auf welcher der Consensus aller an ihr Teilhabenden beruht. Dieser ‚Geist‘ ist es, der die höhere Welt hervorruft, durch deren Erzeugung er über das bloße Leben, das ‚Fleisch‘, die Natur triumphiert.“ (UdA, S. 389–390) „Wollen und Denken im Seelenbilde — das ist Richtung und Ausdehnung, Geschichte und Natur, Schicksal und Kausalität im Bilde der äußeren Welt. Daß unser Ursymbol die unendliche Ausgedehntheit ist, tritt in diesen Grundzügen beider Aspekte zutage. Der Wille knüpft die Zukunft an die Gegenwart, das Denken das Grenzenlose an das Hier. Die historische Zukunft ist die werdende, der unendliche Welthorizont die gewordene Ferne: dies ist der Sinn des faustischen Tiefenerlebnisses. Das Richtungsgefühl wird als „Wille“, das Raumgefühl als ‚Verstand‘ wesenhaft, beinahe mythisch vorgestellt: so entsteht das Bild, welches unsre Psychologen mit
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Einführendes Notwendigkeit aus dem Innenleben abstrahieren. Daß die faustische Kultur Willenskultur ist, ist nur ein andrer Ausdruck für die eminent historische Veranlagung ihrer Seele. […] Es ist genau das, was der echte Russe als eitel empfindet und verachtet. Die russische, willenlose Seele, deren Türsymbol die unendliche Ebene ist, sucht in der Brüderwelt, der horizontalen, dienend, namenlos, sich verlierend aufzugehen. Von sich aus an den Nächsten denken, sich durch Nächstenliebe sittlich zu heben, für sich büßen wollen ist ihr ein Zeichen westlicher Eitelkeit und frevelhaft wie das In-den-Himmel-dringen-wollen unsrer Dome im Gegensatz zur kuppelbesetzten Dachebene russischer Kirchen.“ (UdA, S. 394–395)
Während eine solche monolithische Hypothese nicht schwer aufrechtzuerhalten ist, wenn es darum geht, die Entwicklung von räumlich eher isolierten Kulturen wie der chinesischen, ägyptischen oder indischen zu beschreiben, ist es auf den ersten Blick nicht einfach, im Sinne einer völligen kulturellen Eigenständigkeit jener Kulturen zu argumentieren, die sich räumlich überlagerten; eine Tatsache, die gerade am Beispiel der Spätantike ganz besonders flagrant ist. Dieses Problem veranlaßte Spengler zu der Vermutung, daß der gesamte Nahe Osten des ersten Jahrtausends nicht nur ein „Übergang“ zwischen der klassischen Antike, dem westlichen wie östlichen Christentum und dem Islam war, sondern vielmehr eine völlig neue und eigenständige Kultur (bezeichnet als „arabische“ oder „magische“), die ihre Formensprache teils der griechisch-römischen, teils der babylonischen Vorgängerkultur entlehnte, sie aber mit einem völlig neuen Inhalt füllte; ein Merkmal, das Spengler in Analogie zu einem mineralogischen Phänomen als „Pseudomorphose“ bezeichnet. „In einer Gesteinsschicht sind Kristalle eines Minerals eingeschlossen. Es entstehen Spalten und Risse; Wasser sickert herab und wäscht allmählich die Kristalle aus, so daß nur ihre Hohlform übrigbleibt. Später treten vulkanische Ereignisse ein, welche das Gebirge sprengen; glühende Massen quillen herein, erstarren und kristallisieren ebenfalls aus. Aber es steht ihnen nicht frei, es in ihrer eigenen Form zu tun; sie müssen die vorhandenen ausfüllen und so entstehen gefälschte Formen, Kristalle, deren innere Struktur dem äußeren Bau widerspricht, eine Gesteinsart in der Erscheinungsweise einer fremden. Dies wird von den Mineralogen Pseudomorphose genannt. Historische Pseudomorphosen nenne ich Fälle, in welchen eine fremde alte Kultur so mächtig über dem Lande liegt, daß eine junge, die hier zu Hause ist, nicht zu Atem kommt und nicht nur zu keiner Bildung reiner, eigener Ausdrucksformen, sondern nicht einmal zur vollen Entfaltung ihres Selbstbewußtseins gelangt. Alles was aus der Tiefe eines frühen Seelentums emporsteigt, wird in die Hohlformen des fremden Lebens ergossen; junge Gefühle erstarren in ältlichen Werken und statt des Sichaufreckens in eigener Gestaltungskraft wächst nur der Haß gegen die ferne Gewalt zur Riesengröße. Dies ist der Fall der arabischen Kultur.“ (UdA, S. 784)
Es überrascht nicht, daß Spenglers Bestreben, das messianische Judentum, den Zoroastrismus, das frühe Christentum und den Islam als unterschiedliche Ausdrucksformen desselben einzigartigen kulturellen Weltbildes zu erklären, viele Kritiken hervorgerufen hat, obwohl es gleichzeitig die Versuche der neueren Forschung vorwegnimmt, sich weniger auf die religiösen Unterschiede
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als vielmehr auf die intensiven Wechselwirkungen des ersten Jahrtausends als eines „Supermarkts der Religionen“ zu konzentrieren.27 Spenglers deterministische Sicht der Geschichte hat viele Leser dazu veranlaßt, ihn als „Pessimisten“ zu bezeichnen und seine Philosophie letztlich als Aufruf zu Fatalismus und Untätigkeit zu betrachten. Spengler hat eine solche Haltung stets bestritten und – beeinflußt von Nietzsches heroischem „Amor fati“ – seine Leser aufgefordert, einen „realistischen“ Ansatz angesichts der zunehmend begrenzten Möglichkeiten der alternden abendländischen Kultur zu wählen, den unvermeidlichen Ausgang der Geschichte der nächsten Generationen zu akzeptieren und ihr Bestes im Rahmen des Möglichen zu tun, anstatt einen verlorenen Kampf für längst verlorene Ideale zu führen, während er sich voll bewußt war, daß „Optimismus Feigheit“ sei, wie er später in „Der Mensch und die Technik“ klangvoll formulierte: „Angesichts dieses Schicksals gibt es nur eine Weltanschauung, die unser würdig ist, die […] des Achill: Lieber ein kurzes Leben voll Taten und Ruhm als ein langes ohne Inhalt. [...] Die Gefahr ist so groß geworden, für jeden einzelnen, jede Schicht, jedes Volk, daß es kläglich ist, sich etwas vorzulügen. Die Zeit läßt sich nicht anhalten; es gibt keine weise Umkehr, keinen klugen Verzicht. Nur Träumer glauben an Auswege. Optimismus ist Feigheit. Wir sind in diese Zeit geboren und müssen tapfer den Weg zu Ende gehen, der uns bestimmt ist. Es gibt keinen anderen. Auf dem verlorenen Posten ausharren ohne Hoffnung, ist Pflicht. Ausharren wie jener römische Soldat, dessen Gebeine man vor einem Tor in Pompeji gefunden hat, der starb, weil man beim Ausbruch des Vesuv vergessen hatte, ihn abzulösen. Das ist Größe, das heißt Rasse haben. Dieses ehrliche Ende ist das einzige, das man dem Menschen nicht nehmen kann.“ (MuT, S. 88–89)
So verweist Spengler den Leser in den letzten Zeilen des „Untergangs des Abendlandes“ auf die Philosophie des Stoizismus, indem er Seneca zitiert,28 um seine eigene Sicht eines „heroischen“ Pessimismus zu demonstrieren, der auf der Akzeptanz des Unvermeidlichen beruht: „Für uns aber, die ein Schicksal in diese Kultur und diesen Augenblick ihres Werdens gestellt hat, in welchem das Geld seine letzten Siege feiert und sein Erbe, der Cäsarismus, leise und unaufhaltsam naht, ist damit in einem eng umschriebenen Kreise die Richtung des Wollens und Müssens gegeben, ohne das es sich nicht zu leben lohnt. Wir haben nicht die Freiheit, dies oder jenes zu erreichen, aber die, das Notwendige zu tun oder nichts. Und eine Aufgabe, welche die Notwendigkeit der Geschichte gestellt hat, wird gelöst, mit dem einzelnen oder gegen ihn. Ducunt fata volentem, nolentem trahunt.“ (UdA, S. 1194–1195)
Das Ende selbst allerdings, das Versinken in die Geschichtslosigkeit, für die Spengler in Anlehnung an die inmitten der Ruinen des pharaonischen Ägyptens lebenden Bauern die Bezeichnung des „Fellachentums“ geprägt hat, ist unausweichlich: 27 28
Hierzu Engels 2017c (= Kap. 9). Sen., ep. ad Luc. 107.
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Einführendes „Auf dieser Stufe beginnt in allen Zivilisationen das mehrhundertjährige Stadium einer entsetzlichen Entvölkerung. Die ganze Pyramide des kulturfähigen Menschentums verschwindet. Sie wird von der Spitze herab abgebaut, zuerst die Weltstädte, dann die Provinzstädte, endlich das Land, das durch die über alles Maß anwachsende Landflucht seiner besten Bevölkerung eine Zeitlang das Leerwerden der Städte verzögert. […] Es entsteht der Typus des Fellachen.“ (UdA, S. 681) „Mit dem geformten Staat hat auch die hohe Geschichte sich schlafen gelegt. Der Mensch wird wieder Pflanze, an der Scholle haftend, dumpf und dauernd. Das zeitlose Dorf, der ‚ewige‘ Bauer treten hervor, Kinder zeugend und Korn in die Mutter Erde versenkend, ein emsiges, genügsames Gewimmel, über das der Sturm der Soldatenkaiser hinbraust. Mitten im Lande liegen die alten Weltstädte, leere Gehäuse einer erloschenen Seele, in die sich geschichtslose Menschheit langsam einnistet. Man lebt von der Hand in den Mund, mit einem kleinen, sparsamen Glück, und duldet. Massen werden zertreten in den Kämpfen der Eroberer um Macht und Beute dieser Welt, aber die Überlebenden füllen mit primitiver Fruchtbarkeit die Lücken und dulden weiter. Und während man in den Höhen siegt und unterliegt in ewigem Wechsel, betet man in der Tiefe, betet mit jener mächtigen Frömmigkeit der zweiten Religiosität, die alle Zweifel für immer überwunden hat. Da, in den Seelen, ist der Weltfriede Wirklichkeit geworden, der Friede Gottes, die Seligkeit greiser Mönche und Einsiedler, und da allein. Er hat jene Tiefe im Ertragen von Leid geweckt, welche der historische Mensch in dem Jahrtausend seiner Entfaltung nicht kennenlernt. Erst mit dem Ende der großen Geschichte tritt das heilige, stille Wachsein wieder hervor. Es ist ein Schauspiel, das in seiner Zwecklosigkeit erhaben ist, zwecklos und erhaben wie der Gang der Gestirne, die Drehung der Erde, der Wechsel von Land und Meer, von Eis und Urwäldern auf ihr. Man mag es bewundern oder beweinen – aber es ist da.“ (UdA, S. 1107)
2.5
Rezeption
Die Rezeption des Denkens Oswald Spenglers verlief im wesentlichen in zwei Phasen. In den 1920er Jahren gehörte er zu den meistdiskutierten Intellektuellen der westlichen Welt, seine Theorie galt entweder als eine gründliche Revolutionierung der Geschichtsschreibung oder als Frucht eines bloßen Dilettantismus. Auch wenn die wissenschaftliche Rezeption eher skeptisch blieb, machten ihn die literarische Qualität seines Werks und die Suggestivität seiner pessimistischen und tragischen Weltsicht gerade bei vielen Künstlern nicht nur in Europa, sondern auch in Amerika sehr beliebt. Der Zweite Weltkrieg erwies sich dann als wichtige Zäsur: Während sich die vorangegangene Rezeption auf seine Leistungen als komparatistischer Historiker vergangener Zivilisationen konzentriert hatte, wurde sein Werk nun auf seine Prophezeiung des Endes der Demokratie und des Aufstiegs des Caesarismus reduziert und entsprechend auf das Schlagwort des „Illiberalismus“ zurechtgestutzt. Erst seit dem Ende des Kalten Krieges hat Spenglers Werk ein neues Interesse geweckt und eine Neubewertung beginnen lassen, die noch immer in vollem Gange ist.
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Die frühe Rezeption des „Untergangs des Abendlandes“ war ein Phänomen für sich: Überall in Europa diskutierten Journalisten und Wissenschaftler über die Bedeutung, die Gültigkeit und die Mängel der Spengler’schen Kulturmorphologie. Es würde zu weit führen, hier verschiedene Positionen im Detail zu besprechen, zumal die frühe Rezeption bereits 1922 von Manfred Schröter ausführlich dargestellt und analysiert worden ist.29 Hervorzuheben ist nur, daß die Diskussion um Spengler angesichts der Schnelligkeit, mit der sein Werk in zahlreiche andere Sprachen übersetzt wurde, rasch nicht nur zu einem deutschen oder gar europäischen, sondern zu einem internationalen Phänomen wurde.30 Die akademischen Historiker beteiligten sich jedoch nur widerwillig an dieser Debatte und ignorierten, von einigen bemerkenswerten Ausnahmen wie Eduard Meyer oder Ernst Kornemann abgesehen, entweder Spenglers Werk oder machten nur auf ausgewählte Ungenauigkeiten aufmerksam, die sich auf ihr eigenes Fachgebiet bezogen. Nur sehr wenige Historiker oder Philosophen versuchten, die Gültigkeit von Spenglers Theorie in ihrer Gesamtheit zu diskutieren; ein Unterfangen, das durch die enge Verbindung zwischen Spenglers Analyse der Vergangenheit und seinen Behauptungen über das Aufkommen des Caesarismus und einer unvermeidlich bevorstehenden Auseinandersetzung zwischen dem deutschen und dem angelsächsischen Modell von Politik und Gesellschaft noch komplexer wurde. Dieses Thema wurde von Spengler vor allem in „Preußentum und Sozialismus“ (1921) entwickelt, wo der angelsächsisch-deutsche Konflikt als eine bloße moderne Variante der Kriege zwischen Rom und Karthago angesehen wird, wobei Spenglers persönliche Sympathien, was nicht überrascht, eher auf der deutschen als auf der angelsächsischen Seite liegen, während er Frankreich bereits als historisch „erledigt“ ansah.31 Abgesehen von einigen bemerkenswerten Ausnahmen wie der spanischen Geschichtsphilosophie, in der José Ortega y Gasset und Ernesto Quesada tief von Spengler beeinflußt waren, und dem Rechtswesen, wo Spenglers Theorien zum römischen und germanischen Recht heftig diskutiert wurden,32 machte Spenglers Vision eines „untergehenden“ Abendlandes, das von einem schwindenden schöpferischen Impuls gekennzeichnet ist, vor allem im Bereich der 29
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Schröter 1922. Wichtige frühe Auseinandersetzungen mit Spengler: Haering 1921; Musil 1921; Nelson 1921; Köhler 1921; Steinacker 1921; Golz 1922; Messer (1922); Meinecke 1922/1923; Mann 1924/1968 ; Fauconnet 1925; Meyer (1925; Collingwood 1927. Vgl. allg. hierzu Gasimov/Lemke Duque (Hg.) 2013. Fallbeispiele: Österreich: Hömig 2013; Polen: Kornat 2013; Rußland: Gasimov 2013 und Gasimov 2014; Niederlande: Brolsma 2013; England: Wood 2013; Spanien: Lemke Duque 2013; Griechenland: Miliopoulos 2013; Türkei: Aksakal 2013; Israel: Maksymiak 2013; arabische Welt: Abbès 2014; Lateinamerika: Birkenmaier 2014; Japan: Dufourmont 2014; Schweden: Cavallie 2008. Dies erklärt natürlich die sehr negative Darstellung in der französischen Presse; vgl. Fauconnet 1925. Hierzu dann auch Engels 2013a (= Kap. 13). Vgl. Keppeler 2014.
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Literatur starken Eindruck. Dies ist nicht ganz überraschend, wenn man bedenkt, daß Spengler der Kunstgeschichte und Ästhetik große Aufmerksamkeit widmete und zudem versuchte, seinem eigenen Werk eine besondere, unnachahmliche literarische Qualität zu verleihen, so daß Thomas Mann die 1200 Seiten starke geschichtsphilosophische Studie gar einen „intellektualen Roman“ nannte.33 Außerhalb Deutschlands, wo das Buch vorwiegend Thomas Mann, Ernst Jünger und Hermann Hesse34 prägte, scheint es neben der französischsprachigen Sphäre, wo die Rezeption erst spät einsetzte und eher kritisch ausfiel,35 im wesentlichen die englischsprachige Welt gewesen zu sein, wo Spenglers Gedanken schnell in das literarische Schaffen so unterschiedlicher Autoren wie Henry Miller, Francis Scott Fitzgerald und H. P. Lovecraft36 einflossen, und wo Historiker wie Arnold Toynbee37 und Philip Bagby38 sich sogar bemühten, Spenglers Ansätze konstruktiv weiterzuentwickeln. Der Aufstieg des Nationalsozialismus im Jahr 1933 stellte eine Zäsur in der Rezeption Oswald Spenglers dar. Während Spengler sich im nationalsozialistischen Deutschland als „persona non grata“ wiederfand und von den Befürwortern des neuen Regimes öffentlich als „Reaktionär“ angegriffen
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Mann 1923/1974, S. 841. Thomas Mann 1924/1968; hierzu Koopmann 1999, Beßlich 2002, Beßlich 2005a; Beßlich 2005b; Beßlich 2009; Beßlich 2015. Ernst Jünger: Lübbe 1994; Guerri 2009; Conte 2009b; Guerri 2014. S. auch den Einfluß auf Spranger: Englert 1965; Paul Reusch: Herzog 1965; Max Scheler: Agard 2014; Walter Benjamin: Ophälders 2014; Heidegger: Mendes de Oliveira 2006; Meyer 2014; Karl Lorenz: Demandt 2014b; Sloterdijk: Dupeyrix 2014; De Winde 2014. Allg. zum Einfluß auf die Literatur s. Kittsteiner 2009; Merlio 2009a Bertaux : Stieg 2014; Malraux: de Saint-Cheron 2014; Cioran: Van Itterbeek 2002; Merlio 2014. S. jetzt auch die Stellungnahme von Michel Houellebecq in: Houellebecq/Engels/Otte/Morgenthaler 2019. Vgl. allg. Frigg 1968. S. auch die beiden Fallstudien bei Engels 2014b (= Kap. 14); Engels 2019 (= Kap. 15); Engels 2012 (= Kap. 16). Explizit Toynbee 1949. Als zusammenfassendes Hauptwerk vgl. Toynbee 1934–1961; darin zitiert er Spengler häufig wörtlich (VII, S. 56; I, S. 65–66, 629, 630, 699); und Bemerkungen wie „the intuitive genius of Spengler“ sind häufig zu finden (z.B. VII, S. 508; IX, S. 168). Toynbee nimmt wie Spengler eine gewisse Homogenität und damit Vergleichbarkeit aller Hochkulturen an (IX, S. 699–700), die er wie dieser kontrastiert von den primitiven Kulturen absetzt (XII, S. 602, Anm. 5). Zudem postuliert Toynbee die Ähnlichkeit der Entwicklungsstufen einer jeden Kultur (vgl. Übersichtstafeln: Challenge, Time of Troubles, Universal State, Pax Oecumenica). Doch setzt er sich vom Spengler’schen Determinismus insoweit ab (IX, S. 296–297), als innerhalb des Wachstums- und Vergehensprozesses der einzelnen Kulturen sehr wohl Raum ist für plötzliche Stagnation, Evolutionssprünge und Verjüngungen. Der grundlegendste Unterschied aber besteht in der empirisch-systematischen Herangehensweise Toynbees, die fundamental mit den intuitiven und oftmals übereilten Schlußfolgerungen Spenglers kontrastieren. Zum Verhältnis zwischen Toynbee und Spengler; vgl. Febvre 1936; Kissinger 1950; Rothacker 1950; Rauhut 1955; Vogt 1961; Schischkoff 1965, bes. S. 62; Joll 1985; Wangenheim 2015. Bagby 1963.
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wurde,39 wurde seine (in dieser Zeit kaum ungewöhnliche) patriotische Hoffnung, Deutschland könne den Kern eines zukünftigen Römischen Reiches europäischen Stils bilden, im Ausland fälschlicherweise mit der herrschenden nationalsozialistischen Ideologie assoziiert und als deren direkter Vorläufer angesehen.40 Dies war allerdings nur sehr bedingt gerechtfertigt. Zugegeben: Spengler trug dazu bei, die Weimarer Republik durch seine beißende Kritik an der zeitgenössischen Demokratie als bloßen Übergang zum Caesarentum zu diskreditieren, und der allmähliche innere Zusammenbruch der Weimarer Republik ermöglichte dann tatsächlich Hitlers Machtübernahme. Aus ideologischer Sicht standen jedoch die nationalsozialistische Rassentheorie und ihre „optimistische“ Hoffnung auf die Schaffung eines Tausendjährigen Reiches in spektakulärem Gegensatz zum Glauben Spenglers an den unwiederbringlichen Niedergang des Abendlands (wenn auch unter deutscher Herrschaft) und seiner Überzeugung, daß alle menschlichen Kulturen radikal gleichwertig seien; und in diesem Sinne stellte noch Spenglers Nichte nach dem Krieg eine Liste mit den zahlreichen Quellentexten zusammen, welche die meist haßerfüllt formulierte nationalsozialistische Ablehnung Spenglers und seiner Kulturmorphologie dokumentierte.41 Doch entgegen der hoffnungsvollen Erwartung der Familie Spenglers und einiger enger Freunde wie André Fauconnet, der glaubte, daß der Untergang des Nationalsozialismus endlich wieder den Weg für ein neues, politisch unvoreingenommeneres Studium Spenglers eröffnen würde, brachte das Jahr 1945 keine wirkliche Änderung der zunehmend feindseligen Haltung gegenüber der „Morphologie der Geschichte“.42 Im Gegenteil: Der hegemoniale Optimismus eines zunehmend amerikanisch geprägten Kapitalismus im Westen und eines russisch dominierten Sozialismus im Osten ließ Spenglers Prophezeiung vom Niedergang und Ende des Westens übermäßig pessimistisch, vielleicht sogar obsolet erscheinen, eine Haltung, die nach 1968 und der allgemein feindseligen Haltung gegenüber bürgerlicher Geschichtsschreibung und Elitekultur noch ausgeprägter war. Trotz einiger bemerkenswerter Ausnahmen wie Henry Kissinger,43 Theodor Adorno (der einmal feststellte, daß „der vergessene Spengler […] sich [rächt], indem er droht, recht zu behalten. […] Spengler hat kaum einen Gegner 39 40
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Z.B. Zweiniger 1933; Gründel 1934. S. von Martin 1948. Ebenfalls erwähnenswert ist es, daß André Fauconnet unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs August 1945 einen öffentlichen Vortrag mit dem Titel „Spengler a-t-il été national-socialiste?“ hielt und die Frage negativ beantwortete (Fauconnet 1946). Vgl. die im Anhang von Engels 2013a (= Kap. 13) zusammengestellten Quellentexte zur Spengler-Kritik im Nationalsozialismus. Der Briefwechsel ist veröffentlicht in Engels 2013a (= Kap. 13). Man denke auch an Hildegard Kornhardts Versuch, 1941 ein kleines Aphorismenbüchlein zu veröffentlichen. Kissinger 1950.
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Einführendes
gefunden, der sich ihm gewachsen gezeigt hätte: das Vergessen wirkt als Ausflucht“)44 oder der französische Gelehrte Gilbert Merlio, der seine einflußreiche Doktorarbeit Spenglers Werk und Umfeld widmete,45 wurden Spengler und seine Geschichtsphilosophie von Wissenschaft wie Presse weitgehend verdrängt46 und erschienen auch in der sonstigen Literatur nur noch gelegentlich. Wo sie nicht vergessen wurden, erinnerte man sich ihrer nur noch im engeren Kontext der deutschen „konservativen Revolution“, was insoweit allzu vereinfachend ist, als Spengler sich im Gegensatz zu vielen anderen Denkern der Weimarer Republik keine Illusionen über die letztendlichen Mängel des traditionellen Konservatismus machte und davon überzeugt war, daß die westliche Kultur unabhängig von ihren politischen Entscheidungen so oder so dazu verdammt war, in den kommenden Generationen zu verfallen und zu versteinern. Erst im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert ist so etwas wie eine Renaissance Spenglers festzustellen, die sich durch eine ständig wachsende Reihe von Studien und Konferenzen manifestiert47 und in der Gründung einer internationalen „Oswald Spengler Society“ gipfelte.48 Das Ende des Kalten Krieges, der langsame Niedergang der politischen Weltherrschaft des Westens, der Aufstieg Chinas, die Vereinigung Europas, die Rückkehr des religiösen Fundamentalismus, die dominierende Stellung Deutschlands innerhalb der Europäischen Union und die zunehmende Stärke des Populismus haben nicht nur in den Medien, sondern auch den Wissenschaften zu einer gewissen Wiederentdeckung des „Untergangs des Abendlandes“ geführt: Spengler ist erneut zu einer interessanten Figur geworden, und es hat sogar Versuche gegeben, Spenglers Gedanken wieder auf die politischen Realitäten und das historische Wissen des 21. Jahrhundert anzuwenden.49
2.6
Ausblick
Über die Bedeutung, die Spengler in unserem heutigen Bemühen um eine geschichtliche Durchdringung unserer Umwelt einnehmen könnte oder sollte, ist 44 45 46 47
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Adorno 1950/1955. Merlio 1982. Wichtige Ausnahmen: Schröter 1949; Koktanek (Hg.) 1965; Ludz (Hg.) 1980. Fischer 1989; Demandt/Farrenkopf 1994; Swassjan 1998; Boterman 2000; Farrenkopf 2001; Conte 2004; Guerri/Ophälders 2004; Lisson 2005; Osmancevic 2007; Gangl/Merlio/Ophälders 2009; Csejtei/Juhász 2009; Gasimov/Lemke Duque 2013; Merlio/Meyer 2014; De Winde u.a. 2016; Demandt 2017; Fink/Rollinger 2018; Engels/Otte/Thönd 2018. www.oswaldspenglersociety.com. S. z.B. Engels 2013a/2014b; Wangenheim 2013; Engels 2018b (= Kap. 18); Engels 2018a (= Kap. 19); Plaum 2018/2019.
2 Oswald Spengler und der „Untergang des Abendlandes“
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noch kein Konsens erzielt worden; und obwohl die gegenwärtige Diskussion über den „Untergang des Abendlandes“ immer lebendiger wird, ist sie doch auch durch eine Reihe nahezu monolithischer methodischer Ansätze gekennzeichnet, die kaum Bereitschaft dazu aufweisen, miteinander in Kontakt zu treten oder ihre Positionen aufzuweichen.50 Dieser Konflikt ist überraschend repräsentativ für die verschiedenen Facetten von Spenglers komplexem Denken, das im Niemandsland zwischen Geschichtsschreibung, Philosophie, Politik und Prophetie angesiedelt ist, und soll im folgenden zumindest rasch zusammengefaßt werden. Zunächst besteht ein „orthodoxer“ Ansatz der Spengler-Studien, der im wesentlichen versucht, die Richtigkeit von Spenglers Geschichtsphilosophie zu demonstrieren, und der vertreten wird durch eine freilich äußert kleine Gruppe von Intellektuellen, die oft mit den inneren Aporien des Versuchs kämpft, Spenglers gelegentliche Mängel als Historiker wegzudeuten, und die sich selbst in der Kontinuität von Spenglers gleichsam Nietzscheanischen Elitismus definiert; ein Ansatz, der in einer Zeit der Massendemokratie und der sozialen Inklusivität wenig überraschend zutiefst unpopulär ist. Dann gibt es das, was man die „moralisierende“ Strömung nennen könnte, die für die meisten Diskussionen über Spengler in den Medien charakteristisch ist und seine Geschichtsmorphologie vor allem auf das Klischee des „konservativen Denkers“ oder gar des „Vorläufers des Nationalsozialismus“ reduziert. Diese Sichtweise übertreibt natürlich den doch letztlich sehr begrenzten Platz, den die zeitgenössische deutsche Politik innerhalb von Spenglers viel größerem Werk einnimmt, und beruht auf einer unzureichenden Unterscheidung zwischen Spenglers zugegebenermaßen elitären Sicht der Sozialgeschichte, seiner Enttäuschung über die Weimarer Republik und seiner (wenig enthusiastischen) Erwartung des Caesarismus als unvermeidliches Schicksal jeder untergehenden Zivilisation. Und schließlich können wir noch eine, wenn man so will, „antiquarische“ Tendenz nennen, zu welcher der größte Teil der aktuellen wissenschaftlichen Literatur zu Spengler gehört, und die sich im wesentlichen für Spengler als historisches Phänomen interessiert, ohne den Versuch zu unternehmen, die Gültigkeit seines Denkens an sich zu diskutieren oder auch nur in Betracht zu ziehen. Natürlich ist die Auseinandersetzung mit Oswald Spengler nicht nur für das breitere Studium der intellektuellen Entwicklung der 1920er und 1930er Jahre von grundlegender Bedeutung, sondern auch für ein tieferes Verständnis von Spenglers Leben und Werk. Es gibt jedoch eine zunehmende Tendenz im Studium des philosophischen wie politischen Denkens der Vergangenheit, sich mehr für die Form als für den Inhalt, und mehr für die Geschichte als für die „Wahrheit“ (oder wenigstens „Wahrscheinlichkeit“) der entsprechenden Texte zu interessieren; und die meisten Studien, die zu dieser Schule gehören, sind 50
Vgl. auch Engels 2019b (= Kap. 3).
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zwar in der Lage, faszinierende Untersuchungen der psychologischen Wurzeln, der Quellen, des Kontextes und der Rezeption von Spenglers historischen Analogien vorzuschlagen, jedoch ohne sich auch nur einmal auf die Frage ihrer faktischen, logischen oder metaphysischen Gültigkeit einzulassen, was den Leser oft genug frustriert zurückläßt. Angesichts der Tatsache, daß Spengler nicht nur die Ereignisse der Vergangenheit beschrieb, sondern es auch wagte, den zukünftigen Verlauf der abendländischen Geschichte für die nächsten 200 Jahre ausführlich und in vielen Details zu prognostizieren, sollte es zu den Aufgaben der Wissenschaft des 21. Jahrhunderts gehören, endlich die oben genannten Defizite der gegenwärtigen Forschung zur Spengler’schen Kulturmorphologie zu überwinden und sich wieder dem wirklich Wesentlichen zuzuwenden, nämlich den Chancen und Grenzen des historischen Kulturkomparatismus. So bleibt zu hoffen, daß zukünftige Studien einerseits endlich diskutieren werden, inwieweit der gegenwärtige Stand der Geschichtsforschung Spenglers interkulturellen Vergleich vergangener Ereignisse faktisch bestätigt, verändert oder gar entkräftet, und andererseits Spenglers Prophezeiungen objektiv mit der tatsächlichen Geschichte der letzten Jahrzehnte konfrontieren werden, um zu erörtern, inwieweit seine Kulturmorphologie nicht nur als ein beeindruckendes Zeugnis für die Geschichtswissenschaft des frühen 20. Jahrhunderts, sondern auch als ein immer noch nutzbringendes Werkzeug in unserem Bemühen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu verstehen, angesehen werden kann.
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Methodologische Überlegungen zum Umgang mit Oswald Spenglers Kulturmorphologie
3.1
Einleitung „Pedantische Kleinlichkeit im Konkreten, phrasenhaft konformistischer Optimismus in der Idee, dazu oft genug das unfreiwillige Zugeständnis der Schwäche in der Versicherung, so schlimm sei es denn doch noch nicht um unsere Kultur bestellt, oder in dem sophistischen Trick, durch Überspannung des Relativismus Spenglers relativistische Positionen selber aufzulösen, das ist alles, was die deutsche Wissenschaft und Philosophie aufbrachte.“1
Oswald Spengler ist ohne Zweifel einer der umstrittensten Denker des 20. Jahrhunderts. Abwechselnd als Prophet und Scharlatan, als Apologet der modernen Zivilisation und als nostalgischer Verteidiger der Kultur des 18. Jahrhunderts, als Bewunderer des Caesarismus und als Opfer des Nationalsozialismus betrachtet, erlebte Oswald Spengler wie so viele große Denker der Zwischenkriegszeit ein kurioses Schicksal: ein kurzer Ruhm zu Lebzeiten,2 gefolgt von einer langen „damnatio memoriae“ nach seinem Tod, als Spengler (zu Unrecht) als einer der geistigen Väter des deutschen Totalitarismus angesehen wurde,3 obwohl er sich 1933 nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten noch ausdrücklich gegen die ideologischen Grundlagen des neuen Regimes ausgesprochen hatte.4 Erst seit dem Fall des Kommunismus und dem manifesten politischen, wirtschaftlichen und demographischen Niedergang des Westens stoßen Spenglers Thesen auf neues Interesse, und in den letzten Jahren kann man ohne Übertreibung von einer bescheidenen 1 2 3
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Adorno, 1950/1955, S, 52–53. Eine Übersicht über die frühe Rezeption findet sich bei Schröter 1922. Zu den angeblichen Verbindungen zwischen dem Spengler’schen und dem nationalsozialistischen Denken vgl. von von Thirring 1947; Martin 1948; Koktanek 1966; Thöndl 1993; Stiegler 1999; Brunstad 2006; Henkel 2007 und die in Engels 2013a (= Kap. 13) zusammengestellten Quellentexte zur Spengler-Kritik im Nationalsozialismus. Noch 1933, nach der nationalsozialistischen Machtergreifung, drückte Spengler in den „Jahren der Entscheidung“ seinen Dissens gegenüber zentralen ideologischen Annahmen des neuen Regimes aus; s. hierzu Engels 2007a (= Kap. 12). Spenglers Pessimismus, ebenso wie seine Grundannahme einer Parallelität aller Hochkulturen, löste seitens der Anhänger des 1000jährigen Reichs große Feindseligkeit aus: Zweiniger 1933. Nachdem Goebbels angeordnet hatte, daß über Spengler nicht mehr berichtet werden durfte, mußte die nach seinem Tod erscheinende Festschrift quasi unter der Hand verlegt werden: Reusch/Korherr 1937; hierzu ausführlicher Engels 2013a (= Kap. 13).
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„Wiedergeburt“ oder doch wenigstens „Wiederentdeckung“ Spenglers sprechen,5 und das nicht nur auf dem Gebiet der Erforschung seiner Person, seines Werks oder seines Einflusses auf Literatur und Denken, sondern auch bei Versuchen, sein morphologisches System zur Deutung aktueller politischer Ereignissen zu nutzen.6 Eine solche Erneuerung birgt natürlich wie immer eine Reihe von Risiken, wenn eine historische Figur zunächst an den Rand der Forschung gedrängt worden ist und sich dann wieder plötzlich im Zentrum des Interesses befindet. Der Mangel an Kontinuität in der Analyse von Spenglers Werk läuft daher Gefahr, in der aktuellen Forschung unbewußt extreme Tendenzen sowohl der Ablehnung als auch der Apologie zu begünstigen. Darüber hinaus setzt das Vorhandensein einer Vielzahl von Stereotypen und Vorurteilen in der älteren Literatur die Forscher oft der Versuchung aus, das eigentliche, konkrete Werk selbst zu übersehen und nur auf das Bild oder vielmehr die Karikatur zu reagieren, die die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts von Spengler gereichnet hat. Und schließlich veranlaßt die Tatsache, daß Spenglers Thesen in der modernen akademischen Welt noch relativ unbekannt sind, viele Autoren dazu, spezifische und methodisch klar umrissene Forschungen zu vernachlässigen und im Gegenteil eher allgemeine Darstellungen zu bevorzugen, die zugleich den Menschen, den Kontext, das Werk, seine Aktualität und seine politische Moral darstellen wollen und dabei die verschiedensten heuristischen Felder bedenkenlos vermischen und damit der Wissenschaft mehr schaden als nützen. Deshalb erscheint es heute mehr als notwendig, einen methodischen Rahmen zu entwickeln, der eine klare Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten von Ansätzen ermöglicht, um sich nicht in die vielen Fallstricke zu verwickeln, die jeder Analyse eines geschichtsphilosophischen Textes innewohnen.
3.2
Perspektiven der Forschung
3.2.1 Historisierender, moralisierender und philosophischer Ansatz Es scheint von größter Bedeutung für jede ernsthafte Auseinandersetzung mit Spengler zu sein, daß eine klare Unterscheidung zwischen den sich gegenseitig 5
6
Man denke allein an die in den letzten Jahren organisierten Tagungen in Louvain (2009); Paris (2011); Mainz (2012), Wöltingerode (2014), Blankenheimerdorf 2017; Blankenheimerdorf/Brüssel (2018) und Blankenheimerdorf (2020). Farrenkopf 2001; Lisson 2005; Simson 2006; Osmancevic 2007; Krebs 2008; Farrenkopf 2009; Wangenheim 2013; Engels 2013b; Engels 2014b.
3 Methodologische Überlegungen
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ausschließenden Standpunkten der gegenwärtigen Forschung getroffen wird – eine Forderung, die selbstverständlich sein sollte, die aber in der Praxis auf dem Gebiet der Spengler-Forschung nicht immer offensichtlich zu sein scheint. Es gilt dabei, ganz allgemein drei grundverschiedene Perspektiven hinsichtlich ihrer Ziele und Methoden zu unterscheiden. Die erste ist das, was man als antiquarische oder „historisierende“ Perspektive bezeichnen könnte, und es muß festgestellt werden, daß die überwiegende Mehrheit gerade der jüngsten Spengler-Forschung sich diese Sichtweise zu eigen macht, wobei sie diese oft mit Überlegungen aus den beiden anderen, unten diskutierten Perspektiven kombiniert. Der historistische Forschungsansatz versucht im wesentlichen, Spengler aus einer rein historischen Perspektive zu „verstehen“, d.h. unter Berücksichtigung der Quellen zum Autor, zu seinem politischen, wissenschaftlichen oder biographischen Hintergrund, zur Untersuchung zeitgenössischer Mentalitäten, zur Geschichte des Werkes selbst, zur späteren Rezeption des Textes usw. Nun stellt ein solcher Ansatz natürlich die Grundlage eines jeden ernsthaften Versuchs dar, sich Spenglers Werk als einem wichtigen Teil der allgemeinen historischen Dynamik der 1920er und 1930er Jahre anzunähern, und als solcher hat dieser Ansatz wichtige Vorzüge und ermöglicht den Zugang zu einem zunehmend nuancierten und komplexeren Verständnis des Textes. Dennoch kann dieser Ansatz, so wichtig er ist, bei allem Respekt kaum als der methodologisch einzig mögliche oder historisch gültige angesehen werden: Die historische Analyse der kausalen Bedingungen der Entstehung von Spenglers morphologischen Thesen berührt weder das Problem der historischen Wahrhaftigkeit der im „Untergang“ verteidigten Thesen, noch das der „moralischen“ Qualität dieser Behauptungen. Die Existenz einer „moralisierenden“ Sichtweise mag auf den ersten Blick überraschen, ist aber dennoch immer noch weit verbreitet in Analysen, die versuchen, Spengler einem breiteren Publikum vorzustellen, und war in den Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sogar dominant. Obwohl sie eher dem ethischen als dem streng historischen Bereich angehört, wollen wir nicht leugnen, daß diese Perspektive auch im Rahmen von geschichtsphilosophischen Überlegungen ihre volle Legitimität hat, wann immer sie methodisch transparent argumentiert. Man muß in der Tat Spenglers persönliche ethische Überzeugungen – oft elitär und sogar zynisch – von seiner allgemeinen historischen Theorie trennen, die wie alle anderen Theorien eben auch viele Interpretationen zuläßt, die von der ihres eigentlichen Autors differieren. So kann man einerseits Spengler durchaus dafür kritisieren, daß er in seiner Analyse der Beziehungen zwischen den Menschen einen im wesentlichen vitalistischen und nietzscheanischen Standpunkt eingenommen hat; und dieser Standpunkt ist offensichtlich schwer mit einem Ansatz zu vereinbaren, der sich eher auf den Kant’schen Imperativ, die Lehren des Christentums oder die Maximen des sozialistischen Materialismus stützt. Aber selbst wenn Spenglers persönliche Wertschätzung der Beziehungen zwischen Individuen manchen
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sehr unsympathisch erscheinen mag, so bestätigt (oder widerlegt) sie doch noch lange nicht die historischen morphologischen Gesetze, die Spengler zufolge den Rahmen bilden, innerhalb dessen sich diese sozialen Interaktionen entwickeln: So sehr uns der Respekt vor dem anderen, die Freiheit, die Nächstenliebe und die Solidarität als wichtige Werte erscheinen mögen, wäre es doch naiv, sie in die Vergangenheit zu projizieren und die Augen vor der Realität zu verschließen, daß ein großer Teil der Menschheitsgeschichte von Ehrgeiz, Aggression und Egoismus geprägt war, und daß daher eine historische These in der Tat durchaus wahr sein kann, ohne in ihrer Intention doch moralisch hochwertig zu sein. Wir können natürlich bedauern, daß Spengler in seinen Analysen oft den Standpunkt der Gewinner der Geschichte und nicht der Verlierer gewählt hat; dennoch ist es nicht die Wahl des Standpunktes, die die Realität dessen, was im „Untergang“ beschrieben wird, leugnet oder bestätigt. Und nur weil Spenglers umfassende historische Theorie den gegenwärtigen Glauben an die quasi-teleologische Evolution der Menschheit in Richtung zu mehr Demokratie, Liberalismus und Fortschritt7 leugnet, bedeutet das nicht, daß sie notwendigerweise falsch ist, so wie die heliozentrische Theorie nicht falsch war, nur weil sie nicht mit der christlichen Theologie des 15. Jahrhundert vereinbar schien; oder mit Spenglers Worten: „Gebrauchen wir das bedenkliche Wort Freiheit, so steht es uns nicht mehr frei, dieses oder jenes zu verwirklichen, sondern das Notwendige oder nichts. Dies als ‚gut‘ zu empfinden kennzeichnet den Tatsachenmenschen. Es bedauern und tadeln, heißt aber nicht, es ändern zu können.“ (UdA, S. 55)
Deshalb haben im Grunde weder der historisierende Ansatz noch die moralisierende Methode irgendeine Gültigkeit, wenn es darum geht, die Wahrhaftigkeit der Spengler‘schen These an sich zu beurteilen. Zugegeben, es ist zu befürchten, daß eine solche Behauptung viele Kolleginnen und Kollegen zum Zittern bringen dürfte, vor allem diejenigen, für die Geschichte lediglich die antiquarische Rekonstruktion vergangener Fakten ist, gelegentlich kombiniert mit dem einen oder anderen Verweis auf Analogien (oder besser gesagt: Unterschiede) zu unserer scheinbar so fortgeschrittenen und zivilisierten modernen Welt. Aber dieser Ansatz ist aus philosophischer Sicht kaum ernst zu nehmen und wurde bereits von Goethe in der ironischen Antwort Fausts an seinen Schüler Wagner lächerlich gemacht, als dieser als guter Philister die Verdienste der Geschichtswissenschaft lobt.8 In der Tat gerät zunehmend in
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Vgl. z.B. Conte 2009. Goethe, Faust I, 1: Wagner: „Verzeiht! es ist ein groß Ergetzen,/Sich in den Geist der Zeiten zu versetzen;/Zu schauen, wie vor uns ein weiser Mann gedacht,/Und wie wir’s dann zuletzt so herrlich weit gebracht.“ Faust: „O ja, bis an die Sterne weit!/Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit/Sind uns ein Buch mit sieben Siegeln.“ Zum Einfluß Goethes auf Spengler vgl. Janensch 2006; Moretti 2009.
3 Methodologische Überlegungen
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Vergessenheit, daß nicht nur die Philosophen, sondern auch die Geschichtsphilosophen sich traditionell den Umgang mit der „Wahrheit“ zum Ziel gesetzt haben und es verdienen, hinsichtlich des Erfolges oder Mißerfolgs ihres Unterfangens ernst genommen zu werden, bevor sie auf bloße enzyklopädische Einträge reduziert werden, die möglichst adäquat in die verschiedenen heuristischen Kategorien der Geschichtsforschung einzuordnen sind. Es liegt auf der Hand, daß der Hauptzweck der Geschichte darin besteht, vergangene „Tatsachen“ so objektiv wie möglich zu ermitteln, aber die vielen geistigen Umwälzungen des 19. und 20. Jahrhunderts haben zur Genüge gezeigt, daß es naiv wäre, weiterhin, wie einst Ranke, an die Möglichkeit zu glauben zu zeigen, „wie es eigentlich gewesen ist“: Jede Reflexion über Geschichte muß immer von einem bestimmten Ansatz ausgehen, der selbst dem historischen Rahmen des Augenblicks unterworfen ist, welcher notwendigerweise eine ideologische und daher philosophische Haltung widerspiegelt. Dies gilt auch für diejenigen, die das Modell einer im wesentlichen „offenen“ Geschichte verteidigen, denn diese Position ist nicht weniger ein philosophisches Postulat als die deterministische. Daher ist jede historiographische Arbeit gleichzeitig auch ein freiwilliger oder unfreiwilliger Beitrag zur Geschichtsphilosophie, was impliziert, daß die Weigerung, über die Wahrheit oder Unwahrheit von Spenglers morphologischen Konzeptionen zu diskutieren, in keiner Weise den Gegensatz zwischen „Geschichte“ und „Geschichtsphilosophie“ widerspiegelt, sondern vielmehr den Konflikt zwischen zwei zutiefst philosophischen Schulen, von denen die eine – inzwischen eindeutig dominante – eine „offene“ Geschichte postuliert, die andere eine „deterministische“ Geschichte. Mit anderen Worten: Die Behauptung, die moderne Geschichtsschreibung und die Geschichtsphilosophie befänden sich auf zwei verschiedenen wissenschaftlichen Ebenen, wobei sich die erstere nicht mit der letzteren befassen müsse, ist schlichtweg falsch;9 und die Weigerung, die Frage nach der Wahrheit (oder zumindest der Plausibilität) philosophischer Positionen wie Spenglers Morphologie zu diskutieren, ist eher ein methodologischer Vorwand als ein zulässiges Argument. Daher bleibt die Hauptfrage noch offen: Zwingt uns unser historisches (und metaphysisches) Wissen, Spenglers Theorie zu widerlegen oder vielmehr zu bestätigen? Merkwürdigerweise ist ein solcher Ansatz, der in erster Linie ein „philosophischer“ Ansatz ist (in dem Sinne, daß er sich verpflichtet zu überprüfen, ob die Grundpostulate sowie die spezifischen Thesen von Spenglers Werk als gültig oder als falsch angesehen werden können), in unserer gegenwärtigen Forschung noch sehr mangelhaft ausgeprägt. Wir werden in der Schlußfolgerung mit einigen Antwortelementen auf diese Frage zurückkommen.
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Hierzu jetzt Engels 2015a.
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Einführendes
3.2.2 Determinismus, Fatalismus, Passivität Es ist kaum verwunderlich, daß ein Großteil der bisherigen Spengler-Forschung mit der Grundidee der Geschichtsmorphologie kollidiert, d.h. mit der Annahme, daß Geschichte in ihrer allgemeinen Richtung vorbestimmt ist – ein ziemlich merkwürdiger Konflikt, wenn man bedenkt, daß der Gedanke einer „offenen“ Geschichte, die das unvorhersehbare Ergebnis des Aggregats letztlich zufälligen individuellen Handelns ist, gleichzeitig aber von Natur aus zu immer mehr Fortschritt tendiere, eine ziemlich neue Konzeption in der europäischen Geschichtsschreibung darstellt und erst in den letzten Jahrzehnten eher deterministische Positionen verdrängt hat. In der Tat kämpft die moderne Welt, die auf dem immer brüchigeren Postulat eines unbegrenzten „Wachstums“ in allen Bereichen (Forschung, Wirtschaft, Freiheit usw.) basiert, dafür, alle Grenzen zu leugnen, welche die Realität im allgemeinen und die Natur im besonderen der Menschheit auferlegen könnte, und weigert sich daher, in Betracht zu ziehen, daß die Geschichte auch durch Faktoren außerhalb des menschlichen Willens bedingt sein könnte. Unter diesem Gesichtspunkt muß die Idee, daß die Entwicklung jeder Gesellschaft im Rahmen einer großen, vorherbestimmten, zyklischen Bewegung stattfinden könnte,10 all jenen unerträglich erscheinen, die von der Idee (oder Illusion) überzeugt sind, daß alles jederzeit möglich sein muß, und daß jeder Mensch im Prinzip alle seine Wünsche verwirklichen kann, immer vorausgesetzt, er unternimmt ernsthafte Anstrengungen. Die intellektuelle Schlußfolgerung, die sich aus diesem Widerspruch ergibt, ist offensichtlich: Da der kulturelle Determinismus nicht nur begrifflich unvorstellbar, sondern auch ideologisch inakzeptabel für die meisten von Spenglers Kommentatoren ist, können sie nur annehmen, daß Spengler seine deterministische Position bewußt oder unbewußt „erfunden“ habe, um seine Leser davon zu überzeugen, die daraus resultierenden moralischen wie politischen Schlußfolgerungen zu akzeptieren, und daß es ausreicht, dieses latente Ziel nur zu „demaskieren“ und als politisch wie moralisch unerwünscht zu ächten, um gleichzeitig auch den gesamten Rest der Theorie zu liquidieren. Anstatt sich also für einen Augenblick vorstellen zu können, daß Spengler aus einer konkreten Beobachtung einfach die unvermeidlichen Schlußfolgerungen gezogen und somit ein notgedrungen relativ düsteres Bild der Zukunft gezeichnet haben könnte, ohne diese Tatsache doch auch persönlich zu „wollen“, stellt man den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung vielmehr auf den Kopf und disqualifiziert die Geschichtsmorphologie, weil sie der Idee des Fortschritts oder der Freiheit entgegenzustehen scheint, und vor allem, weil sie leider nur recht pessimistische Zukunftsaussichten verspricht. Wäre der Empfang der gleiche gewesen, wenn 10
Vgl. hierzu meinen Sammelband Engels 2015.
3 Methodologische Überlegungen
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Spengler versucht hätte, durch einen ähnlichen Determinismus zu zeigen, daß die Geschichte einer jeden Kultur unausweichlich das Glück ihrer Bürger mehrt? Zugegeben, die Realität ist viel komplexer, und es wäre ein grober Fehler, die enge Verbindung zwischen den persönlichen sozialen und politischen Vorlieben eines Menschen und seinem historischen Werk zu leugnen – wir werden später noch darauf zurückkommen –; aber seine Interpretation der Vergangenheit als bloßen Versuch zu diskreditieren, irgendwie sein privates Bild auf die Gegenwart und vor allem die Zukunft zu projizieren, erscheint zutiefst problematisch. Darüber hinaus berühren wir hier das alte Problem, das mit der Kritik an jeder deterministischen Geschichtsauffassung verbunden ist. Denn es sollte doch eigentlich klar sein, daß die erwartete (bzw. befürchtete) Zukunft bei dieser Art der zyklischen Geschichtsbetrachtung ebensowenig unbedingt den privaten Wünschen der jeweiligen Autoren entspricht, wie die auf Basis eines bestimmten Sachverhalts diagnostizierte Prognose eines Arztes. In gleicher Weise kündigt Spengler auf der Grundlage der Analogie zu anderen Kulturen und einer gründlichen Analyse seiner eigenen Zeit den Niedergang des Abendlandes, seine Umwandlung in eine Zivilisation und das Aufkommen eines politischen Regimes an, das an das Römische Reich erinnert – bedeutet dies unbedingt, daß er die Menschheitsgeschichte nur deshalb solchermaßen neu interpretiert, weil er von ganzem Herzen möchte, daß auch der Westen diesen Weg einschlägt? Oder sollte man nicht eher, bevor man über die Ziele Spenglers spekuliert, die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß der Autor einfach recht haben könnte, oder doch zumindest die Einschätzung der Spengler’schen Kulturmorphologie auf eine eigene Deutung des historischen Materials gründen als auf bloße Unterstellungen? Sicherlich: Es wäre naiv zu leugnen, daß das von Spengler geschilderte Bild des Caesarismus tatsächlich eine Vielzahl psychologischer Projektionen enthält, die mit der Sublimierung des Minderwertigkeitsgefühls des Autors zusammenhängen, und daß seine Bewunderung für Mussolini durchaus auch auf den Wunsch zurückzuführen ist, selber an seiner Stelle zu stehen.11 Und gewiß, Spenglers Darstellung der Zivilisation verrät hinter der Maske der Faszination für die Technologie eine empfindsame Nostalgie für die Kultur des 18. Jahrhunderts.12 Selbst Spenglers Analyse der Demokratie ist eng verbunden mit der zutiefst aristokratischen Haltung des Autors und seinem Wunsch, in der Weimarer Republik selber auch eine politische Rolle spielen zu können.13 Aber liegt Spengler daher zwangsläufig falsch? Die Geschichte des 20. Jahrhunderts und seiner vielen Schrecknisse lassen uns sehr daran zweifeln.14 11
12 13 14
Vgl. Mussolini 1933; Aliotta 1936; Thöndl 1993; Azzaro 2005; Thöndl 2005; Thöndl 2010; Thöndl 2013. Vgl. Merlio 1980; Herf 1994. Vgl. Farrenkopf 1994; Vollnhals 2005. Vgl. z.B. Engels 2007a (= Kap. 12); Engels 2013b/2014a.
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Einführendes
Auch deshalb wäre es wieder einmal naiv, aus Spenglers Pessimismus einen Aufruf zur Passivität abzuleiten.15 Im Gegenteil, es handelt sich bei Spenglers Morphologie keineswegs um eine rein mechanistische Konzeption einer Geschichte, deren einzige Rechtfertigung in der Erreichung eines teleologischen Ziels liegt, sondern im Gegenteil um die Beschreibung eines allgemeinen morphologischen Rahmens, in dem sich vielfältige menschliche Talente und Begabungen entwickeln können, ohne daß doch eine der betreffenden Epochen einen metaphysischen Wert hätte, welcher dem der anderen überlegen wäre. Hinter dem Spengler’schen Determinismus verbirgt sich also im Grunde ein Ansatz, der den Menschen und seine Wahlfreiheit viel stärker in den Mittelpunkt stellt, als es auf den ersten Blick scheinen mag. In diesem Sinne fordert die Spengler’sche Morphologie keine Passivität, sondern eine realistische Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Grenzen der heutigen Zeit ein: „Für uns aber, die ein Schicksal in diese Kultur und diesen Augenblick ihres Werdens gestellt hat, in welchem das Geld seine letzten Siege feiert und sein Erbe, der Cäsarismus, leise und unaufhaltsam naht, ist damit in einem eng umschriebenen Kreise die Richtung des Wollens und Müssens gegeben, ohne das es sich nicht zu leben lohnt. Wir haben nicht die Freiheit, dies oder jenes zu erreichen, aber die, das Notwendige zu tun oder nichts. Und eine Aufgabe, welche die Notwendigkeit der Geschichte gestellt hat, wird gelöst, mit dem einzelnen oder gegen ihn.“ (UdA, S. 1194–1195)
3.2.3 Die Terminologie des Determinismus Dieses letzte Zitat zwingt uns zu einer weiteren methodologischen Bemerkung, die diesmal eher semantischer Natur ist. Angesichts der Komplexität von Spenglers Denken scheint es elementar, nicht nur auf der terminologischen Ebene, sondern auch auf der Ebene der philosophischen Bedeutung zwischen dem Gebrauch von Ideen und damit auch der Verwendung der Verben zu unterscheiden, mit denen Spengler ausdrückt, daß eine Handlung vollbracht „ist“, oder daß sie vollbracht werden „muß“, oder daß sie vollbracht werden „soll“, oder schließlich, daß sie „gewollt“ ist. Spengler differenziert diese Begriffe in sehr nuancierter Weise, und es wäre unfair und intellektuell vereinfachend, ihre Verwendung in der Vorstellung zusammenzufassen, daß die von Spengler beschriebenen historischen Tatsachen oder Prognosen einfach unmittelbar die Wünsche des Autors widerspiegeln. Im Gegenteil, der Kontext gibt für jeden Ausdruck eine ganz andere Bedeutung an. Die Idee des „Sollen“ drückt also eine gewisse Normativität aus, die in den Rahmen des Möglichen eingeschrieben ist. Das Wort weist daher keineswegs,
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Man denke an den Aufsatz „Pessimismus“, ursprünglich 1921 verfaßt (RuA, S. 63–79).
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wie es auf den ersten Blick scheinen mag, auf einen Widerspruch zum historischen Determinismus hin, denn es impliziert lediglich eine Andeutung über die wirksamste Handlungsweise in einem gegebenen morphologischen Kontext, wie der berühmte Satz Senecas deutlich zeigt, den Spengler am Ende seines Werkes zitiert: ducunt fata volentem, nolentem trahunt.16 „Wollen“ ist im Gegenteil eine Frage des Voluntarismus und kann als persönlicher Wille des Einzelnen zusammengefaßt werden, obwohl Spengler sich bewußt ist, daß der historische Kontext diesen individuellen Willen oft schwer durchzusetzen vermag, wie seine berühmte Formulierung bezeugt, in der er die künstlerischen Talente des Westens für erschöpft erklärt und junge Menschen auffordert, ihren Willen auf das Feld der Politik und der Technik umzulenken. Die Idee des „Seins“ bezieht sich auf das, was Spengler als reine Sachdaten betrachtet, deren Existenz entweder in der historischen Realität oder in den Kontingenzen der historischen Morphologie verwurzelt sind. Der Begriff drückt daher in keiner Weise eine moralische oder ethische Meinung des Autors aus, sondern lediglich eine (natürlich oft sehr umstrittene) Tatsachenbehauptung: Wenn Spengler feststellt, daß um 1800 die europäische Kultur begann, sich in eine zivilisierte, technisierte und zunehmend versteinerte Gesellschaft zu verwandeln, so bedeutet dies keineswegs, daß Spengler diese Tatsache mit Begeisterung begrüßt, sondern daß er sie einfach als unvermeidlich hinnimmt. Schließlich bezieht sich der Begriff des „Müssens“ auf das eigentliche Wesen des historischen Determinismus, d.h. die Unvermeidbarkeit des Schicksals, das sowohl das Individuum als auch die Geschichte in eine Richtung drängt, die durch das biologische Modell vorgegeben ist, das der Philosophie Spenglers zugrunde liegt.
3.2.4 Der psychologische Reduktionismus Der historisierende Ansatz (der selbst von Spengler reichlich kritisiert wurde17) birgt eine besondere Falle: den Wunsch, das Werk des Autors entsprechend seinen biographischen Besonderheiten „verstehen“ zu wollen. Und in der Tat, wer würde bestreiten, daß Spengler einem solchen Ansatz einen allzu leichten Vorschub leistet; einerseits durch seinen besonderen literarischen Stil, der den Leser mit seinem Hang zu suggestiven Wendungen, diktatorischen Behauptungen und einer auf halbem Weg zwischen politischem Programm und humanistischer Gelehrsamkeit befindlichen Semantik entweder fasziniert oder abstößt, andererseits durch die Tragik eines äußerst sensiblen Charakters, dessen autobiographische Aufzeichnungen seine ganze psychologische Zerbrechlichkeit offenbaren. Tatsächlich verbrachte Spengler, der hartnäckige 16 17
Sen., ep. ad Luc. 107,11. Merlio 2009b.
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Einführendes
Wortführer des Imperialismus, der modernen Technologie und des „zukünftigen Caesars“, sein Leben damit, ganz allein mit seinem Tagebuch, sich aufgrund seiner scheinbaren Mittelmäßigkeit, seiner mangelnden Kreativität, seiner Neigung zu lügen, seiner Feigheit und seiner Schüchternheit gegenüber Frauen selber zu quälen18 – wie könnte er da der Versuchung nicht nachgeben, diese beiden Facetten seines Menschentums miteinander zu verbinden? Die Fruchtbarkeit eines solchen Ansatzes ist freilich streng auf den psychologischen Bereich reduziert und läßt es nicht zu, daß das solchermaßen „verstandene“ Werk nun unter die vielen anderen belletristischen Produktionen eingereiht und sein Inhalt selbst vergessen wird. Denn der Untergang des Abendlandes ist trotz seiner unbestreitbaren literarischen Qualitäten kein bloßer fin-de-siècle-Roman, den man mit dem gleichen ästhetischen Genuß genießen kann wie Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“, Thomas Manns „Zauberberg“ oder James Joyces „Ulysses“. Im Gegenteil, es ist ein ernsthafter und gut dokumentierter Versuch, das Wie und Warum der Weltgeschichte zu erklären, und die intimen Verbindungen zum Leben und zur subjektiven Gefühlswelt des Autors berühren in keiner Weise seinen Anspruch, die Welt auch objektiv zu erklären. Kann Kants kategorischer Imperativ dadurch „widerlegt“ werden, daß sein Autor Königsberg sozusagen nie verlassen hat und nur wenig von der „echten „Welt selber in Augenschein nahm? Ist das NashGleichgewicht weniger gültig, weil sein Autor schizophren war? Man könnte sogar eher die Hypothese aufstellen, daß bestimmte physische oder psychische Probleme es den Betroffenen ermöglichen, in bestimmten Bereichen sehr scharfe Wahrnehmungen zu entwickeln, um ihre Unzulänglichkeiten auszugleichen, so wie Blinde oder Sehbehinderte oft einen ungewöhnlichen Hörsinn entwickeln können. Und weiter noch: Man könnte sogar die polemische Theorie wagen, daß nicht nur der Mensch das Werk formt, sondern es umgekehrt das Werk sein könnte, das die Psychologie seines Schöpfers beeinflußt: Wer, nachdem er die besten Jahre seines Lebens damit verbracht hat, über den Niedergang des Abendlandes und die Verwandlung der Kultur in eine Zivilisation nachzudenken, würde immer noch eine positive und optimistische Sicht auf die Welt um ihn herum pflegen, ebenso, wie viel Ärzte oder Krankenschwestern, die Tag und Nacht mit Krankheit und Tod konfrontiert werden, gar nicht mehr anders können, als selbst in den gesündesten Körpern verschiedenste Vorformen körperlichen Leidens zu sehen? Es wäre daher naiv, Spenglers Werk in Vergessenheit geraten lassen zu wollen, nur weil sein Autor ein frustrierter, komplexer und schüchterner Mann war. Der psychologische Ansatz erlaubt es uns sicherlich, die Genese der Spengler‘schen Kulturmorphologie besser zu verstehen sowie Menschen und 18
Neben den Briefen (Br) sind natürlich die autobiographischen Aufzeichnungen hierfür von großer Wichtigkeit (EH). Zu Spenglers Biographie s. allg. Koktanek 1968; Merlio 1982; Naeher 1984 Felken 1988; Farrenkopf 1992/1993; Van der Goten 2016.
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Werk enger miteinander zu verknüpfen; die wissenschaftliche Theorie, die aus der Sublimierung dieser Geisteszustände resultiert, wird davon allerdings nicht berührt. Im Gegenteil, man könnte sogar argumentieren, daß eine eingehende psychologische Studie es uns ermöglichen könnte, das historische Denken in seiner Absolutheit weiter von den biographischen Faktoren zu befreien, die seine Formulierung bedingt haben, um so die wissenschaftliche Theorie von den Besonderheiten und sogar den Irrtümern ihres Schöpfers abzulösen.
3.2.5 Der Relativismus Ein weiterer Vorwurf, der oft gegen Spengler erhoben wurde, ist, daß die von der historischen Morphologie vertretene Relativitätstheorie die Quelle eines gewissen philosophischen Relativismus sei, um Spengler somit in die Falle der altbekannten logischen Aporie zu locken, in die sich jeder Relativismus verstrickt. In der Tat widerspricht die Behauptung, „alles sei relativ“, sich selbst und beweist damit ihr Gegenteil, nämlich die Möglichkeit, Behauptungen mit einer mehr oder weniger universellen Tragweite vorzubringen. Bei Spengler ist dieser Vorwurf allerdings unbegründet, bestreitet er doch nicht die Existenz „absoluter“ Wahrheiten, sondern nur die Möglichkeit, diese auch definitiv zu formulieren.19 Jede Kultur, so Spengler, entwickelt einen individuellen Zugang zur Wahrheit, der sowohl durch ihre besondere Weltanschauung als auch durch die spezifische historische Phase, die die Kultur durchläuft, bedingt ist. Keiner dieser Zugänge hat den Vorzug, „wahrer“ zu sein als die anderen, wenn es um die Entwicklung einer universellen Metaphysik geht, denn jeder Ansatz ist durch die historischen und psychologischen Gründe seiner Entstehung bedingt und muß als Teil eines Ganzen gesehen werden; nichtsdestoweniger versuchen alle vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen philosophischen Versuche, auf ein und dieselbe Frage zu antworten und ein und dasselbe Lebensgefühl zu beschreiben, wie schon das Goethe-Motto zeigt, das Spengler auf die erste Seite des „Untergangs des Abendlandes“ gesetzt hat, und das in gewisser Weise das bereits zitierte Zitat aus Seneca widerspiegelt, nämlich: „Alles Drängen ist ewige Ruhe in Gott dem Herrn“ (Zahme Xenien I, 367). In völliger Kohärenz mit seinem Ansatz einer weitgehenden Relativierung der Geistesgeschichte (ohne doch die letztendliche metaphysische Existenz der Objekte des Denkens zu leugnen), schreibt Spengler auch seinen eigenen Überlegungen nur eine relative Wahrheit zu. In einem der wenigen Verweise auf seine eigene auktoriale Situation20 präzisiert er sogar, daß seine Kulturmorphologie selbst nur ein typisches Produkt der abendländischen Gesellschaft und ihres Strebens nach Unendlichkeit, Ausdehnung und Abstraktion sei, und 19 20
Vgl. hierzu die Urfragen (U). Vgl. Raciti 2009.
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Einführendes
daß es fast unvermeidlich war, daß sie im Moment ihres Übergangs zur Zivilisation und ihrer langsamen Auflösung ihre letzten „faustischen“ Ambitionen in ihrer Öffnung gegenüber anderen historischen Epochen realisiert und als Folge des Zusammenbruchs des eigenen, ebenso schützenden wie einschließenden kulturellen Zwangskorsetts fähig wird, die ansonsten unzugängliche Realität anderer Zivilisationen wahrzunehmen. So wird der „Untergang des Abendlandes“, anstatt das letzte Wort der Weltgeschichte zu sein, von seinem Autor eher als eine idealtypische morphologische Studie betrachtet, die genau dann entstanden ist, als die Zeit reif dafür war: „Wahrheiten gibt es nur in bezug auf ein bestimmtes Menschentum. Meine Philosophie selbst würde demnach Ausdruck und Spiegelung nur der abendländischen Seele, im Unterschied etwa von der antiken und indischen, und zwar nur in deren heutigem zivilisierten Stadium sein, womit ihr Gehalt als Weltanschauung, ihre praktische Tragweite und ihr Geltungsbereich bestimmt sind.“ (UdA, S. 64)
So behauptet Spengler in keiner Weise, „die“ absolute metaphysische und historische Wahrheit zu besitzen, denn seine Morphologie der Geschichte ist aufgrund ihrer Einfügung in das faustische Denken ein typisch abendländisches Produkt. Dennoch bedeutet diese Bestimmung seines eigenen „Sitzes im Leben“ nicht seine Selbstrelativierung, denn Spenglers Antwort auf die Hauptfrage – der Sinn der Geschichte der großen Kulturen und der Platz des Menschen darin – bleibt für den Augenblick und damit sub specie aeternitatis gültig, d.h. unter dem Blick des Absoluten, für den jedes vorübergehende Phänomen nur eine von vielen Manifestationen einer einzigen Wahrheit und ihrer universellen Gültigkeit ist.21
3.3
Schluß
Es liegt auf der Hand, daß Spenglers Werk angesichts des gegenwärtigen geschichtlichen Wissens und des allgemeinen Mentalitätswandels auch von seinen erbittertsten Verteidigern ernsthaft überarbeitet werden muß, wenn es auch im 21. Jahrhundert noch als gültig gelten soll, und daß eine künftige konstruktive Analyse von Spenglers Werk ihren Autor zwingen würde, eine beträchtliche Anzahl von Überlegungen und Analysen völlig neu zu schreiben, angefangen bei der Zahl der Kulturen, der Untersuchung ihrer Entstehungsbedingungen und ihrer metaphysischen Daseinsberechtigung.22 Es ist jedoch zu hoffen, daß dieser kurze Überblick zumindest die vielen methodischen Probleme, die mit der Untersuchung des „Untergangs des Abendlandes“ verbunden sind, klarer 21 22
S. hierzu Engels 2016c (= Kap. 6). Vgl. Engels 2018b (= Kap. 18).
3 Methodologische Überlegungen
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hervorheben und den Leser vor der Versuchung warnen konnte, Spenglers Werk ohne jede tiefere Beschäftigung mit seiner wirklichen Absicht mit einigen wohlmeinenden und politisch-moralisch begründeten Gemeinplätzen abzutun, denn die methodische Problematik eines solchen Vorgehens und das Risiko, das Wesentliche auszulassen, sollten nun deutlich hervorgetreten sein. Aber wie definiert man dann dieses „Wesentliche“? Die Frage mag selbstevident erscheinen; umso überraschender, daß sie eigentlich nie wirklich gestellt worden ist: Erlaubt unser historisches Wissen es uns wirklich, menschliche Kulturen als parallel zu betrachten? Tatsächlich fehlen bisher ernstzunehmende Studien, die versuchen, Spenglers Grundhypothese systematisch aufzugreifen und nachzuweisen, daß der Autor falsch (oder richtig) lag. Sicherlich wird man ohne große Überraschung und vor allem in der Literatur der 1920er und 1930er Jahre eine gewisse Anzahl von Artikeln oder Kapiteln finden, die dem einen oder anderen von Spenglers spezifischen Fehlern gewidmet sind. Vergeblich wird man jedoch nach Historikern oder Philosophen suchen, die sich die Mühe gemacht hätten, ein für allemal nachzuweisen, daß unsere historischen Quellen wie auch unser philosophisches Wissen eine systematische Parallelisierung menschlicher Kulturen tatsächlich unmöglich machen – eine Tatsache, die schon Adorno beklagte, der, obwohl ein Feind Spenglers, formulierte: „Spengler hat kaum einen Gegner gefunden, der sich ihm gewachsen gezeigt hätte: das Vergessen wirkt als Ausflucht.“23 Anstatt, wie es manchmal der Fall ist, die Frage zu stellen: „Was bleibt von Spengler übrig?“ (was impliziert, daß die Debatte um Spengler eigentlich längst vorbei wäre), sollte man besser fragen, „wann wird Spengler endlich widerlegt?“ Und doch ist der Untergang des Abendlandes durch eine quasi-mathematische Argumentation begründet, und die vergleichenden Tabellen, in denen Spengler versucht, eine Reihe menschlicher Kulturen in morphologische Analogie zueinander zu bringen, erfordern ebenfalls nicht viel Interpretationsaufwand, um systematisch verstanden und gegebenenfalls widerlegt zu werden. Leider ist es nicht schwer, die Gründe dafür zu verstehen, warum die meisten Historiker und Philosophen Spenglers Gedanken für überholt oder widerlegt erklären, ohne es doch zu wagen, die Gründe für diese imaginäre Widerlegung anhand einiger konkreter Fälle darzulegen (etwa durch den Beweis, daß der Hellenismus nicht als Gegenstück zum Modernismus des 19. und 20. Jahrhunderts angesehen werden darf, oder daß der Feudalismus der östlichen Zhous eben nicht dem des späten europäischen Mittelalters entspricht). Erstens macht es der Grad an Spezialisierung in den Geisteswissenschaften fast unmöglich, einen wirklich „globalen“ Überblick über die Entwicklung der Menschheit seit Beginn der Geschichte zu gewinnen, so daß das Wissen der meisten Historiker selten die von ihnen bevorzugte Zeitspanne überschreitet. Dann haben der Sieg des Konzepts der „offenen“ Geschichte, wie es von vielen 23
Adorno 1950/1955.
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Einführendes
Denkern wie Karl Popper propagiert wird, und die Ablehnung der Geschichtsphilosophie als einer angeblich offenen Tür für totalitäre Ideologien – als ob die „offene“ Geschichte selbst nicht bereits eine Geschichtsphilosophie wäre – Generationen von Forschern hervorgebracht, die sich mit der rein deskriptiven Rekonstruktion vergangener Tatsachen begnügen und dabei bewußt den Hauptwunsch des wahren Historikers vernachlässigen, wie er vor 2400 Jahren von Thukydides in beispielhafter Weise formuliert wurde: „Zum Zuhören wird vielleicht diese undichterische Darstellung minder ergötzlich scheinen; wer aber das Gewesene klar erkennen will und damit auch das Künftige, das wieder einmal, nach der menschlichen Natur, gleich oder ähnlich sein wird, der mag es so für nützlich halten, und das soll mir genug sein: Zum dauernden Besitz, nicht als Prunkstück für das einmalige Hören ist es aufgeschrieben.“ (Thuk. 1,22)
Und schließlich vollzieht sich seit mehr als einem halben Jahrhundert ein Wandel im Studium der Philosophie hin zu einem einfachen Studium der Geschichte der Philosophie – eine Historisierung, die dieser Disziplin den größten Schaden zugefügt hat, indem sie durch den heimtückischen Relativismus nach und nach ihre wichtigste Daseinsberechtigung beseitigt hat, nämlich jeder neuen Generation die Frage nach der letzten Wahrheit und dem Sinn des Daseins zu stellen und jedesmal eine zeitgemäße Antwort zu geben. Unter diesem Gesichtspunkt wird eine wirklich kritische Lektüre von Spengler so lange fehlen, wie Forscher fehlen, deren intellektueller Horizont es ihnen erlauben würde, sich mit dem Spenglers zu messen. Denn nur wenn man das Spiel des interkulturellen Vergleichs spielt und die Schöpfungen eines Dutzends menschlicher Kulturen mit gleicher Leichtigkeit überschaut, kann man es sich erlauben, die Grundhypothesen von Spenglers Denken zu widerlegen (oder zu bestätigen). Und wenn ein solcher Versuch es einer neuen Generation von Forschern ermöglichen würde, ihren intellektuellen Horizont für die Geschichte anderer Weltkulturen zu öffnen, über den Eurozentrismus und die extreme gegenwärtige Spezialisierung hinauszugehen und auf der Grundlage der Anerkennung der Gleichheit der Kulturen und Epochen einen wahren interkulturellen Humanismus zu entwickeln, der nicht durch eine vereinfachende progressive Teleologie verzerrt wird, dann könnte die Grundannahme von Spenglers Werk tatsächlich eine wahre Revolution sowohl in der Geschichtswissenschaft als auch der Philosophie auslösen.24 Deshalb können wir diese wenigen Überlegungen mit einem Zitat aus dem „Untergang des Abendlandes“ abschließen, das in bewundernswerter Weise alles zusammenfaßt, was eine vertiefte Beschäftigung mit Spenglers Denken zur historischen Reflexion im 21. Jahrhundert beitragen könnte: „Warum soll, morphologisch betrachtet, das 18. Jahrhundert wichtiger sein als eins der sechzig voraufgehenden? Ist es nicht lächerlich, eine ‚Neuzeit‘ im Umfang einiger Jahrhunderte, noch dazu wesentlich in Westeuropa lokalisiert, einem ‚Altertum‘ 24
Vgl. Engels 2018b (= Kap. 18) und Engels 2018a (= Kap. 19).
3 Methodologische Überlegungen gegenüberzustellen, das ebensoviele Jahrtausende umfaßt? [...] Ich nenne dies dem heutigen Westeuropäer geläufige Schema, in dem die hohen Kulturen ihre Bahnen um uns als den vermeintlichen Mittelpunkt allen Weltgeschehens ziehen, das ptolemäische System der Geschichte und ich betrachte es als die kopernikanische Entdeckung im Bereich der Historie, daß in diesem Buche ein System an seine Stelle tritt, in dem Antike und Abendland neben Indien, Babylon, China, Ägypten, der arabischen und mexikanischen Kultur – Einzelwelten des Werdens, die im Gesamtbild der Geschichte ebenso schwer wiegen, die an Großartigkeit der seelischen Konzeption, an Gewalt des Aufstiegs die Antike vielfach übertreffen – eine in keiner Weise bevorzugte Stellung einnehmen.“ (UdA, S. 24)
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4
Von der Einsamkeit des Spenglerianers
Spenglerianer zu sein, war noch nie einfach. Man könnte geradezu versucht sein zu sagen, daß es in der Natur der Spengler’schen Geschichtsphilosophie liegt, ihre Anhänger in der einen oder anderen Weise in Gegensatz zum jeweiligen Zeitgeist zu bringen: In den 1920er Jahren, als der „Untergang des Abendlandes“ am heißesten diskutiert wurde, schien die Vorhersage eines baldigen Absterbens der westlichen Kultur inmitten von Technikbegeisterung und europäischer Weltherrschaft von einem völlig überzogenen Pessimismus zu zeugen; in den 1930er Jahren wurde Spenglers Eintreten für eine radikale Gleichrangigkeit aller menschlichen Kulturen zu einem roten Tuch für rassen- wie klassentheoretischen Totalitarismus; während des Kalten Kriegs schien die Kulturmorphologie angesichts der ideologischen Zweiteilung der Welt in ein kapitalistisches und ein kommunistisches Lager von den Fakten überholt; und in den kurzen Jahren des Traums von der „Einen Welt“ zwischen dem Fall der Mauer und dem 11. September wirkte Spenglers Ablehnung des Konzepts einer einheitlichen „Menschheitsgeschichte“ geradezu widersinnig. Nun, da der allenthalben spürbare Niedergang der Alten Welt wie auch ihre Zusammenfassung in Form der Europäischen Union die Vorhersagen Spenglers aufs deutlichste bestätigen, sollten eigentlich alle Voraussetzungen für eine kritische Neuwürdigung Spenglers gegeben sein. Doch auch heute hat sich in den intellektuellen Milieus Westeuropas an der weitreichenden, eher gefühlsmäßig als argumentativ begründeten Ablehnung der Spengler’schen Kulturmorphologie nichts Wesentliches verändert – paradoxerweise, wo doch im Rückblick offensichtlich geworden ist, daß nahezu alle von Spengler vor 100 Jahren getroffenen Vorhersagen sich in erschreckender Weise letztlich doch verwirklicht haben. Spengler lesen und sein Denken konstruktiv wie kritisch nachvollziehen macht einsam, heute mehr denn je, und es tritt immer deutlicher hervor, daß die Gründe hierfür weniger wissenschaftlicher als vielmehr gefühlsmäßiger Art sind und sowohl an zentrale Grundzüge der menschlichen Psyche rühren als auch an die tiefe geistige Krise des postmodernen Abendlandes. Ich sprach von der menschlichen Psyche als eines wichtigen Faktors in der allgemeinen Ablehnung nicht nur des Spengler’schen, sondern jeglichen geschichtsdeterministischen Denkens, denn wenn es wohl einen Charakterzug gibt, der den Menschen als Alleinstellungsmerkmal innerhalb der belebten Welt kennzeichnet, so ist es das Prinzip der „Hoffnung“, welche wohl als direktes Korrelat zur „Freiheit“ zu verstehen ist. Freilich hat der Mensch sich aufgrund seiner alltäglichen Lebenserfahrung kaum der Einsicht in die grundsätzliche und unüberwindliche Begrenztheit und Zerbrechlichkeit unseres physischen
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Einführendes
Daseins verschließen können. Allerdings hat er zur Überwindung dieses Dilemmas zahlreiche Formen von Religion und Philosophie entwickelt, welche entweder den Ausbruch aus der Welt des Körpers in die des Geistes in Aussicht stellen und Leiden wie Tod in sinnvoller Weise als Lern- und Reinigungsprozeß des Seins nachvollziehbar und somit akzeptabel machen, oder aber, er hat Denkschemen geschaffen, um die Gefahren der Vergänglichkeit durch radikale Gegenwartsbezüglichkeit auszuschalten und somit den Stachel des Todes durch die Negation überpersönlicher Transzendenz an sich zu ziehen. Welcher Glaube oder welche Philosophie aber vermöchte es, dem Menschen einen Ausweg aus der Unausweichlichkeit nicht körperlicher, sondern historischer Vorbestimmtheit und Vergänglichkeit und damit des grundsätzlichen Relativismus aller seiner Überzeugungen zu weisen? Und so haben die meisten Menschen sich zwar irgendwie damit abgefunden, daß jeder Einzelne von uns notwendigerweise Geburt, Kindheit, Reife, Alter und Vergehen durchleben wird (wenn der Tod auch bis zum letzten Moment als das „Ganz Andere“ wohl von niemandem so richtig akzeptiert werden kann), wehren sich aber vehement gegen die Möglichkeit, auch menschliche Gesellschaften könnten ähnliche Zyklen durchlaufen, um zumindest in ihrem täglichen Leben die so verhaßte, von außen gegebene Selbstbegrenzung auszuschließen. Dies erklärt auch, wieso der Spengler’sche Geschichtsdeterminismus von vielen Menschen geradezu als ein Attentat auf die Menschenwürde empfunden und oft mit einer solchen Vehemenz zurückgewiesen wird, daß wohl anzunehmen ist, daß hier an einen tiefen inneren Wesenskern gerührt wird. Daher macht sich der Spenglerianer genauso unbeliebt wie etwa ein Arzt, der eine unangenehme Diagnose ohne sinnvolle Therapie zu bieten hat: Man zweifelt zuerst an seiner Kompetenz, wirft ihm dann mangelnde Empathie vor, geht zwischendurch lieber zum Heiltherapeuten und wirft ihm schließlich vor, wenn das Ende naht, durch seine Diagnose die Krankheit noch verschlimmert zu haben. Hiermit haben wir aber auch schon die Brücke zur geistigen Krise des gegenwärtigen Europas geschlagen, die von einer Reihe von Zwangsvorstellungen geprägt ist, welche sich als konträr zu den Grundpostulaten Spenglers verstehen, tatsächlich aber erheblich komplexer sind, als diese bloße Ablehnung vermuten läßt. Bekanntlich behauptete Spengler zum einen, daß Kulturen als mehr oder weniger in sich ruhende historische Entitäten die eigentlichen Hauptakteure der Weltgeschichte sind, und versuchte zum anderen nachzuweisen, daß ihre jeweilige Entwicklung nicht nur parallel verläuft, sondern auch einer vorherbestimmten biologischen Gesetzmäßigkeit unterworfen ist. Der gegenwärtig dominierende intellektuelle Diskurs des post-modernen Westens aber leugnet nicht nur jegliche Möglichkeit einer wie auch immer gearteten geschichtsphilosophischen Vorherbestimmtheit historischer Prozesse und lehnt die Existenz von „Kulturen“ als eigengesetzlichen Größen ab. Er gibt sich
4 Von der Einsamkeit des Spenglerianers
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gleichzeitig auch mit seiner Ablehnung jeglicher Form von Geschichtsphilosophie der notwendigerweise widersprüchlichen Überzeugung hin, die Menschheitsgeschichte tendiere früher oder später trotz der grundsätzlichen „Offenheit“ ihres Verlaufs zu Fortschritt, Liberalismus und Demokratie, und betont beständig trotz der Ablehnung eines essentialistischen Kulturbegriffs die historische Verantwortung der christlich-abendländischen Gesellschaft für die meisten Probleme der gegenwärtigen Welt. Auch in dieser geistigen Konstellation kann der Spenglerianer kaum auf Verständnis hoffen; ja im Gegenteil, er sieht sich nahezu zwangsläufig verschiedensten Vorwürfen ausgesetzt, die sich weniger aus seiner persönlichen Meinung zur eigenen Zeit ergeben, als vielmehr aus dem Lauf der Geschichte an sich, welcher nun einmal kaum den von vielen heutigen Ideologen in sie gesetzten Erwartungen entspricht … So wird der Spenglerianer zum Feind der „Demokratie“, nur weil er nachweisen kann, daß diese im Laufe der Weltgeschichte schon mehrfach in analogen Situationen bestanden hat und wieder verschwunden ist, und dies meist (leider) zugunsten autoritärer Staatsformen. „Menschenverachtend“ soll er sein, weil er zeigt, daß auch im Bereich der Geschichte Gesetzmäßigkeiten herrschen, denen gegenüber der freie Willen zur Selbstentfaltung des Individuums offensichtlich nur von nachrangiger Bedeutung ist. Daß der Spenglerianer zugleich „defätistisch“ sein soll, versteht sich schon fast von selbst. Ähnlich gilt er, obwohl er sich bemüht, die Gleichrangigkeit aller menschlichen Kulturen aufzudecken, paradoxerweise als Feind des „Multikulturalismus“, nur weil er die parallelen, aber eben zeitversetzten Rhythmen der einzelnen menschlichen Kulturen hervorhebt und der schon ebenso oft geäußerten wie gescheiterten Hoffnung auf ein friedliches Verschmelzen der Weltbevölkerung mit einer gewissen Skepsis begegnet. „Fortschrittsfeindlich“ scheint der Spenglerianer allemal, weil er den Reichtum menschlicher Geschichte ungerne zugunsten platter eurozentrischer Teleologie aufgeben will. Und schlußendlich gilt er als – vor allem im heutigen Deutschland geradezu ein Schimpfwort – „konservativ“, nur weil er zeigt, daß das 1945 geborene moderne Europa eben nicht eine Singularität der Weltgeschichte darstellt, sondern in tiefer Verbindung zu den jahrhundertelang gelegten Grundlagen seiner inneren Geschichte steht und weniger einen revolutionären Neubeginn als vielmehr ein von Anfang an vorgegebenes Ende darstellt. Kurzum: Es ist eine nicht nur vertrackte, sondern auch eine tragische Situation, Spenglerianer zu sein; vor allem heute, ist doch das Resultat der wohl nicht anders als schizophren zu bezeichnenden Geistesgesinnung des zukunftsgläubigen modernen Westens die überall bereits festzustellende, von Spengler übrigens vorhergesagte innere geistige Selbstauflösung des Abendlandes. Und es ist wohl eine von nur wenigen Zeitgenossen verstandene Ironie der Geschichte, daß, je weiter die westliche Welt in ihrer Ablehnung der
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Einführendes
Spengler’schen Kulturmorphologie fortschreitet, sie desto mehr ihren implizierten Vorhersagen ungewollt Recht gibt: Die Leugnung der Logik des Lebens durch Medikalisierung, die Ablehnung unserer grundlegenden biologischen Funktionen durch die Gender-Ideologie, die Objektisierung des Individuums durch den allgegenwärtigen Hedonismus, die Selbstabschaffung des eigenen Erbes durch Verzicht auf Familiengründung – all das beweist nicht nur einen höchst problematischen Umgang mit dem Konzept individueller Vergänglichkeit, sondern zeigt auch, daß die gegenwärtige kulturelle Auflösung des Westens tief in der psychologischen Disposition des spätzeitlichen Europäers verankert ist und dementsprechend Verhältnisse schafft, welche eine realistische Selbstbesinnung und eine Einsicht in die Spengler’sche Vergänglichkeit einer jeden Gesellschaft wohl nur dann erst erlauben wird, wenn es zu spät ist. Und so sehen wir denn auch auf der einen Seite, wie die Ablehnung einer jeden deterministischen Philosophie oder Glaubenslehre dem Einzelnen jeglichen spirituellen Halt nimmt und nur noch einen oberflächlichen Fortschrittsoptimismus übrig läßt, dessen ganzer Sinn es ist, die gegenwärtigen, immer schneller der Katastrophe entgegeneilenden Verhältnisse ideologisch zu unterfüttern, indem selbst die offensichtlichsten Krisensymptome als bloße Übergangsstadien zurechtgeredet werden, denen es mit verdoppelter Verbissenheit auf dem nun einmal eingeschlagenen Weg zu entgegnen gilt. Auf der anderen Seite sehen wir, wie sehr die jahrzehntelang betriebene Selbstkritik des Westens ihre Früchte trägt, indem sie zusammen mit dem Stolz auf eine jahrtausendealte Kultur auch jeglichen Willen hat erlöschen lassen, für das Überleben dieser Kultur zu kämpfen, während gleichzeitig eine auf einer rein humanistischen Ebene argumentierende, kulturelle Divergenzen in den Rang folkloristischer Varianz hinabdrückende Ideologie zu einer derartigen Abschaffung von Grenzen jeglicher Art führt, daß der letzte Rest abendländischer Kultur und Gesinnung dabei ist, gewissermaßen in einem Meer von Unterschiedslosigkeit zu ertrinken, aus welchem paradoxerweise nur diejenigen ihre Identität retten und wohl auch anderen aufzwingen werden, welche das dieser Entwicklung zugrundeliegende Toleranzkonzept am wenigsten teilen. Ist der Spenglerianer angesichts dieser Situation nun aber zu kontemplativem Defätismus verdammt, wie ihm seine Gegner unterstellen? Mitnichten. Zwar ist der „Untergang“ des Abendlandes (übrigens ein etwas irreführender Begriff, gab Spengler doch einmal zu, er hätte auch die Bezeichnung „Vollendung“ verwenden können, ohne den Sinn der Sache zu ändern) unaufhaltsam und insoweit auch eine keinesfalls „ungerechte“ oder „einzigartige“ Konstellation, da in der Vergangenheit bereits zahlreiche andere menschliche Kulturen ein ähnliches Ende gekannt haben. Während jedoch das allmähliche Verdämmern des Westens an sich außer Frage steht, so ist aber über die Art und Weise, in der es sich vollziehen wird, noch nicht das letzte Wort gesprochen: Wird es Europa gelingen, seine Zivilisation wie das Römische Reich, das Reich
4 Von der Einsamkeit des Spenglerianers
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der chinesischen Han-Dynastie oder das der indischen Gupta-Herrscher zwar nicht weiterzuentwickeln, aber über Jahrhunderte hinweg aufrechtzuerhalten und gegen die innere wie äußere Auflösung zu verteidigen? Oder wird es nach der gerade sich vollziehenden endzeitlichen Vereinigung durch die Europäische Union rasch und ruhmlos untergehen, von außen durch jene außereuropäischen Mächte in Ost wie West bedroht, denen es erst zum gegenwärtigen Wohlstand verhalf, und von innen von den eigenen Bürgern aufgegeben, sei es aus Desinteresse, sei es, gerade im Fall der erst jüngst eingebürgerten Massen, aus kulturellem Ressentiment? Die Zukunft wird es zeigen, und auch hier wird der Spenglerianer sich wohl ebenso viele Freunde wie Feinde machen, wenn er sich klar auf die Seite derjenigen stellt, welche für die alternde europäische Zivilisation ein Ende wünschen, das ihrer vergangenen Größe gerecht wird …
SPENGLERS QUELLEN
5
Hegel, Spengler und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismus
5.1
Einleitung
In einem Brief vom 18. Dezember 1918 berichtete Spengler seinem Korrespondenten Hans Klöres: „Mein Buch hat inzwischen, obwohl noch keine einzige Besprechung erschienen ist, sich weit verbreitet und denjenigen Eindruck gemacht, den ich erhoffte. Ich habe zahlreiche Urteile gehört, die mich gefreut haben, weil sie zeigen, daß ich verstanden worden bin. Simmel hat kurz vor seinem Tode in seinem Kreis erklärt, es handle sich um die bedeutendste Geschichtsphilosophie seit Hegel.“1
Allein diese Einschätzung des Hegelkenners Simmel2 beweist – ganz abgesehen von der typisch Spengler’schen Bescheidenheit –, daß Spenglers „Untergang des Abendlandes“ weder von den Zeitgenossen noch von ihm selbst ohne den expliziten Rückbezug auf die Geschichtsphilosophie Hegels verstanden werden konnte, ja in gewissen Passagen geradezu als eine implizite Reaktion auf die „Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte“ interpretiert werden mußte, mit welchen der „Untergang“ fundamentale Divergenzen, aber erstaunlicherweise auch zahlreiche Überschneidungen aufweist. Ziel der vorliegenden Untersuchung soll es daher sein, ausgehend von der Spengler’schen Hegelrezeption auf Übereinstimmungen und Schnittmengen beider Systeme aufmerksam zu machen und diese dann unter dem Gesichtspunkt der Willensfreiheit im Rahmen deterministischer Geschichtsphilosophie zu analysieren.
5.2
Spenglers Hegelbild
Hegels Philosophie3 ist ohne die Kritik an der durch die Aufklärung und die Französische Revolution propagierte radikale Objektivierung des Menschen 1
2 3
Spengler, Br. vom 18. 12. 1918. Mit Simmel ist der Lebensphilosoph Georg Simmel gemeint, der Begründer der formalen Soziologie und Verfasser von Werken wie: Soziologie, Leipzig, 1908; Grundfragen der Soziologie, Berlin, 1917; Zur Philosophie der Kunst, Potsdam, 1922. Vgl. zu Simmel Jung 1990; Hardiman 2001; Kim 2006. Zu Simmel und Hegel vgl. Goos 2006. Hegel soll im folgenden aus nachstehenden Werken zitiert werden: G. W. F. Hegel, Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte, in: Sämtliche Werke, Bd. 9, hg. von G.
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Spenglers Quellen
nicht verständlich, welche gerade durch die Abkehr von jeglicher Fremdbestimmung des Menschen durch Gott und Herkommen die absolute Freiheit des Menschen begründen wollte.4 Bereits Kant nahm Anstoß an der uneingeschränkten Einbindung des Menschen als erkennendem Subjekt in die Welt der von ihm perzipierten Objekte, da dies die absolute kausale Motivation einer jeden menschlichen Handlung impliziere und somit die Willensfreiheit, definiert als Freiheit zur wenigstens moralischen Lebensgestaltung nach eigenem Wunsch und Ermessen, letztlich eher ausschließe als begründe.5 Um ein radikal freies moralisches Subjekt zu setzen, glaubte Kant vielmehr, zwischen Ding-an-sich und Subjekt eine tiefe kategoriale Grenze ziehen zu müssen. Dies widersprach allerdings der innerlich gefühlten Erkenntnis von der Einheit zwischen Mensch und Schöpfung durch die Romantik,6 welche in der Freiheit nicht eine Selbstbefreiung des Menschen, sondern vielmehr die Freiheit zur Bekenntnis zu solchen Mächten sah, deren Teil sie sein wollte. So kam es bei Hegel zur Synthese aus dem Freiheitsgedanken Rousseaus und Kants:7 Hegels Lehre von der Erkenntnis der Identität zwischen Objekt und Subjekt durch die dreifache „Aufhebung“ des perzipierten Objekts, welches vom „an-sich“ zum „für-einen-andern-seienden“ Gegenstand im Geist des Menschen wird, impliziert den Akt des „Bewußtseins seiner selbst in seinem Anderssein“ als Beitrittsakt zur Erkenntnis der Zugehörigkeit des „Ichs“ zum Geist, welcher sich in ihm zur Selbsterkenntnis und damit auch zur Freiheit bringt, und ermöglicht hierdurch eine neue Deutung des Ablaufs der Menschheitsgeschichte. Wie der Einzelmensch, so kommt auch der in überindividuellen Organismen geronnene objektive Geist durch die dialektische Entwicklung der Menschheit allmählich zu sich selbst, wobei das bewußtseinsmäßige Fortschreiten der Menschen auch eine Umformung der gesellschaftlichen Bedingungen mit sich bringt und
4 5
6
7
Lasson, Leipzig, 21923 (PhW); Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 12–14 der HegelJubiläumsausgabe, hg. von H. Glockner (A 1–3); Grundlinien des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Bd. 7 der Hegel-Jubiläumsausgabe, hg. von H. Glockner, Stuttgart/Bad Canstatt, 31949 (R); Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Teil I–III, Frankfurt a.M., 1970 (EW). Hierzu Ritter 1957. Zu Kants Theorie der Willensfreiheit vgl. v. a. Kritik der reinen Vernunft, A532/B560– A558/B586; Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, dritter Abschnitt; Kritik der praktischen Vernunft, A169–179. An Literatur vgl. jetzt Eidam 2006 und Eidam2007. Vgl. zu Hegel und der Romantik auch Gadamer 1971; zu Hegels Romantikkritik aber auch Poggeler 1956; Gluck 1992. Riedel 1969/1973, S. 400: „Rousseau entdeckt im Gedanken des freien Willens die substantielle Grundlage allen Rechts und Kant im Gedanken des ‚Ich denke‘, der transzendentalen Einheit des Bewußtseins, die oberste Bedingung aller Erfahrung und den Ursprung aller Denkbestimmungen. Die Zusammengehörigkeit beider Ereignisse ist die Grunderfahrung der Hegelschen Philosophie.“ Zum Freiheitsgedanken bei Rousseau vgl. Vossler 1963; Levine 1976; Mayer-Tasch 1968; Fetscher 1993. Zu Hegel und Rousseau vgl. Bubner 1989.
5 Hegel, Spengler und das Problem der Willensfreiheit
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umgekehrt. Daher muß der Mensch als Teil einer Gesellschaft danach trachten, diese zunehmend rationell umzugestalten, damit sie zu einer optimalen Verkörperung des allgemeinen Geistes wird. Zu Hegels direkt auf dieser Erkenntnis basierenden Geschichtsphilosophie8 braucht wohl nichts weiter Einführendes mehr vorgebracht zu werden; die Entäußerung des Weltgeists in das Reich des Materiellen,9 das stufenweise intellektuelle Erwachen des Menschen und schließlich die Entfaltung des Freiheitsgedankens durch die vom Menschen vollzogene Bewußtwerdung seiner selbst im berühmten Dreischritt Orient-Antike-Abendland von der Freiheit des Einen über die Freiheit Einiger hin zur Freiheit Aller und zur Entfaltung der Vollkommenheit sind geistiges Allgemeingut der Menschheit geworden.10 Es ist ungewiß, ob Spengler während seines Studiums der Naturwissenschaften und Philosophie in München, Berlin und Halle Hegel je intensiv gelesen hat und inwieweit seine Kenntnis des objektiven Idealismus und der Hegel’schen Geschichtsphilosophie eventuell nur aus zweiter Hand stammt. Tatsächlich existieren nur wenige Stellen, an denen Spengler sich explizit zu Hegel geäußert hat,11 ganz im Gegensatz zu Goethe und Nietzsche, die er ja schon im Vorwort zum „Untergang des Abendlandes“ als seine beiden Lehrmeister bezeichnete,12 und erstaunlicherweise auch zu Kant, mit dem er sich recht intensiv auch fachphilosophisch auseinandersetzte.13 Doch muß diese recht geringe Rezeption
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10
11 12 13
Zu Hegels Geschichtsphilosophie: Morris 1871; Barth 1890; Brunstad 1909; Lasson 1922; Foster 1929; Kröner 1931; Plenge 1931; Marcuse 1932; Maurer 1965; Burleigh 1974; Perkins 1984; Bauer 2001; Baberowski 2005; Engels 2010a. Hegel, PhW, S. 52: „Sein Sein ist Aktuosität, kein ruhendes Dasein, sondern dies, sich hervor gebracht zu haben, für sich geworden zu sein, durch sich selbst sich gemacht zu haben. Daß er wahrhaft sei, dazu gehört, daß er sich hervorgebracht habe; sein Sein ist der absolute Prozeß.“ Hegel, PhW, S. 30: „Die Weltgeschichte nach ihrem Endzwecke haben wir zu betrachten; dieser Endzweck ist das, was in der Welt gewollt wird. Von Gott wissen wir, daß er das Vollkommenste ist; er kann also nur sich selbst wollen und was ihm gleich ist. […] Der Geist aber ist auf dem Theater, auf dem wir ihn betrachten, in der Weltgeschichte, in seiner konkretesten Wirklichkeit.“ Spengler, UdA, S. 26; 30; 456; 468, Anm. 4; 469; 471; 480; 611; 649; 987; 885, Anm. 2. Ebd., S. IX. So kritisiert Spengler an Kant, daß er neben der materialistischen Logik des Raums die biologische Logik der Zeit nicht berücksichtigt habe (UdA, S. 9–10); auch sei die Trennung von a posteriori und a priori letztlich nicht in dieser Schärfe aufrechtzuerhalten, zudem die Kulturzugehörigkeit des einzelnen Menschen diesem auch eine gänzlich andersgeartete Verstandestätigkeit anerziehe (UdA, S. 80–81). Ferner sei Kants Verständnis der Zeit als einer mathematisch festsetzbaren Größe unwissenschaftlich und bereits in der eigenen Zeit überholt (UdA, S. 161–165) wie auch seine Vorstellung vom „Raum“ mit Verweis auf die Formulierung der nichteuklidischen Geometrie bei Gauß nicht haltbar sei (UdA, S. 220–221). Zu Spengler und Kant vgl. – freilich unter geschichtsphilosophischen Vorzeichen – Kissinger 1950.
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Spenglers Quellen
nichts beweisen; schließlich wird auch Jacob Burckhardt, dessen „Weltgeschichtliche Betrachtungen“ Spengler selbstverständlich bekannt waren, nur an zwei Stellen des Hauptwerks und auch hier nur im Vorübergehen erwähnt.14 Hauptkritikpunkt Spenglers an Hegel ist selbstverständlich seine Verurteilung des Glaubens an eine kontinuierliche Evolution der Weltgeschichte als materieller Entfaltung des Weltgeists zur Verwirklichung seiner Freiheit, läßt sich doch laut Hegel in der Menschheitsgeschichte eine ganz „andere Bestimmung überhaupt sehen, als in den bloß natürlichen Dingen, […] – nämlich eine wirkliche Veränderungsfähigkeit und zwar zum Bessern – ein Trieb der Perfektibilität“, welcher bewirkt, daß die Weltgeschichte „einen Fortgang zum Besseren, zum Vollkommeneren enthalte.“15 Diese Sichtweise, welche Spenglers eigener Lehre von der Existenz abgeschlossener, in sich selbst ruhender Kulturzyklen ohne gegenseitige seelische Beeinflussung diametral entgegengesetzt ist, konnte beim Propheten des „Untergangs“ nur auf Ablehnung stoßen, hieße doch ein Glaube an eine stufenweise Evolution der Weltgeschichte, die Entwicklung vergangener Kulturen als bloße Vorstufen zur eigenen abendländischen Gegenwart zu verstehen und damit zu entwerten. Daher sieht Spengler Hegel auch in der Kontinuität Joachim von Fiores,16 insoweit beide letztlich an eine bruchlose Linearität und sogar evolutorische Fortschrittlichkeit der Weltgeschichte glauben – eine keineswegs überzogene Kontinuitätsaufzeigung, ist doch die Rolle des deutschen Idealismus bei der Vermittlung joachimitischen Gedankenguts ans 19. und v.a. 20. Jahrhundert heute allgemein akzeptiert:17 „Man fügte also den komplementären Begriffen Heidentum und Christentum den abschließenden einer ‚Neuzeit‘ hinzu, die ihrem Sinne nach eine Fortsetzung des Verfahrens nicht gestattet […]. Man war, ohne es auszusprechen, der Meinung, daß hier jenseits von Altertum und Mittelalter etwas Endgültiges beginne, ein drittes Reich, in dem irgendwie eine Erfüllung lag, […] ein Ziel, das erkannt zu haben von den Scholastikern bis zu den Sozialisten unserer Tage jeder sich allein zuschrieb. […] Man hatte ganz einfach den Geist des Abendlandes, wie er sich im Kopfe eines einzelnen spiegelte, mit dem Sinn der Welt gleichgesetzt. Aus einer geistigen Not haben dann große Denker eine metaphysische Tugend gemacht, indem sie das durch das consensus omnium geheiligte Schema, ohne es einer ernsthaften Kritik zu unterziehen, zur Basis einer Philosophie erhoben und als Urheber ihres jeweiligen ‚Weltplanes‘ Gott bemühten. […] Herder nannte die Geschichte eine Erziehung des
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Spengler, UdA, S. 38–39 und 301. Hegel, PhW, S. 89. Spengler, UdA, S. 26: „[…] Joachim von Floris, der erste Denker vom Schlage Hegels, der das dualistische Weltbild Augustins zertrümmert und mit dem Vollgefühl des echten Gotikers das neue Christentum seiner Zeit als etwas Drittes der Religion des Alten und Neuen Testaments entgegenstellt […].“ Zu Joachim von Fiore vgl. Grundmann 1966; Reeves 1969; Grundmann 1977; West 1983; Riedl 2004; Wannenmacher 2015. Vgl. hierzu etwa de Lubac 1979; McGinn 1985; Gould/Reeves 2001.
5 Hegel, Spengler und das Problem der Willensfreiheit
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Menschengeschlechts, Kant eine Entwicklung des Begriffs der Freiheit, Hegel eine Selbstentfaltung des Weltgeistes, andere anders.“ (UdA, S. 25–26)
Ein weiteres schlagendes Argument ist natürlich die allzu geringe Rolle, welche Hegel den außereuropäischen Völkern in seiner Philosophie der Weltgeschichte eingeräumt hat, und die er seinem Dreischritt-Schema Orient-Antike-Abendland als ungeordneten Gesamtblock vorangestellt hat,18 womit die Eigenheiten der mesopotamischen, ägyptischen, altindischen, chinesischen, mittelamerikanischen und peruanischen Kultur völlig verkannt bzw. einer zweifelhaften abendländischen Superiorität untergeordnet wurden. Schon im „Untergang des Abendlandes“ hat Spengler für Hegels Bemerkung daher nur Hohn übrig, er werde die Völker, die nicht in sein geschichtsphilosophisches System passen, ignorieren (UdA, S. 30). Ähnlich wie Humboldt, der in einem Brief vom 1. 6.1837 einem Freund nach seiner Lektüre der Hegel’schen Geschichtsphilosophie berichtet hatte, Hegels „abstraktes Behaupten rein falscher Thatsachen und Ansichten über Amerika und die indische Welt“ wirke auf ihn „freiheitraubend und beängstigend“,19 äußerte auch Spengler zu dieser Problematik in einem Brief vom 5. 1.1919 an Georg Misch: „Daß Hegel (und deshalb wohl auch Dilthey) vor seinem Bilde der Weltgeschichte den Eindruck hatte, daß hier ein Schatz von höchsten menschlichen Möglichkeiten sich ständig vermehre, eine einheitliche Aufgabe mehr und mehr erfüllt werde, ist natürlich, obwohl ich schon bei Goethe Einblicke allertiefster Skepsis finde (von ihm und seinem Urphänomen habe ich denn auch den Gedanken der selbständigen, pflanzenhaften Kulturindividuen). […] Der Stand des Wissens um 1820 rechtfertigte noch den Glauben an etwas Absolutes ‚hinter‘ den einmaligen individuellen historischen Ereignissen. Indessen sehen wir heute Indien und China und Mexiko mit ihren erstorbenen Kulturen. Was ist von den Schöpfungen der ägyptischen in die antike als lebendiger Geist übergangen? […] Es ist ein rein faustisches Bedürfnis, ein überindividuelles Element anzunehmen, das sich trotz aller historischer Niedergänge einem Ziel zu bewegt.“ (UdA, S. 34) 18
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Hegel, PhW, S. 40: „Mit dem, was ich im allgemeinen über den Unterschied des Wissens von der Freiheit gesagt habe, und zwar zunächst in der Form, daß die Orientalen nur gewußt haben, daß Einer frei sei, die griechische und römische Welt aber, daß einige frei sind, daß wir aber wissen, daß alle Menschen an sich frei, der Mensch als Mensch frei ist, damit liegt die Einteilung, die wir in der Weltgeschichte machen und nach der wir sie abhandeln werden, vor.“ Diese sehr schematisierende Einteilung beruht letztlich auf Vorurteilen der griechischen Antike und wurzelt in den Erfahrungen der Zeit der Perserkriege, als der Sieg der spartanischen und athenischen Bürgerheere über die Armee des persischen Weltreichs nur durch die Überlegenheit der freiheitlichen Verfassungen der griechischen Städte über die Despotie des persischen Großkönigs erklärt werden konnte. Typisch für diese Sicht ist dann etwa Herodot 7,134–137, in der von der spartanischen Gesandtschaft des Sperthias und des Bulis an den großköniglichen Hof in Susa erzählt und hervorgehoben wird, daß selbst die goldene Knechtschaft am Hof des Weltherrschers die innere Freiheit des Polis-Bürgers nicht aufwiegt. Vgl. hierzu etwa Wittfogel 1962; Kierdorf 1966; Raaflaub 1985. Assing 1860, S. 44.
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5.3
Spenglers Quellen
Mensch und Natur
Wie steht es nun mit der Einordnung der Philosophie in diese Entwicklungslehre? Es ist deutlich, daß in Anbetracht dieses biologistischen Geschichtsmodells kein Raum für eine rationale Bewertung, Diskussion und Akzeptanz bzw. Verwerfung einzelner philosophischer Schulen bestehen kann, sondern der geschichtsmorphologische Relativismus auf den ersten Blick nur eine quasi kunsthistorische Einordnung zuläßt. So sagt Spengler: „Für andere Menschen gibt es andere Wahrheiten. Für den Denker sind sie alle gültig oder keine.“ (UdA, S. 34) Ähnlich äußert er sich auch an anderer Stelle: „Es gibt keine Philosophie überhaupt: Jede Kultur besitzt ihre eigne; sie ist ein Teil ihres symbolischen Gesamtausdrucks und bildet mit ihren Problemstellungen und Denkmethoden eine geistige Ornamentik in strenger Verwandtschaft zu derjenigen der Architektur und bildenden Kunst.“ (UdA, S. 467) „Der systematische Philosoph bewegt sich, was die Dauer seiner Ergebnisse betrifft, in einem schweren Irrtum. Er übersieht die Tatsache, daß jeder Gedanke in einer geschichtlichen Welt lebt und damit das allgemeine Schicksal der Vergänglichkeit teilt. […] Aber Frage und Antwort sind hier eins, und jede große Frage, der das leidenschaftliche Verlangen nach einer ganz bestimmten Antwort schon zugrunde liegt, hat lediglich die Bedeutung eines Lebenssymbols. […] Jede Philosophie ist ein Ausdruck ihrer und nur ihrer Zeit […], sobald von wirklicher Philosophie und nicht von irgendwelchen akademischen Belanglosigkeiten […] die Rede sein soll.“ (UdA, S. 54)
Insoweit gilt für Spengler eine jede Philosophie weniger verifizier- bzw. falsifizierbar als logisch-mathematisches Gedankenkonstrukt denn vielmehr als künstlerische Leistung beim Versuch, den Grundfragen des Menschseins einen zeitgemäßen Ausdruck zu verleihen, weshalb dann auch Goethe, Wagner, Hebbel und Ibsen ähnliche philosophische Wertschatzung erfahren wie die klassischen Großen der Philosophiegeschichte. Diese Grundannahmen prägen dann auch wesentlich die Einschätzung der Entwicklung der Philosophiegeschichte einer jeden Zeit, welche nach erstem Erwachen in Mythos und Legende, frühlingshaftem Weltverständnis in Mystik und Scholastik, sommerlichem Selbstbewußtsein in säkularisierter logischmathematisch argumentierender Metaphysik im Herbst die großen abschließenden philosophischen Systeme herausbildet. Im Winter der Zivilisation rückt dann die Metaphysik hinter der Ethik und praktischen Soziologie an die zweite Stelle; das Leben selbst wird zum Problem, das erklärt werden muß, während die „Kathederphilosophie“, die als fachwissenschaftliche Weitertradierung und Kommentierung der großen Philosophen der Vergangenheit den Glauben an den Fortschritt auch im philosophischen Denken wach hält, letztlich die eigene schöpferische Sterilität nur ungeschickt zu verbergen weiß. Während der Höhepunkt der abendländischen Philosophie für Spengler somit unter
5 Hegel, Spengler und das Problem der Willensfreiheit
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Goethe und Kant erreicht wurde, denen in der Antike gleichberechtigt Platon und Aristoteles gegenüberstehen,20 ist die Philosophie des 19. Jahrhunderts fast ausschließlich der Ethik und der soziologisch-psychologischen Deutung des Menschen und des menschlichen Gemeinwesens verhaftet. In Hegel rezipiert Spengler daher fast nur den Staatsphilosophen und Vorläufer des Marxismus und des Anarchismus,21 doch betrachtet Spengler Hegel weniger als Systemphilosophen in der Tradition Kants denn vielmehr als Denker in der Kontinuität Goethes und somit als Vorläufer Nietzsches. So systematisiert er: „Die mystische [Philosophie der Spätzeit], welcher Pythagoras und Leibniz nicht fernstanden, erreicht ihren Gipfel in Plato und Goethe und hat sich von Goethe über die Romantiker, Hegel und Nietzsche fortgesetzt, während die Scholastik, die ihre Aufgaben erschöpft hatte, jenseits von Kant – und Aristoteles – zu einer Kathederphilosophie mit fachwissenschaftlichem Betrieb herabsinkt.“ (UdA, S. 468)
Bei der näheren Lektüre etwa der „Philosophie der Weltgeschichte“ und des „Untergangs des Abendlandes“ wird allerdings deutlich, daß trotz dieser Relativierung der Bedeutung Hegels zwischen beiden Denkern mehr Berührungspunkte bestehen, als auf Anhieb anzunehmen ist. Betrachten wir zuerst die anthropologische Fundierung von Willensfreiheit und Kultur: Während es für Hegel die Essenz des Geistes ist, frei zu sein,22 gilt ihm der Mensch selbst nur insoweit als frei, als er sich als Geistwesen erfaßt. Somit ist es der wesentlichste Unterschied zwischen Mensch und Tier, daß dieser zwischen den Trieb und seine Befriedigung das Ideelle stellt, während beim Tier beides untrennbar zusammengehört. Insoweit ist die Selbständigkeit des Menschen bereits in seiner Natur als geisthaftes Wesen verankert und offenbart sich ab dem Moment, wo er sich dieser Tatsache bewußt ist: 20
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Spengler, UdA, S. 207: „Die höchste und reifste Form beider Arten der Betrachtungen, wie sie nur großen Kulturen möglich ist, erscheint für die antike Seele in dem Gegensatz von Plato und Aristoteles, für die abendländische in dem von Goethe und Kant: die reine Physiognomie der Welt, erschaut von der Seele eines ewigen Kindes, und die reine Systematik, erkannt vom Verstand eines ewigen Greises.“ Ähnlich auch UdA, S. 63; 68; 468. Ebd., S. 471–472: „Die Aufmerksamkeit, welche der Stoiker dem eigenen Körper zuwendet, widmet der abendländische Denker dem Gesellschaftskörper. Es ist kein Zufall, das aus der Schule Hegels der Sozialismus (Marx, Engels), der Anarchismus (Stirner) und die Problematik des sozialen Dramas (Hebbel) hervorgingen. […] Und deshalb ist die kennzeichnende Philosophie des 19. Jh. nur Ethik, nur Gesellschaftskritik im produktiven Sinne und nichts außerdem. Deshalb sind, von Praktikern abgesehen, Dramatiker […] ihre bedeutendsten Vertreter, neben denen kein einziger Kathederphilosoph […] in Betracht kommt.“ Hegel, PhW, S. 32: „Wie die Schwere die Substanz der Materie, so, müssen wir sagen, ist die Freiheit die Substanz des Geistes. Jedem ist es unmittelbar glaublich, daß der Geist auch unter andern Eigenschaften die Freiheit besitze; die Philosophie aber lehrt uns, daß alle Eigenschaften des Geistes nur durch die Freiheit bestehen, alle nur Mittel für die Freiheit sind, alle nur diese suchen und hervorbringen.“
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Spenglers Quellen „Was ihn […] determiniert, sind die Vorstellungen von dem, was er sei und was er wolle. Hierin liegt die Selbständigkeit des Menschen; was ihn determiniert, weiß er. […] Das Tier hat seine Vorstellungen nicht als Ideelles, Wirkliches; darum fehlt ihm diese innere Selbständigkeit. […] Das Tier […] kann zwischen seinen Trieb und dessen Befriedigung nichts einschieben; es hat keinen Willen, kann die Hemmung nicht vornehmen. […] Der Mensch aber ist nicht darum selbständig, weil die Bewegung in ihm anfängt, sondern weil er die Bewegung hemmen kann […].“23
Der Mensch gelangt nur dann zur Selbständigkeit, wenn er einerseits erkennt, daß er nur Vermittler des Geistes ist,24 Sinn zum Zweck also,25 andererseits aber einsieht, daß er auch einer äußerlichen Ordnung angehört, die ihm entspricht: „Das Wahre muß einerseits vorhanden sein als objektives, entwickeltes System in der Reinheit des Gedankens, andererseits aber auch in der Wirklichkeit. Aber diese Wirklichkeit muß nicht äußerlich objektiv, sondern jener selbst denkende Geist muß dabei frei sein und also drittens diesen objektiven Inhalt des Weltgeistes als den seinigen anerkennen. So ist er der Geist, der dem Geiste Zeugnis gibt, und ist in der Wirklichkeit bei sich und also frei.“26
Diese trotz der Kritik an der Aufklärung letztlich doch im Vernunftkult des 18. Jahrhunderts fußende uneingeschränkte Gleichsetzung von Handlungsfreiheit mit der Freiheit zu rationalem Handeln27 und die Geringschätzung des Emotionalen, Impulsiven und Irrationalen als der ununterdrückbaren Kehrseite der intellektuellen Befähigung des Menschen28 sollte bei Spengler selbstverständlich zuerst auf Ablehnung stoßen; betrachten wir aber seine theoretischen Äußerungen zum Themenfeld29 in den nur fragmentarisch erhaltenen „Urfragen“, seinem metaphysischen Hauptwerk, lassen sich erstaunlicherweise zahlreiche Übereinstimmungen feststellen. Spengler betreibt hier den Versuch einer Fundamentalphilosophie, wobei seine argumentative Basis eine Art dynamischer Lebensmonismus ist, der auch im Hegel’schen Weltbild eine gewisse Rolle spielt.30 Tatsächlich nämlich darf nicht vergessen werden, daß der Ausgangspunkt des Spengler’schen Philosophierens – ähnlich wie ja auch bei
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Hegel, PhW, S. 34. Ebd., S. 33: „So kommt alles auf das Bewußtsein des Geistes von sich an; wenn der Geist es weiß, daß er frei ist, so ist dies ganz etwas anderes, als wenn er es nicht weiß. […] Die Empfindung der Freiheit ist es erst, die den Geist frei macht, obgleich er an und für sich immer frei ist.“ Vgl. auch S. 37: „Der Weltgeist ist der Geist der Welt, wie er sich im menschlichen Bewußtsein expliziert; die Menschen verhalten sich zu diesem als Einzelne zu dem Ganzen, das ihre Substanz ist.“ Hierzu Köhler 2006; Pierini 2006. Hegel, PhW, S. 938. Vgl. etwa Alain 1901; Marcuse 1972; Starobinski 22006. Zum Problem der philosophischen Dichotomie von Rationalität und Gewalt und seiner Lösung vgl. Delesalle 1984. Spengler, U, Teil VII: Instinkt, Trieb, Wille: S. 184–214. Hierzu Solies 2006/07.
5 Hegel, Spengler und das Problem der Willensfreiheit
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Hegel31 – im Studium der Philosophie Heraklits lag,32 über die Spengler, wiewohl von der Ausbildung her Naturwissenschaftler, ja auch 1904 seine Dissertation verfaßt hatte.33 Was nun den freien Willen betrifft, geht Spengler wie Hegel vom Unterschied zwischen Mensch und Natur aus. Hierzu definiert er zunächst mehrere Existenzebenen: Auf der untersten Stufe steht die Pflanze, welche ganz eine Funktion ihrer Umgebung ist und über kein Bewußtsein verfügt;34 ihr übergeordnet sind die tierischen Existenzen, die über eine gewisse Willensfreiheit verfügen, da sie sich in verschiedenen Lebenssituationen entscheiden müssen und können. Daher ist „,Wille‘ […] ein Wort für Freiheit, den Zwang, sich entscheiden zu müssen. Entscheidung kennt die Pflanze nicht.“35 Erst die Tiere und damit auch der Mensch kennzeichnen sich durch ein eigenes Bewußtsein: „Bewußtsein bedeutet zweierlei: 1. Wachsein (im Gegensatz zum Schlaf) 2. Wissen (Gegensatz: unbewußt). – Das ist eine Steigerung. Die Instinkte (Triebe) bedienen sich des Wissens: so wird aus dem triebhaften der geistige Wille zur Macht. Das ‚wissende Wachsein‘ = Geist.“36
Was aber ist der „Wille“ für Spengler? Wille wird im Rahmen der „Urfragen“ als „Trieb gegen das Treiben der Welt“ definiert,37 woraus auch – wohl in unbewußter Opposition zu Hegel – hervorgeht, daß es einen „Weltwillen“ nur als Metapher, keineswegs aber als Tatsache geben kann, da dieser nichts hatte, auf das er sich richten konnte. So sagt Spengler auch: „,Wille‘ ist der Trieb von einem Mittelpunkt aus; die kleine Welt (Mikrokosmos) steht gegen die große. ‚Wille‘ ist Kämpfen ‚gegen‘, ‚Ich‘.“38 – eine Formulierung, welche ganz an Hegels Wortschatz der Definition des Unterschieds zwischen Materie und Geist erinnert, besteht die Materie doch:
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Gadamer 1971. Zu Hegels Beschäftigung mit Heraklit vgl. seine Ausführungen in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie in Werke, Bd. 18, Frankfurt a.M., 1999, S. 319–337; weiter vgl. Nicolosi 1984; Senzasono 1999. Zu den Heraklit entgegengesetzten Einflüssen Parmenides’ auf Hegel vgl. auch Constantineau 1984. Zum Philosophieren Heraklits vgl. Hoelscher 1952; Zoubos 1956; Heidegger 21996; Roussos 1971; Pleger 1987; Thurner 2001; Pleines 2002. Spengler, H.; auch in: RuA, S. 1–47. Spengler, UdA, S. 184–201. Spengler, U, S. 200–201 (Aph. VII 37). Vgl. hier auch: „Die ‚Freiheit‘ des Tieres – des Mikrokosmos im Makrokosmos – die Gegnerschaft gegen alles da draußen – ist Wahlfreiheit in allen Lebensregungen, die durch die Freiheit aus Reaktionen zu Taten werden […]. Pflanze und Tiere atmen, aber den Atem anhalten kann nur das Tier. Die Pflanze muß sich nach der Sonne wenden (Heliotropismus), das Tier kann, wenn es will. Bei der Pflanze [besteht ein] ‚mechanischer‘ Zusammenhang zwischen draußen und drinnen, deshalb [sind ihre Bewegungen ein bloßer] Vorgang, deshalb auf eine starre Formel zu bringen. ‚Wille‘ liegt also in allen echt tierischen Bewegungen. […]“ Ebd., S. 198 (Aph. VII 33). Ebd., S. 201 (Aph. VII 38). Ebd., S. 201 (Aph. VII 38).
76
Spenglers Quellen „[…] als ein Außereinander und sucht ihre Einheit […]; sie strebt nach Idealität […]. Der Geist im Gegenteil ist eben dies, in sich den Mittelpunkt zu haben; er strebt auch nach dem Mittelpunkte, aber der Mittelpunkt ist er selbst in sich. […] Seine Freiheit besteht nicht in einem ruhenden Sein, sondern in einer beständigen Negation dessen, was die Freiheit aufzuheben droht.“39
5.4
Linearität und Zyklus
Während nun die Freiheit des Menschen in seiner intellektuellen Befähigung zu Reflexion und Selbsterkenntnis angelegt ist, bringt sie als Mittel ihrer zunehmenden Entfaltung die Strukturen gesellschaftlichen Lebens hervor. Sowohl Hegel als auch Spengler haben wahrgenommen, daß es sich hierbei keineswegs um eine einseitige Formung sozialer, kultureller und politischer Organisationsformen durch den menschlichen Geist handelt, der zu jeder Zeit den geschaffenen Kollektivorganismus kontrolliert, sondern daß beide schon von Anfang an in einem gegenseitigen Wechselverhältnis stehen und somit die Freiheit des Menschen durch seine eigene Schöpfung eingeschränkt wird, „Überbau“ und „Unterbau“ sich also trotz der metaphysischen Priorität des ersteren gegenseitig beeinflussen und letztlich nicht zu trennen sind.40 Denn jede menschliche Handlung, welche sich gegen jene Formen richtet, die konstitutiv für den objektiven Willen sind und somit auch für die Selbstentfaltung des Geistes im Menschen selbst, ist für Hegel nicht Ausfluß der Willensfreiheit, sondern vielmehr ein Handeln, welches nicht auf Gründen ruht und daher nicht zu rechtfertigen ist. Freiheit ist nur das, was sich im Rahmen der Bedingungen entfaltet, die sie überhaupt ermöglichen. Insoweit ist die Gesellschaft nicht nur ein Instrument des Individuums, sondern gleichzeitig auch Zweck des Individualdaseins, da sich in ihr der objektive Geist umfassender und reiner verkörpert als im Einzelnen.41 Dementsprechend passen sich beide in beständigem Fortschritt aneinander an – was freilich nicht ohne Reform, 39
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Hegel, PhW, S. 32–33. Zu Hegels Konzept der Materie vgl. Horstmann/Petry 1986; Petry 1987; Petry 1993; Burbidge 1996; Kalenberg 1997. Zum völlig anders gearteten Verstandnis von Über- und Unterbau im Marxismus vgl. etwa Marx 1972, S. 8: „Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen.“ Hierzu auch Rothacker 1932; Harman 1986; Levine 2006. Im „neuen Staat“ wirkt allerdings auch der Einzelne auf den Staat ein. Vgl. Hegel, R, S. 338: „Die Allgemeinheit des Zwecks [kann] nicht ohne das eigene Wissen und Wollen der Besonderheit, die ihr Recht behalten muß, fortschreiten […]. Das Prinzip der modernen Staaten hat diese ungeheuere Stärke und Tiefe, das Prinzip der Subjektivität sich zum selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen, und zugleich es in die substanzielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst diese zu erhalten.“
5 Hegel, Spengler und das Problem der Willensfreiheit
77
Revolution und Krieg geschieht.42 Dies hat allerdings zur Folge, daß die Freiheit des allgemeinen Geistes letztlich die des Einzelmenschen sowohl überhaupt erst bedingen43 als auch einschränken kann, eine Konsequenz, welche aber letztlich für die Entfaltung des Ganzen in einer – leicht menschenverachtenden – Formulierung als unwichtig abgetan wird: „Dabei, daß einzelne Individuen gekränkt worden sind, kann die Vernunft nicht stehen bleiben; besondere Zwecke verlieren sich in dem Allgemeinen.“44 Insoweit ist der Ablauf der Geschichte auch eine Abfolge von Gesellschaftsstrukturen des objektiven Geistes, in denen sich der absolute Geist immer vollkommener verkörpert,45 bis schließlich der rationale, rein auf Vernunftgründen fußende Staat als seine (bislang) höchste Ausprägung entsteht.46 Weltgeschichte ist daher der „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“. In seiner Rechtsphilosophie drückt Hegel diesen Gedanken mit folgenden Worten aus: „Der Staat ist die Wirklichkeit der konkreten Freiheit. […] Die konkrete Freiheit aber besteht darin, daß die persönliche Einzelnheit und deren besondere Interessen sowohl ihre vollständige Entwickelung und die Anerkennung ihres Rechts für sich (im Systeme der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft) haben, als sie durch sich selbst in das Interesse des Allgemeinen Theils übergehen, Theils mit Wissen und Willen dasselbe und zwar als ihren eigenen substantiellen Geist anerkennen und für dasselbe als ihren Endzweck thätig sind.“47
Dies hat dann auch die berühmte Formulierung aus der „Phänomenologie des Geistes“ hervorgebracht: „Es ist der Gang Gottes in der Welt, daß der Staat ist“ – eine staatsphilosophische Aussage, welche zusammen mit den Ausführungen des Dritten Teils der „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ vom Jahr 1821 letztlich dafür verantwortlich ist, daß man bereits zu seinen eigenen Lebzeiten in Hegel sowohl den Liberalist und atheistischen Revolutionär als auch den reaktionären Apologet des preußischen Machtstaates sah.48 Wenn diese beiden 42 43
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Vgl. Hegel, PhW, S. 148–166. Ebd., S. 35: „Der Mensch ist, was er sein soll, nur durch Bildung, durch Zucht; was er unmittelbar ist, ist nur die Möglichkeit, es zu sein, d. h. vernünftig, frei zu sein, nur die Bestimmung, das Sollen.“ Hierzu vgl. auch ebd., S. 26. Zur Machtpolitik bei Hegel vgl. Chang 2000; Byung-Chul 2005. Hegel, PhW, S. 52: „Die Weltgeschichte ist die Darstellung des göttlichen, absoluten Prozesses des Geistes in seinen höchsten Gestalten, dieses Stufenganges, wodurch er seine Wahrheit, das Selbstbewußtsein über sich selbst erlangt. Die Gestaltungen dieser Stufen sind die welthistorischen Volksgeister, die Bestimmtheiten ihres sittlichen Lebens, ihrer Verfassung, ihrer Kunst, Religion und Wissenschaft. Die Stufen zu realisieren, ist der unendliche Trieb des Weltgeistes, sein unwiderstehlicher Drang; denn diese Gliederung, sowie ihre Verwirklichung ist sein Begriff.“ Zu Hegel und dem Staat vgl. Rosenzweig 1920; Busse 1931; Heller 1921; Maihofer 1966/1973; Riedel 1970; Avineri 1974; Solari 2005. Hegel, R, S. 337–338. Diese Deutung geht im wesentlichen zurück auf Hayms 1857, bes. S. 357ff. Typisches Bsp. hierfür ist Heller 1921, S. v: „[…] die nationale Machtstaatsideologie ist sogar selbst das Kind der idealistischen Philosophie und kein anderer als Hegel ihr Vater.“
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Spenglers Quellen
Sichtweisen natürlich auch in ihrem Absolutheitsanspruch letztlich über das Ziel hinausschießen49 – wobei es allerdings völlig unhistorisch wäre, Hegels tiefe Sympathie mit dem preußischen Staat zu leugnen, welche sich vielleicht weniger in seinen Schriften, aber umso mehr in seiner Biographie ausdrückt50 – , spricht doch die Spannbreite der Ausdeutungsmöglichkeiten nicht zuletzt für die Vielseitigkeit und Allgemeingültigkeit vieler Aussagen Hegels, versagt man sich nicht ihrer Verbindung zwischen Geschichtlichkeit und Metaphysik, wie etwa Burckhardt dies getan hat, der Hegels „keckes Antizipieren eines Weltplanes“ verurteilte.51 Dabei sieht Hegel nicht nur im Einzelmenschen oder in gesamtgesellschaftlichen Strukturen wie Staat, Religion, Kunst und Wissenschaft unabhängige Organisationsformen des objektiven Geistes, sondern auch in den einzelnen „Volksgeistern“, denen jeweils kein ewiges Leben, sondern nur eine begrenzte Existenz beschieden ist,52 und die letztlich auf das Gedankengut Montesquieus zurückgehen.53 Von hier zum mehrere Völker umfassenden Kulturbegriff Spenglers ist es nur ein kleiner Schritt, welcher im Hinblick auf die heute wissenschaftlich nicht mehr aufrechtzuhaltende Ausweitung des Nationälitatenbegriffs des 19. Jahrhunderts auf die ethnisch-kulturelle Situation früherer Zeiten sicherlich bevorzugt werden muß.54 So sagt Hegel: „Der Volksgeist ist zugleich wesentlich ein besonderer, zugleich nichts als der absolute allgemeine Geist, – denn der ist Einer. […] Der Volksgeist ist so der allgemeine Geist in einer besonderen Gestaltung, über die er an sich erhaben ist, die er aber hat, insofern er existiert: mit dem Dasein, mit der Existenz trifft die Besonderheit ein. Die Besonderheit des Volksgeistes besteht in der Art und Weise seines Bewußtseins, das er sich über den Geist macht. Im gewöhnlichen Leben sprechen wir so: dies Volk hat diese Vorstellung von Gott gehabt, diese Religion, dies Recht; über Sittlichkeit hat es sich solche Vorstellungen gemacht.“55 49
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Hegel selbst schwebte, betrachtet man seine Rechtsphilosophie, wohl am ehesten eine Art konstitutionelle Demokratie vor, in welcher das neuzeitliche Prinzip des Besonderen und das antike der Allgemeinheit gleichwertig miteinander verbunden und durch eine Verfassung, welche letztlich die Souveränitat des Staates verkörpert, dauerhaft garantiert sind. Hierzu Maihofer 1966/1973, S. 377–386. Vgl. z. B. Heller 1921, S. 70ff. Zur Wertung (letztlich nicht zu Unrecht) etwa Spitzer 1946/1993, S. 188: „Welche geistige Enge eines mit seiner Behörde zufriedenen Staatsbeamten verrät nicht die Naivität des weltumspannenden Hegel, die Erfüllung des Weltgeistes in dem Preußen seiner Tage sehen zu wollen!“ Burckhardt 1905/1955, S. 1. Zur Konzeption des „Volksgeists“ vgl. Brie 1909; Smith 1989, Kap. 2; Mährlein 2000; Großmann 2000, S. 60ff.; Großmann 2001. Zu Hegel und Montesquieu vgl. Trescher 1918; Althusser 1977; Mosher 1984. Zum Problem des Begriffs der „Nation“ vgl. Deutsch 1972; Anderson 1988; Balibar 1990; Kunze 2005. Aus antiquarischem Interesse seien noch genannt: Fichte 1808/51978; Renan 1882. Hegel, PhW, S. 37–38. Zur daher nur untergeordneten Rolle der Religion im Staat vgl. Schmidt 1966/67.
5 Hegel, Spengler und das Problem der Willensfreiheit
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Wie auch bei Spengler charakterisieren sich die „Volksgeister“ durch eine Vorliebe für bestimmte Kunstgattungen, die ihrer seelischen Veranlagung näher stehen, wie die Architektur für die orientalischen Kulturen, die Plastik für die Antike, Malerei im europäischen Mittelalter, und Musik und Dichtung in der Neuzeit. Was nun die Entwicklungsstadien dieser einzelnen Volksgeister angeht, so sind hier durchaus rudimentäre Ansätze einer Zyklentheorie vorhanden, wenn auch nicht systematisch ausgebaut. So findet sich bei Hegel eine deutliche Vorwegnahme lebensphilosophischer Ansätze, welche mit seiner eigenen These von der dialektischen Linearität der Kulturentwicklung oft nur schwer zu vereinbaren ist, sagt er doch „Ein Volk macht Fortschritte in sich selbst; es erlebt Fortgang und Untergang;“56 ein Konzept, das natürlich nicht durch Hegel oder seine Vorläufer erfunden wurde, sondern auf antike Traditionen zyklischer Geschichtsbetrachtung zurückgeht.57 Einzelne Passagen könnten sogar aus Spengler stammen, so: „Der Volksgeist ist ein natürliches Individuum; als ein solches blüht er auf, ist stark, nimmt ab und stirbt. Es liegt in der Natur der Endlichkeit, daß der beschränkte Geist vergänglich ist. Er ist lebendig und insofern wesentlich Tätigkeit […]. Ein Gegensatz ist vorhanden, sofern die Wirklichkeit seinem Begriffe noch nicht gemäß […] ist. Sobald aber der Geist sich seine Objektivität in seinem Leben gegeben hat, […] so ist er […] zum Genusse seiner selbst gekommen, der nicht mehr Tätigkeit, der ein widerstandsloses Ergehen seiner durch sich selbst ist. In die Periode, wo der Geist noch tätig ist, fällt die schönste Zeit, die Jugend eines Volkes […]. Ist das vollbracht, tritt die Gewohnheit des Lebens ein; und wie der Mensch an der Gewohnheit des Lebens stirbt, so auch der Volksgeist an dem Genusse seiner selbst. Wenn der Geist des Volkes seine Tätigkeit durchgesetzt hat, dann hört die Regsamkeit und das Interesse auf; das Volk lebt in dem Übergange vom Mannesalter ins Greisenalter […]. Es kann noch viel tun in Krieg und Frieden, im Innern und Äußern; es kann noch lange fortvegetieren. Es regt sich; aber diese Regsamkeit ist bloß die der besondern Interessen der Individuen, nicht mehr das Interesse des Volkes selbst. So sterben Individuen, so sterben Völker eines natürlichen Todes.“58
Vergleicht man dies mit dem Spengler’schen Credo, scheinen beide Passagen fast demselben Buch entnommen zu sein: 56 57
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Ebd., S. 42–43. Häussler 1964; Gatz 1967; Ruch 1972; Eyben 1973; Ferguson 1975; Engels 2009b. Zur Rezeption der Zyklentheorie in der Renaissance vgl. v. a. Vico 1725/1911. Hegel, PhW, S. 45–46. Zu Hegels Meinung, ein Volk könne nur eine einzige Blütezeit erleben, woraufhin der Übergang zu einem nächsten Volk geschehe, in dem der Weltgeist sich noch vollkommener auspräge, PhW, S. 42: „Es ist das Höchste für den Geist, sich zu wissen, sich nicht nur zur Anschauung, sondern auch zum Gedanken seiner selbst zu bringen. Dies muß und wird er auch vollbringen; aber diese Vollbringung ist zugleich sein Untergang und dieser das Hervortreten einer anderen Stufe, eines anderen Geistes. Der einzelne Volksgeist vollbringt sich, indem er den Übergang zu dem Prinzip eines anderen Volkes macht, und so ergibt sich ein Fortgehen, Entstehen, Ablösen der Prinzipien der Völker.“
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Spenglers Quellen „Kulturen sind Organismen. Weltgeschichte ist ihre Gesamtbiographie. Die ungeheure Geschichte der chinesischen oder antiken Kultur ist morphologisch das genaue Seitenstück zur Kleingeschichte des einzelnen Menschen, eines Tieres, eines Baumes oder einer Blume.“ (UdA, S. 140) „Jede Kultur […] hat ihre Kindheit, ihre Jugend, ihre Männlichkeit und ihr Greisentum.“ (UdA, S. 144) „Eine Kultur stirbt, wenn diese Seele die volle Summe ihrer Möglichkeiten in der Gestalt von Völkern, Sprachen, Glaubenslehren, Künsten, Staaten, Wissenschaften verwirklicht hat und damit wieder ins Urseelentum zurückkehrt. Ihr lebendiges Dasein aber, jene Folge großer Epochen, die in strengem Umriß die fortschreitende Vollendung bezeichnen, ist ein tiefinnerlicher, leidenschaftlicher Kampf um die Behauptung der Idee gegen die Mächte des Chaos nach außen, gegen das Unbewußte nach innen, in das sie sich grollend zurückgezogen haben. […] Ist das Ziel erreicht und die Idee, die ganze Fülle innerer Möglichkeiten verwirklicht, so erstarrt die Kultur plötzlich, sie stirbt ab, ihr Blut gerinnt, ihre Kräfte brechen – sie wird zur Zivilisation.“ (UdA, S. 143)59
5.5
Schicksal und Politik
Bereits die Vorstellung von einer Zielgerichtetheit der Kultur impliziert einen historischen Determinismus und damit eine Einschränkung der Willensfreiheit, besteht doch nur die Möglichkeit zur immer vollständigeren Weiterentfaltung des Weltgeists. Diese ist natürlich im Rahmen des Hegelschen Freiheitsverständnisses eine nicht nur uneingeschränkt positiv verstandene Entwicklung, sondern auch eine Evolution ohne Alternative, gilt hier doch der Satz aus der Vorrede zu Hegels Rechtsphilosphie, daß „alles, was wirklich ist, vernünftig, und alles, was vernünftig, wirklich ist“. Doch verrät ein Blick in die Konkretheit der Geschichtsinterpretation durchaus die Problematik dieser Sichtweise: Denn wenn es auch in Anbetracht der Definition von der Freiheit des Willens als der Freiheit des vernünftigen Wollens innerhalb des Hegel’schen Gedankengerüsts absurd wäre, überhaupt eine prinzipielle Unterscheidung zwischen Determinismus und Willensfreiheit annehmen zu wollen (ist das vernünftige Wollen des Einzelmenschen doch identisch mit dem Fortschreiten des objektiven Geistes), zeigt ein Fallbeispiel nicht nur die rein logische, sondern auch die ethische Tragweite dieser Definition. Hegel erklärt im Zusammenhang mit der Tat welthistorischer Individuen: „Zu wissen, was man will, ist schwer; man kann in der Tat etwas wollen und man steht doch auf dem negativen Standpunkt, ist nicht zufrieden; das Bewußtsein des 59
Daß natürlich auch Spengler seine kulturbiologistischen Anschauungen nicht nur antiken Vorbildern oder auch Hegel entnahm, sondern sich auf eine breite Literatur stützen konnte, ist ausgeführt bei Collingwood 1927; Sorokin 1951; Schoeps 21955; Pross 1971; Zumbini 1999; Azzaro 2005. Zusammenfassend Zumbini 1994.
5 Hegel, Spengler und das Problem der Willensfreiheit
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Affirmativen kann sehr wohl mangeln. Jene Individuen aber wußten es auch so, daß dies selbst, was sie wollten, das Affirmative sei.“60
Dies exemplifiziert er am Beispiel Caesars: „Seine Arbeit war ein Instinkt, der das vollbrachte, was an und für sich an der Zeit war.“61 Sieht man davon ab, daß diese Unterschätzung des Bewußtseins Caesars für seine eigene weltgeschichtliche Rolle sicherlich zu revidieren ist, sehen wir deutlich, daß einmal mehr die Willensfreiheit für Hegel nicht gleichbedeutend ist mit der Befähigung des Menschen zu schrankenloser Wahl, sondern begrenzt ist durch den politischkulturellen Zeitgeist, der Mensch also eigentlich erst „wissen lernen muß, was er eigentlich will“, bevor er agiert, von absoluter Willensfreiheit also keine Rede sein kann, sondern die Zielgerichtetheit der Kultur eine unüberwindliche Schranke ist. Insoweit ist Hegels Bemerkung dabei fast identisch mit der Spengler’schen Formulierung: „Wir haben nicht die Freiheit, dies oder jenes zu erreichen, aber die, das Notwendige zu tun oder nichts. Und eine Aufgabe, welche die Notwendigkeit der Geschichte gestellt hat, wird gelöst, mit dem einzelnen oder gegen ihn.“ (UdA, S. 1195)
Der einzige Unterschied beim Vergleich der beiden Standpunkte ist lediglich die Bewertung des Wirkens des Geschichtsdeterminismus, denn wenn der persönliche Blickwinkel Hegels wie die historische Erfahrung der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts noch eine völlig positive Einschätzung der Gegebenheiten erlaubten, erleben wir bei Spengler eine viel intensivere Problematisierung der Folgen der Entwicklung für die Selbstentfaltung des Einzelnen. Sieht man davon ab, daß sowohl Hegel als auch Spengler oft und zu Recht der Vorwurf gemacht wurde, in ihrer deterministischen Geschichtsphilosophie die von der Geschichte Überrollten und von der List der Geschichte „Überlisteten“ (um mit Jung zu sprechen) zugunsten des „großen Einzelnen“ gering zu achten,62 impliziert diese Geschichtsdeutung freilich keineswegs, daß für Hegel wie Spengler die Kultur die Willensfreiheit des Menschen völlig bestimme und diesen zu einer hilflosen Marionette der Prägung seiner Umwelt mache. Die in den „Jahren der Entscheidung“ getroffene Feststellung: „Nur die allgemeine Form künftiger Tatsachen und deren Schritt durch die Zeiten läßt
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62
Hegel, PhW, S. 77. Ebd., S. 68. Vgl. ähnlich S. 75: „Es sind nun die großen welthistorischen Individuen, die solches höhere Allgemeine ergreifen und zu ihrem Zwecke machen, die den Zweck verwirklichen, der dem höheren Begriffe des Geistes gemäß ist.“ Jung 1940, S. 85: „Der absolute Geist sammelt sich und seine unendliche Erfahrung, tilgt die Zeit, bleibt schauerlich allein auf der Schädelstätte des Geistes. Und jenseits bleibt nur das Leben der Gestalten in ihrer einmaligen, vergänglichen Zeitlichkeit, nur – Werkzeug des absoluten Geistes, überlistet von der Idee, und weggeworfen.“
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Spenglers Quellen
sich aus dem Vergleich mit anderen Kulturen erschließen“63 impliziert vielmehr die Möglichkeit einer Steuerung der Geschichte durch den freien Willen des Menschen, wenn auch freilich in den vorgegebenen Grenzen der natürlichen wie kulturellen Umwelt – eine Überzeugung, die auch in den letzten Worten des „Untergangs des Abendlandes“ Gestalt gewinnt, welche Seneca zitieren: Fata ducunt uolentem, nolentem trahunt.64 Zudem darf die Beschränkung durch Kultur und Zivilisation nicht als artfremde Unterdrückung des freien Willens angesehen werden. Während bei Hegel der Kontrast zwischen beiden Gesetzen, dem linearen des Geists und dem zyklischen des Lebens, fast einen Dualismus impliziert, erlaubt der Lebensmonismus Spenglers doch anzunehmen, daß letztlich sowohl Einzelmensch wie auch Natur und Kultur nur Variationen des einen Themas vom notwendigen Wachsen und Vergehen sind, hinter welchem sich das Grundgeheimnis des Seins verbirgt, dessen Natur das Lebendige ist, und das Wagner in die Worte „Alles, was ist, endet“65 gekleidet hatte. Wie auch Goethe seinen Faust mit der unvergeßlichen Formulierung „Alles Lebendige ist nur ein Gleichnis“ schließen läßt, so leitet Spengler den „Untergang des Abendlandes“ mit dem Goethe-Motto „Alles Drängen, alles Ringen / Ist ewige Ruh in Gott dem Herrn“ ein, welches keineswegs eine dumpfe Schicksalsgläubigkeit impliziert, sondern im Gegenteil die Identität von Willen und Weltwerden postuliert. Somit erklärt sich auch das fast herakliteisch dunkel wirkende Fragment aus den „Urfragen“ als Rückgriff auf eine ähnliche Vorstellung: „,Freier Wille‘ ist Schicksal. ‚Ob wir wollen oder nicht‘: Wir ‚wollen‘, was das Schicksal will; geistig, theoretisch bestreiten wir das. Aber der Lebensstrom siegt.“66
5.6
Kultur und Determinismus
Auch die psychologisch-ästhetische Analyse des Greisenstadiums der einzelnen „Volksgeister“ ist bei Hegel durch die Lehre vom „Ende der Kunst“ eine deutliche Vorwegnahme späterer zivilisationskritischer Geschichtsphilosophien.67
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Spengler, JdE, S. 4. Zum Determinismus in den Jahren der Entscheidung vgl. Engels 2007a (= Kap. 12). Spengler, UdA, S. 1195. Es handelt sich hier um Sen., ep. ad Luc. 107. Wagner, Rheingold, 4. Szene, Erda. Spengler, U, S. 203 (Aph. VII 45). Zu Hegels Kunstphilosophie und v.a. Lehre vom Ende der Kunst vgl. Kuhn 1931; Horn 1969; Helferich 1976; Gethmann-Siefert 1994; Kwon 2001; Geulen 2002; Franke/ Gethmann-
5 Hegel, Spengler und das Problem der Willensfreiheit
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So konzediert Hegel in Anbetracht der künstlerischen Entwicklung der Gegenwart, daß „die Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes ist“,68 ja er spricht gerade von einem „Zerfallen der Kunst“69 – eine in Anbetracht aktueller Untergangsvorstellungen des 21. Jahrhunderts höchst bedeutsame Vorwegnahme.70 Zwar deutet er diesen Vorgang im Rahmen seiner Weltanschauung als einen letztlich notwendigen und positiven Vorgang, erklärt er doch, daß „die eigenthümliche Art der Kunstproduktion und ihrer Werke als solche unser höchstes Bedürfnis nicht mehr ausfüllt. […] Wir sind darüber hinaus, Werke der Kunst göttlich zu verehren und anbeten zu können.“71 Grund dafür sei, daß „der Geist […] in eine tiefere Epoche der Wahrheit ein[geht], in der er der Kunst nicht mehr bedarf.“72 Diese Feststellungen aber, welche unter dem Gewand der Fortschrittsgläubigkeit letztlich konzedieren müssen, daß seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ein Bruch in der europäischen Kunstentwicklung entstanden ist, welcher sich durch die zunehmende Hypertrophierung von Analyse und Kritik zuungunsten von schöpferischer Kreativität und Spontaneität kennzeichnet, wird selbst von Hegel mit einer deutlich melancholischen Note versehen, denkt man an Formulierungen wie etwa: „Der Gedanke und die Reflexion hat die schöne Kunst überflügelt. […] Die schönen Tage der griechischen Kunst, wie die goldene Zeit des späteren Mittelalters sind vorüber.“73 Oder ähnlich: „Uns gilt die Kunst nicht mehr als die höchste Weise, in welcher die Wahrheit sich Existenz verschafft […]. Ihre Form hat aufgehört, das höchste Bedürfnis des Geistes zu sein. Mögen wir die griechischen Götterbilder noch so vortrefflich finden, und Gott Vater, Christus, Maria noch so würdig und vollendet dargestellt sehen, es hilft nichts, unser Knie beugen wir doch nicht mehr.“74
Ähnlich wie später Spengler sollte bereits Hegel erkennen, daß auch die Blüte der späten Kunstgattungen wie Musik und Dichtung nur eine scheinbare ist, können diese doch, in Hegels Diktion, die an eine „echte“ Kunst gestellten Ansprüche nicht erfüllen, da die erste keine „reine“, die zweite keine „vollständige“
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Siefert 2005; Wandschneider 2005. Zum „Ende der Kunst“ generell vgl. auch Bonnet/Kopp-Schmidt 1995. Hegel, Ä 1, S. 16. Hegel, Ä 2, S. 236. Vgl. etwa Fukuyama 1989, S. 25: „Das Ende der Geschichte wird eine sehr traurige Zeit sein. […] In der posthistorischen Periode wird es weder Kunst noch Philosophie geben, sondern nur mehr bloß die ständige Präsenz des Museums der Menschheitsgeschichte. […] Vielleicht ist es gerade die Aussicht auf kommende Jahrhunderte der Langeweile am Ende der Geschichte, die Geschichte wieder in Gang setzen wird.“ Hegel, Ä 1, S. 30. Hegel, Ä, ohne weitere Angabe zitiert bei Jähnig 1965, S. 148, Anm. 1a. Hegel, Ä 1. S. 31. Hegel, Ä 1, S. 150–151.
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Spenglers Quellen
Kunst ist, fehle der Musik doch der Geist in seiner Konkretion,75 während die Dichtung nur eine Übergangsform zur Wissenschaft sei.76 Auch hier konstatiert Hegel also eine Tendenz der Spätzeit der abendländischen Kultur hin zum Ephemer-Abstrakten wie in der Musik bzw. hin zum WissenschaftlichAnalytischen wie in der späten Dichtung.77 Für die anderen Disziplinen bleibt dabei nur noch, wiederum in Hegels Diktion, die Wahl zwischen einer „äußerlichen“ Kunst, welche im Nachahmen vergangener Vorbilder besteht – hiermit ist der Klassizismus gemeint – und einer „traditionslosen“ und „subjektivistischen“ Kunst, als welche hier die Romantik genannt wird.78 Hierbei handelt es sich übrigens nicht um ein einmaliges Verfallsstadium. Denn wenn Hegel auch prinzipiell das Ende der Kunst im Abendland des 18. Jahrhunderts ansiedelt, gesteht er doch auch an anderen Stellen seines Oeuvres ein, daß auch andere Kulturen ähnliche Phänomene kannten. So formuliert er beispielsweise: „Bei fortgehender Bildung tritt überhaupt bei jedem Volk eine Zeit ein, in welcher die Kunst über sich selbst hinaus weist. […] In dieser Weise besteht das Nach der Kunst darin, daß dem Geist das Bedürfnis einwohnt, sich nur in seinem eigenen Innern als der wahren Form für die Wahrheit zu befriedigen.“79
Ein typisches Beispiel hierfür sei etwa das Spätstadium der Antike in der späten Republik und der römischen Kaiserzeit, welche, wie Hegel feststellt, zahlreiche Analogien mit der Gegenwart des 19. Jahrhundert aufweise, wenn dieser Vergleich auch für die Argumentation der „Philosophie der Weltgeschichte“ nicht fruchtbar gemacht wird.80 Auch hier stellen wir fest, daß Hegel wie Spengler von einer allmählichen, in jeder Kultur auftretenden Transzendierung der Kunst der Anfangsjahrhunderte durch eine zunehmend abstraktere Form der Appropriierung des Wahren und Schönen ausgeht, wobei beide sich im wesentlichen nur durch die subjektive Bewertung dieses Vorgangs unterscheiden. 75
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Hegel, Ä 3, S. 225 und 132. Zu Hegel und der Musik vgl. Steinkrüger 1927; Adorno 1949; Heimsoeth 1963; Brelet 1965; Brelet 1970; Nowak 1971; Billeter 1973; Dahlhaus 1983; Soring 1986; Kulenkampff 1987; Cantillo 1987; Rollmann 2006. Hegel, Ä 3, S. 232. Ganz ähnl. auch F. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Aph. 828: „Keiner ist einfach Maler; alle sind Archäologen, Psychologen, In-Szene-Setzer irgendwelcher Erinnerung oder Theorie. Sie gefallen sich an unserer Erudition, an unserer Philosophie. Sie sind, wie wir, voll und übervoll von allgemeinen Ideen. Sie lieben eine Form nicht um Das, was sie ist, sondern um Das, was sie ausdrückt. Sie sind die Söhne einer gelehrten, gequälten und reflektierenden Generation – tausend Meilen von jenen alten Meistern, welche nicht lasen, sondern nur daran dachten, ihren Augen ein Fest zu geben.“ Zum Verhältnis Nietzsche-Hegel vgl. Beerling 1961; Djuric/Simon 1992; Soll 2000; Pothen 2002; Dudley 2002. Vgl. hierzu Jähnig 1965, S. 157. Hegel, Ä 1, S. 150–151. Vgl. hierzu etwa auch Riedel 1973, S. 403.
5 Hegel, Spengler und das Problem der Willensfreiheit
85
Das Bild vom erdrückenden Einfluß einer alternden Kultur auf die Kreativität und somit letztlich auch die Willensfreiheit des Menschen mußte – v. a. über den Umweg von Nietzsches psychologisierender Ästhetik des „Der Fall Wagner“,81 deren Décadence-Diagnose in einigen Passagen fast wörtlich an Hegels „Philosophie der Weltgeschichte“ gemahnt82 – gerade Spengler stark prägen.83 Tatsächlich nämlich ist ihm zufolge der Wille des Einzelmenschen insoweit anders geartet als der der Tiere, als er durch das geistige Grundgerüst der kulturellen Verfassung der jeweiligen Gesellschaft wesentlich geprägt sein kann (aber nicht sein muß):84 „Der Wille ist nicht Geist, sondern in der durchgeistigten Seele des Kulturmenschen nimmt alles geistige Formen an.“85 Insoweit prägt der Wille sowohl die Herausbildung des Geistes und wird seinerseits von ihm geprägt: „Wille ist das Leben, insofern es sich auf ein Ziel richtet. Voraussetzung des Willens ist also das dunkle Fühlen eines Wunsches, z. B. beim Wittern, Sehen, Hören. Erst beim höheren Menschen [gemeint ist der Mensch als Angehöriger einer der Hochkulturen] kommen Wünsche aus dem Nachdenken.“86 81
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Zum „Fall Wagner“ vgl. auch Fischer-Dieskau 1974; Bauer 1984; Baumeister 1987; Merlio 1996; Borchmeyer 1999; Eger 1999; Müller-Lauter 1999; Kulawik 2000. F. Nietzsche, Der Fall Wagner, Kap. 7: „Womit kennzeichnet sich jede litterarische décadence? Damit, dass das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt. Das Wort wird souverain und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen – das Ganze ist kein Ganzes mehr. Aber das ist das Gleichniss für jeden Stil der décadence: jedes Mal Anarchie der Atome, Disgregation des Willens, ‚Freiheit des Individuums‘, moralisch geredet, – zu einer politischen Theorie erweitert ‚gleiche Rechte für Alle‘. Das Leben, die gleiche Lebendigkeit, die Vibration und Exuberanz des Lebens in die kleinsten Gebilde zurückgedrängt, der Rest arm an Leben. Überall Lähmung, Mühsal, Erstarrung oder Feindschaft und Chaos: beides immer mehr in die Augen springend, in je höhere Formen der Organisation man aufsteigt. Das Ganze lebt überhaupt nicht mehr: es ist zusammengesetzt, gerechnet, künstlich, ein Artefakt.“ Man vergleiche die Passage mit den erstaunlichen Aussagen zum römischen Kaiserreich bei Hegel, PhW, S. 716: „Die Individuen [im römischen Kaiserreich] waren durchaus gleich […]. Bei dieser Gleichheit der Bürger aber existiert die Tyrannei dauernd; ja der Despotismus ist es, der die Gleichheit einführt. Diese erhält auch die Bestimmung der Freiheit, aber nur der abstraktesten und der des Privatrechts. […] Der lebendige Staatskörper und die römische Gesinnung, die als Seele in ihm lebte, ist nun auf die Vereinzelung des toten Privatrechts zurückgebracht. […] Wie, wenn der physische Körper verwest, jeder Punkt ein eigenes Leben für sich gewinnt, welches aber nur das elende Leben der Würmer ist, so hat sich hier der Staatsorganismus in die Atome der Privatpersonen aufgelöst. Solcher Zustand ist jetzt das römische Leben […]. Der politische Körper ist ein faulender Leichnam, der voller stinkender Würmer ist, und diese Würmer sind die Privatpersonen.“ Zu Nietzsche und Spengler vgl. Grutzmacher 1931; Thirring 1947; Zumbini 1976; Farrenkopf 1992/93; Ottmann 1994; Dannhauser 1995; Stiegler 1999; Zumbini 1999; Merlio 2004; Janensch 2006; Moretti 2009; Csejtei/ Juhász 2013, Gagliardi 2015. Spengler, U, S. 202 (Aph. VII 40). Ebd., S. 201 (Aph. VII 39). Ebd., S. 202 (Aph. VII 40).
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Spenglers Quellen „Erst die Großstadt erzeugt Wünsche, die keinen Trieb (Habenwollen, Stärkerseinwollen) hinter sich haben: panem et circenses.“87 „Der Wille zur Macht [ändert sich] vom reinen Sichdurchsetzen des Tieres über die starke Durchgeistigung des menschlichen Willens zum rein intellektuellen, der in Zahlen, Massen, Quantitäten schwelgt […].“88
Insoweit bedeutet die kulturelle Prägung des Willens sowohl eine Erweiterung als auch eine Einengung der Willensfreiheit im Vergleich zu der des Tieres, ist dieses doch einerseits in ungleich stärkerem Maß als der Mensch von den Notwendigkeiten des Überlebens und der Arterhaltung geprägt, andererseits aber (kaum) durch soziale Zwänge und Konventionen beengt, welche sich beim Menschen sogar als stärker als der Überlebenstrieb erweisen können. Dies erklärt auch, wieso die Entstehung eines intellektuellen Willens neben dem ursprünglichen, tierischen vitalen Willen89 diesen oft völlig zu verdrängen vermag: „,Wille‘ ist inneres Schicksal. Der Einzelne hat den Willen seiner Rasse, seiner Gattung, seiner Zeit, seiner Art.“90 Da natürlich die Entwicklung der einzelnen Kulturen und Zivilisationen, welche von Spengler ja als Kollektivorganismen aufgefaßt werden, ihrerseits auch den Gesetzen des Lebendigen unterliegen, formt sich für den Menschen also neben den auf den Willen einwirkenden Bedingungen der direkten natürlichen Umwelt auch ein zweites Gerüst in Form des kulturellen Rahmens. Gleichzeitig beschränken Kultur und Zivilisation aber auch den inneren Handlungsspielraum des Menschen. In einer Zeit kultureller Dekadenz auf der einen Seite, hoher technischer Perfektion auf der anderen ist natürlich der Wille zur Kreativität in eine ganz andere Bahn gelenkt als in Zeiten klassischen Kunstschaffens. So urteilt Spengler über seine eigene Zeit: „Die Gegenwart ist eine zivilisierte, keine kultivierte Zeit. Damit scheidet eine ganze Reihe von Lebensinhalten als unmöglich aus. Man kann das bedauern und dies Bedauern in eine pessimistische Philosophie und Lyrik kleiden […], aber man kann es nicht ändern. […] Wir sind zivilisierte Menschen, nicht Menschen der Gotik und des Rokoko; wir haben mit den harten und kalten Tatsachen eines späten Lebens zu rechnen, dessen Parallele nicht im perikleischen Athen, sondern im cäsarischen Rom liegt. Von einer großen Malerei und Musik wird für den westeuropäischen Menschen nicht mehr die Rede sein. […] Ihm sind nur noch extensive Möglichkeiten geblieben.“ (UdA, S. 55–56)91 87 88 89
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Ebd., S. 202 (Aph. VII 41). Ebd., S. 202 (Aph. VII 42). Spengler, U, S. 203 (Aph. VII 47): „Ich unterscheide vitalen und intellektuellen Willen: schöpferischen, instinktiven, traumhaft sicheren Drang und (jenen oft überlagernd, umfassend, pressend) zielbewußtes Streben.“ Ebd., S. 203 (Aph. VII 44). Vgl. ähnlich UdA, S. 62: „Ein Jahrhundert rein extensiver Wirksamkeit unter Ausschluß hoher künstlerischer und metaphysischer Produktion […] ist eine Zeit des Niedergangs. Gewiß. Aber wir haben diese Zeit nicht gewählt. Wir können es nicht ändern, daß wir als Menschen des beginnenden Winters der vollen Zivilisation […] geboren sind. Es hängt
5 Hegel, Spengler und das Problem der Willensfreiheit
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Liest man diese Zukunftsvision parallel zur Hegeldeutung eines Kojève, wähnt man sich fast im selben Buch. So führt Kojève zu Hegels Endstaat aus: „Il n’y a plus d’histoire, l’avenir y est un passé qui a déjà été; la vie est donc purement biologique. […] La fin de l’Histoire est la mort de l’Homme proprement dit. Après cette mort il reste: 1. des corps vivants ayant forme humaine, mais privés d’Esprit, c’est-à-dire de Temps ou de puissance créatrice; et 2. un esprit qui existe empiriquement, mais sous la forme d’une réalite inorganique […] [gemeint ist der Staat].“92
Es handelt sich hierbei übrigens um eine Sichtweise, die in ihrem fast lebensfeindlichem Pessimismus die Zeitgenossen tief geprägt hat und bis heute wirksam ist, denken wir etwa an Sedlmayrs These vom „Verlust der Mitte“93 in der modernen Kunst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts oder Thomas Mann, der sich nach einer ersten Phase der Zustimmung zwar von Spengler abwandte und seine Darstellung der Zivilisation ironisierte,94 indem er sie als einen wünschenswerten Zustand der Bequemlichkeit darstellte,95 diese Sichtweise aber nach dem Untergang Deutschlands 1945 bald aufgeben sollte und angesichts der Katastrophe nun auch selbst das Ende der Kunst akzeptierte, denken wir an seine autobiographische Stilisierung als „letzten bürgerlichen Künstler“.96 Auch in sowohl Hegelianisch wie Spenglerianisch klingenden Passagen etwa des „Doktor Faustus“ klingt fatalistische Niedergangsstimmung mit, welche zudem nicht unwesentlich von Adorno geprägt war, der Thomas Mann die nötigen musikalischen Fachinformationen zur Niederschrift seines Werkes lieferte und selber zu Spengler ein keineswegs ablehnendes Verhältnis hatte.97 So ist im „Doktor Faustus“ zu lesen: „Droht nicht die Produktion auszugehen? Und was an Ernstzunehmendem noch zu Papier kommt, zeugt von Mühsal und Unlust. […] Wo Werk sich nicht mehr mit
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alles davon ab, daß man sich diese Lage, dies Schicksal klar macht und begreift, daß man sich darüber belügen, aber nicht hinwegsetzen kann.“ Zur Ästhetik Spenglers vgl. u. a. Parent 1981; Kaiserreiner 1994. Kojève 1947, S. 387–388. Sedlmayr 1949. Zum Verhältnis Thomas Mann und Oswald Spengler vgl. Ottmann 1994; Koopmann 1999; Beßlich 2002; Beßlich 2005; Beßlich 2005. Mann 1961, S. 165 (Brief vom 5. Juli 1919) an Gustav Blume: „Man muß sich kontemplativ stimmen, auch fatalistisch heiter, Spengler lesen und verstehen, daß der Sieg EnglandAmerikas die Civilisierung, Rationalisierung, Utilarisierung des Abendlandes, die das Schicksal jeder alternden Kultur ist, besiegelt und beendigt … Was nun kommt, ist die angelsächsische Weltherrschaft, d. h. die vollendete Civilisation. Warum nicht? Es wird sich ganz komfortabel unter ihr leben lassen.“ Zum Thema Thomas Mann und Kulturdekadenz im Zusammenhang mit Wagner und Nietzsche vgl. u. a. Wisskirchen 1991; Vaget 1996; Schröder-Augustin 1998; Borchmeyer 1998; Rohrmoser 2005. Adorno 1950/1955.
