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German Pages 251 Year 2003
Unter dem Deckel der Diktatur
Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung Band 84
Unter dem Deckel der Diktatur Soziale und kulturelle Aspekte des DDR-Alltags
Herausgegeben von Lothar Mertens
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten V; 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5774 ISBN 3-428-11142-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier
entsprechend ISO 9706 Θ
Vorwort Dieser Sammelband beinhalt die überarbeiteten Vortragsreferate, welche auf einer Kooperationstagung der Fachgruppe Sozialwissenschaft der Gesellschaft fur Deutschlandforschung e.V. in der Akademie für politische Bildung in Tutzing im April 2001 gehalten wurden. Innerhalb des Rahmenthemas Soziale, und kulturelle Aspekte des DDR-Alltags sollten dabei verschiedene Aspekte behandelt werden, die kaum bekannt wurden oder nur wenig allgemeine Beachtung erfuhren, d.h. meist „Unter dem Deckel der Diktatur" blieben. Die Aufarbeitung des SED-Unrechtsregimes soll durch diese kleinen Facetten weiter befördert und ergänzt werden. Lothar Mertens belegt die Ungleichheit der Arbeiter im Mehrschichtsystem, Ilse Nagelschmidt untersucht das Alltagsbild in der DDR-Belletristik, Annette Kaminsky analysiert den Alltagskampf bei der Versorgung und Annegret Schüle porträtiert den Arbeitsalltag von Frauen in einer Baumwollspinnerei. Während Christian Sachse die Wehrerziehung in der DDR auf ihre Intentionen hinterfragt, zeichnet Tobias Wunschik den Kampf einer linksradikalen Widerstandsgruppe nach, die den SED-Sozialismus zumindest ideologisch scheinbar massiv „bedrohte". Noch nicht wissenschaftlich ausreichend aufgearbeitet ist auch der Lebensweg von Wissenschaftlern, die als Remigranten in die DDR zurückkehrten und dort am Aufbau des sozialistischen Bildungswesens aktiv mitwirkten. Alle Beiträge haben einen Workshop-Charakter und stammen aus größeren Arbeiten oder Projekten, so dass hier nur eine Art Zwischenbilanz gezogen werden kann und soll.
Bochum, im Januar 2003
Lothar Mertens
Inhalt Lothar Mertens Nacht- und Schichtarbeiteralltag in der DDR. Vertrauliche Untersuchungsergebnisse aus DDR-Dissertationen Annegret Schüle „Weiberwirtschaft". Brigadealltag im VEB Leipziger Baumwollspinnerei Annette Kaminsky „Nieder mit den Alu-Chips". Die private Einfuhr von Westwaren in die DDR Ilse Nagelschmidt Alltagsleben in der Belletristik der DDR
1
Christian Sachse „Disziplin muss geübt werden!" Zur Geschichte und pädagogischen Praxis der Wehrerziehung in der DDR
1
Tobias Wunschik Der nicht alltägliche Widerstand der KPD/ML
1
Lothar Mertens Remigration als Elitenaustausch. Die Rückkehr vertriebener Wissenschaftler in die SBZ/DDR
1
Verfasserinnen und Verfasser
Nacht- und Schichtarbeiteralltag in der DDR Vertrauliche Untersuchungsergebnisse aus DDR-Dissertationen* Von Lothar Mertens I. Vorbemerkung In der beharrlich von der Staatspartei SED proklamierten zukünftigen sozialistischen Gesellschaftsform sollte jeder nach seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten leben und arbeiten können, soziale und politische Gleichheit sowie der „neue kommunistische Persönlichkeitstyp" sollten dann verwirklicht sein. In dieser späteren Phase des Kommunismus sollte die Arbeit zum wichtigsten Lebensbedürfnis werden, sie sollte dann freiwillige Arbeit „freier Produzenten" sein. Folglich wären dann das Recht auf Arbeit und die Pflicht zur Arbeit sowie das Recht auf Vergütung entsprechend der Arbeitsleistung obsolet geworden, d.h. sie hätten sich aufgrund eines gewandelten Bewusstseins überlebt. 1 Die dafür in der DDR angestrebte planmäßige „ Produktion sozialistischer Persönlichkeiten " sollte vor allem in den Arbeitskollektiven geschehen, dies war eine der theoretisch-ideologischen Hauptfunktionen der Staatsbetriebe, in denen sich durch die Betriebsgröße das „sozialistische Bewusstsein " der Werktätigen potenzieren sollte. Die zentralgeleitete Industrie war dafür in 157 Kombinaten zusammengefasst, die das ,»Rückgrat der sozialistischen Planwirtschaft bildeten. 2 Die Kombinatsbildungen hatten zugleich unmittelbare Auswirkungen auf die Werktätigen. Ihr Leistungs- und Sozialverhalten im Arbeitsprozess veränderte sich, die Bedürfnisse und Ansprüche stiegen und die gesellschaftlichen Bezieneuen hungen im Arbeitskollektiv wurden enger. 3 Der „Produktionsarbeiter Typs " wurde determiniert durch die - Veränderungen im Arbeitsinhalt, dem Abbau qualifikationsarmer Tätigkeit zugunsten von Kontroll- und Überwachungsfunktionen, d.h. geistiger Arbeit;
* Dieser Aufsatz entstand an der Technischen Universität Chemnitz im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Drittmittelprojektes. Barthel, S. 42. 2
Friedrich, S. 156 ff.
3
Uli mann, S. 5.
10
Lothar Mertens
- der eng damit verbundenen erhöhten beruflichen Mobilität; - der wachsenden Bildung und Qualifikation, die eine erhöhte berufliche Disponibilität der Werktätigen ermöglicht; - dem daraus erwachsenden höheren Anspruchsniveau auf eine interessante, schöpferische Tätigkeit. 4 Ideologisch hieß dies: „Die umgestaltende, schöpferische Kraft
des auf dem Marxismus-Leninismus
beru-
henden sozialistischen Bewußtseins drückt sich vor allem in der Tätigkeit der Schrittmacher und Neuerer, schen Wettbewerb,
in der sozialistischen
Gemeinschaftsarbeit
im Bestreben der Mitglieder sozialistischer
und im sozialistiBrigaden, soziali-
stisch zu arbeiten, zu lernen und zu leben sowie in der ständig wachsenden Teilnahme der Werktätigen
an der Weiterbildung
und am geistig-kulturellen
Leben aus"?
Die Bereitschaft, derartige Neuereraufgaben zu übernehmen, hielt sich jedoch stark in Grenzen. Zu Beginn der 1980er Jahre arbeiteten nur 12 % der Produktionsarbeiter im Neuerertum mit, während bei 53 % angeblich eine Bereitschaft dazu „vorhanden" war. Das restliche Drittel verharrte hingegen in einer abwartenden Haltung und fehlender Eigeninitiative. 6 „Für die sozialistische Arbeit ist kennzeichnend, daß sie von ihren gesellschaftlichen Grundlagen her freie, zunehmend schöpferische Arbeit ist, die der Werktätige für sich und die Gesellschaft leistet Bei der Bewertung und kritischen Einordnung derartiger Aussagen muss man berücksichtigen, dass für die SED-Parteiideologen, die sich als „Wissenschaftler" verstanden, z.B. die Fließbandarbeit im Sozialismus anders zu bewerten war als die gleiche Arbeitsform im Kapitalismus. Danach war Schichtarbeit noch im Jahre 1989: „nicht nur als Mittel zur Stärkung der sozialistischen Wirtschaft zu betrachten, sondern gleichzeitig als Mittel zur Stärkung der politischen und ökonomischen Macht der Arbeiterklasse. Auf der Grundlage sozialistischer Eigentumsverhältnisse erhält die Mehrschichtarbeit eine neue Stellung. Sie entspricht dem sozialistischen Charakter der Arbeit." 8
Bei der flächendeckenden Durchsetzung der Mehrschichtarbeit stand für die DDR die politisch-ideologische propagierte Notwendigkeit zum angeblichen Nutzen fur die Bevölkerung im Vordergrund. 9 Die Durchsetzung der Schicht4
Aschibokow, S. 123.
5
Lenkeit, S. 8.
6
Barthel, S. 226.
7
Aschibokow, S. 121.
8
Richter, S. 21 (Hervorhebung, L.M.).
9
Arnold, S. 3; Rosenkranz, Mehrschichtarbeit, S. 8 ff.; Weißbrodt, S. 17; Winkler, S. 326.
Nacht- und Schichtarbeiteralltag in der DDR
11
und Nachtarbeit galt im sozialistischen Deutschland als eine „ zutiefst politischideologische Frage " 1 0 oder als ein „primär ideologisches Problem" x 1 und war damit in erster Linie eine Frage des staatlichen Dirigismus, im „ Kampf um eine hohe Auslastung der Grundfonds" sollten die Werktätigen an die Mehrschichtarbeit „angepaßt" werden. 12 So wurde dem eingesetzten Kapital in Industrieanlagen und Gebäuden ein höherer Wert zugemessen als den Beschäftigten. Damit diese im Sinne der politischen Machthaber „funktionierten", sollte die „sozialistische Ideologie immer tiefer in die Köpfe der Werktätigen " eindringen und ihr Denken und Handeln bestimmen. 13 Ausgangspunkt für die Arbeit der Ideologen war die falsche Ausgangsthese, dass die Ausnutzung des Gesetzes der Ökonomie der Zeit durch die Anwendung der Mehrschichtarbeit das Nationaleinkommen der gesamten Gesellschaft erhöhe und angeblich auf diese Weise den Reichtum aller Gesellschaftsmitglieder vergrößere. 14 Gewissenlos setzten die Parteiideologen die Anpassung des Menschen an die „technologischen Zwänge" (mit maximaler Auslastung der Grundfonds) voraus. Wohlwissend, dass Karl Marx und Friedrich Engels strikt gegen Schicht- und Nachtarbeit waren, 15 scheuten sie sich nicht, selbst diese Klassiker für ihre Argumentationen heranzuziehen. Bei der ideologischen Durchsetzung der Mehrschichtarbeit führte die SED agitatorisch ins Feld, dass der Charakter der Arbeit im Sozialismus ein ganz anderer als im Kapitalismus sei. Hieraus folge, dass die Mehrschichtarbeit im Sozialismus eine erstrebenswerte Notwendigkeit sei, im Kapitalismus dagegen eine verabscheuungswürdige Methode Mct Ausnutzung der Menschen darstelle. 16 In der DDR wurden stattdessen die Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiterschaft den volkswirtschaftlichen Prämissen des SED-Politbüros untergeordnet, an die ökonomisch-technologischen Verhältnisse adaptiert und entsprechend „harmonisiert". Ideologisch klang dies so: „Damit die genannten Erscheinungen der Mehrschichtarbeit nicht zu deren globalen negativen Einschätzung fuhrt, seien Standpunkte genannt, die uns vor solch einer Beurteilung bewahren. Arbeit - insbesondere Mehrschichtarbeit unter den Bedingungen sozialistischer Produktionsverhältnisse, ist von Ausbeutung befreite Arbeit, unmittelbar gesellschaftliche Arbeit freier Produzenten ". 17
10
Lenz, S. 424.
11
Hecht, Dreischichtarbeiter, S. 303.
12
Quaas, Wenn, S. 56.
13
Ellinger/Scholz, S. 43.
14
vgl. Stollberg, S. 17.
15
Marx, S. 272.
16
Voigt, Schichtarbeiter, S. 131.
17
Sasse, S. 27.
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Daraus folgte nach marxistisch-leninistischem Verständnis: „Schichtarbeiter sind die Avantgarde der Produktion. Sie praktizieren die Arbeitsform der Zukunft"}* Denn die „MehrSchichtarbeit ist mit dem Sozialismus nicht nur vereinbar, sondern sie ist geradezu Voraussetzung für die schnellstmögliche Erreichung der materiellen Bedingungen der kommunistischen Gesellschaft". 19 Wie ein roter Faden durchzog das Bemühen um die Intensivierung der gesellschaftlichen Produktion zur Durchsetzung der Steigerung der Arbeitsproduktivität 2 0 über Jahrzehnte die Politik der SED. Mehrschichtarbeit wurde nicht als „zeitlich begrenzte Methode" angesehen, sondern sollte vielmehr zur „Angelegenheit jedes Werktätigen werden". 21 Besonders nachhaltig forderte die SED darum die „ eingestandenermaßen ungesunde Schichtarbeit genau derjenigen Menschen, die keine allgemeine und Leitungsarbeit zu verrichten " hatten. 22 Die Wirklichkeit stand damit konträr zu der von den ideologischen Initiatoren versicherten Zielsetzung, dass „im Mittelpunkt der Politik der Partei... das Wohl der arbeitenden Menschen " stehen sollte. 23 Etwaige, vor allem gesundheitliche Bedenken gegenüber der Fließbandarbeit gingen nach dieser Ansicht daher nur von „falschen Voraussetzungen" aus: „Die Auswirkungen auf das psychische und physische Wohlbefinden des Arbeitenden werden dann als unmittelbares Resultat der Technik aufgefaßt, ohne die vermittelnden gesellschaftlichen Verhältnisse überhaupt nur zu sehen ", 24 Verklausuliert hieß dies, mit dem „richtigen" historischen, d.h. sozialistischen Arbeitsbewusstsein ließ sich auch eine extrem monotone Arbeit als „schöpferische" Tätigkeit auffassen. Dass es jedoch erhebliche Probleme beim Übergang zur Mehrschichtarbeit gab, illustrieren die folgenden Aussagen aus der Dissertation von Gisela Richter: „Zunehmende Einsichten in die ökonomischen und politischen Zusammenhänge bewirken mit großer Wahrscheinlichkeit Anforderungen
die Bereitschaft der Werktätigen, sich neuen
im Arbeitsprozeß und im familiären Bereich zu stellen. Der Über-
gang zur Schichtarbeit ist dann mit weniger Komplikationen verbunden und realisierbarer,
wenn von den Werktätigen die Notwendigkeit der Schichtarbeit begriffen
und akzeptiert wird und auch ihre persönlichen und familiären Belange berücksichtigt werden."
18
25
Rauch, S. 3.
19
Rosenkranz, Mehrschichtarbeit, S. 79 f.
20
Winkler, S. 213.
21
Rademacher, S. 195 f.
22
Bahro, S. 196.
23
Hager, S. 21.
24
Reinicke, S. 16.
25
Richter, S. 22 (Hervorhebung, L.M.).
Nacht- und Schichtarbeiteralltag in der DDR
13
„Volkswirtschaftler werfen mit Recht die Frage auf, was uns die Schichtarbeit kostet. Sie erkennen real die hohen erforderlichen Investitionen, die Auswirkungen der Schichtarbeit auf die Nachfolgeeinrichtungen sowie die Lebensweise der schichtarbeitenden Werktätigen, bis hin zu den nicht unerheblichen materiellen Aufwendungen und zu gewährenden sozialen Vergünstigungen
für Mehrschichtarbei-
ter." 2 6
Für die Instrumentalfunktion der Schicht- und Nachtarbeit in der DDR ist es wichtig zu beachten, welche Rolle das Arbeitsrecht spielte und welchen Beitrag die gesetzlichen Vorschriften zur Durchsetzung der politischen Ziele der SEDFührung leisteten. Das Arbeitsrecht der DDR kam der zwangsweisen Durchsetzung der Mehrschichtarbeit als Normalarbeit sehr entgegen. Das Arbeitsgesetzbuch (AGB) legte in § 91 Abs. 1 die Schaffung einer Arbeitsordnung fest, nach der die durchlaufende Produktionsweise angeordnet werden durfte. Zu der Anordnung bedurfte es „keines besonderen Einverständnisses des Werktätigen mehr"; angeblich hatte er „dies generell mit dem Abschluß des Arbeitsvertrags erklärt"?· 1 Folglich bestand im Prinzip kein Verweigerungsrecht; bis auf einige wenige amtlich bestimmte Ausnahmefälle gemäß § 70 und § 243 des AGB. Der Mehrschichtarbeit unter sozialistischen Bedingungen ausweichen zu wollen, etwa durch Fluktuation, war nur schwer möglich. Ein Arbeitsplatzwechsel wurde meist „gesellschaftlich abgelehnt", 28 denn es galt generell, „gegen die Fluktuation anzukämpfen". 29 Arbeitskräftebewegungen wurden in der DDR nur dann als erwünscht gefördert, wenn diese Wanderung den Zielen der staatlichen Perspektivplaner entsprach. Da die Teilnahme an der Mehrschichtarbeit zudem als Ausdruck des erreichten Standes des „sozialistischen Bewußtseins" 30 gewertet wurde, war es für den Werktätigen sehr schwer, einen Arbeitsplatz mit Mehrschichtrhythmus abzulehnen. Ein solches Verlangen konnte dem Einzelnen als mangelnde Einstellung zur Arbeit, möglicherweise sogar als Ausdruck von Arbeitsscheu (§ 249 Strafgesetzbuch) angelastet werden und bestraft werden. Der sozialistische Rechtszustand nach der ersten DDR-Verfassung sah in Artikel 24 das Recht auf Arbeit vor, verbunden mit einer gleichzeitigen Arbeitspflicht; „Recht auf Arbeit" schrieb dabei nur das Recht auf irgendeine Arbeit fest, nicht das auf eine Tätigkeit, die dem eigenen Wunsch oder der eigenen Bildung entsprach. Dieses Recht auf Arbeit wurde unter anderem dazu benutzt, die Ausbildung zu reglementieren und den Einsatz der Arbeitskräfte zu lenken. Dazu wurde das Einstellungsverhalten der volkseigenen Betriebe beein26
Richter, S. 23 (Hervorhebung, L.M.).
27
Meinhard/Pätzold, S. 421.
28
Stollberg, S. 184 f.
29
Vgl. z.B. Schuldt, S. 85.
30
Viertel, S. 7.
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flusst. Die Arbeit, insbesondere die Schicht- und Nachtarbeit, war in der DDR vor allem auch ein Instrument zum Erhalt des SED-Machtmonopols und hatte drei Funktionen zu erfüllen. Erstens eine Produktionsfunktion (Sicherung und Erweiterung der Produktion). Zweitens eine Erziehungsfunktion (Erziehung sozialistischer, d.h. der SED treu ergebener Staatsbürger) und drittens eine Kontrollfunktion (Einbindung des „Staatsvolkes" in ein streng kontrolliertes und organisiertes Regime). Von diesen drei Funktionsprinzipien sozialistischer Parteiherrschaft waren die Arbeits- und Freizeitbedingungen geprägt. 31 Dabei nahm die Differenzierung der Arbeiter in der DDR ständig weiter zu. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt, Betriebskonzentration durch die Kombinatsbildung, sowie wachsendes Bildungs- und Qualifikationsniveau erzeugten weder „kommunistische Persönlichkeiten" noch steigende Arbeitszufriedenheit oder riefen einen verstärkten Einsatz in der sozialistischen Produktion hervor. Nach marxistisch-leninistischer Lehre entstand auf der Grundlage des gesellschaftlichen Eigentums an Produktionsmitteln eine neue Leistungsmotivation, die zu ungeahnter Entfaltung der Produktivkräfte und schließlich zum Sieg des Kommunismus über den Kapitalismus durch eine weit höhere Arbeitsproduktivität führen sollte. „Obwohl die wissenschaftlich-technische Revolution sowohl im Kapitalismus als auch im Sozialismus wirkt, ist es nur in der sozialistischen Gesellschaft möglich, die Potenzen der wissenschaftlich-technischen Revolution voll zu nutzen. Das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln, der planmäßige Charakter der Wirtschaft, der Einsatz von Wissenschaft und Technik für die Interessen der Arbeiterklasse und der anderen Werktätigen, das hohe und beständige Wachstumstempo der Produktion, die Konzentration gewaltiger finanzieller und materieller Mittel in den Händen des sozialistischen Staates, die politisch-moralische Einheit des Volkes, die Macht der Werktätigen und die Beseitigung der Ausbeutung - all dies schafft günstigste Bedingungen und Möglichkeiten für die Entwicklung der wissenschaftlich-technischen Revolution im Sozialismus".32
Doch die ökonomische Realität entwickelte sich konträr zu solchen Aussagen. Der technologische Rückstand der DDR gegenüber dem Weltniveau wurde immer größer; vor allem im Bereich der Mikroelektronik. Die Ursachen dafür, lagen (da die Ideologie ja eine Wissenschaft war und folglich nicht irren konnte), vorgeblich im fehlenden historischen Bewusstsein, d.h. der mangelnden sozialistischen Einstellung der Werktätigen zur Arbeit, begründet: „Der Vergleich zwischen der Qualifikation der Werktätigen und ihrer Beurteilung von Reserven in den Arbeitsnormen zeigt eine wichtige Tendenz: Mit zunehmender 31
Voigt, Schichtarbeiter, S. 77.
32
Thormeyer, S. 61.
Nacht- und Schichtarbeiteralltag in der DDR
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Qualifikation steigt die Forderung nach Reserven in den Arbeitsnormen. Insbesondere Facharbeiter sehen häufig in den angewandten Arbeitsnormen keine exakte Grundlage der Leistungsbemessung. Sie empfinden das als Beeinträchtigung des persönlichen Interesses an der Normerfüllung. Sinkt das Interesse an der Normerfiillung, verringert sich der Anreiz, eine hohe Leistung zu erbringen, durch äußere Umstände, so äußert sich dies in ihrer Forderung nach mehr Reserven in den Arbeitsnormen, um dennoch die gewohnte Höhe des Lohnes mindestens zu sichern". 33
Tabelle 1
Persönliche Auswirkungen der Rationalisierung (in %; Mehrfachantworten möglich) 1972
1974
erhöhte Verantwortung Notwendigkeit zur Qualifizierung bzw.
17
44
höhere Qualifikation verbesserte Arbeitsbedingungen
5 20
25 17
höhere nervliche Belastungen
23
32
interessantere und inhaltsreichere Arbeit
33
26
keine Veränderungen
28
15
Rationalisierung brachte
Erstellt nach Ullmann, S. 101, Abb. 16
Empirisch-soziologische Forschungsergebnisse aus den Jahren 1972-1975 in der Industrie und im Bauwesen 34 der DDR (durchgeführt vom Zentralen Forschungsinstituts für Arbeit beim Staatssekretariat für Arbeit und Löhne unter der Leitung von Arndt Ullmann, dem stellvertretenden Leiter der Forschungsgruppe Soziologie) ergaben erhellende Aussagen über die Meinung der Werktätigen zu den individuellen Auswirkungen der Rationalisierungsmaßnahmen. Hervorzuheben war in diesem Kontext, „ daß Verbesserungen von höher Qualifizierten, Neuerern, Männern, höheren Einkommensgruppen und Alteren häufiger vermerkt wurden als von den übrigen Werktätigen. Im Gegensatz dazu sind Verschlechterungen (höhere nervliche Belastung, insbesondere durch höheren Lärmpegel hervorgerufen, und Monotoniezunahme) vorwiegend von Un- und Angelernten, niedrigen Einkommensgruppen und Frauen angegeben worden " . 3 5 Die Textilindustrie der DDR war dabei ein Bereich in dem viele Un- und Angelernte, insbesondere Frauen arbeiteten und wo die Lärmexposi-
33
Ullmann, S. 63.
34
Die Zahl der Befragten schwankte dabei zwischen 500 und 5.000 Werktätigen.
35
Ullmann, S. 101.
16
Lothar Mertens
tion erheblich war. 3 6 Eine arbeitsmedizinische Untersuchung im Bezirk KarlMarx-Stadt belegte „deutlich, daß sich der Hörverlust mit zunehmender Zahl der Berufsjahre bei Männern und Frauen im Dreischichtsystem erhöht. " 3 7 Die entsprechende Studie wies signifikante Unterschiede zwischen Beschäftigten im Ein- bzw. Dreischichtsystem auf. 3 8 Ein erheblicher Widerspruch lag außerdem zwischen den Erwartungen und den Ergebnissen der Rationalisierung bezüglich eines höheren Arbeitseinkommens. Nur 4 % der Arbeiter in Betrieben, in denen in den frühen siebziger Jahren rationalisiert wurde, wurden danach in neue, höhere Lohn- und Gehaltsgruppen eingestuft: „Das ruft dort Unzufriedenheit hervor, wo die Rationalisierung höhere Qualifikationen erforderlich gemacht hat und sich diese nicht in Lohnregelungen auswirkten und wo die Rationalisierung nicht genügend mit der Durchsetzung der WAO [Wissenschaftlichen Arbeitsorganisation; L.M.] verbunden wird. In diesem Zusammenhang empfinden die Werktätigen es insbesondere als ungerecht, wenn die Erhöhung der nervlichen Belastung, die Eintönigkeit der Arbeit im Ergebnis von Rationalisierungsmaßnahmen im Lohn nicht berücksichtigt wird". 39 Nur für einen geringen Bruchteil der Beschäftigten bedeutete die steigende Arbeitsbelastung auch einen höheren Lohn, wodurch die Skepsis gegenüber Veränderungen, die zumeist Verschlechterungen waren, erklärbar ist. Darüber hinaus war der soziale Kontakt im Arbeitskollektiv den Werktätigen noch wichtiger als eine „gute Entlohnung" oder „interessante Arbeit". Deshalb war für die große Mehrheit der Arbeiter in der DDR das individuelle Wohlbefinden sehr stark von der Tätigkeit in einen funktionierenden Arbeitskollektiv abhängig. Neudeutsch ausgedrückt, war der Spaßfaktor im Arbeitskollektiv, der häufig auch gemeinsame Freizeitaktivitäten mit einschloss, der zentrale Faktor. Aufschlussreiche Erkenntnisse vermitteln zu diesem Bereich auch die Ergebnisse einer Befragung der Forschungsgruppe „ Sozialistische Lebensweise " des Instituts Wissenschaftlicher Kommunismus an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Z K der SED im Petrochemischen Kombinat (PCK) Schwedt, im Halbleiterwerk (HL) Frankfurt/O. und im Eisenhüttenkombinat Ost (EKO) in Eisenhüttenstadt aus dem Jahre 1981. Sehr wichtig waren für die Werktätigen die guten Beziehungen innerhalb des Arbeitskollektivs, über 90 % aller befragten Arbeiter bezeichneten das Klima im Kollektiv als „wichtig" oder „sehr wichtig" für ihr persönliches Wohlbefinden. 40 Daneben war der 36
Siehe ausführlich dazu Annegret Schüle.
37
Holzmüller, S. 29.
38
Ebd., S. 16, Tab. 7.
39
Ullmann, S. 102; vgl. auch Grätz/Voigt, S. 123 ff.
40 Schwarz, Wirkungen, S. 73. Dies bestätigten auch DDR-Studien bei jüngeren Arbeitern; siehe Kasek, S. 52.
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17
Lohn als materieller Stimulus für die Arbeiter - ungeachtet der sozialistischen Propaganda - wichtiger als der ideelle Stimulus in Form von Orden, obgleich die angestrebten Rationalisierungen und Kombinatsgewinne der Fortentwicklung der „ sozialistischen Lebensweise " zugute kommen sollten.
Tabelle 2
Wirksamkeit verschiedener Stimuli in der Beurteilung der Werktätigen (in %) Stimuli Geldprämie Berücksichtigung bei der Jahresendprämie Einstufung in höhere Lohn- o. Gehaltsgruppe Zusatzurlaub Auszeichnung als Aktivist der sozialistischen Arbeit Berücksichtigung bei der Wohnungsvergabe Würdigung an der Wandzeitung Würdigung im Femsehen, Rundfunk oder Presse
günstige Wirkung 84 69 64 67 64 50 38 35
Erstellt nach Ullmann, S. 183, Abb. 51 Dies zeigte, welch großen Einfluss die Lohnrelationen auf die Haltung der Arbeiter in der DDR hatten. Ullmann kommentierte dies so: „Die Ergebnisse der repräsentativen Untersuchungen zur materiellen und ideellen Stimulierung der Werktätigen belegen, daß die gegenwärtigen Lohnrelationen zwischen den Wirtschaftszweigen, Beschäftigten- und Qualifikationsgruppen einen wesentlichen Einfluß auf das Denken und Handeln der Werktätigen ausüben. [...] Insbesondere wirken die Lohnrelationen auf die Einstellung der Werktätigen zur Arbeit, zu ihrem Betrieb und zu ihrem Arbeitslohn. Diese Einstellungen der Werktätigen bilden sich heraus und festigen sich, indem die Werktätigen die im Betrieb oder Territorium vorhandenen Lohnrelationen beurteilen und vielfach daraus persönliche Konsequenzen ziehen (z.B. Fluktuation)".41 Die empirischen Untersuchungen von Falz bezüglich der Beurteilungen der Anerkennungen der Arbeitsleistungen als Mehrschichtarbeiter durch die Beschäftigten zeigten signifikante Unterschiede zwischen den ideellen und den materiellen Stimuli. Ideelle Ehrungen wie etwa Bestarbeiter", „Straße der Besten„Anerkennungswimpel" oder „Aktivist" wurden von den Befragten nur zu 16,8 % als sehr wirkungsvoll, zu 45,1 % als teilweise wirkungsvoll und zu 30,6 % als kaum bzw. nicht wirkungsvoll klassifiziert. 42 Ein wesentlich höheres Gewicht wurde hingegen den materiellen Stimuli eingeräumt, wie die 41
Ullmann, S. 136; vgl. Voigt, Arbeitsbeziehungen, S. 473 f.