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Spenglers Quellen Echtheit verträgt, wie will einer arbeiten? […] Das Meisterwerk, das in sich ruhende Gebilde, gehört der traditionellen Kunst an, die emanzipierte verneint es.“98
5.7
Weltgeist und Leben
Es ist also keineswegs ein gewundener Pfad, der von Hegel zu Spengler fuhrt, sondern eine nahezu gerade Linie, die von der Rechtfertigung des preußischen Vernunftstaats als Selbstverwirklichung des Weltgeistes bis hin zur Lehre von seinem Untergang in der Geschichtsphilosophie Spenglers99 reicht. Doch hiermit ist die Entwicklung keineswegs am Ende, bedenkt man, daß nicht nur LeviStrauss in direkter Nachfolge dieser Überlegungen, wenn auch in gewisser Weise in ahistorischer Rückkehr zu den Positionen Hegels, ein Zeitalter der „Nachgeschichte“ kommen wähnte,100 welches dann in unserer Zeit von Fukuyama und zahlreichen anderen Geschichtsdenken popularisiert worden ist.101 Ähnliches ist auch von Hegels Theorie der schrittweisen Selbstverwirklichung der Freiheit in Form der Evolution des in der Weltgeschichte inkarnierten Weltgeists zu sagen. Da die Herausbildung säkularisierter, zunehmend rationaler Machtstaaten im 19. Jahrhundert nicht nur dem Einzelnen bislang nie dagewesene Beteiligungs- und Entfaltungsmöglichkeiten brachte, sondern ganz notwendigerweise im Kampf um Dominanz und Monopol gezwungenermaßen auch eine Serie blutigster Kriege provozierte, welche sozusagen in einer negativen Transzendenz der Freiheit dem Einzelnen schwerste Belastung und unwürdigsten Tod bescherten, wurde die Gültigkeit einer positiven Einschätzung dieser bei Hegel ja erst begonnenen Entwicklung zunehmend problematisch, ohne daß die zugrundeliegenden Feststellungen sich darum als ungültig erwiesen.102 Zwar mag immer noch daran festgehalten werden, daß das Allgemeine erst durch die Erkenntnis des Bewußtseins konstruiert wird, daß sich also in der Wahrnehmung des Allgemeinen letztlich nur das eigene Selbst-Bewußtsein widerspiegelt und somit die Identität von Objekt und Subjekt erfaßt. Doch muß eingesehen werden, daß die in diesem Prozeß beschlossene zunehmende Rationalisierung und Abstrahierung des Individuums wie des Staates und der 98
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Mann 1947/1985, S. 239–240. S. ähnl. S. 244: „Seit die Kultur vom Kultus abgefallen ist und aus sich selber einen gemacht hat, ist sie denn auch nichts anderes mehr als ein Abfall, und alle Welt ist ihrer nach bloßen fünfhundert Jahren […] müd und satt […].“ Zur Spengler-Rezeption in der modernen Geschichtswissenschaft vgl. u. a. Müller 1963; Frigg 1968; Koopmann 1980; Bouveresse 1983; Mockel 1998; Conte 2006. Vgl. Levi-Strauss 1962, S. 292. Fukuyama 1992/2006. Ähnl. letztlich, wenn auch manchmal unter umgekehrten Vorzeichen, Huntington 1996; Mazower 1998; Hardt/Negri 2000; Hertz 2001; Emmott 2003. Vgl. ähnl. Collingwood 1946.
5 Hegel, Spengler und das Problem der Willensfreiheit
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Zivilisation letztlich nicht zu Harmonie und Freiheit geführt haben, sondern nach dem kulturellen Hohepunkt des 17. und 18. Jahrhunderts einerseits zu unmenschlichster Bürokratie, andererseits zum Rückfall des vergeistigten Menschen in niedrigste und irrationalste Triebe, welche man zwar hegelianisch als „Allgemeinheit“ bezeichnen und das auf sie gerichtete Wollen als ungültig und unvereinbar mit dem „echten“ freien Willen erklären kann, deren Existenz aber nichts weniger als real ist und deren im 19. Jahrhundert noch nahe scheinende Eindämmung sich heute als Fiktion erweist. Dies bedeutet, daß die Entfaltung von Staat und Individuum und Formulierungen wie die, „daß die ganze Weltgeschichte nichts ist als die Verwirklichung des Geistes und damit die Entwickelung des Begriffs der Freiheit, und daß der Staat die weltliche Verwirklichung der Freiheit ist“,103 angesichts der Kolonial-, Bürger-, Klassen-, Rassen- und Weltkriege des 20. Jahrhunderts eine moralisch recht zweifelhafte Konnotation erhalten. Hegels These von der kontinuierlichen Weiterentwicklung des Weltgeistes durch seine Inkarnation in verschiedenen Volksgeistern, welche, jeweils auf den Schultern des vorhergehenden stehend, jedesmal die Freiheit ein Stück weitertreiben und vom Orient über die Antike bis zum Christentum einen stufenweisen Aufstieg sichern,104 ist angesichts des heutigen Stands der Erforschung außereuropäischer Hochkulturen, die zu Hegels Zeiten noch in den Kinderschuhen steckte, nicht mehr haltbar.105 Die Vermutung, die Gesamtgeschichte entwickle sich gemäß einer wie auch immer gearteten Tendenz zur Perfektion linear und entkomme daher dem Lebenszyklus der Natur,106 entspricht nicht den Tatsachen der Weltgeschichte. Fundamentale Erfindungen frühester Kulturen sind von ihren Nachfolgern oft gänzlich ignoriert worden, während auf anderen Gebieten wichtige Erkenntnisse gewonnen wurden, die danach ebenso spurlos ausgelöscht wurden und heute nur dem Geschichtsforscher bekannt sind. Das Rad war den Maya unbekannt, und doch war ihr Kalender dem antiken überlegen. Die Kultur des klassischen Indien ist in vieler Hinsicht oft primitiver als die der Harappa-Kultur, und doch übertrifft die Komplexität ihrer Philosophie sowohl ihre Vorgänger als auch viele ihrer Nachfolger und erweist sich erst jetzt als nahezu ebenbürtig mit der abendländischen 103 104
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Hegel, PhW, S. 937–938. Ebd., S. 46–47: „Der besondere Volksgeist ist der Vergänglichkeit unterworfen, geht unter, verliert die Bedeutung für die Weltgeschichte, hört auf, der Träger des höchsten Begriffs zu sein, den der Geist von sich gefaßt hat. Denn jedesmal das Volk ist an der Zeit und das regierende, das den höchsten Begriff des Geistes gefaßt hat.“ Hierzu bereits Barth 1890, S. 20. Hegel, PhW, S. 48: „Die Wiederbelebung in der Natur ist nur die Wiederholung eines und desselben; es ist die langweilige Geschichte mit immer demselben Kreislauf. Unter der Sonne geschieht nichts Neues. Aber mit der Sonne des Geistes ist es anders. Deren Gang, Bewegung ist nicht eine Selbstwiederholung, sondern das wechselnde Ansehen, das der Geist sich in immer andern Gebilden macht, ist wesentlich Fortschreiten.“
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Spenglers Quellen
Metaphysik, zu deren Entwicklung sie allerdings nicht das mindeste beigetragen hat.107 Der technische Fortschritt des Abendlands mag eine nur allzu kurze, ohnehin rein materielle Blütezeit sein und offenbart seine Fragilität und damit das Risiko eines beispiellosen Niederganges jeden Tag mehr, der im Fall der Römischen Republik eine schlagende Parallele findet;108 und an zivilisatorischer Raffinesse und intellektueller Aufgeschlossenheit überragt die europäische Zivilisation die von Hegel als „orientalische Despotien“ mißverstandenen hochentwickelten Endstufen der babylonischen Kultur, des chinesischen HanReiches, der indischen Gupta-Zeit, des ägyptischen Neuen Reichs und des Fatimidenkalifats erst seit knapp 150 Jahren. Die unbestrittene Entwicklung des Weltgeists zur Befreiung des Individuums, zur Säkularisierung der Religion und zur Rationalisierung des Staates muß daher nicht mehr als ein linearer, sondern vielmehr ein in jeder Kultur sich wiederholender Prozeß interpretiert, also sozusagen von der Gesamtmenschheit in die Einzelkulturen zurückverlegt werden. Letztlich handelt es sich hierbei nur um eine kurzfristige geistige Entfaltung, welche im Endeffekt die zersetzenden Keime des Untergangs der Menschlichkeit sät, liegt doch für die vergangenen Kulturen reichlich Belegmaterial für den Ausgang der Entwicklung vor, dessen erste bedrohliche Symptome sich uns schon während der Jahrhundertwende mehr als deutlich gezeigt hatten, und bald in die Katastrophe zweier Weltkriege, einen 50jährigen Kalten Krieg und eine zunehmend krisenhafte Jetztzeit münden sollten. Verfolgt man die über hundertjährige Entwicklung, die bruchlos linear vom napoleonischen bis zum faschistischen Rußlandfeldzug und vom britischen über den sowjetischen zum amerikanischen Afghanistan-Feldzug die tragische und absurde Wiederholung eines immerwährenden Kampfes immer perfektionierterer Machtstaaten um die Welthegemonie umschreibt, kann die Hegel’sche Feststellung, „[…] daß die Weltgeschichte dieser Entwicklungsgang [i. e. der sich verwirklichenden Idee der Freiheit] und das wirkliche Werden des Geistes ist, unter dem wechselnden Schauspiele ihrer Geschichten“, und daß „dies […] die wahrhafte Theodicee, die Rechtfertigung Gottes in der Geschichte [ist]“,109 fast nur naiv wirken, und es ist nicht erstaunlich, wenn etwa Hubert Kiesewetter seine Untersuchung zur Kontinuität der Hegel’schen Geschichtsphilosophie provokativ mit „Von Hegel zu Hitler“ betitelt hat,110 und Popper sich in seiner Schrift „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ sogar in die Beschimpfung Hegels als des „Bindeglieds zwischen dem platonischen und dem modernen
107 108 109 110
Man vergleiche einführend Dasgupta 1922. Vgl. jetzt Engels 2014a. Hegel, PhW, S. 938. Kiesewetter 1974.
5 Hegel, Spengler und das Problem der Willensfreiheit
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Faschismus“ hineinsteigerte.111 Ähnlich urteilt auch Jähnig über Hegels Kunstphilosophie: „Fragwürdig ist diese Philosophie dann nicht mehr im Sinne einer Kritik an der inneren Stimmigkeit des ‚Systems‘ oder der Nachprüfung seiner ‚Spekulationen‘, sondern im Sinne einer Beunruhigung über die Herkunft dessen, was sich zwar als ‚wirklich‘, aber damit zugleich als bedrohlich herausgestellt hat.“112
Roger Chartier definiert die moderne Geschichtswissenschaft daher durch die bewußte Abkehr von Totalitätsansprüchen: Moderne Kulturgeschichte sei „Absage an Hegel“.113 Dies ist aber gerade in Anbetracht der Aufhebung Hegels – Aufhebung wieder im dialektischen Sinn – durch Spenglers Geschichtsphilosophie, in welcher die wesentlichen Züge der „Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte“ sowohl mit der Realität des 20. Jahrhunderts als auch dem Stand der modernen Geschichtsforschung verbunden wurden, eine vermessene Unterschätzung der Tragweite und Relevanz des Hegel’schen Werks. Indem Spengler nun der Zwangsläufigkeit der Entwicklung einer jeden Großgesellschaft über die schrittweise Selbstentfaltung der Freiheit in der Kultur bis hin zu ihrer zunehmenden Selbstaufhebung in der Zivilisation nachgezeichnet und hiermit sowohl der Hegel’schen linearen Grundannahme recht gegeben wie auch auf ihre obligatorische Verbindung mit dem Prinzip des Lebendigen hingewiesen hat, welches als Folge des Wachsens auch das Vergehen setzt, hat er auch der Problematik der Willensfreiheit einige neue Aspekte hinzugefügt. Gerade die Freiheit des Willens ist es, die über die schrittweise Realisierung der Selbstentfaltung des Menschen notwendigerweise zur Aufrichtung immer neuer Barrieren führt, welche ihrerseits die menschliche Freiheit nach kurzem Höhepunkt zunehmend beschränken und den Menschen sowohl vom geistigen wie auch vom materiellen Umfeld her in die Tragik des unentrinnbaren Aufstiegs und Niedergangs der einzelnen Kulturen verstricken. Der lineargesetzliche Fortschritt des abstrakten Geists in der Kulturentwicklung impliziert letztlich durch seine Einwirkung auf das lebensgesetzliche naturhafte Substrat die Umformung seiner eigenen Auswirkung auf die Entwicklung der menschlichen Freiheit von der Geraden zu einer Kurve, die schließlich kreisförmig an den Ausgangspunkt zurückführt. Der Weltgeist würde sich also nicht geradlinig entwickeln, sondern vielmehr bei jeder Kultur im Kampf gegen die Naturhaftigkeit des Daseins neu zu wirken beginnen, in reiner Geistigkeit blühen und in der Aporie der Lebensunverträglichkeit des nackten Individualismus vergehen, ohne nachfolgenden Kulturen wenig mehr als einen oft
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112 113
Popper 1958, S. 47. Zur Kritik gerade an einer vorschnellen Amalgamierung des platonischen mit dem Hegel’schen Staatsdenken vgl. aber Maihofer 1966/1973, bes. S. 372– 373. Jähnig 1965, S. 166. Chartier 1992.
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Spenglers Quellen
fragmentarischen Stil- und Fragmentenschatz zu hinterlassen, dessen Interpretation ausgehend von einem neuen „Volksgeist“ ohnehin fehlerhaft sein muß. Wenn es Vittorio Hösle m.E. daher überzeugend gelungen ist, die Grundlagen der idealistischen Philosophie mit einer notwendigerweise zyklischen Interpretation der Philosophiegeschichte zu verbinden, muß dasselbe Ansinnen auch für die Weltgeschichte an sich möglich sein,114 in welcher wir einen ständig wiederkehrenden Prozeß einer Entbindung des Einzelnen aus den erdrückenden Zwängen der Gesellschaft erblicken können, welche selbst schrittweise dem jeweiligen Fortschritt angepaßt wird, bis diese Freiheit letztlich zur Negierung ihrer selbst wird und unweigerlich zur Sehnsucht nach Untergang, Primitivität und Neubeginn führen muß. Zweifelhaft an Hegel ist also nicht die Interpretation aller weltgeschichtlichen Tatsachen als metaphysische Notwendigkeit, sondern der Glaube, daß diese Notwendigkeit letztlich für den Einzelnen vorteilhaft ist. Zweifelhaft ist nicht die Entwicklung einer jeden Kultur zur maximalen Entfaltung der Freiheit des Individuums, sondern die Einschätzung dieser Freiheit als eines erstrebenswerten menschlichen Guts. Was daher die Wertung dieses evolutiven Prozesses angeht, sind wir heute von Hegels Optimismus weit entfernt. Angesichts der Melancholie, die sich hinter jedem Satz Spenglers verbirgt und sein unerfülltes Verlangen spiegelt, in eine Zeit zurückzukehren, wo Kreativität und Kunstschaffen nicht durch Intellekt und Analysegeist bereits im Kern erdrückt werden, wie auch angesichts des übersteigerten Hegel’schen Zukunftsoptimismus, welcher in der Gegenwart nur ein zu überbrückendes Etwas auf dem Weg zur Auflösung des Seins im Geist sieht,115 ist es daher vielleicht nicht die schlechteste Geisteshaltung, zwar nicht die Evidenz der Tatsachen zu negieren oder Hegels wie Spenglers Vorhersagen gering zu achten, aber nicht etwa das Ideale nur im Vergangenen oder im Zukünftigen zu suchen, sondern eine jede historische Epoche – auch unsere eigene – nur aus sich selbst heraus zu würdigen und sich somit dem Verdikt Rankes anzuschließen: „Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem Eigenen selbst.“116
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Hösle 1984. Hegel, EW, § 259, 54–55: „Die Gegenwart ist nur dadurch, daß die Vergangenheit nicht ist; umgekehrt hat das Sein des Jetzt die Bestimmung, nicht zu sein, und das Nichtsein seines Seins ist die Zukunft […]. Nur die Gegenwart ist, das Vor und Nach ist nicht; aber die konkrete Gegenwart ist das Resultat der Vergangenheit, und sie ist trächtig von der Zukunft. Die wahrhafte Gegenwart ist somit die Ewigkeit.“ von Ranke 1854/1971, S. 69–70. Zu Ranke und Hegel vgl. Richtscheid 1937/38.
6
Spenglers Entwurf einer neuen Philosophiegeschichte
6.1
Einleitung
Trotz des berühmt-berüchtigten Diktums „Jede echte Geschichtsschreibung ist Philosophie – oder bloße Ameisenarbeit“ wird in Historiker- wie Philosophenkreisen gerne übersehen,1 daß sich Spengler, ganz im Gegensatz etwa zu Toynbee,2 wesentlich als Metaphysiker empfand, wie ja schon seine Dissertation zu Heraklit3 und seine Beschäftigung mit den „Urfragen“ zeigen, und daher darum bemüht war, nicht nur aus der Analyse empirischer historischer Fakten geschichtsmorphologische Synthesen zu ziehen, welche eine Vorhersage künftiger Tendenzen ermöglichen sollten, sondern auch aus den thetischen Grundvoraussetzungen seiner lebensphilosophischen Basis apriorische Erkenntnisse bezüglich des Idealverlaufs der Entwicklung einer Kultur zu gewinnen, um somit die Krisenzeit der Gegenwart zu erklären.4 Aus diesem Grunde konnte Spengler sich nicht auf die gesellschaftliche oder politische Evolution beschränken, sondern sah sich genötigt, auch die Entwicklung der Geistesgeschichte und somit vor allem der Philosophiegeschichte als aus ihren metaphysischen Grundannahmen ableitbar zu demonstrieren, um seinem System eine gesamtgeschichtliche Gültigkeit zu verschaffen. So heißt es im „Untergang des Abendlandes“ bezeichnenderweise: „Es gibt keine Philosophie überhaupt: Jede Kultur besitzt ihre eigne; sie ist ein Teil ihres symbolischen Gesamtausdrucks und bildet mit ihren Problemstellungen und Denkmethoden eine geistige Ornamentik in strenger Verwandtschaft zu derjenigen der Architektur und bildenden Kunst.“ (UdA, S. 467)
Wie aber bestimmt Spengler den eigenen historischen Standpunkt, um der von ihm so dezidiert vertretenen Zeitgebundenheit und damit Relativität einer jeglichen metaphysischen Aussage zu entgehen, welche bis heute für Fachphilosophen ein Hauptgrund ist, Spengler als Systemdenker geflissentlich zu ignorieren, da ihm – zu Unrecht – die metaphysischen Lücken der Lebensphilosophen unterstellt werden?5 Und inwieweit kommt seinen Ideen in 1 2 3 4 5
UdA, S. 57. Vgl. Kissinger 1950. Abgedruckt in RuA 1–47. Hierzu etwa Engels 2007a (Kapitel 12 in vorliegendem Band). Man denke etwa an Dennett 1996, S. 24: „Dualism [...] and Vitalism (the view that living things contain some special physical but equally mysterious stuff – élan vital – have been relegated to the trash heap of history.“
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Spenglers Quellen
strenger Hinsicht auch heute noch systemtheoretische Validität zu, etwa in Anbetracht des Versuchs der Konstruktion eines allumfassenden zyklischdialektischen Modells der Philosophiegeschichte durch Hösle? Diesen und anderen Fragen nach dem historischen Ort von Spenglers Philosophiegeschichte und somit letztlich den metaphysischen Begründungen seines geschichtsphilosophischen Systems wollen wir in den folgenden Überlegungen nachgehen.
6.2
Spenglers Philosophiegeschichte
Während Spenglers Grundansichten über Entstehen, Wachsen, Blühen und Vergehen der einzelnen Kulturen hier nicht weiter ausgeführt zu werden brauchen, scheint es nicht unangebracht, kurz die Leitlinien seiner Einordnung der Philosophiegeschichte in dieses biologistische Schema zu skizzieren.6 Hierbei ist vorweg zu betonen, daß Spenglers Quellen – außerhalb der von ihm zitierten,7 vor allem spezialwissenschaftlichen Titel – nur sehr schwer auszumachen sind, da ohne Archivstudien weitgehend unklar bleiben muß, welche sonstigen Texte Spengler während seines Studiums der Naturwissenschaften und Philosophie in München, Berlin und Halle je intensiv gelesen hat, zumal Spengler selbst sich bezüglich der Frage nach seinen Quellen ganz bewußt ausschweigt, um seine eigene prophetische Begabung hervorzuheben: „Ich habe auf diese Weise mehr als fünfzig Vorgänger kennengelernt, darunter Lamprecht, Dilthey und sogar Bergson. Inzwischen werden es weit über hundert geworden sein. Hätte ich auch nur die Hälfte davon lesen wollen, so wäre ich noch heute noch nicht zu Ende.“8
Man könnte hier etwa im Einzelnen auf den bestimmenden Einfluß von Wilhelm Windelband verweisen, dessen zahlreiche Werke zur antiken wie neuzeitlichen Philosophiegeschichte Spengler nachweislich bekannt waren und schon der Anlage entsprechend auch einige Grundgedanken Spenglers vorwegnehmen;9 6
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Vgl. hierzu v.a. die von Spengler dem „Untergang des Abendlandes“ beigegebenen tabellarischen Übersichtstafeln. Vgl. zu den Quellen Collingwood 1927; Sorokin 1951; Schoeps 1955; Zumbini 1999; Zumbini 1994. Oswald Spengler, Brief vom 18.9.1921 an Oskar Beck, Bayrische Staatsbibliothek, Abt. für Handschriften und Seltene Drucke, Nachlaß Spengler, Ana 533, Schachtel 71, Nr. 27, ined. Vgl. z.B. Windelband 1894, S. 5: „Auch dem allgemeinen Entwickelungsgange der antiken Philosophie darf man eine typische Bedeutung insofern zuschreiben, als dieselbe zuerst mit unbefangenem Mute sich der Erkenntnis der Außenwelt zuwendet und, dabei gescheitert, auf die Betrachtung der Innenwelt sich zurückzieht, um von da aus mit erneuter Kraft das Begreifen des Weltalls zu versuchen; und selbst die Schlußwendung, mit welcher das antike Denken den gesamten Apparat seiner begrifflichen Erkenntnis in
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ähnlich kann vermutet werden, daß Spengler Schriften wie Reichlin-Meldeggs „Parallelismus der alten und neuen Philosophie“ bekannt waren.10 Der Gedanke einer grundsätzlichen Symmetrie antiker und abendländischer Philosophie ist also keineswegs neu, und die Vermutung, daß Staaten und Kulturen in ihrer Einzelentwicklung zyklischen oder biologistischen Gesetzen unterworfen sind, geht bis weit in die Antike zurück.11 Originell an Spengler aber ist freilich die der Absicht (nicht der Durchführung) nach konsequente Übertragung der morphologischen Methode auf die gesamte, und nicht nur antike und abendländische Philosophiegeschichte. Für Spengler ist die Philosophiegeschichte somit ebenso sehr Ausdruck ihrer jeweiligen Epoche wie alle anderen zeitgenössischen Äußerungen von Kunst, Religion und Politik: „Aus der mächtigen Frühreligion heiliger Kreise entwickeln sich in den frühen Städten Scholastik und Mystik, in dem wachsenden Gewirr von Gassen und Plätzen Reformation, Philosophie und weltliche Gelehrsamkeit, in den Steinmassen der späten Großstädte Aufklärung und Irreligion.“ (UdA, S. 901)
Die Geburt einer jeden Philosophie ist somit untrennbar verbunden mit der Entstehung eines neuen Gottes- und Weltgefühls, welches jedem einzelnen Kulturraum eigen ist und die Inhalte, wenn auch nicht die Formen seiner späteren Entwicklung zutiefst beeinflußt.12 Dementsprechend beginnt die Philosophiegeschichte in einer Phase des „Frühlings“ mit der ersten Verarbeitung dieses beängstigenden neuen Weltgefühls, welches noch ganz unkritisch als überpersönliches Einheitsgefühl empfunden, mit dem Gottesgedanken gleichgesetzt wird und zur Entstehung erster sakraler Texte führt, wie dem griechischen Mythos, den frühchristlichen wie den mandäischen oder gnostischen Schriften, oder schließlich den abendländischen Helden- und Heiligensagen (UdA, S. 26, 468, 917–918). Hierauf folgt eine früheste metaphysische Gestaltung des neuen Weltbildes in einer durch Mystik wie Scholastik komplementär geprägten Phase, welche durch Denker wie Hesiod, die
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den Dienst des sittlich-religiösen Bedürfnisses gestellt hat, ist von charakteristischem und mehr als historischem Wert.“ Windelband stellt sich allerdings gegen eine Parallelisierung mit der modernen Philosophie: „Die typische Bedeutung der antiken Philosophie ist mehrfach übertrieben worden, wenn man die verschiedenen Phasen der neueren Philosophie und deren einzelne Persönlichkeiten in genaue Analogie zu den Erscheinungen des Altertums setzen wollte.“ Vgl. von Reichlin-Meldegg 1865. S. ähnl. Helfferich 1862; Hermann 1863. Vgl. hierzu ausschnitthaft Engels 2009b, S. 859–894. Vgl. UdA, S.467: „Die antike und faustische Kultur haben nichts weniger wie die indische und chinesische ihre eigne Art, und zwar werden ihre großen Fragen alle am Anfang gestellt. Es gibt kein modernes Problem, das nicht schon die Gotik gesehen und in Form gebracht hätte. Es gibt kein hellenistisches, das nicht in den altorphischen Tempellehren zuerst aufgetaucht sein muß.“
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patristischen und neuplatonischen Denker und die mittelalterlichen Scholastiker wie Thomas von Aquin, Duns Scotus oder Meister Eckart geprägt ist (UdA, S. 647, 917–918). Auf diesen als „Frühling“ apostrophierten Beginn der Philosophiegeschichte folgt der „Sommer“, der durch wachsenden Rationalismus und kritisches Selbstbewußtsein charakterisiert ist. Typisch ist hier etwa das Denken der Reformation, welches Spengler in Orphik, Nestorianismus und Monophysitismus sowie in Erneuerern wie Hus, Savonarola oder Luther verwirklicht sieht, die zwar letztlich den Menschen aus seinen religiösen Zwängen befreien, diesen aber gleichzeitig der Vereinsamung angesichts der kosmischen Idee ausliefern (UdA, S. 922–926).13 Hierauf folgt daher der Beginn einer rein philosophischen Fassung des Weltgefühls, welche Theologie durch Metaphysik ersetzt, wesentlich durch einen Gegensatz zwischen idealistischen und realistischen Systemen geprägt ist und den Vorsokratikern, der Literatur des 6. / 7. Jahrhunderts und schließlich Galilei, Bacon, Descartes und Leibniz entspricht (UdA, S. 132–133, 468, 905, 928). Eng hiermit verbunden ist dann die Herausbildung der mechanistischen Weltsicht und der Mathematik und somit die Deutung der Zahl als Abbild und Inbegriff des Denkbaren, so etwa bei Pythagoras oder Descartes, Pascal und Newton (UdA, S. 469), und schließlich der Puritanismus als rationalistisch-mystische Verarmung echten religiösen Empfindens, etwa bei den Pythagoreern, im frühen Islam oder bei den englischen Puritanern und den französischen Jansenisten, bei denen an die Stelle gefühlter Gotteserkenntnis die erlebte Begriffswelt tritt (UdA, S. 930–934). Der „Herbst“ des Denkens kennzeichnet sich dann durch großstädtische Intelligenz und strenggeistige Gestaltungskraft, wie sie sich zunächst in der Aufklärung mit ihrem Allmachtsglauben an die Kraft des Verstands und der Vernunft manifestieren und durch die Sophisten, einschließlich Sokrates, die Mu’taziliten, die englischen Sensualisten und die französischen Enzyklopädisten repräsentiert werden (UdA, S. 935, 939–940, 942). Hier findet auch das mathematische Denken seinen Höhepunkt – Spengler verweist auf Archytas oder Euler –, und so mündet diese Phase in die großen abschließenden Systeme, die jeweils von der Idee des „Lebendigen“ bzw. „Natürlichen“ oder des „Rationalen“ ausgehen und somit die Gegensatzpaare Platon und Aristoteles, Alfarabi und Avicenna, und schließlich Goethe und Kant bedingen, denen der deutsche Idealismus beigeordnet wird (UdA, S. 63, 68, 124, 207, 397–398, 468). Der „Winter“ der Philosophie ist durch die zunehmende Problematisierung des Lebens an sich in den weltstädtischen Gesellschaften gekennzeichnet und bewirkt somit eine verstärkte Abwendung des Denkens von der Metaphysik und hin zu rein ethisch-praktischen Themen (UdA, S. 63, 470–479).14 Typisch ist hier 13 14
Vgl. auch PuS, S. 38–39. Vgl. auch Spenglers „Urfragen“, wo vielmehr ein Gegensatz zwischen Denken und Ding, Vernunft und Materialismus, also etwa Kant und Haeckel, postuliert wird (S. 61); ein
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zum einen der Materialismus mit seiner Wissenschaftsgläubigkeit und seiner Verherrlichung des Nutzens, wie etwa bei den Kynikern, den islamischen „Lauteren Brüdern“ und Denkern wie Comte, Darwin oder Marx; zum anderen aber gewinnen, komplementär zu diesem rein positivistischen Zugang, auch erkenntnistheoretische Skepsis wie nihilistischer Pessimismus oder lebensphilosophischer Vitalismus breiten Einfluß und lassen sich bei Epikur, Schopenhauer und Nietzsche nachweisen.15 Selbst die Entwicklung der Mathematik gerät an ihr Ende – Spengler verweist auf Euklid und Archimedes, Alchwarizmi und Albiruni, Gauß und Riemann –, während Philosophie zunehmend durch Philosophiegeschichte und rein abstrakte Fachwissenschaft verdrängt wird, wie etwa in den vier großen Philosophenschulen des Hellenismus, den Schulen von Baghdad und Basra, und den „Schulphilosophen“ des 20. Jahrhunderts (UdA, S. 179, 943), denen dann, in der Endzivilisation, nur noch eine oberflächliche und von Aberglauben überwucherte Traditionsvermittlung folgt (UdA, S. 943–946).
6.3
Zwischen Ästhetizismus und Relativismus
Nachdem wir also in aller Kürze den Idealverlauf der Philosophiegeschichte im Geschichtsbild Spenglers umrissen haben, gilt es nun, den erkenntnistheoretischen Standpunkt Spenglers zu diskutieren oder, anders gesagt, zu eruieren, welchen Sinn Spengler dem Ablauf der Philosophiegeschichte überhaupt unterlegt, da wir nur auf diese Weise erkennen können, welchen Allgemeingültigkeitsanspruch Spengler notgedrungen selbst erheben kann. In dieser Beziehung lassen sich vor allem zwei Argumentationsstränge herausarbeiten. Zum einen wird Spengler, wie allgemein bekannt ist, nicht müde zu betonen, daß jede Philosophie nicht nur ausschließlich Ausdruck ihrer und nur ihrer Zeit ist, sondern gleichzeitig auch keinerlei Anspruch auf übergeordnete Wahrheit erheben darf, bzw. dieser Anspruch zwar zum Wesen der Philosophie gehört, sub specie aeternitatis allerdings eher Aufschluß über die morphologische Verfassung der jeweiligen Zeitumstände gibt, als Allgemeingültiges formuliert: „[...] der systematische Philosoph bewegt sich, was die Dauer seiner Ergebnisse betrifft, in einem schweren Irrtum. Er übersieht die Tatsache, daß jeder Gedanke in
15
Gegensatzdenken, das sich auch in „Preußentum und Sozialismus“ (s. Anm. 14) wiederfindet, wo englischer Sensualismus und „preußischer“ Idealismus als die beiden großen Schulen der Gegenwart bezeichnet werden (S. 42). Zu Nietzsche dann auch Spengler, UdA, S. 403, 443–446, 473; Oswald Spengler: Nietzsche und sein Jahrhundert. Rede, gehalten am 15. Oktober 1924, dem 80. Geburtstage Nietzsches, in: RuA, S. 110–124, hier 121–122.
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Spenglers Quellen einer geschichtlichen Welt lebt und damit das allgemeine Schicksal der Vergänglichkeit teilt.[...] Aber Frage und Antwort sind hier eins, und jede große Frage, der das leidenschaftliche Verlangen nach einer ganz bestimmten Antwort schon zugrunde liegt, hat lediglich die Bedeutung eines Lebenssymbols. Es gibt keine ewigen Wahrheiten. Jede Philosophie ist ein Ausdruck ihrer und nur ihrer Zeit [...], sobald von wirklicher Philosophie und nicht von irgendwelchen akademischen Belanglosigkeiten [...] die Rede sein soll.“ (UdA, S. 57)
Somit muß auch der Wert einer Philosophie wesentlich ästhetischer Art sein, wie Spengler oft genug klarmacht (z.B. UdA, S. 58). Hierbei handelt es sich deutlich um einen Rückgriff auf das im Historismus verwurzelte Postulat des philosophiegeschichtlichen Relativismus, welcher in aller Schärfe zuerst etwa durch den von Spengler im „Untergang“ nicht explizit erwähnten, wenn auch ansonsten inhaltlich wohlbekannten Wilhelm Dilthey vertreten wurde, der apodiktisch erklärte: „Was bedingt ist durch geschichtliche Verhältnisse, ist auch in seinem Werte relativ“,16 und damit ebenfalls das biographische Argument geltend machte:17 „Diese Oberpriester irgendeiner Metaphysik verkennen gänzlich den subjektiven, zeitlich und örtlich bedingten Ursprung eines jeden metaphysischen Systems. Denn alles, was in der seelischen Verfassung der Person gegründet ist, sei es Religion oder Kunst oder Metaphysik, spreizt sich vergeblich mit dem Anspruch auf objektive Gültigkeit. Die Weltgeschichte als Weltgericht erweist jedes metaphysische System als relativ, vorübergehend, vergänglich.“18
Hiervon ausgehend stellt sich aber zum anderen die Frage, inwieweit Spengler, für den die Einzelphilosophie keine über ihre Zeit hinausreichende metaphysische Bedeutung hat, für sein eigenes System trotzdem einen solchen, soeben prinzipiell abgelehnten überzeitlichen und allgemeingültigen Wahrheitsanspruch erheben kann. Anders gesagt: Wie entgeht Spengler dem klassischen Paradoxon des Relativismus und Skeptizismus, das sich durch die Aussage „Es gibt keine Wahrheit“ in eine logische Falle verstrickt, gründet der Ausdruck doch auf der Annahme seines Gegenteils und hebt sich daher selbst auf?19 Einige Passagen selbst der „Urfragen“ legen natürlich den Verdacht nahe, daß Spengler sich ebenfalls in dieser Ambivalenz verfangen hat: „Der Rationalismus hat zwei Methoden des Denkens entwickelt, vom Denken und vom Objekt aus. Auf dem einen Weg kam er bis zu Kant – die Welt war formale Schöpfung des menschlichen Denkens. Im 19. Jahrhundert ist nichts Wesentliches mehr hinzugedacht worden, [alles ist] verflacht, professorenhaft übersteigert, subjektiv gefärbt. Auf dem anderen [Weg] kam man zum Materialismus Holbachs, 16 17
18 19
Dilthey 1960, S. 6. Ebd.: „Ich will beweisen, daß auch die philosophischen Systeme, so gut als die Religionen oder die Kunstwerke, eine Lebens- und Weltansicht enthalten, welche nicht im begrifflichen Denken, sondern in der Lebendigkeit der Personen, welche sie hervorbrachten, gegründet ist.“ Ebd., S. 12. Vgl. auch Mittelstraß 1976, S. 10.
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Haeckels etc. (ebenso die zwei Wege in der Antike). Man muß sich heute, da der Rationalismus abschließt und die Skepsis an der Erreichbarkeit des Ziels, der Lösung der Welträtsel zu zweifeln beginnt, klar werden, daß man keines weder als richtig noch als falsch bezeichnen kann: das Geheimnis ist unlösbar.“20
Doch ganz im Gegensatz zu den meisten Vertretern des Relativismus21 war Spengler entgegen dieser und ähnlicher Äußerungen die eigene logische wie auch philosophiehistorische Position sehr wohl bewußt, so daß er gerade diese in ein Argument für die Validität der eigenen Aussagen zu verwandeln und, ausgehend von der Teleologisierung des eigenen Denkens, die Basis für eine neue, positive Philosophie zu schaffen suchte: „Die systematische Philosophie liegt uns heute unendlich fern; die ethische ist abgeschlossen. Es bleibt noch eine dritte, dem antiken Skeptizismus entsprechende Möglichkeit innerhalb der abendländischen Geisteswelt, die, welche durch die bisher unbekannte Methode der vergleichenden historischen Morphologie bezeichnet wird. [...] Der antike Skeptizismus ist ahistorisch: er zweifelt, indem er einfach nein sagt. Der des Abendlandes muß [...] durch und durch historisch sein. [...] Die skeptische Philosophie tritt im Hellenismus als Negation der Philosophie auf – man erklärt sie für zwecklos. Wir nehmen demgegenüber die Geschichte der Philosophie als letztes ernsthaftes Thema der Philosophie an. Das ist Skepsis. Man verzichtet auf absolute Standpunkte [...]. [...] In diesem Buche liegt der Versuch vor, diese ‚unphilosophische Philosophie‘ der Zukunft [...] zu skizzieren.“ (UdA, S. 57, vgl. auch UdA, S. 481).
Wie so oft ist Spengler hier mißverständlich, indem er seinen eigenen Standpunkt als „skeptisch“ bezeichnet. Wenn er auch den antiken Skeptizismus mit dem künftigen abendländischen Skeptizismus gleichsetzt,22 ist hier doch ein gewisser Selbstwiderspruch zu vermerken, denn wenn Spengler ganz bewußt erklärt, auf absolute Standpunkte verzichten zu wollen, verlagert sich diese Absolutheit doch in den Gültigkeitsanspruch der historisch-morphologischen Methode. Bündig zusammengefaßt findet sich diese Problematik auch in Spenglers apologetischer Schrift „Pessimismus“ von 1921, wo er zwar zunächst erklärt: „Die alte Bauernregel: ‚Eines schickt sich nicht für alle‘, ist ungefähr das Gegenteil aller zünftigen Philosophie, die gerade beweisen will, daß eines sich für alles schickt, nämlich was der Verfasser gerade in seiner Ethik bewiesen hat. Ich habe mich mit vollem Bewußtsein auf die andere Seite gestellt, die des Lebens, nicht des Denkens. Die beiden naiven Standpunkte behaupten entweder, daß es irgend etwas gibt, das
20 21
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U, S. 61. Vgl. als eine bedeutende Dilthey 1960, S. 37, wo versucht wird, die eigene geschichtliche Selbstbesinnung teleologisch zu erklären, ohne daß hieraus freilich, wie bei Spengler, der über einige lebensphilosophische Allgemeinheiten hinausgehende Erkenntnisse gewonnen würden. Vgl. auch Ehrhardt 1967; Stroud 1984.
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Spenglers Quellen als Norm für alle Ewigkeit, also unabhängig von Zeit und Schicksal besteht, oder daß es das nicht gibt.“23
Doch folgt hierauf die Bestimmung seines eigenen Standpunktes, der als „Relativismus“ nur ungenügend bezeichnet ist: „Was aber hier Relativismus genannt wird, ist weder das eine noch das andere. Hier habe ich etwas Neues geschaffen; es wird gezeigt, und dazu dient die Erfahrungstatsache, daß die ‚Weltgeschichte‘ keine Einheit des Geschehens ist, sondern eine Gruppe von bis jetzt acht hohen Kulturen, deren Lebensläufe, vollkommen selbständig, aber in durchaus gleichartiger Gliederung vor uns liegen – daß jeder Betrachtende, gleichviel, ob er für das Leben oder für das Denken denkt, doch nur als Mensch seiner Zeit denkt. Damit ist einer der törichtsten Einwände abgewiesen, die gegen meine Anschauung erhoben worden sind: daß nämlich der Relativismus sich selbst widerlege. Denn es ergibt sich, daß es für jede Kultur, für jede ihrer Epochen und für jede Art von Mensch innerhalb einer Epoche eine mit ihm gesetzte und geforderte Gesamtanschauung gibt, die für diese Zeit etwas Absolutes hat. Sie ist es nur nicht in bezug auf andere Zeiten. [...] Jede lebendige Anschauung, auch die von mir vorgelegte, gehört einer einzelnen Zeit an. [...] Im Laufe der ganzen Geschichte gibt es ebensowenig ewig richtige oder ewig falsche Lehren, wie es in der Entwicklung einer Pflanze richtige und falsche Stufen gibt. Sie sind sämtlich notwendig.“24
Unter dem Deckmantel eines angeblichen Skeptizismus betreibt Spengler also durchaus eine absolute, keine relativistische Philosophie; ein Selbstwiderspruch, welcher nicht erstaunen darf, ist doch oft genug betont worden, daß Spengler in seinen Aussagen nicht immer große terminologische Geschlossenheit zeigt, sondern der Versuchung eindringlicher und autoritativer Diktion oft genug die inhaltliche Differenziertheit opfert, welche dann jedoch in anderem Kontext wieder erscheint. Dies macht auch verständlich, wieso er in einer anderen Passage das Ziel seines Unterfangens folgendermaßen umreißt: „Und hier erblicke ich nunmehr die letzte große Aufgabe abendländischer Philosophie, [...] welche durch eine jahrhundertelange Entwicklung unseres Seelentums vorbestimmt erscheint. [...] Eine umfassende Physiognomie des gesamten Daseins, eine Morphologie des Werdens aller Menschlichkeit, die auf ihrem Wege bis zu den höchsten und letzten Ideen vordringt [...]. Jede Epoche, jede große Gestalt, jede Gottheit, [...] alles was je da war und da sein wird, ist ein physiognomischer Zug von höchster Symbolik, den ein Menschenkenner in einem ganz neuen Sinne des Wortes zu deuten hat.“ (UdA, S. 207–208)
Offensichtlich geht es Spengler also nicht darum, in historistisch-relativistischer Weise jede Philosophie nur aus ihrer eigenen Zeit heraus begreifen und höchstens ästhetisch würdigen zu wollen, ohne jede absolute Maßstabsetzung, sondern durchaus darum, eine dem historischen Prozeß zugrundeliegende Gesetzmäßigkeit geistesgeschichtlicher Evolution zu skizzieren. Hierbei ist es nicht etwa die Relativität selbst, welche von Spengler dann in vermeintlich 23 24
Spengler: Pessimismus? (1921), in: RuA, S. 63–79, hier S. 68–69. Ebd, S. 70.
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logischem Selbstwiderspruch als absolutes Kriterium gesetzt würde, wie die Anspielung auf die „höchsten und letzten Ideen“ und diese »höchste Symbolik« zeigt. Ganz ähnlich postulierte ja auch Hegel in seiner Philosophiegeschichte die dialektisch-historische Verankerung und somit Legitimierung einer jeden Einzelphilosophie, ohne darum doch seinen eigenen, historisch ebenso vorherbestimmten absoluten Idealismus etwa weniger als die der Beschaffenheit des Geistes am nächsten kommende Theorie zu erachten. Zwar ist die Eindringlichkeit von Spenglers (in einer etwas zweifelhaften Lyrik verfaßten) Satz von der erhabenen Zwecklosigkeit der Geschichte, deren Geheimnis dem der Blumen am Abend gleiche, wohlbekannt (UdA, S. 557), ebenso die zutiefst vitalistische Interpretation der Welt (UdA, S. 288), die auf die Lebensphilosophie Nietzsches und Klages zurückgeht.25 Nichtsdestoweniger kann Spengler nicht ohne weiteres unter die Nihilisten oder reinen Ästhetizisten eingeordnet werden, nur weil er auf die Frage nach dem letzten „Warum“ zumindest im „Untergang“ ganz bewußt keine explizite Antwort gibt.26 Dagegen sprechen nicht nur die Kritik, die Spengler gerade von Seiten des anarchistischen27 wie des faschistischen Vitalismus28 erhielt, sondern einerseits auch die Dissertation zu Heraklit und die Wertschätzung Goethes, zwei Denker, deren dynamistisch-pantheistische Glaubenserklärungen ja auch das Motto für die „Urfragen“ und den „Untergang des Abendlandes“ lieferten, andererseits die 15jährige Beschäftigung gerade mit den „Urfragen“, welche Spengler ja explizit als „metaphysisches Buch“ (UdA, S. 557, Anm. 1) ankündigt – trotz seiner Erklärung, die Metaphysik sei seit den Tagen Kants beendet (UdA, S. 468). Wir werden versuchen, dieser Frage im folgenden über einen Umweg nachzugehen, nämlich über die Diskussion, inwieweit der Biologismus für Spengler allein treibende Kraft der Geistesgeschichte ist, oder ob sich, eng verbunden mit diesem, weitere Elemente ausmachen lassen. Hier möchte ich die These wagen, daß es vor allem die Dialektik des deutschen Idealismus ist, welche als metaphysisches Konstrukt der Spengler’schen Argumentation unterschwellig zugrunde liegt, und somit auch auf Spenglers nicht zu Ende formulierte Ontologie bezogen werden kann.
25 26
27
28
Vgl. einführend Albert 1995. Vgl. U, S. 349: „Die letzte Urfrage, die alle andren in sich schließt, das größte Warum, ist nicht zu beantworten. Das ist der Sinn des Schicksals, dessen, was sich nicht erkennen läßt. Alle Deutungen (als Sinn der Welt, Walten der Götter, usw.) sind aus der Angst geboren. [...] Die Weltgeschichte ist eine Tragödie, weil der Kulturmensch, im Unterschied zum Tier, geistig genötigt ist, Fragen zu stellen, auf die es keine Antwort gibt.“ Hier drängt sich unmittelbar der Gedanke an die Kritik Henry Millers auf; vgl. hierzu ausführlich Engels 2012 (= Kap. 16). Hierzu auch Engels 2013a (= Kap. 13).
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6.4
Spenglers Quellen
Dialektik und Weltgeist
Ganz im Gegensatz zu Kant, mit dem Spengler sich recht intensiv auch fachphilosophisch auseinandersetzt,29 und dessen Schriften er zumindest teilweise einzeln rezipierte, ist leider ungewiß, inwieweit Spenglers Kenntnis des absoluten Idealismus eventuell lediglich aus zweiter Hand stammt, existieren doch nur wenige Stellen, an denen Spengler sich explizit zu Hegel geäußert hat (UdA, S. 26, 30, 456, 468, 469, 471, 480, 611, 649, 885, 987 sowie die ersten Seiten der bereits erwähnten Schrift „Pessimismus“). Wichtig ist hier aber nicht der Nachweis unmittelbaren Zugriffs auf Hegels Schriften selbst, sondern die Wahrscheinlichkeit einer selbst durch mehrfache Vermittlung gebrochenen Kontinuität zentraler Gedanken der Hegel’schen Philosophie. Auf den ersten Blick scheinen Spengler und Hegel, was den Hauptgehalt ihrer jeweiligen Ansichten betrifft, radikal zu differieren. So betrachtete Hegel ja bekannterweise den Gang der Menschheitsgeschichte als zielgerichtete Selbstentfaltung des Weltgeists, eine Ansicht, welche von Spengler mehrfach vehement kritisiert wurde, nicht nur im „Untergang des Abendlandes“ (UdA, S. 25–26, 30), sondern auch in seinem Briefwechsel,30 während an anderen Stellen Hegel als Fortsetzer des so hoch geschätzten Goethe und – erstaunlicherweise – als direkter Vorläufer Nietzsches erscheint.31 Nichtsdestoweniger ist 29
30
31
Vgl. UdA, S. 9–10 (zu Kants Nichtberücksichtigung der biologischen Logik der Zeit), 80f. (Kritik an Kants Ansicht von Erkenntnis a posteriori und a priori in Anbetracht kultureller Differenzen), 161–165 (Kritik an Kants Verständnis der Zeit als einer mathematisch festsetzbaren Größe), 220–221. (Kritik an Kants Vorstellung vom »Raum« mit Verweis auf die Formulierung der nichteuklidischen Geometrie bei Gauß). Br, S. 116 [Brief vom 5.1.1919 an Georg Misch]: „Daß Hegel (und deshalb wohl auch Dilthey) vor seinem Bilde der Weltgeschichte den Eindruck hatte, daß hier ein Schatz von höchsten menschlichen Möglichkeiten sich ständig vermehre, eine einheitliche Aufgabe mehr und mehr erfüllt werde, ist natürlich, obwohl ich schon bei Goethe Einblicke allertiefster Skepsis finde (von ihm und seinem Urphänomen habe ich denn auch den Gedanken der selbständigen, pflanzenhaften Kulturindividuen). [...] Der Stand des Wissens um 1820 rechtfertigte noch den Glauben an etwas Absolutes ‚hinter‘ den einmaligen individuellen historischen Ereignissen. Indessen sehen wir heute Indien und China und Mexiko mit ihren erstorbenen Kulturen. Was ist von den Schöpfungen der ägyptischen Kultur in die Antike als lebendiger Geist übergangen? [...] Es ist ein rein faustisches Bedürfnis, ein überindividuelles Element anzunehmen, das sich trotz aller historischer Niedergänge einem Ziel zu bewegt.“ UdA, S. 468: „[Am Ende der Zeit des Höhepunkts der Philosophie] stehen Kant und Aristoteles.“ Hierzu Anm. 4: „Dies ist die scholastische Seite der Spätzeit; die mystische, welcher Pythagoras und Leibniz nicht fernstanden, erreicht ihren Gipfel in Plato und Goethe und hat sich von Goethe über die Romantiker, Hegel und Nietzsche fortgesetzt, während die Scholastik, die ihre Aufgaben erschöpft hatte, jenseits von Kant – und Aristoteles – zu einer Kathederphilosophie mit fachwissenschaftlichem Betrieb herabsinkt.“
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interessant zu betonen, daß sich trotz aller Linearität bereits bei Hegel Ansätze zu einem biologistischen Geschichtsverständnis finden, welches Spengler wohl näher kam, als beiden lieb gewesen sein dürfte.32 So bringt Hegel zum einen den Verlauf der gesamten Weltgeschichte mit dem Wachsen und Altern eines Menschen in Verbindung, greift also explizit auf das biologistische Grundmuster zurück: „Das erste Zeitalter also, worin wir den Geist betrachten, ist mit dem Kindesgeiste zu vergleichen. Da herrscht die sogenannte Einheit des Geistes mit der Natur, die wir in der orientalischen Welt finden. [...] Das zweite Verhältnis des Geistes ist das der Trennung, der Reflexion des Geistes in sich [...]. Dieses Verhältnis spaltet sich in zwei. Das erste ist das Jünglingsalter des Geistes [...], die griechische Welt. Das andere ist das des Mannesalters des Geistes, [...] die Römerwelt. [...] Viertens folgt dann das germanische Zeitalter, die christliche Welt. Wenn man auch hier den Geist mit dem Individuum vergleichen könnte, so würde dieses Zeitalter das Greisenalter des Geistes heißen müssen.“33
Zum andern aber lassen sich biologistische Strukturen in zyklisch wiederkehrender Weise auch in der dialektischen Entwicklung einzelner Kulturen wiederfinden, die Hegel noch mit dem Begriff der „Volksgeister“ bezeichnet:34 „Der Volksgeist ist ein natürliches Individuum; als ein solches blüht er auf, ist stark, nimmt ab und stirbt. Es liegt in der Natur der Endlichkeit, daß der beschränkte Geist vergänglich ist. Er ist lebendig und insofern wesentlich Tätigkeit […]. Ein Gegensatz ist vorhanden, sofern die Wirklichkeit seinem Begriffe noch nicht gemäß […] ist. Sobald aber der Geist sich seine Objektivität in seinem Leben gegeben hat, […] so ist er […] zum Genusse seiner selbst gekommen, der nicht mehr Tätigkeit, der ein widerstandsloses Ergehen seiner durch sich selbst ist. In die Periode, wo der Geist noch tätig ist, fällt die schönste Zeit, die Jugend eines Volkes […]. Ist das vollbracht, tritt die Gewohnheit des Lebens ein; und wie der Mensch an der Gewohnheit des Lebens stirbt, so auch der Volksgeist an dem Genusse seiner selbst. Wenn der Geist des Volkes seine Tätigkeit durchgesetzt hat, dann hört die Regsamkeit und das Interesse auf; das Volk lebt in dem Übergange vom Mannesalter ins Greisenalter […]. Es kann noch viel tun in Krieg und Frieden, im Innern und Äußern; es kann noch lange fortvegetieren. Es regt sich; aber diese Regsamkeit ist bloß die der besondern Interessen der Individuen, nicht mehr das Interesse des Volkes selbst. So sterben Individuen, so sterben Völker eines natürlichen Todes.“35
32 33 34 35
Vgl. Engels 2009a (= Kap. 5). Hegel 1923 (Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte), S. 136–137. Zur Konzeption des „Volksgeists“ vgl. Stocking 1996; Mährlein 2000; Großmann 2000. Hegel 1923 (Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte), S. 45–46. Zu Hegels Meinung, ein Volk könne nur eine Blütezeit erleben, woraufhin der Übergang zu einem nächsten geschehe, in dem der Weltgeist sich noch vollkommener auspräge, vgl. S. 42: „Es ist das Höchste für den Geist, sich zu wissen, sich nicht nur zur Anschauung, sondern auch zum Gedanken seiner selbst zu bringen. Dies muß und wird er auch vollbringen; aber diese Vollbringung ist zugleich sein Untergang und dieser das Hervortreten einer anderen Stufe, eines anderen Geistes. Der einzelne Volksgeist vollbringt sich, indem er den
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Spenglers Quellen
Es braucht hier kaum explizit betont zu werden, daß dies genau das Spengler’sche Credo präfiguriert, das da lautet: „Kulturen sind Organismen. Weltgeschichte ist ihre Gesamtbiographie“ (UdA, S. 140),36 und letztlich wesentlich eine zumindest teilweise Zurücknahme der Hegel’schen Dialektik in den Verlauf der einzelnen Kultur nahelegt, wie Spengler ja auch in seiner Schrift „Pessimismus“ mit implizitem Verweis auf Hegel fordert: „Aber allerdings, was das ‚Ziel der Menschheit‘ angeht, so bin ich ein gründlicher und entschiedener Pessimist. Menschheit ist für mich eine zoologische Größe. Ich sehe keinen Fortschritt, kein Ziel, keinen Weg der Menschheit, außer in den Köpfen abendländischer Fortschrittsphilister. Ich sehe nicht einmal einen Geist und noch viel weniger eine Einheit des Strebens, Fühlens und Verstehens in dieser bloßen Bevölkerungsmasse. Eine sinnvolle Richtung des Lebens auf ein Ziel, eine Einheit der Seele, des Willens und Erlebens sehe ich nur in der Geschichte der einzelnen Kulturen.“ (RuA, S. 73–74)
Und auch Spengler konstruiert, im Ansatz gar nicht so anders als Hegel, sein System auf der Grundannahme einer gewissen Gegensätzlichkeit zwischen Leben und Geist, wobei die Entwicklung des Letzteren zur Klärung der zunächst religiös und dann philosophisch verklausulierten Lebensfragen überhaupt erst den Menschen in das Abenteuer der Hochkultur stürzt, bevor dieser sich, angesichts der immer bedrückenderen Anhäufung von Wissen und der zunehmenden sterilen Entfremdung vom Leben selbst, seines letzten Vertrauens in die Lösbarkeit der Frage nach dem Sinn persönlicher Individualität beraubt sieht und sich allmählich in die religiös verbrämten Hoffnungen und Ideale der archaischen Frühzeit flüchtet (UdA, S. 570–571). Geist und Leben werden also als metaphysische Polaritäten erfaßt, deren Zusammenstoß Tragik wie Größe der Weltgeschichte ausmacht. Die ontologischen Konsequenzen dieser Dualität zwischen Natur und Geist (ich vermeide bewußt den mit dem absoluten Idealismus unvereinbaren Begriff des Dualismus),37 welche die Tragik des an beiden Kategorien teilhabenden individuellen Geists provoziert, hat Spengler zwar nicht explizit ausgemalt, aber immerhin einerseits den individuellen Geist aus den Instinkten des Raubtiers abgeleitet, also auf eine vitalistische Basis zurückgeführt, andererseits aber auch die lebensfeindliche Grundhaltung des absoluten Geists herausgearbeitet. Auch hier mag der Vergleich mit Hegel helfen, die Bedingungen des Spengler’schen
36
37
Übergang zu dem Prinzip eines anderen Volkes macht, und so ergibt sich ein Fortgehen, Entstehen, Ablösen der Prinzipien der Völker.“ Vgl. auch die These in UdA, S. 144: „Jede Kultur […] hat ihre Kindheit, ihre Jugend, ihre Männlichkeit und ihr Greisentum.“ Auch Spengler hat den Begriff zu recht vermieden, indem er erklärte (U, S. 46): „Dualistisch ist die ganze Welt und sind alle Versuche, in ihr Wesen einzudringen. Das beruht auf der Tatsache, daß das Wesen alles Freibeweglichen die Spannung zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos ist, und jedes Bild der Welt existiert ja nur für ein bewegliches Wesen.“
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Denkens besser zu verstehen. Bedeutsam ist nämlich, daß die beiden letzten Hegel-Zitate eine recht ambivalente Stellung auch des „preußischen Staatsphilosophen“ zur tatsächlichen Bedeutsamkeit des Geistes für das Leben des Individuums nahelegen und auf die weitere Problematik der Beziehung zwischen Natur und Geist verweisen.38 Das Diktum von der List des Weltgeists und seiner Nichtbeachtung der Einzelinteressen ist wohlbekannt, äußert Hegel doch: „Dabei, daß einzelne Individuen gekränkt worden sind, kann die Vernunft nicht stehen bleiben; besondere Zwecke verlieren sich in dem Allgemeinen.“39 Somit lassen sich paradoxerweise auch hier beide Positionen, die des Geistphilosophen Hegel und des Lebensphilosophen Spengler, auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Denn wo der eine zwar im Weltgeist die eigentliche Essenz des Seienden erblickt, der sich durch Einwirkung auf Natur und vor allem Mensch zur lebendigen Selbstentfaltung bringt, damit aber paradoxerweise für Individuen wie Völker zerstörerische Wirkung haben kann und somit im praktischen Geschichtsablauf keineswegs eine rein positiv konnotierte Größe darstellt, da lehrt der andere zwar ein pantheistisch-vitalistisches Weltbild, in dem der Geist sich vom materialistischen Instrument bloßen Überlebens zu einer anorganisch-lebensfeindlichen Macht entwickelt, andererseits aber gerade dadurch wiederum die Entstehung von Kollektiv und Kultur ermöglicht und dem Menschen die Würde gibt, sich selbst als Individuum gegen die Mächte des Chaos zu definieren, dank seines Willens, den Spengler in den „Urfragen“ als „Trieb gegen das Treiben der Welt“ definiert,40 als „Trieb von einem Mittelpunkt aus; die kleine Welt (Mikrokosmos) steht gegen die große. ist Kämpfen , .“41 – eine Formulierung, welche ganz an Hegels Wortschatz bei der Definition des Unterschieds zwischen Materie und Geist erinnert, besteht die Materie doch: „[…] als ein Außereinander und sucht ihre Einheit […]; sie strebt nach Idealität […]. Der Geist im Gegenteil ist eben dies, in sich den Mittelpunkt zu haben; er strebt auch nach dem Mittelpunkte, aber der Mittelpunkt ist er selbst in sich. […] Seine Freiheit besteht nicht in einem ruhenden Sein, sondern in einer beständigen Negation dessen, was die Freiheit aufzuheben droht.“42
Beide Systeme gerieren sich also als Monismen, räumen aber dem hiervon abgeleiteten Komplementärprinzip eine unumgehbare Rolle bei der Selbstentfaltung des obersten Prinzips ein und betonen die Tragik der Geschichte, 38 39 40
41 42
Vgl. Wandschneider 1987; Kalenberg 1997; Wandschneider 2001; Renault 2001; Frigo 2002. Hegel 1923 (Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte), S. 25. U, S. 201. Hieraus folgt für Spengler, wohl in unbewußter Opposition zu Hegel, daß es einen „Weltwillen“ nur als Metapher, keineswegs aber als Tatsache geben kann, da dieser nichts hätte, auf das er sich richten könnte. Vgl. aber auch U, S. 346 „Schicksal ist der Wille von außen, Wille ist das Schicksal von innen. Weltwille ist die Ordnung der Natur.“ U, S. 201. Hegel 1923 (Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte), S. 32–33. Zu Hegels Konzept der Materie vgl. Horstmann/ Petry 1986; Petry 1987; Kalenberg 1997.
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Spenglers Quellen
welche im Zusammenprall beider Prinzipien besteht und somit zwar Individualität ermöglicht, gleichzeitig aber auch Leiden und Untergang bewirkt. So sagt Spengler: „Eine Kultur stirbt, wenn diese Seele die volle Summe ihrer Möglichkeiten in der Gestalt von Völkern, Sprachen, Glaubenslehren, Künsten, Staaten, Wissenschaften verwirklicht hat und damit wieder ins Urseelentum zurückkehrt. Ihr lebendiges Dasein aber, jene Folge großer Epochen, die in strengem Umriß die fortschreitende Vollendung bezeichnen, ist ein tiefinnerlicher, leidenschaftlicher Kampf um die Behauptung der Idee gegen die Mächte des Chaos nach außen, gegen das Unbewußte nach innen, in das sie sich grollend zurückgezogen haben. […] Ist das Ziel erreicht und die Idee, die ganze Fülle innerer Möglichkeiten verwirklicht, so erstarrt die Kultur plötzlich, sie stirbt ab, ihr Blut gerinnt, ihre Kräfte brechen – sie wird zur Zivilisation.“ (UdA, S. 143)
6.5
Dialektik und Aufklärung
Doch beschränken die Parallelen zwischen Hegel und Spengler sich nicht allein auf den Verlauf der historischen Evolution, sondern auch auf die Motivationen der geistesgeschichtlichen Entwicklung. Freilich ist auch hier zunächst festzustellen, daß Hegel die Philosophiegeschichte in ihrem generellen Verlauf, trotz einiger Zweifel,43 generell als einen kumulativen Prozeß versteht.44 Nichtsdestoweniger finden sich auch in den „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie“ regelmäßig Bemerkungen eingestreut,45 welche, ähnlich wie im Bereich der politischen Geschichte, nicht nur die Gesamtentwicklung der Philosophie, sondern auch den Ablauf der von Hegel als „Stufen“ (miß)verstandenen großen Kulturepochen der Philosophie als dialektisch und somit letztlich zyklisch aufgebaut beschreiben. Allen voran wäre hier das berühmte Bild des „Kreises von Kreisen“ zu erwähnen, welches Hegel zufolge auch auf die Philosophiegeschichte angewandt werden sollte: „Der Geist geht in sich und macht sich zum Gegenstande; und die Richtung seines Denkens darauf gibt ihm Form und Bestimmung des Gedankens. Diesen Begriff, in dem er sich erfaßt hat und der er ist, diese seine Bildung, dies sein Sein, von neuem 43 44
45
Vgl. etwa Hegel 1801–1807/1986. Hegel 1970 (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie), S. 461: „Bis hierher ist nun der Weltgeist gekommen. Die letzte Philosophie ist das Resultat aller früheren; nichts ist verloren, alle Prinzipien sind erhalten. Diese konkrete Idee ist das Resultat der Bemühungen des Geistes durch fast 2500 Jahre [...]; seiner ernsthaftesten Arbeit, sich selbst objektiv zu werden, sich zu erkennen.“ Ähnlich heißt es auch (S. 509): „Jede Zeit hat eine andere vor ihr und ist eine Verarbeitung derselben [und] eben damit höhere Bildung.“ Allgemein zu Hegels Philosophiegeschichte S. O’Malley/ Algozin/ Weiss 1974; Düsing 1983; Heidemann/Krijnen 2007.
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von ihm abgetrennt, macht er sich wieder zum Objekte, wendet von neuem seine Tätigkeit darauf. So formiert dies Tun das vorher Formierte weiter, gibt ihm mehr Bestimmungen, macht es bestimmter in sich, ausgebildeter und tiefer. Diese Bewegung ist als konkret eine Reihe von Entwicklungen, die nicht als gerade Linie ins abstrakt Unendliche hinaus, sondern als ein Kreis, als Rückkehr in sich selbst vorgestellt werden muß. Dieser Kreis hat zur Peripherie eine große Menge von Kreisen; das Ganze ist eine große, sich in sich zurückbeugende Folge von Entwicklungen.“46
Auch sonst finden sich, bedenkt man etwa Hegels explizite Parallelisierung der hellenistischen Philosophie mit dem Denken der Aufklärung, epochenübergreifende Parallelisierungen, welche zeigen, daß Hegels Denken nicht nur linear-teleologische, sondern durchaus zyklische Strukturen zuzulassen scheint47 und selbst die zeitgenössische Inflation der Philosophiegeschichte zu Lasten der absoluten Philosophie erkannt hat.48 Betrachtet man nun unter dieser Voraussetzung den Mechanismus der philosophiegeschichtlichen Entwicklung bei Spengler, wird deutlich, daß unleugbare Parallelen zu Hegel wahrgenommen werden können. Auch Spengler, ganz im Gegensatz zu Dilthey etwa, für den die Geschichte der Philosophie eine vage an kunsthistorische Epochen angelehnte Aufreihung großer, wesentlich psychologisch verankerter Einzelentwürfe ist, glaubt ja an eine Sinnhaftigkeit der Philosophiegeschichte, ganz gemäß dem Hegel’ schen Diktum, daß „die Philosophie […] Vernunfterkenntnis [ist], die Geschichte ihrer Entwicklung [...] selbst etwas Vernünftiges, die Geschichte der Philosophie […] selbst philosophisch sein [muß].“49 Und wenn Spengler auch über den letzten Sinn seiner Zyklenlehre nur in Ansätzen reflektiert, so läßt sich doch diese argumentative Schwäche durch Berücksichtigung des absoluten Idealismus ausgleichen, da das zentrale Element der Spengler’schen Gliederung der Philosophiegeschichte, nämlich die Folge von thetischer Dogmatik (Frühling), rationalistischer Aufklärung (Sommer) und synthetischer Abschlußsysteme (Herbst), deren Ansatz dann in die als „Skepsis“ (miß)verstandene eigene 46 47
48 49
Hegel 1970 (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie), Bd. 18, S. 32–33. Vgl. ebd., Bd. 20, S. 305: „Um nun jetzt zu den philosophischen Bestrebungen anderer Völker einen Rückblick zu tun, so wenden wir uns zum Fortgang der Philosophie. Auf diese dürre Verstandesphilosophie sehen wir wieder, wie ehemals, den Skeptizismus eintreten, aber eigentlich in der Form des Idealismus, nämlich daß die Bestimmungen subjektive des Selbstbewußtseins sind. – Wir haben das Denken gesehen; jetzt sehen wir den Begriff eintreten. Das Denken ist die unbewegte Form der Einfachheit. Bei den Stoikern gilt die Bestimmtheit als gedachte. Hier in der modernen Zeit haben wir dieselbe Erscheinung, nur daß ihr das Bild oder das innere Bewußtsein der Totalität vorschwebt, der absolute Geist, den die Welt als ihre Wahrheit vor sich hat und auf dessen Begriff sie geht, – eine andere innere Grundlage, ein anderes Ansich des Geistes, das er herauszugebären bestrebt ist, aus sich und für sich, so daß es ein Begreifen desselben ist, oder mit der Gewißheit, alle Realität zu sein, die Vernunft.“ Hegel 1970 (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie), Bd. 20, S. 460. Ebd., S. 468.
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Spenglers Quellen
Position mündet, innerhalb der Philosophiegeschichte einer jeden Kultur, letztlich ganz Hegels Definition der Etappen der Philosophiegeschichte entspricht, jenen „drei Stellungen des Gedankens zur Objektivität“,50 die wesentlich dialektisch strukturiert sind: „Die Entwicklung führt es mit sich, daß sie ein Stufengang, eine Reihe weiterer Bestimmungen der Freiheit ist [...]. Die logische und noch mehr die dialektische Natur des Begriffs überhaupt, daß er sich selbst bestimmt, Bestimmungen in sich setzt und dieselben wieder aufhebt und durch dieses Aufheben selbst eine affirmative, und zwar reichere, konkretere Bestimmung gewinnt, – diese Notwendigkeit und die notwendige Reihe der reinen abstrakten Begriffsbestimmungen wird in der Logik erkannt. Hier haben wir nur dies aufzunehmen, daß jede Stufe als verschieden von der andern ihr bestimmtes eigentümliches Prinzip hat.“51
Bereits das Grundmuster der Spengler’schen Philosophiegeschichte scheint also wesentlich dialektisch ausgerichtet, und auch die jeweiligen Einzelentwicklungen folgen einem ähnlichen Muster, wie an zahlreichen Beispielen exemplifiziert werden könnte. Erwähnt werden soll hier nur Spenglers ambivalente Einschätzung der Aufklärung. Denn während das klassische biologistische Raster lediglich impliziert, daß Spengler für seine Darstellung der Entwicklung der Geistesgeschichte einer jeden Kultur jeweils einen Anfangspunkt, einen scheinbaren Höhepunkt sowie schließlich Verfallserscheinungen wie offensichtliches Ende ausmachen mußte, erstaunt doch, daß gerade den morphologisch eigentlich als Glanzpunkte philosophischer Entwicklung definierten Epochen im Einzelfall eine eher negative Beleuchtung zukommt. Zwar stehen Descartes und Leibniz, zusammen mit den Vorsokratikern, für Gipfelpunkte der „sommerlichen“ Phase der Philosophiegeschichte und entsprechen somit politisch dem Höhepunkt antiker und abendländischer Kultur, 50
51
Vgl. ebd., Bd. 18, S. 93. Hier erscheint als erste Position der Philosophiegeschichte ein „unbefangene[s] Verfahren, welches, noch ohne das Bewußtsein des Gegensatzes des Denkens in und gegen sich, den Glauben enthält, daß durch das Nachdenken die Wahrheit erkannt“ werden könne. Hierauf folgt dann (ebd., S. 106–108) die Skizze der empirischrationalistischen Phase, die in einen Skeptizismus mündet (ebd., S. 111), der selber dann gerade durch die scharfe Trennung zwischen erkennendem Subjekt und zu erkennendem Objekt und die hieraus für den Erkenntnisvorgang folgende Notwendigkeit von Denken und Wahrnehmung den Weg für eine synthetische Philosophie freimacht, welche die Einheit von erkennendem Subjekt und Absolutem vertrete (ebd., S. 165). Freilich bezieht Hegel diese Stufenfolge auf die Entwicklung von Leibniz bis Jacobi; nichtsdestoweniger finden sich in seinem Werk auch Ansätze für umfassende, mit Kulturen gleichzusetzende dialektische Entwicklungszyklen, wie etwa die Verwendung der Idee des „Volksgeists“ zeigt. Hegel 1970 (Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte), S. 148–149. Vgl. auch ebd., S. 49: „Die Entzweiung enthält, führt mit sich das Bedürfnis der Vereinigung, weil der Geist einer ist. Er ist lebendig und stark genug, die Einheit hervorzubringen. Der Gegensatz, worein der Geist mit dem niedern Prinzip tritt, der Widerspruch, führt zum höhern. [...] Dieser Prozeß, dem Geiste zu seinem Selbst, zu seinem Begriffe zu verhelfen, ist die Geschichte.“
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also Perikles und Ludwig XIV.; ganz klar aber sind es Goethe und Kant, respektive Platon und Aristoteles, denen Spengler zumindest philosophiegeschichtlich die größere Bedeutung zumißt. Dies ist recht erstaunlich, bedenkt man, daß die zeitgleichen politischen Ereignisse ganz anders gewertet werden, vollzieht sich hier doch die Wende zum 19. Jahrhundert unter dem Vorzeichen der „Auflösung der großen Form“. Ein ähnlicher Widerspruch zeigt sich im Vergleich zwischen Spenglers Einschätzung der Aufklärung, womit er so ziemlich die gesamte Philosophie des 18. Jahrhunderts bezeichnet, und seiner Deutung des 18. Jahrhunderts als Zeitalter „äußerster Vollendung einer durchgeistigten Formensprache“ (UdA, Einleitungstabellen). Wieso liegt also der Gipfelpunkt philosophischen Denkens in einem Zeitalter politischen Zerfalls klassischer Form, während vielmehr gerade das so hochgelobte 18. Jahrhundert geistesgeschichtlich durchweg negativ konnotiert wird? Sagt Spengler doch etwa: „Jede Aufklärung schreitet von einem schrankenlosen Verstandesoptimismus [...] zur unbedingten Skepsis fort. Das souveräne Wachsein, das durch [...] Menschenwerk rings von der lebendigen Natur [...] abgeschnitten ist, erkennt nichts an außer sich. Es übt Kritik an seiner vorgestellten [...] Welt, und zwar so lange, bis es das Letzte und Feinste gefunden hat, die Form der Form – sich selbst, also nichts. Damit sind die Möglichkeiten der Physik als des kritischen Weltverstehens erschöpft und der Hunger nach Metaphysik meldet sich wieder.“ (UdA, S. 1042)
– und ganz ähnlich: „Mit einem richtigen Gefühl unterscheidet der Sprachgebrauch Weisheit und Intelligenz, als frühen und späten, ländlichen und großstädtischen Zustand des Geistes, Intelligenz klingt atheistisch. Niemand würde Heraklit oder Meister Eckart eine Intelligenz nennen, aber Sokrates und Rousseau waren intelligent, nicht ‚weise‘. In dem Wort liegt etwas Wurzelloses.“ (UdA, S. 527)
Erster Ansatz zur Erklärung dieser seltsamen Abwertung der antiken wie abendländischen Aufklärungsphilosophie, die mit der Hochschätzung des platonischen wie vermeintlich Goethe’schen Idealismus kontrastiert, mag natürlich der auch sonst omnipräsente Einfluß Nietzsches sein,52 der sich bekanntlich gegen die zersetzende Einwirkung der Sophistik und vor allem der Sokratik auf den archaischen griechischen Geist gewandt hatte;53 doch während Nietzsches Einschätzung hier bestenfalls ambivalent zu nennen ist, bedenkt man seine große persönliche Bewunderung für das Denken der Aufklärung, ist evolutionsgeschichtlich die spezifische Einschätzung des Aufklärungsdenkens und seines erkenntnistheoretischen Skeptizismus im deutschen Idealismus ein weiterer und inhaltlich ergiebigerer Schlüssel zum Verständnis Spenglers. 52 53
Vgl. hierzu Grützmacher 1931; Zumbini 1976; Farrenkopf 1992/1993; Dannhauser 1995. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie: „Unsere ganze moderne Welt ist in dem Netz der alexandrinischen Kultur befangen und kennt als Ideal den mit höchsten Erkenntniskräften ausgerüsteten, im Dienste der Wissenschaft arbeitenden theoretischen Menschen, dessen Urbild und Stammvater Sokrates ist.“ Vgl. auch das Kapitel „Das Problem des Sokrates“ in Nietzsches „Götzen-Dämmerung“.
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Tatsächlich nämlich erwähnt auch Hegel, bei aller Wertschätzung Sokrates’, „die negative Seite, daß Sokrates das wankend macht, was der Vorstellung sonst fest war“,54 oder bezeichnet die Entwicklung des rationalistischen Denkens des 18. Jahrhunderts als vorwiegend negativ, was vom dialektischen Standpunkt aus auch gar nicht anders möglich war, bedeuten Rationalismus, Skeptizismus, Subjektivismus und Empirismus doch notwendigerweise stets die antithetische Antwort auf eine frühere, thetisch-dogmatische Metaphysik, die erst wieder durch die an die Antithese anschließende Synthese im berühmten dreifachen Bedeutungssinn „aufgehoben“ wird: „Gegen diese Metaphysik hat sich denn jetzt erhoben, was allgemeine Popularphilosophie, reflektierende Philosophie, Empirismus, der reflektiert, genannt werden kann [...]. Diese Grundsätze sind gerichtet gewesen gegen die jenseitige Metaphysik, gegen die Künstlichkeit der metaphysischen Zusammenstellung, gegen Gottes Assistenz [...]. Diese diesseitigen konkreten Prinzipe sind Prinzipien festen Inhalts, die sich in der gebildeten Menschenbrust vorfinden, was darin gefühlt, angeschaut, verehrt wird. Dergleichen Bestimmungen können wohl gut sein und geltend gemacht werden, wenn das Gefühl [...] gebildet ist. [...] Der gesunde Menschenverstand und das natürliche Gefühl roher Türken zum Maßstab genommen, gibt abscheuliche Grundsätze.“55
Diese Übereinstimmung Hegels und Spenglers in der Einschätzung der Philosophie des 18. Jahrhunderts als einer wesentlich antithetisch-negativ ausgerichteten Denkschule, welche zwischen den Metaphysikern der beiden einrahmenden Jahrhundertwenden steht, also zwischen Leibniz und dem Idealismus, erklärt dann aber auch die hohe Wertschätzung, welche Spengler den Gegensatzpaaren Platon / Aristoteles und Goethe / Kant zukommen läßt. Diese gelten als Abschluß philosophischen Denkens und lassen sich durchaus um Hegel erweitern,56 erinnert man sich nachstehenden Zitats, in welchem Goethe mit Hegel, der ja auch chronologisch direkter Zeitgenosse war, zusammengeführt wird: „[D]ie mystische [Philosophie der Spätzeit], welcher Pythagoras und Leibniz nicht fern standen, erreicht ihren Gipfel in Plato und Goethe und hat sich von Goethe über die Romantiker, Hegel und Nietzsche fortgesetzt, während die Scholastik, die ihre 54
55
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Hegel 1970 (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie), Bd. 18, S. 480. „Negativ“ ist hier freilich nicht wertend, sondern technisch gemeint und bezieht sich auf das verneinende Moment der Dialektik. Ebd., Bd. 20, S. 267–268. Vgl. auch ebd., 294–295: „Die französische Philosophie hat eine negative Richtung gegen alles Positive; sie ist zerstörend gegen das positiv Bestehende, gegen Religion, Gewohnheiten, Sitten, Meinungen. [...] Ihr Substantielles ist der Angriff des vernünftigen Instinkts gegen den Zustand einer Ausartung, ja allgemeinen, vollkommenen Lüge, z.B. gegen das Positive der verhölzerten Religion.“ UdA, S. 63: „Die systematische Philosophie war mit dem Ausgang des 18. Jh. vollendet. Kant hatte ihre äußersten Möglichkeiten in eine große und [...] vielfach endgültige Form gebracht. Ihr folgt wie auf Plato und Aristoteles eine spezifisch großstädtische, nicht spekulative, sondern praktische, irreligiöse, ethisch-gesellschaftliche Philosophie.“
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Aufgaben erschöpft hatte, jenseits von Kant – und Aristoteles – zu einer Kathederphilosophie mit fachwissenschaftlichem Betrieb herabsinkt.“ (UdA, S. 468)
Bedenkt man dabei die Verehrung Spenglers für Goethe und Nietzsche, die er explizit als seine beiden Lehrer bezeichnet (UdA, S. ix),57 ergibt sich hieraus übrigens zwingend die Tatsache, daß sich auch Spengler in die Reihe illustrer Vorgänger einzubinden sucht und somit indirekt zwangsläufig eine direkte historische Kontinuität zu Hegel beansprucht. Beachtet man zudem die Tatsache, daß Spengler den Nietzsche der zweiten Phase zu recht explizit unter die skeptisch-nihilistischen Denker einordnet (vgl. UdA, S. 473), deren Widerstand sich v.a. gegen die Lehrgebäude des deutschen Idealismus richtet, ließe sich in Anbetracht der oben skizzierten Filiation diese Folge von These und Antithese bis zu Spengler fortsetzen, der sich somit zumindest auf dem Gebiet der Geschichtsphilosophie als synthetischer Abschluß dieser Reihe empfunden haben mag.
6.6
Schluß
Ich habe versucht zu zeigen, daß neben der rein vitalistisch-relativistischen Lesart der Spengler’schen Geschichtsmorphologie, welche natürlich im wesentlichen sicher auch der Selbsteinschätzung des Denkers entspricht, sich seine Gedanken auch einer dialektisch-idealistischen Interpretation nicht obligatorisch entziehen; ja eine solche sogar bis zu einem gewissen Grade fördern. Nimmt man nun Spenglers Morphologie ernst und betrachtet man sie als ein zumindest im Ansatz immer noch gültiges Modell zu Erklärung und Verständnis von Geschichte, welches allerdings an einer Art philosophischem Pferdefuß leidet, eröffnet diese dialektische Lesart die Möglichkeit, die geschichtsphilosophischen und philosophiegeschichtlichen Grundaussagen des „Untergang des Abendlandes“, deren metaphysische Schwäche ja etwa von Borkenau kritisiert wurde,58 auf der Basis der Hegel’schen Metaphysik gewissermaßen neu zu begründen. Dies würde es ermöglichen, den dem System inhärenten und vor allem von philosophischer Seite üblicherweise kritisierten Selbstwiderspruch zu beseitigen, der im Wahrheitsanspruch für den Satz „Es gibt keine Wahrheit“ liegt. Ein solches Unterfangen müßte dabei freilich das Hegel’sche Postulat, daß die Selbstentfaltung des Weltgeists kumulativ, teleologisch und in der Zeit erfüllbar sei, zu überwinden suchen. Dies dürfte aber, wie ich an anderer Stelle ausführlich diskutiert habe,59 nicht schwer fallen: Aus historischer Sicht nämlich ist etwa der Anspruch, die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts stelle den 57 58 59
Vgl. Stiegler 1999; Janensch 2006 Borkenau 1995. Vgl. Tashean 1962. Engels 2010a.
112
Spenglers Quellen
Höhepunkt der allgemeinmenschlichen Selbstentfaltung des Weltgeists und somit das von Kojève bis Fukuyama vielzitierte „Ende der Geschichte“ dar,60 in Anbetracht unserer Kenntnisse außereuropäischer Geschichte einerseits und der desaströsen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts andererseits ohnehin hinfällig geworden, so daß die Annahme, „daß die ganze Weltgeschichte nichts ist als die Verwirklichung des Geistes und damit die Entwickelung des Begriffs der Freiheit, und daß der Staat die weltliche Verwirklichung der Freiheit ist“61, ebenso unfreiwillig zynisch wirkt wie die Erklärung, „die christliche, westeuropäische Welt [habe] das höchste Prinzip, das Wissen des Geistes von sich und seiner Tiefe, erreicht“.62 Zugleich hat der Spengler’sche Zugang zur Krise der abendländischen Gesellschaft als einer systemimmanenten, zyklisch sich wiederholenden Dekadenz zusehends an Glaubwürdigkeit zurückgewonnen.63 In diesem Sinne behauptet Erich Heller, daß „the history of the West since 1917 looks like the work of children clumsily filling in with lurid colors a design drawn in outlines by Oswald Spengler“;64 eine wohl nur auf den ersten Blick überzogene Feststellung, wie durch Detailstudien nachgewiesen werden kann.65 Doch auch, was die rein metaphysische Definition des Fortschritts durch die Dialektik betrifft, konnte Vittorio Hösle in Rückgriff v.a. auf Friedrich Ast, Franz Brentano, Gustav Kafka und Kurt Schilling66 nachweisen, daß ein zyklisches Modell der philosophiegeschichtlichen Selbstentfaltung des Weltgeists den Absichten Hegels sogar in größerem Maße gerecht wird als ein lineares bzw. stufenweise fortschreitendes, und daß erste Überlegungen hierzu bereits von Hegel selbst geäußert wurden.67 Die Geschichte der Philosophie erfolge dementsprechend in verschiedenen, parallelen Phasen, die jeweils einem dialektischen Muster entsprechen, welches in fünf große Zyklen zu strukturieren sei: Den Beginn bildet jedesmal eine These mit einer thetisch-objektivistischen Metaphysik, der nach der Übergangsphase eines gemäßigten Empirismus und Subjektivismus eine Antithese des radikalen Empirismus, Subjektivismus und Skeptizismus folgt. Der Gegensatz beider Strömungen, These und Antithese, hebt sich dann nach einer neuen Übergangsphase von kritischem Subjektivismus, Selbstaufhebung des Skeptizismus und subjektivem Idealismus in einer Synthese des objektiven Idealismus auf, dem bald darauf eine neue These folgt, die nicht unbedingt die letzte Synthese transzendieren und den Dialog auf eine neue Ebene heben muß, sondern genausogut auch völlig unabhängig vom Inhalt des
60 61 62 63 64 65 67
Kojève 1947; Fukuyama 1992/2006; Maurer 1965; Cooper 1984. Hegel 1970 (Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte), S. 937–938. Ebd., S. 134. Vgl. Engels 2007a (= Kap. 12). Heller 1975, S. 182. Vgl. hierzu etwa Engels 2013b/2014a. Hösle 1984.
6 Spenglers Entwurf einer neuen Philosophiegeschichte
113
vorausgehenden Zyklus entstehen kann.68 Eine Kombination dieser von Hösle vorgeschlagenen, auf Hegels Metaphysik beruhenden zyklisch-dialektischen Auslegung der Philosophiegeschichte mit Spenglers Kunst- und Gesellschaftsgeschichte würde demnach also erstmalig eine vollständige wechselseitige Integration der drei großen Bereiche menschlicher Entwicklung, nämlich Geist, Kunst und Gesellschaft, unter einer einzigen idealistischen Prämisse ermöglichen – ein gewaltiges Unterfangen, dessen Resultat freilich die angewandte Mühe vielfach entschädigen würde.69 Denn, um mit den Worten Spenglers abzuschließen, welcher die Selbstentfaltung des Hegel’schen Weltgeists in das menschliche Individuum verlegt, ist es „[...] für uns Menschen [...] etwas Gewaltiges, mit Bewußtsein das Ganze der Welt in uns aufzunehmen. Das ist ‚Geist‘, das ist Kultur. Das hebt den Kulturmenschen über das bloße Leben hinaus. Damit wird, für uns lang, für die Welt kurz, trotz der Bedeutungslosigkeit des ‚Lebens‘ für die Welt, für uns etwas Bedeutendes daraus. Der Kulturmensch, der geistige Mensch hat eine Aufgabe, einen Sinn in sich. Insofern hat er recht, seine kurze Geschichte als Weltgeschichte zu denken.“ (U, S. 350)
68
69
So finden wir denn im Laufe der Philosophiegeschichte laut Hösle als These, Antithese und Synthese jeweils die Entwicklung von Parmenides über die Sophisten zu Platon; von Aristoteles über Sextus Empiricus zum Neuplatonismus; von Thomas von Aquin über William von Ockham zu Cusanus; von Descartes über Hume zu Hegel; und von Marx und Brentano vielleicht über Nietzsche und Heidegger und die Philosophie des 20. Jahrhunderts zur Jetztzeit, die noch ihrer philosophischen Synthese harrt. Die Probleme dieser Einteilung sind offenbar, denn wenn dieser Aufbau im Einzelfall den oft widersprüchlichen und vor allem intuitiv gewonnenen Parallelisierungen Spenglers zumindest fachphilosophisch meist vorzuziehen ist, ist er jenen doch insoweit unterlegen, als das außereuropäische Denken keine Beachtung findet und eine Integration der jeweils zeitgenössischen politischen und künstlerischen Geschichte trotz Hösles expliziter Wertschätzung Toynbees und, wenn auch mit Abstrichen, Spenglers, ausbleibt. Zur Korrektur des Hösle’schen Systems durch Annahme eines voreleatischen Zyklus vgl. Engels 2011b. Vgl. hierzu Engels 2018a (= Kap. 19) und Engels 2018b (= Kap. 18).
7
Karl Marx und der Marxismus in Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“
7.1
Einleitung
Oswald Spengler und Karl Marx – selten haben zwei deutsche Geschichtsphilosophen solchermaßen antipodische Positionen bezogen, und es ist gewissermaßen eine Ironie des Schicksals, daß das Jahr 2018 nicht nur den 200. Geburtstag des letzteren feierte, sondern auch den 100. Jahrestag der Erstveröffentlichung des „Untergangs des Abendlandes“ beging. Und in der Tat: Während Karl Marx in willentlicher Umkehrung der Grundlehren seines geistigen Ziehvaters Hegel ein Weltbild vertrat, das man als materialistisch, progressistisch, teleologisch, universalistisch, optimistisch und sozialistisch bezeichnen könnte, finden wir bei Oswald Spengler nahezu in jeder Beziehung gegensätzliche Positionen vertreten, läßt sich doch sein Denken mit den Attributen vitalistisch, biologistisch, zyklisch, relativistisch, pessimistisch und elitär beschreiben.1 Und doch findet sich jenseits des Trennenden auch manches, ja sogar viel Verbindendes, und das nicht nur auf dem Feld des übermäßigen Konsums guter Zigarren: Beide Geschichtsphilosophen waren zutiefst deterministische Denker, beide versuchten auf ihre Weise, die Weltgeschichte in ihrer Gesamtheit konzeptionell zu durchdringen, beide zeigten ein ausgeprägtes Interesse auch an anderen Perioden als der eigenen Gegenwart, und beide bemühten sich, dem inneren Widerspruch zu entkommen, Geschichtsdeterminismus mit eigenem politischen Aktivismus zu verbinden. Wir wollen im folgenden versuchen, die Grundlinien der Rezeption Karl Marx’ und seines Werkes durch Oswald Spengler zu skizzieren; kein leichtes Unterfangen, bedenkt man den umfangreichen Platz jener Auseinandersetzung nicht nur in Spenglers „Untergang“, sondern auch in den von diesem abgeleiteten kleineren Untersuchungen. Im Zentrum der folgenden Überlegungen soll allerdings vor allem der „Untergang des Abendlandes“ stehen, das unbestrittene Hauptwerk Spenglers, dessen späteren Auseinandersetzungen mit Fragen der Frühgeschichte und der Anthropologie leider nur Fragment bleiben sollten. Auf eine ausführliche Darstellung der Rezeption Marx’ in den kleineren Abhandlungen und dem Briefwechsel muß leider bis auf einige allgemeine Bemerkungen im Schlußteil verzichtet werden, und zwar aus zwei Gründen: zum 1
Zur marxistischen Sicht auf Spengler vgl. etwa repräsentativ Lukács 1954.
116
Spenglers Quellen
einen aufgrund der offensichtlichen Tatsache, daß ein solches Unterfangen den Rahmen eines Aufsatzes bei weitem sprengen würde; zum anderen, weil jene Schriften, allen voran „Preußentum und Sozialismus“, gewissermaßen einer zweiten, wenn auch sich mit der ersten überschneidenden Schaffensphase Spenglers angehören, in welcher dieser sich bemühte, zunehmend auch in tagespolitischen Fragen als „praeceptor Germaniae“ wahrgenommen zu werden und somit von der eher deskriptiven Darstellungsweise des „Untergangs“ auf die (mit der vorherigen freilich eng verknüpfte) prospektive Ebene politischer Handlungsanweisung überwechselte und nicht mehr nur beschrieb, was kommen würde, sondern auch, wie es am besten zu erreichen wäre.2
2
Selbstverständlich bin ich auf den Einwand gefaßt, daß gerade „Preußentum und Sozialismus“, 1919 veröffentlicht, nicht nur früher als der 1922 publizierte zweite Band des „Untergangs des Abendlandes“ erschienen ist, sondern auch als die 1923 herausgegebene, im folgenden benutzte revidierte Fassung des ersten Bandes, so daß das oben angeführte chronologische Argument auf den ersten Blick erstaunen mag. Auf diesen Einwand wäre allerdings dreierlei zu entgegnen: Erstens betraf die Revision des ersten Bandes im wesentlichen stilistische Aspekte und ließ jedenfalls die Rolle Karl Marx’ wesentlich unverändert (mit Ausnahme der längeren Aufzählung von S. 190 der Urfassung, welche in der entsprechenden S. 180 der revidierten Fassung leicht gekürzt wurde). Zweitens verstand sich „Preußentum und Sozialismus“ dem Selbstverständnis Spenglers zufolge von Anfang an als eine Art kreativ erweiterter „Auszug“ aus dem gerade redigierten zweiten Band, um die Aussagen des ersten so rasch wie möglich in Verbindung mit den seither geschehenen Ereignissen, v.a. dem militärischen Zusammenbruch Deutschlands und der Verfestigung der Oktoberrevolution zu bringen. Und schließlich ist auch vom biographischen Verständnis her der Gedanke stark zu machen, daß „Preußentum und Sozialismus“, obwohl „schon“ 1919 erschienen, bereits ganz bewußt der zweiten Schaffensphase Spenglers angehörte, während der zweite Band des „Untergangs“, obwohl „erst“ 1922 erschienen, noch ganz in der introspektiven Grundhaltung Spenglers gedacht ist. Ohnehin war die Planung des 2. Bandes schon 1919 weit gediehen, und es „gibt nicht einen einzigen wesentlichen Begriff, der im zweiten Band eine Rolle spielt, welcher nicht im ersten, besonders in der komprimierten und bedeutsamen Einleitung, schon ausgesprochen wäre“; vgl. Koktanek 1968, S. 255.
7 Marx und Marxismus in Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“
7.2
117
Karl Marx im „Der Untergang des Abendlandes“
7.2.1 Der Marxismus als morphologisches Oberflächenphänomen Was nun Spenglers Einschätzung von Karl Marx betrifft,3 so ergibt sich diese schon fast zwangsläufig aus dem gerade Angesprochenen. Marx und die von ihm vertretene Form sozialistischen Denkens erscheinen nicht als einmalige, aus eigenem Recht bestehende Faktoren einer linearen Geistes- und Menschheitsgeschichte, sondern vielmehr als typische Symptome einer die Interessen der städtischen Unterklasse vertretenden Parteipolitik, die zur jeweils analogen Zeit eben auch in der chinesischen, der antiken oder der islamischen Geschichte hervorgetreten und in der Folge auch wieder verschwunden ist; ein damals keineswegs unüblicher Ansatz, denkt man an das von Spengler oft zitierte Werk des Althistorikers Robert von Pöhlmann zur Geschichte des Sozialismus in der antiken Welt:4 „Die politisch-soziale Theorie ist nur eine, aber eine notwendige Unterlage der Parteipolitik. Die stolze Reihe von Rousseau bis Marx hat ihr Seitenstück in der antiken von den Sophisten bis zu Platon und Zenon. In China sind die Grundzüge der entsprechenden Lehren aus der konfuzianischen und taoistischen Literatur noch zu ermitteln; es genügt, den Namen des Sozialisten Moh-ti zu nennen. In der byzantinischen und arabischen Literatur der Abbassidenzeit, wo der Radikalismus stets in strenggläubiger Fassung auftritt, nehmen sie einen breiten Raum ein und wirken als treibende Kräfte in allen Krisen des 9. Jahrhunderts; in Ägypten und Indien wird ihr Vorhandensein durch den Geist der Ereignisse zur Zeit Buddhas und der Hyksos bewiesen. Einer literarischen Fassung bedürfen sie nicht; ebenso wirksam ist die mündliche Verbreitung, die Predigt und Propaganda in Sekten und Bünden, wie sie am Ausgang puritanischer Strömungen, also im Islam und im englisch-amerikanischen Christentum ganz allgemein ist.“ (UdA, S. 1127)
Dies bedeutet nun freilich nicht, daß die Geschichten jener spätzeitlichen Sozialbewegungen allesamt vollständig gleichläufig strukturiert wären. Ganz im Gegenteil besteht Spengler darauf, daß jede menschliche Kultur durch ein ihr eigenes „Seelenbild“ geprägt ist, das selbstverständlich ebenfalls Auswirkungen auf die Formen menschlichen Miteinanders und die darauf bezügliche Theoriebildung habe. Dies betrifft nun auch den Marxismus, den Spengler, wie
3
4
Während die Literatur zu Spenglers Begriff des „preußischen Sozialismus“ recht umfassend ist (s. unten), scheint vorliegende Studie die erste zu sein, die sich explizit mit Spenglers Rezeption des Denkens Karl Marx’ auseinandersetzt. von Pöhlmann 1901/1912.
118
Spenglers Quellen
wir später noch sehen werden, regelmäßig als eine Form des „Nihilismus“ bezeichnet:5 „Wir haben drei Formen des Nihilismus vor uns, das Wort im Sinne Nietzsches gebraucht. Die Ideale von gestern, die seit Jahrhunderten herangewachsenen religiösen, künstlerischen, staatlichen Formen sind abgetan, nur daß selbst dieser letzte Akt der Kultur, ihre Selbstverneinung, noch einmal das Ursymbol ihres ganzen Daseins zum Ausdruck bringt. Der faustische Nihilist, Ibsen wie Nietzsche, Marx wie Wagner, zertrümmert die Ideale; der apollinische, Epikur wie Antisthenes und Zenon, läßt sie vor seinen Augen zerfallen; der indische zieht sich vor ihnen in sich selbst zurück.“ (UdA, S. 456)
Ebenso sehr, wie die Person Marx’ nur als quasi zufälliger biographischer Stichwortgeber des morphologisch zwangsläufig früher oder später auftretenden spätzeitlichen Sozialismus erscheint, kann Spengler Karl Marx auch kein eigenständiges, universalhistorisch bedeutsames Genie zubilligen (diese Rolle eines „kopernikanischen Denkers“ billigt Spengler sich letztlich nur selber zu6), sondern ihn lediglich als einen Ausdruck seines damaligen Zeitgeistes unter vielen anderen betrachten. Marx’ Denken gilt daher für Spengler (getreu seiner Überzeugung: „Für andere Menschen gibt es andere Wahrheiten. Für den Denker sind sie alle gültig oder keine“ (UdA, S. 34) nicht als ein „Absolutum“ innerhalb einer linearen Menschheitsgeschichte, sondern nur als ein relativer Ausdruck des europäischen Weltgefühls im 19. Jahrhundert. So wird Spengler denn auch nicht müde, Marx in die lange Reihe seiner Zeitgenossen einzuordnen und auf dessen innerliche Verwandtschaft mit ihnen hinzuweisen. Diese Verwandtschaft beruht Spengler zufolge auf der allgemeinen Absage an die Metaphysik und die Spekulation sowie auf der radikalen Hinwendung zu Utilitarismus, Ökonomie und Gesellschaftsfragen: „Die Aufmerksamkeit, welche der Stoiker dem eigenen Körper zuwendet, widmet der abendländische Denker dem Gesellschaftskörper. Es ist kein Zufall, daß aus der Schule Hegels der Sozialismus (Marx, Engels), der Anarchismus (Stirner) und die Problematik des sozialen Dramas (Hebbel) hervorgingen. Der Sozialismus ist die ins Ethische, und zwar ins Imperativische umgewandte Nationalökonomie. Solange es eine Metaphysik großen Stils gab, bis auf Kant, blieb die Nationalökonomie eine Wissenschaft. Sobald „Philosophie" gleichbedeutend mit praktischer Ethik wurde, trat sie an Stelle der Mathematik als Unterlage des Weltdenkens. Darin liegt die Bedeutung von Cousin, Bentham, Comte, Mill und Spencer.“ (UdA, S. 471)
5
6
Zum Begriff Nihilismus s. allg. Weier 1980; Vercellone 1998; Dod 2013; zur Frage, in welchem Maße man Spengler selbst als einen „Nihilisten“ bezeichnen kann, vgl. Moretti 2009. Allerdings greift hier der Vorwurf, Spenglers Selbstein- (bzw. über-)schätzung stehe im inneren Widerspruch zum Relativismus seines Systems, wesentlich zu kurz, bemüht sich Spengler doch ehrlich, seine eigene Stellung innerhalb der (europäischen) Geschichte auch morphologisch fest zu zementieren; hierzu Engels 2016c (= Kap. 6).
7 Marx und Marxismus in Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“
119
Aber es ist vor allem der Begriff des „Nihilismus“ – bei Spengler selbstverständlich stark nietzscheanisch gefärbt, betrachtet er doch Nietzsche als einen seiner wichtigsten Lehrer7 –, der als vitalistischer Verständnisschlüssel für die innere Bedeutsamkeit Marx’ und des (frühen) Marxismus stark gemacht wird. Spengler entwirft hier ein großes Tableau der systematischen Demontage der kultivierten Innerlichkeit des 18. Jahrhunderts durch das Denken der Aufklärer ebenso wie der Naturverehrer: „Innerhalb des ethischen Sozialismus in dem hier festgelegten Sinne, als der Grundstimmung der in die Steinmassen der großen Städte verschlagenen faustischen Seele, ist diese Umwertung eben jetzt im Gange. Rousseau ist der Ahnherr dieses Sozialismus. Rousseau steht neben Sokrates und Buddha, den anderen ethischen Wortführern großer Zivilisationen. Seine Ablehnung aller großen Kulturformen, aller bedeutungsvollen Konventionen, seine berühmte ‚Rückkehr zur Natur‘, sein praktischer Rationalismus lassen darüber keinen Zweifel. Jeder von ihnen hat eine tausendjährige Innerlichkeit zu Grabe getragen. Sie predigen das Evangelium der Menschlichkeit, aber es ist die Menschlichkeit des intelligenten Stadtmenschen, der die späte Stadt und mit ihr die Kultur satt hat, dessen ‚reine‘, nämlich seelenlose Vernunft nach einer Erlösung von ihr und ihrer gebietenden Form, von ihren Härten, von ihrer innerlich nicht mehr erlebten und deshalb verhaßten Symbolik sucht. Die Kultur wird dialektisch vernichtet. Lassen wir die großen Namen des 19. Jahrhunderts vorüberziehen, an die sich für uns dies mächtige Schauspiel knüpft: Schopenhauer, Hebbel, Wagner, Nietzsche, Ibsen, Strindberg, so überblicken wir das, was Nietzsche in dem fragmentarischen Vorwort zu seinem unvollendeten Hauptwerk beim Namen nannte, die Heraufkunft des Nihilismus. Sie ist keiner der großen Kulturen fremd. Sie gehört mit innerster Notwendigkeit zum Ausgang dieser mächtigen Organismen. Sokrates war Nihilist; Buddha war es. Es gibt eine ägyptische, arabische, chinesische so gut wie eine westeuropäische Entseelung des Menschlichen. Es handelt sich nicht um politische und wirtschaftliche, nicht einmal um eigentlich religiöse oder künstlerische Verwandlungen. Es handelt sich überhaupt nicht um Greifbares, nicht um Tatsachen, sondern um das Wesen einer Seele, die ihre Möglichkeiten restlos verwirklicht hat. Man wende nicht die gewaltigen Leistungen gerade des Hellenismus und der westeuropäischen Modernität ein. Sklavenwirtschaft und Maschinenindustrie, ‚Fortschritt‘ und Ataraxia, Alexandrinismus und moderne Wissenschaft, Pergamon und Bayreuth, soziale Zustände, wie sie die Politeia des Aristoteles und das Kapital von Marx voraussetzen, sind lediglich Symptome im historischen Oberflächenbilde.“ (UdA, S. 449–450)8 7
8
Zu Spengler und Nietzsche vgl. allg. Grutzmacher 1931; Thirring 1947; Zumbini 1976; Farrenkopf 1992/93; Ottmann 1994; Dannhauser 1995; Stiegler 1999; Zumbini 1999; Merlio 2004; Janensch 2006; Moretti 2009; Csejtei/ Juhász 2013, Gagliardi 2015. Vgl. ganz ähnlich S. 63: „Es ist derselbe schöpferische Lebenswille, der im Tristan schopenhauerisch verneint, im Siegfried darwinistisch bejaht wurde, den Nietzsche im Zarathustra glänzend und theatralisch formulierte, der durch den Hegelianer Marx der Anlaß einer nationalökonomischen, durch den Malthusianer Darwin der einer zoologischen Hypothese wurde, die beide gemeinsam und unvermerkt das Weltgefühl des westeuropäischen Großstädters verwandelt haben, und der von Hebbels Judith bis zu Ibsens Epilog eine Reihe tragischer Konzeptionen von gleichem Typus hervorrief, damit aber ebenfalls den Umkreis echter philosophischer Möglichkeiten erschöpft hat.“ S. auch
120
Spenglers Quellen
7.2.2 Wahrheit des Marxismus und Wahrheit im Marxismus Angesichts dieses Ansatzes ist es auch verständlich, daß sich die Frage nach dem „Wahrheitsgehalt“ der marxistischen Wirtschaftslehre und der daraus abgeleiteten Geschichtsphilosophie gar nicht erst stellt, bzw. nur auf vitalistische Art durch Verweis nicht auf Gehalt, sondern Wirksamkeit historischer Erscheinungen beantworten läßt. So sagt Spengler zum einen: „Ob diese Lehren ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ sind, ist für die Welt der politischen Geschichte — das muß immer wieder betont werden — eine Frage ohne Sinn. Die ‚Widerlegung‘ etwa des Marxismus gehört in den Bereich akademischer Erörterungen oder öffentlicher Debatten, wo jeder recht hat und die andern immer unrecht. Ob sie wirksam sind; seit wann und für wie lange der Glaube, die Wirklichkeit nach einem Gedankensystem verbessern zu können, überhaupt eine Macht ist, mit der die Politik zu rechnen hat, darauf kommt es an.“ (UdA, S. 1128)
Zum anderen macht Spengler klar, daß er die verschiedenen Gesellschaftstheorien der frühen Zivilisationszeit keineswegs als Versuch einer umfassenden, holistischen Weltbeschreibung gelten lassen will, sondern nur als Ausdruck eines bestimmten Klasseninteresses, und daher zutiefst relativ, nicht nur in ihrer historischen Bedingtheit, sondern auch in ihrem geistigen Aufbau, und gleichzeitig doch wiederum typisch für eine Zeit, in welcher das „Große und Ganze“, die Harmonie der Stände und Ideen, verlorengegangen ist und dem Streit der Parteien und dem allmählichen inneren Zerfall zum Opfer fällt: „Ebenso sind alle Werttheorien, obwohl sie objektiv sein sollen, aus einem subjektiven Prinzip entwickelt, und es kann auch gar nicht anders sein. Die von Marx z. B. definiert ‚den‘ Wert so, wie es das Interesse des Handarbeiters fordert, so daß die Leistung des Erfinders und Organisators als wertlos erscheint. Aber es wäre verfehlt, sie als falsch zu bezeichnen. All diese Lehren sind richtig für ihre Anhänger und falsch für ihre Gegner, und ob man Anhänger oder Gegner wird, entscheiden nicht die Gründe, sondern das Leben.“ (UdA, S. 1164, Anm. 1)
Nun ist Spengler sich freilich bewußt, daß er mit Marx zumindest die tiefe Determiniertheit seines Geschichtsbilds teilt, und er sich daher zumindest ansatzweise mit der Frage nach der Rolle des freien Willens und der Geschichte als S. 477–478: „Und so stammt die ‚Herrenmoral‘ dieses letzten Romantikers auf einem merkwürdigen, aber für den Sinn der Zeit bezeichnenden Wege aus der Quelle aller geistigen Modernität, der Atmosphäre der englischen Maschinenindustrie. Der Machiavellismus, den Nietzsche als Renaissanceerscheinung pries und dessen Verwandtschaft mit Darwins Begriff der mimicry man nicht übersehen sollte, war tatsächlich der im ‚Kapital‘ von Marx — dem andern berühmten Jünger von Malthus — behandelte, und die Vorstufe dieses seit 1867 erscheinenden Grundbuches des politischen (nicht des ethischen) Sozialismus, die Schrift ‚Zur Kritik der politischen Ökonomie‘, erschien gleichzeitig mit Darwins Hauptwerk. Das ist die Genealogie der Herrenmoral.“
7 Marx und Marxismus in Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“
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„Lehrmeisterin“9 auseinanderzusetzen hat, um die Unterschiede beider Weltsichten zu thematisieren; eine alte Frage, welche schon bis weit in die Antike zurückgeht.10 Er verfolgt hierbei mehrere Strategien. Daher beruft er sich zum einen auf den grundlegenden Unterschied individueller freier Entscheidung und der durch kollektive Kräfte beeinflußten historischen Resultate, wobei er gerade die Person Marx’ als ein Beispiel unter vielen hervorhebt: „Der ‚freie Wille‘ ist eine innere Gewißheit. Aber was man auch wolle oder tue — was wirklich auf alle Entschlüsse erfolgt und aus ihnen folgt, jäh, überraschend, von niemand vorauszusehen, das dient einer tieferen Notwendigkeit und fügt sich für den verstehenden Blick, wenn er über das Bild des längst Vergangenen hinschweift, einer großen Ordnung ein. Und da mag man das Unergründliche als Gnade empfinden, wenn das Schicksal eines Gewollten Erfüllung war. Was haben Innocenz III., Luther, Loyola, Kalvin, Jansen, Rousseau, Marx gewollt und was ist im Strom der abendländischen Geschichte daraus geworden? War das Gnade oder Verhängnis? Hier endet jede rationalistische Zergliederung beim Widersinn.“ (UdA, S. 183–184)
Gleichzeitig kritisiert er aber auch jeglichen Versuch gerade jener oben angeführten Individuen, aus der Geschichte lernen zu wollen und diese rationale Durchdringung scheinbarer vergangener Kausalitätsketten dazu zu nutzen, die Zukunft zu verändern (wobei die Kritik zumindest an Marx hier insoweit zu kurz greift, als der von Marx beschriebene historische Prozeß ohnehin als unumkehrbar gedacht wurde): „Wer die innere Form der Geschichte in irgendeiner kausalen Folge ihrer sichtbaren Einzelereignisse sucht, wird immer, wenn er aufrichtig ist, eine Komödie von burlesker Sinnlosigkeit finden […]. Denn dieser [i.e. der pragmatische Geschichtsaspekt] hat von jeher ‚die Welt‘ beherrscht. Er hat den kleinen Ehrgeizigen Mut und Hoffnung gemacht, in sie einzugreifen. Rousseau und Marx glaubten mit dem Blick auf ihn und seine rationalistische Struktur, durch eine Theorie den ‚Lauf der Welt‘ ändern zu können.“ (UdA, S. 188)
Ein solches mechanistisches Weltverständnis greife nun aber, Spengler zufolge, insofern zu kurz, als es die historische Realität in ihrer Totalität nicht etwa als gültiges Vorbild der eigenen Lebensführung und Weisheitsfindung bewertet, sondern sie vielmehr auf den Rang eines bloßen Prozesses zurückstuft, dessen Wert gleichsam nur in seinem Resultat liegt; übrigens eine Kritik, die sich fast wie Rankes Abrechnung mit Hegels Geschichtsphilosophie liest.11 Gleichzeitig 9
10
11
Zur Geschichte als Lehrmeisterin (die Formulierung stammt aus Cic., de Orat. 2,36) vgl. Koselleck 1989; Teich/Müller 2005; Forchtner 2014; Dunsch 2015. Zum Determinismus in der Geschichte der Geschichtsphilosophie vgl. allg. die Übersicht in Engels 2015. Zu Rankes Kritik an Hegel s. v.a. die berühmte Passage aus den „Vorlesungen zur Weltgeschichte“ (1854): „Wollte man im Widerspruch mit der hier geäußerten Ansicht annehmen, dieser Fortschritt bestehe darin, daß in jeder Epoche das Leben der Menschheit sich höher potenziert, daß also jede Generation die vorhergehende vollkommen übertreffe, mithin die letzte die bevorzugte, die vorhergehenden aber nur die Träger der nachfolgenden wären, so würde das eine Ungerechtigkeit der Gottheit sein.
122
Spenglers Quellen
findet sich dieser historische Utilitarismus auch durch einen ausgeprägten sozialen Reduktionismus geprägt, der Geschichte nur als darwinistischen Kampf empfindet und nur den Erfolg, nicht aber die innere Größe oder Vornehmheit zu würdigen weiß: „Aber was Goethe einmal aussprach: ‚Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre‘, das war dem Jahrhundert von Marx und Darwin nicht mehr verständlich. Man war weit entfernt, in der Physiognomie des Vergangenen ein Schicksal abzulesen, so wenig man in der Tragödie ein reines Schicksal gestalten wollte. Der Kult des Nützlichen hat hier wie dort ein ganz andres Ziel festgelegt. Man gestaltete, um etwas zu beweisen. ‚Fragen‘ der Zeit werden ‚behandelt‘, soziale Probleme zweckmäßig ‚gelöst‘. Die Szene ist wie das Geschichtswerk ein Mittel dazu. Der Darwinismus hat, so unbewußt das geschehen sein mag, die Biologie politisch wirksam gemacht. Es ist irgendwie eine demokratische Rührigkeit in den hypothetischen Urschleim gekommen, und der Kampf der Regenwürmer um ihr Dasein erteilt den zweibeinigen Schlechtweggekommenen eine gute Lehre.“ (UdA, S. 204)
7.2.3 Zur Kritik des Marxismus Neben dieser allgemeinen relativistischen Einschätzung des Marxismus, die bereits in sich eine Verurteilung seines absoluten Wahrheitsanspruchs birgt, findet sich bei Spengler aber auch eine Reihe von Anläufen zu einer eher punktuellen Kritik. Ein erster, freilich kaum überraschender Punkt betrifft Marx’ Selbstanspruch, die Entwicklung von der Sklavenhalter- über die Feudal- bis hin zur bürgerlichen Gesellschaft bilde im wesentlichen eine gesamtmenschliche Tendenz ab, welche eben nicht nur die Entwicklung der Produktionsverhältnisse der Antike und des christlichen Europas widerspiegele, sondern eben auch auf alle anderen menschlichen Gesellschaften zutreffe. Dies ist für Spenglers auf Parallelismus, nicht Linearität bauende Kulturmorphologie natürlich ein willkommener Einstieg zur Kritik, die nicht ohne Zufall ganz der Polemik des Historismus gegenüber Hegels Geschichtsphilosophie ähnelt, an der ja ebenfalls ein ganz unbefriedigendes Verständnis der politischen Verhältnisse der außereuropäischen Hochkulturen moniert wird.12 So lesen wir:
12
Eine solche gleichsam mediatisierte Generation würde an und für sich eine Bedeutung nicht haben. Sie würde nur insofern etwas bedeuten, als sie die Stufe der nachfolgenden Generation ist und würde nicht in unmittelbarem Bezug zum Göttlichen stehen. Ich aber behaupte: jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem Eigenen selbst.“ Allg. zu Rankes Kritik der Geschichtsphilosophie s. Beiser 2011. Zur Kritik an Hegels Darstellung der außereuropäischen Hochkulturen vgl. Schulin 1958; Hulin 1979; Moura 2001.
7 Marx und Marxismus in Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“
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„Marx hat ganz recht: es [i.e. das Maschinenzeitalter] ist eine und zwar die stolzeste Schöpfung des Bürgertums, aber er, der ganz im Banne des Schemas Altertum — Mittelalter — Neuzeit denkt, hat nicht bemerkt, daß es nur das Bürgertum einer einzigen Kultur ist, von dem das Schicksal der Maschine abhängt. Solange es die Erde beherrscht, versucht jeder Nichteuropäer das Geheimnis dieser furchtbaren Waffe zu ergründen, aber innerlich lehnt er sie trotzdem ab, der Japaner und Inder wie der Russe und Araber. Es ist tief im Wesen der magischen Seele begründet, daß der Jude als Unternehmer und Ingenieur der eigentlichen Schöpfung von Maschinen aus dem Wege geht und sich auf die geschäftliche Seite ihrer Herstellung legt. Aber ebenso blickt der Russe mit Furcht und Haß auf diese Tyrannei der Räder, Drähte und Schienen, und wenn er sich heute und morgen auch der Notwendigkeit fügt, so wird er einst das alles aus seiner Erinnerung und seiner Umgebung streichen und eine ganz andere Welt um sich errichten, in der es nichts von dieser teuflischen Technik mehr gibt.“ (UdA, S. 1190, Anm. 1)
Hierbei ist es nicht einmal die besondere Einsicht in die spezifischen Verhältnisse der deutschen, sondern vielmehr der englischen Gesellschaft, welche, Spengler zufolge, dominanten Einfluß auf Marx’ Ausarbeitung seiner wirtschaftstheoretischen Thesen gehabt habe; eine Ausnahmestellung Englands, die ganz klar mit der in „Preußentum und Sozialismus“ formulierten Dichotomie englischer und deutscher Wesensart zusammenhängt:13 „Was wir heute Nationalökonomie nennen, ist aufgebaut aus lauter spezifisch englischen Voraussetzungen. Die allen andern Kulturen ganz unbekannte Maschinenindustrie steht in der Mitte, als ob das selbstverständlich wäre, und beherrscht durchaus die Begriffsbildung und die Ableitung sogenannter Gesetze, ohne daß man sich dessen bewußt wird. Das Kreditgeld in der besondern Gestalt, welche sich aus dem englischen Verhältnis von Welthandel und Exportindustrie in einem bauernlosen Lande ergeben hat, dient als Unterlage von Definitionen der Worte Kapital, Wert, Preis, Vermögen, die dann ohne weiteres auf andere Kulturstufen und Lebenskreise angewandt werden. Die Insellage Englands hat in allen ökonomischen Theorien die Auffassung der Politik und ihrer Beziehung zur Wirtschaft bestimmt. Die Schöpfer dieses Wirtschaftsbildes sind David Hume und Adam Smith. Was seitdem über sie hinaus und gegen sie geschrieben worden ist, setzt immer die kritische Anlage und Methode ihrer Systeme unbewußt voraus. Das gilt von Carey und List so gut wie von Fourier und Lassalle. Und was den größten Gegner von Adam Smith, Marx betrifft, so macht es wenig aus, ob man, ganz in der Vorstellungswelt des englischen Kapitalismus befangen, laut gegen ihn protestiert: man erkennt ihn eben damit an und will nur durch eine andre Art von Verrechnung dessen Objekten den Vorteil der Subjekte zuwenden. Es handelt sich von Smith bis Marx um die bloße
13
Zu Marx’ (und Engels’) Rezeption des spezifisch englischen Wirtschaftsdenkens, wie sie sich ja auch explizit in Engels’ „Die Lage der arbeitenden Klassen in England“ von 1845 verdeutlichte, vgl. Mönke 1965; Cornu 1967; Marcus 2015. Zu Marx’ (und Engels’) Vergleich der englischen und der deutschen Lage vgl. etwa den Brief, den Engels am 19.11.1844 an Marx richtete (MEW 27:10), S. 233: „Übrigens versteht es sich, daß ich den Sack schlage und den Esel meine, nämlich die deutsche Bourgeoisie, der ich deutlich genug sage, sie sei ebenso schlimm […], nur nicht so couragiert, so konsequent und so geschickt in der Schinderei.“
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Spenglers Quellen Selbstanalyse des wirtschaftlichen Denkens einer einzigen Kultur und zwar auf einer einzigen Stufe.“ (UdA, S. 1145–1146)
In dieser Hinsicht ist interessant, daß Spengler nicht nur die „Maschinen-kultur“ zum bloßen kulturellen Spezifikum des Abendlandes macht, sondern auch die Überzeugung stark macht, daß auch andere menschliche Hochkulturen sich in ihrem Spätstadium in einer Entwicklungsphase befanden, die Marx wohl als hochkapitalistisch ansehen würde. Spengler spielt also nicht nur die Industrialisierung als gewissermaßen charakteristische Ausprägung der abendländischen Seele als eine unter vielen Erscheinungsformen der zivilisatorischen „Moderne“ herunter, er bemüht sich auch nachzuweisen, daß auch andere Hochkulturen, wenn auch unter anderen als maschinentechnischen Voraussetzungen, dieses Spätstadium durchschritten haben, wobei hier v.a. der hochtechnisierte Hellenismus hervortritt.14 Streng genommen geht es Spengler also nicht darum, Marx zu „widerlegen“, sondern vielmehr darum, den von diesem auf die Menschheitsgeschichte bezogenen Stufengang auf die einzelnen Kulturen herunterzubrechen. Dies erinnert einmal mehr nicht ohne Grund an Spenglers Kritik an Hegel, welche letztlich insoweit irreführend ist, als Spengler (in vielem der späte Erbe des deutschen Idealismus) die diesbezüglichen historischen Vorstellungen lediglich auf die einzelnen Kulturen zu beziehen gewillt ist.15 Von dieser grundlegenden Kritik einmal abgesehen, finden wir in Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“ zunächst vor allem eine kritische Auseinandersetzung mit dem marxistischen Verständnis des Eigentums.16 Einmal mehr geht es Spengler nicht um eine wie auch immer geartete „Widerlegung“, sondern vielmehr die Relativierung Marx’. So moniert er am Besitzverständnis des Marxismus, daß jener eben nur die zeitgenössische Realität des Begriffs erfasse, wie sie für alle zivilisierten Spätzeiten typisch wäre, dieses Verständnis dann aber irrigerweise in die Vergangenheit projiziere und somit die gesellschaftliche Geschichte durch anachronistische Vorstellungen kontaminiere. Während der Erwerb und der Erhalt von „Besitz“ einstmals überlebensnotwendiges und oft durchaus tragisches „Erlebnis“ gewesen sei, handle es sich bei dem „Besitz“ im spätzivilisatorischen Sinne nur noch um ein jederzeit zu
14 15 16
Zur „Modernität“ des Hellenismus s. Demandt 1996; Engels 2017c. Zu Spenglers Hegel-Kritik s. Farrenkopf 1990; Engels 2009a (= Kap. 5). Zum Eigentumsbegriff Spenglers vgl. Spengler, UdA, S. 984, Anm. 2: „Eigentum in diesem bedeutendsten Sinne, Verwachsensein mit etwas, gibt es also weniger in bezug auf eine einzelne Person als die Geschlechterfolge, der sie angehört. Das kommt in jedem Streit innerhalb einer Bauernfamilie oder auch eines Fürstenhauses mit Gewalt zum Durchbruch; der jeweilige Herr hat den Besitz nur im Namen des Geschlechts. Daher die Ängste vor dem Tode, wenn der Erbe fehlt. Auch das Eigentum ist ein Zeitsymbol und deshalb tief mit der Ehe verwandt, die ein festes, pflanzenhaftes Verwachsensein und Sichbesitzen zweier Menschen ist, das sich zuletzt selbst in der zunehmenden Ähnlichkeit der Züge spiegelt.“
7 Marx und Marxismus in Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“
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veräußerndes, zu vertauschendes Gut, das es zum Beispiel neuzuverteilen oder sogar „abzulehnen“ gelte: „Die erbittertsten Kämpfe um das Eigentum werden nicht in den Spätzeiten der großen Kulturen und zwischen Reich und Arm um bewegliches Gut geführt, sondern hier, in den Anfängen der Pflanzenwelt. Wer mitten in einem Walde fühlt, wie der schweigende Kampf um den Boden rings um ihn vor sich geht, Tag und Nacht, ohne Gnade, den erfaßt ein Grauen vor der Tiefe dieses Triebes, der mit dem Leben beinahe eins ist. Hier gibt es jahrelanges, zähes, erbittertes Ringen, aussichtslosen Widerstand des Schwachen gegen den Mächtigen, der so lange dauert, bis auch der Sieger gebrochen ist, Tragödien, wie sie sich nur im ursprünglichsten Menschentum wiederholen, wenn ein altes Bauerngeschlecht von der Scholle, aus dem Nest getrieben oder eine Familie von adligem Stamm durch das Geld in des Wortes eigentlichster Bedeutung entwurzelt wird. Die weithin sichtbaren Kämpfe in den späten Städten haben eine ganz andere Bedeutung, denn hier, im Kommunismus jeder Art, handelt es sich nicht um das Erlebnis, sondern den Begriff des Eigentums als eines rein materiellen Mittels. Verneinung des Eigentums ist nie ein Rassetrieb – ganz im Gegenteil –, sondern der doktrinäre Protest des rein geistigen, städtischen, entwurzelten, das Pflanzenhafte verleugnenden Wachseins von Heiligen, Philosophen und Idealisten. Der mönchische Einsiedler wie der wissenschaftliche Sozialist, heiße er Moh Ti, Zenon oder Marx, verwerfen es aus demselben Grunde, die Menschen von Rasse verteidigen es aus demselben Gefühl. Auch hier stehen sich Tatsachen und Wahrheiten gegenüber. Eigentum ist Diebstahl; das ist in denkbar materialistischer Form der alte Gedanke: Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele? Der Priester gibt mit dem Eigentum etwas Gefährliches und Fremdes, der Adel sich selbst auf.“ (UdA, S. 984–985)17
Ein weiterer, grundlegender Irrtum der Marx’schen Lehre sei ihre grundlegende Unterschätzung der elitären Natur einer jeden Gesellschaft. So habe Marx sein Verständnis der „Arbeit“ wesentlich auf der körperlichen Leistung des „Arbeiters“ aufgebaut und unterschätzt, daß das tatsächliche Bestehen und Überleben der westlichen Arbeits- und Besitzverhältnisse wesentlich auf Entwicklung und Ausbau der faustischen „Technik“ beruhe und mit dieser stehe oder falle: „Jeder Strom von Dasein besteht aus einer Minderheit von Führern und einer gewaltigen Mehrheit von Geführten, jede Art von Wirtschaft also aus Führerarbeit und ausführender Arbeit. Aus der Froschperspektive von Marx und den sozialethischen Ideologen überhaupt wird nur die letzte, kleine, massenhafte sichtbar, aber sie ist nur vermöge der ersten da, und der Geist dieser Welt von Arbeit kann nur von den 17
S. ganz ähnlich auch UdA, S. 1017: „Theoretiker, die wie Rousseau und Marx von begrifflichen Idealen statt von den Tatsachen des Blutes ausgehen, haben diese ungeheure Macht innerhalb der geschichtlichen Welt [i.e. den Willen zur Vererbung der eigenen Stellung oder Macht] nicht bemerkt und ihre Wirkungen deshalb als verwerflich und reaktionär bezeichnet; aber sie sind da und zwar mit einer so nachdrücklichen Gewalt, daß auch die Symbolik der hohen Kulturen sie nur künstlich und vorübergehend überwinden kann, wie es der Übergang antiker Wahlämter in den Besitz einzelner Familien und der Nepotismus der Barockpäpste beweisen.“
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Spenglers Quellen höchsten Möglichkeiten aus erfaßt werden. Der Erfinder der Dampfmaschine ist maßgebend, nicht der Heizer. Auf das Denken kommt es an.“ (UdA, S. 1178)
Dies führt Spengler dann auch zu der Aussage, Marx habe die grundlegend schöpferische, genialische Dynamik des westlichen Wirtschaftslebens vollkommen verkannt, indem er lediglich faktische meßbare Größenordnungen als Elemente seiner wirtschaftlichen Gleichungen in Betracht ziehe, und somit unwillentlich klassizistisch und somit letztlich antik gedacht habe, nicht aber expansiv und faustisch. Dies verweist auf Spenglers grundlegende Vorstellung, auch die Geschichte der Mathematik sei kulturabhängig und, von einigen alltäglichen Grundlagen abgesehen, keineswegs von linearer Progression geprägt, sondern vielmehr von der Koexistenz verschiedener weltanschaulich bestimmter Herangehensweisen an das Phänomen der Zahl. Während die antike, „apollinische“ Mathematik daher vor allem in körperlichen, euklidischen Begriffen denke, sei die westliche, „faustische“ Mathematik durch das Denken in Funktionen und das Operieren mit Unendlichkeit und Inkommensurabilität geprägt.18 Dies treffe eben auch auf die Wirtschaft und ihr wahres Herz zu, das Geld, das sich aus faustischer Perspektive weder aus einer Edelmetallmasse, noch aus der Äquivalenz menschlicher Arbeitsleistungen herrechnen lasse, sondern das als Mittel zum Zweck weitgehend aus dem psychologischen Selbstvertrauen jener großen Wirtschaftsführer und Erfinder hervorgehe, auf deren Energie das Gedeihen und Vergehen des Westens beruhe:19 „Aber die Wirtschaft der europäisch-amerikanischen Zivilisation ist ganz im Gegenteil auf einer Arbeit aufgebaut, die einzig durch ihren inneren Rang gekennzeichnet ist, mehr als jemals in China und Ägypten, um von der Antike zu schweigen. Wir leben nicht umsonst in einer Welt wirtschaftlicher Dynamik: die Arbeit der Einzelnen wird nicht euklidisch addiert, sondern steht in funktionaler Beziehung zueinander. Die lediglich ausführende Arbeit, von der Marx allein Kenntnis nimmt, ist nichts als die Funktion einer erfindenden, anordnenden, organisierenden Arbeit, die der andern erst Sinn, relativen Wert und die Möglichkeit gibt, überhaupt getan zu werden. Die ganze Weltwirtschaft seit Erfindung der Dampfmaschine ist die Schöpfung einer ganz kleinen Zahl überlegener Köpfe, ohne deren hochwertige Arbeit alles andere nicht da wäre, aber diese Leistung ist schöpferisches Denken und kein ‚Quantum‘, und ihr Gegenwert besteht also auch nicht in einer Anzahl von Geldstücken, sondern sie ist Geld, faustisches Geld nämlich, das nicht geprägt, sondern als Wirkungszentrum gedacht wird aus seinem Leben heraus, dessen innerer Rang den Gedanken zur Bedeutung einer Tatsache erhebt. Denken in Geld erzeugt Geld: das ist das Geheimnis der Weltwirtschaft. Wenn ein Organisator großen Stils eine Million auf ein Papier schreibt, so ist sie da, denn seine Persönlichkeit als Wirtschaftszentrum bürgt für eine entsprechende Erhöhung der Wirtschaftsenergie seines Gebietes. Das und nichts anderes bedeutet für uns das Wort Kredit. Aber alle Goldstücke der Welt würden nicht ausreichen, der Tätigkeit des Handarbeiters einen Sinn und damit Geldwert zu geben, wenn mit der 18
19
Zu Spenglers Konzept der Mathematik vgl. neben den in Schröter 1922 gesammelten Kritiken jetzt auch Høyrup 2018. Hierzu auch Farrenkopf 1992 und Otte 2018.
7 Marx und Marxismus in Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“
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berühmten ‚Expropriation der Expropriateure‘ die überlegenen Fähigkeiten aus ihren Schöpfungen beseitigt und diese damit entseelt, willenlos, zu leeren Gehäusen würden. Darin ist Marx Klassizist wie Adam Smith und ein echtes Produkt des römischen Rechtsdenkens: er sieht nur die fertige Größe, nicht die Funktion. Er möchte die Produktionsmittel von denen trennen, deren Geist durch Erfindung von Methoden, Organisation von leistungsfähigen Betrieben, Eroberung von Absatzgebieten aus einem Haufen Stahl und Mauerwerk erst eine Fabrik macht, und die ausbleiben, wenn ihre Kraft keinen Spielraum findet.“ (UdA, S. 1177-1178)
Daraus geht für Spengler dann auch hervor, daß der Marxismus in letzter Instanz als utopisches System an der simplen Tatsache scheitern wird, daß zur Führung einer jeden Gesellschaft trotzdem die besten Köpfe benötigt werden und sich somit über kurz oder lang ein Ungleichgewicht herstellen wird, welches den egalitaristischen Grundanspruch Lügen strafen wird: „Gesetzt den Fall, daß Arbeiter die Führung der Werke übernähmen, so würde damit nichts geändert. Entweder sie können nichts: dann geht alles zugrunde; oder sie können etwas; dann werden sie innerlich selbst Unternehmer und denken nur noch an die Behauptung ihrer Macht. Keine Theorie schafft diese Tatsache aus der Welt; so ist das Leben.“ (UdA, S. 1178, Anm. 1)20
7.2.4 Rußland und Marx In diesem Rahmen sei schließlich aus offensichtlichen Gründen auch auf die ganz besondere Bedeutung hingewiesen, die Spenglers Beschäftigung mit dem Marxismus in Rußland zukommt. Schon vor Ausbruch der Oktoberrevolution, welche Spengler in den letzten Korrekturfahnen für den ersten Band des „Untergangs des Abendlandes“ getroffen haben muß, hatte Spengler sich brennend für russische Literatur interessiert und wie so viele Deutsche über den
20
Vgl. auch ganz ähnl. UdA, S. 1151, Anm. 2: „Die Frage des Pilatus stellt auch das Verhältnis von Wirtschaft und Wissenschaft fest. Der religiöse Mensch wird vergebens, den Katechismus in der Hand, das Treiben seiner politischen Umwelt zu bessern suchen. Sie geht ruhig ihres Weges und überläßt ihn seinen Gedanken. Der Heilige hat nur die Wahl, sich anzupassen — dann wird er Kirchenpolitiker und gewissenlos — oder sich aus der Welt zu flüchten, in die Einsiedelei, selbst ins Jenseits. Aber dasselbe wiederholt sich, nicht ohne Komik, innerhalb der städtischen Geistigkeit. Hier möchte der Philosoph, der ein ethisch-soziales System errichtet hat, das voll von abstrakter Tugend ist und allein richtig, wie sich versteht, das Wirtschaftsleben darüber aufklären, wie es sich zu verhalten und wohin es zu streben habe. Es ist immer das gleiche Schauspiel, sei das System liberal, anarchistisch oder sozialistisch und stamme es von Platon, Proudhon oder Marx. Aber auch die Wirtschaft geht unbekümmert weiter und überläßt dem Denker die Wahl, sich zurückzuziehen und seinen Jammer über diese Welt auf dem Papier auszuströmen, oder in sie als Wirtschaftspolitiker einzutreten, wo er sich entweder lächerlich macht oder alsbald seine Theorie zum Teufel schickt, um sich einen führenden Platz zu erkämpfen.“
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Spenglers Quellen
Gegensatz zwischen Dostojewski und Tolstoi reflektiert.21 Spengler war der Ansicht – sicherlich nicht zuletzt aufgrund des gewaltigen emotionalen Einflusses, den Dostojewski auf ihn ausgeübt hatte –, daß Rußland keineswegs Teil der „faustischen“ Kultur sei, sondern vielmehr eine eigenständige Kultur ausmache, welche sich allerdings gegenwärtig immer noch im Stadium der Genese befinde.22 Hierbei komme es angesichts des überwältigenden Gewichts der alternden europäischen Zivilisation, welche sich gerade in ihrer finalen, rein expansiven und technisierten Spätphase vor der allmählichen Erstarrung befinde, zu einer gewissen Überlagerung der neuen durch die alte Kultur und somit zum Risiko einer „Pseudomorphose“. Als solche bezeichnet Spengler in Anlehnung an die Mineralogie den Prozeß, der eine junge, noch „suchende“ Kultur dazu führe, sich in den zunehmend inhaltsleeren „Hohlraum“ einer alten Zivilisation einzunisten und somit scheinbar zumindest zeitweise deren äußere Formensprache, wenn auch mit radikal neuem Inhalt, zu übernehmen, wie dies neben dem russischen Beispiel auch für die „arabische“ Kultur zutreffe, welche in ganz ähnlicher Weise lange Zeit von der späten antiken Kultur dominiert worden sei.23 Unter diesem Gesichtspunkt spielen Marx und der Marxismus für Spengler durchaus eine Schlüsselrolle beim Verständnis des zeitgenössischen Rußlands, da sie zunächst natürlich ein Zankapfel sind für jene Russen, die sich emotional ganz von der eigenen Kultur ab- und der faustischen Kultur zugewandt haben und somit versuchen, ein westliches Gesellschaftsverständnis auf die sich aus einem gänzlich anderen Seelenbild ergebenden russischen Umstände zu projizieren. Hierbei ist in erster Linie Tolstoi gemeint, den Spengler als einen typisch verwestlichten Denker empfindet, der selbst in seiner christlichen Spätphase unfähig war, das echte, russische Christentum, wie es sich bei Dostojewski zeige, von innen heraus zu verstehen: „Das Christentum Tolstois war ein Mißverständnis. Er sprach von Christus und meinte Marx. Dem Christentum Dostojewskis gehört das nächste Jahrtausend.“ (UdA, S. 794)
Tolstoi steht hierbei übrigens durchaus nicht allein da; auch die Bolschewisten werden als eine Bewegung wahrgenommen, welche nicht das echte, christliche Russentum repräsentieren, sondern westliche intellektuelle und soziale Befindlichkeiten auf russischem Boden austragen und somit die Pseudomorphose unwissentlich nur vertiefen. „Tolstoi ist durchaus ein großer Verstand, ‚aufgeklärt‘ und ‚sozial gesinnt‘. Alles was er um sich sieht, nimmt die späte, großstädtische und westliche Form eines Problems an. Dostojewski weiß gar nicht, was Probleme sind. Jener ist ein Ereignis innerhalb 21 22
23
Allg. zur Dostojewski-Rezeption Spenglers und seiner Zeit s. Potapova 2016. Zur Spenglers Rußland-Bild s. Ulmen 1980; Demandt 1988; Kraus 1988; Cacciatore 2009; Merlio 2018a. Zu Spenglers „arabischen“ (oder „magischen“) Kultur s. Becker 1923; Demandt 1980, Koopmann 1980; Abbès 2014; Engels 2017c (= Kap. 9) und Engels 2020a (=Kap. 8).
7 Marx und Marxismus in Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“
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der europäischen Zivilisation. Er steht in der Mitte zwischen Peter dem Großen und dem Bolschewismus. Die russische Erde haben sie alle nicht zu Gesicht bekommen. Was sie bekämpfen, wird durch die Form, in der sie es tun, doch wieder anerkannt. Das ist nicht Apokalyptik, sondern geistige Opposition. Sein Haß gegen den Besitz ist nationalökonomischer, sein Haß gegen die Gesellschaft sozialethischer Natur; sein Haß gegen den Staat ist eine politische Theorie. Daher seine gewaltige Wirkung auf den Westen. Er gehört irgendwie zu Marx, Ibsen und Zola. Seine Werke sind nicht Evangelien, sondern späte, geistige Literatur. Dostojewski gehört zu niemand, wenn nicht zu den Aposteln des Urchristentums.“ (UdA, S. 792–793)
Freilich entgeht Spengler nicht, daß die Oktoberrevolution bei ihrer Zerschlagung westlicher Produktionsverhältnisse trotz ihres zumindest damals inhärenten Hangs zu Modernismus und Futurismus durchaus auch propagandistisch Rückgriffe auf anti-westliche Ressentiments mobilisierte, wo sich dies in anti-kapitalistische Affekte umdeuten ließ. Dies führt ihn dann im 1922 geschriebenen zweiten Band des „Untergangs“ zu der Ansicht, daß der Bolschewismus, der gerade soeben den innerrussischen Bürgerkrieg überwunden hatte, zum einen letztlich eine Chance für das Russentum sein könnte, sich von der Pseudomorphose zu befreien, zum anderen, daß der Bolschewismus selber nicht von langer Dauer sein könne und früher oder später die „wahre“ russische Seele wieder hervorbrechen würde: „Der Marxismus unter Russen beruht auf einem inbrünstigen Mißverständnis. Man hat das höhere Wirtschaftsleben des Petrinismus ertragen, aber weder geschaffen noch anerkannt. Der Russe bekämpft das Kapital nicht, sondern er begreift es nicht. Wer Dostojewski zu lesen versteht, wird hier eine junge Menschheit ahnen, für die es noch gar kein Geld gibt, nur Güter in bezug auf ein Leben, dessen Gewicht nicht auf der Wirtschaftsseite liegt. Die ‚Angst vor dem Mehrwert‘, die vor dem Kriege manchen bis zum Selbstmord getrieben hat, ist eine unverstandene literarische Verkleidung der Tatsache, daß der Gelderwerb durch Geld für das stadtlose Güterdenken ein Frevel ist, aus der werdenden russischen Religion heraus gedacht eine Sünde. So wie heute die Städte des Zarentums verfallen und der Mensch in ihnen wieder wie im Dorfe lebt, unter der Kruste des städtisch denkenden, rasch hinschwindenden Bolschewismus, so hat er sich von der westlichen Wirtschaft befreit.“ (UdA, S. 1181, Anm. 4)
7.2.5 Das Ende des Marxismus Wie ist es nun aber, Spengler zufolge, um die Zukunft der marxistischen Lehren im Westen bestellt? Zum einen ist natürlich unweigerlich, daß auch der Marxismus in absehbarer Zeit seine Rolle als öffentlich allseits diskutierte und politisch lebendig wirksame Doktrin wieder verlieren und sich zu den anderen Versatzstücken vergangenen Denkens gesellen wird, von wo aus er dann höchstens noch hervorgeholt werden könnte, um entweder von Historikern analysiert, von Politikern manipuliert oder, eines Tages, von den Denkern fremder Kulturen (fehl)adaptiert zu werden. Der Grund für dieses Verschwinden
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Spenglers Quellen
liegt dabei nicht etwa in der „Fehlerhaftigkeit“ der marxistischen Lehre – wir sahen ja bereits, daß Spengler für das Studium der Geschichte Begriffe wie „wahr“ und „falsch“ nur bedingt gelten lassen will –, sondern schlichtweg im natürlichen Erschlaffen der menschlichen Aufmerksamkeitsspanne. Und so heißt es dann prägnant und im Hinblick auf den tatsächlich zunehmend eintretenden Mangel an Interesse für die echte und ursprüngliche marxistische Theorie erschreckend hellsichtig: „Indessen, diese abstrakten Ideale besitzen eine Macht, die sich kaum über zwei Jahrhunderte — die der Parteipolitik — erstreckt. Sie werden zuletzt nicht etwa widerlegt, sondern langweilig. Rousseau ist es längst und Marx wird es in kurzem sein. Man gibt endlich nicht diese oder jene Theorie auf, sondern den Glauben an Theorien überhaupt und damit den schwärmerischen Optimismus des 18. Jahrhunderts, unzulängliche Tatsachen durch Anwendung von Begriffen verbessern zu können.“ (UdA, S. 1128–1129)
Zusammen mit dem Marxismus wird aber, Spengler zufolge, nicht nur eine Theorie unter vielen verschwinden, sondern vielmehr das Zeitalter intellektueller Gesellschaftstheorien selbst seinem Ende entgegengehen, welches im Marxismus seinen größten und letzten Ausdruck gefunden habe: „Niemand sollte sich darüber täuschen, daß das Zeitalter der Theorie auch für uns zu Ende geht. Die großen Systeme des Liberalismus und Sozialismus sind sämtlich zwischen 1760 und 1850 entstanden. Das von Marx ist heute schon fast ein Jahrhundert alt und ist das letzte geblieben. Innerlich bedeutet es mit seiner materialistischen Geschichtsauffassung die äußerste Konsequenz des Rationalismus und demnach einen Abschluß. Aber wie der Glaube an Rousseaus Menschenrechte etwa mit 1848, so hat der Glaube an ihn mit dem Weltkrieg seine Kraft verloren. Wer die Hingabe bis zum Tode, die Rousseaus Gedanken in der französischen Revolution gefunden haben, mit der Haltung der Sozialisten von 1918 vergleicht, die eine Überzeugung, welche sie nicht mehr besaßen, vor ihrer Anhängerschaft und in ihr aufrecht erhalten mußten, nicht um der Idee, sondern um der Macht willen, die davon abhängig war, der sieht auch den ferneren Weg vorgezeichnet, auf dem endlich jedes Programm fallen wird, weil es dem Kampf um die Gewalt nur noch im Wege steht.“ (UdA, S. 1129–1130)
Das Ende intellektuell fundierter Ideologien bedeutet dabei allerdings keineswegs den Beginn eines wie auch immer gearteten Stillstands der Geschichte des Westens. Vielmehr bewirkt der Wegfall dieser Form nur, daß die darunterliegenden Kräfte, instinktiv und erdverwandt, zunehmend stärker hervortreten werden und der Kampf um die Macht nunmehr auch im öffentlichen Diskurs zunehmend um ihrer selbst willen ausgetragen werden wird, wobei der Verweis auf Klassen-, Religions- oder Rasseninteressen als beliebige Versatzstücke dienen.24 Der Marxismus ist an dieser Radikalisierung des Diskurses insoweit nicht unschuldig, als er zum einen durch seine systematische Destabilisierung
24
Allg. hierzu Engels 2018.
7 Marx und Marxismus in Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“
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des bisherigen, eher patrimonialen Kapitalismus eben jene soziale Schieflage hervorbringt, die er selbst geißelt: „Die große Bewegung, welche sich der Schlagworte von Marx bedient, hat das Unternehmertum nicht von den Arbeitern, sondern beide von der Börse abhängig gemacht.“ (UdA, S. 1062, Anm. 2)
Zum anderen bewirkt die immer extremere Ausprägung der politischen Forderungen des Marxismus die Verrohung der allgemeinen Debatte und fördert den zunehmenden Kampf um der bloßen Macht willen: „Ob diese zynischen und hoffnungslosen Versuche von Landfremden herrühren wie den Hyksos oder Türken oder von Sklaven wie denen des Spartakus und Ali, ob man die Aufteilung des Besitzes fordert wie in Syrakus oder ein Buch vor sich her trägt wie das von Marx — das alles ist Oberfläche. Es ist ganz gleichgültig, welche Schlagworte in den Wind schallen, während die Türen und Schädel eingeschlagen werden. Vernichtung ist der wahre und einzige Trieb und Cäsarismus das einzige Ergebnis. Die Weltstadt, der landverzehrende Dämon, hat ihre entwurzelten und zukunftslosen Menschen in Bewegung gesetzt; sie sterben, indem sie vernichten.“ (UdA, S. 1096, Anm. 1)
Als Caesarismus25 bezeichnet Spengler einen Zwischenzustand, in dem das politische Leben einer erkaltenden Zivilisation sich zunehmend, aber noch nicht vollständig aller ideologischen Selbstbegrenzungen entledigt, um allein den Kampf um die totale Macht in das Zentrum zu stellen, der nach dem Wegfall der Parteien zunächst noch mit Geld, dann schließlich mit nackter Gewalt geführt wird und, Ironie der Geschichte, letztlich zur Rückkehr atavistischer Frühzustände inmitten einer hochentwickelten, sterbenden Zivilisation führt: „Durch das Geld vernichtet die Demokratie sich selbst, nachdem das Geld den Geist vernichtet hat. Aber eben weil alle Träume verflogen sind, daß die Wirklichkeit sich jemals durch die Gedanken irgend eines Zenon oder Marx verbessern ließe, und man gelernt hat, daß im Reiche der Wirklichkeit ein Machtwille nur durch einen andern gestürzt werden kann — das ist die große Erfahrung im Zeitalter der kämpfenden Staaten — , erwacht endlich eine tiefe Sehnsucht nach allem, was noch von alten, edlen Traditionen lebt. Man ist der Geldwirtschaft müde bis zum Ekel. Man hofft auf eine Erlösung irgendwoher, auf einen echten Ton von Ehre und Ritterlichkeit, von innerem Adel, von Entsagung und Pflicht. Und nun bricht die Zeit an, wo in der Tiefe die formvollen Mächte des Blutes wieder erwachen, die durch den Rationalismus der großen Städte verdrängt worden sind. Alles was sich an dynastischer Tradition, an altem Adel für die Zukunft aufgespart hat, an vornehmer, über das Geld erhabener Sitte, alles was in sich stark genug ist, um nach dem Worte Friedrichs des Großen Diener des Staats zu sein in harter, entsagungsvoller, sorgender Arbeit, gerade im Besitz einer schrankenlosen Gewalt, alles was sich dem Kapitalismus gegenüber als Sozialismus bezeichnet hatte, alles das wird plötzlich zum Sammelpunkt ungeheurer Lebenskräfte. Der Cäsarismus wächst auf dem Boden der Demokratie, aber seine Wurzeln reichen tief in die Untergründe des Blutes und der Tradition hinab.“ (UdA, S. 1143) 25
Allg. zum Caesarismus-Begriff Heuß 1980.
132
7.3
Spenglers Quellen
Ausblick: Sozialismus ohne Marxismus?
Die Rezeption Marx’ und des Marxismus im „Untergang des Abendlandes“ ist also überaus vielschichtig und ist wohl mit sehr wenigen Ausnahmen größtenteils auf Lektüreerlebnisse und Denkgestalten zurückzuführen, welche in die Zeit zwischen dem Beginn der Niederschrift 1911 und der Vollendung des Manuskripts 1917 zu datieren sind und somit weder von der Niederlage Deutschlands, noch von der tatsächlichen Machtübernahme einer marxistischen Partei innerhalb (oder außerhalb) des Westens, noch von der Aussicht auf einen eigenen, bestimmenden Einfluß innerhalb der deutschen Publizistik beeinflußt waren. In systematischer Weise bemüht Spengler sich, die Grundpostulate seines Denkens konsequent auf eine umfassende Neubewertung des Marxismus anzuwenden. Marx erscheint somit zum einen als nicht viel mehr denn ein typischer Vertreter einer gesellschaftskritischen Philosophie, wie sie für das Spätstadium einer jeden menschlichen Hochkultur typisch ist. Trotzdem hat sich Spengler zum anderen bemüht, auch von innen heraus die Probleme der marxistischen Theorie, wie sie sich aus seiner Perspektive offenbarten, zu skizzieren. Ein erster Ansatz war hier die offensichtliche Erkenntnis, daß Marx (wie Hegel) der inneren Entwicklung der außereuropäischen Gesellschaften eine viel zu geringe Aufmerksamkeit widmete und somit die zyklische innere Entwicklung einer einzigen, nämlich der abendländischen Gesellschaft, teleologisch-linear auf die Weltgeschichte projizierte. Ein weiterer Einwand bestand in Marx’ Unterschätzung der Bedeutung von Fortschritt, Kreativität und genialischer ideeller Wertschöpfung, welche im Rahmen seines mechanistischutilitaristischen Arbeits- und Wert-Begriffs keine genügende Rolle fand. Hieraus folgt die notwendige Konsequenz, daß Spengler zufolge den Marx’schen Theorien, ganz abgesehen von ihrem Wahrheitsgehalt, nur ein geringer Erfolg beschieden sein wird, liege es doch nicht nur in der Natur der Sache, daß auch Parteien und Ideologien bloße, vorübergehende Moden, „Oberflächenphänomene“, seien, sondern auch, daß der politische Disput gegen Ende einer jeden Zivilisation zunehmend verflacht und sich auf einen reinen darwinistischen Machtkampf reduziere, in dem Ideologien und Weltanschauungen zunehmend beliebig eingesetzte Formeln seien; eine Entwicklung, welche auch durch den Erfolg des Marxismus im zeitgenössischen Rußland nicht widerlegt werde, da es sich hier in vielfacher Hinsicht um ein grundlegendes kulturelles Mißverständnis handle, auf das bald die „Richtigstellung“ der Emanzipation der russischen von der abendländischen Kultur folgen werde. Wie eingangs ausgeführt, würde es zu weit führen, nach der selbstauferlegten Begrenzung auf den „Untergang des Abendlandes“ nun auch die späteren, eher politischen Schriften durcharbeiten zu wollen, welche von einer zwar nicht radikal unterschiedlichen Geisteshaltung künden, aber doch auf wesentlich
7 Marx und Marxismus in Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“
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anderen biographischen wie politischen Ausgangsvoraussetzungen beruhen.26 Trotzdem seien der Vollständigkeit halber, und um einen kleinen Blick auf Spenglers gewissermaßen retrospektiven Umgang mit seiner eigenen Grundlehre zu gestatten, zumindest einige zentrale Positionen grob skizziert. Hierbei ist zunächst die allmähliche Dissoziierung von „Marxismus“ und „Sozialismus“ bedeutsam sowie die zunehmende semantische Annäherung des letzteren an den Begriff des „Preußentums“. Diese kündigte sich bereits im ersten Band des „Untergangs“ an, als Spengler schrieb: „Und deshalb ist der Sozialismus – nicht der theoretische von Marx, sondern der praktische, von Friedrich Wilhelm I. begründete des Preußentums, der jenem vorausging und ihn wieder überwinden wird – mit seiner tiefen Verwandtschaft zum Ägyptertum das Gegenstück zum wirtschaftlichen Stoizismus der Antike, ägyptisch in seiner umfassenden Sorge für dauerhafte wirtschaftliche Zusammenhänge, in seiner Erziehung des einzelnen zur Pflicht für das Ganze und in der Heiligung des Fleißes, durch den die Zeit und Zukunft bejaht werden.“ (UdA, S. 180)27
Und so vertritt Spengler denn in „Preußentum und Sozialismus“28 neben vielen, bereits im „Untergang“ ausgeführten Positionen29 die Ansicht, daß Marx
26 27
28 29
Allg. hierzu Vollnhals 2005; Kittsteiner 2005. S. fast wortgleich Spengler, PuS, S. 42: „Friedrich Wilhelm I. und nicht Marx ist in diesem Sinne der erste bewußte Sozialist gewesen. Von ihm geht als von einer vorbildlichen Persönlichkeit diese Weltbewegung aus. Kant hat sie mit seinem kategorischen Imperativ in eine Formel gebracht. Allg. zu „Preußentum und Sozialismus“ vgl. Lübbe 1994 und Lewis 2017. Zu Marx’ Verhältnis zu Hegel vgl. Spengler PuS, S. 79; zur Marx-Rezeption im zeitgenössischen Russentum PuS, S. 95. In dieser Hinsicht ist auch auf den (in der Forschung leider nur selten erwähnten, separat edierten) Briefwechsel Oswald Spenglers mit Wolfgang E. Groeger hinzuweisen, der nicht nur Fragen russischen Geisteslebens tangiert, sondern auch die Entstehung eines als Interview abgefaßten Vorworts Spenglers zur deutschen Übersetzung von Maurice Williams „The Social Interpretation of History“ (New York 1921). Das Buch, dessen Lektüre etwa Sim Yat-Sen dazu bewegte, sich vom Kommunismus abzuwenden, bestand im wesentlichen in einer philosophischen Kritik des Marxismus und vertrat Positionen, die stark an Spenglers „preußischen Sozialismus“ erinnern. Und so schrieb Spengler im Dezember 1923 (BrG, S. 53). „Im Grunde ist der Marxismus bereits tot. Sieht man von Rußland ab, wo er die Verkleidung für primitive und religiöse Lebensideale ist, die dem Westeuropäer und Amerikaner fremd sind und von denen die Träger des Bol-schewismus selbst kaum etwas ahnen, so ist er in anderen Ländern längst ersetzt durch eine unverhüllte Lohnbewegung und außerdem durch das Streben der Führer nach politischer Macht.“
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Spenglers Quellen
gewissermaßen „nur der Stiefvater des Sozialismus“ gewesen sei,30 die tatsächliche Besonderheit des preußischen Staates nicht verstanden habe,31 und es die wichtigste Aufgabe des gegenwärtigen deutschen Sozialismus sei, sich „von Marx zu befreien“ und zu seinem preußischen Erbe zu bekennen. „Und damit ist die Aufgabe gestellt: es gilt, den deutschen Sozialismus von Marx zu befreien. Den deutschen, denn es gibt keinen andern. Auch das gehört zu den Einsichten, die nicht länger verborgen bleiben. Wir Deutsche sind Sozialisten, auch wenn niemals davon geredet worden wäre. Die andern können es gar nicht sein. […] Altpreußischer Geist und sozialistische Gesinnung, die sich heute mit dem Hasse von Brüdern hassen, sind ein und dasselbe. Das lehrt nicht die Literatur, sondern die unerbittliche Wirklichkeit der Geschichte, in der das Blut, die durch nie ausgesprochne Ideen gezüchtete Rasse, der zur einheitlichen Haltung von Leib und Seele gewordne Gedanke über bloße Ideale, über Sätze und Schlüsse hinwegeschreitet.“ (PuS, S. 4)32
Diese Abgrenzung zwischen Sozialismus (preußischer Prägung) und Marxismus erklärt sich durch die schon im „Untergang“ angeklungene Zuschreibung des Marxismus zur englischen Seinssphäre, welche Spengler in „Preußentum und Sozialismus“ breit ausmalt. Tatsächlich stellt Spengler mit dem preußischen „Ordensgeist“, beamtisch und sozialistisch angelegt, und dem englischen „Wikingergeist“, abenteuerlich und individualistisch veranlagt, zwei grundsätzliche Seinsweisen einander entgegen, welche Marx’ Sozialphilosophie nicht als universale Gesetzmäßigkeit, sondern als unorganisches Konglomerat verschiedenster Prinzipien erscheinen lassen: „Hier setzt nun Marx ein. Er hat durch eine glänzende Konstruktion versucht, die Tatsache zum Rang einer Idee zu erheben. Über den mächtigen Gegensatz von Wikingertum und Ordensgeist spannt er eine dünne, aber festgefügte Theorie und schafft damit ein volkstümliches Bild der Geschichte, das in der Tat die Anschauungen der Gegenwart in weitgehendem Maße beherrscht. Er stammte aus der preußischen Atmosphäre und siedelte sich in der englischen an, der Seele beider 30
31
32
Spengler, PuS, S. 3: „Man verwechselt Augenblicke mit Epochen, das nächste Jahr mit dem nächsten Jahrhundert, Einfälle mit Ideen, Bücher mit Menschen. Diese Marxisten sind nur im Verneinen stark, im Positiven sind sie hilflos. Sie verraten endlich, daß ihr Meister nur ein Kritiker, kein Schöpfer war. Für eine Welt von Lesern hat er Begriffe hinterlassen. Sein von Literatur gesättigtes, durch Literatur gebildetes und zusammengehaltenes Proletariat war nur so lange Wirklichkeit, als es die Wirklichkeit des Tages ablehnte, nicht darstellte. Heute ahnt man es — Marx war nur der Stiefvater des Sozialismus.“ Spengler, PuS, S. 74: „Hätte Marx den Sinn der preußischen Arbeit verstanden, der Tätigkeit um ihrer selbst willen, als Dienst im Namen der Gesamtheit, für ‚alle‘ und nicht für sich, als Pflicht, die adelt ohne Rücksicht auf die Art der Arbeit, so wäre sein Manifest vermutlich nie geschrieben worden.“ Vgl. fast wortgenau identisch den Brief, den Spengler am 26.3.1919 an Hans Klöres sandte (Br 126): „Den Sozialismus von Marx befreien – denn er ist älter und tiefer als dieser – ihn von den Pöbelinstinkten, von der bloßen Negation und Kritik des historisch Gewordenen, vom Dilettantismus dieser Tage seinem vorbestimmten – ‚preußischen‘ – Ziel entgegenzuführen: dafür sind die besten Köpfe heute reif.“
7 Marx und Marxismus in Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“
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Völker aber ist er gleichmäßig fremd geblieben. Als Mensch des naturwissenschaftlichen 19. Jahrhunderts war er ein guter Materialist und ein schlechter Psychologe. Und so hat er schließlich nicht die großen Realitäten mit dem Gehalt einer Idee erfüllt, sondern die Ideen zu Begriffen, zu Interessen herabgedrückt. Statt des englischen Blutes, das er nicht in sich fühlte, erblickte er nur englische Dinge und Begriffe, und von Hegel, der ein gutes Stück preußischen Staatsdenkens repräsentierte, war ihm nur die Methode zugänglich gewesen. Und so übertrug er durch eine wahrhaft groteske Kombination den Instinktgegensatz der beiden germanischen Rassen auf den materiellen Gegensatz zweier Schichten. Er schrieb dem ‚Proletariat‘, dem vierten Stande, den preußischen Gedanken des Sozialismus und der ‚Bourgeoisie‘, dem dritten Stande, den englischen des Kapitalismus zu. Aus diesem System erst ergab sich die feste Bedeutung der vier Begriffe, wie sie heute jedermann geläufig ist.“ (PuS, S. 69)33
Hieraus folgt dann die einzig logische Konsequenz, daß Arbeiterbewegung wie Konservative sich in Zukunft um den Begriff des „preußischen“ Sozialismus scharen müssen, um Deutschland angesichts der politischen Übermächtigkeit des Britischen Empires weiterhin eine Zukunft zu sichern und – vielleicht – eines Tages den Durchbruch zur spätzeitlichen Vereinigung des europäischen Kontinents in Analogie zum römischen Reich aufzubauen, dessen stoische Grundhaltung, wie wir sahen, dem von Spengler vertretenen Sozialismus-Begriff überaus nahesteht: „Die Arbeiterschaft muß sich von den Illusionen des Marxismus befreien. Marx ist tot. Der Sozialismus als Daseinsform steht an seinem Anfang, der Sozialismus als Sonderbewegung des deutschen Proletariats aber ist zu Ende. Es gibt für den Arbeiter nur den preußischen Sozialismus oder nichts. Die Konservativen müssen sich von der Selbstsucht befreien, um deren willen schon der Große Kurfürst dem Hauptmann v. Kalckstein den Kopf vor die Füße legte. Demokratie, mag man sie schätzen wie man will, ist die Form dieses Jahrhunderts, die sich durchsetzen wird. Es gibt für den Staat
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Hierzu kommt dann Spengler zufolge auch noch der Einfluß des alttestamentlichen Arbeitsbegriffs; vgl. ebd., S. 74–75: „Aber hier unterstützte ihn [i.e. Marx] sein jüdischer Instinkt, den er selbst in seiner Schrift über die Judenfrage gekennzeichnet hat. Der Fluch der körperlichen Arbeit am Anfang der Genesis, das Verbot, den Sonntag durch Arbeit zu schänden, das machte ihm das alttestamentliche Pathos des englischen Empfindens zugänglich. Und deshalb sein Haß gegen die, welche nicht zu arbeiten brauchen. Der Sozialismus Fichtes würde sie als Faulenzer verachten, als Überflüssige, Pflichtvergessene, Schmarotzer des Lebens, der Instinkt von Marx aber beneidet sie. Sie haben es zu gut und deshalb soll man sich gegen sie auflehnen. Er hat dem Proletariat die Mißachtung der Arbeit eingeimpft. Seine fanatischsten Jünger wollen die Vernichtung der ganzen Kultur, um die Menge der unentbehrlichen Arbeit möglichst herabzusetzen. Luther hatte die schlichteste Werktätigkeit als gottgefällig gerühmt, Goethe die ‚Forderung des Tages‘; vor den Augen von Marx aber schwebt das Ideal des proletarischen Phäaken, der alles mühelos besitzt — das ist der Endsinn jener Expropriation der Glückseligen. Und er hat Recht dem englischen Instinkt gegenüber. Was der Engländer Glück nennt, der geschäftliche Erfolg, der körperliche Arbeit erspart, der den Menschen damit zum Gentleman macht, sollte allen — Engländern zukommen. Für uns ist das gemein, der Geschmack von Mob und Snob.“
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Spenglers Quellen nur Demokratisierung oder nichts. Es gibt für die Konservativen nur bewußten Sozialismus oder Vernichtung.“ (PuS, S. 98)
Die Frage, ob diese Entwicklung allerdings nun „von oben“ oder vielmehr „von unten“ verlaufen wird, steht für Spengler zwar noch offen, doch ist dies letztlich belanglos: „Den preußischen Beamtentypus, den ersten der Welt, haben die Hohenzollern gezüchtet. Er bürgt für die Möglichkeit einer Sozialisierung durch seine ererbten sozialistischen Fähigkeiten. Er ist seit 200 Jahren als Methode das, was der Sozialismus als Aufgabe ist. In diesen Typus muß der Arbeiter hineinwachsen, wenn er aufhört Marxist zu sein, und dadurch beginnt, Sozialist zu werden. Der ‚Zukunftsstaat‘ ist ein Beamtenstaat. Das gehört zu den unausweichlichen Endzuständen, die aus den Voraussetzungen unsrer in ihrer Richtung festgelegten Zivilisation folgen. Auch der Milliardärsozialismus würde ein Volk unvermerkt in ein Heer von Privatbeamten verwandeln. Die großen Trusts sind heute schon Privatstaaten, welche ein Protektorat über den offiziellen Staat ausüben. Preußischer Sozialismus bedeutet aber die Einordnung dieser Wirtschaftsstaaten der einzelnen Berufszweige in den Gesamtstaat. Die Streitfrage zwischen Konservativen und Proletariern ist im Grunde gar nicht die Notwendigkeit dieses autoritativsozialistischen Systems, dem man nur durch die Annahme des amerikanischen entgehen könnte (der Wunsch des deutschen Liberalismus), sondern die Frage des Oberbefehls. Es gibt heute scheinbar die Möglichkeiten eines Sozialismus von oben und von unten, beide in diktatorischer Form. In Wirklichkeit würden beide allmählich in dieselbe Endform auslaufen.“ (PuS, S. 90)
Angesichts der Gewalt der von Spengler heraufbeschworenen Bilder und Visionen sei es erlaubt, ausblickend einige Überlegungen zur Aktualität seiner Analyse der Marx’schen Lehren zu formulieren, endet doch die Relevanz von Oswald Spengler als Geschichtsdenker weder mit seinem Tod 1936, noch mit dem (von ihm selbst aufs Jahr genau vorhergesagten) Fall des Dritten Reiches 1945, 34 sondern dauert bis heute an.35 Wie von Spengler prognostiziert, ist das 20. Jahrhundert tatsächlich zum großen Teil vom Konflikt der beiden von ihm skizzierten Weltanschauungen dominiert worden, der „kapitalistischen“ Ideologie angelsächsischer Prägung auf der einen Seite, wie sie v.a. von den Vereinigten Staaten und den westeuropäischen Nationen übernommen worden war, und der Idee „nationaler“, weitgehend beamtisch strukturierter Sozialismen auf der anderen Seite, wobei sich die Wirtschaftsordnungen jener totalitären Staaten tatsächlich oft nur in bezug auf ihren Aufbau „von unten“ (kommunistisch) oder „von oben“ (faschistisch) her unterschieden. Daß dieser Kampf bislang vom angelsächsischen, kapitalistischen und nicht vom „preußischen“, sozialistischen Prinzip entschieden worden ist, würde Spengler selbst kaum erstaunen, der in der Machtergreifung des Nationalsozialismus und 34 35
Frank 1955, S. 247. Allg. zur Rezeption Spenglers vgl. Frigg 1968, Beßlich 2002, Thöndl 2010, Engels 2012, Gasimov/Lemke Duque 2013, Engels 2014b, Keppeler 2014, De Winde u.a. 2016, Engels 2019.