42
Falz, S. 37.
2 Mertens (Hrsg.)
18
Lothar Mertens
entsprechenden Beurteilungen der „Formen der materiellen Anerkennung der Mehrschichtarbeit" zeigen.
Tabelle 3
Formen der materiellen Anerkennung Materielle Stimulationsformen Schichtprämie erhöhte Jahresendprämie vorrangige Kuren vorrangige Verbesserung der Wohnbedingungen bevorzugte Ferienplätze
das ist sehr wichtig für mich 42,9 52,0 21,4
das spielt für mich keine Rolle 34,2 37,8 25,0
40,8 26,5
13,8 36,7
Erstellt nach Falz, S. 37 Besonders bei den weiblichen Befragten stand die Verbesserung der Wohnungsprobleme an erster Stelle. Von den älteren Arbeitern wurde erwartungsgemäß der bevorzugten Vergabe von Kuren ein höherer Stellenwert eingeräumt als von den Jüngeren. Bedeutende Unterschiede in den Wertorientierungen der Werktätigen in der DDR traten gleichfalls zwischen verschiedenen Qualifikationsgruppen auf; unterschiedliches Niveau der Allgemeinbildung bewirkte ebenfalls Abweichungen im Anspruchsniveau. So zeichneten sich Beschäftigte mit höherer Qualifikation durch ein höheres Anspruchsniveau aus, d.h. sie reagierten wesentlich kritischer auf Mängel in den Arbeits- und Lebensbedingungen, in der Leitungstätigkeit, in den Kollektivbeziehungen, in der Arbeitsorganisation usw. als weniger qualifizierte Werktätige. Gleichzeitig zeigten sie einen höheren Grad an gesellschaftlicher Aktivität. So nahmen sie häufiger an der Neuererbewegung, an Weiterbildungsveranstaltungen, an der gesellschaftspolitischen Arbeit im Betrieb oder im Wohnbereich usw. teil. 4 3 Wie aus zahlreichen Untersuchungen bekannt ist, wurden von vielen Werktätigen die Prämien nur als Zusatzverdienst gewertet und eben nicht als Anerkennung hoher Leistungen.
43
Ullmann, S. 28 f. Siehe auch Voigt, Arbeitsbeziehungen, S. 473 f.
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Tabelle 4
Wirksamkeit von Stimuli nach Qualifikationsgruppen differenziert (in %) Stimulus Aktivist Geldprämie Jahresendprämie Zusatzurlaub Ehrentitel Öffentliche Würdigung
ungelernt 52 73 58
Facharbeiter 65 87 72
Meister 75 91 72
Fachschule 72 86 69
Hochschule 83 97 61
53 41
71 49
69 65
64 51
59 57
34
36
56
45
44
Erstellt nach Ullmann, S. 188 Überdies waren die Wertvorstellungen der Werktätigen geschlechtsspezivon Männern sind stärker auf die Ausfisch geprägt: „Die Wertorientierungen schöpfung ihres Leistungsvermögens, auf Selbstbestätigung in der Arbeit und auf gesellschaftliche Anerkennung gerichtet, wohingegen Frauen in stärkerem Maße sozial orientiert sind. Frauen wollen gute Kollektivbeziehungen, angenehme Arbeitsbedingungen, eine kulturvolle Arbeitsumwelt ". 44 Eigentlich sollte fur die Ausprägung der sozialistischen Lebensweise die Anwendung ideeller Stimuli an Bedeutung gewinnen, weil dadurch nicht nur die Bedürfhisse der sozialen Existenz besser befriedigt, sondern auch neue, kommunistischen Wertorientierungen entsprechende Bedürfnisse geweckt werden sollten. Jedoch ließen sich erste Anzeichen dieser Leistungsmotivation im Alltag des real existierenden Sozialismus der DDR Zeit ihres Bestehens nicht erkennen; auch im sozialistischen Staat dominierten die materiellen Stimuli über die ideellen. Erst wenn die materiellen Wünsche des Einzelnen befriedigt waren, wurden auch ideelle Stimuli interessant. Das zeigte sich auch darin, dass Höherqualifizierte - und das meinte auch in der DDR Besserverdienende - nicht nur mehr Wert auf ideelle Stimuli legten, sondern diesen Anreizen insgesamt auch eine größere Bedeutung zuschrieben: „Bis auf wenige Ausnahmen schätzen höher Qualifizierte, die in der Regel auch höhere Verantwortung tragen (Leiter), ein höheres Arbeitseinkommen haben und sich durch größere gesellschaftliche Aktivität auszeichnen (Facharbeiter, Neuerer, Meister), die Wirksamkeit von Stimuli günstiger ein als niedriger qualifizierte Werktätige " A u f die Jahresendprämie hatten die Arbeiter in der DDR einen Rechtsanspruch. Da die Jahresendprämie als leistungsgerechte Komponente jedoch ein Ausdruck des erzielten Kombinatsergebnisses sein sollte, wurde bei der Planer-
2'
44
Ullmann, S. 29.
45
Ebd., S. 188.
4 5
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20
Stellung schon auf Betriebsebene versucht, möglichst geringe Produktionsquoten festzulegen, so dass diese leicht überboten werden konnten und zu einer hohen Jahresendprämie fuhren sollten. Im Jahre 1979 betrug in der zentralgeleiteten Industrie die durchschnittliche Höhe der Jahresendprämie 817 Mark. 4 6 Das Zurückgehen der Bedeutung der Jahresendprämie bei den Kadern mit Hochschulabschluss lag in der Problematik der unterschiedlichen Leistungsmaßstäbe begründet. Der Zusatzurlaub hatte für sie, infolge günstigerer Arbeitszeit- und Urlaubsregelungen, weniger Bedeutung als für die übrigen Produktionsarbeiter. Mit dem Alter stieg die Bedeutung ideeller Stimuli, hier der Anerkennung durch die Kollegen oder der Öffentlichkeit. Die sinkenden Werte der über Sechzigjährigen deuten auf eine geringere Relevanz hin, die durch das nahende Ende der Berufstätigkeit plausibel wurde. Das Absinken der Bedeutung materieller Stimuli war mit dem höheren Arbeitseinkommen und der damit verbundenen sukzessiven Saturiertheit der über 40jährigen erklärbar. Dass die Bedeutung der materiellen Stimuli überwog, war für Schwarz allerdings kein Zeichen fehlenden sozialistischen Arbeitsbewusstseins, „sondern entspricht vielmehr der Durchsetzung des Leistungsprinzips " 4 7 Die umfangreichen Untersuchungen von Ullmann differenzierten dies und belegten, „daß Facharbeiter, Meister und ingenieur-technisches Personal in viel stärkerem Umfang als An- und Ungelernte angeben, ein befriedigendes bis sehr befriedigendes Lebensniveau zu haben. Andererseits sind wesentlich mehr Un- und Angelernte mit ihrem Lohn zufrieden als Facharbeiter, Meister und ingenieur-technisches Personal. Aus dieser Tatsache kann man schlußfolgern, wenn zugleich Geschlecht, Alter, Familiengröße und verkürzte Arbeitszeit in die Betrachtung eingeschlossen werden, daß ein höheres Lebensniveau höhere Ansprüche hervorbringt". 48 Weiter konstatierte Ullmann: „Da das sozialistische Verteilungsprinzip nach der Arbeitsleistung in unserer Gesellschaft weitgehend durchgesetzt ist und seine allgemeine Gültigkeit den Werktätigen bewußt ist, kann das Streben nach höherem Einkommen nur über höhere Leistungen realisiert werden. Lohnunzufriedenheit birgt demnach stets Potenzen erhöhter Leistungsbereitschaft in sich. Ob diese Leistungsbereitschaft in Leistungen verwandelt wird, die der ganzen Gesellschaft ebenso wie dem einzelnen nutzen oder die nur begrenzten Kollektiven oder gar Einzelinteressen entsprechen, das hängt ganz davon ab, wie die Leistungsbedingungen und Stimulierungsformen am Arbeitsplatz, im Betrieb und im Wohngebiet gestaltet sind. Wenn 46 SAPMO/BArch, DY 30/vorl. SED 27339; Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, Institut für Politische Ökonomie des Sozialismus: Ausgewählte Probleme zur wirksameren Ausnutzung der Leitung, Planung und ökonomischen Stimulierung für die Leistungssteigerung in den Betrieben und Kombinaten, Dez. 1981, S. 54. 47
Schwarz, Wirkungen, S. 77; siehe dagegen Voigt/Meck, S. 27 ff.
48
Ullmann, S. 221.
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z.B. die Arbeitsnormen so gestaltet sind, daß es für den Werktätigen nicht vorteilhaft ist, sie wesentlich überzuerfullen, so wird er lieber sein Leistungsstreben außerhalb des Betriebes beim Garagen- oder Datschenbau befriedigen, wenn sich ihm diese Gelegenheit bietet". 49
Diese Aussage war ein deutliches Eingeständnis der Tatsache, dass in der DDR „Privat" fast immer vor der „Allgemeinheit" ging und das richtige historische Bewusstsein, d.h. die kommunistische Einstellung zur Arbeit, bei der überwiegenden Mehrheit der Werktätigen nicht so ausgeprägt war, wie von den SED-Ideologen propagiert und gefordert wurde. Überdies bestätigte Ullmann damit die These von der DDR-Gesellschaft als einer partiellen „Nischengesellschaft". Eine differenzierte Entwicklung des Verantwortungsbewusstseins als der „Außerungsform der kommunistischen Einstellung zur Arbeit" war auch bei von Sasse untersuchten Lehrlingen der Elektroindustrie nicht festzustellen. Während sich noch 79 % der untersuchten Lehrlinge dieses Industriebereiches für das Erreichen der Facharbeiterleistung verantwortlich fühlten, bekannten sich lediglich 43 % der Befragten zum sparsamen Umgang mit den Grundmitteln. 5 0 Nach fast 40 Jahren kommunistischer Erziehung und - wie die Parteiideologie stets behauptete - von Entfremdung befreiter Arbeit in den Betrieben zeichnete sich im Bewusstsein der Werktätigen offenbar kein grundlegender Wandel im angestrebten Sinne ab. Die Verschwendung teurer Rohstoffe und die unsachgemäße Behandlung der kostenintensiven Arbeitsmaterialien und Maschinen wurden bis zum Untergang des Staates DDR nicht überwunden. Gelegentlich waren zu diesem Problembereich jedoch auch in der DDR kritische Töne zu lesen: „ Aufgrund der direkteren Beziehung zu den Produktionsmitteln, die bis in eine persönliche Beziehung gehen kann, werden Gruppenziele schneller erkannt und verwirklicht. Als Negativum kann hier aber immer zugleich ein hohes Maß an Gruppenegoismus auftreten, das die Möglichkeiten der sozialistischen Gemeinschaftsarbeit beschränkt. Derartige negative Tendenzen [... treten; L.M.] in Form des Betriebsegoismus ebenfalls unter den Bedingungen des staatlichen Eigentums an den Produktionsmitteln auf .51 Den Werktätigen im realen Sozialismus der DDR war es zumeist gleichgültig, ob die Ergebnisse ihrer Tätigkeit im Staatsbetrieb volkswirtschaftlich oder betrieblich verwertbar waren - sie wussten, ihr Arbeitsplatz und die Existenz des Betriebes blieben von Produktion, Leistungsbereitschaft und Produktqualität fast völlig unberührt. Nur gelegentlich wurde vor dem Oktober 1989 in 49
Ullmann, S. 222.
50
Sasse, S. 65 f.
51
Graupner, S. 118.
22
Lothar Mertens
der DDR an dieser Haltung auch Kritik geübt, z.B. über die volkswirtschaftlich nutzlose Produktion großer Mengen von Ausschussware, 52 die jedoch leichter und vor allem schneller erzeugt werden konnte und neben der rein quantitativen Planerfüllung dem Einzelnen sein Arbeitseinkommen sicherte, ohne dass die negativen Auswirkungen der Qualitätsminderung berücksichtigt wurden. Die mangelnde Anerkennung des qualitativen Leistungsprinzips und der daraus resultierende innerbetriebliche Arbeitsegoismus wurde so karikiert: „Arbeite schlecht, produziere Ausschuß, um dich dann zur Überwindung des von dir selbst produzierten Schadens zu verpflichten und eine Prämierung ist dir sicher. " , 5 3 Um dieser Entwicklung etwas entgegenzusteuern, sollte durch die Einführung von Produktivlöhnen das Leistungsverhalten der Beschäftigten stärker auf die Nutzung der qualitativen Wachstumsfaktoren gelenkt werden; 5 4 doch dies gelang nur in Ansätzen. Differenziert zeigten sich die Aussagen von befragten Werktätigen hinsichtlich der Arbeitsinhalte und der individuellen Haltung dazu in verschiedenen Qualifikationsgruppen. Deutliche Unterschiede zwischen den Berufsgruppen waren klar erkennbar. Bei den ungelernten Arbeitern wie auch den Hochschulabsolventen bestand eine starke Divergenz zwischen der Rüge von Mängeln und ihrer Duldung in der eigenen Arbeit.
Tabelle 5
Arbeitshaltung nach Qualifikationsgruppen differenziert (in %) In meinem
Ungelernte
Fach-
Arbeitskollektiv
Arbeiter
arbeiter
81,3
76,8
25,0
56,6
Meister
Fachschul- Hochschulabschluss
abschluss
89,2
77,1
85,2
66,3
62,5
54,1
werden Mängel in der Arbeit offen diskutiert werden schlechte Arbeiten nicht geduldet Erstellt nach Schwarz, S. 122, Anlage 1
32
Jeder, der zu DDR-Zeiten eine sozialistische Großbaustelle sah, konnte dort Berge an Ausschuss und verrottetem Material entdecken, die bewusst oder mit einem Höchstmaß an Gleichgültigkeit geschaffen wurden, trotz ständiger Aufrufe zur Sparsamkeit und einem akutem Mangel an Baustoffen aller Art; Voigt, Schichtarbeit, S. 103 f. 53
Graupner, S. 129.
54
Siehe dazu Adler, S. 284.
Nacht- und Schichtarbeiteralltag in der DDR
23
Je höher die betriebliche Leitungsposition war, desto eher waren die Werktätigen in der DDR zur Ausübung einer ehrenamtlichen Tätigkeit innerhalb des Betriebes bereit. 55 Dabei spielte sicherlich die gesellschaftliche Vorbildfunktion eine wichtige Rolle, d.h. nur wer (bei richtiger politischer Gesinnung) bereit war, in seiner Freizeit gemeinnützige Aktivitäten zu entwickeln, hatte die Chance auf eine Beförderung. Je höher die betriebliche Funktion, desto größer der politische Druck der Parteileitung nach entsprechender Betätigung.
Tabelle 6
Ausübung einer gesellschaftlichen Funktion im Betrieb nach Qualifikationsgruppen differenziert (in %; Mehrfachantworten möglich) Funktionsausübung
Produktions
Meister/
Leiter der
Obermeister
1. Ebene
Brigadiere
arbeiter 62,1
33,4
33,0
13,3
- Gesamtbetrieb - Bereich, Abteilung
36,3 33,1
36,5
45,4
47,8
57,8
73,3 40,4
- Arbeitskollektiv
48,0
42,3
29,1
8,0
nein ja, im:
Erstellt nach Reinicke, S. 89, Tab. 9
Einfache Arbeiter ohne große betriebliche Aufstiegsmöglichkeiten konnten sich daher dem Partei- und Gewerkschaftsdruck nach gesellschaftlicher Arbeit am besten entziehen. Mitunter ein Grund für kritische junge Menschen eine Zulassung zur Erweiterten Oberschule nicht wahrzunehmen, um stattdessen z.B. als Schweißer eine kleine, nicht parteilich angeleitete Nische in der sozialistischen Erziehungsdiktatur zu finden. 56 Die Ergebnisse in Tabelle 6 verwundern nicht, da die Arbeiter in der DDR wussten, dass sie durch ihre fachliche Leistung allenfalls etwas mehr oder weniger die Lohnhöhe, aber kaum den eigenen sozialen Status verändern konnten. A u f die Frage: „ Wenn man hier vorwärtskommen will t was ist dann in erster Linie nötig: berufliches Können oder politische Aktivität? " meinten 59,6 % der von Dieter Voigt befragten Arbeiter auf Großbaustellen die „politische Aktivität" und nur 22,2 % „berufliches Können". 51 Nach Heiner Müller hatte das allumfassende SED-Dogma „von der Jährenden Rolle der Staatspartei in allen Bereichen " zu einer völligen „Stagnation in allen Bereichen geflihrt, zum 55
Laatz, S. 153.
56
Siehe die Schilderung aus Dresden in Leonhard, S. 112.
57
Voigt, Montagearbeiter, S. 109, Tab. 65; 18,2 % der Bauarbeiter gab keine Antwort.
24
Lothar Mertens
Prinzip der negativen Auslese: Gesinnung vor Leistung, Sicherheit vor Produktion, zur Diktatur der Inkompetenz. " 58 Treffend resümierte der Schriftsteller Volker Braun in seinen ,3erichte von Hinze und Kunze" in der Passage „Der Undank des Volkes " diese Zwiespältigkeit der DDR-Arbeitswelt zwischen der Erwartungshaltung der „ werktätigen Massen " und dem ideologischen Anspruch im Dialog des Parteifunktionärs Kunze mit seinem Fahrer Hinze: „Kunze fragte: Warum sind unsere Menschen unzufrieden? und gar nicht dankbar? Die so vieles haben, wovon sie einst nur träumen konnten! Fernseher, Kühlschrank, Waschmaschine und den Sozialismus. - Sie wollen nicht dankbar sein für etwas, das sie selber machen, sagte Hinze", 59
I I . Mehrschichtarbeit als sozialistischer „Normalzustand" Die „sozialistische Arbeit" im sozialistischen Staat sollte sich nicht nur durch hohe Leistungsbereitschaft und Neuererqualitäten auszeichnen, sondern vor allem durch die als typisch sozialistisch gekennzeichnete Arbeitsform der Mehrschichtarbeit. In der DDR wurde unter Regel- oder Normalarbeitszeit die Arbeit zwischen 6.00 und 17.00 Uhr auf der Grundlage einer Fünftagewoche mit 43 3/4-Stunden je Arbeitswoche verstanden. Unter dem Begriff der Mehrschichtarbeit wurde die betriebliche Arbeitszeitregelung zur Erhöhung der zeitlichen Ausnutzung der Grundfonds in bestimmten, aufeinanderfolgenden Zeitabschnitten, verstanden. 60 Die wöchentliche Arbeitszeit für Schichtarbeiter hingegen betrug nur 40 Stunden. Schon seit den siebziger Jahren forderte die SEDFührung beharrlich eine bessere Ausnutzung der Grundfonds (Gebäude, Anlagen) und hier speziell die höhere Auslastung der Maschinen. Als die vorrangige volkswirtschaftliche Hauptaufgabe wurde dieses Ziel, in den vom XI. Parteitag der SED im April 1986 verabschiedeten nationalökonomischen Leitlinien, erneut propagiert. Ihre Erfüllung bedingte in den Industriekombinaten der DDR einen forcierten Übergang zur Mehrschichtarbeit. Damit musste die Zahl der Schichtarbeiter in der DDR-Wirtschaft weiter ansteigen (es wurde eine 20-prozentige Erhöhung der Maschinenauslastung angestrebt, d.h. in der verarbeitenden Industrie eine Anlagenausnutzung von 17,5 Stunden, in der Grundstoffindustrie eine Steigerung auf 18-20 Stunden je Kalendertag). 61 Diese Auswei58
Müller, S. 5.
59
Braun, S. 9.
60
Winkler, S. 326.
61
Direktive des XI. Parteitages, S. 39.
Nacht- und Schichtarbeiteralltag in der DDR
25
tung der Mehrschichtarbeit sollte den wissenschaftlich-technischen Komplex nicht aussparen. Zur Begründung hieß es, die Ausstattung wissenschaftlicher Institute mit immer teureren Forschungsgeräten mache die tägliche Auslastung über die 8,75 Stunden im Einschichtbetrieb ökonomisch zwingend erforderlich. Erklärt wurde die Intensivierung der Produktion mit der Notwendigkeit einer gesteigerten Arbeitsproduktivität für die Fortentwicklung der „sozialistischen Lebensweise". 62 Die Amortisation der volkswirtschaftlichen Investitionen in die Grundfonds, rund 162.000 DDR-Mark je Werktätigem, standen dabei über dem gesundheitlichen Wohl des Individuums. In der SED-Parteitags-Direktive hieß es zwar: „Die Arbeits- und Lebensbedingungen der Werktätigen in den Betrieben sind durch neue wissenschaftlich-technische Erkenntnisse und die wissenschaftliche Arbeitsorganisation weiter zielgerichtet zu verbessern " . 6 3 So wurde eine „ Verbesserung der Bedingungen für die Schichtarbeit " wortreich propagiert, jedoch keine Verminderung oder mittelfristige Beschränkung der Mehrschichtarbeit in Aussicht gestellt. „Neue wissenschaftliche Erkenntnisse" auf dem Gebiet der Arbeitsmedizin verlangten jedoch genau dieses, wenn die Ergebnisse entsprechender Untersuchungen konsequent „zum Wohl der Werktätigen" umgesetzt worden wären. Nach Auffassung Wolfgang Beyreuther, dem Staatssekretär für Arbeit und Löhne, verstärkte jedoch „der technische Fortschritt, die Automatisierung ganzer Fertigungsabschnitte die Notwendigkeit der Mehrschichtarbeit" 64 in immer mehr Bereichen der DDR-Industrie. Gefordert wurde deshalb eine „größere Flexibilität der Arbeitskräfte*' und eine neue „Qualität der Mensch-Maschine-Funktionsteilung", um „den Lebensprozeß der Menschen reicher zu gestalten, den Produktionsprozeß effektiver zu machen und seine ökonomischen Möglichkeiten allseitig auszuschöpfen " . 6 5 Die damit verbundenen Veränderungen des Arbeitszeitregimes hatten - neben den gesundheitlichen Auswirkungen - vielfältige soziale und familiale Negativaspekte: „Das Leben bekommt einen anderen Rhythmus. Die Umstellung wird Probleme mit sich bringen " . 6 6 Umso erstaunlicher war, dass diese tief greifenden Veränderungen der Arbeitswelt in der DDR und ihre medizinisch-soziokulturelle Problematiken von der westdeutschen DDR-Forschung 67 weitgehend unbeachtet blieben.
62
Rentzsch, S. 34 f.
63
Direktive des XI. Parteitages, S. 24.
64
Beyreuther, S. 119.
65
Schirmacher, S. 53.
66
Rauch, S. 3.
67
Als positives Gegenbeispiel war die vergleichende Untersuchung von Dieter Voigt: Schichtarbeit und Sozialsystem. Zur Darstellung, Entwicklung und Bewertung der Arbeitszeitorganisation in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Bochum 1986 zu nennen.
26
Lothar Mertens
Die Angaben über das Ausmaß der Schicht- und Nachtarbeit in der ehemaligen DDR waren unterschiedlich: Die amtliche Statistik der ehemaligen DDR weist lediglich den relativen Anteil der Schichtarbeit an den jeweiligen Produktionssektoren aus. In nichtamtlichen Statistiken schwankten die Angaben über den Anteil der Mehrschichtarbeiter zwischen 26 % bis sogar 75 %. Da unter dem SED-Regime die DDR-Statistik ein staatlich manipuliertes Instrument war, das überwiegend zur Kontrolle des Planes und der Produktion eingesetzt wurde, ist fraglich, ob diese Angaben die Entwicklung der DDR widerspiegeln.
Tabelle 7 Ausgewählte Gruppen nach der Stellung im Reproduktionsprozeß und Häufigkeit der Schichtarbeit (in %) Gruppe Produktionsarbeiter in Grundprozessen Produktionsarbeiter in technikorientierten Hilfsprozessen Brigadiere Meister und Obermeister Werktätige in sozialen und Versorgungseinrichtungen Technische Angestellte ohne Leitungsfunktion Verwaltungs-, Hilfs- und Abrechungspersonal Ingenieurtechnische Angestellte ohne jede Leitungsfunktion Wirtschaftler ohne Leitungsfunktion Leitungskader der 1. Ebene
einschichtig 38,5 74,5
zweischichtig 23,1 12,4
dreischichtig 37,5 11,0
vierschichtig 1,0 2,0
53,5 67,3 75,1
29,2 11,4 16,4
16,6 19,4 7,9
0,7 2,0 0,6
90,6
1,6
6,5
1,4
98,2
1,3
0,4
0,1
99,6
0,1
0,3
99,2 99,6
0,8 0,4
-
-
-
-
-
Erstellt nach Grömmer, S. 216, Tab. 3 Im ideologischen Gedankengebäude des real existierenden Sozialismus war das Recht auf Arbeit gewährleistet, die Planung konnte nicht versagen oder das geplante Wachstum ausbleiben. Für den Fall der Arbeitslosigkeit hatte der sozialistische Einheitsstaat deshalb nirgends Vorsorge getroffen. Die wirtschaftliche Misere der DDR änderte sich auch nicht durch die ständigen sozialistischen Wettbewerbe, durch die Appelle zu mehr und besserer Arbeit, verbunden mit materiellen und ideellen Stimuli, z.B. Schichtprämien, welche die Werktätigen zu noch höheren Leistungen anspornen sollten. Die Masse der VEB in der DDR hatte eine veraltete und größtenteils völlig heruntergewirtschaftete Produktionsausrüstung. Je größer die Reparaturanfälligkeit der Betriebsanlagen wurde, je häufiger Produktionsstörungen auftraten, desto größer waren die Pro-
Nacht- und Schichtarbeiteralltag in der DDR
27
duktionsausfâlle. Die Folgen dieser Wirkungskette waren geringere Arbeitsproduktivität, mangelnde Rentabilität der Produktion und schlechte Versorgung des Gemeinwesens mit Gütern. Es widersprach daher jeglicher volkswirtschaftlicher Vernunft, Schichtarbeit mit technisch abgenutzten und überalterten Maschinen betreiben zu wollen. Denn Schichtarbeit soll, rein ökonoinisch betrachtet, eine Senkung der fixen Stückkosten bewirken; sie wird daher besonders dort attraktiv, wo eine spürbare Verschiebung der Kostenrelation - in erster Linie durch die Investitionen in teure, aber gleichzeitig hochproduktive Anlagen - stattfindet. Darüber hinaus wirkt die intensive Kapitalnutzung und die rentable Abschreibung des Schichtbetriebs durch die raschere Amortisation der getätigten Investitionen positiv auf die Liquidität des Unternehmens. Diese Liquiditätsverbesserung ermöglicht wiederum den Betrieben, beständig Modernisierungsinvestitionen durchzuführen. Und da neue Maschinen und Anlagen iÄ der Regel rationeller und kostengünstiger produzieren, hat die Schichtarbeit damit einen weiteren, indirekt positiven Einfluss auf die Kostenstruktur von Unternehmen. Der Übergang zur Schichtarbeit lohnt sich aus betriebswirtschaftlicher Sicht umso mehr, je kapitalintensiver ein Arbeitsplatz ausgestattet ist (Senkung des Fixkostenblocks bei höherer Ausbringungsmenge). Schichtbetrieb senkt die Kapitalkosten (z.B. geringere Lagerkosten bei höherer Ausbringungsmenge), ebenso die Fremdleistungskosten (z.B. Grundsteuer, Mieten, Pachten etc.), erhöht aber auch die Kosten für Verschleiß und den Nutzungsgrad der Betriebsmittel beachtlich. Außerdem mindert insbesondere die Nachtarbeit die Quantität und Qualität des Arbeitsergebnisses. Schichtarbeit verringert die Leerkosten (Stillstandszeit) und erhöht die betriebswirtschaftlich immer günstigeren Nutzkosten. Doch derartige betriebswirtschaftliche Überlegungen galten in den DDR-Wirtschaft nicht. Insbesondere die täglichen Stillstandszeiten betrugen in der ehemaligen DDR wegen fehlenden Materials und defekter Produktionsanlagen für etwa die Hälfte der Beschäftigten bis zu drei Stunden. Nach einschlägigen Schätzungen lag die Arbeitsproduktivität der DDR mit rund 50 % hinter der entsprechenden Produktivitätsentwicklung in der Bundesrepublik zurück, da die Kombinate ideologie- und produktionsbezogen zentral gesteuert waren und das Rentabilitätsprinzip in der DDR negiert wurde: - Da beim Übergang von der Ein- zur Zweischicht- bzw. Dreischichtarbeit die Wochenarbeitszeit bei vollem Lohnausgleich verringert wurde, war ein Anstieg der Lohnkosten je Arbeitskraft unvermeidlich. Hinzu kam, dass Mehrschichtarbeiter in der DDR einen höheren Urlaubsanspruch hatten als ihre im Einschichtbetrieb arbeitenden Kollegen. Nach dem Arbeitsgesetz vom 1983 erhielten Werktätige im unterbrochenen Zweischichtsystem drei Tage, im unterbrochenen Dreischichtsystem fünf Tage und im durchgehenden Dreischichtsystem sogar zehn Arbeitstage mehr Urlaub zugebilligt;
28
Lothar Mertens
- Hieraus resultierte eine noch größere Notwendigkeit zu verstärkten Rationalisierungsmaßnahmen, die wiederum zur Steigerung der Arbeitsproduktivität beitragen sollten, welche allerdings bei den häufigen Maschinenstillständen wieder verpuffte; 68 - Die weitreichenden negativen volkswirtschaftlichen Aspekte der Schichtund Nachtarbeit produzierten weitere externe gesellschaftliche Kosten („Sozialkosten"). 69 Dazu zählten schlechtere Gesundheit (höhere medizinische Aufwendungen) sowie die infrastrukturellen Investitionen, z.B. beim öffentlichen Personennahverkehr oder staatlichen Dienstleistungen (verlängerte Öffnungszeiten von Behörden sowie von Kultur- und Freizeiteinrichtungen). Die Mehrschichtarbeit im Sozialismus, die als „ wichtige Potenz des dynamischen Wirtschaftswachstums" angesehen wurde, war daher „ein komplizierter und vielseitiger Prozeß, der nicht frei ist von Widersprüchen " 7 0 Schulz differenzierte die Notwendigkeit zur Schichtarbeit nach - technisch-technologischen Gründen (chemische Industrie, Metallurgie), - ökonomischen Gründen (Steigerung der Effektivität), - politisch-sozialen Gründen (Gesundheitswesen, Landesverteidigung). 71 Dabei musste ein Grund nicht allein zutreffen, sondern mehrere konnten gleichzeitig die Mehrschichtarbeit bedingen. Doch auch Schulz betonte, dass Mehrschichtarbeit im sozialistischen Wirtschaftssystem mit dem gleichnamigen Arbeitsregime in kapitalistischen Staaten nicht das Geringste gemein habe: „Mehrschichtarbeit hat im Kapitalismus einen anderen sozialen Inhalt als im Sozialismus, wo sie im Interesse und zum Nutzen der ganzen Gesellschaft geleistet wird und einen planbaren Faktor sozialistischer Wirtschaftspolitik darstellt", 12 Darüber hinaus sollte die Mehrschichtarbeit nicht nur ökonomische, sondern auch die Arbeiter direkt betreffende Vorteile mit sich bringen: „Mehrschichtarbeit im Sozialismus zielt auf eine wesentlich höhere Auslastung hochproduktiver Maschinen und Anlagen bei gleichzeitiger Reduzierung des Anteils der Schichtarbeiter, auf Grund der höheren Belastungen während der Nachtschichten " . 7 3 Was dabei theoretisch als eine sozialistische Errungenschaft verklärt wurde, verlor in der Praxis des DDR-Industriealltags schnell seinen Glanz. Die durch die höheren Auslastungszeiten der „hochproduktiven Maschinen" freigesetzten Schichtarbeiter wurden nicht von der Nachtarbeit „befreit", son68
Schulz, S. 80.