7 Marx und Marxismus in Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“
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der hierauf folgenden Diskreditierung des preußischen Prinzips durch eine verbrecherische Clique eine Katastrophe erblickt hatte und als einer der ersten 1933 in den „Jahren der Entscheidung“ hellsichtig auf die hieraus folgenden Gefahren aufmerksam gemacht hatte,36 bevor er, der Erfinder des „preußischen Sozialismus“, zur Persona non grata des „nationalen Sozialismus“ wurde.37 Interessant in Hinsicht auf Spenglers fortdauernde Aktualität ist dabei auch seine im Hinblick auf den zeitlichen Hintergrund erstaunliche Voraussicht der Zukunft des Marxismus als lebensfähiger politischer Weltanschauung: Das nahezu vollständige Verschwinden des reinen Marxismus aus der politischen Parteienlandschaft der Jetztzeit, von einigen Lippenbekenntnissen abgesehen, scheint ebenso seherisch wie die Tatsache, daß gerade die lange marxistisch dominierten außereuropäischen Staaten unter dieser Oberfläche längst zu weltanschaulichen Modellen (zurück)gefunden haben, wie sie bis ins 19. Jahrhundert typisch waren, sei es der neue Zarismus in Rußland mitsamt seiner „eurasischen“ Doktrin, sei es der chinesische „Marxismus“, der nichts anderes scheint als eine notdürftig verschleierte Rückkehr zu den beamtischen Traditionen der Qing-Kaiserzeit. Derweil scheint das „angelsächsische“ Staats- und Wirtschaftsmodell im Westen seinen Zenit allmählich überschritten zu haben, beobachtet man die Zeichen der Zeit. Die Auflösung von Grenzen, Staatlichkeit und Handelsbarrieren, laut Spengler alle eine direkte Konsequenz der englischen Insellage, ist weltweit weitgehend fortgeschritten; der Abbau des Beamtenprinzips und verstaatlichter Dienstleistungen zugunsten des liberalen „Wettbewerbs“ und der freien Entfaltung der Marktkräfte ist abgemachte Sache; die von Spengler vorhergesehene Ablösung des patrimonialen Kapitalismus durch die Regulation (bzw. Spekulation) der Börsen ist zum allgemeingültigen Prinzip der modernen Wirtschaft geworden; „Expertenmeinungen“ gelten oft mehr als demokratische Mehrheiten; der „Milliardärssozialismus“ der „global Players“ wie etwa Google oder Facebook hat jetzt schon an Macht diejenige vieler kleinerer und mittlerer Staaten übertroffen und schafft eine eigene Hierarchie und quasi-Staatlichkeit; die meisten bedeutenden Politiker pflegen vor oder nach der Staatslaufbahn beste Beziehungen zu ausgewählten Großbanken; ganze Staaten, denkt man an Griechenland, befinden sich in der Hand verschiedenster Finanzinstitutionen und setzen deren Empfehlungen in nationale Gesetze um, um den Staatsbankrott zu vermeiden; und man könnte noch viele Beispiele mehr anführen. Gleichzeitig droht – von Jahr zu Jahr mehr – die Krise durch Überhitzung des Systems, und der von Spengler vorhergesagte, lange totgeglaubte Caesarismus 36
37
Zu Spenglers Verhältnis zum Nationalsozialismus s. Fauconnet 1946; Koktanek 1966; Thöndl 1993; Stiegler 1999; Brunstad 2006; Henkel 2007 und die in Engels 2013a (= Kap. 13) zusammengestellten Quellentexte zur Spengler-Kritik im Nationalsozialismus. Zur Spengler-Rezeption im Nationalsozialismus s. beispielsweise Zweininger 1933, Gründel 1934.
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Spenglers Quellen
läßt erneut und verstärkt grüßen:38 Ein populistischer Millionär sitzt im Weißen Haus und verteidigt die Interessen der Arbeiterklasse; die „illiberale Demokratie“ und der „dritte Weg“ sind wieder in aller Munde; Ideologie und Weltanschauung haben längst vor Charisma und Alternativlosigkeit abgedankt; jeder bezichtigt seinen Gegner so lange des Faschismus, bis der letztere tatsächlich wieder politisch hoffähig wird; altehrwürdige Volksparteien zerfallen zugunsten von politischen Formierungen, die wenig mehr sind als der Resonanzboden einer einzigen, von verschiedenen Druckgruppen finanziell unterstützten Persönlichkeit; der Ruf nach dem starken Mann, lange Jahrzehnte verpönt, erschallt wieder verstärkt – nicht nur an den Grenzen, sondern sogar im Herzen Europas. Sollte Spengler tatsächlich mit seinen Vorhersagen recht behalten? Adornos eindringlicher Formulierung, „der vergessene Spengler rächt sich, indem er droht, recht zu behalten. […] Spengler hat kaum einen Gegner gefunden, der sich ihm gewachsen gezeigt hätte: das Vergessen wirkt als Ausflucht.“39 scheint jedenfalls auch heute noch durchaus aktuell zu sein.
38
39
Allg. zu diesen Überlegungen auch Engels 2013b; Engels 2016a; Engels 2016b; Engels 2017a und Engels 2017b. Adorno 1950/1955.
HISTORISCHE EINZELFRAGEN
8
Oswald Spenglers „magische Kultur“
8.1
Einleitung
2018 jährte sich zum 100. Mal der Geburtstag der Veröffentlichung des „Untergangs des Abendlands“, laut Thomas Mann „das wichtigste Buch“.1 Wenn Oswald Spenglers Kulturmorphologie auch seit einigen Jahren eine gewisse Renaissance erlebt,2 so bleibt es doch eine betrübliche Tatsache, daß seine Geschichtsphilosophie bei Fachhistorikern meist nur noch im Rahmen theoriegeschichtlicher Betrachtungen behandelt wird, die sich daraus ergebenden Konsequenzen für unsere Analyse der Quellen und Fakten aber generell außer acht gelassen werden. Neben einer Reihe handwerklicher Fehler v.a. zu den altorientalischen und präkolumbianischen Kulturen, von denen die meisten natürlich dem heute weitgehend überholten Wissensstand der 1910–1920er Jahre zuzuschreiben sind,3 ist es vor allem das Konzept der „magischen Kultur“, welches, um Alexander Demandt zu zitieren, zum „experimentum crucis“ der gesamten Kulturmorphologie geworden ist und in vielen Kreisen zur Ablehnung von Spenglers Lehren geführt hat.4 Daß das messianistische Judentum, das frühe und byzantinische Christentum, der Mazdaismus und der Islam nur verschiedene Ausdrucksformen einer und derselben Kulturseele seien sollen, ging den meisten Fachhistorikern (und Theologen) damals dann doch entschieden zu weit, wenn auch gerade die Analyse der „magischen Kultur“ jene ist, bei der Spengler am intensivsten von den Quellen ausgegangen ist.5 Und doch: Gerade die Einsicht in die tiefe innere Zusammengehörigkeit des Nahen Ostens im 1. nachchristlichen Jahrtausend hat in den letzten Jahrzehnten unter Geschichtswissenschaftlern zunehmende Verbreitung gefunden, so daß Spengler in vielen Aspekten nachträglich gewissermaßen zu „rehabilitieren“ ist. In folgenden werden wir versuchen, die Grundlinien der diesbezüglichen Spengler’schen Thesen und ihrer Rezeption nachzuzeichnen und sie in den Kontext der gegenwärtigen Forschung zur Entstehung der verschiedenen messianistischen, christlichen, mazdaischen und islamischen Bewegungen zu setzen.
1 2 3 4
5
Allg. zu Thomas Mann und Oswald Spengler vgl. Beßlich 2002; Beßlich, 2005b. Hierzu auch Merlio 2019. Vgl. mein eigener Aufsatz: Engels 2020 (= Kap. 10). Demandt 1980. Zu Spenglers „arabischen“ (oder „magischen“) Kultur s. allg. Becker 1923, Koopmann 1980; Abbès 2014, Engels 2017c (= Kap. 9). Zur frühen Rezeption vgl. Schröter 1922.
142
8.2
Historische Einzelfragen
Die Erfindung der „magischen Kultur“
8.2.1 Allgemein Der islamisch-orientalische Raum, vor allem in seiner Frühzeit, war lange Zeit ein Stiefkind der Geschichts- und Sprachwissenschaften, da die klassische Altertumswissenschaft sich lange Zeit mit mehr oder weniger Geringschätzung von der Spätantike abgewandt hatte, die Iranistik am grundlegenden Problem ihres weitgehend post-sassanidischen literarischen Materials leidet und auch die islamischen Quellen bis auf einige Inschriften erst in der spätklassischen Zeit wirklich zu sprudeln beginnen.6 Spengler revolutionierte diesen Forschungsbereich insoweit, als er das erste Jahrtausend nicht mehr als eine reine Übergangszeit zwischen der Antike auf der einen Seite und, auf der anderen, der christlichen, germanisch oder slawisch umgeprägten Welt im Norden und der islamisch-arabischen Welt im Süden sah, sondern vielmehr als eigene, in sich abgeschlossene Hochkultur, welche er mit dem Begriff „magisch“ (manchmal auch „arabisch“) bezeichnete. So schreibt Spengler durchaus hellsichtig über die tragische Zerrissenheit der „magischen“ Kultur in verschiedenste Wissenschaftsdisziplinen: „Die magische Kultur ist geographisch und historisch die mittelste in der Gruppe hoher Kulturen, die einzige, welche sich räumlich und zeitlich fast mit allen anderen berührt. [...] Aber gerade sie ist aus philologischen und theologischen Vorurteilen und mehr noch infolge der Zersplitterung der modernen Fachwissenschaft bis jetzt nicht erkannt worden. [...] Die eigentlichen Historiker hielten sich an das Interessengebiet der klassischen Philologie, aber deren Horizont endete an der antiken Sprachgrenze im Osten. [...] Die Literaturforscher, ebenfalls Philologen, verwechselten den Geist der Sprache mit dem der Werke. [...] Die Religionsforschung zerlegte das Gebiet in Einzelfächer nach westeuropäischen Konfessionen, und für die christliche Theologie ist wieder die ‚Philologengrenze‘ im Osten maßgebend gewesen und ist es noch. [...] Das ist die gelehrte Vorbereitung der größten Aufgabe, welche der heutigen Geschichtsforschung gestellt ist.“ (UdA, S. 785–787)
Diese „magische“ Kultur, die Spengler für sich als eine „Entdeckung“ (UdA, S. 604) reklamiert,7 reicht zeitlich in etwa von der Schlacht bei Actium im Jahre 31 v.Chr. bis zum Fall von Baghdad 1258 und füllt den Raum von Ägypten bis Zentralasien und den Dardanellen bis Arabien aus. 6
7
Allg. zur Spätantike und ihrer Erforschung s. Demandt 2007; Johnson 2012; Meier 2019; Elton 2018. Spengler, UdA, S. 604: „Diese arabische Kultur ist eine Entdeckung. Ihre Einheit ist von späten Arabern geahnt worden, den abendländischen Geschichtsforschern aber so völlig entgangen, daß nicht einmal eine gute Bezeichnung für sie aufzufinden ist. Der herrschenden Sprache nach könnte man Vorkultur und Frühzeit aramäisch, die Spätzeit arabisch nennen. Einen wirklichen Namen gibt es nicht.“
8 Oswald Spenglers „magische Kultur“
143
„Die zugehörige Landschaft ist merkwürdig ausgedehnt und zerrissen. Man muß sich nach Palmyra oder Ktesiphon versetzen und von da aus hineindenken: im Norden Osrhoene; Edessa wurde das Florenz der arabischen Frühzeit. Im Westen Syrien und Palästina, wo das Neue Testament und die jüdische Mischna entstanden, mit Alexandria als ständigem Vorposten. Im Osten erlebte der Mazdaismus eine gewaltige Erneuerung, welche der Geburt des Messias im Judentum entspricht und von der wir aus den Trümmern der Awestaliteratur nur schließen können, daß sie stattgefunden haben muß. Hier sind auch der Talmud und die Religion Manis entstanden. Tief im Süden, der künftigen Heimat des Islam, hat sich eine Ritterzeit voll entfalten können wie im Sassanidenreich. Noch heute liegen dort die Ruinen unerforschter Burgen und Schlösser, von denen aus die Entscheidungskriege zwischen dem christlichen Staat von Axum an der afrikanischen Küste und dem jüdischen der Himjariten an der arabischen geleitet wurden, die man von Rom und Persien aus diplomatisch schürte. Im äußersten Norden liegt Byzanz mit seinem sonderbaren Gemisch spätzivilisierter antiker und früher ritterlicher Formen, das sich vor allem in der Geschichte des byzantinischen Heerwesens so verwirrend ausspricht. Der Islam hat dieser Welt endlich und viel zu spät das Bewußtsein der Einheit verliehen, und darauf beruht das Selbstverständliche seines Sieges, das ihm Christen, Juden und Perser fast willenlos zuführte. Aus dem Islam hat sich dann die arabische Zivilisation entwickelt, die in ihrer höchsten geistigen Vollendung stand, als vorübergehend die Barbaren des Abendlandes hereinbrachen und nach Jerusalem zogen.“ (UdA, S. 605–606)
Freilich stellt die Annahme der vollkommenen seelischen Autonomie und Unbeeinflußbarkeit der großen Hochkulturen Spengler vor das Problem, wie das erste nachchristliche Jahrtausend zu deuten sei, welches von schier unentwirrbaren kulturellen Bezügen zwischen altorientalischem Erbe, klassischer Antike, Christentum, Iran und Islam geprägt zu sein scheint: „Die Kulturen lagen hier dicht beieinander und deshalb haben sich die ausgedehnten Zivilisationen mehrfach übereinander geschichtet. Die arabische Vorzeit selbst, die sich bei Persern und Juden verfolgen läßt, lag völlig im Bereiche der alten babylonischen Welt, die Frühzeit aber von Westen her unter dem mächtigen Bann der antiken, eben erst voll ausgereiften Zivilisation. Ägyptische und indische Zivilisation reichen fühlbar herüber. Arabischer Geist hat dann aber, meist in spätantiker Maske, seinen Zauber auf die beginnende Kultur des Abendlandes ausgeübt, und die arabische Zivilisation, die sich in der Seele des Volkes in Südspanien, der Provence und Sizilien über die heute noch nicht ganz erstorbene antike geschichtet hat, wurde das Vorbild, an dem gotischer Geist sich erzog.“ (UdA, S. 604–605)
Spengler bedient sich zur Lösung dieses Dilemmas des eigentlich der Mineralogie entnommenen Begriffs der „Pseudomorphose“8 und erklärt die scheinbar disparate Natur der „magischen Kultur“ und vor allem ihre unleugbar antike Prägung durch den überwältigenden Einfluß der griechisch-römischen Zivilisationsstrukturen, welche die „magische“ Kultur lange Zeit in ein ihr fremdes Gerüst gezwängt hätten. (In der russischen Kultur liegt, nach Spengler, 8
Allg. zur Idee der Pseudomorphose s. Strunz 1982.
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Historische Einzelfragen
bereits ein zweiter Fall der Pseudomorphose vor, diesmal bewirkt durch die erdrückende Einwirkung der abendländischen Kultur9). Wir lesen hier: „In einer Gesteinsschicht sind Kristalle eines Minerals eingeschlossen. Es entstehen Spalten und Risse; Wasser sickert herab und wäscht allmählich die Kristalle aus, so daß nur ihre Hohlform übrig bleibt. Später treten vulkanische Ereignisse ein, welche das Gebirge sprengen; glühende Massen quillen herein, erstarren und kristallisieren ebenfalls aus. Aber es steht ihnen nicht frei, es in ihrer eigenen Form zu tun; sie müssen die vorhandenen ausfüllen und so entstehen gefälschte Formen, Kristalle, deren innere Struktur dem äußeren Bau widerspricht, eine Gesteinsart in der Erscheinungsweise einer fremden. Dies wird von den Mineralogen Pseudomorphose genannt. Historische Pseudomorphosen nenne ich Fälle, in welchen eine fremde alte Kultur so mächtig über dem Lande liegt, daß eine junge, die hier zu Hause ist, nicht zu Atem kommt und nicht nur zu keiner Bildung reiner, eigener Ausdrucksformen, sondern nicht einmal zur vollen Entfaltung ihres Selbstbewußtseins gelangt. Alles was aus der Tiefe eines frühen Seelentums emporsteigt, wird in die Hohlformen des fremden Lebens ergossen; junge Gefühle erstarren in ältlichen Werken und statt des Sichaufreckens in eigener Gestaltungskraft wächst nur der Haß gegen die ferne Gewalt zur Riesengröße. Dies ist der Fall der arabischen Kultur.“ (UdA, S. 784)
Die erste radikale Konsequenz der Annahme einer in sich abgeschlossenen und von der abendländischen grundsätzlich geschiedenen „magischen“ Kultur ist die Folgerung, daß das Christentum nicht mehr als eine Religion gelten kann, welche eine einheitliche und lineare Entwicklung durchmißt, sondern vielmehr als eine im Rahmen der magischen Kultur entwickelte Form der Spiritualität, welche durch die abendländische Kultur nur äußerlich übernommen, inhaltlich aber mit einem ganz anderen Inhalt gefüllt wurde: „Alle Religionen der magischen Kultur von den Schöpfungen des Jesaja und Zarathustra bis zum Islam bilden eine vollkommene innere Einheit des Weltgefühls, und so wenig im Awestaglauben auch nur ein brahmanischer Zug, im Urchristentum auch nur eine Spur antiken Gefühls zu finden ist, sondern nur Namen, Bilder und äußere Formen, so wenig hat das germanisch-katholische Christentum des Abendlandes auch nur einen Hauch vom Weltgefühl jener Jesusreligion herübernehmen können, als es deren ganzen Bestand an Sätzen und Bräuchen übernahm.“ (UdA, S. 843)10
9
10
Zu Spenglers Sicht auf die russische „Pseudomorphose“ vgl. etwa Ulmen 1980; Demandt 1988; Kraus 1988; Cacciatore 2009; Merlio 2018a. Vgl. ähnl. Spengler, UdA, S. 622–623: „Wir hören und lernen, daß diese Religion sich im Wesen unverändert von der alten Kirche aus über das Abendland verbreitet hat. In Wirklichkeit entwickelte der magische Mensch aus der ganzen Tiefe seines dualistischen Weltbewußtseins eine Sprache seines religiösen Wachseins, die wir ‚das‘ Christentum nennen. Was von diesem Erlebnis mitteilbar war, Worte, Formeln, Gebräuche, nahm der Mensch der spätantiken Zivilisation als Mittel für sein religiöses Bedürfnis an; von Mensch zu Mensch ging diese Formensprache bis zu den Germanen der abendländischen Vorkultur, in den Wortklängen immer dasselbe, in den Bedeutungen immer etwas anderes. Man würde nie gewagt haben, die ursprüngliche Bedeutung der heiligen Worte zu verbessern, aber man hat sie gar nicht gekannt.“
8 Oswald Spenglers „magische Kultur“
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Die zweite Konsequenz ist die Annahme, daß das „magische“ Christentum letztlich im Islam eine getreuere Fortsetzung bzw. Weiterentwicklung findet als im abendländischen Christentum, und derjenige, der den „historischen“ Jesus wiederfinden will, im Islam besser aufgehoben ist als in der „faustischen“ Neuinterpretation des Christentums: „Die Welt des magischen Menschen ist von einer Märchenstimmung erfüllt. Teufel und böse Geister bedrohen den Menschen, Engel und Feen schützen ihn. Es gibt Amulette und Talismane, geheimnisvolle Länder, Städte, Gebäude und Wesen, geheime Schriftzeichen, das Siegel Salomos und den Stein der Weisen. Und über alles ergießt sich schimmernd das höhlenhafte Licht, das immer davon bedroht ist, durch eine gespenstische Nacht verschlungen zu werden. Wem diese Bilderpracht wunderlich erscheinen will, der bedenke, daß Jesus in ihr lebte und daß seine Lehren nur aus ihr zu verstehen sind. […] Wenn man ahnen will, wie fremd das Innenleben Jesu uns allen ist – eine schmerzliche Einsicht für den Christen des Abendlandes, der seine Frömmigkeit gern auch innerlich an ihn anknüpfen möchte – und wie es heute eigentlich nur von einem frommen Moslim nacherlebt werden kann, so versenke man sich in diese Märchenzüge eines Weltbildes, das auch das seinige war. Dann erst wird man erkennen, wie wenig das faustische Christentum aus dem Reichtum der pseudomorphen Kirche herübergenommen hat, nämlich nichts vom Weltgefühl, wenig von der inneren Form und viel an Begriffen und Gestalten.“ (UdA, S. 845–846)
Wie jede Kultur verfügt dabei auch die „magische Kultur“ über ein Seelenbild, eine Art primordialer Archetyp, der analog zur „apollinischen“ Körperhaftigkeit oder dem „faustischen“ Drang ins Unendliche das innere Empfinden und Denken der magischen Kultur inspiriert. Spengler bedient sich auch hier eines sehr komplexen räumlichen Denkbildes, nämlich einerseits dem der Welthöhle, andererseits dem des Dualismus zwischen Oben und Unten.11 So lesen wir: 11
Spengler, UdA, S. 841–842: „Die Welt, wie sie sich vor dem magischen Wachsein ausbreitet, besitzt eine Art von Ausgedehntheit, die höhlenhaft genannt werden darf, so schwer es dem Menschen des Abendlandes auch ist, im Vorrat seiner Begriffe auch nur ein Wort ausfindig zu machen, mit dem er den Sinn des magischen ‚Raumes‘ wenigstens andeuten könnte. Denn ‚Raum‘ bedeutet für das Empfinden beider Kulturen durchaus zweierlei. Die Welt als Höhle ist von der faustischen Welt als Weite mit ihrem leidenschaftlichen Tiefendrang ebenso verschieden wie von der antiken Welt als Inbegriff körperlicher Dinge. Das kopernikanische System, in dem die Erde sich verliert, muß dem arabischen Denken wahnwitzig und frivol erscheinen. Die Kirche des Abendlandes hatte vollkommen recht, wenn sie einer Vorstellung widerstrebte, die mit dem Weltgefühl Jesu unvereinbar war. Und die chaldäische Höhlenastronomie, die für Perser und Juden, die Menschen der Pseudomorphose und des Islam etwas ganz Natürliches und Überzeugendes hatte, wurde den wenigen echten Griechen, die sie zur Kenntnis nahmen, nur durch ein Andersverstehen der räumlichen Grundlage zugänglich. Die mit dem Wachsein identische Spannung zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos führt im Weltbild jeder Kultur zu weiteren Gegensätzen von symbolischer Bedeutung. Alles Empfinden oder Verstehen, alles Glauben oder Wissen eines Menschen wird durch einen Urgegensatz gestaltet, der sie zwar zu Tätigkeiten des Einzelnen, aber zum Ausdruck der Gesamtheit macht. In der Antike kennen wir den jedes Wachsein beherrschenden Gegensatz von Stoff und Form, im Abendlande den von Kraft und Masse. Aber die Spannung verliert sich dort
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Historische Einzelfragen „Der Kern der prophetischen Lehre ist bereits magisch: Es gibt einen wahren Gott als Prinzip des Guten, mag es Jahwe, Ahura Mazda oder Marduk-Baal sein; die andern Gottheiten sind ohnmächtig oder böse. An ihn knüpft sich die messianische Hoffnung, sehr deutlich bei Jesaja, aber mit innerer Notwendigkeit in den folgenden Jahrhunderten überall durchbrechend. Es ist der magische Grundgedanke; in ihm liegt die Annahme eines welthistorischen Kampfes zwischen Gut und Böse, mit der Macht des Bösen über die mittlere Zeit und dem Endsieg des Guten am jüngsten Tage. Diese Moralisierung der Weltgeschichte ist Persern, Chaldäern und Juden gemeinsam.“ (UdA, S. 807)
Und: „Das faustische und das apollinische Seelenbild stehen einander schroff gegenüber. […] Man darf die imaginäre Einheit hier als Seelenkörper, dort als Seelenraum bezeichnen. Der Körper besitzt Teile, im Raum verlaufen Prozesse. [...] Das magische Seelenbild trägt die Züge eines strengen Dualismus zweier rätselhafter Substanzen, Geist und Seele. Zwischen ihnen herrscht weder das antike, statische, noch das abendländische, funktionale Verhältnis, sondern ein völlig anders gestaltetes, das sich eben nur als magisch bezeichnen läßt. [...] Eine den Leib durchdringende Substanz befindet sich in deutlichem Wertunterschied gegen eine zweite, die sich aus der Welthöhle in die Menschheit herabläßt, abstrakt, göttlich, auf welcher der Consensus aller an ihr Teilhabenden beruht. Dieser ‚Geist‘ ist es, der die höhere Welt hervorruft, durch deren Erzeugung er über das bloße Leben, das ‚Fleisch‘, die Natur triumphiert.“ (UdA, S. 389–390)
Das Gottes- und Menschenbild dieser „magischen“ Kultur ist dementsprechend grundsätzlich verschieden von dem der apollinischen oder faustischen Kultur:
im Kleinen und Einzelnen und entlädt sich hier in Wirkungszügen. In der Welthöhle verharrt sie schwebend und im Hin und Her eines ungewissen Ringens und erhebt sich damit zu jenem – ‚semitischen‘ – Urdualismus, der tausendgestaltig und doch immer derselbe die magische Welt erfüllt. Das Licht durchschimmert die Höhle und wehrt sich gegen die Finsternis (Joh. 1, 5). Beides sind magische Substanzen. Oben und Unten, Himmel und Erde werden zu wesenhaften Mächten, die sich bekämpfen. Aber diese Gegensätze des ursprünglichsten Sinnesempfindens mischen sich mit denen des grübelnden und wertenden Verstehens: Gut und Böse, Gott und Satan. Der Tod ist für den Schöpfer des Johannesevangeliums wie für den strengen Moslim nicht das Ende des Lebens, sondern ein Etwas, eine Kraft neben ihm, und beide streiten um den Besitz des Menschen. Aber wichtiger als das alles erscheint der Gegensatz von Geist und Seele – hebräisch ruach und nephesch, persisch ahu und urvan; mandäisch monuhmed und gyan; griechisch pneuma und psyche –, der zuerst im Grundgefühl der prophetischen Religionen auftaucht, dann die gesamte Apokalyptik durchsetzt und endlich alle Weltanschauungen der erwachten Kultur bildet und leitet: bei Philo, Paulus und Plotin, bei Gnostikern und Mandäern, bei Augustin und im Awesta, im Islam und in der Kabbala. Ruach bedeutet ursprünglich den Wind, nephesch den Atem. Die nephesch ist immer irgendwie dem Leibe und Irdischen verwandt, dem Unten, dem Bösen, der Finsternis. Ihr Streben ist das „Hinauf". Die ruach gehört zum Göttlichen, zum Oben und zum Lichte. Sie bewirkt im Menschen, indem sie sich herabsenkt, das Heldentum (Simson), den heiligen Zorn (Elias), die Erleuchtung des Richters, der ein Urteil fällt (Salomo) und alle Arten von Weissagung und Ekstase. Sie wird ausgegossen.“
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„Während der antike Mensch seinen Göttern gegenübersteht wie ein Körper dem andern, während das faustische, wollende Ich in seiner weiten Welt das allmächtige Ich der ebenfalls faustischen und wollenden Gottheit überall wirken fühlt, ist die magische Gottheit jene ungewisse, rätselhafte Kraft der Höhe, die nach Gutdünken zürnt oder Gnade spendet, sich in das Dunkel herabläßt oder die Seele in das Licht hinaufhebt. An einen eigenen Willen auch nur zu denken ist sinnlos, denn ‚Wille‘ und ‚Gedanke‘ im Menschen sind schon Wirkungen der Gottheit auf ihn. Aus diesem unerschütterlichen Urgefühl, das sich durch alle Bekehrungen, Erleuchtungen und Grübeleien nur in seinem Ausdruck, nicht in seiner Art verändern läßt, ist mit Notwendigkeit die Idee des göttlichen Mittlers entsprungen, dessen, der diese Lage aus einer Qual in eine Seligkeit verwandelt, eine Idee, die alle magischen Religionen zusammenfaßt und sie von den Religionen aller andern Kulturen trennt.“ (UdA, S. 844)12
Überträgt man nun das biologistische Schema auf das Faktenmaterial des ersten Jahrtausends, ergibt sich für Spengler auf Grundlage einer sehr feinsinnigen Ausscheidung genuin spät-griechischer bzw. spät-römischer ebenso wie frühabendländischer Elemente folgendes Bild der geistigen Entwicklung der „magischen Kultur“, deren innere Logik nur dann ganz ersichtlich wird, wenn der Dialog der großen Denker radikal über die Sprachen- und Reichsgrenzen hinweg gedacht wird: „Aber daneben erscheint in diesen frühen Jahrhunderten auch eine prachtvolle Scholastik und Mystik magischen Stils, die an den berühmten Hochschulen des gesamten aramäischen Gebiets zu Hause ist: den persischen von Ktesiphon, Resain, Dschondisabur, den jüdischen von Sura, Nehardea und Pumbadita, denen anderer ‚Nationen‘ in Edessa, Nisibis, Kinnesrin. Hier sind die Hauptsitze einer blühenden Astronomie, Philosophie, Chemie und Medizin, aber nach Westen hin wird diese große Erscheinung durch die Pseudomorphose verdorben. Was magischen Ursprungs und Geistes ist, geht zu Alexandria und Beirut in die Formen griechischer Philosophie und römischer Rechtswissenschaft über; es wird in antiken Sprachen niedergeschrieben, in fremde und längst erstarrte Literaturformen gepreßt und durch die greisenhafte Denkweise einer ganz anders angelegten Zivilisation verfälscht. Damals und nicht mit dem Islam beginnt die arabische Wissenschaft. Aber weil unsere Philologen nur das entdeckten, was in spätantiker Fassung in Alexandria und Antiochia erschien, und von dem ungeheuren Reichtum der arabischen Frühzeit und den wirklichen Mittelpunkten ihres Forschens und Schauens nichts ahnten, konnte die absurde Meinung entstehen, ‚die Araber‘ seien geistige Epigonen der Antike gewesen. In Wirklichkeit ist so gut wie alles, was – von Edessa aus gesehen –
12
S. auch Spengler, UdA, S. 849–850: „Für das magische Menschendasein aber ergibt sich aus dem Gefühl von dieser Zeit und dem Erblicken dieses Raumes eine ganz einzige Art von Frömmigkeit, die ebenfalls höhlenhaft genannt werden darf, eine willenlose Ergebung, die das geistige Ich überhaupt nicht kennt und das geistige Wir, das in den beseelten Leib eingegangen ist, als bloßen Widerschein des göttlichen Lichtes empfindet. Das arabische Wort hierfür ist ‚islam‘, Ergebung, aber ‚islam‘ war auch die beständige Fühlweise Jesu und die jeder andern Persönlichkeit von religiösem Genie, die in dieser Kultur hervorgetreten ist.“
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Historische Einzelfragen jenseits der Philologengrenze dem heutigen Auge als Frucht spätantiken Geistes gilt, nichts als der Widerschein früharabischer Innerlichkeit.“ (UdA, S. 798–799)
Auf eine „vorbereitende“ Phase, welche den alttestamentlichen Propheten und dem frühen Zoroastrianismus entspricht, folgt der „Frühling“ der arabischen Kultur (0–300) mit dem Erwachen ihrer Seele in frühem Christentum, der Gnosis und dem Mithras-Kult, analog zur Geburt des klassischen Mythos oder des germanischen Katholizismus, wobei Denker wie Origenes, Plotin, Mani oder Iamblich Theologen wie Thomas von Aquin oder Duns Scotus, und die Kanonisierung von Avesta, Talmud und Neuem Testament der mittelalterlichen Scholastik entsprechen. Der „Sommer“ der magischen Kultur (300–650) wird durch die „Reformation“ der Nestorianer, Monophysiten und Mazdakiten eingeleitet, woraufhin die byzantinische, jüdische, koptische und persische Literatur des 6. und 7. Jahrhunderts den Vorsokratikern und der Philosophie des 17. Jahrhunderts entspricht, während der Islam, zusammen mit den Paulicianern und Ikonoklasten in dieser Sichtweise die morphologische Parallele zum abendländischen Puritanismus darstellt. Der „Herbst (650–1000) fällt mit dem klassischen Islam zusammen, wobei die Mu’taziliten und Sufis jeweils der europäischen Aufklärung und dem griechischen Sophismus zuzuordnen sind und Philosophen wie Alfarabi und Avicenna zu morphologischen Zeitgenossen von Platon und Aristoteles bzw. Goethe und Kant werden. Der „Winter“ schließlich setzt dann um 1000 ein und ist durch Materialismus, Skeptizismus, Kathederphilosophie und Kompendienliteratur geprägt, analog zur hellenistischen Philosophie oder zu der des 19. und 20. Jahrhunderts. Diese evolutorische Logik prägt dann auch Spenglers Bild der kunstgeschichtlichen Entwicklung der magischen Kultur, bei der Spengler tatsächlich eine Pionierleistung vorlegte, deren er sich völlig bewußt war: „Es ist ein Unglück, daß die Kunstforschung religiöse Grenzen wenn auch nicht mehr anerkennt, so doch unbewußt zugrunde legt. Denn es gibt weder eine spätantike noch eine altchristliche noch eine islamische Kunst in dem Sinne, daß die Gemeinschaft der Bekenner in ihrer Mitte einen eignen Stil ausgebildet hätte. Vielmehr besitzt die Gesamtheit dieser Religionen von Armenien bis nach Südarabien und Axum und von Persien bis Byzanz und Alexandria trotz aller Gegensätze im einzelnen einen künstlerischen Ausdruck von großer Einheitlichkeit. Alle diese Religionen, die christliche, jüdische, persische, manichäische, synkretistische besaßen Kultbauten und, zum wenigsten in der Schrift, ein Ornament vom höchsten Range; und mochten ihre Lehren im einzelnen noch so verschieden sein, so geht doch eine gleichartige Religiosität durch alle hindurch und fand in einem gleichartigen Tiefenerlebnis mit daraus folgender Raumsymbolik ihren Ausdruck. Es gibt etwas in den Basiliken der Christen, hellenistischen Juden und Baalskulte, in den Mithräen, mazdaischen Feuertempeln und Moscheen, was von einem gleichen Seelentum spricht: das Höhlengefühl.“ (UdA, S. 270)
Die achaimenidische und seleukidische Zeit entsprechen etwa der merowingischen bzw. karolingischen und der mykenischen; die zunächst bildhafte, dann zunehmend ornamentale Kunst der Sassaniden, Byzantiner und Syrer in der 1.
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Hälfte des 1. Jht.s dem romanischen und gotischen Stil im Abendland und dem dorischen in Griechenland; die Erfindung der Zentralkuppel, die Entwicklung der Mosaikkunst und die Arabeske sind Parallelen zum Barock und Rokoko; die umayyadische Periode ist, wie die Kunst des 5. vorchristlichen oder des 18. nachchristlichen Jahrhunderts, der eigentlich „klassische“ Moment der magischen Kultur; die Abbasiden entsprechen dem Klassizismus und der Romantik bzw. der Alexanderzeit; und die „Sultansdynastien“ des 9. und 10. Jahrhunderts sind Zeitgenossen des Hellenismus und der Moderne, bevor es dann unter den Seldjuken zur zivilisatorischen Versteinerung kommt, analog zu der der Antike unter den Caesaren oder der westlichen Welt ab 2000. Interessanterweise fehlt zumindest in den komparatistischen Tabellen eine Einbeziehung der „magischen“ Kultur in die politische Geschichte, doch läßt sich diese natürlich einfach aus dem oben gesagten ablesen und steht allgemein unter der hellsichtigen Grundvoraussetzung der Unmöglichkeit einer Trennung zwischen geistlichem und politischem Bereich: „Die islamische Gemeinschaft umfaßt wie die des Porphyrios und Augustin die ganze Welthöhle, das Diesseits wie das Jenseits, die Rechtgläubigen wie die guten Engel und Geister, und in dieser Gemeinschaft bildet der Staat nur eine kleinere Einheit der sichtbaren Seite, deren Wirksamkeit also durch das Ganze geregelt wird. Eine Trennung von Politik und Religion ist also in der magischen Welt theoretisch unmöglich und widersinnig, während der Kampf zwischen Staat und Kirche auch der Idee nach in der faustischen Kultur notwendig und ohne Ende ist.“ (UdA, S. 854)
8.2.2 Spenglers „magische Kultur“ und die neue Islamforschung Es ist offensichtlich, daß Spengler, obwohl er nur den sehr unvollständigen Forschungsstand des frühen 20. Jahrhunderts rezipieren konnte und zudem der arabischen Sprache nicht mächtig war, zahlreiche Einsichten der gegenwärtigen Islamforschung vorweggenommen hat, und dies, umso interessanter, nicht auf Grundlage neuer sachlicher Erkenntnisse, sondern vielmehr eines apriorisch gewonnenen geschichtsphilosophischen Perspektivwechsels. Bereits die generelle Idee, nämlich antik-jüdische, frühchristliche und islamische Kultur nicht etwa zu trennen, sondern vielmehr in enger Verbindung, ja logischer Konsequenz zu sehen, ist heute aktueller denn je,13 und wenn freilich in der Forschung die grundlegende Rolle des christlichen und antiken Erbes für die Entstehung der islamischen Kultur nie bezweifelt wurde und ja bereits von den Zeitgenossen wie etwa bei Johannes Damascenus (wenn auch
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Vgl. etwa Grypeou 2006; Sarris 2011; Bauer 2018; Bowersock 2019.
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Historische Einzelfragen
nicht ohne Polemik) ganz besonders betont wurde,14 ist es überaus bemerkenswert, daß für Spengler das Aufkommen des Islam keine Zäsur darstellt, sondern eigentlich nur eine lineare Weiterentwicklung, ja geradezu eine Befreiung bzw. Rückkehr der magischen Kultur zu ihren eigentlichen Wurzeln. Denn der Islam ist für Spengler keine „neue“ Religion, sondern bloß eine Entwicklungsstufe im Bereich der magischen Religiosität: „Der Islam ist so wenig eine Wüstenreligion wie der Glaube Zwinglis eine Religion des Hochgebirges. Es ist ein Zufall, daß die puritanische Bewegung, für welche die magische Welt reif geworden war, von einem Manne aus Mekka und weder von einem Monophysiten noch Juden ausging. […]. Mekka war eine kleine Insel altarabischen Heidentums mitten in einer Welt von Juden und Christen, ein kleiner Rest, der längst von den Gedanken der großen magischen Religionen durchsetzt war. Das wenige, was von diesem Heidentum in den Koran eindrang, ist durch den Kommentar der Sunna und ihren syrisch-mesopotamischen Geist später forterklärt worden. Der Islam ist eine neue Religion fast nur in dem Sinne, wie das Luthertum eine war. In Wirklichkeit setzt er die großen Frühreligionen fort. Und ebensowenig ist seine Ausbreitung, wie immer noch geglaubt wird, eine Völkerwanderung, die von der arabischen Halbinsel ausgeht, sondern ein Ansturm begeisterter Bekenner, der lawinengleich die Christen, Juden und Mazdaisten mit sich reißt und als fanatische Moslime alsbald an der Spitze führt. Es waren Berber aus der Heimat Augustins, die Spanien eroberten, und Perser aus dem Irak, die zum Oxus vordrangen.“ (UdA, S. 932–933)15
14
15
Zur Islamdeutung des Johannes Damascenus vgl. einführend Sahas 1972; Op de Coul/Poorthuis 2011. Vgl. auch Spengler, UdA, S. 276: „Dies allein erklärt die ungeheure Vehemenz, mit welcher die durch den Islam auch künstlerisch endlich befreite und entfesselte arabische Kultur sich auf alle Länder warf, die ihr seit Jahrhunderten innerlich zugehörten, das Zeichen einer Seele, die fühlt, daß sie keine Zeit zu verlieren hat, die voller Angst die ersten Spuren des Alters bemerkt, bevor sie eine Jugend hatte. Diese Befreiung des magischen Menschentums ist ohnegleichen. Syrien wird 634 erobert, man möchte sagen erlöst; Damaskus fällt 635, Ktesiphon 637. 641 wird Ägypten und Indien erreicht, 647 Karthago, 676 Samarkand, 710 Spanien; 732 stehen die Araber vor Paris. So drängt sich hier in der Hast weniger Jahre die ganze Summe aufgesparter Leidenschaft, verspäteter Schöpfungen, zurückgehaltener Taten zusammen, mit denen andre Kulturen, langsam aufsteigend, die Geschichte von Jahrhunderten füllen konnten.“ S. ähnlich UdA, S. 878– 879: „Den Islam muß man als den Puritanismus der gesamten Gruppe frühmagischer Religionen betrachten, der nur in Form einer neuen Religion aufgetreten ist und zwar im Bereich der Südkirche und des talmudischen Judentums. In dieser tieferen Bedeutung und nicht allein in der Wucht des kriegerischen Ansturms liegt das Geheimnis seiner märchenhaften Erfolge. Obwohl er aus politischen Gründen eine erstaunliche Toleranz übte – der letzte große Dogmatiker der Griechenkirche, Johannes Damaszenus, war unter dem Namen AI Mansor Schatzmeister des Khalifen –, sind Judentum und Mazdaismus und die christlichen Süd- und Ostkirchen sehr rasch und so gut wie vollständig in ihm verschwunden.“
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Interessant im Lichte der neuen Qur’anforschung und vor allem der Saarbrücker Schule16 ist dabei auch Spenglers ganz besondere Betonung der Tatsache, daß der Qur‘an als von Gott auf die Erde gesandtes Buch ebenfalls keineswegs ein Novum darstellt, sondern eine mehr oder weniger bewußte Übertragung bereits vorhandener religionsgeschichtlicher Modelle der magischen Welt auf die neue Wirklichkeit der arabischen Sendung. Wenn Spengler auch die Frage nach der Genese des Textes ausblendet, unterstreicht seine Ansicht doch einmal mehr die enge Verbindung zwischen der islamischen Offenbarung und den Vorläuferreligionen, wie sie die neue Forschung durch Betonung der aramäisch-monarchianischen Wurzeln und der sukzessiven Zusammenstellung bzw. Überarbeitung des Textes herausgearbeitet hat:17 „Das heilige Buch, in dem es sichtbar in Erscheinung getreten, in das es mittels einer heiligen Schrift gebannt worden ist, gehört zum Bestande jeder magischen Religion. […] Eine magische Offenbarung ist ein mystischer Vorgang, in welchem das ewige und unerschaffene Wort der Gottheit – oder die Gottheit als Wort – in einen Menschen eingeht, um durch ihn die ‚offenbare‘, sinnliche Gestalt von Lauten und vor allem von Buchstaben zu erhalten. Koran bedeutet ‚Lesung‘. Mohamed hat in einer Vision im Himmel verwahrte Schriftrollen erblickt, die er ‚im Namen des Herrn‘ – obwohl er nicht lesen gelernt hat – entziffern konnte. Das ist eine Form der Offenbarung, die in dieser Kultur Regel und in den andern nicht einmal Ausnahme ist, aber sie hat sich erst seit Kyros herangebildet. Die altisraelitischen Propheten und sicherlich auch Zarathustra sehen und hören in der Verzückung Dinge, die sie später verbreiten. Das deuteronomische Gesetzbuch ist 621 ‚im Tempel gefunden worden‘, das heißt, es soll als Weisheit der Väter gelten. Das erste und zwar sehr bewußte Beispiel eines ‚Koran‘ ist das Buch des Hesekiel, das der Autor in einer ausgedachten Vision von Gott empfängt und ‚verschlingt‘ (Kap. 3). Hier ist in der denkbar gröbsten Form ausgedrückt, was später dem Begriff und der Gestalt des gesamten apokalyptischen Schrifttums zugrunde liegt. Aber allmählich gehörte eine solche substanzielle Form der Empfängnis zu den Bedingungen jedes kanonischen Buches. Aus nachexilischer Zeit stammt die Vorstellung von den Gesetzestafeln, die Moses am Sinai erhält. Später wurde für die ganze Tora, etwa seit der Makkabäerzeit für die meisten Schriften des Alten Testaments ein solcher Ursprung angenommen. Seit dem Konzil von Jamnia (um 90 n. Ghr.) gilt das ganze Werk als „Eingebung“ im buchstäblichen Sinne. Aber ganz dieselbe Entwicklung hat in der persischen Religion stattgefunden bis zur Heiligsprechung des Awesta im 3. Jahrhundert, und der gleiche Begriff der Eingebung erscheint in der zweiten Vision des Hermas, in den Apokalypsen, den chaldäischen, gnostischen und mandäischen Schriften und er liegt endlich wie etwas ganz Natürliches den Vorstellungen der Neupythagoräer und
16
17
Viele der Forschungen der Saarbrücker Schule finden sich in den Sammelbänden der Forschungsgruppe Inârah vereint: Ohlig/Puin 2005; Ohlig 2007; Groß/Ohlig 2008, 2009, 2010, 2011, 2014, 2017. Zur sukzessiven Entstehungsgeschichte des Qur’an vgl. etwa (neben den Publikationen von Inârah) Crone/Cook 1977; Wansbrough 1977; Wild 1996; Cook 2000; Luxenberg 2007; Reynolds 2008; Schumann 2002; Tarif 2003; Saritoprak 2014.
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Historische Einzelfragen Neuplatoniker von den Schriften ihrer Meister stillschweigend zugrunde.“ (UdA, S. 855–857)18
Es ist dabei bemerkenswert, daß Spengler selbst die enorme, vielleicht entscheidende Funktion des marcionitischen Evangeliums19 in ihrem vollen Licht erkannt worden, betrachtet er diesen Text doch eben nicht als apokryphe Abweichung von der Norm, wie sie von den Kirchenvätern behauptet wurde und lange die Forschung prägte, sondern vielmehr als paradigmatisches Urbild der neugeschaffenen Literaturgattung des „heiligen Buchs“, wie es im Qur’an kulminieren sollte: „Den letzten Schritt in dieser Richtung wollte der Mann tun, welcher Paulus an organisatorischer Begabung gleich, an geistiger Gestaltungskraft weit überlegen war, der an Sinn für das Mögliche und Tatsächliche aber hinter ihm zurückstand und deshalb mit seinen großartigen Absichten gescheitert ist: Marcion. Er erblickte in der Schöpfung des Paulus mit allen ihren Folgen nur die Unterlage zur Stiftung der eigentlichen Erlöserreligion. Er empfand das Sinnlose der Tatsache, daß Christentum und Judentum, die sich rücksichtslos verwarfen, dieselbe heilige Schrift, nämlich den jüdischen Kanon besitzen sollten. […] Paulus, der Prophet, hat das Alte Testament für erfüllt und abgeschlossen erklärt; Marcion, der Religionsstifter, erklärt es für überwunden und abgeschafft. […] Wie jeder echte Religionsstifter und jede im Religiösen schöpferische Zeit, wie Zarathustra, die israelitischen Propheten, wie die homerischen Griechen und die zum Christentum bekehrten Germanen hat er die alten Götter in verworfene Mächte verwandelt, Jehovah ist als der Schöpfergott das ‚gerechte‘ und also das böse, Jesus als Verleiblichung des Erlösergottes in dieser bösen Schöpfung das „fremde“, also das gute Prinzip. Das magische und im besonderen persische Grundgefühl ist ganz unverkennbar. […] Damit wurde Marcion der eigentliche Schöpfer des Neuen Testaments. Aber deshalb muß nun die ihm eng verwandte Gestalt jenes rätselhaften Unbekannten genannt werden, der nicht lange vorher das Evangelium ‚nach Johannes‘ geschrieben hatte. Er wollte damit die eigentlichen Evangelien weder vermehren noch ersetzen, sondern er hat, anders als Markus, mit vollem Bewußtsein etwas ganz Neues geschaffen, das erste ‚heilige Buch‘ im christlichen Schrifttum, den Koran der neuen Religion.“ (UdA, S. 833–834)
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Spengler, UdA, S. 857–858: „Die junge Jesusreligion hat ursprünglich wie Jesus selbst die jüdischen Schriften als Kanon anerkannt. Die ersten Evangelien erheben durchaus nicht den Anspruch, ‚das Wort‘ der Gottheit in sichtbarer Gestalt zu sein. Das Johannesevangelium ist die erste christliche Schrift, die mit offenbarer Absicht als Koran gelten will, und von ihrem unbekannten Schöpfer geht überhaupt erst der Gedanke aus, daß es einen christlichen Koran geben könne und müsse. Die schwere Entscheidung, ob die neue Religion mit der von Jesus geglaubten brechen solle, kleidet sich mit innerer Notwendigkeit in die Frage, ob man die jüdischen Schriften als Inkarnationen der einen Wahrheit noch anerkennen dürfe; sie ist von ‚Johannes‘ schweigend und von Marcion laut verneint, von den Kirchenvätern aber, was unlogisch war, bejaht worden. […] Aber ein solcher Koran ist dem Wesen nach unbedingt richtig und deshalb unveränderlich und keiner Verbesserung fähig. Es entwickelt sich deshalb die Gewohnheit der geheimen Interpolationen, um den Text mit den Überzeugungen der Zeit in Einklang zu bringen.“ Allg. zum marcionitischen Evangelium s. von Harnack 1924; May/Greschat 2002; Klinghardt 2015.
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Sogar Muhammad wird von Spengler, erneut in inniger Nähe zum gegenwärtigen Zweifel an der Historizität der Überlieferung, ja teils sogar der Person selbst,20 weniger als einmalige Erscheinung gesehen, sondern eher als eine von der geschichtlichen Dynamik gleichsam herbeigezwungene Funktion, was einmal mehr die arabische Expansion in einem neuen Licht scheinen läßt. Denn der Islam ist für Spengler, wie gesagt, keine „neue“ Religion, sondern bloß eine puritanische Neuerungsbewegung innerhalb des monotheistischen magischen Religionsbewußtseins: „Ein gereinigter und begrifflich befestigter Mythus mit einer rigorosen Sittenlehre verlieh den Auserwählten des Pythagoräerbundes die Überzeugung, vor allen andern zum Heil zu gelangen. […] Es ist dieselbe Überzeugung, die der Koran all denen verlieh, die im heiligen Kriege gegen die Ungläubigen fochten — ‚das Mönchtum des Islam ist der Religionskrieg‘ lautet ein Hadith des Propheten — und mit welcher Cromwells Eisenseiten die ‚Philister und Amalekiter‘ des königlichen Heeres bei Marston Moor und Naseby zersprengten.“ (UdA, S. 932)21
Selbst im Bereich der Erforschung des Rechtssystems hat Spengler mit der „magischen Kultur“ völlig neuartige Wege beschritten,22 war es für sein System doch unumgänglich, daß die arabisch-magische Kultur dem Religions- wie Rechtssystem der klassischen Antike nur Unverständnis entgegenbringen konnte, in Anbetracht ihrer Einbindung in die Pseudomorphose dieses System aber nur von innen heraus allmählich umwandeln konnte, so daß die zahlreichen Jahrhunderte, welche zu dieser allmählichen Umbildung nötig waren, dem naiven Betrachter auf den ersten Blick fälschlicherweise eher eine Weiterentwicklung als eine vollständige Umdeutung des antiken Rechts zu bezeichnen scheinen: „Die erste Schöpfung des arabischen Rechts war der Begriff der nichtkörperlichen Person. [...] Um diese für das neue Weltgefühl so bezeichnende Größe ganz zu würdigen, die im echt antiken Recht fehlt und bei den ‚klassischen‘ Juristen, die sämtlich Aramäer waren, plötzlich da ist, muß man den wahren Umfang des arabischen Rechts kennen. Die neue Landschaft umfaßt Syrien und das nördliche Mesopotamien, Südarabien und Byzanz. Hier ist überall ein neues Recht im Werden, mündliches oder geschriebenes Gewohnheitsrecht frühen Stils, wie wir es aus dem Sachsenspiegel kennen. Und da ergibt sich etwas Erstaunliches: aus dem Recht 20
21
22
Zum Zweifel an der Existenz Muhammads vgl. neben den Publikationen von Inârah v.a. Blachère 1952; Donner 1998; ibn Warraq 2000. S. ähnlich Spengler, UdA, S. 993–994: „Die großen Gestalten der Umgebung Mohameds wie Abu Bekr und Omar sind durchaus den puritanischen Führern der englischen Revolution wie John Pym und Hampden verwandt, und diese Ähnlichkeit der Gesinnung und Haltung würde noch größer sein, wüßten wir mehr von den Hanifen, den arabischen Puritanern vor und neben Mohamed. Sie besaßen alle das Bewußtsein einer großen Sendung, das sie Leben und Besitz verachten ließ; sie hatten alle aus der Prädestination für sich die Bürgschaft gewonnen, die Auserwählten Gottes zu sein.“ Allg. zur Stellung der Rechtsgeschichte bei Spengler s. Keppeler 2014; Novák, 2016; Barta 2018.
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Historische Einzelfragen einzelner Stadtstaaten, wie es auf antikem Boden selbstverständlich war, ist hier in aller Stille das Recht von Glaubensgemeinschaften geworden. Das ist ganz magisch. Es ist stets ein pneuma, ein gleicher Geist, ein identisches Wissen und Verstehen der alleinigen Wahrheit, welches die Bekenner derselben Religion jedesmal zur Einheit des Wollens und Handelns, zu einer juristischen Person zusammenfaßt. Eine juristische Person ist also ein kollektives Wesen, das als Ganzes Absichten hat, Entschlüsse faßt und Verantwortungen trägt. Der Begriff gilt schon, wenn man das Christentum betrachtet, von der Urgemeinde in Jerusalem und reicht hinauf bis zur Dreieinigkeit der göttlichen Personen.“ (UdA, S. 635–636)
Die Entstehung dieser neuen, „magischen“ Rechtsform war dabei wesentlich durch die allmähliche Umwandlung der gesellschaftlichen (und religiösen!) Bezugsgröße des Rechts geprägt. Denn während Recht und Religion im antiken Staatswesen wesentlich durch den Einfluß apollinischer Körperhaftigkeit dominiert wurden und sich kultisch in der meist nur oberflächlich zu einem einzigen Pantheon zusammengefaßten Ansammlung von Lokalgöttern und ihrer jeweiligen örtlichen Mythen manifestierte, politisch aber in einem wesentlich am autonomen Stadtstaat orientierten Verwaltungsprinzip verkörperte, bewirkte der Übergang zur magischen Kultur ein grundsätzliches Aufbrechen des apollinischen Weltbilds. Nunmehr waren es nämlich nicht mehr räumlich wie körperlich engbegrenzte Bezugspunkte, welche die Identität des Menschen bestimmten, sondern vielmehr dessen innere, seelische Zugehörigkeit zu einer abstrakten und überregionalen Kultgemeinde – eine Entwicklung, die neben der rechtlichen und religiösen auch tiefe gesellschaftliche Konsequenzen hatte.23 In dieser Hinsicht bedeutete die Constantinische Wende daher nicht nur kultisch, sondern auch juristisch eine entscheidende Zäsur in der „magischen“ Geschichte und eine wichtige Etappe im Aufbrechen der Fesseln der Pseudomorphose: „Schon das spätantike Recht der kaiserlichen Erlasse vor Konstantin (constitutiones, placita) gilt, obwohl die römische Form des Stadtrechts streng gewahrt wird, ganz eigentlich für die Gläubigen der ‚synkretistischen Kirche‘, jener Masse von Kulten, die alle von derselben Religiosität durchdrungen sind. Während im damaligen Rom das Recht von einem großen Teil der Bevölkerung sicher noch als das Recht eines Stadtstaates empfunden wurde, verlor sich das Gefühl mit jedem Schritt nach Osten. Die Zusammenfassung der Gläubigen zu einer Rechtsgemeinschaft geschah in aller Form durch den Kaiserkult, der durchaus göttliches Recht war. In bezug auf ihn haben sich Juden und Christen – die persische Kirche ist nur in der antiken Form des Mithraskultus und also im Rahmen des Synkretismus auf antikem Boden erschienen – als Ungläubige eigenen Rechts in einem fremden Rechtsgebiet eingenistet. Als der Aramäer Caracalla 212 durch die constitutio Antonina allen Bewohnern außer den dediticii das Bürgerrecht gab, war die Form dieses Aktes echt antik, und es gab zweifellos viele Menschen, die sie so verstanden. Die Stadt Rom hatte damit die Bürger aller andern sich buchstäblich ‚einverleibt‘. Der Kaiser selbst aber empfand ganz anders. Er hatte damit alle zu Untertanen des ‚Herrschers der Gläubigen‘ gemacht, des als divus verehrten Oberhauptes der Kultreligion. Mit Konstantin kam 23
Zum „magischen Recht“ vgl. Keppeler 2018; Morgenthaler 2020
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die große Wandlung: er hat als Objekt des kaiserlichen Kalifenrechts an die Stelle der synkretistischen die christliche Glaubensgemeinschaft gesetzt und damit die christliche Nation konstituiert. Die Bezeichnungen fromm und ungläubig wechseln ihren Platz. Seit Konstantin wird das ‚römische‘ Recht ganz unvermerkt immer entschiedener zum Recht der rechtgläubigen Christen und als solches ist es von den bekehrten Asiaten und Germanen aufgefaßt und angenommen worden.“ (UdA, S. 635–636)
Resultat dieser Entwicklung ist daher die Entstehung zahlreicher paralleler Rechtstraditionen,24 welche – ganz im Gegensatz zum nur lokal gültigen, überregional aber an hegemoniale Bedingungen geknüpften Recht des antiken Stadtstaats – zwar überall da Gültigkeit haben, wo Mitglieder ihrer Glaubensgemeinschaften ansässig sind, aber im Regelfall eben auch nur auf diese begrenzt sind: „Und damit entsteht eine Gruppe früharabischer Rechte, die ebenso entschieden nach Religionen gesondert ist, wie die Gruppe der antiken Rechte nach Stadtstaaten. Im Sassanidenreich entwickeln sich eigne Rechtsschulen zoroastrischen Rechts; die Juden, die einen gewaltigen Teil der Bevölkerung von Armenien bis Saba bilden, schaffen sich ein Recht im Talmud, der einige Jahre vor dem Corpus juris abgeschlossen wird. Jede dieser Kirchen besitzt unabhängig von den jeweiligen Landesgrenzen eine eigne Rechtsprechung wie noch im heutigen Orient, und nur bei einem Streit zwischen Bekennern verschiedener Religionen entscheidet der Richter, welcher der im Lande herrschenden angehört.“ (UdA, S. 637)
Selbst die Art der Textanalyse zwischen jüdischem, spätantikem, frühchristlichen und islamischem Recht weist bei näherem Hinsehen Kontinuität, nicht Bruch auf: „Die Digesten und Kommentare dieser Juristen stehen zum erstarrten antiken Gesetzesstoff in genau demselben Verhältnis wie die Mischna zur Tora des Moses und viel später die Hadith zum Koran; sie sind ‚Halacha‘, neues Gewohnheitsrecht, welches in der Form einer Interpretation der autoritativ überlieferten Gesetzesmasse erfaßt wurde. Die kasuistische Methode ist überall genau die gleiche.“ (UdA, S. 639)
8.3
Zum Schluß: Versuch einer Kritik
8.3.1 Konventionelle Kritik Wir würden Spenglers Werk nun aber nicht gerecht werden, wenn wir uns mit seinem Oeuvre ausschließlich aus antiquarischer Perspektive beschäftigen und 24
Zur Rechtspluralität in der „magischen“ Kultur vgl. Schacht 1950; Melchert 1997; Bearman 2005.
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ihn bestenfalls als bloßen „Vorreiter“ heutiger Erkenntnisse gelten lassen würden, denn Spenglers Selbstanspruch beschränkte sich ja keineswegs nur darauf, eine in Anbetracht des Wissensstandes seiner eigenen Zeit bestmögliche Darstellung von Fakten zu liefern, sondern vielmehr eine philosophische Einsicht in die Geschichte zu formulieren, welche zwar in einzelnen Details zu modifizieren und zu korrigieren sein werde, der aber ein überzeitlicher Wahrheitsanspruch innewohne.25 Daher soll im folgenden abschließend versucht werden zu diskutieren, inwieweit die manifesten Problem der Spengler’schen Theorie, gerade, was die „magische Kultur“ betrifft, tatsächlich das gesamte System infragestellen, oder nicht. Es nimmt nicht wunder, daß gerade Spenglers „magische Kultur“, nach Joseph Vogt das „Fragwürdigste in der ganzen Konstruktion“,26 den ärgsten Anfeindungen ausgesetzt war, wie etwa in Manfred Schröter Band „Der Streit um Spengler“ wohl dokumentiert ist,27 doch handelt es sich bei den meisten eher um ideologische denn vielmehr sachliche Kritiken. Im 21. Jahrhundert ist es dabei freilich nur noch von antiquarischem Interesse zu vermerken, daß es zunächst die theologischen Kollegen waren, welche sich kaum mit der Aussicht abzufinden vermochten, das „magische“ Christentum des 1. Jahrtausends sei von dem des „faustischen“ des 2. Jahrtausends grundsätzlich zu unterscheiden, und das eigentliche Erbe Jesu Christi selber sei in vielerlei Hinsicht eher vom Islam aufgenommen worden als von der mittelalterlichen Scholastik, welche gewissermaßen die eigentliche Intention des Religionsstifters mißverstanden habe. Es wäre interessant, einmal die genuin arabisch-islamische Rezeption von Spenglers „magischer Kultur“ zu prüfen, bei welcher zweifellos ein diametral anderes Verständnis von Spenglers These zur Geschichte der Levante zu erwarten ist, doch würde ein solches Unterfangen umfangreiche rezeptionsgeschichtliche Vorstudien erfordern, die in diesem Rahmen nicht erbracht werden können; wir wollen der Vollständigkeit halber nur darauf hinweise, daß die (leider eher schlechte) französische Spengler-Übersetzung von Mohand Tazerout, einem Algerier, verfaßt wurde, der sich als glühender SpenglerVerehrer betrachtete und gerade Spenglers Interpretation der magischen Kultur voll und ganz unterstützte.28
25 26 27 28
Vgl. allg. Engels 2019b (= Kap. 3). Vogt 1961, S. 64. Schröter 1922. Mohand Tazerout (geb. 1893 in Azazga, Kabylei, Algerien; gestorben 1973 in Tanger) verfaßte u.a.: Les problèmes de la coexistence pacifique. Le mal et la foi en sa guérison possible, Monte-Carlo 1960; L’Algérie de demain, Monte-Carlo 1960 (unter dem Pseudonym Moutawakkil); Histoire politique de l’Afrique du Nord, Rodez 1961; Manifeste contre le racisme, Rodez 1963.
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Auch würde es in diesem Rahmen zu weit gehen, die unlängst noch von Demandt zusammengefaßte, teils vehemente Kritik der Althistoriker zu diskutieren,29 welche natürlich die Ansicht, die „eigentliche“ Antike ende mit Augustus, und alles Folgende gehöre entweder zu einer Art Fossilisierungsphase oder sei dem Islam verwandter als dem klassischen Heidentum, kaum schätzen konnten und aus diesen Gründen starke Plädoyers für Kontinuität anstatt Bruch bzw. „planmäßigem Mißverstehen“ lieferten, wobei es sich bei diesen althistorischen Kritiken typischerweise meist um nur punktuelle Einzelbetrachtungen handelte, welche den Großteil der von Spengler ins Feld geführten, für seine Zeit erstaunlich breitgestreckten Argumenten einfach ausließen und daher natürlich weit am Ziel vorbeischossen.
8.3.2 Die iranische Kultur Während nun die meisten Kritikpunkte der konventionellen Spengler-Rezeption wesentlich ideologischer Art sind und keine wirkliche inhaltliche Refutatio der „magischen Kultur“ darstellen, sind einige weitere Argumente eher objektiver und konstruktiver Art durchaus ernst zu nehmen, führen aber nicht zu einer eigentlichen „Widerlegung“ der Kulturmorphologie, sondern sind vielmehr Anreiz zu einer kreativen Überarbeitung und Verbesserung. Ein erstes, von mir selbst vor einigen Jahren vorgebrachtes und umfangreich diskutiertes Problem ist die Inklusion der iranischen Welt in Spenglers magische Kultursphäre.30 Das Problem, das ich daher im folgenden nur kurz umreißen will, ist doppelter Art. Erstens scheint die institutionelle Geschichte der iranischen Welt, genauer betrachtet, kaum zu der der levantinischen zu passen, wie Spengler sie beschreibt: Das eigentliche Äquivalent zur ottonischen Reichseinigung scheint im Iran nicht bei den Arsakiden, sondern eher bei den Achaimeniden zu liegen, und ebenso paßt die feudale Ära eher zum Seleukidenreich, das ancien régime zur Partherzeit, die napoleonische Ära zu den Sassaniden und das abschließende Weltreich zu Großkönig Chosroes und seinen Nachfolgern. Wir müßten hier also eine Verschiebung von fast einem halben Jahrtausend im Vergleich zum eigentlichen Rhythmus der „magischen“ Kultur vornehmen, was nahelegt, die iranische Welt eher als eine eigene Spengler’sche Kultur zu betrachten. Dies leitet zum zweiten Punkt über, nämlich der Tatsache, daß auch auf geistiger Ebene der Iran und die Levante nicht wirklich zueinander passen wollen und eine Trennung beider Sphären übrigens bereits unterschwellig in Spenglers eigenem Denken angelegt ist. Wir erwähnten bereits, daß das „Unten“ und „Oben“ der von Spengler beschriebenen magischen „Welthöhle“ je nach 29 30
Vgl. hierzu v.a. die bei Demandt 2017 vereinten Studien. Zu den folgenden Überlegungen vgl. umfangreicher: Engels 2017c (= Kap.9).
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Historische Einzelfragen
Anlaß von ihm selber doppelt interpretiert wird, nämlich einmal im Sinne eines moralischen Dualismus zwischen Gut und Böse, dann aber in dem eines ontologischen zwischen Gott und Mensch bzw. Gott und Materie. Diese Kategorien sind aber grundlegend unterschiedlicher Art, ist der erste Dualismus doch vollkommen unüberbrückbar, während der zweite vielmehr zur notwendigen Entstehung der verschiedensten Emanationslehren führt. Hierbei ist offensichtlich, daß der erste Fall wesentlich das iranische, mazdaische Denken prägte, welches sich kaum mit dem Problem der Vermittlung göttlichen und menschlichen Wesens auseinandersetzte und vom Mazdaismus über den Manichäismus und Zrvanismus bis hin zum Mazdakismus vielmehr damit beschäftigt war, den immer latenten moralischen Dualismus zwischen Ahura Mazda und Ahriman mehr oder weniger zu Gunsten des ersteren auszulegen. Das eigentlich „magische“ Denken aber, wie wir es in Judentum, Christentum und Islam finden, ist streng monotheistisch und hat sich seit je gegen die Versuchung des Dualismus gewehrt und vielmehr versucht, eine Erklärung zu finden, auf welchem Wege zwischen göttlicher Fülle und menschlicher Beschränktheit vermittelt werden kann: Die Ablehnung des Manichäismus durch den Hl. Augustinus ist hierfür ein ebenso paradigmatisches Beispiel wie die dualistische Fehldeutung des Christentums durch Mani. Auch hier würde die Annahme einer iranischen Kultur also durchaus Sinn machen und helfen, das Profil der eigentlichen „magischen“ Kultur zu schärfen und noch klarer vom faustischen abzugrenzen: Als wesentlich für die dergestalt korrigierte magische Weltsicht des frühen Christentums und des Islam wäre das Problem der Vermittlung zwischen den verschiedenen hierarchischen Substanzen der „Welthöhle“, welches in Kontrast stünde zum „faustischen“ Christentum, in dessen Zentrum vielmehr die Umdeutung des Gottesbegriffs zu einer dynamischen Funktion stünde, wie sie uns nicht nur in der mittelalterlichen trinitarischen Theologie eines Joachim von Fiore, sondern selbst noch in Hegels ternärer Dialektik entgegentritt.
8.3.3 Zur Datierung der magischen Kultur Trennt man die „magische“ von der „iranischen“ Kultursphäre, und zieht man die eigentliche Ostgrenze der ersteren am Tigris und nicht am Indus, fällt schlagartig eine ganze Reihe von Komplikationen weg, wenn auch einige Probleme bleiben, die vor allem chronologischer Art sind und auch hier zu einer gewissen Korrektur einladen. Es ist bezeichnend, daß Spengler in seinen vergleichenden Kulturtafeln zwar die magische Geistes- und auch die Kunstgeschichte systematisch darstellt, nicht aber die politische Geschichte, und es ist wohl auch kein Zufall, daß diese im „Untergang“ selbst nur recht kurz beschrieben wird, wobei sich die
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islamische Zeit ganz auf einige Anspielungen auf die großstädtische Gesellschaftsgeschichte der Abbasiden und die seit den Seldjuken und anderen „Sultansdynastien“ einsetzende „Fellachenzeit“ begrenzt. Einer genaueren Betrachtung hält Spenglers Kennzeichnung der inneren politischen Dynamik der „magischen“ Kultur allerdings nicht stand. Denn fügen wir die bei Spengler verstreuten chronologischen Hinweise zusammen, fällt auf, daß die „magische“ Kultur eine enorme chronologische Spannbreite beansprucht, findet sie doch im Achaimenidenreich des 6. Jahrhunderts und den biblischen Propheten ihre erste, „karolingische“ Vorbereitung und erst unter den Seldjuken ihre eigentliche Vollendung, überspannt also nahezu 1700 Jahre, ganz im Gegensatz zu den anderen Kulturen, welche generell eine bloß 1000jährige Lebensdauer haben. Zudem ist jene Zeit, die von Spengler am eindringlichsten als Äquivalent der „Moderne“ beschrieben wird, ganz klar die frühe Abbasidenzeit, während die Seldjuken fast ein Vierteljahrtausend später ihre eigentliche Blütezeit erleben. Bedeutet diese Inkohärenz aber gleich eine Widerlegung des Spengler’schen Modells? Nicht unbedingt: Zäumen wir das Pferd chronologisch von hinten auf, ist zu erwähnen, daß das Seldjukenreich, welches ja gewissermaßen die „römische“ Zeit der magischen Kultur darstellen soll, aufgrund seines weitgehend iranischen Fokus kaum noch ernsthaft in Betracht kommt; ein erheblich besserer Kandidat aber wäre hier sicherlich das zudem etwas früher zu datierende Fatimidenreich, welches gegen Ende des 10. Jahrhunderts tatsächlich nicht nur Nordafrika, sondern auch die Levante, den Hedschas und zeitweise sogar Teile des Iraq beherrschte und somit nahezu die Gesamtheit des magischen Kulturraums kontrollierte.31 Das Fatimidenreich war dabei aber nicht nur die letzte große Reichsbildung im islamischen Raum vor den Osmanen, sondern stellte auch auf geistesgeschichtlichem Gebiet eine Art Endpunkt, setzte doch mit dem 11. Jahrhundert eine gewisse Sklerose des muslimischen Denkens ein, die oft mit dem Schlagwort der Schließung der Pforten des Ijtihad verbunden wird und auch von den islamischen zeitgenössischen Quellen oft genug mit Bedauern behandelt wird.32 Hiervon ausgehend würde die Abbasidenzeit, die sich ja wesentlich durch den Verfall und die Zersplitterung des islamischen Machtbereichs kennzeichnet, nicht mehr die „napoleonische“ oder alexandrinische Ära der magischen Kultur darstellen, wie bei Spengler suggeriert, sondern vielmehr diejenige, die dem Verfall der hellenistischen Reiche im 2. und 1. Jahrhundert und der abendländischen Geschichte seit dem 20. Jahrhundert entspräche,33 was es auch ermöglicht, die Mu’taziliten eben nicht als frühe Aufklärer im Sinne des 31
32 33
Allg. zu den Fatimiden s. Halm 1991; Brett 2001; Halm 2003. S. zur Herrschaftsdarstellung der Fatimiden in komparatistischer Perspektive auch Engels 2017e Zur Schließung der Pforten des Ijtihad, vgl. Hallaq 1984. Allg. zu den Abbasiden s. Shaban 1979; Kennedy 1981; Zaman 1997; Illerhaus 2011
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Historische Einzelfragen
18. Jahrhunderts oder der Sophisten zu sehen, sondern vielmehr als Positivisten, Religionskritiker und Skeptiker im Sinne der späthellenistischen Schulen oder des Denkens des 20. Jahrhunderts.34 Dies würde auch die abbasidische großstädtische Lebenswelt mit ihren gewaltigen Metropolen, ihren turkmenischen Migrationsbewegungen und häufigen sozialen Unruhen in ein äußerst passendes Licht tauchen, bedenken wir unsere heutigen Lebenserfahrungen. Die eigentliche Entsprechung zum 19. Jahrhundert bzw. der alexandrinischen Zeit fände sich also, solchermaßen zurückgerechnet, eher im frühen Islam und der Umayyadenzeit; und in der Tat würde die explosionshafte muslimische Welteroberung dadurch nicht nur in eine sinnvolle Nähe zu den ähnlichen Eroberungszügen Alexanders und Napoleons gerückt werden,35 sondern auch die massenhafte Konversion zum Islam als Zeichen einer auch sozialen Abwendung vom „Ancien régime“ der Justinianschen Dynastie und Hinwendung zu einem egalitaristischen neuen Weltbild verständlich, ganz analog zur Französischen Revolution. Daß aus diesen sozialen Hoffnungen im Islam schließlich, ganz genau wie im 19. Jahrhundert, eben nicht eine Welt der bürgerlichen Gleichheit, sondern vielmehr hochkapitalistischer Spannungen entstand, würde auf die Umayyadenzeit eine ganz neue und in Anbetracht der historischen Tradition durchaus sinnvolle Beleuchtung werfen. Den Rest können wir nur kurz skizziere: Justinian wird nicht zur Parallele Karls V., wie bei Spengler, sondern eher Ludwigs XIV., was auf seine Bau-, Repräsentations- und Außenpolitik sicherlich erheblich besser paßt und auch den Nikäa-Aufstand in die Nähe der Fronde und der Rücknahme des Edikts von Nantes rückt.36 Die constantinische Erhebung des Christentums zur Staatsreligion und dessen damit einhergehende massive Politisierung,37 welche innerkirchliche Häresien für Jahrhunderte zum bestimmenden Thema oströmischer Innenpolitik machen sollte, würde dann ihre Parallele in Luther und der Reformationen haben, welche in ganz ähnlicher Weise die gerade zuvor mühsam durch Diokletian und seinen quasi-monotheistischen Sol-Kult hergestellte innere Einheit des Reichs infragestellte38 – gewissermaßen als Spiegelbild der gescheiterten Hoffnungen des katholischen Karl V., der sich ebenfalls enttäuscht ins Kloster zurückzog. Dies würde dann auch Christus selber nicht zum Begründer der eigentlichen „magischen“ Kultur machen, wie dies bei Spengler der Fall ist, sondern vielmehr einer mystischen Erneuerungsbewegung, welche ihre Analogie eher bei den spätmittelalterlichen Mystikern wie Meister Eckhart finden würde, da der „echte“ Beginn der „magischen Kultur“ ein wenig früher als das 1. Jahrhundert n.Chr. läge. Ausschlaggebend 34 35 36 37 38
Zu den Mu’taziliten vgl. Martin/Woodward/Atmaja 1997; Jackson 2002; Nawas 2015. Zu den Umayyaden s. Wellhausen 1902; Hawting 1986; Berger 2016. Zu Justinian vgl. Evans 2005; Maas 2005; Heather 2018; Meier 2003. Allg. zu Constantin dem Großen vgl. Girardet 2010; Barnes 2011; Brandt 2011. Zum Diocletianischen Zeitalter s. Kuhoff 2001; Demandt/Goltz/Schlange-Schöningen 2004; Carlà-Uhink 2019.
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wäre für deren Genese eben nicht die jesuanische Zeit, welche gerade der modernen Forschung nicht als Beginn, sondern vielmehr Schlußpunkt der messianischen Bewegung erscheint, sondern vielmehr jener Moment, als die hellenistische Eroberung der Levante dort erstmals das Konzept des Erlöserkönigs39 (Spengler würde schreiben: „Kalifen“) einführte, wie es uns bei Alexander, den Ptolemaiern und den Seleukiden entgegentritt,40 und bald auch von der einheimischen Bevölkerung aufgegriffen wurde, wie etwa bei den Makkabäern, und es ist in dieser Beleuchtung wohl kaum ein Zufall, daß der ptolemaisch-seleukidische Gegensatz ganz genau dem von Fatimiden und Abbasiden bzw. Buyiden entspricht. Auch geistesgeschichtlich würde eine solche Umdeutung der magischen Geschichte durchaus Sinn machen: die messianistische Ära schiene hier mit ihrem dogmatisch-monistischen Denken als Äquivalent zur mittelalterlichen Scholastik; mit dem Christentum und Neoplatonismus begänne wie im Spätmittelalter die Wende zu einer gewissen Innerlichkeit; mit dem Denken Augustinus’ und der spätantiken Philosophen begänne erstmals eine systematische Auseinandersetzung mit den Erkenntnismöglichkeiten des Menschen und Fragen konkreter gesellschaftlicher Einrichtung im Hier und Jetzt; und das klassische islamische Denken, allen voran die Mu’taziliten, würden mit ihrer Konzentration auf praktische Ethik und reines Vernunftsdenken der modernen Philosophie seit dem 19. Jahrhundert entsprechen, bevor schließlich mit der Schließung der Pforten des Ijtihad und dem retrospektiven Konservatismus seit Alfarabi das Ende eigentlich kreativen Denkens einsetzt, analog zur Entwicklung der antiken Philosophie seit dem 1. Jahrhundert.
39 40
Zum Messianismus s. Desroche 1969; Mayer/Rühle 1998; Bockmuehl/Paget/Paget 2009. Zu den Seleukiden s. Sherwin-White/Kuhrt 1993; Capdetrey 2007; Engels 2017f.
9
Die Stellung des Alten Iran in Oswald Spenglers Geschichtsphilosophie
9.1
Einleitung
Der Begriff des „Persertums“1 bezieht sich weniger auf die harten politischen Fakten und das konkrete materielle Erbe des Achaimenidenreichs als vielmehr auf die Rolle, die das von den Achaimeniden geschaffene geistige Bild nicht nur in der antiken Geschichte selbst, sondern auch im zeitgenössischen Denken und in der Forschung spielt. Und da es keine absolute Objektivität gibt, wenn es um die Rekonstruktion der Vergangenheit geht, und da selbst der vorsichtigste Historiker zwangsläufig im unbewußten psychologischen, intellektuellen und kulturellen Rahmen seiner eigenen Epoche verwurzelt ist, ist es für unsere Untersuchung der Entwicklung des „Persertums“ von entscheidender Bedeutung, nicht nur Einzelfälle einzelner Historiker zu betrachten, sondern auch die Auswirkungen zu berücksichtigen, die die verschiedenen Strömungen der Geschichtsphilosophie auf die Entwicklung des allgemeinen geistigen Rahmens der achaimenidischen Geschichte und ihres späteren Bildes gehabt haben können. Im folgenden wollen wir versuchen, die Fruchtbarkeit eines solchen Ansatzes aufzuzeigen, indem wir die komplexe Haltung analysieren, die einer der einflußreichsten Geschichtsphilosophen des 20. Jahrhunderts gegenüber der Geschichte des Iran eingenommen hat: Oswald Spengler. Angesichts des traurigen Zustands unserer Quellenlage und des beklagenswerten Mangels an einer wirklichen altiranischen Geschichtsschreibung hängt die Rekonstruktion selbst der grundlegendsten Fakten der Geschichte der achaimenidischen, seleukidischen, parthischen und sassanidischen Dynastien von einer gründlichen Untersuchung der spärlichen, inkongruenten und oft widersprüchlichen Beweislage ab; ein Zustand, der in krassem Gegensatz zur Situation der griechisch-römischen oder der klassischen muslimischen Welt steht, deren Historiographen uns großzügig mit chronologischen und politischen Daten versorgt haben. Auch wenn uns die oft sehr frustrierende und hypothetische Tätigkeit der Rekonstruktion der iranischen Geschichte manchmal dazu verleitet, unsere Forschung auf sehr selektive und punktuelle Fragen zu beschränken, sollten wir uns dadurch nicht davon abhalten lassen, zumindest von Zeit zu Zeit das allgemeinere Bild zu betrachten, das sich ergibt, wenn wir die iranische Geschichte in ihrer „longue durée“ betrachten. 1
Allg. zum Begriff des „Persertums“ (mit dem ich hier das englische Wort „Persianism“) wiedergebe, vgl. jetzt den umfassenden Band von Versluys/Strootman 2017.
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Historische Einzelfragen
In der Tat dürfen wir nie vergessen, was eigentlich immer das wichtigste Ziel beim Studium der Geschichte sein sollte: die ihr zugrundeliegenden Mechanismen und Dynamiken zu verstehen und durch Vergleich und Analogie unseren eigenen Platz in diesem breiten Rahmen zu definieren, um unserer individuellen Existenz einen Sinn zu geben. Geschichte in ihrer wirklichen Bedeutung ist also immer ein philosophisches Unternehmen, und wenn wir nicht wollen, daß unsere Disziplin zu einer bloßen antiquarischen und unterschiedslosen Gelehrsamkeit verkommt, müssen wir uns zumindest gelegentlich bemühen, unsere individuelle Forschung in einen möglichst breiten Kontext zu stellen.2 Wenn wir jedoch versuchen, den Platz, den die iranische Geschichte bisher eingenommen hat, als Paradigma für größere Fragen innerhalb der Geschichtsphilosophie zu betrachten, ist das Ergebnis eher enttäuschend. Obwohl einige bemerkenswerte Ausnahmen zu verzeichnen sind,3 ist die iranische Geschichte im westlichen Denken fast immer auf die stereotype Rolle des „orientalischen Despotismus“ reduziert worden, eine Rolle, die sie weitgehend der ständigen Selbstdarstellung der Athener als Verfechter der Freiheit verdankt, welche somit die ereignisreiche und komplexe tausendjährige Geschichte des Iran von den Achaimeniden bis hin zu den Sassaniden zu einem bloßen statischen Hintergrund der Entwicklung der griechisch-römischen Gesellschaft degradiert hat. Gleichzeitig führte der Einfluß des Alten Testaments – über viele Jahrhunderte hinweg die einzige Quelle für die Rekonstruktion der Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens – mit seiner unvermeidlichen Konzentration auf den fruchtbaren Halbmond viele europäische Historiker dazu, die Achaimeniden als bloße „Nachfolger“ einer langen Reihe früherer Reiche zu interpretieren, die sich alle auf Syrien und den Irak konzentrierten, und somit dazu, die kulturellen Eigenheiten der iranischen Kultur zu ignorieren. So stellte bereits Voltaire, der übrigens den Ausdruck „Geschichtsphilosophie“ erfand, die angebliche religiöse Unterdrückung, die von den Ägyptern, Persern, Chaldäern und Indern ausgegangen sein soll, der griechischen Gedankenfreiheit entgegen: „Il paraît que chez les Égyptiens, chez les Persans, chez les Chaldéens, chez les Indiens, il n’y avait qu’une secte de philosophie. Les prêtres de toutes ces nations 2 3
Vgl. die Überlegungen in Engels 2015a. Abgesehen von den offensichtlichen Beispielen Herodot und Ktesias in der Antike könnte man für die neuere Geschichte den Philologen Abraham Hyacinthe Anquetil-Duperron oder bis zu einem gewissen Grade auch den Philosophen Arthur Schopenhauer anführen, auch wenn es manchmal schwierig ist zu beurteilen, inwieweit diese auf den ersten Blick höchst aufgeschlossenen Zugänge zur persischen Kultur nicht ebenfalls dem größeren Kontext des Orientalismus angehören, wenn die Verzerrung hier auch im positiven, nicht im negativen Sinn stattfindet. Vgl. Osterhammel 1998 für den politischen Kontext der Orient-Bilder des 18. Jahrhunderts, Hösle 2013 für eine systematische Rekonstruktion der Interpretation des „Orients“ im deutschen Idealismus und Harrison 2011 für einen allgemeinen Überblick über die Stellung Persiens in dieser Debatte.
9 Die Stellung des Alten Iran in Spenglers Geschichtsphilosophie
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étant tous d’une race particulière, ce qu’on appelait la sagesse n’appartenait qu’à cette race. Leur langue sacrée, inconnue au peuple, ne laissait le dépôt de la science qu’entre leurs mains. Mais dans la Grèce, plus libre et plus heureuse, l’accès de la raison fut ouvert à tout le monde ; chacun donna l’essor à ses idées ; et c’est ce qui rendit les Grecs le peuple le plus ingénieux de la terre. C’est ainsi que, de nos jours, la nation anglaise est devenue la plus éclairée, parce qu’on peut penser impunément chez elle.“4
Und obwohl Hegels Geschichtsphilosophie in vielerlei Hinsicht antagonistisch zu der Voltaires steht, stimmte sogar er mit der traditionellen Vision überein, welche die griechische „Freiheit“ der orientalischen „Sklaverei“ entgegensetzt, und gründete sein gesamtes Geschichtssystem auf der Prämisse einer dialektischen Entwicklung von der orientalischen Monarchie über die griechische bürgerliche Aristokratie bis hin zur abendländischen Freiheit: „Mit dem, was ich im allgemeinen über den Unterschied des Wissens von der Freiheit gesagt habe, und zwar zunächst in der Form, daß die Orientalen nur gewußt haben, daß Einer frei sei, die griechische und römische Welt aber, daß einige frei sind, daß wir aber wissen, daß alle Menschen an sich frei, der Mensch als Mensch frei ist, damit liegt die Einteilung, die wir in der Weltgeschichte machen und nach der wir sie abhandeln werden, vor.“5
Es ist nicht überraschend, daß auch Droysen in den Fußstapfen Hegels diese stereotype Vision Persiens aufgriff, als er seine bahnbrechende und äußerst einflußreiche Biografie über Alexander den Großen verfaßte, und das Achaimenidenreich wie folgt beschrieb: „Erst das Geschlecht der Perser war berufen, diese Völker alle zu beherrschen und von der hohen Burg Iran hinab seine Waffen und seine Ketten bis in das Abendland zu tragen; ihr Reich lehnte sich an den Westabhang des großen Gebirsgwalles, der Asien teilt, es knechtete die Tiefländer nordwärts und südwärts, die Völker von Baktrien und Syrien, es bezwang die Länder des Taurus und Libanon, des Halys- und Nilstromes, die Brücken nach Europa und Afrika; aber das Meer und die Wüste ward seine Grenze; hier brach seine Kraft an der toten Gluthitze Libyens, dort an der lebendigen Kraft der europäischen Freiheit; die Riesenmasse des Reiches, nur durch die mechanische Bewegung weiterer Eroberungszüge zusammengehalten, begann sich zu lösen und zu verwesen; das Herz des Reiches ward die Totenstadt Persepolis.“6
Leider hat dieser äußerst vereinfachende Iran-Begriff auch nach den zahlreichen archäologischen Entdeckungen der Moderne und dem seither vielfach erneuerten Bild des Nahen Ostens nichts von seinem Einfluß auf viele Geschichtsphilosophen verloren. Es genügt, hier etwa an Karl Jaspers zu erinnern, der den Iran als eine Art „Sackgasse“ der Achsenzeit darstellte,7 oder an Karl 4 5 6 7
Voltaire 1956, Teil I, Sektion 1, Kapitel „Les Grecs“. Hegel 19232, Einleitung. Droysen 1833, Einleitung. Jaspers 1949; hierzu auch Engels 2017h (= Kap. 17). S. allg. Arnason/ Eisenstadt/ Wittrock 2005 and Bellah/Joas 2012.
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Historische Einzelfragen
Wittfogel, der erst vor einigen Jahrzehnten die traditionellen iranischen, chinesischen und ägyptischen Monarchien der Antike mit dem Totalitarismus der Sowjetunion parallelisierte, um das „allgemeine“ Funktionieren dieser angeblichen Fälle „orientalischer Despotie“ zu beschreiben.8 Angesichts des hartnäckigen Fortbestehens dieses Stereotyps ist es kaum verwunderlich, daß selbst kleinste Details der griechisch-römischen Geschichte immer wieder kommentiert und als positive bzw. negative Beispiele für die verschiedensten Merkmale der europäischen Kultur herangezogen wurden, während die Geschichte des Iran, von den Achaimeniden bis zu den Sassaniden, aus philosophischer Sicht im allgemeinen als bloße statische Masse dargestellt wird, die gerade einmal durch eine Folge unpersönlicher Könige und Dynastien strukturiert wird und nur aufgrund ihrer Opposition zum klassischen Griechenland von Interesse ist. So scheint keine Geschichtsphilosophie jemals versucht zu haben, die Geschichte des alten Iran für sich allein zu betrachten und ihre angeblich statische Uniformität in Frage zu stellen, um die echte ihr innewohnende Dynamik zu betonen – bis auf Oswald Spengler. 9 Im folgenden soll erstmals versucht werden, genauer darzustellen, welchen philosophischen Platz Spengler der Geschichte des Iran einräumte, um diesen dann mit unserem heutigen Wissensstand zu vergleichen und darüber zu reflektieren, ob und wie uns Spenglers Geschichtsmorphologie auch heute noch inspirieren kann, wenn wir den breiten Rahmen der vorislamischen iranischen Geschichte zu überblicken unternehmen und versuchen, die Bedeutung des „Persertums“ als eines ideologischen Kardinalpunkts der Geschichte des alten Orients zu rekonstruieren.
8 9
Wittfogel 1957. Natürlich denkt man, wenn man über Oswald Spengler spricht, unweigerlich an seinen wichtigsten intellektuellen Nachfolger, Arnold Toynbee, der sich zwar viel weniger als Spengler für philosophische und metaphysische Probleme interessierte, seinen Lesern aber eine erheblich nuanciertere und komplexere, wenn in gewisser Weise auch verwässerte und nicht immer rigorose eigene historische Morphologie präsentierte. Wie Spengler betrachtete Toynbee die iranische Geschichte allerdings nicht für sich allein, sondern lediglich als einen eher sekundären Nachtrag ihres jeweiligen Umfeldes. So erscheinen die Achaimeniden in einer ersten Phase als „Barbaren“, die das neubabylonische Reich übernehmen, und der Zoroastrismus gilt (ebenso wie das Judentum) nur als religiöses Nebenprodukt der „babylonischen“ Kultur. Gleichzeitig interpretierte Toynbee jedoch auch das achaimenidische Königreich als „Universalreich“, das der Endphase der „nahöstlichen Kultur“ entspreche (deren Verbindungen zur babylonischen Kultur nicht immer sehr klar definiert sind). Da Toynbee auch das (immerhin 1200 Jahre jüngere) arabische Kalifat als einen weiteren Avatar jenes „Universalreichs“ der nahöstlichen Kultur betrachtet, läßt dies den Leser etwas ratlos zurück, was die von Toynbee verwendeten chronologischen Kategorien betrifft. Zu Toynbees Haltung zu Spengler s. Kissinger 1950; Schischkoff 1965, v.a. S. 62; Joll 1985; Wangenheim 2015.
9 Die Stellung des Alten Iran in Spenglers Geschichtsphilosophie
9.2
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Der alte Iran und Spenglers „arabische“ Kultur
Spengler interessierte sich sowohl aufgrund seiner wissenschaftlichen Ausbildung als auch aufgrund seiner persönlichen Vorlieben vor allem für die klassische Antike10 und für die Geschichte des heutigen Europa, und es ist nicht verwunderlich, daß die meisten Teile des „Untergangs des Abendlandes“ den Parallelen zwischen diesen beiden Kulturen gewidmet sind. So bezieht sich Spengler nur kursorisch auf andere Kulturen wie das pharaonische Ägypten, Indien oder das vorimperiale China, während das antike Babylonien oder Südamerika in seiner Argumentation praktisch nicht vorkommen.11 Dennoch wurde diese offensichtliche Schwäche von Spenglers Werk nie als grundlegendes Problem betrachtet, da die Geschichte dieser archaischen Kulturen mit ihren überaus reduzierten gegenseitigen Interaktionen in der Tat den allgemeinen Umrissen von Spenglers morphologischem Rahmen recht gut zu folgen schien. Es gab jedoch einen Teil der mittelmeerischen Geschichte,12 der nicht so leicht in das allgemeine morphologische Schema hineinzupassen schien, wie Spengler selbst sehr gut wußte: die Geschichte des 1. Jahrtausends n. Chr., dessen Analyse nach der Beschreibung von Antike und Abendland den wichtigsten Platz im „Untergang“ einnimmt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die politische Geschichte des 1. Jahrtausends noch weitgehend im Sinne politischer, religiöser und kultureller Zäsuren und Übergänge interpretiert, welche dadurch bestimmt wurden, daß einerseits das Spätrömische Reich von den germanischen, slawischen und arabischen Völkern beerbt wurde, während andererseits Christentum und Islam den Polytheismus immer mehr verdrängten. Daher muß diese komplexe Periode einer angeblichen Transformation der zerfallenden griechisch-römischen Antike in die frische neue Welt des christlichen Mittelalters im Norden und der glänzenden muslimischen Gesellschaft im Süden Spengler ganz offensichtlich als die eine Periode erschienen sein, die seine ganze Theorie möglicherweise hätte entkräften können, da sie in keines der morphologischen Muster Spenglers zu passen schien. In dieser Situation hatte Spengler eine seiner schärfsten und umstrittensten Inspirationen.13 Anstatt das 1. Jahrtausend nur in Hinblick auf Zäsur, Übergang und Transformation zu analysieren und die absolute Autonomie seiner „Hochkulturen“ aufzugeben, postulierte er, daß die gesamte Geschichte aller Gebiete von Ägypten bis Zentralasien und von den Dardanellen bis Äthiopien und 10 11 12 13
Spenglers Dissertation befaßte sich mit Heraklit; vgl. Spengler 1937. Hierzu jetzt im Detail Engels 2020b (= Kap. 10). Zu einer Übersicht über die frühen Reaktionen zu Spenglers „Untergang“ s. Schröter 1922. Für eine generelle Kritik der „arabischen“ Kultur vgl. Zu Spenglers „arabischer“ (oder „magischer“) Kultur s. Becker 1923, Demandt 1980, Koopmann 1980; Abbès 2014, und Engels 2020a (= Kap. 8).
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Historische Einzelfragen
Arabien in der Zeit zwischen der Schlacht von Actium im Jahre 31 und dem Fall von Bagdad im Jahr 1258 als eine einzige und kompakte Einheit gesehen werden müsse, die er mal „arabische“, mal „magische“ Kultur nannte; übrigens eine aufschlußreiche Ambivalenz, wie wir sehen werden: „Die magische Kultur ist geographisch und historisch die mittelste in der Gruppe hoher Kulturen, die einzige, welche sich räumlich und zeitlich fast mit allen anderen berührt. [...] Aber gerade sie ist aus philologischen und theologischen Vorurteilen und mehr noch infolge der Zersplitterung der modernen Fachwissenschaft bis jetzt nicht erkannt worden. [...] Die eigentlichen Historiker hielten sich an das Interessensgebiet der klassischen Philologie, aber deren Horizont endete an der antiken Sprachgrenze im Osten. [...] Die Literaturforscher, ebenfalls Philologen, verwechselten den Geist der Sprache mit dem der Werke. [...] Die Religionsforschung zerlegte das Gebiet in Einzelfächer nach westeuropäischen Konfessionen, und für die christliche Theologie ist wieder die ‚Philologengrenze‘ im Osten maßgebend gewesen und ist es noch. [...] Das ist die gelehrte Vorbereitung der größten Aufgabe, welche der heutigen Geschichtsforschung gestellt ist.“ (UdA, S. 785–787)
Unter diesen Umständen mußten die offensichtlichen Unterschiede zwischen der westlichen und der östlichen, d.h. der griechisch-römischen und der iranischen Hälfte der „arabischen“ Kultur notgedrungen als Ergebnis des „erstickenden“ Einflusses betrachtet werden, den die alten Zivilisationen der klassischen Antike und des alten Babyloniens auf die junge und immer noch formbare „arabische“ Kultur ausübten;14 eine Hypothese, die den praktischen Nebeneffekt hatte, zu erklären, warum die islamische Eroberung ein solcher Erfolg werden sollte: Sie „befreite“ die „arabische“ Kultur und gab ihr ihre ursprüngliche Seele zurück.15 Und in der Tat ist die „arabische“ Kultur nach Spengler, genau wie die anderen Kulturen, von einer spezifischen, unnachahmlichen Lebenseinstellung geprägt: Während die klassische oder „apollinische“ Kultur von einem hauptsächlich statischen und plastischen psychologischen Archetypus und die abendländische oder „faustische“ Kultur von einem unersättlichen Wunsch nach Ausdehnung und Raum geprägt ist, wird die „arabische“ Kultur Spengler zufolge von einem intrinsisch dualistischen Weltwie Menschenbild dominiert.16 14
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Spengler, UdA, S. 605: „Die arabische Vorzeit, die sich bei Persern und Juden verfolgen läßt, lag völlig im Bereiche der alten babylonischen Welt, die Frühzeit aber von Westen her unter dem mächtigen Bann der antiken, eben erst voll ausgereiften Zivilisation.“ Ebd., S. 606: „Der Islam hat dieser Welt endlich und viel zu spät das Bewußtsein der Einheit verlieren, und darauf beruht das Selbstverständliche seines Sieges, das ihm Christen, Juden und Perser fast willenlos zuführte.“ UdA, S. 389–390: „Das faustische und das apollinische Seelenbild stehen einander schroff gegenüber. Alle früheren Gegensätze tauchen wieder auf. Man darf die imaginäre Einheit hier als Seelenkörper, dort als Seelenraum bezeichnen. Der Körper besitzt Teile, im Raum verlaufen Prozesse. Der antike Mensch empfindet seine Innenwelt plastisch. [...] Das magische Seelenbild trägt die Züge eines strengen Dualismus zweier rätselhafter Substanzen, Geist und Seele. Zwischen ihnen herrscht weder das antike, statische, noch das abendländische, funktionale Verhältnis, sondern ein völlig anders gestaltetes, das sich
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169
In einem wissenschaftlichen Kontext, der immer noch sehr stark von den durch die Philologie geschaffenen sauberen Grenzen geprägt war, müssen wir Spengler eine außerordentliche Fähigkeit zuschreiben, die Grenzen der historischen Disziplinen zu überschreiten, um ein kohärentes Bild der nah- und mittelöstlichen Gesellschaft des 1. Jahrtausends zu zeichnen, und es ist unbestreitbar, daß Spenglers kraftvolle Beschreibung der politischen, kulturellen und intellektuellen Zusammenhänge zwischen dem frühen Christentum und dem Islam sowie zwischen dem byzantinischen und dem muslimischen Staat eine Pionierarbeit in Sachen Interdisziplinarität darstellt.17 Wegweisend ist auch, daß nicht nur Spengler die Geschichte des 1. Jahrtausends nicht so sehr als eine Lücke zwischen der Antike und der europäischen Geschichte begriff, sondern als eine eigenständige homogene kulturelle Epoche, wie ja auch Dopsch, Kornemann und Pirenne, wenn auch unter anderen Voraussetzungen, betonten.18 Es überrascht freilich nicht, daß es auch viele Einwände gegen die Idee einer „arabischen“ Kultur gegeben hat, die meist aus den Reihen der zeitgenössischen Kirchenhistoriker kamen, und eine gründliche Diskussion der Argumente würde leicht einen eigenen Band füllen. Merkwürdigerweise ist jedoch Spenglers Annahme, daß die Geschichte des Iran ein integraler Bestandteil der „arabischen“ (oder, in Bezug auf die Magier, der „magischen“) Kultur sei, bisher nur selten diskutiert worden, da sich die Forschung hauptsächlich auf die Unterschiede (oder Ähnlichkeiten) zwischen Judentum, Christentum und Islam konzentriert und den mazdäischen Osten eher außer acht gelassen hat. Bevor wir uns allerdings näher mit der Rolle Irans im Rahmen der „arabischen“ Kultur beschaffen, wollen wir zunächst an den allgemeineren Kontext erinnern. Angesichts der Tatsache, daß Spengler einerseits eine grundlegende kulturelle Identität zwischen Judentum, spätantikem Synkretismus, Christentum, Zoroastrismus und Islam und andererseits einen grundlegenden Unterschied zwischen der christlichen Religion des 1. Jahrtausends und dem Christentum der abendländischen Kultur postuliert, ist es nur logisch, daß er den größten Teil seiner Energie der Analyse der geistigen Entwicklung der „arabischen“ Kultur widmete.19 So beginnt für Spengler nach einer Vorbereitungsphase (500–0), die von den alttestamentarischen Propheten und von Zarathustra geprägt war, der
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eben nur als magisch bezeichnen läßt. [...] Eine den Leib durchdringende Substanz befindet sich in deutlichem Wertunterschied gegen eine zweite, die sich aus der Welthöhle in die Menschheit herabläßt, abstrakt, göttlich, auf welcher der Consensus aller an ihr Teilhabenden beruht. Dieser ‚Geist‘ ist es, der die höhere Welt hervorruft, durch deren Erzeugung er über das bloße Leben, das ‚Fleisch‘, die Natur triumphiert.“ Was die gegenwärtigen Forschungen zur inneren Kohäsion des 1. Jahrtausends und zur Bedeutung des Untergangs des Römischen Reichs betrifft, vgl. man Demandt 2014a. Vgl. Kornemann 1912, S. 205; Dopsch 1918 / 1924; Pirenne 1937. Die nachstehende Zusammenfassung entspricht im wesentlichen dem Inhalt der synchronoptischen Tafeln am Ende der Einleitung zum „Untergang des Abendlandes“.
170
Historische Einzelfragen
„Frühling“ der „arabischen“ Kultur (0–300) mit dem Erwachen ihrer kulturellen „Seele“ durch das primitive Christentum, die Gnosis und den Mithraskult, entsprechend der Genese des klassischen Mythos oder des deutschen Katholizismus. Die Protagonisten der ersten mystischen und metaphysischen Gestaltung dieser neuen Vision waren Denker wie Origenes, Plotin, Mani oder Iamblichus, die Theologen wie Thomas von Aquin oder Duns Scotus entsprechen, während die Kanonisierung des Avesta, des Talmud und des Neuen Testaments derjenigen von Wissenschaft und Denken durch die mittelalterliche Scholastik entsprach. Der „Sommer“ der „arabischen“ Kultur (300–650) wird durch den „reformatorischen“ Eifer der Nestorianer, der Monophysiten und der Mazdakiten eingeleitet, während die byzantinische, jüdische, syrische, koptische und persische Literatur des 6. und 7. Jahrhunderts den Vorsokratikern und der Philosophie des 17. Jahrhundert zur Parallele hat. Der Islam wird dann zusammen mit den Paulicianern und den Ikonoklasten zum Hauptvertreter des arabischen Puritanismus. Der „Herbst“ jener Kultur (650–1000) entspricht dem klassischen Zeitalter des Islam, wobei die Mu‘taziliten und Sufis eine Parallele zur europäischen Aufklärung und zum griechischen Sophismus bilden und die Philosophen Alfarabi und Avicenna Platon und Aristoteles bzw. Goethe und Kant entsprechen. Im „Winter“ (ab 1000) entstehen schließlich Materialismus, Skepsis, „Hörsaalphilosophie“ und Kompendienliteratur, die in analogen Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhundert ihr Äquivalent haben und zum praktischen Fatalismus des Islam seit 1000 führen. Um dem Leser einen Eindruck von der historischen Dichte und auch der visuellen Kohärenz von Spenglers morphologischen Überlegungen zu vermitteln, geben wir hier die vergleichende Tabelle der Parallelen zwischen den wichtigsten geistigen Entwicklungsstufen der indischen, der griechisch-römischen, der „arabischen“ und der abendländischen Kultur wieder, wie sie am Ende der „Einleitung“ zu Spenglers „Untergang des Abendlandes“ zu finden ist, da hier die meisten Anspielungen auf die iranische Geschichte zu verzeichnen sind: I. TAFEL „GLEICHZEITIGER“ GEISTESEPOCHEN INDISCHE KULTUR SEIT 1500
ANTIKE KULTUR SEIT 1100
ARABISCHE KULTUR SEIT CHR.
ABENDLÄNDISCHE KULTUR SEIT 900
FRÜHLING Landschaftlich-intuitiv. Mächtige Schöpfungen einer erwachenden traumschweren Seele. Überpersönliche Einheit und Fülle 1. Geburt eines Mythos großen Stils als Ausdruck eines neuen Gottgefühls. Weltangst und Weltsehnsucht 1500–1200
1100–800
0–300
900–1200
9 Die Stellung des Alten Iran in Spenglers Geschichtsphilosophie
171
Religion des Veda
Hellenisch-italische „demetrische“ Volksreligion Olympischer Mythos
Urchristentum Mandäer, Marcion, Gnosis Synkretismus [Mithras, Baale]
Germanischer Katholizismus Edda [Baldr] Bernhard v Clairvaux, Joachim v. Floris, Franz v Assisi
Arische Heldensagen
Homer
Evangelien
Volksepos [Siegfried],
Apokalyptik
Ritterepos [Gral]
Herakles-, Theseussage Christi., mazd., heidn. Legende
Abendland Heiligenlegende
2. Früheste mystisch-metaphysische Gestaltung des neuen Weltblickes. Hochscholastik In den ältesten Älteste, nicht schriftl. Teilen der Orphik, Veden enthalten Etrusk. Disziplin
Origenes [† 254], Plotin [† 269]
Thomas v. Aquino [†1274]
Mani [† 276], Jamblich [† 330]
Duns Scotus [† 1308]
Nachwirkung: Hesiod Kosmogonien
Dante [† 1321], Eckart [† 1329] Awesta, Talmud, Patristik
Mystik und Scholastik
SOMMER Reifende Bewußtheit. Früheste städtisch-bürgerliche und kritische Regungen 3. Reformation: Innerhalb der Religion volksmäßige Auflehnung gegen die großen Formen der Frühzeit Brahmanas, Orphische Bewegung älteste Elemente der Upanishaden [10. / 9. Jahrh.] Dionysosreligion
Augustinus [† 430]
Nicolaus Cusanus [† 1464]
Nestorianer [um 430]
Hus [† 1415], Savonarola
»Religion des Numa« [7. Monophysiten [um 450] Karlstadt, Luther, Jahrh.] Calvin [† 1564] Mazdak [um 500] 4. Beginn einer rein philosophischen Fassung des Weltgefühls.
172
Historische Einzelfragen
Gegensatz idealistischer und realistischer Systeme In den Upanishaden enthalten
Die großen Vorsokrati- Byzantinische, jüdische, ker [6 / 5 Jahrh.] syrische, koptische, persische Literatur des 6 / 7. Jahrh.
Galilei, Bacon, Descartes, Bruno, Boehme, Leibniz 16 / 17 Jahrh.
5. Bildung einer neuen Mathematik. Konzeption der Zahl als Abbild und Inbegriff der Weltform Verschollen
Die Zahl als Große [Maß] [Geometrie, Arithmetik] Pythagoreer seit 540
Die unbestimmte Zahl [Algebra] Entwicklung unerforscht
Die Zahl als Funktion [Analysis] Descartes, Pascal, Fermat um 1630 Newton, Leibniz um 1670
6. Puritanismus: Rationalistisch-mystische Verarmung des Religiösen Spuren in den Upanishaden
Pythagoreischer Bund seit 540
Mohammed 622 Paulikianer, Bilderstürmer seit 650
Englische Puritaner seit 1620 Französische Jansenisten seit 1640 [Port Royal]
HERBST Großstädtische Intelligenz. Höhepunkt strenggeistiger Gestaltungskraft 7. „Aufklärung“: Glaube an die Allmacht des Verstandes. Kultus der „Natur“. »Vernünftige Religion« Sutras; Sankhya; Buddha, Jüngere Upanishaden
Sophisten des 5 Jahrh. Sokrates [† 399] Demokrit [† um 360]
Mutazilisten Sufismus Nazzâm, Alkindi [um 830]
Englische Sensualisten [Locke] Französische Enzyklopädisten [Voltaire], Rousseau
8. Höhepunkt des mathematischen Denkens. Abklärung der Formenwelt der Zahlen Verschollen
[Stellenwert Null als Zahl]
Archytas [† 365], Plato [† 346]
Unerforscht [Zahlentheorie, sphärische Trigonometrie]
Euler [† 1783], Lagrange [† 1813]
Eudoxos [† 355]
Laplace [† 1827]
[Kegelschnitte]
[Infinitesimalproblem]
9. Die großen abschließenden Systeme
9 Die Stellung des Alten Iran in Spenglers Geschichtsphilosophie des Idealismus: Yoga Vedanta der Erkenntnistheorie: Vaiceshika der Logik: Nyaya
Plato [† 346]
Alfarabi [† 950]
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Goethe
Aristoteles [† 322] Avicenna Kant [† um 1000]
Schelling Hegel Fichte
WINTER Anbruch der weltstädtischen Zivilisation. Erlöschen der seelischen Gestaltungskraft. Das Leben selbst wird problematisch. Ethisch-praktische Tendenzen eines irreligiösen und unmetaphysischen Weltstädtertums 10. Materialistische Weltanschauung: Kultus der Wissenschaft, des Nutzens, des Glückes Sankhya, Tscharvaka [Lokoyata]
Kyniker, Cyrenaiker, letzte Sophisten [Pyrrhon]
Kommunistische, atheistische, epikureische Sekten der Abbassidenzeit Die „lauteren Brüder“
Bentham, Comte, Darwin, Spencer, Stirner, Marx, Feuerbach
11. Ethisch-gesellschaftliche Lebensideale: Epoche der „Philosophie ohne Mathematik“. Skepsis Strömungen Hellenismus der Buddhazeit Epikur [† 270], Zenon [† 265]
Strömungen im Islam
Schopenhauer, Nietzsche, Sozialismus, Anarchismus Hebbel, Wagner, Ibsen
12. Innere Vollendung der mathematischen Formenwelt. Die abschließenden Gedanken Verschollen
Euklid, Apollonius um 300 Archimedes um 250
Alchwarizmi 800, Ibn Kurra 850 Alkarchi, Albiruni 10 Jahrh.
Gauß [† 1855], Cauchy [† 1857] Riemann [† 1866]
13. Sinken des abstrakten Denkertums zu einer fachwissenschaftlichen KathederPhilosophie. Kompendienliteratur Die „sechs klassischen Systeme“
Akademie, Peripatos, Stoiker, Epikureer
Schulen von Bagdad und Basra
Kantianer »Logiker« und »Psychologen«
14. Ausbreitung einer letzten Weltstimmung Der indische Buddhismus seit 500
Der hellenistisch-römi- Der praktische Fatasche Stoizismus seit 200 lismus des Islam seit 1000
Der ethische Sozialismus seit 1900 sich verbreitend
174
Historische Einzelfragen
Die Entwicklung der Kunstgeschichte folgt eng der Struktur, die Spengler für die geistige Entwicklung seiner Hochkulturen entwickelt hat: Die achaimenidische und seleukidische Kunst (500–0) gehören nur einer „vorkulturellen Periode“ an, analog zur merowingischen, karolingischen oder mykenischen Kunst. Die bildhafte, dann allmählich anikonische Kunst der Sassaniden, Byzantiner oder Syrer in der ersten Hälfte des 1. Jahrtausends entspricht der romanischen und gotischen Kunst im Abendland und dem dorischen Stil in Griechenland, während die Erfindung der Zentralkuppel, der Fortschritt im Mosaik, die Erfindung des arabesken Stils als Parallelen zu Barock und Rokoko zu sehen sind. Die Umayyadenzeit bildet den Höhepunkt der arabischen Kunst, ebenso wie das 18. Jahrhundert in Europa oder das klassische 5. Jahrhundert in der Antike. Die Kunst der Abbasiden entspricht dann dem Klassizismus und der Romantik in Europa oder der Kunst der Alexanderzeit und bildet einen Übergang, der in das Zeitalter der „Zivilisation“ führt, wo die Sultansdynastien des 9. und 10. Jahrhunderts von Spengler als „zeitgleich“ mit der hellenistischen Kunst und der Ästhetik der Wolkenkratzer betrachtet werden, bevor jegliche künstlerische Kreativität mit Anbruch der seldjukischen und mongolischen Epoche in Analogie zum Römischen Kaiserreich oder der abendländischen Welt ab 2000 versteinert. Es ist wohl kein Zufall, daß Spengler, wenn es darum geht, die Analogien zwischen verschiedenen Kulturen in vergleichenden Tabellen darzustellen, uns ziemlich vollständige Daten für die religiöse und künstlerische Entwicklung der „arabischen“ Kultur liefert, eine Klärung ihrer politischen Geschichte aber unterläßt. Dennoch macht es die allgemeine Argumentation des „Untergangs des Abendlandes“ recht einfach, die Grundzüge der politischen Entwicklung des „arabischen“ Nahen und Mittleren Ostens aus der Sicht Spenglers zu rekonstruieren. So erscheinen die Achaimeniden als Äquivalente zu den Karolingern oder dem Zeitalter Agamemnons, die parthische Herrschaft im Osten und die römische Herrschaft im Westen als Parallelen zur frühen römisch-deutschen Kaiserzeit, das frühe sassanidische und das spätrömische Reich als Beginn einer „feudalen“ Epoche, das späte Sassanidische und das frühe Byzantinische Reich als Parallelen zum korporativen Staat des 16. Jahrhunderts, das UmayyadenKalifat als Höhepunkt des „Ancien régime“, die „Abbasidische Revolution“ als Äquivalent des napoleonischen oder hellenistischen Zeitalters und die Kriege zwischen den verschiedenen Sultanen des 10. Jahrhunderts als Präfiguration des modernen Imperialismus.
9 Die Stellung des Alten Iran in Spenglers Geschichtsphilosophie
9.3
175
Iran als Teil der „Arabischen Kultur“ – einige grundlegende Probleme
Spenglers Analyse der Bedeutung des antiken Iran im Rahmen seiner Geschichtsmorphologie enthält eine Reihe von Problemen, die dazu beitragen, daß seine gesamte „arabische“ Kultur, die Joseph Vogt einst zu Recht als „das Fragwürdigste in der ganzen Konstruktion“ bezeichnete,20 wenig überzeugend ist. Natürlich ist Spenglers Haltung gegenüber dem Iran zum Teil durch den mangelhaften Stand des historischen Wissens über die iranische Frühgeschichte um 1918 bedingt, aber sie ist auch zum Teil auf Spenglers Bemühen zurückzuführen, seinem Leser eine schlüssige Erklärung für die Geschichte des 1. Jahrtausends zu liefern, selbst um den Preis, die Realität gegebenenfalls zu deformieren. Im folgenden werden wir einige wichtige Kritikpunkte untersuchen, zuerst aus politischer, dann aus religiöser Perspektive.
9.3.1 Politische Geschichte Was Spenglers Darstellung der politischen Geschichte des Iran betrifft, so kommen wir nicht umhin festzustellen, daß trotz des beeindruckenden Umfangs des „Untergangs des Abendlandes“ nur wenige Passagen zu finden sind, in denen tatsächlich über die konkrete Entwicklung der iranischen Geschichte und Gesellschaft gesprochen wird. Zunächst müssen wir seine etwas ambivalente Einschätzung der Achaimeniden erwähnen.21 Obwohl ihre Dynastie nur sehr selten im „Untergang“ genannt wird, betrachtet Spengler sie einerseits als einen bloßen Epilog zur babylonischen Zivilisation: „Aber indessen ging die babylonische Welt selbst aus einer Hand in die andere. Kossäer, Assyrer, Chaldäer, Meder, Perser, Makedonier, lauter kleine Heerhaufen mit einem kräftigen Führer an der Spitze, haben sich da in der Hauptstadt abgelöst, ohne daß die Bevölkerung sich ernsthaft dagegen wehrte. [...] Der Perser Kyros [... hat] sich als Reichsverweser gefühlt.“ (UdA, S. 602)22
20 21
22
Vogt 1961, p. 64. Zu den Achaimeniden s. allg. Hinz 1976; Cook 1983; Sancisi-Weerdenburg 1987–1997; Briant 1996; Jacobs/Rollinger 2010. Vgl. auch UdA, S. 614: „Ob in Babylon die Kossäer als wüste Soldatenhorde oder die Perser als feine Erben sitzen; wann, wie lange und mit welchem Erfolg sie das tun, ist von Babylon aus gesehen ohne Bedeutung. Für das Behagen der Bevölkerung war es gewiß nicht gleichgültig, aber an der Tatsache, daß die Seele dieser Welt erloschen war und deshalb alle Ereignisse einer tieferen Bedeutung entbehrten, änderte sich damit nichts“. Zu den politischen Ereignissen, die zur Einnahme Babyloniens durch die Achaimeniden führten, vgl. Smith 1975; Sarkosh Curtis/Stewart 2005. Zum achaimenidischen Babylonien s.
176
Historische Einzelfragen
Andererseits aber betrachtete Spengler das Achaimenidische Reich auch als eine „Vorbereitung“ der „arabischen“ Geschichte (obwohl der eigentliche Beginn dieser Kultur erst ein halbes Jahrtausend später datiert wird): „In dem weiten Bereich altbabylonischen Fellachentums leben junge Völker. Da bereitet sich alles vor. Die erste Ahnung regt sich um 700 in den prophetischen Religionen der Perser, Juden und Chaldäer. [...] Die zweite Welle erhebt sich steil in den apokalyptischen Stimmungen seit 300. Hier erwacht das magische Weltbewußtsein und erbaut sich eine Metaphysik der letzten Dinge [...] Die dritte Erschütterung erfolgt in der Zeit Cäsars und führt zur Geburt der großen Erlösungsreligionen. Damit bricht der helle Tag dieser Kultur an.“ (UdA, S. 862–863)23
Darüber hinaus betont Spengler die zweifelhafte Vorstellung von einem einheitlichen persischen „Volk“ und betrachtet dieses eher als eine heterogene Gruppe, die nur durch Sprache und politische Ideologie miteinander verbunden ist, denn als eine richtiggehende ethnische Gruppe. „Das ‚persische Volk‘ des Kyros und Darius kann sich erst von da an aus Menschen verschiedener Herkunft, aber aus einer starken Einheit des Erlebens heraus gebildet haben. Als die Makedonier aber kaum zwei Jahrhunderte später ihre Herrschaft auflösten – waren da ‚die Perser‘ in dieser Form überhaupt noch vorhanden? [...] Es ist sicher, daß die weithin verbreitete persische Reichssprache und die Verteilung der wenigen tausend erwachsenen Männer aus Persis über den ungeheuren Kreis von militärischen und Verwaltungsaufgaben das Volkstum längst aufgelöst und an seine Stelle als Träger des persischen Namens eine sich als politische Einheit fühlende Oberschicht gesetzt hatten, von deren Ahnen nur sehr wenige aus Persis sein konnten. Ja, es gab nicht einmal ein Land, das man als den Schauplatz der persischen Geschichte bezeichnen kann. Was sich von Darius bis auf Alexander ereignet, hat seinen Ort teils im nördlichen Mesopotamien, also unter einer aramäisch sprechenden Bevölkerung, teils im alten Sinear, jedenfalls nicht in Persis, wo die von Xerxes begonnenen Prachtbauten gar nicht fortgesetzt worden sind.“ (UdA, S. 758)
Diese insgesamt etwas abschätzig scheinende Haltung gegenüber den Achaimeniden und der persischen Frühgeschichte ist freilich durch Spenglers System selbst induziert, da er in ganz ähnlicher Weise auch die mykenische oder karolingische Epoche analysiert, die allesamt als noch tief im Rahmen früherer Zivilisationen verwurzelt erscheinen und erst allmählich zu einer eigenen Identität finden. Problematischer erscheint jedoch die Tatsache, daß Spengler bei seinem Versuch, seine „arabische“ Kultur auf den fruchtbaren Halbmond zu zentrieren, die „iranische“ Dimension der aus Persis aufsteigenden neuen Macht völlig verkennt. Die mühsame Eroberung des Ost-Iran, die Bedeutung Baktriens, die Beziehungen zwischen den Persern und den anderen iranischen Völkern, die Bedeutung indo-europäischer Vorläufer für das Verständnis der frühen
23
Wiesehöfer 1999. Zu den babylonischen (und assyrischen) Einflüssen auf die achaimenidische Kunst und Kultur s. Boardman 2000. Zur Ethnogenese des persischen Volkes, s. jetzt Khoury/Kostiner 1990; Derakhshani 1999; Sims-Williams 2003.
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177
iranischen Gesellschaften – all diese Punkte werden im „Untergang des Abendlandes“ nicht einmal erwähnt, obwohl Spengler sie sehr wohl gekannt haben muß; und selbst die Tatsache, daß die Achaimeniden das entscheidende Paradigma für eine königliche Ideologie und Repräsentationskunst schufen, die ein ganzes Jahrtausend iranischer Geschichte beeinflussen sollten, wird völlig außer acht gelassen.24 Spenglers offensichtliche Unterschätzung der Bedeutung der Achaimeniden für die Konstruktion der iranischen Identität mag zum Teil auf das etwas voreingenommene Bild zurückzuführen sein, das die zeitgenössische Wissenschaft von ihren Nachfolgern hatte, den Seleukiden25 und den Parthern.26 Denn da erstere im allgemeinen als fremde Eindringlinge betrachtet wurden, die den orientalischen Völkern blind die hellenistische Zivilisation aufzwangen und iranische Traditionen ignorierten, während letztere offenbar nicht in der Lage waren, die Macht und den Ruhm der Achaimeniden wiederherzustellen, wurden die 500 Jahre zwischen Alexander und Ardaschir im wesentlichen im Sinne einer langen historischen Lücke interpretiert, wodurch auch die Bedeutung der Achaimeniden selbst minimiert wurde. Dies erklärt wahrscheinlich auch die weitgehende Abwesenheit der Seleukiden und der Parther im „Untergang des Abendlandes“. Erstere werden nur einmal kursorisch erwähnt und als gänzlich philhellenisch beschrieben: „Es bestand die Möglichkeit, die russische Welt nach Art entweder der Karolinger oder der Seleukiden zu behandeln, altrussisch nämlich oder ‚westlerisch‘, und die Romanows haben sich für das letzte entschieden. Die Seleukiden wollten Hellenen, nicht Aramäer um sich sehen.“ (UdA, S. 789)
Unnötig zu sagen, daß eine solche Vision, obwohl sie während des größten Teils des 20. Jahrhunderts weithin akzeptiert war, heute in der modernen Forschung als völlig überholt gilt,27 nicht nur im Hinblick auf das hellenistische Babylonien, sondern auch, seit wir stärker als je zuvor auf die starke seleukidische Akkulturation im Iran und die Zusammenarbeit der persischen Eliten mit den hellenistischen Machthabern aufmerksam geworden sind.28 Die Parther hingegen erscheinen, wahrscheinlich aufgrund ihrer skythischen Herkunft, bei Spengler ganz unzutreffend unter der Bezeichnung eines „mongolischen Stammes“, der die Kontrolle über den Iran übernimmt und sich die persische Sprache künstlich aneignet – Spengler unterscheidet nie wirklich zwischen den verschiedenen iranischen Sprachen –, um ihre Macht zu 24
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28
Zur Geschichte der achaimenidischen königlichen Repräsentation und Titulatur aus einer „longue durée“-Perspektive vgl. z.B. Engels 2014c und 2015b. Zum Seleukidenreich vgl. allg. Schmitt 1964; Wolski 1999; Grainger 2014; Kosmin 2014. Zum Partherreich s. Wolski 1993; Lerner 1999; Sarkhosh Curtis/Stewart 2007; Shayegan 2011. Zu den „orientalischen“ Facetten der seleukidischen Herrschaft vgl. Kuhrt/SherwinWhite 1987; Sherwin-White/Kuhrt 1993; Strootman 2013; Engels 2017g. Zum hellenistischen Persien s. Wiesehöfer 1994; Engels 2013e; Plischke 2014.
178
Historische Einzelfragen
legitimieren.29 Gleichzeitig beschreibt Spengler aber auch die parthische Herrschaft als das mittelalterliche Stadium der „arabischen“ Kultur und vergleicht die parthischen Feldzüge gegen die Römer mit den Kreuzzügen30 (wobei er die Tatsache außer acht läßt, daß die meisten römisch-parthischen Kriege tatsächlich von den Römern und nicht von den Parthern ausgelöst wurden, und daß die seltenen parthischen Offensiven im allgemeinen unfruchtbar waren):31 „Die Partherscharen, die wieder und wieder gegen römische Legionen anritten, waren ritterlich begeisterte Mazdaisten. Es lag Kreuzzugsstimmung über ihren Heeren.“ (UdA, S. 796)
Sogar die Sassaniden32 werden relativ schnell abgehandelt, obwohl Spengler sich bemüht, wenigstens einzelne politische Phasen zu unterscheiden. Da er überzeugt war, daß sich jede Hochkultur nach einer anfänglichen monarchischen Phase zu einem erblichen Feudalsystem entwickelt, und da er der Ansicht war,33 daß der „eigentliche“ Beginn der „arabischen“ Kultur auf die Zeit Christi datiert werden müsse, sah er sich gezwungen, das frühe Sassanidische Reich als eine Feudalgesellschaft zu betrachten. So identifizierte er z.B. die Dehkane34 mit einer mittelalterlichen Ritterkaste und parallelisierte die sassanidische Gesellschaft ausdrücklich mit dem Reich der Staufer im 12. Jahrhundert, wobei er die Tatsache außer acht ließ, daß der Dienst der iranischen Aristokratie in der hochgerüsteten Kavallerie mindestens ein halbes Jahrtausend früher zurückverfolgt werden kann: „Im Sassanidenreich herrschte die Ritterschaft der Dinkane, und der glänzende Hof dieser ‚Stauferkaiser‘ des frühen Ostens ist in jedem Betracht für den byzantinischen seit Diokletian vorbildlich geworden. Noch viel später wußten die Abbassiden in ihrer neugegründeten Residenz Bagdads nichts Besseres, als das Sassanidenideal eines höfischen Lebens in großer Form nachzuahmen.“ (UdA, S. 796)
Da Spengler außerdem zeigen mußte, daß in der späteren Entwicklung des Sassanidischen Reiches etwas Ähnliches wie die abendländische Frühe Neuzeit entstanden ist, um die iranische Geschichte weiter in die vorgegebene Dynamik der „arabischen“ Kultur zu integrieren, datierte er den Beginn dieser
29
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UdA, S. 758: „Die Parther waren ein mongolischer Stamm, der eine persische Mundart angenommen hatte und inmitten dieser Bevölkerung das persische Nationalgefühl in sich zu verkörpern suchte.“ Zu den Ursprüngen und der Frühgeschichte der Parther vgl. Wolski 1962; Wolski 1969. Zu den Kataphrakten vgl. Rubin 1955; Mielczarek 1993. Vgl. z.B. Ziegler 1964; Lerouge 2007; Engels 2008. Zu den Sassaniden vgl. Christensen 1944; Wiesehöfer/Huyse 2006; Sarkhosh/Curtis/ Stewart 2008. Zum iranischen Feudalismus s. Engels 2011a; Engels 2014c. Zum iranischen Ritteradel s. Lambton 1953; zu den Kataphrakten vgl. Nell 1995; Farrokh 2005.
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Transformation auf etwa 300 n.Chr.35 Folglich werden die Herrschaft von Chosroes I.36 und sein Konflikt mit dem Mazdakismus als Äquivalent zur Zeit der „Fronde“ und damit zum Europa des 17. Jahrhundert gedeutet: „Es ist das Loswollen vom Kalifat, das einst von den Sassaniden und nach deren Vorbild von Diokletian in den Formen des Feudalstaates begründet worden war. Es hatte seit Justinian und Chosru Nuschirwan den Ansturm der Fronde zu bestehen, in dem neben den Häuptern der griechischen und der mazdaischen Kirche der persisch-mazdaische Adel vor allem des Irak, der griechische vor allem Kleinasiens und der nach beiden Religionen gespaltene armenische Hochadel voranstehen. Der im 7. Jahrhundert schon fast erreichte Absolutismus ist dann durch den Ansturm des in seinen politischen Anfängen streng aristokratischen Islams plötzlich gestürzt worden.“ (UdA, S. 1090–1091)
Wieder einmal erscheint Spengler hier als Opfer seines eigenen Wunschdenkens, verbunden mit einer fehlerhaften Analyse der iranischen Geschichte, denn die Argumente, die er für ein „feudales“ Sassanidenreich vorbringt, könnten auch für die parthische, seleukidische und sogar achaimenidische Zeit gelten, während die Identifikation der Dehkane mit den Rittern des Mittelalters im Gegensatz zu der Tatsache steht, daß Spengler selber König Chosroes (der im Übrigen diese neue Gesellschaftsschicht erst geschaffen hat) als frühen Höhepunkt des iranischen „Ancien régime“ darstellt.
9.3.2 Religiöse Geschichte Während Spenglers Interpretation der iranischen vorislamischen Gesellschaft unter offensichtlichen Mängeln leidet, die sowohl auf die Bedürfnisse seines kulturmorphologischen Systems als auch auf unzureichende Kenntnisse der iranischen Geschichte zurückzuführen sind, scheint er sich erheblich stärker bemüht zu haben, sich mit der iranischen Religionsgeschichte vertraut zu machen. Was dem modernen Historiker hier am auffälligsten erscheint, ist Spenglers Wunsch, den Mazdaismus und seine Hauptvarianten wie den Mazdakismus, den Zrvanismus und in gewisser Weise auch den Manichäismus allesamt in die größere Tradition der nahöstlichen monotheistischen Religionen wie das Judentum, das Christentum und den Islam einzubeziehen. Einmal mehr ließ sich dieser Versuch nicht ohne eine gewisse Anzahl wissenschaftlicher Probleme durchführen. Betrachten wir zunächst die Debatte über das Wesen der von Zarathustra geschaffenen religiösen Bewegung, die von Spengler wie folgt beschrieben wird: 35
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UdA, S. 1029, Anm. 1: „Die Sassanidenregierung, die um 300 vom Lehnswesen zum Ständestaat überging, ist in jeder Beziehung das Vorbild von Byzanz geworden, im Zeremoniell, im ritterlichen Kriegswesen, in der Verwaltung und vor allem im Typus des Herrschers.“ Zu Chosrau I. vgl. Rubin 1995; Rubin 2004; Wiesehöfer 2009; Engels 2017e.
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Historische Einzelfragen „[...] innerhalb dieser mitten in der babylonischen Welt aufrecht erhaltenen Religion erscheint nun Zarathustra als Reformator aus dem unteren Volke. Daß er kein Perser war, ist bekannt. Was er schuf – ich hoffe das noch nachzuweisen – war die Überführung der vedischen Religion in die Formen des aramäischen Weltdenkens, in welchem sich ganz leise schon die magische Religiosität vorbereitete. [...] Zarathustra ist ein Weggenosse der israelitischen Propheten, welche den mosaischkananäischen Volksglauben ebenso und gleichzeitig umgewendet haben. Es ist bezeichnend, daß die gesamte Eschatologie ein Gemeinbesitz der persischen und jüdischen Religion ist und daß die Awestatexte zur Partherzeit ursprünglich aramäisch geschrieben und dann erst in Pehlewi übertragen worden sind.“ (UdA, S. 758)
Zarathustras Religion selber wird wie folgt beschrieben: „Der Kern der prophetischen Lehre ist bereits magisch: Es gibt einen wahren Gott als Prinzip des Guten, mag es Jahwe, Ahura Mazda oder Marduk Baal sein; die andern Gottheiten sind ohnmächtig oder böse. An ihn knüpft sich die messianische Hoffnung, sehr deutlich bei Jesaja, aber mit innerer Notwendigkeit in den folgenden Jahrhunderten überall durchbrechend. Es ist der magische Grundgedanke; in ihm liegt die Annahme eines welthistorischen Kampfes zwischen gut und böse, mit der Macht des Bösen über die mittlere Zeit und dem Endsieg des Guten am Jüngsten Tage. Diese Moralisierung der Weltgeschichte ist Persern, Chaldäern und Juden gemeinsam.“ (UdA, S. 807)
Dieser Aufsatz ist nicht der Ort, um die alte Diskussion über das Datum von Zarathustra aufzugreifen oder über die Frage nachzudenken, inwieweit der Mazdaismus wirklich als eine starr dualistische Religion zu betrachten ist;37 und ohnehin machen es der fragmentarische Zustand unserer Quellen ebenso wie die einfache Tatsache, daß es nie einen monolithischen Mazdaismus gab, der vom Vergehen der Jahrhunderte unberührt geblieben wäre, unmöglich, eine einfache Lösung zu formulieren. Im Gegensatz zu Spengler können wir jedoch nicht ignorieren, daß die Theologie des Dualismus das Judentum, das Christentum und den Islam nur sehr marginal beeinflußt hat und sich immer wieder geächtet und verfolgt fand,38 während sie von Anfang an ein fester Bestandteil im Denken und Fühlen des Mazdaismus war. Tatsächlich war die emotionale Opposition und sogar die theologische Personalisierung von Gut und Böse, Richtig und Falsch, Iran und Nicht-Iran, Ordnung und Chaos eine allgegenwärtige Denkfigur der alten iranischen Kultur und Ideologie, während die absolute ontologische Vormachtstellung des abrahamitischen Gottes von seinen Anhängern nie wirklich in Frage gestellt worden ist. Sogar zu jenen Zeiten, als dualistische Irrlehren innerhalb christlicher Gemeinschaften auftraten, wie z.B. bei den Marcioniten (die übrigens von Spengler eng mit iranischen Kultgruppen
37 38
Zum klassischen Mazdaismus vgl. allg. Dhalla 1938; Boyce/Grenet 1965–1991. Zu den Reaktionen der monotheistischen Religionen gegenüber dualistischen Elementen in Gnosis, Manichäismus und Zoroastrismus vgl. Jonas 1954; Amighi 1990; Klein 1991; Hafner 2003; Kosack 2014.
9 Die Stellung des Alten Iran in Spenglers Geschichtsphilosophie
181
in Verbindung gesetzt wurden)39 oder den Paulicianern, gelang es diesen Sekten doch nie, größere Gruppen zu ihrem Glaubensbekenntnis zu bekehren.40 Ein weiterer grundlegender Unterschied zwischen dem Mazdaismus und den abrahamitischen Religionen ist die Tatsache, daß der Mazdaismus, soweit wir sehen können, nie einen so strengen und unnachgiebigen Monotheismus wie die abrahamitischen Religionen entwickelt hat. Während die verschiedenen Götter der Heiden vom Judentum, Christentum oder Islam stets entweder als schlichtweg nicht existent abgelehnt oder gar zu gefährlichen Dämonen und Teufel uminterpretiert wurden, wissen wir von keinem Ereignis, bei dem sie in den Status von Engeln oder halbgöttlichen Wesen erhoben worden wären, wie es im Mazdaismus geschah, wo Mithra, Anahita und zahlreiche andere bis zum Ende der sassanidischen Dynastie weiterhin ohne offensichtliche theologische Probleme verehrt und abgebildet wurden.41 Darüber hinaus sollten wir feststellen, daß im Gegensatz zu den zahlreichen Verbindungen zwischen Judentum, Christentum und Islam, die sich gegenseitig, wenn auch ohne große Sympathie, als „religiones licitae“ betrachteten, die aus demselben abrahamitischen Kern stammten, nie ein ähnlicher Versuch unternommen wurde, eine genealogische Verbindung zum Mazdaismus herzustellen, der immer abseits stand42 – mit der aussagekräftigen Ausnahme des Manichäismus, dessen Bestreben, künstlich zahlreiche genetische Verbindungen zu anderen Weltreligionen herzustellen, bezeichnenderweise von diesen nie als überzeugend angesehen wurde und letztlich seinen Untergang verursachte.43 Ein weiterer bemerkenswerter Unterschied zwischen den Religionen, die vom Mazdaismus ausgehen, und den abrahamitischen Religionen ist die Zurückhaltung der missionarischen Aktivitäten: Sicherlich gab es in einzelnen 39
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43
UdA, S. 834: „Das magische und im besonderen persische Grundgefühl ist ganz unverkennbar. Marcion stammte aus Sinope, der alten Hauptstadt des mithridatischen Reiches, dessen Religion schon durch den Namen seiner Könige bezeichnet wird. Hier war einst der Mithraskult entstanden.“ Einerseits zeigt dies ihre nur begrenzte Attraktivität für die Hauptströmungen des Christentums; andererseits ist es bezeichnend, daß selbst dann, wenn jene dualistischen Gruppen sich in einzelnen Gebieten starker als in anderen festzusetzen vermochten, ihr Einfluß sich doch auf jene Regionen mit einer starken iranischen Diaspora-Gemeinde beschränkte, was einmal mehr die starken Verbindungen zwischen Dualismus und iranischer Kultur suggeriert und eben auch die grundlegende Verschiedenheit von den traditionellen jüdisch-christlichen Gesellschaften. Zu den Marcioniten und Paulicianern vgl. Blackman 1948; Garsoïan 1967; Hoffman 1984. Zum polytheistischen Substrat des Mazdaismus vgl. Nyberg 1938; Widengren 1965; Widengren 1987; Malandra 1983. Zu den Verbindungen zwischen dem Mazdaismus und den anderen Religionen s. Neusner 1965–1970; de Menasce 1967; Bulliet 1979; Shaked 1990; de Jong 1997; Mustafa/Tubach/ Vashalomidze 2007. Zu den Verbindungen zwischen dem Manichäismus und den anderen Religionen s. Engels 2014e.
182
Historische Einzelfragen
Phasen der sassanidischen Geschichte Versuche, Religionsgemeinschaften außerhalb des Mazdaismus die Verehrung des Feuers aufzuzwingen oder andere Religionen zu verfolgen. Im Gegensatz zum Christentum, zum Manichäismus, zum Islam und sogar zum Judentum hat es jedoch nie eine ernsthafte missionarische Tätigkeit des Mazdaismus44 außerhalb des parthischen und sassanidischen Reiches gegeben.45 Im Gegensatz zu dem, was Spenglers andeutet, gab es zudem immer ein recht starkes Bewußtsein dafür, welche Menschen (und Territorien) als Teil des „Iran“ gesehen werden sollten und welche nicht, so daß Spengler sich eindeutig irrt, wenn er die Zugehörigkeit zur iranischen Kultur nur als durch religiöse Aspekte motiviert betrachtet: „Die Perser der Sassanidenzeit kennen, im Gegensatz zu denen der Achämenidenzeit, ein persisches Volk nicht mehr als Einheit der Abkunft und Sprache, sondern als Einheit der Mazdagläubigen im Gegensatz zu den Ungläubigen, mochten sie wie die meisten Nestorianer von noch so reiner persischer Abstammung sein.“ (UdA, S. 637)46
44
45 46
Eine der möglichen Erklärungen könnte darin bestehen, daß die Ausbreitung des Mazdaismus und der Einflußbereich des „Königs der Könige“ (zur Stellung des Königs innerhalb der mazdäischen Religion vgl. Frye 1964; Choksy 1988; Gnoli 1998; Daryaee 2003; Soudavar 2003, Engels 2014d) als untrennbar angesehen wurden, wobei außerhalb des Reiches lebenden Gemeinschaften wahrscheinlich unterstellt wurde, sehnsüchtig auf ihre Wiedervereinigung mit dem Königreich zu warten (wie auch in einem Dekret von Diocletian vermutet: Slg. Mosaicarum 15,3). Die abrahamitischen Religionen allerdings wurden nie als untrennbar von der politischen Autorität des jüdischen Königs, des römischen Kaisers oder des Kalifen von Bagdad verbunden betrachtet. Wieder einmal wich nur der Manichäismus von diesem Muster ab, da er nicht nur versuchte, die mazdäischen und abrahamitischen Traditionen miteinander zu verschmelzen, sondern auch eine wichtige missionarische Tätigkeit außerhalb des Sassanidischen Reiches in Gang zu setzen, aber es ist nicht unwahrscheinlich, daß gerade diese Abweichung von der sonst allgemein üblichen Gleichsetzung zwischen Religion und Politik eher noch als theologische Fragen der letztendliche Grund für die Feindseligkeit des mazdäischen Klerus gegenüber dem Manichäismus war. Vgl. in diesem Kontext auch die Kartir-Inschrift: Gignoux 1991. S. auch UdA, S. 758–759: „Aber schon in der Partherzeit hat sich bei Persern wie bei Juden jene tiefinnerliche Wandlung vollendet, welche den Begriff der Nation nicht mehr nach der Stammeszugehörigkeit, sondern der Rechtgläubigkeit bestimmt. Ein Jude, der zum Mazdaglauben übertrat, ist damit Perser geworden; ein Perser, der Christ wurde, gehört dem nestorianischen ‚Volke‘ an. [...] Diese neue Nation ist das ‚persische Volk‘ des Sassanidenreiches. Damit hängt es zusammen, daß Pehlewi und Hebräisch gleichzeitig aussterben und das Aramäische die Muttersprache beider Gemeinschaften wird. Will man die Bezeichnungen Arier und Semiten verwenden, so waren die Perser zur Zeit der Amarnabriefe Arier, aber kein ‚Volk‘, zur Zeit des Darius ein Volk, aber ohne Rasse, zur Sassanidenzeit eine Glaubensgemeinschaft, aber von semitischer Abstammung. Es gibt weder ein persisches Urvolk, das sich von einem arischen abgezweigt hätte, noch eine persische Gesamtgeschichte; und es läßt sich nicht einmal für die drei Einzelgeschichten, welche lediglich durch gewisse Sprachbeziehungen zusammenhängen, ein einheitlicher Schauplatz angeben.“ Zur Definition iranischer Identität s. Shaked 2008.
9 Die Stellung des Alten Iran in Spenglers Geschichtsphilosophie
9.4
183
Kann man Spengler verbessern?
Es wäre nun ziemlich einfach, diesen Aufsatz an dieser Stelle zu beenden und zu argumentieren, daß die zahlreichen Mängel von Spenglers Vision der iranischen Geschichte einen entscheidenden Beweis gegen Spenglers gesamte Morphologie der Geschichte darstellen, wie bereits von Alexander Demandt vorgeschlagen wurde, der feststellte: „Die Einbeziehung dieser magischen Kultur wird zum experimentum crucis für die ganze Theorie, weil dann, wenn eine Subsumierung unter das Grundschema mißlingt, dieses selbst zerbricht. Denn in einem solchen Falle müßte entweder für das Geschehen des ersten Jahrtausends ein abweichender Kulturtypus geschaffen werden oder aber dieses Geschehen aufgeteilt und den räumlich und zeitlich angrenzenden Kulturen zugeschlagen werden. Das wiederum brächte diese aus der Fasson.“47
Nichtsdestoweniger könnte ein solches Urteil etwas voreilig sein, da die moderne Forschung zur Geschichte des Iran es Historikern, die innerhalb des grundlegenden Rahmens von Spenglers Geschichtsmorphologie zu argumentieren versuchen, ermöglichen könnte, einige seiner individuellen Annahmen zu korrigieren, ohne notwendigerweise die Theorie als Ganzes zu diskreditieren. Im Lichte der oben genannten Probleme müßte eine solche revidierte Version von Spenglers Theorie auf der Voraussetzung der Existenz einer autonomen „iranischen“ Kultur beruhen, die völlig unabhängig vom Rest der „arabischen“ Kultur wäre (deren Entwicklung ebenfalls zweifellos erheblich einfacher zu analysieren ist, wenn sie nicht mehr an die iranische Einflußsphäre gebunden ist). Lassen wir es also für einen Augenblick zu, den „advocatus diaboli“ zu spielen und zu zeigen, wie es möglich sein könnte, eine Spengler‘sche Interpretation der iranischen Geschichte zu geben, die sachlich im Einklang mit der aktuellen Forschung steht. Betrachten wir zunächst Politik und Gesellschaft. Wie oben erläutert, war Spengler der Ansicht, daß die Geschichte jeder Kultur sich über etwa tausend Jahre erstreckt und sich nach einer Vorbereitungsphase von einer Universalmonarchie über einen Feudalismus bis zur Entstehung des komplexen Gleichgewichts eines „Ancien régime“ entwickelt, das auf der wirtschaftlichen Koexistenz von Stadt und Land und der politischen Koexistenz der drei Stände beruht. Diese zerbrechliche Harmonie wird dann durch ein „napoleonisches“ Zeitalter „Kämpfender Staaten“, sozialer Revolutionen und militärischer Expansion zerschlagen, was allmählich zum Entstehen eines universellen Zivilisationsimperiums führt, das sich schließlich wieder in einen Atavismus der ursprünglichen Monarchie verwandelt. Betrachtet man die Geschichte Irans für sich allein, ohne sie mit allen Mitteln mit den politischen Entwicklungen westlich des 47
Demandt 1980, S. 36–37.
184
Historische Einzelfragen
Tigris zu verknüpfen, und berücksichtigt man die Grundzüge neuer Forschungen zur iranischen Geschichte, so wird ganz offensichtlich, daß die politische Entwicklung von den Achaimeniden bis zu den Sassaniden tatsächlich recht gut einem solchen apriorischen Muster entspricht. Ihren Beginn wird man dann jedoch nicht irgendwo in der Mitte der Arsakidenzeit suchen müssen, wie Spengler meinte, sondern ganz am Anfang des Achaimenidenzeitalters. Unter diesem Gesichtspunkt würde das Achaimenidische Reich, dessen Aufstieg durch jene kulturellen und sozialen Umwälzungen vorbereitet wurde, die im 7. Jahrhundert überall im Nordosten und Südwesten des Iran zu beobachten waren, das erste Universalreich der iranischen Kultur bilden und in etwa der ottonischen Periode entsprechen, wodurch ein ultimativer politischer wie weltanschaulicher Bezugspunkt für alle nachfolgenden Entwicklungen geschaffen würde. Was das Aufkommen der Seleukiden betrifft, so wissen wir heute, daß diese große Anstrengungen unternahmen, um die achaimenidischen Traditionen zu respektieren, und daher nicht als eine Lücke innerhalb der iranischen Geschichte betrachtet werden müssen, sondern im wesentlichen als ein bloßer Dynastiewechsel, der noch dadurch erleichtert wurde, daß Antiochos I. halbiranischer Abstammung war und daß die sogenannte Kolonisierung des iranischen Ostens von Anfang an ein multikulturelles Unterfangen war, bei dem sogar die neugebauten Siedlungen mit Feuertempeln ausgestattet wurden. Aus Spengler’scher Sicht müßte das Seleukidenzeitalter zumindest in den Oberen Satrapien daher unter dem Schwerpunkt einer allmählichen Feudalisierung des Reiches betrachtet werden, die bereits unter den Achaimeniden begann und unter den Seleukiden mit dem Aufkommen mächtiger regionaler Dynastien wie den Arsakiden ihren Höhepunkt fand: den Frataraka, den Artaxiden, den Diodotiden oder dem Haus Charakene, die alle immer noch durch Lehnspflichten mit dem König verbunden waren, was am offensichtlichsten wird, wenn man die feudale Neuordnung des Seleukidenreiches durch Antiochos III. betrachtet. Der Niedergang der seleukidischen Macht, die allmähliche Eroberung des Iran durch die Parther und ihre fragile Hegemonie über die zahlreichen Fürstentümer, die sich überall an der Peripherie des Reiches herausgebildet hatten, würde dann der langsamen Auflösung des Heiligen Römischen Reiches und der Umwandlung seiner Bestandteile in halbautonome Staaten entsprechen, die nominell der Hegemonie der habsburgischen Länder unterworfen waren. Unter diesem Gesichtspunkt wäre es auch verfehlt, das Zeitalter der Parther nur unter dem Blickwinkel der angeblichen Schwäche der Arsakiden zu betrachten, wie dies oft versucht wird. Aus Spengler’scher Perspektive sollten wir vielmehr ihren Erfolg bei der Etablierung ihrer Macht über das mesopotamische, medische und parthische Kernland, ihrer Kontrolle, die sie über die zahlreichen kleineren Nachbarn ausüben konnten, und ihre erfolgreichen Kämpfe gegen die römische Gefahr im Westen und die Bedrohung durch die Nomaden im Osten hervorheben, genau wie es den Habsburgern des „Ancien
9 Die Stellung des Alten Iran in Spenglers Geschichtsphilosophie
185
régime“, die ihre vielfältigen territorialen Besitztümer erfolgreich in einen kohärenten Staat verwandelten, gelungen war, das Heilige Römische Reich so weit wie möglich zu kontrollieren und die Osmanen von seinen Grenzen abzuwehren. Das Aufkommen der Sassaniden markiert dann den Übergang zu dem, was Spengler in Analogie zu China als ein Zeitalter „Kämpfender Staaten“ bezeichnete. So würden der militärische Expansionismus der neuen Dynastie, die Annexion der kleineren peripheren Königreiche, die rationale Neuorganisation des Staates, die Kolonisierung großer Teile Arabiens, das Gedeihen der vielen neuen Städte im iranischen Kernland und die vielen strukturellen Verbesserungen und Fortschritte im großen und ganzen den Hauptmerkmalen des Imperialismus des 19. Jahrhunderts entsprechen. Nach inneren Umwälzungen, die durch soziale Unruhen verursacht wurden, die sich zu den Aufständen der Mazdakiten verdichteten, würde die Thronbesteigung von Chosroes I. dann die letzte Etappe in der Geschichte der iranischen Länder darstellen und dem Zeitalter des Augustus und der von Spengler angekündigten Wende zum Caesarismus im Europa der Zeit um 2100 entsprechen. Chosraus militärische Expansion, kulturelle Heldentaten, messianistische Ideologie und religiöse Reformen schufen eine langanhaltende Erinnerung an ein kulturelles „goldenes Zeitalter“, das zum Inbegriff des vergangenen Ruhmes werden sollte, dem die Iraner auch weiterhin nachhingen, als die muslimische Invasion ihrer erschöpften Zivilisation ein plötzliches, aber aus einer Spengler’schen Sicht keineswegs verfrühtes Ende bereitete. Dieses Muster ließe sich auch auf die geistige Entwicklung des Iran übertragen. Wir dürfen uns daran erinnern, daß für Spengler die Weltmonarchie der Geburt eines neuen Gottesgefühls (dem oft eine längere Vorbereitungsphase vorausging) und seiner frühesten mystischen Ausformung entsprach. Der Feudalismus verliefe dann synchron mit einer Zeit der Reformation und des wachsenden Widerstands der Bevölkerung gegen die ursprüngliche Form der Religion. Das „Ancien régime“ mit der Kulmination komplexer Staatsformen ist durch Gegenreformation, Puritanismus und Aufklärung gekennzeichnet. Das Zeitalter der „Kämpfenden Staaten“ entspricht Nationalismus, Materialismus, Sozialismus, Universalismus und Atheismus, während der endgültige Zivilisationsstaat eine erschöpfte Religion in einen künstlichen Ausdruck politischer Loyalität verwandelt und die Überreste der Tradition in eine kanonisierte Form gießt, um sie für die kommenden Jahrhunderte vor dem Vergessen zu bewahren. Diese Entwicklung könnte, sobald ihre morphologische Notwendigkeit erkannt ist, ziemlich gut auf die Geschichte des Mazdaismus übertragen werden, obwohl es angesichts unserer Quellenlage oft leider sehr hypothetisch ist, genaue Daten zu einzelnen Entwicklungen anzugeben. So war es nach einer Vorbereitungsphase, die durch das Aufkommen von Zarathustra und den frühen Mazdaismus gekennzeichnet war, die Expansion des Achaimenidischen Reiches,
186
Historische Einzelfragen
welche die Verbreitung, Stärkung und frühe institutionelle Gestaltung des Glaubens an Ahura Mazda bewirkte. Das seleukidische Zeitalter mit dem wachsenden Einfluß der hellenistischen Philosophie und des griechischen Polytheismus sowie der indischen Religionen würde dann einer tiefen Glaubensund Kultkrise entsprechen, die von späteren Quellen dem dämonischen Charakter der Religionspolitik Alexanders des Großen zugeschrieben wurde. Das parthische Zeitalter scheint Zeuge bestimmter konservatorischer Maßnahmen zur Reform des Mazdaismus sowie einer anhaltenden Popularität der griechischen Philosophie und der puritanischen antiklerikalen Bewegung des Mani gewesen zu sein. Im Zeitalter der Sassaniden entstanden dann die materialistische Ketzerei des Zrvanismus, die sozialistischen Reformen des Mazdakismus und das prekäre Gleichgewicht zwischen einer nationalistischen mazdäischen Orthodoxie und einer toleranteren und universalistischeren Haltung gegenüber anderen Religionen, bis Chosroes I. die Kanonisierung des Mazdaismus in Analogie zu Augustus’ Wiederherstellung der „religio Romana“ vollendete und seinen eigenen Platz innerhalb der mazdäischen Heilsgeschichte durch eine quasi-messianistische Ideologie definierte. Nach der endgültigen Kanonisierung des Mazdaismus stagnierte seine Entwicklung, und obwohl er die Kraft behielt, zumindest teilweise dem Druck des Islam zu widerstehen, blieb er nicht mehr der Hauptmotor der iranischen Geschichte, genau wie das römische Heidentum allmählich vom Christentum und die traditionelle chinesische Religion vom Buddhismus verdrängt wurde.
9.5
Schluß
Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß Spenglers Analyse des Platzes der iranischen Geschichte im allgemeineren Rahmen der Geschichte der Hochkulturen eine originelle, wenn auch sehr diffuse Mischung aus konventionellen und innovativen Ideen darstellt, die beide implizit mit einer sehr spezifischen Vision des „Persertums“ verbunden sind, auch wenn der explizite Fokus von Spenglers „Untergangs des Abendlandes“ weniger auf der achaimenidischen Geschichte als vielmehr auf der Geschichte der iranischen Welt im 1. Jahrtausend n.Chr. liegt. In der Tat hat Spenglers Bemühen, die Geschichte des Vorderen Orients zwischen der griechisch-römischen Antike und dem europäischen Mittelalter nicht als chaotisches Zwischenspiel zu interpretieren, das weder durch „Niedergang“ noch durch „Vorbereitung“ gekennzeichnet ist, sondern als eigenständige Hochkultur, unbestreitbar dazu beigetragen, das Bewußtsein der zeitgenössischen Forschung für den inneren Zusammenhalt des frühen Christentums, des post-exilischen Judentums und des Islam zu schärfen, und
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187
zwar trotz der oft künstlichen Grenzen der sprachlichen Disziplinen und politischen Räume. Andererseits aber stellt die Einbeziehung der Geschichte des Iran in den allgemeinen Rahmen dieser „magischen“ oder „arabischen“ Kultur sowohl einen Fortschritt als auch einen Rückschritt dar. Einen Fortschritt, weil Spengler sich bemüht hat, die Geschichte des Iran nicht auf eine Reihe statischer Dynastien zu reduzieren, die undifferenziert als gleichermaßen „gewalttätig“ und „despotisch“ zu gelten hätten und nur in ihrer Funktion als Kontrastbild zur griechisch-römischen Antike von Interesse wären, sondern eine morphologische Parallele zwischen der Geschichte des Iran und der Entwicklung aller anderen Hochkulturen herzustellen und so dazu beizutragen, den Iran aus seiner eigenen Gedankenwelt heraus zu verstehen. Damit war Spengler natürlich nicht allein, denn er stand offensichtlich unter dem Einfluß des zunehmenden wissenschaftlichen Interesses an der Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens zu Beginn des 20. Jahrhunderts (man denke nur an Eduard Meyer, der übrigens eine intensive Korrespondenz mit Spengler führte), das zweifellos die Aufhebung vieler alter Stereotypen vereinfacht hat, allen voran der klassische Topos vom ewigen Konflikt zwischen westlichfortschrittlicher „Freiheit“ und orientalisch-statischem „Despotismus“, wie er bis weit ins 19. Jahrhundert wirkmächtig blieb. Doch Spenglers Neuinterpretation der iranischen Geschichte stellte auch einen Rückschritt dar, da er die Originalität der iranischen Geschichte nicht völlig erkannte und der Tendenz erlag, die iranische Geschichte auf ein bloßes Produkt der Einflüsse ihrer prominenteren Nachbarn zu reduzieren. Auf diese Weise, und obwohl Spengler der Versuchung weitgehend auswich, dem von der biblischen Literatur geerbten Muster zu folgen und die Geschichte der iranischen Dynastien lediglich als nahezu „posthistorischen“ Anhang zu den alten babylonischen und assyrischen Monarchien zu interpretieren, fügte er die Geschichte des Iran doch einer weiteren Hochkultur hinzu, diesmal allerdings der „arabischen“ oder „magischen“ Kultur. Und obwohl einzuräumen ist, daß Spengler große Anstrengungen unternahm, um die dynamische Rolle des Zoroastrismus innerhalb der spirituellen Entwicklung dieser neu postulierten Kultur hervorzuheben, und sogar zu zeigen versuchte, wie die bewegte politische Geschichte des Iran in diesen allgemeinen Rahmen paßte, ist es offensichtlich, daß die Geschichte des Iran für Spengler weitgehend als peripher zu Ereignissen blieb, deren Zentrum eher in der Levante lag. So trug Spengler zwar zur Auflösung des vereinfachenden Musters vom „ewigen“ Konflikt zwischen „Ost“ und „West“ bei, aber er erkannte die innere Originalität des iranischen Geistes nicht und übernahm somit nur ein weiteres Vorurteil, indem er den Iran weitgehend durch die Linse seiner geographischen und chronologischen Nachbarn betrachtete. Abschließend bleibt zu hoffen, daß trotz dieser Einwände die wichtige intellektuelle Anregung deutlich wurde, die auch heute immer noch vom „Untergang des Abendlandes“ ausgeht. In der Tat stellt selbst die argumentative
188
Historische Einzelfragen
Anstrengung, die erforderlich ist, um Spenglers Thesen abzulehnen, immer noch ein mächtiges Instrument zur Schärfung und Klärung unserer allgemeinen Sichtweise des antiken Iran dar, da der Anreiz, gegen Spengler zu argumentieren, um die Autonomie des Iran und seiner tausendjährigen Geschichte zu beweisen, selber interessante Einblicke in die bewegte Dynamik der iranischen Gesellschaft gewährt. Es wird somit offensichtlich, daß die Versuchung, die Geschichte des Iran mit der Geschichte des Islam zu koppeln – eine Versuchung, der selbst Toynbee nachgeben sollte – im Lichte unseres heutigen historischen Wissens nicht mehr aufrechtzuerhalten ist: Die strukturellen Unterschiede zwischen dem Mazdaismus und den abrahamitischen Religionen sind so bedeutend, daß alle Versuche, die Unterscheidungen zwischen beiden Systemen zu verwischen, zu historischen Ungenauigkeiten führen müssen. In ähnlicher Weise macht es die jüngste Forschung auch unmöglich, den achaimenidischen, seleukidischen und parthischen Iran als bloße „Vorbereitung“ auf eine Entwicklung zu betrachten, die erst mit dem Christentum beginnen sollte, da unser wachsendes Verständnis des seleukidischen Staates als eines entscheidenden politischen und ideologischen Bindeglieds zwischen dem achaimenidischen und dem parthischen Iran eine viel komplexere und dynamischere Entwicklung des präsassanidischen Iran nahelegt. So wird immer deutlicher, daß die Geschichte des Iran jenseits der offensichtlichen Grenzen, die der iranischen Zivilisation durch Landschaft, Tradition und kulturellem Erbe auferlegt sind, kein einfaches auf und ab von Königen und Dynastien war, die einander zum Verwechseln ähneln und allesamt das Leitmotiv des „orientalischen Despotismus“ ad libitum variieren, sondern vielmehr ein vielschichtiger langfristiger Prozeß, der den Iran, ähnlich wie die griechisch-römische Welt, durch alle für eine unabhängige „Hochkultur“ typischen Stadien und Phasen führte. Weit davon entfernt, nur „Epigonen“ der Babylonier, „Feinde“ der Griechen, „Vorbereiter“ des Monotheismus oder „Vorgänger“ der Abbasiden zu sein, sollte man die Iraner der vorislamischen Zeit eher als Vertreter einer eigenständigen „Hochkultur“ mit eigenen Gesetzen und einer eigenen Dynamik betrachten, deren Entwicklung selbst aus starrer Spengler’scher Sicht den morphologischen Grundmustern einer Hochkultur ebenso voll und ganz entspricht wie die aller anderen großen menschlichen Zivilisationen.
10
Babylonien, Indien, Mexiko und China im „Untergang des Abendlandes“
10.1
Einleitung
Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“ liefert zwar die allgemeine Struktur einer Morphologie aller Hochkulturen, bleibt aber in vielen Fällen – wie ja auch im Titel des Werks angekündigt, wo nur von „Umrissen“ die Rede ist – sehr skizzenhaft. Das Hauptaugenmerk bleibt auf die abendländische und die antike Kultur gerichtet, wobei Spengler auf eine reiche, schon ins Mittelalter zurückgehende kulturkomparatistische Tradition zurückgreifen konnte; dazu kommt dann noch eine umfassende Beschäftigung mit der „magischen“ Kultur, welche Spengler als eine eigenständige Kultur etablieren muß, um Spätantike, Byzanz und Islam aus der scheinbaren Kontinuität mit der Antike herauszubrechen und somit das wesentliche Argument für eine lineare Geschichtskontinuität zu entkräften.1 Die anderen Kulturen werden allerdings erheblich kürzer abgehandelt, wobei Spengler wenigstens im Falle Altägyptens und Chinas eine recht umfassende Skizze liefert, die eine allgemeine Einordnung ihrer jeweiligen Geschichte in die kulturmorphologische Theorie ermöglicht. Drei der Spengler’schen Hochkulturen werden allerdings nur ganz beiläufig und schlaglichtartig gestreift: Das alte Zweistromland, das vorislamische Indien und schließlich der mesoamerikanische Raum. Dies wird bereits offensichtlich, wenn man die vergleichenden Tabellen betrachtet, in denen von diesen drei Kulturen lediglich die indische Erwähnung findet, und auch dies nur im Bereich der Geistesgeschichte, was in Anbetracht der Tatsache, daß die indische Religionsund Philosophiegeschichte (wie der Rest der indischen Geschichte) mit immensen Datierungsproblemen behaftet ist, in den meisten Fällen nur wenig hilfreich scheint, wenn es darum geht, aus Spenglers Zuordnung einzelner geistiger Phasen Rückschlüsse auf seine Interpretation der sonstigen Geschichte zu gewinnen: Babylon
Ägypten
China
X
X
Politik Geist Kunst 1
Indien
Antike
Mexiko
Abendland
X X
X
Orient
X
X X
X X
X X
Allg. zu Spenglers „magischer“ bzw. „arabischer“ Kultur vgl. Becker 1923; Demandt 1980; Koopmann 1980; Abbès 2014; Engels 2017c (= Kap. 9) und Engels 2020a (= Kap. 8).
190
Historische Einzelfragen
Im folgenden werden wir versuchen, aus den wenigen verstreuten Erwähnungen Spenglers zur babylonischen, indischen und mesoamerikanischen Geschichte ein zusammenhängendes Bild zu rekonstruieren,2 um dieses zusammen mit einigen Problemen der chinesischen Geschichte in aller Kürze mit dem gegenwärtigen Forschungsstand zu konfrontieren und zu diskutieren, inwieweit die hier auftretenden Diskrepanzen durch eine Modifizierung der Spengler’schen Interpretation des Faktenmaterials behoben werden können.
10.2
Babylonien
Was den mesopotamischen Raum betrifft, bleibt Spengler, der eher in der ägyptischen Geschichte bewandert gewesen zu sein scheint, in seiner Datierung wie seiner morphologischen Einordung überaus vage, obwohl doch gerade jene mesopotamische Kultur als die älteste der Menschheit seine besondere Aufmerksamkeit erfordert hätte. So erfahren wir zunächst, daß die Zeit Sargons von Akkad (von Spengler um 2500, heute der mittleren Chronologie entsprechend 2356–2300 bzw. der kurzen Chronologie entsprechend 2292–2236 datiert) der Epoche Justinians bzw. Karls V. entspricht und dementsprechend als sommerlicher „Höhepunkt“ der babylonischen Kultur zu gelten hat: „Am Anfang des babylonischen ‚Barock‘ erscheint der große Sargon (2500), der bis ans Mittelmeer vordringt, Cypern erobert und sich im Geschmack Justinians I. und Karls V. den ‚Herrn der vier Weltteile‘ nennt.“ (UdA, S. 601)
Hammurabi hingegen (von Spengler um 1750, heute in der langen Chronologie 1848–1806, in der mittleren 1792–1750 und in der kurzen 1728–1686) erscheint dann als der direkte „Zeitgenosse“ der hellenistischen, abbasidischen und modernen abendländischen Periode: „Nur der innerlich erstorbene Mensch der späten Städte, des Babylon Hammurabis (1750), des ptolemäischen Alexandria, des islamischen Bagdad oder des heutigen Paris und Berlin, nur der rein intellektuelle Sophist, Sensualist und Darwinist verliert oder verleugnet sie, indem er eine geheimnislose ‚wissenschaftliche Weltanschauung‘ zwischen sich und das Fremde stellt.“ (UdA, S. 108)
Die assyrische Herrschaft (gemeint ist wahrscheinlich das Neue Assyrische Reich zwischen 911–605, vielleicht auch das Mittlere zwischen 1380–913) gilt Spengler dann als Zeit der „Soldatenkaiser“, während mit Kyros dem Großen (559–530) Mesopotamien in die Hänge fremder Völker fällt, welche mit den germanischen 2
Bis auf einige Einzelbereiche, allen voran die Kunstgeschichte (s. Kaiserreiner 1994), ist eine systematische Diskussion der Spengler’schen Analyse jener Hochkulturen seltsamerweise bisher unterblieben. Eine Übersicht über die ältere Forschung bietet Schröter 1922.
10 Babylonien, Indien, Mexiko und China
191
Eroberern des Spätrömischen Reichs ab dem 5. und 6. Jahrhundert n.Chr. in Verbindung gebracht werden: „Unter den Kossäern setzen die Prätorianer die Herrscher ein und ab ; die Assyrer haben wie die Soldatenkaiser seit Commodus die alten staatsrechtlichen Formen aufrechterhalten; der Perser Kyros und der Ostgote Theoderich haben sich als Reichsverweser gefühlt, Meder und Langobarden als Herrenvölker im fremden Lande.“ (UdA, S. 602)
Was auf den ersten Blick recht schlüssig scheinen mag, wirft auf einen zweiten zahlreiche Fragen auf. Ein Teil dieser Probleme betrifft die Chronologie. Selbst wenn wir in Betracht ziehen, daß die Datierung der mesopotamischen Gesellschaften (mit denen Spengler wohl nur oberflächlich vertraut war, ist das einzige Buch, das er in den Fußnoten zum Untergang im Kontext der vorderorientalischen Kulturen zitiert, doch Eduard Meyers „Geschichte des Altertums“)3 zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch in den Kinderschuhen steckte und auch heute mit bedeutenden Problemen behaftet ist, muß sich doch auch für Spengler die Feststellung ergeben haben, daß der Zeitraum, der zwischen der sargonidischen „Frühklassik“ und dem „Hellenismus“ eines Hammurabi erstreckt, mit (nach Spenglers eigener Datierung) 750 Jahren doch um ein vielfaches länger war als die Zeiträume, die man selbst bei flexibler Auslegung der Spengler’schen Anspielung auf andere Hochkulturen gewinnt, wie etwa die ca. 400 Jahre zwischen Karl V. und dem frühen 20. Jahrhundert: Auch wenn Spengler, getreu seinem vitalistischen Grundpostulat, nie eine absolute Identität zwischen der Dauer analoger historischer Epochen angenommen hat und auch die „tausendjährige“ Lebensdauer der einzelnen Kulturen ganz klar nur als ein ungefährer Richtwert gemeint war, würde man doch zumindest im Falle der „babylonischen Kultur“ überaus gestreckte Werte erhalten, die stark mit der in etwa parallelen Rhythmik der anderen Kulturen kontrastieren. Noch offensichtlicher wird dieses Problem, denkt man an „die“ Assyrer als Äquivalent der römischen Soldatenkaiser des 3. Jahrhunderts, wird Spengler hier doch sicher eher an das Neue als an das Mittlere Assyrische Reich gedacht haben, das in diesem Falle fast ein Jahrtausend später als der mesopotamische „Hellenismus“ eingesetzt hätte. Ein weiteres Problem ergibt sich, wenn wir uns ausgehend von Spenglers Eckdaten bemühen, die anderen morphologischen Epochen Mesopotamiens zu identifizieren. Denn sollte Hammurabis Herrschaft den Höhepunkt der „modernen“ Periode Mesopotamiens markieren, wie ist dann die mehrhundertjährige Verfallszeit nach dem Sturz der Dritten Dynastie von Ur zu erklären? Und welche mesopotamische Dynastie würde den eigentlichen „kaiserzeitlichen“ Abschluß der Geschichte des Zweistromlands darstellen, bedenkt man, daß das Babylonische Reich bereits nach dem Tode Hammurabis in die Defensive geriet 3
Spengler schätzte Eduard Meyer sehr, mit dem er auch einen Briefwechsel unterhielt, und letzterer widmete dem „Untergang“ eine anerkennende Rezension; s. Demandt 1990.
192
Historische Einzelfragen
und erst ab dem 15. Jahrhundert unter der Dynastie der Kassiten eine neue Blüte erreichte, dabei aber nie dieselbe Ausdehnung wie in altbabylonischer Zeit erreichte? Auch, was das „Ursymbol“ der „babylonischen“ Kultur betrifft, hält Spengler sich offensichtlich merklich zurück, finden wir doch nirgendwo in seinem Werk eine diesbezügliche Spekulation, die vergleichbar wäre mit den so sensiblen und komplexen Analysen etwa der antiken Körperhaftigkeit, des faustischen Drangs, des „magischen“ Dualismus, des chinesischen Dao, des ägyptischen „Wegs“, der russischen „Ebene“ oder der indischen ewigen Gegenwart; eine seltsame Unterlassung, die einmal mehr den Eindruck erweckt, Spengler habe bei seiner Analyse des alten Zweistromlands eine Reihe von Problemen lieber nicht ins Auge fassen wollen, da sie allem Anschein nach seine Theorie zu widerlegen schienen. Und doch: Es wäre ein großer Fehler, die Analyse hier zu schließen und die babylonische Kultur zum Fallbeispiel eines letzendlichen „Scheiterns“ der Spengler’schen Geschichtsmorphologie zu erheben. Vielmehr ergibt sich aus dem Material der neuen Forschung der Anhaltspunkt, daß wir nicht eine einzige, sich über zwei Jahrtausende streckende „babylonische“ Kultur anzunehmen haben, die mit den Sumerern beginnen und den Assyrern enden würde, sondern vielmehr zwei: eine erste, die ihr Herz im Süden des Zweistromlands hat, wesentlich von den sumerischen und teilweise auch akkadischen Völkern getragen wurde und ihren Beginn mit Einsetzen der sumerischen Hochkultur und ihr Ende in der Dritten Dynastie von Ur fand; und eine zweite, vor allem aramäisch dominierte und im nördlichen Mesopotamien sowie der Levante beheimatete Hochkultur, welche mit Hammurabi ihren „ottonischen“ Beginn und im Neuassyrischen Reich ihren „augusteischen“ Abschluß findet und ein ähnliches Verhältnis historischer Bewunderung für die sumerische Kultur pflegte wie das Abendland im Vergleich zur Antike. Dies würde nicht nur schlagartig alle chronologischen Probleme der Spengler’schen Deutung beheben, sondern auch inhaltlich größeren Sinn machen. Mit der Jemdat Nasr-Zeit (ca. 3100–2900) und der Frühdynastischen Zeit I–II (2900–2600) wäre der quasi mittelalterliche Beginn der sumerischen Zeit4 umrissen, die in der Dritten Dynastie von Uruk ihre klassische Blüte fand, bevor unter den Sargoniden und den Guti die militaristische Epoche der „Kämpfenden Staaten“ (2316–2123) einsetzte, die dann in der Reichseinigung unter der Dritten Dynastie von Ur (2094–2029) und ihrem ganz klar augusteischen Restaurationsprogramm ihren Abschluß fand. Der Fall Urs und die Jahrhunderte der Dynastie von Isin sollten schließlich das definitive Ende des alten Sumer als eines kreativen politischen und kulturellen Zentrums bedeuten und die Verlagerung 4
Allg. zur sumerischen Geschichte s. Joannès 2001; Edzard 2004; Crawford 2004; Selz 2005; Crawford 2013.
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193
der Initiative nach Norden einleiten, wo seit Hammurabi und dem Altassyrischen Reich eine neue Kultur unter ganz neuen Voraussetzungen einsetzte, wie etwa an der Transformation des sumerischen Pantheons durch den Henotheismus dieser neuen, „assyrischen“ Kultur deutlich wird. Das Altbabylonische und zeitgleiche Altassyrische (1809–1595) und das Mitanni-Reich (1595–1350) würden hier Früh- und Spätmittelalter bezeichnen,5 bevor das Mittelassyrische Reich (1350–114) die klassische Zeit jener Kultur ausmacht. Der Übergang zur Moderne geschieht dann durch den Spätbronzezeitlichen Umbruch, der bezeichnenderweise das Kerngebiet der assyrischen Kultur verschonte, bevor das Neoassyrische Reich (824–727) und vor allem die sargonidische Dynastie seit 727 mit der römischen Kaiserzeit übereinstimmen würden, die dann ihrerseits zum Substrat für die persische Kultur wurde, die sich nicht nur letzter Reste des sumerischen, sondern eben auch des assyrischen Formenschatzes bediente, um ihre eigene Kulturseele zur Entfaltung zu bringen.
10.3
Indien
Etwas anders gelagert ist das Problem der indischen Hochkultur. Sieht man von der einfühlsamen Schilderung des ahistorischen indischen Weltgefühls ab,6 5
6
Allg. zur nordmesopotamischen Geschichte s. Brinkman 1984; Joannès 2000; Lipinski 2000; Fales 2001; Cancik-Kirschbaum 2003; Postgate 2007. Zum indischen „Seelenbild“ vgl. v.a. Spengler, UdA, S. 15: „Die indische Kultur, deren Idee vom (brahmanischen) Nirwana der entschiedenste Ausdruck einer vollkommen ahistorischen Seele ist, den es geben kann, hat nie das geringste Gefühl für das ‚Wann‘ in irgendeinem Sinne besessen. Es gibt keine echte indische Astronomie, keinen indischen Kalender, keine indische Historie also, insofern man darunter den geistigen Niederschlag einer bewußten Entwicklung versteht. Wir wissen vom sichtbaren Verlaufe dieser Kultur, deren organischer Teil mit der Entstehung des Buddhismus abgeschlossen war, noch viel weniger als von der antiken, sicherlich an großen Ereignissen reichen Geschichte zwischen dem 12. und 8. Jahrhundert: Beide sind lediglich in traumhaft-mythischer Gestalt festgehalten worden. Erst ein volles Jahrtausend nach Buddha, um 500 n. Chr., entstand auf Ceylon im ‚Mahavansa‘ etwas, das entfernt an Geschichtsschreibung erinnert. Das Weltbewußtsein des indischen Menschen war so geschichtslos angelegt, daß er nicht einmal die Erscheinung des von einem Autor verfaßten Buches als zeitlich feststehendes Ereignis kannte. Statt einer organischen Reihe persönlich abgegrenzter Schriften entstand allmählich eine vage Textmasse, in die jeder hineinschrieb, was er wollte, ohne daß die Begriffe des individuellen geistigen Eigentums, der Entwicklung eines Gedankens, der geistigen Epoche eine Rolle gespielt hätten. In dieser anonymen Gestalt – es ist die der gesamten indischen Geschichte – liegt uns die indische Philosophie vor. Mit ihr vergleiche man die durch Bücher und Personen physiognomisch aufs schärfste herausgearbeitete Philosophiegeschichte des Abendlandes.“ Vgl. hierzu dann auch Engels 2021.
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Historische Einzelfragen
beschränken sich tragfähige Hinweise zur Datierung der indischen Kultur vor allem auf Äußerungen zum Buddhismus und hierbei auf Zitate wie: „Unter den Brahmanen des vorbuddhistischen ‚Barock‘ gab es Großgrundbesitzer, gepflegte Abbés, Hofleute, Verschwender, Feinschmecker, aber gerade die Frühzeit hat im Priestertum die Idee von der Person zu unterscheiden gewußt, was dem Wesen des Adels gänzlich widerspricht, und erst die Aufklärung beurteilte den Priester nach seinem Privatleben, nicht weil ihre Augen schärfer sahen, sondern weil ihr die Idee abhanden gekommen war.“ (UdA, S. 975)
Und: „Dieselbe Tatsache in Verbindung mit denselben ‚Gründen‘ findet sich in der alexandrinischen und römischen und selbstverständlich in jeder anderen zivilisierten Gesellschaft, vor allem auch in der, in welcher Buddha herangewachsen ist, und es gibt überall, im Hellenismus und im 19. Jahrhundert so gut wie zur Zeit des Laotse und der Tscharvakalehre eine Ethik für kinder- arme Intelligenzen und eine Literatur über die inneren Konflikte von Nora und Nana.“ (UdA, S. 681)
Und: „Aber dasselbe fühlt man aus der Geschichte des politischen Buddhismus seit dem Cäsar Asoka heraus.“ (UdA, S. 682–683)
Spengler setzt also den im frühen 5. Jahrhundert zu verortenden Buddhismus mit der hellenistischen Zeit Indiens und dem abendländischen 19. Jahrhundert gleich, den Barock mit den vorangehenden brahmanischen Jahrhunderten und die Regierungszeit des im 3. Jahrhundert herrschenden Asoka mit dem Caesarismus (wie auch an anderer Stelle nachzulesen ist, daß die indische „Kaiserzeit“ um 250 begann); alles spätere hat als „Fellachentum“ zu gelten, und selbst die Verdrängung des Buddhismus durch den Hinduismus in der GuptaZeit findet bei Spengler kein weiteres Interesse.7 Die restliche Chronologie läßt sich nur aus den leider weitgehend undatierten Angaben in einer der vergleichenden Tabellen aus dem „Untergang“ rekonstruieren. Wir lesen hier, daß der „Frühling“ der indischen Kultur in der Zeit um 1500–1200 verortet ist und der Genese der vedischen Religion und der „arischen Heldensagen“ entspreche, wobei hochscholastische Bestrebungen in den „ältesten Teilen der Veden“ enthalten seien. Der Sommer setze zeitgleich mit den Brahmanas als ältesten Elementen der Upanishaden im 10.– 9. Jahrhundert ein, wobei wir in der Rubrik „idealistischer und realistischer 7
Spengler, UdA, S. 947: „Es ist ganz gleichgültig, ob um 1200 in China eine Abart der konfuzianischen Staatslehre als Dschufuzianismus erscheint, wann sie erscheint und ob sie Erfolg hat oder nicht, ob in Indien der längst zu einer polytheistischen Volksreligion gewordene Buddhismus vor dem Neubrahmanismus verschwindet, dessen größter Theologe Sankara um 800 lebte, und wann dieser endlich in die hinduistische Lehre von Brahma, Vischnu und Shiwa übergeht. Es gibt stets eine kleine Zahl äußerst geistiger, überlegener, absolut ‚fertiger‘ Menschen, wie die Brahmanen Indiens, die Mandarinen Chinas und die ägyptischen Priester, die Herodot in Erstaunen setzten.“
10 Babylonien, Indien, Mexiko und China
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Systeme“ wie auch „Puritanismus“ nur den Verweis, „Spuren in den Upanishaden“ finden. Der Herbst beginnt dann mit der „Aufklärung“, die Spengler mit den Sutras, Sankhya, Buddha und den Jüngeren Upanishaden in Verbindung bringt, während die „großen abschließenden Systeme“ – also die Äquivalente von Platon, Aristoteles und Hegel – den Bewegungen des Yoga Vedanta, des Vaiceshika und des Nyaya entsprechen würden. „Winterlich“ ist schließlich der Materialismus des Sankhya und Tscharvak [Lokoyataa]; während sich Ansätze zur Skepsis (parallel zum Epikurismus bzw. zu Schopenhauer oder Nietzsche) in „Strömungen der Buddhazeit“ finden. Die „sechs klassischen Systeme“ entsprechen dann den späthellenistischen Philosophenschulen, während die „letzte Weltstimmung“ (direkt „zeitgleich“ mit dem antiken Jahr 200 und dem abendländischen 1900) sich im „indischen Buddhismus seit 500“ finde. Man kann Spengler nicht zum Vorwurf machen, die bis heute überaus umstrittenen Probleme indischer Chronologie nicht bis ins letzte durchdrungen oder zumindest für sich selbst konsistent gelöst zu haben. Aber es läßt sich nicht übersehen, daß der frühe Buddhismus hier sowohl mit der Philosophie des 18. als auch des 19. und schließlich des frühen 20. Jahrhunderts gleichgesetzt wird, was insoweit auch chronologische Konsequenzen hat, als die Gleichsetzung „500 v.Chr.“ (Indien) = „200 v.Chr.“ (Antike) = 1900 (Abendland) der einzige präzise Synchronismus ist, den Spengler in dieser Frage liefert. Erscheint aber der „Caesar“ mit Asoka um 250 in Indien, so ergibt sich hier eine deutliche Phasenverkürzung zur Antike (wo er dementsprechend 100 Jahre früher erscheint) oder zum Abendland, wo Spengler den „Caesar“ für das 21. Jahrhundert erwartet. Einmal mehr wäre es freilich überzogen, Spengler Phasenverschiebungen von einigen Jahrzehnten vorzuwerfen; deutlich ist aber, daß Spengler bei seiner Deutung der indischen politischen und geistigen Geschichte einigen wenigen Schlagworten und Referenzpunkten (wie „Buddha“ oder „Asoka“) ein recht breites Deutungsspektrum zukommen läßt, das durch die recht vagen Verweise auf die allesamt kaum genauer datierten Strömungen indischer Philosophenschulen kaum präziser wird. Umso unverständlicher wird die fast ausschließliche Konzentration auf Buddha und Asoka, bedenkt man, daß die indische Geschichte auch außerhalb dieser beiden Figuren eine ganze Reihe großer politischer Persönlichkeiten und Dynastien kennt, welche sich durchaus in die Spengler’sche Geschichtsphilosophie hätten einbinden lassen und auch zu Spenglers Zeiten wohlbekannt,8 wenn auch in ihrer Historizität noch nicht genügend durchdrungen 8
Spengler verweist im „Untergang“ in Bezug auf die indische Geschichte auf: R. Fick, Die soziale Gliederung im nordöstlichen Indien zu Buddhas Zeit, Kiel, 1897; K. Hillebrandt, AltIndien, Breslau, 1899; H. Oldenberg, Die Lehre der Upanishaden, Göttingen, 1915; E. Hardy, Indische Religionsgeschichte, Goeschen, 1904.
196
Historische Einzelfragen
waren – allen voran natürlich die Mahajanapada-Zeit und die „goldene“ GuptaPeriode. Es würde daher erheblich mehr Sinn machen, auch im Lichte der gegenwärtigen archäologischen Forschung zur Besiedlung des Ganges-Tales, die indische Kultur mit der spätvedischen Periode (850–545) beginnen zu lassen, welche dann in der Mahajanapada-Zeit ihr „Spätmittelalter“ mit reformatorischen Bewegungen wie eben auch dem Buddhismus und Jainismus erreichte und unter den Maurya den letzten Versuch einer universalstaatlichen Vereinigung wie unter Karl V. oder Justinian. Unter den Shunga (232–30 v.Chr.) beginnt die indische „Frühe Neuzeit“, die unter den Shatavahana, Khastrapa und Kushan (30–319) in die Modernität der „Kämpfenden Staaten“ mündet, die schließlich in die Kaiserzeit der Gupta mit ihrer restaurativen Politik und ihrer zivilisatorischen Spätblüte führt.9 In dieser Hinsicht würde auch die Frage nach der kulturellen Prägung Südindiens, Indochinas und Indonesiens in einem neuen Licht erscheinen. Spengler betrachtete diese Gebiete zwar als typische Beispiele einer „Mondlichtzivilisation“: „Solche Gebiete einer ‚Mondlichtzivilisation‘ sind Südchina und vor allem Japan, die erst seit dem Ausgang der Hanzeit (220) ‚sinaisiert‘ wurden, Java als Verbreiterin der brahmanischen Zivilisation und Karthago, das seine Formen von Babylon empfing.“ (UdA, S. 685)
Doch würde erstaunen, daß diese erst im späten ersten nachchristlichen Jahrtausend zur ersten Blüte gelangenden südostasiatischen Gebiete nur als fahles Spiegelbild einer – Spenglers Berechnung zufolge bereits seit mehr als einem Jahrtausend erloschenen! – Zivilisation zu gelten haben, ohne daß dies Spenglers Definition der Sterilität des „Fellachentums“ ernstlich infragestellen würde. Ganz anders würde diese Sachlage freilich scheinen, verlegt man das Ende der „vedischen“ indischen Hochkultur wie vorgeschlagen ins 4. und 5. Jahrhundert. Doch selbst dann täte man der Faktenlage wohl Unrecht: Die Gesellschaften Südostasiens, welche in den gigantischen Anlagen von Angkor ihren zivilisatorischen Gipfel fanden,10 waren alles andere als eine müde Spätentwicklung der indischen Hochkultur, sondern erleben vielmehr eine dynamische und originelle Entwicklung, die es erlaubt, dieses Gebiet als eine eigene Spengler’sche Hochkultur zu betrachten, deren formale Sprache zwar in einer scheinbaren
9 10
Vgl. hierzu Engels 2021. Zu Angkor Wat und der indochinesischen Welt hat sich Spengler bis auf einige Anspielungen auf die Süd-Wirkung chinesischer und Ost-Wirkung indischer Kultur, wie man sie etwa im Aufsatz „Altasien“ (1937) oder in dem zum „Alter der amerikanischen Kulturen“ (1933) findet, wohl nicht geäußert.
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Weiterentwicklung des nordindischen Formenschatzes gründete, deren eigentliche Wurzeln aber in den vor-indoeuropäischen, südindischen und südostasiatischen Gesellschaften zu suchen sind. Der Beginn jener Hochkultur läge im Staatenbund von Funan (1.–6. Jahrhundert), dessen Zerfall mitsamt der Herausbildung der zahlreichen Kleinstaaten der Chenla- (6.–8. Jahrhundert) und Dvaravati-Kultur (6.–11. Jahrhundert) ein Zeitalter zunächst feudaler, dann zentraler Einzelstaaten einleitete, bevor die erneute Einigung Südostasiens durch die Khmer-Dynastie von Angkor (9.– 13. Jahrhundert) als Ära der „kämpfenden Staaten“ und des Übergangs in ein endzeitliches Stadium zu betrachten wäre.11
10.4
Mexiko
Was schließlich die Rolle Mittelamerikas in Spenglers Werk angeht, stoßen wir auf eine gewisse Zahl von Ungereimtheiten. Eine erste ist die Tatsache, daß Spengler zwar eine „mexikanische“ Kultur12 postuliert, ihre morphologische Einordnung aber überaus widersprüchlich präsentiert. Zum einen lesen wir in diesem Zusammenhang die berühmte Einschätzung von der gewaltsamen Ermordung jener Hochkultur durch die spanischen Conquistadores: „Denn diese Kultur ist das einzige Beispiel für einen gewaltsamen Tod. Sie verkümmerte nicht, sie wurde nicht unterdrückt oder gehemmt, sondern in der vollen Pracht ihrer Entfaltung gemordet, zerstört wie eine Sonnenblume, der ein Vorübergehender den Kopf abschlägt.“ (UdA, S. 606–607)
Doch auf der anderen Seite erklärt Spengler, viele der Mayastädte wären schon zur Zeit Cortez’ menschenleer gewesen, was doch immerhin nahelegt, daß sich die mesoamerikanische Hochkultur mindestens am Ende ihres zivilisierten Stadiums befand, also kaum noch „in voller Pracht“ stand: „Samarra wurde schon im 10. Jahrhundert verlassen; die Residenz Asokas, Pataliputra, war, als der chinesische Reisende Hsiuen Tsiang sie um 635 besuchte, eine ungeheure, völlig unbewohnte Häuserwüste, und viele der großen Mayastädte müssen schon zur Zeit des Cortez leer gestanden haben.“ (UdA, S. 683)
Ähnlich heißt es auch:
11
12
Allg. zur Hochkultur Indochinas vgl. Coedès 1947; Myrdal 1973; Smith/Watson 1979; Brown 1996; Vickery 1998; Higham 2001; Coe 2003; Lieberman 2003; Jacques 2007; O’Reilly 2007; Corfield 2009. Spengler, UdA, S. 606–610; allg. zu Spenglers Verhältnis zum präkolumbianischen Amerika s. auch Birkenmaier 2011.
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Historische Einzelfragen „Aber die Fellachenreligion selbst ist wieder durch und durch primitiv wie die ägyptischen Tierkulte der 26. Dynastie, die aus Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus gebildete Staatsreligion Chinas, wie der Islam des heutigen Orients und vielleicht doch auch die Religion der Azteken, wie sie Cortez antraf, die sich von der durchgeistigten Mayareligion schon weit entfernt haben muß.“ (UdA, S. 948)
Freilich relativiert Spengler selbst diesen Widerspruch ein wenig dadurch, daß er sich im selben Kontext bemüht, eine etwas detailliertere Datierung der Ereignisse zu geben, welche klarmachen, daß er kurioserweise mit „voller Blüte“ tatsächlich eine Zeit meint, die er ansonsten in analogem Kontext wohl als Fellachentum bezeichnet hätte. So schreibt er: „Danach liegen die Epochen dieser [i.e. der mexikanischen] Kultur je etwa 200 Jahre später als die der arabischen und je etwa 700 Jahre vor denen der abendländischen.“ (UdA, S. 608)
Konkret bedeutet dies also, daß Spenglers „eigene“ Lebenszeit, die 1920er Jahre, in Mesoamerika bereits um 1220 erreicht war; während zu jener Zeit, als die Conquistadoren in Mittelamerika wüteten, dort Zustände herrschten, die unserem frühen 23. Jahrhundert entsprechen würden.13 Hieraus folgt für Spengler folgende Typisierung der wichtigsten Epochen der mesoamerikanischen Geschichte: „Eine Vorkultur, die wie in Ägypten und China Schrift und Kalender entwickelt hat, war vorhanden, ist aber für uns nicht mehr erkennbar. Die Frühzeit der ‚hellenischen‘ Majastaaten ist durch die datierten Reliefpfeiler der alten Städte Copan') (im Süden), Tikal und etwas später Chichen Itza (im Norden), Naranjo, Seibai bezeugt (etwa 160–450). Am Ausgang dieser Periode wird Chichen Itza mit seinen Bauten für Jahrhunderte vorbildlich; daneben die prachtvolle Blüte von Palenque und Piedras Negras (im Westen). Das würde der Spätgotik und Renaissance entsprechen (450– 600, abendländisch 1250–400?). In der Spätzeit (Barock) erscheint Champutun als Mittelpunkt der Stilbildung; jetzt beginnt die Einwirkung auf die ‚italischen‘ Nahuavölker auf der Hochebene von Anahuac, die künstlerisch und geistig nur empfangend, in ihren politischen Instinkten den Maya weit überlegen sind (etwa 600–960, antik 750–400, abendländisch 1400–1750?). Nun beginnt der ‚Hellenismus‘ der Maya. Um 960 wird Uxmal gegründet und bald eine Weltstadt vom ersten Range wie die ebenfalls an der Schwelle der Zivilisation gegründeten Weltstädte Alexandria und Bagdad; wir finden daneben eine Reihe glänzender Großstädte wie Labna, Mayapan, Chacmultun und wieder Chichen Itza. Sie bezeichnen den Höhepunkt einer großartigen Architektur, die keinen neuen Stil mehr hervorbringt, aber die alten Motive mit erlesenem Geschmack und in gewaltigen Maßen verwendet. Die Politik wird durch die berühmte Liga von Mayapan (960–1195) beherrscht, ein Bündnis von drei führenden Staaten, welche die Lage trotz großer Kriege und wiederholter Revolutionen, wie es scheint, doch etwas künstlich und gewaltsam aufrechterhalten (antik 850–1050, abendländisch 1800–2000). Der Ausgang dieser Periode wird durch eine große Revolution bezeichnet und im Zusammenhang damit 13
Spengler beruft sich bei seiner Darstellung der mesoamerikanischen Geschichte nur auf L. Spence, The Civilization of Ancient Mexico, Cambridge, 1912, und H. J. Spinden, A Study of Maya Art, its Subject, Matter and Historical Development, Cambridge, 1913.
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greifen die ‚römischen‘ Nahuamächte endgültig in die Verhältnisse der Maya ein. Mit ihrer Hilfe hat Hunac Ceel einen allgemeinen Umsturz herbeigeführt und Mayapan zerstört (um 1190, antik etwa 150). Was jetzt folgt, ist die typische Geschichte einer ausgereiften Zivilisation, in welcher einzelne Völker um die militärische Vormacht ringen. Die großen Mayastädte versinken in das beschauliche Glück des römischen Athen und Alexandria. Inzwischen entwickelt sich aber am äußersten Horizont des Nahuagebietes das jüngste dieser Völker, die Azteken, urwüchsig, barbarisch und mit einem unersättlichen Willen zur Macht. Sie gründen 1325 Tenochtitlan (antik etwa Zeit des Augustus), das sich bald zur gebietenden Hauptstadt der ganzen mexikanischen Welt erhebt. Um 1400 beginnt die militärische Expansion im großen Stil; die eroberten Gebiete werden – durch Militärkolonien und ein Netz von Heerstraßen gesichert, die abhängigen Staaten durch eine überlegene Diplomatie im Zaume und voneinander getrennt gehalten; das kaiserliche Tenochtitlan wuchs zu riesenhaftem Umfange heran mit seiner internationalen Bevölkerung, unter der keine Sprache des Weltreichs fehlte. Die Nahuaprovinzen waren politisch und militärisch gesichert; man drang rasch nach Süden vor und schickte sich an, die Hand auf die Mayastaaten zu legen; es ist nicht abzusehen, welchen Gang die Dinge innerhalb der nächsten hundert Jahre genommen haben würden, da kam das Ende. Das Abendland befand sich damals etwa auf der Stufe, welche die Maya um 700 schon überschritten hatten. Erst die Zeit Friedrichs des Großen wäre reif gewesen, die Politik der Liga von Mayapan zu verstehen. Was die Azteken um 1500 organisierten, liegt für uns noch in weiter Zukunft.“ (UdA, S. 608–609)
Diese gedrängte Übersicht ist gleich in mehrfacher Hinsicht problematisch, wie wir kurz umreißen wollen. Zum einen ist mittlerweile deutlich geworden, daß die von Spengler kurz erwähnten „italischen“ Völker der mexikanischen Hochebene alles andere als peripher in der Entwicklung Yucatans waren, da es vielmehr das mexikanische Teotihuacan (gegründet auf die Vorkultur der Olmeken) war, das den Maya-Völkern die wesentlichen Anstöße für die Entwicklung ihrer Kultur gegeben hatte, so daß eben auch die späteren Ein-griffe in einem ganz anderen entwicklungsgeschichtlichen Licht erscheinen. Auch die innere Chronologie der mesoamerikanischen Kultur, wie Spengler sie schildert, ist nicht unproblematisch, vor allem deshalb, weil die Maya-Kultur bis auf einige unwesentliche Ausnahmen bereits vollständig erloschen war, als die spanischen (oder aztekischen) Eroberer eintrafen: Von „voller Pracht“ ist man in Yucatan im 15. Jahrhundert weit entfernt; das Verlöschen und schließlich Verlassen der ehemaligen Großstädte geschah bereits vier Jahrhunderte vorher, wie die heutige Archäologie nahelegt. Es bietet sich daher vielmehr an, die zeitliche Ausdehnung der mesoamerikanischen Hochkultur in das erste Jahrtausend zu verlegen, also etwa zeitgleich mit Spenglers „magischer“ Kultur. Hieraus ergäbe sich folgende morphologische Typisierung: Beginnen würde diese mesoamerikanisch Kultur in der späten Präklassik bzw. der Cuicuilco- und Frühen Teotihuacan-Periode (0–250), und in der Frühen Klassik der Maya und der Späten Zeit von Teotihuacan würde sie ihr feudales Zeitalter erreichen (250– 534). Auf den berühmten Hiatus der Maya-Kultur, der sicherlich mit dem Ende der alten imperialen Ordnung von Teotihuacan verbunden ist, folgt in der
200
Historische Einzelfragen
Mittleren und Späten Klassik der Maya das Äquivalent des Ancien Régime der Frühen Neuzeit (534–750); die Endklassik wäre demnach die moderne, „hellenistische“ Zeit (750–987), die dann nicht in der aztekischen, sondern vielmehr toltekischen Eroberung (987–1156) ihr „römisches“, endzeitlichen Stadium durchlaufen würde, während die Azteken nur als später, peripherer Ausläufer zu betrachten wären;14 gestützt nicht etwa auf ein „urwüchsiges“ Volk, sondern vielmehr auf die aus dem nord-amerikanischen Raum eingewanderten Nahuatl, welche die im zentralen Mexiko noch vorhandenen zivilisatorischen Elemente ein letztes Mal zusammenfassen; nicht unähnlich etwa den Ostgoten in Italien. Ein anderes Problem im Rahmen der altamerikanischen Geschichte ist Spenglers nur unklare Verortung der in seiner Zeit freilich kaum bekannten Gesellschaften des Andenraums. Die Inkas finden nur an zwei Stellen des „Untergangs“ eine kursorische Erwähnung; wobei sie einmal kontextuell sogar als eine eigenständige Hochkultur erscheinen: „Als Alexander am Indus erschien, war die Frömmigkeit dieser drei Kulturen längst in die geschichtslosen Formen eines breiten Taoismus, Buddhismus und Stoizismus zerflossen. Aber wenig später erhebt sich dann die Gruppe der magischen Religionen im Gebiet zwischen der Antike und Indien, und etwa zur selben Zeit muß die Religionsgeschichte der Maya und Inka begonnen haben, die für uns hoffnungslos verloren ist.“ (UdA, S. 911)15
Der Aufsatz zum „Alter der amerikanischen Kulturen“ spricht allerdings eine andere Sprache, lehnt Spengler es hier doch offensichtlich ab, den Inkas den Status einer echten Hochkultur des „d“-Typus (wie Spengler die Hoch-kulturen in der „Frühzeit der Weltgeschichte“ katalogisieren sollte) zuzusprechen. „Dazu kommt aber, daß es in Südamerika wahrscheinlich gar nicht zur Bildung einer Hochkultur mit einheitlich geschichtlicher Entwicklung durch ein Jahrtausend hin gekommen ist. Wir sehen überall nur formale Ansätze dazu, neben- und übereinander liegend. Aus ihnen selbst absolute Daten erschließen zu wollen, ist völlig unmöglich.“ (RuA, S. 143)
Gerade in der Datierung der südamerikanischen Gesellschaften hat die moderne Archäologie allerdings rasante Fortschritte gemacht, so daß wir mittlerweile durchaus fähig sind, eine kulturmorphologisch neu zu postu-lierende „andische“ Hochkultur anzunehmen, deren innere Entwicklung offensichtlich ganz den Spengler’schen morphologischen Grundannahmen entspricht. Eine solche Anden-Hochkultur würde in der Moche-Kultur ihren „mittelalterlichen“ Beginn (0–650), in der Wari- und Tiahuanaco-Kultur ihre Blüte (650– 14
15
Zu den Kulturen Mesoamerikas vgl. Wilhelmy 1989; Coe 1999; Diehl 2004; Braswell 2004; Demarest 2005; Sharer/Traxler 2006; Fox 2008; Estrada-Belli 2011; Jackson 2013; Foias 2014. S. auch Spengler, UdA, S. 686: „ägyptische und indische Einflüsse vielleicht im Inkalande“.
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1000), unter den Chimú um Chanchan ihr „hellenistisches“ Stadium (1000–1465) und mit den Inkas (1465–1526) ihren Abschluß erreichen, bevor sie (wie die mesoamerikanische Kultur) ein morphologisch keineswegs vorzeitiges Ende durch die spanische Eroberung erlitt.16
10.5. China Während die von Spengler zwar konzis, aber faktengesättigt präsentierte und (für Spenglers Verhältnisse) bibliographisch durchaus intensiv unter-fütterte17 Geschichte der klassischen chinesischen Hochkultur, die in etwa das späte 2. und 1. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung einnimmt und der antiken um ca. 200 „voraus“ ist, in wesentlichen Zügen dem modernen Forschungsstand entspricht, dürfte der Historiker sicher Anstoß nehmen an Spenglers Überzeugung, daß auf die vom 2. Jahrhundert v.Chr. bis zum 2. Jahrhundert n.Chr. reichende HanDynastie keine wesentlichen Neuerungen in China mehr eingetreten sind; höchstens ein akzidentelles und beständig vergröbertes Auf und Ab ver– schiedenster Dynastien: „So kann sie, ein verwitterter Baumriese im Urwald, noch Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch die morschen Äste emporstrecken. Wir sehen es an China, an Indien, an der Welt des Islam. So ragte die antike Zivilisation der Kaiserzeit mit einer scheinbaren Jugendkraft und Fülle riesenhaft auf und nahm der jungen arabischen Kultur des Ostens Luft und Licht.“ (UdA, S. 143)
16
17
Allg. zu den Andenkulturen vgl. Lanning 1967; Janusek 2004; Silverman 2004; Schmid 2007; Quilter 2010; Tung 2012; Shimada 2015. Was die chinesische Geschichte betrifft, verweist Spengler auf (für seine Verhältnisse) recht zahlreiche bibliographische Titel: A. Pfizmai(e)r, Die Geschichte des Fürstenlandes Tsin, in: Sitzungsberichte der Wiener Akademie 43, 1863, 74ff. (= Kap. 39 des Shiji); A. Pfizmai(e)r, Die Geschichte des Königlandes Tsu, in: Sitzungsberichte der Wiener Akademie 44, 1863, 68ff. (= Kap. 40 des Shiji); S. Plath, Verfassung und Verwaltung Chinas, München, 1864; Ch. Piton, The Six Great Chancellors of Tsin or the Conquest of China by the House of Tsin, in: China Review 13, 1884–1885, S. 127–137, 255–263, 305–323; Ed. Chavannes, Mémoires historiques de Se-ma-tsien, Paris, 1895–1904; A. Tschepe, Histoire du royaume de Ou, Shanghai, 1896; A. Tschepe, Histoire du royaume de Tchou, Shanghai, 1903; A. Conrady, China, in: J. von Pflugk-Hartung (Hg.), Weltgeschichte, Band 3: Geschichte des Orients, Berlin, 1910, S. 459–567; W.P. Wassiljew, Die Erschließung Chinas, Leipzig, 1909; M. Granet, Coutumes matrimoniales de la Chine antique, T’oung Pao, 1912; Fr. Hübotter, Aus den Plänen der kämpfenden Reiche, Berlin, 1912; J.J. de Groot, Universismus. Die Grundlage der Religion und Ethik, des Staatswesens und der Wissenschaften Chinas, Berlin, 1918; A. v. Rosthorn, Das soziale Leben der Chinesen, Leipzig, 1919; B. Schindler, Das Priestertum im alten China, Leipzig, 1919; O. Franke, Studien zur Geschichte des konfuzianischen Dogmas, Hamburg, 1920; C. Glaser, Die Kunst Ostasiens, Leipzig, 1920; O. Fischer, Chinesische Landschaftsmalerei, München, 1921.
202
Historische Einzelfragen
Und ähnlich: „Es ist ganz gleichgültig, ob um 1200 in China eine Abart der konfuzianischen Staatslehre als Dschufuzianismus erscheint, wann sie erscheint und ob sie Erfolg hat oder nicht […]. Es gibt stets eine kleine Zahl äußerst geistiger, überlegener, absolut ‚fertiger‘ Menschen, wie die Brahmanen Indiens, die Mandarinen Chinas und die ägyptischen Priester, die Herodot in Erstaunen setzten. Aber die Fellachenreligion selbst ist wieder durch und durch primitiv wie die ägyptischen Tierkulte der 26. Dynastie, die aus Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus gebildete Staats– religion Chinas […].“ (UdA. S. 947–948)
Hier genügt nur ein kurzer Blick auf die ungemein belebte und alles andere als rein elitäre Geistes- und Kulturgeschichte des chinesischen Raums, der zahlreiche Entwicklungen durchleben sollte, die für eine statische, von der Substanz zehrende Fellachenkultur eigentlich unmöglich sein sollten, um zu der Überzeugung zu kommen, daß Spengler in seiner Konzentration auf die klassische vorchristliche chinesische Kultur wesentliche Faktoren der späteren Entwicklung ausblendete oder möglicherweise nicht wahrhaben wollte, weil sie sein Konzept von der gegenseitig aneinandergebundenen Einheit von Land– schaft und Kultur hätten stören können. Und doch liefert gerade der chinesische Raum ein reiches Anschauungsmaterial für die Fruchtbarkeit der Spengler’schen Kulturmorphologie, wenn man eben – ganz ähnlich wie im mesopotamischen und indischen Fall – nicht eine einzige, sondern vielmehr zwei mit einem gewissen Abstand und räumlicher Verlagerung aufeinanderfolgende Hochkulturen annimmt. Im chinesischen Falle würde dies bedeuten, eine zweite chinesische Kultur anzunehmen, welche nicht unter konfuzianisch-daoistischen Vorzeichen stand, sondern ihren initialen Impetus der Anpassung des Buddhismus entnahm und ihr demographisches und (bis auf die Hofgesellschaft) auch kulturelles Zentrum nicht mehr in der Ebene des Huang He, sondern des Jangtse Kiang hatte.18 Unter dieser Perspektive würde die Sui- (581–618) und v.a. die Tang-Dynastie (618–907) als neuer kultureller Ausgangspunkt nach dem Verfall der Han-Dynastie und ihrer v.a. in Nord und Süd aufgeteilten Nachfolgestaaten gelten. Auf die Schwächung der Tang, die in der völligen Auflösung der Staatlichkeit in der Zeit der „Fünf Dynastien“ (907–960) mündete, folgte dann der Wiederaufbau der Song-Dynastie (960–1279), welche einem wesentlich feudalen Zeitalter ent– sprach. Auf die mongolische Fremdherrschaft folgte der Absolutismus der MingDynastie (1368–1644), welche durch soziale Unruhen zugrundeging und in der Herrschaft der Qing in ihr Endstadium überging,19 was einigermaßen ver–ständ– 18
19
Zu den grundlegenden ethnischen Unterschieden zwischen Nord- und Südchina vgl. etwa Tu 1992; zur politischen Spaltung s. Lewis 2009. Aussagekräftig ist in dieser Hinsicht auch der Bau des Kaiserkanals zwischen beiden Flußbecken unter der Sui-Dynastie. Allg. zur buddhistischen chinesischen Kultur s. Wang 1963; Twitchett/Fairbank 1979; Langlois 1981; Chan/de Bary 1982; Rossabi 1983; Mote/Twitchett 1988; Adshead 2004; Kuhn 2009; Lorge 2011; Wang 2011; Hung 2014.
10 Babylonien, Indien, Mexiko und China
203
lich machen würde, wieso gerade China den Anstoß der modernen abend– ländischen Technologie auf solchermaßen kreative Weise aufzunehmen versteht und alles andere als ein williges Opfer des westlichen Imperialismus geworden ist. Das Problem der zweiten chinesischen Kultur ist dabei eng mit der Bewertung Japans verbunden. Spengler hatte tatsächlich ganz richtig erkannt, daß die japanische Kultur engstens mit der chinesischen verbunden war, und betrachtete sie (ähnlich wie Südostasien, wie wir bereits sahen) als eine bloße „Mondlichtkultur: „Der Japaner gehörte früher zur chinesischen und gehört heute auch noch zur abendländischen Zivilisation; eine japanische Kultur im eigentlichen Sinne des Wortes gibt es nicht. Der japanische Amerikanismus ist also anders zu beurteilen.“ (UdA, S. 615, Anm. 1)
Diese Annahme ist überaus problematisch. Bedenkt man, daß der eigentliche Beginn hochkultureller Entwicklung in Japan fraglos in die Asuka-Zeit und somit das 6.–7. Jahrhundert n.Chr. fällt, würde Spenglers Bemerkung implizieren, daß sich in Japan erst ein knappes Jahrtausend nach dem Ausgang der klassischen chinesischen Kultur eine von dieser abhängige „Mondlichtkultur“ herausgebildet hätte, und das auch noch auf Grundlage der buddhistischen Religion. Nimmt man aber eine mit der Sui- und Tang-Dynastie ebenfalls im 6.– 7. Jahrhundert einsetzende zweite chinesische Kultur an, die gleichfalls wesentlich von der kreativen Umdeutung des Buddhismus durch die chinesische Gesellschaft zehrte, so läßt sich die weitere Geschichte Japans in geradezu erstaunlicher Weise als parallel zum festlandchinesischen Geschehen lesen. Der eigentliche Beginn des morphologischen Zyklus Japans würde durch die Asuka-Zeit bezeichnet werden (592–710) und wäre auch in der Nara- (710–794) und Heian-Zeit (794–1184) durch eine feudalistische Gesellschaft geprägt. Die Kamakurazeit entspräche dem vollendeten Ständestaats (1184–1333), die Muromachizeit (1333–1568) sowie die Zeit der „Streitenden Reiche“ (1568–1603) der modernen, „hellenistischen“ Ära,20 während die Edo-Zeit schließlich das „augusteische“ Endreich (1603–1868) ausmachen würde.21 Auch hier würde eine solche Interpretation des historischen Materials nicht nur die erstaunliche Resilienz der japanischen Kultur angesichts der abend– ländischen Beeinflussung erklären, sondern auch einmal mehr die Tragfähigkeit der Spengler’schen morphologischen Typologie beweisen. Dabei muß wohl vorläufig ungeklärt bleiben, inwieweit die japanische zusammen mit der zweiten chinesischen Kultur letztlich eine einzige „Doppelkultur“ bildet oder „nur“ zwei aufgrund ihrer engen wechselseitigen Beziehungen und symmetrischen 20 21
Hierzu auch Engels 2018c. Zur japanischen Hochkultur s. allg. Sansom 1959–1964; Beasley 1972; Hempel 1986; Hall u.a. 1988–1989; Imamura 1996; Tsutsui 2007; Farris 2009.
204
Historische Einzelfragen
morphologischen Ausgangssituation eng verbundene, aber trotzdem distinkte Hochkulturen.
10.6
Schluß
Es steht zu hoffen, daß dieser kurze Überblick über einige scheinbare Probleme der Spengler’schen Kulturmorphologie sowie ihre möglichen Lösungen gezeigt hat, daß Spenglers Geschichtsphilosophie eben nicht nur als ein mit historischem Edelrost überzogener „Quellentext“ zum Denken der 1920er Jahre zu interpretieren ist, sondern als ein Ansatz zur Geschichtsdeutung, der auch und gerade heute noch von größtem Interesse ist. Denn während zahlreiche andere Klassiker im Laufe der Jahrhunderte hoffnungslos überholt wurden oder sich etwa aufgrund ihres Eurozentrismus und ihrer Forschungsgläubigkeit angesichts des modernen Forschungsstands diskreditiert haben, ist im Falle Spenglers festzustellen, daß die teils seinem Autodidaktentum, teils auch dem Forschungsstand seiner Zeit geschuldetem handwerklichen „Fehler“ eben keineswegs automatisch zu einer Widerlegung seiner Geschichtsphilosophie führen, sondern seine Einsichten ganz im Gegenteil auch dem modernen Faktenmaterial eine dynamische Logik verleihen und in der entsprechenden Kontextualisierung manchmal sogar noch mehr Sinn machen als im ursprünglichen Zusammenhang des „Untergangs des Abendlandes“. Es gilt also, sich vor einer übermäßigen Historisierung und somit Relativierung Spenglers zu hüten, denn wenn sein Werk zweifellos auch als interessantes Zeitzeugnis der deutschen Zwischenkriegszeit gelesen werden kann und soll, überschreitet seine Bedeutung doch ganz klar einen rein antiquarischen Horizont: Ebenso, wie die Werke vieler anderer großer Geschichtsdenker wie ibn Khaldun, Machiavelli, Vico oder Hegel auch heute noch mit Gewinn gelesen werden können und, sieht man von einigen zeitbezogenen Besonderheiten und Irrtümern ab, wichtige Schlüssel zur Weltdeutung bereithalten, ist auch Spengler alles andere als überholt, sondern sollte vielmehr immer noch und vielleicht mehr denn je als wichtige und ernstzunehmende Inspirationsquelle für die moderne Geschichtswissenschaft gelesen werden.
11
Oswald Spengler, Cecil Rhodes und Iulius Caesar: Zivilisation zwischen Kolonialismus und Caesarismus
11.1
Einleitung
Der Aufbau kolonialer Imperien ist bekanntlich von höchst unterschiedlichen Gründen motiviert: dem Willen, den von der Natur einer jeden Zivilisation gesetzten Rahmen zu überschreiten, um Zugang zu externen Ressourcen zu erhalten; einem technologischen Niveau, das eine nachhaltige Kontrolle der oft weit entfernten und manchmal dicht besiedelten eroberten Gebiete ermöglicht; der Entwicklung einer Ideologie, welche eine breite Unterstützung des kolonialen Projekts durch die Bevölkerung sicherstellt; und schließlich der Überzeugung von einer „zivilisatorischen Mission“, die es ermöglicht, den Eroberten gegenüber die Verdienste der neuen Ordnung zu rechtfertigen.1 Aus dieser Perspektive ist der „Kolonialismus“ nicht nur eine der vielen Facetten der in der Geschichte allgegenwärtigen Tendenz vieler Staaten zu Expansion und Reichsbildung, sondern vielmehr ein sehr präziser historischer Moment, der eine Reihe von Grundbedingungen voraussetzt, die nur in wenigen geschichtlichen Konstellationen gegeben sind. Daher reduziert sich das Phänomen des Kolonialismus auch nicht nur auf den Aufbau der europäischen Imperien in Afrika oder Asien vom 18. bis zum 20. Jahrhundert und ist nicht, wie oft fälschlich behauptet, abhängig vom Gegensatz zwischen einer industrialisierten Zivilisation und Gesellschaften, die teils sogar noch in frühgeschichtlichen Verhältnissen leben, sondern ist zu jedem Zeitpunkt der Geschichte möglich, selbst zwischen Gemeinschaften mit einem relativ ähnlichen Entwicklungsstand. Zwei typische Beispiele hierfür, die in der neuen Forschung hervorgehoben wurden und die Fruchtbarkeit eines komparatistischen Ansatzes belegen, sind zum einen die Kolonialisierung des Sichuan-Beckens durch das imperialistischen Qin-Königreich im 4. und 3. Jahrhundert v.Chr.2 und zum anderen die koloniale Durchdringung des hellenistischen Orients durch die griechisch-makedonischen Eroberer im 3. und 2. Jahrhundert v.Chr.,3 welche beide alle oben aufgezählten Charakteristika des kolonialen Programms aufweisen. Doch geht freilich der Versuch, Kolonialismus 1
2 3
Allg. zum Kolonialismus vgl. Osterhammel 1997; Le Cour Grandmaison 2005; Stuchtey 2010; Getz 2010. Sage 1992; Engels 2020d. Literatur bei Engels 2017i.
206
Historische Einzelfragen
nicht als ein einzigartiges, sondern in der Geschichte wieder und wieder (wenn auch mitunter mit verschiedener Intensität) auftretendes Phänomen zu identifizieren, viel weiter in die Vergangenheit zurück, wobei schon die europäischen Eroberer sich allzu oft und gerne in den Fußstapfen etwa der römischen „Erschließung“ angeblich „barbarischer“ Territorien etwa in Gallien oder in Hispanien sahen. Einer der systematischsten Versuche aber, den jüngsten europäischen Kolonialismus mit anderen ähnlichen Phänomenen der Weltgeschichte zu vergleichen, wurde von Oswald Spengler skizziert, der in seinem „Untergang des Abendlandes“ einen umfassenden Entwurf zu einer komparatistischen Analyse der Geschichte der großen Hochkulturen vorgelegt hat und somit natürlich auch dem Kolonialismus als einer typischen Phase der morphologischen Entwicklung einer jeden menschlichen Großgesellschaft eine große Beachtung gewidmet hat. Im folgenden wollen wir uns allerdings nur auf einen ausgewählten, wenn auch überaus bezeichnenden Ausschnitt jener Betrachtungsweise konzentrieren, nämlich auf die Analyse der Spätphase des Kolonialismus, wo dieser bereits in eine spätere Entwicklungsphase übergeht, welche Spengler als Caesarismus bezeichnet.4 Diese Tendenz wird Spengler zufolge durch keinen anderen abendländischen „Conquistador“5 so gut verdeutlicht wie durch Cecil Rhodes, den umstrittenen Kopf hinter dem Plan eines vom Kap bis nach Kairo reichenden englischen Kolonialbesitzes in Afrika, und Julius Caesar, dem Eroberer Galliens und glücklosen Dictator: „Rhodes erscheint als der erste Vorläufer eines abendländischen Cäsarentypus, für den die Zeit noch lange nicht gekommen ist. Er steht in der Mitte zwischen Napoleon und den Gewaltmenschen der nächsten Jahrhunderte [...], zwischen Alexander und Cäsar.“ (UdA, S. 52)
Um diesen Parallelismus zu untersuchen und in seinen gebührenden Kontext zu stellen, werden wir zunächst kurz die Biographie von Cecil Rhodes im Zusammenhang mit den von Spengler angesprochenen Punkten kontextualisieren und dann die wenigen, aber bedeutenden Passagen in Spenglers Werk analysieren, die diese These einer strukturellen und nicht nur zufälligen Ähnlichkeit zwischen Rhodes und Caesar erklären, bevor wir hieraus die notwendigen Schlußfolgerungen zu Spenglers Zukunftsprognosen ziehen und diese im Licht der Ereignisse des 21. Jahrhunderts betrachten.
4 5
Allg. zum Caesarismus Groh 1972. Zum Profil des Conquistador vgl. Romano 1972.
11 Cecil Rhodes und Iulius Caesar
11.2
207
Cecil Rhodes in Südafrika
Die Gründung des Britischen „Empire“ war weder geradlinig, noch von langer Hand aus beabsichtigt.6 In der Tat war die erste Phase der kolonialen Ausdehnung im 17. Jahrhundert zum einen vor allem dazu bestimmt, sichere Stützpunkte zum Handel mit einem wirtschaftlich interessanten Hinterland zu errichten,7 und zum anderen, um den Bevölkerungsüberschuß in klimatisch in etwa mit England vergleichbare Regionen zu lenken, d.h. nach Neuengland und Kanada, später dann auch nach Australien und Neuseeland,8 zu denen dann bald verstreute Besitzungen in Afrika und Ozeanien sowie die von Frankreich gewonnenen indischen Provinzen hinzukommen sollten. Die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten von Amerika, das Verbot der Sklaverei, der Sieg des Liberalismus und Nationalismus und das Voranschreiten der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert und die durch diese Entwicklung verursachten sozialen Probleme dämpften die kolonialen Ambitionen dann jedoch so stark, daß der Besitz von Überseegebieten ab Beginn des 19. Jahrhunderts als eine nur vorläufige und vorübergehende Etappe angesehen wurde, die früher oder später zu einer wachsenden Autonomie der Kolonien führen sollte, sobald diese ein ausreichendes Maß an logistischer Ausrüstung und politischer Reife erreichten (wenn auch im brüderlichen Bund mit dem britischen Mutterland). In diesem Sinne erhielt Kanada bereits 1867 Selbstverwaltung, gefolgt von Australien 1901, Neuseeland 1907 und Südafrika 1910. Die liberale Regierung Gladstones schlug 1865 sogar die Aufgabe aller afrikanischen Besitztümer außerhalb des Kaps als unprofitabel9 vor, wenn sie auch am Besitz Indiens festhielt, das ein strategischer Schlüssel für englische Exporte sei.10 Erst unter Disraelis konser– vativer Regierung (1874–1880) gewannen klassisch imperialistische Positionen, vertreten z.B. durch Thomas Carlyle, Charles Dilke, Robert Seeley und Rudyard Kipling, definitiv an Stärke, wobei der Antagonismus zwischen beiden Sicht– weisen in Disraelis rhetorischer Frage an die Briten während seiner Rede im Kristallpalast 1872 gipfelte:11
6
7
8 9
10 11
Allg. zum britischen Imperialismus s. Knaplund 1941; Hyam 1993; Jud 1996; Marshall 1996; Lloyd 1996; Cain/Hopkins 2001; Ferguson 2002; Brendon 2008; Darwin 2013; Levine 2020. Zu den frühen wirtschaftlichen Aspekten des britischen Imperialismus s. Andrews 1984; Dumett 1999. Hierzu Belich 2009; Bickers 2014. Zur Rentabilität des britischen Imperialismus s. O’Brien 1988; Gilbert/Tiffin 2008; Rönnbäck/Broberg 2019. Zu Gladstones Politik s. Barker 1975; Schreuder 1996; Bebbington 2004; Aldous 2007. Zu Disraelis Politik s. Bauer 1882; Smith 1967; Feuchtwanger 2000; Aldous 2007; Leonard 2013.
208
Historische Einzelfragen „[…] whether you will be content to be a comfortable England, modelled and moulded upon Continental principles and meeting in due course an inevitable fate, or whether you will be a great country, an imperial country?“
Da die Konservativen in den kritischen Jahrzehnten des späten 19. Jahrhunderts fast ununterbrochen an der Macht waren (1874–1880 unter Disraeli; 1885–1892 und 1895–1902 unter Salisbury),12 hatten sie die Gelegenheit, Englands koloniale Position resolut zu festigen und auszubauen, wie sich schon bei den Ereignissen der Regierung Disraeli zeigt, als England 1875 wesentliche Anteile am Suezkanal erwarb, Königin Victoria 1877 den Titel „Kaiserin von Indien“ annahm und 1878 die Besetzung Zyperns vollzog – drei wesentliche Schritte auf dem Weg zur vollständigen Kontrolle über die Route nach Indien und Ostafrika. Nichts– destoweniger wurde die Frage nach einer grundlegenden Reform des Britischen Empire nie gelöst, und die Vielzahl der verschiedenen Statuten, die die unter britischem Einfluß stehenden Gebiete aufwiesen – Protektorate, Kolonien, Dominions, Verbündete – konnte nie wirklich vereinfacht werden. Es bildeten sich zwei Gruppen heraus, um insbesondere im Hinblick auf den Status der von Weißen dominierten Besitztümer Lösungen vorzuschlagen:13 auf der einen Seite die „Kolonialisten“, die eine maximale Autonomie dieser Kolonien verteidigten, auf der anderen Seite die „Imperialisten“, die dem Kolonialministerium unter Chamberlain (1895–1903) verschiedene Pläne zur politischen Vereinigung und Vereinheitlichung dieser Besitztümer und zur Einführung von Steuern zum Schutz des imperialen Wirtschaftsraums vorlegten, der bis dahin aufgrund der britischen Freihandelspolitik weitgehend nach außen hin offen war, aber durch den immer stärker werdenden Wettbewerb mit den anderen Mächten, allen voran Deutschland, gefährdet war. Die Rolle der nicht-weißen Völker blieb dabei offensichtlich für fast alle Politiker zweitrangig, da das Empire geradezu zur institutionalisierten Ausformung der nicht nur zivilisatorisch, sondern auch rassisch gesehenen Ungleichheit der menschlichen Völker stilisiert wurde, wie etwa in den Worten des zeitgenössischen Romanciers John Buchan deutlich wird, der das Reich in seinem Roman „A Lodge in the Wildernes“ (1906) bezeichnete als: „[…] a closer organic connection under one crown of a number of autonomous nations of the same blood, who can spare something of their vitality for the administration of vast tracts inhabited by lower races – a racial aristocracy considered in their relation to subject peoples, a democracy in their relation to each other.“14
In diesen ideologischen Kontext müssen wir auch das Leben und Werk von Cecil Rhodes (1853–1902) stellen, der nicht nur die Geschichte Südafrikas, sondern des
12 13
14
Allg. hierzu Langer 1902. Zu den zeitgenössischen ideologischen Debatten um Kolonialismus und Imperialismus vgl. Knorr 1944; Bennet 1953; Thornton 1985; Blait 1993; Mehta 1999. Buchan 1906, S. 28. Zum Kontext s. Brantlinger 1988; Waddell 2009; Macdonald 2009.
11 Cecil Rhodes und Iulius Caesar
209
gesamten britischen Empires tiefgreifend verändern sollte. Die Kapkolonie,15 ursprünglich ein alter holländischer Besitz, der 1806 während der Napoleonischen Kriege von England annektiert worden war, sollte dauerhafte innere Krisen erleben, die vor allem durch den Antagonismus zwischen den Buren und den Engländern verursacht wurden. Enttäuscht von der Abschaffung der Sklaverei, die ihre bisherige Lebensgrundlage in Frage stellte, verließen die konservativen Buren von 1836 bis 1844 auf dem „Großen Treck“ das eigentliche Gebiet der Kolonie und gründeten 1839 den Staat Natal, 1842 den Staat Oranje und 1853 den Staat Transvaal, die sich alle trotz innerer Autonomie in verschiedenen Anlehnungs- und Abhängigkeitsverhältnissen zur Kapkolonie und somit dem britischen Empire befanden. Die Entdeckung reicher Diamantenminen 1867 in Kimberley ließ das bis dahin weltpolitisch nur als Zwischenaufenthalt auf der Reise nach Indien beachtete Südafrika plötzlich in das Zentrum der internationalen und englischen Aufmerksamkeit rücken und motivierte England dazu, stärker in die Verhältnisse zwischen den Buren– republiken einzugreifen und ab 1871 schrittweise eine indirekte Verwaltung dieser Gebiete zu forcieren. In diesem Jahr kam auch der junge Cecil Rhodes,16 der am 5. Juli 1853 in Hertfordshire als Sohn eines bescheidenen anglikanischen Pastors geboren worden war und Natal zunächst aus gesundheitlichen Gründen aufsuchte, in Kimberley an. Er erlangte bald ein großes Vermögen durch den Handel als Bergbauzulieferer und kaufte, unterstützt durch Darlehen der Bank N.M. Rothschild & Sons, systematisch Konzessionen auf. So gründete er die Firma „De Beers“, die schließlich ein quasi-Monopol auf 90% der weltweiten Diamantenproduktion besaß und sich um 1880 die meisten Minen von Kimberley aneignete, so daß Rhodes schlußendlich ein solches Vermögen angehäuft hatte, daß er die rund 1.000 Kilometer lange Eisenbahn von Kapstadt nach Kimberley im Alleingang finanzieren konnte. In der Zwischenzeit zwangen allerdings interne Krisen im Transvaal sowie der Zulu-Aufstand die Briten dazu, Kimberley ebenso wie den Transvaal 1877 zu annektieren, um seine Integrität und Autonomie zu „schützen“, aber nachdem die Zulus besiegt waren, gaben sie die übernommenen Kompetenzen nur langsam an die Buren zurück. 1881 führte dies schließlich zu einem Krieg zwischen den Buren und den Briten und zur Anerkennung der Autonomie des Transvaal, obwohl die ambivalente Vertrags– klausel von einem „complete self-government, subject to the suzerainty of Her Majesty“ naturgemäß je nach machtpolitischer Situation eine breite Palette an Interpretationen zuließ. In diesem Zusammenhang beschloß Rhodes, sein ständig wachsendes Vermögen zu nutzen, um in die Politik zu gehen: Im Jahr 1880 gewann er einen Sitz im Parlament der Kapkolonie (den er bis zu seinem 15
16
Allg. zur Geschichte Südafrikas s. Paul 1927; Parsons 1993; van der Merwe/Beck 1995; Beck 2000; Davenport/Saunders 2000. Zu Cecil Rhodes s. Lesueur 1913; Lockhart/Woodhouse 1963; Rotberg 1988; Flint 2009.
210
Historische Einzelfragen
Tod behielt) und kämpfte aktiv für die Verteidigung seiner Interessen und die des Britischen Empire, die für ihn untrennbar miteinander verbunden waren, da er bereits 1885 ein Privateinkommen hatte, welches das der gesamten Kapkolonie überstieg.17 Seine wichtigste politische Idee dabei war die einer Föderation aller „weißen“ Staaten der Region unter der Vorherrschaft der Kapkolonie durch die Öffnung einer Verkehrslinie, die vom Kap ins Innere Südafrikas führen sollte. Die Entdeckung von Goldminen in der Nähe von Johannesburg im Jahre 1885 veränderte das Machtgleichgewicht in Südafrika erneut, denn einerseits wurden die Minen teilweise von englischen Unternehmen ausgebeutet und lockten viele Nicht-Buren in den Transvaal; andererseits stiegen die Einnahmen der kleinen puritanischen Republik in 15 Jahren um das 25fache. Obwohl Rhodes, dem die Eisenbahnen gehörten, die die Kapkolonie mit Johannesburg verbanden, enorm von dieser Entwicklung profitierte, bereitete das anti-britische Mißtrauen der Buren unter ihrem Präsidenten „Ohm“ Krüger (1883–1902) sowie die Gründung der deutschen Kolonie Südwestafrika 1884 der britischen Politik die Sorge, daß hier ein letztlich pro-deutscher und anti-britischer Territorialgürtel den Süden Afrikas horizontal durchschneiden und die britische Kapkolonie vom erhofften Reichtum des südafrikanischen Binnenlandes ausschließen könnte. In diesem Zusammenhang entwickelte Rhodes den Plan einer „Great Northern Road“ durch Betschuanaland, auch bekannt als Südafrikas „Suez-Kanal“, da sie das Kap mit der Region der Großen Seen verbindet. Dieses Projekt einer weiten Expansion nach Norden wurde zwar mit dem Ziel durchgeführt, der Kolonie einen direkten Zugang zu den vermuteten Bodenschätzen des afrikanischen Binnenlandes zu verschaffen, war aber darüber hinaus Teil eines viel ehrgeizigeren politischen Programms, das gemeinhin als das Projekt zur Schaffung einer durchgängigen Herrschaftszone und Eisenbahnlinie vom Kap bis nach Kairo bekannt ist, welche den Briten ultimativ die Hegemonie über ganz Afrikas sichern sollte.18 Die britische Expansion war für Rhodes dabei ein legitimer Selbstzweck, wie er in seinem berüchtigten politischen Testament erklären sollte, denn: „I contend that we are the first race in the world, and that the more of the world we inhabit the better it is for the human race. If there be a God, I think that what he would like me to do is paint as much of the map of Africa British Red as possible [...].“19
1885 erklärte die englische Regierung schließlich die Annexion von Betschuanaland (Botswana) an die englische Krone (und nicht an die Kapkolonie) und erteilte 1889 der von Cecil Rhodes gegründeten und kontrollierten 17
18 19
Allg. zur wirtschaftlichen Situation Südafrikas und des durch den Kolonialismus hier generierten Profits s. Rönnbäck/Broberg 2019. Zu Rhodes geostrategischen Plänen s. Galbraith 2008; Rotberg 2014. Zum Text des politischen Testaments s. Stead 1902.
11 Cecil Rhodes und Iulius Caesar
211
„British South Africa Company“ eine Charta, die das Recht auf Bergbau, Eisenbahnbau, Handelskontrolle und Polizei im gesamten Gebiet nördlich des Transvaals und zwischen Angola und Mosambik auf beiden Seiten des Sambesi enthielt.20 Dieser Freibrief der Regierung, der auf dem Abkommen basierte, das mit Lobengula geschlossen worden war, dem König der Ndebele, der eine Schlüsselposition unter den Matabele innehatte und dem versichert worden war, daß es nicht mehr als 10 Weiße auf seinem Territorium geben würde, sollte Rhodes erlauben, mit dem Bau von Minen zu beginnen; gleichzeitig wurde die für ihre Nutzung notwendige Infrastruktur geschaffen, was bis 1891 schrittweise zu einer systematischen Kolonisierung des riesigen Gebietes südlich der Großen Seen führte, die noch dadurch erleichtert wurde, daß Rhodes 1890 zum Ministerpräsidenten der Kapkolonie bestimmt wurde.21 Die Rotse-Stämme am Sambesi, Nachbarn des portugiesisch angolanischen Territoriums, die Lobitsa in der Nähe des Banguela-Sees, nahe der Grenze des Staates Kongo, und die Bemba südlich des Tanganjika-Sees, wo die britische Expansion auf die Einflußzone der Deutschen in Ostafrika stieß,22 wurden unter verschiedensten Statuten in das riesige Herrschaftsgebiet der Kompanie integriert und sahen sich zunehmender Repression ausgesetzt.23 Die Matabele begriffen daher schnell, daß die Einrichtung von Minen eine systematische Kolonisierung ihres Territoriums bedeutete, und lehnten sich in den beiden Matabele-Kriegen (1893–1885 und 1896–1897) gegen die Briten auf, aber die von Rhodes gegründete „Polizei“ gewann dank ihrer modernen Bewaffnung rasch die Oberhand, und so wurde das unterworfene MatabeleTerritorium schließlich zum Pfeiler des neuen Staates, der zunächst Zambesien und seit Mai 1895 sogar Rhodesien hieß. Somit war es Rhodes gelungen, dank einer gewagten Kombination aus privater Finanzkraft, Unterstützung der britischen Außenpolitik und ebenso geschicktem wie skrupellosem Verhandeln mit den Eingeborenen ein gigantisches Territorium von 1.143.000 Quadratkilometern zu erobern und nach sich selbst zu benennen, wobei er zwar öffentlich dessen Zugehörigkeit zum Britischen Empire proklamierte, im Einzelfall aber die innere, von ihm selbst bestimmte Autonomie „seines“ Landes vehement verteidigte und jede Einmischung der Londoner Behörden in seine Angelegenheiten systematisch ablehnte. So bildeten die privaten, regionalen und imperialen Interessen der neueroberten Gebiete schließlich ein untrennbares Ganzes, wie Rhodes in seiner Rede vom 28. September 1888 zusammenfaßte: 20 21 22
23
Zum Kontext Galbraith 1974. Zur sukzessiven Eroberung Rhodesiens s. Keppel-Jones 1982; Thomas 1997. Nur dem Betschuanaland gelang es, sich dem unmittelbaren Zugriff Rhodes’ zu entziehen, da der König des Gebiets persönlich nach London reiste, um darum zu bitten, daß sein Land direktes Protektorat Englands bliebe. Allg. zur Behandlung der afrikanischen Einwohner durch die europäischen Eroberer und Siedler in Südafrika: Jaenecke 1986; Magubane 1996.
212
Historische Einzelfragen „Here are the politics of South Africa in a nutshell. Let us leave the Free State and the Transvaal to their own destiny. We must adopt the whole responsibility of the interior. Let us consider that as an inheritance of the Cape colony [...]. We must propose a Customs Union on every suitable occasion; but we must always remember that the gist of the South African question lies in the extension of the Cape Colony to the Zambesi. If you, Gentlemen, are prepared to take that, there is no difficulty in the future. We must endeavour to make those who live with us feel that there is no race distinction between us: whether Dutch or English, we are combined in one object, and that is, the union of the States of South Africa, without abandoning the Imperial tie. And what we mean by the Imperial tie is this, that we have the most perfect selfgovernment internally, whilst retaining to ourselves the obligation of mutual defence against the outside world.“24
Dennoch sollte Rhodes’ Bestreben, seine Arbeit durch die Schaffung einer Südafrikanischen Union zu konsolidieren, die auch Oranje und den reichen Transvaal einbeziehen sollte, zu seinem Untergang führen: Die Unterdrückung der politischen Rechte der fremden (weißen) Einwanderer im Transvaal durch die Buren veranlaßte diese dazu, eine englische Intervention zu fordern, um ihre Bürgerrechte zu sichern, und Rhodes erlaubte mit Unterstützung des britischen Kolonialministers Chamberlain dem Gouverneur der neuen Gebiete, Jameson, eine aus 800 rhodesischen Polizisten bestehende Eingreiftruppe auszurüsten, um Johannesburg handstreichartig zu besetzen. Rhodes sagte die Aktion zwar in letzter Minute ab, aber Jameson war bereits auf dem Weg und konnte nicht mehr aufgehalten werden. Die Buren inhaftierten ihn, und der diskreditierte Rhodes wurde 1896 gezwungen, als Direktor der „British South Africa Company“ und Premierminister der Kapkolonie zurückzutreten. Das Unternehmen wurde nun unter die Aufsicht von drei britischen Kommissaren gestellt, wobei Rhodes vor einem Londoner Gericht der Verschwörung beschuldigt, aber triumphal freigesprochen wurde. Die Feindseligkeiten zwischen den Briten und den Buren hörten aber nicht auf: Der Verkauf deutscher Waffen an den Transvaal und die Verhandlungen zwischen Krüger und dem Kaiser motivierten den britischen Kommissar von Kapstadt, 10.000 britische Soldaten präventiv in der Kolonie zu konzentrieren. Die in Panik geratenen Buren begannen den Krieg am 12. Oktober 189925 und kämpften bis 1900, als die englische Übermacht dank Kontingenten aus Indien, Kanada und Australien die Besetzung Oranjes und Transvaals erlaubte und diese zu britischen Kronkolonien machte. Dennoch begannen die Buren einen Guerillakrieg, der die Briten unter Kitchener zwang, die Zahl ihrer Soldaten bis auf 400.000 zu erhöhen und sogar Konzentrationslager einzurichten, in denen bis zu 250.000 Frauen, Kinder und alte Menschen inhaftiert waren, von denen 28.000 an Krankheiten und Hunger starben.26 Obwohl Cecil Rhodes damals bereits in den politischen Hintergrund gedrängt worden war, wurde er doch 24 25 26
Rhodes, Rede vom 28. September 1888 (s. Verschoyle 1900). Zum Burenkrieg s. Judd 2013; Judd/Surridge 2013. Zu den britischen Greueln im Burenkrieg vgl. Spies 1977; Seibold 2011; Smith/Stucki 2011.
11 Cecil Rhodes und Iulius Caesar
213
eine treibende Kraft des britischen Widerstands gegen die Belagerung Kimberleys (der Quelle seines Reichtums) durch die Buren zwischen 1899–1900,27 bis eine Herzkrankheit ihn zwang, sich in Großbritannien gesundheitlich behandeln zu lassen. Erst 1902 kehrte er nach Südafrika zurück und starb am 26. März 1902 in Kapstadt. In Britisch-Südafrika enorm beliebt,28 wurde er in Rhodesien in Matobo Hills mit großem Prunk beigesetzt, und bei seiner Beerdigung wurde ein Epitaph von Rudyard Kipling vorgelesen, dem Nobelpreisträger des Jahres 1907 und glühenden Imperialisten: „There, till the vision he foresaw / splendid and whole arise, / and unimagined Empires draw / to council ‘neath his skies, / the immense and brooding spirit still / shall quicken and control. / Living he was the land, and dead, / his soul shall be her soul.“29
11.3
„Ausdehnung ist alles“
Nachdem wir einen kurzen Überblick über Leben und Kontext Cecil Rhodes gegeben haben, wollen wir nun die morphologische Analyse dieser Persönlichkeit im Werk Oswald Spenglers betrachten. Geschichte ist für Spengler bekanntlicherweise keine zufällige und chronologisch lineare Abfolge verschiedener Elemente, die einander in unvorhersehbarer Weise folgen und beeinflussen und daher von rein empirischem Interesse sind, sondern eine Reihe zirkulärer Entwicklungen, deren innere Entwicklung von einer unerbittlichen psychologischen und biologistischen Logik bestimmt wird, und deren äußere Form nur die sekundäre Emanation dieser inneren Dynamik ist. Welchen Platz nehmen nun Kolonialismus, Caesarismus und Cecil Rhodes in Spenglers monumentalem Werk ein? Eine erste, scheinbar paradoxe Feststellung ist die Tatsache, daß Rhodes, obwohl in der traditionell burenfreundlichen und antibritischen zeitgenössischen deutschen Presse immer äußerst negativ behandelt,30 bei Spengler geradezu als Vorbild betrachtet wird; freilich nicht im Sinne eines moralisch begrüßenswerten Exempels, sondern vielmehr als Vorbild eines Politikertypus, dem wohl oder übel die abendländische Zukunft gehören wird. Diese Aussage ist umso interessanter, als sie in dieser Form bereits im ersten Band des „Untergangs“ erscheint, der 1918 vor Ende des Ersten Weltkriegs veröffentlich
27 28 29 30
Zur Belagerung s. Phelan 1913. Zum Kult um Rhodes vgl. Maylam 2005. Allg. zu Rhodes Grabstätte s. Lowry 2004. Zur deutschen Berichterstattung im Burenkrieg s. Bender 2009; allg. zur Publizistik um den Burenkrieg Krebs 1999.
214
Historische Einzelfragen
wurde und somit noch zu einer Zeit, als selbst Spengler noch an den deutschen Sieg glaubte: „Der kultivierte Mensch hat seine Energie nach innen, der zivilisierte nach außen. Deshalb sehe ich in Cecil Rhodes den ersten Mann einer neuen Zeit. Er repräsentiert den politischen Stil einer fernen, abendländischen, germanischen, insbesondere deutschen Zukunft. Sein Wort ‚Ausdehnung ist alles‘ enthält in dieser napoleonischen Fassung die eigentlichste Tendenz einer jeden ausgereiften Zivilisation. Das gilt von den Römern, den Arabern, den Chinesen. [...] Die expansive Tendenz ist ein Verhängnis, etwas Dämonisches und Ungeheures, das den späten Menschen des Weltstadiums packt, in seinen Dienst zwingt und verbraucht, ob er will oder nicht, ob er es weiß oder nicht.“ (UdA, S. 51)
Mitten im Kampf gegen das britische Weltreich einen in Deutschland äußerst negativ betrachteten englischen Politiker als Gestalt der Zukunft zu bezeichnen, ist freilich typisch für die von Spengler auch sonst gerne und häufig vorgenommenen bewußten Provokationen seiner Leserschaft, wobei sich an dieser Stelle nicht nur der gar nicht so zeituntypische Wunsch nach Überkompensation der deutschen Ressentiments angesichts des mangelnden deutschen „Platzes an der Sonne“ widerspiegelt, sondern auch Spenglers Selbstdarstellung als objektiver, gleichsam über den Dingen schwebender Historiker, der fähig ist, von nationalen Vorurteilen abzusehen, um aus dem umfangreichen Material der Weltgeschichte nur jene Fakten herauszunehmen, die seiner Ansicht nach paradigmatisch sind, auch wenn er sich hiermit in Kollision zu gerne gepflegten Illusionen über die eigene Nation und die anderen begibt. Cecil Rhodes und seine koloniale Tätigkeit erscheinen somit neben ähnlichen Phasen in der römischen, arabischen und chinesischen Geschichte als Ergebnis des unvermeidlichen Prozesses der Umwandlung von „Kultur“ in „Zivilisation“; zwei Begriffe, die der deutschen Philosophie gerade der Weltkriegszeit so sehr am Herzen liegen, denkt man an die Kriegspropaganda des Deutschen Reichs als des ultimativen Verteidigers der „Kultur“.31 Denn während „Kultur“ im wesentlichen als eine Phase verinnerlichter künstlerischer Schaffenskraft interpretiert wird, in der der Überschuß an individueller Energie in transzendente Kreativität umgeleitet wird und somit die Entstehung der „klassischen“ Phasen der jeweiligen Kultur ermöglicht, wie etwa im 5. griechischen oder 17. französischen Jahrhundert, bewirkt die unvermeidliche Versteinerung der Kultur zu einer Zivilisation eine allmähliche Ersetzung des Inneren durch das Äußere, der Kunst durch die Politik, der Qualität durch die Quantität, der Konzentration durch die Expansion. Dabei ist es kein Zufall, daß Imperialismus, Zivilisation und der immer lauter werdende Ruf nach Weltfriede für Spengler eng zusammengehören:
31
Zur anti-deutschen Kriegspropaganda und zur Rolle der „Kultur“ vgl. Beßlich 2000; Flasch 2000; Kämpfer 2009.
11 Cecil Rhodes und Iulius Caesar
215
„Denn der Weltfriede – der oft schon dagewesen ist – enthält den privaten Verzicht der ungeheuren Mehrzahl auf den Krieg, damit aber auch die uneingestandene Bereitschaft, die Beute der andern zu werden, die nicht verzichten. Es beginnt mit dem staatenzerstörenden Wunsch einer allgemeinen Versöhnung und endet damit, daß niemand die Hand rührt, sobald das Unglück nur den Nachbar trifft. Schon unter Marc Aurel dachte jede Stadt und jeder Landstrich nur an sich, und die Tätigkeit des Herrschers war eine Privatsache neben den andern. Den Fernwohnenden waren er, seine Truppen und Ziele ebenso gleichgültig wie die Absichten der feindlichen germanischen Heerhaufen. Auf dieser seelischen Voraussetzung entfaltet sich ein zweites Wikingertum. Das ‚In Form sein‘ geht von den Nationen auf die Scharen und Gefolgschaften von Abenteurern über, mögen sie Cäsaren, abtrünnige Heerführer oder Barbarenkönige heißen, für welche die Bevölkerung zuletzt nichts als ein Bestandteil der Landschaft ist. Es besteht eine tiefe Verwandtschaft zwischen den Helden der mykenischen Vorzeit und den römischen Soldatenkaisern, zwischen Menes vielleicht und Ramses II. Für die germanische Welt werden die Geister Alarichs und Theoderichs wieder erwachen, wovon die Erscheinung Cecil Rhodes' eine erste Ahnung gibt; und die stammfremden Henker der russischen Vorzeit von Dschingiskhan bis Trotzki, zwischen denen die Episode des petrinischen Zarentums liegt, sind doch nicht allzu verschieden von manchen Prätendenten der romanischen Republiken Mittelamerikas, deren Privatkämpfe dort die formvolle Zeit des spanischen Barock längst abgelöst haben.“ (UdA, S. 1106)
Spengler paßt daher der Cecil Rhodes zugeschriebene Ausspruch „Expansion is everything“32 perfekt in die Argumentation, um somit das neue Paradigma der Moderne zu veranschaulichen. Und in der Tat ist der Charakter von Rhodes bewundernswert gut gewählt, um diesen kollektiven Trend zur Expansion anstatt zur Introversion zu repräsentieren, wenn wir zum Beispiel an Cecil Rhodes’ folgenden Ausspruch denken: „To think of these stars that you see overhead at night, these vast worlds which we can never reach. I would annex the planets if I could; I often think of that. It makes me sad to see them so clear and yet so far.“33
Dennoch legt Spengler Wert darauf, die Modernität der Zivilisation und ihre expansive Energie nicht lediglich mit der industrialisierten Gegenwart zu identifizieren, denn für ihn ist der außerordentliche technologische Fortschritt des Abendlands nur ein rein äußerliches, in seinem Ausmaß wesentlich dem faustischen „Drang“ geschuldetes Symptom einer Epoche, die vor allem nach maximaler materieller Effizienz strebt und das künstlerische Schaffen im wahrsten Sinne des Wortes in den Hintergrund drängt; denn auch andere Kulturen kennen eine „Moderne“, ohne daß ihre technologische Beschleunigung mit der der faustischen vergleichbar wäre.
32
33
Das nicht nur von Spengler Rhodes zugeschriebene Zitat „Expansion is everything“ ist bibliographisch nur schwer nachzuweisen, erscheint aber zumindest in der deutschen Literatur regelmäßig im Kontext mit Cecil Rhodes; s. z.B. im „Handbuch der Sozialdemokratischen Parteitage von 1910 bis 1913“ (S. 232). Stead 1902, S. 190.
216
Historische Einzelfragen
An dieser Stelle ist außerdem zu betonen, daß es sich bei Spenglers Beschreibung keineswegs um eine pazifistische und kontemplative Zivilisationskritik handelt (wenn jene Elemente auch inhaltlich durchaus vorhanden sind), und daß hinter der bitteren Hoffnungslosigkeit, mit der Spengler den Niedergang der Kultur und ihre Ersetzung durch die Zivilisation beklagt, keineswegs eine implizite Botschaft steht, die zu einer Umkehr aufrufen würde. Ganz im Gegenteil fordert Spengler dazu auf, sich mit diesem Schicksal abzufinden, da jede Alternative bloßer Eskapismus wäre: „Zur Geburt gehört der Tod, zur Jugend das Alter, zum Leben überhaupt seine Gestalt und die vorbestimmten Grenzen seiner Dauer. Die Gegenwart ist eine zivilisierte, keine kultivierte Zeit. Damit scheidet eine ganze Reihe von Lebensinhalten als unmöglich aus. Man kann das bedauern [...], aber man kann es nicht ändern. [...] Wir sind zivilisierte Menschen, nicht Menschen der Gotik und des Rokoko; wir haben mit den harten und kalten Tatsachen eines späten Lebens zu rechnen, dessen Parallele nicht im perikleischen Athen, sondern im cäsarischen Rom liegt. [...] Ihm sind nur extensive Möglichkeiten geblieben. [...] Wenn unter dem Eindruck dieses Buches sich Menschen der neuen Generation der Technik statt der Lyrik, der Marine statt der Malerei, der Politik statt der Erkenntniskritik zuwenden, so tun sie, was ich wünsche, und man kann ihnen nichts Besseres wünschen.“ (UdA, S. 55–57)
Wie kam Spengler nun dazu, gerade Cecil Rhodes als Paradigma des an der Schwelle vom Kolonialismus zum Caesarismus stehenden Menschen zu betrachten? Die Lektüre des „Untergangs des Abendlandes“ zeigt, daß Spengler, obwohl sein monumentales Werk letztlich nur eine eher assoziativ als systematisch argumentierende Skizze, ja fast schon ein Fragment darstellt und vieles anreißt, ohne es doch auszuführen, eine bemerkenswert prägnante und (an anderen historischen Gestalten gemessene) umfassende Darstellung des Werdegangs Cecil Rhodes’ liefert. So schreibt er: „Rhodes verstand unter erfolgreicher Politik einzig den territorialen und finanziellen Erfolg. Das ist das Römische an ihm, dessen er sich sehr bewußt war. In dieser Energie und Reinheit hatte sich die westeuropäische Zivilisation noch nicht verkörptert. Nur vor seinen Landkarten konnte er in eine Art dichterische Ekstase geraten, er, der als Sohn eines puritanischen Pfarrhauses mittellos nach Südafrika gekommen war und ein Riesenvermögen als Machtmittel für seine politischen Ziele erworben hatte. Sein Gedanke einer transafrikanischen Bahn vom Kap nach Kairo, sein Entwurf eines südafrikanischen Reiches, seine geistige Gewalt über die Minenmagnaten [...], seine Hauptstadt Bulawayo, die er, der allmächtige Staatsmann ohne ein definierbares Verhältnis zum Staate, als künftige Residenz in königlichem Maßstab anlegte, seine Kriege, diplomatischen Aktionen, Straßensysteme, Syndikate, Heere, sein Begriff von der ‚großen Pflicht des Gehirnmenschen gegenüber der Zivilisation‘ – alles das ist, groß und vornehm, das Vorspiel einer uns noch vorbehaltenen Zukunft, mit der die Geschichte des westeuropäischen Menschen endgültig schließen wird.“ (UdA, S. 52–53)
Dieses Zitat ist sehr aufschlußreich, denn es zeigt, was Spengler an Rhodes’ Werdegang relevant schien, und was nicht. Und natürlich handelt es sich bei diesem Abriß um eine sehr verkürzende Darstellung, die der Komplexität der
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217
verfassungsrechtlichen Position Cecil Rhodes’ in Südafrika nicht annähernd Rechnung trägt. Tatsächlich konzentriert sich Spengler ausschließlich auf die Erfolge von Rhodes in Betschuanaland und Rhodesien, auf seine Position als Premierminister der Kapkolonie und auf seine außerordentliche wirtschaftliche Rolle. Er berücksichtigt nicht die verfassungsmäßigen Beschränkungen des politischen Mandats von Rhodes, die zahlreichen Widerstände, denen Rhodes sich sowohl von seiten der zentralistischen Imperialisten als auch der autonomistischen Buren ausgesetzt sah, und läßt auch seine Beteiligung an der Verschwörung aus, die den Jameson-Raid plante und somit langfristig den Burenkrieg auslöste; den ersten wirklich industriell geführten Krieg des Abendlandes, der bereits viele der Schrecken des Ersten Weltkriegs vorwegnahm. Vor allem aber ignoriert Spengler interessanterweise das langfristige Scheitern der Rhodes’schen Vision eines britischen Afrikas, die von den englischen Behörden zugunsten einer Versöhnungspolitik mit dem Deutschen Reich abgelehnt wurde, dessen Annexion Ostafrikas den Plan für ein durchgehendes koloniales Rückgrat von Kapstadt bis nach Kairo zunichte machte.34 Dennoch rechtfertigen zwei wichtige Elemente Spenglers Einschätzung, zumindest, wenn man sich die Grundlagen seiner Geschichtsphilosophie aneignet. Auf der einen Seite entspricht die Idealisierung der expansionistischen Energie des Gründers von Rhodesien in der Tat der Selbstdarstellung Cecil Rhodes’ selbst; einer Selbstdarstellung, die übrigens weitgehend von seinen Zeitgenossen übernommen wurde, die entweder an der politischen Idealisierung des „Kolosses von Afrika“ teilnahmen, oder ihn gerade wegen seines ungeheuerlichen Imperialismus verurteilten. Die Zeitgenossen stützten sich also auf die gleichen markanten Elemente wie Spengler, und die Selektivität ihres Gedächtnisses gibt dem deutschen Philosophen gewissermaßen recht, gerade jene von den englischen (und übrigens auch deutschen) Kommentatoren ganz besonders hervorgehobenen Charakteristika als symptomatisch und nicht akzidentell zu betrachten. Auf der anderen Seite, und dies ist noch bedeutsamer, macht Spengler klar, daß diese Charakterzüge zwar nicht der Gesamtheit des Lebenswerkes Cecil Rhodes’ entsprechen, dafür aber jene sind, die einzig morphologisch wichtig sind, weil sie eine unausweichliche zukünftige Entwicklung ankündigen: die caesaristische Errichtung eines spätzeitlichen Zivilisationsimperiums.
34
Zur Genese Deutsch-Ostafrikas s. Müller 1959; Bald 1970; Tetzlaff 1970.
218
Historische Einzelfragen
11.4
Vom Kolonialismus zum Caesarismus
Damit sind wir wieder bei unserem Ausgangspunkt angelangt, nämlich der von Spengler postulierten prinzipiellen Parallelität zwischen dem Kolonialismus eines Cecil Rhodes und dem der spätrömischen Republik. Denn Rhodes ist für Spengler nur die erste Manifestation eines Politikertyps, dessen Zeit auch 1918 noch nicht ganz gekommen zu sein schien, wie in der eingangs zitierten Passage aus dem „Untergang“ deutlich wurde: „Rhodes erscheint als der erste Vorläufer eines abendländischen Cäsarentypus, für den die Zeit noch lange nicht gekommen ist. Er steht in der Mitte zwischen Napoleon und den Gewaltmenschen der nächsten Jahrhunderte [...], zwischen Alexander und Cäsar.“ (UdA, S. 52)35
Es ist somit also auch für Spengler eher Caesar, der (wie im politischen Denken des 19. Jahrhunderts durchaus üblich36) als ultimatives Paradigma einer charismatischen imperialistischen Macht gilt, die langfristig sowohl liberale Demokratien als auch konstitutionelle Monarchien verdrängen wird, indem sie plebiszitäre Legitimität und absolute Macht miteinander verbindet; eine Ideologie, deren konkrete Verwirklichung übrigens lange Zeit aufs engste mit dem konkreten Beispiel der Herrschaft Napoleons I. und Napoleons III. verbunden wurde und zur Gleichsetzung von „Bonapartismus“ und „Caesarismus“ führen sollte37 – nicht ganz zu unrecht, bedenkt man, daß Napoleon III. in seiner Biographie Caesars tatsächlich explizit versuchte, die Errichtung des Zweiten Kaiserreichs in seiner autoritären Phase der 1850er Jahre durch historische Parallelen zur römischen Vergangenheit zu rechtfertigen: „Ce qui précède montre assez le but que je me propose en écrivant cette histoire. Ce but est de prouver que, lorsque la Providence suscite des hommes tels que César, Charlemagne, Napoléon, c’est pour tracer aux peuples la voie qu’ils doivent suivre, marquer du sceau de leur génie une ère nouvelle, et accomplir en quelques années le travail de plusieurs siècles. Heureux les peuples qui les comprennent et les suivent ! malheur à ceux qui les méconnaissent et les combattent ! Ils font comme les Juifs, ils crucifient leur Messie ; ils sont aveugles et coupables : aveugles, car ils ne voient pas l’impuissance de leurs efforts à suspendre le triomphe définitif du bien ; coupables, car ils ne font que retarder le progrès, en entravant sa prompte et féconde application. En effet, ni le meurtre de César, ni la captivité de Sainte-Hélène, n’ont pu détruire sans retour deux causes populaires renversées par une ligue se couvrant du masque de la liberté. Brutus, en tuant César, a plongé Rome dans les horreurs de la guerre civile ; il n’a pas empêché le règne d’Auguste, mais il a rendu possibles ceux de Néron et de Caligula. L’ostracisme de Napoléon par l’Europe conjurée n’a pas non plus empêché l’Empire de ressusciter, et, cependant, que nous sommes loin des
35 36 37
Der Vergleich Cecil Rhodes mit Napoleons ist keineswegs unüblich: Dukay 1933. Vgl. Heuß 1980. Zum Bonapartismus s. Groh 1972; Hammer/Hartmann 1977; Wüstenmeyer 1986.
11 Cecil Rhodes und Iulius Caesar
219
grandes questions résolues, des passions apaisées, des satisfactions légitimes données aux peuples par le premier Empire !“38
Die feste Überzeugung, der plebiszitäre Autoritarismus würde das Europa der Zukunft dominieren, schien zu Lebzeiten Spenglers durch die politische Realität mehr als bestätigt zu werden, wenn wir an die damalige, nahezu zeitgleiche Entstehung von Faschismus, Bolschewismus und Nationalsozialismus in den 1920er Jahren denken, zu denen dann noch zahlreiche weitere semi-autoritäre Regime überall in Europa kamen, die alle auf dem Kult einer charismatischen Führungspersönlichkeit beruhten und somit in Cecil Rhodes’ Südafrika ein erstes Vorbild unter den Bedingungen der modernen Welt fanden. Und dennoch, wie besonders zu betonen ist, stellen auch die autoritären Regime des frühen 20. Jahrhunderts für Spengler noch keinesfalls den Höhepunkt jenes erwarteten Caesarismus dar, sondern nur seine ersten zögerlichen Schritte, deren endgültige Verwirklichung erst dem 21. Jahrhundert vorbehalten ist, wie auch die vergleichenden Tafeln zu Beginn des „Untergangs“ deutlich machen, wo wir lesen können: 1. „Herrschaft des Geldes, Wirtschaftsmächte die politischen Formen und Gewalten durchdringend. 1800–2000. 19. Jh.: Von Napoleon bis zum Weltkrieg, „System der Großmächte“; stehende Heere, Verfassungen. 20. Jh.: Übergang der verfassungsmäßigen in formlose Einzelgewalten, Vernichtungskriege, Imperialismus. 2. Ausbildung des Cäsarismus. Sieg der Gewaltpolitik über das Geld. Zunehmend primitiver Charakter der politischen Formen. Innerer Zerfall der Nationen in eine formlose Bevölkerung. Deren Zusammenfassung in ein Imperium von allmählich wieder primitiv-despotischem Charakter. 2000–2000.“
Spengler bezieht diese Erwartung, daß der echte Caesarismus eher das 21. als das 20. Jahrhundert charakterisieren wird, natürlich wesentlich aus seinem Vergleich mit der Geschichte der späten Römischen Republik und seiner Untersuchung des Zusammenspiels zwischen Innenpolitik, kolonialistischer Expansion und der wachsenden Bedeutung der Finanzmacht für die Ausrichtung der Wirtschaft. Somit bietet sich der Vergleich zwischen dem Selfmademan und Imperialisten Rhodes und dem nicht minder ganz auf eigene Rechnung am Rande der Legalität operierenden Eroberer Galliens förmlich an, wenn beide auch in Bezug auf ihren morphologischen „Sitz im Leben“ durch mehr als ein Jahrhundert getrennt werden: „[...] Die Eroberung und Ausbeutung Galliens machte ihn zum reichsten Mann der Welt; hier ist eigentlich Pharsalus schon gewonnen worden. Denn Cäsar hat diese Milliarden um der Macht willen erobert, wie Cecil Rhodes, und nicht aus Freude am Reichtum, wie Verres und im Grunde auch Crassus, ein großer Geldmann mit politischem Nebenberuf. Er begriff, daß auf dem Boden einer Demokratie die verfassungsmäßigen Rechte ohne Geld nichts, mit Geld alles bedeuten. Als Pompejus
38
Napoléon III. 1862 (Vorwort).
220
Historische Einzelfragen noch davon träumte, er könne Legionen aus der Erde stampfen, hatte sie Cäsar durch sein Geld längst zur Wirklichkeit verdichtet.“ (UdA, S. 1135–1136)
Hierdurch rückt Spengler Rhodes’ Eroberungs- und Organisationstalent aber nicht nur in eine antike Beleuchtung, sondern läßt auch Caesars gallische Unternehmungen in einem modernen Licht erscheinen, indem er nicht nur die rein militärgeschichtlichen Aspekte, sondern auch und gerade die logistischen und finanziellen Ziele der Eroberung Galliens hervorhebt, die es Caesar ermöglichen sollten, seine damals bedrohte finanzielle Position wieder aufzubessern, sich eine eigene militärische Hausmacht aufzustellen und schließlich dank seines neugewonnenen Vermögens die politischen Entscheidungen in Rom beeinflussen zu können.39 Reichtum als Mittel zu Macht und Eroberung, und nicht umgekehrt – daran liegt Spengler zufolge also eine zentrale Parallele zwischen dem frühen abendländischen Caesarismus, wie er sich mithilfe privat organisierter kolonialer Expansion erstmals herausbildete und Persönlichkeiten wie Rhodes hervorbrachte, der nahezu aus eigenen Mitteln ein Drittel des Weges vom Kap bis nach Kairo zusammeneroberte,40 und den großen Befehlshabern der späten römischen Republik, wo spätestens seit Crassus’ berühmtem Ausspruch allen römischen Politikern klar war, daß nur derjenige als reich zu gelten habe, der aus eigenem Vermögen mindestens eine gesamte Legion (also 5.000 schwer ausgerüstete Soldaten) aufstellen konnte. Dennoch sind diese Parallelen unvollständig, und dies in einem entscheidenden Punkt, was erklärt, warum Spengler Rhodes nur als eine Präfiguration und nicht als eine direkte Parallele zu Caesar sieht. In der Tat eroberte Caesar Gallien im Rahmen eines klar definierten Regierungsauftrags und im vollen Bewußtsein, daß sich sein wesentliches politisches Schicksal in Rom abspielen würde. Da er nur für eine begrenzte Zeit Proconsul in Gallien war und sich darauf vorbereiten mußte, seine Legionen und seine Regierung früher oder später einem Nachfolger zu überlassen, beschränkte sich seine politische Vision nicht auf die Errichtung eines halbautonomen gallischen Reiches, sondern auf den Aufbau einer Hausmacht, die finanziell und politisch stark genug sein sollte, um es ihm zu ermöglichen, nach seiner Rückkehr nach Rom eine andere Magistratur mit ähnlichem oder höherem Status auszuüben oder, im schlimmsten Fall, die Hauptstadt militärisch in Besitz zu nehmen und die Republik in eine Dictatur zu verwandeln, um somit der unangefochtene Herrscher über den Mittelmeerraum zu werden. Cecil Rhodes’ Ambitionen hingegen bestanden „nur“ (der Begriff „nur“ mag freilich auf den ersten Blick erstaunen, bedenkt man, daß seine Eroberungen dreimal so ausgedehnt waren wie das von Caesar eroberte Gallien) 39 40
Zum Gallischen Krieg Maier 1978; Goudineau 1990; Hammond 1996; Gilliver 2002. Man denke in diesem Kontext an den folgenden, Rhodes zugeschriebenen Ausspruch: Johari 1993, S. 207: „Pure philanthropy is very well in its way, but philanthropy plus five percent is a good deal better.“
11 Cecil Rhodes und Iulius Caesar
221
im Wunsch nach einer Ausweitung der britischen Macht in Südafrika und der Schaffung einer starken politischen Position in einer künftigen südafrikanischen Union. Zu keiner Zeit aber hätte Rhodes es versucht, seine Macht zu nutzen, Königin Victoria zu stürzen, eine Amtszeit als britischer Premierminister anzustreben oder wenigstens Südafrika nach seiner Absetzung als dortiger Premierminister militärisch zu erobern.41 Dieser wesentliche Unterschied zwischen dem Rhodes’schen Kolonialismus des 19. Jahrhunderts und dem caesarischen Imperialismus der spätrömischen Republik war denn auch der ultimative Grund, wieso Rhodes Spengler zufolge nur der Vorläufer, nicht aber ein echter Repräsentant jenes Caesarismus ist, den Spengler Europa erst für das 21. Jahrhundert vorhersagt, und der die Grundlage für das neue abendländische Zivilisationsimperium bilden soll: „So erscheint das Imperium Romanum nicht mehr als ein einmaliges Phänomen, sondern als normales Produkt einer strengen und energischen, weltstädtischen, eminent praktischen Geistigkeit und als typischer Endzustand, der schon einige Male dagewesen, aber bisher nicht identifiziert worden ist.“ (UdA, S. 53)
11.5
Schluß
Wie ist abschließend nun Spenglers Versuch zu beurteilen, den britischen Kolonialismus eines Cecil Rhodes als die erste Manifestation eines Imperialismus caesarischen Stils zu verstehen, der erst Spenglers Zukunft (und unsere baldige Gegenwart) prägen sollte? Was zunächst die Analyse der britischen Geschichte betrifft, so scheint ganz offensichtlich, daß Spengler bei seinen Vorhersagen den tatsächlichen Einfluß der imperialistischen Partei überschätzt und somit die zentrifugalen Energien des „Empires“ fehlgedeutet hat, die zur Umwandlung der weißen Kolonien in autonome „Dominions“ und ihren freien Zusammenschluß zu einem „Commonwealth“ geführt haben, dessen innere Kohäsion infolge der zunehmenden Einflußnahme der USA, der schweren Wirtschaftskrise Englands nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der teilweisen Neuausrichtung der britischen Politik auf die Europäische Union bis heute immer schwächer geworden ist und kaum wirklich als imperiale Macht betrachtet werden kann. Diese Aufsplitterung des britischen Siedlungsbereichs hat dann aber notwendigerweise auch die 41
In dieser Hinsicht mag darauf verwiesen werden, daß Spengler eine seiner Jugendschriften gerade einem solchen Szenario gewidmet hatte: „Afrikasien“ (1894), in dem ein neuer Napoleon West-Afrika erobert und, gestützt auf europäische Söldner, in Afrika und Asien ein gewaltiges, streng reglementiertes Imperium gründet, das nun die alten Kolonialmächte vernichtet. Spengler entwarf sogar eine eigene Verfassung, ein Gesetzbuch und einen detaillierten institutionellen Aufbauplan des fiktiven Staats.
222
Historische Einzelfragen
Machtbasis verringert, von der aus das Kolonialreich föderiert und zusammengehalten hätte werden können, dem dann die regionalen Unabhängigkeitsbewegungen und die tödliche Schwächung des Mutterlands im Zweiten Weltkrieg den Todesstoß versetzen sollte, so daß bald selbst der Name „Rhodesien“ einer „damnatio memoriae“ unterworfen und durch Sambia (1964) und Simbabwe (1979) ersetzt werden sollte. Kann man also sagen, daß Spenglers Vorhersagen überholt sind, ja durch diesen Irrtum seine gesamte Geschichtsmorphologie als widerlegt zu gelten hat? Nicht im mindesten. Denn während die europäischen Kolonialreiche aufgehört haben zu existieren, scheint die Prophezeiung einer weltumspannenden Hegemonie des Abendlandes doch nicht weniger wahr geblieben zu sein, bedenkt man zum einen, daß die USA das britische Erbe in einer Weise angetreten sind, die vielleicht auf den ersten Blick weniger unmittelbar kolonial wirken mag, dafür aber umso effizienter ist, was die militärische Kontrolle eines Großteils des Erdballs und die intensive Einflußnahme auf lokale Regierungsbildungen betrifft, die auch vor Staatsstreichen und Revolutionen nicht Halt gemacht hat, wenn es galt, treue Verbündete an die Macht zu bringen. Diese Art indirekter Einflußnahme gilt übrigens immer noch auch für viele ehemalige europäische Kolonialmächte wie etwa Frankreich oder Großbritannien, welche weiterhin als mehr oder weniger offen auftretende militärische, wirtschaftliche und politische Aufseher über viele ihrer ehemaligen Kolonien, vor allem in Afrika, auftreten. Auch muß unsicher bleiben, ob dieser Paradigmenwechsel von der direkten zur indirekten Herrschaft nun tatsächlich dauerhafter Art bleiben wird, oder vielmehr nur eine Episode darstellt, bedenkt man auf der einen Seite die gleichzeitige, semi-koloniale Durchdringung Asiens durch China, welche früher oder später einen ähnlichen Gegendruck erzeugen muß, und auf der anderen Seite die Tatsache, daß auch die späte römische Republik in den Jahrzehnten vor den Eroberungszügen des Pompeius bewußt auf weitere territoriale Expansion verzichtet hatte und vielmehr ein komplexes Netz von Klientelherrschern aufzog, das vor allem durch wirtschaftliche Konzessionen und eine immer wichtiger werdende Schuldenpolitik zusammengehalten wurde. Auch die Erwartung eines zukünftigen Caesars erscheint aus der heutigen Perspektive weniger anachronistisch, als man es vielleicht noch in den 1980ern hätte meinen könnte: Der autoritäre Umbau Rußlands und der Türkei, die zunehmende politische Destabilisierung des Westens, die steigende Bedeutung demokratischer „Dynastien“ auf allen Ebenen der Macht und der Aufstieg sogenannter populistischer Politiker in den USA, Großbritannien und Teilen Osteuropas zeigen, daß die parlamentarische Demokratie, wie sie noch vor einigen Jahrzehnten als ultimatives Erfolgsmodell galt, zunehmend in Frage gestellt wird und möglicherweise doch nicht das letzte Wort in der Geschichte des Abendlands haben könnte.
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Es ist also keinesfalls auszuschließen, daß eine toxische Kombination zwischen einer sich verschärfenden Demokratiekrise und dem Aufstieg charismatischer Individuen, die ihre Macht wesentlich auf die Kontrolle über wirtschaftliche Ressourcen stützen, auch und gerade im Abendland des 21. Jahrhunderts Zustände hervorrufen können, die man nicht anders als „caesaristisch“ und in Anbetracht der asymmetrischen Globalisierung durchaus auch neo-kolonialistisch bezeichnen könnte, denkt man etwa daran, daß jetzt schon viele Staaten der Dritten Welt ganz in der Hand einzelner global agierender Konzerne sind, die ihrerseits aktiv, wenn auch hinter den Kulissen und durch Lobbyarbeit, die Weltpolitik zu ihren Gunsten mitzugestalten versuchen: Sollten die bisherigen indirekten Mittel angesichts einer größeren Krise nicht mehr ausreichen, ist kaum auszuschließen, daß das finanzielle Potential auch direkt in politische Agitation oder sogar den Machtkampf einzelner Politiker fließen könnte: Man denke hier nur an die Hebelwirkung, welche privates Vermögen und die Kontrolle über wichtige Medien einzelnen Politikern wie Silvio Berlusconi oder Donald Trump gegeben haben. Es ist zweifelhaft, daß das gerade in den letzten Jahren stetig steigende kritische Bewußtsein gegenüber politischer, gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Asymmetrie und den hieraus abgeleiteten Ausbeutungssituationen dieses Szenario ausschließt. Freilich, gerade die 2020 so virulenten „Black lives matter“ Demonstrationen, welche erneut neokoloniale und rassistische Strukturen in den Vordergrund des Interesses geraten ließen und sich bezeichnenderweise auch wieder in der Polemik um die bekannte Statue Cecil Rhodes’ am Oriel College in Oxford niederschlugen, könnten glauben machen, daß die Weltöffentlichkeit des frühen 21. Jahrhunderts caesaristischen Versuchungen kritischer gegenübersteht, als dies bei früheren Generationen der Fall gewesen sein mag. Bedenkt man aber zum einen, daß diese Demonstrationen gerade von jenen großen Konzernen und Dienstleistern unterstützt werden, die selber flagranteste Beispiele sozialer und politischer Asymmetrie darstellen, und erinnert man sich zum anderen daran, daß zumindest in Rom der „Caesarismus“ eines Clodius, Catilina und schließlich Caesar keineswegs aus konservativen Kreisen hervorging, sondern sich eher auf eine Massenbewegung stützte, welche das „einfache“ Volk gegen die traditionelle Elite in Stellung zu bringen suchte und an die Stelle oligarchischer Strukturen angeblich radikaldemokratische, faktisch allerdings charismatisch-plebiszitäre Institutionen zu setzen trachtete, mag der Optimismus, die Geschichte habe Spenglers düstere Vorhersagen definitiv überholt, doch ein wenig voreilig scheinen.
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Die „Jahre der Entscheidung“ und die Krise des 20. Jahrhunderts im Geschichtsbild Oswald Spenglers
12.1
Einleitung
Eine Analyse des Krisenbegriffs bei Oswald Spengler1 mag auf den ersten Blick überraschen. Tatsächlich gilt Spengler, der heute fast nur noch als Autor des „Untergangs des Abendlandes“ und der „Jahre der Entscheidung“ bekannt ist, als Verfechter eines rigiden Geschichtsdeterminismus, der den nächsten Jahrhunderten der abendländischen Geschichte kulturelle Stagnation, politische Diktatur und deutsche Dominanz verhieß. Ein „Krisenbewußtsein“ scheint in dieses geschichtliches Denken kaum hineinzupassen. Doch wenn Spengler auch in Deutschland noch immer weitgehend als extremistischer Denker und Vorläufer des Nationalsozialismus verschrieen ist, so ist dieses Vorurteil doch in anderen europäischen Ländern längst abgebaut, denkt man an Toynbees Aufnahme des Spengler’schen Geschichtsdeterminismus oder an die gegenwärtige Spengler-Renaissance in Frankreich.2 Daß also eine allzu pauschale Zusammenfassung seiner Weltanschauung ebenso unhaltbar ist wie die Annahme, eine Untersuchung seines Krisenbegriffs sei belanglos für das Verständnis seines historischen Oeuvres, soll folgender Aufsatz in aller Kürze skizzieren. Hierbei wird es sich allerdings schnell zeigen, daß die üblichen Krisendefinitionen nur schwer zu übertragen sind auf das geschichtsphilosophische System Spenglers, welches vor allem mit deterministischen Entwicklungstendenzen operiert. Ziel der Untersuchung soll daher sein, durch eine Systematisierung der Analysen der „Jahre der Entscheidung“, in denen sich die Krisenwahrnehmung Oswald Spenglers vielschichtig wie in keinem seiner anderen Werke und trotzdem gegenwartsbezogen bündelt, einigen zentralen Aspekten der Spengler’schen Krisenproblematik nachzuspüren und zu eruieren, inwieweit eine „Krise“ in einem so deterministischen System wie dem Spenglers überhaupt möglich ist, und wie sie sich konkret mit den hier geäußerten Zukunftsprophezeiungen verbindet.
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Zur Biographie Spenglers vgl. Schröter 1949; Stuart Hughes 1952; Koktanek 1968; Merlio 1982; Felken 1988; Swassjan 1998. Für einige allgemeine Titel vgl. die in Kap. 2. angeführte Literatur. Vgl. Lagueux 2001, S. 82–83; Thinès; de Rubercy 2004.
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Historische Einzelfragen
Dabei besteht ein wichtiger Aspekt der Krisendeutung Spenglers in der Tatsache, daß zumindest das geschichtsphilosophische Hauptwerk, der „Untergang des Abendlandes“, keineswegs als eine Reaktion auf die innere und äußere Krise des Deutschen Reichs im Anschluß an die Niederlage im Ersten Weltkrieg zu sehen ist, wenn auch die einprägsame Schlagwortform des Titels und das Erscheinungsdatum des ersten Bands im September 1918 viel dazu beitrugen, das Werk als eine Antwort auf die Misere der Nachkriegszeit erscheinen zu lassen. Eigenen Aussagen zufolge bereits seit 1911 im Anschluß an die Marokko-Krise konzipiert, während des Kriegs dann ausgearbeitet und 1917 beendet, sollte der „Untergang des Abendlandes“ vielmehr zeitgleich mit dem erhofften deutschen Sieg veröffentlicht werden und eine metaphysische Begründung der Errichtung eines deutschen Herrschaftsgroßraums liefern, welcher als Parallele zu den anderen Spätreichen der einzelnen Kulturen gesehen werden sollte.3 Insoweit liegt die Motivation der geschichtsphilosophischen Reflexion, welche trotz einiger zeitgebundener Überlegungen auch die „Jahre der Entscheidung“ wesentlich prägen sollte, keineswegs im Bewußtsein einer verpaßten Chance oder eines gescheiterten Systems, wie etwa in den vergleichbaren Werken der „konservativen Revolutionäre“, sondern beruht noch auf der Krise des Zeitgeistes der Jahrhundertwende,4 die sich um eine Erklärung der Verbindung von offensichtlicher kultureller Dekadenz zum einen und technischem Fortschritt zum anderen bemühte und den Ausgang der drohenden militärischen Konfrontation der einzelnen Kolonialimperien im voraus zu bestimmen suchte.5 Dies unterstreicht bereits das zentrale Problem der Erfassung des Spengler’schen Krisenbegriffs, welcher – typisch für die Geschichts- und Kulturphilosophie des späten 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts – weniger auf eine bewußt eingegrenzte Erklärung von als problematisch aufgefaßten Zeiterscheinungen bedacht ist, sondern im Gegenteil im Einzelnen nur ein Symptom für die Entwicklung des Ganzen sieht, was dem Begriff der „Krise“ eine schicksalhafte Weitläufigkeit verleiht, welche den Terminus seiner eigentlichen Bedeutung fast entkleidet.
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Vgl. das Vorwort zur ersten Ausgabe des 1. Bandes des UdA vom Dezember 1917. Vgl. Briggs/Snowman 1996. Selbst die „Jahre der Entscheidung“ sind trotz zeitkritischer Äußerungen weniger eine unmittelbare Antwort auf die Krise der 30er Jahre als vielmehr eine Aktualisierung des Hauptinhalts des „Untergangs des Abendlandes“; vgl. Möller 1980.
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Die Krise in Jahre der Entscheidung
12.2.1 Die Jahre der Entscheidung Die Beurteilung der Endzeit der abendländischen Kultur ist Hauptinhalt der „Jahre der Entscheidung“, des letzten und enorm populären Werkes Spenglers,6 welches bereits vor der „Machtergreifung“ beendet und nur durch ein im Juli 1933 überarbeitetes Vorwort ergänzt worden war, und das seinem Verfasser aufgrund der Kritik am Nationalsozialismus7 die allgemeine Ungnade des neuen Regimes8 und trotz eines persönlichen Gesprächs mit Hitler (vgl. Br. 698 vom 26.7.1933) letztlich auch das Schreibverbot Goebbels’ eintragen sollte.9 Wiederholt charakterisiert Spengler nämlich in der selbststilisierten Rolle eines „Praeceptor Germaniae“10 die Machtergreifung als einen lärmenden Akt ohne letztliche Wirkung,11 betrachtet die nationalsozialistische Ideologie als Ansammlung bloßer Luftschlösser,12 und offenbart seine Kritik an den Propagandamethoden der deutschen Faschisten durch den Kommentar, daß das Volk der
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Schon zwei Monate nach der Erstveröffentlichung wurde das hundertste Tausend gedruckt; vgl. Felken 1988, S. 219. Freilich handelte es sich hier kaum um Kritik aus einer linken, sondern einer rechten Perspektive, blieb Spengler doch immer ein Feind Weimars. Vgl. JdE, S., vii: „Niemand konnte die nationale Umwälzung dieses Jahres [i.e. 1933] mehr herbeisehnen als ich. Ich habe die schmutzige Revolution von 1918 vom ersten Tage an gehaßt […].“ Zur Wertung vgl. v.a. Horkheimer 1988. Vgl. speziell zum Nationalsozialismus Koktanek 1966. von Leers 1934, S. 6–7: „Spenglers Buch ist das heimliche Evangelium aller derer geworden, die den zweiten Teil des Namens ‚Nationalsozialismus‘ nicht aussprechen mögen […]. Der überlegte, gefeilte, raffinierte Plan zur Zerstörung alles dessen, wofür wir gekämpft haben! Es ist der Generalplan der Konterrevolution!“ Vgl. auch Spengler, Br 749 (vom 11.10.1935), Elisabeth Förster-Nietzsche an Spengler: „Es ist mir mitgeteilt worden, daß Sie sich gegenüber dem Dritten Reich und seinem Führer energisch ablehnend verhalten und Ihr Abschied vom Nietzsche-Archiv, das in herzlicher Verehrung zum Führer steht, soll damit zusammenhängen.“ Bohrmann 1984, S. 242 (Anweisung vom 5. Dezember 1933). Vgl. hierzu auch Vollnhals 2005. Spengler, JdE, S. vii–viii: „Das war kein Sieg, denn die Gegner fehlten […]. Diese Machtergreifung hat sich in einem Wirbel von Stärke und Schwäche vollzogen. Ich sehe mit Bedauern, daß sie täglich mit so viel Lärm gefeiert wird. Es wäre richtiger, wir sparten das für einen Tag wirklicher und endgültiger Erfolge auf, das heißt außenpolitischer.“ Auch sonst geht Spengler der Hitler’schen Taktik der Selbstverharmlosung und Verschleierung der Diktatur in die Falle, wenn er glaubt, den Nationalsozialisten eine aggressivere Außenpolitik empfehlen zu müssen (JdE, S. 14). Ebd., S. 3: „Die Nationalsozialisten glauben ohne und gegen die Welt fertig zu werden und ihre Luftschlösser bauen zu können, ohne eine mindestens schweigende aber sehr fühlbare Gegenwirkung von außen her.“
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Historische Einzelfragen
Deutschen zum Volk der Hetzer und Schwätzer zu werden droht.13 Doch ist die Unvereinbarkeit Spengler’scher Kulturmorphologie und nationalsozialistischer „Weltanschauung“ noch tiefer, konnten Spenglers intellektuell-elitäre Grundhaltung, sein deterministischer Kulturpessimismus, seine systematische Gleichstellung aller menschlichen Kulturen und seine Verurteilung von Antisemitismus und Rassenlehre14 bei den Nationalsozialisten nur auf massive Ablehnung stoßen. Spenglers Ziel ist es, in der Fortsetzung der weltgeschichtlichen Perspektiven des „Untergangs des Abendlandes“ und der eher innenpolitischen Fragen von „Preußentum und Sozialismus“ im ersten Teil der „Jahre der Entscheidung“ eine konzise Analyse der politischen und wirtschaftlichen Grundlagen des 19. und 20. Jahrhunderts zu liefern und Probleme wie Aussichten der 30er Jahre zu skizzieren, während der zweite Teil der künftigen Rolle Deutschlands vorbehalten sein sollte, aber in Voraussicht der Zensur nie geschrieben wurde.15 Wie die anderen Schriften Spenglers stellt auch „Jahre der Entscheidung“ kein systematisch strukturiertes Argumentationsgefüge dar, sondern besteht aus assoziativ aneinandergereihten, immer wieder von Exkursen und Beispielen unterbrochenen Überlegungen. Grundtenor ist die Feststellung, daß seit dem 19. Jahrhundert eine Schlüsselzeit der abendländischen Kulturentwicklung angebrochen sei, welche in verhältnismäßig kurzer Zeit über die Gestaltung künftiger Jahrhunderte entscheiden werde.16 Mit dieser Analyse setzt sich 13
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Ebd., S. 5: „Das Volk der Dichter und Denker, das im Begriff ist, ein Volk der Schwätzer und Hetzer zu werden.“ Ebd., S. 16: „Es gelangen Elemente zur Macht, welche den Genuß der Macht als Ergebnis betrachten und den Zustand verewigen möchten, der nur für Augenblicke tragbar ist. Richtige Gedanken werden von Fanatikern bis zur Selbstaufhebung gesteigert. Was als Anfang Großes versprach, endet in Tragödie oder Komödie.“ Ebd., S. 157: „Aber wenn hier von Rasse die Rede ist, so ist das nicht in dem Sinne gemeint, wie er heute unter Antisemiten […] Mode ist, darwinistisch, materialistisch nämlich. Rassereinheit ist ein groteskes Wort angesichts der Tatsache, daß seit Jahrtausenden alle Stämme und Arten sich gemischt haben, und daß gerade kriegerische, also gesunde, zukunftsreiche Geschlechter von jeher gern einen Fremden sich eingegliedert haben, wenn er ‚von Rasse‘ war, gleichviel zu welcher Rasse er gehörte. […].“ Zwar benutzt auch Spengler den Begriff der Rasse, faßt ihn aber im Sinne Nietzsches bzw. der Lebensphilosophie als bloßes Synonym für „Instinktstärke“, Lebensfreudigkeit und tätigem Könnensbewußtsein auf. Ebd., S. 42: „Rasse, nicht im Sinne heutigen Rasseglaubens, sondern in meinem Sinne, der die starken Instinkte meint, zu denen auch die Überlegenheit des Blickes für die Dinge der Wirklichkeit gehört […].“ Brief Anfang März 1934: „Was den zweiten Teil meines Buches anbetrifft, so habe ich noch keine Zeile davon geschrieben und es hätte augenblicklich auch keinen Sinn, da ich Bücher nicht zu dem Zwecke der Beschlagnahmung schreibe.“ (zitiert nach Felken 1988, S. 219. Spengler, JdE, S. 1: „Wir leben in einer verhängnisschweren Zeit. Die großartigste Geschichtsepoche nicht nur der faustischen Kultur Westeuropas mit ihrer ungeheuren Dynamik, sondern eben um dieser willen der gesamten Weltgeschichte ist angebrochen, größer und weit furchtbarer als die Zeiten Cäsars und Napoleons.“
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Spengler ganz bewußt von der Krisenstimmung der 20er und 30er Jahre ab, welche unter dem begrenzten Blickwinkel der Tagespolitik und der Börsennachrichten den Blick für die weltgeschichtlichen Perspektiven völlig vermissen läßt: „[…] in allen Versammlungen und Zeitungen hallt das Wort Krise wider als der Ausdruck für eine vorübergehende Störung des Behagens, mit dem man sich über die Tatsache belügt, daß es sich um eine Katastrophe von unabsehbaren Ausmaßen handelt, die normale Form, in der sich die großen Wendungen der Geschichte vollziehen. […] Die Form der Welt wird heute aus dem Grunde umgeschaffen wie damals durch das beginnende Imperium Romanum […].“ (JdE, S. 11).
Dieses Zitat zeigt deutlich die Ambivalenz des Spengler’schen Krisenbegriffs, der durch die Ausweitung auf einen schicksalhaften Prozeß letztlich seines üblichen Wortsinns entkleidet ist und zum Synonym für einen unausweichlichen Dekadenzvorgang wird, dessen Krisenhaftigkeit nicht so sehr in der Frage nach dem Ausgang dieser Entwicklung besteht, sondern vielmehr die Größe der mit diesem Vorgang verbundenen katastrophalen Begleitumstände suggerieren soll. Im folgenden sollen nun die wichtigsten Stellungnahmen Spenglers zu den Gründen und Folgen der „Weltkrise“ der europäischen Kultur systematisiert dargestellt werden, wobei bewußt versucht wird, ohne jede Wertung zunächst nur die inneren Zusammenhänge des geschichtlichen Weltbilds Spenglers aus seiner Schrift selbst herauszuarbeiten. Hierbei ist zu berücksichtigen, daß die Paraphrasierung des eigenwilligen und oft hart wirkenden Stils Spenglers keine prinzipielle Zustimmung zu dem damit transportierten Menschenbild bedeutet, doch scheint es zentral, Spenglers Stil vom sachlichen Inhalt seiner Aussagen zu trennen und nicht, wie etwa Thomas Mann im Herbst 1922,17 Mensch und Werk zu verwechseln und Spengler zu unterstellen, daß dieser innerlich „[…] die ‚Zivilisation‘ bejaht, sie mit fatalistischer Wut in seinen Willen aufnimmt, ihr gegen die Kultur eisern-höhnisch recht gibt […]. Was er verneint, indem er es prophezeit, er stellt es dar, er ist es selbst – die Zivilisation.“18
Trotz allen Unbehagens mit Spenglers Vorhersagen ist es möglich, ihn „trotzdem“ zu lesen und als Geschichtsphilosophen ernst zu nehmen:19 Trotz seines apodiktischen Stils, seiner oft elitären Allüren und seiner bewußt zur Schau gestellten Kälte steckt doch letztlich hinter all diesen Äußerlichkeiten eine Geschichtsphilosophie, welche in zutiefst humanistischem Weltbild den Menschen und seine Kultur als mikrokosmische Verkörperung eines fast pantheistischen Prozesses von Wachstum und Verblühen deutet, welche durch ihre strikt vorurteilslose Parallelisierung des Abendlandes mit den anderen 17
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Zu Thomas Manns Selbstrechtfertigung seiner Wende vom konservativen zum progressiven Lager vgl. Mann 1923. Mann 1924/1968, S. 228. Vgl. allg. hierzu Ottmann 1994; Dabezies 1979. S. Engels 2019b (= Kap. 3).
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menschlichen Kulturen im Zeitalter des Kolonialismus und der abendländischen Arroganz gezeigt hat, daß Europa den Kulturen etwa Ägyptens, des Nahen Ostens, Chinas oder Indiens durch nichts übergeordnet ist, und welche somit die Gleichheit aller Menschen und Kulturen auch historisch bewiesen hat.20
12.2.2 Die Wurzeln der „Weltkrise“ im 19. Jahrhundert Spenglers Darstellung der Krise der abendländischen Gesellschaft ist letztlich eine Analyse zweier eng miteinander zusammenhängender Umbildungsprozesse, von denen der erste eine im 20. Jahrhundert weitgehend abgeschlossene Transformation des vormodernen Staates in Gang setzte, somit aber eine hiermit eng verbundene, zweite Umformung in Bewegung bringt, welche Spengler selbst in die nahe Zukunft datiert – zwei Prozesse, welche die heute oft als krisenhaft gedeuteten Schlüsselentwicklungen der europäischen Moderne umschreiben, von Spengler aber als im Wesen der abendländischen Kultur angelegte, unausweichliche Wachstumsetappen gedeutet werden. Zwar schuf der Verlauf des Weltkriegs weder gesellschaftliche noch strategische Klarheit (JdE, S. 22) und kündigte nur die künftige Überlegenheit der peripheren Großmächte Rußlands, Japans und der Vereinigten Staaten an,21 doch haben seine Folgen in vielem die langfristige Umstrukturierung der europäischen Staatenwelt seit dem 18. Jahrhundert klar werden lassen. Während der Staat des 18. Jahrhunderts ein System zur Verwaltung eines Landes durch eine gewachsene Schicht von Blut- und Schwertadel darstellte, ergänzt durch ständische Vertreter und begabte Financiers, geleitet durch ein absolutistisches Königsgeschlecht,22 bewirkten die demokratischen Revolutionen des 19. Jahrhunderts eine Legitimationskrise des herkömmlichen Staatsbegriffs der alten Gesellschaft. Die hier entstehende Demokratie aber gilt Spengler, der aus seinen 20
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Auch Schischkoff 1965 unterstreicht (S. 62): „Denn als der eigentliche Begründer einer kulturmorphologischen Betrachtungsweise der weltgeschichtlichen Auffassung gilt tatsächlich Spengler selbst, dessen Theorie universal angelegt ist und jedem national oder umgreifend politisch bedingten Vorurteil fernbleibt.“ Spengler, JdE, S. 23: „Wer war hier Sieger, wer der Besiegte? […] War ‚Europa‘ der Besiegte? […] In Wirklichkeit ist eine neue Form der Welt entstanden als Voraussetzung künftiger Entscheidungen, die mit furchtbarer Wucht hereinbrechen werden. […] Der Rest ‚Europas‘ befindet sich zwischen Asien und Amerika – zwischen Rußland und Japan im Osten und Nordamerika und den englischen Dominions im Westen […].“ Ebd., S. 63: „Je vollkommener eine Nation die Kultur repräsentiert, zu deren vornehmsten Schöpfungen immer die Kulturvölker selbst gehören, je entschiedener sie im Stile echter Kultur geprägt und gestaltet ist, desto reicher ist ihr Wuchs gegliedert nach Stand und Rang, mit ehrfurchtgebietenden Distanzen vom wurzelhaften Bauerntum bis hinaus in die führenden Schichten der städtischen Gesellschaft. Hier bedeuten Höhe der Form, der Tradition, Zucht und Sitte, angeborene Überlegenheit der leitenden Geschlechter […] das Schicksal des Ganzen.“ Ähnl. ebd., S. 26.
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elitären Grundsätzen kein Hehl macht, keineswegs als Neuerung oder Fortschritt, sondern vielmehr nur als Abbau des herkömmlichen Staates,23 deutet Spengler das demokratische System doch weniger als Selbstregierung des Volks denn als Errichtung einer Oligarchie politischer oder wirtschaftlicher Interessensgruppen hinter der Fassade scheinbar unabhängiger Volksvertreter (JdE, S. 26, 29); eine für die Zwischenkriegsjahre und die damalige überaus kritische Beurteilung der Wiemarer Republik durch die Konservativen typische Einschätzung. Diese Entwicklung aber, welche für Spengler eine zweihundertjährige strukturelle Krisenzeit einleiten sollte, war nur möglich, weil gegen Mitte des 18. Jahrhunderts die verspielte Geistigkeit der Rokoko-Zeit den gesellschaftskritischen, von enttäuschten Aristokraten oder sozialen Aufsteigern hervorgebrachten Arbeiten etwa eines Rousseau oder Voltaire keinen wirklichen Widerstand entgegenbringen konnte (JdE, S. 66) und diese sogar als Modeerscheinung noch förderte – ein Vorgang, der für Spengler im unausweichlichen Nachlassen kultureller Gestaltungskräfte durch den Übergang von Kultur zu Zivilisation beruht. Spengler kennzeichnet diese sozialrevolutionären, gesellschaftskritischen, demokratisch und frühsozialistisch angehauchten Bewegungen, die alle für ihn Ausfluß einer selben Tendenz sind, als Auslöser der „Weißen Weltrevolution“, ein Begriff, welcher deutlich machen soll, daß die Gründe und Ziele der „roten“ Weltrevolution in Spenglers umfassender Zusammenschau selbst der gegensätzlichsten Entwicklungen nur als ein Krisensymptom unter anderen zu verstehen sind. Typisch für Spenglers Duktus ist hier seine Charakterisierung dieses Umbruchs, denn wenn er auch einerseits für Arbeiterführer wie August Bebel größte Bewunderung hegte, führt der Wunsch zur wirkungsvollen Kontrastierung ihn in den „Jahren der Entscheidung“ dazu, die „Weiße Weltrevolution“ vor allem in der schrittweisen Entmachtung der Führungsschicht des Spätabsolutismus durch die „Unzufriedenen“ und „Gemeinen“ zu deuten, denn, wie er pointiert formuliert: „Der Gegensatz von vornehm ist nicht arm, sondern gemein.“ (JdE, S. 67); eine Sichtweise, die letztlich auf Nietzsche zurückgehen mag, der den „Sklavenaufstand in der Moral“ anprangerte und im „Zarathustra“ ähnliche Visionen von der Zeit der „letzten Menschen“ heraufbeschwor, welche in ihrem Selbstbehagen den in sich selbst gefestigten, vornehmen Menschen nur mit Ressentiment begegnen.24 Anstatt einzusehen, daß es – so Spengler – von Natur aus grundverschiedene Charaktere25 wie auch „höhere und niedere“ Arbeit gebe 23
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Ebd., S. 24: „Demokratie, Parlamentarismus, Selbstregierung des Volkes […] ist tatsächlich das bloße Nichtvorhandensein einer ihrer Verantwortung bewußten Autorität, einer Regierung und damit eines wirklichen Staates. […] Eine moderne Republik ist nichts als die Ruine einer Monarchie, die sich selbst aufgegeben hat.“ Ähnl. JdE, S. 104. Nietzsche, Also sprach Zarathustra I, S. 5. Spengler, JdE, S. 66: „Die Gesellschaft beruht auf der Ungleichheit der Menschen. Das ist eine naturhafte Tatsache.“
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(JdE, S. 114) und dementsprechend die kreativen Führungskräfte den größeren Verdienst am Fortgang der Kultur und der Wirtschaft tragen, sei das alleinige Ziel der Revolutionäre die Zerstörung der herkömmlichen Gesellschaftsordnung.26 Diese verzerrte Deutung von Demokratie und Sozialismus, in der zum großen Teil auch die Angst vor den nur entstellt wahrgenommenen Ereignissen in der Sowjetunion mitschwingt, bewirkt natürlich, daß Spengler die „Weltrevolution“, die er ja als Demokratisierungs- und Liberalisierungsprozeß versteht, als ein Ereignis sieht, welches nicht erst in weiter Ferne steht, sondern sowohl wirtschaftlich-politisch27 als auch kulturell28 letztlich bereits seit fast 100 Jahren eingetroffen ist und später bei Ortega y Gasset durch das Schlagwort des „Aufstands der Massen“ analysiert werden sollte.29 Wichtigste Konsequenz dieser „Weltrevolution“, welche also, um in der Terminologie Marx und Engels’ zu sprechen, weniger auf Umstrukturierungen des Unterbaus beruht, sondern vielmehr in der psychologischen Verschiebung des politischen Weltbilds, ist für Spengler die wirtschaftliche Umformung des Staates, welcher sich von einer autarken Selbstgenügsamkeit hin zu einer komplexen und evolutionär höher einzustufenden, aber krisenträchtigen Außenabhängigkeit bewegt. Da aufgrund der zunehmenden Abhängigkeit der abendländischen Gesellschaft von Schwerindustrie und Kohleabbau der „Arbeiter“ durch Streiks ganze Imperien lahm legen kann (JdE, S. 108), erkennt dieser seine politische Kraft und wird zum „eigentlichen Bürger“,30 während die Gewerkschaften zu Schattenregierungen mutieren. Dieser Verlust des innerstaatlichen Zusammenhalts gründet hierbei, und hier liest Spengler sich 26
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Ebd., S. 69: „Die Kultur ist in ihrer Überlegenheit der Feind. Weil man ihre Schöpfungen nicht verstehen […] kann, sie nicht ‚für alle‘ da sind, müssen sie vernichtet werden. […] Man denkt nicht daran, die Masse zur Höhe echter Kultur zu erziehen; das ist anstrengend und unbequem […] Im Gegenteil: […] Die allgemeine Gleichheit soll herrschen: alles soll gleich gemein sein.“ Spengler, JdE, S. 60–61: „Die ‚Diktatur des Proletariats‘, das heißt seiner Nutznießer, der Gewerkschaften und der Parteifunktionäre aller Richtungen, ist eine vollzogene Tatsache, ob die Regierungen nun von ihnen gebildet oder infolge der Angst des ‚Bürgertums‘ von ihnen beherrscht werden.“ Ebd., S. 68: „Die Zeit selbst ist gemein geworden und die meisten wissen gar nicht, in welchem Grade sie selbst es sind. Die schlechten Manieren aller Parlamente, die allgemeine Neigung, ein nicht sehr sauberes Geschäft mitzumachen […], Jazz und Niggertänze […], die Dirnenbemalung der Frauen, die Sucht der Literaten, in Romanen und Theaterstücken die strengen Anschauungen der vornehmen Gesellschaft unter allgemeinem Beifall lächerlich zu machen, und der schlechte Geschmack bis in den hohen Adel hinein […] beweisen, daß der Pöbel tonangebend geworden ist.“ Ortega y Gasset 1930/1965. Spengler, JdE, S. 87: „Der ‚Arbeiter‘ wird der eigentliche Mensch, das eigentliche Volk, der Sinn und das Ziel der Geschichte […]. Daß alle Menschen arbeiten, daß vor allem andere mehr und wichtigere Arbeit leisten, der Erfinder, der Ingenieur, der Organisator, ist vergessen. Niemand wagt es mehr, den Rang, die Qualität einer Leistung als Maßstab ihres Wertes zu betonen.“ Ähnl. ebd., S. 95.
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wieder eher sozialistisch als konservativ, vor allem im kapitalistisch-liberalen Wirtschaftssystem, welches, wie Spengler kritisch anmerkt, den Menschen „als Zubehör zur wirtschaftlichen Lage zu betrachten und die Geschichte von den Begriffen Preis, Markt und Ware aus zu ‚erklären‘ lehrte“ (JdE, S. 208). Diese Ausbeutung des Arbeiters in einer nur teilweise demokratisierten, eher oligarchisch strukturierten Gesellschaft bewirkt notwendigerweise, daß die Gewerkschaften das Wohl des Gesamtstaates aus dem Auge verlieren. Daher sehen sie ihr einziges Ziel nur darin, der eigenen Klientel Vergünstigungen wie staatlich unterstützte Versicherungen, Arbeitszeitkürzungen und Lohnerhöhungen zu sichern, welche langfristig Produktionsrückgang und unverantwortliche Benachteiligung von Handwerk und Landwirtschaft bedeuten, die die Fehlbeiträge durch erhöhte Steuerlast ausgleichen müssen (JdE, S. 109–110) – eine Einschätzung, welche zeigt, daß der dem Kleinbürgertum entstammende Spengler die tatsächliche Situation des europäischen Proletariats zu Beginn des 20. Jahrhunderts drastisch fehleinschätzt, wenn er hierdurch auch nichtsdestotrotz das sozialpolitische Dilemma des späten 20. Jahrhunderts vorwegnimmt. Gleichzeitig aber wendet sich Spengler, der in seiner eher abschätzigemotionalen Charakterisierung des „Arbeiters“ wenigstens stilistisch eine von Ernst Jünger grundverschiedene Position einnimmt,31 in ähnlich kritischer Weise gegen den neuen Finanzkapitalismus, welcher die zweite Kraft hinter dem „demokratischen“ Staat der Gegenwart sei32 und in vielem die Kehrseite des Sozialismus darstelle (JdE, S. 101). Durch Spekulation und sinnlose Umwandlung altererbter Besitztümer in Aktiengesellschaften komme es zum Verlust von Verantwortungsbewußtsein gegenüber der eigenen nationalen Wirtschaft. Kapitalfluß und Spekulationsfieber bewirken hier urplötzlich die Vernichtung ganzer Industriebranchen und Volkswirtschaften; Monopoltendenzen drängen zudem in Krieg und internationale Auseinandersetzungen. Somit erklärt sich für Spengler auch die Wirtschaftskrise der 20er und 30er Jahre aus der vereinigten Einwirkung der Arbeiterschaft, welche als demobilisierte Soldatenschaft den Staat potentiell bedrohe und nur durch eine unverantwortliche Ausgabenpolitik
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Lübbe 1994. Spengler, JdE, S. 103: „So beginnt seit 1840 ein vernichtender Angriff auf das wirkliche, unendlich verwickelte Wirtschaftsleben der weißen Völker von zwei Seiten her: […] die Hochfinanz durchdringt es mit Hilfe der Aktie, des Kredits, der Aufsichtsräte, und macht die Führerarbeit des fachmännischen Unternehmertums, in dem sich sehr viele ehemalige Handarbeiter befinden […], von ihren Absichten und Interessen abhängig. Der eigentliche Wirtschaftsführer […] arbeitet am Gedeihen einer Fabrik, während sie im selben Augenblick durch eine Börsenspekulation, von der er nichts weiß, ruiniert wird. Und von unten zerstört die Gewerkschaft der Arbeiterführer langsam und sicher den Organismus der Wirtschaft.“ Ähnl. ebd., S. 30.
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zu kontrollieren sei,33 und den im Kriege reich gewordenen Wirtschaftsimperien und Industrietrusts, welche die durch den Weltkrieg geschwächten Staaten in Wirtschaftskonflikte zur Sicherung des eigenen Marktanteils drängen.34 Überproportionale Lohnsteigerungen und beständige Kapitalliquidität durch Umwandlung von Besitz und Aktien aber bewirken letztlich den Abfluß von Investition und Gütererwerb in billigproduzierende Länder. Der Abbau des Gesamtstaats durch seine Zersetzung in Klassenkampf und unversöhnlichen Gewerkschaftsboykott einerseits, die unverhüllten Ausbeutungstendenzen des Finanzkapitalismus andererseits nutzen daher langfristig nur außereuropäischen Staaten mit geringem Lohn und ärmlichen Lebensbedingungen; zweifelhafte „Standortvorteile“, die von noch zweifelhafteren Regierungen zur eigenen Machterhaltung aufrechterhalten werden. Während die sogenannte „Weiße Weltrevolution“ daher sowohl die staatsrechtliche Legitimationskrise wie auch die wirtschaftliche Strukturkrise der abendländischen Staaten prägt, entsteht die außenpolitische Gefahr von außen durch das, was Spengler als „Farbige Weltrevolution“ bezeichnet (JdE, S. 147). Hierbei ist zu betonen, daß das Attribut „farbig“ bei Spengler im selben Sinn wertneutral wie „weiß“ benutzt und nur zur Abgrenzung von der außereuropäischen Menschheit verwendet wird, gelten ihm doch auch Chinesen, Inder und Japaner als „Farbige“, deren prinzipielle kulturelle Gleichwertigkeit mit den Europäern er ja im „Untergang des Abendlandes“ demonstriert hat. Die Gefahr einer äußeren Bedrohung der europäischen Völker ist für Spengler seit dem Ende des Weltkriegs umso bedeutender geworden, als die Einziehung von Kolonialtruppen das Monopol der „Weißen“ auf die Verwendung militärischer Technik beseitigt35 und dadurch sowohl die innere Zerstrittenheit Europas als auch seine militärischen Schwächen offenbart hat.36 Wenn die 33
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Ebd., S. 106: „Alle Regierungen der Welt wurden seit 1916 in rasch steigendem Maße von ihnen [den Arbeiterführern] abhängig und mußten ihre Befehle vollziehen, wenn sie nicht gestürzt werden wollten.“ Ebd., S. 40: „[Mit dem Versailler Vertrag] begann, sehr gegen die Erwartung der Mächte, die den Vertrag diktiert hatten, ein neuer Wirtschaftskrieg, in dem wir uns heute befinden und der einen sehr erheblichen Teil der gegenwärtigen ‚Weltwirtschaftskrise‘ bildet. Die Machtverteilung der Welt war durch die Stärkung der Vereinigten Staaten und deren Hochfinanz und die neue Gestalt des russischen Reiches völlig verlagert, die Gegner und Methoden andere geworden.“ Spengler, JdE, S. 150–151: „Nicht Deutschland, das Abendland hat den Weltkrieg verloren, als es die Achtung der Farbigen verlor.“ Ebd., S. 147: „Man sah, daß sich vieles nachahmen ließ, daß anderes unschädlich gemacht werden konnte oder nicht die Kraft besaß, die man ihm anfangs in starrem Entsetzen zugeschrieben hat. Man schaute den Kriegen und Revolutionen innerhalb der Welt dieser Herrenvölker zu, wurde durch zwangsweise Verwendung in die Geheimnisse der Bewaffnung, Wirtschaft und Diplomatie eingeweiht. Man zweifelte endlich an der wirklichen Überlegenheit der Fremden, und sobald man fühlte, daß deren Entschlossenheit zu herrschen nachließ, begann man über einen möglichen Angriff und Sieg
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„Farbigen“ auch politisch für das Abendland bedrohlich werden können, haben sie doch bereits ihre kulturelle Entwicklung abgeschlossen (JdE, S. 46) und gelten Spengler gegenwärtig als kreativ ausgebrannt und erloschen – eine Entwicklung, die auch dem Abendland in absehbarer Zeit bevorstehe. 37
12.2.3 Die Auflösung der „Weltkrise“ in der Zukunft des 20. und 21. Jahrhunderts Während die eben geschilderte Entwicklung, welche den alten Staat durch industrialisierte Demokratien ersetzte, im 18. Jahrhundert begann und für Spengler als weitgehend abgeschlossen gilt, führt das in diesem Entwicklungsprozeß angelegte innere Krisenpotential durch die systematische Weiterentwicklung der Zyklenbewegung zu einem Umschlag in den Zivilisationsstaat der Zukunft – ein Vorgang, den Spengler als „Weltkrise“ auffaßt, ohne damit aber postulieren zu wollen, daß der Ausgang dieser Entwicklung fraglich sei. „Die ‚Weltkrise‘ dieser Jahre wird, wie schon das Wort beweist, viel zu flach, viel zu leicht und zu einfach aufgefaßt, je nach dem Standort, den Interessen, dem Horizont des Beurteilers […]. Wir sind in das Zeitalter der Weltkriege eingetreten. Es beginnt im 19. Jahrhundert und wird das gegenwärtige, wahrscheinlich auch das nächste überdauern. Es bedeutet den Übergang von der Staatenwelt des 18. Jahrhunderts zum Imperium mundi. Es entspricht den zwei furchtbaren Jahrhunderten zwischen Cannä und Aktium […].“ (JdE, S. 16)
Da der Mensch nach Spengler, der hier wie überall stark von der Lebensphilosophie des 19. Jahrhunderts beeinflußt ist, letztlich immer ein Raubtier ist, bedeutet das allmähliche Abblättern des Kulturfirnis, welchen ein Jahrtausend allmählicher Verfeinerung von Gesellschaftsstruktur, Umgangsformen und Weltempfinden geformt hat, auch das Wiederaufleben der inneren Barbarei des Menschen, welche Bernard-Henri Lévy später als „la barbarie à visage humain“ treffend analysieren sollte.38 Diese wird durch den Verlust an traditionsgebundener Hierarchie der Gesellschaft geweckt und erhält nunmehr infolge der Explosion des allmählich aufgehäuften Krisenpotentials ungeahnte Perspektiven. Wenn Spengler diese bedenkliche Entwicklung auch aufgrund seines traditionalistischen Weltbilds bedauert, betont er jedoch, daß allein diese naturhaften Kräfte der im Zivilisationsstaat erstarrten Kultur jene letzte
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nachzudenken. So war es im China des dritten Jahrhunderts v. Chr. […], in der arabischen Welt der Abbassidenzeit […], so war es vor allem in der Antike […].“ Ähnl. S. 150–151. Für Spengler befindet sich gegenwärtig nur eine einzige Kultur, nämlich die abendländische, noch im Zustand organischer Existenz, während alle anderen ihren Lebenszyklus bereits abgeschlossen haben, was freilich nicht bedeutet, daß in naher oder ferner Zukunft keine neue Kulturen entstehen werden, etwa in Rußland. Henri-Lévy 1971.
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Lebensenergie geben können, welche zur Schaffung und Wahrung eines Endimperiums wie ehemals des römischen oder ‘abbassidischen Reichs notwendig sind.39 Dieses Erwachen der Instinkte, welche bislang durch die komplizierte Formenwelt der Kultur in engen Banden gehalten worden waren, nunmehr aber durch Verlöschen kultureller Inhibitoren im scheinbar toleranten, in Wirklichkeit aber bloß wurzellosen Staat der Moderne wieder erwachen und in starken Naturen den Willen zur Macht neu anfachen, führt dann laut Spengler auch paradoxerweise zum Umbau der Staatsstruktur durch die Wiederkehr des monarchischen Caesarismus,40 da der Verlust jeglicher althergebrachter staatlicher Legitimität während der Krise des 19. Jahrhunderts nur noch das primitive Machtargument gelten läßt. Spengler allerdings versteht diesen Caesarismus – ganz im Gegensatz zur propagandistischen Theorie der 20er und 30er Jahre – als eine letztlich konservative Bewegung, die weniger durch den Zuspruch der Massen als durch die Agitation einiger weniger entsteht (JdE, S. 133 und 135). Vollendeter Typ dieser Diktatur ist für ihn sowohl Mussolini, – nach dem Vorbild Moeller van den Brucks, der das faschistische Vorbild unter dem Schlagwort „Italia docet“ auch in konservativen Kreisen populär machte41 – als auch Lenin,42 was erneut seine paradoxe politische Unparteilichkeit beweist, welche weniger die vorgeschobenen inhaltlichen als vielmehr die morphologischen Strukturen herauszuarbeiten versucht. Doch auch die faschistische Bewegung ist für Spengler keineswegs bereits Endausprägung des Caesarismus, sondern vielmehr nur eine Übergangsform,43 die von den Klassenkämpfen und dem „Nachtwächterstaat“ des 19. und 20. Jahrhunderts zu einer Renaissance absolutistischer Traditionen wie denen des alten preußischen Staates hinführt.44 Dieses Entstehen Caesaristischer Regime wird zudem durch 39
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Spengler, JdE, S. 12: „Das uralte Barbarentum, das Jahrhunderte lang unter der Formenstrenge einer hohen Kultur verborgen und gefesselt lag, wacht wieder auf, jetzt wo die Kultur vollendet ist […], jene kriegerische gesunde Freude an der eigenen Kraft […], jener ungebrochene Instinkt der Rasse […].“ Ebd., S. 14: „Der Mensch ist ein Raubtier. […] Der Kampf ist die Urtatsache des Lebens, ist das Leben selbst.“ Ebd., S. 28: „Das ist der anarchische Zwischenzustand, der heute als Demokratie bezeichnet wird und der von der Zerstörung der monarchischen Staatshoheit durch den politischen, plebejischen Rationalismus zum Cäsarismus der Zukunft hinüberführt.“ A. Moeller van den Bruck, Italia docet, Gewissen 4,37 (6.11.1922). Spengler, JdE, S. 134. Mussolini sollte übrigens die Übersetzung der JdE ins Italienische veranlassen und in einem „anonymen“ Artikel des Popolo d’Italia sich mit einer freundlichen Rezension bedanken; vgl. de Felice 1974, S. 40. Ebd., S. 134: „Der Faschismus ist ein Übergang. Er hat sich von der städtischen Masse her entwickelt, als Massenpartei mit lärmender Agitation […]. Tendenzen des Arbeitersozialismus sind ihm nicht fremd. Aber solange eine Diktatur ‚sozialen‘ Ehrgeiz hat, um des ‚Arbeiters‘ willen da zu sein behauptet, auf den Gassen wirbt und populär ist, so lange ist sie Zwischenform. Der Cäsarismus der Zukunft kämpft nur um Macht, für ein Reich und gegen jede Art von Partei.“ Ebd., S. 138: „Der preußische Stil fordert nicht nur den Vorrang der großen Politik vor der Wirtschaft, deren Disziplinierung durch einen starken Staat […]. Preußisch ist die
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das Verlöschen aller kulturellen Energien erleichtert, welches partikularistisches nationales „Ehrgefühl“ und militante Wahrung herkömmlicher Werte zunehmend schwächt. Das zur Zeit kultureller Blüte sozial reich durchgliederte Volk wird daher zu einer nivellierten Einheitsmasse, welche den kriegerischen wie schöpferischen Instinkt der individualistischen „Selbstverwirklichung“ und der Wahrung innerer und äußerer „Ruhe“ opfert, dadurch aber umso leichter zur Beute der künftigen supranationalen Großreiche wird.45 Auch die Tendenzen der Wirtschaftsentwicklung glaubt Spengler langfristig voraussagen zu können: Die in der Phase des 19. Jahrhundert begonnene Verlagerung ganzer Produktionszweige in die außereuropäischen Länder aufgrund der zunächst von den Kolonialmächten, dann aber auch von den eigenständig gewordenen Kolonialstaaten bewußt niedrig gehaltenen Löhnen bewirkt letztlich in den entwickelteren Ländern eine Strukturkrise der bisherigen Lohnvorstellungen.46 Nur noch durch einen gewissen technischen Fortschritt wußte sich die europäische Industrie zu halten, doch ist auch dieser nunmehr in Gefahr.47 Der hiermit zusammenhängende Machtrückgang der abendländischen Nationen im Kolonialbereich muß daher langfristig eine gewaltige Rezession bedeuten, gründete die Sonderentwicklung der europäischen Wirtschaft doch auf deren Industrie- und Machtmonopol.48 Auch in
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aristokratische Ordnung des Lebens nach dem Rang der Leistung. Preußisch ist vor allem der unbedingte Vorrang der Außenpolitik […] über die Politik im Innern, die lediglich die Nation für diese Aufgabe in Form zu halten hat […].“ Spengler, JdE, S. 163: „Das Bedürfnis nach fellachenhafter Ruhe, nach Versicherung gegen alles, was den Trott der Tage stört, gegen das Schicksal in jeder Gestalt, scheint das zu wollen: eine Art Mimikry gegenüber der Weltgeschichte, das Sichtotstellen menschlicher Insekten angesichts der Gefahr, das happy end eines inhaltsleeren Daseins, durch dessen Langeweile Jazzmusik und Niggertänze den Totenmarsch einer großen Kultur zelebrieren.“ Ebd., S. 121–122: „Hier aber trat die Lebenshaltung der Farbigen in Konkurrenz mit den Luxuslöhnen der weißen Arbeiterschaft. […] Die japanische Industrie schlägt mit ihren billigen Löhnen überall in Süd- und Ostasien die weiße Konkurrenz aus dem Felde und meldet sich schon auf dem europäischen und amerikanischen Markt. […] Darüber hinaus aber hat sich die Industrie von der Bindung an die Kohle weitgehend befreit, durch Wasserkraft, Erdöl und elektrische Kraftübertragung. Sie kann wandern und tut es, und zwar überall fort aus dem Bereich der weißen Gewerkschaftsdiktaturen zu Ländern mit niedrigen Löhnen. Die Zerstreuung der abendländischen Industrie ist seit 1900 in vollem Gang.“ Ebd., S. 125: „Die Industrie flüchtet zu den Farbigen, und in den weißen Ländern machen sich nur noch die Handarbeit sparenden Erfindungen und Methoden bezahlt, weil sie den Druck der Löhne mildern. Seit Jahrzehnten war die Steigerung der Produktion bei der gleichen Arbeiterzahl durch technische Verfeinerung das letzte Mittel gewesen, diesen Druck zu ertragen.“ Ebd., S. 120; MuT, S. 86–87: „Heute sind allenthalben […] Industriegebiete entstanden […], die infolge ihrer niedrigen Löhne eine tödliche Konkurrenz darstellen. Die unersetzlichen Vorrechte der weißen Völker sind verschwendet, verschleudert, verraten worden. Die Gegner haben ihre Vorbilder erreicht, vielleicht [...] übertroffen. Das Schwergewicht der
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diesem Bereich wird laut Spengler der Caesarismus eine Veränderung der Lebensbedingungen hervorrufen, könne doch ohne eine dezidierte Außen- und Innenpolitik keine gesunde Wirtschaftsform aufgebaut werden (JdE, S. 68). Und wenn auch in der Übergangszeit der Nachkriegsphase und dem Zusammenbruch der herkömmlichen Ordnung Wirtschaftskrisen glauben machen, daß der Staat im Zeitalter des internationalen Kapitalismus machtlos bzw. zum bloßen Diener der eigenen Volkswirtschaft geworden ist, sind es in Zeiten der Unordnung doch letztlich die konkreten staatlichen Machtmittel, welche für den Erfolg der eigenen Interessen entscheidend sind49 und gerade durch diese Überlegenheit die Wirtschaft erneut dem Staat unterordnen werden (JdE, S. 41) – eine Grundaussage, deren Validität ja auch durch die amerikanische Wirtschaftspolitik der 30er Jahre und die Lehren Keynes verifiziert werden konnte. Aufgrund dieser neuen Form der Nationalökonomie wird auch der Klassengegensatz zunehmend schwinden und vielmehr eine neue Hierarchie nach Leistung für den Gesamtstaat entstehen;50 eine innere Gliederung, welche Spengler bereits in seiner Schrift „Preußentum und Sozialismus“ detailliert beschrieben hatte,51 in welcher das Ende der sozialen Frage bzw. des allgemeinen Interesses für Klassenprobleme angekündigt wird. Diese Entwicklung werde dann laut Spengler auch den Kommunismus zu einem hinfälligen System machen, nicht etwa aus Mangel an sozialem Gefälle, sondern aufgrund der Umformung des Proletariats der kapitalistischen wie der kommunistischen Welt in eine Masse von Beamten des tertiären Sektors. Diese neue innenpolitische Ordnung, welche mit einer staatlichen Kontrolle der Wirtschaft gekoppelt ist, muß laut Spengler automatisch zu außenpolitischen Expansionstendenzen führen. Der morphologische Vergleich mit den parallelen Entwicklungen des Römischen Reichs, dem China der Qin und der
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Produktion verlagert sich unaufhaltsam […]. Das ist der letzte Grund der Arbeitslosigkeit in den weißen Ländern, die keine Krise ist, sondern der Beginn einer Katastrophe.“ Ebd., S. 41: „[…] hier werden, wenn alle anderen Mittel erschöpft sind, doch wieder die ältesten und ursprünglichsten, die militärischen, in ihre Rechte treten: die stärker gerüstete Macht wird die schwächere zwingen, ihre Wirtschaftsdefensive aufzugeben, zu kapitulieren, zu verschwinden. Die Kanonen sind letzten Endes doch stärker als die Kohle.“ Spengler, JdE, S. 141: „Die vom Klassenkampf herausgearbeiteten Gegensätze werden wieder zu bleibenden Unterschieden von hoch und niedrig, und man gibt sich damit zufrieden. Es ist die Resignation der römischen Kaiserzeit, in der es keine wirtschaftlichen Probleme dieser Art mehr gab.“ Spengler, PuS, S. 97–98: „Soll in Zukunft der Handel den Staat oder der Staat den Handel regieren? Ihr gegenüber sind Preußentum oder Sozialismus dasselbe. […] Die Vereinigung bedeutet die Erfüllung des Hohenzollergedankens und zugleich die Erlösung der Arbeiterschaft. […] Es gibt für den Staat nur Demokratisierung oder nichts. Es gibt für die Konservativen nur bewußten Sozialismus oder Vernichtung. […] Der Sinn des Sozialismus ist, daß nicht der Gegensatz von reich und arm, sondern der Rang, den Leistung und Fähigkeit geben, das Leben beherrscht. Das ist unsere Freiheit, Freiheit von der wirtschaftlichen Willkür des einzelnen.“
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Han, dem Neuen Reich Ägyptens usw. legt nahe, daß auch im Abendland Frieden und Stabilität langfristig nur durch die Schaffung eines übernationalen Imperiums mit ausgreifendem direkten oder indirekten Kolonialbesitz möglich sein werden,52 welches als ein die wichtigsten traditionellen Kulturgebiete umfassendes Weltreich in zunehmend versteinerter Form die Kontinuität der geschwächten und erstarrten Zivilisation zu schützen suchen wird. Hier muß letztlich, wenn zur Zeit auch nur periphere Staaten die Großmachtdefinition erfüllen, eine europäische Macht neuer Kristallisationspunkt werden.53 Die Ausbildung dieses „Endreichs“ allerdings wird für Spengler nicht nur durch entscheidende innerabendländische Kriege gekennzeichnet sein,54 sondern auch durch strukturelle Mutationen. Während die Krise der Umformung des alten Staates in die moderne industrialisierte Gesellschaft von einem gewaltigen Bevölkerungswachstum und einem Anwachsen medizinischer Kenntnisse begleitet wurde, so bewirkt die erst sekundär hierauf folgende psychologische Umformung des Familienbilds und der übersteigerte Individualismus wie auch die rücksichtslose „Selbstverwirklichung“ der Moderne55 eine für alle Spätkulturen typische sinkende Geburtenrate und damit ein nie ganz zu beseitigendes Mißverhältnis zwischen jung und alt (JdE, S. 160).