69
Voigt, Schichtarbeiter, S. 26.
70
Schulz, S. VII f.
71
Ebd., S. 4.
72
Ebd., S. 8 (Hervorhebung; L.M.).
73
Ebd., S. 10.
Nacht- und Schichtarbeiteralltag in der DDR
29
dem zumeist gezielt in Bereichen eingesetzt, in denen Arbeitskräfte zum kontinuierlichen Produktionsprozess im Mehrschichtsystem fehlten, so dass sich fur den einzelnen Arbeiter, außer einer häufig ungewollten innerbetrieblichen Arbeitsplatzumsetzung, nichts oder nur wenig veränderte. Die Bereitschaft der Werktätigen zur Schichtarbeit beeinflussten dabei zwei wesentliche Faktorengruppen. Erstens die „ individuellen Reproduktionsbedingungen" wie z.B.: materielle, zeitliche und soziale Arbeitsbedingungen, Familie, Gesundheit, gesellschaftliches Leben, Freizeitgestaltung und die Stimulierung zur Schichtarbeit. Zweitens der jeweilige individuelle Bewusstseinsstand des Einzelnen, der durch weltanschauliche Überzeugimg, Interessen, Bedürfnisse und Charaktereigenschaften entscheidend beeinflusst und determiniert wurde. 74 Die Deckung des industriellen Schichtarbeiterbedarfs konnte auf mehreren Wegen erfolgen: Die extensive Form, die eine Erhöhung der Anzahl der Berufstätigen voraussetzte, war infolge der Begrenztheit der gesellschaftlichen Arbeitskräfteressourcen, insbesondere in der Facharbeiterschaft, und der anhaltenden Umverteilung der industriell Beschäftigten auf nichtproduzierende Bereiche im tertiären Sektor bzw. neu entstehende Zweige (z.B. Mikroelektronik) nur sehr bedingt durchfuhrbar. Deshalb wurde vor allem die intensive Form angewandt, welche durch eine rationelle Nutzung und einen möglichst effektiven Einsatz der vorhandenen Arbeitskräfte gekennzeichnet sein sollte. 75 Zur Erreichung der Produktionsziele war die technische Arbeitsleistung von großer Bedeutung, so dass fur Schulz der Mensch und seine Fähigkeiten erst nach der Maschine und deren Leistungsfähigkeit kam: „Die Arbeitsgeschwindigkeit der Werktätigen sollte in hohem Maße von der Arbeitsgeschwindigkeit der Maschinen bestimmt werden " , 7 6 Die humane Belastbarkeit spielte nur eine sekundäre Rolle hinter dem maschinellen Tempo. Eine Unterteilung nach Industriebereichen zeigt deutliche Diskrepanzen bei der Entwicklung der Mehrschichtarbeit in der DDR-Industrie in den achtziger Jahren auf, da die Honecker-Ära von einer massiven Ausweitung der Mehrschichtarbeit gekennzeichnet war. Allerdings kam es Mitte der achtziger Jahre nur noch zu einer geringen Steigerung, da alle ökonomisch halbwegs sinnvollen Bereiche längst flächendeckend einbezogen waren.
74
Schulz, S. 12.
75
Ebd., S. 23.
76
Ebd., S. 40.
Lothar Mertens
30
Tabelle 8
Prozentualer Anstieg der Dreischichtarbeiter nach Industriebereichen Industriebereich Energie- und Brennstoff Chemische Industrie Metallurgie Baumaterialienindustrie Wasserwirtschaft Maschinen- und Fahrzeugbau Elektrotechnik/Elektronik/ Gerätebau Leichtindustrie (ohne Textil) Textilindustrie Lebensmittelindustrie Insgesamt
Anteil der Dreischichtarbeiter in % 1971 1982 1989 15,4 38,3 40,9 40,4 15,0 41,5 52,4 19,5 53,6 27,4 10,7 29,4 4,7 11,6 10,1 6,0 20,3 23,1
3,4 5,2 7 ,3 8,3 8,6
14,7 11,2 19,4 18,3 22,7
20,0 14,4 26,8 20,5 26,0
Erstellt und berechnet nach den Statistischen Jahrbüchern der DDR 1972, S. 141, Tab. 25; 1986, S. 153, Tab. 20 u. 1990, S. 181.
In der von Kuba/Bley durchgeführten Befragung 77 von Schichtarbeitern im Güter- und Personennahverkehr des Verkehrskombinats Magdeburg (mit den Standorten Halberstadt, Magdeburg, Stendal) zwischen Juli 1983 und Juni 1984 gab es weitere interessante Befunde. Von den insgesamt 193 befragten Werktätigen im Verkehrskombinat Magdeburg hielten zwar 49 % die Mehrschichtarbeit für notwendig, während immerhin 44 % dies verneinten (die übrigen 7 % gaben keine Auskunft). 78 Als Vorteile der Schichtarbeit nannten die befragten Kraftfahrer des Personennahverkehrs: 79 - höherer Verdienst - mehr Freizeit - abwechslungsreicherer Dienst
47,1 % 36,2 % 20,2 %.
„Die Mehrschichtarbeit wirkt nicht grundsätzlich negativ auf die Lebensgestaltung der Werktätigen. Die negativ wirkenden Faktoren überwiegen aber " . 8 0 Die Übernahme bzw. Ausübung einer Tätigkeit im Mehrschichtsystem 77
Besonders auffällig und für einen nicht gegebenen Datenschutz empirischer Umfrageergebnisse in der DDR kennzeichnend war, dass in Tabellen auf den Seiten 38 und 39 der Untersuchung von Kuba/Bley die dort befragten fünf Probanden mit Vomamensinitial und vollem (!) nicht veränderten Familiennamen aufgeführt wurden. 78
Kuba/Bley, S. 29.
79
Ebd., S. 64, Tab. 5.
80
Ebd., S. 67 (Hervorhebung; L.M.).
Nacht- und Schichtarbeiteralltag in der DDR
31
wurde dabei entscheidend von der individuellen Grundeinstellung der Werktätigen geprägt. „Die ökonomischen Vorteile müssen jedoch fiir sie (die Arbeiter; L.M.) auf der Hand liegen und die Nachteile für die eigene Lebensgestaltung müssen im Zusammenhang gering gehalten werden"* 1
Π Ι . Mehrschichtarbeit und Kindererziehung Den Einfluss der Mehrschichtarbeit auf das Familienleben der Werktätigen in der DDR untersuchte umfassend eine arbeitssoziologische Forschungsgruppe an der Universität Halle-Wittenberg unter Leitung von Prof. Rudhard Stollberg. Danach stand an erster Stelle der Gründe „die zu einer Ablehnung der Tätigkeit im Mehrschichtsystem fuhren, die Beeinträchtigung des Familienlebens (einschließlich der Kinderziehung)"ß 2 Stollberg konstatierte: „Zunächst ist festzustellen, daß natürlich die Bedingungen für die Gestaltung des Familienlebens der Schichtarbeiter ungünstiger sind" Ρ Denn die Freizeitnutzung der Schichtarbeiter war auch in der DDR weniger effektiv als die ihrer Kollegen, die in Normalschicht arbeiteten; doch auch die Mehrschichtarbeiter hatten „das Bedürfnis, kulturelle Veranstaltungen zusammen mit ihren Angehörigen in den für die Familie günstigeren Abendstunden zu besuchen ". A u f zeitgebundene, gemeinschaftlich organisierte und ausgeübte Tätigkeiten wie Tanz, Theater, Kino und andere gesellige Veranstaltungen wirkte sich die Mehrschichtarbeit daher immer negativ aus. Das Freizeitverhalten der im Mehrschichtensystem tätigen Arbeiter war zumeist nur noch rezeptiv als Zuschauer, kaum noch aktiv. 8 4 Weil die Mehrschichtarbeiter ein höheres passives Erholungsbedürfnis hatten, waren ihre „Freizeitaktivitäten" eher kontemplativer Natur. Dieses wiederum forderte eine soziale Isolation und Ausschluss von gesellschaftlichen Aktivitäten. Die Passivität prägte auch die Persönlichkeitsstruktur und bedingte häufig Resignation und Verhaltensunsicherheit in der außerfamiliären Sozialsphäre und führte zu einer partiellen Isolation bzw. Eingrenzung des Freundeskreises. 85 In fast jeder siebten Schichtarbeiterfamilie war für die Eltern das Wochenende zum Ausruhen von der anstrengenden Arbeitswoche reserviert und nicht für gemeinsame Familienaktivitäten. 86 Aufgrund des erhöhten Rege-
81
Kuba/Bley, S. 68.
82
Stollberg, Einfluß, S. 210 ff.
83
Ebd., S. 211.
84
Voigt, Schichtarbeit, S. 77.
85
Ebd., S. 74.
86
Siehe Richter, S. 104.
32
Lothar Mertens
nerationsbedürfnisses spielten die Besuche von Sportereignissen und kulturellen Veranstaltungen (Ausstellungen, Museen) nur eine „ etwas untergeordnete Rolle " in der Freizeitgestaltung. 87 Bei der Frage „Spielen Sie mit Ihrem Kind? " kreuzten immerhin 16,6 % der von Richter befragten Dresdner Schichtarbeiter die Antwort „nur selten, dafür bleibt keine Zeit" an. 8 8 Resümierend hieß es bei Richter in den Thesen zu ihrer Dissertation: „In Schichtarbeiterfamilien besteht hinsichtlich der aktiven Freizeitgestaltung die Gefahr der Reduzierung bzw. einseitiger Interessenausbildung. Die Ursachen liegen u.a. im verstärkten Bedürfnis der Eltern nach Ruhe bzw. darin, daß die Organisierung kultureller und sportlicher Betätigung durch den unterschiedlichen Schichtrhythmus schwerer zu verwirklichen ist. " 89 Ein nicht zu lösendes Problem im Zusammenhang mit der propagierten Mehrschichtarbeit in der DDR blieb die Versorgung und Betreuung der Kinder aus solchen Familien, in denen beide Eltern in Mehrschicht arbeiteten. Im Hinblick auf die Kindererziehung in den „gesellschaftlichen Kinderbetreuungseinrichtungen " sollten besonders „ die spezifischen Bedürfnisse der Kinder beachtet werden. Öffnungszeiten dieser Einrichtungen ,rund um die Uhr' beeinträchtigen die Gesundheit der Kinder durch das damit verbundene Schlafdefizit und sind deshalb gesetzlich nicht zulässig". 90 Doch die Alltagsrealität sah anders. Auch die empirisch belegte Tatsache, dass eine allzu frühe Trennung von der Mutter die kindliche Entwicklung stark beeinträchtigen kann, hörten die Parteiideologen nicht gern, denn 4/5 aller Kinder zwischen 2 Monaten und 6 Jahren wurden in der DDR tagsüber in den staatlichen Krippen und Kindergärten versorgt. Die Folgen dieser „Verkrippung der DDR" und die dahinter verborgenen pädagogischen Inhalte dieser Verwahrhorte wurden von Psychotherapeuten und Pädagogen in Form verbreiteter seelischer Störungen und Depressionen eingehend diskutiert. 91 Die Probleme bei der Kindererziehung speziell im Zusammenhang mit der Mehrschichtarbeit der Eltern resultierten in der DDR häufig daraus, dass auch in der Zeit, in der die Kinder nicht im Hort oder der Schule untergebracht waren, „mindestens ein Elternteil oft abwesend ist". 92 Schon 1977 arbeiteten in der Baumwollindustrie der DDR über ein Drittel aller Frauen mit zwei und mehr Kindern im Mehrschichtsystem. 93 Hauptgrund für die Aufnahme der 87
Richter, S. 105.