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Spengler, JdE, S. 17: „Der Imperialismus ist eine Idee, ob sie nun den Trägern und Vollstreckern zum Bewußtsein kommt oder nicht. Sie wird in unserem Falle vielleicht nie volle Wirklichkeit werden, vielleicht von anderen Ideen durchkreuzt werden, die außerhalb der Welt der weißen Völker Leben gewinnen, aber sie liegt als Tendenz einer großen geschichtlichen Form in allem, was jetzt vor sich geht.“ Ebd., S. 42: „Es scheint, daß Westeuropa seine maßgebende Bedeutung verloren hat, aber von der Politik abgesehen scheint es nur so. Die Idee der faustischen Kultur ist hier erwachsen. Hier hat sie ihre Wurzeln und hier wird sie den letzten Sieg ihrer Geschichte erfechten oder rasch dahinsterben. […] Aber einstweilen ist die Macht in die Randgebiete verlegt, nach Asien und Amerika.“ Wenn Spengler auch die Bedeutung der Vereinigten Staaten erkennt, glaubt er doch, daß es diesen an kultureller Kraft fehle, ein großes Imperium über Generationen hinweg mit innerer Kraft auszufüllen. Zum Zerfall des britischen Empire und dem Anschluß Kanadas und Australiens an die Vereinigten Staaten vgl. ebd., S. 52–54; zum Zerfall der Sowjetunion S. 43–44 und 75. Zur kulturellen Zugehörigkeit Rußlands vgl. S. 73; aber auch Br, S. 41 und 44–45 (Juli 1915) und UdA, S. 788–794. Hierzu Ulmen 1980. Noch kurz vor seinem Tod sollte Spengler die Rundfrage „Ist Weltfriede möglich?“ in einem Antworttelegramm dezidiert verneinen; vgl. RuA, S. 292–293. Spengler, JdE, S. 159: „Aber der Verfall der weißen Familie, der unentrinnbare Ausdruck großstädtischen Daseins, greift heute um sich und verzehrt die ‚Rasse‘ der Nationen. Der Sinn von Mann und Weib geht verloren, der Wille zur Dauer. Man lebt nur noch für sich selbst, nicht für die Zukunft von Geschlechtern. Die Nation als Gesellschaft […] droht sich von der Stadt her in eine Summe privater Atome aufzulösen, deren jedes aus seinem und dem fremden Leben die größtmögliche Menge von Vergnügen – panem et circenses – ziehen will.“ Spenglers diesbezügliche Überlegungen sollten u.a. R. Korherr und seine Studie „Geburtenrückgang“ stark beeinflussen, welche 1928 in Rom als „Regresso delle nascita: morte dei popoli“ mit Geleitworten Oswald Spenglers und Mussolinis (in der
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Falls diese und andere Krisen der Zukunft die meisten Staaten nicht so sehr schwächen, daß ein Caesaristischer Imperialismus überhaupt unmöglich wird (JdE, S. 141), vermutet Spengler die Hauptgefahr der Zukunft im Aufbegehren der unterdrückten Kolonialvölker (JdE, S. 147), welche einen vorübergehenden Rückzug der abendländischen Mächte aus den eroberten Erdteilen bewirken und die Entstehung „farbiger“ Weltmächte wie etwa Japan provozieren könnte, die sich nach dem Vorbild des Abendlandes organisieren.56 Hierbei mag der Verlust an kriegerischer Gesinnung der großen Massen, welcher nur zum Teil durch die Dynamik des Caesaristischen Regimes und die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung eines Militärregimes ausgeglichen werden kann, die geschwächte, zunehmend pazifistische abendländische Zivilisation leicht zur Beute der Aggression dieser „farbigen“ Völker werden lassen, welche sich für die Demütigungen der Kolonialzeit rächen wollen, dank des Erdöls ein wichtiges Druckmittel auf die Weltpolitik der Zukunft haben (JdE, S. 35) und die Technik des Abendlands gegen dieses selber richten werden.57 Diese düstere Zukunftsprophezeiung der abendländischen Kultur ist dann vor allem in „Der Mensch und die Technik“ prophetisch angekündigt, wo Spengler beschreibt – übrigens zeitgleich und inhaltlich weitgehend übereinstimmend mit Lewis Mumfords „Technics and Civilizations“ (1934) und Ortega y Gassets 1933 gehaltenen Vorlesungen „Meditacion de la technica“ (veröff. 1939) –, daß der technische Fortschritt als letzte Äußerung abendländischer Kulturentwicklung schon bald aufgrund des inneren Verfalls gebremst und durch den Verlust von Bildung und die unübersehbare Verästelung der einzelnen Disziplinen ausgehöhlt werden wird. Technische Handlungen werden dann zum quasireligiösen Vollzug nicht mehr verstandener Rituale, da die extreme Diversifizierung der verschiedenen Wissenschaftsbereiche zur Abnahme des Verständnisses für das Gesamtsystem führt, welches dann durch den schrittweisen Verlust einzelner Teilbereiche untergeht.58
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deutschen 4. Auflage auch Himmlers) erscheinen sollte; vgl. Vollnhals 1984, S. 277. Zu Korherr s. Engels 2013a (= Kap. 13). Vgl. Spengler, JdE, S. 46–47, wo der Verlauf des Zweiten Weltkriegs im Pazifik vorweggenommen wird. Ebd., S. 163–164: „Der Farbige durchschaut den Weißen, wenn er von ‚Menschheit‘ und ewigem Frieden redet. Er wittert die Unfähigkeit und den fehlenden Willen, sich zu verteidigen. […] Die Farbigen sind nicht Pazifisten. Sie hängen nicht an einem Leben, dessen Länge sein einziger wert ist. Sie nehmen das Schwert auf, wenn wir es niederlegen. Sie haben den Weißen einst gefürchtet, sie verachten ihn nun.“ Zu Spenglers Technikbegriff vgl. auch Merlio 1980. Spengler, MuT, S. 80–82: „Aber wie lange wird er [der technische Gedanke] auf der Höhe sein? […] Das faustische Denken beginnt der Technik satt zu werden. […] Man wendet sich zu einfacheren, naturnäheren Lebensformen, man treibt Sport statt technischer Versuche, man haßt die großen Städte, man möchte aus dem Zwang seelenloser Tätigkeiten, aus der Sklaverei der Maschine, aus der klaren und kalten Atmosphäre technischer Organisation heraus. Gerade die starken und schöpferischen Begabungen
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Schluß
Wie bereits gesagt wurde, kann man – und muß man – vielen Äußerungen Spenglers kritisch und ablehnend gegenüberstehen. Die regelmäßig durchklingende Menschenverachtung, hinter der sich, ähnlich Nietzsche, eine verletzliche und daher umso selbstbewußter auftrumpfende Sensibilität verbirgt, die oft großspurige Prophetie, welche sich, wie zahlreiche briefliche Äußerungen beweisen, im tagespolitischen Bereich oft eklatant verkalkulierte, das pathetische Einrennen mancher offenen Tür – all dies nötigt selbstverständlich zu Kritik und Ablehnung. Nun sagt aber die stilistische Analyse und die subjektive Einschätzung der fatalistischen Grundhaltung Spenglers noch nichts über die wissenschaftliche Bedeutung der hier vorgetragenen Thesen aus, denn, „liest [man] Spengler gleichsam gegen den Strich, indem man ihn aus dem soziopolitischen Zusammenhang seiner Zeit herauslöst […], erscheint es [das Zeitbedingte] als unerwünschter Ballast, der letztlich nichts an der Tiefe und Tragweite von Spenglers An-, Ein- und Aussichten ändert.“59
Was nun die spezifische Problematik der „Krise“ bei Spengler angeht, welche als Struktur- und Wertekrise des 19. und 20. Jahrhunderts gerade in den „Jahren der Entscheidung“ im Mittelpunkt der Untersuchung steht, so sind, wie unsere Analyse faßbar machte, prinzipiell zwei Ebenen zu trennen, die im folgenden Zitat, welches die Quintessenz der „Jahre der Entscheidung“ enthält, besonders deutlich werden: „Hier vielleicht schon in diesem Jahrhundert, warten die letzten Entscheidungen auf ihren Mann. Vor ihnen sinken die letzten Ziele und Begriffe heutiger Politik in nichts zusammen. Wessen Schwert hier den Sieg erficht, der wird der Herr der Welt sein. Da liegen die Würfel des ungeheuren Spiels. Wer wagt es sie zu werfen?“ (JdE, S. 165)
Allein in diesen wenigen Sätzen wird die innere Dichotomie des Spengler’schen Krisenbegriffs exemplarisch faßbar: Zwar ist einerseits ein gewisser politischer, geistiger und künstlerischer Entwicklungsspielraum innerhalb der Geschichte einer jeder Kultur möglich, der von individuellen Entscheidungen geprägt und abhängig ist und daher auch Krisensituationen ermöglicht, die aus einer Gefährdung herkömmlicher Handlungsmuster entstehen und zum Zweifel an der Legitimation grundlegender Werte führen. Doch vollziehen sich diese
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wenden sich von praktischen Problemen und Wissenschaften ab und der reinen Spekulation zu. Okkultismus und Spiritismus […] tauchen wieder auf. Es ist die Stimmung Roms zur Zeit des Augustus. […] Die Flucht der geborenen Führer vor der Maschine beginnt.“ Man erinnere sich auch an die ganz ähnlichen Feststellungen bei Ortega y Gasset 1930/1965, S. 142: „Der Führung in der Gesellschaft hat sich ein Menschentypus bemächtigt, den die Prinzipien der Kultur kalt lassen.“ Merlio 1994, S. 115.
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traditionellen Krisen für Spengler andererseits in einem vorgegebenen kulturellen Rahmen, dessen Gesamtentwicklung durch das biologistische Muster deterministisch vorherbestimmt ist60 – eine Einstellung, welche im Zitat der Seneca-Maxime fata ducunt volentem, nolentem trahunt seinen prägnantesten Ausdruck findet,61 wobei der Rückbezug gerade auf Seneca in höchstem Maße symptomatisch ist, ist der Philosoph und Politiker doch als einer der Hauptvertreter des römischen Lebensaltervergleichs bekannt. Während dieser individuelle Handlungsspielraum zum einen „begrenzte“ Krisen und kurzfristige Lösungen hervorbringt, deren Darstellung aber weniger in „Jahre der Entscheidung“ als vielmehr in „Untergang des Abendlandes“ und in den nachgelassenen Schriften zu finden ist, besteht bei Spengler zum anderen auch offensichtlich ein umfassender Krisenterminus, der als Oberbegriff für die Entwicklung einer ganzen Phase im Verlauf der einzelnen Kulturen steht, daher aber nur schwer mit den bislang herausgearbeiteten Krisendefinitionen in Übereinstimmung zu bringen ist. Während nämlich die Entwicklung der ersten Jahrhunderte der Lebenszeit einer jeden Kultur durch eine Vielzahl von Staaten, Konfessionen, Gesellschaftsschichten und Philosophien charakterisiert ist, welche gerade Reichtum und Besonderheit jedes kulturellen Organismus ausmachen, bringt die zivilisatorische Endphase der Entwicklung mit der Erschlaffung von Instinkt und Kreativität eine unausweichliche Umformung des Staates. Der Übergang zu dieser Endphase kann aber nur als „Krise ohne Alternative“ bezeichnet werden (eigentlich eine contradictio in adiecto), da weder ihre Entstehung noch ihre Lösung im alleinigen rationalen Ermessen der Menschen liegt, sondern in allen wesentlichen Zügen durch den Determinismus der Kulturentwicklung vorherbestimmt ist. Insoweit ist, wie gezeigt wurde, die Verwendung des Terminus „Krise“ oder „Weltkrise“ (JdE, S. 16), über dessen Validität und Definition Spengler übrigens an keiner Stelle der „Jahre der Entscheidung“ reflektiert, mißverständlich und letztlich systemwidrig. Sucht man nach einer Erklärung dieses inneren Widerspruchs, so läßt sich Spenglers Verwendung des Wortes „Krise“, dessen per Definition systemhaft begrenzte Bedeutung ja durch die Ausweitung zu „Weltkrise“ fast negiert wird, zum Teil dadurch verstehen, daß der Geschichtsphilosoph hier unbewußt weniger seine eigene geschichtsphilosophische Interpretation bedenkt als vielmehr das
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Spengler, JdE, S. 4: „Nur die allgemeine Form künftiger Tatsachen und deren Schritt durch die Zeiten läßt sich aus dem Vergleich mit anderen Kulturen erschließen.“ Spengler, UdA, S. 1195. Das Zitat stammt aus Sen., ep. ad Luc. 107. Vgl. ähnl. auch die entsprechenden Passagen der Urfragen, S. 184–214 (VII. Instinkt, Trieb, Wille), bes. S. 203 (Aph, S. VII 45): „ ist Schicksal. : Wir , was das Schicksal will; geistig, theoretisch bestreiten wir das. Aber der Lebensstrom siegt.“
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Verständnis seiner Zeitgenossen aufgreift. Diese sahen in den als Dekadenzanzeichen62 aufgefaßten kulturellen Paradigmenwechseln des 19. und 20. Jahrhunderts je nach politischer Einstellung Gründe, Symptome oder Folgen einer Krisenzeit, deren Lösung von der Gesamtheit der individuellen wie gesellschaftlichen Entscheidungen abhänge. Auch die von Spengler erwarteten katastrophalen politischen Ereignisse der Zukunft, welche im Abendland ähnliche Wirren, Kriege und Krisen wie in der Antike in der Zeit zwischen Cannae und Actium hervorrufen werden, mögen dazu beigetragen haben, daß er diese gesamte Zeit mit dem Begriff der „Krise“ apostrophiert, obwohl ihr Ausgang – das Ende der Kultur und die Erstarrung im Zivilisationsimperium – klar vorherbestimmt ist. Ähnlich stand ja auch, um im Rahmen der Spengler’schen Morphologie zu bleiben, im spätrepublikanischen Rom nicht mehr die Alleinherrschaft als künftige Regierungsform, sondern nur noch ihre persönliche Ausprägung durch den künftigen Herrscher zur Frage,63 wie ja auch Eduard Meyer suggerierte, dessen positive Aufnahme des „Untergang des Abendlandes“ und dessen reger Briefwechsel mit Spengler nicht zufällig sind.64 Somit befindet sich das Abendland trotz der Unausweichlichkeit seiner Zukunft laut Spengler „zwischen den Zeiten“ (JdE, S. 17). Einerseits nämlich wurde für ihn die Zeit kultureller Blüte durch die Ablösung der alten Monarchien durch den modernen industrialisieren, demokratischen Staat beendet, welcher die komplexe Gesellschaft des „ancien régime“ durch den zunehmend nivellierten Dienstleistungsstaat der Gegenwart ablöste. Andererseits aber steht für Spengler der Beginn einer Endzeit kurz bevor, welche sich in jeder Hinsicht durch Vereinfachung und Primitivität kennzeichnen wird und somit zwar Anklänge an die Anfangszeit der Kultur, doch kein Potential weiterer Entfaltung besitzt. Erst hier, in einer Zeit, in welcher letztlich jede künstlerische Entwicklung aufgehört hat, kann es paradoxerweise zur Lösung des Individuums von seinem kulturbestimmten Geschick kommen, wobei die Wahlfreiheit des Menschen in der Politik durch die evolutionäre Belanglosigkeit seiner Entscheidung gekennzeichnet und gleichzeitig negiert ist – ein nur scheinbarer Widerspruch, ist es doch ein Topos der Kunstpsychologie des 19. und 20. Jahrhunderts, daß große Kunst nur in gesellschaftlicher Beengung denkbar 62
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Eine erneute Diskussion dieser in der zivilisationskritischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts schon bald klassisch zu nennenden Dekadenzsymptome würde hier zu weit führen, berühren sie doch jeden Aspekt des kulturellen Lebens wie Werteverlust, innenpolitische Nivellierung, Imperialismus und Pazifismus, kulturelle Überfremdung, künstlerische Sterilität, Bevölkerungsschwund, übersteigerten Individualismus, Vereinsamung, Mediendiktatur, Bürgerkriege, Wirtschaftskrisen, usw. So erklärt sich auch die Formulierung „Würfel der Welt“ als deutliche Anspielung auf Caesars Ausspruch am Rubicon (Lucan. 1,185–205; Suet., Iul. 32,1). Hierzu vgl. Ottmer 1979; Narducci 1980; Lambrecht 1984, S. 58ff. Meyer 19223. Zu Meyer und Spengler vgl. seine Rezension des „Untergangs“ 1925 und den Briefwechsel mit Spengler.
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ist, dessen schrittweise Auflösung gleichzeitig die psychologische Motivation echten Kunstschaffens vernichtet, so daß echte künstlerische Größe nur in „Fesseln“ möglich ist.65 In dieser Phase der postmodernen Zivilisation, in der einige machtvolle Individuen selbständig das Geschick von Millionen prägen können, beeinflussen daher laut Spengler erstmals individuelle, punktuelle Krisen und ihre jeweilige Auflösung den Gang der Weltgeschichte, entscheiden doch einige wenige Faktoren über die endgültige Gestaltung ganzer Jahrhunderte,66 da sowohl die Vereinheitlichung wie auch der Charakterverlust der Kultur es mit sich bringen, daß die Herrschaft durch wenige Einzelne, Menschen wie Ideen, ausgeübt und nachhaltig geprägt wird, wobei ihre Entscheidung aber letztlich der Essenz der alten Kultur bis auf einen späten Klassizismus keine Zutat hinzufügen kann. Spenglers Kulturtheorie läßt sich also mit dem Instrumentarium einer klassischen Krisendefinition nicht vollständig fassen, da der Entwicklungsdeterminismus keine stabile systemische Ausgangssituation anerkennen kann, welche durch einen Krisenprozeß verändert und von dieser in mehrere mögliche Folgezustände überführt wird. Die Unausweichlichkeit des biologistischen Schemas, welches als historisches Erklärungsmodell absolute Gültigkeit für jede (scheinbare) Krisensituation beansprucht, negiert per se die Deutung einer historischen Zeitspanne als Abfolge von Krisenprozessen, da jede Entwicklung durch die morphologische Parallelität von Gesellschaft und Natur vorherbestimmt ist. Genauso wenig aber wie das Blühen oder Welken einer Blume richtiggehend eine „Krise“ darstellt, da Gründe, Vollzug und Folge des Blütebzw. Welkeprozesses in der Natur der Blume angelegt und vorhersagbar sind, genauso wenig kann auch im Rahmen menschlicher Gesellschaft eine dem herkömmlichen Verständnis entsprechende „Krise“ entstehen, da Struktur, Handlungsmuster und Legitimation jeder Gesellschaft einem unentrinnbaren inneren Gesetz unterworfen sind, welches nach Spengler nur vereinzelte Abweichungen vom vorgegebenen Grundmuster, nicht aber völlige Evolutionsfreiheit erlaubt. Erst wenn die beendete Kultur als Zivilisation sich von einem organischen Wesen zu einem erstarrten Körper wandelt, wird das Muster des Lebens zwangsweise durchbrochen, und der Zerfall der Form unterliegt dem 65
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Vgl. hierzu bereits Hegel 1971 (Vorlesungen über die Ästhetik, Hegel-Jubiläumsausgabe Bd. XII), S. 150–151: „Bei fortgehender Bildung tritt überhaupt bei jedem Volk eine Zeit ein, in welcher die Kunst über sich selbst hinaus weist. […] In dieser Weise besteht das Nach der Kunst darin, daß dem Geist das Bedürfniß einwohnt, sich nur in seinem eigenen Innern als der wahren Form für die Wahrheit zu befriedigen.“ Ähnlich funktioniert ja auch Sartres Freiheitsbegriff; der durch die Dialektik von Wahlfreiheit und Zwang bedingt ist. Spengler, JdE, S. vii: „Größe und Glück sind zweierlei, und die Wahl steht uns nicht offen. Glücklich wird niemand sein, der heute irgendwo in der Welt lebt; aber es ist vielen möglich, die Bahn ihrer Jahre nach persönlichem Willen in Größe oder in Kleinheit zu durchschreiten.“
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Spiel der zusammenhanglosen Einzelglieder. Hier mag es dann zu Krisen kommen, doch sind diese – wenigstens für den Kulturmorphologen – belanglos, da sie dem Raum des Anorganischen zugehören. Die pessimistische Deutung der strukturellen und legitimationsbezogenen krisenhaften Aspekte des 19. und 20. Jahrhunderts als bloßer Symptome eines langfristig angelegten, unausweichlichen kulturellen Niedergangs durch Oswald Spengler hat in der Nachkriegszeit und im Kalten Krieg begreiflicherweise nur wenig Beachtung gefunden,67 während er selbst, der wie kein zweiter die Gleichwertigkeit und evolutionäre Gleichberechtigung aller Kulturen demonstriert hat und durch seine Kritik am Nationalsozialismus mit Schreibverbot belegt wurde, paradoxerweise als einer der Wegbereiter des deutschen Zusammenbruchs diffamiert worden ist.68 Wenn dieses Urteil leider auch durch den oft imperatorisch auftrumpfenden Grundton seines Werks in gewisser Weise verständlich ist, so zeigt doch im Gegensatz etwa zu Georg Lukács beißender Kritik69 Adornos Wertschätzung, daß Spenglers Werk auch bei ideologisch „unverdächtigen“ Denkern ohne polemische Vermengung seiner Geschichtsmorphologie mit faschistischen Theorien gelesen werden konnte und die Reduzierung seiner philosophischen Aussagen auf das strukturell Wesentliche auch heute noch Aktualität besitzt: „Spengler hat kaum einen Gegner gefunden, der sich ihm gewachsen gezeigt hätte: das Vergessen wirkt als Ausflucht.“70 Und in der Tat: Läßt man sich auf die Grundargumentation des parallelen Wachstums und Vergehens der Kulturen ein, anstatt stilistische Stolpersteine auszumachen oder punktuelle Fehler herauszusuchen, überprüft man die Grundübereinstimmungen in der Entwicklung der einzelnen Kulturen,71 und vergleicht man die Spengler’schen Voraussagen mit der Realität des anhebenden 21. Jahrhunderts, so kommt man nicht umhin, der kulturmorphologischen Einfühlungsgabe des Geschichtsphilosophen und seinen aus entwicklungsgeschichtlichem Vergleich erschlossenen Prophezeiungen eine gewisse Achtung zu zollen, die Möglichkeit einer Fundiertheit des zugrundeliegenden Modells anzuerkennen,72 welches bislang, um im Wortschatz Poppers zu sprechen, nicht falsifiziert worden ist,73 und sich vielleicht dem Urteil Adornos anzuschließen, für den Spengler 67
68 69 70 71 72
73
Zu neueren Einzeluntersuchungen neben den bereits erwähnten Werken vgl.: Bense 1938, S. 157ff.; Müller 1963; Frigg 1968; Murjahn 1968; Meyer 1976; Koopmann 1980; Parent 1981; Bouveresse 1983; Kaiserreiner 1994. Vgl. von Martin 1948; Struve 1973; Petzold 1978; Kroll 1998. Repräsentativ Lukács 1946. Adorno 1955. Vgl. hierzu auch Anderle 1968. Vgl. zu ähnlichen geschichtsphilosophischen Überlegungen der neueren Zeit Fukuyama 1992/2006; Thurow 1992; Huntington 1996; Mazower 1998; Hardt/Negri 2000; Hertz 2001; Cohen 2001; Emmott 2003; Susbielle 2006. Popper 19352.
246
Historische Einzelfragen „schlagender als fast jeder andere [...] demonstriert [hat], wie die Naturwüchsigkeit der Kultur stets wieder zum Untergang treibt, und wie Kultur selber als Form und Ordnung verschworen ist der blinden Herrschaft, die in permanenter Krise sich und ihren Opfern gleichermaßen das Schicksal bereitet.“74
74
Adorno 1955. Vgl. ähnl. auch Adorno 1998.
SPENGLERS REZEPTION
13
André Fauconnet und Oswald Spengler*
13.1
Einleitung
Die Feststellung mag auf den ersten Blick selbstverständlich scheinen, sollte aber im Mittelpunkt jeder Untersuchung des Widerhalls stehen, welchen das Geschichtsdenken Oswald Spenglers in den Jahren unmittelbar nach dem Erscheinen des „Untergangs des Abendlandes“ außerhalb des deutschen Sprachgebiets hervorgerufen hat: Die Aufnahme des Spengler’schen Hauptwerks war in hohem Grade von der Verfügbarkeit und Güte einer Übersetzung in die jeweilige Volkssprache abhängig. Freilich gilt es, hier zunächst darauf hinzuweisen, daß eine rege Auseinandersetzung mit der geschichtsmorphologischen Grundannahme durchaus auch auf der Grundlage von Angaben möglich war, welche lediglich aus zweiter Hand stammten, wobei an Zeitungsbesprechungen, wissenschaftliche Abhandlungen, Hörensagen, Zusammenfassungen und ähnliches zu denken ist, wie etwa im angelsächsischen Raum gut belegt werden kann, wo ein Schriftsteller wie Scott Fitzgerald offensichtlich bereits vor dem Erscheinen einer englischen Übersetzung mit den Grundgedanken Spenglers vertraut gewesen zu sein schien, oder wo der Erzähler Henry Miller von einem deutschsprachigen Freund eine unbedingte Leseempfehlung mitsamt kurzer Zusammenfassung erhielt. Nichtsdestoweniger konnte natürlich nur das unmittelbare Lesen einer Übersetzung denjenigen,1 die des Deutschen nicht mächtig waren, einen Eindruck von der Vielschichtigkeit der im „Untergang“ getroffenen Feststellungen und Vorhersagen und vor allem der Dichte und Eindringlichkeit der Spengler’schen Sprache vermitteln, umso mehr, als die überaus dichte Sprache Spenglers wie auch der alles andere als unmittelbar durchsichtige Aufbau seines Werkes hohe Anforderungen an die Geduld wie auch das Einfühlungsvermögen eines Lesers stellen mußten, der das Deutsche nur bedingt beherrscht. Beachtet man diesen Hintergrund, so nimmt der französische Sprachraum eine Sonderstellung im europäischen Bereich ein, welche wohl auch geeignet ist, einige Eigentümlichkeiten der Aufnahme Spenglers zu erklären. Während nämlich die erste spanische Übersetzung schon seit 1923 verlegt wurde,2 der * 1 2
Ganz besonderer Dank gilt an dieser Stelle Herrn Pierre Francé, dem Enkelsohn André Fauconnets, der dem Verfasser zahlreiche unveröffentlichte Dokumente aus dem Familienarchiv seines Großvaters zur Verfügung stellte. Vgl. hierzu Engels 2012. La decadencia de Occidente. Bosquejo de una morfología de la historia universal, 4 Bände, übers. von Manuel García Morente, Madrid, Espasa Calpe 1923–1927.
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Spenglers Rezeption
dann im selben Jahr die erste russische3 folgen sollte und drei Jahre später, 1926, die erste englische Übersetzung,4 erschien die erste französische Übertragung, die übrigens von dem aus der Kabylei stammenden Germanisten Mohand Tazerout angefertigt wurde, erst zwischen den Jahren 1931 und 1933 bei Gallimard, und dies zudem in einer auf nur 1000 Stück beschränkten Auflage, der erst 1948 eine bis heute fortgesetzte Massenauflage folgen sollte.5 Dies brachte mit sich, daß also gerade im Lauf des ersten Jahrzehnts nach Erscheinen des „Untergangs“, als der Streit um das Spengler’sche Werk wohl am heftigsten tobte und noch unbefangen war von der später sich vollziehenden und weitgehend in der sprachlichen Gestaltung wurzelnden, inhaltlich aber völlig falschen Zusammenschau mit der nationalsozialistischen Weltanschauung, keine französische Übersetzung des Hauptwerks zur Verfügung stand, welches dementsprechend nur jenen zugänglich war, welche des Deutschen mächtig waren beziehungsweise sich einer der anderen Übertragungen zu bedienen vermochten. Zieht man dann noch die Tatsache in Betracht, daß die von Spengler aus seinen historischen Anschauungen gezogenen politischen Schlußfolgerungen nicht eben geeignet waren, in der unmittelbaren Nachkriegszeit auf französischer Seite auf übermäßige Wärme zu stoßen, während in den Jahren nach 1933 zwar endlich eine Übersetzung verfügbar war, die im Deutschen Reich sich ergebenden Umstürze aber den gesamteuropäischen Untergang von der Tagesordnung hatten verdrängen können, wobei es die damnatio memoriae Spenglers durch die Hitlerherrschaft ohnehin hatte sehr still um ihn werden lassen, ergibt sich fast zwingend, daß Spengler im französischen Sprachraum nur beiläufig und entweder unter falschen Vorzeichen oder von schweren Mißverständnissen behaftet wahrgenommen wurde. Schon 1922 hatte daher Manfred Schröter festgestellt: „Charakteristisch ist naturgemäß die spöttische Ablehnung von französischer Seite, die kühle, doch nicht unsympathische Aufnahme in England“6, und der sich weitgehend auf einige wenige Buchbesprechungen beschränkende Widerhall der beiden Bände des „Untergangs“ bis vor den Zweiten Weltkrieg gibt dieser Ansicht durchaus recht.7 Bezeichnend in dieser Hinsicht ist etwa das Urteil von Edmond Vermeil, 3
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Zakat Evropy. Pcerki morfologii mirovoj istorii, 2 Bde., übers. von N.F. Garelina, Moskau/Petrograd, L.D. Frenkelia, 1923. The Declin of the West, 2 Bde., übers. von Charles Francis Atkinson, London, George Allen & Unwin bzw. New York, Alfred A. Knopf, 1926–1928. Vgl. Anhang. Die erste, von Julius Evola angefertigte italienische Übersetzung erschien übrigens erst 1957 bei Longanesi in Mailand, doch erklärt die wechselseitige Sympathie zwischen den faschistischen Herrschern und dem Vordenker des Caesarismus die hiervon weitgehend unabhängige, recht günstige Aufnahme des „Untergangs“. Schröter 1922, S. 9–10. Als Ausnahmen – neben Fauconnet – seien hier genannt: Zabloudsky 1922; Seillière 1924, bes. S. 95–156; Massis 1927; Labriola 1933; Massis 1934; Bréal 1935; Fèbvre 1936; Huizinga 1939.
13 André Fauconnet und Oswald Spengler
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Professor an der Universität Strasbourg und wohl schon aufgrund dieser politisch aussagekräftigen Berufung inhaltlich von vornherein festgelegt, der Spengler am 25. April und am 10. Mai 1922 in der katholischen Zeitschrift „Le Correspondant“ besprach. Bereits die Einleitung ist hier äußerst aussagekräftig: „Un Allemand cultivé, à qui je demandais récemment ce qu’il pensait d’Oswald Spengler et de son livre, déjà célèbre, sur le Déclin de l’Occident, me répondait: ‚Spengler’s Buch ist geistreicher Unsinn, aber viele Leute bei uns sind davon ganz entzückt.‘ [...] Cette formule, où perce la mauvaise humeur, résume à merveille la question.“8
In dieser Hinsicht besteht ein Gutteil der Besprechung denn auch in der Zusammenstellung verschiedenster anderer Aussagen, welche die Wissenschaftlichkeit sowohl der Spengler’schen Behandlung geschichtlicher Einzelfragen als auch der morphologischen Grundannahme überhaupt in Bausch und Bogen ablehnen. Zusammenfassend glaubte Vermeil dann, feststellen zu müssen: „Que reste-t-il, en fait, de l’édifice massif et prétentieux de Spengler? Pas grand chose. Construit sur une opposition systématique entre Grèce et Occident, il s’écroule s’il apparaît que cette opposition se réduit à des différences qui n’ont rien de commun avec celles que statue Spengler. [...] Donc, quand on lit un peu entre les lignes, on s’aperçoit qu’à tout prendre, Spengler n’est qu’un pangermaniste assez puéril et brutal. Si, au lendemain de la guerre, après avoir publié son premier volume, il a lancé sur le marché sa brochure Prussianisme et Socialisme, comment s’en étonner ? Si ce livre est une déclaration de guerre intellectuelle à l’Angleterre, qu’il méprise pour son mercantilisme, et à la France, qu’il méprise plus encore à cause de son anarchie, comment s’en étonner? [...] L’âme faustienne de Spengler, c’est l’âme allemande, non l’âme occidentale. C’est l’âme de Faust dépouillée de ce qu’il y a d’humain en Goethe [...]. Voilà ce qu’il y a de dangereux dans la prédication d’un Spengler !“9
Wesentlich ausgeglichener sollten die Besprechungen von Henri Lichtenberger ausfallen, der die beiden Bände in der Zeitschrift „La Vie des Peuples“ im Februar 1921 und im Mai 1923 besprach.10 Zwar ist auch ihm völlig klar, daß sich die Beliebtheit des Spengler’schen Werks in hohem Grade aus der Krisenstimmung der Nachkriegszeit speiste: „Le Déclin de l’Occident est, si l’on en croit une enquête du Berliner Tageblatt, le livre allemand le plus lu à l’heure qu’il est, à côté des ouvrages sur les choses sexuelles et sur la magie. Symptôme significatif et qui donne à penser.“11
Nichtsdestoweniger findet sich bei Lichtenberger nicht etwa eine voreingenomme Ablehnung der morphologischen Grundannahme als eines bloßen 8 9 10 11
Vermeil 1922a, S. 193. Vermeil 1922b, S. 488–489. Lichtenberger 1921; Lichtenberger 1923. Lichtenberger 1923, S. 63.
252
Spenglers Rezeption
Schleiers pangermanischen Expansionsdrangs wie bei Vermeil, sondern vielmehr die Bereitschaft, einzuräumen, daß Spengler womöglich recht haben könnte: „Le Français, tout en constatant lui aussi les démentis éclatants que les faits infligent à tout instant aux prévisions les plus raisonnables, demeure malgré tout trop ‚rationaliste‘ en son for intérieur pour accepter sans réserves les perspectives que présente ce livre. [...] Il s’insurge instinctivement contre les ‚fatalités‘ auxquelles le penseur allemand prétend asservir le cours de l’histoire [...]. Nous avons tort peutêtre. Nous n’avons pas cru Nietzsche quand il annonçait que l’Europe entrait dans l’ère classique de la guerre. Or il voyait juste [...]. La prophétie ‚pessimiste‘ (à notre point de vue) de Spengler peut se trouver vérifiée à son tour par l’événement – et c’est, pour nous, précisément une des tristesses de l’heure présente de voir clairement que cette menace continue à planer sur la vie européenne.“12
Es ist vor dem Hintergrund dieser beiden gegensätzlichen Einschätzungen – der unwirschen Gesamtablehnung Spenglers bei Vermeil auf der einen Seite, dem vorsichtigen Eingeständnis Lichtenbergers auf der anderen Seite, Spengler möge vielleicht doch recht behalten –, und in Anbetracht der Tatsache, daß auch noch sechs Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes des „Untergangs“ immer noch keine französische Übersetzung dem aufgeschlossenen Leser die Prüfung der „Morphologie der Weltgeschichte“ ermöglichte, Spenglers Geschichtsdenken sich aber inzwischen um zahlreiche Aufsätze und Reden erweitert und verdichtet hatte, daß nun André Fauconnet, der die Hauptperson dieser Zeilen ist, sich entschloß, der französischen Leserschaft zwar keine Übersetzung, aber immerhin eine Art Zusammenstellung der wichtigsten Kernaussagen nicht nur des „Untergangs“, sondern auch der sonstigen, bis 1925 verfaßten Schriften zu liefern. Um uns im folgenden diesem Sachverhalt anzunähern, soll zunächst die Person Fauconnets kurz vorgestellt werden. Hierauf werden wir uns den allgemeinen Absichten und dem Aufbau seiner Schrift „Un philosophe allemand contemporain“ zuwenden, bevor wir dann auf einige Eigenheiten und schließlich auf Fauconnets eigene Haltung gegenüber der Spengler’schen Herausforderung zu sprechen kommen. Doch beschränkte sich Fauconnets Beitrag zur Untersuchung der Spengler’schen Geschichtsphilosophie keineswegs nur auf dieses Buch und einen sich hieran anschließenden kurzen Briefwechsel, sondern äußerte sich auch in einer bislang unbekannten Korrespondenz mit dem Verlag C.H. Beck über die Qualität der Übersetzung des „Untergangs“ durch Tazerout, ferner in einem ebenfalls noch nie veröffentlichten Briefwechsel mit Richard Korherr über die Zusammenstellung eines Gedenkbuchs für Spengler 1937 und Fauconnets persönlichem Beitrag zu diesem Sammelband, in welcher der französische Germanist ein persönliches Treffen mit Spengler beschreibt, anschließend in der bislang unveröffentlichten 12
Ebd., S. 67–68.
13 André Fauconnet und Oswald Spengler
253
Korrespondenz mit Spenglers Nichte Hilde Kornhardt, und schließlich in der Niederschrift eines bislang in der Forschung noch nie erwähnten, unmittelbar nach Kriegsende erschienenen Aufsatzes zur Frage „Oswald Spengler était-il national-socialiste“.
13.2
André Fauconnet
André Fauconnet13 zählt wohl trotz seiner weitgespannten Interessen nicht zu den besser bekannten französischen Denkern seiner Zeit. Dank unveröffentlichter Familiendokumente ist es hier erstmals möglich, seinen Lebenslauf einigermaßen vollständig zu rekonstruieren. Am 17. Februar 1881 in Fontenaysous-Bois (Seine) in einer wohlhabenden und gebildeten Familie normannischer Herkunft geboren – sein Bruder, Paul Fauconnet, sollte als Schüler Dürckheims ebenfalls eine akademische Laufbahn einschlagen und es zu einigem Ansehen bringen – und somit nur ein knappes Jahr jünger als Oswald Spengler, studierte André Fauconnet zunächst Philosophie (licence 1900), dann Germanistik (licence 1902) in Paris, und arbeitete anschließend dank einer Studienbörse ein Jahr an den Universitäten Kiel und Berlin bei Kaufmann, Oldenberg und dem Nietzsche-Schulkameraden Paul Deussen, der ihn auf Schopenhauer aufmerksam machte. Von 1904 bis 1907 trat er in den Schuldienst ein; 1912 wurde er mit einer im Folgejahr veröffentlichten Dissertation zu Schopenhauers Ästhetik an der Sorbonne promoviert, an die sich als „Thèse complémentaire“ im selben Jahr eine Edition von Waiblingers Drama „Liebe und Haß“ anschloß.14 1913 trat Fauconnet der Schopenhauer-Gesellschaft bei, der er ein Leben lang treu bleiben sollte. Anfang des 20. Jahrhunderts heiratete Fauconnet eine junge Rumänin jüdischer Abstammung, mit der er zwei Töchter haben sollte, die aber bald darauf von ihm geschieden wurde und bereits 1938 verstarb. Aufgrund seiner starken Kurzsichtigkeit wurde Fauconnet im Ersten Weltkrieg vom Kriegsdienst zurückgestellt und von 1915 bis 1916 als „Chargé de conférence“ an die Universität Poitiers berufen. 1919 wurde er als „Chargé de cours“ an der Universität Montpellier ernannt, wo er 1920 „Professeur sans chaire“ wurde. 1923 berief man Fauconnet auf den Lehrstuhl für „Langue et littérature allemandes“ an der Universität Poitiers, wo er dann eigenen Aussagen zufolge 13
14
Folgende Angabe stützen sich weitgehend auf einen gedruckten, bis 1934 reichenden Lebenslauf mit Publikationsliste (Privatarchiv Pierre Francé), auf den Nachruf von Arthur Hübscher im Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft 47 (1966), S. 126–128, und auf die posthume Würdigung durch seinen Nachfolger, J.A. Bizet, André Fauconnet (1881–1965), in: Études Germaniques 21, Janvier–Mars 1966, S. 152. Weitere Informationen erhielt der Autor von Pierre Francé und aus bislang unveröffentlichten Familienunterlagen. Fauconnet 1913.
254
Spenglers Rezeption
mit seiner 1903 geborenen „Tochter, die die abwesende Hausfrau vertritt, ein altes Landhaus [bewohnte], dessen Garten von einer echten römischen Mauer begrenzt ist“, und ferner fand, daß „das hiesige Leben wenig anregend [sei]: die moderne Stadt: ein kleines Provinznest, Fach- und (ach!) Brodstudenten in Fülle, aber keine Mitarbeiter.“15 Die Verbindungen mit Deutschland vertieften sich: So vermochte Fauconnet es 1927, 1928 und 1929, mehrere längere Aufenthalte in Deutschland einzurichten, wo er als Stipendiat der „Bourse Ernest Lavisse“ die Möglichkeit hatte, Weimar, Berlin, München und das Rheinland zu besuchen. Fauconnet beteiligte sich auch aktiv an der Verwaltung der Schopenhauer-Gesellschaft,16 in deren wissenschaftlichen Beirat er 1928 gewählt und 1933 bestätigt wurde. Auch während des Zweiten Weltkriegs hielt er sich in Poitiers auf, wo er, wie in amtlichen Quellen nachzulesen ist, eine nicht unbedeutende Rolle dabei spielte, Poitiers’ Status als freie Stadt gegen Bemühungen französischer Truppen, Straßensperren gegen die vorrückenden deutschen Truppen zu errichten, zu sichern. In den Kriegsjahren übte Fauconnet seine Tätigkeit als Germanistikprofessor weiter aus und veröffentlichte auch im Schopenhauer-Jahrbuch, verhielt sich aber allen Versuchen der Vichy-Regierung gegenüber, ihn zu einer weitergehenden Einbindung in die Kulturpolitik der Besatzungszeit zu bewegen, mit deutlicher Kühle. In diesen Jahren kam es dann auch zu einem für die Familie nicht unwesentlichen Ereignis: Aufgrund der Empfehlung des ihm gut vertrauten Botanikers und Naturphilosophen Raoul Francé,17 der wie Fauconnet Mitglied der Schopenhauer-Gesellschaft war, wurde er mit dessen Sohn Walter bekannt, der Journalist bei der Süddeutschen Zeitung war und als deutscher Soldat in Poitiers Übersetzerdienste leistete. Walter Francé ging bald nicht nur im Haus der Fauconnets ein, sondern verliebte sich auch in Fauconnets Tochter Madeleine; eine Verbindung, aus welcher bald ein Sohn, Pierre Francé, hervorging. Dies brachte Walter Francé im Jahre 1943 einen ernstlichen Tadel der Militärverwaltung ein, dem er dadurch zu entgehen suchte, daß er nicht nur (durchaus zeitgemäß) erklärte, daß er schließlich „Vater eines strammen blonden und blauäugigen Jungen mit Namen Peter Bernhard“ geworden war, und sich nunmehr „hier eine Frau normannischer Abstammung darauf vorbereitet[e], [...] [ihm] nach dem Kriege nach Berlin zu folgen“, sondern auch auf die persönlichen Verdienste Fauconnets hinwies und betonte, daß „kulturelle Brücken zwischen den Beteiligten bestehen“.18 Leider sollte es aber zu keiner längerfristigen Verbindung kommen, da der deutsche Rückzug das Paar trennte und Walter Francé zwar seinen Sohn legitimierte, in den 1960er Jahren aber 15 16 17 18
Spengler, Br, S. 521. Allg. hierzu etwa Hansert 2010 und Ciracì 2011. Allg. hierzu Henkel 1997, S. 3–16; Nachtigall 1997. Eidesstattliche Erklärung Walter Francés an die deutsche Militärverwaltung in Poitiers vom 26. Mai 1943; Privatbesitz Familie Francé.
13 André Fauconnet und Oswald Spengler
255
verstarb.19 1948 wurde der damals 67jährige Fauconnet emeritiert, 1960 erhielt er die Schopenhauer-Plakette der Stadt Frankfurt, am 31. August 1965 starb er in seinem 85. Lebensjahr in Épinay. Was Fauconnets Veröffentlichungen betrifft, so sind neben frühen Aufsätzen „Über naive und sentimentalische Dichtung bei Schiller“ (1901),20 „Goethes Prometheus als Künstler“ (1902)21 und „Le pessimisme de Schiller“ (1905)22 wie auch eher technischen Beiträgen wie zur deutschen Phonetik (1924)23 in erster Linie seine Arbeiten zu Schopenhauer zu erwähnen. Neben einem „Essai sur la psychologie de la femme chez Schopenhauer“ (1905)24 und vor allem Fauconnets 1913 veröffentlichter Dissertation zur Ästhetik Schopenhauers25 erschienen im selben Jahr die Abhandlung „Le paralogisme des idées éternelles hors du temps“26 sowie 1927 die „Notes critiques et documentaires sur la Société Schopenhauer et ses travaux“27. Die Beziehungen zwischen der deutschen Literatur und Philosophie zu Anatole France fanden ihren Niederschlag 1927 im Aufsatz „Goethes Einfluß auf Anatole France im Lichte der Philosopgie Schopenhauers“28. Auch die Fruchtbarkeit des Schopenhauer’schen Ansatzes für die moderne Psychoanalyse stieß auf Fauconnets Neugierde, wie seine Beiträge
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Auskunft der Familie Francé. Vgl. auch http://www.stiftung-france.de/forum/ viewtopic.php?f=2&t=95 André Fauconnet, Über naive und sentimentalische Dichtung bei Schiller, in: Revue des Langues vivantes (1902). André Fauconnet, Goethes Prometheus als Künstler, in: Revue des Langues vivantes (1902). André Fauconnet, Le pessimisme de Schiller, in: Chr. Andler u.a. (Hgg.), Études sur Schiller publiées pour le centenaire du poète, Paris 1905 (ND in ders., Études sur l’Allemagne, Paris 1934, S. 1–28). André Fauconnet., Simples remarques sur l’enseignement de la phonétique allemande, in: Mélanges offerts à M. Charles Andler, Strasbourg 1924, S. 143–155. André Fauconnet, Essai sur la psychologie de la femme chez Schopenhauer, in: Revue germanique 1 (1905), auch in: Schopenhauer Jahrbuch 3, 1914, S. 49–72 (ND in ders., Études sur l’Allemagne, Paris 1934, S. 29–72). André Fauconnet, L’esthétique de Schopenhauer, Paris 1913. Vgl. auch die Zusammenfassung in „L'Esthétique de Schopenhauer“ in: Le Monde musical 5, 15 März 1914. André Fauconnet, Le paralogisme des idées éternelles hors du temps, in: Schopenhauer Jahrbuch 2, 1913, S. 51–60. André Fauconnet, Notes critiques et documentaires sur la Société Schopenhauer et ses travaux, in: Revue de Métaphysique et de Morale 34 (1927), S. 549 – 557. André Fauconnet, Anatole France et Goethe. La Fiancée de Corinthe, in: Mercure de France 687, 1. Februar 1927, S. 513–534; später in anderer Form veröffentlicht unter dem Titel: Goethes Einfluß auf Anatole France im Lichte der Philosophie Schopenhauers, in Schopenhauer Jahrbuch 14, 1927, S. 42–51 (ND als „Les Noces corinthiennes“ et la „Fiancée de Corinthe“. Anatole France et Goethe, in ders., Études sur l’Allemagne, Paris 1934, S. 153–184).
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Spenglers Rezeption
„La Psychologie de la femme chez Wagner et Schopenhauer“29 vom Jahr 1914, „Schopenhauer précurseur de Freud“30 von 1933 und „La Fontaine et Schopenhauer“ vom Jahr 1962 zeigen.31 Das Interesse für Wagner fand dann auch im Krieg weitere Vertiefung, wie ein Aufsatz zu Schopenhauers und Wagners Analyse der „Norma“ von Bellini zeigt,32 dem 1950 ein „Essai sur une oeuvre inachevée de Richard Wagner: ‚Les Vainqueurs‘ et la genèse de Parsifal“ folgte.33 Ferner lassen sich Beiträge zu Mackintire Salter (1918),34 Lynn Thorndike (1923)35 und zu den „Humanités modernes“ (1925)36 anführen. Doch sind es hier natürlich vor allem seine Abhandlungen zur Zeitgeschichte und zu Spengler, die im Vordergrund unserer Untersuchung stehen. Schon in den unmittelbaren Nachkriegsjahren zeichnete sich Fauconnet durch mehrere Abhandlungen zu Fragen zeitgenössischer deutscher und allgemeiner politischer Kultur aus. So veröffentlichte er 1920 im „Mercure de France“ einen „Essai sur la psychologie des chefs allemands à la première bataille de la Marne“,37 dem dann 1923 in „Paix par le Droit“ der Beitrag „Le clergé allemand et la guerre de 1914“38 sowie im selben Jahr, wieder im „Mercure“, der Aufsatz „Culture et civilisation selon les Allemands“39 folgten; letzterer ein Text, der im wesentlichen einen Kommentar zu Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“ darstellt, auf den zurückzukommen wir später noch Gelegenheit haben werden. 1925 folgte schließlich Fauconnets Buch zu Spengler,40 welches offensichtlich einen nicht geringen Widerhall fand, da er 1927 für sein Buch von der „Académie des Sciences Morales et Politiques de France“ mit dem Preis 29
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André Fauconnet, La Psychologie de la femme chez Wagner et Schopenhauer, in: Le Monde musical 5 (15. März 1914); ähnl. veröffentlicht als „Essai sur la psychologie de la femme chez Schopenhauer“, in: Schopenhauer Jahrbuch 3, 1914, S. 49–72. André Fauconnet, Schopenhauer précurseur de Freud, in: Mercure de France 852, 15. Dezember 1933, S. 566–577 (ND in ders., Études sur l’Allemagne, Paris 1934, S. 185–201). André Fauconnet, La Fontaine et Schopenhauer, in: Schopenhauer Jahrbuch 43, 1962, S. 89–90. André Fauconnet, La Norma de Bellini commentée par Schopenhauer et Richard Wagner, in: Schopenhauer Jahrbuch 30, 1949), S. 82–109. André Fauconnet, Essai sur une oeuvre inachevée de Richard Wagner: „Les Vainqueurs“ et la genèse de Parsifal, in: Schopenhauer-Jahrbuch 33, 1950, S. 66–81. André Fauconnet, Rezension zu: William Mackintire Salter, Nietzsche the Thinker (New York 1917), in: Revue philosophique 86, 1918, S. 314–325. André Fauconnet, Lynn Thorndike, in: Revue des Langes modernes 1923. André Fauconnet, Les humanités modernes, Revue Universitaire 1925. André Fauconnet, Essai sur la psychologie des chefs allemands à la première bataille de la Marne, in: Mercure de France, 15. Dezember 1920, S. 577–604 (ND in ders., Études sur l’Allemagne, Paris 1934, S. 73–112). André Fauconnet, Le clergé allemand et la guerre de 1914, in: Paix par le Droit 1923. André Fauconnet, Culture et civilisation selon les Allemands. Étude sur les „Unpolitische Betrachtungen“ de Th. Mann, in: Mercure de France, 1. August 1923, S. 577–610 (ND in ders., Études sur l’Allemagne, Paris 1934, S. 113–152). Fauconnet 1925.
13 André Fauconnet und Oswald Spengler
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„Joseph Saillet“ ausgezeichnet wurde41 und mit Spengler in Briefwechsel trat. 1930 folgte dann die weitsichtige Rede „Simples remarques sur l’Allemagne d’aujourd’hui“, in der der gerade von mehrjährigen Studienreisen in die Weimarer Republik zurückgekehrte Fauconnet den Sieg des Nationalsozialismus vorhersagte,42 Spengler aber mit keinem Wort erwähnt. 1934 veröffentlichte Fauconnet dann „Études sur l'Allemagne, première série“, der aber keine zweite Serie mehr folgen sollte,43 und welche in den Kriegsjahren von der deutschen Verwaltung eingestampft wurden.44 Daß Fauconnet jedenfalls sein Buch zu Spengler offensichtlich keineswegs als grundsätzliche Ablehnung weder des Mannes, noch seiner Gedanken verstanden wissen wollte, zeigt sich darin, daß er für den unmittelbar nach Spenglers Tod von Richard Korherr gesteuerten und von Paul Reusch herausgebrachten Sammelband „Oswald Spengler zum Gedenken“ auch einen eigenen Beitrag beisteuerte, übrigens neben Johannes Sundwall als einziger nichtdeutscher Verfasser (neben August Albers, Heinrich Beck, Fritz Behn, Georg Escherich, Wolf Goetze, Gerhard von Janson, Rudolf Kötter, Richard Korherr, Arnold Oskar Meyer und August Winnig).45 Unmittelbar nach Kriegsende erschien schließlich ein weiterer, letzter Aufsatz Fauconnets mit dem Titel „Oswald Spengler était-il national-socialiste?“,46 der auch im Lichte der bislang unveröffentlichten Korrespondenz mit Spenglers Schwester und Nichte eine besondere Bedeutung erhält.
13.3
„Un philosophe allemand contemporain“
Nachdem wir solchermaßen einen ersten kurzen Einblick in Leben und Wirken Fauconnets gewonnen haben, gilt es nun, uns seiner Monographie zu Spengler zuzuwenden, übrigens (nimmt man eine in Belgien verteidigte Doktorarbeit aus)47 der ersten und bis 1938 einzigen, die im französischsprachigen Raum erschien, wobei fraglich ist, inwieweit die 1938 von Edmond Vermeil herausgebrachte Untersuchung zu den „Doctrinaires de la révolution allemande“48
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Hierzu die Angabe in der „Chronique“ der Revue néo-scolastique de philosophie 29, 1927, S. 367–375, hier S. 370. André Fauconnet, Simples remarques sur l’Allemagne d’aujourd’hui. Discours prononcé à la séance de rentrée de l’Université de Poitiers, 22 novembre 1930, Université de Poitiers. Fauconnet 1934. So Fauconnet 1946, hier S. 78, Anm. 7. Fauconnet 1938. Fauconnet 1946. Van Bunnen 1929. Vermeil 1938.
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Spenglers Rezeption
sowie einige folgende Untersuchungen anderer Schriftsteller der Nachkriegszeit49 überhaupt als Auseinandersetzungen mit Spengler zu werten sind, so daß erst 1980 und 1981 die ersten wissenschaftlichen Monographien über Spengler in französischer Sprache erscheinen sollten.50 Zunächst scheint dabei nicht unwichtig festzustellen, daß Fauconnets Veröffentlichung „Un philosophe allemand contemporain“, die übrigens mit der Werbeschrift „Pour comprendre les origines philosophiques du national-socialisme allemand“ versehen war,51 im wesentlichen keineswegs eine kritische Auseinandersetzung mit Spenglers „Untergang“ und den bis 1925 folgenden Schriften darstellt, sondern sich vielmehr als gleichsam kongeniale Zusammenfassung und fortlaufende Besprechung der geschichtsmorphologischen Annahme gibt, deren Verfasser lediglich verstanden werden möchte als ein „historien de la philosophie qui peut espérer faire oeuvre utile lorsqu’il s’efforce de repenser, pour l’exprimer en termes nouveaux, ce qu’il serait vain de vouloir traduire.“52 Dementsprechend handelt es sich weder um eine Übersetzung, noch um eine Kritik, sondern lediglich um den Versuch einer sprachlichen wie darstellerischen Umsetzung, wie Fauconnet auch klar ausdrückt, wenn er sagt: „Pour qui veut faire entendre à nos compatriotes la philosophie de Spengler, décalquer n’est rien, reconstruire est tout.“53
Gleichzeitig aber verfolgt die Schrift offensichtlich auch einen klaren politischen Zweck, welcher nicht nur in der bereits erwähnten Werbeschrift zutage tritt, sondern auch in der gleich zu Anfang angeführten Rechtfertigung: „[…] nous avons cru devoir accorder une grande place aux récents opuscules politiques qui projettent une vive lumière ensemble sur les conséquences pratiques de la doctrine et la mentalité de nos adversaires.“54
– eine Ausführung, welche, wie wir sehen werden, noch 20 Jahre später erneut zum Tragen kommen sollte. Im folgenden sei ein kurzer Überblick über die Gliederung und Argumentation des insgesamt eher kurzen, da auf 263 kleinen Seiten in ziemlich großen Lettern gesetzten Buchs gegeben, welches im Verlag Félix Alcan veröffentlicht wurde und mittlerweile schwer zugänglich geworden ist. Das Werk ist in fünf Hauptteile gegliedert, die zwar jeweils durch ihre Titel einen deutlichen inhaltlichen Schwerpunkt aufzuweisen scheinen und auch jeweils klar in mehrere Unterkapitel gegliedert sind, deren Gedankengang aber oft als leider eher unklar zu bezeichnen ist. 49 50 51 52 53 54
Tazerout 1946; Emery 1952. Merlio 1982; Parent 1981. Fauconnet 1946, S. 73. Fauconnet 1925, S. v. Ebd., S. 39. Fauconnet 1925, S. ix–x.
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In einem kurzen Vorwort („Préface“) geht Fauconnet in groben Zügen auf den erstaunlichen Widerhall ein, den Spenglers „Untergang“ in allen Teilen Europas gefunden hat, liefert einige Angaben zum Autor, und stellt es als Ziel des Buchs dar, die Philosophie Spenglers in allgemein verständlicher Weise in französischer Sprache wiederzugeben. Der erste, sehr kurze Hauptteil (S. 1–22) trägt den Titel „Le problème“ und ist im wesentlichen der Frage nach der erkenntnistheoretischen Stellung prophetischer Geschichtsschreibung gewidmet und bemüht sich, Spengler, der hier in eine Traditionslinie mit Kant, Hegel und Schopenhauer gesetzt wird, gegen allzu rasche Vorwürfe innerer Widersprüche in Schutz zu nehmen. Der zweite und umfangreichste Hauptteil (S. 23–82) ist „La Méthode“ betitelt. Fauconnet gibt sich hier die Mühe, in seinem ersten Unterkapitel zu „Genèse de la Méthode“ die metaphysischen Grundlagen des „Untergangs“ mit den Aussagen von Spenglers Dissertation von 1904 zum energetischen Grundgedanken der Philosophie Heraklits in Verbindung zu bringen.55 Indem er sich auf Aussagen wie „Statt des einzelnen Lebewesens nimmt er [i.e. Spengler] die ganze Folge eines Geschlechts als Individuum, dessen Phasen (das Leben des einzelnen) nur Augenblicke und Abschnitte einer ununterbrochenen Metamorphose sind“56 stützt, deren Inhalt sich, wie unschwer zu erkennen, auch im „Untergang“ widerspiegelt, kommt er nicht unberechtigt zur Schlußfolgerung: „Nous croyons avoir établi, pour la première fois, que tous les éléments essentiels de cette fameuse ‚Méthode nouvelle‘ de Spengler sont en germe dans sa dissertation sur Héraclite.“57
Schon hier ist festzustellen, daß (wie an vielen Stellen des Werks) wohl ganz bewußt unklar bleibt, inwieweit es Fauconnet darauf ankommt, ausschließlich die Entwicklung von Spenglers Denken nachzuvollziehen und eine eigene Stellungnahme zur Berechtigung von Spenglers Rückgriff auf den ephesischen Denker zu vermeiden, oder aber vielmehr tatsächlich Traditionslinien aufzuweisen, welche das abendländische Denken seit den Vorsokratikern durchziehen, und Spenglers Kulturmorphologie damit eine innere Berechtigung zuzuerkennen. Ähnliches gilt auch für die auf Heraklit folgende Untersuchung des Fragenbereichs „Spengler und Goethe“, in welcher Fauconnet auf Spenglers Deutung der Goethe’schen Urpflanze zu sprechen kommt. Fauconnet untersucht hierauf im zweiten Unterkapitel „Difficultés inhérentes à la structure de l’oeuvre“ den Unterschied zwischen deduktiver und induktiver Methode und bemüht sich, den verwirrend scheinenden Aufbau des „Untergangs“ methodisch nachvollziehbar zu machen. Ein weiteres Unterkapitel widmet sich dem Thema „Spengler et les historiens anciens“ und scheint der Spengler’schen Grundannahme von der fundamental ungeschichtlichen Veranlagung des antiken 55 56 57
Spengler, H. Vgl. einführend Engels 2011b. Spengler, H, S. 29, zitiert bei Fauconnet 1925, S. 26. Fauconnet 1925, S. 31.
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Menschen zuzustimmen.58 Ähnliches gilt für das folgende Kapitel zu „Spengler et les historiens modernes“, welches die Überholtheit des Schemas AntikeMittelalter-Neuzeit unterstreicht und erneut der Annahme zuzustimmen scheint, daß auf das Allgemeinmenschliche zielende philosophische Vorstellungen bloße Wunschvorstellungen sind.59 Das fünfte Unterkapitel, „Méthode de la morphologie historique“, bespricht zunächst das Problem der Zulässigkeit geschichtlicher Analogien und hält hier nicht mit Lob für Spenglers Klarsicht zurück, wenn Fauconnet äußert: „C’est, à nos yeux, un des plus grands mérites d’Oswald Spengler d’avoir attiré l’attention sur cette manie du ‚parallèle‘ qui a égaré tant d’orateurs. [...] On conserve, en politique, le goût des métaphores empruntées à l’histoire ancienne. Or, le plus souvent, au lieu d’orner les discours, elles les faussent et les vicient.“60
Erneut scheint Fauconnet Spengler zuzustimmen, wenn er sagt: „L’heure est enfin venue pour l’histoire d’approfondir la notion d’organisme. Elle seule peut désormais donner à l’histoire universelle son centre de gravité et en assurer la cohésion.“61 Fauconnet wendet sich hierauf dem Problem einer genauen Bestimmung von „Kultur“ zu, stellt die Hauptannahmen biologistischer Theorie dar, vergleicht die Logik des Organischen mit der Logik des Anorganischen, und erklärt einige Grundannahmen wie den 1000-Jahre-Takt des Kulturlebens, den Unterschied zwischen Homologie und Analogie und schließlich den Begriff der kulturellen Physiognomie. Der dritte Hauptteil (S. 83–134) beschäftigt sich mit „La Théorie“. Das erste Unterkapitel „Structure de la morphologie historique“ bemüht sich, dem französischsprachigen Leser einen besseren Begriff von Sinn und Berechtigung der von Spengler gewählten Untertitel „Gestalt und Wirklichkeit“ wie auch „Welthistorische Perspektiven“ zu liefern, während das zweite Unterkapitel der apollinischen und faustischen Mathematik gewidmet ist. Fauconnet bemüht sich hier zu zeigen, inwieweit die Spengler’sche Sicht der Entwicklung der mathematischen Wissenschaften die Annahme eines deutlichen Fortschritts bzw. einer gedanklichen Verständigung über die Kulturen hinaus als Trugbild erscheinen läßt, da jede Kultur ihre eigene, unübersetzbare Mathematik entwickelt, und vergleicht Spenglers Relativierung62 interessanterweise mit der zeitgleichen Relativitätstheorie Einsteins:
58 59 60 61 62
Fauconnet 1925, S. 45. Ebd., S. 54. Ebd., S. 59–60. Ebd., S. 63. Inwieweit Spengler tatsächlich als Relativist zu bezeichnen ist, bleibt diskutabel: vgl. Engels 2016c (= Kap. 6).
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„Avant comme après Einstein, et surtout peut-être après lui, le relativisme historique avait donc bien comme tâche première de nous offrir une théorie cohérente de l’évolution des mathématiques.“63
Ein weiteres Unterkapitel behandelt die kunstgeschichtliche Entwicklung, und hier vor allem die Kunst der Fuge, welche Fauconnet in Annäherung an Spengler als das eigentliche Vorbild des Neben- und Nacheinanders der menschlichen Kulturen anführt: „On comprend donc pourquoi Spengler évoque sans cesse la science du contre-point quand il veut caractériser notre époque: Français, Allemands, Anglais, nous chantons tous, à notre manière, la même mélodie, mais nos voix ‚chevauchent‘, comme dans les grands choeurs fugués. D’où des frottements, des duretés, des dissonances que tous les artifices de l’harmonie ... diplomatique ne réussiront pas à éviter. [...] On peut parler d’unisson, il ne deviendra une réalité qu’au jour où les voix, après la lutte serrée de la strette, viendront, expirantes, se confondre dans l’accord final qui marquera la fin de l’Occident.“64
Das vierte Unterkapitel stellt das faustische Christentum in Gegensatz zum orientalischen; das fünfte gibt einige Beispiele aus Spenglers Tabellen „gleichzeitiger“ Kulturen. Hiermit endet dann auch Fauconnets insgesamt eher kurze Darstellung der Spengler’schen Geschichtslehre, die, wie deutlich geworden sein dürfte, nur eine recht enge Auswahl kulturmorphologischer Hauptfragen behandelt und nur da wesentliche Schwerpunkte setzt, wo es um die Entkräftung methodischer Vorbehalte und die Feststellung der Verankerung Spenglers in der allgemeinen deutschen Geistesgeschichte geht, während man eine genauere Darstellung der einzelnen Abschnitte der Kultur- und Zivilisationsentwicklung sowie ihre Anwendbarkeit auf die von Spengler angenommenen acht bzw. neun Kulturen vergeblich sucht. Fauconnet beschäftigt sich in der zweiten Hälfte seines Buches mit den eher zweckdienlichen Seiten der Spengler’schen Lehre. So ist der vierte Hauptteil (S. 135–174) bezeichnenderweise als „La doctrine en action“ betitelt und fußt zumindest im Anmerkungsteil fast ausschließlich auf den nach dem „Untergang“ erschienenen Schriften, allen voran „Preußentum und Sozialismus“, denen Fauconnet beachtliche politische Bedeutung für die Zukunft zuzuschreiben scheint, wenn er sagt: „Nous y verrons Spengler orienter sa doctrine vers l’action et aboutir à des formules de combat assez simples et assez nettes pour devenir quelque jour le Credo d’un grand parti populaire épris d’impérialisme et de socialisme d’État.“65
In einem ersten Unterkapitel mit dem etwas verwirrenden Titel „Anarchie néolatine et civilisation faustienne, germanique, anglo-allemande“ geht Fauconnet 63 64 65
Fauconnet 1925, S. 99. Fauconnet 1925, S. 119–120. Ebd., S. 136.
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der Frage nach, welcher europäische Staat Spengler zufolge dazu ausersehen ist, das Weltreich der Zukunft zu errichten. Hier wäre Fauconnet nun fast gezwungen, persönlich Stellung zu nehmen, denn bekanntlich ist für Spengler der Kreis der Staaten, welche dem Abendland universale Ideen gegeben haben, die allein fähig sind, übernationale Staatsgebilde zusammenzuhalten, nur auf Spanien, England und Preußen begrenzt, während Frankreich wie auch Italien Spengler zufolge zu sehr vom Fortleben des antiken Körperideals bestimmt sind, um ernstlich als Keimzellen des künftigen Reichs gelten zu können. Da nun aber Spanien aufgrund seines wirtschaftlichen, demographischen und politischen Ruins seit dem 18. Jahrhundert nicht mehr in Betracht zu ziehen ist, kommen nur noch England und Preußen in Frage, welche Spengler zufolge das Ideal des insularen und des kontinentalen faustischen Menschen, des Wikingers bzw. des Deutschordensritters verkörpern und auch in ihr jeweiliges Wirtschaftssystem – also den Kapitalismus bzw. den preußischen Sozialismus – übersetzt haben. Daß Frankreich hier offensichtlich nicht zählt, ist eine Sachlage, die Fauconnet aber lediglich wie folgt kommentiert: „Malgré de fugitives velléités d’intervention, nous assistons, en comparses, à la phase ultime de la lutte finale qui met aux prises les deux grandes idées universelles de l’humanité occidentale ou faustienne: l’étatisme ou socialisme prussien – l’antiétatisme ou capitalisme anglais.“66
Ist dies nun ironisch gemeint, oder eher selbstkritisch – oder beides? Diese Frage ist schwer zu beantworten, da hier, wie auch an zahlreichen weiteren Stellen, schwer zwischen reiner Wiedergabe der Wucht der Spengler’schen Sprache und einer eventuellen ironischen Überhöhung durch Fauconnet zu unterscheiden ist. Lediglich an einer einzigen Stelle scheint Fauconnet klarer Stellung zu beziehen, indem er schreibt: „Cette théorie simpliste n’est pas sans créer de grandes difficultés à notre historien. Comment dénier, sans absurdité, toute tendance universaliste à la monarchie, à la révolution, à l’empire français? [...] L’idée générale qui, le plus souvent sous forme implicite, domine les diatribes de Spengler est celle-ci: il y a lieu, lorsqu’on étudie la politique française, d’opérer le départ entre deux ordres de tendance; d’une part, velléités éphémères ‚d’impérialisme faustien‘; d’autre part, goût permanent et durable pour l’anarchie.“67
Doch erneut stellt sich hier die Frage – und die Stelle mag pars pro toto für das gesamte Buch gelten –, inwieweit Fauconnet darum bemüht ist, die möglichen Einwände des Lesers vorwegzunehmen und Spenglers Beweisführung nachvollziehbar zu gestalten, oder vielmehr Spenglers Übertreibungen ironisch zu übersteigern. Immerhin gibt nachfolgende Stelle, in welcher Fauconnet Spenglers Gegenüberstellung von Kultur und Zivilisation mit Thomas Manns Verwendung dieser Begriffe ausspielt, einen kleinen Einblick in die 66 67
Fauconnet 1925, S. 151. Ebd., S. 144–145.
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Vielschichtigkeit der Frage und die Tatsache, daß Fauconnet sich dieser Sachlage durchaus bewußt war. Denn während für Spengler die „Zivilisation“ zwar das Schicksal aller abendländischen Staaten ausmacht, schöpferisch aber wesentlich nur von angloamerikanischer und preußischer Seite gestaltet wurde,68 sieht Thomas Mann in seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ v.a. Frankreich als treibende intellektuelle Kraft: „La France, dit Spengler, a connu, dans le passé, une culture; elle n’aura jamais de civilisation. Cette phrase, qui semble exactement contradictoire aux assertions de M. Thomas Mann, prend ici, nous l’avons vu, un sens tout particulier.“69
Doch beschränkt sich Fauconnet selbst hier nur auf die Feststellung des (scheinbaren) Gegensatzes zwischen Thomas Mann und Spengler, ohne auf die wesentlich anderen Ausgangsbedingungen des dualistischen Geschichtsbilds Thomas Manns und der zyklisch-biologistischen Geschichtsphilosophie Spenglers einzugehen und selbst Stellung zu beziehen. Doch wird Thomas Mann uns noch später eindringlicher beschäftigen, so daß wir uns vorläufig einfach auf diese Feststellung beschränken können. Der fünfte und letzte Hauptteil (S. 175–245) ist von Fauconnet als „Le programme de Spengler“ betitelt worden und fußt ebenfalls weniger auf dem „Untergang“, sondern vielmehr auf der Schrift „Der Neubau des Deutschen Reiches“,70 deren Inhalt Fauconnet im großen und ganzen lediglich zusammenfaßt. Ganz im Gegensatz zu den eher verwirrend angeordneten vorherigen Kapiteln ist dieser Teil ganz klar und transparent durchgegliedert. Das erste Unterkapitel lautet „Économie et programme fiscal“. Fauconnet erläutert hier zunächst die Spengler’sche Annahme, Geld verfüge als letztlich dynamische Größe nur über eine sittliche, keine materielle Deckung, wendet sich dann der Kritik des Steuerwesens zu, dem es nicht gelinge, Steuer nicht als Druck, sondern als Dankesschuld empfinden zu lassen, und erläutert schließlich Spenglers Vorschlag, die zeitgenössische Steuervielzahl durch eine Verbindung von Sachnutzungs-, Lohnkopf-, Wohnraum-, Kapitalprodukt-, Tabak- und Alkoholsteuer zu ersetzen. Das zweite Unterkapitel „Le Droit romain et la réforme du Droit allemand“ widmet sich dem Recht. Nachdem festgestellt ist, daß das römische Recht als Personen- und Sachrecht grundsätzlich antik geprägt und nicht auf das faustische Weltbild bezogen werden kann, stellt Fauconnet Spenglers Empfehlung dar, daß fortan jedes Recht mit einer Pflicht zusammengehören solle und umgekehrt, um die absoluten rechtlichen Größenordnungen des antiken Weltbilds endlich durch die auf relativen Bezugspunkten aufgebauten des faustischen zu ersetzen, was von Fauconnet auch auf das
68
69 70
Spengler, PuS, S. 32: „Es gibt nur französische Kultur. Mit England beginnt die Zivilisation.“ Fauconnet 1925, S. 150–151. Spengler, NdR.
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Problem der Berechtigung der Deutschen zur Führung des Weltkriegs übertragen wird – bezeichnenderweise erneut ohne weitere Stellungnahme: „Les Français se sont indignés, durant la guerre, de voir que les Allemands n’étaient pas portés à sacrifier au jus gentium leur droit à l’existence, leur instinct de conservation. A les en croire, tous les peuples de la terre auraient dû, le front dans la poussière, s’agenouiller devant ces tables de la loi que, précédé du tonnerre... de l’artillerie moderne, M. Poincaré, nouveau Moïse, leur apportait du haut de la tribune parlementaire.“71
Das dritte Unterkapitel, „L’éducation de la jeunesse allemande“, gilt dann der neuen Jugenderziehung, welche Wissenschaftlichkeit durch Tatsachengeist, Vergangenheit durch Gegenwartsbezug und Redeschwall durch schlichte Sachwiedergabe ersetzen solle und stets auf die aktuelle außenpolitische Situation zu beziehen sei. Das vierte und letzte Unterkapitel mit dem Titel „Le programme politique de Spengler“ beschließt den darstellerischen Teil des Buchs und widmet sich zunächst Spenglers innenpolitischen Vorstellungen, die im wesentlichen eine Verwirklichung des „preußischen Sozialismus“ anstreben, welcher seinerseits die Grundlage für eine neue imperiale Außenpolitik bilden soll. Diese steht ganz im Zeichen der bedrückenden Zukunftsaussichten Spenglers. Der Zerfall des britischen Empires durch die abnehmende Güte der britischen Herrschaftsschicht, durch den drohenden Aufstand der „Farbigen“ in Schwarzafrika, Nahost und Mittelasien sowie durch die besondere Verwundbarkeit der küstengestützten Herrschaft der britischen Herrschaft gegenüber festländischen Streitkräften ist unaufhaltsam.72 Frankreich hingegen scheint nur auf Ruhe und Rente ausgerichtet und nur durch die durch den Versailler Vertrag zugesicherte Herrschaft über Kohle und Stahl zum Imperialismus gezwungen. Die innere Lage macht hier den Bürgerkrieg fast unausweichlich; nur ein Bündnis mit Deutschland scheint eine innere Verjüngung und Rückbindung an das faustische Wesen gewährleisten zu können, muß aber notwendigerweise am Widerstand Englands scheitern. Erneut bezieht Fauconnet keine Stellung: Zwar erklärt er in fast ironischem – oder selbstkritischem? – Ton: „Bref, notre compte est bon: nous sommes un peuple d’épigones“73, sieht aber keine Hoffnung, ja scheint sogar die Notwendigkeit der Annexion von Elsaß-Lothringen in Frage zu stellen: „Or, que peut la France, ruinée par cette guerre absurde, qui élargit encore, et contre toute raison, le territoire d’un pays dépeuplé, en face des financiers de Londres et de New-York? S’incliner, et c’est tout.“74
71 72
73 74
Fauconnet 1925, S. 197. Allg. zu Spenglers außenpolitischen Vorhersagen, die sich 1933 in den Jahren der Entscheidung niederschlagen sollten, vgl. Engels 2007a (= Kap. 12). Fauconnet 1925, S. 231. Ebd., S. 238.
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Einzig Rußland, das Spengler als beginnende neue Kultur der Zukunft auszumachen glaubt, scheint in dieser Lage fähig, zukunftsprägende Kraft zu entwickeln – und selbstverständlich Preußen, auf dessen Rolle als Kern des künftigen abendländischen Imperiums Fauconnet aber seltsamerweise nicht zu sprechen kommt.
13.4
Fauconnets „Conclusions“
Kommen wir nun zu Fauconnets kurzen „Conclusions“, welche wohl die aufschlußreichste oder doch zumindest persönlichste Stellungnahme des Denkers selbst beinhalten und eigentlich auch den inhaltlich interessantesten Teil des Buchs ausmachen, da kaum bestritten werden kann, daß der Leser eine auch nur ansatzweise nachvollziehbare persönliche Stellungnahme des Autors angesichts der herausfordernden Zukunftsvorhersagen Oswald Spenglers bislang vergeblich gesucht haben wird. Ganz offen sagt Fauconnet daher auch: „Nous laisserons à d’autres le soin de discuter dans le détail les thèses de Spengler.“75 Zwar zählt er einige oft gegen Spengler erhobene Vorwürfe auf – so etwa den Mangel an Objektivität, auf den Fauconnet mit Verweis auf Spenglers Relativismus-Theorie antwortet, sowie den Mangel an Methode im Sinne der zeitgenössischen „méthode positive“, der er Spenglers Annahme entgegenstellt, daß auch diese Methode nur vor ihrem morphologischen Hintergrund zu betrachten ist –, entzieht sich aber auch hier jeglicher eigenen Stellungnahme, indem er erklärt: „Aux objections que lui adresseront nos historiens et nos sociologues, la doctrine de Spengler donne donc, au moins implicitement, une réponse. Est-elle pertinente? Nous n’avons pas à l’examiner ici. Mais nous voudrions indiquer aussi, que, pour être équitable, pour être utile, la critique devra tenir compte du plan adopté et des divisions qu’il comporte.“76
Ja, es finden sich sogar zaghafte Erklärungen, welche nahelegen, daß Fauconnet der biologistischen Grundannahme keinesfalls grundsätzlich feindlich gegenübersteht, wenn er sagt: „On peut, sans paralogisme, concéder d’une part à Spengler que les cultures sont des organismes, voire que la méthode comparative est féconde et, d’autre part, s’inscrire en faux contre la définition qu’il donne de telle culture, de ses origines, de son âge relatif, de son avenir, de son destin.“77
75 76 77
Ebd., S. 247. Ebd., S. 251. Fauconnet 1925, S. 252.
266
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– eine Kritik, die sich vor allem gegen Spenglers politische Vorstellungen richtet, wie bald darauf deutlich wird: „Ici, visiblement, ses préjugés nationaux l’aveuglent; la passion reprend ses droits et lui fait tenir pour rigoureuse telle déduction que des étrangers, fussent-ils ses disciples, pourront juger arbitraire et discutable.“78
Auch gegen Spenglers menschliche Haltung dem Verfall des Abendlandes gegenüber scheint Fauconnet einige Einwände zu hegen, wenn er auch die Untergangsfeststellung selbst nirgendwo ausdrücklich ablehnt. So kommt er denn auch abschließend auf Thomas Mann zu sprechen – übrigens der einzige zeitgenössische deutsche Denker, der in seinem Buch außer Spengler ein wenig breitere Erwähnung findet. Es wurde bereits ausgeführt, daß Fauconnet sich schon in den unmittelbaren Nachkriegsjahren mit Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“ beschäftigt hatte. Auch Thomas Manns republikanische Wende, die dieser am 13. Oktober 1922 anläßlich des 60. Geburtstags von Gerhart Hauptmann in seiner Rede „Von deutscher Republik“ vollzog – von Fauconnet als „de tous les documents que j’ai pu recueillir [...] le plus curieux“79 –, blieb dem französischen Germanisten offenbar nicht verborgen, zumal ein nicht unbeträchtlicher Teil dieser Rede aus einer Auseinandersetzung Manns mit Spengler bestand.80 Und so erklärt Fauconnet: „Quant aux réserves que M. Mann, nouvellement converti à la ... ‚République‘, fait sur le fond, comment un Français pourrait-il ne pas s’y associer? Qu’il y ait quelque chose à retenir des critiques que Spengler adresse au capitalisme, des idées qu’il expose sur l’étatisme, bien peu parmi nous le contesteront. Mais, comment pourrions-nous lui pardonner son impérialisme brutal, sa méconnaissance monstrueuse de tout ce qui pense, de tout ce qui aime chez nous, sa haine implacable, sa haine inique de la France meurtrie...!“81
Doch ist zu betonen, daß es sich bei diesem – merkwürdigerweise sowohl unpersönlich als auch als Frage formulierten – Ausruf um die einzige Stelle handelt, welche Spengler offen anzugreifen scheint. Und als ob der Verfasser unmittelbar nach diesem pflichtschuldigen vaterländischen Bekenntnis ein schlechtes Gewissen gegenüber zumindest einem der erwarteten Leser gehabt hätte, nämlich gegenüber Oswald Spengler selbst, setzt Fauconnet erneut an, um die Bedeutung Spenglers auch jenseits zeitpolitischer Auseinandersetzungen zu zeigen, indem er den jähen verlegerischen Erfolg Spenglers mit der langsamen, aber stetigen Wertschätzung vergleicht, die etwa Schopenhauers „Welt als Wille 78
79 80 81
Ebd., S. 252. Ähnl. auch S. 260: „S’imagine-t-on qu’il y ait en Allemagne beaucoup de lecteurs capables de dépouiller ces énormes volumes, d’approfondir cette oeuvre abstruse? Non! Si l’oeuvre est dans toutes les mains, c’est qu’elle flatte la foule pangermaniste, c’est surtout qu’elle lui évite le pénible effort de penser.“ Fauconnet 1925, S. 257. Allg. einführend hierzu etwa Görtemaker 2005. Hierzu Beßlich 2002. Fauconnet 1925, S. 259.
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267
und Vorstellung“ erfahren hatte, und unübersehbar in den Ton von Nietzsches „Der Fall Wagner“ übergeht: „Spengler a-t-il recherché le succès? Ce n’est pas certain. En tout cas, il l’a obtenu. Il n’a pas à en être fier! Il mériterait mieux que tout ce bruit... Certaines pages de lui, les moins acrimonieuses, les plus belles, auraient dû lui valoir la vraie récompense... celle d’être méconnu.“82
Doch erneut empfindet Fauconnet offensichtlich die Notwendigkeit, den hier hervorgerufenen günstigen Eindruck abzuschwächen, indem er die Frage ein weiteres Mal auf die politische Ebene trägt. Und so schließt das Werk mit der folgenden Erklärung, welche weniger über die Wahrheit der Spengler’schen Geschichtsphilosophie richten, als vielmehr den französischen Leser im Lichte des Vortrags „Pflichten der deutschen Jugend“ vor deren politischen Anwendung warnen will: „Mais pour nous Français, cette fortune littéraire est un symptôme, un fait social qui comporte un enseignement. Dans une conférence [...] Spengler rappelle aux jeunes Allemands qu’ils doivent, en silence, se préparer au grand jour, que la ‚surprise de l’adversaire est, aujourd’hui encore, tout le secret de la victoire‘. Nous avons entendu. Nous sommes avertis...“83
Es ist nicht erstaunlich, daß es vor allem jene Schlußworte waren, die von der Leserschaft selbst im deutschsprachigen Raum84 wahrgenommen und als Leseschlüssel des ansonsten ja urteilsfreien Buches angelegt wurden,85 wie ja bereits die Tatsache zeigt, daß Fauconnets Werk mit dem (bis heute verliehenen) Preis „Joseph Saillet“ ausgezeichnet wurde.86 Doch fehlte es nicht an Stimmen der Kritik, heißt es doch in einer Besprechung von Lucien Febvre: „Dois-je noter qu’on regrette parfois l’espèce d’hésitation et de retenue avec laquelle M. Fauconnet, d’une main par trop timide, donne le cou d’épingle ou de bistouri qui dégonflerait opportunément le ballon fragile ou la grosse vessie spenglérienne, muée en lanterne aux couleurs germaniques? [...] M. Fauconnet analyse, résume, coordonne. Et c’est fort bien. C’est extrêmement monotone. Il faut avoir mis le nez dans les œuvres mêmes de Spengler pour mesurer tout l’effort que représente sa tentative, tout ce qu’elle suppose de labeur diligent. Mais un historien aurait eu sans 82 83 84
85
86
Fauconnet 1925, S. 260. Ebd., S. 260. Vgl. die unter dem Autorenkürzel Bla. erschienene Besprechung von Fauconnet, Un philosophe allemand contemporain, in: Annalen der Philosophie und philosophischen Kritik 6, 1927, S. 60: „F. sieht in Spenglers Lehre eine ‚Religion germanique‘, die nicht ohne Gefahr für Frankreich sei“. Vgl. die Besprechungen in: Petit Bleu, 1.3.1926 (Jacques Nargaud); Revue pédagogique, 1. 6.1926; Revue de France, 15.3.1926; Cahier des Droits de l’Homme, 29.6.1926; Revue universitaire 6, 1927 (J. Dresde); Revue des Indépendants, Mai 1926; Le Feu, April 1926; Revue des Auteurs, 1.4.1926 (F. Jansen); Mercure de France (15.1.1927 (P. Masson-Oursel); Europe 43 (15.7.1926) (F. Challaye). Hierzu die Angabe in der „Chronique“ der Revue néo-scolastique de philosophie 29, 1927, S. 367–375, hier S. 370.
268
Spenglers Rezeption doute la dent plus dure. Et il aurait ‚déblayé‘ avec plus de décision encore et de vigueur.“87
13.5
Der Briefwechsel mit Spengler
Wie bereits erwähnt, verschaffte das Buch „Un philosophe allemand contemporain“ Fauconnet auch die Möglichkeit, von Oswald Spengler selbst wahrgenommen zu werden, der ihm am 15. März 1927 einen kurzen Brief schrieb: „Sehr geehrter Herr Fauconnet! Seit ich Ihr Buch über meine Philosophie kennengelernt habe, ist es mein Wunsch gewesen, Ihnen einige Worte des Dankes und der Anerkennung zu senden. Ich will Ihnen ganz offen gestehen, daß unter der Masse von Literatur, welche mein Werk hervorgerufen hat, in Deutschland nichts entstanden ist, was sich mit Ihrer Kritik messen kann. [...] Zum Schluß: es würde mir eine besondere Freude sein, wenn ich Ihnen eine meiner Arbeiten, die Sie noch nicht besitzen, oder mein Bild senden könnte. Wollen Sie mir mitteilen, was Sie sich wünschen? Mit den besten Empfehlungen Ihr sehr ergebener O. Spengler.“88
Doch der Hauptgrund des Schreibens dürfte wohl ein ansonsten eher beiläufiger Satz sein, den Fauconnet in seinem kurzen biographischen Abriß Spenglers wiedergab. So heißt es: „On nous affirme qu’il aurait adhéré à la nationalsozialistische Partei.“89 Spengler reagierte mit einiger Vehemenz auf diese Behauptung: „Einen Irrtum möchte ich aus für mich wichtigen Gründen berücksichtigen: ich habe der nationalsozialistischen Bewegung, die zu dem Münchener Putsch führte, nicht nur ferngestanden, sondern sogar, leider vergeblich, das Äußerste zu verhindern versucht. Mein kleiner Vortrag ‚Politische Pflichten der deutschen Jugend‘ ist an dem Tage gehalten worden, wo der Prozeß gegen Hitler begann. Ich bin der Meinung, daß Politik sich auf nüchterne Tatsachen und Erwägungen und nicht auf einer Romantik der Gefühle stützen darf.“90
Schon zwei Wochen nach Absendung dieses Schreibens, am 30. März, verfaßte Fauconnet von Poitiers aus seine Antwort: „Hochverehrter Meister! Ihr freundlicher Brief hat mir eine große Freude bereitet, und ich danke Ihnen herzlich dafür. Sollten Bild und Handschrift es bald bestätigen, was die Klaviatur der Schreibmaschine unpersönlicher ausgedrückt, so würde die 87
88 89
90
Lucien Febvre, Besprechung von Fauconnet, Un philosophe allemand contemporain, in: Revue d’histoire moderne 3, 1928, S. 151–152. Spengler, Br (Spengler an Fauconnet), S. 516–517. Fauconnet 1925, S. x. Allg. zu Spenglers Beziehung zum Nationalsozialismus vgl. einführend Fauconnet 1946; Koktanek 1966; Thöndl 1993; Stiegler 1999; Brunstad 2006; Henkel 2007 und die in Engels 2013a (= Kap. 13) zusammengestellten Quellentexte zur Spengler-Kritik im Nationalsozialismus. Spengler, Br (Spengler an Fauconnet), S. 517.
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von der ersten Frühlingssonne erhellte Wand meiner stillen Arbeitsstube einer mir so wertvollen Sendung freudig entgegenlächeln. Was Ihre Lehre betrifft, so ist meine Rolle eine sehr bescheidene gewesen und zwar ungefähr die eines elektrischen Umschalters, der eine übermächtige Strömung zum – Hausbedarf umbildet. Und natürlich mußte ich auch nicht vergessen, aus Furcht vor dem Gewitter, die Antenne zu ‚erden‘. Ich bin ja Staatsbeamter, und, als Franzose, von meinem ‚Habitus‘, von Raum und Zeit bestimmt, aber ich hatte es Ihnen mit Recht zugetraut, sie wüßten, wie Schiller sagt, ‚den Mann von seinem Amte zu unterscheiden‘. [...] Die Einfühlung habe ich nicht erzwungen. ‚Ich schrieb, weil ich mußt!, und da ich mußt, so konnt’ ich’s. Der ‚Herbst‘, der schrieb für mich...‘“91
– eine aufschlußreiche Bemerkung, welche Spengler wohl erklären sollte, wieso Fauconnet in seinen „Conclusions“ seiner offensichtlichen Begeisterung für Spengler aus strategischen Gründen wenigstens nach außen hin Zügel anlegen mußte, um seine Stelle nicht einzubüßen, und somit im Umkehrschluß natürlich die Aufrichtigkeit der vaterländischen Schlußwendung zumindest ein wenig in Frage stellt. Auch die Bitte um Richtigstellung von Spenglers Parteizugehörigkeit fand bei Fauconnet Gehör. So erklärt er zunächst, welcher Quelle er diese Angabe verdankte – diese Stelle merke man sich, da Fauconnet den Hergang in den Folgejahren ein wenig anders darstellen sollte –, dann versichert er, den Fehler bald zu beseitigen: „Bei der nächsten Gelegenheit werde ich den betreffenden Irrtum (was Ihre politische Partei betrifft) ausmerzen. Die daran schuldige Irrstimme, einen mir unbekannten Herrn O. Grautoff aus Berlin, kennen Sie schon. Den alten ‚Affen in mir‘ hat er aber nicht überlistet und mein ausdrücklicher Vorbehalt war, wie ich sehe, eine sehr zweckmäßige Abwehr.“92
Leider war es mir nicht möglich, die Stelle bei Otto Grautoff, Jugendfreund Thomas Manns sowie Gründer der Deutsch-Französischen Rundschau und der Deutsch-Französischen Gesellschaft, auszumachen, aus der Fauconnet diese Angabe gehabt haben mochte. Auch die Bedeutung des „inneren Affen“ ist nicht klar; es wäre wohl zu weit gesucht, hier eine Anspielung auf Thomas Mann zu sehen, der Spengler in einem Brief an Ida Boy-Ed vom 5. Dezember 1922 als „Nietzsches klugen Affen“ bezeichnete.93 Nach einigen, bereits erwähnten Klagen über die Provinzialität Poitiers und seine wenig motivierte Studentenschaft erklärt Fauconnet dann abschließend: „Was Wunder, daß Ihr Brief, theurer Meister, mir eine hohe ‚Freude‘ war. Sein Zauber bindet ja wiederum, was die Mode streng geteilt. So sang es gestern von Langenburg her, dank dem Funker, der so freundlich war, die Chorsymphonie, also die Kultur, die fürchterliche englische Jazzmusik, also die ‚Zivilisation‘, eine Weile übertönen zu lassen. In treuer und dankbarer Verehrung André Fauconnet.“94
91 92 93 94
Ebd. (Fauconnet an Spengler), S. 521. Spengler, Br (Fauconnet an Spengler), S. 521. Mann 1961, S. 202; zum Kontext Beßlich 2002, S. 36. Ebd.
270
Spenglers Rezeption
13.6
Besuch bei Spengler und Korrespondenz mit August Albers von C.H. Beck
Anschließend an diesen Briefwechsel und die tatsächliche Sendung eines signierten Photos, das sich heute noch in Privatbesitz befindet, muß es wohl zu einem weiteren, kurzen Austausch gekommen sein, denn Fauconnet, der unmittelbar nach Spenglers Tod einen Beitrag in der im Privatdruck erschienenen Broschüre „Oswald Spengler zum Gedenken“ verfaßte, berichtet hier von einem persönlichen Treffen zwischen ihm und dem Geschichtsphilosophen, das im Oktober 1927 um fünf Uhr nachmittags in Spenglers Münchner Wohnung zustande kam – Fauconnet war zu dieser Zeit, wie erwähnt, als Ernest-Lavisse Stipendiat in Deutschland unterwegs – und notgedrungen durch einen zumindest kurzen früheren Austausch vereinbart worden sein muß. Es würde zu weit führen, Fauconnets Beschreibung dieses Zusammentreffens ausführlich wiederzugeben. Nur soviel sei erwähnt, daß Fauconnet nicht nur von der kurioserweise als einnehmend und jugendlich beschriebenen Physiognomie Spenglers beeindruckt zu sein schien und seine exzellenten Orientzigaretten wertschätzte, sondern auch erneut den eigenen Standpunkt zu erklären suchte, indem er nachträglich äußerte: „Tout d’abord, je tiens à lui déclarer que mon effort d’historien de la philosophie pour entrer dans sa pensée, partant pour sympathiser avec elle, n’implique aucune adhésion de principe aux thèses qu’il soutient... sur l’irrémédiable décadence des pays néo-latins par exemple...“95
– eine Klarstellung, welche Spengler selbst durchaus wertzuschätzen wußte, da er Fauconnet, dessen Familie aus der Normandie stammte, als Teil der „vieille souche française“ begriff, durchaus aber auf seiner Position bezüglich der zersetzenden Wirkung des französischen wie auch spanischen Zentralismus beharrte, der eines Tages zum Opfer seiner Peripherie werden sollte – eine Anspielung, welche Fauconnet dann schaudernd als zutreffende Vorhersage des spanischen Bürgerkriegs wertete.96 Nach einigen Erklärungen zur Natur der „Formlosigkeit“ der Zivilisation befragte Fauconnet ihn sodann zu seiner Meinung bezüglich der Fortschritte der modernen Soziologie, woraufhin Spengler zum einen mit einem Verweis auf die unbedingt internationale Natur der zeitgenössischen Wissenschaftlichkeit antwortete, zum anderen mit der Behauptung, daß die Erfassung eines Sachverhalts in seiner Geschichtlichkeit zunehmend an die Stelle der 95 96
Fauconnet 1938, S. 39. Ebd., S. 41: „1927–1937 ... je ne puis évoquer ces deux dates sans émotion! Ce que le génie de Spengler avait, pour des raisons très générales, pressenti et prévu, nous voyons aujourd’hui en Espagne le réaliser, contre toute attente, sous nos yeux.“
13 André Fauconnet und Oswald Spengler
271
schöpferischen Gestaltung neuer Sachverhalte getreten sei. Kurz darauf setzte Spengler dann auch – Fauconnet zufolge – zu einem Lob seines eigenen Buches an: „Ce qui me plait surtout en lui: la discussion, l’appréciation critique de ma pensée, déplaira presque fatalement aux autres: apprécié comme travail d’érudition, il sera méconnu comme essai d’interprétation personnelle.“97
Hierauf verebbte dann auch das Gespräch, welches mit einer letzten bezeichnenden Lebensweisheit Spenglers – „Ayons toujours sur nous une bonne cigarette et consolons-nous“98 und der Einladung, bald wiederzukommen, schloß. Dem ewig mißtrauischen Geist des Historikers liegt der Verdacht naturgemäß nahe, zumindest Teile dieses Gesprächs entweder unter hagiographischen oder vielmehr apologetischen Vorzeichen zu lesen, hagiographisch, was den offenbaren Versuch darstellte, ein weiteres Mal Spenglers Lehren einer französischen Leserschaft ohne Gehässigkeit darzustellen, apologetisch, was die Selbstdarstellung Fauconnets betrifft, der offensichtlich zu zeigen bemüht war, daß sich französische Vaterlandsliebe und Wertschätzung durch Spengler durchaus vereinen ließen; zwei Punkte, die ja auch den Abschluß seines Spengler-Buchs prägten. Immerhin aber hatte der auch in der Folge fortgesetzte persönliche Austausch mit Spengler – so hat sich ein Fauconnet mit der Widmung „mit herzlichem Gruß“ zugesandtes Exemplar von „Der Mensch und die Technik“ (1931) im Nachlaß des französischen Germanisten erhalten – Fauconnet in die Rolle des französischen „Spengler-Spezialisten“ gebracht, wie durch einen bislang unveröffentlichten Briefwechsel mit August Albers (1873–1936), Lektor bei C.H. Beck, erhärtet wird. Dieser zählte zu den engen Freunden Spenglers und wurde von diesem 1933 mit dem Auftrag betraut, Fauconnet ein Exemplar der soeben erschienenen „Jahre der Entscheidung“ zuzusenden und zugleich anzufragen, was er von der soeben erschienenen französischen Übersetzung des zweiten Bands des „Untergangs“ durch Mohand Tazerout halte; ein Auftrag, den Albers dann am 21. November 1933 ausführte. So schrieb er: „Schon vor Wochen hat Herr Dr. Spengler mir den Auftrag gegeben, Ihnen seine neue Schrift „Jahre der Entscheidung“ zuzuschicken. Ich bitte sehr um Entschuldigung, daß das erst heute geschieht. Ich schicke die Schrift eingeschrieben, damit sie bestimmt in Ihre Hände kommt. Zweifellos ist Ihnen nicht entgangen, daß nun der 2. Band des ‚Untergang des Abendlandes‘ von Herrn Professor Tazerout ins Französische übersetzt ist. Natürlich würden wir sehr gerne wissen, was Sie, als der Schrittmacher Spenglers in Frankreich, von dieser Übersetzung halten. Ihr Urteil würde streng vertraulich von Herrn Dr. Spengler behandelt werden.“99
97 98 99
Ebd., S. 44. Ebd., S. 45. August Albers, Unveröffentlichter Brief an André Fauconnet vom 21. November 1933.
272
Spenglers Rezeption
Es soll hier übrigens nicht übergangen werden, daß der Verfasser zuerst „einer der“ geschrieben, danach aber das Wort „einer“ durchgestrichen und das „der“ handschriftlich unterstrichen hatte. Eine Antwort hat sich leider nicht erhalten, der geschichtliche Kontext legt allerdings nahe, daß es Spengler (und Beck) darum ging, erste Eindrücke zu sammeln, welche ihnen ermöglichen sollten, die geplante Übersetzung der „Jahre der Entscheidung“ besser einzuschätzen. Die überaus gehässige Aufnahme, die das Werk dann auf Seiten der neuen nationalsozialistischen Machthaber fand, vereitelte die Möglichkeit einer französischen Übertragung freilich, so daß Spengler am 1. März 1934 J. David, der wohl die bereits lange geplante Übersetzung im „Mercure de France“ betreute, jegliche Zustimmung zur Veröffentlichung dieser Übersetzung verweigern mußte.100 Trotzdem erschien im selben Jahr eine von der ansonsten dem Verfasser unbekannten Raïa Hadekel-Bogdanovitch angefertigte Übersetzung, welche auch noch während der Besatzungszeit weiter verlegt wurde.101 Es ist daher nicht erstaunlich, daß sich Albers wohl durch die geschichtliche Situation der gerade einige Monate zurückliegenden nationalsozialistischen „Machtergreifung“ verpflichtet sah, Fauconnet darüber zu beruhigen, daß die eingeforderte Stellungnahme keinerlei politische Auswirkung habe, da C.H. Beck sich hierin nicht in seiner Unterstützung Spenglers und seiner unabhängigen Verlegertätigkeit beirren lasse. So schrieb Albers: „Sie haben gehört, daß ‚Jahre der Entscheidung‘ einen großen Erfolg hat, wir haben in etwa 3 Monaten über 100.000 Exemplare verkauft. Die deutsche Presse hat sich sofort des Buches angenommen und sehr viel pro und contra dazu geschrieben. Gegenwärtig melden sich die Monatsschriften und greifen Spengler auch stark an, z.B. das ‚Hochland‘. In diesen Wochen erwarten wir auch Auseinandersetzungen mit Spenglers Gedanken in Buchform. Er selbst ist immer der gleiche, wie Sie ihn auch kennen. Aller Ruhm und alle Angriffe berühren ihn nicht. [...] Den Prospekt werden Sie sicher mit Befriedigung betrachten, Sie sehen daraus, daß unsere Verlagsrichtung im dritten Reich dieselbe geblieben ist.“102
Es ist dies sicherlich nicht der rechte Ort, die Verlagsgeschichte C.H Becks zu rekapitulieren oder die Aufrichtigkeit August Albers’ infrage zu stellen; erwähnt werden soll aber doch, daß Beck zwar bis 1936 weiter Werke jüdischer 100
101
102
Brief Spenglers an J. David vom 1. März 1934 (Br, S. 721): „In diesem Fall liegt die Sache so, daß ich mich aus bestimmten Gründen noch nicht entschließen kann, eine französische Übersetzung zu gestatten. Sie wissen ohne Zweifel, daß mein Buch bei einem Teil der in Deutschland regierenden Partei mißverstanden worden ist [...]. Da mir nichts ferner liegt als eine Handlungsweise, die man als Vernachlässigung vaterländischer Pflichten auslegen könnte, so muß ich bis auf weiteres – das soll nicht heißen für immer – auf eine Übersetzung ins Französische verzichten [...].“ Oswald Spengler, Les années décisives. L’Allemagne et le développement du monde, übers. von Raïa Hadekel-Bogdanovitch, Paris 1934 (belegt ist etwa eine 7. Aufl. vom Jahr 1943). August Albers, Unveröffentlichter Brief an André Fauconnet vom 21. November 1933.
13 André Fauconnet und Oswald Spengler
273
Schriftsteller veröffentlichte,103 schon 1933 aber auch von der Auflösung des juristischen Verlags des erfolgreichen Berliner Verlegers jüdischer Herkunft Otto Liebmann profitierte (wobei Liebmann in der Folge Beck durchaus als einen „Mann der vornehmsten Gesinnung“ bezeichnete),104 der ihm neben erfolgreichen Veröffentlichungen wie der „Deutschen Juristen-Zeitung“ und der Reihe „Kurzkommentare“ auch den Erwerb eines Verlagshauses in Berlin und somit den Zugang zu den Reichsministerien ermöglichte und Beck zu einem juristischen Monopolverlag machte.105 1937 trat dann auch der Verleger Heinrich Beck der NSDAP bei, um „den angestammten Verlag am Leben zu erhalten“.106 Daß die hier wie auch im Aufsatz zu Spenglers Gedenkschrift suggerierte Sympathie Spenglers für Fauconnet keineswegs nur der Opportunität des jeweiligen Anlasses zu verdanken, sondern durchaus ernst zu nehmen ist – wobei dahingestellt sei, in welchem Ausmaß diese sich dem Narzißmus Spenglers verdankte, dem es nicht unlieb gewesen sein durfte, auch in Frankreich günstig besprochen zu werden –, wird schließlich ebenfalls durch einen bislang unveröffentlichten Brief von Hildegard Kornhardt vom 24. Juli 1936 deutlich, die Fauconnet bald nach dem Tod ihres Bruders am 8. Mai 1936 mit einem Band aus der aufgelösten Bibliothek Spenglers bedachte und erklärte: „Mit gleicher Post sende ich Ihnen aus der Bibliothek meines Bruders einen Band Hölderlingedichte, die er sehr schätzte, und hoffe, Ihnen durch dieses Andenken eine kleine Freude zu bereiten. Eine größere Freude wird es Ihnen jedenfalls sein, zu hören, daß er Ihr Buch über ihn stets als ‚das Gescheiteste, was überhaupt über mich geschrieben ist‘ bezeichnete.“107
13.7
„Oswald Spengler zum Gedenken“
Die Einladung zur Teilnahme an der als Privatdruck erschienenen Gedenkschrift, die Fauconnet wohl sowohl der ausdrücklichen Wertschätzung Spenglers verdankte als auch der strategischen Überlegung, internationale Autoren einzubinden, erhielt Fauconnet durch Richard Korherr.108 Dieser war zu diesem Zeitpunkt vor allem als Autor der Schrift „Geburtenrückgang – Mahnruf an das deutsche Volk“ bekannt, seiner Oswald Spengler gewidmeten109 und von diesem 103 104 105 106 107 108 109
Willoweit 2007, S. 65–75. Ebd., S. 69. Müller 2003. Beck o.J. Hildegard Kornhardt, Unveröffentlichter Brief an André Fauconnet vom 24. Juli 1936. Allg. zu Korherrs Tätigkeit vgl. Wietog 2001, S. 209–237 und Aly/Roth 2005, S. 40–43. Spengler, Br (Korherr an Spengler), 21.10.1926, S. 470: „Hochverehrter Meister! Seit ich vor sechs Jahren, noch auf der Schulbank sitzend, Ihr mächtiges Werk ‚Der Untergang des
274
Spenglers Rezeption
sehr günstig aufgenommenen Dissertation von 1926,110 der er allerdings zunächst ein persönliches Vorwort versagte, „weil ich derartiges grundsätzlich ablehne, um nicht in gewissen Fällen wider meinen Willen eine Zusage geben zu müssen“,111 diese Ablehnung dann aber 1927 zurückzog und der in den Süddeutschen Monatsheften erscheinenden Schrift ein kleines Vorwort beigab.112 Als dann 1928 Korherrs „Geburtenrückgang“ ins Italienische übertragen wurde und Mussolini selbst eine Einleitung verfaßte, zog Korherr die Veröffentlichung in den Monatsheften zurück und bat Spengler, sein Vorwort beizubehalten.113 In Deutschland erschien das Werk im Dümmler-Verlag, 1935 wurde es schließlich mit einem Geleitwort Heinrich Himmlers versehen, was zwar nur bedingt als Zeichen für Korherrs damalige politische Einstellung zu sehen ist, da auch die japanische Übersetzung dementsprechende offizielle Vorworte erhielt, immerhin aber klarmacht, daß sich Korherrs Darstellung keineswegs auf Kollisionskurs mit den zeitgenössischen Machthabern befand. Es überrascht daher nicht, daß Fauconnet der Gedenkschrift gegenüber ursprünglich einige politische Bedenken gehabt zu haben scheint, wie zwei bislang unveröffentlichte Briefe Korherrs nahelegen, zumal neben Mussolini auch Eleonora Pacheco, die Frau Ernesto Quesadas,114 einen Beitrag liefern sollte, in welchem Fauconnet reine politische Propaganda zu wittern fürchtete, mit der er nicht in Verbindung gebracht werden wollte. So heißt es zunächst am 20. Mai 1937 in Antwort auf einen verschollenen früheren Austausch: „Für Ihre freundliche Zusage, einen Beitrag zu dem Gedenkbuch für Oswald Spengler zu liefern, sage ich Ihnen zugleich im Namen Frau Kornhardts, der Schwester Spenglers, verbindlichsten Dank. [...] Bezüglich einer etwaigen politischen Tendenz in dem Gedenkbuche können Sie vollkommen beruhigt sein, auch wenn Mussolini darin schreiben sollte. Ich habe allen deutschen Mitarbeitern mitgeteilt, daß das Buch der Tagespolitik und politischen Tendenzen ‚so ferne als nur möglich zu stehen hat‘, um der geistigen Höhe dieses einzigartigen Mannes und einsamen Denkers voll gerecht zu werden. Um volle politische Neutralität zu wahren, und um Ihnen die Mitarbeit nicht zu erschweren, habe ich veranlaßt, daß auch jede Verbindung oder Beziehung zum heutigen Deutschland vermieden wird, daß wir alle Spengler als den
110
111 112 113 114
Abendlandes‘ in die Hand bekam, habe ich mich von seinem Bann nicht mehr lösen können. Voriges Jahr habe ich mich nun entschlossen, Ihr Werk zur Grundlage meiner Doktorarbeit zu machen. Die Arbeit ist nun fertig; es fehlt aber noch eines: gestatten Sie mir, daß ich sie Ihnen, dem größten Denker unserer Zeit, zum Ausdruck meiner tiefsten Verehrung widme.“ Spengler, Br (Spengler an Korherr), 28.10.1926, S. 475: „Sehr verehrter Herr! Nachdem ich Ihre Arbeit durchgesehen habe, nehme ich den Vorschlag einer Widmung mit meinem allerverbindlichsten Dank an. Ich will Ihnen offen sagen, daß ich bis jetzt nichts gelesen habe, was eine Anregung in meinem Buche mit so viel Wissen und Verständnis vervollständigt und vertieft.“ Ebd. (Spengler an Korherr), 14.11.1926, S. 478. Ebd. (Spengler an Korherr), 28.11.1927, S. 542. Ebd. (Korherr an Spengler), 23.5.1928, S. 559–560. Allg. zur Beziehung der Quesadas mit Oswald Spengler jetzt Birkenmaier 2011, S. 37ff.
13 André Fauconnet und Oswald Spengler
275
großen Einsamen des heutigen Abendlandes sehen. Auch Ihre Sorge vor einer Propaganda der Frau Quesada, deren Schreibweise mir persönlich unbekannt ist, kann ich beseitigen: Ich habe eine harte Hand, wenn ich um Spenglers willen mich zum Streichen veranlaßt sehe. Ich werde keine Propaganda dulden, wenn sie sich an den Namen Spenglers klammern will.“115
Trotzdem wird der Verweis auf eine etwaige Mitarbeit Mussolinis (die möglicherweise eher dem Wunschdenken Korherrs als einer tatsächlichen Möglichkeit, den italienischen Diktatur für dieses politisch heikle Thema gewinnen zu können, entspricht116) Fauconnet verständlicherweise wohl kaum von der Bedeutung von Korherrs „harter Hand“ bei der Gewährleistung des apolitischen Charakters des Buchs überzeugt haben, und so scheint er in der Folgezeit seine eigene Mitarbeit nur unter dem Vorbehalt zugesichert zu haben, daß der faschistische Diktator keinen Beitrag liefere – erneut ein Zeichen dafür, wie ängstlich Fauconnet bemüht war, seine eigene politische und wissenschaftliche Position als Sympathisant Spenglers, aber Feind jeglicher faschistischen Bewegung klarzumachen. Korherr konnte ihn am 14. Juli 1937 in einem ebenfalls unveröffentlichten Brief wie folgt beruhigen: „Bezüglich des Gedenkbuches für Oswald Spengler darf ich Ihnen höflichst die Mitteilung machen, daß der italienische Regierungschef Mussolini an dem Buche nicht mitarbeiten wird, sodaß Sie nun bezüglich der Mitarbeiter des Buches gänzlich beruhigt sein können.“117
Ein weiterer Austausch ist nicht erhalten, und Fauconnet dürfte es daher wohl unbekannt gewesen sein, daß Korherr, der schon seit 1927 danach trachtete, wie der Briefwechsel mit Spengler nahelegt, die pessimistische Grundhaltung der Kulturmorphologie mit „aufbauenden“ Aspekten zu verbinden,118 1937 der NSdAP beitrat. Zwar schlug er ursprünglich ein Angebot, sich der SS anzuschließen, aus, übernahm aber seit März 1939 nach einem Treffen mit Himmler ehrenamtlich die Erstellung von Statistiken für die SS. Am 9. Dezember 1940 wurde Korherr zum Leiter der Statistischen Abteilung im SS-Hauptamt ernannt und wurde damit auch gleichzeitig zum „Inspekteur für Statistik beim Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei und beim Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums“. Traurige Berühmtheit erlangte er dann 1943 als Autor des Korherr-Berichts über die „Endlösung der Judenfrage“, wie allerdings erst 1961 bekannt wurde. Fauconnet dürfte wohl von all diesem wenig Ahnung gehabt haben, und selbst die Mitgliedschaft Korherrs in der NSdAP wird ihm sicherlich nicht oder nur ungenügend bekannt gewesen sein, da er gerade Korherr ein Exemplar seiner Schrift „Oswald Spengler a-t-il été national115 116
117 118
Richard Korherr, Unveröffentlichter Brief an André Fauconnet vom 20. Mai 1937. Ich fühle mich hier Herrn Michael Thöndl sehr zu Dank verpflichtet, der mich informierte, daß ein diesbezüglicher Briefwechsel Mussolinis mit Korherr nicht nachweisbar ist. Vgl. allg. zum Umfeld auch Michael Thöndl 2010. Richard Korherr, Unveröffentlichter Brief an André Fauconnet vom 14. Juli 1937. Spengler, Br (Korherr an Spengler), 13.1.1927 (S. 491–493) und 30.5.1927 (S. 526f.).
276
Spenglers Rezeption
socialiste?“ zusandte und von Korherr heftige Zustimmung empfing, wie wir noch sehen werden.
13.8
„Oswald Spengler a-t-il été national-socialiste?“
Wie man sieht, nahm die Frage nach der parteipolitischen Zuordnung Spenglers einen nicht unbedeutenden Raum in seinem Austausch mit Fauconnet ein. Der Sieg des Nationalsozialismus in Deutschland machte es Fauconnet einem späteren Selbstzeugnis zufolge unmöglich, sich ausdrücklicher zu dieser Frage zu äußern, da dies eine Gefahr für Spengler selbst dargestellt hätte (der nach dem Erscheinen seiner „Jahre der Entscheidung“ 1933 zur persona non grata geworden war) und nach seinem Tode auch für Spenglers Schwester und Nichte, Hildegard und Hilde Kornhardt. Der bald nach dem Ableben Spenglers eintretende Weltkrieg und die Besetzung Frankreichs machten dann eine Äußerung in dieser Frage bis 1945 unmöglich.119 Es zeugt sowohl für Fauconnets Anhänglichkeit an Spengler als auch für den Wert, den er dem Versprechen einer Richtigstellung der Frage nach Spenglers politischer Verortung beimaß, daß Fauconnet nahezu unmittelbar nach Kriegsende einen längeren Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel „Oswald Spengler a-t-il été national-socialiste?“ veröffentlichte, der als Datumsvermerk den 10. August 1945 aufweist (also gerade einmal 3 Monate nach Ende des Zweiten Weltkriegs) und in der Forschung bislang, so scheint mir, noch nie rezipiert wurde, woran wohl die Tatsache schuld sein dürfte, daß der Aufsatz in einem wohl nur in geringer Auflagenstärke veröffentlichten Sammelband zur Hundertjahrfeier der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Poitiers gedruckt wurde. Fauconnet kommt hier auf Themen zu sprechen, die bereits im Briefverkehr und seinen anderen Ausführungen zu Spengler angelegt sind, sieht sie aber unter einem neuen Blickwinkel. Auch finden sich einige überraschende Erklärungen. So heißt es: „Son oeuvre, me demandais-je, est-elle une machine de guerre construite dans le cadre de ce parti nouveau ou en dehors de lui? Ne connaissant pas encore personnellement, à cette époque, l’auteur du Déclin de l’Occident, je pensai que le mieux était de l’amener à s’expliquer lui-même sur ce point. C’est à cette fin que, dans la préface (p. x) de mon livre sur Spengler, j’écrivis les lignes suivantes: ‚On nous affirme qu’il aurait adhéré à la nationalsozialistische Partei [...].‘ Cette petite ruse de guerre eut un plein succès.“120
Diese Stelle, in welcher Fauconnet seine politische Zuordnung Spenglers als gezielte Provokation erscheinen läßt, steht in einem gewissen Widerspruch zu Fauconnets Antwortschreiben von 1927 an Spengler, in dem er Otto Grautoff für 119 120
Fauconnet 1946, S. 71–72. Fauconnet 1946, S. 70.
13 André Fauconnet und Oswald Spengler
277
die Fehlangabe zu Spenglers Parteizugehörigkeit verantwortlich gemacht und beteuert hatte, selbst nicht recht hieran geglaubt zu haben. Doch ist Vorsicht geboten, diese verschiedenartige Darstellung als inneren Widerspruch zu werten, da wohl unmöglich zu entscheiden ist, ob eine der beiden Erklärungen tatsächlich eine nicht ganz wahrheitsgemäße Ausflucht ist oder sie nur im Zusammenhang mit dem jeweiligen Darstellungszweck verständlich wird. Fauconnet mag tatsächlich von einer nationalsozialistischen Zugehörigkeit Spenglers gelesen und diese angezweifelt haben, und trotzdem ganz bewußt entschieden haben, diese Angabe in provokanter Absicht einzusetzen, um Spengler aus der Reserve zu locken. Nachdem Fauconnet dann in französischer Übersetzung die entsprechende Stelle aus Spenglers Brief vom 15. März 1927 wiedergibt, druckt er auch das gesamte Schreiben – in deutscher Sprache – ab; seltsamerweise mit der Angabe, „ich übergehe hier alle Freundlichkeiten, Komplimente und üblichen Floskeln“, die wohl nicht ganz wahrheitsgemäß ist, da die Wiedergabe des Briefs bis aufs Komma mit dem auch heute noch erhaltenen Schreiben übereinstimmt und keinerlei Kürzungen aufweist. Was nun die Antwort auf die in der Überschrift gestellte Frage betrifft, so kommt Fauconnet zu folgendem Schluß: „Non! Spengler n’a jamais été, au sens étroit du mot, un nazi. Il a ni adhéré au parti, ni favorisé son ascension, ni fondé sur lui des espérances. Dès le début, il en a diagnostiqué l’erreur fondamentale de méthode et pronostiqué l’échec.“121
Nichtsdestoweniger mußte Fauconnet daraufhin erklären, wieso er sein Buch zu Spengler mit der Werbeschrift „Pour comprendre les origines philosophiques du national-socialisme allemand“ hatte versehen lassen,122 und stützt sich hierzu vor allem auf Spenglers Wunschvorstellungen der Erziehung der künftigen Jugend, die, wie Spengler in den „politischen Pflichten der deutschen Jugend“ erklärt, „sich als Material für große Führer erziehen“ lassen sollte – eine Stelle, die Fauconnet als Vorausdeutung auf die spätere Erziehungspolitik des Dritten Reichs wertet.123 Ferner weist er darauf hin, in welchem Ausmaße die nationalsozialistische Regierung trotz ihrer Feindschaft gegenüber Spengler darauf erpicht war, die diesem im Ausland entgegengebrachten Sympathien in ihrem Sinne auszunutzen und Spengler sozusagen entgegen seiner eigenen Absicht zum Werber für das neue Deutschland zu machen; eine Stelle, die man wohl sicherlich auch als Ergebnis der persönlichen Erfahrungen Fauconnets werten kann, dessen Beschäftigung mit Spengler zeitlebens von der Angst geprägt war, politisch vereinnahmt zu werden: „Spengler est fort apprécié de Mussolini qui ne perd pas une occasion de le citer. Donc, la prudence s’impose: on le critiquera, avec quelques ménagements, dans la presse nazie, mais on l’utilisera à fond dans les pays néo-latins: Espagne, Italie, 121 122 123
Ebd., S. 72. Ebd., S. 73. Fauconnet 1946, S. 74.
278
Spenglers Rezeption République Argentine, Brésil, etc... où l’autorité de son nom peut couvrir et favoriser une propagande cynique et mensongère.“124
Fauconnet denkt hier dann auch ganz konkret an den 1934 verstorbenen Ernesto Quesada, gegen dessen Frau Eleonora Pacheco er sich ja bereits in seinem Briefwechsel mit Korherr ausgesprochen hatte, und den er als „collaborateur conscient ou non – on ne sait trop – des nazis“ und Ursprung einer „réclame bruyante“ bezeichnet.125 Nachdem Fauconnet schließlich auch den Vorwurf des Antisemitismus entkräftet, kommt er zum Schluß auf seine eigenen Vorhersagen in „Un philosophe allemand contemporain“ zu sprechen. Hier verweist er auf seine Warnung vor Spenglers Anspielung, die Erziehung zum künftigen deutschen Caesarismus müsse im Geheimen geschehen, um einen Überaschungseffekt zu ermöglichen, und sieht hierin nachträglich eine Vorwegnahme von Hitlers diplomatischer und militärischer Blitzkriegstaktik, deren Richtigkeit insoweit auch durch die deutsche Verwaltung bestätigt wurde, als Fauconnets Spengler-Buch seiner Selbstaussage zufolge angeblich auf der Schwarzen Liste der von der Gestapo zu zensierenden Büchern gestanden habe und nur deshalb nicht eingestampft wurde, weil es vergriffen war – im Gegensatz zu seinen „Études sur l’Allemagne“, deren Bestand gänzlich zerstört worden sei.126 Und so rechtfertigt Fauconnet dann auch allgemein die Tätigkeit französischer Germanisten mit der bereits im Spengler-Buch anklingenden Aufforderung, besser „la doctrine et la mentalité de nos adversaires“127 zu erkennen, indem er schreibt: „Salutaires avertissements auxquels il aurait suffi, pour devenir pleinement efficaces, d’être plus largement diffusés, plus énergiquement utilisés. Mais aussi, souvenirs bien faits pour encourager et consoler nos jeunes germanistes français dans leur labeur obscur, parfois pénible et souvent, hélas! méconnu.“128
Inwieweit es nun tatsächlich heute wie damals als Aufgabe der Germanistik zu betrachten ist, sozusagen als politisches Frühwarnsystem gegen deutschen Expansionismus zu dienen, mag bezweifelt werden; beachtenswert ist aber, daß Fauconnet hier ganz offensichtlich die bereits zu Beginn seiner Auseinandersetzung mit Spengler angewandte Taktik wieder aufgreift, den politisch anrüchig scheinenden Eindruck seiner offensichtlich durchaus günstigen Aufnahme der Spengler’schen Kulturmorphologie dadurch abzuschwächen, daß er dem letzten Satz seiner Auseinandersetzung einen ausreichend vaterländischen Schwung gibt, um etwaige Bedenken seiner Leserschaft zu zerstreuen, gleichzeitig aber dadurch auch geschickt durchklingen läßt, daß
124 125 126 127 128
Ebd., S. 75. Ebd., S. 75. Ebd., S. 78, Anm. 7. Fauconnet 1925, S. x. Fauconnet 1946, S. 79.
13 André Fauconnet und Oswald Spengler
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Zustimmung zu Spengler eben nicht auch unmittelbar Zustimmung zur deutschen Expansion bedeuten muß. Auch Fauconnets letzter Aufsatz fand in der Familie Spenglers äußerst wohlwollende Aufnahme. Hilde Kornhardt etwa war durch Richard Korherr, mit dem sie in fortlaufender Verbindung gewesen zu sein scheint, über das Erscheinen von Fauconnets Arbeit in Kenntnis gesetzt worden und richtete sich in einem bislang unveröffentlichten Brief vom 19. Februar 1947 unverzüglich an Fauconnet, um ihm für diese Arbeit zu danken, die sie allerdings noch nicht gelesen hatte: „Daß es mir eine ganz persönliche Freude bedeutet, Ihre Stimme auch heute noch, und heute wieder in der Diskussion um Spengler zu vernehmen, brauche ich wohl nicht zu betonen, ebensowenig, daß ich sehr darauf hoffe, eines Tages den von Ihnen verfaßten Artikel, von dem Sie sprechen, zu lesen. Man hört und liest jetzt selten eine sachliche Auseinandersetzung mit Spengler. Auch sein 10jähriger Todestag (07 [sic; eigentlich 8] Mai 1946) und das 30jährige Erscheinen von ‚Untergang‘ Bd. I sind bis auf je eine Ausnahme spurlos vorübergegangen.“129
Fauconnet sandte bald darauf ein Exemplar seines Aufsatzes an Richard Korherr, mit dem er ja schon früher anläßlich des Gedenkbandes korrespondiert hatte. Wie bereits erwähnt, dürften ihm die nationalsozialistischen Verstrickungen Korherrs seit 1937 unbekannt gewesen sein, da er sonst seinen Aufsatz, der Spengler vor dem Vorwurf des Nationalsozialismus und Antisemitismus in Schutz nahm, wohl kaum gerade an Korherr, der in die Endlösung verstrickt war, zugeschickt haben dürfte. Diese Vermutung wird auch dadurch bestätigt, daß Korherr am 24. August 1947 folgendes Dankesschreiben aufsetzte, welches in Anbetracht der parteipolitischen Zugehörigkeit Korherrs zumindest überraschend anmutet: „Ich darf Ihnen für die äußerst wertvolle Sendung meinen verbindlichsten Dank sagen. Sie haben sich mit diesem Aufsatz für die Sache Spengler und damit auch des gesamteuropäischen und des menschlichen Geistes ein großes Verdienst erworben. [...] Spengler ist bei uns zur Zeit leider wieder sehr modern. Frl. Kornhardt erhält immer zahlreichere Zuschriften. Mit Bewunderung wird allgemein von seiner Vorausschau gesprochen.“130
Bedenkt man, daß gerade Korherr sich die Mühe machte, diesem Schreiben eine Zusammenstellung verschiedenster Zeitungsartikel beizufügen, die Spengler ausdrücklich vom Vorwurf des Nationalsozialismus freisprechen, ist wohl anzunehmen, daß auch er überzeugt war, Fauconnet wisse nichts von seiner sträflichen Einbindung in das soeben gefallene Regime. Korherr sandte das soeben erhaltene Exemplar von Fauconnets Aufsatz denn auch unverzüglich an Spenglers Nichte weiter, die ihm am 3. September 1947 in einem ebenfalls unveröffentlichten Brief schrieb: 129 130
Hilde Kornhardt, unveröffentlichter Brief an André Fauconnet, 19. Februar 1947. Richard Korherr, unveröffentlichter Brief an André Fauconnet vom 24. August 1947.
280
Spenglers Rezeption „Soeben erhalte ich durch Herrn Dr. Korherr Ihren Artikel ‚Oswald Spengler a-t-il été national-socialiste?‘, den ich mit allergrößtem Interesse und durchweg mit Zustimmung gelesen habe. [...] Der Brief meines Onkels, den sie zitieren, war mir nicht mehr bekannt und hat mich natürlich außerordentlich interessiert. Sie können sich denken, daß ich besonders dankbar bin für eine Stimme, die sich in Frankreich erhebt, um Spengler gegen ungerechte Vorwürfe zu verteidigen, die ihm in Deutschland immer wieder in gedankenloser und gehässiger Form gemacht werden, ohne daß sich in der deutschen Öffentlichkeit, bzw. in der Presse, Gegenstimmen in größerem Ausmaß dagegen hören lassen.“131
Ein weiterer Austausch zwischen Fauconnet und Spenglers Familie ist leider nicht erhalten, aber durchaus nicht unwahrscheinlich, wie die Tatsache belegt, daß Hilde Kornhardt Fauconnet am 15.8.1950 ihren Aufsatz „Goethe und Spengler“ als Sonderdruck sandte.132
13.9
Schluß
In Anbetracht des recht geradlinigen Verlaufs der Analyse mag der Schluß kurz ausfallen und darf nicht über die nur vorläufige Natur des gesamten Unternehmens hinwegtäuschen, denn es besteht durchaus Hoffnung, daß aus dem Familienarchiv Fauconnets noch weitere überraschende Einblicke in die Aufnahme Spenglers durch den französischen Germanisten zu erwarten sind. Es dürfte aber wohl jetzt schon klar geworden sein, wie vielschichtig und doppeldeutig Fauconnets Umgang mit Spenglers Werk und seine Einbindung in verschiedenste hiermit zusammenhängende Tätigkeiten gewesen sind. Zunächst gilt es, die besondere Bedeutung Fauconnets für die Aufnahme des Spengler’schen Werks in Frankreich hervorzuheben: Fauconnet war der erste, der – zehn Jahre vor Abschluß der französischen Übersetzung – das kulturmorphologische Weltbild einer breiteren französischsprachigen Öffentlichkeit zugänglich machte, innerhalb von 20 Jahren beständig besprach und seine Bedeutung im Rahmen der zeitgenössischen politischen Auseinandersetzungen hervorstrich. Gleichzeitig ist aber auch zu bedenken, daß Fauconnets Werk im wesentlichen ohne den sicherlich verdienten Widerhall blieb und heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Die Gründe hierfür sind unschwer zu entdecken: Die von Fauconnet grundsätzlich durchgeführte Trennung zwischen der allgemeinen Güte der auch in Frankreich gültigen morphologischen Grundan-
131 132
Hilde Kornhardt, unveröffentlichter Brief an André Fauconnet vom 3. September 1947. Es handelt sich hier um ein Exemplar von Hildegard (= Hilde) Kornhardt, Goethe und Spengler, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 38,4, 1950, S. 589–596, welches der Verf. im Familienarchiv von Pierre Francé in Augenschein nehmen konnte.
13 André Fauconnet und Oswald Spengler
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nahme auf der einen Seite und der bloßen Zeitbedingtheit ihrer auf ein „imperium Germanicum“ zielenden politischen Anwendung auf der anderen dürfte gerade in Frankreich ihrer Zeit weit voraus gewesen sein und auf den Leser etwas verwirrend gewirkt haben, da der vaterländische Ton von Fauconnets Schlußfolgerungen die wissenschaftliche Bedeutung Spenglers zu verneinen schien, während der durch die Kommentarlosigkeit der Ausführungen erweckte Eindruck offensichtlicher Wertschätzung Spenglers wiederum den angeblichen politischen Standort des Verfassers zweifelhaft wirken ließ. Doch zeigt das Werk Fauconnets immerhin, in welche Richtung sich die französische Aufnahme Spenglers schon in den 30er und 40er Jahren hätte entwickeln können, wenn es nicht zum einen zur Vereinnahmung Spenglers durch den Faschismus und die damnatio memoriae der konservativen Revolution in der Nachkriegszeit gekommen wäre, zum anderen Spengler-Nachfolger wie Toynbee nicht die Originalität und Eigenartigkeit der Spengler’schen Vorhersagen verdunkelt hätten. Es kann nicht Aufgabe vorliegenden Aufsatzes sein, die hinter seinen vielschichtigen und oft auch der jeweiligen Leserschaft angepaßten Ausführungen stehende, „eigentliche“ Stellung Fauconnets herauszuarbeiten: Den französischen Lesern gegenüber stellte er sich wiederholt als kritischer Erforscher der „origines du national-socialisme“ und kritischer Prüfer des politischen Standpunktes Spenglers dar; diesem selber gegenüber beteuerte er allerdings im privaten Austausch, eben diese Kritik doch auch der Sicherung seines Lebensunterhalts zu schulden und sich zumindest seinem allgemeinen kulturmorphologischen Lebensgefühl anschließen zu können. Im Abstand von nunmehr bald 70 Jahren ist wohl unmöglich zu bestimmen, was hier innerste Überzeugung und was reine Höflichkeit bzw. kluge Vorsicht war, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß auch Fauconnet hier keine Antwort gewußt hätte. Deutlich wird allerdings auch gerade durch den Briefwechsel mit Korherr, wie dünn und schillernd die Grenze zwischen wissenschaftlichem Interesse an Kulturmorphologie, philosophischer Zustimmung zum „Untergang“, politischer Verwirklichung des abendländischen Imperiums und nationalsozialistisch bedingter rassenpolitischer Ausartung sein konnte. Der Kreis um Spengler und sein Denken vereinte eben Vertreter aller dieser Spielarten, von denen die einen, wie Fauconnet, Spengler letztlich doch nur aufgrund ihrer rein gedanklichen Neugierde und Sympathie deutscher Geistesgeschichte gegenüber verpflichtet waren, während die anderen, wie Korherr, den morphologischen Pessimismus in die vermeintliche Positivität der Tat zu überführen trachteten und durch ihre Selbstgleichschaltung mit dem vermeintlich vorhergesagten deutschen Caesarismus den Nationalsozialisten in die Hände spielten und durch ihre Beteiligung an der Rassenpolitik letztlich all das verrieten, was Spengler in seiner unbedingten kulturmorphologischen Toleranz gelehrt hatte. Es ist nicht zuletzt das Verdienst Fauconnets, diese doppeldeutige Les- und vor allem Anwendbarkeit des Spengler’schen Werks von Anfang an klargemacht zu haben,
282
Spenglers Rezeption
und es bleibt zu hoffen, daß in Zukunft nicht nur die Spenglerforschung, sondern auch die (bis heute weitgehend ausgebliebene) wissenschaftliche Weiterentwicklung von Spenglers Grundannahmen sich an dieser gleichzeitig aufgeschlossenen und vorsichtigen Haltung ein Beispiel nehmen werden.
13 André Fauconnet und Oswald Spengler
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Anhang: Der unveröffentlichte Briefwechsel Fauconnets über Spengler. Texte und Übersetzung. Die folgenden Texte sind genaue Transkriptionen der Originale; Tippfehler, mangelhafte Interpunktion oder orthographische Inkohärenzen wurden bewußt nicht korrigiert. August ALBERS, Lektor im Verlag C.H. BECK, unveröffentlichter Brief an André Fauconnet, 21.11.1933, maschinenschriftlich, Privatarchiv Pierre Francé. C.H. BECK’SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG MÜNCHEN 23 WILHELMSTR. ) A / bb. 21. November 1933 Herrn Professor André Fauconnet, l’Université Poitiers. Sehr verehrter Herr Professor! Schon vor Wochen hat Herr Dr. Spengler mir den Auftrag gegeben, Ihnen seine neue Schrift „Jahre der Entscheidung“ zuzuschicken. Ich bitte sehr um Entschuldigung, daß das erst heute geschieht. Ich schicke die Schrift eingeschrieben, damit sie bestimmt in Ihre Hände kommt. Zweifellos ist Ihnen nicht entgangen, daß nun der 2. Band des „Untergang des Abendlandes“ von Herrn Professor Tazerout ins Französische übersetzt ist. Natürlich würden wir sehr gerne wissen, was Sie, als der133 Schrittmacher Spenglers in Frankreich, von dieser Übersetzung halten. Ihr Urteil würde streng vertraulich von Herrn Dr. Spengler behandelt werden. Sie haben gehört, dass „Jahre der Entscheidung“ einen grossen Erfolg hat, wir haben in etwa 3 Monaten über 100.000 Exemplare verkauft. Die deutsche Presse hat sich sofort des Buches angenommen und sehr viel pro und contra dazu geschrieben. Gegenwärtig melden sich die Monatsschriften und greifen Spengler auch stark an, z.B. das „Hochland“. In diesen Wochen erwarten wir auch Auseinandersetzungen mit Spenglers Gedanken in Buchform. Er selbst ist immer der gleiche, wie Sie ihn auch kennen. Aller Ruhm und alle Angriffe berühren ihn nicht. Er wohnt immer noch mit seiner Schwester und Nichte in der Widenmayerstrasse 26. Wenn Sie sein Buch empfangen und gelesen haben, 133
Hier hat der Verfasser zuerst „einer der“ geschrieben, danach aber das Wort „einer“ durchgestrichen und das „der“ handschriftlich unterstrichen.
284
Spenglers Rezeption
so machen Sie mir die Freude und schreiben Sie ihm ein paar Worte. Letzten Sonntag war ich bei ihm und ich hörte wieder wie er sich Ihrer und Ihres Frl. Tochter erinnerte. Haben Sie die Freundlichkeit und sagen Sie Fräulein Fauconnet auch meine Grüsse. Ich hoffe, dass es Ihnen gesundheitlich immer befriedigend gegangen ist, dasselbe kann ich Ihnen auch von mir melden. Den Prospekt werden Sie sicher mit Befriedigung betrachten, Sie sehen daraus, dass unsere Verlagsrichtung im dritten Reich dieselbe geblieben ist. Mit besten Empfehlungen auch von Herrn Dr. Spengler verbleibe ich Ihr ergebenster A. Albers.
Hildegard KORNHARDT, unveröffentlichter Brief an André Fauconnet, 24. Juli 1936, maschinenschriftlich, Privatarchiv Pierre Francé. Dr. Oswald Spengler Kornhardt
München, den 24.7.36 Widenmayerstr. 26
Sehr verehrter Herr Professor! Mit gleicher Post sende ich Ihnen aus der Bibliothek meines Bruders einen Band Hölderlingedichte, die er sehr schätzte, und hoffe, Ihnen durch dieses Andenken eine kleine Freude zu bereiten. Eine grössere Freude wird es Ihnen jedenfalls sein, zu hören, dass er Ihr Buch über ihn stets als „das Gescheiteste, was überhaupt über mich geschrieben ist“ bezeichnete. Mit verbindlichem Gruss, auch an Ihre Frln. Tochter, Ihre H. Kornhardt
Richard KORHERR, unveröffentlichter Brief an André Fauconnet, 20. Mai 1937, maschinenschriftlich, Privatarchiv Pierre Francé. Dr. Richard Korherr
Würzburg, 20.5.1937
13 André Fauconnet und Oswald Spengler
285 Mittlerer Dallenbergweg 21a
Herrn Professor A. F a u c o n n e t Ordinarius für Germanistik Poitiers 85, Rue de la Pierre-Levée Sehr verehrter Herr Professor! Für Ihre freundliche Zusage, einen Beitrag zu dem Gedenkbuch für Oswald Spengler zu liefern, sage ich Ihnen zugleich im Namen Frau Kornhardts, der Schwester Spenglers, verbindlichsten Dank. Ich möchte Sie im Einverständnis mit Frau Kornhardt bitten, Ihren Beitrag in französischer Sprache niederzuschreiben, denn in Ihrer Muttersprache werden Sie Ihren Gedanken und Gefühlen den tiefsten Ausdruck zu verleihen vermögen; wenn ich Sie aber darüber hinaus noch bitten dürfte, uns auch die von Ihnen gedachte deutsche Uebersetzung Ihrer Ausführungen beizugeben – wir werden beides bringen –, damit uns bei der Uebersetzung kein Fehler unterlaufen kann, so wäre ich dafür besonders dankbar. Ihrer Ansicht über das bei uns übliche „Starsystem“ bei Auswahl französischer Persönlichkeiten zu Vorträgen muß ich leider beipflichten; infolge der Zusammenballung in Paris sieht man bei uns im allgemeinen auch Paris für Frankreich an und vergißt die Großtaten der „Provinz“. Bezüglich einer etwaigen politischen Tendenz in dem Gedenkbuche können Sie vollkommen beruhigt sein, auch wenn Mussolini darin schreiben sollte. Ich habe allen deutschen Mitarbeitern mitgeteilt, daß das Buch der Tagespolitik und politischen Tendenzen „so ferne als nur möglich zu stehen hat“, um der geistigen Höhe dieses einzigartigen Mannes und einsamen Denkers voll gerecht zu werden. Um volle politische Neutralität zu wahren, und um Ihnen die Mitarbeit nicht zu erschweren, habe ich veranlaßt, daß auch jede Verbindung oder Beziehung zum heutigen Deutschland vermieden wird, daß wir alle Spengler als den großen einsamen des heutigen Abendlandes sehen. Auch Ihre Sorge vor einer Propaganda der Frau Quesada, deren Schreibweise mir persönlich unbekannt ist, kann ich beseitigen: Ich habe eine harte Hand, wenn ich um Spenglers willen mich zum Streichen veranlaßt sehe. Ich werde keine Propaganda dulden, wenn sie sich an den Namen Spenglers klammern will. Wenn Sie glauben, sehr verehrter Herr Professor, daß ich Ihre Bedenken zerstreut habe – das Buch wird übrigens als Privatdruck für den weiteren Freundeskreis Spenglers erscheinen, eine weitere Beruhigung – so bitte ich Sie erneut um Ihren Beitrag von vielleicht 5 Druckseiten bis August des Jahres. Gerne greife ich zum Schluße [sic] Ihren Gedanken einer Unterredung gelegentlich der Pariser Weltausstellung auf. Ich komme mit großer Wahrscheinlichkeit zwischen 28. Juli und 1. August nach Paris, wo ich auf persönliche
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Spenglers Rezeption
Einladung durch Prof. Landry auf dem Internat. Bevölkerungskongreß einen Vortrag über den Untergang der Kulturvölker des Ostens halten werde. Wenn Sie um diese Zeit in Paris oder auf halbem Wege gegen Süden erreichbar wären, würde mich das sehr freuen. Mit ausgezeichneter Begrüßung Ihr ergebenster R. Korherr
Richard KORHERR, unveröffentlichter Brief an André Fauconnet, 14. Juli 1937, maschinenschriftlich, Privatarchiv Pierre Francé. Dr. Richard Korherr Direktor des Statistischen Amtes der Stadt Würzburg Herrn Professor A. F a u c o n n e t Ordinarius für Germanistik Poitiers 85, rue de la Pierre-Levée
Würzburg, 14.7.1937 Mittlerer Dallenbergweg 21a
Sehr verehrter Herr Professor! Bezüglich des Gedenkbuches für Oswald Spengler darf ich Ihnen höflichst die Mitteilung machen, daß der italienische Regierungschef Mussolini an dem Buche nicht mitarbeiten wird, sodaß Sie nun bezüglich der Mitarbeiter des Buches gänzlich beruhigt sein können. Eine Liste hoffe ich Ihnen im August noch zur Verfügung stellen zu können. Gegenüber meiner damaligen Angabe ist Professor Stier-Münster neu hinzugekommen, ebenso wird aller Wahrscheinlichkeit nach noch Professor Obermaier-Madrid, der zur Zeit auf Studienfahrt in Deutschland ist, ebenso vielleicht Prof. Wolfskehl-Florenz und Professor Rosenthal-Blaricum (Holland) mitarbeiten. Könnten Sie mir übrigens, sehr verehrter Herr Professor, den von Ihnen gedachten Titel Ihres Beitrages, wenn auch nur ungefähr, mitteilen, damit ich im August gleich mit der Liste der Mitarbeiter eine Liste der Beiträge versenden kann?
13 André Fauconnet und Oswald Spengler
287 Mit ausgezeichneten Wünschen und Empfehlungen Ihr ergebenster R. Korherr
Hilde KORNHARDT, unveröffentlichter Brief an André Fauconnet, 19. Februar 1947, handschriftlich, Privatarchiv Pierre Francé. 19. II. 47 Sehr geehrter Herr Professor! Durch die Gefälligkeit von Herrn Dr. Richard Korherr hörte ich zum ersten mal seit Kriegsende wieder Nachrichten von Ihnen und Ihrer lieben Tochter, was mir eine aufrichtige Freude ist. Während des Krieges hörte ich von Ihnen durch eine junge Studentin, die mich in Ihrem Auftrage besuchte und später durch Herrn Dr. Francé, der mir auch Bilder zeigte. Nun gehören Sie, Gottlob, auch zu den Überlebenden dieser Schreckensjahre und stehen auch nach wie vor mitten [unterstrichen im Original] in der geistigen Arbeit! Dass es mir eine ganz persönliche Freude bedeutet, Ihre Stimme auch heute noch, und heute wieder, in der Diskussion um Spengler zu vernehmen, brauche ich wohl nicht zu betonen, ebensowenig, dass ich sehr darauf hoffe, eines Tages den von Ihnen verfassten Artikel, von dem Sie sprechen, zu lesen. Man hört und liest jetzt selten eine sachliche Auseinandersetzung mit Spengler. Auch sein 10jähriger Todestag (7. [sic; eigentlich 8] Mai 1946) und das 30jährige Erscheinen von „Untergang“ Bd. I sind bis auf je eine Ausnahme spurlos vorübergegangen. Zum letzteren Datum erschien hier in einer Münchener Zeitung ein guter Artikel. Ich habe noch nicht die Möglichkeit an der wissenschaftlichen Herausgabe des Nachlasses weiter zu arbeiten, zumal ein ganzer Teil der Manuskripte unerreichbar in der russischen Zone lagert, manches vernichtet ist. Auch bin ich jetzt, wie Ihnen vielleicht Dr. Korherr mitteilte, infolge Amputation eines Beines stark körperbehindert und habe mit einem ¾ Jahr Krankenhaus viel Zeit verloren. So beschäftige ich mich zur Zeit hauptsächlich mit der Biographie meines Onkels, die von meiner Mutter bis 1919 geführt war und versuche, sie mit dem mir zu Gebote stehenden Material zu vollenden. Auch da hat der Krieg vieles vernichtet, sowohl durch meine Ausbombung als durch Plünderung von verlagerten Sachen. Aber ich gehe doch mit ungebrochenem Mut an die Aufgabe heran.
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Spenglers Rezeption
Wenn es Ihre Augen gestatten oder Ihre Frau Tochter sich der Mühe unterziehen wollte, würden mich einige Zeilen von Ihnen jederzeit herzlich erfreuen. Mit den besten Wünschen für Sie grüsst Ihre ergebenste Hilde Kornhardt.
Richard KORHERR, unveröffentlichter Brief an André Fauconnet, 24. August 1947, maschinenschriftlich, Privatarchiv Pierre Francé. DR. RICHARD KORHERR
(13a) SULZBACH / DONAU, 24.8.1947 POST DONAUSTAUF ÜBER REGENSBURG DEUTSCHLAND / AMERIKANISCHE ZONE
Herrn Professor André FAUCONNET der Universität Poitiers 85ter Rue de la Pierre levée POITIERS Dep. de la Vienne) France Sehr verehrter Herr Professor! Bereits vor einer Woche lief Ihr Brief und Sonderdruck hier ein, den ich erst heute nach Rückkehr von einer Reise in die „Britische Zone“ Deutschlands beantworten kann. Ich darf Ihnen für die äußerst wertvolle Sendung meinen verbindlichsten Dank sagen. Sie haben sich mit diesem Aufsatz für die Sache Spengler und damit auch des gesamteuropäischen und des menschlichen Geistes ein großes Verdienst erworben. Wie recht Sie haben, dürften die beigefügten Zitate aus meinem Material unterstreichen. Spengler ist bei uns zur Zeit leider wieder sehr modern. Frl. Kornhardt erhält immer zahlreichere Zuschriften. Mit Bewunderung wird allgemein von seiner Vorausschau gesprochen. Im Frühwinter soll ich vor dem „deutschen Haus der Technik“ einen Vortrag über „Spengler und die Technik“ halten.
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Frl. Kornhardt habe ich von Ihrer Einladung, Ihren Wünschen und Grüßen gerne Kenntnis gegeben. Ich weiß nicht, ob Sie Ihnen nun selbst auf einer Schreibmaschine schreibt oder die Übermittlung ihrer Nachricht mir überläßt. Jedenfalls wird Ihr Angebot sie tief bewegen und sie wird sich über Ihre gute Absicht innig freuen. Sie wurde tatsächlich mehrfach ausgebombt, verlor viele wertvolle Sachen. 1945 wurde sie, als die Amerikaner schon im Lande waren, von einem Kraftwagen überfahren und es mußte ihr ein Bein abgenommen werden. Es sah eine Zeitlang schlecht um sie aus, aber jetzt hat sie sich wieder körperlich zurechtgefunden. Geistig und seelisch ist sie ungebrochen und tapfer über diese furchtbare Zeit hinweggekommen. Das Erbe Spenglers ist bei ihr in guten Händen, sie ist, wie man bei uns volkstümlich sagen würde, ein „resolutes Persönchen“. Indem ich Ihnen, sehr verehrter Herr Professor, für Sie selbst und Ihre Familie alles Gute wünsche, verbleibe ich mit den besten Empfehlungen und Grüßen
1 Anlage
hochachtungsvoll Ihr ergebenster Richard Korherr
Hierauf folgen dann zwei ebenfalls maschinenschriftliche Blätter mit Exzerpten: EINIGE AUSZÜGE AUS MEINEM MATERIAL ÜBER OSWALD SPENGLERS STELLUNG ZUM NAZISMUS 1) NEUE ZEITUNG, Zeitung der amerikanischen Armee in Deutschland, schrieb in Nr. vom 15. März 1946 (Aufsatz von Claus Herrmann über „Spengler und die Tatsachen“) u.a.: „Er warnte vor der Weltrevolution der farbigen Völker, zu denen er auch die Russen zählte, aber er lehnte die Rassentheorie ab; ‚Farbige‘ waren nach seiner Definition nicht Angehörige fremder Rassen, sondern fremder Kulturkriege: Grund genug für den Nationalsozialismus, ihn als unliebsamen Konkurrenten zu bekämpfen“ ..... „... das Verdammungsurteil, das später der Nationalsozialismus über ihn fällte“. 2) Im GEDENKBUCH schreibt Fritz BEHN: 23: „Er suchte verzweifelt nach diesem Cäsar, nach dieser Kraft, die Tat und Geist vereinen mochte, die er selbst nicht hatte. Das war seine Tragik – sie brach ihm das Herz“. 3) Daß Spengler in Hitler keinen „Führer“ sah, beweisen die Nazi selbst in: „Der Deutsche“, Zeitung der Deutschen Arbeitsfront vom 30. November 1933: „In diesem Augenblick spricht das in höchster Volksgemeinschaft geeinte deutsche Volk dem blutleeren, verzweifelten Pessimismus, dem kalten Zynismus
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Spenglers Rezeption
des Spenglerschen Gedankenbildes sein vernichtendes Urteil. Spengler schließt sein Werk mit den Worten: ‚Ich sehe keinen Führer!‘ An der Schwelle einer neuen Zeit, einer jugendstarken, hoffnungsfreudiger Zukunft antwortet ihm ein geeintes Volk mit dem Ruf: ‚Heil Hitler‘“. Das war 1933. 4) 1933 erschien auch ein Buch „SPENGLER IM DRITTEN REICH“ von Arthur ZWEINIGER, Verlag Stalling-Oldenburg, das z.B. S. 91 schreibt: „So hat er mit dem umfassenden Kampf des Nationalsozialismus für die Verwirklichung des gesamten lebendigen Deutschtums keine Fühlung“. 5) Günther GRÜNDEL, „Jahre der Überwindung“. „Umfassende Abrechnung mit dem Untergangs-Magier“, Breslau 1934: S. 67 heißt es hier über Spenglers Weltanschauung: „Wenn Spengler künftig überhaupt noch Bücher schreibt (!!), dann werden wir ihn zwingen, in diesem wesentlichsten Punkte Farbe zu bekennen“. S. 74: „Ein wortbegabter, aber sadistischer Nihilist wollte die Rolle des großen Spielverderbers übernehmen... Die Gefahr ist beseitigt... Vielleicht ist es schade, daß wir Deutschen nun eines ‚großen Namens‘ beraubt sind... Dieser in seiner Art zwar schöne und starke, aber bösartige Drache m u ß t e [gesperrt im Original] getötet werden.“ S. 77: „So redete er denn also über hundert Seiten von Dingen, die längst überholt waren, und unternahm es, 165 Seiten über die ‚Jahre der Entscheidung‘ zu beschreiben, ohne den Nationalsozialismus und den Namen Adolf Hitler auch nur ein einziges Mal zu erwähnen...“ 6) Dr. Johann von LEERS, „Spenglers weltpolitisches System und der Nationalsozialismus, Berlin 1934, Junker & Dünnhaupt“ ...Oswald Spenglers „Jahre der Entscheidung“ S. 6: „... der erste ganz große ideologische Angriff auf die nationalsozialistische Weltanschauung...“ S. 7: „... Hier wird ideologisch die Gegenrevolution vorbereitet... Es ist der Generalplan der Konterrevolution!“ S. 12: „... er ignoriert die gesamten Ergebnisse der Rassewissenschaft, er ignoriert Gobineau, Vacher de Lapouge, Ammon, Chamberlain, Günther – er ignoriert Adolf Hitler!“ „Seine Auffassung von der unabwendbaren Entwicklung der Geschichte jedes Volkes, die enden m u ß [gesperrt im Original] in einer späten, cäsaristischen Verfallszeit, steht in schneidendem Gegensatz zu der Auffassung Adolf Hitlers, die Aufstieg und Verfall eines Volkes bedingt sieht durch die Beimischung der kulturschöpferischen Rasse.“ S. 43: „Böse ist es schon, wenn Spengler von ‚arischen Wunschbildern‘ redet... hinterlistig... Das Buch ist unter Adolf Hitlers Regierung herausgekommen!“ S. 45: „Wie lange wollen wir uns eigentlich diese boshafte reaktionäre Verhöhnung der uns heiligsten Dinge gefallen lassen? Ein früherer Kommunist (S.
13 André Fauconnet und Oswald Spengler
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46), der auch nur annähernd etwas Derartiges schreibt, würde unzweifelhaft sofort eingesperrt werden. Ich fordere nicht, daß man Spengler einsperrt, aber ich fordere, daß jeder Nationalsozialist erkennt, was hier gebraut und gebraten wird...“ 7) DAGENS NYHETER vom 12. Mai 1936. „P.S. über Oswald Spengler“. „Außerdem scheint er in den letzten Jahren sehr unter den bedeutungslosen und nach seiner Ansicht biologisch und kulturhistorisch absurden Rassenspekulationen und Rassenverfolgungen in seinem Lande gelitten zu haben.“ 8) NEUE ZÜRICHER ZEITUNG vom 10. August 1936. „Oswald Spenglers Gestalt“, von P.F. „Daß Spengler über das ‚Rassen-Thema‘ Gedanken geäußert hat, die für das heutige Deutschland sehr ketzerisch sind, ist bekannt.“ 9) NEUE FREIE PRESSE, Wien, vom 9. Mai 1936: Oswald Spengler und sein Werk. „... Das letzte Buch Oswald Spenglers war ‚Jahre der Entscheidung‘ betitelt, beschäftigte sich mit dem Umsturz in Deutschland und hat zu scharfen Auseinandersetzungen zwischen dem Autor und der nationalsozialistischen Bewegung geführt. Einen an ihn im Jahre 1933 ergangenen Auftrag, als Nachfolger Lamprechts den Lehrstuhl für Geschichte an der Leipziger Universität zu übernehmen, hat Spengler abgelehnt.“ 10) Ich selbst könnte bezeugen: Spengler hat sich mir gegenüber, wenn die Rede auf die Nazis und ihren „Führer“ kam, stets in völlig abweisender, wegwerfender und vor allem höhnischer Weise über sie und ihre Lächerlichkeit ausgesprochen. Nach Spenglers Tod wurde ich mindestens ein Dutzendmal ernstlich und dringend gefragt, ob Spengler von den Nazis ermordet worden sei. Meine Erklärung, daß er nach meinem Wissen eines natürlichen Todes gestorben sei, wurde meist nicht ernst genommen. R. Korherr 24.8.47
Hilde KORNHARDT, unveröffentlichter Brief an André Fauconnet, 3. September 1947, maschinenschriftlich, Privatarchiv Pierre Francé. München, den 3. September 1947.
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Spenglers Rezeption
Sehr verehrter Herr Professor! Soeben erhalte ich durch Herrn Dr. Korherr Ihren Artikel „Oswald Spengler a-til été national-socialiste?“, den ich mit allergrösstem Interesse und durchweg mit Zustimmung gelesen habe. Ich danke Ihnen besonders für das Verständnis, das Sie auch der persönlichen Lage meiner Mutter und später meiner eigenen unter dem 3. Reich entgegenbringen, sowie für die freundlichen und warmen Worte, die Sie für meine Mutter gefunden haben. Der Brief meines Onkels, den sie zitieren, war mir nicht mehr bekannt und hat mich natürlich ausserordentlich interessiert. Sie können sich denken, dass ich besonders dankbar bin für eine Stimme, die sich in Frankreich erhebt, um Spengler gegen ungerechte Vorwürfe zu verteidigen, die ihm in Deutschland immer wieder in gedankenloser und gehässiger Form gemacht werden, ohne dass sich in der deutschen Öffentlichkeit, bzw. in der Presse, Gegenstimmen in grösserem Ausmass dagegen hören lassen. Ich muss Herrn Dr. Korherr den Aufsatz wieder zurückstellen. Doch hoffe ich, ihn später noch einmal für längere Zeit zu bekommen und werde mir dann erlauben etwas näher auf den Inhalt einzugehen. Etwas was ich persönlich nicht überschaue, ist die Stellung von Prof. Quesada und seiner Frau. Darüber wird, wie ich denke, Ihnen Herr Dr. Korherr vielleicht einiges schreiben. Entschuldigen Sie bitte, dass ich neulich wegen einer leichten Unpässlichkeit meiner Schreibmaschine mit der Hand geantwortet habe. Ich wollte aber die vorläufige Antwort nicht länger hinauszögern. Inzwischen ist sie, wie Sie sehen, völlig wieder hergestellt und so füge ich denn, da Sie dazu auffordern, einige Bemerkungen über mein persönliches Ergehen hinzu. Vor allem danke ich Ihnen wie Ihrer Frau Tochter aufs allerherzlichste für Ihren im Augenblick ja leider unausführbaren Wunsch, mich einmal nach Poitiers einzuladen. Selbstverständlich würde es für mich eine grosse Freude und sicher eine sehr lebhafte geistige Anregung sein, einige Tage in dieser herrlichen Landschaft und vor allem in Ihrer Nähe zu verbringen. Doch wird man warten müssen bis die Heilung der schweren geistigen und seelischen Wunden, die dieser Krieg den Leben der Völker geschlagen hat, ein wenig mehr vorangeschritten ist. Doch danke ich Ihnen schon jetzt für die freundliche und vornehme Gesinnung, die aus Ihrem Vorschlag spricht. Gesundheitlich bin ich mit meinem Befinden eigentlich ganz zufrieden. Dass ich, bei einer Hitze, wie sie dieser Sommer mit sich brachte, nicht leistungsfähig bin, ist ja weiter kein Wunder, da auch die Gesunden darunter zu leiden hatten. Aber im Ganzen verfüge ich doch wieder über eine leidliche Bewegungsfreiheit, so dass ich auch schon kleinere und grössere Reisen bewältigen und auch schon Strecken von einigen Kilimetern zu Fuss zurücklegen kann. Ich verlor mein Bein im August 1945, bei meinem Umzug, durch einen Verkehrsunfall und musste wegen verschiedener Komplikationen bis Mai 1946 im Krankenhaus bleiben.
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Ich bewohne jetzt ein Zimmer in Schwabing mit Resten unserer früheren Wohnungseinrichtung, Resten der Bibliothek und des sonstigen Hausrats, koche für mich selbst und mache, abgesehen von gelegentlicher Hilfe, durch Freundinnen und Bekannte, meine Hausarbeit selbst. Ich arbeite zur Zeit an der Biographie meines Onkels für die Jahre nach dem ersten Weltkrieg. Meine Mutter hatte die Biographie bis zum „Erscheinen des 1. Bandes „Untergang des Abendlandes“ und dem Ende des Weltkriegs geführt. Da meine Mutter sich weniger als ich für die politischen Dinge interessierte, hatten wir von vornherein uns in der Form in die Arbeit teilen wollen, dass meine Mutter die gesamte Jugendgeschichte und die ganze Entwicklung bis zu diesem Zeitpunkt schildern wollte, während ich seine „politische Zeit“ 1919–1925 darstellen sollte. Wir haben uns auch von vornherein beim Zusammenbringen des Materials jeder auf sein Gebiet beschränkt, in der Form, dass meine Mutter Mitschüler, Kollegen, Schüler aus der Oberlehrerzeit u.s.w. befragte, während ich mich um Mitarbeiter und Bekannte aus den Nachkriegsjahren bemühte. Das Material ist im Ganzen denkbar spärlich und Lückenhaft. Zu meinem grossen Leidwesen erfuhr ich auch jetzt kurz hintereinander den völligen Verlust der Akten des FrobeniusInstitutes, sowie der Briefe von August Albers, die dieser reichlich und regelmässig in den fraglichen Jahren an seinen Bruder geschrieben hatte. Auch ist mir durch den Krieg ein Band Briefe Spenglers an das Nietzsche-Archiv verloren gegangen, abgesehen von zahlreichen anderen kleineren Verlusten an Material und Aufzeichnungen. Die biographische Aufgabe ist in keiner Weise leichter als es etwa die Behandlung einer Persönlichkeit aus dem 16. [ersetzt durch 17.] oder 12. Jahrhundert wäre. Nur für die letzten 11 Jahre Spenglers stehen mir mehr oder weniger zahlreiche persönliche Erinnerungen zu Gebote, alles übrige muss ich aus geringfügigen Einzelheiten mosaikhaft zusammensetzen. In welcher Weise Spengler übrigens gegen den Nationalsozialismus in seinen Anfängen gearbeitet hat, kann ich bis jetzt zu einem gewissen Grade überblicken. Wenn es Sie interessiert, werde ich Ihnen gerne einiges darüber mitteilen. Freilich, bis wann ich dieses Buch werde abschliessen können und bis wann sich eine Möglichkeit, d.h. eine Erlaubnis ergeben wird es zu drucken, das hängt von allen möglichen Umständen ab, über die ich nicht Herr bin. Vorläufig ist von den sämtlich vergriffenen Werken Spenglers noch nichts wieder neu gedruckt worden. Für die politischen Schriften besteht auch keine Aussicht, in meinen Augen auch nicht einmal die unbedingte Notwendigkeit, es sei denn, im Falle der „Jahre der Entscheidung“. Dagegen ist es ein sehr schwerer und drückender Mangel, dass die jetzt heranwachsende Generation keine Exemplare in auch nur annähernd genügender Zahl zur Verfügung hat, um sich mit diesem Werk [diese beiden Worte durchgestrichen und handschriftlich ersetzt durch den „Untergang d. Abendlandes“] auseinanderzusetzen. Ebensowenig besteht die Möglichkeit, dass die zahllosen Leute, die das Buch durch die Kriegsereignisse verloren haben, die Lücke ergänzen können.
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Spenglers Rezeption
Immerhin hoffe ich, dass die verständnislose und feindselige Haltung der allgemeinen Öffentlichkeit allmählich wieder etwas gemildert wird. Mit den herzlichsten Wünschen für Ihre Gesundheit und Ihre Arbeitskraft und vielen Grüssen auch an Ihre Frau Tochter, verbleibe ich Ihre sehr ergebene Hilde Kornhardt
14
Die Rezeption Oswald Spenglers bei Francis Scott Fitzgerald
14.1
Einleitung
Im kollektiven Unterbewußtsein der Geschichts- und Literaturwissenschaft bleibt die Rezeption Oswald Spenglers meist auf den deutsch-, italienisch- und spanischsprachigen Raum beschränkt und konzentriert sich verständlicherweise oft auf große Namen wie Thomas Mann oder Ortega y Gasset. Hierbei wird oft vergessen, daß Spengler im angelsächsischen und v.a. nordamerikanischen Raum nicht weniger intensiv, frühzeitig und komplex rezipiert wurde als im kontinentaleuropäischen Bereich, und im Gegensatz zu diesem nicht nur meist überraschend positiv und unpolemisch gelesen wurde, sondern auch Schriftsteller, Philosophen und Historiker über alle künstlerischen und weltanschaulichen Grenzen hinweg in seinen Bann zu ziehen vermochte – und dies meist, ohne unter der (falschen)1 politischen Etikettierung als nicht zitierfähiger „Vordenker“ des Nationalsozialismus gelitten zu haben, ganz im Gegensatz zur europäischen Aufnahme seiner Geschichtsphilosophie. Der uns zur Verfügung stehende Raum erlaubt es freilich kaum, dieser vielschichtigen Rezeptionsgeschichte auch nur ansatzweise gerecht zu werden, so daß wir uns der Komplexität der Spenglerrezeption nur exemplarisch annähern können. Die Bedeutung Spenglers für die Mehrzahl der oben zitierten Autoren ist zumindest in der angelsächsischen Forschung bereits recht gut aufgearbeitet, so daß eine Wiedergabe der diesbezüglichen Passagen und Analysen den Wissenschaftsdiskurs kaum voranbringen kann; wir wollen uns daher vielmehr einem Autor zuwenden, welcher in besagtem Kontext nur gelegentlich untersucht wird: Francis Scott Fitzgerald, welcher Spengler nicht nur in seinem literarischen Werk und seinen autobiographischen Zeugnissen namentlich zitiert, sondern auch inhaltlich verarbeitet. Zuvor allerdings gilt es, einige methodische Probleme zu thematisieren, welche nicht nur in der Spengler-Forschung im besonderen, sondern in der Rezeptionsgeschichte im allgemeinen manchmal nur ungenügend angeschnitten werden, obwohl sie eine allbekannte Schwierigkeit darstellen. Spengler sowie Fitzgerald beschreiben im wesentlichen die kulturelle und soziale Realität Westeuropas in der Zwischenkriegszeit der 20er und 30er Jahre, und da nicht nur der Gegenstand ihrer Überlegungen, sondern auch ihre jeweiligen 1
Koktanek 1966. Zur zeitgeschichtlichen Verankerung der erstmals explizit bei André Fauconnet (1946) gestellten (und verneinten) Frage „War Spengler Nationalsozialist?“ vgl. auch Engels 2013a (= Kap. 13).
296
Spenglers Rezeption
kulturgeschichtlichen Diagnosen weitgehend miteinander übereinstimmen, liegt die Gefahr nahe, oft unabhängig voneinander gewonnene, persönliche Eindrücke rückblickend als bloße Lesefrüchte abzuqualifizieren und damit der Einsicht Spenglers einen zu großen, der Originalität Fitzgeralds aber einen zu geringen Stellenwert einzuräumen. Diese Gefahr zu vermeiden ist natürlich im Einzelfall alles andere als einfach, und auch, wenn wir uns im folgenden wesentlich lediglich um den Versuch des Nachweises und der Analyse unmittelbarer Rezeptionsformen Spenglers bemühen wollen und literaturkritische Überlegungen nur mit einem gewissen inneren Vorbehalt versehen möchten, ist doch festzuhalten, daß wir nur selten mit letzter Sicherheit zwischen rezipierten und unabhängig gewonnenen Gedanken unterscheiden können.
14.2
Biographische Rezeption
Francis Scott Fitzgerald2 (1896–1940) ist dem breiteren Publikum heutzutage meist nur noch als Autor von „The Great Gatsby“ (1925) und des psychoanalytischen Romans „Tender is the Night“ (1934) bekannt, während die zahlreichen Novellen sowie der unvollendete, nur posthum als Fragment veröffentlichte Roman „The Last Tycoon“ (1929–40) und der im Frankenreich des 9. Jahrhunderts verortete historische „Philippe, Count of Darkness“ (seit 1934) weitgehend in Vergessenheit geraten sind; eine recht selektive Rezeption Fitzgeralds, die uns in diesem Kontext allerdings nicht weiter beschäftigen soll. Fitzgerald hat sich bereits relativ früh mit Oswald Spengler auseinandergesetzt,3 wie zahlreiche autobiographische Zeugnisse nahelegen. Inhaltlich ältestes Zeugnis ist wohl ein von Fitzgerald an Maxwell Perkins gesandter Brief vom 6. Juni 1940, in welchem der Schriftsteller erklärt: „Did you ever read Spengler – specifically the second volume? I read him the same summer I was writing the Great Gatsby and I don’t think I ever quite recovered from him.“4
Oft wird angenommen, daß es sich bei dieser Äußerung um ein Versehen Fitzgeralds handelte, da er des Deutschen nicht mächtig war und die englischsprachige Übersetzung des ersten Bandes des „Untergangs“ erst 1926 erschien, also zwei Jahre nach der Niederschrift von „The Great Gatsby“ im Jahre 1924 (publ. 1925).5 Nichtsdestoweniger ist nicht auszuschließen, daß Fitzgerald auch 2
3 4 5
Allg. zu Fitzgeralds Leben und Werk vgl. Kazin 1951; Goldhurst 1963; Stern 1970; Le Vot 1979; Bruccoli 1981; Pair 1983; Gale 1998; Prigozy 2002. Vgl. einführend Moyer 1972; Gidley 1973; Lehan 1980; Bender 1998; Hofmann 2000. Fitzgerald 1963 (Letters), S. 289–290. Vgl. zum Beispiel Sklar 1967, S. 135 und 356 (Anm. 1); Bruccoli 1985, S. 7.
14 Oswald Spengler bei Francis Scott Fitzgerald
297
unabhängig von der direkten Lektüre des „Untergangs“ über Gespräche mit befreundeten Intellektuellen oder die Rezeption Spenglers in der zeitgenössischen Presse ein hinreichend ausführliches Bild der Grundthesen des „Untergangs“ gehabt haben mochte.6 Sicher ist jedenfalls, daß Fitzgerald den ersten Band des „Untergangs“ spätestens im Frühjahr 1927 las;7 denn im selben Jahr bekannte er, als er befragt wurde, welche Bücher ihn zu verschiedenen Zeiten am meisten geprägt hätten, daß ihn mit 30 Jahren Spengler am stärksten beeinflußt habe8 – eine Aussage, welche den Reporter Harry Salpeter offensichtlich tief schockierte, wie dessen folgende Wiedergabe des Gesprächs zeigt: „F. Scott Fitzgerald is a Nietzschean, F. Scott Fitzgerald is a Spenglerian. F. Scott Fitzgerald is in a state of cosmic despair. [...] Here was I interviewing the author of ‚This Side of Paradise‘, the voice and embodiment of the jazz age, its product and its beneficiary, a popular novelist, a movie scenarist, a dweller in the gilded palaces, a master of servants, only to find F. Scott Fitzgerald, himself, shorn on these associations, forecasting doom, death and damnation to his generation, in the spirit, if not in the rhetoric, of your typical spittoon philosopher.“9
Spätestens Ende 1928 folgte dann auch die Lektüre des zweiten Bandes, wie ein Brief an Ernest Hemingway vom 28. Dezember 1928 zeigt, in dem Fitzgerald schreibt: „Spengler’s second volume is marvelous. Nothing else is any good.“10 Wie wichtig Fitzgerald die Kenntnis der Spengler’schen Geschichtsmorphologie seitdem war, geht auch aus zahlreichen weiteren Informationen hervor. 1927 oder 1928 schenkte Fitzgerald Gene Tunney ein Exemplar des ersten Bandes des „Untergangs“, mit der Widmung: „Dear Mr. Tunney, I couldn’t find either Boyd’s book or Broun’s book. This is an extraordinary thing you’ve perhaps heard of—the idea that civilizations have as definite mortality as people. You’ll probably never plough through it, but do at least look at the tables at the end. Yrs., F. Scott Fitzgerald.“11
Auch seine Gattin Zelda kannte wohl Fitzgeralds Vorliebe für Spengler, schrieb sie ihm doch im Frühling 1931 von ihrem Schweizer Sanatorium folgendes:
6
7 8 9 10 11
Lehan 1980, S. 137–138, der eine ganze Reihe von Aufsätzen aufzählt, welche Spenglers „Untergang“ für eine amerikanische Leserschaft zusammenfaßten und in Zeitschriften erschienen, welchen Fitzgerald eng verbunden war; Tate 1998, S. 231. Sklar 1967, S. 222. Bruccoli/Bryer 1971, S. 275. Salpeter 1927, S. 12. Fitzgerald 1963 (Letters), S. 304 Fitzgerald wäre enttäuscht gewesen: Das Buch wurde am 11. Dezember 2008 bei Sotheby’s New York für 4688 Dollar versteigert, war aber noch ungeöffnet ... (Vgl. http:// www.sothebys.com/app/live/lot/LotDetail.jsp?lot_id=159509114, zuletzt konsultiert am 13. März 2011.)
298
Spenglers Rezeption „I would like to be working – what would you like? Not work, I know, and not lone places. Would you like to be in New York with a play in rehearsal like you always said? and to have decorative people about you – to be reading Spengler, or what?“12
Am 10. September 1932 schrieb Fitzgerald an Margaret Bayard Turnbull: „I believe that if one is interested in the world into which willi-nilly one’s children will grow up, the most accurate data can be found in the European leaders, such as Lawrence, Jung, and Spengler, and after that in the very sincere young Americans emerging one by one.“13
Und noch gegen Ende seines Lebens, zwischen 1937 und 1940, setzte Fitzgerald Spengler auf die Leseliste, die er seiner letzten Geliebten, der Kolumnistin Sheilah Graham Westbrook (1904–1988), zur Vervollständigung ihrer persönlichen Bildung empfahl; ein von dieser in „A College of One“ festgehaltenes Kuriosum,14 welches eine nicht unwesentliche Bedeutung für den Roman „The Last Tycoon“ haben sollte, wie wir noch sehen werden. Ganz ähnlich befand sich Spengler auch auf der Leseliste von Fitzgeralds Tochter Scottie, wie ein Brief vom 15. Juni 1940 belegt, in welchem Fitzgerald seiner Tochter die SpenglerLektüre als Gegenmittel für Niedergeschlagenheit empfiehlt. Es ist in diesem Kontext interessant, daß der Aufstieg des Faschismus und der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wenig an Fitzgeralds Spengler-Begeisterung verändert hat. Ganz im Gegenteil finden wir in dem bereits zitierten Brief an Maxwell Perkins vom 6. Juni 1940 explizite Äußerungen, in denen Fitzgerald Spengler förmlich verteidigt und etwa mit den Äußerungen des Militärhistorikers und britischen Faschisten J.F.C. Fuller vergleicht, der zwar Spenglers Stil, nicht aber seinen Pessimismus teilte:15 „Poor old Spengler has begotten Nazis that would make him turn over in his grave, and Fuller makes his own distortion: Spengler believed that the Western world was dead, and he believed nothing else but that – though he had certain ideas of a possible Slavic re-birth. This did not include Germany, which he linked with the rest of Western Europe as in decline. And that the fine flower of it all was to be the battle of Vittorio Veneto and the rise of Mussolini – well, Spengler’s turn in his grave must have been like that of an airplane propeller. [...] He and Marx are the only modern philosophers that still manage to make sense in this horrible mess. I mean make sense by themselves and not in the hands of their distorters. Even Mr. Lenin looks now like a much better politician than a philosopher. Spengler, on the other hand, prophesied gang rule, ‚young peoples hungry for spoil‘, and more particularly ‚The world as spoil‘ as an idea, a dominant supersessive idea.“16
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Fitzgerald 2002, S. 103–104. Fitzgerald 1963 (Letters), S. 433. Graham 1967; vgl. auch Graham 1959. Vgl. Trythall 1977. Fitzgerald 1963 (Letters), S. 289–290.
14 Oswald Spengler bei Francis Scott Fitzgerald
14.3
299
Literarische Rezeption
Diese etwas längere Übersicht über die verstreuten autobiographischen Notizen dürften wohl ausreichend belegen, daß Oswald Spengler für Fitzgerald keineswegs nur eine gelegentliche und schnell vergessene Lektüre darstellte, sondern die letzten 15 Jahre seines Lebens nachhaltig geprägt hat. Inwieweit darf nun vermutet, werden, daß diese Lektüre auch Fitzgeralds literarische Produktion beeinflußte? Während die Romane „This Side of Paradise“ (1920) und „The Beautiful and Damned“ (1922) aufgrund ihrer Publikationsdaten zumindest im Rahmen dieser kurzen Übersicht ignoriert werden können, da sie höchstens für die persönliche Entwicklung des Autors vor dem ersten Kontakt mit Spengler, keinesfalls aber als Zeugnisse der Rezeption des „Untergangs“ gelten können, gilt es nunmehr, die in vielerlei Hinsicht inhaltlich und biographisch zusammengehörigen Diptychen „The Great Gatsby“ und „Tender is the Night“ zum einen, „The Last Tycoon“ und „Philippe, Count of Darkness“ zum anderen, zu betrachten.17 Hierbei soll der Hauptakzent allerdings paradigmatisch auf „The Great Gatsby“ gelegt werden, dessen wiederkehrende Motive und Besonderheiten der Spenglerrezeption dann in den drei weiteren Romanen nur in aller Kürze wieder aufgesucht werden sollen. Was den Einfluß Spenglers auf „The Great Gatsby“ (1925) betrifft,18 so wird dieser ja zunächst bereits von Fitzgerald selbst suggeriert,19 der die Niederschrift des Romans und die (angebliche) Spenglerlektüre zusammenfallen läßt und somit auch einen inhaltlichen Zusammenhang suggeriert. Nichtsdestoweniger ist Spengler indirekt, also nicht durch direkte namentliche Erwähnung nachweisbar. Zuerst einmal ist die Gesamtkonstellation des Romans zu erwähnen, welcher von der Liebe Jay Gatsbys zu der schönen, aber seelenlosen und wankelmütigen Daisy berichtet:20 Gatsby, der aus einfachen Verhältnissen kommt, wird von einem wahrhaft faustischen Willen angetrieben, in den Nachkriegsjahren mit allen legalen und illegalen Mitteln ein Vermögen zu erwirtschaften, um sich Daisys würdig zu erweisen, die in der Zwischenzeit den instinktstarken und dominanten Tom Buchanan geheiratet hat.21 Nach einer kurzen Romanze Gatsbys mit Daisys zeigt sich, daß diese seinem Ideal nicht gerecht wird. Der Roman endet tragisch: vor die Wahl gestellt, zieht Daisy Tom 17
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Auch über die Novellen und Erzählungen ließe sich in diesem Zusammenhang vieles ausführen – man denke allein an „The Curious Case of Benjamin Button“ vom Jahre 1922 –; doch würde dadurch der Rahmen der kleinen Abhandlung völlig gesprengt werden. Allg. einführend zum Großen Gatsby: Bruccoli 1974; Donaldson 1984; Lehan 1990; Berman 1994; Bruccoli 2002. Zur Frage nach der Historizität des besprochenen Briefauszugs im Zusammenhang mit der Handlung des Gatsby vgl. auch Turlish 1971, S. 442–444. Allg. zu Fitzgeralds Frauenfiguren: Fryer 1988. Zur Darstellung von Männlichkeit und Gewalttätigkeit bei Fitzgerald vgl. Bender 1998.
300
Spenglers Rezeption
vor. Nachdem hierauf Daisy versehentlich Myrtle, die Maitresse Toms, überfährt, nimmt Jay die Verantwortung auf sich und wird daraufhin vom Ehemann Myrtles, George Wilson, erschossen. Diese sehr einfache Thematik – der Geistmensch und romantische Geschäftsmann Gatsby unterliegt der Faszination, die der caesarische Gewaltmensch Tom auf seine Frau Daisy ausübt – wird in der Folge durch zahlreiche Elemente angereichert, welche die intellektuelle Nähe zu Spengler oder Spengler’schem Gedankengut nahelegen.22 Hier wäre zunächst vor allem die Präsenz literarischer Anspielungen zu erwähnen, allen voran die Tatsache, daß Tom Buchanan schon unmittelbar zu Beginn des Romans auf teils fiktive geschichtsphilosophische Werke verweist, welche eine diesbezügliche Deutung des gesamten Romans fast zwingend nahelegen: „,Civilization’s going to pieces‘, broke out Tom violently. ,I’ve gotten to be a terrible pessimist about things. Have you read ‚The Rise of the Coloured Empires‘ by this man Goddard?‘ ,Why, no,‘ I answered, rather surprised by his tone. ‚Well, it’s a fine book, and everybody ought to read it. The idea is if we don’t look out the white race will be – will be utterly submerged. It’s all scientific stiff; it’s been proved.‘ ‚Tom’s getting very profound,‘ said Daisy, with an expression of unthoughtful sadness. ‚He reads deep books with long words in them. What was that word we –‘ ‚Well, these books are all scientific,‘ insisted Tom, glancing at her impatiently. ‚This fellow has worked out the whole thing. It’s up to us, who are the dominant race, to watch out or these other races will have control of thing.‘ ‚We’ve got to beat them down,‘ whispered Daisy, winking ferociously toward the fervent sun.‘ [...] ,This idea is that we’re Nordics. I am, and you are, and you are, and –‘ After an infinitesimal hesitation he included Daisy with a slight nod, and she winked at me again.‘ – ,And we’ve produced all the things that go to make civilization – oh, science and art, and all that. Do you see?‘“23
Diese Passage legt nicht nur die Identifikation Toms mit der „dominant race“ und sein Denken in Machtperspektiven nahe, das sich auch an anderen Stellen zeigt, wo es heißt, „he saw himself standing alone on the last barrier of civilization“24, sondern zeigt auch, daß Daisy, welche die besprochenen Werke weder versteht, noch von ihrem eigenen Mann als Teil der „nordic race“
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23 24
Hierbei soll nicht übergangen werden, daß Fitzgerald selber Spenglers Überlegungen zum Caesarismus zumindest zeit- und ansatzweise geteilt zu haben scheint: Vgl. Salpeter 1927, S. 12: „He does and does not want Mussolini. ‚If you’re against Mussolini you’re for the cesspool that Italy was before him. If you’re for Mussolini you’re for Caesarism. [...]‘ Fitzgerald’s hope for the nation lies in the birth of a hero who will be of age when America’s testing comes.“ Fitzgerald 1925/1994 (Gatsby), S. 19–20. Ebd., S. 136: „,Nowadays people begin by sneering at family life and family institutions, and next they’ll throw everything overboard and have intermarriage between black and white.‘ Flushing with his impassioned gibberish, he saw himself standing alone on the last barrier of civilization.“
14 Oswald Spengler bei Francis Scott Fitzgerald
301
empfunden wird, als literarische Figur eher als verführerischer Siegerpreis25 zu deuten ist denn als wirkliche Teilhaberin am Geschehen. Dies wird umso deutlicher, wenn man versucht, die oben genannten Texte zu identifizieren. Das erwähnte Buch „The Rise of the Coloured Empires“ scheint eine Fiktion, hinter der sich wohl die rassistisch durchtränkte Schrift „The Rising Tide of Color Against White World-Supremacy“ vom Jahre 1920 verbirgt, 26 welche allerdings von Lothrop Stoddard (1883–1950) verfaßt wurde.27 Mit „Goddard“ könnte etwa Henry H. Goddard (1866–1857) gemeint sein, der als Eugeniker und Verfasser der umstrittenen Analyse „The Kallikak Family: A Study in the Heredity of FeebleMindedness“ vom Jahr 1912 bekannt ist, in welcher er nachzuweisen suchte, daß sich Kriminalität, Amoralität und Dummheit genetisch vererben;28 ein Thema, das auch Fitzgerald faszinierte.29 Nicht auszuschließen ist ebenfalls, daß mit „Goddard“ Ernest Hope Goddard gemeint sein könnte, der als Mitherausgeber der „Illustrated London News“ und von „The Sketch“ bekannt ist und nicht nur mit Zeitschriften assoziiert wurde, welche für ihr Interesse an kulturkritischen Schriften bekannt waren, sondern der auch – allerdings erst 1926, ein Jahr nach dem Erscheinen des „Gatsby“ –, zusammen mit P.A. Gibbons eine Studie zu Spengler30 veröffentlichte.31 Diesem, durch die fiktive Literaturangabe (welche vielleicht den kaum als Intellektuellen zu bezeichnenden Instinktmensch Tom ironisieren soll)32 suggerierten, gleich doppelten Geschichtspessimismus, der 25
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28 29 30 31 32
Fitzgeralds Schilderung Daisys ist hier sehr deutlich: Fitzgerald 1925/1994 (Gatsby), S. 126: „,She’s got an indiscreet voice‘, I remarked. ‚It’s full of‘ –‚ I hesitated. ‚Her voice is full of money,‘ he said suddenly. That was it. I’d never understood before. It was full of money – that was the inexhaustible charm that rose and fell in it, the jingle of it, the cymbals’ song of it... High in a white palace the king’s daughter, the golden girl...“ Hierzu u.a. Mizener 1951, S. 336, Anm. 21; Gidley 1973. Stoddard 1920. Unter anderem auch gegen Stoddard gerichtet ist dann folgende Passage bei Oswald Spengler, JdE, S. 157: „Aber wenn hier von Rasse die Rede ist, so ist das nicht in dem Sinne gemeint, wie er heute unter Antisemiten in Europa und Amerika Mode ist, darwinistisch, materialistisch nämlich. [...] Wer zuviel von Rasse spricht, der hat keine mehr. Es kommt nicht auf die reine, sondern auf die starke Rasse an, die ein Volk in sich hat.“ Allgemein hierzu auch Engels 2007a (= Kap. 12). Goddard 1912. Hierzu Bender 1998. Goddard/Gibbons 1926. Vgl. zu dieser Verbindung Lehan 1980, S. 142. Dieses von Fitzgerald bewußt konstruierte fiktive Werk wird umso interessanter, wenn man eine weitere Passage in Betracht zieht, in welcher die umfassende Bibliothek Gatsbys beschrieben wird, in. Es heißt hier über dessen Bücher – Fitzgerald 1925/1994 (Gatsby), S. 52 –: „,The’re real.‘ ‚The books?‘ He nodded. ‚Absolutely real – have pages and everything. I thought they’d be a nice durable cardboard. Matter of fact, they’re absolutely real. Pages and – Here! Lemme show you.‘ Taking our scepticism for granted, he rushed to the bookcases and returned with Volume One of the Stoddard Lectures. ‚See!‘ he cried triumphantly. ‚It’s a bona-fide piece of printed matter. It fooled me. This fella’s a regular Belasco. It’s a triumph. What thoroughness! What realism! Knew when to stop, too – didn’t cut the pages. But what do you want? What do you expect?‘“ Bei den Stoddard
302
Spenglers Rezeption
auch bereits in früheren Romanen wie „This Side of Paradise“ (1920) vorzufinden war, wird jedenfalls auch im „Gatsby“ seitens Fitzgerald an der Oberfläche nicht widersprochen. Ganz im Gegenteil findet sich in der Mitte des Romans eine Passage, welche das kulturpessimistische Motiv gleichsam in die Realität überträgt und als Parabel dafür stehen könnte, daß der Übergang von Kultur zu Zivilisation und die damit verbundene Überfremdung der abendländischen Kultur, wie sie Tom Buchanan fürchtet, zumindest in der Großstadt New York33 bereits vollzogen ist: „A dead man passed us in a hearse heaped with blooms, followed by two carriages with drawn blinds, and by more cheerful carriages for friends. The friends looked out at us with the tragic eyes and short upper lips of south-eastern Europe, and I was glad that the sight of Gatsby’s splendid car was included in their sombre holiday. As we crossed Blackwell’s island a limousine passed us, driven by a white chauffeur, in which sat three modish negroes, two bucks and a girl. I laughed aloud as the yolks of their eyeballs rolled toward us in haughty rivalry. ‚Anything can happen now that we’ve slid over this bridge,‘ I thought; ‚anything at all...‘ Even Gatsby could happen, without any particular wonder.“34
Diese kulturkritische Lesart der Geschichte wird durch die Charakterschilderung Gatsbys noch unterstrichen, der sich nach dem Krieg, der als „that delayed Teutonic migration“ beschrieben wird,35 in Freud’scher Manier durch den langjährigen Libidoverzicht ein gewaltiges Vermögen erobert,36 sich aber am Ende als zu schwach erweist, in ernsthafte Konkurrenz mit Tom zu treten, und daher in gewisser Hinsicht die abendländische Kultur versinnbildlicht, die auf lange Sicht hin den Mächten der Gewalt und der Zivilisation unterliegen muß. Somit wird auch verständlich, wieso Gatsby als Personifizierung der abendländischen Kultur merkwürdig schillert und gewissermaßen wie eine Epitome europäischer Geschichte wirkt und wirken soll, in all ihren Höhen und
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Lectures handelt es sich übrigens nicht um weitere Werke des erwähnten Geschichtsphilosophen, sondern um Sammlungen kunsthistorischer und allgemeinwissenschaftlicher Länderbeschreibungen aus der Feder seines Vaters, John Lawson Stoddard (1850– 1931). Daß diese bezeichnenderweise nicht aufgeschnitten sind, soll wohl zum einen die eher autodidaktischen und schöngeistigen Bestrebungen Gatsbys suggerieren, zum anderen sein generelles Desinteresse mit der Engagiertheit Toms kontrastieren. Vgl. auch Ellis 1972, S. 470–471. Zum schwierigen Verhältnis Fitzgeralds zur Weltstadt New York vgl. O’Meara 2002. Fitzgerald 1925/1994 (Gatsby), S. 75. Ebd., S. 9. Man denke in diesem Zusammenhang etwa an Fitzgerald 1925/1994 (Gatsby), S. 102f.: „[...] a faint doubt had occurred to him as to the quality of his present happiness. Almost five years! There must have been moments even that afternoon when Daisy tumbled short of his dreams – not through her own fault, but because of the colossal vitality of his illusion. It had gone beyond her, beyond everything. He had thrown himself into it with creative passion, adding to it all the time, decking it out with every bright feather that drifted his way. No amount of fire or freshness can challenge what a man can store up in his ghostly heart.“
14 Oswald Spengler bei Francis Scott Fitzgerald
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Tiefen: Er soll den einen zufolge in Deutschland aufgewachsen sein, einen Mann getötet haben, deutscher Spion, ja Neffe Hindenburgs gewesen sein, behauptet selbst aber, Sohn reicher Eltern zu sein, die Welt bereist und in Oxford studiert zu haben und im Weltkrieg mehrere deutsche Einheiten besiegt zu haben, dann aber während der Depression sein Geld verloren und aus eigener Kraft wiedergewonnen zu haben.37 Gegen Ende des Romans stellt sich dann aber heraus, daß die Wahrheit ganz anders war und Jay Gatsby als James Gatz, Sohn armer jüdischer Eltern zur Welt kam und sein gesamtes Vermögen in mühseliger Arbeit selbst erwirtschaftete, um dem Ideal, das er von Kindheit an erreichen und auch seiner Geliebten vorspiegeln wollte, gerecht zu werden38, er also durch Anstrengung und Phantasie aus eigener Kraft verschiedenste Aspekte der vergangenen abendländischen Kultur zu verkörpern suchte, durch diese exzessive Selbstidentifikation, der kein individueller Charakter entspricht, aber auch deren ganze zivilisatorische Tragik erleiden muß.39 „The truth was that Jay Gatsby of West Egg, Long Island, sprang from his own Platonic conception of himself. [...] He invented just the sort of Jay Gatsby that a seventeen year-old boy would be likely to invent, and to this conception he was faithful to the end.“40
So ist Gatsbys Reichtum und Streben auf ein überlebtes abendländisches Menschenideal gegründet41 und darauf ausgerichtet, eine der Vergangenheit angehörende, abgebrochene Liebesgeschichte künstlich weiterzuverfolgen, ganz so, wie Spengler von „Romantik, Empfindsamkeit, Sehnsucht nach etwas Entschwundenem, Erinnerung an die große Vergangenheit“ (UdA, S. 325) als Charakteristikum des Greisenalters der Zivilisation sprach, die „etwas unwiderruflich Verlorenes, die Kultur nämlich, wieder heraufbeschwören möchte.“ (UdA, S. 526) „,I wouldn’t ask too much of her‘, I ventured. ‚You can’t repeat the past.‘ ‚Can’t repeat the past?‘ he cried incredulously. ‚Why of course you can! [...] I’m going to fix everything just the way it was before‘, he said, nodding determinedly. ‚She’ll see.‘ He talked a lot about the past, and I gathered that he wanted to recover something, some idea of himself perhaps, that had gone into loving Daisy. His life had been confused
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In Deutschland aufgewachsen (Fitzgerald 1925/1994 [Gatsby], S. 50), Mord (S. 50), Spionage (S. 50), Verwandtschaft mit Hindenburg (S. 67), Reiche Herkunft, Studium in Oxford und Kriegstaten (S. 71), Verlust und Gewinn während Depression (S. 97). Vgl. etwa treffend Lehan 1980, S. 141: „What Gatsby creates of himself belongs to a lost order, a realm of the past that will never come again. Like Spengler’s Faustian man, with whom he shares so much, Gatsby’s fate is connected with what Spengler called Destiny [...].“ Fitzgerald 1925/1994 (Gatsby), S. 105. Ebd., S. 105. Vgl. hierzu etwa Moyer 1972.
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Spenglers Rezeption and disordered since then, but if he could once return to a certain starting place and go over it all slowly, he could find out what that thing was...“42
Diese über das Einzelschicksal hinausgehende Symbolik der Handlung wird durch die in die Literaturgeschichte eingegangene Beschreibung der Reklame für den Augenarzt Eckleburg unterstrichen, die in nahezu apokalyptischen Tönen das Bild eines zivilisatorischen Tals der Tränen erweckt, welches dem allwissenden, aber mitleidslosen Blick eines geradezu überirdischen43 Augenarztes offenliegt: „This is a valley of ashes [...]; where ashes take the forms of houses and chimneys and rising smoke and, finally, with a transcendent effort, of ash-grey men, who move dimly and already crumbling through the powdery air. [...] But above the grey land and the spasms of bleak dust which drift endlessly over it, you perceive, after a moment, the eyes of Doctor T. J. Eckleburg. The eyes of Doctor T. J. Eckleburg are blue and gigantic – their retinas are one yard high. They look out of no face, but, instead, from a pair of enormous yellow spectacles which pass over a non-existent nose. Evidently some wild wag of an oculist set them there to fatten his practice in the borough of Queens, and then sank down himself into eternal blindness, or forgot them and moved away.“44
Es ist dann auch unmittelbar unter dem Werbeschild für Dr. Eckleburg, daß Tom Myrtle verführt, und daß Daisy später ihre Rivalin überfährt und somit eine Ereigniskette startet, welche in der Ermordung ihres eigenen Liebhabers Gatsby auf Anstiftung Toms münden wird – eine Ereigniskette, die nur dem ersten Anschein nach wie ausgleichende Gerechtigkeit wirkt, da sowohl Tom, der schuld am Tod Gatsbys ist, als auch Daisy, die Myrtle überfahren hat, gegen Ende des Romans weiterhin glücklich zusammenleben, während Gatsby ebenso wie Myrtle dem Tode verfallen sind, so daß Dr. Eckleburg kaum als Sinnbild göttlicher Gerechtigkeit bezeichnet werden kann, sondern vielmehr als Kronzeuge für den Triumph darwinistisch-caesarischer Willensstärke und fataler weiblicher Anziehungskraft.45 Myrtle, die unter dem Blick Eckleburgs in der „valley of Ashes“, also einem irdischen Tal der Tränen wohnt und sich von der Liaison mit Tom den sozialen Aufstieg erhofft, ebenso wie Gatsby, dessen Macht und Reichtum nur aus fehlgeleiteter Liebe zu einem wert- und charakterlosen Ideal gewonnen wurden, nicht aber in einer robusten Vitalität ruhen, werden also beide aus Liebe zum Opfer zweier Kräfte, die in überzeitlicher Weise 42 43
44 45
Fitzgerald 1925/1994 (Gatsby), S. 117. Vgl. ebd., S.166: „Standing behind him, Michaelis saw with a shock that he was looking at the eyes of Doctor T.J. Eckleburg, which had just emerged, pale and enormous, from the dissolving night. ‚God sees everything,‘ repeated Wilson. ‚That’s an advertisement,‘ Michaelis assured him.“ Fitzgerald 1925/1994 (Gatsby), S. 29. Auch hier liegt die Analogie zum Spengler’schen metaphysischen Pessimismus nahe, ohne daß freilich von gegenseitiger Beeinflussung auszugehen ist, sondern vielmehr nur erneut die Nähe des Weltbilds deutlich wird. Allg. hierzu auch Engels 2016c (= Kap. 6).
14 Oswald Spengler bei Francis Scott Fitzgerald
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kulturelle Dynamik verdeutlichen und die Tragik der zeitgenössischen abendländischen Zivilisation versinnbildlichen: korrumpierender Glanz auf der einen Seite, caesarische Gewalt auf der anderen, eben „The world as spoil“46, wie Fitzgerald sich ausdrückt, in kaum unübersehbarer Nähe zu ähnlichen Formulierungen bei Spengler.47 Diesen miteinander verbündeten48 Gewalten gegenüber ist das Ende der Kultur unvermeidlich, wie Fitzgerald suggeriert, indem er zu Ende seines Romans das Seneca-Motto ducunt fata volentem, nolentem trahunt,49 mit dem Spengler den „Untergang“ abschloß, variierend aufgreift und dabei auch den Leseschlüssel des Romans liefert, der gewissermaßen als Versinnbildlichung dessen zu verstehen ist, was an Tragik geschehen muß, wenn die Zeichen der Zeit nicht verstanden werden: „Gatsby believed in the green light, the orgastic future that year by year recedes before us. It eluded us then, but that’s no matter – to-morrow we will run faster, stretch out our arms farther... And one fine morning – So we beat on, boats against the current, borne back ceaselessly into the past.“50
Nachdem klar geworden ist, inwieweit „The Great Gatsby“ kaum zufriedenstellend verstanden werden kann, ohne Spenglers „Untergang“ als Subtext zugrundezulegen, kann in der Folge in kürzeren Argumentationsschritten vorgegangen werden. Was somit den zweiten uns interessierenden Roman, „Tender is the Night“, betrifft51, so fehlt auch hier zwar die namentliche Nennung Spenglers, nichtsdestoweniger sind Handlungsablauf und Thema essentiell spenglerisch geprägt.52 So weist der Roman auf den ersten Blick zahlreiche Parallelen zu „The Great Gatsby“ auf, denn auch hier verfällt ein 46 47
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Fitzgerald 1963 (Letters), S. 289–290. Man denke hier etwa an Spengler, UdA, S. 1102: „Die Mächte des Blutes, die urwüchsigen Triebe alles Lebens, die ungebrochene körperliche Kraft treten ihre alte Herrschaft wieder an“ oder die Schlußworte zu den „Jahren der Entscheidung“. Fitzgerald 1925/1994 (Gatsby), S. 152: „They weren’t happy, and neither of them had touched the chicken or the ale – and yet they weren’t unhappy either. There was an unmistakable air of natural intimacy about the picture, and anybody would have said that they were conspiring together. As I tiptoed from the porch [...], Gatsby was waiting where I had left him in the drive. ‚Is all quiet up there?‘ he asked anxiously. ‚[...] I want to wait here till Daisy goes to bed. Good night, old sport.‘ He put his hands in his coat pockets and turned back eagerly to his scrutiny of the house, as though my presence marred the sacredness of the vigil. So I walked away and left him standing there in the moonlight – watching over nothing.“ Das Zitat, das vielleicht auf Kleanthes von Assos zurückgeht, stammt aus Seneca, epistulae morales 107,11. Fitzgerald 1925/1994 (Gatsby), S. 188. Allg. einführend zu „Tender is the Night“: Bruccoli 1963; LaHood 1969; Parkinson 1986; Stebbins 1993; Stern 1994. Hierzu allg. Lucas 1963; Wasserstrom 1965; Sklar 1967, S. 222–226 und 266–292; Stern 1970, S. 289–462; Brand 2000.
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hochbegabter, aber innerlich schwacher Held, der vielversprechende Psychiater Dick Diver, dem Charme einer reichen, psychisch unstabilen femme fatale, Nicole Warren, welche sich gegen Ende der Handlung gegen Dick und für einen soldatischen Abenteurer, Tommy Barban, entscheidet, der schon vom Namen an Tom Buchanan aus „Gatsby“ erinnert. Dieser wird beschrieben als „Tommy Barban was a ruler, Tommy was a hero“53, verfügt über „an irresistible racial tendency to chisel for an advantage“54 und sagt von sich selbst „I’m brave, heroic and all that“55 und „Well, I’m a soldier [...]. My business is to kill people. I fought against the Rif because I am a European, and I have fought the Communists because they want to take my property from me.“,56 so daß es nicht verwunderlich ist, daß er am Ende dem diplomatischen, taktvollen, versöhnlichen und feinsinnigen Dick weitaus überlegen ist und dessen Frau an sich zu reißen weiß.57 Doch ist dieser scheinbar parallele Handlungsstrang durch andere Themen weitaus komplexer gestaltet als in „The Great Gatsby“, dessen Grundelemente er gewissermaßen fortspinnt. So ist zunächst die historische Verortung unmittelbar im historischen Weltbild Spenglers angesiedelt, wenn Dick Diver den Weltkrieg mit nahezu kulturmorphologischen Worten beschreibt und sich selbst mit der nunmehr verlorenen Vorkriegswelt identifiziert: „,General Grant invited this kind of battle at Petersburg in sixty-five.‘ ‚No, he didn’t – he just invented mass butchery. This kind of battle was invented by Lewis Carroll and Jules Verne and whoever wrote Undine, and country deacons bowling and marraines in Marseilles and girls seduced in the back lanes of Württemberg and Westphalia. Why, this was a love battle – there was a century of middle-class love spent here. This was the last love battle.‘ ‚You want to hand over this battle to D.H. Lawrence,‘ said Abe. ‚All my beautiful lovely safe world blew itself up here with a great gust of high explosive love,‘ Dick mourned persistently.“58
Im Mittelpunkt der Handlung steht somit nicht die Liebesgeschichte zwischen Dick und Nicole, die schon zu Beginn des Romans in die Ehe des ungleichen Paares mündet, sondern vielmehr der korrumpierende Einfluß, welchen das Geld Nicoles und die ständige Fürsorge, derer sie aufgrund ihrer psychischen Erkrankung bedarf, auf Dick ausübt. Freilich verarbeitete Fitzgerald hier Elemente seiner eigenen unglücklichen Ehe mit Zelda, die größere Teile ihres Lebens in Nervenheilanstalten verbrachte, doch ist interessant, wie Fitzgerald 53 54 55 56 57 58
Fitzgerald 1934/1997 (Tender is the Night), S. 248. Beschreibung seines Äußeren: S. 336. Ebd., S. 386. Ebd., S. 337. Ebd., S. 106. Hierzu auch Detterly 1984. Fitzgerald 1934/1997 (Tender is the Night), S. 136. Die Parallele zu Passagen wie etwa Spengler, UdA, S. 8–9 mit der Reihung des ägyptischen Verwaltungssystems, des antiken Münzwesens, der analytischen Geometrie, des Schecks, des Suezkanals, des chinesischen Buchdruck, des preußische Heer und der römischen Straßenbautechnik.
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diese persönliche Erfahrung gleichsam transzendiert, um hieraus ein Paradigma für den Untergang der abendländischen Gesellschaft zu machen: Der Verfall Dicks, der im Kontakt zu dem durch Nicole repräsentierten Luxus der Zivilisation erlahmt, gewissermaßen in Umkehr der Situation Gatsbys seine vielversprechenden Anlagen zunehmend verleugnet, sich unglücklich in die mädchenhafte Rosemary verliebt, zunehmend dem Alkoholismus verfällt und schließlich von seiner Frau zugunsten des caesaristischen Abenteurers Tommy verleugnet wird, wird somit zur Parabel des Untergangs des Abendlands, so daß der Roman völlig zu Recht bezeichnet wurde als: „A novel about the decline of the West, about the collapse of Western Civilisation into caesarism and moral anarchy.“59 Während also im „Gatsby“ der Titelheld in seinem Willen, Daisy zu erobern, die Kraft findet, seine Eigenschaften faustisch zu entwickeln, verkümmern bei Dick Diver eben diese Kräfte unmittelbar, sobald Nicole errungen ist und durch ihren Luxus jedes weitere Streben gegenstandslos macht. Diver wird also zum Archetyp der gesättigten, an sich selbst krankenden, durch Reichtum korrumpierten Zivilisation, die trotz ihrer vielversprechenden Anlagen zu schwach ist, sich aus eigener Kraft diesem Zustand zu entziehen und gegen den Caesarismus zu verteidigen. „He had lost himself – he could not tell the hour when, or the day or the week, the month or the year. Once he had cut through things, solving the most complicated equations as the simplest problems of his simplest patients. Between the time he found Nicole flowering under a stone on the Zürichsee and the moment of his meeting with Rosemary the spear had been blunted. [...] he had been swallowed up like a gigolo and somehow permitted his arsenal to be locked up in the Warren safety deposit vaults.“60
Bezeichnenderweise ist Diver sich darüberhinaus der Folgen dieses Niedergangs durchaus bewußt, der nicht nur seine Schaffenskraft lähmt, sondern sein ganzes, nach außen hin scheinbar stabiles Wesen aushöhlt, wie er in fast Spengler’scher Diktion eingestehen muß: „Did you hear I’d gone into a process of deterioration?’ ‚Oh, no. I simply – just heard you’d changed. And I’m glad to see with my own eyes it isn’t true.‘ ‚It is true,‘ Dick answered, sitting down with them. ‚The change came a long way back – but at first it didn’t show. The manner remains intact for some time after the morale cracks.‘“61
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Moyer 1974, hier S. 242. Fitzgerald 1934/1997 (Tender is the Night), S. 254. Diese Willensschwäche betrifft daher nicht nur Dick Diver im einzelnen oder die abendländische Kultur im allgemeinen, sondern läßt sich ganz spezifisch auch auf den nordamerikanischen Kontinent übertragen, wenn es anläßlich der Debatte zwischen dem amerikanischen Konsul in Rom und Nicoles Schwester Baby Warren heißt (S. 294): „The American Woman, aroused, stood over him; the cleansweeping irational temper that had broken the moral back of a race and made a nursery out of a continent, was too much for him.“ Fitzgerald 1934/1997 (Tender is the Night), S. 356. Erneut liegt die Analogie zu Spengler greifbar nahe; man denke an UdA, S. 143–144: „Ist das Ziel erreicht und die Idee, die ganze
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Nicole hingegen hält aufgrund ihrer inneren, künstlerischen Sterilität62 stets Ausschau nach einem Stärkeren, unwissend, daß gerade dies ihre eigene psychische Befindlichkeit nur schwächen kann: „The people she liked, rebels mostly, disturbed her and were bad for her – she sought in them the vitality that had made them independent or creative or rugged, sought in vain – for their secrets were buried deep in childhood struggles they had forgotten. They were more interested in Nicole’s exterior harmony and charm, the other face of her illness.“63
Diese sehr einfache Deutung wirkt nur auf den ersten Blick oberflächlich, führt Fitzgerald uns doch über fast 400 Seiten durch nahezu alle Stadien und Konstellationen des sich rapide einstellenden Verfalls, der in der ersten Romanhälfte unter der Facette der immerwährenden Feststimmung des „Jazz-Age“ verborgen und in der zweiten schonungslos enthüllt wird und nahezu in jedem seiner Elemente die Diagnose der zeitgenössischen abendländischen Zivilisation bei Spengler auszuschmücken scheint. Während der Verweis auf Spengler in „The Great Gatsby“ und „Tender is the Night“ zwar motivisch überdeutlich, explizit aber nur verhüllt wahrzunehmen ist, tritt die Spengler-Rezeption in Fitzgeralds letzten, unvollendeten Romanen, „The Last Tycoon“ und „Philippe, Count of Darkness“ erheblich deutlicher zu Tage, welche inhaltlich gewissermaßen das Ende und den Anfang der abendländischen Kultur thematisieren und hier in aller Kürze behandelt werden können. In „The Last Tycoon“64 erscheint Spengler sogar explizit durch seine namentliche Nennung als Leseschlüssel für den Gesamtroman und suggeriert damit, daß der Hauptheld der Geschichte, Monroe Stahr, als einer der letzten faustischen, noch im Geist des 18. und 19. Jahrhunderts verwurzelten paternalistischen Geschäftsmänner zu lesen ist, der schließlich der Übermacht unpersönlicher zivilisatorischer Kollektivierung und Technisierung erliegt. So wird in offensichtlich autobiographischer Anlehnung an Fitzgeralds Leseprogramm für seine damalige Geliebte Sheilah beschrieben, daß Kathleen, in die sich Stahr unglücklich verliebt, von ihrem ersten Liebhaber systematisch an Spengler herangeführt wurde, bezeichnenderweise aber nie zur eigenen Lektüre
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Fülle innerer Möglichkeiten vollendet und nach außen hin verwirklicht, so erstarrt die Kultur plötzlich, sie stirbt ab, ihr Blut gerinnt, ihre Kräfte brechen — sie wird zur Zivilisation.“ Daß es sich hierbei um einen klaren Rückgriff auf ähnliche Vorstellungen bei Hegel handelt, habe ich versucht klarzustellen in Engels 2009a (= Kap. 5). Vgl. Fitzgerald 1934/1997 (Tender is the Night), S. 231, wo Nicole die Gitter der Pavillons der psychisch Schwerstkranken entwirft: „She had worked with so much imagination – the inventive quality, which she lacked, being supplied by the problem itself – that no instructed visitor would have dreamed that the light, graceful filigree work at the window was a strong, unyielding end of a tether [...].“ Vgl. etwa Fitzgerald 1934/1997 (Tender is the Night), S. 228. Allg. einführend zum Last Tycoon: Bruccoli 1977.
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durchdrang und daher Stahr nicht vor dem ihm bevorstehenden Schicksal zu warnen weiß: „,I never went to a university, if that’s what you mean. But the man I told you about knew everything and he had a passion for educating me. He made out schedules and made me take courses at the Sorbonne and go to museums. I picked up a little.‘ ‚What was he?‘ ‚He was a painter of sorts and a hell-cat. And a lot besides. He wanted me to read Spengler – everything was for that. All the history and philosophy and harmony was all so I could read Spengler, and then I left him before we got to Spengler. At the end I think that was the chief reason he didn’t want me to go.‘ ‚Who was Spengler?‘ ‚I tell you we didn’t get to him‘, she laughed, ‚and now I’m forgetting everything very patiently, because it isn’t likely I’ll ever meet anyone like him again.‘“65
Und so ist es nicht erstaunlich, daß auch „The Last Tycoon“ in der Literatur oft genug als Spenglerianischer Roman gewürdigt wird66 und wir uns daher in der Analyse recht kurz fassen können. Stahr, „The Last Tycoon“, welcher nach dem Vorbild Irving Thalbergs gestaltet ist und, wie Gatsby, jüdische Wurzeln hat und Autodidakt ist,67 gilt als einer der letzten erfolgreichen, scheinbar unfehlbaren Hollywood-Produzenten, lenkt tagsüber in unermüdlicher, „napoleonischer“68 Aktivität und Energie die zahlreichen Geschäfte des Filmgeschäfts,69 trifft mit sicherer Kraft70 Entscheidungen über Regisseure, Filmstars, Scripts und Budgets in seinem kleinen Reich,71 kehrt jedoch des Abends stets allein in seine luxuriöse Wohnung zurück, wo er nur mit seinem Diener wohnt, und kämpft täglich um seine nachlassende Energie und geistige Elastizität.72 Sein hauptsächliches Talent ist sein nahezu „faustischer“ Wille73 und seine organisatorische Begabung: „,I’m still a chief clerk,‘ Stahr said. ‚That’s my gift, if I have one. Only when I got to be it, I found out that no one knew where anything was. And I found out that you had to know why it was where it was, and whether it should be left there. They began 65 66 67 68 69 70
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Fitzgerald 1941/1965 (Tycoon), S. 111. Moyer 1974. Fitzgerald 1941/1965 (Tycoon), S. 142. Ebd., S. 177; vgl. auch 179. Vgl. zu Fitzgeralds Haltung der Finanzwelt gegenüber Friedrich 1960. Etwa Fitzgerald 1941/1965 (Tycoon), S. 70: „The oracle had spoken. There was nothing to question or argue. Stahr must be right always, not most of the time, but always – or the structure would melt down like gradual butter.“ Vgl. ebd., S. 34: „He spoke and waved back as the people streamed by in the darkness, looking I suppose, a little like the Emperor and the Old Guard. There is no world so but it has its heroes, and Stahr was the hero. [...] The old loyalties were trembling now, there were clay feet everywhere; but still he was their man, the last of the princes.“ S. ähnl. auch S. 136; 163. Etwa ebd., S. 86: „,I’d marry you,‘ he said unexpectedly. ‚I’m lonesome as hell. But I’m too old and tired to undertake anything.‘“ Vgl. auch ähnl. S. 30; 92; 131; 152 („‚Is this all? This frail half-sick person holding up the whole thing.‘“); 167. Ebd., S. 145: „There is no substitute for will: Sometimes you have to fake will when you don’t feel it at all.“
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Spenglers Rezeption throwing it all at me, and it was a very complex office. Pretty soon I had all the keys. And they wouldn’t have remembered what locks they fitted if I’d given them back.‘“74
Es ist also v.a. ein pragmatisches Gespür für Ordnung und Struktur, welche Stahrs Macht sichert, weniger eine künstlerische Begabung, wie er selbst auch eingesteht, wenn er in ganz klar kulturmorphologischer Analogie seine eigene Begabung mit der der Römer vergleicht und – vielleicht – Spengler zitiert: „,I never thought,‘ he said, ‚that I had more brains than a writer has. But I always thought that his brains belonged to me – because I knew how to use them. Like the Romans – I’ve heard that they never invented things but they knew what to do with them.‘“ 75
Doch wie auch bei Gatsby und Diver ist es die Liebe zu einer jungen Frau, hier Kathleen Moore, die seiner ersten Gattin Minna gleicht, die seinen Lebensplan verändert, doch ist die Sachlage insoweit unterschiedlich, als nun der Protagonist selbst eine durchweg caesaristische und kalte Natur ist, 76 welche, durch Liebe geschwächt und vermenschlicht,77 der unpersönlichen Kraft moderner, ungenialischer Finanzmänner (Pat Brady) und kommunistischer Gewerkschaftsleute (Brimmer) erliegt; ein Motiv, welches gewissermaßen den Spengler’schen Gegensatz zwischen Kultur und Zivilisation eine Stufe weitertreibt und den immerhin noch genialisch veranlagten caesaristischen Geschäftsmann mit den Kräften des Gelds und der Revolte „von unten“ konfrontiert, wie Spengler sie nicht nur im „Untergang“, sondern auch in den „Jahren der Entscheidung“ schildert.78 Und doch ist das Ende Stahrs nicht tragisch oder morbid,79 sondern gewissermaßen schicksalhaft vorherbestimmt und wird 74 75
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Ebd., S. 97. Ebd., S. 150–151. Vgl. etwa mit Spengler, UdA, S. 36: „Das Römertum, von strengstem Tatsachensinn, ungenial, barbarisch. diszipliniert, praktisch, protestantisch, preußisch, wird uns, die wir auf Vergleiche angewiesen sind, immer den Schlüssel zum Verständnis der eigenen Zukunft bieten.“ Fitzgerald 1941/1965 (Tycoon), S. 117: „Like many brilliant men, he had grown up dead cold. Beginning at about twelve, probably, with the total rejection common to those of extraordinary mental powers [...], he looked around at the barrenness that was left and said to himself, ‚This will never do.‘ And so he had learned tolerance, kindness, forbearance, and even affection like lessons.“ Ebd., S. 110: „He wanted the pattern of his life broken. If he was to die soon, like the two doctors said, he wanted to stop being Stahr for a while and hunt for love like men who had no gifts to give, like young nameless men who looked along the streets in the dark.“ Vgl. etwa Spengler, JdE, S. 103: „So beginnt seit 1840 ein vernichtender Angriff auf das wirkliche, unendlich verwickelte Wirtschaftsleben der weißen Völker von zwei Seiten her: […] die Hochfinanz durchdringt es mit Hilfe der Aktie, des Kredits, der Aufsichtsräte, und macht die Führerarbeit des fachmännischen Unternehmertums […], von ihren Absichten und Interessen abhängig. [...] Und von unten zerstört die Gewerkschaft der Arbeiterführer langsam und sicher den Organismus der Wirtschaft. [...] Und beide vertreten das Prinzip der ‚Internationale‘, das rein nihilistisch und negativ ist.“ Fitzgerald 1941/1965 (Tycoon), S. 172: „Unlike Tender is the Night, it is not a story of deterioration.“
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daher auch von ihm selbst als würdiger Abschluß akzeptiert, wie Fitzgerald in einer Formulierung erklärt, die ganz klar auf Spenglers Metaphern rekurriert: „Suddenly, he had no attitude left except the sense that the day, at least, was complete. He had an evening – a beginning, a middle, and an end.“ 80 Es ist somit die in Gestalt Kathleens wiedergewonnene Liebe zu seiner ersten Frau Minna, welche das Alter des Tycoon milde verklärt und zwar auch seinen Untergang beschleunigt, gleichzeitig aber auch den Kreis seines Lebens abrundet und den Prozeß beendet, der zu Beginn des Werks mit dem Absteigen seines Flugzeugs „into the warm darkness“81 in Bewegung gesetzt wurde und sich selbst in der Wahl der Attribute wie eine Paraphrase auf Spenglers Beschreibung der „Romantik“ liest: „Die abnehmende Kraft wagt sich noch einmal, mit halbem Erfolge — im Klassizismus, der keiner erlöschenden Kultur fremd ist — an eine große Schöpfung; die Seele denkt noch einmal — in der Romantik — wehmütig an ihre Kindheit zurück. Endlich verliert sie, müde, verdrossen und kalt, die Lust am Dasein und sehnt sich — wie in der Römerzeit — aus dem tausendjährigen Lichte wieder in das Dunkel urseelenhafter Mystik, in den Mutterschoß, ins Grab zurück.“82
Was nun schlußendlich den im Frankenreich des 9. Jahrhunderts spielenden, unvollendeten historischen Roman „Philippe“ betrifft,83 der im April 1934, zeitgleich mit der Veröffentlichung von „Tender is the Night“, begonnen wurde, so liest sich dieser – wenn auch Spengler aus naheliegenden Gründen nicht genannt werden kann – wie eine (literarisch leider eher drittklassige) Novellierung der verschiedenen Ausführungen Spenglers zur Genese der „faustischen“ Kultur; eine Zielsetzung, die Fitzgerald auch ganz bewußt verfolgte, erklärte er doch 1939 seinem Briefpartner Maxwell Perkins: „You will remember that the plan in the beginning was tremendously ambitious – there was to have been Philippe as a young man founding his fortunes – Philippe as middle-aged man participating in the Capetian founding of France as a nation – Philippe as an old man and the consolidation of the feudal system. It was to have covered a span about sixty years from 880 A.D. to 950. The research required for the second two parts would be quite tremendous and the book would have been (or would be) a piece of great self-indulgence [...].“84
Und wenn finanzielle Probleme wie auch der monatliche Rhythmus der Veröffentlichung in der Zeitschrift „Redbook“85 Fitzgerald auch zwangen, die 80 81 82 83 84 85
Ebd., S. 133. Ebd., S. 26. Spengler, UdA, S. 145. Allg. einführend zu „Philippe“ vgl. Moyer 1974; Lewis 1975; Hays 1996. Fitzgerald 1963 (Letters), S. 283. Die vier vollendeten Kapitel (In the Darkest Hour, The Count of Darkness, The Kingdom in the dark, Gods of Darkness) erschienen im Oktober 1934, Juni und August 1935 und im November 1941 (posth.).
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Niederschrift trotz des anfänglich recht vertieften Quellenstudiums86 dann völlig zu übereilen, und sein Tod das Werk dann bereits nach dem vierten Kapitel zum Fragment werden ließ, hatte sich die generelle Zielsetzung doch nicht verändert. Offen heißt es hier von Philippe de Villefranche, der teils auch Hemingway nachgebildet ist, er wäre „Embodying in himself alone the future of his race“,87 gleichzeitig aber nicht der einzige, der in diesem weiten Territorium unbewußt mit der Gründung einer neuen Kultur beginnt: „He thought creatively. There are epochs when certain things sing in the air, and certain strong courageous men hear them intuitively long before the rest. This was an epoch of disturbance and change; all over Europe men were thinking exactly like Philippe, taking direction from the arrows of history that seemed to float dimly overhead. Each of those men thought himself to be alone, but really each was an instrument of response to a great human need. Each knew that the spirit of man was at low tide; each one feld in himself the necessity of seizing power by force and cunning.“88
Wie auch in den letzten Worten des Gatsby – „So we beat on, boats against the current, borne back ceaselessly into the past“89 –, steht auch hier das bereits erwähnte Spengler’sche Motto des ducunt fata volentem Pate, und Fitzgerald’s Beschreibung des „kosmischen Takts“ des faustischen Feudalismus entspricht ganz den Schlußworten des „Untergangs“.90 Und so zeigen die verschiedenen Kapitel des Romans denn auch folgerichtig den Aufbau von Philipps kleiner Territorialherrschaft, die sich aufbauende Treue seiner Untertanen, die Konflikte mit Kirche und König und v.a. die beständige „faustische“ Wahl zwischen Liebe und Macht, die der psychisch kerngesunde Philippe, ganz im Gegensatz zu den tragischen Helden Gatsby, Diver oder Stahr, ohne jeden Zweifel im Sinne der Macht entscheidet, so wie er sich selbst den vorchristlichen Mächten eines Hexenkults verschreibt, um seine Herrschaft zu sichern: „I’ll use this cult – and maybe burn in hell forever after. But maybe Almighty Providence will understand. Maybe He built a castle once. Maybe He knows“ oder: „Half a god – half a devil. I’ll play all their games – I’m playing to win“.91 „The Last Tycoon“ und „Philippe“ stellen also gewissermaßen Anfang und Ende der faustischen Kultur in ihrer gesamten Spannbreite dar; vom kerngesunden feudalen Gründergeschlecht, der sich marodierender Barbaren zu erwehren hat, bis zu den letzten paternalistischen Firmenchefs, welche den unpersönlichen Kräften der Finanzwelt und Arbeiterschaft erliegen, während „Gatsby“ und 86 87 88 89 90
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Hierzu Lewis 1975, S. 19–20. Fitzgerald 1979 (In the Darkest Hour), S. 529. Ebd., S. 522–523. Fitzgerald 1925/1994 (Gatsby), S. 188. Spengler, UdA, S. 1195: „Wir haben nicht die Freiheit, dies oder jenes zu erreichen, aber die, das Notwendige zu tun oder nichts. Und eine Aufgabe, welche die Notwendigkeit der Geschichte gestellt hat, wird gelöst, mit dem einzelnen oder gegen ihn.“ Fitzgerald, „Gods“, in: Redbook, Oktober 1941, S. 91
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„Tender is the Night“ die Niederlage kreativer und idealistischer Träumer angesichts caesaristischer Machtmenschen illustrieren.92
14.4
Schluß
Die notgedrungen sehr gedrängte Auflistung verschiedenster Aspekte der Rezeption Spenglers bei Fitzgerald hat hoffentlich einen kleinen Einblick in den Reichtum und die Komplexität der angloamerikanischen literarischen SpenglerRezeption geben können. Hierbei ist es interessant festzuhalten, in welchem Maße Fitzgerald zeitlebens an seiner offensichtlichen Bewunderung für den deutschen Geschichtsphilosophen festhielt: Trotz der durch die Erfahrung von Faschismus und Weltkrieg bedingten, vorübergehenden generellen Verteufelung deutschen Konservatismus erscheint Spengler eben nicht oder nicht wesentlich als „Trommler“ des Totalitarismus oder gar (fälschlicherweise) als Vordenker Hitlers, sondern wird vielmehr hauptsächlich als Prophet eines Untergangs wahrgenommen, der ausnahmslos alle abendländische Nationen, also auch Nordamerika – wenn auch hier mit ein wenig Verzögerung93 –, betrifft und in seinen Gründen, seinen Ausmaßen und seinen Folgen ganz genau wie Spengler beurteilt wurde – eine Übereinstimmung, welche sicherlich einer gewissen typisch amerikanischen Rezeptivität für die Probleme kultureller Identität zuzuschreiben ist, die tief in der bis heute problematischen Konstruktion der amerikanischen Identität, ihrer Abgrenzung von oder Anlehnung an die europäische Gesellschaft verankert ist und lange Zeit fast ausschließliches Thema der amerikanischen Literatur der Jahrhundertwende war. Es würde in diesem Rahmen zu weit führen, hier noch abschließend auf das komplexe Problem der Konstruktion einer amerikanischen Identität im 19. Jahrhundert und die schwierige Bezugnahme auf Europa einzugehen; immerhin aber soll erwähnt werden, daß kulturzyklische Überlegungen, welche durch die Analogie mit der Spätantike die Dekadenz der eigenen Zeit belegen soll, durchaus nicht selten waren und sich zudem oft mit rassistischen oder biologistischen Überlegungen mischten, so daß das Terrain also für Spenglers 92
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In diesem Sinne auch zu Recht Moyer 1974, S. 246: „If in ,Tender is the Night‘ Fitzgerald explored the decline of western Civilization as it revealed itself in the representative fate of an idealist, in ,The Last Tycoon‘ he set out to describe the fate of the noble’s heir – the fate, that it, of the tycoon, ‚the last of the princes‘.“ Vgl. etwa Fitzgerald 1934/1997 (Tender is the Night), S. 78: „After lunch they were both overwhelmed by the sudden flatness that comes over American travellers in quite foreign places. No stimuli worked upon them, no voices called them from without, no fragments of their own thoughts came suddenly from the minds of others, and missing the clamour of Empire they felt that life was not continuing here.“
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Lehren gut vorbereitet war.94 Neben bekannten Autoren wie Oliver Wendell Holmes95 oder den Rassentheoretikern Madison Grant96 und Lothrop Stoddard ließe sich etwa Theodore Roosevelt erwähnen, welcher 1889 die ungebrochene Schaffenskraft des germanischen, „northern blood“ als Grund für die Überwindung der Dekadenz der Spätantike und die biologisch-kreative Aufwertung Westeuropas sah, das dann mit der Besiedlung Amerikas eine ultimative germanische Expansion einleitete.97 Vor diesem geistigen Hintergrund ist auch an den amerikanischen Ökonomen Brooks Adam zu denken, der 1895 in „The Law of Civilization and Decay“ die Spätantike mit der Gegenwart parallelisierte, in der Ablösung des religiösen durch den ökonomischen Menschen die Ursache für den Fall der Kulturen erblickte und als neue Barbarenvölker auf die Russen verwies,98 gleichzeitig aber auch die Vereinigten Staaten als zukünftiges Herzstück der westlichen Welt sah.99 Und schließlich dürfte gerade Fitzgerald die fast monomanische Beschäftigung eines Autors wie Henry James mit dem Problem des zeitgenössischen Kunstschaffens oder europäischer Dekadenz nicht ignoriert haben,100 so daß die Lektüre Spenglers also bereits lange vorhandene oder zumindest im öffentlichen Raum präsente Überlegungen eher bestärkte als zutiefst revolutionierte. Auch Fitzgerald empfand den „Untergang des Abendlandes“ offensichtlich als eine innere Tragik und zeichnete in seinen Romanen vorrangig die soziale Verzahnung zivilisatorischer Dekadenz und persönlichen Niedergangs auf, indem er, sehr vereinfacht ausgedrückt, zum einen die korrumpierende Wirkung von Reichtum und Glanz des Jazz-Zeitalters in all ihren Facetten aufzeigte, zum anderen die unausweichliche Niederlage des aus dem 19. Jahrhundert ererbten Menschentyps ankündigte, der zwar die Essenz des amerikanischen Traums ausgemacht hatte, dessen rückwärtsgewandte Romantik nun aber den neuen Kräften zunächst caesaristischer, dann kollektiver Gewalt unterliegen mußte. Aus diesem Blickwinkel ist denn auch keine wirkliche Entwicklung dieses Geschichtsbilds bei Fitzgerald auszumachen, sondern eher eine bloße Verschiebung der jeweiligen Epochen, die im Mittelpunkt seines Interesses standen. Während es in „The Great Gatsby“ wie auch in „Tender is the Night“ der hochbegabte, im Ringen um die Treue der Geliebten an der schieren Vitalität seines caesaristischen Nebenbuhlers scheiternde, rückwärtsgewandte 94 95
96 97 98
99 100
Vgl. Gossett 1965; Spitz 1949. Holmes 1858, S. 19: „We are the Romans of the modern world, the great assimilating people. Conflicts and conquests are of course necessary accidents with us, as with our prototypes.“ Grant 1916. Roosevelt 1889. Adams 1895. Hierzu vgl. man auch die von Theodore Roosevelt 1907 verfaßte Einleitung, in welcher der Präsident Amerika vom Verfall ausnimmt. Adams 1900; vgl. auch Adam 1902. Vgl. Engels 2010b.
14 Oswald Spengler bei Francis Scott Fitzgerald
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Kulturmensch ist, welcher Fitzgeralds Aufmerksamkeit auf sich lenkte und seine Erzählungen zu einem Paradigma des Übergangs von der Kultur zur Zivilisation werden ließ, so war es im „Last Tycoon“ das Ende des Zivilisationsmenschen selbst, welcher trotz organisatorischen Geschicks durch Alter, rückwärtsgewandte Erinnerung an vergangene Liebe und übermächtigen Widerstand kollektiver Mächte zugrundegeht – eine Thematik, deren radikales Gegenteil dann zum Stoff des „Philippe“-Romans wurde, in welchem die Genese des faustischen Willensmenschen im Frühmittelalter beschrieben wurde. Was aber hätte Spengler zu Fitzgerald gesagt, wenn er denn seine Existenz überhaupt wahrgenommen hätte? Es ist wohl ohne allzugroßen Zweifel anzunehmen, daß er den amerikanischen Autor, trotz oder gerade wegen seiner zumindest brieflich ab und an angedeuteten Hoffnung, die Themen der Zeit würden doch noch eine späte, aber würdige literarische Umsetzung finden, als bloßes Symptom der zeitgenössischen Dekadenz abgetan hätte, wie er dies ja auch schon mit einem ihm doch so viel näher verwandten Schriftsteller wie Thomas Mann getan hatte,101 und in Fitzgerald lediglich eine Bestätigung seiner folgenden, geradezu klassisch gewordenen Aussage gesehen hätte: „Das Bedürfnis nach fellachenhafter Ruhe, nach Versicherung gegen alles, was der Trott der Tage stört, gegen das Schicksal in jeder Gestalt, scheint das zu wollen: eine Art Mimikry gegenüber der Weltgeschichte, das Sichtotstellen menschlicher Insekten angesichts der Gefahr, das happy end eines inhaltleeren Daseins, durch dessen Langeweile Jazzmusik und Niggertänze den Totenmarsch einer großen Kultur zelebrieren.“102
101 102
Beßlich 2002. Spengler, JdE, S. 163.
15
Lovecraft, Oswald Spengler und die „Berge des Wahnsinns“
15.1
Einleitung
„Everything I have loved has been dead for two centuries – or, as in the case of Graeco-Roman classicism, for two milleniums.“1
H.P. Lovecrafts Faszination für die klassische Antike durchzieht leitmotivartig sein gesamtes Oeuvre, von den frühesten Jugendgedichten bis in die späten Jahre und vom Werk2 bis in die Literaturtheorie,3 und könnte daher wohl problemlos Gegenstand einer umfangreichen Monographie werden. Um uns angesichts des vorgegebenen Rahmens nicht in eine unkritische, rein aufzählende Zusammenstellung der verschiedenen Facetten der Antikenrezeption Lovecrafts zu verlieren, wollen wir uns im folgenden wesentlich auf ein ausgewähltes Werk konzentrieren, in dem Lovecrafts Beschäftigung mit der Antike eine eher ungewohnte geschichtsphilosophische Färbung annimmt: „At the Mountains of Madness“, entstanden vom 24. Februar bis zum 22. März 1931 und publiziert 1936.4 1 2
3
4
Lovecraft 1964, S. 27. Pars pro toto wollen wir hier nur die Erzählungen hervorheben, welche sich vorrangig mit antiken Stoffen beschäftigen: „Poetry and the Gods“ (mit Anna Helen Crofts; veröff. in „United Amateur, September 1920; eine Traumschau des Zeus und der wichtigsten abendländischen Poeten); „The Tree“ (veröff. in „Tryout“, Oktober 1921; ein Bildhauerwettbewerb im antiken Syrakus); „Hypnos“ (veröff. in „National Amateur, Mai 1923, in der eine Büste des gleichnamigen Gottes im Zentrum steht); „The Temple“ (veröff. in „Weird Tales“, September 1925; eine Abwandlung des Atlantis-Stoffes); „The Very Old Folk“ (verf. 1927; posth. veröff. in „Scienti-Snaps“, Sommer 1940; eine gescheiterte röm. Strafexpedition gegen halbmenschliche Ureinwohner Hispaniens); „Ibid.“ (posth. veröff. in O-Wash-Ta-Nong, Januar 1938; eine fiktive Parodie des spätantiken Verfassers des enzyklopädischen Werks „Op. Cit.“). Dazu kommt dann noch eine Reihe von unveröff. Jugendgeschichten und -gedichten (eine Aufstellung in Joshi/Schultz 2001, S. 132–134 sowie S. 209–211) sowie zahlreiche poetische Werke (ebd., S. 209–211). Vgl. etwa den Essay „The Case for Classicism“ (1919), wo es heißt: „The literary genius of Greece and Rome, developed under peculiarly favourable circumstances, may fairly be said to have completed the art and science of expression. Unhurried and profound, the classical author achieved a standard of simplicity, moderation, and elegance of taste, which all succeeding time has been powerless to excel or even to equal.“ Allg. an neuer Literatur zu den „Bergen des Wahnsinns“ vgl. Eckhardt 1987; Price 1992; Joshi 2003.
318
Spenglers Rezeption
Der Inhalt ist recht einfach erzählt und wohl allseits bekannt: Eine Forschergruppe der fiktiven Miskatonic-University stößt bei einer AntarktisExpedition auf fossile Zeugnisse der prähistorischen Vergangenheit des ursprünglich von einer subtropischen Vegetation bedeckten Kontinents. Einige davon – große, halb pflanzen-, halb tierartige Wesen, welche in Erinnerung an eine Passage des sagenhaften Necronomicon die „Alten Wesen“ getauft werden – kehren nach ihrem allmählichen Auftauen wieder ins Leben zurück, töten einen Teil der Expeditionsteilnehmer und verschwinden im Schneegestöber. In der Folge begibt sich der Expeditionsleiter, William Dyer, zusammen mit Danforth, einem seiner Studenten, auf einen letzten Erkundungsflug zu der nahegelegenen Gebirgskette, bei dem sie auf eine gewaltige vorzeitliche Stadt stoßen. Eine kurze Begehung der Metropole verrät, daß diese lange vor der Entstehung der Menschen von der außerirdischen Rasse der „Alten Wesen“ geschaffen worden war, welche auch weite Teile der Erde kolonisierten und verantwortlich für die Entstehung nicht nur der meisten Tier- und Pflanzenarten waren, sondern auch der sog. Schoggothen, einer Rasse protoplasmischer Dienersklaven. Das Studium der Steinreliefs der „Alten Wesen“ verrät den Forschern nicht nur genauere Details zu Aufstieg und Fall dieser frühen Hochkultur, sondern legt auch nahe, daß diese, nachdem innere und äußere Umstände bereits einen allgemeinen Verfall bewirkt hatten, durch einen Aufstand der Schoggothen weitgehend ausgerottet wurde. Im Gegensatz zu ihren Herren bevölkern Letztere immer noch die labyrinthischen Tunnel der Stadt, wie die beiden Gelehrten zu ihrem Schrecken feststellen müssen, als sie auf ein Exemplar dieser Gattung stoßen, und es gelingt ihnen nur knapp, die Flucht zu ihrem Flugzeug zu bewerkstelligen. Bereits eine oberflächliche Betrachtung der breit ausgemalten Beschreibung der urzeitlichen Metropole wie auch die Feststellung, daß sich Anspielungen auf die Antike vor allem im Zusammenhang mit der Rekonstruktion der Geschichte der „Alten Wesen“ finden, legen nahe, daß Lovecrafts Antikenrezeption in den „Bergen des Wahnsinns“ nicht nur rein punktuelle stilistische Ziele verfolgt, sondern in ein übergeordnetes geschichtsphilosophisches Konzept einzuordnen ist; und es ist eine der Thesen dieses Beitrags, daß dieses Konzept sich wesentlich auf Lovecrafts Beschäftigung mit Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ zurückführen läßt, der in vielerlei Hinsicht als Seelenverwandter Lovecrafts zu verstehen ist. Unsere Aufgabe wird demgemäß eine doppelte sein: Zum einen gilt es, die verschiedenen Anspielungen auf die klassische Antike zusammenzustellen und zu kommentieren, zum anderen, das hierdurch entstehende Bild in Zusammenhang mit Spenglers Geschichtsmorphologie zu bringen. Zum Abschluß dieser Einleitung dürfte ein Wort zum literarischen Genre von „At the Mountains of Madness“ angebracht sein. Das Oeuvre Lovecrafts wird meist eher der Gattung des Schauer- als des Science Fiction-Romans zugeordnet, was zwar im Hinblick auf den erzielten Effekt sicherlich nicht unkorrekt ist, aber
15 Lovecraft, Spengler und die „Berge des Wahnsinns“
319
letztlich doch auf einer groben Verkennung von Lovecrafts spezifischem literarischen Ansatz beruht.5 Dieser wurde von Lovecraft selber ausführlich literaturtheoretisch beschrieben6 und braucht daher hier nicht systematisch analysiert zu werden; erwähnt werden soll allerdings, daß es eben gerade Kennzeichen des von Lovecraft vor allem im Rahmen der Cthulhu-Mythologie entwickelten Konzepts des „Cosmic Horror“ ist,7 nach Möglichkeit sämtliche „übersinnlichen“, sich einer rationellen Erklärung verschließenden Phänomene zu vermeiden: Der Eindruck des Schauderns entsteht nicht durch die Entdeckung „jenseitiger“ Kräfte oder Geschehnisse, sondern vielmehr durch den Kontakt mit Ereignissen oder Wesen, welche die wissenschaftlichhistorische Selbstsicherheit des Erzählers und Lesers durch ihr schieres Alter, ihre überlegenen Kräfte, ihre futuristische Technik oder ihre abgründige Bosheit erschüttern, ohne doch den Gesetzen von Raum und Zeit vollkommen entzogen zu sein. Unter diesem Gesichtspunkt entfällt auch die Grenze zwischen Science Fiction und Horror, da viele der beschriebenen außerweltlichen Entitäten wie etwa die „Alten Wesen“ über eine überaus fortgeschrittene Technologie verfügen. Ein zweites Wesensmerkmal ist dann die bei Lovecraft fast systematisch eingesetzte literarische Technik, den expliziten Schlüssel zum Verständnis der gesamten Handlung an das Ende der Erzählung zu setzen und somit den über den gesamten Text aufgebauten Spannungsbogen sozusagen schockartig zu lösen, um beim Leser eine Art kathartisches Erlebnis zu erzielen, welches das aufgestaute Grauen durch plötzliches, rückwirkendes Verstehen der Handlung noch um eine weitere Dimension steigert. Beide Elemente finden sich in den „Bergen des Wahnsinns“ ganz gezielt eingesetzt, wenn auch im Vergleich zu früheren Erzählungen interessanterweise zu bemerken sein wird, daß der Schauer-Effekt durch die spezifisch historische Dimension des Romans eine wesentlich andere Konnotation erhält.
15.2
Lovecraft und Spengler
Lovecraft,8 des Deutschen nicht mächtig, wie jeder Leser unschwer der falschen Deklination des fiktionalen mythographischen Werks „Unaussprechlichen [sic] 5
6
7
8
Zum literarischen Genre Lovecrafts vgl. Carter 1972; Joshi 1989; Schultz/Joshi 1991; Burleson 1993; Joshi 2008; Anderson 2011. Vgl. etwa den bekannten Essay „Supernatural Horror in Literature“ (veröff. in „The Recluse“, 1927) und „Notes on Writing Weird Fiction“ (geschrieben 1933; veröff. in „Amateur Correspondent“, Mai-Juni 1937). Zum Konzept des „Cosmic Horror“ vgl. etwa Mariconda 1986; Houellebecq 1991; Fossemò 2004. Allg. zu Leben und Schaffen Lovecrafts vgl. De Camp 1975; St. Armand 1979; Cannon 1989; Burleson 1990; Joshi 1996/2010. S. allg. auch die nützliche Lovecraft-Enzyklopädie:
320
Spenglers Rezeption
Culte“ entnehmen kann, las den ersten Band von Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ im Februar 1927 in der gerade ein Jahr früher erschienenen englischen Übersetzung von Charles Francis Atkinson,9 wie seinem Briefwechsel zu entnehmen ist.10 Ob und wann er den zweiten Band las, welcher 1928 ins Englische übertragen wurde, ist ungewiß, wenn auch ein Brief vom 27.Oktober 1932 belegt, daß er zu diesem Zeitpunkt immer noch allein den ersten Band gelesen hatte. Inhaltlich hatte dies freilich kaum Bedeutung, da der erste Band mitsamt seiner vergleichenden Tabellen bereits die gesamte Theorie der Geschichtsmorphologie dargelegt hatte, wie Lovecraft selbst bewußt war, der diesen Band als „the most general and inclusive“ bezeichnete.11 Die Lektüre beeindruckte ihn tief,12 bedenkt man die Frequenz, mit welcher Lovecraft in seinen Briefen Spengler als Gewährsmann verschiedenster Ansichten anführt. Es bedürfte wohl einer eigenen Abhandlung, die Rolle Spenglers in der Korrespondenz Lovecrafts auch nur einigermaßen exemplarisch zu würdigen und sich mit den Übereinstimmungen und Divergenzen der jeweiligen Weltanschauungen auseinanderzusetzen.13 Erwähnt werden soll an dieser Stelle nur, daß Lovecraft Spengler wesentlich als wissenschaftliche Bestätigung seiner eigenen Überzeugungen las, in ihm also vor allem eine fachwissenschaftliche Auskleidung eines Lebensgefühls wahrnahm, das ihn seiner eigenen Aussage nach schon immer bestimmt habe, und dessen Konservatismus und abendländisch-angelsächsischer Patriotismus14 nur die Kehrseite tiefer Verunsicherung und nostalgischer Verherrlichung des 18. Jahrhunderts darstellte.15 So heißt es gleich bei der ersten Erwähnung Spenglers in
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15
Joshi/Schulz 2004. Eine Übersicht über die kritische Rezeption Lovecrafts findet sich in Connors 2002. Es handelt sich um Charles Francis Atkinson, The Decline of the West, Bd. 1, Form and Actuality. London: George Allen and Unwin/New York: A.A. Knopf, 1926 sowie Bd. 2, Perspectives of World History, ebd., 1928. Lovecraft 1968 (Letters II), S. 103. S.u. Leider hat sich in der Bibliothek Lovecrafts kein Exemplar einer Schrift Oswald Spenglers erhalten, doch ist unsere Kenntnis seines privaten Buchbestands nur fragmentarisch, sind doch nur ca. 1000 seiner geschätzten 1500 Bücher – so Lovecraft 1968 (Letters II), S. 287 – bekannt bzw. erhalten, wobei gerade bei den philosophischen und religionswissenschaftlichen Werken offensichtliche Lücken klaffen, fehlen doch viele Werke, aus denen Lovecraft erwiesenermaßen oft zitierte, im heutigen Bestand. Allg. zu diesem Problem Joshi 2012. Allg. zu Lovecrafts Weltbild: Joshi 1990; Houellebecq 1991; Joshi 1996; Airaksinen 1999; Ludueña 2015. Vgl. neben den Briefen, die sich fast ausschließlich mit diesen Themen auseinandersetzen, auch Essays wie „Americanism“ (in United Amateur, Juli 1919). Man denke etwa an Lovecraft 1976 (Letters IV), S. 361: „I’ve always had a subconscious feeling that everything since the 18th century is unreal and illusory – a sort of grotesque nightmare or caricature. People seem to me more or less like ironic shadows or phantoms – as if I could make them (together with all their modern houses and inventions and
15 Lovecraft, Spengler und die „Berge des Wahnsinns“
321
einem Brief an Clark Ashton Smith vom 18. Februar 1927, der hier der literarischen Dichte wegen in seiner Gänze zitiert werden soll und in typisch Lovecraft’scher Manier nicht nur Cocaigne, sondern auch das hellenistische Canopus als Ideal-Zustände kultivierten Lebens bemüht: „New York is too far removed from the main stream of any one civilisation to be the home of any genuine art. It is a hybrid place, with garishness & squalor in monotonous alternation. Such places – like all cosmopolitanism – may breed the critical spirit, but never art. Art grows out of solitude & communion with one’s own past & background, & at bottom is exceedingly nativistic & nationalistic. One’s dream-country, be it in Cocaigne or on Canopus, is always a vague projection & etherealisation of one’s own childhood land; & the farther one’s life gets from these authentic sources, the weaker his art will become. New York belongs to no welldefined fabric & has no place in anyone’s hereditary or continuous life – wherefore it is a nursery of pose & pretence rather than of depth & sincerity in art. It is delightful to visit on account of its faery pinnacles & wealth of museums & the like – but as a place for a white man to live it simply doesn’t exist. The old New York is dead – this one is only a kennel of feverish mongrels. […] It is my belief – & was so long before Spengler put his seal of scholarly proof on it – that our mechanical & industrial age is one of frank decadence; so far removed from normal life & ancestral conditions as to make impossible its expression in artistic media. Last night I was supported in this belief by a lecture given here by the Irish poet Padraic Colum on Contemporary Poetry. Colum started by denying that such a thing as contemporary poetry exists, & shewed very clearly that the ideas & life of the present period are as yet artistically unformulated. We live on memories – & I think that is all we can ever live on now, since mechanical invention has so appallingly divorced us from the soil & from those conditions of our forefathers around which the aesthetic feelings of the race are entwined.“16
In ganz ähnlicher Weise heißt es dann einige Tage später: „New Englanders still inhabit New England; and in this final period of acknowledged decadence, when post-war ennui and a close reading of Spengler and his school unite to shatter the tinsel hopes and quench the cosmopolitan will-o-the-whisps of 1914, we are beginning to behold the dawn of an era of sober retrospection.“17
16 17
perspectives) dissolve into thin aether by merely pinching myself awake […].“ Der Vergleich mit Spengler, EH, S. 48 drängt sich auf: „Meine Zeit ist das Rokoko; da bin ich zu Hause. Antike Reste erschüttern mich wie ein Traum von Glück, das uns versagt blieb. Die Romanik füllt die Brust mit tiefster Wehmut. Diese sächsischen und fränkischen Ornamente, Kapitäle, Hallen sind Kindheitserinnerung. Die Renaissance weitet die Brust – der Eindruck überlegener, geistiger Gourmandise. Aber das Rokoko, sei es eine Kommode, ein Spiegel, ein Saal, bringt mich zu Tränen.“ Und in diesem Kontext darf dann auch folgende Stelle aus dem „Untergang“ nicht verschwiegen werden: Spengler, UdA, S. 56: „Wir sind zivilisierte Menschen, nicht Menschen der Gotik und des Rokoko; wir haben mit den harten und kalten Tatsachen eines späten Lebens zu rechnen, dessen Parallele nicht im perikleischen Athen, sondern im cäsarischen Rom liegt.“ Lovecraft 1968 (Letters II), S. 103 – 104. Ebd., S. 137.
322
Spenglers Rezeption
Selbst Spenglers Überzeugung, daß die „Menschheit“ lediglich ein zoologischer, kein historischer Begriff sei, da Kontinuitäten und Rezeptionsphänomene zwischen den einzelnen Kulturen entweder auf Mißverständnissen beruhen, oder sich in bloßen Belanglosigkeiten erschöpfen, keine Kultur aber je ein echtes inneres Verständnis des Seelenbilds einer anderen Kultur entwickeln kann,18 wird von Lovecraft geteilt, wie in einem Brief vom 30. Oktober 1929 deutlich wird, in dem Spengler sogar als „brother Oswald“ tituliert wird, und der aufgrund seiner besonderen Bedeutung für Lovecrafts Geschichtsbild in aller Ausführlichkeit zitiert werden soll: „As for your aesthetic conception of the history of all human branches as a single pattern or continuous process in which you can take a citizen-like pleasure and pride – of course, the picture is a pretty one, and was much cited in the naïve and nonanalytical Victorian days when sentimental over-extensions of the evolutionary idea took the place of the disinterested anthropology of the XXth century. It is, as an emotional attitude, perfectly sound and historically interesting – and is even comprehensible to me, since it bears analogies with my own sense of the whole cosmos rather than the earth as a working unit. But unfortunately it deals too much in unrealities, and in subjective illusions based on primitive and obsolete valueconceptions, to have a vital relationship to the problem of environment for the individual in real life. The actual individual – apart from a small group of theorists who specialise in this kind of feeling and derive certain artificial emotional-imaginative satisfactions from it as I do from my ,infinite-cosmicism‘ – can form no more of a satisfying conception of himself as a member of an hypothetical biology-stream than a hen-louse can form 18
Spengler, UdA, S. 28–29: „Niemand erwartet von einer Raupe, die er täglich wachsen sieht, daß sie möglicherweise ein paar Jahre damit fortfährt. Hier hat jeder mit unbedingter Gewißheit das Gefühl einer Grenze, das mit einem Gefühl für die innere Form identisch ist. Der Geschichte des höhern Menschentums gegenüber aber herrscht ein zügelloser, alle historische und also organische Erfahrung verachtender Optimismus in bezug auf den Gang der Zukunft, so daß jedermann im zufällig Gegenwärtigen die ‚Ansätze‘ zu einer ganz besonders hervorragenden linienhaften ‚Weiterentwicklung‘ feststellt, nicht weil sie wissenschaftlich bewiesen ist, sondern weil er sie wünscht. Hier wird mit schrankenlosen Möglichkeiten – nie mit einem natürlichen Ende – gerechnet und aus der Lage jedes Augenblicks heraus eine völlig naive Konstruktion der Fortsetzung entworfen. Aber ‚die Menschheit‘ hat kein Ziel, keine Idee, keinen Plan, so wenig wie die Gattung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat. ‚Die Menschheit‘ ist ein zoologischer Begriff oder ein leeres Wort. Man lasse dies Phantom aus dem Umkreis der historischen Formprobleme schwinden und man wird einen überraschenden Reichtum wirklicher Formen auftauchen sehen. Hier ist eine unermeßliche Fülle, Tiefe und Bewegtheit des Lebendigen, die bis jetzt durch ein Schlagwort, durch ein dürres Schema, durch persönliche ‚Ideale‘ verdeckt wurde. Ich sehe statt jenes öden Bildes einer linienförmigen Weltgeschichte, das man nur aufrecht erhält, wenn man vor der überwiegenden Menge der Tatsachen das Auge schließt, das Schauspiel einer Vielzahl mächtiger Kulturen, die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoß einer mütterlichen Landschaft, an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist, aufblühen, von denen jede ihrem Stoff, dem Menschtum, ihre eigne Form aufgeprägt hat, von denen jede ihre eigne Idee, ihre eignen Leidenschaften, ihr eignes Leben, Wollen, Fühlen, ihren eignen Tod hat.“
15 Lovecraft, Spengler und die „Berge des Wahnsinns“
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satisfying conceptions of himself as a proud unit in the whole pedicular pageant cat, dog, man, goat, and sand parasites. It all may be theoretically so – all men certainly have a vague common origin in one or two earlier primate species, while a few isolated culture-ideas are occasionally passed along – or taken over in a more or less garbled and fragmentary way – from one group to another – but, from the point of view of the normal member of any existing human group, what the hell of it? It simply doesn’t mean anything. All our feelings and loyalties are based on the special instincts and inherited values or our immediate racial and cultural group – take these away, and absolutely nothing remains for any average person to anchor his sense of direction, interest, or standards to. What do you care about the mean annual temperature of Jupiter? Or I about the welfare of some lousy Chinaman or god damn negro? Nothing but artificial sentiment, of a thin, unreal sort insufficient to hold any but a few imaginative individuals like you or me, could make any normal terrestrial Aryan care a hang about either Jupiter and Saturn’s rings on the one hand, or Chinamen and negroes on the other hand. Nothing means anything vitally to us except something which we can interpret in the light of conditions we know. Empty words and their similarities mean very little – and we are very much mistaken if we think, upon reading the precepts of some ancient and exotic sage, that these words mean the same to us that they did to the people whose minds and feelings were fed from the same background as the Sage’s. Spengler points this out with tremendous force – though it was highly apparent to me long before I ever heard of Bro’r Oswald.“19
Freilich zeigt diese Passage bei aller Ähnlichkeit auch eine signifikante Abweichung von Spenglers Gedankenwelt: Lovecraft, der zeitlebens aus seinem Rassismus kein Hehl machte, schien an eine fundamentale Überlegenheit der „arischen Rasse“ zu glauben, so daß aus dem Spengler’schen gegenseitigen Nicht-Verstehen verschiedener, prinzipiell gleichwertiger Kulturen bei Lovecraft ein Nicht-Verstehen-Wollen anderer Kulturen seitens der angeblich überlegenen „arischen“ Kultur wird. Dies ist ein grundlegender Unterschied zu Spenglers Denken, hatte dieser doch für Gedanken wie „Blut“ und „Rasse“ nur Hohn übrig; ein Punkt, der Spengler ja später auch in einen grundlegenden Gegensatz zum Nationalsozialismus bringen sollte:20
19
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Lovecraft 1971 (Letters III), S. 44–45. Die Stelle geht wie folgt weiter: „We live, always, by two codes—the external and professed code based on an artificially cosmopolitan culture; and the inner, real, and motivating code, based on the true response of our instincts to their habitual stimuli. It is all very well to theorise decoratively from the outer code – but we must apply the inner code when we wish to calculate actual results. Stripping off the mask of nineteenth century euphemism and decorum, we know damn well that the human race is divided into many groups whose whole instinctive conceptions of what is desirable and what is undesirable are so antipodally apart in half to three-quarters of the affairs of life, that they cannot possibly be thought of as having any goal or complete set of standards in common. And to pretend that such a community can exist, is to complicate the matter all the worse. We misunderstand all the more, when we feign to understand what we do not understand.“ Zum Themenkomplex „Spengler und der Nationalsozialismus“, vgl.: Fauconnet 1946; Koktanek 1966; Thöndl 1993; Stiegler 1999; Brunstad 2006; Henkel 2007 und die in Engels
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Spenglers Rezeption „In der Tat verträgt sich der Rasseausdruck eines Menschenkopfes mit jeder überhaupt denkbaren Schädelform. Das Entscheidende sind nicht die Knochen, sondern das Fleisch, der Blick, das Mienenspiel. Es wird seit der Romantik von einer indogermanischen Rasse gesprochen. Aber gibt es Arier- und Semitenschädel? Kann man Kelten- und Franken- oder auch nur Buren- und Kaffernschädel unterscheiden? Wenn aber nicht, was für eine Rassegeschichte kann dann ohne irgendein Zeugnis für uns über die Erde gegangen sein, die uns nichts als Knochen aufbewahrt hat. Wie gleichgültig diese für das sind, was wir unter höheren Menschen Rasse nennen, ließe sich durch einen drastischen Versuch zeigen: man beobachte Menschen von den denkbar stärksten Rasseunterschieden durch einen Röntgenapparat und stelle sich dabei geistig auf die ‚Rasse‘ ein. Es wird ein geradezu lächerlicher Eindruck sein, wie mit der Durchleuchtung die ‚Rasse‘ plötzlich vollständig verschwunden ist.“ (UdA, S. 710)21
Es dürfte wohl müßig sein, nach Vorbildern für Lovecrafts Übernahme des ArierBegriffs zu suchen, ebenso, wie es wohl unnötig ist, nach den Wurzeln seines mehr oder weniger latenten Antisemitismus zu suchen, waren beide historische Paradigmen doch nicht nur in Europa, sondern auch in den Vereinigten Staaten des beginnenden 20. Jahrhunderts politisch wie publizistisch weit verbreitet (man denke hier nur an den Ku-Klux-Clan, das „America First Committee“ mitsamt seines Sprechers Charles Lindbergh, Henry Ford mit seinem Buch „The International Jew, the World’s Foremost Problem“, usw.).22 Auch Lovecrafts Begeisterung für Spenglers Dekadenztheorie war keine Ausnahme, war doch gerade in den Vereinigten Staaten der rasche Übergang von der Farmer- zur Industrie-Gesellschaft und die damit zeitgleichen Phänomene wie Masseneinwanderung, Sklavenbefreiung und explosionsartige Urbanisierung eine traumatische Erfahrung für viele konservative Autoren seit Henry James, so daß selbst auf Seiten fortschrittlicher Autoren wie Francis Scott Fitzgerald oder Henry Miller die Lektüre Spenglers zum Erweckungserlebnis wurde, welches den unweigerlichen Niedergang der traditionellen Kolonistengesellschaft NeuEnglands sinnfällig mit dem Schein historischer Notwendigkeit verbrämte.23 Die Tatsache, daß Spenglers „Untergang“ gerade in den Vereinigten Staaten auf fruchtbaren Boden fiel und im Gegensatz zum europäischen Publikum nur selten
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2013a (= Kap. 13) zusammengestellten Quellentexte zur Spengler-Kritik im Nationalsozialismus. Vgl. ähnlich auch Spengler, JdE, S. 157: „Aber wenn hier von Rasse die Rede ist, so ist das nicht in dem Sinne gemeint, wie er heute unter Antisemiten […] Mode ist, darwinistisch, materialistisch nämlich. Rassereinheit ist ein groteskes Wort angesichts der Tatsache, daß seit Jahrtausenden alle Stämme und Arten sich gemischt haben, und daß gerade kriegerische, also gesunde, zukunftsreiche Geschlechter von jeher gern einen Fremden sich eingegliedert haben, wenn er ‚von Rasse‘ war, gleichviel zu welcher Rasse er gehörte. […].“ Allg. zum amerikanischen Antisemitismus: Lee 1980; Volkman 1982; Dolan 1985; Buckley 1992; Dinnerstein 1994; Jaher 1994. Zu diesen drei Autoren vgl. jetzt Engels 2010b; Engels 2014b (= Kap 14) und Engels 2012 (= Kap 16).
15 Lovecraft, Spengler und die „Berge des Wahnsinns“
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durch die germanophobe Perspektive der Weltkriegs-Propaganda wahrgenommen wurde, erklärt vielleicht auch, wieso Lovecrafts Begeisterung für Spengler keine grundsätzliche Bekehrung implizierte, sondern nur das Bekenntnis einer grundsätzlichen Seelenverwandtschaft, erklärte Lovecraft doch am 27. Oktober 1932 in einem Brief an Alfred Galpin ganz offen, daß ihm Spenglers System bei aller Wahrscheinlichkeit doch allzu mathematisch zu sein schien: „The original […] volume I read some years ago with much attention and a great deal of acquiescence, tho’ I think the philosopher errs when he draws too close a comparison between the life of a culture and that of a single biological organism. In effect, the parallel may indeed be close; for it is certain no civilisation can last more than a limited length of time without going tho’ various typical phases of decline. But when one considers the nature of the interdependence betwixt the parts of an organick unit, and compares this type of indivisible union and inevitable development with the looser bonds linking the elements of a culture, it becomes plain that the case is one of resemblance rather than of identity. Whilst the ultimate senescence and extinction of a culture are virtually unavoidable, the degree and conditions of its aging are certainly much more variable through chance and calculation than are those of a living organism’s aging.“24
15.3
Die „Berge des Wahnsinns“, der „Untergang des Abendlandes“ und die Antike
Es wäre sicher eine lohnende Aufgabe, nicht nur Lovecrafts Briefwechsel, sondern auch sein literarisches Werk nach Anklängen nicht nur an Spengler, sondern auch an andere geschichtsphilosophische Konzepte zu durchsuchen. Doch dürften sich die klarsten Parallelen, nimmt man die kurze Erzählung „The Street“ (1919)25 und die Novelle „The Shadow out of Time“ (1936)26 aus, sicherlich in den „Bergen des Wahnsinns“ finden, die man wohl mit demselben Anrecht, wie Thomas Mann Spenglers „Untergang“ einen „intellektualen Roman von hoher Unterhaltungskraft“27 genannt hatte, als einen „geschichtsphilosophischen Schauerroman“ bezeichnen darf. Wie steht es nun mit der Rolle der Antike in Lovecrafts „Mountains of Madness“? Die Antwort auf diese Frage muß notwendigerweise doppelt ausfallen.
24 25 26 27
Yoshi 1990, S. 135. Allg. hierzu Joshi/Schultz 2001, S. 254–255. Allg. hierzu Joshi 1995; Montelone 1996. Mann 1923/1974, S. 841.
326
Spenglers Rezeption
Zunächst ist die Antike, genau wie bei Spengler und zahlreichen anderen Geschichtsphilosophen,28 omnipräsent als das ultimative geschichtsphilosophische Paradigma des idealtypischen Verlaufs von Aufstieg, Blüte, Niedergang und Tod einer jeden Hochkultur.29 Genauso wie die Kultur der Antike durchlebt auch die Gesellschaft der „Alten Wesen“ eine Reihe von Stadien, welche der Geschichte der Antike entlehnt sind, wobei die Art und Weise ihrer Rekonstruktion – die archäologische Erkundung ihrer verfallenen Stadt und die Analyse ihrer historischen Reliefs – ebenfalls unverkennbar dem altertumswissenschaftlichen Stereotyp des 19. und 20. Jahrhunderts und ihren großen archäologischen Entdeckungen verhaftet ist. Die Erkundung der namenlosen Stadt, gleichsam einem „Pompei der Alten Wesen“, erlaubt es den beiden Wissenschaftlern, mehrere aufeinanderfolgende geschichtsmorphologische Phasen auszumachen, welche ungewollt den Eindruck erwecken, Lovecraft habe Spenglers vergleichenden morphologischen Tabellen eine weitere, außerirdische Spalte hinzufügen wollen.30 So lesen wir zunächst von Stadtgründungen, Kolonisation und künstlerischer Perfektion, dann von Kriegen gegen andere außerirdische Rassen und der Schaffung der zunächst willfährigen, dann aufrührerischen Sklavenschicht der Schoggothen, welche letztlich nur durch Massenvernichtungswaffen im Zaum gehalten werden können, ferner vom allmählichen Niedergang der „Alten Wesen“, klimatischen Naturkatastrophen, künstlerischer Dekadenz, Verfall in religiösen Aberglauben und körperlicher Degeneration, und schließlich, nach einem kurzem Aufraffen, vom Rückzug in eine letzte Stadt, bevor endlich die Schoggothen die Macht übernehmen und, wie angedeutet wird, auch die letzten „Alten Wesen“ vernichten. Neben diesen gleichsam idealtypischen Phasen trägt die Gesellschaft der „Alten Wesen“ aber auch Züge, welche vermuten lassen, daß nicht nur die Antike, sondern auch andere menschliche Hochkulturen Pate bei ihrer Erfindung standen. So erinnern die mit geradezu obsessivem antiquarischen Interesse beschriebenen historischen Reliefs weniger an antike Kunstwerke, welche meist ja weniger politischen als vielmehr mythologischen Erzählungen gewidmet waren, erheblich eher an Spenglers Deutung der ägyptischen als der antiken Kultur. Während es bei Lovecraft nämlich heißt: „Conceivably, the Old Ones might have invented a cosmic framework to account for their occasional defeats, since historical interest and pride obviously formed their chief psychological element. It is significant that their annals failed to mention many 28
29 30
Zum Biologismus als geschichtsphilosophischem Denkmuster vgl. jetzt die Aufsätze in Engels (Hg.) 2015. S. pars pro toto Demandt 2014a. Vgl. auch Joshi/Schultz 2001, S. 11: „The exhaustive history of the Old Ones on this planet, portraying their rise and fall, suggests HPL’s absorption of Oswald Spengler’s Decline of the West, with its similar emphasis on the inexorable rise and fall of successive civilizations.“
15 Lovecraft, Spengler und die „Berge des Wahnsinns“
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advanced and potent races of beings whose mighty cultures and towering cities figure persistently in certain obscure legends.“31
formuliert Spengler: „Der indische Mensch vergaß alles, der ägyptische konnte nichts vergessen. Eine indische Kunst des Porträts – der Biographie in nuce – hat es nie gegeben; die ägyptische Plastik kannte kaum ein anderes Thema. Die ägyptische Seele, eminent historisch veranlagt und mit urweltlicher Leidenschaft nach dem Unendlichen drängend, empfand die Vergangenheit und Zukunft als ihre ganze Welt und die Gegenwart, die mit dem wachen Bewußtsein identisch ist, erschien ihr lediglich als die schmale Grenze zwischen zwei unermeßlichen Fernen. Die ägyptische Kultur ist eine Inkarnation der Sorge – dem seelischen Korrelat der Ferne – der Sorge um das Künftige, wie sie sich in der Wahl von Granit und Basalt als plastischem Material, in den gemeißelten Urkunden, in der Ausbildung eines meisterhaften Verwaltungssystems und dem Netz von Bewässerungsanlagen ausspricht, und der notwendig damit verknüpften Sorge um das Vergangene.“ (UdA, S. 16)
Ein anderer Punkt, an dem die Kultur der „Alten Wesen“ von der der Antike abweicht, ist ihre Verfassungsform. Hier heißt es, für den zutiefst antikommunistisch eingestellten32 Lovecraft auf den ersten Blick erstaunlich anmutend: „Government was evidently complex and probably socialistic, though no certainties in this regard could be deduced from the sculptures we saw.“33
Tatsächlich hatte Lovecraft sich, trotz seines schon fast wunderlichen Konservatismus, in jenen Jahren zu einem moderaten Sozialisten entwickelt, doch würde es zu kurz greifen, in der oben erwähnten Stelle wie auch in den persönlichen Ansichten Lovecrafts ein wie auch immer geartetes Zeichen für eine Aufweichung oder Liberalisierung seiner politischen Weltanschauung zu deuten. Ganz im Gegenteil fand auch Lovecrafts Bekehrung zum Sozialismus, welche in den „Bergen des Wahnsinns“ auch eine auf den ersten Blick anachronistisch anmutende Abweichung vom klassischen Antike-Paradigma impliziert, unter dem Vorzeichen der Aufrechterhaltung einer aristokratischen Gesellschaft statt34 und dürfte nicht zuletzt dem Einfluß Spenglers geschuldet sein. Dieser sah einen grundlegenden Unterschied zwischen Sozialismus und Kommunismus: Während „Kommunismus“ wesentlich nicht nur ein 31 32
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Lovecraft 1936/1999 (Mountains), S. 92–93. 1919 etwa verfaßte Lovecraft den Essay „Bolshevism“ (veröff. in der von ihm herausgegebenen und auch weitgehend alleine verfaßten Zeitschrift „The Conservative“, Juli 1919), in welchem er den „almost sub-human Russian rabble“ verdammte. Lovecraft 1936/1999 (Mountains), S. 88. Vgl. Lovecraft 1976a (Letters IV), S. 321: „[…] what I used to respect was not really aristocracy, but a set of personal qualities which aristocracy then developed better than any other system… as set of qualities, however, whose merit lay only in a psychology of non-calculative, non-competitive disinterestedness, thruthfulness, courage, and generosity fostered by good education, minimum economic stress, and assumed position, and just as achievable through socialism as through aristocracy.“
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intellektuelles Verfallsmerkmal, sondern auch eine ideologische Waffe in den Händen des befürchteten „Sklavenaufstands“ von „unten“ (Proletariat) und von „außen“ (andere Völker) darstellte,35 bedeutete der „Sozialismus“ ein notwendiges Entwicklungsstadium einer jeden menschlichen Kultur und blieb demgemäß keineswegs auf das Gedankengut des 19. und 20. Jahrhunderts beschränkt, sondern fand als solches nicht nur im ägyptischen Verwaltungsstaat und im antiken Populismus, sondern auch im preußischen Beamtentum eine idealtypische Ausprägung; eine Ansicht, die ja dann auch Spengler zur Niederschrift seiner Studie „Preußentum und Sozialismus“ bewegte, in welcher er sich um eine vielsagende Versöhnung preußischen Pflichtgefühls und nationaler Solidarität bemühte. „In der Antike aber, um von Indien zu schweigen, wirtschaftete man von einem Tag zum andern – obwohl das Vorbild Ägyptens vor Augen lag – und trieb Raubbau nicht nur an Schätzen, sondern auch an Möglichkeiten, um zufällige Überschüsse sofort an den Pöbel zu verschwenden. Man prüfe alle großen Staatsmänner der Antike, Perikles und Cäsar, Alexander und Scipio, und selbst die Revolutionäre wie Kleon und Ti. Gracchus: keiner von ihnen hat wirtschaftlich in die Ferne gedacht. Keine Stadt hat die Entwässerung oder Aufforstung eines Gebiets oder die Einführung höherer Methoden oder Vieh- und Pflanzenarten in die Hand genommen. Man versteht die »Agrarreform« der Gracchen ganz falsch, wenn man sie abendländisch interpretiert: sie wollten ihre Partei zu Besitzern machen. Sie zu Landwirten zu erziehen oder gar die italische Landwirtschaft zu heben, lag ihnen ganz fern. Man ließ die Zukunft herankommen, man versuchte nicht, auf sie zu wirken. Und deshalb ist der Sozialismus – nicht der theoretische von Marx, sondern der praktische, von Friedrich Wilhelm I. begründete des Preußentums, der jenem voraufging und ihn wieder überwinden wird – mit seiner tiefen Verwandtschaft zum Ägyptertum das Gegenstück zum wirtschaftlichen Stoizismus der Antike, ägyptisch in seiner umfassenden Sorge für dauerhafte wirtschaftliche Zusammenhänge, in seiner Erziehung des einzelnen zur Pflicht für das Ganze und in der Heiligung des Fleißes, durch den die Zeit und Zukunft bejaht werden.“ (UdA, S. 180)
Unter dieser Perspektive sollte „Sozialismus“ dann nicht mehr das Gegenstück zu einer aristokratischen Weltsicht darstellen, sondern nur den letzten Versuch, dieses wenigstens in Grundsätzen zu erhalten und im Volk zu verankern, so daß auch nicht verwunderlich ist, daß für Spengler der Sozialismus lediglich die Vorstufe zum Caesarismus darstellte (eine ja auch durchaus in der geschichtlichen Entwicklung verankerte Interpretation, bedenkt man die sozialistische Komponente des Bonapartismus und des Faschismus), was ein bezeichnendes Licht nicht nur auf Spenglers,36 sondern auch auf Lovecrafts resignierte Sympathie mit dem italienischen Faschismus wirft. 35
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Vgl. zu Spenglers Konzept des Sklavenaufstands von „unten“ und von „außen“ Engels 2007a (= Kap. 12). Zu Spenglers Stellung gegenüber dem italienischen Faschismus vgl. Mussolini (1933); Aliotta (1936); Thöndl (1993); Azzaro (2005); Thöndl (2005); Thöndl (2010); Thöndl (2013); zu Lovecraft Position siehe z.B. neben dem Briefwechsel Essays wie „Cats and Dogs“ (publ. in „Leaves“, Sommer 1937), wo sich Passagen finden wie: „Whether the forces of
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Schließlich ist der kaum zu übersehende Parallelismus zwischen Lovecrafts Beschreibung einer nur als Luftspiegelung geschauten Stadt der „Alten Wesen“ und Spenglers dystopischer Schilderung der Weltstädte der Zukunft zu erwähnen, die gleichzeitig in Analogie zu den endzeitlichen Metropolen der großen Hochkulturen der Vergangenheit stehen. So heißt es bei Lovecraft: „I had seen dozens of polar mirages during the preceding weeks, some of them quite as uncanny and fantastically vivid as the present example; but this one had a wholly novel and obscure quality of menacing symbolism, and I shuddered as the seething labyrinth of fabulous walls and towers and minarets loomed out of the troubled ice vapors above our heads. The effect was that of a Cyclopean city of no architecture known to man or to human imagination, with vast aggregations of night-black masonry embodying monstrous perversions of geometrical laws. There were truncated cones, sometimes terraced or fluted, surmounted by tall cylindrical shafts here and there bulbously enlarged and often capped with tiers of thinnish scalloped disks; and strange beetling, table-like constructions suggesting piles of multitudinous rectangular slabs or circular plates or five-pointed stars with each one overlapping the one beneath. There were composite cones and pyramids either alone or surmounting cylinders or cubes or flatter truncated cones and pyramids, and occasional needle-like spires in curious clusters of five. All of these febrile structures seemed knit together by tubular bridges crossing from one to the other at various dizzy heights, and the implied scale of the whole was terrifying and oppressive in its sheer gigantism. The general type of mirage was not unlike some of the wilder forms observed and drawn by the arctic whaler Scoresby in 1820, but at this time and place, with those dark, unknown mountain peaks soaring stupendously ahead, that anomalous elder-world discovery in our minds, and the pall of probable disaster enveloping the greater part of our expedition, we all seemed to find in it a taint of latent malignity and infinitely evil portent.“37
Wenn auch freilich nicht vergessen werden darf, daß die Kritik an der Großstadt gerade in den 1920er und 1930er Jahren ein fester Topos europäischer Kulturphilosophie war (hierin ähnlichen Strömungen des antiken Denkens durchaus analog38) und bei Lovecraft auch noch autobiographisch durch die Abneigung gegenüber dem ihm verhaßten New York gespeist wurde,39 ist die intellektuelle Nähe zu Spengler doch unübersehbar, bei dem zu lesen ist:
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disintegration are already too powerful for even the fascist sentiment to check, none may yet say“. Lovecraft 1936/1999 (Mountains), S. 70–71. Engels 2013c. Die von Lovecraft während seiner kurzen Ehe in New York zugebrachten Jahre zählten seiner eigenen Aussage nach zu den schlimmsten seines Lebens und sollten sich in den Schilderungen seiner in New York selbst verfaßten Kurzgeschichte „He“ (veröff. in „Weird Tales“, September 1926) widerspiegeln, die grob an Lord Dunsanys Roman „Chronicles of Rodriguez“ (1922) angelehnt ist. Ein magisches Fenster ermöglicht hier dem vom zeitgenössischen New York abgestoßenen Erzähler sowohl einen Einblick in das idyllische Greenwich Village des 18. Jahrhunderts als auch eine Vorausschau in das New York der Zukunft. Hier heißt es dann: „I saw the heavens verminous with strange flying
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Spenglers Rezeption „Der Steinkoloß ‚Weltstadt‘ steht am Ende des Lebenslaufes einer jeden großen Kultur. Der vom Lande seelisch gestaltete Kulturmensch wird von seiner eigenen Schöpfung, der Stadt, in Besitz genommen, besessen, zu ihrem Geschöpf, ihrem ausführenden Organ, endlich zu ihrem Opfer gemacht. Diese steinerne Masse ist die absolute Stadt. Ihr Bild, wie es sich mit seiner großartigen Schönheit in die Lichtwelt des menschlichen Auges zeichnet, enthält die ganze erhabene Todessymbolik des endgültig ‚Gewordenen‘. Der durchseelte Stein gotischer Bauten ist im Verlauf einer tausendjährigen Stilgeschichte endlich zum entseelten Material dieser dämonischen Steinwüste geworden. […] Wer von einem Turm auf das Häusermeer herabsieht, erkennt in dieser steingewordenen Geschichte eines Wesens genau die Epoche, wo das organische Wachstum endet und die anorganische und deshalb unbegrenzte, alle Horizonte überschreitende Häufung beginnt. Und jetzt entstehen auch die künstlichen, mathematischen, vollkommen landfremden Gebilde einer rein geistigen Freude am Zweckmäßigen, die Städte der Stadtbaumeister, die in allen Zivilisationen dieselbe schachbrettartige Form, das Symbol der Seelenlosigkeit anstreben. Diese regelmäßigen Häuserquadrate haben Herodot in Babylon und die Spanier in Tenochtitlan angestaunt. In der antiken Welt beginnt die Reihe der ‚abstrakten‘ Städte mit Thurioi, das Hippodamos von Milet 441 ‚entwarf‘. Priene, wo das Schachbrettmuster die Bewegtheit der Grundfläche vollkommen ignoriert, Rhodos, Alexandria folgen als Vorbilder zahlloser Provinzstädte der Kaiserzeit. Die islamischen Baumeister haben seit 762 Bagdad und ein Jahrhundert später die Riesenstadt Samarra am Tigris planmäßig angelegt. In der westeuropäischamerikanischen Welt ist das erste große Beispiel der Grundriß von Washington (1791). Es kann kein Zweifel bestehen, daß die Weltstädte der Hanzeit in China und die der Mauryadynastie in Indien dieselben geometrischen Formen besessen haben. Die Weltstädte der westeuropäisch-amerikanischen Zivilisation haben noch bei weitem nicht den Gipfel ihrer Entwicklung erlangt. Ich sehe – lange nach 2000 – Stadtanlagen für zehn bis zwanzig Millionen Menschen, die sich über weite Landschaften verteilen, mit Bauten, gegen welche die größten der Gegenwart zwerghaft wirken, und Verkehrsgedanken, die uns heute als Wahnsinn erscheinen würden.“ (UdA, S. 673–675)40
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things, and beneath them a hellish black city of giant stone terraces with impious pyramids flung savagely to the moon, and devil-lights burning from unnumbered windows.“ (allg. zur Geschichte vgl. Faig 1997) Die Passage ist übrigens trotz ihrer Anklänge an die oben zitierte Spengler-Passage völlig unabhängig von dieser, erschien die englische Übersetzung des zweiten Bands des „Untergang des Abendlandes“ doch erst zwei Jahre nach der Niederschrift der Kurzgeschichte. Eine ähnlich dystopische Zukunftsschilderung findet sich auch in dem Gedicht „Providence in 2000 A.D.“ (veröff. in Providence Evening Bulletin, 4. März 1912). Auch bei Lovecraft 1936/1999 (Mountains) wird die Stadt der „Alten Wesen“ nicht nur mit Rom bzw. Konstantinopel (s.u.), sondern auch mit Machu Picchu, Kish (ebd., S. 59) und v.a. mit Babylon in Verbindung gebracht; so heißt es (ebd., S. 112–113): „The walls were – in available spaces – boldly sculptured into a spiral band of heroic proportions; and displayed, despite the destructive weathering caused by the openness of the spot, an artistic splendor far beyond anything we had encountered before. The littered floor was quite heavily glaciated, and we fancied that the true bottom lay at a considerably lower depth. But the salient object of the place was the titanic stone ramp which, eluding the archways by a sharp turn outward into the open floor, wound spirally up the stupendous
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Doch kommen wir zu den wohl explizitesten Anklängen nicht nur an Spengler, sondern auch an die klassische Antike, aus der sich im Rückschluß die Bedeutung des Antike-Paradigmas für die Gesamtgeschichte der „Alten Wesen“ erschließt. Bei ihrer Expedition durch die Ruinenstadt konstatieren die beiden Forscher, wie erwähnt, den zunehmenden künstlerischen Niedergang der Bildhauerkunst der „Alten Wesen“. Eine der letzten Darstellungen beschreibt dann allerdings die klimatisch bedingte Errichtung einer neuen Hauptstadt im Meer, und hier sind die Anklänge an die Gründung Konstantinopels und den scheinbaren Niedergang des römischen Reiches und seines Kunstgewerbes unverkennbar. So heißt es in einer Passage, die unweigerlich nicht nur an Spengler, sondern auch an den in Lovecrafts Bibliothek belegten Gibbon41 erinnert: „Decadent though their style undoubtedly was, these latest carvings had a truly epic quality where they told of the building of the new city in the cavern sea. The Old Ones had gone about it scientifically – quarrying insoluble rocks from the heart of the honeycombed mountains, and employing expert workers from the nearest submarine city to perform the construction according to the best methods. These workers brought with them all that was necessary to establish the new venture – Shoggoth tissue from which to breed stone lifters and subsequent beasts of burden for the cavern city, and other protoplasmic matter to mold into phosphorescent organisms for lighting purposes. At last a mighty metropolis rose on the bottom of that Stygian sea, its architecture much like that of the city above, and its workmanship displaying relatively little decadence because of the precise mathematical element inherent in building operations. The newly bred Shoggoths grew to enormous size and singular intelligence, and were represented as taking and executing orders with marvelous quickness. They seemed to converse with the Old Ones by mimicking their voices – a sort of musical piping over a wide range, if poor Lake’s dissection had indicated aright – and to work more from spoken commands than from hypnotic suggestions as in earlier times. They were, however, kept in admirable control. The phosphorrescent organisms supplied light with vast effectiveness, and doubtless atoned for the loss of the familiar polar auroras of the outer-world night. Art and decoration were pursued, though of course with a certain decadence. The Old Ones seemed to realize this falling off themselves, and in many cases anticipated the policy of Constantine the Great by transplanting especially fine blocks of ancient carving from their land city, just as the emperor, in a similar age of decline, stripped Greece and Asia of their finest art to give his new Byzantine capital greater splendors than its own people could create. That the transfer of sculptured blocks had not been more extensive was doubtless owing to the fact that the land city was not at first wholly abandoned. By the time total abandonment did occur – and it surely must have occurred before the polar Pleistocene was far advanced – the Old Ones had perhaps become satisfied with their decadent art – or had ceased to recognize the superior merit of the older carvings. At any rate, the aeon-silent ruins
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cylindrical wall like an inside counterpart of those once climbing outside the monstrous towers or ziggurats of antique Babylon.“ Vgl. Joshi 2012, n° 351–352.
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Spenglers Rezeption around us had certainly undergone no wholesale sculptural denudation, though all the best separate statues, like other movables, had been taken away.“42
Dies liest sich fast wie eine unmittelbare Paraphrase Spenglers, der in ganz ähnlicher Weise das spätantike Kunsthandwerk als matten Nachzügler der seit der augusteischen Zeit eigentlich abgestorbenen, „echten“ griechisch-römischen Kunst empfand und ähnliche Verfallszeichen auch in der Gegenwart zu sehen glaubte: „Endlich erlischt selbst die Kraft, etwas anderes auch nur zu wollen. Schon der große Ramses eignete sich Bauten seiner Vorgänger an, indem er in Inschriften und Reliefszenen die Namen ausmeißeln und durch den eigenen ersetzen ließ. Es ist dasselbe Eingeständnis künstlerischer Ohnmacht, das Konstantin veranlaßte, seinen Triumphbogen in Rom mit Skulpturen zu schmücken, die von andern Bauwerken abgenommen waren. Viel früher, seit 150 v. Chr. etwa, beginnt im Bereich der antiken Kunst die Technik der Kopien nach hellenischen Meisterwerken, nicht, weil man diese noch irgend verstanden hätte, sondern weil man Originale nicht mehr selbständig hervorzubringen verstand. Denn man bemerke wohl: diese Kopisten waren die Künstler der Zeit. Ihre Arbeiten, je nach der Mode in diesem oder jenem Stil ausgeführt, bezeichnen das Maximum der damals vorhandenen Gestaltungskraft. Sämtliche römischen Bildnisstatuen, ob männlich oder weiblich, gehen auf eine ganz kleine Zahl hellenistischer Typen der Stellung und Gebärde zurück, die für den Torso mehr oder weniger stilecht kopiert werden, während der Kopf mit einer primitiven handwerksmäßigen Treffsicherheit ‚ähnlich‘ gemacht wird. Die berühmte Panzerstatue des Augustus z. B. ist nach dem Doryphoros des Polyklet gearbeitet. So etwa verhält sich – um die ersten Vorzeichen des entsprechenden Stadiums im Abendlande zu nennen – Lenbach zu Rembrandt und Makart zu Rubens. 1500 Jahre lang, von Ahmose I. bis auf Kleopatra herab, hat der Ägyptizismus in derselben Weise Bildwerke auf Bildwerke gehäuft. An Stelle des vom Alten bis zum Ausgang des Mittleren Reichs sich entwickelnden großen Stils herrschen Moden, die den Geschmack bald dieser, bald jener Dynastie wiederaufleben lassen. Unter den Turfanfunden befinden sich Reste indischer Dramen aus der Zeit um Christi Geburt, die den um Jahrhunderte späteren des Kalidasa völlig gleich sind. Die uns bekannte chinesische Malerei zeigt mehr als ein Jahrtausend hindurch das Auf und Ab wechselnder Stilmoden, keine Entwicklung, und es muß schon zur Hanzeit so gewesen sein. Das letzte Ergebnis ist ein feststehender, unermüdlich kopierter Formenschatz, wie ihn uns heute die indische, chinesische und arabisch-persische Kunst zeigen, nach welchem Bilder und Gewebe, Verse und Gefäße, Möbel, Dramen und Musikstücke gearbeitet werden, ohne daß die Zeit der Entstehung sich aus der Sprache der Ornamentik auch nur auf Jahrhunderte, geschweige denn Jahrzehnte bestimmen ließe, wie es in allen Kulturen bis zum Ausgang der Spätzeit der Fall war.“ (UdA, S. 379–380)
Nun zählt das Problem der Spätantike,43 ihrer Kunst und ihres historischen Selbstverständnisses zwischen Niedergang und Blütezeit zu einem der zentralen Themen der Spengler’schen Geschichtsphilosophie, betrachtete dieser doch das 42 43
Lovecraft 1936/1999 (Mountains), S. 101. Allg. zum Problem der Spätantike vgl. Kagan 1992; Demandt 2007; Heather 2006; WardPerkins 2006; Ratti 2015.
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spätrömische Reich als eine gewissermaßen janusköpfige Erscheinung, die auf der einen Seite von der Versteinerung der klassischen griechisch-römischen Kultur und ihrer geistigen und künstlerischen Tradition geprägt wurde, auf der anderen Seite aber, zumindest in ihrer Osthälfte, zur Rahmenbedingung der Entstehung der frühchristlich-muslimischen Kultur wurde, deren Wirksamkeit wesentlich das erste nachchristliche Jahrtausend und den Nahen und Mittleren Osten betraf. Insoweit ist auch die Gründung der neuen, gewissermaßen spätzeitlichen Hauptstadt Konstantinopel zum einen als letzter Ausläufer der antiken Kultur zu verstehen, zum anderen aber schon im Bestreben nach Herausbildung einer neuen, typisch orientalischen Kultur zu begreifen. Während für Spengler also Niedergang der Antike und Aufstieg des Orients sich gewissermaßen das spätantike römische Reich als politischen Bezugsrahmen teilen und ihm ihrer beiden Stempel aufdrücken, findet sich in Lovecrafts Beschreibung der Kultur der „Alten Wesen“ eine interessante und wohl auch äußerst bezeichnende Abwandlung dieses Schemas, trennt er doch beide Phasen radikal voneinander. Wo auf der einen Seite die Gründung der neuen Hauptstadt zwar schon Anzeichen für eine unaufhaltsame Dekadenz war, immerhin aber noch aus dem inneren Formbewußtsein der ursprünglichen Kultur heraus stattfand, ist der anschließende, völlige Niedergang nicht mehr Werk der „Alten Wesen“ selbst, sondern vielmehr der Schoggothen, jener amorphen Protoplasmen, welche zum Sieg über ihre Herren gelangten und deren einstige Kunst nunmehr krude und teils geistlos, teils bösartig parodieren – ein Vorgang, der bei Lovecraft explizit mit der palmyrenischen Kunst und somit dem Aufstieg des arabischen Orients innerhalb der Spätantike in Verbindung gebracht wird: „This new and degenerate work was coarse, bold, and wholly lacking in delicacy of detail. It was countersunk with exaggerated depth in bands following the same general line as the sparse cartouches of the earlier sections, but the height of the reliefs did not reach the level of the general surface. Danforth had the idea that it was a second carving – a sort of palimpsest formed after the obliteration of a previous design. In nature it was wholly decorative and conventional, and consisted of crude spirals and angles roughly following the quintile mathematical tradition of the Old Ones, yet seemingly more like a parody than a perpetuation of that tradition. We could not get it out of our minds that some subtly but profoundly alien element had been added to the aesthetic feeling behind the technique – an alien element, Danforth guessed, that was responsible for the laborious substitution. It was like, yet disturbingly unlike, what we had come to recognize as the Old Ones’ art; and I was persistently reminded of such hybrid things as the ungainly Palmyrene sculptures fashioned in the Roman manner.“44
Diese Passage erinnert daher nicht ohne Grund an zwei innerlich unterschiedlich intendierte Grundgedanken bei Spengler. Zum einen beinhaltet die Anspielung auf das zwar schon 1751 entdeckte, seit 1929 von Henri Arnold Seyrig 44
Lovecraft 1936/1999 (Mountains), S. 122.
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aber systematisch ausgegrabene Palmyra45 fraglos einen Rückgriff auf Spenglers Grundgedanken, die spätantike Kunst, zu der eben auch die Palmyras zählt, bediene sich der erstorbenen Ausdrucksmittel der klassischen Ästhetik, um ihre eigene Formensprache zu entwickeln und gänzlich andere weltanschauliche Begriffe zu transportieren: „Das in römischer Intelligenz sich vollendende antike Seelentum, dessen ‚Leib‘ die antike Kultur mit ihren Werken, Gedanken, Taten und Trümmern ist, war um 1100 v. Chr. aus der Landschaft des ägäischen Meeres geboren worden. Die seit Augustus im Osten unter der Decke antiker Zivilisation keimende arabische Kultur entstammt durchaus dem Schoße der Landschaft zwischen Armenien und Südarabien, Alexandria und Ktesiphon. Als Ausdruck dieser neuen Seele hat man fast die gesamte „spätantike“ Kunst der Kaiserzeit, die sämtlichen, von einer jungen Glut erfüllten Kulte des Ostens, die mandäische und manichäische Religion, das Christentum und den Neuplatonismus, die kaiserlichen Fora in Rom und das dort erbaute Pantheon, die früheste aller Moscheen, zu betrachten. Daß man in Alexandria und Antiochia noch griechisch schrieb und griechisch zu denken glaubte, wiegt nicht schwerer als die Tatsache, daß die Wissenschaft des Abendlandes bis zu Kant hinauf die lateinische Sprache vorzog und daß Karl der Große das römische Reich ‚erneuerte‘.“ (UdA, S. 97–98)
Gleichzeitig aber bedient sich Lovecraft der ebenfalls bei Spengler anzutreffenden Verurteilung „moderner“ Kunst, welche sich eben nicht durch das Heraufdringen eines neuen, jugendlichen Kulturempfindens erklären lasse, sondern lediglich ein ebenso unerfreuliches wie unvermeidbares Verfallsstadium im Inneren einer jeden Zivilisation darstelle.46 So heißt es bei Spengler in einer Wortwahl, welche diejenige der „Berge des Wahnsinns“ fast exakt präfiguriert: „Auch Alexandria hatte seine Problemdramatiker und Regiekünstler, die man Sophokles vorzog, und seine Maler, die neue Richtungen erfanden und ihr Publikum verblüfften. Was besitzen wir heute unter dem Namen ‚Kunst‘? Eine erlogene Musik voll von künstlichem Lärm massenhafter Instrumente, eine verlogene Malerei voll idiotischer, exotischer und Plakateffekte, eine erlogene Architektur, die auf dem Formenschatz vergangener Jahrtausende alle zehn Jahre einen neuen Stil ‚begründet‘, in dessen Zeichen jeder tut, was er will, eine erlogene Plastik, die Assyrien, Ägypten und Mexiko bestiehlt. Und trotzdem kommt dies allein, der Geschmack von Weltleuten, als Ausdruck und Zeichen der Zeit in Betracht. Alles
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Zu den Ausgrabungsberichten Seyrigs vgl. etwa Stucky 2008. Leider gibt Lovecrafts Bibliothek keinerlei Aufschlüsse auf eine vertiefte Beschäftigung mit den Ausgrabungen in Palmyra, finden sich doch nur recht allgemeine Einführungswerke vermerkt, entweder kunsthistorischer (Joshi 2012, n° 369, 862), oder allg. historischer Art (Griechenland: n° 362, 368, 418, 453, 588, 589, 621, 635, 656, 743, 762, 784, 821; Rom: 197, 210, 351, 352, 355, 532, 538–539, 542, 635, 656, 681, 762, 783, 824, 841, 855), darunter Herodot, Livius und Sueton. Zum Problem der „Modernen Kunst“ und des „Endes der Kunst“ vgl. einführend Bonnet/Kopp-Schmidt 1995; Geulen 2002.
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übrige, das demgegenüber an den alten Idealen ‚festhält‘, ist eine bloße Angelegenheit von Provinzialen. Die große Ornamentik der Vergangenheit ist eine tote Sprache geworden wie Sanskrit und Kirchenlatein. Statt ihrer Symbolik zu dienen, wird ihre Mumie, ihre Hinterlassenschaft an fertigen Formen verwertet, gemengt, vollkommen anorganisch abgeändert. Jede Modernität hält Abwechslung für Entwicklung. Die Wiederbelebungen und Verschmelzungen alter Stile treten an die Stelle wirklichen Werdens. Auch Alexandria hatte seine präraffaelitischen Hanswurste, mit Vasen, Stühlen, Bildern und Theorien, seine Symbolisten, Naturalisten und Expressionisten. In Rom gibt man sich bald gräko-asiatisch, bald gräko-ägyptisch, bald archaisch, bald – nach Praxiteles – neuattisch. Das Relief der 19. Dynastie, der ägyptischen Modernität, das massenhaft, sinnlos anorganisch Wände, Statuen, Säulen überzieht, wirkt wie eine Parodie auf die Kunst des Alten Reiches. Der ptolemäische Horustempel in Edfu endlich ist in der Leerheit willkürlich gehäufter Formen nicht mehr zu überbieten. Das ist der prahlerische und aufdringliche Stil unsrer Straßen, monumentalen Plätze und Ausstellungen, obwohl wir uns erst am Anfang dieser Entwicklung befinden.“ (UdA, S. 378–379)47
Lovecrafts Verschmelzung zweier bei Spengler peinlich getrennter morphologischer Ebenen hat dabei nicht nur ein rein akademisches Interesse, sondern auch immenses politisches Gewicht. Denn während Spengler den Verfall der „echten“ Kunst in der Moderne auf ein unausweichliches geschichtsphilosophisches Gesetz zurückführt, schreibt Lovecraft die Verantwortung für diese Form des Niedergangs eben nicht mehr den „Alten Wesen“ selber zu, sondern vielmehr ihren revolutionären Sklaven, welche nach dem Sieg über ihre einstigen Herren nur noch Parodie und Nachahmung zustande bringen, selbst aber keine neue Kultur schaffen; ganz im Gegensatz zu Spenglers Deutung der Kunst der Spätantike, welche sich ursprünglich zwar auch der Technik griechisch-römischen Kunstbetriebs bedient, in sich aber schon den Keim der großartigen und von Spengler tief bewunderten Blüte der byzantinischen und umayyadischen Kunst trage.48 Lovecrafts „Diabolisierung“ der palmyrenischen Kunst als Produkt der ebenso minderwertigen wie bedrohlichen Sklavengesellschaft der Schoggothen verweist ganz offensichtlich auf seine eigene politische Deutung der Gegenwart des 20. Jahrhunderts, welche, wie wir sahen, im Gegensatz zu Spenglers Kulturrelativismus von der Übernahme des Rassegedankens geprägt ist. Lovecraft zufolge ist die christliche Kultur der Spätantike 47
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Einmal mehr drängt sich der Vergleich mit Lovecrafts Briefen auf; 1968, Letters II, S: 131: „I see nothing but unmitigated artistic decadence in modern ‚civilisation‘ with ist polyglot urban concentration. New York would no more produce art than Carthage of Alexandria. Just as Alexandrian art was affected, superficial, and pedantic, so is that of New York today. The old N.Y. is dead, and this hybrid mass of parvenu and traditionless glitter has no relation whatever to the lives and dreams and aspirations of any one people or stream of culture. Out of this flashy, synthetic spawn of mongrelism nothing but pose and pretence can come.“ Zum Problem der „arabischen Kultur“ bei Spengler vgl. Zu Spenglers „arabischen“ (oder „magischen“) Kultur s. Becker 1923, Demandt 1980, Koopmann 1980; Abbès 2014, Engels 2017c (= Kap. 9) und Engels 2020a (= Kap. 8).
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Spenglers Rezeption
aufgrund ihrer Verwurzelung im Judentum und somit der semitischen Rasse nicht nur minderwertig, sondern auch zutiefst bedrohlich für die westliche Kultur gewesen, welche durch die Annahme des Christentums ein Element in sich aufnahm, das langfristig ihr Verderben bedeuten sollte. So erklärte Lovecraft in einem Brief vom 30. Oktober 1929 explizit, den Faden der Spengler’schen Unabhängigkeit aller Kulturen voneinander aufnehmend, dann aber halb Nietzscheanisch,49 halb antisemitisch weiterspinnend: „Half the tragedies of history are the result of expecting one group to conform to the instinctive reactions of another, or to cherish its values. One of the worst examples of this is the cringing Semitic slave-cult of Christianity which became thrust upon our virile, ebullient Western stock through a series of grotesque historic accidents. Obviously, we whose instinctive ideas of excellence centre in bravery, mastery, and unbrokenness, and whose ultimate fury of contempt is for the passive, non-resistant, sad-eyed cringer and schemer and haggler, are the least fitted of all races for the harbourage of a Judeo-Syriac faith and standards – and so the whole course of history proved; with Christianity always a burden, handicap, misfit, and unfulfilled mockery upon our assertive, Thor-squared, Woden-driven shoulders. We have mouthed lying tributes to meekness and brotherhood under Gothic roofs whose very pinnacled audacity bespeaks our detestation of lowliness and our love for power and strength and beauty, and have spouted hogsheadfuls of hot air about ,principle‘ and ethics, and restraint at the same time that our hobnailed boots have kicked around in utter loathing the broken Jews whose existence is based upon these principles. That is the hypocrisy of the altruistic and humanitarian tradition – talking and theorising against Nature as she actually works within us. From our attempts to assimilate Semitism we have gained nothing but misery – and the attempt itself has not succeeded, because it was based upon impossibility. Far more sensible is it to recognise that such an alien tradition has nothing for people of our blood and inheritance – that it presupposes goals and instincts which we do not and cannot possess; exalting that which we must always despise, and condemning that which we must always cherish as the supreme criterion of respect – worthiness. It is found by experience that Aryan and Semitic individuals and groups cannot get on side by side until one of the two has thoroughly obliterated its heritage and instincts and value-sense – and yet some idealists still think that an Aryan culture can really feel the Semitic ethics it outwardly professes; or that, more absurd still, it can have understanding and sympathy with still remoter racial and cultural streams. The question of relative status among different cultures is of wholly minor importance – it is the difference which makes cultural amalgamation a joke. China of the old tradition was probably as great a civilisation as ours – perhaps greater, as Bertrand Russell thinks – but to fancy that more than a tenth of the emotional life of China has any meaning for us, is as foolish as to think that more than a tenth of our emotional life has any meaning for a Chinaman. Each can take over isolated points from the culture of the other; but these are always subtly altered in the process of 49
Der Einfluß Nietzsches auf Lovecraft schlug sich u.a. in dem Essay „Nietzscheism and Realism“ (veröff. in „Rainbow“, Oktober 1921) nieder, der eine Art Apologie der Aristokratie im Gegensatz von Demokratie und Ochlokratie darstellt; sowie in „Idealism and Materialism – A Reflection“ (veröff. im „National Amateur“, Juli 1919), in dem Lovecraft Nietzsches Theorie der Genese der Religion aufnimmt.
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337
naturalization – never meaning the same thing in the adopting civilisation that they meant in the one which developed them. And when such adoptions exceed a certain limit of safety, the result is always culturally disastrous to the nation attempting them. More is bitten off than can be chewed – and the outcome is a slackening or dispersal of the feelings and creative imagination which can lead only to sterility, unrest, and dissatisfaction. China and Japan are in the midst of this danger now – happy the one which knows how to beat a retreat! Even those people who maintain the gesture of universalism and cosmopolitanism would – ironically enough – suffer as much loss and bewilderment as the rest if such a chaos were actually to exist. Every one of them is, unknown to himself, a holder of an illusion fashioned wholly in the manner of his own especial culture; so that when he talks with a cosmopolitan from another culture he is only exchanging words, not deep feelings and image-perceptions genuinely shared. If the especial culture of any one of these idealists were to vanish, he would find himself just as lost as anybody else – and would realise at last – too late – just how much of his emotional life and sense of comfortable placement really was due to the existence of his own background as a setting for his life and thoughts; however much he may have verbally repudiated that background in favour of a theoretic, meaningless hash made up of fragments of that and everybody else’s backgrounds. There is no more reality in anybody’s primary attachment to a mythical world-stream of all mankind, than there is in my primary loyalty to the whole cosmos as distinguished from our galaxy and solar system and planet. It sounds all right as an abstract principle – but there is no ponderable and authentic instinct to back it up so that it means nothing in the real alignment of groups. The doctrine can be admirably interesting to the one who decoratively holds it, so long as he keeps it free from application to the real world of events – just as a doctrine of cosmic feeling can be admirably interesting though of comparatively slight terrestrial significance. But it all belongs to aesthetics rather than to history or sociology. Its unreality is always manifested in the retinue of sentimental illusions and bursts of artistic expansiveness found around it. You can’t pick a case that isn’t cluttered up with grandiose emotion and naïve beliefs in such illusions as good, evil, unified human nature and goal, justice, etc., etc. This delusion is the nineteenth century’s expression of the same feelings that the seventeenth expressed in the delusion of religious faith, the eighteenth century in the delusion of ethical rights, and the twentieth in the delusions of mysticism (on the part of aesthetes) and industrial democracy. It is all part of an eternal comedy, at which the gods would laugh uproariously if they existed.“50
Schließt man sich im Lichte dieses Zitats einer solchen, gegenwartsbezogenen Deutung der Geschichte der „Alten Wesen“ und der Schoggothen an, wird das Verhalten der beiden Wissenschaftler zu Ende des Romans umso verständlicher. Ihre Flucht vor dem Schoggothen ebenso wie ihre panische Angst, weitere wissenschaftliche Expeditionen könnten die Grauen der Antarktis wecken und Verderbnis über die Menschheit bringen, werden gewissermaßen zur Parabel der Furcht Lovecrafts vor dem unaufhaltsamen Niedergang der westlichen Zivilisation, welcher eben zum einen durch die Überfremdung des Westens durch rassisch minderwertige Individuen bewirkt werde, zum anderen aber
50
Lovecraft 1971 (Letters III), S. 45ff.
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Spenglers Rezeption
auch Frucht der modernen Industriegesellschaft sei.51 In dieser Hinsicht erklärt sich auch der tiefere Sinn folgender, auf den ersten Blick eher befremdlichen Passage, welche nur vordergründig die Flucht der beiden Wissenschaftler durch das Tunnelsystem der „Alten Wesen“ beschreibt, letztlich aber lediglich Lovecrafts (und Spenglers) tiefe Angst vor der mechanisierten Welt des 20. Jahrhunderts widerspiegelt: „,South Station Under – Washington Under – Park Street Under – Kendall – Central – Harvard –‘ The poor fellow was chanting the familiar stations of the BostonCambridge tunnel that burrowed through our peaceful native soil thousands of miles away in New England, yet to me the ritual had neither irrelevance nor home feeling. It had only horror, because I knew unerringly the monstrous, nefandous analogy that had suggested it. We had expected, upon looking back, to see a terrible and incredible moving entity if the mists were thin enough; but of that entity we had formed a clear idea. What we did see – for the mists were indeed all too maliguny thinned – was something altogether different, and immeasurably more hideous and detestable. It was the utter, objective embodiment of the fantastic novelist’s ,thing that should not be‘; and its nearest comprehensible analogue is a vast, onrushing subway train as one sees it from a station platform – the great black front looming colossally out of infinite subterranean distance, constellated with strangely colored lights and filling the prodigious burrow as a piston fills a cylinder.“52
15.4
Schluß
Zum Schluß unserer kurzen Analyse der Antikenrezeption in Lovecrafts „At the Mountains of Madness“ im Lichte der Geschichtsmorphologie Oswald Spenglers soll noch einmal betont werden, wie bedeutsam Lovecrafts eigenwillige Verschmelzung von Spenglers Kulturrelativismus mit seinen eigenen, rassistisch und sozialdarwinistisch geprägten Vorstellungen auf die Verwendung der Antike als Paradigma für die historische Entwicklung der Kultur der „Alten Wesen“ werden sollte: Anstatt ihren ultimativen Niedergang als ausschließliches Ergebnis einer inneren Dynamik zu begreifen, wird er dem Aufstand der minderwertigen Kunstrasse der Schoggothen zugeschrieben, 51
52
Zu Lovecrafts Rassismus vgl. etwa seinen Essay „The Crime of the Century“ (veröff. in „The Conservative“, April 1915), in welchem er den Ersten Weltkrieg unter rassentheoretischen Voraussetzungen analysiert und beklagt, daß die Auseinandersetzung zwischen den „blood brothers“ Großbritannien und Deutschland deren natürliche Stellung als „summit of evolution“ bedrohe. Ähnlich rassistische Argumente finden sich auch in dem William Benjamin Smith, Autor des Traktats „The Color Line: A Brief in behalf of the Unborn“ (1905), gewidmeten Jugendgedicht „De Triumpho Naturae: The Triumph of Ignorance over Northern Ignorance“ (Juli 1905), in der Kurzgeschichte „The Street“ (veröff. in „Wolverine“, Dezember 1920) und in den Gedichten „New England Fallen“ (1912?) und „On a New-England Village Seen by Moonlight“ (1913). Lovecraft 1936/1999 (Mountains), S. 132.
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welche zum einen ganz klar mit Zügen der jüdisch-christlichen Kultur des ersten Jahrtausends ausgestattet werden, in ihrer eigenen künstlerischen Aktivität aber wesentlich nur als dekadente Gegenwelt der „Alten Wesen“ verstanden werden, nicht als eine eigene, gleichwertige Gesellschaft. Dieser Dualismus macht auch den seltsamen, gleichsam doppelten Schluß des Romans verständlich. Lovecrafts Gewohnheit, die Auflösung der in seinen Werken aufgebauten Spannung auf den letzten Satz zu verlagern, welcher den logischen, rückwärts wirkenden Verständnisschlüssel für die Gesamthandlung birgt, ist bekannt: Die „Berge des Wahnsinns“ weichen insoweit von diesem Schema ab, als sie gewissermaßen zwei solcher „Abschlußsätze“ beinhalten, welche, wenn auch indirekt, die Gesamthandlung deuten. Da wäre zunächst die folgende Passage, welche sich an das Auffinden der Körper jener „Alten Wesen“ anschließt, die zu Beginn der Handlung von den Forschern im Eis gefunden worden waren und sich daraufhin in ihre nunmehr verlassene einstige Stadt flüchteten, nur um dort von einem Schoggothen gefunden und getötet zu werden: „Poor devils! After all, they were not evil things of their kind. They were the men of another age and another order of being. Nature had played a hellish jest on them – as it will on any others that human madness, callousness, or cruelty may hereafter dig up in that hideously dead or sleeping polar waste – and this was their tragic homecoming. They had not been even savages – for what indeed had they done? That awful awakening in the cold of an unknown epoch – perhaps an attack by the furry, frantically barking quadrupeds, and a dazed defense against them and the equally frantic white simians with the queer wrappings and paraphernalia... poor Lake, poor Gedney... and poor Old Ones! Scientists to the last – what had they done that we would not have done in their place? God, what intelligence and persistence! What a facing of the incredible, just as those carven kinsmen and forbears had faced things only a little less incredible! Radiates, vegetables, monstrosities, star spawn – whatever they had been, they were men!“53
„Whatever they had been, they were men“ – dies ist sozusagen der erste Abschlußsatz des Textes, welcher den Bericht über die mißglückte AntarktisExpedition der Miskatonic-University sowie den Aufstieg und Niedergang der „Alten Wesen“ eigentlich beenden könnte und dem Leser auf die eindringlichste Weise die Notwendigkeit vor Augen führt, die Schilderung des Geschichtszyklus der „Alten Wesen“ als relevant für das Verständnis auch menschlicher Kultur zu erfassen. Lovecraft verkehrt also paradoxerweise die von ihm selbst entworfene Theorie des „kosmischen Grauens“ insoweit in ihr Gegenteil, als in vorliegendem Fall das Grauen nicht durch eine Relativierung der verschwindend geringen Bedeutung von Menschheit und Vernunft angesichts der Größe und Bedrohlichkeit außermenschlicher Entitäten erzielt wird, sondern, ganz im Gegenteil, durch die Relativierung des Außerirdischen anhand ihrer Parallelisierung mit dem Menschlichen selbst, getreu Sophokles’ Aussage: 53
Lovecraft 1936/1999 (Mountains), S. 126.
340
Spenglers Rezeption
„Ungeheur ist viel, und nichts ungeheurer als der Mensch“.54 In dieser Hinsicht ist es also nicht die Erfahrung der eigenen Unzulänglichkeit, welche gleichzeitig grauenerregend und kathartisch wirkt, sondern vielmehr die Tatsache, daß nicht nur der Mensch, sondern selbst die „Alten Wesen“ dem Gesetz von Aufstieg und Niedergang unterworfen sind. Der zweite – und eigentliche – Abschlußsatz des Romans weist in eine nicht unähnliche Richtung. Auch hier ist es nur die geschichtsphilosophische Deutung, welche der ansonsten eher kuriosen Passage überhaupt erst einen Sinn gibt. Danforth schildert hier das Bild, das sich ihm beim Abflug aus der Ruinenstadt darbot, als er, wie Lots Weib oder Orpheus, einen letzten Blick nach hinten warf: „He has on rare occasions whispered disjointed and irresponsible things about ,The black pit‘, ,the carven rim‘, ,the proto-Shoggoths‘, ,the windowless solids with five dimensions‘, ,the nameless cylinder‘, ,the elder Pharos‘, ,Yog-Sothoth‘, ,the primal white jelly‘, ,the color out of space‘, ,the wings‘, ,the eyes in darkness‘, ,the moonladder‘, ,the original, the eternal, the undying‘, and other bizarre concepttions; but when he is fully himself he repudiates all this and attributes it to his curious and macabre reading of earlier years. Danforth, indeed, is known to be among the few who have ever dared go completely through that worm-riddled copy of the Necronomicon kept under lock and key in the college library. The higher sky, as we crossed the range, was surely vaporous and disturbed enough; and although I did not see the zenith, I can well imagine that its swirls of ice dust may have taken strange forms. Imagination, knowing how vividly distant scenes can sometimes be reflected, refracted, and magnified by such layers of restless cloud, might easily have supplied the rest – and, of course, Danforth did not hint any of these specific horrors till after his memory had had a chance to draw on his bygone reading. He could never have seen so much in one instantaneous glance. At the time, his shrieks were confined to the repetition of a single, mad word of all too obvious source: ,Tekeli-li! Tekeli-li!‘“55
Während der Verweis auf die „Menschlichkeit“ der „Alten Wesen“ den Leser sowohl mit der Großartigkeit seiner eigenen Kultur als auch mit der Vergänglichkeit allen Seienden konfrontiert und dementsprechend suggeriert, daß auch seine, also die westliche Zivilisation, unausweichlich ihrem vorherbestimmten Ende entgegengehe, verweist der zweite Schlußsatz erneut auf die Modalitäten dieses Untergangs. Die Bedeutung des mysteriösen „Tekeli-li“ reduziert sich nämlich nicht nur auf den stilistischen Seitenblick auf den von Lovecraft so verehrten Edgar Allan Poe und seinen Roman „Arthur Gordon Pym“56. Bei Poe wird dieser Aufruf den schwarzen Eingeborenen einer der antarktischen Inseln zugeschrieben, welche die weiße Besatzung des Robbenjägers „Jane Guy“ in die
54 55 56
Soph., Antigone 332 (πολλὰ τὰ δεινὰ κοὐδὲν ἀνθρώπου δεινότερον). Lovecraft 1936/1999 (Mountains), S. 138–139. Zu einer vertieften Analyse von Poes „Arthur Gordon Pym“ vgl. Bonaparte 1933/1958; Bachelard 1942; Borges 1957; Ricardou 1967.
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Falle gelockt haben.57 Bei Lovecraft aber58 wird der Ausruf zunächst dem Schoggothen zugeschrieben, der die beiden Forscher durch das Tunnellabyrinth der verfallenen Stadt der „Alten Wesen“ verfolgt hatte, gleichzeitig aber betont, daß die Schoggothen, selber jeglicher kreativen Kräfte bar, letztlich nur die Sprache ihrer Meister nachahmen konnten, ganz ähnlich, wie Spengler in „Der Mensch und die Technik“ formulieren sollte, wo er den im „Untergang“ bereits angelegten Ansatz vertieft und vor dem „Aufstand“ der Farbigen warnt: „Heute sind allenthalben, in Ostasien, Indien, Südamerika, Südafrika, Industriegebiete entstanden oder in Bildung begriffen, die infolge ihrer niedrigen Löhne eine tödliche Konkurrenz darstellen. Die unersetzlichen Vorrechte der weißen Völker sind verschwendet, verschleudert, verraten worden. Die Gegner haben ihre Vorbilder erreicht, vielleicht mit der Verschmitztheit farbiger Rassen und der überreifen Intelligenz uralter Zivilisationen übertroffen. Wo es Kohle, Erdöl und Wasserkräfte gibt, kann eine neue Waffe gegen das Herz der faustischen Kultur geschmiedet werden. Hier beginnt die Rache der ausgebeuteten Welt gegen ihre Herren. Mit den unzähligen Händen der Farbigen, die ebenso geschickt und viel anspruchsloser arbeiten, wird die Grundlage der weißen wirtschaftlichen Organisation erschüttert. Der gewohnte Luxus des weißen Arbeiters gegenüber dem Kuli wird zu seinem Verhängnis. Die weiße Arbeit selbst wird überflüssig. Die gewaltigen Massen auf der nordischen Kohle, die Industrieanlagen, das angelegte Kapital, ganze Städte und Landstriche drohen der Konkurrenz zu erliegen. Das Schwergewicht der Produktion verlagert sich unaufhaltsam, nachdem der Weltkrieg auch der Achtung der Farbigen vor dem Weißen ein Ende gemacht hat. Das ist der letzte Grund der Arbeitslosigkeit in den weißen Ländern, die keine Krise ist, sondern der Beginn einer Katastrophe. Für die Farbigen aber – die Russen sind hier immer einbegriffen – ist die faustische Technik kein inneres Bedürfnis. Nur der faustische Mensch denkt, fühlt und lebt in ihrer Form. Sie ist ihm seelisch nötig, nicht ihre wirtschaftlichen Folgen, sondern ihre Siege: navigare necesse est, vivere non est necesse. Für ‚Farbige‘ ist sie nur eine Waffe im Kampf gegen die faustische Zivilisation, eine Waffe wie ein Baumast im Walde, den man fortwirft, wenn er seinen Zweck erfüllt hat. Diese Maschinentechnik ist mit dem faustischen Menschen zu Ende und wird eines Tages zertrümmert und vergessen sein – Eisenbahnen und Dampfschiffe so gut wie einst die Römerstraßen und die chinesische Mauer, unsere Riesenstädte mit ihren 57
58
Edgar Allan Poe, The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket (1838), Kap. 22: „The havoc among the savages far exceeded our utmost expectation, and they had now, indeed, reaped the full and perfect fruits of their treachery. Perhaps a thousand perished by the explosion, while at least an equal number were desperately mangled. The whole surface of the bay was literally strewn with the struggling and drowning wretches, and on shore matters were even worse. They seemed utterly appalled by the suddenness and completeness of their discomfiture, and made no efforts at assisting one another. At length we observed a total change in their demeanour. From absolute stupor, they appeared to be, all at once, aroused to the highest pitch of excitement, and rushed wildly about, going to and from a certain point on the beach, with the strangest expressions of mingled horror, rage, and intense curiosity depicted on their countenances, and shouting, at the top of their voices, ,Tekeli-li! Tekeli-li!‘“ Zu weiteren Bezügen auf Poes (einzigen) Roman in Lovecrafts „Berge des Wahnsinns“ vgl. Indick 1985; Cannon 1985; Cerasini 1987.
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Spenglers Rezeption Wolkenkratzern ebenso wie die Paläste des alten Memphis und Babylon. Die Geschichte dieser Technik nähert sich schnell dem unausweichlichen Ende. Sie wird von innen her verzehrt werden wie alle großen Formen irgendeiner Kultur. Wann und in welcher Weise wissen wir nicht.“ (MuT, S. 86–88)
Bedenkt man die Parallelisierung der „Alten Wesen“ mit den menschlichen Kulturen, stellt der nunmehr auch von Danforth übernommene Ruf „tekeli-li“ nicht nur die Nemesis der außerirdischen Kulturschöpfer dar, sondern gleichzeitig auch das memento mori der abendländischen Zivilisation selber, welche, wie die „Alten Wesen“, eines nahen Tages durch die Hände ihrer inneren wie äußeren Feinde, welche nur nachahmen, nicht schaffen können, zu Fall gebracht werden wird. Daß der Roman gerade mit dieser Schlußsequenz abschließt, unterstreicht einmal mehr die Absicht Lovecrafts, mit den „Bergen des Wahnsinns“ nicht nur einen kosmischen Schauerroman vorzulegen, sondern gleichzeitig eine geschichtsphilosophische Parabel, welche, geht man ihrer Symbolik auf den Grund, aufgrund ihres Spengler’schen Determinismus und ihres gezielten Einsatzes von Reminiszenzen an die antike Geschichte die Schaurigkeit der anderen Erzählungen des Cthulhu-Mythos letztlich noch bei weitem übertrifft…
16
Die Rezeption Oswald Spenglers bei Henry Miller
16.1
Einleitung
Bis heute beschränkt sich die Rezeption Oswald Spenglers leider meist auf den deutsch-, italienisch- und spanischsprachigen Raum. Hierbei wird aber oft vergessen, daß Spengler im angelsächsischen und vor allem nordamerikanischen Raum nicht weniger intensiv, frühzeitig und komplex rezipiert wurde als im kontinentaleuropäischen Bereich, und im Gegensatz zu diesem meist überraschend positiv und unpolemisch gelesen wurde: Von Arnold Toynbee, der die von Spengler skizzierten „Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte“ in eine zwölfbändige „Study of History“ überführte und weiterentwickelte,1 zum kanadischen Literaturkritiker Northrop Frye, der als Student mit dem Untergang unter dem Kopfkissen schlief2 und in seiner „Anatomy of Criticism“ die Spengler’sche Zyklenlehre auf die Dynamik der Literaturgeschichte übertrug;3 vom republikanischen US-Außenminister Henry Kissinger4 zum Menschenrechtler Malcolm X;5 vom Ausrufer des „End of History“, Francis Fukuyama6, bis zum Vertreter des „Clash of Civilization“, Samuel P. Huntington;7 vom Pionier des Horrorromans, Howard Philipps Lovecraft,8 bis zu Francis Scott Fitzgerald, dem Poeten des Jazz-Age;9 und von Malcolm Lowry, dem tragischen Dichter der sinnlosen Zyklizität,10 bis zum engagierten kommunistischen Schriftsteller John dos Passos – jeder dieser Denker hat Oswald Spengler zumindest in Teilen zustimmend rezipiert und beweist die frühe und überaus 1
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Vgl. Toynbee 1949. Als zusammenfassendes Hauptwerk vgl. ders. 1934–1961 (Bd. I. 1934; IV–VI. 1939; VII–X. 1954; XI. 1959; XII. 1961); darin zitiert er Spengler oft wörtlich (I, 65– 66, 629, 630, 699; VII, 56, 508; IX, 168). – Zum Verhältnis zwischen Toynbee und Spengler vgl. Rothacker 1950; Schischkoff 1965, bes. S. 62; Joll 1985. Frye 2003, S. 270: „Yet I practically slept [with The Decline of the West] under my pillow for several years“. Frye 1957. Vgl. Kissinger 1950. Cushman-Wood 1993. Fukuyama 1992/2006, S. 68–70. Huntington 1996/2003, bes. S. 41–44. Lovecraft 1968, S. 103 (Brief an Clark Ashton Smith, 1927): „It is my belief, and was so long before Spengler put his seal of scholarly proof on it, that our mechanical and industrial age is one of frank decadence.“ – Hierzu auch Joshi 1990; Engels 2019a (= Kap. 15). Hierzu Engels 2014b (= Kap. 14). Lowry 1947.
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Spenglers Rezeption
komplexe literarische wie politische Rezeption, welche Spengler im angloamerikanischen Raum seit dem Erscheinen seines Hauptwerkes erfahren hat. Die Bedeutung Spenglers für die Mehrzahl der oben zitierten Autoren ist – zumindest in der angelsächsischen Literatur – immerhin ansatzweise aufgearbeitet worden, so daß eine Wiedergabe der diesbezüglichen Passagen und Analysen den Wissenschaftsdiskurs kaum voranbringen kann. Wir wollen uns daher erstmals einem Autor zuwenden, der in der Spengler-Forschung bisher meist übersehen worden zu sein scheint,11 obwohl er Spengler nicht nur in seinem literarischen Werk, sondern auch in seinen autobiographischen Zeugnissen namentlich zitiert und auch inhaltlich verarbeitet und kaum zu den Unbekannten der Weltliteratur zählt: Henry Miller, dessen recht intensive Rezeption des Autors des „Untergangs“ freilich auch eine besondere methodologische Vorsicht erfordert, sind doch die Grenzen zwischen Literatur und Autobiographie oft nur schwer auszumachen.
16.2
Millers Spenglerlektüre
Henry Miller (1891–1980)12, der erst recht spät als Schriftsteller hervortrat („Tropic of Cancer“ erschien 1934), scheint Spengler – vertraut man dem Selbstzeugnis und der Chronologie in „Plexus“, worauf wir später zurückkommen werden – in der Zeit des New Yorker Zusammenlebens mit „Mona“ (hinter der sich Millers zweite Frau, June Smith, verbirgt) kennengelernt zu haben, zwischen der Scheidung von seiner ersten Frau 1924 und der ersten Reise nach Paris 1928. Spengler sei ihm empfohlen worden von seinem deutschen Freund Tony Maurer, der später Suizid durch Erhängen begehen sollte, und den
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Zu Miller und Spengler vgl. v. a. Parkin 1990, bes. S. 57–59; Nesbit 2004; Garland 2010 und Männiste 2013, bes. S. 28–34 und 53–58. Allerdings ist zu betonen, daß obige Arbeiten sich meist mit der Diskussion einiger weniger Zitate begnügen und bei ihren Gegenüberstellungen zwischen Spengler und Miller meist übersehen, daß viele angeblich „Spengler’sche“ Äußerungen Millers lediglich Gemeinplätze der Kulturkritik der 20erund 30er-Jahre waren. Ohnehin sind intellektuell anspruchsvollere Auseinandersetzungen mit dem philosophischen Gehalt von Millers Werk spärlich gesät, wie Männiste (xi-xii) mit Bedauern feststellt, da die meisten Untersuchungen sich neben literarischen Einzelfragen vor allem auf biographische oder prosopographische Fragestellungen konzentrieren, während „the real philosophical depth of, for example, Nietzsche and Spengler has been still largely unexplored and unwritten in the true scholarly fashion it deserves“ (xiii). Einführend zu Henry Miller vgl. Widmer 1963; Gordon 1967; Martin 1978; Winslow 1986; Dearborn 1991; Wareing Fitzpatrick 2001; Masuga 2011.
16 Oswald Spengler bei Henry Miller
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Miller später symptomatischerweise als „perfect example of that ‚late-city man‘ whom Spengler has so well described“13 bezeichnen sollte:14 „Just then Tony Maurer popped in, carrying a thick book under his arm. As usual, he was extremely cordial […]. He held the book up in order for me to read the title: Decline of the West. ,Never heard of it,‘ I said. ,You will before long,‘ he answered. ,A great work. Prophetic …‘ MacGregor burst in under his breath: ,Forget it! You have no time to read anyway.‘ ,May I borrow it when you’re through?‘ I asked. ,Of course,‘ said Tony Maurer. ,I’ll make you a present of it.‘ MacGregor to excuse himself, inquired if it were a mystical work. He wasn’t a damned bit interested, of course, but he saw that Tony Maurer was not an idiot. Told that it was a philosophy of history, he mumbled: ,It’s all yours.‘“15
Schon der Titel soll Miller, schenkt man einer späteren Aussage in „Plexus“ Glauben, tief berührt haben: „The Decline of the West! I can never forget the thrill which ran up my spine when I first heard this title. It was like Ivan Karamazov saying – ,I want to go to Europe. Maybe I know that I shall go only to a cemetery; but it will be to the dearest of cemeteries‘.“16
Ferner scheint gesichert, daß Millers Lektüre während seines ersten ParisAufenthaltes bereits abgeschlossen gewesen sein muß, hat doch Alfred Perlès, der Henry Miller und June Smith im Mai 1928 in Paris kennenlernte, folgenden Eindruck festgehalten: „What he found in Dostoevski he found in himself; he wallowed in chaos, and balanced the chaos with Spengler and Keyserling, whom he had come across in his wide and indiscriminate reading. Whatever he picked up fascinated him – a cookery book would have fascinated him. “17
13 14
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16 17
Miller 1963 (Plexus), S. 526 (Selbstmord S. 525). Miller denkt hier wohl sicherlich an Passagen wie Spengler, UdA, S. 678: „Die intellektuelle Spannung kennt nur noch eine, die spezifisch weltstädtische Form der Erholung: die Entspannung, die ‚Zerstreuung‘. […] Die Ablösung intensivster praktischer Denkarbeit durch ihren Gegensatz, die mit Bewußtsein betriebene Trottelei, die Ablösung der geistigen Anspannung durch die körperliche des Sports, der körperlichen durch die sinnliche des ‚Vergnügens‘ und die geistige der ‚Aufregung‘ des Spiels und der Wette, der Ersatz der reinen Logik der täglichen Arbeit durch die mit Bewußtsein genossene Mystik — das kehrt in allen Weltstädten aller Zivilisationen wieder.“ Miller 1963 (Plexus), S. 425. Ob es sich hierbei um eine der deutschen Ausgaben oder die englische Version von 1926 handelt, ist unsicher, und der Rest des Buches macht nicht deutlich, ob es schließlich die Version Maurers war, die Miller las, oder eine andere. Offensichtlich scheint aber, daß Miller Spengler nicht im deutschen Original las, dessen er wohl in Anbetracht seiner deutschen Eltern mächtig gewesen wäre, sondern in englischer Übersetzung, sagt er doch selber an späterer Stelle (S. 619): „Though I am reading him in English, it is as if I were reading the language he wrote in. His vehicle is the German language, which I thought I had forgotten.“ Miller 1963 (Plexus), S. 618. Zum Zitat vgl. auch Garland 2010. Perlès 1956, S. 17.
346
Spenglers Rezeption
Der Eindruck, den Spengler auf Miller machte, muß tatsächlich überwältigend gewesen zu sein, denn Miller widmet Spengler das gesamte letzte Kapitel seines Romans „Plexus“, der 1947 begonnen wurde und 1953 erschien und auf den wir später zurückkommen werden, und zitiert den Philosophen, mit Ausnahme der Kriegsjahre, mit erstaunlicher Regelmäßigkeit in seiner Korrespondenz. Diese fortdauernde Bewunderung ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, daß Miller sich seiner eigenen Inkonsequenz bei der Akzeptanz oder Ablehnung großer Autoren wohl bewußt war und sich teils auch die Frage stellte, inwieweit seine Verehrung Spenglers von Dauer sein würde. So schrieb er 1931 an Emil Schnellock: „The other day I got Death in Venice from the library in order to bedazzle Osborn. And I read a few pages at random before handing it to him. And lo and behold! to my own absolute astonishment, I saw that Thomas Mann was dead … finished … for me. […] I saw that glorious story, which I once swore was the finest novelette ever written, as a tedious, pompous, pedantic piece of German sentimentalism, outmoded, outdated, outworn … ausgespielt. […] Joyce too has lost his charm for me. I see him as a broken vomit, a precious sewer, a medieval stew. There remains Proust and Spengler. Spengler emerges biggest and best of all still. Have reread him here – the first volume. Swiped it, in fact, from the American Library. There is great music, great literature, great ideas. Will I be obliged to retract this two years hence? Well, anyway … for the time being … big man!“18
Millers Angst war nicht unberechtigt: Wo nahezu jede seiner Aufzeichnungen der 20er-Jahre vor Anspielungen an Nietzsche und Spengler geradezu strotzt, wird Miller nunmehr zeitgleich mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus zurückhaltender mit positiven Äußerungen über konservative deutsche Denker. 1932 finden wir eine implizite Kritik an Spenglers Goethe- und NietzscheVerehrung, wenn Miller in einem Brief über Goethe herfährt, den er auch in seinen Romanen ausschweifend beschimpft,19 und in diesem Kontext wohl auch auf Spenglers Einleitungssätze anspielt: „I am against him, against his placid, serene, super-bourgeois attitude, his healthy pantheistic embrace of the universe, his imitative reverence for Nature, etc. etc.; Nietzsche and Goethe? How do they reconcile them? These things baffle me. I am sure that Faust is tedious, and if it’s Gothic, then it bears no resemblance to these
18
19
Miller 1989 (Letters to Emil Schnellock), S. 73–74. Vgl. auch S. 27, 75, 101, 104, 109, 115, 143, 144, 145. Vgl. Miller 1934/2005 (Cancer), S. 241: „Goethe was the nearest approach [to Whitman], but Goethe was a stuffed shirt, by comparison. Goethe was a respectable citizen, a pedant, a bore, a universal spirit, but stamped with the German trade-mark, with the double eagle. The serenity of Goethe, the calm, Olympian attitude, is nothing more than the drowsy stupor of a German bourgeois deity. Goethe is an end of something, Whitman is a beginning.“
16 Oswald Spengler bei Henry Miller
347
marvelous cathedrals that I adore. No, these Germans who stood up solemnly and recited Goethe in their barbarous tongue left me cold, and slightly melancholy. “20
In der Folge sollte dann vor allem das Münchner Abkommen 1938 eine vorübergehende Zäsur darstellen, da Miller seine physische Angst vor einem neuen Weltkrieg in einen Haß auf das deutsche Volk umwandelte: „But I am full of rancour now and determined while I am still alive and have any strength left to do my utmost to bring about not only Hitler’s downfall but the castration of the whole German people. […] We must consider them like dogs – the whole 73,000,000! “21
Somit verschwindet neben Nietzsche, Rilke und Beethoven auch Spengler, den Miller als „German to the core“ und dessen Pessimismus er als „nothing more than cold Teutonic realism“ empfand,22) kurzfristig aus dem umfangreichen Anspielungsrepertoire Millers, um – zeitgemäß – ersetzt zu werden durch Marlene Dietrich, Erich Maria Remarque oder Jakob Wassermann.23 Nach dem Krieg findet Miller aber wieder zu seiner alten Spengler-Verehrung zurück, bedenkt man, daß er zu jener Zeit die wohl eindringlichsten diesbezüglichen Passagen seines Romans „Plexus“ veröffentlicht und auch in der in dessen Entstehungszeit erschienenen Sammlung „The Books in My Life“ (1951) hierzu Stellung nimmt und Spengler nicht nur in seine Lektüreliste aufnimmt, sondern auch ausführlich diskutiert, wie wir noch sehen werden. Noch in den 70erJahren sah Miller seine Gegenwart als Erfüllung der von Spengler vorgezeichneten Linien: „What a world we inhabit today! Whoever thinks civilization means civilization (as usually conceived) had better take another think. As Oswald Spengler pointed out at the end of the first World War, in his Decline of the West, civilization is equivalent to arteriosclerosis. It is the dying period of a culture. Today we see it clearly, though we may not be willing to acknowledge it. Death is the only thing we live for. How best to deliver it? Or better said – ,How to dish it out?‘ Nowhere on this globe does there
20
21 22
23
Miller 1965 (Letters to Anais Nin), S. 52. Die Anspielung auf die letzten Sätze des Vorworts des „Untergangs“ (zit. Anm. 13. S. ix) ist unüberhörbar: „Zum Schlusse drängt es mich, noch einmal die Namen zu nennen, denen ich so gut wie alles verdanke: Goethe und Nietzsche. Von Goethe habe ich die Methode, von Nietzsche die Fragestellungen […].“ Kursorisch sei nur angemerkt, daß auch die anderen Völker Europas nicht unbedingt besser beurteilt werden; man denke nur an Miller 1939/2005 (Capricorn), S. 31: „I spit on the white conquerors of the world, the degenerate British, the pigheaded Germans, the smug self-satisfied French.“ Ebd., S. 178. Miller 1963 (Plexus), S. 621: „But Spengler immediately impressed me as being German to the core. The more abstruse and recondite his language, the easier I followed him. […] What is erroneously called his ,pessimism‘ struck me as nothing more than cold Teutonic realism. The Teutons have been singing the swan song ever since they entered the ranks of history. They have always confounded truth with death.“ Vgl. Schmiele 1961, S. 145.