88
Ebd., S. 106.
89
Ebd. [Thesen der Diss.], S. T4.
90
Stollberg, Einfluß, S. 211.
91
Siehe Ehrhardt, S. 121 ff.; Schmidt, S. 41 ff..
92
Stollberg, Einfluß S. 213.
93
Siehe dazu Tietze/Hoffmann, Schichtarbeit, S. 299 ff.
Nacht- und Schichtarbeiteralltag in der DDR
33
Schichtarbeit war fast immer die besseren Verdienstmöglichkeiten. 94 Die elterliche Belastung zeigte sich auch bei der Aufgabendelegierung von Dresdener Eltern. So musste über die Hälfte 9 5 der Kinder täglich und ein weiteres Drittel mindestens zwei- bis dreimal pro Woche die jüngeren Geschwistern bei deren Hausaufgaben und beim Spielen beaufsichtigen, oder diese vom Kinderhort/ Kindergarten abholen. Signifikante Unterschiede, die sich auf die schulischen Leistungen und die kindliche Entwicklung auswirkten, bestanden auch in der Freizeitgestaltung von Heranwachsenden, deren Eltern im Mehrschichtbetrieb tätig waren, gegenüber ihren Altersgenossen. Die geschlechtsspezifisch unterteilten Untersuchungsergebnisse einer anderen Studie dokumentierten außerdem die stärkere zeitliche Belastung von Mädchen durch Tätigkeiten im elterlichen Haushalt. Die Differenzen in der temporären Intensität der Mithilfe (Einkaufen, Arbeiten in der Küche, Säubern der Wohnung) zeigten überdies, dass in der DDR „die überkommene Rollenverteilung bei Arbeiten im Haushalt zwischen den Geschlechtern noch nicht überwunden " war. 9 6 In der ersten Probandengruppe arbeiteten die Eltern beide nur in der Tagesschicht, während in der zweiten Untersuchungseinheit beide Eiternteile im Mehrschichtsystem tätig waren, wobei hier zusätzlich noch nach dem jeweiligen Schichtrhythmus der Mutter spezifiziert wurde.
Tabelle 9
Mithilfe der Kinder im Haushalt (prozentual von der unterrichtsfreien Zeit) Jungen
Mädchen
ständig in Tagesschicht mehrschichtig; wenn Mutter
15,2
17,5
- in Tagesschicht
9,8 6,4
25,8 16,2
Eltern arbeiten
- in Nachtschicht Erstellt nach Schönbach/Scholz, S. 94
Im Tagesschichtrhythmus arbeitende Eltern hielten ihre Kinder stärker zur Mithilfe im Haushalt an. Deutlich war außerdem die geringere Heranziehung der Kinder durch die mehrschichtig arbeitenden Mütter in der Nachtschichtphase festzustellen: „Nicht selten entscheiden sich Frauen för eine Schichtarbeit,
94
Eisenblätter, S. 588; Schüle passim.
95
Richter, S. 116 schönt die eigene prozentuale Berechnung methodisch dadurch, dass sie nicht die Zahl der 21 Einzelkinder (ebd., S. 77) aus der Grundgesamtheit (n= 150) herausrechnet, obgleich für die geschwisterlosen Kinder diese Frage vollkommen irrelevant war. 96
Helwig, Jugend, S. 47 f.
3 Mertens (Hrsg.)
34
Lothar Mertens
um ihre häuslichen und erzieherischen Aufgaben zeitlich besser aufeinander abstimmen zu können, allerdings reduzieren sie dafür die Zeitför Erholung und Schlaf. 97 Verifiziert wurden diese Aussagen durch den unterschiedlichen Zeitaufwand fur die Erledigung der schulischen Hausaufgaben.
Tabelle 10
Zeitlicher Aufwand für die Anfertigung der Hausaufgaben (in Minuten) Eltern arbeiten
Jungen
Mädchen
48
54
21 33
29 55
ständig in Tagesschicht Mehrschichtig; wenn Mutter - in Tagschicht - in Nachtschicht Erstellt nach Schönbach/Scholz, S. 95
Neben der generellen Feststellung, dass die Mädchen gründlicher und daher länger ihre Hausaufgaben anfertigten, fällt die Diskrepanz zwischen dem mütterlichen Mehrschichtrhythmus und dem zeitlichen Aufwand bei der Erledigung der schriftlichen Hausaufgaben durch die Kinder auf. 9 8 Begründet lag dies darin, dass die Mütter in der Nachtschichtwoche erst am frühen Abend das Haus verließen und am Nachmittag die Hausaufgaben betreuen konnten; dies bedingte eine längere und sorgfältigere Anfertigung als in der Tagschichtwoche ohne mütterliche Aufsicht. Durch die 12-Stundenwechselschicht kamen die mehrschichtig arbeitenden Frauen überdies in ihrer Tagesschichtwoche Stunden später nach Hause als die Mütter, welche in der ständigen Tagschicht arbeiteten. In einer anderen Untersuchung hieß es dazu: „Bei 55,3 % der Schichtarbeiterkinder kann eine zeitliche Regelmäßigkeit hinsichtlich der Hausaufgabenerledigung verzeichnet werden. " " Dieses Resultat bedeutete im Umkehrschluss: bei fast der Hälfte der Kinder von Schichtarbeitern wurden die Hausaufgaben nur unregelmäßig erledigt. Die Ursache dafür sah Richter darin, „daß es in den Familien mit Schichtarbeit beider Elternteile und den alleinstehenden Schichtarbeitern mit Kindern weniger möglich ist bzw. gelingt, sich täglich oder häufig dem schulischen Lernen des Kindes zu widmen. " 1 0 ° Dieses Verhalten wurde nur wenig später mit der Erläuterung entschuldigt: „Daß 29,3 % der Eltern den Rat geben [oder die abweisende Aufforderung erteilen; L.M.], bei Fragen oder Problemen hinsichtlich des Lernens auch Geschwister und Klassenkameraden 97
Hinze, S. 61 f.
98
Schönbach/Scholz, S. 95, Tab. 2.
99
Richter, S. 85.
100
Ebd., S. 87 (Hervorhebung, L.M.).
Nacht- und Schichtarbeiteralltag in der DDR
35
zu konsultieren, ist auf Grund der Schichtarbeit nur verständlich. " 1 0 1 Weitere Untersuchungen über das Schulverhalten und die Schulleistungen von Schichtarbeiterkindern bestätigten deutlich deren geringere Leistungsfähigkeit. 102 Dies verwunderte nicht bei „Ratschlägen" wie diesem: „Die Kinderbetreuung kann aber auch von Verwandten und Bekannten oder auch im Rahmen der Nachbarschaftshilfe einschließlich eventuell möglicher Patenschaften innerhalb des Arbeitskollektivs übernommen werden ". 103 Gravierende Unterschiede bestanden auch bei den außerschulischen Aktivitäten der Kinder von Mehrschicht bzw. in Normalschicht arbeitenden Eltern. Während nur 27,3 % der Kinder von Tagschichtlern eine Funktion in der Pionierorganisation ausübten, waren 37,5 % der untersuchten MehrschichtarbeiterKinder dort aktiv, eine Entwicklung, die durchaus im Sinne der SED lag, zeigte sie doch scheinbar, dass Kinder aus Mehrschicht-Familien sich „sozialistischer" entwickelten. Die außerunterrichtlichen Arbeitsgemeinschaften der Schulen wurden sogar doppelt so häufig (77,5 % gegenüber 39,4 %) von Kindern mehrschichtig arbeitender Eltern frequentiert, da jene den größten Teil des Tages sich selbst überlassen waren. Dieser Eindruck wird bestätigt durch die große Rolle, welche das Fernsehprogramm bei der individuellen Freizeitgestaltung dieser Untersuchungseinheit spielte. Der tägliche Fernsehkonsum (in Minuten), deijenigen Jimgen und Mädchen, deren Mütter mehrschichtig arbeiteten, war doppelt so hoch wie der von Kindern, deren Mütter nur in der Tagschicht arbeiteten und die deshalb stärker auf die Extensivität des Fernsehkonsums ihrer Kinder Einfluss nehmen konnten. Wie die Autoren konzedierten, musste „das in diesem Falle recht zwieFernsehen als Bildungs- und Erziehungsfaktor spältig" eingeschätzt werden. 1 0 4 Den hohen Fernsehkonsum sah auch Richter als bedenklich an: „Aus Erfahrung bleibt es zumeist nicht beim Ansehen der 1. Abendsendung, und die Kinder kommen dann zu spät ins Bett, zumal bei Schichtarbeit beider Elternteile das rechtzeitige Zubettgehen nicht ständig kontrolliert werden kann. " 1 0 5 Die Formulierung „nicht ständig kontrolliert" war dabei ein glatter Euphemismus. Bei weniger als einem Fünftel (19,3 %) der befragten Kinder war immer zumindest ein Elternteil zu Hause. Auch in diesem Punkt mussten die älteren Geschwister (17,3 %) erneut die Funktion von Ersatzeltern übernehmen. 106
3*
101
Richter, S. 92.
102
Helwig, Jugend, S. 27 ff.
103
Tietze/Hoffmann, Schichtarbeit, S. 301.
104
Schönbach/Scholz, S. 97. Zum hohen Femsehkonsum siehe auch Richter, S. 108.
105
Richter, S. 117.
106
Ebd., S. 117.
Lothar Mertens
36
Tabelle 11
Täglicher Fernsehkonsum der Kinder in Minuten Die Eltern arbeiten ständig in Tagschicht mehrschichtig; wenn Mutter in Tagschicht in Nachtschicht
Jungen 44
Mädchen 52
92 73
56 105
Erstellt nach Schönbach/Scholz, S. 97, Tab. 6
Die extreme Differenz bei den Mädchen in der zweiten Gruppe war kongruent zu deren unterschiedlicher Belastung durch Hausarbeiten für die mehrschichtig arbeitende Mutter (Tabelle 9). Diese Ergebnisse aus einer empirischen Untersuchung des Instituts für Ökonomie und Planung des Volksbildungswesens an der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR verdeutlichten, dass die Mehrschichtarbeit „auch mittelbare Auswirkungen auf die Bildung, Erziehung und Betreuung der zweiten Generation " 1 0 7 hatte, ohne dass diese Erkenntnisse gegenüber den Betroffenen konzediert worden wären. Die empirischen Untersuchungsergebnisse in der Dresdener Dissertation von Gisela Richter aus dem Jahre 1989 bestätigen die oben geschilderten Probleme in Schichtarbeiterfamilien. Aufschlussreich war dabei das Untersuchungsergebnis, wonach es über einem Viertel der Kinder lieber gewesen wäre, wenn die Eltern nicht im Mehrschichtsystem gearbeitet hätten, d.h. bereits den Kindern waren die negativen familialen Auswirkungen vollkommen bewusst. 108 Lediglich die Hälfte der Väter und drei Viertel der Mütter besuchten regelmäßig die Elternabende. Ein Fünftel der Väter und über ein Drittel der Mütter führte darüber hinaus noch persönliche Gespräche mit dem Klassenlehrer. Jedoch hatte jeder dreizehnte Vater einen Kontakt zur Schule nur über das Kind, da keinerlei Gespräche mit den Lehrern stattfanden. 109 Durch die Schichtarbeit der Eltern war die Einflussnahme auf das schulische Lernen der Kinder erschwert, da die gesundheitlichen „Belastungen der Eltern durch Schichtarbeit (Schlafdefizit, Nervosität, Gereiztheit) und die kürzer bemessene Zeit mit den Kindern die Hilfe und Unterstützung des Lernens erschwerten. ' Λ 1 0
107
Schönbach/Scholz, S. 90.
108
Richter, S. 118.
109
Ebd., S. 123 f.
110
Ebd. [Thesen der Diss.], S. T3.
Nacht- und Schichtarbeiteralltag in der DDR
37
I V . Gesundheitliche Risiken der Schicht- und Nachtarbeit Diese offenkundigen Belastungen für die Gesundheit wurden in der DDR teilweise sogar öffentlich negiert, wie etwa durch den Arbeitshygieniker Max Quaas, der behauptete: „Im Gegensatz zu der verbreiteten Meinung, daß die Schicht- und Nachtarbeit ungesund sei, überrascht, wie wenig objektive medizinische Beweise daför vorliegen ". Mit dieser Aussage ignorierte er nicht nur seiner Behauptung widersprechende Arbeiten aus dem „kapitalistischen Auslandsondern ließ auch die empirischen Untersuchungen anderer DDRMediziner bewusst außer acht, die größtenteils als Dissertationen entstanden waren. 1 1 1 Doch selbst Quaas musste konzedieren, „daß beim Schicht- und Nachtarbeiter die Schlafzeit geringer ist Das kann zweifellos eine Reihe von gesundheitlichen Störungen mitbedingen", 112 da die durchschnittliche Schlafdauer von Mehrschichtarbeitern zwischen 6,1 Stunden (Nacht-) und 7,6 Stunden (Spätschicht) sehr stark differierte. 113 Der Arbeitspsychologe Wolfgang Schwarz vom Deutschen Zentralinstitut für Arbeitsmedizin in Ost-Berlin konstatierte bereits im Jahre 1970: „Das komplexe Gefuge der biologischen Funktionen stellt sich auch nach längerdauernder Nachtarbeit nicht vollständig auf den umgekehrten Wach-Schlaf-Rhythmus um. Der Nachtschichtarbeiter muß Leistungen aufbringen, wenn sein autonomes Nervensystem auf Erholung und Schlafbereitschaft eingestellt ist. Allein die Überwindung des physiologischen Tiefs der Leistungsbereitschaft kostet Kräfte. Die bewußte Tätigkeit bedarf einer größeren Willensanspannung als am Tage. Andererseits erholt sich der Nachtschichtarbeiter zu einer Zeit, in der sein Organismus zur vollen Leistungsabgabe bereit ist. Der Schlaf am Tage ist weniger tief und wird durch Umweltreize weit mehr gestört als der Nachtschlaf. Sowohl Leistungsabgabe als auch Erholung vollziehen sich beim Nachtarbeiter unter ungünstigen biologischen Voraussetzungen. Die weitaus höhere Beanspruchung, die Nachtarbeit im Vergleich zur Arbeit in der Frühschicht beim Arbeiter hervorruft, darf bei der Einschätzung der Dreischichtarbeit nicht außer acht bleiben". 114
Auch Schulz konzedierte die mangelnde Anpassung des menschlichen Organismus an den veränderten Schlaf-Wach-Rhythmus im Mehrschichtregime. Neben dem Leistungstief in der Nachtschicht (2-4 Uhr) verwies er sogar explizit darauf, dass gerade in der Nachtschicht das Müdigkeitsgefühl am größten sei, da das Schlafdefizit am höchsten i s t . 1 1 5 In ihrer detaillierten Untersuchung 111
Voigt, Schichtarbeit, S. 177.