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Spenglers Rezeption seem to be an area of peace and harmony. All is strife, confusion, mendacity, and buggery. The so-called Holy Cities are contaminated. Nowhere do we see a sign of Augustine’s City of God.“24
16.3
Spengler im Werk Henry Millers
Nach diesem kurzen Überblick über verstreute autobiographische Äußerungen zur Entwicklung und Intensität von Henry Millers Spengler-Rezeption ist es nun an der Zeit, die Spuren zu untersuchen, die Spengler in Millers literarischen Werk hinterlassen hat, wenn es auch in Anbetracht der literarischen Stilisierung des Briefwechsels wie auch der autobiographischen Natur der meisten Romane etwas schwierig und vielleicht auch künstlich ist, diese Trennung auch hermeneutisch zu rechtfertigen. Wie erwähnt durchziehen Anspielungen auf Oswald Spengler die meisten der großen Romane Millers. Aufgrund der autobiographischen Natur dieser Schriften, der weitgehenden Einheitlichkeit der Motive und des Stils über die Romangrenzen hinaus und des weitgehenden Verzichts auf einen stilisierten, symbolhaften Handlungsablauf wäre eine inhaltliche Analyse allerdings nahezu gegenstandslos; relevant ist daher zum einen der direkte Verweis auf Spengler, zum anderen der generelle Charakter der Texte. Bereits auf den ersten Seiten von „Tropic of Cancer“, Millers 1934 veröffentlichtem und 1931/1932 in Paris entstandenem Erstlingsroman (nimmt man „Clipped Wings“ von 1922 und „Gentile World“ von 1929 aus, welche für Henry Miller „nicht zählten“), erscheint Spengler als literarische Reminiszenz, unmittelbar eingezwängt zwischen zwei wohl nicht anders als pornographisch zu beschreibenden, ausschweifenden Beschreibungen weiblicher Genitalien.25 So heißt es: „Passing by the Orangerie I am reminded of another Paris, the Paris of Maugham, of Gauguin, of George Moore. I think of that terrible Spaniard who was then startling the world with his acrobatic leaps from style to style. I think of Spengler and of his terrible pronunciamentos, and I wonder if style, style in the grand manner, is done for.“26
24 25
26
Miller 1984, S. 38; vgl. auch S. 7 und 41. Zur stilistischen Zielsetzung vgl. Parkin 1990, S. 214: „collisions of the text with the metatext and of novel with anti-novel are in part designed to emphasise the artificiality of writing“. Miller 1934/2005 (Cancer), S. 14. Die Anspielung auf den Untergang des großen Stils findet sich etwa in Spengler, UdA, S. 378–379: „Wir dürfen uns nur in das Alexandria des Jahres 200 versetzen, um den Kunstlärm kennen zu lernen, mit dem eine weltstädtische Zivilisation sich über den Tod ihrer Kunst zu täuschen versteht. Dort, wie heute in den
16 Oswald Spengler bei Henry Miller
349
Ähnlich erscheint Spengler auch in „Tropic of Capricorn“ unter den anderen literarischen Referenzen, wieder eingebunden in Sexualmetaphorik und Anspielung auf den Großstadtmenschen: „From Apis sprang the race of unicorns, that ridiculous beast of ancient writ whose learned brow lengthened into a gleaming phallus, and from the unicorn by gradual stages was derived the late-city man of which Oswald Spengler speaks. And from the dead cock of this sad specimen arose the giant skyscraper with its express elevators and observation towers. We are the last decimal point of sexual calculation; the world turns like a rotten egg in its crate of straw.“27
Doch auch unabhängig von diesen verstreuten Zitaten wie auch Millers vielleicht Spenglerisch beeinflußter Abwendung von der klassischen linearen Geschichtsvorstellung28 bleibt festzustellen, daß sich Millers oft apokalyptische Weltbeschreibung bestens in die von Spengler vorgezeichnete Krisendiagnose29 einfügt und diese, sicherlich nicht unwillentlich, gewissermaßen illustriert. Die bedrückenden Schilderungen des New Yorker Großstadtlebens,30 die von Haß gezeichnete Beschreibung der menschenverachtenden Organisation großer Unternehmen wie der Western Union Telegraph Company N.Y., die Angst vor der modernen Technologie,31 die alptraumhaften Aufzählungen des Mit- und Gegeneinander verschiedenster Ethnien im amerikanischen Großstadtdschungel, die teils provozierenden, teils verzweifelt detaillierten Beschreibungen der Sexualität, die Verachtung aller Familien-, Freundschafts- und Treuebande, der tiefe Egoismus und extreme Individualismus des Ich-Erzählers, die zwischen Angst und Vergegenständlichung schillernde Rolle der verschiedenen Frauengestaltungen – all dies liest sich gleichsam als literarische Ausschmückung Spengler’scher Passagen wie:
27 28
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Weltstädten Westeuropas, eine Jagd nach den Illusionen einer künstlerischen Fortentwicklung, der persönlichen Eigenart, des ‚neuen Stils‘ […].“ Miller 1939/2005 (Capricorn), S. 177. Hierzu Männiste 2013, S. 28–34, wenn auch die hier vorgeschlagene Gegenüberstellung von Spengler-Zitaten und Stellungnahmen Millers zum Bereich „Zeit“ letztlich keinen wirklichen Beweis für eine direkte Beeinflussung Millers durch Spengler liefert. Hierzu etwa Engels 2007a (= Kap. 12). Kulminierend etwa in der pauschalen Verurteilung in Miller 1939/2005 (Capricorn), S. 12, die nichtsdestoweniger an die Darstellungsweise Spenglers erinnert: „I have walked the streets in many countries of the world but nowhere have I felt so degraded and humiliated as in America. I think of all the streets in America combined as forming a huge cesspool, a cesspool of the spirit in which everything is sucked down and drained away to everlasting shit. Over this cesspool the spirit of work weaves a magic wand; palaces and factories spring up side by side, and munition plants and chemical works and steel mills and sanatoriums and prisons and insane asylums. The whole continent is a nightmare producing the greatest misery of the greatest number.“ Zu eventuellen präziseren Anklängen an die Spengler’sche Technikphilosophie bei Miller vgl. Männiste 2013, S. 53–58, wenn es auch mit Vorsicht zu betonen gilt, daß viele der von Miller ins Feld geführten Äußerungen ohnehin intellektuelles Allgemeingut seiner Zeit waren.
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Spenglers Rezeption „Am Anfang, dort, wo die Zivilisation sich zur vollen Blüte entfaltet – heute – steht das Wunder der Weltstadt, das große steinerne Sinnbild des Formlosen, ungeheuer, prachtvoll, im Übermut sich dehnend. Sie zieht die Daseinsströme des ohnmächtigen Landes in sich hinein, Menschenmassen, die wie Dünen aus einer in die andre verweht werden, wie loser Sand zwischen den Steinen verrieseln. Hier feiern Geist und Geld ihre höchsten und letzten Siege. Es ist das Künstlichste und Feinste, was in der Lichtwelt des menschlichen Auges erscheint, etwas Unheimliches und Unwahrscheinliches, das fast schon jenseits der Möglichkeiten kosmischer Gestaltung steht.“ (UdA, S. 1101–1102)
Doch der Höhepunkt der Miller’schen Spenglerverehrung findet sich im letzten Kapitel von „Plexus“, welches nichts anderes als eine ausufernde Zitatensammlung aus Spenglers „Untergang“ darstellt, ein Experiment, welches es Miller nicht nur ermöglichen sollte, sich das von Spengler intellektuell Erfahrene symbolisch auch schriftstellerisch unmittelbar anzueignen und gleichsam einzuverleiben, sondern das auch die erklärte Zielsetzung verfolgt, den Leser zum Nachempfinden der von Miller durchlebten „Erweckung“ zu zwingen.32 Es würde hier daher zu weit führen, das mehr als zwanzig Seiten umfassende Kapitel in seiner Gänze zu zitieren, in welchem Miller Spengler zusammen mit Nietzsche, Dostojevskij und Faure unter die „four horsemen of my own private Apocalypse“33 zählt: „Yes, I was a fortunate man to have found Oswald Spengler at that particular moment in time. In every crucial period of my life I seem to have stumbled upon the very author needed to sustain me. Nietzsche, Dostoevski, Elie Faure, Spengler: what a quartet! […] The four horsemen of my own private Apocalypse! Each one expressing to the full his own unique quality: Nietzsche the iconoclast; Dostoevsky the grand inquisitor; Faure the magician; Spengler the pattern-maker.“34
Bedeutsam für uns sind hier vielmehr zwei Punkte: Zum einen ist es neben dem generellen Inhalt der Spengler’schen Geschichtsmorphologie vor allem der Stil des Geschichtsphilosophen, der Miller fasziniert. So heißt es: „Every evening after dinner I return to the room, make myself snug and cozy, then settle down to gnaw at this immense tome in which the panorama of human destiny is unrolled. I am fully aware that the study of this great work represents another momentous event in my life. For me it is not a philosophy of history nor a ‚morphological‘ creation, but a world-poem. Slowly, attentively, savoring each morsel as I chew it, I burrow deeper and deeper. I drown myself in it. […] Occasionally a line or phrase comes with such impact that I am forced out of the nest, flung headlong into the streets, where I wander like a somnambulist.“35
32 33 34 35
Zitat s. u. Allg. zum Einfluß der europäischen Literatur auf Miller vgl. Garland 2010. Miller 1963 (Plexus), S. 639. Ebd., S. 618. – Zur Analyse dieser Stelle vgl. auch Parkin 1990, S. 220: „[…] his reading if Spengler is a poetic one which absorbs his awareness, rather than a philosophical one which might change his beliefs. […] Henry the admiring reader replaces Henry the verbose writer, as Spengler repacles Miller, but it is entirely up to us to accept or reject
16 Oswald Spengler bei Henry Miller
351
Miller geht es also vorrangig um den unmittelbaren emotionalen Eindruck, den die Lektüre Spenglers auf ihn ausübt, und um das zwingende Spiel historischer Parallelen, was nicht nur durch seine im Notizenkonvolut auch offen angezeigten36 Versuche deutlich wird, Spenglers Stil zu imitieren,37 sondern auch offensichtlich wird, wenn Miller beschreibt, wie seine damalige Frau „Mona“ (i. e. June Smith, s. o.) mit seiner Spengler-Faszination umging: „By dint of listening to my monologues she soon picked up the glittering tag ends, all the (to her) ,fantastic‘ terminology – definitions, meanings, and, so to speak, ,morphological excreta‘. She often read a page or two while sitting on the stool. Just sufficient to emerge with a mouthful of phrases and outlandish references. In short, she had learned to bounce the ball back to me, which was pleasant and (for me)
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37
his preferences.“ – eine Analyse, die freilich den in der frühen „Untergang“-Rezeption oft angemerkten, mitreißenden Effekt der Spengler’schen Prosa etwas unter den Scheffel der literarischen Selbststilisierung Millers stellt. So heißt es in einem Entwurf für „Capricorn“: „STYLES: Dostoievski for Xerxes Society meetings, Knut Hamsun for frustration theme – Cora and Paulin … Spengler + Paulson for philosophical discussions … Dos Passos for descriptive bits.“ Zitiert nach Miller 1974, S. 99; allg. hierzu auch Parkin 1990, S. 213–214. Man denke hier an die langatmigen Aufzählungen wie in Miller 1939/2005 (Capricorn), S. 29–30, die hier pars pro toto aufgeführt werden soll: „From all over the earth they had come to me to be succoured. Except for the primitives there was scarcely a race which wasn't represented on the force. Except for the Ainus, the Maoris, the Papuans, the Veddas, the Lapps, the Zulus, the Patagonians, the Igorotes, the Hottentots, the Touaregs, except for the lost Tasmanians, the lost Grimaldi men, the lost Atianteans, I had a representative of almost every species under the sun. I had two brothers who were still sun-worshippers, two Nestorians from the old Assyrian world; I had two Maltese twins from Malta and a descendant of the Mayas from Yucatan; I had a few of our little brown brothers from the Philippines and some Ethiopians from Abyssinia; I had men from the pampas of Argentina and stranded cowboys from Montana; I had Greeks, Letts, Poles, Croats, Slovenes, Ruthenians, Czechs, Spaniards, Welshmen, Finns, Swedes, Russians, Danes, Mexicans, Porto Ricans, Cubans, Uruguayans, Brazilians, Australians, Persians, Japs, Chinese, Javanese, Egyptians, Africans from the Gold Coast and the Ivory Coast, Hindus, Armenians, Turks, Arabs, Germans, Irish, English, Canadians – and plenty of Italians and plenty of Jews. I had only one Frenchman that I can recall and he lasted about three hours. I had a few American Indians, Cherokees mostly, but no Tibetans, and no Eskimos: I saw names I could never have imagined and handwriting which ranged from cuneiform to the sophisticated and astoundingly beautiful calligraphy of the Chinese. I heard men beg for work who had been Egyptologists, botanists, surgeons, gold-miners, professors of Oriental languages, musicians, engineers, physicians, astronomers, anthropologists, chemists, mathematicians, mayors of cities and governors of states, prison warders, cow-punchers, lumberjacks, sailors, oyster pirates, stevedores, riveters, dentists, surgeons, painters, sculptors, plumbers, architects, dope peddlers, abortionists, white slavers, sea divers, steeplejacks, farmers, cloak and suit salesmen, trappers, lighthouse keepers, pimps, aldermen, senators, every bloody thing under the sun, and all of them down and out, begging for work for cigarettes, for carfare, for a chance, Christ Almighty, just another chance!“
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Spenglers Rezeption stimulating. […] Passionate as I was about Spengler, the truth of his utterances never seemed so important to me as the wonderful play of his thought…“38
Spengler als Toilettenlektüre…39 Diese sehr selektive und vor allem stilistische Rezeption attestiert auch der aus Ungarn stammende Fotograf Brassai, der Henry Miller bei seinen Parisaufenthalten begleitete und auch von den unausweichlichen Tiraden über Spengler nicht verschont wurde, hier aber feststellte, daß Miller sich für Spenglers historische Methode an sich nicht im geringsten interessierte, wie ja auch eine ganz ähnliche Aussage von Anaïs Nin überliefert ist, in der sie Miller dessen vollständiges Fehlen von Systematik vorhielt, indem sie erklärte: „You don’t have a philosophy. You have feelings.“40 Und so heißt es denn bei Brassai: „I was stunned to learn that he was less interested in a book’s meaning than in what a book awoke in him, His manner of reading was profoundly subjective. […] Spengler wrote, in his introduction to the work: ,And now, finally, I feel urged to name once more those to whom I owe practically everything: Goethe and Nietzsche. Goethe gave me method, Nietzsche the questioning faculty …‘ […] [It] was the second half of the second sentence that haunted him the most: ,Nietzsche the questioning faculty.‘ That phrase, said Miller, ,sets me dancing.‘ What about the first part of the sentence, I wondered, the part about borrowing Goethe’s methodology? Did Henry wonder what that meant? Not in the slightest. He simply was not curious about the method Spengler was referring to, or how and why Spengler had applied it to history. For myself, I cannot help but wonder if it is at all possible to understand what Spengler meant without first knowing Goethe. What did Spengler do in The Decline of the West, after all, except apply Goethe’s vision of a living organism to history, thereby discovering to his surprise that history was neither ,evolution‘ nor linear ,continuity‘ […].“41
Miller war sich dieser Tatsache einer eher selektiven Lektüre offensichtlich zeitweise durchaus bewußt, was ja auch dadurch deutlich wird, daß er sich trotz seiner Wertschätzung Spenglers nie mit dessen anderen Werken auseinandergesetzt hat, obwohl diese durchaus in englischer Übersetzung verfügbar waren.42 Und so heißt es, in zeitlichem Kontext zu „Plexus“„, denn in einem Zitat aus „The Books in my Life“:
38 39
40 41 42
Miller 1963 (Plexus), S. 629–630. Daß diese Assoziation von Seiten Millers keineswegs despektierlich gemeint war, zeigt etwa Miller 1936, S. 57: „O the wonderwul recesses in the toilet! To them I owe my knowledge of Boccaccio, of Rabelais, of Petronius, of The Golden Ass. All my good reading, you might say, was done in the toilet.“ Hierzu allg. auch Parkin 1990, S. 45–46. Pole 1987, S. 194. Brassai 1995, S. 41–42. „Der Mensch und die Technik“ (München, 1931) etwa war seit 1932 in der englischen Übersetzung von Charles Francis Atkinson (New York / London, 1932) verfügbar, die „Jahre der Entscheidung“ (München, 1933) seit 1934, ebenfalls in der Übersetzung von Atkinson (New York / London, 1934).
16 Oswald Spengler bei Henry Miller
353
„Recently, in completing the script of the second book of The Rosy Crucifixion, I was obliged to turn to my notes, made many years ago, on Spengler’s Decline of the West. There were certain passages, a considerable number, I might say, of which I had only to read the opening words and the rest followed like music. The sense of the words had lost, in some instances, some of the importance I once attached to them, but not the words themselves. Every time I struck these passages, for I had read them again and again, the language become more redolent, more pregnant, more charged with that mysterious quality which every great author embeds in his language and which is the mark of his uniqueness. At any rate, so impressed was I by the vitality and hypnotic character of these Spenglerian passages that I decided to quote a number of them in their entirety. It was an experiment which I felt obliged to conduct, an experiment between myself and my readers. The lines I chose to quote had become my very own and I felt that they had to be transmitted. Were they not every bit as important in my life as the haphazard encounters, crises and events which I had described as my own? Why not pass Oswald Spengler on intact also since he was an event in my life?“43
Zum anderen ging es Miller darum, angesichts der erdrückenden Diagnose Spenglers, von welcher er sich im Prinzip bis an sein Lebensende nicht freimachen konnte, wie die bis in die 1970er Jahre reichenden, bereits angeführten Briefpassagen zeigen, eine gewisse individuelle Eigenständigkeit zu bewahren. Diese fand er im Laufe seines Lebens auf verschiedenste Weise. An erster Stelle zu erwähnen ist natürlich die typisch Miller’sche zynische Verneinung des Werts jeglicher Kultur an sich und die Idealisierung animalischer Triebhaftigkeit, die sich in Passagen wie der folgenden deutlich macht, deren Ernsthaftigkeit wohl gewissen Zweifeln unterworfen werden kann und die ferner beweist, daß Miller nicht eine Verneinung der Spengler’schen Morphologie erreichen wollte, sondern eine Verneinung des Werts von Kultur an sich: „Why do people live in outlandish climates in the temperate zones, as they are miscalled? Because people are naturally idiot, naturally sluggards, naturally cowards. Until I was about ten years old I never realized that there were ,warm‘ countries, places where you didn’t have to sweat for a living, nor shiver and pretend that it was tonic and exhilarating. Wherever there is cold there are people who work themselves to the bone and when they produce young they preach to the young the gospel of work – which is nothing, at bottom, but the doctrine of inertia. My people were entirely Nordic, which is to say idiots. Every wrong idea which has ever been expounded was theirs. Among them was the doctrine of cleanliness, to say nothing of righteousness. They were painfully clean. But inwardly they stank.“44
43 44
Miller 1969 (Books), S. 27; vgl. auch S. 50, 124 und 318. Miller 1939/2005 (Capricorn), S. 10–11. Es ist wohl nicht überzogen, diese Idealisierung des dolce far niente in warmem Klima mit der völlig entgegengesetzten Wertung zu vergleichen, die dieselben Elemente in einer Erzählung des ebenfalls stark von Spengler’scher Kulturkritik geprägten Fitzgeralds mit dem bezeichnenden Titel „The Ice Palace“ (1920) finden, wo die Aktivität der Nordstaaten mit dem Laissez-Aller der Südstaaten kontrastiert und dem Klima eine leitmotivische Rolle zugeschrieben wird.
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Spenglers Rezeption
Diese „Umwertung“ nimmt Miller dann teils sogar in sehr Spengler’scher Diktion vor, wie etwa in folgender Passage, wenn es um das Thema der vanitas jeglichen Kulturschaffens und Hegel’schen Fortschrittsdenkens45 geht: „Hymie the bull-frog was an ovarian spud generated in the high passage between two shores: for him the skyscrapers had been built, the wilderness cleared, the Indians massacred, the buffaloes exterminated; for him the twin dries had been joined by the Brooklyn Bridge, the caissons sunk, the cables strung from tower to tower; for him men sat upside down in the sky writing words in fire and smoke; for him the anaesthetic was invented and the high forceps and the big Bertha which could destroy what the eye could not see; for him the molecule was broken down and the atom revealed to be without substance; for him each night the stars were swept with telescopes and worlds coming to birth photographed in the act of gestation; for him the barriers of time and space were set at nought and all movement, be it the flight of birds or the revolution of the planets, expounded irrefutably and incontestably by the high priests of the de-possessed cosmos.“46
Ferner versuchte Miller, sich von Spenglers Prophetien freizumachen, indem er sich bemühte, dessen Mißachtung der freien Entfaltungsmöglichkeiten des Individuums zu kritisieren und, trotz Untergangsverheißung, die Möglichkeit metaphysischer Selbstverwirklichung zu bewahren. Wie allgemein bekannt, sah Spengler den persönliche Entwicklungsfreiraum des Einzelmenschen als wesentlich vom historischen Moment der Kultur bestimmt, welcher das Individuum jeweils angehört; eine Haltung, die Spengler nicht nur gegenüber dem politischen Bereich annimmt, sondern auch der Möglichkeit religiöser, philosophischer oder künstlerischer Entfaltung, welche ebenfalls wesentlich vorherbestimmt sind. Miller scheint nun in seiner selektiven Lektüre die Tragweite dieses Gedankens insoweit unterschätzt zu haben, als er glaubte, Spengler eine prinzipielle Mißachtung des Individuums vorwerfen zu können – eine Kritik, welche einerseits sicherlich auf der einzelmenschlichen Ebene nicht fehlging und ja auch die Abwendung vieler anderer Zeitgenossen wie etwa Thomas Manns begründet hatte,47 welche aber andererseits auf der gesamtkulturellen Ebene zu kurz greift, da die von Spengler konstatierte künstlerische Sterilität als unausweichlich und nicht selbstgewählt erscheint. Dies zeigt einmal mehr, daß Miller in seiner Rezeption Spenglers scheinbar recht selektiv vorging, da er offensichtlich zum einen die kulturmorphologische Grundidee nie explizit verworfen hat, zum anderen aber die daraus unmittelbar 45 46
47
Hierzu allg. Engels 2009a (= Kap. 5). Miller 1939/2005 (Capricorn), S. 48–49. Die Analogie zu Passagen wie der folgenden (Spengler, Untergang, zit. Anm. 13, S. 208–209) sind wohl offensichtlich: „[…] Sprachen und Schlachten, Städte und Rassen, die Feiern der Isis und Kybele und die katholische Messe, Hochofenwerke und Gladiatorenspiele, Derwische und Darwinisten, Eisenbahnen und Römerstraßen, ‚Fortschritt‘ und Nirwana, Zeitungen, Sklavenmassen, Geld, Maschinen, alles ist in gleicher Weise Zeichen und Symbol im Weltbilde, wie es eine Seele als Ausdruck ihrer Wesenheit vor sich verwirklicht.“ Vgl. etwa Beßlich 2002.
16 Oswald Spengler bei Henry Miller
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abgeleitete Begrenzung des Individuums nicht wahrhaben wollte. Miller führt dieses Thema zunächst ein, indem er Spengler dem „Tao Te King“ entgegenstellt: „Perhaps I am somewhat of a juggler, since I am able to balance such incongruous ponderables as The Decline of the West and the Tao Tê Ching. The one is made of granite or porphyry and weighs a ton; the other is light as a feather and runs through my fingers like water. In eternity, where they meet and have their being, they cancel one another out.“48
Hierauf folgt dann die Hauptkritik: „A morphology of history, valid, exciting, inspiring though it may be, is still a death science. Spengler was not concerned with what lies beyond history. I am. Others are. Even if Nirvana be only a word, it is a pregnant word which contains a promise. That ,secret‘ which lies at the heart of the world may yet be dragged into the open. […] If the solution to live is the living of it, then let us live, live more abundantly! The masters of life are not found in books. They are not historical figures. They are situated in eternity, and they beseech us unceasingly to join them in eternity. At my elbow, as I write these lines, is a photograph torn from a book, a photograph of an unknown Chinese sage who is living today. […] He is more alive – even in a photograph – than anyone I know, He is not simply ,a man of spirit‘ – he is all spirit. […] The look which he gives forth is completely joyous and luminous. It says without equivocation: ,Life is a bliss!‘ Do you suppose that, from the eminence, on which he is poised […] a morphology of history would mean anything to him?“49
Ohne es zu wollen, liefert Miller also durch seine rein emotionale Spengler-Kritik ein anschauliches Beispiel nicht nur dafür, daß er offensichtlich Spenglers tiefe philosophische Skepsis der Möglichkeit metaphysischer Erkenntnis gegenüber nicht wahrhaben will, wie sie sich etwa in der Formulierung von der „erhabenen Zwecklosigkeit“ der Kulturen50 oder dem berühmten Einleitungssatz des zweiten Bandes des „Untergangs des Abendlandes“ und dem Gleichnis der „Blumen am Abend“ niederschlägt,51 sondern auch dafür, daß er sich nicht bewußt zu sein scheint, Spengler durch eine etwas oberflächliche orientalisierende Mystik überwinden zu wollen, welche dieser selbst zum Teil als „Romantik“, zum Teil als „zweite Religiosität“ angekündigt hat.52 48 49
50 51
52
Miller 1963 (Plexus), S. 628. Ebd., S. 630–631. Zu besagter anonymer Photographie, welche auch in anderen Texten Millers Erwähnung findet, vgl. auch Parkin 1990, S. 269. Spengler, UdA, S. 29. Ebd., S. 557. „Betrachte die Blumen am Abend, wenn in der sinkenden Sonne eine nach der andern sich schließt: etwas Unheimliches dringt dann auf dich ein, ein Gefühl von rätselhafter Angst vor diesem blinden, traumhaften, der Erde verbundenen Dasein.“ Ebd., S. 941–942: „Was nun folgt, nenne ich die zweite Religiosität. Sie erscheint in allen Zivilisationen. […] Die zweite Religiosität ist das notwendige Gegenstück zum Cäsarismus […]. Beiden Erscheinungen fehlt die schöpferische Urkraft der frühen Kultur. Ihre Größe liegt dort in der tiefen Frömmigkeit, welche das ganze Wachsein ausfüllt […]. Es wird nichts aufgebaut, es entfaltet sich keine Idee, sondern es ist, als zöge ein Nebel vom Lande ab und die alten Formen träten erst ungewiß, dann immer klarer wieder hervor.“
356
Spenglers Rezeption
16.4
Ausblick
Es ist zu hoffen, daß dieser kurze Überblick über die Rezeption Oswald Spenglers bei Henry Miller dazu beitragen wird, ein erstes Licht auf die generelle Komplexität dieser Problematik zu werfen, wenn auch notgedrungen zahlreiche Fragen offenbleiben müssen und im Rahmen von präziser kontextualisierten Einzelstudien genauere Betrachtung verdienen könnten. So wäre es etwa äußerst ertragreich zu diskutieren, inwieweit die Tatsache, daß Millers Spengler-Kritik gewissermaßen in Spenglers System ihren festen analytischen Platz findet, für oder gegen die Originalität von Millers persönlichen Hoffnungen spricht, doch würde ein solches Unterfangen im Rahmen dieser Studie zu weit führen. Immerhin kann festgehalten werden, daß Miller sich der Problematik einer möglichen Verortung des eigenen philosophischen Standpunkts innerhalb Spenglers morphologischer Struktur offensichtlich nicht bewußt war und er paradoxerweise gewissermaßen gegen den Willen des Autors versucht, dessen Werk eine positive Note abzugewinnen: „What emerges are not the scholarly ruins of the past but freshly recreated worlds in which one may ,participate‘ with one’s ancestors, live again the spring, the fall, the summer, even the winter, of man’s history. […] This is Spengler’s triumph – to have made Past and Future live in the Present. One is again at the center of the universe, warmed by solar fires, and not at the periphery fighting off vertigo, fighting off fear of the unspeakable abyss.“53
Diese Kritik an Spengler, die Bedeutung individuellen Lebens und die Möglichkeit persönlicher innerer mystischer Vollendung unabhängig von jedem kulturellen oder zivilisatorischen Standort ignoriert zu haben, schlägt sich auch zu Beginn des letzten Romans der „Rosy Crucifixion“-Trilogie, „Nexus“, nieder, der 1959 abgeschlossen und 1960 veröffentlicht wurde und die Handlung von „Plexus“ weiterführt und somit in Kombination mit dem dortigen SpenglerKapitel zu sehen ist. Die oben genannte Kritik wird hier in recht drastischer Weise formuliert, wobei Miller erneut die bereits erwähnte BadezimmerAssoziation in den Sinn gekommen zu sein scheint: „Often, after a session with Spengler or Elie Faure, I would throw myself on the bed fully clothed and, instead of musing about ancient cultures, I would find myself groping through a labyrinthian world of fabrications. Neither of them seems capable of telling the truth, even about such a simple matter as going to the toilet.“54
Neben dieser von eigenem philosophischen Empfinden geprägten Reflexion über die Grenzen der Spengler’schen Geschichtsmorphologie bleibt abschließend ferner festzuhalten, daß Spengler bei Miller – ausgenommen eine 53 54
Miller 1963 (Plexus), S. 638. Ebd., S. 10.
16 Oswald Spengler bei Henry Miller
357
kurze, durch die Erfahrung von Faschismus und Weltkrieg bedingte Verteufelung des deutschen Konservatismus – eben nicht oder nicht wesentlich als „Trommler“ des Totalitarismus oder gar (fälschlicherweise) als Vordenker Hitlers wahrgenommen wurde, wie dies in gewissen Formen der europäischen Spengler-Rezeption bis heute (leider) oft der Fall ist.55 Spengler galt Miller vielmehr hauptsächlich als Prophet eines Untergangs, der ausnahmslos alle abendländische Nationen, also auch Nordamerika, betrifft und in seinen Gründen, seinen Ausmaßen und seinen Folgen von Miller ganz genauso wie von Spengler beurteilt wurde – eine Übereinstimmung, welche sicherlich einer gewissen typisch amerikanischen Rezeptionshaltung gegenüber Problemen kultureller Identität zuzuschreiben ist, die tief in der bis heute problematischen Konstruktion der amerikanischen Identität, ihrer Abgrenzung oder Affinität zur europäischen Gesellschaft verankert ist und lange Zeit fast ausschließliches Thema der amerikanischen Literatur der Wende zum 20. Jahrhundert war. Im Gegensatz zu Autoren wie etwa Fitzgerald, der den „Untergang“ offensichtlich nicht nur als eine innere Tragik empfand, sondern in seinen Romanen dabei vorrangig die soziale Verzahnung der zivilisatorischen Dekadenz und des persönlichen Niedergangs aufzeichnete,56 sah Miller sich aber weniger als empathischen und nostalgischen Chronisten des sozialen und persönlichen Verfalls des Abendlandes denn vielmehr als selbstzerstörerischen Mitbetreiber dessen, was Spengler als Dekadenz wahrgenommen hat. Anstatt nämlich den Werteverfall der Gegenwart durch Vergleich mit der Wertegesellschaft der Vergangenheit zu kontrastieren und hierauf auf die kulturelle Funktionalität und Notwendigkeit von Norm, Konvention und Disziplin zu schließen, führte der generelle Ausverkauf des 20. Jahrhunderts Miller zu der Folgerung von der Wertelosigkeit jeglicher Gesellschaft, deren moralische Zerstörung ihm als vielleicht bedauerliches, aber wohlverdientes Endresultat galt. Paradoxerweise bot ihm allerdings dieses zukunftsgewandte Mitwirken am „Verfall“ die Gelegenheit, zumindest zeitweise den Traum einer harmonischen und welt- wie kulturabgewandten Verinnerlichung zu hegen: Hiermit bestätigte er zwar unbewußt die von Spengler vorhergesagte zweite Innerlichkeit, fand aber gleichzeitig einen rein persönlichen Ausweg aus dem Untergang, welcher vielen anderen Autoren – ebenso wie Spengler – letztlich verwehrt blieb, da deren überzeitliche Schau der Situation kein persönliches Refugium zuließ.
55
56
Hierzu etwa Koktanek 1966. Zur zeitgeschichtlichen Verankerung der erstmals explizit bei André Fauconnet (1946) gestellten (und verneinten) Frage „War Spengler Nationalsozialist?“ vgl. Engels 2013a (= Kap. 13). Vgl. Engels 2014b (= Kap. 14).
17
Die Geschichtsbilder von Karl Jaspers und Oswald Spengler
17.1
Einleitung
Geschichtsphilosophische Spekulationen werden im 21. Jahrhundert ihre große Wiederkehr feiern, wie bereits allenthalben zu spüren ist: Einerseits hat das mächtige Wiederaufleben der großen Kulturräume mit ihren unversöhnlich gegenüberstehenden Weltanschauungen, die man während des Kalten Kriegs für tot erklärte, die Theorie von der „offenen Geschichte“ ad absurdum geführt, in welcher allein der Einzelne, nicht aber übergeordnete kulturelle Entitäten als gültige historische Akteure wahrgenommen werden. Andererseits belegt die offensichtlich tiefe Krise der scheinbar posthistorischen liberalen und demokratischen Weltgesellschaft den grundlegenden Irrtum all jener, die sich einen letzten Rest eurozentrischer Fortschrittsteleologie bewahrt hatten. Überall leben daher auch lange für widerlegt oder überwunden geglaubte geschichtsphilosophische Theorien auf, um der verwirrten Menschheit ein sinnvolles Deutungsmuster für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu geben; und es ist überaus sinnvoll und wünschenswert, daß gerade Historiker sich als diejenigen, die jene Theorien am besten an den geschichtlichen Realitäten zu prüfen imstande sind, in den gegenwärtigen Disput einbringen, um – sollte es überhaupt möglich zu sein, wirklich aus der Geschichte zu lernen – vor der Gefahr zu warnen, durch blinde Übernahme alter Muster die damit verbundenen Fehler neu zu begehen.1 Oswald Spengler und Karl Jaspers sind in dieser Hinsicht gerade aufgrund ihres scheinbar grundlegenden Antagonismus herausragende Fallbeispiele, und es ist erstaunlich, daß ein kritischer Vergleich beider Denker bislang meines Wissens nur ein einziges Mal versucht worden ist, und zwar von Gilbert Merlio in seinem hochinteressanten, oft aber doch eher einem persönlichen Glaubensbekenntnis als einer pragmatischen Studie gleichkommenden Beitrag „Karl Jaspers als Anti-Spengler“, der in vielem wohl auch den zeitgeschichtlichen Verhältnissen seines Entstehungsdatums, 1989, verpflichtet ist.2 Während Spenglers Versuch einer „Morphologie der Weltgeschichte“ im breiten Bewußtsein bis auf das oft unzulässig gebrauchte Schlagwort vom „Untergang des Abendlandes“ weitgehend in Vergessenheit geraten ist, erfreut sich Jaspers’ Konzept der „Achsenzeit“ immer noch einer gewissen Beliebtheit 1 2
Allg. hierzu Engels (Hg.) 2015. Merlio 1989.
360
Spenglers Rezeption
und erscheint – auch in fachwissenschaftlichen Publikationen – regelmäßig als Beleg für den reichen Fundus geschichtsphilosophischer Theorien, umso mehr, als seine Hoffnung auf das Entstehen einer modernen, aufgeklärten Weltgesellschaft oft als Vorwegnahme der gegenwärtigen Globalisierung gelesen wird. Diese Popularität ist umso erstaunlicher, als die konzeptuelle Schwäche der Achsentheorie in der Forschung breit diskutiert und die Achsenzeit aufgrund ihrer allzu weiten chronologischen Streckung als heuristisches Instrument historischer Analyse generell nur verhaltenen Beifall gefunden hat,3 während Spengler, um mit den Worten Adornos zu sprechen, bislang „kaum einen Gegner gefunden [hat], der sich ihm gewachsen gezeigt hätte: das Vergessen wirkt als Ausflucht“.4 Ziel der folgenden Überlegungen ist es daher, in möglich enger Anlehnung an die Quellen in einem ersten Schritt die intellektuellen Kontinuitäten und Brüche darzustellen, welche von Spenglers Kulturrelativismus bis zu Jaspers Wiederbelebung des geschichtsteleologischen Konzepts führten, um dann in einem zweiten Schritt eine kritische Vergleichung beider Modelle im Lichte des heutigen historischen Forschungsstands und in Anbetracht der Umwälzungen der Zeitgeschichte des 21. Jahrhunderts zu wagen.
17.2
Spengler aus der Sicht von Jaspers
Zunächst ein kurzer Vergleich. Spengler und Jaspers haben geschichtsphilosophische Systeme vorgelegt, wie sie auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher sein könnten. Wo Spengler in „Der Untergang des Abendlandes“ auf der monadischen Unabhängigkeit und dem streng parallelen, biologistischen Lebenszyklus der einzelnen menschlichen Hochkulturen beharrte,5 welche nach Ablauf ihrer Entwicklung zur „Zivilisation“ werden und schließlich in „Fellachentum“ versinken, stellte Jaspers6 vielmehr die innere Logik der Menschheitsgeschichte als solcher in den Vordergrund und unterschied zunächst drei Phasen der Geschichte: eine vorgeschichtliche, eine nachgeschichtliche, die der geistlich-geistigen Vereinigung der Menschheit entsprächen,7 und dazwischen eine im engeren Sinne „historische“ Zeit.8 Die 3 4 5
6
7 8
Allg. zur Rezeption Jaspers vgl. Piper 1963; Saner 1973. Vgl. Adorno 1955, S. 52–53. Spengler, UdA, S. 143. Allg. zu Jaspers’ Konzept der Achsenzeit vgl. Schilpp 1957; Hersch/Lochmann/Wiehl 1986; Merlio 1986; Eisenstadt 1986; Salamun 1991; Breuer 1994; Thornhill 2002; Bormuth 2002; Armstrong 2006; Bellah/Joas 2012. Jaspers 1949/1955 (Ursprung), S. 13. Ebd., S. 76–77.
17 Die Geschichtsbilder von Karl Jaspers und Oswald Spengler
361
„historische“ Zeit wird allerdings durch die „Achsenzeit“ geprägt, einer weltweit überall ungefähr zeitgleich eintreffenden Übergangsphase von einem kollektivistischen und mythologischen zu einem individualistischen und rationalistischen Weltbild, die etwa um 500 v.Chr. lag, mit Namen wie Konfuzius, Zarathustra, Sokrates und Buddha verbunden wird9 und von Jaspers mal um die frühen monotheistischen Religionen als einer „zweiten Achse“, mal auch um die Welt zwischen 1500 und 1800 als einer „zweiten Achse“10 ergänzt wird. Es ist nun offensichtlich, daß sowohl Spenglers als auch Jaspers’ Grundüberzeugungen eine nicht unerhebliche Reihe von Problemen aufweisen. Bevor wir diese aber aus einer heutigen Perspektive in den Blick nehmen, ist es angebracht, zunächst beide Systeme in einen inneren Dialog miteinander zu bringen, zumal Jaspers sich an einigen Stellen seines Werks auch explizit zu Oswald Spengler geäußert hat. Jaspers’ Kritik an Spengler ist von einer gewissen inhaltlichen Inkonsequenz gezeichnet. So konzediert er tatsächlich, daß Spenglers kulturmorphologisches System im Rahmen der von Jaspers postulierten, „zweiten“ Phase der Weltgeschichte, also der eigentlichen „Historie“ zwischen der vor- und der nachgeschichtlichen, „einigen“ Menschheit, durchaus gelegentlich zutreffend sei: „Und doch entsteht im Sinne der geistigen Bedeutung auf bestimmten, relativ kleinen Gebieten der Erdoberfläche der eine universale Raum der Gesamtgeschichte, in dem alles auftritt, was von Menschen gedacht wurde und uns angeht. Die Entwicklungen gliedern sich. Man sieht die Prozesse, die durch einige Jahrhunderte ein Ganzes ausmachen, in der Stilfolge vom Aufblühen bis zum Abschluß in Spätzeiten. Man sieht die typischen Generationsfolgen, die zusammen je etwa ein Jahrhundert ausmachen (Verbreitung, Vollendung, Zerfall). Man sieht vielleicht auch einmal einen Spengler’schen tausendjährigen Prozeß.“11
Daß das von Spengler vorgeschlagene morphologische Schema empirisch relevant sei, ist bereits ein hochinteressantes Eingeständnis; leider wird dieser Ansatz aber von Jaspers kurioserweise weder weiter diskutiert, noch in seine eigene Sicht auf die Dynamik der Geschichte eingegliedert. Auf die zitierte Stelle folgt dann aber ein zentraler Einwand, der sich gegen Spenglers These von der geistigen Fruchtlosigkeit der Zivilisation und das Postulat richtet, daß eine einmal abgestorbene Kultur außer durch entkontextualisierte Verwendung ihrer geistigen oder materiellen Spolien niemals wieder aufblühen könne: „Aber immer bleibt weitere Bewegung. Es gibt keine dauernden Spätzeiten, nicht endloses ‚Fellachendasein‘, nicht endgültige Erstarrung. Immer wieder bricht ein Neues, Ursprüngliches durch, auch in China und Indien.“12
9 10 11 12
Ebd., S. 14–15. Ebd., S. 79. Jaspers 1949/1955 (Ursprung), S. 77. Ebd., S. 77.
362
Spenglers Rezeption
Dies war freilich auch in der Diskussion, die unmittelbar nach Erscheinen von „Der Untergang des Abendlandes“ einsetzte, ein häufig vorgebrachter Einwand, in dem allerdings viel Mißverstehen des ursprünglich von Spengler intendierten Sinns steckt. Denn der von Spengler beschriebene posthistorische Zustand ist keineswegs unumkehrbar, da der betroffene Zivilisationsraum durchaus von der Dynamik einer anderen Kultur ergriffen werden und diese dann selbsttätig weiterentwickeln kann, wofür etwa Ägypten, das Zweistromland oder Europa von Spengler selbst ausführlich beschriebene Beispiele darstellen. Zudem wäre zu bemerken, daß Jaspers, welcher die Möglichkeit einer „dauernden Spätzeit“ bestreitet, diese im Rahmen seiner eigenen Lehre ja durchaus selbst vertritt, und zwar – wie Spengler – bezeichnenderweise mit Hinweis auf die ägyptische und babylonische Kultur, jenen „Völkern ohne Durchbruch“, deren Beschreibung fast aus Spengler stammen könnte: „Sie blieben zunächst noch, was sie früher, als vorhergehende, waren, zu großartiger Gestaltung gelangt in Ordnung des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens, in der Baukunst, in Plastik und Malerei, in der Formung ihrer magischen Religion. Aber sie hatten nun ein langsames Ende. Äußerlich unterworfen von den neuen Mächten, verloren sie auch innerlich ihre alte Kultur, auslaufend in persische, später sassanidische Kultur und den Islam […].“13
Die Hauptkritik, die Jaspers an Spengler äußert, findet sich aber in Anmerkung 3 seines Hauptwerks und soll hier stückweise kommentiert werden. So heißt es hier: „Spengler hält darauf, daß er – wie er meint, als erster – methodisch die geschichtliche Prognose stelle mit der Gewißheit eines Astronomen. Er sagt den Untergang des Abendlandes voraus. Viele fanden bei ihm begründet, was sie in ihrer Stimmung schon mitbrachten. Gegen sein geistreiches Bild und dem zwischen Willkür und Plausibilität schillernden Spiel der Bezüge, in seiner diktatorischen Sicherheit sind grundsätzlich zwei Einsichten zu setzen: Erstens: Spenglers Deuten in Symbolen, in Vergleichen und Analogien ist manchmal geeignet zur Charakteristik eines ‚Geistes‘, einer Stimmung, aber es gehört zum Wesen allen physiognomischen Bestimmens, daß in ihm nicht methodisch eine Realität erkannt, sondern daß ins Unendliche gedeutet wird durch Möglichkeiten. Der anspruchsvoll auftretende Gedanke der ‚Notwendigkeit des Geschehens‘ wird dabei verworren. Morphologische Gestaltfolgen werden kausal aufgefaßt, Sinnevidenz als reale Geschehensnotwendigkeit. Spengler ist methodisch unhaltbar, wo er mehr gibt als Charakteristik von Erscheinungen. Wenn in seinen Analogien manchmal wirkliche Probleme stecken, so werden sie doch erst klar, wenn das Gesagte kausal und partikular durch eine Untersuchung prüfbar wird, nicht schon im physiognomischen Blick als solchen. Das Spielerische, das im Besonderen immer das Totale zu Griff zu haben meint, ist zu verwandeln in Bestimmtheit und Begründbarkeit, wobei man dann auf Einsicht in das Ganze verzichten muß. Dann hört die Substantiierung oder Hypostasierung von Kulturganzheiten auf.“14
13 14
Ebd., S. 59–60. Jaspers 1949/1955 (Ursprung), Anm. 3.
17 Die Geschichtsbilder von Karl Jaspers und Oswald Spengler
363
Jaspers’ Vorbehalte entsprechen ganz der klassischen Kritik nicht nur an Spengler, sondern auch an vielen anderen Geschichtsdenkern, und spielen den historischen Einzelfall gegen das Gesamtbild der Hochkulturen aus, indem jedem geschichtsphilosophischen Gesamtentwurf ein Fehlschluß vom Besonderen auf das Allgemeine unterstellt wird. Aus Jaspers’ Feder ist dieser Vorwurf allerdings insoweit kurios, als er in kaum abgeänderter Weise ja auch genausogut auf seinen eigenen geschichtsphilosophischen Entwurf zutreffen würde, welcher nicht nur der Weltgeschichte einen einheitlichen Plan zuschreibt, sondern auch im Einzelnen verschiedenen Kulturen zu einer etwa vergleichbaren Zeit die Entdeckung des Individuums wie auch der Vernunft unterstellt und somit, wenn auch auf einer anderen Ebene, eine mit Spengler durchaus vergleichbare, prädeterminierte Mechanik bietet – eine Ironie, die dem Autor aber wohl entgangen ist. Hierauf folgt Jaspers’ zweiter Einwand: „Zweitens ist gegen Spenglers absolute Trennung beziehungslos nebeneinander stehender Kulturen hinzuweisen auf die empirisch feststellbaren Berührungen, Übertragungen, Aneignungen (Buddhismus in China, Christentum im Abendland), die für Spengler nur zu Störungen und Pseudomorphosen führen, in der Tat aber Hinweise auf ein Gemeinsames im Grunde sind. Was zwar diese Einheit im Grunde sei, ist für uns unendliche Aufgabe sowohl der Erkenntnis wie der praktischen Verwirklichung. Jede bestimmt gefaßte Einheit – etwa biologische Artung, das allgemeingiltige Verstandesdenken, gemeinsame Eigenschaften des Menschseins – ist nicht die Einheit schlechthin. Die Voraussetzung, der Mensch sei der Potenz nach überall derselbe, ist ebenso richtig, wie die entgegengesetzte, daß der Mensch überall verschieden sei, differenziert bis in die Besonderheit der Individuen. Zur Einheit gehört jedenfalls das Verstehenkönnen. Spengler leugnet dieses: die verschiedenen Kulturreiche sind abgründig verschieden, für einander unverstehbar. Wir z.B. verstehen die alten Griechen nicht. Gegen dieses Nebeneinander des sich ewig Fremden steht die Möglichkeit und die teilweise Wirklichkeit des Verstehens und Aneignens. Was immer Menschen denken und tun und hervorbringen, es geht die anderen an, es handelt sich zuletzt irgendwie um dasselbe.“15
Auch dieser Kritikpunkt ist in der Diskussion um den „Untergang des Abendlandes“ oft genannt worden und beruht letztlich wohl auf eher persönlichen Überzeugungen, so daß eine wissenschaftliche Klärung der Frage kaum möglich ist, zumal Jaspers’ etwas vage Terminologie, derzufolge es sich „zuletzt irgendwie um dasselbe“ handelt, sich nur schwer in eine stringente Argumentation einbauen läßt. Zudem wäre seine Kritik insoweit zu relativieren, als das gegenseitige Unverständnis, das Spengler für die Hochkulturen postuliert, die rein technischen und naturwissenschaftlichen Aspekte menschlichen Fortschritts unberührt läßt, wie dieser in „Der Mensch und die Technik“ gezeigt hat. Zum anderen nuanciert Spengler selbst das gegenseitige „seelische“ Verständnis der einzelnen Hochkulturen insoweit, als auf der einen Seite ein inneres Verständnis von Kulturen in kulturlose oder posthistorische Räume durchaus möglich ist, und auf der anderen Seite mit zunehmendem Erlöschen einer Kultur 15
Jaspers 1949/1955 (Ursprung), Anm. 3.
364
Spenglers Rezeption
ein Zustand geistiger Offenheit eintritt, welcher unschöpferisches seelisches Verstehen anderer Kulturen ermöglicht;16 ein Zustand, auf den er sich ja auch explizit beruft, um seinen eigenen historischen Standpunkt zu erklären.
17.3
Jaspers aus der (hypothetischen) Sicht Spenglers
Nachdem wir gezeigt haben, wie Jaspers Spengler einschätzt, ist es nur gerecht, nun auch dessen Perspektive einzunehmen, wenn auch gleich gesagt werden muß, daß sich in Spenglers Briefwechsel oder nachgelassenen Schriften kein Verweis auf Karl Jaspers findet, der freilich zu diesem Zeitpunkt noch nicht als bedeutender Geschichtsphilosoph wahrgenommen worden war. Trotzdem ist die Spekulation, was Spengler wohl von Jaspers’ Idee der „Achsenzeit“ gehalten hätte, wenn es ihm vergönnt gewesen wäre, mit ihr vertraut zu werden, gar nicht so kontrafaktisch, wie es auf den ersten Blick scheinen könnte, bedenkt man, daß er sich zu analogen Theorien breit geäußert hat. So würde sich Spengler sicherlich dagegen verwehrt haben, daß die durch Sokrates, Buddha oder Konfuzius gegründeten Denkschulen eine wie auch immer geartete, über ihre eigene Gesellschaft hinausreichende Relevanz entfalten konnten, existiert für ihn doch, von reinen Oberflächenphänomenen oder grundlegenden menschlichen Kulturtechniken wie dem Feuer, dem Rad oder dem Hausbau abgesehen, kein echter „Fortschritt“: „Wir müssen immer wieder hören, wieviel von der griechischen Philosophie noch heute fortlebt. Aber das bleibt eine Redensart […]. Man sei doch ehrlich und nehme die alten Denker beim Wort: nicht ein Satz Heraklits, Demokrits, Platos ist für uns wahr, wenn wir ihn nicht erst zurechtmachen.“ (UdA, S. 621–622)
Daß nun aber tatsächlich formale Ähnlichkeiten zwischen Sokrates oder Konfuzius bestehen, würde Spengler einerseits damit erklären, daß diese Denker ja nun auch schließlich innerhalb seines eigenen, kulturmorphologischen Systems an paralleler Stelle stehen und daher gewissermaßen notgedrungen auch ein ähnliches, wenn auch immer im Rahmen der jeweiligen Kultur zu verstehendes Weltbild entwickelten. Zum anderen würde Spengler monieren, Jaspers projiziere nur das typisch abendländische Ideal einer in abstrakter Geistigkeit geeinten Menschheit in eurozentrischer Weise in die Vergangenheit und entwickle somit ein Geschichtsbild, das nur dazu diene, einen spezifischen politischen Utopismus zu legitimieren; eine Kritik, die Spengler schon explizit gegenüber dem ternären System Fiores oder Hegels vorgebracht hat, und die sich daher auch direkt auf Jaspers übertragen läßt:
16
Zum Problem der Selbstreflektivität Spenglers s. Engels 2016c (= Kap. 6).
17 Die Geschichtsbilder von Karl Jaspers und Oswald Spengler
365
„Man fügte also den komplementären Begriffen Heidentum und Christentum den abschließenden einer ‚Neuzeit‘ hinzu, die ihrem Sinne nach eine Fortsetzung des Verfahrens nicht gestattet […]. Aus einer geistigen Not haben dann große Denker eine metaphysische Tugend gemacht, indem sie das durch das consensus omnium geheiligte Schema, ohne es einer ernsthaften Kritik zu unterziehen, zur Basis einer Philosophie erhoben und als Urheber ihres jeweiligen ‚Weltplanes‘ Gott bemühten.“ (UdA, S. 25–26)17
Und endlich würde Spengler die Betrachtung der Weltgeschichte als eines zusammengehörigen Ganzen für gänzlich unangebracht erklären, wobei er Jaspers’ wichtigstes Argument, daß die nach Beginn der Achsenzeit einsetzende, weitgehend lineare Entwicklung des Christentums die „zweite Achsenzeit“ über den Antagonismus Orient-Okzident bis hin zur modernen abendländischen Geschichte ausgelöst habe, bestreiten würde. Spengler selbst nahm vielmehr die Existenz einer eigenständigen, frühchristlich-arabischen Kultur an, welche in gänzlicher Absonderung von der antiken auf der einen und der abendländischen Kultur auf der anderen Seite stehe. Es würde zu weit führen, auf diese orientalische Kultur einzugehen, die bis heute, um mit Alexander Demandt zu sprechen, als experimentum crucis18 zu betrachten ist und wohl einer fundamentalen Neubewertung bedarf.19 Festgehalten sei nur, daß sie es Spengler ermöglicht, die Kontinuitätsphänomene zwischen Antike und Abendland elegant zu durchbrechen und seine These von der monadischen Autonomie der großen Hochkulturen aufrechtzuhalten, so daß er Jaspers’ Sicht einer einheitlichen Weltgeschichte ablehnen konnte. Denn Spengler zufolge hat die Weltgeschichte für sich betrachtet keinerlei gemeinsames Ziel und führt somit als historische Einheit im strengeren Sinne kein echtes Dasein: „Ich sehe statt jenes öden Bildes einer linienförmigen Weltgeschichte, das man nur aufrecht erhält, wenn man vor der überwiegenden Menge der Tatsachen das Auge schließt, das Schauspiel einer Vielzahl mächtiger Kulturen, die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoß einer mütterlichen Landschaft, an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist, aufblühen, von denen jede ihrem Stoff, dem Menschtum, ihre eigne Form aufgeprägt hat, von denen jede ihre eigne Idee, ihre eignen Leidenschaften, ihr eignes Leben, Wollen, Fühlen, ihren eignen Tod hat.“ (UdA, S. 28–29)
17.4
Spengler und Jaspers in ihrer inneren Verbindung
Nachdem wir nun Spenglers wie Jaspers’ Systeme kurz dargestellt und sie auch in ihrer expliziten bzw. impliziten gegenseitigen Abgrenzung voneinander 17 18 19
Zu Hegel und Spengler s. Engels 2009a (= Kap. 5). Demandt 1980, hier S. 36–37. Hierzu Engels 2017c (= Kap. 9).
366
Spenglers Rezeption
betrachtet haben, gilt es nun, neben der rein antiquarisch-wissenschaftsgeschichtlichen Seite auch die Frage nach ihrer inneren Kohärenz zu stellen. So ist schon angeklungen, daß hinter der vordergründigen Opposition zwischen Jaspers’ humanistischer Teleologie und Spenglers morphologischem Kulturrelativismus durchaus eine Reihe einigender Elemente steht, wie bereits von Gilbert Merlio klar erkannt wurde, der erklärte: „So gesehen sind Spengler und Jaspers doch nicht so weit voneinander entfernt. Wesentlich bleibt aber für uns, daß Spengler die Möglichkeit der Kulturen, einander in der Tiefe zu verstehen, wohl aus ideologischen Gründen geleugnet hat, während Jaspers das Gegenteil betont.“20
So postuliert auch Jaspers, selbst wenn er sich explizit gegen den Versuch der Aufstellung synchronistischer, komparatistischer Geschichtstafeln verwahrt,21 selber die Existenz mehrerer, zwar nicht monadischer, aber doch zunächst in sich geschlossener Kulturen als Hauptelemente der Evolution zumindest der ersten Hälfte der „historischen“ Phase der Menschheitsentwicklung, bevor es durch den achsenzeitlichen Sprung zu einer graduellen Entwicklung hin zu einer vereinigten menschlichen Gesellschaft kommt, und versucht auch seinerseits, die Menschheitsgeschichte optisch „in den Griff zu bekommen“, denkt man an seine berühmte synchronoptische Übersicht, die ganz offensichtlich an ähnliche Versuche bei Spengler und Toynbee erinnert. Auch stilistisch fehlt nicht viel, als daß man folgende Stelle aus dem „Ursprung und Ziel der Geschichte“ als eine Passage aus Spengler deuten könnte: „Aber auch die Unterschiede zwischen den verschiedenen alten Hochkulturen sind beträchtlich. Wir spüren je den Geist eines Ganzen, der durchaus eigentümlich ist. In China gibt es nur Ansätze von Mythen, von vornherein kosmischen Ordnungsvorstellungen in Maß und lebendiger Naturanschauung mit einer natürlichen Menschlichkeit. Im Zweistromland ist eine Härte und Kraft, etwas Dramatisches, im frühen Gilgamesch-Epos tragisch Berührtes. In Ägypten ist eine Heiterkeit der Lebensfreude im Intimen bei einer Verschleierung des Lebens durch den nivellierenden Arbeitszwang, ein hohes Stilgefühl feierlicher Größe.“22
Interessanterweise ist ebenfalls augenfällig, daß die von Jaspers gewählten Vergleichsgrößen – Sokrates und seine Schüler sowie Buddha und Konfuzius – auch in Spenglers Weltbild eine durchaus vergleichbare „achsenzeitliche“ Rolle spielen, gelten doch auch für Spengler die klassische griechische Philosophie, Konfuzius und Buddha als morphologisch „synchron“ und am Übergang zwischen sommerlicher Kulturblüte und herbstlichem Rationalismus stehend; erweitert natürlich durch die abendländischen Aufklärer, die übrigens bei
20 21
22
Merlio 1989, S. 70. Jaspers 1949/1955 (Ursprung), S. 24: „Man hat synchronistische Tabellen […] aufgestellt. Dagegen ist zu sagen […].“ Ebd., S. 57.
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Jaspers hier und da ebenfalls als eine „zweite Achse“23 beschrieben werden. So liest man im „Untergang“ folgende, fast schon Jaspers’sche Passage, wenn auch mit einer freilich unübersehbar Nietzscheanischen, anti-rationalistischen Spitze: „Jetzt entsteht aus einem stillen Ärger der Begriff des Irrationalen; es ist das, was durch seine Unbegreiflichkeit bereits entwertet ist. Man kann es als Aberglauben offen oder als Metaphysik heimlich verachten; Wert besitzt nur das kritisch gesicherte Verstehen. […] Nur für den Ungebildeten ist die alte Religion unentbehrlich, meint Aristoteles, und das ist durchaus die Meinung von Konfuzius und Gotamo Buddha, Lessing und Voltaire.“ (UdA, S. 935)
Es bedürfte daher nur einer kleinen Modifikation von Jaspers’ Achsenlehre, um sein gesamtes System gewissermaßen in dasjenige Spenglers einzupassen, sobald man postuliert, daß die „Achse“ des Übergangs vom Mythos zum Logos, welche ja auch schon von Giambattista Vico beschworen worden war, eben kein linear menschheitsgeschichtliches, sondern vielmehr zyklisch kulturspezifisches Phänomen darstellt. Während also mehr Spenglerisches in Jaspers steckt, als diesem lieb gewesen sein dürfte, gilt dasselbe auch im Gegensinn, sind viele bei Jaspers formulierte Annahmen doch auch schon beim späten Spengler vorgebildet, wenn auch leider nur in fragmentarischer Weise, da die zentralen Schriften – hier vor allem die „Frühzeit der Weltgeschichte“ – nie zur Veröffentlichung gekommen sind. Spengler gab hier die im „Untergang“ vertretene starre Einteilung in Vorgeschichte, Hochgeschichte und Nachgeschichte dahingehend auf, daß er die Vorgeschichte in den Fragmenten zur „Frühzeit der Weltgeschichte“ in mehrere Einzelstufen aufteilte und somit schließlich doch offensichtlich eine gewisse kulturübergreifende Fortschrittstendenz akzeptierte, welche die Möglichkeit offen ließ, inwieweit nicht eines Tages auf das Zeitalter der Hochkulturen eine Art Jaspers’sche Weltkultur folgen könnte. Diese Entwicklung von der Zyklizität hin zur Linearität findet sich auch in Spenglers Abhandlung „Der Mensch und die Technik“ wieder.24 Spengler kämpft hier mit dem Einwand, daß seine Kulturmorphologie allgemeinmenschlichen Entwicklungen wie etwa der Technologie eine zu geringe Bedeutung einräume. Er bemüht sich daher in einer ersten Phase darum, zunächst den Begriff der „Technik“ insoweit zu relativieren, als er ihn generell als bloßes Mittel zur Erfüllung des Willens zur Macht begreift und somit auch auf die Tier- und Pflanzenwelt ausdehnt, so daß er ihm gewissermaßen den evolutionsgeschichtlichen Aspekt nimmt und vielmehr zu einer allgegenwärtigen vitalistischen Konstante macht. Allerdings bricht Spengler gegen Ende seiner Schrift (hiermit eher seiner Tendenz zu apokalyptischen Formulierungen und seinem eigenen tragischen Weltbild nachgebend als der inneren Kohärenz 23 24
Ebd., S. 79. Zum Thema Spengler und Technik vgl. Merlio 1980.
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Spenglers Rezeption
seines Modells folgend) mit diesem Ansatz, indem er der abendländischen Kultur im Gegensatz zu den anderen Kulturen eine ganz besonders offensive und auf die Spitze getriebene Nutzung materieller Ressourcen zuschreibt, so daß der Menschheitsgeschichte also doch wieder eine gewissermaßen lineare Entwicklung unterstellt wird, die, wenn auch in tragischer, nicht positiver Ausdeutung, an Jaspers’ Dreistadienmodell erinnert: „Und in diesem Sinne sind auch die technischen Verfahren, die in der Gruppe dieser Kulturen heranreifen, geistiger Luxus, späte, süße, leichtverletzliche Früchte einer wachsenden Künstlichkeit und Durchgeistigung. Sie beginnen mit dem Bau der Gräberpyramiden Ägyptens und der sumerischen Tempeltürme Babyloniens […] und gehen über die Unternehmungen der chinesischen, indischen, antiken, der arabischen und mexikanischen Kultur bis zu denen der faustischen im zweiten Jahrtausend n. Chr. im hohen Norden, welche den Sieg über schwere Probleme reinen technischen Denkens darstellen. […] Hier […] ist der Kampf zwischen der Natur und dem Menschen, der sich durch sein historisches Dasein gegen sie aufgelehnt hat, praktisch zu Ende geführt worden.“ (MuT, S. 62–63)
17.5
Schluß
Wir haben somit gesehen, daß sich hinter dem vordergründigen Antagonismus von Spengler und Jaspers zahlreiche grundlegende Übereinstimmungen verbergen, und die Vermutung ist nicht ganz von der Hand zu weisen, daß viele dieser Unterschiede, wenn auch sicherlich nicht alle, weniger einer inhaltlichen Divergenz als vielmehr einer unterschiedlichen Gewichtung des jeweiligen geschichtsphilosophischen Bezugsrahmens geschuldet sind: Wo Spengler streng den Parallelismus der Hochkulturen betont und diesen auch auf die frühchristlich-arabische Kultur des 1. Jahrtausends und auf die westliche Kultur des 2. Jahrtausends überträgt, gleichzeitig aber doch auch unterschwellig eine lineare Entwicklung der Technologie zuläßt, da erwähnt Jaspers die zyklischen Parallelen der alten Hochkulturen nur en passant und richtet sein ganzes Augenmerk auf die ersten beiden Jahrtausende der Geschichte als einer postaxialen, linearen Evolution. Wie aber haben wir Heutigen im Lichte der Entwicklungen des 21. Jahrhunderts diesen Dissens zu bewerten, sollten wir doch nie aus den Augen verlieren, daß es bei der Diskussion geschichtsphilosophischer Probleme ja nicht nur um eine rein antiquarische oder forschungsgeschichtliche Fragestellung geht, sondern um ein Modell der Weltdeutung, das immer auch den Anspruch auf Falsifizierbarkeit bzw. Verifizierbarkeit erhebt und somit an diesem zu messen ist? Dies ist nun freilich ein weites Feld, das man kaum als Abschluß einer wesentlich engeren Fragestellung behandeln kann.
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Die Weltlage scheint aber deutlich zu machen, daß Spenglers kulturalistischer Ansatz nicht ohne weiteres vom Tisch zu wischen ist, erleben wir doch in allen Teilen der Welt eine teils sogar gefährliche Rückbesinnung auf scheinbar „ureigene“ Traditionen, von den europäischen Populisten über die islamische bis hin zur chinesischen Welt: Die Suche nach der eigenen kulturellen Identität ist so aktuell wie lange nicht mehr, und die teils schon eschatologische Züge annehmende scheinbare Verteidigung gegen den jeweiligen angeblichen Erzfeind droht allmählich, Huntingtons Befürchtung vom „Clash“ der Zivilisationen, die nun allesamt, wie von Spengler prophezeit, mit den modernsten westlichen Waffen ausgerüstet sind, Wirklichkeit werden zu lassen, und läßt wenig Hoffnung auf eine Jaspers’sche Rückbesinnung auf das Menschlich-Einigende. Auch die gegenwärtige Lage der westlichen Zivilisation, die sich vor 80 Jahren noch als Herr der Welt sah und die Prophezeiung ihres Nieder- und Untergang als pessimistische Effekthascherei betrachten durfte, entspricht ganz dem, was Spengler vorhergesagt hatte: Nachdem das Zeitalter des Kalten Kriegs kurzfristig den Eindruck hatte entstehen lassen, die Weltgeschichte sei in ein morphologisch noch nie dagewesenes Stadium eingetreten und habe jegliche Vergleichbarkeit mit der Vergangenheit abgeworfen, hat die gegenwärtige Krise des Abendlands, sei sie nun machtpolitisch, wirtschaftlich, demographisch, religiös oder gesellschaftlich betrachtet, einmal mehr die Geschichte ins gewohnte Gleis fahren lassen und erfüllt die von Spengler getroffene Vorhersage in einem schon fast verwirrenden Maße, bedenkt man allein die Analogien zur späten römischen Republik, über die anderswo bereits ausführlich diskutiert wurde.25 Auch hier bedarf es eines mehr als soliden Optimismus, weiter an Jaspers’ Prognosen zu glauben, denn wenn auch der Anspruch des Westens, identisch mit der „zivilisierten Menschheit“ zu sein und somit im Zentrum einer friedlich vereinten Weltgemeinschaft zu stehen, größer denn je geworden ist, dürfte man die segensreichen Folgen aufgeklärt-rationellen Denkens wohl mit zunehmender Vergeblichkeit suchen. Und so kommen wir denn auch zum Kern des Problems, nämlich der Achsenzeit selber. Jaspers’ fundamentale Erkenntnis, daß an verschiedensten Orten und Zeiten der Erde ein grundlegender geistig-seelischer Wandel stattgefunden hat, welcher das Antlitz der jeweiligen Gesellschaft durch einen Prozeß der Vergeistigung, Individualisierung und Rationalisierung vollständig gewandelt hat, ist wohl kaum zu bestreiten, und daß dieser Vorgang durch Befreiung des Einzelnen von religiösen und politischen Diktaten in vielerlei Hinsicht begrüßens- und wünschenswert war, steht außer Frage und kann wohl nur von Irrationalisten und radikalen Lebensphilosophen bestritten werden. Allerdings scheint Jaspers sich erstaunlicherweise (bedenkt man die Entstehungszeit seines Werks) vom Fortschritts- und Vernunftoptimismus der Aufklärung nicht genügend frei gemacht zu haben, indem er daran glaubt, daß die von ihm 25
Engels 2014a (zuerst Engels 2013b).
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Spenglers Rezeption
gelobten Werte der reinen Vernunft bei steigendem Einfluß auch weiterhin unbegrenzt positive Folgen entfalten würden: Wie die Frankfurter Schule gezeigt hat, ist nahezu das Gegenteil der Fall gewesen, und es scheint nicht nur im Lichte der schrecklichen Erfahrungen des Totalitarismus, sondern auch der gegenwärtigen gräßlichen Auswirkungen einer rationell durchaus begründbaren (und ja auch begründeten) ultraliberalen Weltgesellschaft aus Gewinnern und Verlierern mehr als zweifelhaft, daß „Aufklärung“ und „Vernunft“, wo sie sich zunehmend von traditionellen Solidargemeinschaften wie Familie, Glaube, Nachbarschaft, Nation oder Kultur abkoppeln, fähig sind, dem egoistischen Streben des Menschen, jenem „ewigen Raubtier“, um mit Spengler zu sprechen, Einhalt zu gebieten. Ganz im Gegenteil ist zu befürchten, daß ein Übermaß an Rationalismus sich selbst gewissermaßen aufhebt und die Menschheitsgeschichte nicht etwa auf einer linear-teleologischen, sondern vielmehr einer zyklischen Bahn hält, wie übrigens bereits von Hegel vorhergesagt, welcher die Folgen der Über-Individualisierung im römischen Reich mit denen seiner eigenen Gegenwart parallelisierte.26 Die Dialektik der Aufklärung führt daher ironischerweise nicht zur Selbstauflösung der Historie in der selbstgefälligen Beschaulichkeit des Fukuyama’schen „Endes der Geschichte“, sondern befördert vielmehr die Wiederkehr urzeitlicher Zustände, wenn auch in freilich technisiertem Gewande und somit in hochgefährlicher Potenzierung,27 oder, um mit den Worten Horkheimers und Adornos zu sprechen: „Wie die Mythen schon Aufklärung vollziehen, so verstrickt Aufklärung mit jedem ihrer Schritte tiefer sich in Mythologie. Allen Stoff empfängt sie von den Mythen, um sie zu zerstören, und als Richtende gerät sie in den mythischen Bann.“28
Auch Jaspers hat dies wohl geahnt, als er trotz allen Fortschrittsoptimismus schrieb: „Es ist eine merkwürdige Welterscheinung, daß gleichzeitig mit und schon vor dem Aufkommen des technischen Zeitalters überall auf der Erde ein geistiger und seelischer Rückgang erfolgt ist, der auch heute ein europäischer geworden ist. […] Innerlich […] handelt es sich um etwas offenbar ganz anderes als in der Achsenzeit. Damals die Fülle, heute die Leere. Werden wir uns der Wende bewußt, so wissen wir, daß wir nur in der Vorbereitung sind. Es ist jetzt noch das Zeitalter realer technischer und politischer Umgestaltung, nicht ein Zeitalter ewiger geistiger Schöpfungen.“29
Wir gehen wohl nur ein geringes Risiko ein, wenn wir vermuten, daß diese Passage mehr oder weniger explizit der Spengler’schen Diktion geschuldet ist, heißt es doch im „Untergang“: 26 27 28 29
Hegel 1929, S. 223. Hierzu Engels 2010. Horkheimer/Adorno 1947/1972. Jaspers, 1949/155 (Ursprung), S. 136–137.
17 Die Geschichtsbilder von Karl Jaspers und Oswald Spengler
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„Die Gegenwart ist eine zivilisierte, keine kultivierte Zeit. Damit scheidet eine ganze Reihe von Lebensinhalten als unmöglich aus. Man kann das bedauern und dies Bedauern in eine pessimistische Philosophie und Lyrik kleiden […], aber man kann es nicht ändern. […] Wir sind zivilisierte Menschen, nicht Menschen der Gotik und des Rokoko; wir haben mit den harten und kalten Tatsachen eines späten Lebens zu rechnen, dessen Parallele nicht im perikleischen Athen, sondern im cäsarischen Rom liegt. Von einer großen Malerei und Musik wird für den westeuropäischen Menschen nicht mehr die Rede sein.“ (UdA, S. 55–56)
Jaspers’ Achsenzeit wäre demgemäß keineswegs als eine dauerhafte Errungenschaft der Menschheitsgeschichte zu betrachten, prädisponiert in einem irgendwie heilsgeschichtlichen Plan und überall ungefähr zeitgleich eintreffend, sondern als natürliche Etappe in der Evolution einer jeden menschlichen Gesellschaft, die sich vom Mythos über Logos wieder zurück in den posthistorischen Mythos entwickelt. Eine solchermaßen skizzenhaft postulierte, an Spenglers Kulturmorphologie angelehnte Entteleologisierung des Jaspers’schen Achsenzeitbegriffs hätte zudem den Vorteil, spinnen wir das Gedankenspiel ein wenig weiter, den Vorwurf der teils doch argen und an Beliebigkeit grenzenden zeitlichen Streckung der „Achsenzeit“ zu entkräften, da man keine wirkliche allgemeinmenschliche „Achsenzeit“ anzunehmen hätte, sondern vielmehr kulturspezifische und in Unabhängigkeit voneinander entstehende „Achsenmomente“, welche sich über die gesamte Menschheitsgeschichte verteilen würden. In diesem Sinne ließe sich auch das bei Jaspers apriorisch angelegte Denken in Zyklen – von der vorgeschichtlichen menschlichen Gemeinschaft über die Zersplitterung in der Geschichte durch die achsenzeitliche Revolution hin zu einer neuen, nachgeschichtlichen einigen Menschheit – insoweit sowohl bewahren wie auch korrigieren, als man es eben nicht auf die Menschheit, sondern die jeweilige Gesellschaft beziehen würde: Aus der vorhistorischen Gemeinsamkeit über die morphologischen Etappen der Kulturentwicklung hin zum spätzeitlichen Weltstaat, der sich jedesmal mit der jeweils zivilisierten „Menschheit“ gleichsetzte.30 Ein weiterer Vorteil einer solchen Entkoppelung des Achsenbegriffs von der Menschheitsgeschichte und seiner Rückverlegung in die jeweiligen Kulturkreise ergäbe sich auch durch die Tatsache, daß damit ein weiteres großes Problem der Jaspers’schen Theorie, nämlich die Unterscheidung zwischen den „Achsenvölkern“ und den gewissermaßen „steckengebliebenen“ Kulturen nuanciert werden könnte. Der altindischen oder altchinesischen Kultur einen revolutionären Grad an Rationalismus zuzuschreiben, nicht aber etwa der altägyptischen, altbabylonischen oder altiranischen, ist in vielerlei Hinsicht eher der Unkenntnis des Autors als der Realität der Geschichte, insoweit wir sie den Quellen entnehmen können, zuzuschreiben: Die postkonfuzianische oder postbuddhistische Gesellschaft als „individualistischer“ zu betrachten als etwa 30
Umrisse einer solchen neuen Geschichtsphilosophie in: Engels 2018b (= Kap. 18).
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Spenglers Rezeption
das Ägypten des Mittleren Reichs oder den arsakidischen und sassanidischen Iran, scheint historisch kaum wirklich nachvollziehbar, zumal es mehr als problematisch ist, aus der oft mehr oder weniger zufälligen oder an bestimmte Traditionen der Gedächtnistradierung gebundenen Existenz einzelner philosophischer Texte auf eine kollektive Bewußtseinsänderung zu schließen.31 Dies würde dann auch erklären, wieso, allen Versicherungen Jaspers’ zum Trotz, die scheinbar ewigen Errungenschaften der Achsenzeit in verschiedenen Kulturen wieder mehr oder weniger verlorengegangen sind, denkt man etwa an den Rückfall des Abendlands von der Aufgeklärtheit des klassischen Altertums ins angeblich „Dunkle Mittelalter“, an die Selbstabschließung der klassischen islamischen Gesellschaft seit dem 12. Jahrhundert und die „Schließung der Pforten des Idjtihad“, an die Verdrängung der „100 Schulen“ und die Kanonisierung des Konfuzianismus seit der Han-Zeit in China, an die Zurückdrängung des indischen Buddhismus seit der Gupta-Zeit zugunsten eines rigiden Hinduismus,32 und schließlich an den allmählichen Niedergang des Vernunftideals im heutigen Abendland und ohnehin dessen allgegenwärtigen Niedergang, welcher Jaspers’ eurozentrisches Bekenntnis Lügen straft, der erklärte: „Zwar haben auch Chinesen und Inder so gut wie Europäer sich als die eigentlichen Menschen gefühlt und ihren Vorrang wie selbstverständlich behauptet. Aber es scheint nicht das gleiche zu sein, wenn alle Kulturen sich für die Mitte der Welt halten. Denn nur Europa scheint durch seine Verwirklichung seinen Vorrang bewährt zu haben.“33
Nein, die Achsenzeit ist offensichtlich keine dauerhafte Errungenschaft der „Menschheit“; sie ist auch kein über die gesamte Menschheitsgeschichte gestreckter und somit letztlich inhaltloser Prozeß; sie scheint, wie alles Menschliche, eine zyklisch wiederkehrende, beständig neugeschaffene, sich immer wieder selbst widerrufende Phase der Geschichte,34 und so mag es wenigstens ein kleiner Trost in der sich zunehmend spenglerisch gebärdenden Welt sein, sich daran zu erinnern, daß, wenn bei uns die Lichter verlöschen, sie doch später anderswo wieder angezündet werden, und daß ohnehin, um mit Ranke zu sprechen, „jede Epoche […] unmittelbar zu Gott [ist], und ihr Wert […] gar nicht auf dem [beruht], was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem Eigenen selbst.“35
31 32 33 34 35
S. hierzu die grundlegende Kritik bei Assmann 1990, S. 40. Engels 2017e. Jaspers 1949/1955 (Ursprung), S. 71. S. Engels 2009a (= Kap. 5). L. von Ranke: Vorlesungen zur Weltgeschichte (1854), Einleitung.
SPENGLER HEUTE
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Spengler im 21. Jahrhundert
18.1
Einleitung
Das regelmäßig mit einem aussagekräftigen Fragezeichen versehene Problemfeld „Spengler heute?“ hat auch im 21. Jahrhundert nichts von seiner Aktualität verloren: Der sich unwiderruflich abzeichnende Niedergang des scheinbar „alten Kontinents“, seine sich unter unseren Augen vollziehende endzeitliche politische Vereinigung und der erst dank westlicher Technologie ermöglichte, manchmal bedrohlich anmutende Aufstieg außereuropäischer Staaten scheinen auch heute noch Henry Miller durchaus recht zu geben, der vor 30 Jahren erklärte: „As Oswald Spengler pointed out at the end of the first World War, in his ‚Decline of the West‘, civilization is equivalent to arteriosclerosis. It is the dying period of a culture. Today we see it clearly, though we may not be willing to acknowledge it.“1
Die seit einigen Jahren festzustellende Renaissance der Spenglerforschung hat allerdings auch zur Folge, daß dieser zunehmend dem zweifelhaften Schicksal der meisten Klassiker erliegt, zwar gelesen, kommentiert und kritisiert zu werden (hier und da auch mit einer wohlwollenden Randbemerkung über seine „Hellsichtigkeit“ oder aber falschverstandenen Anspielungen auf Spenglers politische Position oder psychologische Konstitution2); daß es sich aber bei der Spengler’schen Kulturmorphologie eben nicht nur um ein beliebiges Zeugnis vergangener Gelehrsamkeit handeln könnte, sondern um eine Theorie, welche im Kern gerade heute immer noch faktische Gültigkeit beansprucht, wird meist ausgeblendet – auch dies übrigens eine von Spengler selbst vorhergesagte Entwicklung, fürchtete dieser doch, daß spätzeitliches Denken die Beschäftigung mit der „Philosophie an sich“ mehr und mehr durch diejenige mit der „Geschichte der Philosophie“ ersetzen werde...3 In der Folge soll daher versuchsweise das Wagnis eingegangen werden, Spengler nicht einfach nur partiell und historistisch im Rahmen seiner Zeit zu besprechen, sondern ihn als Denker ernst zu nehmen und also die grundlegenden Prämissen seiner Lehre, nach der die Weltgeschichte durch die Abfolge einer begrenzten Zahl von Hochkulturen geprägt wird, deren jeweilige 1 2
3
Miller 1984, S. 38. Allg. zu Spengler und Miller vgl. Engels 2012 (= Kap. 16). Einige systematische Überlegungen zu den verschiedenen diesbezüglichen Denkschulen und den Kriterien einer methodologisch sauberen, da zwischen psychologischen, kontextuellen, politischen und inhaltlichen Aspekten trennenden Auseinandersetzung mit Spengler in Engels 2019b (= Kap. 3). Gegen eine solche Entwicklung vgl. Engels 2015a.
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Spengler heute
Entwicklung in strenger Parallelität zueinander erfolgt und durch Anfang wie Ende gekennzeichnet ist, als eine auch heute noch brauchbare Arbeitshypothese zu betrachten. Ganz bewußt wollen wir also versuchen, die gegenwärtig mittels Kontextualisierung, Literarisierung und Psychologisierung stattfindende antiquarische Reduktion der Spengler’schen Geschichtsphilosophie auf einen bloßen „Klassiker“ zu überwinden4 und vielmehr zu überprüfen, was von Spenglers Denken auch im 21. Jahrhundert konkret standhalten kann. Dabei soll das grundsätzliche Einverständnis mit der Hypothese parallel zueinander stehender Kulturmonaden uns nicht gegenüber der Einsicht verschließen, daß auch Spenglers Kulturmorphologie einiger dringender Nachbesserungen und Korrekturen bedarf, was ja angesichts des gewaltigen Betrachtungszeitraums kaum erstaunlich ist. Denn der oft zu Unrecht als eine Art Bescheidenheitstopos verstandene Untertitel des „Untergangs des Abendlands“, nämlich „Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte“, trifft den Nagel tatsächlich auf den Kopf: Trotz seiner über 1200 Seiten bietet der „Untergang“ meist nicht wesentlich mehr als eine recht ungeordnete, eher intuitiv als wissenschaftlich formulierte Aneinanderreihung oft aphorismenhafter Überlegungen, welche nur für die antike, die abendländische und die sogenannte „arabische“ Kultur ansatzweise Anspruch auf Vollständigkeit erheben können, sich aber, wenn es um andere Kulturen geht, mit einigen dazu noch recht oberflächlichen Skizzen begnügen. Inhalt der nun folgenden Darlegungen soll es daher sein, einen notgedrungen kurzen und recht persönlichen Überblick über die Bereiche zu geben, in welchen Spenglers Thesen am dringendsten einer grundlegenden Überarbeitung und Infragestellung bedürfen, um sowohl an innerer Kohärenz zu gewinnen als auch den Anschluß an den heutigen Stand historischen Wissens zu vollziehen, so daß wir in Anbetracht des zur Verfügung stehenden Rahmens also eher einen Fahrplan für künftige Forschungen liefern wollen als „neue“ Erkenntnisse.
18.2
Neun Hochkulturen?
In einem ersten Teil unserer Überlegungen wollen wir den engeren historischen Bereich behandeln und uns dem Thema widmen, inwieweit Spenglers Hochkulturen überhaupt noch dem Stand der Forschung entsprechen und in welchem Maße neuere Erkenntnisse die Kulturmorphologie vielleicht sogar falsifizieren könnten. Eine erste Stoßrichtung dieser Überlegungen müßte sich vor allem der Frage nach der Beziehung zwischen den Hochkulturen und ihren jeweiligen 4
Allg. hierzu mein Versuch in Engels 2019b (= Kap. 3).
18 Spengler im 21. Jahrhundert
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Vorgängergesellschaften widmen; eine Frage, welche ja auch Spengler in den letzten Jahren seines Lebens beschäftigte. So ist bekannt, daß Spengler die im „Untergang“ vertretene starre Einteilung in Vorgeschichte, Hochgeschichte und Nachgeschichte dahingehend modifizierte, daß er die Vorgeschichte in den Fragmenten zur „Frühzeit der Weltgeschichte“ in mehrere Einzelstufen aufteilte, von denen „a“ die Zeit der Menschwerdung und der isolierten Schwärme bezeichnete, „b“ die der Primitivkultur und des Übergangs zur Form, „c“ die von Dorf und Stamm, und „d“ schließlich die eigentlichen Hochkulturen. Nur die beiden letzten Stufen seien den Gesetzen des Biologismus unterworfen und respektive mit einer Lebensdauer von 3500 bzw. 1000 Jahren ausgestattet, während die Gesetzmäßigkeit der „a“- und „b“-Stufen weitgehend dem Bereich des Anorganischen angehöre. Allerdings gelte die Regel strikter innerer Autonomie und landschaftlicher Verwurzelung nur für die „d“-Stufe, während die einzelnen Ausprägungen der „c“-Stufe durchaus räumlich beweglich seien und obendrein ineinander verfließen können.5 Diese Annahme wirft freilich einige Probleme auf, welche Spengler nicht mehr beantworten konnte. Zum einen bewirkt die Aufspaltung der Vorgeschichte in drei sukzessive Kulturstufen, daß Spenglers im „Untergang“ getroffene Aussage, die Menschheit sei kein historischer, sondern ein rein zoologischer Begriff,6 nur noch bedingt haltbar scheint. Zum anderen suggeriert die Staffelung von „a“ bis „d“ zweifellos eine gewisse kulturübergreifende 5 6
Vgl. Spengler, FdW. Vgl. Spengler, UdA, S. 28–29: „Niemand erwartet von einer Raupe, die er täglich wachsen sieht, daß sie möglicherweise ein paar Jahre damit fortfährt. Hier hat jeder mit unbedingter Gewißheit das Gefühl einer Grenze, das mit einem Gefühl für die innere Form identisch ist. Der Geschichte des höhern Menschentums gegenüber aber herrscht ein zügelloser, alle historische und also organische Erfahrung verachtender Optimismus in bezug auf den Gang der Zukunft, so daß jedermann im zufällig Gegenwärtigen die ‚Ansätze‘ zu einer ganz besonders hervorragenden linienhaften ‚Weiterentwicklung‘ feststellt, nicht weil sie wissenschaftlich bewiesen ist, sondern weil er sie wünscht. Hier wird mit schrankenlosen Möglichkeiten – nie mit einem natürlichen Ende – gerechnet und aus der Lage jedes Augenblicks heraus eine völlig naive Konstruktion der Fortsetzung entworfen. Aber ‚die Menschheit‘ hat kein Ziel, keine Idee, keinen Plan, so wenig wie die Gattung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat. ‚Die Menschheit‘ ist ein zoologischer Begriff oder ein leeres Wort. Man lasse dies Phantom aus dem Umkreis der historischen Formprobleme schwinden und man wird einen überraschenden Reichtum wirklicher Formen auftauchen sehen. Hier ist eine unermeßliche Fülle, Tiefe und Bewegtheit des Lebendigen, die bis jetzt durch ein Schlagwort, durch ein dürres Schema, durch persönliche ‚Ideale‘ verdeckt wurde. Ich sehe statt jenes öden Bildes einer linienförmigen Weltgeschichte, das man nur aufrecht erhält, wenn man vor der überwiegenden Menge der Tatsachen das Auge schließt, das Schauspiel einer Vielzahl mächtiger Kulturen, die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoß einer mütterlichen Landschaft, an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist, aufblühen, von denen jede ihrem Stoff, dem Menschtum, ihre eigne Form aufgeprägt hat, von denen jede ihre eigne Idee, ihre eignen Leidenschaften, ihr eignes Leben, Wollen, Fühlen, ihren eignen Tod hat.“
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Spengler heute
Fortschrittstendenz der Geschichte, welche die Hochkulturen eben nicht mehr als über einem unförmigen Substrat vorgeschichtlichen Einerleis schwebende Eintagsfliegen erscheinen läßt, sondern als quasi naturnotwendige Etappen einer gesamtmenschlichen historia perennis, welche zudem durchaus die Frage erlaubt, inwieweit die Hochkulturen das letzte Wort der Geschichte darstellen oder vielleicht ihrerseits nur eine Etappe auf dem Weg zu weiteren Ausprägungen der menschlichen Natur verkörpern, die Nachkultur also durchaus nicht immer den Rückfall in ein Fellachentum der „c“-Stufe impliziert, sondern vielleicht eines Tages zur Herausbildung einer „e“-Stufe der Kulturentwicklung führen könnte.7 Neben diesen eher grundlegenden Fragen gilt es auch, die konkrete historische Ausprägung der „c“-Kulturen zu bestimmen. Spengler selbst nahm vier „c-Kulturen“ an, die er mit den Namen Atlantis, Kasch, Turan und pazifischandisch bezeichnete und jeweils im Westen (zwischen Irland und Ägypten), Osten (im indisch-iranischen Raum), Norden (zwischen Skandinavien und Nordchina) und Südamerika und dem Pazifik ansiedelte.8 Hier ist zu betonen, daß die Unterscheidung zwischen diesen vier c-Kulturen nicht etwa auf geographischen, ethnischen, materiellen oder sprachlichen Kriterien basiert, sondern auf wesentlich seelisch-weltanschaulichen Kriterien. Da Spengler die meist mehr als zweifelhaften Unterscheidungen der vier „c“-Kulturen zudem noch mit einer ganzen Reihe ebenso unbestimmter wie suggestiver Begriffe wie etwa „nordisch“, „semitisch“ oder „südlich“ überlagert,9 dürfte es wohl eine fundamentale Aufgabe einer jeglichen Revision der Spengler’schen Kulturmorphologie sein, hier eine gewisse Klarheit zu schaffen und neben dem von Spengler so hervorgehobenen „seelischen“ Aspekt wenigstens auch dem von ihm meist vernachlässigten Faktor der großen Sprachfamilien mitsamt der durch das Medium „Sprache“ geschaffenen Perspektiven auf Mensch und Umwelt zu seinem Recht zu verhelfen. Nachdem wir kurz die Probleme und Perspektiven der vorgeschichtlichen Menschheit im Spengler’schen Denken angerissen haben, ist es nun Zeit, uns den 7
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Spengler, FdW, S. 492–493. Allg. zum Versuch, „trotzdem“ eine lineare Geschichte der Menschheit zu schreiben, vgl. den Aufsatz „Altasien“, in: RuA, S. 105–107. Ebd., S. 204–247; s. auch „Altasien“, in: RuA, S. 105–107. Allg. zum Rassebegriff Spengler, FdW, S. 123–133. Vgl. aber Spengler, JdE, S. 157: „Aber wenn hier von Rasse die Rede ist, so ist das nicht in dem Sinne gemeint, wie er heute unter Antisemiten in Europa und Amerika Mode ist, darwinistisch, materialistisch nämlich. [...] Wer zuviel von Rasse spricht, der hat keine mehr. Es kommt nicht auf die reine, sondern auf die starke Rasse an, die ein Volk in sich hat.“ Zum Problem der politischen Position Spenglers und der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus vgl. Fauconnet 1946; Koktanek 1966; Thöndl 1993; Stiegler 1999; Brunstad 2006; Henkel 2007; und die in Engels 2013a (= Kap. 13) zusammengestellten Quellentexte zur Spengler-Kritik im Nationalsozialismus.
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Problemen zuzuwenden, welche mit den Spengler’schen Hochkulturen an sich verbunden sind. Hier ergeben sich mehrere Fragen. Zunächst ist festzustellen, daß man im kulturalistischen Weltbild Spenglers eine zufriedenstellende „Definition“ des Begriffs „Kultur“ (oder, für Spengler gleichbedeutend, „Hochkultur“), vergeblich suchen wird. Trotzdem ist Spenglers Verwendung des Begriffs keineswegs beliebig, sondern entspricht generell der allgemeinen Benutzung des Terminus über weite Strecken des 19. und 20. Jahrhunderts.10 Hochkulturen sind, so die dieser Geschichtssicht wie auch vorliegendem Beitrag zugrundeliegende Annahme, die größtmöglichen autonomen menschlichen Gesellschaften unterhalb der Ebene der „Menschheit“. Diese Gesellschaften sind dabei nicht etwa durch spezifische technologische oder sonstige materielle Charakteristika definiert (wenn solche auch durchaus vorliegen können), sondern zeichnen sich vielmehr durch ein gewisses gemeinsames Weltbild aus, das in engster Wechselwirkung zu geteilten geographischen, sprachlichen, ethnischen, politischen oder religiösen Grundbedingungen steht und bei Spengler als „Seelenbild“, bei Luhmann als „Beobachtungen von Beobachtungen“ erscheint.11 Zwar kennzeichnen sich alle diese Hochkulturen durch eine große innere politische, spirituelle, wirtschaftliche und künstlerische Dynamik, welche mit der relativen Stabilität der „primitiven“ Gesellschaften kontrastiert, doch ist es nicht die Herausbildung gewisser morphologischer Oberflächenphänomene wie Schriftlichkeit, komplexe Staatsform oder technologischer Fortschritt, welche begriffsbildend ist, sondern die klare Abgrenzung dieser Hochkulturen voneinander wie auch im Vergleich zur jeweiligen Vor- und Nachzeit. So ist es eine der Besonderheiten dieser Hochkulturen, daß selbst ihre periphersten Regionen trotz aller Affinitäten zu den Nachbarländern verhältnismäßig klarere Gemeinsamkeiten mit dem jeweiligen Zentrum als den nächstliegenden Kulturen aufweisen, was die Homogenität des jeweiligen kulturellen Einflußbereichs unterstreicht: Das römische Köln stand dem antiken Athen näher als den rechtsrheinischen Germanensiedlungen; und das heutige Vladivostok steht Leningrad kulturell immer noch näher als dem benachbarten Changchun. Eine andere definitorische Besonderheit ist die offensichtliche Zeitlichkeit dieser Kulturen, die weder bruchlos in die Vergangenheit zurückreichen, noch beliebig in die Zukunft hinein fortexistieren, sondern in ihrer Genese ebenso klar umreißbar sind wie in ihrem Vergehen.12 Dies bedeutet nun 10
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Allg. zur Definition von „Kultur“: Kroeber u.a. 1963; Schröder/Breuninger 2001; Moebius/Quadflieg 2006. Spengler, UdA, S. 387: „Ein Seelenbild ist immer nur das Bild einer ganz bestimmten Seele. Kein Beobachter wird je aus den Bedingungen seiner Zeit und seines Kreises heraustreten, und was er auch ‚erkennen‘ möge, jede dieser Erkenntnisse ist bereits ein Ausdruck seiner eignen Seele, nach Auswahl, Richtung und innerer Form.“; vgl. auch Luhmann 1985. Hierbei handelt es sich keineswegs, wie später nachzuweisen sein wird, um einen Zirkelschluß, demzufolge Definition und Realität sich gegenseitig bedingen würden, ist es
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Spengler heute
keinesfalls die Notwendigkeit eines spektakulären „Untergangs“, wie schon Spengler selbst unterstrich,13 noch die einer spektakulären Parthenogenese, wie im deutschen Humanismus lange der griechischen Antike unterstellt wurde. Nichtsdestoweniger ist all diesen Kulturen die Überzeugung zu eigen, einen spezifischen, immer mit kosmogonischen, mythologischen oder politischen Gründungs-erzählungen verbundenen „Beginn“ gehabt zu haben (die chinesischen Urkaiser; die griechisch-römischen Ktisis-Narrative; die diversen Propheten der frühchristlich-islamischen messianistischen Kultur, Karl der Große als „Vater Europas“, usw.), sowie auch, nach etwa tausendjähriger Entwicklung,14 die Einsicht in das „Vergehen“ der eigenen Gesellschaft; eine Stimmung, die ja aus der späten Republik15 ebenso bekannt ist wie aus der Endzeitstimmung des islamischen 11. Jahrhunderts anläßlich der „Schließung der Pforten des Ijtihad“,16 der apokalyptischen Erwartungen der Regierungszeit Chosroes I.17 oder der „fin de siècle“-Atmosphäre, die sich seit der Zeit um 1900 überall in Europa ausgebreitet und ihren eindringlichsten Ausdruck in Spenglers eigenem Werk erhalten hat. Sucht man nun nach der konkreten historischen Verortung dieser Hochkulturen in der Geschichtsphilosophie Spenglers, dürfte wohl allgemein akzeptiert werden, daß sich die von Spengler postulierte Acht- (oder Neun-) Zahl der bisherigen menschlichen Kulturen in dieser Form keineswegs aufrechterhalten läßt, sondern erheblich modifiziert werden muß, und dies aus mehreren Gründen. Erstens ist die Annahme einer einzigen präkolumbianischen Hochkultur kaum noch aufrechtzuerhalten. Tatsächlich spricht Spengler nur von einer „mexikanischen“ Kultur18, während die Inkas nur an zwei Stellen des „Untergangs“ eine kursorische Erwähnung finden;19 und wenn sie auch im Aufsatz zum
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doch möglich, die wichtigsten Charakteristika des Entwicklungszyklus dieser Hochkulturen auch apriorisch zu bestimmen. Spengler, UdA, S. 63–64: „Aber es gibt Menschen, welche den Untergang der Antike mit dem Untergang eines Ozeandampfers verwechseln. Der Begriff einer Katastrophe ist in dem Wort nicht enthalten. Sagt man statt Untergang Vollendung, ein Ausdruck, der im Denken Goethes mit einem ganz bestimmten Sinn verbunden ist, so ist die ‚pessimistische‘ Seite einstweilen ausgeschaltet, ohne daß der eigentliche Sinn des Begriffs verändert worden wäre.“ S.u. Vgl. Engels 2009b. Vgl. etwa Hallaq 1984. S. hierzu und auch zu den voranstehenden Beispielen Engels 2017e und Engels 2017c (= Kap. 9). Spengler, UdA, S. 606–610; allg. zu Spenglers Verhältnis zum präkolumbianischen Amerika s. auch Birkenmaier 2011. Spengler, UdA, S. 686 („ägyptische und indische Einflüsse vielleicht im Inkalande“); ebd. S. 911: „Als Alexander am Indus erschien, war die Frömmigkeit dieser drei Kulturen längst
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„Alter der amerikanischen Kulturen“ erheblich stärker hervortreten, spricht Spengler ihnen doch offensichtlich den Status einer echten Hochkultur des „d“Typus ab.20 Hier legt die moderne Geschichtswissenschaft in Anbetracht der bestenfalls spärlichen Beziehungen zwischen Mittel- und Südamerika und dem hochentwickelten Status der letzteren Region dringend nahe, daß mindestens zwei verschiedene amerikanische Hochkulturen anzunehmen sind. Zum einen ist eine mesoamerikanische Kultur zu postulieren, welche wesentlich mit der Maya- und Toltekenkultur identisch ist, und deren zeitliche Ausdehnung in etwa das erste Jahrtausend ausmacht und somit von der späten Präklassik über Früh, Mittel-, Spät- und Endklassik in die frühe Postklassik reicht und in den Azteken einen späten peripheren Ausläufer findet.21 Zum anderen ist eine kulturmorphologisch neu zu postulierende „andische“ Hochkultur anzunehmen, welche in der Moche-Kultur ihren Beginn, in der Wari- und Tiahuanaco-Kultur ihre Blüte, unter den Chimú um Chanchan ihr imperiales Stadium und mit den Inkas ihren Abschluß erreicht haben dürfte, bevor sie ein dementsprechend keineswegs vorzeitiges Ende durch die Conquistadoren erlitt.22 Ferner zwingt auch die Archäologie des Industals dazu, die Zahl von Spenglers Hochkulturen um eine weitere zu bereichern, nämlich die von Harappa, welche Spengler wohl nicht oder kaum bekannt war, keinesfalls allerdings, wie in der „Frühzeit der Weltgeschichte“ suggeriert, in den Rang einer „c“-Kultur herabzustufen ist,23 sondern durchaus als gleichwertig mit der sumerischen und ägyptischen Kultur zu gelten hat. Wie diese war sie eine typische Flußkultur und besaß die ebenfalls regelhafte morphologische Lebensdauer von etwa 1000 Jahren24 (2800–1800), bevor sie durch weitgehend
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in die geschichtslosen Formen eines breiten Taoismus, Buddhismus und Stoizismus zerflossen. Aber wenig später erhebt sich dann die Gruppe der magischen Religionen im Gebiet zwischen der Antike und Indien, und etwa zur selben Zeit muß die Religionsgeschichte der Maya und Inka begonnen haben, die für uns hoffnungslos verloren ist. Spengler, Das Alter der amerikanischen Kulturen (1933), in: RuA, S. 138–147, hier S. 143: „Dazu kommt aber, daß es in Südamerika wahrscheinlich gar nicht zur Bildung einer Hochkultur mit einheitlich geschichtlicher Entwicklung durch ein Jahrtausend hin gekommen ist. Wir sehen überall nur formale Ansätze dazu, neben- und übereinander liegend. Aus ihnen selbst absolute Daten erschließen zu wollen, ist völlig unmöglich.“ Zu den Kulturen Mesoamerikas vgl. Wilhelmy 1989; Coe 1999; Diehl 2004; Braswell 2004; Demarest 2005; Sharer 2006; Fox 2008; Estrada-Belli 2011; Jackson 2013; Foias 2014. Allg. zu den Andenkulturen vgl. Lanning 1967; Janusek 2004; Silverman 2004; Schmid 2007; Quilter 2010; Tung 2012; Shimada 2015. Verstreute Anmerkungen in Spengler, FdW, S. 460–467. Zur Lebensdauer von etwa 1000 Jahren der Hochkulturen s. Spengler, UdA, S. 148: „In diesem Buche muß darauf verzichtet werden, diese Welt geheimnisvollster Zusammenhänge zu erschließen, aber die im folgenden immer wieder aufleuchtenden Tatsachen werden verraten, was alles hier verborgen liegt. Was bedeutet die in allen Kulturen auffallende 50jährige Periode im Rhythmus des politischen, geistigen, künstlerischen Werdens? Was die 300 jährigen Perioden des Barock, der lonik, der großen
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innere Auflösung und durch Raubbau an der Natur unterging und Opfer der vedischen Einwanderer wurde.25 Unter demselben Blickwinkel erlaubt unser durch zahlreiche Funde bereicherter historischer Horizont auch, die postsumerischen Gesellschaften des Fruchtbaren Halbmonds nicht nur als fellachenartige Nachfolger der alten Hochkultur der Euphrat- und Tigris-Mündung zu betrachten, wie Spengler postulierte,26 sondern als eigenständigen Kulturkreis, der wesentlich von den semitischen Völkern des syrisch-mesopotamischen Raums getragen wurde, v.a. den Aramäern, die denn auch eine Benennung dieser Kultur als „aramäische Kultur“ rechtfertigen würde, und in das Gebiet von Urartu, der Hethither und der Phönizier ausstrahlte. Der Beginn würde hier durch das altassyrische Reich des Shamshi-Adad I gebildet (1744–1712), welches in den folgenden Jahrhunderten seinen Zerfall in zahlreiche Feudalstaaten erlebte, in der Form des Mittelassyrischen Reiches seine kulturelle Blüte, zu Beginn des Neuassyrischen Reiches seine Periode „Kämpfender Staaten“, und seit Sargon II (722) sein dann später im Neo-Babylonischen Reich fortgesetztes Endstadium.27 Auch der südostasiatische Raum mit seiner gerade in der zweiten Hälfte des 1. Jahrtausends und der 1. Hälfte des 2. Jahrtausends n.Chr. besonders regen kulturellen Dynamik würde die Annahme gestatten, hier eine weitere Hochkultur zu vermuten, die sich kaum als bloßer Ableger der indischen oder chinesischen Hochkulturen verstehen läßt,28 welche damals laut Spengler ja bereits seit fast einem halben Jahrtausend in das Stadium endzeitlicher Starre übergegangen waren. In diesem Sinne erschiene der Staatenbund von Funan (1.– 6. Jahrhundert) als historischer Ausgangspunkt, sein Zerfall und die Herausbildung der zahlreichen Kleinstaaten der Chenla- (6.–8. Jahrhundert) und Dvaravati-Kultur (6.–11. Jahrhundert) als Zeitalter zunächst feudaler, dann zentraler Einzelstaaten, und die erneute Einigung Südostasiens durch die
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Mathematiken, der attischen Plastik, der Mosaikmalerei, des Kontrapunkts, der galileischen Mechanik? Was bedeutet die ideale Lebensdauer von einem Jahrtausend für jede Kultur im Vergleich zu der des Einzelnen, dessen Leben 70 Jahre währt?“ Allg. zur Harappa-Kultur s. Kenoyer 1998; Lahiri 2000; Possehl 2002; Aronovsky/Gopinath 2005; Gupta 2006; Wright 2009. Spengler, UdA, S. 602: „Aber indessen ging die babylonische Welt selbst aus einer Hand in die andere. Kossäer, Assyrer, Chaldäer, Meder, Perser, Makedonier, lauter kleine Heerhaufen mit einem kräftigen Führer an der Spitze, haben sich da in der Hauptstadt abgelöst, ohne daß die Bevölkerung sich ernsthaft dagegen wehrte. [...] Der Perser Kyros [... hat] sich als Reichsverweser gefühlt.“ Allg. zur assyrischen Kultur Brinkman 1984; Joannès 2000; Lipinski 2000; Fales 2001; Cancik-Kirschbaum 2003; Postgate 2007. Zu Angkor Wat und der indochinesischen Welt hat sich Spengler bis auf einige Anspielungen auf die Süd-Wirkung chinesischer und Ost-Wirkung indischer Kultur, wie man sie etwa im Aufsatz „Altasien“ (1937) oder in dem zum „Alter der amerikanischen Kulturen“ (1933) findet, wohl nicht geäußert.
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Khmer-Dynastie von Angkor (9.–13. Jahrhundert) als Ära der „kämpfenden Staaten“ und des Übergangs in ein endzeitliches Stadium.29 Ähnlich ist auch die Frage legitim, inwieweit wir nicht auch in China, ganz ähnlich wie im Nahen Osten und in Indien, nach der klassischen, daoistischkonfuzianisch geprägten Hochkultur des 1. Jahrtausends v.Chr. eine zweite chinesische Kultur anzunehmen haben, welche wesentlich unter buddhistischen Vorzeichen stand und ihr demographisches Zentrum nicht mehr in der Ebene des Huang He, sondern des Jangtse Kiang hatte.30 Dies würde nicht nur die ansonsten die Spengler’sche Morphologie eigentlich widerlegende zweitausendjährige Vitalität des angeblichen chinesischen „Fellachenvolks“ erklären,31 sondern auch die Beziehungen zwischen dem heutigen Abendland und der chinesischen Gesellschaft in einem etwas anderen Licht erscheinen lassen. Unter dieser Perspektive würde die Sui- (581–618) und v.a. die Tang-Dynastie (618–907) als neuer kultureller Ausgangspunkt nach dem Verfall der HanDynastie und ihrer v.a. in Nord und Süd aufgeteilten Nachfolgestaaten gelten. Auf die Schwächung der Tang, die in der völligen Auflösung der Staatlichkeit in der Zeit der „Fünf Dynastien“ (907–960) mündete, folgte dann der Wiederaufbau der Song-Dynastie (960–1279), welche einem wesentlich feudalen Zeitalter entsprach. Auf die mongolische Fremdherrschaft folgte der Absolutismus der Ming-Dynastie (1368–1644), welche durch soziale Unruhen zugrundeging und in der Herrschaft der Qing in ihr Endstadium überging.32 Unter derselben Perspektive müßte auch die historische Situation Japans neu bewertet werden, dessen wesentlich im 2. Jahrtausend sich entfaltende, ganz eigene Geistigkeit wohl nur schwer als eine Art Mondlichtabglanz33 einer Spengler zufolge bereits im 2. Jahrhundert v.Chr. versteinerten chinesischen „Zivilisation“ zu begreifen ist. Hier würde der eigentliche Beginn des 29
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Allg. zur Hochkultur Indochinas vgl. Coedès 1947; Myrdal 1973; Smith/Watson 1979; Brown 1996; Vickery 1998; Higham 2001; Coe 2003; Lieberman 2003; Jacques 2007; O’Reilly 2007; Corfield 2009. Zu den grundlegenden ethnischen Unterschieden zwischen Nord- und Südchina vgl. etwa Tu 1992; zur politischen Spaltung s. Lewis 2009. Aussagekräftig ist in dieser Hinsicht auch der Bau des Kaiserkanals zwischen beiden Flußbecken unter der Sui-Dynastie. Typisch für diese Einschätzung etwa Spengler, UdA, S. 143: „Ist das Ziel erreicht und die Idee, die ganze Fülle innerer Möglichkeiten vollendet und nach außen hin verwirklicht, so erstarrt die Kultur plötzlich, sie stirbt ab, ihr Blut gerinnt, ihre Kräfte brechen — sie wird zur Zivilisation. Das ist es, was wir bei den Worten Ägyptizismus, Byzantinismus, Mandarinentum fühlen und verstehen. So kann sie, ein verwitterter Baumriese im Urwald, noch Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch die morschen Äste emporstrecken. Wir sehen es an China, an Indien, an der Welt des Islam.“ Allg. zur buddhistischen chinesischen Kultur s. Wang 1963; Twitchett/Fairbank 1979; Langlois 1981; Chan/de Barry 1982; Rossabi 1983; Mote/Twitchett 1988; Adshead 2004; Kuhn 2009; Lorge 2011; Wang 2011; Hung 2014. Spengler, UdA, S. 615: „Der Japaner gehörte früher zur chinesischen und gehört heute auch noch zur abendländischen Zivilisation; eine japanische Kultur im eigentlichen Sinne des Wortes gibt es nicht. Der japanische Amerikanismus ist also anders zu beurteilen.“
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morphologischen Zyklus durch die Asuka-Zeit bezeichnet werden (592–710), die Nara-Zeit (710–794) und Heian-Zeit (794–1184) den Beginn einer feudalistischen Gesellschaft kennzeichnen, die Kamakura-Zeit die des vollendeten Ständestaats (1184–1333), die Muromachi-Zeit (1333–1568) sowie die Zeit der „Streitenden Reiche“ (1568–1603) den Beginn des Imperialismus, und die Edo-Zeit schließlich das Endreich (1603–1868).34 Und schlußendlich sei kurz auf das vieldiskutierte Problem der „magischen“ Hochkultur hingewiesen. Bekanntlich nahm Spengler die innere Zusammengehörigkeit der ost-mediterranen und iranischen Geschichte im ersten Jahrtausend n.Chr. an und postulierte somit nicht nur eine grundsätzliche Verbundenheit aller frühen monotheistischen Religionen, sondern auch ihre Verwandtschaft mit dem mazdaischen Kulturraum.35 Nun hat Spengler sich durch eine solche Zusammenfügung unterschiedlichster Sprach- und Religionsgemeinschaften zahlreiche historische Probleme eingehandelt, die zu einem der Hauptkritikpunkte am „Untergang“ werden sollten,36 die wir bereits an anderer Stelle intensiv diskutiert haben, und deren wesentliches Argument die ungenügende Unterscheidung zwischen der monistischen Grundhaltung von Judentum, Christentum und Islam einerseits und der dualistischen Denkweise des Mazdaismus andererseits ist.37 Auch kann kaum übersehen 34
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Zur japanischen Hochkultur s. allg. Sansom 1959–1964; Beasley 1972; Hempel 1986; Hall u.a. 1988–1989; Imamura 1996; Tsutsui 2007; Farris 2009. Spengler, UdA, S. 605–606: „Diese arabische Kultur ist eine Entdeckung. Ihre Einheit ist von späten Arabern geahnt worden, den abendländischen Geschichtsforschern aber so völlig entgangen, daß nicht einmal eine gute Bezeichnung für sie aufzufinden ist. Der herrschenden Sprache nach könnte man Vorkultur und Frühzeit aramäisch, die Spätzeit arabisch nennen. Einen wirklichen Namen gibt es nicht. Die Kulturen lagen hier dicht beieinander und deshalb haben sich die ausgedehnten Zivilisationen mehrfach übereinander geschichtet. Die arabische Vorzeit selbst, die sich bei Persern und Juden verfolgen läßt, lag völlig im Bereiche der alten babylonischen Welt, die Frühzeit aber von Westen her unter dem mächtigen Bann der antiken, eben erst voll ausgereiften Zivilisation. Ägyptische und indische Zivilisation reichen fühlbar herüber. […] Die zugehörige Landschaft ist merkwürdig ausgedehnt und zerrissen. Man muß sich nach Palmyra oder Ktesiphon versetzen und von da aus hineindenken: im Norden Osrhoene; Edessa wurde das Florenz der arabischen Frühzeit. Im Westen Syrien und Palästina, wo das neue Testament und die jüdische Mischna entstanden, mit Alexandria als ständigem Vorposten. Im Osten erlebte der Mazdaismus eine gewaltige Erneuerung, welche der Geburt des Messias im Judentum entspricht und von der wir aus den Trümmern der Awestaliteratur nur schließen können, daß sie stattgefunden haben muß. Hier sind auch der Talmud und die Religion Manis entstanden. Tief im Süden, der künftigen Heimat des Islam, hat sich eine Ritterzeit voll entfalten können wie im Sassanidenreich. […] Im äußersten Norden liegt Byzanz mit seinem sonderbaren Gemisch spätzivilisierter antiker und früher ritterlicher Formen, das sich vor allem in der Geschichte des byzantinischen Heerwesens so verwirrend ausspricht.“ Zur Kritik an der „magischen“ Kultur allg. Becker 1923; Demandt 1980; Koopmann 1980; Abbès 2014. Hierzu Engels 2017c (= Kap. 9).
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werden, daß unsere heutigen Kenntnisse der achaimenidischen, seleukidischen und parthischen Geschichte es problematisch scheinen lassen, die mehr als tausend Jahre iranischen Kulturschaffens als bloßes „Nachbeben“ der Gesellschaften des Zweistromlands bzw. „Vorbereitung“ der erst im 1. Jahrhundert einsetzenden „magischen“ Kultur zu deuten.38 Ein Großteil jener Probleme ließe sich dadurch bereinigen, strikt zwischen der monotheistischnahöstlichen und der dualistisch-iranischen Sphäre zu trennen. Eine solchermaßen postulierte neue iranische Kultur würde, kurz skizziert, im Achaimenidenreich ihre Begründung, im Seleukidenreich ihre Feudalisierungsphase, im Partherreich ihren Übergang zur Herausbildung von regelrechten Regionalstaaten und im Sassanidenreich ihre bis weit nach Arabien und Äthiopien ausgreifende imperialistische Phase erleben, welche dann in das „augusteische“ Endreich eines Chosroes I. und II. mündet.39 Eine solche Trennung der iranischen und der orientalischen, also frühchristlich-islamischen Kultur würde es auch ermöglichen, die genaueren chronologischen und geographischen Rahmenbedingungen der letzteren neuzubestimmen und auf den östlichen Mittelmeerraum zu fokussieren: Ausgangspunkt wäre hier nicht etwa der Beginn des Christentums, sondern die Genese des orientalischen Messianismus seit der Diadochenzeit, während das Ende durch die spätzeitliche Staatentrias Fatimiden, Seldjuken und Byzantiner bezeichnet wäre, deren Grenzen zudem ziemlich genau denen der frühen Diadochenreiche (Ptolemaier, Seleukiden und Lysimachos) entsprechen. Auch erzwingt eine nähere Betrachtung der Faktenlage eine Korrektur der Spengler’schen Interpretation der indischen Geschichte, welche dem „Untergang des Abendlandes“ zufolge mit Asoka in ihr Endstadium übergegangen sei.40 Diese Interpretation ist angesichts des intellektuellen und kulturellen 38
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Spengler, UdA, S. 614: „Ob in Babylon die Kossäer als wüste Soldatenhorde oder die Perser als feine Erben sitzen; wann, wie lange und mit welchem Erfolg sie das tun, ist von Babylon aus gesehen ohne Bedeutung. Für das Behagen der Bevölkerung war es gewiß nicht gleichgültig, aber an der Tatsache, daß die Seele dieser Welt erloschen war und deshalb alle Ereignisse einer tieferen Bedeutung entbehrten, änderte sich damit nichts“. Ähnl. ebd. 862–863: „In dem weiten Bereich altbabylonischen Fellachentums leben junge Völker. Da bereitet sich alles vor. Die erste Ahnung regt sich um 700 in den prophetischen Religionen der Perser, Juden und Chaldäer. [...] Die zweite Welle erhebt sich steil in den apokalyptischen Stimmungen seit 300. Hier erwacht das magische Weltbewußtsein und erbaut sich eine Metaphysik der letzten Dinge [...] Die dritte Erschütterung erfolgt in der Zeit Cäsars und führt zur Geburt der großen Erlösungsreligionen. Damit bricht der helle Tag dieser Kultur an.“ Allg. zur iranischen Kultur s. Sherwin-White/Kuhrt 1993; Wolski 1993; Briant 1996; Sancisi-Weerdenburg 1987–1997; Lerner 1999; Wiesehöfer/Huyse 2006; Sarkosh Curtis/Stewart 2007; Sarkosh Curtis/Stewart 2008; Jacobs/Rollinger 2010; Kosmin 2014; Engels 2017f; zu einer ausführlicheren Darstellung der oben skizzierten Struktur s. auch Engels 2017c (= Kap. 9). Spengler, UdA, S. 682–683: „Aber dasselbe fühlt man aus der Geschichte des politischen Buddhismus seit dem Cäsar Asoka heraus.“ Vgl. ähnl. 945: „Es gibt in diesen Zeiten noch
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Reichtums der folgenden Jahrhunderte nicht aufrechtzuerhalten, zumal Asoka, ganz im Gegensatz zu Han Gaotsu, Augustus oder Chosroes, keineswegs ein restauratives Programm durchzusetzen suchte; erheblich wahrscheinlicher ist es, das endzeitliche Stadium vielmehr in die „goldene“ Zeit der Gupta und ihrer hinduistischen Restauration zu verlagern und somit den Beginn der indischen Hochkultur in die Zeit um 850 zu verlegen, wodurch etwa die Entstehung des Buddhismus keineswegs, wie bei Spengler als spätzeitliche Mode, sondern vielmehr als Äquivalent zur abendländischen Reformation erscheint.41 Und schlußendlich stellt sich die Frage, inwieweit die orthodoxe Staatenwelt angesichts der auf den Fall der Mauer folgenden Ereignisse nicht doch eher als Teil der abendländischen Kultur verstanden werden muß denn als eigenständige Hochkultur, wie Spengler versuchsweise zur Diskussion stellte.42
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einige hohe Geister wie den Erzieher Neros, Seneca, und sein Ebenbild Psellos, den Philosophen, Prinzenerzieher und Politiker im cäsarischen Byzanz, wie den Stoiker Mark Aurel und den Buddhisten Asoka, die selbst Cäsaren gewesen sind, und endlich den Pharao Amenophis IV. dessen tiefsinniger Versuch von der mächtigen Priesterschaft des Amon als Ketzerei aufgefaßt und vereitelt worden ist, eine Gefahr, die sicherlich auch Asoka von den Brahmanen gedroht hat.“ Allg. zur indischen Kultur s. Rosenfield 1967; Agarwal 1989; Harmatta 1996; Raychaudhuri/Mukherjee 1996; Thapar 1998; Narain 2003; Bronkhorst 2007; Singh 2008. Zur Grundlegung der „russischen Kultur“ bei Spengler vgl. etwa Spengler, UdA, S. 788– 789: „Eine zweite Pseudomorphose liegt heute vor unseren Augen: das petrinische Rußland. Die russische Heldensage der Bylinenlieder erreicht ihren Gipfel in dem Kiewschen Sagenkreise vom Fürsten Wladimir (um 1000) und seiner Tafelrunde und dem Volkshelden Ilja von Murom. Der ganze unermeßliche Unterschied zwischen der russischen und der faustischen Seele liegt schon zwischen diesen Gesängen und den ‚gleichzeitigen‘ der Artus-, Ermanarich- und Nibelungensagen der Wanderzeit in der Form des Hildebrand- und Walthariliedes. Die russische Merowingerzeit beginnt mit dem Sturz der Tartarenherrschaft durch Iwan III. (1480) und führt über die letzten Ruriks und die ersten Romanows bis auf Peter den Großen (1689–1725). Sie entspricht genau der Zeit von Chlodwig (481–511) bis zur Schlacht von Testry (687), mit welcher die Karolinger tatsächlich die Herrschaft erhielten. Ich rate jedem, die fränkische Geschichte des Gregor von Tours (bis 591) und daneben die entsprechenden Abschnitte bei dem altväterischen Karamsin zu lesen, vor allem die über Iwan den Schrecklichen, Boris Godunow und Schuiski. Die Ähnlichkeit kann nicht größer sein. Auf diese Moskowiterzeit der großen Bojarengeschlechter und Patriarchen, in der beständig eine altrussische Partei gegen die Freunde westlicher Kultur kämpfte, folgt mit der Gründung von Petersburg (1703) die Pseudomorphose, welche die primitive russische Seele erst in die fremden Formen des hohen Barock, dann der Aufklärung, dann des 19. Jahrhunderts zwang. Peter der Große ist das Verhängnis des Russentums geworden. Man denke sich seinen ‚Zeitgenossen‘ Karl den Großen, der planmäßig und mit seiner ganzen Energie das durchsetzt, was Karl Martell durch seinen Sieg soeben verhindert hatte: die Herrschaft des maurischbyzantinischen Geistes. Es bestand die Möglichkeit, die russische Welt nach Art der Karolinger oder der Seleukiden zu behandeln, altrussisch nämlich oder ‚westlerisch‘, und die Romanows haben sich für das letzte entschieden. Die Seleukiden wollten Hellenen, nicht Aramäer um sich sehen. Der primitive Zarismus von Moskau ist die einzige Form, welche noch heute dem Russentum gemäß ist, aber er ist in Petersburg in die dynastische
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So falsifiziert der Verfall des Kommunismus, die dezidierte West-Orientierung der meisten orthodoxen und slawischen Staaten, das Ende russischer Herrschaft über Zentralasien, das offensichtliche Fehlen dynamischer kultureller Impulse und schließlich der besorgniserregende demographische Rückgang jegliche Annahme, der europäische Osten befinde sich gegenwärtig im beginnenden Hochmittelalter mit all seiner Dynamik und Aufbruchskraft, und läßt eher die Annahme zu, daß die abendländische Kultur eben auch Rußland umfaßt und der slawische Osten als integraler Bestandteil ihrer Geschichte zu betrachten ist, was, befreit man sich von einer allzusehr von Dostojewskij geprägten Rußlandsicht43 und konzentriert sich vielmehr auf die regen und dauerhaften Kontakte zwischen West und Ost seit Beginn des Kiewer Fürstentums, nicht allzu abwegig scheint. Zusammenfassend hätten wir es also nicht mit nur neun Hochkulturen zu tun, sondern vielmehr mit mindestens fünfzehn, nämlich Sumer, Harappa, Ägypten, dem aramäischen Fruchtbaren Halbmond, dem klassischen Indien, Altchina, der griechisch-römischen Antike, dem zoroastrischen Iran, der byzantinisch-islamischen Welt, Südostasien, der Andenkultur, Mittelamerika, dem buddhistischen China, Japan und schließlich dem Abendland. Diese Liste muß nun freilich sehr vorläufig bleiben, erinnert man sich daran, daß Spengler am Beispiel der „mexikanischen“ Kultur ja konzedierte, daß einzelne Hochkulturen durchaus durch äußere Ereignisse an ein gewaltsames vorzeitiges Ende geraten können.44 Somit scheint die Frage legitim, inwieweit solche äußere Faktoren nicht auch weitere, weniger bekannte Hochkulturen in einem früheren Stadium ihrer Entwicklung vernichtet haben könnten. Eine solche Annahme soll nun freilich nicht den Weg zu einer Kontamination der Spengler’schen, weitgehend psychologisch argumentierenden Kulturmorphologie mit dem mechanistischen
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Form Westeuropas umgefälscht worden.“ Zur Kritik an Spenglers Rußlanddeutung vgl. Ulmen 1980; Demandt 1988; Kraus 1988; Cacciatore 2009; Merlio 2018a. Vgl. v.a. Spengler, UdA, S. 790–794; allg. zu Dostojewskijs Einfluß auf Spengler vgl. Potapova 2015. S. etwa Spengler, UdA, S. 606–607: „Denn diese Kultur ist das einzige Beispiel für einen gewaltsamen Tod. Sie verkümmerte nicht, sie wurde nicht unterdrückt oder gehemmt, sondern in der vollen Pracht ihrer Entfaltung gemordet, zerstört wie eine Sonnenblume, der ein Vorübergehender den Kopf abschlägt. Alle diese Staaten, darunter eine Weltmacht und mehr als ein Staatenbund, deren Größe und Mittel denen der griechischrömischen Staaten zur Zeit Hannibals weit überlegen waren, mit ihrer gesamten hohen Politik, mit sorgfältig geordnetem Finanzwesen, hochentwickelter Gesetzgebung, mit Verwaltungsgedanken und wirtschaftlichen Gewohnheiten, wie sie die Minister Karls V. nie begriffen hätten, mit reichen Literaturen in mehreren Sprachen, einer durchgeistigten und vornehmen Gesellschaft in großen Städten, wie das Abendland damals keine einzige aufzuweisen hatte – das alles wurde nicht etwa durch einen verzweifelten Krieg gebrochen, sondern durch eine Handvoll Banditen in wenigen Jahren so vollständig vertilgt, daß die Reste der Bevölkerung bald nicht einmal eine Erinnerung bewahrten.“
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Weltbild des Toynbee’schen „challenge and response“ ebnen,45 da letzteres in seinem faktenbezogenen Pragmatismus höchstens geeignet ist, historische Vorgänge rein äußerlich zu beschreiben und nachzuvollziehen, nicht aber auch innerlich zu deuten und als Ausdruck der Herausbildung eines spezifischen, unverwechselbaren Weltbilds – Spengler würde „Seelenbild schreiben – zu begreifen. Immerhin aber ist die Frage legitim, ob nicht einige menschliche Gesellschaften, die bei Spengler nur mit Mühe und Not als „Ableger“, oder „Mondlichtkulturen“46 erscheinen oder vielmehr aufgrund ihrer atypischen Entwicklung ganz ignoriert werden, nicht als „echte“ Hochkulturen begriffen werden können, denen aus verschiedenen Gründen ein vorzeitiges Ende bereitet wurde.
18.3
Der Untergang des Abendlandes seit 1936
In einem zweiten Teil unserer Überlegungen wollen wir nun Spenglers spezifische Analyse der Gegenwart behandeln. Tatsächlich nämlich machen die größtenteils von ihm selbst nicht mehr erlebten tragischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts es nötig, Spenglers bekannte Gleichsetzung des Ersten Weltkriegs mit dem Zweiten Punischen Krieg,47 aus der die Prognose folgt, der 45
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Zum Verhältnis zwischen Toynbee und Spengler vgl. Rothacker 1950; Schischkoff 1965; Joll 1985; Wangenheim 2015. Zum Konzept der Mondlichtkulturen v.a. Spengler, UdA, S. 685: „Deshalb nehmen in allen Zivilisationen die modernen Städte ein immer gleichförmigeres Gepräge an. Man kann gehen, wohin man will, man trifft Berlin, London und New-York überall wieder; und wenn ein Römer reiste, konnte er in Palmyra, Trier, Timgad und in den hellenistischen Städten bis zum Indus und Aralsee seine Säulenstellungen, statuengeschmückten Plätze und Tempel finden. Was aber hier verbreitet wird, ist nicht mehr ein Stil, sondern ein Geschmack, keine echte Sitte, sondern Manieren, und nicht die Tracht eines Volkes, sondern die Mode. Damit ist es denn möglich, daß ferne Bevölkerungen die ‚ewigen Errungenschaften‘ einer solchen Zivilisation nicht nur annehmen, sondern in selbständiger Fassung weiterstrahlen. Solche Gebiete einer ‚Mondlichtzivilisation‘ sind Südchina und vor allem Japan, die erst seit dem Ausgang der Hanzeit (220) ‚sinaisiert‘ wurden, Java als Verbreiterin der brahmanischen Zivilisation und Karthago, das seine Formen von Babylon empfing.“ Zu Spenglers Sicht des Ersten Weltkriegs vgl. etwa Spengler, JdE, S. 11: „Denn wir leben in einer gewaltigen Zeit. Es ist die größte, welche die Kultur des Abendlandes je erlebt hat und erleben wird, dieselbe, welche die Antike von Cannä bis Aktium erlebt hat, dieselbe, aus der die Namen Hannibal, Scipio, Gracchus, Marius, Sulla, Cäsar herüberleuchten. Der Weltkrieg war für uns nur der erste Blitz und Donner aus der Gewitterwolke, die schicksalsschwer über dieses Jahrhundert dahinzieht. Die Form der Welt wird heute aus dem Grunde umgeschaffen wie damals durch das beginnende Imperium Romanum, ohne daß das Wollen und Wünschen ‚der meisten‘ beachtet und ohne daß die Opfer gezählt werden, die jede solche Entscheidung fordert.“
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Übergang ins abendländische Äquivalent des Principats sei erst für 2100 anzunehmen, einer kritischen Revision zu unterziehen, sind doch viele von Spengler vorhergesagte Entwicklungen48 „früher“ eingetroffen, als vorgesehen. Bedenkt man nämlich die jedem Betrachter förmlich ins Auge springenden Analogien zwischen den blutigen Kämpfen der Popularen und der Optimaten und den Klassenkämpfen der 1930er Jahre, zwischen den Proskriptionen und den politisch motivierten Säuberungen der totalitären Staaten, zwischen dem Kalten Krieg und den oft auch räumlich sauber voneinander abgetrennten Einflußbereichen politischer Gruppen wie etwa den Sullanern und den Sertorianern, und schließlich zwischen den antirömischen Ausschreitungen im Ersten Mithridatischen Krieg und dem 11. September, kann man sich kaum des Eindrucks erwehren, die letzten Jahrzehnte würden erheblich mehr dem 1. als dem 2. vorchristlichen Jahrhundert entsprechen; eine Analyse, die ich bereits anderswo systematisch vorgeschlagen habe.49 Eine solche Sichtweise ermöglicht dann aber auch einen radikal neuen Blick auf unsere Gegenwart und die zu erwartende Zukunft der nächsten Jahrzehnte. Anstatt nämlich, wie Spengler, zu erwarten, daß sich der Zusammenschluß des europäischen Kontinents nur auf militärischem Wege durch Hegemonie einer europäischen Nation über die anderen Staaten vollziehen werde, sollten wir den Gedanken ins Auge fassen, daß eben diese Einigung sich gerade vor unseren Augen vollzieht, und zwar in Gestalt der Europäischen Union, welche als Keimzelle des künftigen Imperiums und somit des Endstadiums unserer Kultur zumindest auf dem europäischen Kontinent zu betrachten ist. Daß dieser Einigungsprozeß sich friedlich zu vollziehen und somit im Gegensatz zur militärisch begründeten römischen Hegemonie zu stehen scheint, ist dabei aus mehreren Gründen kein Einwand gegen die Validität der Kulturmorphologie.50 Zunächst sind ja auch zahlreiche weitere Kulturkreise aufzuzeigen, deren letztendliche Einigung keinerlei militärischer Anstrengung bedurfte, da sie, wie etwa das pharaonische Ägypten, bereits eine lange gesamtstaatliche Tradition hatten. Ferner ist auch der vorläufige Ausschluß des amerikanischen oder russischen Staatsbereichs von diesem Einigungsprozeß kein Argument gegen eine solche Deutung der Europäischen Union, da ja auch der zwischen 48 49 50
Hierzu allg. Engels 2007a (= Kap. 12). Engels 2013b und 2014a. In diesem Zusammenhang vergißt man oft die folgende Äußerung Spenglers, welche die gegenwärtigen Ereignisse gewissermaßen schon vorwegnahm; Spengler, UdA, S. 196–197: „Ob das weltumfassende Kolonialsystem, einst von spanischem Geist entworfen, jetzt englisch oder französisch umgeprägt wurde, ob die ‚Vereinigten Staaten von Europa‘, das Seitenstück damals der Diadochenreiche und nun in Zukunft des Imperium Romanum, durch ihn [i.e. Napoleon I.] als romantische Militärmonarchie auf demokratischer Basis oder im 21. Jahrhundert durch einen cäsarischen Tatsachenmenschen als wirtschaftlicher Organismus Wirklichkeit wurden – das gehört zum Zufälligen des Geschichtsbildes.“
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Byzantinern, Fatimiden und Seldjuken zersplitterten orientalischen Staatenwelt in ihrer imperialen Phase des 10. Jahrhunderts eine solche Vereinigung versagt blieb. Außerdem verwischt der Unterschied zwischen Antike und Abendland beim näheren Zusehen ohnehin: Zum einen ist immer deutlicher geworden, daß sich die römische Vereinigung des Mittelmeerraums nach dem Sieg über Karthago mit weitgehend friedlichen Mitteln vollzog und bedeutende Territorien den Römern mehr oder weniger freiwillig übereignet wurden, sei es testamentarisch von ihren Herrschern,51 sei es durch Mehrheitsbeschluß ihrer städtischen Eliten, wie im Falle Syriens oder der Dekapolis.52 Es sei zugegeben, daß hier meist ohnehin keine dauerhafte Alternative zum Anschluß an das Reich bestand; doch ist dies auch heute für die meisten europäischen Staaten der Fall. Und zum anderen ist die „friedliche“ Entstehung und Gesinnung der Europäischen Union in sich eher ein politischer Mythos als historische Realität. Zunächst muß nämlich betont werden, daß auch der europäische Einigungsprozeß (im Westen in Form der europäischen Gemeinschaften, im Osten in Form des Warschauer Pakts) wesentlich Frucht eines militärischen Siegs gewesen ist, und zwar dem der westlichen und östlichen Alliierten gegen die Achsenmächte. Ferner darf nicht vergessen werden, daß die gegenwärtige Realität der Europäischen Union den ursprünglichen Anspruch Lügen straft, eine jederzeit aufzulösende Vereinigung gleichberechtigter Staaten zu sein: Es soll hier nur erinnert werden an die Degradierung Griechenlands zu einer fremdgesteuerten Provinz der europäischen Kommission, wie gerade die Ereignisse zu Beginn des Mandats von Alexis Tsipras gezeigt haben; an die Einmischung in die österreichische Regierungsbildung und den Bericht der „Drei Weisen“ 1999– 2000; den Versuch, die zyprische Finanzkrise teils auf dem Rücken gerade der ärmeren Sparer zu lösen; die harte Haltung gegenüber den „populistischen“ Regierungen Ungarns und Polens; die unter finanzpolitischen Druckmitteln überall erzwungene Sparpolitik – alles Elemente, welche klar die Schwierigkeit demonstrieren, die Union zu verlassen, ohne schwerste wirtschaftliche und außenpolitische Konsequenzen in Kauf zu nehmen, würde eine solche Sezession doch zum einen politische Verfemung bedeuten, zum anderen den betroffenen Staat verpflichten, weiterhin die meisten europäischen Richtlinien umzusetzen, um eine Kompatibilität seiner Wirtschaft zu sichern, ohne allerdings die Möglichkeit zu garantieren, weiterhin direkt auf die diesbezügliche Gesetzgebung einwirken zu können. In diesem Sinne gilt es auch, die bei Spengler anzutreffende Vermutung, die politische Vereinigung des Abendlands werde sich wesentlich unter deutscher
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Man denke hier an die testamentarische Übertragung Pergamons, Bithyniens, Zyperns und der Kyrenaika, also beträchtlicher Teile des hellenistischen Ostens, an das römische Reich. Dekapolis: Bietenhard 1977; Engels 2007b; Syrien: Engels 2013d.
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Führung vollziehen, neu zu bewerten.53 Der deutsche Versuch, Europa nach napoleonischem Vorbild militärisch zu einigen, ist zwar zweimal katastrophal gescheitert, und die Gründung der europäischen Gemeinschaften zielte, wie von allen Beteiligten zugegeben, wesentlich auf eine dauerhafte Eindämmung deutscher Macht. Diese institutionelle Einbindung der deutschen in die gesamteuropäische Wirtschaft hatte dabei aber die paradoxe Folge, Deutschland vom „Feind“ zum wirtschaftlichen Motor Westeuropas umzuwandeln und ihm somit ein langfristig unumkehrbares Übergewicht über die andere Staaten zu verschaffen. Und so drängt sich in Anbetracht des wohl von niemandem (außer den Betroffenen selbst) geleugneten wirtschaftlichen, technologischen und bevölkerungsmäßigen Machtüberhangs der Bundesrepublik54 die Frage auf, inwieweit Deutschland nicht nun doch, 100 Jahre nach dem Ersten und 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, ungewollt zum unbestrittenen politischen Zentrum des Kontinents geworden ist, zu jenem Staat, ohne dessen Mitgliedschaft die Europäische Union unverzüglich an ihr Ende gelangen würde. Und so ist es aus Spengler’scher Perspektive wohl kaum erstaunlich, daß diese ebenso unfreiwillig wie friedlich realisierte neue Ordnung Europas mit Deutschland als wirtschaftlichem und politischem Kernland in ihren Grundzügen zunehmend an die Strukturen des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation erinnert, welches ja auch zum Ausgangspunkt der abendländischen Geschichte geworden war, so daß Anfang und Ende sich gewissermaßen entsprechen und Spengler mit seiner Erwartung eines künftigen, wesentlich „deutsch“ bestimmten Europas morphologisch unbewußt ins Schwarze getroffen hat. Freilich gilt es in diesem Kontext zu bedenken, daß die gegenwärtige weltpolitische Rolle der Europäischen Union auf das engste mit der Außenpolitik und den wirtschaftlichen Interessen der Vereinigten Staaten verknüpft ist und, sollte es früher oder später zum Abschluß eines Transatlantischen Freihandelsabkommens kommen, wohl auch solange bleiben wird, wie schwere innere oder äußere Krisen dieses Band nicht zerstören. Doch ist dies kein Argument gegen eine Anwendung Spengler’scher Geschichtskategorien auf die Gegenwart und den Versuch, die Krise der europäischen Einigung durch eingehenderen Vergleich mit der spätrepublikanischen Vereinigung der Mittelmeerwelt zu 53
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Vgl. Spengler, Pessimismus? (1921), in: RuA, S. 63–79, hier S. 79: „Diese Ideale soll man in Scherben schlagen; je lauter es klirrt, desto besser. Härte, römische Härte ist es, was jetzt in der Welt beginnt. Für etwas anderes wird bald kein Raum mehr sein. Kunst ja, aber in Beton und Stahl, Dichtung ja, aber von Männern mit eisernen Nerven und unerbittlichem Tiefblick, Religion ja – aber dann nimm dein Gesangbuch, nicht den Konfuzius auf Büttenpapier – und gehe in die Kirche, Politik ja, aber von Staatsmännern und nicht von Weltverbesserern. Alles andere kommt nicht in Betracht. Und man sollte nie vergessen, was hinter uns und was vor uns Menschen dieses Jahrhunderts liegt. Zu einem Goethe werden wir Deutschen es nicht wieder bringen, aber zu einem Cäsar.“ Allg. Schönberger 2012; Ash 2013.
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sehen, geht es doch weniger darum, auf simplistisch komparatistische Weise ein genaues Äquivalent des römischen Reiches und seiner diversen kulturellen Spezifika auszumachen – ein solches würden wir ja auch für die anderen Hochkulturen vergebens suchen –, sondern vielmehr darum, grundsätzliche Parallelen mit den kulturmorphologisch signifikanten Charakteristika der spätrepublikanisch-späthellenistischen Welt aufzuweisen. Es wäre daher ebenso unnötig wie kurzsichtig, den (scheinbaren) Dualismus „Rom-Griechenland“ gegen die gegenwärtige, ebenso scheinbare Gegensätzlichkeit „USA-EU“ ausspielen zu wollen,55 ignorieren beide Herangehensweisen doch die erheblich vielschichtigere Struktur beider Kulturen, die sich zum einen in der Bedeutung etwa der etruskischen, parthischen, baktrischen und karthagischen Staatenwelt, zum andern in der Rolle Südamerikas, Australiens, Südafrikas oder Rußlands manifestiert. Inwieweit daher die Vereinigten Staaten oder die Europäische Union eine wie auch immer geartete weltpolitische „Dominanz“ ausüben, ist, aus Spengler’scher Perspektive, unerheblich; argumentativ bedeutsam ist nur, daß beide ebenso wie die spätrepublikanische und späthellenistische Mittelmeerwelt von morphologischen Faktoren wie Globalisierung, Materialismus, Individualismus, Arbeitslosigkeit, Demokratiezerfall, Wertewandel, Bevölkerungsverlust, Technokratie, Masseneinwanderung und Priorität wirtschaftlicher vor politischen Fragen geprägt werden.
18.4
Kulturmorphologie und Dialektik
An dritter und letzter Stelle wollen wir uns nun den philosophischen Grundlagen der Geschichtsmorphologie widmen, dem in vielerlei Hinsicht wohl problematischsten Bestandteil der Lehre Spenglers, da die hier vertretene, oft widersprüchliche Mischung zwischen Vitalismus, Relativismus und Biologismus versagt, wenn es nicht um die Frage nach dem „Wie?“ geht, sondern um die nach dem „Warum?“. Nun kann behauptet werden, daß diese Schwäche keineswegs systemimmanent ist, sondern sich Spenglers Geschichtsmorphologie durchaus auf eine metaphysisch festere Basis gründen läßt, welche ihr zudem eine gewisse apriorische Sicherheit zu geben vermag, wie ohnehin die (auf Spenglers Selbstbezeichnung zurückgehende) Kategorisierung Spenglers als „Relativist“ nicht wirklich greift.56
55 56
Hierzu detailliert Engels 2014b, S. 463–476. Allg. hierzu Engels 2016c (= Kap. 6).
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Es sei nun im folgenden erlaubt, die Grundlagen einer solchen metaphysischen Revision Spenglers in der Hegel’schen Dialektik57 zu suchen, welche ihrerseits ja nur den Endpunkt einer jahrhundertealten triadischen Tradition darstellt, zu deren unmittelbaren ontologisch-metaphysischen Vorläufern etwa Platon, Plotin, Joachim von Fiore, Cusanus oder Vico zu rechnen wären. Ausschlaggebender Aspekt ist hier v.a. die Tatsache, daß eine solche triadische Struktur in sich sowohl die Stabilität des Monismus als auch die antithetische Dynamik des Dualismus vereint, die beiden Ansätzen inhärenten philosophischen Probleme aber ebenso elegant wie überzeugend zu überwinden vermag; eine Feststellung, die ja schon in der Antike in Platons „Parmenides“ und der christlichen Kritik am manichäischen Dualismus getroffen wurde. Wohlgemerkt ist es hier allein die logische Basis des Hegel’schen Systems, welche uns zu beschäftigen hat, keineswegs aber die geschichtsphilosophischen Schlüsse, die er selbst aus diesem zieht, und welche ihn dazu bewegten, sein dialektisches System in teleologischer Weise auch auf die Weltgeschichte zu beziehen, wenn auch hier, wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, im Detail erstaunliche Verwandtschaften zu Spengler bestehen.58 Kurz zusammengefaßt nimmt Hegel an, daß es zu den Grundkonstanten des Werdens gehört – also nicht nur der reinen Logik, sondern auch des konkreten materiellen Seins und selbst der Geschichte, welche ja in vielerlei Hinsicht nur die Selbstfindung des Geistes durch die Transzendierung der Materie darstellt – , sich im Dreischritt These-Antithese-Synthese fortzuentwickeln, um eine von Schelling eingeführte Begrifflichkeit zu verwenden, oder, in Hegels Worten ausgedrückt: „Das Logische hat der Form nach drei Seiten: α) die abstrakte oder verständige, β) die dialektische oder negativ-vernünftige, γ) die spekulative oder positiv-vernünftige.“59
Und: „Das Spekulative oder Positiv-Vernünftige faßt die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung auf, das Affirmative, das in ihrer Auflösung und ihrem Übergehen enthalten ist. Die Dialektik hat ein positives Resultat, weil sie einen bestimmten Inhalt hat oder weil ihr Resultat wahrhaft nicht das leere, abstrakte Nichts, sondern die Negation von gewissen Bestimmungen ist, welche im Resultate eben deswegen enthalten sind, weil dies nicht ein unmittelbares Nichts, sondern ein Resultat ist. Dies Vernünftige ist daher, obwohl ein Gedachtes, auch Abstraktes, zugleich ein Konkretes, weil es nicht einfache, formelle Einheit, sondern Einheit unterschiedener Bestimmungen ist.“60
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58 59 60
Zu Hegels Dialektik vgl. Riedel 1973; Flach 1964; Becker 1969; Gadamer 1971; Schäfer 2001; Utz 2001; Collmer 2002. Ein moderner Versuch, Hegels Dialektik logisch zu fassen, bei Wandschneider 1993. Zu einer Kritik des Wandschneider’schen Ansatzes vgl. Puntel 1996. Zum Verhältnis Spenglers zu Hegel vgl. Engels 2009a (= Kap. 5). Hegel 1830/1970, § 79. Ebd., § 82.
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Spengler heute
Dieses Modell muß sich nun, falls das System als wirklich allumfassend angenommen wird, auch auf die Geschichte anwenden lassen, und so unterscheidet Hegel denn auch in der Weltgeschichte, welche für ihn wesentlich unter dem Vorzeichen der „Freiheit“ steht, drei Phasen, von denen die erste den „orientalischen“ Staaten entspreche und die Freiheit nur als die Willkür des Despoten kenne, die zweite mit der klassischen Antike zu identifizieren sei und die Entstehung des freien männlichen Polis-Bürgers bewirke, der freilich nur im Hinblick auf seine Stadtbürgerschaft frei sei und durchaus in den Rang eines Sklaven herabgestuft werden könne, und die dritte sich in der christlichgermanischen, also abendländischen Staatenwelt niedergeschlagen habe und die Freiheit in einem langwierigen Prozeß über den Weg des Staates zum Allgemeingut erhebe.61 Nun ist überdeutlich, daß eine solche eurozentristische und teleologische Zugangsweise gerade im Hinblick auf unsere heutige Kenntnis der Reichhaltigkeit und Komplexität der außereuropäischen Kulturen wie auch auf unser wesentlich kritischeres Verhältnis zu „Fortschritt“, „Freiheit“ und „Staat“ nicht mehr haltbar ist; und bereits Spengler hat sich ausgiebig und zu Recht über Hegel mokiert.62 Allerdings wird dabei meist übersehen, daß zum einen selbst Hegel in der Nachfolge Herders den sogenannten „Volksgeist“63 als einen der wichtigsten Träger der Geschichte betrachtete und diesem eine durchaus zyklisch-biologistische Entwicklung unterstellte: „Der Volksgeist ist ein natürliches Individuum; als ein solches blüht er auf, ist stark, nimmt ab und stirbt. Es liegt in der Natur der Endlichkeit, daß der beschränkte Geist vergänglich ist. Er ist lebendig und insofern wesentlich Tätigkeit […]. Ein Gegensatz ist vorhanden, sofern die Wirklichkeit seinem Begriffe noch nicht gemäß […] ist. Sobald aber der Geist sich seine Objektivität in seinem Leben gegeben hat, […] so ist er […] zum Genusse seiner selbst gekommen, der nicht mehr Tätigkeit, der ein widerstandsloses Ergehen seiner durch sich selbst ist. In die Periode, wo der Geist noch tätig ist, fällt die schönste Zeit, die Jugend eines Volkes […]. Ist das vollbracht, 61
62
63
Allg. zu Hegels Geschichtsphilosophie: Lasson 1920; Leese 1922; Foster 1929; Plenge 1931; Marcuse 1932; Maurer 1965; Burleigh 1974; Perkins 1984; Bauer 2001; Engels 2010. Zu Spenglers Verhältnis zu Hegel vgl. etwa Spengler, Br., S. 116 [Brief vom 5.1.1919 an Georg Misch]: „Daß Hegel (und deshalb wohl auch Dilthey) vor seinem Bilde der Weltgeschichte den Eindruck hatte, daß hier ein Schatz von höchsten menschlichen Möglichkeiten sich ständig vermehre, eine einheitliche Aufgabe mehr und mehr erfüllt werde, ist natürlich, obwohl ich schon bei Goethe Einblicke allertiefster Skepsis finde (von ihm und seinem Urphänomen habe ich denn auch den Gedanken der selbständigen, pflanzenhaften Kulturindividuen). [...] Der Stand des Wissens um 1820 rechtfertigte noch den Glauben an etwas Absolutes ‚hinter‘ den einmaligen individuellen historischen Ereignissen. Indessen sehen wir heute Indien und China und Mexiko mit ihren erstorbenen Kulturen. Was ist von den Schöpfungen der ägyptischen Kultur in die Antike als lebendiger Geist übergangen? [...] Es ist ein rein faustisches Bedürfnis, ein überindividuelles Element anzunehmen, das sich trotz aller historischer Niedergänge einem Ziel zu bewegt.“ Zur Konzeption des „Volksgeists“ vgl. Stocking 1996; Mährlein 2000; Großmann 2000.
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tritt die Gewohnheit des Lebens ein; und wie der Mensch an der Gewohnheit des Lebens stirbt, so auch der Volksgeist an dem Genusse seiner selbst. Wenn der Geist des Volkes seine Tätigkeit durchgesetzt hat, dann hört die Regsamkeit und das Interesse auf; das Volk lebt in dem Übergange vom Mannesalter ins Greisenalter […]. Es kann noch viel tun in Krieg und Frieden, im Innern und Äußern; es kann noch lange fortvegetieren. Es regt sich; aber diese Regsamkeit ist bloß die der besondern Interessen der Individuen, nicht mehr das Interesse des Volkes selbst. So sterben Individuen, so sterben Völker eines natürlichen Todes.“64
Zum anderen muß daran erinnert werden, daß Hegel in einigen eher spekulativen Passagen seines Oeuvres davon ausging, daß jeder dialektische Moment in sich bereits dialektisch strukturiert sei, und daß die synthetische Phase ihrerseits durchaus sowohl zur These eines neuen Dreischritts werden könne, als auch eine Rückkehr zum Ausgangspunkt darstelle, wodurch jeder historische Prozeß gleichzeitig Fortschritt und Zyklus in sich vereine,65 oder, um es erneut mit Hegels Worten auszudrücken: „Vermöge der aufgezeigten Natur der Methode stellt sich die Wissenschaft als ein in sich geschlungener Kreis dar, in dessen Anfang, den einfachen Grund, die Vermittlung das Ende zurückschlingt; dabei ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen; denn jedes einzelne Glied, als Beseeltes der Methode, ist die Reflexion-in-sich, die, indem sie in den Anfang zurückkehrt, zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist. Bruchstücke dieser Kette sind die einzelnen Wissenschaften, deren jede ein Vor und ein Nach hat oder, genauer gesprochen, nur das Vor hat und in ihrem Schlusse selbst ihr Nach zeigt.“66
Dies ist aber letztlich Spengler erheblich näher, als beiden Denkern wohl lieb gewesen sein dürfte, bedenkt man Passagen wie: „Eine Kultur stirbt, wenn diese Seele die volle Summe ihrer Möglichkeiten in der Gestalt von Völkern, Sprachen, Glaubenslehren, Künsten, Staaten, Wissenschaften verwirklicht hat und damit wieder ins Urseelentum zurückkehrt. Ihr lebendiges Dasein aber, jene Folge großer Epochen, die in strengem Umriß die fortschreitende Vollendung bezeichnen, ist ein tiefinnerlicher, leidenschaftlicher Kampf um die 64
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Hegel 1923, S. 45–46. Zu Hegels Meinung, ein Volk könne nur eine Blütezeit erleben, woraufhin der Übergang zu einem nächsten Volk geschehe, in dem der Weltgeist sich noch vollkommener auspräge, vgl. ebd. S. 42: „Es ist das Höchste für den Geist, sich zu wissen, sich nicht nur zur Anschauung, sondern auch zum Gedanken seiner selbst zu bringen. Dies muß und wird er auch vollbringen; aber diese Vollbringung ist zugleich sein Untergang und dieser das Hervortreten einer anderen Stufe, eines anderen Geistes. Der einzelne Volksgeist vollbringt sich, indem er den Übergang zu dem Prinzip eines anderen Volkes macht, und so ergibt sich ein Fortgehen, Entstehen, Ablösen der Prinzipien der Völker.“ Leider hat Hegel offensichtlich die logischen Probleme, die sich aus der Aufteilung dreier als gleichberechtigter dialektischer Phasen in jeweils drei neue Unterphasen usw. ergeben, wohl nicht vollständig durchdacht bzw. am historischen Exemplum geprüft, hätte er doch sonst die Inkohärenz vermieden, Synthese und neue These teils als getrennt, teils als identisch zu betrachten. Hegel, Wissenschaft der Logik, Schlußkapitel.
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Spengler heute Behauptung der Idee gegen die Mächte des Chaos nach außen, gegen das Unbewußte nach innen, in das sie sich grollend zurückgezogen haben.“ (UdA, S. 143)
Es scheint daher weder eine besondere Fehldeutung der metaphysischen Absichten Hegels, noch der morphologischen Sichtweise Spenglers, einmal versuchsweise durchzuspielen, inwieweit sich eine solche Unterlegung Spenglers mit Hegel’scher Dialektik bzw. eine morphologische Rückführung der Dialektik auf einzelne Kulturzyklen auch praktisch umsetzen läßt, indem man die triadisch-dialektische Struktur gewissermaßen zyklisch in sich selbst „zurückbiegt“, wie ich bereits an anderer Stelle beschrieben hatte: „Gerade die Freiheit des Willens ist es, die über die schrittweise Realisierung der Selbstentfaltung des Menschen notwendigerweise zur Aufrichtung immer neuer Barrieren führt, welche ihrerseits die menschliche Freiheit nach kurzem Höhepunkt zunehmend beschränken und den Menschen sowohl vom geistigen wie auch vom materiellen Umfeld her in die Tragik des unentrinnbaren Aufstiegs und Niedergangs der einzelnen Kulturen verstricken. Der lineargesetzliche Fortschritt des abstrakten Geists in der Kulturentwicklung impliziert letztlich durch seine Einwirkung auf das lebensgesetzliche naturhafte Substrat die Umformung seiner eigenen Auswirkung auf die Entwicklung der menschlichen Freiheit von der Geraden zu einer Kurve, die schließlich kreisförmig an den Ausgangspunkt zurückführt. Der Weltgeist würde sich also nicht geradlinig entwickeln, sondern vielmehr bei jeder Kultur im Kampf gegen die Naturhaftigkeit des Daseins neu zu wirken beginnen, in reiner Geistigkeit blühen und in der Aporie der Lebensunverträglichkeit des nackten Individualismus vergehen, ohne nachfolgenden Kulturen wenig mehr als einen oft fragmentarischen Stil- und Fragmentenschatz zu hinterlassen, dessen Interpretation ausgehend von einem neuen ‚Volksgeist‘ ohnehin fehlerhaft sein muß.“67
Hierbei wollen wir die Frage nach einer übergeordneten Sinnhaftigkeit nicht nur der einzelnen Kulturorganismen, sondern der gesamten Menschheit vorläufig einmal auf sich beruhen lassen, zumal diese selbst für Hegel insoweit nur von untergeordneter Bedeutung war, als er in einer seiner seltenen Überlegungen zum Fortschritt ganz ähnlich wie Ranke postulierte, daß die Bedeutung der Dialektik nicht im erreichten Resultat, sondern im Prozesse selber liege, und sub specie aeternitatis ohnehin die Zeitlichkeit keinerlei Rolle spiele.68 Daß eine solche zyklische Interpretation von Hegels Geschichtsdenken keineswegs ein Ding der Undenkbarkeit ist, hat dabei übrigens vor kurzem 67 68
Engels 2009a (= Kap. 5). Zu Hegels Verhältnis zur Zeitlichkeit vgl. Hegel 1830, § 259: „Die Gegenwart ist nur dadurch, daß die Vergangenheit nicht ist; umgekehrt hat das Sein des Jetzt die Bestimmung, nicht zu sein, und das Nichtsein seines Seins ist die Zukunft […]. Nur die Gegenwart ist, das Vor und Nach ist nicht; aber die konkrete Gegenwart ist das Resultat der Vergangenheit, und sie ist trächtig von der Zukunft. Die wahrhafte Gegenwart ist somit die Ewigkeit.“ S. auch Hegel 1923, S. 52: „Sein Sein ist Aktuosität, kein ruhendes Dasein, sondern dies, sich hervorgebracht zu haben, für sich geworden zu sein, durch sich selbst sich gemacht zu haben. Daß er wahrhaft sei, dazu gehört, daß er sich hervorgebracht habe; sein Sein ist der absolute Prozeß.“
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Vittorio Hösle in seinem fundamentalen Werk „Wahrheit und Geschichte“ bewiesen, welches einen trotz einzelner Probleme, die ich anderswo beschrieben habe,69 immer noch grandiosen Entwurf einer Rückführung der gesamten abendländischen Philosophie auf eine streng parallele Reihe aneinander anschließender dialektischer Zyklen darstellt: „Die Geschichte der Philosophie des Abendlands, so soll hier also hypothetisch vertreten werden, verläuft sowohl dialektisch als auch spiralförmig. Sie besteht in ihrer Totalität aus mehreren Perioden oder Zyklen, die unter sich charakteristische Entsprechungen aufweisen; die innere Gliederung einer solchen Periode ist insofern dialektisch, als diejenige Philosophie, die abschließend am Ende eines Zyklus erscheint, einen Fortschritt gegenüber jenen Philosophen darstellt, die ihr in demselben Zyklus vorangehen […].“70
Nun ließe sich, wie gesagt, über das Problem des „Fortschritts“ innerhalb wie außerhalb der dialektischen Zyklen durchaus streiten, stellt sich doch zum einen die Frage, inwieweit technisch-quantitative Perfektionierung tatsächlich eine echte Auswirkung auf die dialektische Dynamik einer jeden Kultur hat, oder vielmehr als bloßes Epiphänomen zu betrachten ist. Anders ausgedrückt: wenn auch einzelne Denker wie Hegel, Platon oder Cusanus sich einander formal durch ihren dialektischen Idealismus entsprechen, ist doch fraglich, inwieweit Cusanus’ theologisches Denken einen „Fortschritt“ gegenüber Platons mythischem Schauen darstellt, und inwieweit Hegels wissenschaftlichrationaler Duktus tatsächlich einen „Fortschritt“ gegenüber seinen Vorgängern repräsentiert, oder es sich in allen Fällen lediglich um morphologisch strikt gleichwertige, lediglich in Bezug auf ihre unterschiedliche gesellschaftliche und wissenschaftshistorische Verortung differierende Systeme handelt. Unter diesem Blickwinkel würde eine kulturmorphologisch modifizierte Hegel’sche Dialektik zwar immer noch durch eine unwiderstehliche argumentative Dynamik gekennzeichnet sein, diese würde aber eher „Momente“ des Denkens in ihrem wechselseitigen Bezug betreffen als eine lineare Dynamik, die auf quantitativ meßbaren, teleologischen Fortschritt abzielt. Aufeinanderfolgende dialektische Phasen würden sich also nicht dadurch kennzeichnen, daß sie die jeweils zur Debatte stehenden Fragen auf eine „immer bessere“ Art und Weise beantworten würden, sondern vielmehr dadurch, daß jede einzelne dieser Phasen die ursprüngliche Fragestellung durch Konzentration auf immer neue Aspekte modifiziert. Ein solcherart dialektisch gefaßter „Fortschritt“ würde eher einem zyklischen Um- und Einkreisen der einen grundlegenden Frage nach dem „Warum“ des Seins gleichen, bei dem die beständige Neuformulierung der Frage bis zu dem Zeitpunkt, da alle Möglichkeiten durchgespielt sind und wieder der Ausgangspunkt erreicht ist, schon die eigentliche Antwort darstellt, als einem bloß quantitativen Aufhäufen von mechanistischem „Wissen“. 69 70
Engels 2011b. Hösle 1984, S. 131–132.
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Freilich ist kaum zu bestreiten, daß sich Weltgeschichte durchaus auch unter dem Blickwinkel der verschiedenen Formen und Erkenntnisse fassen läßt, welche durch einzelne Kulturen entwickelt und von weiteren übernommen, verbessert, fehlverstanden oder sogar vergessen und vernichtet wurden, doch ist zu bezweifeln, inwieweit das Nachvollziehen eines solchen technologischen „Staffellaufs“ einer philosophisch sinnhaften „Menschheitsgeschichte“ entspricht oder einer bloßen Aneinanderreihung rein utilitaristischer Zufälle.
18.5
Versuch einer apriorischen Begründung kulturmorphologischer Phasen
Unter diesem Blickwinkel ließe sich also jede Kultur zunächst in eine thetische und eine antithetische Phase aufteilen, an die dann ein synthetischer Moment anschließt, welcher seinerseits nicht nur die „Aufhebung“ des Gegensatzes, sondern auch das Gegenstück zum Ursprungspunkt der Gesamtentwicklung bezeichnet. Möchte man nun zunächst einmal diese drei Momente philosophisch deuten, so ließe sich der erste etwa unter dem Begriff der pragmatischen, positiven, objektivistisch ausgerichteten Vernunft, der zweite unter dem des kritischen, subjektivistischen Verstandesdenkens mit seinen beiden Extremen, Materialismus und Mystizismus, subsumieren, während in der Synthese kurzfristig eine idealistische Integration beider Elemente gelingt. Politisch hingegen würde die thetische Phase weitgehend mit pragmatischen, teils personenbezogenen, teils traditionalistischen Bräuchen und Strukturen konnotiert werden, die zweite mit dem Individualismus rein logisch abgeleiteter, teils repressiver, teils permissiver Staatsformen, die dritte aber mit einer nunmehr rationell begründeten Rückkehr zu frühzeitlich anmutenden Formen von Hierarchie und Gesellschaft. Während These und Antithese naturgemäß in der Zeit ausgedehnt sind, verhält sich die Synthese weitgehend punktuell, da sie ja einer wirklichen chronologischen Auskleidung nur in dem Maße bedarf, um zum janusköpfigen Ausgangspunkt einer neuen These werden zu können. Anders ausgedrückt: Wenn die Synthese sich zeitlich genauso verhalten würde, wie die These und die Antithese, liefe dies in Anbetracht der von Hegel postulierten, ineinander verschlungenen Identität von Synthese und neuer These auf eine zeitliche Verdoppelung dieser Phase hinaus, was natürlich der logischen Symmetrie der einzelnen Momente zuwiderlaufen würde. Der synthetische Moment, begriffen als rückwärtsgewandte Aufhebung des dialektischen Konflikts zwischen These und Antithese, ist daher nicht als eine diesen in seiner zeitlichen Ausdehnung gleichwertige, eigenständige Phase zu verstehen, sondern vielmehr als der punktuelle, rückwärtsgewandte Ausgangsmoment der aus dem dialektischen
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Streit entstehenden neuen These. Freilich bewirkt die oberflächliche morphologische Übereinstimmung zwischen Synthese und These auch, daß das abschließende Stadium der Geschichte einer jeden Kultur durchaus eine Zeitlang analog zu ihrem Beginn sich verhält, doch handelt es sich hierbei bestenfalls um ein müdes Ausklingen und atavistisches Nachspielen alter Formen unter Zugrundelegung der intellektuellen Errungenschaften des Syntheseschlusses, keineswegs um einen neuen, frischen Beginn. Hegel zufolge verhält sich aber nun jeder dialektische Moment (bis auf die Synthese, müssen wir hinzufügen) in sich bereits dialektisch, so daß jede einzelne der beschriebenen beiden, thetischen und antithetischen Hauptphasen wiederum dementsprechend aufgespaltet werden kann, wobei die jeweiligen Synthesen zweiter Ordnung als unmittelbare Vorformen der Thesen der Nachfolgephasen aufgefaßt werden müssen. Die thetische Hauptphase einer jeden Kultur ließe sich also ihrerseits wiederum in ein thetisches und ein antithetisches Zeitalter aufteilen, deren Synthese dann Ausgangspunkt der antithetischen Hauptphase würde, die selber wiederum thetisch und antithetisch strukturiert wäre, und deren Synthese identisch mit der Synthese der Gesamtentwicklung wäre. Eine solche Unterteilung unterstreicht zumal sinnfällig die weiter oben festgehaltene, schon bereits bei Hegel anzutreffende Beobachtung, daß es sich eben bei den verschiedenen Phasen der Dialektik eher um formale Momente des Denkens handelt als um einander inhaltlich scharf entgegengesetzte Epochen eines teleologischen „Fortschritts“: These und Antithese liefern verschiedene formale Möglichkeiten zur Beantwortung einer Grundfrage, die Synthese hebt den entstandenen Konflikt insoweit auf, als sie nicht etwa einen „Kompromiß“ vorschlägt, sondern vielmehr die Ursprungsfrage durch Einbeziehung einer weiteren Ebene der Reflexion bereichert und transzendiert, welche ihrerseits notgedrungen wiederum zunächst eine thetische, dann eine antithetische Reaktion hervorruft, usw. Dies erklärt dann aber auch, daß die geistige, politische und künstlerische Geschichte der Hochkulturen sich nicht in einem wilden Zickzack einander antithetisch gegenüberstehender Positionen vollzieht und in einem ebenso unmotivierten wie metaphysisch unbefriedigenden manichäischem Dualismus erschöpft,71 sondern vielmehr kreisförmig verlauft, 71
Dies wäre denn auch ein wesentlicher Kritikpunkt an den fraktalen, also dualistischen Mustern von Karl Baur (1978) oder Thomas Wangenheim (2013), welche zwar eine einleuchtende und in vielerlei Hinsicht mit Hegel und Spengler übereinstimmende Beschreibung historischer Dynamik ermöglichen, letztlich aber doch an der Frage nach der nötigen metaphysischen Rückführung des Dualismus auf ein monistisches Prinzip und somit der apriorischen Fundierung menschlicher Kulturentwicklung zu scheitern scheinen. So liest man bei Baur (1978, S. 92): „Die konträren Ideen und Willenskräfte der Ordnung und der Freiheit waren und sind es, die durch Jahrtausende als These und Antithese die Geschichte bewegen. Immer bedeutet der Sieg der einen Herausforderung der anderen. Nicht wie in Heraklits und Hegels Dialektik folgt auf These und Antithese die
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insoweit, als der synthetische Moment der thetischen Phase erster Ordnung keineswegs das absolute „Gegenteil“ der darauffolgenden antithetischen Phase ausmacht, sondern vielmehr ihren Beginn; genauso, wie der synthetische Moment der antithetischen Phase in sich gleichzeitig die Synthese der Gesamtentwicklung und die Rückkehr zum Ursprungspunkt darstellt. Verharren wir vorläufig auf der zweiten Ebene einer solchen dialektischen Untergliederung der einzelnen menschlichen Kulturen – also jener Ebene, in welcher die einzelnen dialektischen Phasen erster Ordnung in sich ein weiteres Synthese“; und bei Wangenheim (2013, S. 10): „So scheint aus einer elementaren Gesetzmäßigkeit der Abwechslung zweier Zustände ein streng kausales Walten in der Welt postuliert.“ (Zu einer Kritik hieran vgl. etwa Engels 2014c). Freilich ist der Dualismus eine sich aus der Stellung des Menschen zwischen Mikrokosmos und Makrokosmis logisch ergebende Form intellektueller Anschauung (so ja auch Spengler, U, S. 46: „Dualistisch ist die ganze Welt und sind alle Versuche, in ihr Wesen einzudringen. Das beruht auf der Tatsache, daß das Wesen alles Freibeweglichen die Spannung zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos ist, und jedes Bild der Welt existiert ja nur für ein bewegliches Wesen.“), doch ist sie als metaphysische Position inakzeptabel und darf keineswegs mit den ersten beiden Gliedern der triadischen Dialektik verwechselt werden. These und Antithese sind ja eben nicht binäre Gegensatzpaare wie die beiden Glieder dualistischer Weltsicht, sondern zwei unterschiedlich gelagerte Formen des Denkens, deren Dynamik nicht, wie im Dualismus, durch bloßes Hin und Her, sondern vielmehr eine zielgerichtete, immer gleichartige Folge mitsamt Auflösung in der Synthese bestimmt ist. Nur durch die beständige Aufhebung des Konflikts auf eine höhere Ebene entsteht ja auch überhaupt die Dynamik der Geschichte, die sich nicht – wie bei Baur – auf ein ebenso end- wie sinnloses Oszillieren zwischen zwei Extremen reduzieren läßt. Zudem gilt es auch, die intrinsische metaphysische Schwäche eines jeden Dualismus hervorzuheben. Schon seit den Voreleaten ist es ja Aufgabe einer jeden Ontologie, die Vielfalt des Weltganzen auf ein möglichst einfach zu bestimmendes Element zurückzuführen, aus dessen Definition dann mit Notwendigkeit die Dynamik der Vielheit folgt. Genauso aber, wie ein extremer Monismus (z.B. Parmenides) aufgrund seiner Unbeweglichkeit scheitert, aus dem grundlegenden Einen hinreichende Gründe für den Übergang zum Vielen abzuleiten, bietet auch der Dualismus, wie wir ihn etwa seit Anaximander und Anaximenes kennen, nur eine Scheinerklärung. Denn die Annahme zweier gleichberechtigter Prinzipien macht letztendlich jede wirkliche Erkenntnis unmöglich, ist eine solche doch nur durch die Annahme der Allgegenwart eines einzelnen Prinzips möglich. Auch die Kausalität, welche eben schon per Definition in der Rückführung auf einen einzigen Grund besteht, würde durch eine vollkommene Polarität zweier Urprinzipien ausgeschaltet. Ferner würde ein solcher Dualismus auch vor der Frage scheitern, wie angesichts eines solchen metaphysischen Patts überhaupt Dynamik entstehen kann, ohne eben doch wieder ein drittes, beide vereinendes Prinzip anzunehmen. Und schlußendlich ist darauf zu verweisen, daß beide Teile der Polarität, insoweit sie jeweils Eines sind, doch schon die ontologische Existenz eines monistischen Prinzips voraussetzen und sich dadurch in ihrer Dualität auflösen; Punkte, die sich letztlich alle schon bei Platon (v.a. im „Parmenides“) finden. Es ist daher nicht erstaunlich, daß nur eine triadisch-dialektische Philosophie wirklich imstande ist, ein formal befriedigendes metaphysisches Modell zu präsentieren, welches dann seinerseits, wie in vorliegendem Aufsatz postuliert, auch das bislang überzeugendste Muster zur Erklärung und Deutung von Geschichte liefert.
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Mal durch dialektische Stufen zweiter Ordnung unterteilt wurden –, so wird unmittelbar augenfällig, daß die hieraus entstehende Gliederung wesentlich mit den Phasen des bei Spengler unter Verweis auf die Jahreszeiten und Lebensalter beschriebenen idealtypischen Verlaufs einer jeden Kultur übereinstimmt; unser Versuch, Hegels Dialektik mit Spenglers Kulturmonaden zu verbinden, es also offensichtlich erlaubt, die bei Spengler nur pragmatisch-empirische Beschreibung vergangener historischer Ereignisse als apriorisch vorherbestimmt zu erkennen. Politisch gedacht, entspräche die erste, thetische Phase der These erster Ordnung einer archaischen, weitgehend auf der Treue zum Herrscher aufbauenden Reichsbildung, wie wir sie etwa in der Erinnerung an den mykenischen Heerkönig Agamemnon, im frühen achaimenidischen Großkönigtum, der ottonischen „Renovatio“ des römischen (und karolingischen) Reichs, den messianistisch fundierten hellenistischen wie orientalischen Diadochenreichen im östlichen Mittelmeer, der Reminiszenz an den indischen mythischen Weltherrscher Prithu oder dem Opferkönigtum der Shang von Erligang und Anyang finden, wobei es in all diesen Fällen morphologisch letztlich unwesentlich ist, inwieweit dieses Urkönigtum auf literarischer Fiktion oder realer Erinnerungen beruht. Dieser frühe Staat wird dann in einer antithetischen Phase durch das Aufkommen der Adel- und Standesidee von innen ausgehöhlt, sei es nun in den Jahrhunderten der Zersplitterung des Heiligen Römischen Reiches nach Interregnum und Goldener Bulle, der Entmachtung des „homerischen“ Königs der Odysee durch den international vernetzten alten griechischen Adel und sein Standesideal der Kalokagathia, der immer größeren Unabhängigkeit des achaimenidischen Adels und der graduellen Feudalisierung des seleukidischen Irans, der Staatsablehnung des frühen Christentums mit seiner neuen kirchlichen und apostolischen Hierarchie, des Aufkommens der indischen Brahmanen- und Kshatriya-Kaste oder der Genese der chinesischen Aristokratie während der Herrschaft der westlichen Zhou und ihrer systematischen Feudalisierung des Staats durch das Fengjian-System. Das Aufkommen des Gedankens des Staates würde daraufhin den versöhnenden synthetischen Moment beider vorangehender Elemente darstellen, gleichzeitig aber wiederum die These des nun beginnenden antithetischen Zyklus erster Ordnung bilden, der, wie wir sahen, in seiner Betonung rationalistischer Nützlichkeit dem intuitiven Traditions- und Treuedenken der vorausgehenden thetischen Phase erster Ordnung entgegengesetzt wird; eine Entwicklung, welche wir in der Wechselbeziehung zwischen Polis und Demos und ihren komplizierten Verfassungsdebatten ebenso finden wie in der allmählichen Herausbildung der chinesischen Staatenwelt der Frühlings- und Herbstannalen, dem Zerfall des indischen Maurya-Reichs, der „Staatsraison“ der frühen Neuzeit, des neuen, rein monarchischen christlichen Reichsgedankens der constantinischen Dynastie oder der erneuten Festigung monarchischer
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Macht im frühen parthischen Reich mit seiner komplexen Koexistenz verschiedenster in sich abgeschlossener Staatswesen unter der Herrschaft eines „Königs der Könige“. Die antithetische Verneinung der Staatsidee würde nun im Aufkommen einer nationalistischen Mystik wie auch eines indirekt hieraus abgeleiteten, aufs Weltganze zielenden Imperialismus bestehen; hier beginnt dann auch die Zeit, welche von Spengler als „Zivilisation“ bezeichnet wird.72 Im christlichislamischen Orient wäre diese Phase bestimmt durch die Kombination zwischen arabischem Nationalismus und islamischem Imperialismus in der frühen Kalifatszeit; im Abendland würde diese Entwicklung mit der französischen Revolution, dem Zeitalter des Nationalismus und des Imperialismus einsetzen und in den Weltkriegen ihren Höhepunkt finden; im Iran entspräche diese Zeit der Machtergreifung der Sassaniden mit ihrer Neuentdeckung iranischen Sendungsbewußtseins; in der Antike dem Imperialismus der hellenistischen Staatenwelt wie auch dem Aufkommen überregionaler nationalistischer Regungen etwa zwischen „Griechen“ und „Italikern“ oder „Aitolern“ und „Achaiern“; in Indien den Auseinandersetzungen der Großstaaten der Zeit vor der Machtergreifung der Gupta, und in China den nationalistischen wie imperialistischen Bestrebungen der „Kämpfenden Staaten“. Der dialektische Gegensatz zwischen Staat und Nation würde dann seinerseits durch die Rückkehr zu einem nunmehr nicht nur personal, sondern auch rationalistisch-föderativ begründeten Reichsgedanken aufgelöst werden, der in sich nicht nur den synthetischen Moment der antithetischen Phase erster Ordnung darstellt, sondern gleichzeitig auch die Synthese erster Ordnung des gesamten Kulturverlaufs und die Rückkehr zum Ursprung, wie wir es in der augusteischen Propaganda vom wiedergekehrten „Goldenen Zeitalter“ finden, in China in der Anknüpfung der Qin- wie der Han-Dynastie an die mythischen Kaiser der Frühgeschichte, im Iran in der Selbstbezeichnung der späten Sassaniden als „Königen der Welt“ und seit Zarathustra vorherbestimmten endzeitlichen Herrscher, im Abendland in der Europäischen Union und ihrer unbewußten Rückkehr zu den Strukturen des Heiligen Römischen Reiches, in Indien in der Selbstangleichung der Gupta an den Urherrscher Prithu, und in der christlich-islamischen Welt in der Berufung der Makedonendynastie auf Constantin oder der Fatimiden auf Alexander und den Mahdismus. 72
Der Begriff „Zivilisation“ soll im vorliegenden Entwurf möglich vermieden werden, da er eine im Denken des 19. Jahrhunderts verankerte dichotomischen Zweiteilung KulturZivilisation impliziert, an der in dieser Form nicht festgehalten werden kann, da die „Zivilisation“ im Spengler’schen Sinn nur das letzte Viertel der Gesamtentwicklung bezeichnet. Es wäre zwar denkbar, den Begriff in das neue System zu überführen, indem man ihn etwa auf den gesamten antithetischen Zyklus ausweiten oder aber nur auf das (synthetische) Endstadium einer jeden Kultur beschränken würde; hierdurch wäre aber für die Argumentation als solche nichts gewonnen, aber unnötigerweise Gelegenheit für mögliche Verwechslungen mit Spenglers Begriffsbelegung gegeben.
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Auch philosophisch ergibt eine solche Untergliederung der Geschichte einzelner Kulturen durchaus Sinn. Die thetische Phase erster Ordnung, welche, wie wir sahen, wesentlich der pragmatisch-spirituellen Frage nach dem metaphysischen Verhältnis von Einem und Vielem, Schöpfer und Welt gewidmet war, würde sich innerlich zunächst untergliedern in eine thetische Phase erster Ordnung, welche sowohl positiv als auch konventionell an der Superiorität des „Einen“ festhalten würde, wie etwa die Genese der Ahura-Mazda-Verehrung, der Einheitsgedanke des Dreifaltigkeitsdenkens der Frühscholastik, die allmähliche Ausformung der griechischen Sagenwelt mit ihrer Superiorität von Zeus und Kronos, die Genese des prophetischen Messianismus des christlich-islamischen Orients, die Brahmana-Auslegung der Veden und der Verehrung des Gottes Shangdi in der frühen chinesischen Geisteswelt Hierauf würde eine gegen diesen Ansatz zielende, antithetische Phase folgen, welche demgegenüber die Existenz des „Vielen“ in den Vordergrund stellen würde; eine Entwicklung, die im Abendland durch den Universalienstreit und die Nominalisten wie auch die Mystiker ebenso illustriert wird wie im Orient durch die Komplexität des Emanationsgedankens, im Iran durch den Einfluß hellenistischer Philosophie wie auch der Mystik der Mithra-Religion, in der Antike durch die homerische Götterwelt, die hesiodische Kosmogonie, die voreleatische Philosophie und die pythagoreische Mystik, in Indien durch den Atheismus eines Carvâka, den Mystizismus der Aranyaka oder die atheistische Ethik eines Buddha, und in China schließlich durch den Gegensatz zwischen Shangdi und dem Himmelsgott Tian wie auch der sich im Yijing niedergeschlagenen Mystik, aus welcher dann die Elementenlehre hervorgehen sollte, Dieser Gegensatz würde daraufhin dadurch seine synthetische Aufhebung finden, daß beide Extreme durch Einbeziehung des denkenden Subjekts mitsamt seiner naturgegebenen Grenzen zunächst idealistisch versöhnt werden, dies aber gleichzeitig zum zunehmend empirisch gefaßten Ausgangspunkt einer neuen dialektischen Phase gemacht wird, welche insgesamt die Antithese erster Ordnung darstellt und unter dem Leitstern rationalistischen, erkenntniskritischen Denkens stehen würde. Eine solche Wende findet sich in der Antike in der Erkenntniskritik eines Heraklit, Parmenides oder Sokrates ebenso verkörpert wie in der europäischen Welt durch die docta ignorantia eines Cusanus und die auf diese folgende Erkenntniskritik eines Descartes, in Indien durch die Bhagavadgita und ihren Übergang in die Brahmasutra des Bâdarâyana, in China durch das Nicht-Wissen des Daoismus wie auch durch das zunehmende Interesse am Ritus, in der frühchristlich-islamischen Kultur durch Augustins Nichtwissen und Boethius Erkenntnisgedanken und im Iran durch die Entdeckung des Gegensatzes von Seele und Geist und der Gnosis. Auf die immer noch wesentlich am Metaphysischen ausgerichtete thetische Erkenntniskritik würde dann eine dieser entgegengesetze, wesentlich ethisch, politisch und materialistisch veranlagte und auf das bessere Verständnis der
404
Spengler heute
„condition humaine“ abzielende Epoche folgen, wie wir sie in der Antike im Streit zwischen der Akademie, dem Peripatos, der Stoa und dem Kepos finden, im Abendland zwischen Vitalismus, Hegelianismus und Materialismus, im Orient zwischen den zahlreichen islamischen Philosophenschulen und v.a. dem Gegensatz zwischen traditionalistischem Hadith-Denken und rationalistischen Mu’taziliten, im Iran zwischen Zrvanismus, Manichäismus, Zindiq, Mazdakiten und Traditionalisten, in Indien zwischen den Vorläufern der „sechs“ hinduistischen Darshana-Schulen und ihrer buddhistischen Gegenparte, und in China zwischen Konfuzianismus und den „100-Schulen“. Hierauf kommt es dann zur Synthese nicht nur der antithetischen Phase erster Ordnung, sondern auch der philosophischen Gesamtentwicklung der jeweiligen Kultur in einer Form idealistischer Dialektik, welche gleichsam unter Einbeziehung des vorherigen Denkens retrospektiv und wesentlich historistisch zum Urgedanken des „Einen“ zurückkehren würde; eine Entwicklung, die im Abendland noch nicht eingetreten ist, in der Antike aber durch Eudoros und den Mittelplatonismus, im Orient durch Alfarabi und Al-Ghazali, in der Han-Zeit durch die Kombination zwischen Konfuzianismus und zahlreichen Bestandteilen der Yin-Yang-Lehre, in Indien durch die Yogâcâra-Schule und im Iran die kanonisierte mazdaische Religionslehre. Diese kurze Darstellung einer Synthese Spengler’scher Geschichtsmorphologie und idealistischer Dialektik muß notgedrungen sehr skizzenhaft und unbestimmt wirken. Dies wird zusätzlich dadurch erschwert, daß zum einen ein jeder dieser solchermaßen dialektisch gefaßten Momente ja in sich immer wieder weiter dialektisch unterteilt werden kann und sich dementsprechend in seiner Komplexität vervielfacht, bis wir schließlich die Ebene rein biographischen Erlebens erreichen, wo Form und Individualität untrennbar miteinander verschmelzen und nur noch antiquarische Deskription, nicht aber apriorische Präskription möglich ist. Während also nach unten hin die Zufälligkeit etwa geographischer, sprachlicher, naturgeschichtlicher oder rein biographischer Gegebenheiten dem Geschichtsphilosophen eine freilich sehr unscharfe Grenze apriorischer Übertragbarkeit idealtypischen Kulturverlaufs auf individuelle Gesellschaften zieht, sind dem Betrachter auch nach oben hin natürliche Grenzen gesetzt. So stellt sich zwangsläufig die Frage, inwieweit die Synthese eines vollständigen kulturellen Zyklus nicht zur These eines weiteren Zyklus werden könnte, der dann seinerseits wesentlich als Antithese zur vorhergehenden Kultur begriffen werden könnte, inwieweit also die hier geschilderte idealtypische Entwicklung einer einzelnen Kultur in sich auch als bloße „These“ betrachtet werden könnte, auf die dann wiederum Antithese und Synthese folgen würden; ein Ansatz, der sich ja in gewisser Weise in Hegels Versuch, die
18 Spengler im 21. Jahrhundert
405
gesamte Menschheitsgeschichte dialektisch zu fassen, niedergeschlagen hat.73 Nun ist eine solche Annahme durchaus verführerisch, würde sie es doch erlauben, aus Spenglers Morphologie und Hegels Dialektik eine Art Antwort auf die alte Frage nach dem Verlauf und somit dem Sinn der Menschheitsgeschichte in ihrer Gesamtheit zu destillieren. Allerdings stellen sich auch einige grundlegende Bedenken sowohl empirischer als auch apriorischer Art. Zum einen ist hervorzuheben, daß sich einzelne, vollständige Kulturverläufe nur dann überzeugend miteinander zu einem dialektischen Schema höherer Ordnung verbinden lassen können, wenn sie in ihrer geographischen, sprachlichen, ethnischen, religiösen und politischen Identität ganz klar und unverwechselbar aufeinander bezogen sind. Nun stellen wir aber zunächst fest, daß die uns bekannten Menschheitskulturen nur in den seltensten Fällen (etwa in der Folge der beiden chinesischen oder mesopotamischen Kulturphasen) dieses Kriterium erfüllen, sondern meist – trotz aller ethnischen und sprachlichen Kontinuität – recht unterschiedliche Schwerpunkte aufweisen, sich zeitlich wie räumlich oft genug eher überlappen als einander zu folgen, und zudem die vielfältigsten äußeren Anregungen in ihre eigene Dynamik einfließen lassen, anstatt eine ausschließliche privilegierte Beziehung zu einer einzigen anderen Kultur zu pflegen. Ferner sehen wir auch, daß einige Menschheitskulturen wie etwa die iranische oder indische offensichtlich überhaupt keine solchen unmittelbaren hypothetischen „Nachfolgekulturen“ hervorgebracht haben. Und schließlich muß die Frage erlaubt sein, inwieweit eine Kultur in ihrer Gesamtheit mitsamt ihrem ganz eigenen, unverwechselbaren wie auch unvermittelbaren „Weltbild“ tatsächlich den formalen Kriterien entspricht, als Element dialektischen Fortschreitens begriffen zu werden und aus sich die anderen Momente der Dialektik hervorzurufen, also als „These“ einer „Antithese“ zu fungieren, sind diese Etappen historischer Dynamik doch wesentlich formaler, nicht inhaltlicher Art. Während also die Entwicklung eines kulturübergreifenden dialektischen morphologischen Schemas sich offensichtlich in der Empirie der uns bekannten Geschichte nicht nachweisen läßt, ergibt sich auch apriorisch das Problem des unbegrenzten Regresses. Da es ebensowenig Sinn machen würde, die Dialektik in die kleinsten wie auch in die größten Zeit- und Gesellschaftsmaßstäbe zu projizieren, stellt sich die Frage nach den naturgegebenen Grenzen einer jeden kulturmorphologischen Dialektik und führt zu der Vermutung, daß der 73
In dieser Hinsicht sei ein weiterer Verweis auf die Arbeit von Thomas Wangenheim (2013) gestattet, mit dessen ebenfalls von Spengler ausgehenden Ansatz mich viele Elemente verbinden, wohl ebensoviele aber auch trennen, nicht zuletzt die dortige Annahme eines Dreischrittes „Ägypten-Antike-Abendland“, dem meines Erachtens entgegensteht, daß sich zum einen die Antike erheblich weniger auf das pharaonische Ägypten als vielmehr auf die (zweite) mesopotamische wie auch die iranische Kultur bezieht, und daß sich zum andern das Abendland eben nicht in ausschließlichem Bezug zur Antike entwickelt hat, sondern vor allem der christlich-islamischen Kultur des 1. Jahrtausends.
406
Spengler heute
Ausdehnung dialektisch aufeinanderbezogener gesellschaftlicher Entwicklungen wohl ebensolche Grenzen gesetzt sind wie etwa der Größe einzelner Lebewesen, läßt sich doch auch diese theoretisch beliebig ausdehnbar vorstellen, stößt aber in ihrer praktischen Entwicklung an Unter- wie Obergrenzen, die nicht den Gesetzen der Biologie, sondern jenen der konkreten Praktikabilität und Überlebensfähigkeit geschuldet sind.
18.6
Schluß
Zusammenfassend ist festzuhalten, daß vorliegender Beitrag vor dem Hintergrund argumentierte, die Geschichtsmorphologie Oswald Spenglers sei keineswegs als rein philosophiehistorisch bedeutsames, ansonsten aber weitgehend museales Objekt zu begreifen, sondern als ein im Kern auch heute noch immer aussagekräftiger und durch die Ereignisse nicht grundsätzlich falsifizierter Ansatz zum Verständnis der Weltgeschichte, wie ja ohnehin dem gegenwärtigen Niedergang geschichtsphilosophischen Denkens auf das schärfste entgegenzutreten ist.74 Unter diesem Blickwinkel wurde versucht, in aller Kürze die wesentlichen Aspekte zu bestimmen, welche eine materielle Korrektur bzw. methodologische Modifizierung der Argumentation des „Untergangs des Abendlandes“ erfordern würden, und zu skizzieren, wie eine solche in Umrissen aussehen könnte, wobei v.a. die kritische Diskussion der Zahl und Datierung der menschlichen Hochkulturen, das Verständnis der Gegenwart in Analogie zur Mittelmeerwelt des 1. vorchristlichen Jahrhunderts und schließlich der Versuch einer dialektischen Unterfütterung Spenglers im Mittelpunkt unserer Überlegungen standen. Es dürfte dabei aber wohl auch klar geworden sein, daß das Resultat einer solchen systematischen Überarbeitung der Spengler’schen Geschichtsmorphologie zwar keine wesentliche Infragestellung der Hauptzüge des Systems darstellen würde, aber doch eine mit erheblichem argumentativen Aufwand verbundene Revision, welche sich, um philosophisch wie historisch haltbar zu sein, nicht auf eine gewissermaßen annotierte Neuausgabe des „Untergangs“ beschränken dürfte, sondern eine ebenso systematische wie gleichberechtigte Darstellung sämtlicher menschlicher Kulturen liefern müßte, um letztendlich einen Anspruch auf Gültigkeit erheben zu können.
74
Engels 2015a.
18 Spengler im 21. Jahrhundert
18.7
407
Tabellen
Zur Verdeutlichung des oben aufgeführten Systems habe ich mich bemüht, im Anschluß an diesen Aufsatz skizzenhaft einige Daten zusammenzustellen, welche besagte Entwicklung bis in eine dialektische Aufsplitterung dritter Ordnung nachzuvollziehen suchen, um die bei Spengler meist nur vitalistischintuitiv suggerierte Zwangsmäßigkeit der einzelnen geistigen und politischen Evolutionen um eine apriorisch-metaphysische Komponente zu ergänzen. Die Wahl der entsprechenden Kulturen (es handelt sich um die altchinesische, antike, indische, iranische, frühchristlich-islamische und abendländische Gesellschaft) entspricht dabei sowohl dem Bedürfnis nach größtmöglicher chronologischer und geographischer Streuung als auch dem Wunsch, zur Entzerrung der bei Spengler vermischten orientalischen und iranischen Kulturwelt beizutragen. Freilich müßte diese rein provisorische Zusammenstellung einiger Daten, Namen und Entwicklungen – eine ausführlichere Explizierung würde den gegebenen Rahmen bei weitem sprengen – zunächst ebenso systematisch wie sorgfältig und quellennah auf alle weiteren, eingangs aufgeführten Kulturen übertragen werden, bevor eine weitgehende Allgemeingültigkeit beansprucht werden könnte, so daß es sich bei diesem Versuch einer Übertragung des apriorisch gewonnenen Musters auf die Realität der Geschichte nur um eine erste Skizze handelt, die wahrscheinlich in vielen Details noch zu modifizieren sein wird.
SYNTHESE
Geistig: Verstand (Materialismus vs. Mystik) Politisch: Konstruktion (repressiv. vs. permissiv)
ANTITHESE
Pol.: Reich, Geist: Einheit
Geistig: Vernunft (Spirituellpragmatisch) Politisch: Tradition (Brauch und Praxis)
Winter Alter
Antithese
Synthese
Pol.: Imperialismus Geist: Menschheit
Herbst / Reife
Sommer Jugend
Spenglers Lebensalter Frühling Kindheit
Synthese / These Pol.: Staat Geist: Erkenntnis
Pol.: Stand Geist: Vielheit
Antithese
Dialektik 2. Ordnung These
Dialektik 1. Ordnung THESE
Altchinesische Kultur
Antithese Synthese
Synthese / These
Synthese / These Antithese
Antithese
Synthese / These
Antithese
Dialektik 3. Ordnung These
350 200
481
640
770
910
1046
1220
1400
Weltstaat (Han)
Imperialismus (Legalismus), Nationalismus (Fremdenvertreibungen)
Staatsgedanke (Einzelstaaten)
Standesgedanke (Clan)
Politisch Dialektik 2. Ordnung Reichsgedanke (Opferkönigtum)
Shang Yang Qin / Han
Kämpfende Staaten
Fürstenkongresse
FengjianFeudalismus Östl. Zhou
Westl. Zhou
Shang (Anyang)
Dialektik 3. Ordnung Shang (Erligang)
Geschichtsgedanke
Menschlichkeitsgedanke (ren)
Erkenntnisgedanke (Li)
Vielheitsgedanke (Tian)
Geistig Dialektik 2. Ordnung Einheitsgedanke (Shangdi)
100 Schulen HanKonfuzianismus
Konfuzius / Mencius
Daoismus
Ritualismus
Yijing
Himmlisches Mandat
Orakelknochen
Dialektik 3. Ordnung Shangdi
408 Spengler heute
SYNTHESE
Geistig: Verstand (Materialismus vs. Mystik) Politisch: Konstruktion (repressiv. vs. permissiv)
ANTITHESE
Winter Alter
Antithese Pol.: Imperialismus Geist: Menschheit
Synthese
Herbst Reife
Synthese / These Pol.: Staat Geist: Erkenntnis
Pol.: Stand Geist: Vielheit
0
125
Antithese Synthese
300
425
550
675
800
925
1050
Synthese / These
Synthese / These Antithese
Antithese
Synthese / These
Antithese
Sommer Jugend
Antithese
Pol.: Reich, Geist: Einheit
Dialektik 3. Ordnung These
Geistig: Vernunft (Spirituellpragmatisch) Politisch: Tradition (Brauch und Praxis)
Spenglers Lebensalter Frühling Kindheit
Dialektik 2. Ordnung These
Dialektik 1. Ordnung THESE
Antike Kultur
Weltstaat (Imperium)
Imperialismus (Koina), Nationalismus („Griechen“, „Italiker“)
Staatsgedanke (Demos)
Standesgedanke (Kalokagathia)
Politisch Dialektik 2. Ordnung Reichsgedanke (Achäer, Agamemnon)
Popularen vs. Optimaten Caesar / Principat
Argeaden / Antigoniden
Solon / Peisistratos Demokratie vs. Timokratie
Homerischer König (Odyssee) / Wahlkönigtum Drakon, Lykurg
Dialektik 3. Ordnung „Dor. Wanderung“, „Agamemnon“ Dark Ages
Geschichtsgedanke
Menschlichkeitsgedanke (Eleutheria)
Erkenntnisgedanke (Ideen)
Vielheitsgedanke (Kosmogonien)
Geistig Dialektik 2. Ordnung Einheitsgedanke (Zeus, Kronos)
Antiochos v. Askalon / Eudoros
Hellenistische Schulen
Platon / Aristoteles
Sophisten vs. Sokrates
Pythagoräer vs. Naturphilosophen Heraklit / Parmenides
Homer / Hesiod
Orphik?
Dialektik 3. Ordnung Anthropomorphismus
18 Spengler im 21. Jahrhundert 409
SYNTHESE
Geistig: Verstand (Materialismus vs. Mystik) Politisch: Konstruktion (repressiv. vs. permissiv)
ANTITHESE
Pol.: Reich, Geist: Einheit
Geistig: Vernunft (Spirituellpragmatisch) Politisch: Tradition (Brauch und Praxis)
Winter Alter
Pol.: Staat Geist: Erkenntnis Antithese Pol.: Imperialismus Geist: Menschheit
Synthese
Herbst Reife
Sommer Jugend
Spenglers Lebensalter Frühling Kindheit
Synthese / These
Antithese Pol.: Stand Geist: Vielheit
Dialektik 2. Ordnung These
Dialektik 1. Ordnung THESE
Indische Kultur
350
200
Antithese
Synthese
50
100
Synthese / These
Antithese
250
400
Antithese Synthese / These
550
700
850
Synthese / These
Antithese
Dialektik 3. Ordnung These
Weltstaat (Chakravartin)
Imperialismus (Rajadiraja), National. (Inder vs. Fremde)
Staatsgedanke (dharma)
Standesgedanke (Kshatriya-Adel)
Politisch Dialektik 2. Ordnung Reichsgedanke (Pferdeopfer)
Samudragupta / Chandragupta II.
Khatrapa, Satavahana
Saka / Kushan
Graeco-bactrische Herrschaften
BarhadrathaDynastie / Haryanka-Dynastie Shishunaga-Adel vs. Nanda-Offiziere Chandragupta I. / Asoka
Dialektik 3. Ordnung Arische Einwanderung, „Prithu“ Kastenordnung
Geschichtsgedan ke
Menschlichkeitsgedanke (Leere)
Erkenntnisgedanke (Denken)
Vielheitsgedanke (Nicht-Selbst)
Geistig Dialektik 2. Ordnung Einheitsgedanke (Ritualismus)
Nyaya-Sutras d. Akṣapāda, Mahâvibhâsha, Prajñâpâramitâ, Jaimini Nâgârjuna, YogâcâraSchule
Vishnuismus / Vaisheshika d. Kanada
Lokâyata d. Carvâka, Vatsiputra Bhagavadgita / Brahmasutra d. Bâdarâyana Mîmâmsâ-Schule
Kapila / Buddha, Mahavira
Dialektik 3. Ordnung Brahmana-Auslegung der Veden, “Manu“ ParshvanathaJainismus; Aranyaka, Upanishaden, Aruni
410 Spengler heute
SYNTHESE
Geistig: Verstand (Materialismus vs. Mystik) Politisch: Konstruktion (repressiv. vs. permissiv)
ANTITHESE
Geistig: Vernunft (Spirituellpragmatisch) Politisch: Tradition (Brauch und Praxis)
Dialektik 1. Ordnung THESE
Iranische Kultur
Synthese
Pol.: Imperialismus Geist: Menschheit
Pol.: Staat Geist: Erkenntnis Antithese
Synthese / These
Pol.: Stand Geist: Vielheit
Winter Alter
Herbst Reife
Synthese
Antithese
Synthese / These
Antithese
Synthese / These
Antithese
Synthese / These
Sommer Jugend
Antithese
Dialektik 3. Ordnung These Antithese
Spenglers Lebensalter Frühling Kindheit
Pol.: Reich, Geist: Einheit
Dialektik 2. Ordnung These
531
380
224
+50
-100
200
300
425
550
Weltstaat (Kg. der Welt)
Imperialismus (Kg. v. Eran & Aneran), Nationalismus (Hephthaliten, Kidariten)
Staatsgedanke (Kg. der Könige)
Standesgedanke (Der große König)
Politisch Dialektik 2. Ordnung Reichsgedan-ke (Großkg.)
Chosroes I. & II.
Mazdakiten
Artabanos IV. / Ardashir I.
Abhängigkeit von Rom
Feudalisierung, Abfall Osten Antiochos VII. / Mithridates II.
Alexander / Seleukiden und Frataraka
Großer Satrapenaufstand
Dialektik 3. Ordnung „Meder“, Achaimeniden
Geschichtsgedanke
Menschlichkeitsgedanke (Kosmischer Kampf)
Erkenntnisgedanke (Geist-SeeleAntagonismus)
Vielheitsgedanke (Iranisch-antiker Polytheismus)
Geistig Dialektik 2. Ordnung Einheitsgedanke Ahura Mazda
Mazdakiten, Zrvanismus, Zindiq Mazdaische Staatsreligion
Mani / Kardir, Schule von Gundishapur
Gnosis
Iranische MithraVerehrung Zoroastr. Renaissance
Dialektik 3. Ordnung „Zarathustra“, ProtoDualismus Ahura Mazda vs. Ahriman Theologische Differenzierungen der Magier Hellenistischer Synkretismus
18 Spengler im 21. Jahrhundert 411
SYNTHESE
Geistig: Verstand (Materialismus vs. Mystik) Politisch: Konstruktion (repressiv. vs. permissiv)
ANTITHESE
Pol.: Reich, Geist: Einheit
Geistig: Vernunft (Spirituellpragmatisch) Politisch: Tradition (Brauch & Praxis)
Winter Alter
Antithese
Synthese
Pol.: Imperialismus Geist: Menschheit
Herbst Reife
Sommer Jugend
Spenglers Lebensalter Frühling Kindheit
Synthese / These Pol.: Staat Geist: Erkenntnis
Antithese Pol.: Stand Geist: Vielheit
Dialektik 2. Ordnung These
Dialektik 1. Ordnung THESE
Frühchristlich-islamische Kultur
Antithese Synthese
Synthese / These
800 910
640
490
330
160
Antithese Synthese / These Antithese
0
160
330
Synthese / These
Antithese
Dialektik 3. Ordnung These
Weltstaat (Sunna)
Imperialismus (Kalifat), Nationalismus (dhimmi)
Staatsgedanke (Basileia)
Standesgedanke (Apostolat, Martyrium)
Politisch Dialektik 2. Ordnung Reichsgedanke (Messias)
Zerfall Abbasidenreich Fatimiden, Seldjuken, Makedonen
Justinian / Mohammed
Constantin / Theodosius Circusparteien
Staatsablehnung
Marc Anton / Augustus
Makkabäer Parther
Dialektik 3. Ordnung Alexander, Diadochen
Geschichtsgedanke
Menschlichkeitsgedanke (Fiqh)
Erkenntnisgedanke (Nichtwissen)
Vielheitsgedanke (Emanationslehre)
Geistig Dialektik 2. Ordnung Einheitsgedanke (Gott / Prophet)
Mu’taziliten Al-Farabi, AlGhazali
Simplicius / Falsafa, Hadith
Kirchenväter Neuplatoniker Proklos / Augustin Boethius Dionysios Areopagita
Christus / Paulus
Dialektik 3. Ordnung Chassidim, Messianismus Essener, Qumran
412 Spengler heute
SYNTHESE
Geistig: Verstand (Materialismus vs. Mystik) Politisch: Konstruktion (repressiv. vs. permissiv)
ANTITHESE
Geistig: Vernunft (Spirituellpragmatisch) Politisch: Tradition (Brauch und Praxis)
Dialektik 1. Ordnung THESE
Winter Alter
Antithese Pol.: Imperialismus Geist: Menschheit
Synthese
Herbst Reife
2100
1950
Antithese Synthese
1800
1650
1500
Synthese / These
Synthese / These Antithese
1350
Antithese
Synthese / These Pol.: Staat Geist: Erkenntnis
1200
Synthese / These
Sommer Jugend
1050
900
Antithese Pol.: Stand Geist: Vielheit
Dialektik 3. Ordnung These Antithese
Spenglers Lebensalter Frühling Kindheit
Pol.: Reich, Geist: Einheit
Dialektik 2. Ordnung These
Abendländische Kultur
Weltstaat (Globalisierung)
Imperialismus, Nationalismus
Staatsgedanke (Raison d’État)
Standesgedanke (Lehnswesen)
Politisch Dialektik 2. Ordnung Reichsgedanke (Hl. Röm. Reich)
Liberalismus vs. Totalitarismus EU und USA
Vernunftstaat Preußen / franz. Nationalstaat
Habsburger vs. Goldene Bulle Karl V. / Reformation Absolutismus vs. Habeas Corpus
Friedrich II. / Interregnum
Investiturstreit, Papst vs. Kaiser
Dialektik 3. Ordnung Ottonen
Geschichtsgedanke
Menschlichkeitsgedanke (Freiheit)
Erkenntnisgedanke (Erkenntniskritik)
Vielheitsgedanke (Universalienstreit)
Geistig Dialektik 2. Ordnung Einheitsgedanke (Trinität)
Vitalismus vs. Materialismus
Vico, Hegel / Hegelianismus
Nominalisten vs. Mystiker Cusanus / Renaissancephilosophie Descartes vs. Spinoza vs. Leibniz
Joachim von Fiore / Thomas von Aquin
Anselm vs. Petrus Damiani
Dialektik 3. Ordnung Notker, Frühscholastik
18 Spengler im 21. Jahrhundert 413
19
Überlegungen zu einer neuen komparatistischen Geschichtsphilosophie „… ut in rebus longe dissitis ac diversis similes videant rationes.“ Giambattista Vico
19.1
Einleitung
Noch nie in der Geschichte war das historische Wissen der Menschheit so umfangreich; noch nie waren die technologischen Mittel zur Erschließung des gewaltigen Datenmaterials so fortgeschritten; noch nie war die weltweite Universitätslandschaft so breit ausgebildet; noch nie waren die geistigen Bedingungen so günstig für weltoffene Neugierde und kritische Introspektion. Wenn also je in der Geschichte alle Rahmenbedingungen für die Entwicklung einer neuen, umfassenden und von der Frühzeit bis in die Gegenwart reichenden komparatistischen Synthese gegeben waren, dann heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Was aber erleben wir in der Realität? Es bestehen zwar zahlreiche anregende Ansätze zu interdisziplinärer, diachronischer und komparatistischer Arbeitsweise, und in zahlreichen Einzelgebieten, hierbei vor allem auf dem Gebiet der Imperienforschung, wurden paradigmatisch wichtige methodische Erkenntnisse gewonnen, die sich mit Erfolg auch auf andere Fachbereiche anwenden lassen könnten. Trotzdem aber, so scheint mir aus meiner alltäglichen Erfahrung, haben diese Studien noch nicht den ihnen gebührenden wissenschaftlichen Platz erobern können, ist doch von Seiten vieler Historiker eine gewisse Berührungsangst mit übergeordneten, gesamthistorischen Fragestellungen nicht zu verkennen, was sicherlich auch erklärt, wieso die vielversprechenden Deutungsansätze der meisten modernen Geschichtsphilosophen, allen voran Spengler und Toynbee, in der aktuellen Forschung weitgehend ignoriert werden, ohne eine andere als eine rein ideologische Besprechung erfahren zu haben. Die Gründe hierfür sind offensichtlich. So versteht sich die Geschichtswissenschaft seit den großen Entdeckungen des 19. Jahrhunderts zunehmend als ein „offenes“ Fach, eine Art „Work in Progress“, dem daher jegliche Zusammenfassung und Systematisierung übereilt wirken muß. Außerdem hat die Fülle der verfügbaren Informationen, Methoden und Fragestellungen ein solches Maß an Spezialisierung hervorgebracht, daß es auch logistisch schier unmöglich
416
Spengler heute
scheint, eine erschöpfende Übersicht über das Gesamtmaterial zu erarbeiten. Und ferner ist das Trauma politischer Instrumentalisierung geschichtsphilosophisch begründeter Theorien immer noch tief im Unterbewußten der Historiker verwurzelt und bewirkt großes Unbehagen angesichts eines jeglichen übergeordneten historischen Unterfangens, sobald es von der deskriptiven auf die prospektive Ebene wechselt. Aber schließlich, und wohl am bedeutsamsten, ist in aller Ehrlichkeit festzuhalten, daß eine Betrachtungsweise, welche wesentliche Teile der Weltgeschichte als durch eine gewisse Anzahl apriorisch gegebener Gesetze regiert sieht, dem gegenwärtigen, systematisch auf „Entgrenzung“ (im weitesten Sinne des Wortes) bedachten Zeitgeist, dem allein schon der Gedanke an die Möglichkeit einer inneren wie äußeren Begrenzung individueller wie kollektiver Freiheit unerträglich sein muß, fundamental entgegengesetzt ist. Das Resultat dieser Berührungsangst ist unvermeidlich: Die Geschichtswissenschaft, ängstlich auf Empirie, Spezialisierung und ideologische Unanfechtbarkeit bedacht, hat sich in vielen Fällen zu einer Disziplin gewandelt, welche zwar Wissen generiert und sammelt, seine Deutung aber anderen überläßt, so daß dort, wo in früheren Zeiten Historiker das Wort ergriffen, wenn es galt, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen, nunmehr als Geschichtsdeuter zunehmend Politiker, Journalisten oder Essayisten hervortreten, die sowohl in Bezug auf ihre historischen Fachkenntnisse als auch ihre Objektivität alles andere als über jeden Verdacht erhaben sind. Dies ist umso bedauerlicher, als auch die an der Geschichte interessierte Öffentlichkeit zunehmend nach historischer Zusammenschau verlangt. So ist zum einen die Frage nach dem, was kulturelle Identität eigentlich ausmacht und von anderen abgrenzt, aktueller denn je, während zum anderen der Wunsch, das zu definieren, was uns als Menschen historisch verbindet, immer größere Kreise beschäftigt. Und so vergeht denn kaum ein Monat ohne die Veröffentlichung weiterer populärwissenschaftlicher diachronischer Abhandlungen, welche in nahezu herodoteischer Naivität „große“ Prozesse, „große“ Reiche, „große“ Frauen, „große“ Herrscher, „große“ Schlachten oder „große“ Revolutionen angeblich vergleichen, meist aber nur unkritisch nebeneinanderstellen, so daß der übergeordnete Erkenntnisgewinn meist gegen null tendiert. Es ist – so das Postulat des vorliegenden Beitrags – nicht nur eine Chance, sondern geradezu eine Pflicht der modernen Altertumswissenschaft, sich dieser Sachlage zu stellen und über Einzelstudien hinaus allmählich auch eine trennscharfe, methodisch selbstreflexive Wissenschaft des historischen Vergleichs zu generieren, um den Boden für eine künftige, umfassende Geschichtsschau vorzubereiten und somit einen erneuten geistesgeschichtlichen Erkenntnissprung von der historischen Spezialwissenschaft zu einer neuen, wahrhaft humanistischen Geschichtsschreibung zu ermöglichen, ganz nach der auch auf die Historiker anzuwendenden Definition, welche Giambattista Vico
19 Eine neue komparatistische Geschichtsphilosophie
417
einmal in „De nostris temporis studiorum ratione“ (1708) gab: „Facultas philosophorum propria est, ut in rebus longe dissitis ac diversis similes videant rationes.“ Im folgenden werde ich versuchen zu zeigen, wie sich durch eine neue Auseinandersetzung mit den grundlegenden Thesen und Einsichten, aber auch den Fehlern von Hegel, Spengler, Toynbee und Hösle die Grundlinien eines solchen Programms verwirklichen lassen könnten, wenn auch zu betonen ist, daß es sich hierbei nur um eine zwar durch viele Vorarbeiten gestützte, aber doch immer noch sehr provisorische Übersicht handelt, die letztlich nur durch eine monographische Behandlung adäquat gestützt werden kann.
19.2
Theoretische Verortung
Doch zunächst eine kurze, wenn auch grundsätzliche Bemerkung zur leidigen Frage, inwieweit eine umfassendere komparatistische Theorie im Wissenschaftsbetrieb des 21. Jahrhunderts überhaupt noch einen Platz beanspruchen könne. So sei zunächst betont, daß es bei vorliegenden Überlegungen weder um „Geschichtsphilosophie“ im Sinne privaten Moralisierens oder exemplarischer politischer Handlungsanleitung gehen soll, noch um eine rein empirischpragmatisch verortete Theoriebildung, sondern um den – sicherlich ehrgeizigen – Versuch, den Charakter der Geschichte als „offener“ Disziplin und der Geschichtstheorie als falsifizierbarer Wissenschaft zwar zu wahren, gleichzeitig aber erneut zu postulieren, daß Geschichte als die ultimative Wissenschaft vom Menschen, wie bereits von Thukydides formuliert, es notwendigerweise auch mit ständig wiederkehrenden Mustern zu tun hat, deren vergleichende Analyse nicht nur die Ausformulierung einer pragmatischen Kategorisierung historischen Handelns ermöglicht, sondern gleichzeitig auch im höchsten Grade aussagekräftig für die menschliche Natur in ihrer individuellen wie kollektiven Entwicklung an sich ist. Somit greift aber auch das Popper’sche Vorurteil, jegliche Art apriorischen Geschichtsdenkens sei insgesamt abzulehnen, weil Geschichte sich nicht vorherbestimmen ließe, sondern prinzipiell „offen“ sei, erheblich zu kurz. Denn zum einen ist auch diese Position eine eminent geschichtsphilosophische in demselben Sinn, als, um ein polemisches Bild zu bemühen, ja auch etwa der Atheismus letztlich ein genuin theologisches Postulat ist und bleibt. Zum anderen ist die vielgerühmte „Offenheit“ der Geschichte eher eine ideologische Forderung an die Zukunft als eine Folgerung aus der Realität der Vergangenheit, läßt sich doch nur unter grober Außerachtlassung der überwältigenden Mehrzahl unserer historischen Evidenz leugnen, daß menschliches Handeln nicht etwa nur marginal, sondern vielmehr grundlegend durch das Denken, Fühlen und Handeln in jenen sprachlichen, religiösen, gesellschaftlichen,
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Spengler heute
wirtschaftlichen und sonstigen kulturellen Kategorien geprägt ist, die dem Einzelmenschen durch Erziehung und Umwelt zuwachsen. Und so sehr auch das Leben des Einzelmenschen nie gänzlich vorherbestimmbar ist, so vergleichsweise stabil ist doch die Logik der Entwicklung jener überindividuellen Strukturen, die sein Handeln bestimmen und demnach als der eigentliche Generalbaß der Geschichte erscheinen; ein Paradoxon, das ja bereits Kant klassisch formulierte, als er feststellte, daß sich zwar Geburt, Verheiratung oder Tod des Einzelmenschen nicht vorhersagen lassen, die jährliche statistische Summierung der Einzelfälle jedoch eine fast naturwissenschaftliche Regelhaftigkeit und Konstanz aufweist. Gerade diese Überlegungen aber führen uns zu unserer grundsätzlichen Fragestellung zurück, nämlich zur Notwendigkeit einer neuen komparatistischen Herangehensweise an das Phänomen der Geschichte. Denn der „Vergleich“ ist nicht nur ein Mittel der Geschichtswissenschaft unter vielen anderen; er ist ihre wahre Essenz. Wer von vornherein jeglichen Vergleich ausschließt, leugnet damit nicht nur jede Sinnhaftigkeit von Geschichtsforschung, sondern eigentlich die Geschichte an sich, deren Kontinuum und somit essentielle Ganzheit durch die Negierung eines tertium comparationis von vornherein ausgeschlossen wird. Nun muß freilich eingestanden werden – und dies trennt uns Heutige sicherlich vom naiven Vertrauen der Universalgelehrten des 18. und 19. Jahrhunderts –, daß die Entwicklung einer ebenso tragfähigen wie wissenschaftlich sauberen und jederzeit falsifizierbaren Grammatik der Geschichte die Kräfte eines Einzelnen bei weitem übersteigt und nur in zahlreichen Einzelprojekten und Kooperationen unternommen und schrittweise vorangetrieben werden kann. Gleichzeitig muß allerdings auch erwähnt werden, daß zumindest die Entwicklung einer in sich schlüssigen und sowohl apriorisch begründeten wie empirisch verifizierbaren Ausgangshypothese immer zunächst das Werk eines Einzelnen bzw. einer kleinen Forschungseinheit sein wird. Das generelle Ziel ist dabei weder bloße Geschichtskontemplation im Sinne eines rein vergeistigten Glasperlenspiels, wie es etwa Hermann Hesse skizzierte, noch eine philosophisch verbrämte Legitimation von Vitalismus und Imperialismus, wie wir sie bei Spengler finden, sondern vielmehr eine stetig vertiefte Sammlung zusammenhängender komparatistischer Muster, die mehr ist als bloße Deskription, aber sich auch jeglicher Präskription enthält, und auf diese Weise das alte Dilemma der Frage löst, ob und wie man aus der Geschichte zu lernen vermöchte. Denn ebensowenig, wie das Verstehen der Naturgesetze es ermöglicht, diese durch bloßen Verstandesakt außer Kraft zu setzen, erlaubt das Studium der Geschichte, die der Historie zugrundeliegende Dynamik irgendwie „aufzuheben“, sondern lediglich, realistische und historisch sinnvolle Entscheidungen zu treffen, die im Rahmen der gegebenen Prozesse und Abläufe die größten Chancen haben, sich, an gewissen Kriterien gemessen, als sinnvoll zu erweisen.
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19.3
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Zwei Grundpostulate
Eine jede seriöse komparatistische Geschichtsbetrachtung hat sich somit zwei grundsätzlichen Fragen zu stellen: Was ist ihr Studienobjekt, und was ist das Grundgesetz, das die historische Entwicklung dieses Objekts bestimmt. Beide Fragen wurden in den letzten Jahrhunderten trotz verschiedenster Ansätze in solcher Einhelligkeit beantwortet, daß es erstaunlich ist, daß eine Systematisierung dieser Erklärungsversuche bislang bis auf wenige Ausnahmen unterblieben ist. Was die Frage nach der Dynamik der Weltgeschichte betrifft, so lassen sich erste Ansätze bereits im dialektischen Modell Heraklits, Pythagoras’, Platons und Xenokrates’ ausmachen, die dann über Plotin und Cusanus bis zu Hegel, Schelling, Brentano, Weber und Horkheimer / Adorno reichen und kürzlich von Hösle in fruchtbarstem Maße wiederbelebt wurden. Das logische Grundpostulat ist sehr einfach: Auf jede einfache Aussage folgt die Annahme des jeweiligen Komplementär- (nicht Gegensatz-)begriffs, worauf es dann in einer dritten Phase zur synthetischen Aufhebung beider Grundmomente unter einem neuen, übergeordneten Blickwinkel kommt. Dieser Dreischritt – man nenne ihn nun abstrakten, dialektischen und spekulativen Moment, Sein, Nichts und Werden oder These, Antithese und Synthese – gilt dabei, so das Postulat, nicht nur für geistesgeschichtliche, sondern auch für gesellschaftliche Phänomene und liegt damit so unterschiedlichen, universalhistorischen Tendenzen zugrunde wie der Entwicklung von der Dogmatik über den Skeptizismus hin zum Idealismus oder der Evolution vom charismatischen Personenverband über den eigengesetzlichen Territorial- oder Stadtstaat hin zum autoritären bürokratischen Universalreich, wobei jeder einzelne der drei Schritte natürlich wiederum in analoge Bewegungen oder Tendenzen aufgeteilt werden kann und somit differenzierteste Betrachtungsebenen erlaubt. Einmal mehr gilt, daß, wer eine selbstbestimmte Entwicklung des Geistes, die sich eben nicht nur in religiösen oder philosophischen, sondern auch historischen Fragen niederschlägt, leugnet und an ihre Stelle ein mehr oder weniger beliebiges Fortschreiten des Geistes setzt, sich der klassischen Aporie aussetzt, als absolutes Gesetz eben ein relatives anzunehmen und sich somit in eine unlösliche Inkohärenz zu verstricken. Nur wer ein vom kleinsten ins größte gehendes, vereinheitlichtes Weltgesetz annimmt, das eben nicht nur für die Naturwissenschaften gilt, sondern auch für den geistigen Bereich, kann einen wahren, geschichtsphilosophischen Deutungsanspruch an das Gesamtmaterial der Weltgeschichte erheben; alle Versuche, durch scheinbaren Pragmatismus oder gar Bescheidenheit angeblich „ergebnisoffene“ Resultate zu erzielen, müssen langfristig an der inneren Aporie zwischen mangelnder übergeordneter metaphysischer Fundamentierung und überdehntem, da nicht in sich selbst begründetem wissenschaftlichem Selbstanspruch scheitern.
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Was nun die Frage nach den möglichen Studienobjekten der historischen Komparatistik betrifft, so wäre es banal, hier alle verschiedenen zur Verfügung stehenden Antworten zu geben, welche vom biographischen Ansatz über die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppierungen bis hin zur Weltgeschichte reichen. Grundsätzlich ist aber auf die von Seneca über Bacon, Vico, Herder, Goethe, Danilewski, Spengler, Toynbee, Sorokin bis hin zu Lévi-Strauss vertretene Annahme zu verweisen, daß ein gesellschaftlicher Körper, im Kleinsten wie im Größten, immer mehr ist als die bloße Summe seiner Bestandteile und daß er als eine solche übergeordnete Entität zumindest eine Zeitlang eine eigengesetzliche Beschreibung und Vergleichbarkeit mit anderen, derselben Definition genügenden Körpern ermöglicht. Freilich wäre es naiv zu leugnen, daß jene Gesellschaftskörper vielfältigen äußeren Einflüssen unterliegen, und gerade die in den letzten Jahren so prominent betriebenen Studien zu antiken Kulturkontakten haben klar gezeigt, daß es nicht harte Grenzen, sondern breite Übergangszonen sind, welche diese verschiedenen Einheiten voneinander trennen. Nichtsdestoweniger folgt schon, jenseits des sterilen Perspektivenstreits der Essentialisten und Konstruktivisten, aus der jeweiligen äußeren religiösen, geistigen, politischen oder gesellschaftlichen Grunddefinition jener gesellschaftlichen Betrachtungseinheiten ihre zeitweilige innere Stabilität, solange diese Definition anwendbar bleibt, und somit immer auch ein dementsprechendes eigen- und nicht fremdgesetzliches Verhalten. Auch vor dem Hintergrund der inneren, historischen Selbstwahrnehmung vergangener Gesellschaften macht eine solche Essentialisierung jener historischen Subjekte durchaus Sinn, vor allem, wenn es um kollektive Identitäten geht: Ihre Existenz unter Verweis auf ihre „Konstruiertheit“ oder „Offenheit“ zu negieren, bedeutet, die Vergangenheit besser kennen zu wollen, als die Menschen der Vergangenheit sich selbst zu kennen glaubten. Für Chinesen, Inder, Iraner, Griechen oder Ägypter war ihre Unterschiedlichkeit im Vergleich zu den anderen, scheinbar „barbarischen“ Kulturen essentiell, zumindest während einer nicht unbeträchtlichen Zeit ihrer jeweiligen Entwicklung. Anzunehmen, daß diese wenn auch noch so „konstruierte“ Selbstwahrnehmung keinerlei bestimmenden, ja entscheidenden Einfluß auf die innere Entwicklung der jeweiligen Gesellschaft hatte, würde von einer Naivität zeugen, welche Ideal und Wirklichkeit, Normativität und Realität verwechselt und, wie wohl kurz vorweggenommen werden darf, typisch für eine jede spätzeitliche Perspektive ist. Die Fusion beider quasi apriorischer Grundlagen historischer Dynamik und gesellschaftlicher Phänomenologie ermöglicht nun eine vereinheitlichte Theorie komparatistischen Forschens dergestalt, daß sie sowohl eine sinnvolle Beschreibung dynamischer Zusammenhänge innerhalb einer gegebenen gesellschaftlichen Einheit als auch eine methodisch trennscharfe Vergleichbarkeit verschiedener Einheiten im Rahmen einer analogen dynamischen Verortung erlaubt und somit auch möglich macht, zwischen akzidentellen und
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relevanten Ereignissen oder Charakteristiken zu trennen und die alte Frage nach Quantität und Qualität historischer Prozesse zu lösen.
19.4
Grundlinien einer komparatistischen Kulturmorphologie
All dies mag sehr theoretisch klingen, so daß es mehr als angebracht ist, die Relevanz dieser Überlegungen am konkreten historischen Material zu erweisen. Dabei wollen wir vor allem das Feld jener historischen Entitäten betrachten, die generell als „Hochkulturen“ bezeichnet werden und welche gewissermaßen als die umfassendsten autonomen Gesellschaftsordnungen unterhalb der Ebene der Menschheitsgeschichte als solcher betrachtet werden können. Hierbei suggerieren nicht nur die gängigen Grenzen geschichtswissenschaftlicher Arbeitsteilung, sondern auch die Anwendbarkeit der sich apriorisch ergebenden morphologischen Kriterien, daß wir 15 Hochkulturen anzunehmen haben, nämlich, in ihrer chronologischen Reihenfolge, in Sumer (32.–21. Jh.), im Industal (29.–19. Jh.), in Ägypten (27.–13. Jh.), im nordmesopotamischen Raum (19.–7. Jh.), in Nordchina (16.–1. Jh.), im griechisch-italischen Mittelmeer (11. Jh.v.–1. Jh.n.), im Gangestal (9. Jh.v.–5. Jh.n.), im Iran (6. Jh.v.–7. Jh.n.), im monotheistischen Orient (4. Jh.v.–11. Jh.n.), in Mittelamerika (1. Jh.v.–13. Jh.n.), im Andengebiet (3. Jh.n.–16. Jh.n.), in Südost-Asien (3.–13. Jh.), im südchinesischen Bereich (6.–18. Jh.) sowie, hiermit eng verbunden, zeitgleich in Japan, und schließlich in Europa (10.–22. Jh.); eine Liste, welche, zumal sie möglicherweise nicht abgeschlossen ist (denkbar wären vielleicht eine zentralasiatische, eine südafrikanische und eine westafrikanische Hochkultur), trotz vieler Überlappungen weder ganz mit Spenglers neun noch mit Toynbees 21 Kulturen übereinstimmt und auch, was die jeweilige spezifische chronologische Verortung betrifft, einige Besonderheiten aufweist, obwohl durchaus eine gewisse Analogie zu dem auch von diesen Historikern festgestellten, ca. 1000-jährigen Entwicklungszyklus besteht.
19.4.1 Phase 1 Phase 1 der gesellschaftlichen Geschichte kennzeichnet sich durch eine hierarchische, auf dem Geburtsrecht gegründete Ordnung, welche in einer ersten Etappe (1.1) von der Gegenüberstellung zwischen Volk und Herrscher, in einer zweiten (1.2) von der Spannung mit dem Adel, der sich zwischen diese beiden Pole schiebt, geprägt wird, woraufhin es dann in einer Synthese (1.3) zur kurzen Wiederherstellung der alten Ordnung, wenn auch unter Einbeziehung
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frühbürgerlicher Machtmittel kommt. Hierauf beginnt Phase 2, die nicht mehr durch gottgegebene Hierarchie, sondern vielmehr durch den Individualismus weitgehend eigengesetzlicher und gleicher Personen mit weitgehender Freiheit zur Ausprägung ihrer gesellschaftlichen Stellung gekennzeichnet ist. Phase 1 der inneren Geschichte ist durch eine thetische, wesentlich auf zwischenmenschlichen Beziehungen beruhende Verfaßtheit gekennzeichnet, welche in einer ersten Zeit (1.1) auf einem reinen Treueverhältnis, in einer zweiten (1.2) auf verrechtlichten feudalen Grundlagen beruht, bevor es dann zu einer kurzfristigen Synthese in 1.3 kommt, in welcher es dem Herrscher gelingt, eine auf beamtische Mittel gestützte Tyrannis zu errichten, die daraufhin den Übergang in die antithetische Phase 2 vermittelt. Nunmehr sind nicht mehr die dem Gottesgebot unterstellten Beziehungen zwischen Einzelmenschen Träger der inneren Ordnung, sondern vielmehr die aus dem Beamtentum entwickelten, vom Menschen geschaffenen Verfassungen als Bezugsgröße. Phase 1. der äußeren Geschichte ist vom Gedanken der unhintergehbaren Einheit des jeweiligen Kulturbereichs geprägt, welcher in einer ersten Phase (1.1) ganz unmittelbar unter dem Einfluß des Herrschers steht, dessen Macht sich in einer zweiten Phase (1.2) zunehmend an die einzelnen adligen Feudalherrscher verliert, wobei eine kurze Synthese (1.3) der auf landesfürstliche Machtmittel gestützten, wiederhergestellten herrscherlichen Allmacht Phase 2. einleitet. Diese gründet auf Auf- und Ausbau reiner Staatlichkeit und beruht auf der Einsicht in die Grenzen der Macht und der Bedingtheit des Staats. Phase 1 der geistigen Geschichte wird durch eine thetisch gesetzte, von allen geteilte, allgemein religiös und noch kaum philosophisch gefaßte Einheitserfahrung bestimmt, welche das höchste Sein mit positiven Kategorien zu fassen sucht. Dieses Denken ist zunächst gänzlich statisch und dogmatischscholastisch (1.1), findet dann aber eine antithetische Ergänzung (1.2), welche zwar weiterhin am Grundsatz der Existenz des Einen festhält, die Möglichkeiten seiner rationellen Erfassung aber infolge der zahlreichen offensichtlichen Widersprüche zwischen Erfahrung und Lehre anzweifelt und stattdessen einen empiristischen Ansatz verfolgt, bevor es in einer kurzen Synthese (1.3) zu einer Überwindung dieser scheinbaren Gegensätze durch die Einsicht in die über den Gegensätzen liegende Natur der Gottheit kommt; eine Einsicht, welche zu Phase 2 überleitet, in deren Mittelpunkt eben nicht die Suche nach dem überindividuellen Einen, sondern vielmehr nach der Natur des Individuums steht, das erst dessen Erkenntnis möglich macht. Wenn es auch gerade im Bereich der frühen Hochkulturen aufgrund unseres fragmentarischen Quellenmaterials oft schwer ist, sämtliche Aspekte der oben kurz skizzierten Tendenzen aufzuweisen, die sich vor allem im Bereich der Geistesgeschichte eher in Kultpraxis und kosmogonischer Spekulation niederschlagen als in ausformulierter Philosophie, erlauben die generellen Entwicklungstendenzen doch, Phase 1 im allgemeinen in Verbindung zu bringen
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mit dem frühen sumerischen Königtum der Jemdat-Nasr-Zeit und der Frühdynastischen Periode I–II; der Kot-Diji- und Harappa-IIIA-Zeit im Industal; dem frühen pharaonischen Staat des Alten Reichs mitsamt seines feudalen Zerfalls in der ersten Zwischenzeit und seines späten Ausläufers, der 11. Dynastie; dem sog. altassyrischen und altbabylonischen Reich und der darauffolgenden, feudalen Mitanni-Periode im syrisch-mesopotamischen Raum mitsamt der kurzfristigen monarchischen Restauration Shuttarnas II; der charismatischen Monarchie der Shang-Dynastie und des Feudalismus der Westlichen Zhou in der nordchinesischen Flußebene mitsamt der kurzfristigen Tyrannis des Xuan und des You; den homerischen Monarchen der Dark Ages, den Aristokraten der Archaik und den Tyrannen der späten Archaik im griechisch-italischen Raum; der spätvedischen Periode und der MahajanapadaZeit mitsamt der kurzlebigen Maurya-Ära in der Ganges-Ebene; dem Achaimeniden-, Seleukiden- und frühen Arsakidenreich im Iran; der messianistischfrühchristlichen Periode der nahöstlichen Geschichte bis zur diocletianischen Tetrarchie; der wesentlich mit der Dominanz Teotihuacans assoziierten frühklassischen Periode der mesoamerikanischen Geschichte; der Entwicklung von der frühen über die mittlere bis zur späten Moche-Zeit im Andenraum; der Reiche von Funan und Chenla in Südostasien bis zur kurzlebigen Thalassokratie der Sailendra-Dynastie; der zunehmend feudalisierten Sui-, Tang-, 5 Dynastien und Song-Zeit im buddhistischen Ostasien bis zur Herrschaft von Wang Ansi und Cai Jing; der frühjapanischen Zeit der Asuka-, Nara- und Heian-Periode bis zur Herrschaft der Klosterkaiser; und schließlich dem europäischen Hoch- und Spätmittelalter bis zum habsburgischen Universalismus.
19.4.2 Phase 2 Phase 2 der gesellschaftlichen Geschichte ist die Antithese zur wesentlich auf dem Geburtsrecht fußenden, unabänderlichen und einheitlichen Ordnung von Phase 1., da die Gesellschaft nicht mehr durch gottgegebene Hierarchie, sondern vielmehr durch den Individualismus größtenteils eigengesetzlicher und gleicher Personen mit weitgehender Freiheit zur Ausprägung ihrer gesellschaftlichen Stellung geprägt wird. In einer ersten Phase (2.1) wird diese Freiheit noch unter einem ständischen Blickwinkel betrachtet, wenn sich auch das Bürgertum als bestimmende Kraft durchsetzt und in einer zweiten Phase (2.2) zur Herrschaft kommt. Aus dem hier gelebten, völligen Individualismus geht allerdings als Synthese (2.3) eine neue, von großkapitalistischen Interessen geprägte Gesellschaft hervor, welche den Übergang zu Phase 3. vermittelt, in welcher die Berufung auf die neue Einzelherrschaft eine Versöhnung zwischen gottgewollt verstandener, gleichzeitig aber zutiefst individualistischer Ordnung ermöglicht. Phase 2 der inneren Geschichte stellt die Antithese zur Ordnung von Phase 1 dar. Beruhten für letztere alle Beziehungen zwischen Einzelmenschen auf dem
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einen und (scheinbar) unabänderlichen Gottesgebot, setzt erstere an die Stelle dieser ursächlichen Einheit den Begriff der vom Menschen geschaffenen, aus dem Beamtentum entwickelten „Verfassung“. Eine erste Phase (2.1) ist zunächst timokratisch dominiert und sucht nach einem Gleichgewicht der Stände, eine zweite (2.2) versteht sich als unbeschränkt freiheitlich und rechtsstaatlich, ist aber letztlich oligarchisch bestimmt und mündet schließlich in der Synthese (2.3) plutokratischer Verfassungen. Hieraus geht dann die Synthese der Phase 3 hervor, in welcher der beamtische Grundzug zwar gewahrt wird, die durch Rückbezug auf eine neue Einzelherrschaft aber auch wieder Züge des Personenverbandstaats aus Phase 1. aufweist. Phase 2 der äußeren Geschichte gründet als Antithese zur Reichsvorstellung der Phase 1 auf dem Auf- und Ausbau reiner Staatlichkeit und beruht auf der Einsicht in die Grenzen der Macht und der Bedingtheit des Staats. In einer ersten Zeit (2.1) ist dieser Staat noch weitgehend landesherrschaftlich und im gleichgewichtigen Gegensatz zu möglichen anderen Staaten aufgebaut; eine reine Geistigkeit, gegen die sich dann in einer zweiten Zeit (2.2) der Gedanke des national bestimmten Volksstaats und seiner zunehmenden Selbstüberhöhung richtet. Beide Gegensätze vereinen sich schließlich in einer Synthese (2.3), in welcher die nationalstaatlichen Züge sich durch übernationale, vom Geist reiner Staatlichkeit getragene Zusammenschlüsse gewissermaßen selbst aufheben, was dann zur Synthese von Phase 3. überleitet, in der die neue Einzelherrschaft das solchermaßen entstandene Ganze zwar übernimmt und weiterhin Einsicht in seine Bedingtheit hat, gleichzeitig aber den allumfassenden Reichsgedanken aus Phase 1 erneut in den Vordergrund stellt. Phase 2 der geistigen Geschichte wird nicht mehr durch den Versuch der Bestimmung des Seins des überindividuellen Einen geprägt, sondern vielmehr durch das antithetische Interesse an der erst dessen Erkenntnis möglich machenden Beschaffenheit des Individuums und die daraus resultierende skeptische Grundhaltung, was die Erfassung oder gar Existenz metaphysischer Entitäten betrifft. Eine erste Phase (2.1) ist dabei noch, analog zur zeitgleichen Ständegesellschaft, vom „positiven“ Willen nach einer systematischen und somit realistisch aufgefaßten Kategorisierung der Grundelemente des materialistisch empfundenen Denkens geprägt, die zweite (2.2) allerdings, antithetisch zur vorigen Phase und parallel zum zeitgleichen radikalen Individualismus, verlagert ihr Interesse auf die transzendentale Qualität des Subjekts als seienden Wesens und sieht im Erfahren und Erleiden des Lebens eine neue metaphysische Grundkategorie des Seins jenseits von Skepsis und Materialismus. Phase 2.3. schließlich ringt sich zu einem subjektiven Idealismus durch und vollendet dadurch die Zeit der Aufklärung ebenso, wie sie sie aufhebt. Dies leitet dann in die finale Synthese von Phase 3 über, in welcher der Widerspruch zwischen dem Einen des Ursprungs und dem Vielen des Denkens durch eine historisierende Sinngebung des Denkprozesses als Selbstfindung des Einen und objektiver Idealismus versöhnt wird.
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Eine solche Dialektik, wie sie Phase 2 prägt, finden wir in Sumer zwischen der 3. Dynastie von Uruk, der akkadischen Herrschaft und der 5. Dynastie von Uruk; im Harappa der IIIB–IIIC-Periode; im Mittleren und Neuen Reich Ägyptens bis zur Restauration der Post-Amarna-Zeit; im Mittel- und Neuassyrischen Reich bis zur Reichskrise seit Shamshi-Adad V.; in der Frühlings- und Herbst-Periode und der Zeit der kämpfenden Staaten in China bis zu den Verwerfungen der QinDynastie; in der klassischen und hellenistischen Periode der antiken Geschichte bis zum Weltreich der späten Republik und seinen Bürgerkriegen; in der Zeit der Shunga-Dynastie und der Fremdherrschaften der Shatavahana, Kshatrapa und Kushan bis zur Begründung der Gupta-Dynastie in Indien; in der arsakidischen und frühsassanidischen Zeit des Iran bis zu den Wirren der Mazdakitenrevolte; in der constantinischen und klassischen islamischen Zeit der nahöstlichen Geschichte bis zu den späten Abbasiden; in der Spät- und Endklassik der mesoamerikanischen Kultur bis zum Zusammenbruch der mittelyucatanischen Mayastädte und der kurzen Putun-Küstenhegemonie; in der Entwicklung vom Mittleren Horizont der Staaten von Tihuanaco und Huari bis zur späten Zwischenzeit und dem Chimú-Reich; in der klassischen Khmer-Herrschaft über Südostasien bis zu den Wirren des späten 12. Jahrhunderts; in der südlichen Song-, Yuan- und Ming-Herrschaft im buddhistischen China bis zu den Wirren der frühen Qing-Zeit; im Kamakura-Shogunat mitsamt der Muromachi-Periode und der frühen Reichseinigung unter Nobunaga und Hideyoshi in Japan; und, in Europa, der frühen Neuzeit und der klassischen Moderne bis in die Gegenwart.
19.4.3 Phase 3 Phase 3 der gesellschaftlichen Geschichte entspricht der Synthese der gottgewollten, geburtsrechtlichen Gesellschaft aus Phase 1 und der individualistischen, freiheitlichen Gesellschaft der Phase 2 und stellt sich ganz allgemein als „Wiederherstellung“ der gesellschaftlichen Harmonie einer bewußt unklar umrissenen Vergangenheit dar. Es kommt zur selten freiwilligen, meist eher erzwungenen Verschmelzung der aufgrund politischer Verfolgung oft herrenlos gewordenen großen Vermögen und der aus dem Zeitalter der Bürgerkriege hervorgehenden, oft militärisch legitimierten neuen Herrschaftsschicht, aus denen eine neue adlige Gesellschaft hervorgeht. Deren Selbstbegründung besteht zunächst auf rein individuelle Weise in ihrem jeweiligen persönlichen Verdienst für die Sache des neuen Herrschers, welche zum eigentlichen Anliegen der Gesamtkultur gemacht wird, verlagert sich dann aber zunehmend auf die Ebene dynastischer und wirtschaftlicher Argumentation. Der moralische wie konkrete Wiederaufbau der durch die Bürgerkriegszeit zerstörten Ordnung bewirkt auch eine gewisse Gesundung der Lebensbedingungen der breiten Massen, deren Zustimmung freilich weiterhin dauerhaft durch große staatliche Zuwendungen erkauft werden muß. Die
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gebrochene ethnische und kulturelle Grundübereinstimmung innerhalb der Bevölkerung bewirkt das Entstehen einer staatlich geförderten, rein abstrakt bestimmten, in geschickter Geschichtsumdeutung verankerten wertekonservativen Leitkultur, welche rasch eine gewisse Vereinheitlichung des gesamten Kulturbereichs bewirkt, die letzten Reste seiner inneren Vielschichtigkeit aber freilich auflöst und somit die geschichtslose, nur wirtschaftlichen, nicht mehr historischen Kräften unterworfene Gesellschaft der Nachgeschichte einleitet. Phase 3. der inneren Geschichte, die erneut eine monarchische Phase ist, besteht in der Synthese des Reichs- und des Staatsgedankens der vorhergehenden Phasen 1. und 2. durch die Begründung einer neuen innenpolitischen Ordnung in Gestalt der Weltmonarchie. Diese neue Herrschaft wird zunächst vor allem als „Rückkehr“ zu geordneten rechtsstaatlichen Verhältnissen bestimmt und beschönigt ihre autoritären Züge als reine Übergangsmaßnahme zur erneuten Festigung von Recht und Ordnung und zur Verhinderung einer Rückkehr der alten plutokratischen Herrschaftsschicht. Gleichzeitig aber tritt auch wieder der allumfassende Anspruch des ursprünglichen Reichsgedankens auf, der sich allerdings jetzt mit beamtischen und plebiszitären, aus den Verfassungslehren der vorangehenden Phase stammenden Elementen vermischt. Die erheblich längerfristigen Zeiträume politischer Planung sowie das Bedürfnis nach Festigkeit bewirken eine starke Hierarchisierung des neuen Staates; die zunehmend ausschließliche Bezugnahme der neuen Ordnung auf die Macht des Herrschers, die in vielem der Beziehung zwischen Herrscher und Volk in Phase 1.1 gleicht und dem Staat wieder Züge eines Personenverbands verleiht, bewirkt allerdings durchaus die fortgesetzte Möglichkeit gesellschaftlichen Aufund Abstiegs, welche es dem Herrscher erlaubt, Gegengewichte zur etablierten Herrschaftsschicht zu schaffen. Die somit entstehenden Einrichtungen erlangen meist Gültigkeit für die gesamte nachgeschichtliche Phase und verlieren höchstens an Trennschärfe, unterliegen aber keinem grundlegenden Wandel mehr als dem der Vereinfachung oder des Absinkens in reine Ehrenämter. Phase 3. der äußeren Geschichte besteht in der schlußendlichen Errichtung und Festigung eines neuen, allumfassenden Weltreichs, meist nach umfangreichen Bürger- oder Bruderkriegen. Dieses stellt insoweit die Synthese aus Phase 1 und 2 dar, als das neue Reich zwar den Anspruch erhebt, die Gesamtheit der zivilisierten Menschheit friedlich zu vereinigen und somit einer neuen, oft auch religiös-eschatologisch begründeten Einheit zuzuführen, diese neue Ordnung aber wenigstens nach außen hin weiterhin staatlicher Natur ist und auf öffentlichen Einrichtungen beruht und nicht allein auf persönlicher Treue oder einem allgemein geteilten Weltgefühl. Der Kontakt zu den durchaus als solchen wahrgenommenen umliegenden politischen Mächten bleibt, nach einer frühen Ausdehnungsphase, meist überaus vorsichtig, da die Kräfte der Kultur erschöpft, die Macht ohnehin überdehnt und das Risiko zu groß ist. Die Verteidigung des Gesamten bleibt zunehmend einer Berufsarmee überlassen, deren Treue größer als die eines Volksheeres eingeschätzt wird. Kennzeichnend sind auch der Bau
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großer Verteidigungsanlagen an den Außengrenzen und die Erschlaffung des früheren kolonisatorischen Impulses. Die somit ein letztesmal gesicherte Kraft wie auch das (eher vorsichtiger Selbstdarstellung als tatsächlicher Macht geschuldete) äußere wie innere Ansehen sichern das mittel- bis langfristige Überleben des neuen Reichs bis in die Zeit der Nachgeschichte hinein, wenn seine Kräfte auch oft durch unbedachte Expansionsversuche frühzeitig verbraucht werden können. Phase 3 der geistigen Geschichte entspricht der Synthese einer idealistischen Dialektik, welche gleichsam unter Einbeziehung des vorherigen Denkens retrospektiv und wesentlich historistisch zum Urgedanken des „Einen“ zurückkehrt: Der Widerspruch zwischen dem Einen des Ursprungs und dem Vielen des Denkens wird durch eine historisierende Sinngebung des Denkprozesses als Selbstfindung des Einen gelöst. Die entsprechende Philosophie wird daher auch größtenteils konservativ-historisch ausfallen und gerade durch die (freilich selektive und interpretierende) Bejahung der Vergangenheit eine neue Theorie schaffen. Diese wird daher nicht ohne Grund Züge einer scholastisch-philosophiegeschichtlich argumentierenden Lehre annehmen und sich selbst weniger als „neuen“ Zugang verstehen denn vielmehr als bejahende Rückkehr zu all dem, was an vergangenem Denken als wesentlich aufgefaßt wird. Dieses „Wesentliche“ werden dabei größtenteils die synthetischdialektischen Momente sein, die zum einen eher in ihrer langfristigen inneren Kohärenz und Kontinuität als in ihren Brüchen aufgefaßt, zum anderen auch als spezifisches Erzeugnis der jeweiligen Gesellschaft betrachtet werden. Daher verschwimmen auch die Grenzen zwischen Philosophie und Religion zunehmend zugunsten der Vorstellung einer „ewigen“ Wahrheit. Historisch konkret könnte man bei Phase 3. an die sumerische Restauration der 3. Dynastie von Ur mit der Herrschaft Shulgis denken; die späte Harappa IIICZeit; die Ramessidenära in Ägypten; die Sargonidische Dynastie der Neuassyrischen Periode; die frühe chinesische Han-Dynastie; den augusteischen Principat; die klassische Gupta-Periode seit Chandragupta II; die spätsassanidische Zeit seit Chosroes; die messianistische Herrschaft der Fatimiden im Nahen Osten; die Hegemonie der Tolteken in Mesoamerika; das Inka-Reich des späten Horizonts im Andenraum; die späten Khmer-Herrscher seit Jayavarman VII; die chinesische Qing-Dynastie seit der Herrschaft des Kaisers Kanxi; die Tokugawa-Ära in Japan unter dem Shogunat des Ieyasu; und schließlich an die wohl in etwa einer Generation zu erwartende politische Neuordnung der westlichen Welt.
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19.5
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Kulturmorphologie und akademische Realität
Es kann wohl kaum überraschen, daß im Nachklang dieser gezwungenermaßen äußerst gedrängten Zusammenstellung mehr Fragen aufgeworfen als Antworten gegeben wurden, und es würde den gesteckten Rahmen weit übersteigen, diese hier nur ansatzweise vorwegnehmen oder diskutieren zu wollen. Zunächst sei die Möglichkeit erwähnt, daß die Liste der hier vorgestellten Kulturen möglicherweise nicht vollständig ist, wie weitere Arbeiten zeigen könnten. Ferner sei auf die Schwierigkeit verwiesen, den jeweiligen ersten „Auslöser“ eines jeden kulturellen Zyklus auszumachen, den mit „Challenge and Response“ zu umschreiben wohl eine grobe, mechanistische Vereinfachung, vielleicht sogar Verwechslung von Ursache und Wirkung wäre. Schließlich sei betont, daß es sich bei obigem Versuch, Hegels dialektisches Entwicklungsmodell gewissermaßen zyklisch in sich zurückzubinden und zudem nicht auf die Geschichte als Gesamtprozeß anzuwenden, sondern vielmehr auf die einzelnen, sie wesentlich, wenn auch keineswegs ausschließlich konstituierenden Hochkulturen, eben nicht um das Unternehmen einer lückenlosen Beschreibung der Weltgeschichte, noch um eine wie auch immer geartete Wertung ihrer verschiedenen Phasen gehen soll. Dem aufmerksamen Betrachter wird so etwa kaum entgangen sein, daß viele durchaus entscheidende Staatsgebilde der Geschichte wie etwa die der Azteken, der Mongolen, der Osmanen und der Moghuln sich nicht ohne weiteres in den unmittelbaren Verlauf einer der skizzierten Hochkulturen einordnen lassen. Dies sollte aber freilich kaum als „Widerlegung“ gewertet werden, sondern vielmehr betonen helfen, daß jene 15 dialektischen Entwicklungen eben nicht eine lückenlose Abdeckung der Gesamtgeschichte implizieren, sondern vielmehr nur einzelne, einer apriorischen Erschließung zugängliche Phasen innerhalb eines wesentlich größeren historischen Kontinuums; gewissermaßen punktuelle, morphologisch analoge Inseln inmitten eines erheblich komplexeren Ozeans an Möglichkeiten. Gleichzeitig soll auch keineswegs geleugnet werden, daß eine solche, dialektischmonadische Erschließung der inneren Logik einzelner Kulturen durchaus die Möglichkeit einer diachronischen Betrachtung überkultureller Kontinuitätsphänomene einschließt, unter denen vor allem Religions- und Technikgeschichte als die offensichtlichsten Elemente hervorstechen, für deren Verständnis freilich durch die Anbindung ihrer Entwicklung an die einzelkulturelle Dynamik viel gewonnen werden könnte. Immerhin dürfte wohl zur Genüge klar geworden sein, erinnern wir uns an den Ausgangspunkt unserer Überlegungen, daß gerade der Altertumswissenschaft als derjenigen Geschichtsdisziplin, die von ihrer zeitlichen wie thematischen Anlage am breitesten und daher für allgemeine interkulturelle und komparatistische Fragestellungen am offensten ist, eine ganz besondere,
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paradigmatische Rolle bei der Entwicklung eines modernen historischen Denkens zukommt, welches eben mehr sein sollte als die bloße Nebeneinanderstellung „großer“ Schlachten, Revolutionen oder Herrscher, sondern welches die Ebene rein oberflächlicher Ähnlichkeiten durchdringen muß, um die tiefere Ebene formaler und dynamischer Analogie zu erreichen und erst dadurch jedes einzelne historische Element in seiner echten Eigenart zu würdigen, wie es schon fast lehrbuchhaft am Beispiel des berühmten palermitanischen Grabsteins der Anna deutlich wird, dessen beeindruckende Multilingualität nur scheinbar Zeuge egalitärer Multikulturalität ist, sondern in Wahrheit wesentlich differenziertere Kategorien unverwechselbarer kultureller Identität und gänzlich unterschiedlicher historischer Entwicklungsstufen verbirgt. Eine solche kulturmorphologische Forschungswende ist dabei nicht nur wissenschaftsgeschichtlich notwendig, sondern auch didaktisch, universitätspolitisch und gesellschaftlich mehr als wünschenswert, wie abschließend gezeigt werden soll. Forschungsgeschichtlich, da wir bei Betrachtung der Wissenschaftsgeschichte feststellen, daß die Altertumswissenschaft, ursprünglich von der doppelten Wurzel der antiken und der biblischen Literatur und der engen Zielsetzung politischer Handlungsanweisung und christlicher Heilsgeschichte ausgehend, zunehmend an die Peripherie der antiken Welt vorgestoßen und hierbei durch eine bis ins kleinste fortschreitende Zersplitterung ihrer Aufmerksamkeit so sehr an die Grenzen des Möglichen gestoßen ist, daß ein gewisser Verlust der Mitte eingetreten ist, der sich in einer immer deutlicher zutage tretenden Dichotomie zwischen den „klassischen“ Aufgaben der Lehre und den zunehmend randständig scheinenden Tätigkeitsfeldern tatsächlicher Forschung manifestiert. Diese durch eine neue Synthese zu überwinden und durch universalhistorischen Komparatismus das bisherige Wissen nicht nur zu sammeln und zu vergleichen, sondern durch Annahme der verfremdenden Außenperspektive unsere Sicht gerade der vermeintlich „klassischen“ Antike auf eine gänzlich neue Basis zu stellen, ist mittlerweile unvermeidbar geworden, will man die zunehmend drohende Reduzierung Alter Geschichte auf das Altenteil bloßer Vermittlung rudimentärer Allgemeinbildung verhindern. Didaktisch, da es unsere historische Verantwortung ist, das erstmals in solchem Maße verfügbare breite Wissen nicht nur über Einzelereignisse, sondern ebenfalls über historische Gesamtabläufe auch in der Lehre fruchtbar zu machen und somit der Forderung vieler Studenten, Geschichte und nicht Geschichten studieren zu wollen, gerecht zu werden. Eine komparatistische und somit letztlich immer auch dezidiert interkulturelle Betrachtung ist unter dieser Voraussetzung nicht etwa verschämt an den Rand oder gar das Ende des Studiums, sondern von Anfang an in den Mittelpunkt zu rücken, in engem Vertrauen darauf, die Studenten damit nicht etwa zu überfordern, sondern ganz im Gegenteil erneut und vielleicht mehr denn je zur Beschäftigung mit humanistischer Bildung und zur Öffnung ihres geistigen Horizontes anzuregen.
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Universitätspolitisch, da es gerade in einer Zeit, wo die sogenannte „Vormoderne“ überall auf den Aussterbeetat gerät, Aufgabe der Althistoriker ist, die Vitalität der eigenen Disziplin zu demonstrieren, und das nicht etwa nur durch teleologische Selbsthistorisierung als antiquarische „Grundlage“ gegenwärtiger Zivilisation, sondern ganz im Gegenteil durch selbstbewußte Betonung von Eigenart und Eigengesetzlichkeit vergangener Gesellschaften, die gerade durch ihre Autonomie und Andersartigkeit die Relativität und Vergänglichkeit der eigenen Zeit faßbar machen. Gerade der kulturvergleichende Ansatz mag hier mehr als jeder andere helfen, die in vielen Köpfen immer noch vom Fortschrittsoptimismus eines Condorcet geprägte, eurozentristische Linearität traditioneller Geschichtsbetrachtung aufzubrechen und durch ein neues, wahrhaft humanistisches Paradigma zu ersetzen. Und schließlich und zu guter Letzt gesellschaftlich, ist es doch mehr denn je Aufgabe der Altertumswissenschaften in ihrem weitesten Sinne, der Forderung der Zivilgesellschaft nach Erziehung zu interkultureller Toleranz und Verständnis anderer Gesellschaftsordnungen nachzukommen; einer Forderung, der nur dann wahrhaftig entsprochen werden kann, wenn eben nicht in verkürzender Art und Weise die ebenso naive wie letztlich eurozentrische Mär von der notgedrungen auf westlichen Liberalismus, Demokratie und Kosmopolitismus zustrebenden Menschheitsgeschichte Fukuyama’scher Observanz weitergegeben wird, die langfristig nur Ablehnung und Kulturkampf provozieren kann, sondern vielmehr nur dann, wenn durch einen systematischen komparatistischen Zugang die prinzipielle Gleichheit, Reichhaltigkeit und Eigenart einer jeden menschlichen Gesellschaft aufgezeigt und endlich wieder Geistesgeschichte gemacht und nicht nur beschrieben wird.
432
Spengler heute
Tafel „gleichzeitiger“ politischer Epochen
1. 1.1.
1.2.
1.3.
2800–2600: Kot Diji 2657–2216: Altes Reich
2900–2650: Frühdyn. Periode I–II 2600–2450: Harappa IIIa 2216–2020: Erste Zwischenzeit
Assur
1809–1595: „Altassyrisches“ Reich
1595–1400: Mitanni-Reich
China
1554–1046: Shang.Dynastie
Antike
1068–762: Dark Ages
1046–828: Westl. ZhouDynastie 752–561: Archaik
Indien
850–545: Spätvedische Periode
545–303: MahjanapadaPeriode
1400–1350: Späte Mittani (Shuttarna II.) 828–771 Späte Westl. Zhou-Dynastie (Xuan und You) 561–510: Ältere Tyrannis (Peisistratos) 303–232: Maurya-Dynastie (Ashoka)
Iran
550–333: Achaimenidische Dynastie
323–123: Seleukidische Dynastie
123–88: Frühparthische Zeit (Mithridates II.)
Orient
333–31: Messianische Periode
31 BC–AD 284: Frühchristliche Periode
284–324: Späte Verfolgungen (Diocletian)
Meso– Amerika
0–250: Cuicuilco-Periode
500–534: Spätes Teotihuacan
Anden
0–300: Frühe Moche-Periode (Frühe Zwischenzeit) 250–514: Funan-Periode
250–500: Teotihuacan, Frühklassik 300–600: Mittlere MochePeriode 514–760: Chenla-Periode
1069–1126: Song (Wang Anshi, Cai Jing) 1068–1156: In-no-chō Kaiser 1508–1556: Habsburgischer Universalismus (Karl V.)
Sumer Harappa Ägypten
Südost– Asien
3100–2900: Jemdat Nasr
Ostasien
581–784: Sui- und Tang-Dynastie
Japan
574 –794: Asuka- und Nara-Periode
784–1069: Tang, 5 Dynastien, Song 794–1068: Heian-Periode
Europa
919–1250: Hochmittelalter
1250–1508: Spätmittelalter
2650–2600: Frühdyn. Periode II (‚Gilgamesh‘) 2450–2400: Harappa IIIA/B (?) 2020–1976: 11. Dynastie (Mentuhotep II.)
600–650: Späte Moche-Periode 760–802: Sailendra-Dynastie
19 Eine neue komparatistische Geschichtsphilosophie
433
Tafel „gleichzeitiger“ politischer Epochen (Fortsetzung)
2. 2.1.
2600–2316: Frühdyn. Periode IIIA–B; Uruk III 2400–2200: Harappa IIIB 1976–1540: Mittleres Reich und Zweite Zwischenzeit 1350–1114: Mittelassyrisches Reich 770–481: Frühling- und HerbstPeriode 510–321: Klassik 232–30: Shunga-Periode 88 BC–AD 224: Parthisches Reich
2.2.
2.3.
1114–824: Spätbronzezeitl. Krise, Neuassy-risches Reich 481–250: Kämpfende Staaten
824–727: Reichskrise seit Shamshi-Adad V. 250–202: Qin–Dynastie
321–79: Hellenismus
79–27: Krise der späten Republik 319–370: Frühe Gupta– Dynastie
2316–2123: Dynastie von Akkad und Gutium 2200–2050: Harappa IIIC 1540–1338: Neues Reich
30 BC–AD 319: Shatavahana-, Khastrapa-, KushanReiche 224–484: Frühsassanidische Periode
2123–2094: Dynastie von Uruk V 2050–2000: Spätes Harappa IIIC 1338–1290: Post-Amarna Zeit
484–531: Mazdakitenzeit
324–622: Constantinische Periode
622–850: Frühislamische und byzantinische Periode
861–909: Spätabbasidische Periode
534–750: Spätklassik
750–925: Endklassik
925–987: Putun-Periode
650–1000: Tihuanaco / Huari (Mittlerer Horizont) 802–1001: Frühe Khmer
1000–1400: Chimú (Späte Zwischenzeit) 1001–1166: Reife Khmer
1400–1465: Späte Chimú
1126–1368: Südliche Song, YuanDynastie 1156–1333: Kamakura-Shogunat
1368–1563: Ming–Dynastie
1563–1644: Späte MingDynastie 1550–1603: Nobunaga und Hideyoshi
1556–1789: Frühe Neuzeit
1333–1550: Kemmu-Restauration und MuromachiPeriode 1789–1991: Neuzeit
1166–1203: Dynastische Wirren
1991–2050: Globalisiertes Zeitalter
3. 3.
2094–2029: Dynastie von Ur III (Shulgi) 2000–1900: Spätes Harappa IIIC (?) 1290–1213: Ramessiden (Ramses II.) 727–631: Sargoniden (Sargon II.) 202–87: Westliche Han-Dynastie (Han Gaotsu) 27–117: Principat (Augustus) 370–467: Reife Gupta-Dynastie (Chandragupta II.) 531–651: Spätsassanidische Periode (Chosroes II.) 909–1059: Fatimidische und Makedonische Periode (al Mahdi) 987–1156: Toltekische Periode 1465–1526: Inka-Periode (Später Horizont) 1203–1219: Späte Khmer (Jayavarman VII.) 1644–1796: Qing-Dynastie (Kangxi) 1603–1868: Tokugawa Shogunat (Ieyasu) 2050–2150: ?
20
Ausblick: Spengler morgen?
20.1
Resultate
Es wäre wohl redundant, die in der Einleitung angekündigten und im Hauptteil dieses Bandes ausgeführten Themen an dieser Stelle in allen Einzelheiten zusammenfassen zu wollen. Nur so viel soll hier der Übersichtlichkeit halber hervorgehoben werden: Nach einer kurzen Einführung in Leben, Werk und Rezeption Oswald Spenglers (Kap. 2) wurde kritisch analysiert, daß die bisherige Forschung sich meist darauf beschränkte, Spenglers Werk entweder in rein antiquarischer Perspektive zu untersuchen, oder aber durch einen Ansatz anzugehen, der ganz durch Moralisierung und psychologischen Reduktionismus gekennzeichnet ist und das Werk somit entweder verkürzend und fehlerhaft als „antiliberal“, oder aber als bloßen Ausfluß eines gepeinigten Geistes interpretiert und daraufhin zu den Akten legt (Kap. 3): Es bleibt nach wie vor ein Desiderat der Forschung, Spengler vom geschichtsphilosophischen und fachhistorischen Standpunkt zunächst einmal auf Grundlage seiner eigenen Prämissen ernst zu nehmen, um ihn dann erst überzeugend widerlegen, bestätigen oder korrigieren zu können. Daß dies einfacher gesagt als getan ist, und daß jeder, der sich ernsthaft auf ein deterministisches und zyklisches Geschichtsmodell mit pessimistischen Implikationen für die Zukunft des Abendlands einläßt, auf wenig Gegenliebe seitens vieler Leser stoßen wird (Kap. 4), ist dabei leider selbstverständlich: Wie der Arzt, der meist der Überbringer unliebsamer Nachrichten ist, hat eben auch der Kulturpessimist selten Anrecht auf Sympathie, umso mehr, wenn der von ihm diagnostizierte Zustand keine wundersame Remission erlaubt. In den Spenglers Quellen gewidmeten Aufsätzen verlagerte die Aufmerksamkeit sich dann auf den Einfluß, den Hegel und der deutsche Idealismus auf Spengler ausgeübt haben. Zunächst konnte gezeigt werden, daß sich bereits bei Hegel zahlreiche Ansätze finden, die auf Spenglers Kulturmorphologie hindeuten (Kap. 5): Zwar widerspricht Hegels dialektische Deutung der Menschheitsgeschichte dem Spengler’schen Konzept fundamental, doch zeigt sich, daß Hegel bei seiner Darstellung der Entwicklung der einzelnen „Volksgeister“ ein biologistisches Modell zugrundelegte, das ganz der Spengler’schen Morphologie entspricht und wie im Diktum vom „Kreis aus Kreisen“ klare zyklische Strukturen voraussetzt. Hinzu kommt, daß auch die oft recht pessimistische Gegenwartsbeschreibung bei Hegel einige der Überzeugungen Spenglers vorwegnimmt, der seinerseits das Lebensaltermodell mit einer abstrakten
436
Spengler heute
Begrifflichkeit beschreibt, die ohne den Einfluß der Hegel’schen Dialektik undenkbar wäre. In diesem Sinne konnte in einem weiteren Text (Kap. 6) auch gezeigt werden, daß der oft gegen Spengler erhobene Vorwurf des Relativismus nur bedingt greift: Zum einen leugnet Spengler keineswegs das Konzept einer absoluten Wahrheit, sondern nur den Anspruch, diese vollgültig zu besitzen, und entgeht zum anderen der Relativitätsfalle auch dadurch, daß er sowohl sein eigenes Denken als historisch notwendig in seinem morphologischen Konzept verankert, als auch dadurch, daß er – sicherlich nicht immer bewußt – viele metaphysische Konzepte des deutschen Idealismus übernimmt und somit seine Sichtweise tatsächlich gegen eine Reihe möglicher logischer Aporien zu sichern vermag. Die Nähe zum deutschen Idealismus impliziert logischerweise auch eine gewisse Kompatibilität mit dem Marx’schen Denken (Kap. 7). So übernimmt Spengler einen Gutteil der Marx’schen Analyse kapitalistischer Produktionsverhältnisse und entwicklungsgeschichtlicher Stufen, doch betont er, was die ersteren betrifft, die Priorität des Erfindergeistes vor bloßer Befehlsausübung, und interpretiert die letzteren nicht im Hinblick auf die Menschheitsgeschichte insgesamt, sondern vielmehr jede einzelne Zivilisation – und das zudem mit dem entscheidenden Unterschied, daß die sich am Ende einstellende „klassenlose“ Gesellschaft die Auflösung der meisten traditionellen sozialen Untergliederungen nicht etwa in einem utopischen Zustand herbeiführt, sondern einem posthistorischen Verfallsstadium, in dem eine verarmte und brüderlichbäuerliche Masse inmitten der Ruinen einer toten Zivilisation verängstigt den Anweisungen ständig wechselnder Eroberer gehorcht. Das Hauptstück des vorliegenden Bandes stellen allerdings sicherlich die Überlegungen zu verschiedenen historischen Einzelfragen dar. Ein erstes Untersuchungsfeld war der Islam als Spätstufe der „magischen“ Kultur (Kap. 8): Es konnte hier gezeigt werden, daß Spenglers Überzeugung, die Levante des 1. Jahrtausends müsse als eine einheitliche und zusammengehörige Kultur angesehen werden, deren abrahamitischen Religionen nur Ausprägungen derselben Kulturseele seien, nicht nur wichtige Erkenntnisse der Forschung des 20. und 21. Jahrhunderts vorweggenommen hat, sondern auch den Einsichten der neuen, philologisch-kritischen Qur’an-Analyse entspricht. Freilich ist bei Spengler eine unmäßige zeitliche Streckung dieser Kultur zu konstatieren, deren Scheitelpunkt daher besser nicht im frühen Islam, sondern vielmehr im Justinianischen Konstantinopel zu suchen ist, und deren imperialer Abschluß nicht erst im 13. Jahrhundert, sondern bereits unter den Fatimiden geschah. Eine weitere wesentliche Modifikation der in der Forschung lange Zeit umstrittenen „magischen“ Kultur konnte im Folgekapitel vorgestellt werden (Kap. 9): Die Geschichte des vorislamischen Iran ist keineswegs als Teil jener „magischen“ Gesellschaft zu sehen, sondern als eine eigenständige Kultur,
20. Ausblick
437
welche von den Achaimeniden bis hin zu den Sassaniden alle wesentlichen Etappen der Spengler’schen Kulturmorphologie durchläuft, und deren dualistisches Seelenbild dem der abrahamitischen Religionen grundsätzlich widerspricht und bereits aus diesem Grund als völlig eigengesetzlich zu verstehen ist. Auch und gerade die im „Untergang des Abendlandes“ nur kursorisch erwähnten frühen Kulturen sind in Anbetracht der modernen Forschung einer Reihe von Neuinterpretationen zu unterziehen (Kap. 10). Im mesopotamischen Raum ist die babylonisch-assyrische Kultur als eine von der sumerischen räumlich wie zeitlich distinkte zu verstehen, was ein erheblich differenzierteres Verständnis der komplexen Dynamik dieses Raums erlaubt, der eben nicht von Hammurabi bis zu den achaimenidischen Eroberungen im Stadium bloßen nachhistorischen Verdämmerns begriffen war, sondern vielmehr eine eigene, in Nordmesopotamien und Syrien verankerte Kulturentwicklung kannte, die das sumerische Modell erheblich veränderte. Dies gilt ähnlich für die indische Welt, die nicht mit Asoka, sondern erst ein halbes Jahrtausend später mit den Gupta in ihr finales Stadium eintrat und zudem im südindischen und südostasiatischen Raum eine Nachfolgekultur erlebte, welche in den grandiosen Schöpfungen der Khmer gipfelte. Auch die „mexikanische“ Kultur wäre in Anbetracht der gewaltigen, seit der Zeit Spenglers erzielten wissenschaftlichen Fortschritte neu zu bewerten, allen voran in Anbetracht der Entzifferung der Maya-Glyphen und der Grabungen in Teotihuacan: Als die Conquistadores eintrafen, war die klassische mesoamerikanische Kultur bereits lange versiegt und erlebte nur in den spätzeitlichen Entwicklungen der Azteken eine morphologisch noch schwer zu bewertende Nachblüte, während außer Frage steht, daß die im Andengebiet zu verzeichnende historische Dynamik ebenfalls die Annahme einer eigenen Hochkultur legitimiert. Was schließlich den chinesischen Raum betrifft, so ist der von Spengler vorgeschlagenen zeitlichen Gliederung zwar zuzustimmen, doch wäre es falsch, die auf die Han-Dynastie anschließende weitere Geschichte Ostasiens als ein bloßes posthistorisches Auf und Ab verschiedenster Dynastien zu betrachten: Unter buddhistischem Einfluß entstand eine weitere, wenn auch eher auf Süd- als auf Nordchina zentrierte chinesische Hochkultur, die erst mit den Qing im 18. Jahrhundert ihren Abschluß fand und genau zeitgleich zu verorten ist mit der ebenfalls zu postulierenden japanischen Hochkultur, und die in vielem zusammen mit ihrem festländischen Gegenbild als eine ostasiatische Doppelkultur zu betrachten ist. Während die oben zusammengefaßten Studien vor allem den außereuropäischen Raum betreffen, sind die beiden folgenden der abendländischen Geschichte und hierbei vor allem ihrem zu erwartenden Ausgang gewidmet. Spengler betrachtete Cecil Rhodes als Vorläufer eines „caesaristischen“ Typus (Kap. 11), der erst im 21. Jahrhundert vollständig in Erscheinung treten sollte und hier am ehesten in Iulius Caesar seine antike Entsprechung findet; eine interessante, zu Spenglers Zeiten keineswegs unübliche Deutung jenes umstrittenen südafrikanischen Reichsbilders, der tatsächlich im Lichte der neueren
438
Spengler heute
Geschichte als bedenklich wegweisende Gestalt betrachtet werden kann, wenn auch nicht auf Grundlage der zu Rhodes’ und Spenglers Zeiten vorherrschenden kolonialen Expansion einzelner europäischer Nationalstaaten, sondern vielmehr der zunehmenden neo-kolonialen wirtschaftlichen, finanziellen, infrastrukturellen und informationstechnischen Durchdringung der außereuropäischen Staaten durch die großen westlichen Machtblöcke, allen voran die USA. In diese Richtung zielte dann auch der Versuch, Spenglers bekannte Schrift zu den „Jahren der Entscheidung“ (Kap. 12) als eine zwar in vielerlei Hinsicht bedauernswerte, aber höchst aktuelle Vorhersage von Entwicklungen und Tendenzen zu betrachten, deren vor 100 Jahren noch rein hypothetisch angekündigtes Eintreffen im frühen 21. Jahrhundert nicht mehr abzustreiten ist. Was schließlich die Rezeption Oswald Spenglers angeht, so ermöglichten die ausgewählten Fallbeispiele eine vielfältige und differenzierte Analyse der beachtlichen Auswirkung des „Untergangs des Abendlandes“ auf die westliche Geistesgeschichte. André Fauconnet, vor Erscheinen der französischen Übersetzung des „Untergangs“ einer der wichtigsten Vermittler des Spengler’schen Denkens in den französischen Sprachraum hinein (Kap. 13), zeichnet sich durch eine in Anbetracht der immer noch stark vorherrschenden antideutschen Stimmung der Nachkriegszeit beachtliche Objektivität in seiner Darstellung der Spengler’schen Philosophie aus und scheint Spengler, mit dem er ein persönliches Verhältnis unterhielt, auch nach dem Krieg die Treue gehalten zu haben, als er noch 1945 jeglichen Versuch, Spengler als „Vordenker der Nationalsozialisten“ zu bezeichnen, explizit ablehnte. Auch im nordamerikanischen angelsächsischen Sprachraum überwog bei den drei ausgewählten Beispielen – Fitzgerald, Lovecraft, Henry Miller (Kap. 14, 15, 16) – bei weitem die Zustimmung, obwohl alle drei Autoren in ihrem Werk durchaus auch antideutsche Affekte zu Wort kommen ließen und kaum als germanophil zu gelten haben: Wie Fauconnet nahmen auch sie die von Spengler geäußerte patriotische Hoffnung, im kommenden Kampf um die Hegemonie über Europa möge es das eigene Land sein, daß den Sieg davontrage, als eine in der damaligen Geistesverfassung durchaus legitime Erwartung an, wenn sie sie auch kaum zu teilen vermochten, und empfanden sie ohnehin offensichtlich als weniger bedeutsam für ihre Rezeption der Spengler’schen Kulturmorphologie als vielmehr dessen Einsicht in die unaufhaltsame Versteinerung der abendländischen Zivilisation. Hierbei spielte bei allen dreien die ganz besondere Identitätskrise der USA eine Rolle, welche sich ein wenig mehr als ein Jahrhundert nach ihrer Loslösung vom britischen Mutterland immer noch auf der Suche nach ihrem eigenen Wesen befanden, durch die europäischen Einwanderungswellen des 19. Jahrhunderts demographisch und kulturell stark verändert worden waren und sich nunmehr durch die immer virulentere Rassenfrage einer tiefen Sinnkrise ausgesetzt sahen, welche durch die explosionsartige Industrialisierung des „neuen“ Kontinents und die Erfahrung
20. Ausblick
439
der zeitgleichen „décadence“ des alten Kontinents noch gesteigert wurde: Spenglers Erwartung des unausweichlichen Siegs hochtechnisierter Zivilisation sowie des davon eingeleiteten „Untergangs des Abendlandes“ bestärkte zwar die schlimmsten Befürchtungen der drei Autoren, verlieh dem Prozeß aber auch einen tieferen Sinn. Der letzte Beitrag jener Aufsatzgruppe führt dann in die Nachkriegszeit und setzt sich mit Karl Jaspers Achsenzeit auseinander (Kap. 17): Oft als humanistischere und zeitgemäßere Alternative zu Spenglers Untergangskonzept interpretiert, zeigt doch eine nähere Betrachtung die Brüchigkeit und Inkohärenz des Jaspers’schen Ansatzes, der die ungefähre morphologische Übereinstimmung einiger in völlig getrennten kulturellen Räumen auftretenden Denker zu einem gesamthistorischen Prozeß zusammenzwingt und zu diesem Zweck eine manchmal arg großzügige chronologische Streckung bzw. Verdichtung der von ihm postulierten entwicklungsgeschichtlichen Phasen annehmen muß. Dies ist umso kurioser, als Jaspers bei den meisten von ihm beschriebenen „Achsengesellschaften“ im Anschluß an den postulierten humanistischen Durchbruch eine gewisse „Stagnation“ wahrnimmt, die letztlich nur durch das Abendland überwunden worden sei – eine sehr eurozentrische Darstellung, die daher streng genommen eigentlich eher einen Rückschritt in das oft naive und nur sehr bedingt am tatsächlichen Denken außereuropäischer Zivilisationen ausgerichteten Philosophieren der Aufklärung darstellt.
20.2
Aussichten
Doch auch über diese Einzelerkenntnisse hinaus können wir sicherlich den Anspruch erheben, daß Spengler nicht nur auf die Rolle eines bloßen „Quellentextes“ für die Geschichtsphilosophie und Kulturkritik des frühen 20. Jahrhunderts und einer Inspiration verschiedenster Denker und Literaten reduziert werden darf, sondern auch heute noch wertvolle Anregungen und Denkanstöße zu geben vermag – und mehr noch: daß die Grundidee seines Werks, nämlich die menschlichen Hochkulturen nicht in eine lineare Kontinuität zu setzen und zu einer teleologischen Menschheitsgeschichte zusammenzufassen, sondern vielmehr in ihrer Parallelität zueinander zu interpretieren, immer noch als gültig und fruchtbar zu betrachten ist. Dies soll freilich nicht den Blick für die Probleme der spezifischen Ausführung dieses Programms bei Spengler verschließen, ebenso wie viele andere wissenschaftliche Theoretiker durch die Nachwelt korrigiert und zumindest teilweise auch widerlegt werden mußten, ohne daß dadurch doch der Rang und die prinzipielle Gültigkeit ihrer grundlegenden Inspiration an Bedeutung verloren hätte. Auf Spengler bezogen, würde dies folgende Implikationen haben,
440
Spengler heute
wie in den beiden letzten Kapiteln dieses Bandes (Kap 18 und 19) gezeigt werden konnte. Der Vitalismus als Fundierung kultureller Prozesse ist zwar nicht als fundamental falsch zu betrachten, stellt aber keineswegs eine gültige Letztbegründung dar: Sein und Nichtsein, Leben und Tod, Organisches und Anorganisches als gleichwertige und jeweils eigengesetzliche Antagonisten zu betrachten, führt in einen philosophischen Dualismus, der letztlich zur Aufhebung eines jeden Wahrheitsanspruchs führen muß; allein die bereits von Spengler selbst unbewußt vollzogene Rückbindung vitalistischer an dialektische Prozesse vermag es, diese Aporie zu lösen und das Prinzip des Lebens an die konkrete Selbstwerdung des Geistes zu koppeln, wobei dieser Prozeß allerdings nicht teleologisch linear zu verstehen ist, da er sich dann durch die konkrete Möglichkeit des Abschlusses in seiner Absolutheit selber aufheben würde, sondern vielmehr als ein permanenter zyklischer Anlauf unter jeweils anderen grundsätzlichen Ausgangsbedingungen: Nur die Summe der verschiedenen Versuche des Geistes, zu sich selbst zu finden, nicht aber ihre letztendliche Erfüllung stellen das eigentliche Wesen des Absoluten dar, vor dessen Augen Zeit und Raum ohnehin zusammenfallen. Dies bewirkt dann logischerweise eine Umwandlung des Spengler’schen Lebensalters- und Jahreszeitenmodells in eine zwar in vielerlei Hinsicht analoge, aber transzendent verankerte dialektische Systematik, die ihrerseits vielfach unterteilbar ist und deren jeweilige Synthesephasen, wenn auch unter anderen Grundvoraussetzungen, an die ursprüngliche These anknüpfen und somit aus einer scheinbar linear oder doch antithetisch fortschreitenden Entwicklung eine zyklische machen. Eine wichtige Erkenntnis jener dialektischen Umdeutung der Spengler’schen Phasengliederung war dabei die Tatsache, daß die grundlegende Zweiteilung einer jeden Hochkultur in ein „kultiviertes“ und ein „zivilisiertes“ Zeitalter im Sinne einer grundlegenden dialektischen Opposition nicht erst gegen Ende der jeweiligen Entwicklung einsetzt, sondern vielmehr recht genau in der Mitte, wobei das, was Spengler als „Zivilisation“ bezeichnet, eigentlich dem zweiten Stadium einer jeden Antithese entspricht, in welcher diese sich gewissermaßen nicht nur inhaltlich, sondern auch formal in der Negativität reinen Rationalismus und Materialismus erschöpft, bevor die finale Synthese letztlich den innerlichen Abschluß einer jeden Zivilisation darstellt. Es konnte ferner gezeigt werden, daß sich jenes Grundgerüst tatsächlich bei allen menschlichen Hochkulturen nachweisen läßt, wobei deren Zahl angesichts der erweiterten historischen Kenntnisse der Gegenwart etwas höher liegt als die ursprünglich von Spengler angenommene, und darüberhinaus auch regelmäßig Sukzessionsprozesse kennt, durch welche eine abgeschlossene Zivilisation nach einiger Zeit von einer neuen Kultur abgelöst wird, deren räumlicher Schwerpunkt zwar leicht verschieden ist, welche aber wesentliche territoriale, institutionelle religiöse und gesellschaftliche Befindlichkeiten der vergangenen Hochkultur unter neuen Voraussetzungen fortzuführen scheint – ein Modell,
20. Ausblick
441
das zwar große Ähnlichkeiten mit der Spengler’schen Pseudomorphose aufweist, sich aber nicht ganz auf den hier vorgegebenen Rahmen beschränkt, könnte doch gesagt werden, daß alle Kulturen, die im Laufe ihrer Entwicklung in räumlichen Kontakt zu vergangenen Zivilisationen geraten, zur Ausbildung zumindest punktueller Pseudomorphosen neigen. Es muß dabei freilich künftigen Untersuchungen vorbehalten bleiben, die hier nur skizzierten Umrisse im Detail auszufüllen und nicht nur auf allgemeine Übereinstimmungen, sondern auch scheinbare oder tatsächliche charakteristische Abweichungen hin zu prüfen. Auch ergibt sich in Anbetracht der hier apriorisch entwickelten dynamischen Entwicklung die Notwendigkeit, viele der Quellen vor allem zu den weniger bekannten außereuropäischen Hochkulturen zumindest versuchsweise in einem völlig anderen Lichte als bisher zu lesen und immer dann, wenn möglich und nötig, eine paradigmatische Umwertung zu vollziehen, um überhaupt erst ein konkretes und belastbares Grundmaterial zu erarbeiten, welches eine Geschichtsschreibung entlang der vorgestellten Linien ermöglicht – oder, wo eine solche Umdeutung nicht möglich zu sein scheint, zu einer vertieften Analyse einzuladen. Somit findet sich das zukünftige Programm in diesem Ausblick eher abgesteckt als wirklich ausgeführt, zumal neben den oben erwähnten noch zahlreiche weitere Aspekte beachtenswert sind, die hier bislang kaum zur Sprache kommen konnten. Da wäre zum einen die fundamentale und von Spengler immer nur sehr ansatzweise gestreifte Frage nach dem Auslöser jener geistigen Dynamik, welche den Ablauf eines kulturellem Zyklus in Gang setzt: Die von Spengler regelmäßig als Element angeführte „Weltangst“ ist ja im eigentlichen Sinne kein Auslöser, sondern vielmehr ein allgemeiner Zustand, auf den die Kultur eine Antwort zu geben versucht. Wenn der eigentliche Auslöser einer Hochkultur vorläufig unbekannt ist, bleibt auch das Stadium der „Nachgeschichte“ letztlich mysteriös. Was genau bewirkt das allmähliche Verlöschen und Versteinern einer Zivilisation: Eine zunehmende Verringerung der Zahl jener Menschen, die sich für das kollektive Überleben jener gesellschaftlichen Entität einsetzen, während viele andere nur noch auf die jeweiligen Gegebenheiten reagieren, ohne sich doch in Kontinuität zur Vergangenheit zu setzen? Oder ein allmähliches, überall spürbares Abebben eines in diesem Falle noch genauer zu definierenden kulturellen Dranges? Oder schließlich gar die Tatsache, daß ein (zivilisatorisches) Paradigma im Bewußtsein der Menschen durch ein anderes, diesem als gleichwertig erachtetes, aber entlang anderer Kriterien funktionierendes posthistorisches Paradigma ersetzt wird? Sicherlich könnten hier auch Studien zur interkulturellen Persönlichkeitskonstruktion wesentliche Auskünfte liefern. In diesem Sinne stellt sich auch die Frage nach der konkreten „Übertragung“ des kulturellen Impetus von einem Menschen, einer Familie, einer Siedlung, einem Volk oder einer Generation auf die nächste. Wie verbreitet sich
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Spengler heute
„Kultur“ konkret in Zeit und Raum, welche Parameter bedingen die allmähliche Verschiebung ihrer Schwerpunkte entlang kulturmorphologischer Linien, auf welcher unterbewußten Ebene interagieren die archetypalen „Seelenbilder“ einer jeden Kultur mit der Persönlichkeit des Einzelnen? Hier bestünde ein weites Feld kultur- wie individualpsychologischer Analyse kulturmorphologischer Übertragungsprozesse, wobei es vor allem der tiefenpsychologische Ansatz ist, der besonders vielversprechend für ein Verständnis jener Fragen scheint. Ein letzter, doch alles andere als unwesentlicher Aspekt ist die Frage nach der transzendenten Bestimmung des Menschen als eines Wesens, das fraglos den von Spengler beschriebenen deterministischen Prozessen ausgeliefert ist, trotzdem aber zu allen Zeiten und an allen Orten analoge Bedürfnisse besitzt und vor allem auf einer hinter der Fassade kultureller Prägung doch immer gleichbleibender Suche nach einem tieferen Sinn ist, den er in sein Dasein zu legen vermag bzw. diesem entnehmen kann, und nach der Freiheit, die in ihm liegenden Anlagen zu entwickeln: Auch hier antwortet Spengler nur auf die ästhetischen und vitalistischen Aspekte jener Frage und entwirft daher ein notgedrungen elitäres Bild, das den grundlegenden Lebenserfahrungen eines Großteils jener Menschen, die eher Opfer als Richter beim historischen Weltgericht sind, kaum gerecht wird. Eine wirkliche, moralisch überzeugende Anthropologie des Menschen im vorhistorischen, historischen und posthistorischen Stadium der Kulturentwicklung steht daher noch aus.
Publikationsnachweis Nachstehend finden sich die bibliographischen Angaben jener Kapitel dieses Bandes, die bereits in anderer Form veröffentlicht wurden bzw. sich im Druck befinden. Auch an dieser Stelle sei den Herausgebern der entsprechenden Bände und Zeitschriften für die Erlaubnis zur Wiederverwendung des Materials gedankt. Kapitel 2: Oswald Spengler and the Decline of the West, in: M. Sedgwick (Hg.), Key Thinkers of the Radical Right, Oxford, 2019, S. 3–21. Kapitel 3: Déterminisme et morphologie culturelle. Quelques observations méthodologiques autour du „Déclin de l’Occident“ d’Oswald Spengler, in: L. Carré / Q. Landenne (Hgg.), La philosophie allemande de l'histoire, Paris, 2019, S. 145–171. Kapitel 4: Von der Einsamkeit des Spenglerianers, in: The Journal of the Oswald Spengler Society 1, 2018–2019, S. 13–18. Kapitel 5: „Ducunt fata volentem, nolentem trahunt. Spengler, Hegel und das Problem der Willensfreiheit im Geschichtsdeterminismus“, in: Saeculum 59, 2009, S. 269–298. Kapitel 6: „Es gibt keine Philosophie überhaupt: Jede Kultur besitzt ihre eigne.“ Überlegungen zu Spenglers Entwurf einer neuen Philosophiegeschichte und seinen Wurzeln im deutschen Idealismus, in: A. De Winde u.a. (Hgg.), Tektonik der Systeme. Neulektüren von Oswald Spengler, Heidelberg, 2016, S. 63–84. Kapitel 7: „Marx ist tot“. Die Rezeption von Karl Marx in Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“, in: P. Reinard (Hg.), Karl Marx und sein Einfluß auf die Erforschung der antiken Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Wiesbaden, 2020, S. 367–398. Kapitel 8: Oswald Spenglers „magische Kultur“: Historische Anmerkungen zu einem denkwürdigen Konzept, in: M. Groß / R.M. Kerr (Hgg.), Die Entstehung einer Weltreligion VI. Vom umayyadischen Christentum zum abbasidischen Islam, Berlin / Tübingen, 2021, S. 262–294. Kapitel 9: Is there a „Persian“ Culture? Critical Reflections on the Place of Ancient Iran in Oswald Spengler’s Philosophy of History, in: M.J. Versluys / R. Strootman (Hgg.), Persianism in Antiquity, Stuttgart, 2017, S. 21–44. Kapitel 10: Babylonien, Indien, Mexiko und China im „Untergang des Abendlandes“, in: D. Engels / G. Morgenthaler / M. Otte (Hgg.), Oswald Spengler in an Age of Globalisation, Lüdinghausen / Berlin, 2021 (im Druck). Kapitel 12: „Wir leben heute ‚zwischen den Zeiten‘.“ Die „Jahre der Entscheidung“ und die Krise des 20. Jahrhunderts im Geschichtsbild Oswald Spenglers, in: H. Scholten (Hg.), Die Wahrnehmung von Krisenphänomenen. Fallbeispiele von der Antike bis in die Neuzeit, Köln / Weimar / Wien, 2007, S. 223–250. Kapitel 13: „Das Gescheiteste, was überhaupt über mich geschrieben ist.“ André Fauconnet und Oswald Spengler (mitsamt der bislang unveröffentlichten Korrespondenz Fauconnets mit August Albers, Hildegard und Hilde Kornhardt und Richard Korherr), in: Z. Gasimov / C.A.
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Publikationsnachweis Lemke Duque (Hgg.), Oswald Spengler als europäisches Phänomen. Der Transfer der Kultur- und Geschichtsmorphologie im Europa der Zwischenkriegszeit 1919-1939, Göttingen/Bristol, 2013, S. 105–156.
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Register Der Leser findet nachstehend den Verweis auf jene Seiten, wo die wichtigsten für das behandelte Thema relevanten Personen, Dynastien, Reiche, Kulturen oder sonstige bedeutende historische Begriffe Erwähnung finden.
Abbasiden 117, 149, 159–161, 173, 174, 178, 188, 190, 235, 236, 412, 425, 432, 433 Abendland passim (s. auch faustische Kultur) Absolutismus 179, 202, 230, 231, 236, 383, 413 Abu Bakr 153 Achämeniden 148, 157, 159, 163–166, 174–177, 179, 182, 184–196, 188, 385, 401, 411, 423, 432, 433, 437 Achsenzeit 20, 165, 359–372, 439 Adam, Brooks 28, 314 Adorno, Theodor W. 39, 40, 43, 55, 84, 87, 138, 245, 246, 360, 370, 419 Agamemnon 174, 401, 409 Ägypten 27, 30, 31, 34, 35, 57, 71, 90, 102, 117, 119, 126, 133, 142, 143, 150, 164, 166, 167, 189, 190, 192, 194, 198, 200, 202, 230, 239, 306, 326–328, 332, 334, 335, 362, 366, 368, 371, 372, 378, 380, 381, 383, 384, 387, 389, 394, 405, 420, 421, 425, 427, 432, 433 Ahmose 332 Ahriman 158, 411 Ahura Mazda 146, 158, 180, 186, 403, 411 Akkad 190, 192, 425, 432, 433 Akṣapāda 410 Al-Biruni 97, 173 Al-Chwarizmi 97, 173 Al-Farabi 96, 148, 161, 170, 173, 404, 412 Al-Ghazali 404, 412 Al-Mahdi 432, 433 Alarich 215 Albers, August 257, 270–273, 283, 284, 293 Alexander der Große 32, 149, 160, 161, 165, 174, 176, 177, 186, 200, 206, 218, 328, 380, 402, 411, 412 ’Ali 131
Amarna-Zeit 182, 425, 432, 433 Amenemhet III. 31 Amenophis IV. 386 Ammianus Marcellinus 28 Anaximander 400 Anaximenes 400 Andenkultur 199–201, 381, 432, 433 Angkor 196, 197, 382, 383 Anselm von Canterbury 413 Antigoniden 409 Antike 11, 16, 19, 27, 28, 30, 32–34, 54, 57, 69, 71, 73, 78–80, 84, 89, 94, 95, 99, 102, 108–110, 117, 121, 122, 125, 126, 128, 133, 142–149, 153–155, 157, 161, 163, 164, 166–170, 174, 176–177, 189, 192, 193, 195, 200, 201, 220, 235, 243, 259, 260, 262, 263, 306, 313, 314, 317, 318, 321, 325–335, 338, 342, 365, 368, 376, 379–381, 384, 387, 388, 390, 393, 394, 402–407, 409, 420, 425, 429, 432, 433, 437 Antiochos I. 184 Antiochos III. 184 Antiochos VII. 411 Antiochos von Askalon 409 Antisthenes 118 Apokalyptik 129, 146, 151, 171, 176, 349, 367, 380, 385 Apollinische Kultur s. Antike Aranyaka 403, 410 Archaik 109, 335, 401, 423, 432, 433 Archimedes 97, 173 Archytas 96, 172 Ardashir I. 177, 411 Argeaden 409 Aristoteles 73, 96, 102, 109–111, 113, 119, 148, 170, 173, 195, 367, 409 Arsakiden 157, 184, 372, 423, 425 Artabanos IV. 411 Artaxiden 184
480 Aruni 410 Asoka 194, 195, 197, 385, 386, 410, 432, 433, 437 Assyrien 175, 176, 187, 190–193, 334, 351, 382, 423, 425, 427, 432, 433, 437 Asuka-Zeit 203, 384, 423, 432, 433 Atkinson, Charles Francis 320 Atlantis 317, 378 Augustinus 18, 158, 161, 171, 412 Augustus 157, 185, 186, 199, 241, 332, 334, 386, 412, 432, 433 Avicenna 96, 148, 170, 173 Awesta 143, 144, 146, 151, 171, 180, 384 Azteken 198–200, 381, 428, 437 Babylonien 19, 27, 30, 34, 57, 90, 143, 166–168, 175–177, 180, 187, 188–192, 196, 330, 331, 342, 462, 268, 371, 382, 384, 385, 388, 423, 437 Bacon, Francis 28, 96, 172, 420 Bâdarâyana 410 Bagby, Philip 38 Barhadratha-Dynastie 410 Barock 125, 149, 174, 190, 194, 198, 215, 381, 386 Baur, Karl 399 Beck, Heinrich 273 Beethoven, Ludwig van 347 Behn, Fritz 289 Bentham, Jeremy 118, 173 Bergson, Henri 94 Berlusconi, Silvio 223 Bernard von Clairvaux 171 Bhagavadgita 403, 410 Boccaccio, Giovanni 352 Boethius 403, 412 Bolschewismus 128, 129, 219 Bonapartismus 218, 328 Boris Godunov 386 Borkenau, Franz 111 Brahmanen 144, 171, 193, 194, 196, 202, 386, 388, 401, 403 Brassai 352 Brentano, Franz 112, 113, 419 Bruno, Giordano 171 Brutus 218 Buchan, John 208 Buddha, Buddhismus 117, 119, 172, 173, 193–195, 361, 364, 366, 367, 410 Burckhardt, Jacob 70, 78
Register Burenkriege 212, 213 Buren-Staaten 207–213 Buyiden 161 Byzanz 19, 30, 117, 141, 143, 148, 153, 169, 170, 172, 174, 178, 179, 189, 331, 335, 383–387, 390, 432, 433 Caesar, C. Iulius 81, 195, 205–223, 243, 409 Caesarismus 14, 19, 36, 37, 39, 41, 43, 49, 52, 131, 137, 149, 185, 194, 205–223, 236, 238, 240, 250, 278, 281, 300, 304, 305, 307, 310, 314, 328, 437 Cai Jing 432, 433 Caligula 218 Caracalla 154 Carlyle, Thomas 207 Carroll, Lewis 306 Carvâka 403, 410 Catilina 223 Cato der Ältere 28 Chakravartin 410 Chaldäer 146, 164, 175, 176, 180, 382, 385 Chamberlain, Houston Stewart 290 Chamberlain, Joseph 208, 212 Chandragupta I. 410 Chandragupta II. 410, 427, 432, 433 Charakene 184 Chassidim 412 Chenla-Periode 197, 382, 423, 432, 433 Chimú 201, 381, 425, 432, 433 China 9, 19, 27, 30, 34, 40, 57, 63, 71, 80, 87, 90, 95, 102, 117, 119, 120, 123, 124, 126, 137, 166, 167, 185, 186, 189, 190, 192, 194, 196–198, 201–203, 214, 222, 230, 234, 235, 238, 306, 323, 330, 336, 337, 341, 351, 355, 361, 363, 366, 368, 369, 371, 372, 383, 380, 382, 383, 387, 388, 394, 401–405, 408, 420, 421, 423, 425, 427, 432, 433, 437 Chlodwig 386, 411 Chosroes II. 385, 411, 432, 433 Chosroes 157, 179, 185, 186, 380, 385, 386, 427 Christentum 17, 19, 30, 31, 34, 45, 46, 61, 70, 83, 89, 95, 103, 112, 117, 122, 128, 129, 141–145, 148–150, 152, 154–156, 158, 160, 161, 167–171, 178–182, 186, 188, 196, 202, 261, 312, 332–336, 339, 351, 363, 365, 368, 380, 384, 385, 389,
Register 393, 394, 401, 403–407, 423, 429, 432, 433 Cicero 28 Circusparteien 412 Clodius 223 Commodus 191 Comte, Auguste 97, 118, 173 Condorcet, Marie Jean Antoine 430 Conquistadores 197, 198, 206, 381, 437 Constantin der Große 154, 160, 331, 401, 402, 412, 425, 432, 433 Cortéz, Hernán 197, 198 Crassus 219, 220 Cromwell, Oliver 153 Cuicuilco-Periode 199, 432, 433 Cusanus 113, 171, 393, 397, 403, 413, 419 Danilewski, Nikolai Jakowlewitsch 28, 420 Dante 171 Dark Ages 423, 432, 433 Darshana 404 Darwin, Darwinismus 16, 97, 119, 120, 122, 132, 173, 190, 207, 228, 301, 304, 324, 338, 354, 378 Demokratie 14–16, 26, 36, 39, 41, 46, 49, 61, 78, 122, 131, 135–138, 215, 218, 219, 222, 223, 230–236, 238, 243, 336, 359, 389, 392, 430 Descartes, René 96, 108, 113, 172, 403, 413 Determinismus 11, 13–15, 17, 19, 35, 38, 47–51, 59, 60, 62, 67, 80, 72, 115, 121, 225, 228, 242, 244, 342, 435, 442 Deussen, Paul 253 Dialektik 19, 28, 67–113, 119, 158, 165, 244, 370, 392–406, 415–431, 436, 440 Dietrich, Marlene 347 Diktatur 14, 26, 51, 136, 206, 220, 225, 227, 232, 236, 237, 243, 275, 362, 369 Dilke, Charles 207 Dilthey, Wilhelm 13, 28, 71, 94, 98, 99, 102, 107, 394 Diodotiden 184 Diokletian 160, 178, 179, 182, 423, 432, 433 Dionysios Areopagita 412 Disraeli, Benjamin 207, 208 Dorik 31, 149, 174 Dorische Wanderung 409
481 Dos Passos, John 343, 351 Dostojevskij, Fjodor 128, 129, 350, 387 Drakon 409 Dritte Dynastie von Ur 191, 192, 427 Droysen, Johann Gustav 165 Duns Scotus 96, 148, 170, 171 Dvaravati 197, 382 Eckart (Meister) 96, 109, 171 Edo-Zeit 203, 384 Einstein, Albert 260, 261 Engels, Friedrich 73, 118, 123 Epikur, Epikureer 97, 118, 173, 195 Erechtheion 31 Essener 412 Eudoros 404, 409 Euklid 69, 97, 102, 126, 173 Europäische Union 40, 59, 63, 221, 389– 392, 402, 413 Evola, Julius 250 Expressionismus 335 Faschismus 26, 90, 91, 101, 136, 138, 219, 227, 236, 245, 250, 275, 281, 298, 313, 328, 257 Fatimiden 90, 159, 161, 385, 390, 402, 412, 427, 432, 433, 436 Fauconnet, André 12, 20, 39, 249–294, 295, 438 Faure, Elie 350, 356 Faustische Kultur 30, 31, 33, 34, 54, 71, 95, 102, 118, 119, 125, 126, 128, 145– 147, 149, 156, 158, 168, 192, 215, 228, 239, 240, 260–264, 299, 307–309, 311, 312, 315, 341, 368, 386, 394 (s. auch Abendland) Fèbvre, Lucien 267, 268 Fellachentum 35, 36, 159, 176, 194, 196, 198, 202, 237, 315, 360, 361, 378, 382, 383, 385 Fengjian 401 Fengjian 408 Feudalismus 14, 55, 122, 157, 174, 178, 179, 183–185, 197, 199, 202, 203, 311, 312, 382–385, 401, 411, 422, 423 Feuerbach, Ludwig 173 Fichte, Johann Gottlieb 78, 135, 173 Fitzgerald, Francis Scott 20, 38, 249, 295– 315, 324, 343, 353, 357, 438 Fitzgerald, Zelda 297, 306
482 Florus 28 Ford, Henry 324 Fourier, Charles 123 France, Anatole 255 Francé, Raoul 254 Franz von Assisi 171 Französische Revolution 67, 130, 160, 402 Frataraka 184, 411 Freud, Sigmund 302 Friedrich II. der Große 131, 199 Friedrich II. von Hohenstaufen 413 Friedrich Wilhelm I. 133, 328 Frobenius, Leo 28, 293 Frühlings- und Herbstzeit 401, 425, 432, 433 Frye, Northrop 343 Fukuyama, Francis 83, 88, 112, 245, 343, 370, 430 Fuller, John Frederick Charles 298 Funan-Periode 197, 382, 423, 432, 433 Fünf Dynastien 202, 383, 432, 433 Futurismus 129, 319 Galilei, Galileo 96, 172, 382, Gauguin, Paul 348 Gegenreformation 31, 185 Gibbon, Edward 331 Gilgamesh 366, 432, 433 Gladstone, William Ewart 207 Globalisierung 230, 360, 392, 432, 433 Gnosis 95, 146, 148, 151, 170, 171, 180, 403, 411 Gobineau, Arthur de 290 Goddard, Henry H. 300 Goebbels, Joseph 43, 231 Goethe, Johann Wolfgang von 11, 16, 27, 32, 46, 53, 69, 71–73, 82, 96, 101, 102, 109–111, 122, 135, 148, 170, 173, 251, 255, 259, 280, 346, 347, 352, 380, 391, 394, 420 Goldene Bulle 401, 413 Gotik 31, 32, 70, 86, 95, 198, 216, 321, 371 Grant, Madison 314 Grautoff, Otto 269, 276 Griechenland 30, 33, 34, 37, 71, 83, 95, 103, 109, 137, 143, 145–150, 152, 133– 168, 170, 174, 179, 186–188, 205, 214, 323–335, 363, 364, 366, 380, 387, 390, 392, 401–403, 409, 420, 421, 423
Register Gründel, Günther 290 Gupta-Dynastie 63, 90, 194, 196, 372, 382, 386, 402, 425, 427, 432, 433, 437 Guti 192, 432, 433 Habsburger 184, 413, 423, 432, 433 Hadekel-Bogdanovitch, Raia 272 Hadith-Literatur 153, 155, 404, 412 Haeckel, Ernst 69, 99 Hammurabi 190–193, 437 Hamsun, Knut 351 Han Gaotsu 386, 432, 433 Han-Dynastie 408, 432, 433 Han-Dynastie 63, 90, 201, 202, 239, 330, 332, 372, 383, 388, 402, 404, 427, 437 Hanifen 153 Hannibal 387, 388 Harappa 89, 381, 382, 387, 421, 423, 425, 427, 432, 433 Haryanka-Dynastie 410 Hauptmann, Gerhart 266 Hebbel, Friedrich 72, 73, 118, 119, 173 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 9, 13, 16, 17, 19, 28, 67–113, 115, 118, 119, 121, 122, 124, 132, 133, 135, 158, 165, 173, 195, 204, 244, 259, 308, 318, 354, 364, 365, 370, 393–401, 404, 405, 413, 417, 419, 428, 435, 436 Heian-Zeit 203, 384, 423, 432, 433 Heidegger, Martin 38, 113 Heiliges Römisches Reich 185, 391, 401– 402 Hellenismus 55, 95, 97, 99, 107, 119, 124, 148, 149, 159–161, 171, 173, 174, 177, 186, 190, 191, 194, 195, 198, 200, 201, 203, 205, 321, 232, 388, 390, 392, 401– 403, 409, 411, 425, 432, 433 Heller, Erich 112 Hemingway, Ernest 297, 312 Heraklit 24, 75, 82, 93, 101, 109, 167, 259, 364, 399, 403, 409, 419 Herder, Johann Gottfried 32, 70, 394, 420 Herodot 71, 164, 194, 202, 330, 334, 416 Herrmann, Claus 289 Hesiod 95, 171, 403, 409 Hesse, Hermann 23, 38, 418 Hethither 382 Hideyoshi 425, 432, 433 Himmler, Heinrich 240, 274, 275 Hippodamos 330
Register Hitler, Adolf 23, 26, 39, 90, 227, 250, 268, 278, 289, 290, 313, 347, 357 Hohenzollern 136, 238 Hölderlin, Friedrich 273, 284 Holmes, Oliver Wendell 314 Homer 31, 152, 171, 401, 403, 409, 423 Hösle, Vittorio 92, 94, 112, 113, 164, 397, 417, 419 Houellebecq, Michel 29, 38 Huari 425, 432, 433 Humanismus 13, 51, 56, 62, 229, 366, 380, 416, 429, 430, 439 Humboldt, Alexander von 71 Hume, David 113, 123 Hundert Schulen 408 Huntington, Samuel 343, 369 Hyksos 31, 117, 131 Ibn Khaldun 204 Ibn Kurra 173 Ibsen, Henrik 72, 118, 119, 129, 173 Idealismus 9, 10, 20, 69, 70, 77, 92–113, 124, 125, 164, 172, 173, 194, 397, 398, 403, 404, 419, 424, 427, 435, 436 Ieyasu 427, 432, 433 Ikonoklasmus 148, 170 Imperialismus 23, 32, 52, 174, 185, 203, 205, 207, 208, 213, 214, 217–219, 221, 239, 240, 243, 261, 262, 264, 266, 384, 385, 402, 418 Indien 9, 19, 27, 30, 34, 54, 57, 63, 71, 89, 90, 95, 102, 117, 118, 143, 150, 164, 167, 170, 173, 186, 189, 190, 192–197, 200–202, 207–209, 212, 230, 328, 327, 330, 323, 341, 361, 368, 371, 372, 378, 380–387, 394, 401–407, 410, 425, 432, 433, 437 Individualismus 11, 12, 76, 91, 104, 106, 134, 237, 239, 243, 322, 323, 336, 349, 361, 369–371, 392, 396, 398, 404, 422– 425, 442 Indus-Kultur s. Harappa Inkas 200, 201, 380, 381, 427, 432, 433 Innocenz III. 121 In-no-chō Kaiser 160, 423, 432, 433 Interregnum 401, 413 Investiturstreit 413 Iran 9, 142, 143, 157–159, 163–188, 371, 372, 378, 384, 385, 387, 401–405, 407, 411, 420, 421, 423, 425, 432, 433, 436
483 Isin 192 Islam 9, 19, 30, 34, 96, 97, 117, 141–161, 163–188, 189, 190, 198, 201, 330, 362, 369, 372, 380, 383, 384, 385, 387, 404– 407, 408, 425, 432, 433, 436 (s. auch Magische Kultur) Iwan III. 386 Iwan IV. der Schreckliche 386 Jahwe 146, 180 Jaimini 410 Jainismus 196, 410 Jamblichos 148, 170, 171 James, Henry 314, 324 Jameson-Raid 212, 217 Jansenismus 96, 121, 172, 267 Japan 33, 37, 123, 196, 203, 230, 234, 237, 240, 274, 337, 383, 384, 387, 388, 421, 423, 425, 427, 432, 433, 437 Jaspers, Karl 20, 165, 359–372, 439 Jayavarman VII. 427, 432, 433 Jemdat Nasr 192, 423, 432, 433 Jesaja 144, 146, 180 Jesus Christus 83, 120, 144, 145, 152, 160, 412 Joachim von Fiore 28, 70, 158, 171, 364, 393, 413 Johannes von Damaskus 149, 150 Johannesevangelium 146, 152 Joyce, James 52, 346 Judentum 19, 34, 135, 141, 143, 147–150, 152, 155, 158, 166, 169, 170, 172, 179, 180–182, 186, 253, 272, 273, 303, 309, 336, 339, 384 Jung, C. G. 81 Jünger, Ernst 38, 233 Justinian 31, 160, 179, 190, 196, 412, 436 Kalidasa 332 Kalokagathia 401, 409 Kalter Krieg 24, 36, 40, 59, 90, 245, 359, 369, 389 Kalvin 121, 171 Kamakura-Zeit 203, 384, 425, 432, 433 Kämpfende Staaten 131, 183, 185, 192, 196, 197, 201, 382, 383, 402, 408, 425, 432, 433 Kangxi 427, 432, 433
484 Kant, Immanuel 45, 52, 68, 69, 71, 73, 96, 98, 101, 102, 109–111, 118, 133, 148, 170, 173, 259, 334, 418 Kapetinger 311 Kapila 410 Kapitalismus 14, 26, 39, 59, 123, 124, 129, 131, 135–137, 160, 233, 234, 238, 262, 423, 436 Kardir 411 Karl der Große 218, 334, 380, 386 Karl Martell 386 Karl V. 160, 191, 196, 413, 432, 433 Karolinger 148, 159, 174, 176, 177, 386, 401 Karthago 37, 150, 196, 388, 390, 392 Kasch 378 Kassiten 192 Kastenordnung 410 Kataphrakten 178 Katholizismus 144, 148, 160, 170, 171, 251, 354 Kemmu-Restauration 432, 433 Keynes, John Maynard 238 Keyserling, Eduard von 345 Khmer-Reich 197, 484, 425, 427, 432, 433, 437 Kipling, Rudyard 207, 213 Kissinger, Henry 39, 69, 343 Kitchener, Herbert 212 Klassizismus 31, 84, 126, 127, 149, 174, 244, 311 Kleopatra 332 Klöres, Hans 67, 134 Kojève, Alexandre 87, 112 Kolonialismus 89, 184, 185, 205–223, 226, 230, 234, 237, 239, 240, 318, 326, 389, 427, 438 Kommunismus 43, 59, 125, 133, 136, 173, 238, 290, 310, 327, 343, 387 Konfuzius 117, 194, 198, 201, 202, 361, 364, 366, 367, 371, 372, 383, 391, 404, 408 Koran s. Qur’an Korherr, Richard 239, 252, 257, 273–276, 278–281, 284–292 Kornhardt, Hilde 25, 276, 279, 280, 284, 287, 288, 291, 294 Kossäer 175, 191, 382, 385 Kot-Diji-Periode 423, 432, 433 Kreuzzüge 178
Register Kruger, Paul 210, 212 Kshatrapa 410, 425, 432, 433 Kshatriya 401, 410 Kushan-Reich 196, 410, 425, 432, 433 Kybele 354 Kyniker 173 Kyros 151, 175, 176, 190, 191, 382 Laotse 194 Lassalle, Ferdinand 123 Lawrence, D. H. 306 Leers, Johann von 290 Leibniz, Gottfried Wilhelm 73, 96, 102, 108, 110, 172, 413 Lenbach, Franz von 332 Lenin, Vladimir Ilijtsch 236, 298, 37 Lessing, Gotthold Ephraim 28, 367 Lévi-Strauss, Claude 88, 420 Lévy, Bernard-Henri 235 Liebmann, Otto 273 Liga von Mayapan 198–199 Lindbergh, Charles 324 List, Friedrich 123 Lobengula 211 Locke, John 172 Lovecraft, Howard Phillips 20, 38, 317– 342, 343, 438 Loyola, Ignatius von 121 Ludwig XIV. 109, 160 Lukác, György 13, 115, 245 Luther 96, 121, 135, 150, 160, 171 Lykurg 409 Machiavelli 120, 204 Magische Kultur 19, 30, 33, 34, 123, 128, 141–161, 167–169, 176, 180, 181, 183, 187, 189, 192, 199, 200, 329, 335, 362, 381, 384, 385, 432, 433, 436 Mahajanapada-Zeit 196, 423, 432, 433 Mahâvibhâsha 410 Mahavira 410 Makart, Hans 332 Makkabäer 151, 161, 412 Malthus, Thomas Robert 119, 120 Mandäismus 95, 146, 151, 171, 334 Mani, Manichäismus 143, 148, 158, 179– 182, 334, 384, 393, 399, 404, 411 Mann, Thomas 10, 13, 23, 32, 38, 52, 87, 141, 229, 256, 262, 263, 266, 269, 295, 315, 325, 346, 354
Register Manu 410 Marc Anton 412 Marc Aurel 215 Marcion, Marcioniten 152, 171, 180, 181 Marduk 146, 180 Markusevangelium 152 Marx, Karl 9, 10, 13–15, 19, 73, 76, 97, 113, 115–138, 173, 232, 298, 428, 436 Matabele-Kriege 211 Maugham, William Somerset 348 Maurya 196, 330, 401, 423, 432, 433 Maya 89, 197–200, 351, 381, 425, 437 Mazdaismus 19, 34, 141, 143, 146, 148, 150, 155, 158, 166, 169, 178–182, 185– 188, 384, 387, 403, 404, 411 Mazdak, Mazdakismus 148, 158, 170, 171, 179, 185, 186, 404, 411, 425, 432, 433 Meder 175, 191, 382, 411 Mencius 408 Menes 215 Mentuhotep II. 432, 433 Merlio, Gilbert 40, 359, 366 Merowinger 148, 174, 386 Mesoamerika 30, 189, 190, 197, 198–201, 382, 423, 425, 427, 432, 433, 437 (s. Mexiko, Maya) Mesopotamien 9, 150, 153, 176, 184, 190, 191–193, 202, 382, 405, 421, 423, 437 Messianismus 19, 34, 141, 146, 161, 180, 185, 186, 380, 385, 401, 403, 412, 423, 427, 432, 433 Mexiko 19, 27, 30, 57, 71, 102, 189, 197– 200, 334, 368, 380, 387, 394, 437 Meyer, Eduard 28, 37, 187, 191, 243 Mill, John Stuart 118 Miller, Henry 20, 38, 101, 249, 324, 343– 357, 375, 438 Mîmâmsâ-Schule 410 Ming-Dynastie 202, 383, 425, 432, 433 Misch, Georg 71, 102, 394 Mischna 143, 155, 384 Mitanni 193, 423, 432, 433 Mithras 32, 148, 154, 170, 171, 181, 189, 403, 411 Mithridates II. 411, 432, 433 Mithridatischer Krieg, Erster 389 Mittelalter 55, 70, 79, 83, 96, 123, 148, 156, 158, 160, 161, 167, 170, 178, 179, 186, 189, 192, 193, 196, 200, 260, 315, 372, 387, 423, 432, 433
485 Mittelplatonismus 404 Moche-Periode 200, 381, 423, 432, 433 Moderne 9, 12, 15, 16, 19, 24, 37, 43, 44, 46–48, 52, 55, 59–61, 76, 87–91, 95, 107, 109, 119, 120, 124, 129, 137, 142, 149, 159, 161, 165, 168, 174, 177, 179, 183, 190, 191, 193, 196, 200–204, 211, 215, 219–220, 230, 231, 236, 239, 243, 244, 254–256, 260, 264, 268, 270, 279, 288, 298, 310, 314, 320, 334, 335, 338, 349, 360, 365, 369, 381, 388, 393, 415, 416, 425, 429, 430, 432, 433, 437 Moeller van den Bruck, Arthur 236 Moghuln 428 Mohammed s. Muhammad Moh-ti 117, 125 Mongolen 144, 147, 178, 202, 383, 428 Monophysitismus 96, 148, 150, 170, 171 Montesquieu, Charles de 78 Montezuma 24 Moore, George 348 Moses 151, 155 Mozart 31 Mu’taziliten 96, 148, 159–161, 170, 172, 404, 412 Muhammad 151, 153, 172, 412 Mumford, Lewis 240 Muromachi-Zeit 203, 384, 425, 432, 433 Musil, Robert 31 Muslimisch s. Islam Mussolini, Benito 26, 27, 49, 236, 239, 274, 275, 277, 285, 286, 298, 300, 328 Mykener 148, 174, 176, 215, 401 Mystik 32, 72, 73, 95, 96, 102, 110, 147, 151, 160, 170–172, 185, 311, 337, 345, 355, 356, 398, 402, 403, 413 Nâgârjuna 410 Nanda-Dynastie 410 Napoleon I. 32, 90, 157, 159, 160, 174, 183, 206, 209, 214, 218, 219, 221, 228, 309, 389, 391 Napoleon III. 218, 219 Nara-Periode 432, 433 Nationalsozialismus 20, 23, 26, 38, 39, 41, 43, 136, 137, 219, 225, 227, 228, 245, 250, 257, 268, 272, 276, 277, 279, 281, 289–291, 293, 295, 323, 324, 346, 357, 378, 438 Naturalismus 335
486 Neoplatonismus 96, 113, 152, 161, 334 Nero 218, 397 Nestorianismus 96, 148, 170, 171, 182, 351 Neuplatonismus 161 Neupythagoreismus 96, 113, 151, 152, 334 Newton, Isaac 96, 172 Nietzsche, Friedrich 13, 15–17, 27, 35, 41, 45, 69, 73, 84, 85, 87, 97, 101, 102, 109–111, 113, 118–120, 173, 195, 227, 228, 231, 241, 252, 253, 267, 269, 293, 297, 336, 344, 346, 347, 350, 352, 367 Nihilismus 97, 101, 111, 118, 119, 290, 310 Nin, Anaïs 347, 352 Nobunaga 425, 432, 433 Nominalismus 403, 413 Notker 413 Nyaya 173, 195 Ockham, William von 113 Ökologie 16, 24, 26, 40, 86, 418 Olmeken 199 Optimaten 389, 409 Orphik 96, 171, 409 Ortega y Gasset, José 37, 232, 240, 241, 295 Orthodoxie 41, 186, 386, 387 Osmanen 159, 185, 428 Ottonen 157, 184, 192, 401, 413 Pacheco, Eleonora 274, 278 Palmyrenisches Reich 143, 333–335, 384, 388 Parmenides 75, 113, 393, 400, 403, 409 Parther 157, 177, 187, 180, 182, 184, 385, 412, 432, 433 Pascal, Blaise 97, 108, 113, 172, 403 Patristik 96, 171 Paulicianer 148, 170, 172, 181 Paulus 146, 152, 412 Peisistratos 31, 409, 432, 433 Perikles 32, 86, 109, 216, 321, 328, 371 Perkins, Maxwell 296, 298, 311 Persien s. Iran Pessimismus 11, 13, 16, 35, 36, 39, 43, 48, 50, 59, 86, 87, 97, 99, 100, 102, 104, 115, 228, 245, 252, 255, 275, 281, 289,
Register 298, 300–302, 304, 347, 369, 371, 380, 391, 435 Peter der Große 129, 215, 386 Petronius 352 Petrus Damiani 413 Phönizier 382 Pilatus, Pontius 127 Pirenne, Henri 169 Platon 73, 90, 91, 96, 109, 110, 113, 117, 127, 148, 170, 195, 303, 393, 397, 400, 419 Plotin 146, 148, 170, 171, 393, 419 Poe, Edgar Allan 340–342 Poincaré, Raymont 264 Polyklet 332 Pompeius 219, 222 Popper, Karl 11, 56, 90, 91, 245, 417 Popularen 389, 409 Porphyrios 149, 355 Prajñâ-pâramitâ 410 Präraffaeliten 335 Praxiteles 335 Preußen 26, 77, 78, 88, 97, 105, 133, 134– 137, 236–238, 262–265, 306, 310, 328, 413 Principat 389, 427, 432, 433 Prithu 401, 402, 410 Proklos 412 Protestantismus 24, 310 Proudhon, Pierre-Joseph 127 Proust, Marcel 52, 346 Pseudomorphose 34, 128, 129, 143, 144, 145, 147, 153, 154, 363, 386, 441 Ptolemaier 161, 190, 335, 385 Punischer Krieg, Zweiter 388 Puritanismus 97, 117, 148, 150, 153, 170, 172, 185, 186, 195, 210, 216 Putun-Periode 432, 433 Pym, John 153 Pyrrhon 173 Pythagoras, Pythagoräer 73, 96, 102, 110, 151, 153, 172, 403, 409, 419 Qin 408 Qin-Dynastie 205, 238, 402, 425, 432, 433 Qing-Dynastie 137, 202, 383, 425, 427, 432, 433, 437 Quesada, Ernesto 37, 274, 275, 278, 285, 292 Qumran 412
Register Qur’an 150–153, 155, 436 Rabelais, François 352 Ramses II. 215, 332, 432, 433 Ranke, Leopold von 47, 92, 121, 122, 372, 396 Rassismus 16, 208, 223, 301, 313, 323, 337, 338 Reformation 95, 96, 148, 160, 170, 171, 180, 185, 196, 386, 413 Reichlin-Meldegg, Karl Alexander von 95 Relativismus 10, 11, 43, 53, 56, 60, 72, 97– 100, 111, 115, 118, 122, 260, 261, 265, 335, 338, 360, 366, 392, 436 Remarque, Erich Maria 347 Rembrandt van Rijn, Harmenszoon 332 Renaissance 79, 120, 98, 321, 413 Reusch, Paul 257 Rhodes, Cecil 19, 205–223, 437–438 Rilke, Rainer Maria 347 Rokoko 32, 86, 149, 174, 216, 231, 321 Romanik 31, 149, 174, 321, 371 Romanows 177, 386 Romantik 31, 68, 73, 84, 102, 110, 120, 149, 174, 268, 303, 311, 314, 324, 355, 389 Römisches Reich 24, 28, 32, 34, 35, 37, 39, 49, 62, 71, 84–86, 90, 103, 127, 135, 143, 147, 154, 155, 159, 160, 163–170, 173, 174, 178, 182, 184, 186–188, 191, 193, 194, 199, 200, 206, 214, 215, 216, 218–223, 229, 236, 238, 239, 241, 243, 263, 306, 310, 311, 314, 317, 321, 330– 335, 341, 354, 369–371, 379, 380, 387– 392, 401, 409, 432, 433 Roosevelt, Theodore 314 Rousseau, Jean-Jaques 68, 109, 117, 119, 121, 125, 130, 172, 231 Rubens, Peter Paul 332 Rurikiden 386 Russel, Bertrand 336 Rußland 30, 33, 34, 37, 39, 127–129, 132, 133, 137, 143, 144, 177, 192, 215, 222, 230, 234, 235, 239, 250, 265, 287, 386, 387, 389, 392 Sailendra-Dynastie 432, 433 Saka-Herrscher 410 Salisbury, Robert 208
487 Salomo 145, 146 Salpeter, Harry 297 Samudragupta 410 Sankhyas 172, 173, 195 Sargon II. 382, 427, 432, 433 Sargon von Akkad 190–193 Sassaniden 142–163, 166, 174, 178, 179, 181, 182, 184–186, 188, 362, 372, 384, 385, 402, 425, 427, 432, 433, 437 Satavahana 410 Satrapenaufstand 411 Savonarola 96, 171 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 13, 173, 393, 419 Schiller, Friedrich 32, 255, 269 Schnellock, Emil 346 Scholastik 33, 70, 72, 73, 95, 96, 102, 110, 147, 148, 156, 161, 170, 171, 194, 403, 413, 422, 427 Schopenhauer, Arthur 13, 16, 97, 119, 164, 173, 195, 253–256, 259, 266 Schule von Gundishapur 411 Sedlmayr, Hans 87 Seeckt, Hans von 25 Seeley, Robert, 207 Seldjuken 149, 159, 174, 385, 390, 412 Seleukiden 148, 157, 161, 163, 174, 177, 179, 184, 186, 188, 385, 386, 401, 411, 423, 432, 433 Seneca 28, 35, 51, 53, 82, 242, 305, 386, 420 Sertorius 389 Sextus Empiricus 113 Seyrig, Henri Arnold 333 Shamshi-Adad I. 382 Shamshi-Adad V. 425, 432, 433 Shang Yang 408 Shangdi 403, 408 Shang-Dynastie 401, 408, 423, 432, 433 Shatavahana-Reich 196, 425, 432, 433 Shishunaga-Adel 410 Shulgi 427, 432, 433 Shunga 196, 425, 432, 433 Shuttarna II. 423, 432, 433 Simmel, Georg 67 Simplicius 412 Skepsis 98–100, 102, 107–112, 148, 160, 170, 173, 195, 355, 394, 419, 424 Sloterdijk, Peter 38 Smith, Adam 123, 127
488 Smith, Clark Ashton 321, 343 Smith, June 344, 345, 351 Sokrates 96, 109, 110, 119, 172, 361, 364, 366, 403, 409 Soldatenkaiser:36, 190, 191, 215 Solon 409 Song-Dynastie 202, 383, 423, 425, 432, 433 Sophismus 33, 43, 96, 109, 113, 117, 148, 160, 170, 172, 173, 190, 351, 409 Sophokles 334, 339 Sorokin, Pitrim 420 Spartakus 131 Spätantike 32, 34, 142–144, 147, 148, 154, 155, 161, 169, 189, 313, 314, 317, 332– 325 Spengler, Hildegard 24, 25, 39, 273, 276 Spinoza, Baruch 413 Staufer 178 Stirner, Max 73, 118, 183 Stoddard, John Lawson 302 Stoddard, Lothrop 301 Stoiker 35, 73, 107, 118, 133, 135, 173, 200, 328, 381, 386, 404 Streitende Reiche (Japan) 203, 384 Strindberg, August 119 Südostasien 196, 197, 203, 382, 387, 423, 425, 432, 433, 437 Sufismus 148, 170, 172 Sui-Dynastie 202, 203, 383, 384, 423, 432, 433 Sulla 388, 389 Sumer 192, 193, 368, 381, 382, 387, 421, 423, 425, 427, 432, 433, 437 Sunna 150 Sutras 172, 195, 403 Symbolismus 335 Talmud 143, 148, 150, 155, 170, 171, 384 Tang-Dynastie 202, 203, 383, 423, 432, 433 Taoismus 198, 200, 202, 381, 383, 403, 408 Tazerout, Mohand 156, 250, 252, 471, 283 Technologie 13, 23, 24, 26, 32, 35, 49, 51, 52, 59, 86, 90, 110, 123–125, 128, 203, 205, 215, 216, 226, 234, 237, 240, 255, 271, 288, 308, 319, 332, 341, 342, 349, 352, 363, 364, 367, 368, 370, 375, 379, 391, 397, 398, 415, 428, 438, 439
Register Teotihuacan 199, 423, 432, 433, 437 Testament, Altes 135, 148, 151, 152, 164, 169 Testament, Neues 70, 143, 148, 152, 170, 384 Theoderich 191, 215 Theodosius 412 Thomas von Aquin 96, 113, 148, 170, 171, 413 Thukydides 56, 417 Tiahuanaco 200, 381, 432, 433 Tizian 31 Tokugawa-Shogunat 427, 432, 433 Tolstoi, Leo 128 Tolteken 200, 381, 427, 432, 433 Tora 151, 155 Totalitarismus 13, 43, 56, 59, 91, 107, 121, 136, 166, 313, 357, 370, 389, 397, 413 Toynbee, Arnold 29, 38, 93, 113, 166, 188, 225, 281, 343, 366, 388, 415, 417, 420, 421 Trump, Donald 223 Tscharvaka 173 Turan 378 Turnbull, Margaret Bayard 298 Tyrannis 422, 423, 432, 433 ’Umar 153 Umayyaden 149, 160, 174, 335 Universalienstreit 413 Upanishaden 171, 172, 194, 195, 410 Urartu 382 Uruk 192, 425, 432, 433 USA 221, 222, 392, 413, 438 Vaiceshika 172, 195 Vatsiputra 410 Veden 171, 194, 403, 410 Vermeil, Edmond 250–252, 257 Verne, Jules 306 Verres 219 Vico, Giambattista 28, 79, 204, 367, 393, 413, 415, 416, 420 Victoria, Königin 208, 221, 322 Vishnuismus 410 Vitalismus 10, 27, 28, 30, 45, 93, 97, 101, 104, 105, 111, 115, 119, 120, 191, 367, 392, 404, 407, 413, 418, 440, 442 Voltaire 164, 165, 172, 231, 367 Vorsokratiker 96, 108, 148, 170, 172, 259
Register Wagner, Richard 72, 82, 85, 87, 118, 119, 173, 256, 267 Wang Anshi 432, 433 Wassermann, Jakob 347 Watteau 31 Weimarer Republik 39–41, 49, 227, 254, 257 Weltkrieg, Erster 23, 25, 89, 130, 213, 214, 217, 219, 226, 230, 234, 235, 253, 264, 293, 303, 306, 313, 325, 338, 341, 347, 357, 388, 402 Weltkrieg, Zweiter 23, 36, 39, 45, 89, 90, 214, 221, 222, 235, 240, 250, 254, 276, 298, 391, 402 Westbrook, Sheilah Graham 298 Whitman, Walt 347 Wittfogel, Karl 166 Wladimir Monomachos 386 Xerxes 176, 351 Xuan 423, 432, 433
489 Yijing 408 Yin-Yang-Schule 404 Yoga Vedanta 173 Yogâcârâ 404, 410 You 423, 432, 433 Yuan-Dynastie 425, 432, 433 Zarathustra 119, 144, 151, 152, 169, 179, 180, 185, 231, 361, 402, 411 (s. auch Mazdaismus) Zenon von Kition 117, 118, 125, 131, 173 Zentralamerika s. Mesoamerika Zhous, Östliche 55, 408, 432, 433 Zhous, Westliche 401, 423, 408, 432, 433 Zindiq 404, 411 Zola, Émile 129 Zoroastrismus s. Mazdaismus Zrvanismus 158, 179, 186, 404, 411 Zweiniger, Arthur 290 Zweite Religiosität 32, 36, 355 Zwingli 150