112
Quaas, Wenn, S. 57.
1,3
Ebd.; Hinze, S. 64.
114
Schwarz, Dreischichtarbeit, S. 219.
115
Schulz, S. 38 f.
Lothar Mertens
38
von 3.603 berufstätigen Frauen aus mehreren Wirtschaftsbereichen mit einem hohen Frauenanteil kam Hinze zu der Erkenntnis, dass gegen die Mehrschichtarbeit vor allem berechtigte gesundheitliche Vorbehalte seitens der betroffenen Frauen bestanden. 116 „Die Ergebnisse zahlreicher arbeitsmedizinischer Untersuchungen zum Einfluß der Schichtarbeit auf die Gesundheit der Werktätigen belegen, daß Magen-Darmstörungen, Herzkreislaufkrankheiten und nervöse Dysregulationen bei Mehrschichtarbeitern häufiger vorkommen als bei Einschichtarbeitern ... Als kausale Faktoren fur die gesundheitlichen Störungen werden vor allem das Schlafdefizit und die antirhythmische Lebensweise verantwortlich gemacht. Diese Faktoren kommen bei schichtarbeitenden Frauen in noch größerem Maße zur Wirkung als bei Männern". 1 1 7
Die Quintessenz der Untersuchung von Lieselotte Hinze über den Einfluss der Berufstätigkeit auf den Gesundheitszustand von Frauen lautete: „Frauen, die im Schichtdienst tätig sind, verreisen häufiger im Urlaub als die übrigen Frauen. ... Sie nehmen ihre Mahlzeiten unregelmäßiger ein... und rauchen häufiger" Die Krankendaten von Betrieben in der DDR, die seit mehr als zwanzig Jahren Mehrschichtarbeit praktizierten, dokumentierten, „daß Schichtarbeiter anfälliger gegen Krankheiten " waren und der Krankenstand überproportional hoch war. „Daß die Mehrzahl der Schichtarbeiter vor allem die Nachtarbeit als unangenehm und besonders belastend empfindet, geht allein daraus hervor, daß die gesellschaftlich nicht erwünschte Fluktuation " in den Betrieben sehr hoch w a r . 1 1 9 Bei der medizinischen Betreuimg war darüber hinaus eine Diskriminierung der Nachtschichtarbeiter feststellbar. Im VEB Sirokko-Heizgerätewerk Neubrandenburg standen den rund 2.000 Beschäftigten in der Betriebssanitätsstelle täglich von 6.45 bis 16.30 Uhr ein Arzt und drei Krankenschwestern zur medizinischen und arbeitshygienischen Betreuimg zur Verfügung; in der Nacht hingegen blieben die Werktätigen sich selbst überlassen. 120 Für die Parteikader dagegen galt: „Die Zurückdrängung unbegründeter Vorbehalte gegen die Schichtarbeit aus gesundheitlichen Motiven ist eine wichtige Aufgabe und das Schichtarbeiterproblem somit primär ein ideologisches Problem". 121 Für die Auflösung dieser Widersprüche bot sich eine
1,6
Hinze, S. 41 ff.
117
Ebd., S. 61.
118
Ebd., S. 64.
1,9
Rosenkranz, Mehrschichtarbeit, S. 218.
120
Wullrich, S. 347.
121
Hecht, Dreischichtarbeiter, S. 303.
Nacht- und Schichtarbeiteralltag in der DDR
39
semantische Lösungsvariante an: „ Der noch häufig verwendete falsche Begriff ,Normalschicht' für Tagesschicht wandelt sich in dem Maße, wie die objektive Notwendigkeit der dreischichtigen modernen Produktionsanlagen als 'normal' empfunden, d.h. den Menschen bewußt wird"} 22 Für die DDR-Arbeitsmediziner folgte aus dieser Sichtweise: „Im Mittelpunkt aller wissenschaftlichen arbeitshygienischen und arbeitsphysiologischen Überlegungen steht die Anpassung der Werktätigen an die Schicht- und Nachtarbeit " . 1 2 3 Für die sozialistischen Ideologen reduzierte sich die Durchsetzung der Mehrschichtarbeit als Normalzustand letztlich auf ein Gewöhnungstraining. 124 Nach offizieller Version wurden nur die zum Schichtdienst ungeeigneten Arbeiter krank. 1 2 5 Doch da auch im Sozialismus der biologische Rhythmus des Menschen nicht verändert werden konnte, und „der Gesundheitszustand eine wichtige Grundlage für den planmäßigen Ablauf des Reproduktionsprozesses " 1 2 6 war, wurden arbeitsmedizinische Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitssituation der Schichtarbeiter im Rahmen des staatlichen Gesundheitswesens entwickelt: präventive Eignungsuntersuchungen, laufende Gesundheitsüberwachungen, ausreichende Arbeitsplatzbeleuchtung und eine arbeitswissenschaftlich fundierte Schichtplangestaltung sollten die Gesundheit und damit die Arbeitskraft der Schichtarbeiter sichern.
V. Die Verpflegungssituation der Mehrschichtarbeiter Schon im Jahre 1977 forderten Polier/Schlegel vom Leipziger Bezirksvorstand des FDGB eine durchgängige Versorgung der Arbeiter auch in der Nachtschicht, die, ihrer Ansicht nach, als „selbstverständlich " zu gelten hätte. 1 2 7 Für die weitere „planmäßige Gestaltung der Arbeits- und Lebensbedingungen in sozialistischen Industriebetrieben der DDR" wurde immer wieder die „Erhöhung der Qualität der Haupt- und Zwischenverpflegung und Verbesserung des Versorgungsgrades mit warmen Essen in allen Schichten" gefordert. 128 Auch W u l l r i c h 1 2 9 konzedierte einen deutlichen Qualitätsunterschied in der Verpfle122
Eisenblätter, S. 587 f.
123
Quaas, Wenn, S. 56.
124
Voigt, Schichtarbeiter, S. 178.
125
Klotzbücher, S. 217.
126
Schuldt, S. 97.
127
Poller/Schlegel, S. 46 f.
128
Schulze, S. 34.
129
Wullrich, S. 306.
Lothar Mertens
40
gungssituation der Nachtschichtarbeiter, da in der Nacht das Essen häufig nur mäßig aufgewärmt oder sogar kalt(!) ausgegeben wurde. 1 3 0 Zwar stieg der Versorgungsgrad der Mehrschichtarbeiter mit einer warmen Hauptmahlzeit im DDR-Durchschnitt von 3 0 % (1972) auf 6 7 % (1983). Jedoch bestehen beträchtliche Unterschiede im Versorgungsgrad zwischen den einzelnen Schichten. In den Braunkohletagebaugebieten Welzow und Gräfenhainichen beispielsweise erhielten 88 % der Tag-, aber nur 65 % der Nachtarbeiter eine warme Mahlzeit. Im Walzwerk Hettstedt versorgten die Küchen 9.000 Beschäftigte in allen drei Arbeitsschichten. Während jedoch der Früh- und der Nachmittagsschicht drei Essen zur Auswahl angeboten wurden, mussten sich die in der Nachtschicht Tätigen mit einem Einheitsmenü begnügen. Exemplarisch für die Unterschiede zwischen den einzelnen Schichten ist die Studie von Degenkolbe. Danach differierte die Teilnahme der Schichtarbeiter an der Versorgung mit einer warmen Hauptmahlzeit sehr stark nach dem Schichttyp. Während 77,4 % der Normalschichtarbeiter der untersuchten Taktstraßenkollektive 131 in den Wohnungsbaukombinaten der DDR mit einer warmen Hauptmahlzeit versorgt wurden, waren es in der Frühschicht 63,8 %, in der Mittagsschicht 67,6 % und nur noch 55,3 % in der Nachtschicht. „Im Durchschnitt zeigt sich auch ein deutlicher Rückgang des Versorgungsgrades in der Nachtschicht". 132 Die individuelle Versorgung der Bauarbeiter „ von zu Hause " trug dieser ungenügenden Situation Rechnung: Selbstverpfleger waren in der Normalschicht 31,9% Frühschicht 51,1 % Mittagsschicht 70,3% Nachtschicht 80,9 % aller untersuchten Arbeiter in den drei Wohnungsbaukombinaten. „Diese Zunahme in den Schichten liegt in erster Linie in dem Rückgang der Versorgung mit einer warmen Hauptmahlzeit von der Früh- zur Nachtschicht begründet, [daher; L.M.] sind die Bauarbeiter gezwungen, sich selbst zu versorgen " . 1 3 3 Auch bei der Imbissversorgung blieben die Nachtarbeiter in den Wohnungsbaukombinaten gänzlich unberücksichtigt: „Im konkreten ist ersichtlich, daß die Teilnahme der Bauarbeiter an der Imbißversorgung in den einzelnen Schichten [Durchschnitt 85,1 %, L.M.] im Verhältnis zur Normalschicht 130
Eisenblätter, S. 592.
131
Die Untersuchung erfolgte exemplarisch an fünf von insgesamt 135 Wohnungsbau-Taktstraßenkollektiven in der DDR. Die ausgewählten Kollektive aus den Wohnungsbaukombinaten Cottbus, Ost-Berlin, Leipzig, Halle und Karl-Marx-Stadt gehörten im übrigen zu den besten der DDR. 132
Degenkolbe, S. 143.
133
Ebd., S. 146.
Nacht- und Schichtarbeiteralltag in der DDR
41
[67,1 %, L.M.] höher ist. Allerdings besteht för alle Taktstraßenkollektive in der Nachtschicht keine Möglichkeit der Imbißversorgung. Aber gerade ihre Gewährleistung ist besonders dann wichtig, wenn die Versorgung der Bauarbeiter mit einer warmen Hauptmahlzeit tatsächlich nicht zu organisieren ist". 134 Hierfür hätten jedoch die betreffenden Küchen und Versorgungsstellen auch im Schichtrhythmus betrieben werden müssen; dies unterblieb aber in allen untersuchten Betrieben. Die nur gering ausgeprägte Mehrschichtarbeit in den sozialen und Versorgungseinrichtungen, wurde jedoch von der SED nicht forciert. Bei einer dreistufigen Beurteilung der Qualität der angebotenen Essens- und Imbissversorgung kam es zur folgenden Einschätzung durch die Arbeiter:
Tabelle 12
Beurteilung der Verpflegungsqualität Beurteilung durch
warme
Imbiß
die Arbeiter
Hauptmahlzeit
in %
in % sehr gut durchschnittlich schlecht
5,5 57,3 37,2
14,1 47,7 38,2
Erstellt nach Degenkolbe, S. 147, Tab. 17
Über ein Drittel der Befragten war demnach nicht mit dem Versorgungsangebot zufrieden, da die Essens- und Imbißversorgung „hinsichtlich ihrer Qualität als auch Quantität zumeist nicht der körperlichen Beanspruchung" der Bauarbeiter entsprach. 135 Das diese von Degenkolbe ausführlich beschriebenen gravierenden Versorgungsmängeln auf den sozialistischen Großbaustellen auch noch Jahre später unverändert fortbestanden, dokumentierte im April 1985 ein entsprechender interner Bericht der Ost-Berliner Bezirksleitung an das SEDPolitbüro mit der Forderung: „ Verzögerungen bei der Fertigstellung von Versorgungsstützpunkten dürfen nicht mehr zugelassen werden " ; 1 3 6 doch dies war nur ein ideologischer Wunsch, denn bis zum Untergang der DDR änderte sich auch in diesem Bereich nichts mehr.
134
Degenkolbe, S. 144.
135
Ebd., S. 147.
136
SAPMO/BArch, DY 30/vorl. SED 2204, Bl. 11-17, hier Bl. 15; Information über einige Probleme aus dem Monatsbericht des Genossen Naumann, Bezirksleitung Berlin, vom 17. April 1985.
42
Lothar Mertens
Tabelle 13
Beurteilung betrieblicher Pausenversorgung durch Kraftfahrer in Stendal (in %) Beurteilung der Pausenversorgung
in %
Pausenversorgung ist vorbildlich
1,0
Pausenversorgung ist gut
14,5
Pausenversorgung ist ausreichend
26,4
Pausenversorgung ist verbesserungsbedürftig
46,7
Pausenversorgung ist völlig unzureichend
11,4
Erstellt nach Kuba/Bley, S. 160, Tab. 39
Die harsche Kritik an der unzureichenden Verpflegungssituation im Bezirk Magdeburg mit fast 60 % Unzufriedenen wurde von Kuba/Bley intensiver erforscht. In nachbereitenden Interviews wurden die Aussagen inhaltlich präzisiert, wobei die Betroffenen monierten, „daß die Pausenversorgung eher der Normalschicht als den Arbeitszeitbedingungen der Kraftfahrer Rechnung trägt. Der Angebotskatalog korrespondiert gleichfalls nicht mit der besonderen physischen Beanspruchung". 137 Nicht nur die Qualität der Verpflegung wurde von den Kraftfahrern kritisiert, sondern auch die zu langen Wartezeiten.
Tabelle 14
Wartezeiten an der Essensausgabe Wartezeiten in Minuten kein Anstehen nötig bis 5 Minuten durchschnittlich 10 Minuten
in % 7,2
durchschnittlich 15 Minuten
11,4 30,6 19,2
über 15 Minuten
31,6
Erstellt nach Kuba/Bley, S. 163, Tab. 40
„Abgesehen von den Auswirkungen auf die Arbeitszufriedenheit " 1 3 8 gingen täglich je Kraftfahrer durchschnittlich zwölf Minuten effektiver Arbeitszeit verloren, da weniger als ein Drittel der Befragten (29,5 %) die durch das Warten verloren gegangene Zeit wieder einarbeiteten. 139
137
Kuba/Bley, S. 160.
138
Ebd., S. 163.
139
Ebd., S. 164, Tab. 41.
Nacht- und Schichtarbeiteralltag in der DDR
43
Versorgungsprobleme bestanden für die Schichtarbeiter in der DDR daneben im privaten Bereich. Die Nutzung der verschiedenen Handels- und Dienstleistungseinrichtungen war nur eingeschränkt möglich, bedingt durch deren frühe Schließungszeiten. 140 Eine Harmonisierung der Öffnungszeiten von Einkaufs- und Dienstleistungsbetrieben mit den Schichtzeiten wurde daher, neben einer entsprechenden Anpassung des Berufsverkehrs, immer wieder (und vergeblich) als die wichtigste sozialpolitische Aufgabe der staatlichen Stellen in der DDR im Hinblick auf die Ausweitung der Mehrschichtarbeit in der Zukunft propagiert. 141
VI. Wohnsituation von Mehrschichtarbeitern Konträr zu den häufigen Forderungen nach bevorzugter Berücksichtigung von Mehrschichtarbeitern bei der Vergabe von Wohnungen und der Verbesserung der Wohnverhältnisse stellte sich die Realität in der DDR dar.
Tabelle 15 Prozentualer Anteil verschiedener Beschäftigtengruppen, differenziert nach dem Alter der Wohnung Beschäftigtengruppen Produktionsarbeiter in Grundprozessen Arbeiter in techn. Hilfsprozessen Meister und Obermeister ing.-techn. Angestellte ohne Leitungsfunktion Wirtschaftler ohne Leitungsfunktion Leiter auf Betriebsleitungsebene Gruppenleiter
Altbau vor 1918
Eisenblätter, S. 592.
141
Beyreuther, S. 120.
Neubau 1 Neubau 2 Neubau 3 1961nach 19461960 1970 1970
38,8
32,4
12,4
12,5
3,9
36,0
35,4
10,8
14,3
3,5
25,9
31,8
21,1
16,5
4,7
27,4
27,8
10,8
23,6
10,4
24,4
34,2
9,8
17,1
14,6
22,7 28,9
27,3 31,1
27,3 14,4
18,2 18,9
4,6 6,7
Erstellt nach Meyer, S. 84, Tab. 3
140
Altbau 2 19181945
44
Lothar Mertens
Die Ergebnisse einer sozialstrukturellen Untersuchung, die 1973 gemeinsam vom Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED mit der Akademie der Wissenschaften der DDR und der Technischen Hochschule Karl-MarxStadt in der zentralgeleiteten Industrie der DDR durchgeführt wurde, 1 4 2 dokumentierten, dass Produktionsarbeiter in der DDR vor allem Altbauwohnungen bewohnten, während die Neubauwohnungen (nach 1960 erbaut) vorwiegend ingenieur-technischen Angestellten und Wirtschaftlern ohne Leitungsfunktion zur Verfügung gestellt wurden. Die Arbeiterschicht war hingegen in Neubaugebieten deutlich unterrepräsentiert. Auffallend war, dass „am Merkmal , Wohnungsalter ' soziale Differenzierungen deutlich werden, fur die es keine gesetzmäßige Notwendigkeit gibt und die in den nächsten Jahren unbedingt beseitigt werden müssen " . 1 4 3 Die „sozialen Differenzierungen" zeigte eine Aufschlüsselung nach den Beschäftigtengruppen und dem Baujahr der Wohnungen. Die starke Unterrepräsentierung der Produktionsarbeiter bei der Belegung von Neubauwohnungen kommentierte Dagmar Meyer wie folgt: „Bei dieser Betrachtung darf jedoch nicht außer acht gelassen werden, daß der geringere Versorgungsgrad [der Produktionsarbeiter, L.M.] einen wichtigen Grund auch darin hat, daß Neubauwohnungen von vielen Produktionsbetrieben sehr wirksam als Instrument zur Kadergewinnung benutzt werden, und daß Kader mit höherer Qualifikation als Facharbeiter überproportional nicht ortsansässig sind, sondern von den Fach- und Hochschulen an die Produktionsstätten delegiert werden. So erklärt sich der hohe Anteil ingenieur-technischer Angestellter und Wirtschaftler ohne Leitungsfunktion in Neubauwohnungen ". 144 Wie jedoch diese gezielte Nutzung von Neubauwohnungen als Lockmittel zur Gewinnung qualifizierter Fachkräfte mit dem permanent propagierten ideologischen Credo von Mehrschichtarbeitern als der „Avantgarde der Produktion" zu vereinbaren war, wurde nicht erklärt. Wie groß jedoch diese Mißstände waren, wird am Beispiel Ost-Berlins deutlich. Gemäß der Anweisungen der dortigen SED-Bezirksleitung sollten vorliegende „begründete" Wohnungsanträge, die vor dem 31. Aug. 1984 vorlagen, wie folgt abgearbeitet werden: „5200 Anträge von jungen Eheleuten ohne eigenen Wohnraum bzw. ohne eigene Wohnung (Erledigung bis 1986) und 360 Anträge von Schichtarbeitern, die mit 4 Personen in einer Zweiraumwohnung leben. " 1 4 5 Dies hieß, allein in der Hauptstadt der DDR gab es mindestens 5.200 Anträge von jung verheirateten Ehepaaren auf eine staatliche Wohnungszuweisimg. Die Anträge waren 142
Meyer, S. 22. Ebd., S. 84 f.
143
144 145
Ebd., S. 85.
SAPMO/BArch, DY 30/vorl. SED 2204, Bl. 1-10, Bl. 7; Information über einige Probleme aus dem Monatsbericht des Genossen Naumann, Bezirksleitung Berlin, vom 18. Jan. 1985.
Nacht- und Schichtarbeiteralltag in der DDR
45
alle schon mindestens sechs Monate und länger gestellt und die voraussichtliche Wartezeit betrug wenigstens noch einmal so lang. 1 4 6 Ähnlich schlecht sah die Situation für mindestens 360 Schichtarbeiterfamilien aus, die mit zwei Kindern in einer Zwei-Zimmerwohnung leben mussten und die offensichtlich nicht zur „Avantgarde der Produktion " gehörten. Die Überwindung dieser gravierenden sozialen Unterschiede im Wohnen waren gleichfalls für den Ost-Berliner Gesellschaftswissenschaftler Rolf Kuhn von „besonderer Aktualität". „Während in den Neubaugebieten überwiegend junge und qualifizierte Menschen angesiedelt wurden, konzentrierten sich in den zum Teil verfallenden (meist innerstädtischen) Altbaugebieten vorwiegend ältere und hinsichtlich ihrer Ausbildung weniger qualifizierte Menschen, oder auch junge Familien, die dieses Wohngebiet aber nur als , Übergangslösung' betrachten"Die Untersuchungen von Kuhn in den Alt- und Neubaugebieten der Städte Erfurt, Karl-Marx-Stadt und Rostock belegten die von Meyer bekannten sozialen Differenzierungen. Neben großen Unterschieden in der Altersstruktur, in den jeweiligen Neubaugebieten lebten zwei- bis dreimal so viele Kinder und Jugendliche, zeigten die Vergleiche, „daß in den Neubaugebieten die Zahl der Angehörigen der Intelligenz, in den Altbaugebieten dagegen die Zahl der Arbeiter überproportional hoch ist. Eine ähnliche Differenzierung ergibt sich noch einmal bei Produktionsarbeitern zwischen hoch- und weniger hochqualifizierten Arbeitern"So rekrutierten sich in Karl-Marx-Stadt die Bewohner aus Altbauten zu 55 % aus Arbeitern und zu weniger als 10 % aus der Intelligenz. In den Neubaugebieten der Stadt hingegen lag der Anteil der Intelligenz bei 30 % und der Arbeiteranteil mit knapp 32 % nur noch geringfügig höher. 1 4 9 Siegfried Grundmann schließlich, Gutachter der Dissertation von Kuhn an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Z K der SED, kam zu dem bemerkenswerten Schluss, dass die „bisherige Schwerpunktsetzung des Wohnungs- und Städtebaus (also auch Erscheinungen eines fortschreitenden Verschleißes von Altbausubstanz) und die vorrangige Vergabe von Wohnungsraum an Bürger jüngeren Alters nicht nur zur Reproduktion, sondern teilweise sogar zur Vertiefung von Erscheinungen der sozialen Segregation geführt " hatten. 1 5 0
146
Bei einem Großteil der jungen Erwachsenen erfolgte die Eheschließung fast ausschließlich um das Anrecht auf eine Wohnungszuweisung zu erhalten, da „wilde Ehen" oder Wohngemeinschaften von der Wohnungsvergabe prinzipiell ausgeschlossen waren; Mertens, Problem, S. 29 ff. 147
Kuhn, S. 30 f.
148
Ebd., S. 110.
149
Ebd., S. 110, Abb. 18.
150
Grundmann, S.231.
Lothar Mertens
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V I L Die Erziehung Jugendlicher zur Mehrschichtarbeit Ungeachtet der hier aufgezeigten Probleme galt die Schichtarbeit in der DDR als die einzige wahre sozialistische Form der Arbeit, die mit ausbeuterischer und gesundheitsschädigender Schichtarbeit in kapitalistischen Staaten nichts gemein hatte. Die inhumane Politik der DDR wurde in kaum einem anderen Bereich so deutlich sichtbar wie bei der Behandlung der Frage „Jugend und Schichtarbeit". Die Notwendigkeit, die durchgehende Schichtarbeit bereits bei Jugendlichen einzuüben, damit von diesen der Schicht- und Nachtdienst als „Normalzustand" empfunden würde, bedeutete für die Parteiführer und Berufspädagogen der DDR ein zur Planerfüllung und Machtsicherung „unverzichtder Ausbildung. Dass die Schicht- und Nachtarbeit der bares Erfordernis" Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen erheblich schadete, 151 wurde von den Parteiideologen ignoriert: Sozialistische Autoren kamen zu der Aussage, dass junge Menschen am besten in der Lage seien, sich dem veränderten Lebensrhythmus anzupassen.152 Jugendliche waren nach sozialistischer Version besonders für Schicht- und Nachtarbeit geeignet. Deshalb wurde es in der DDR auch als selbstverständlich angesehen, junge Menschen auf die Schichtarbeit als Normalarbeit hin zu erziehen. Von der dogmatischen Annahme bestimmt, dass nicht der Wille des Menschen die treibende Kraft der gesellschaftlichen Entwicklung sei, sondern allein die materiellen Verhältnisse diese bestimmten, war der menschliche Wille für DDR-Ideologen keine „angeborene Erscheinung", sondern vor allem ein Produkt der kollektiven Erziehung und Selbsterziehung, 153 die wiederum nach den SED-Vorstellungen zu erfolgen hatten. So sollte das „Denken der Werktätigen so entwickelt und geordnet werden, daß ihre Handlungen ... entscheidenden gesellschaftlichen [richtiger den SED-; L.M.] Zwecken immer stärker entsprechen " . 1 5 4 Daher hatte auch die Durchsetzung der Mehrschichtarbeit nach den Vorstellungen sozialistischer Pädagogen „in den Köpfen, im Denken, in den ideologischen Auffassungen der künftigen sozialistischen Facharbeiter " 1 5 5 zu beginnen. Unter der Bereitschaft zur Mehrschichtarbeit verstanden die DDR-Pädagogen Piksa/Sasse „das zur Überzeugung gewordene Wissen von der gesellschaftlichen Notwendigkeit der Mehrschichtarbeit und die damit verbundene Fähigkeit zu ihrer Ausübung". Für die DDR-Erzieher war die Bereitschaft zur Mehrschichtarbeit zudem ein Gradmesser für den Stand des erreichten sozialistischen Bewusstseins. 156 Wie 151
Schweres, S. 45.
152
Kaden/Pöse, S. 329; Perleberg/Seidel, S. 328 ff.; Piksa/Sasse, S. 265 ff.
153
Hecht, Mensch, S. 203; Piksa, S. 79.
154
Meißner, S. 46.
155
Gieding/Weißflog, S. 162.
156
Piksa/Sasse, S. 265.
Nacht- und Schichtarbeiteralltag in der DDR
47
aber sahen die Jugendlichen selbst die Mehrschichtarbeit, was vor allem waren ihre Motive, einem solchen Arbeitsrhythmus zuzustimmen? Die Untersuchung von 400 Lehrlingen durch Sybille Sasse aus den späten 1970er Jahren gibt darüber Auskunft.
Tabelle 16
Motiv für die Berufswahl in der Elektroindustrie (Mehrfachnennungen möglich) Motiv für die Berufswahl
in %
die Arbeit ist interessant
86,0
die Arbeit ist abwechslungsreich
81,2
die Elektroindustrie hat große Zukunft
75,6
man hat gute Weiterqualifizierungsmöglichkeiten
75,2
in diesem Beruf in Schichtarbeit kann ich gut verdienen
70,8
Schichtarbeit nehme ich wegen der sozialen und materiellen Vergünstigungen in Kauf der Beruf hat mich interessiert und außerdem durch Schichtarbeit mehr Freizeit Schichtarbeit stört mich nicht, Hauptsache die Arbeit füllt mich aus
61,5 58,6 48,5
der Beruf hat mich interessiert und ich hoffe, nach Abschluß der Lehre diesen Beruf in einem anderen Betrieb ohne Schichtarbeit ausüben zu können
44,8
meine Eltern arbeiten auch in diesem Beruf
14,4
Erstellt nach Sasse, S. 61
Die Aufstellung belegte - neben den erwarteten ideellen Hoffnungen auf eine interessante und abwechslungsreiche Tätigkeit - die starke Dominanz der materiellen Vergünstigungen für die Berufswahl und ebenfalls für die damit verbundene Schichtarbeit. Ideologische Gründe - etwa im Sinne einer besonderen Förderung der eigenen Persönlichkeit im sozialistischen Sinne - fanden sich unter den hier aufgelisteten Angaben dagegen überhaupt nicht. Auch sprach keiner der Befragten davon, etwa dem Staat DDR oder dem Sozialismus als solchem in seinem Beruf besonders forderlich zu sein. Zudem wollte fast die Hälfte der Befragten (44,8 %) nach Abschluss der Lehre den erlernten Beruf nicht im Mehrschichtrhythmus ausüben. Ganz entschieden „ lehnen 19,42 Prozent der Probanden Mehrschichtarbeit ab. Nach Meinung der befragten Leiter, Lehrkräfte und Lehrlinge der Ausbildungsstätten, wird der Ablehnung der Mehrschichtarbeit seitens der Lehrlinge und jungen Facharbeiter größerer Ausdruck verliehen, als durch das Untersuchungsergebnis widergespiegelt
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Lothar Mertens
werden kann " , 1 5 7 Interessant war in diesem Zusammenhang die Einstellung der beruflichen Erziehungsträger in den Kombinaten zur Schichtarbeit.
Tabelle 17
„Meinung positiv bis im wesentlichen positiv" zur Mehrschichtarbeit Personengruppe
in %
Arbeitskollegen
56,4
Lehrkräfte des berufspraktischen Unterrichts
53,7
Lehrlingskollektive
43,4
Lehrfacharbeiter
41,4
Lehrkräfte des theoretischen Unterrichts
37,7
Erstellt nach Sasse, S. 61
„Die weniger positiv geäußerten Meinungen zur Mehrschichtarbeit seitens der Lehrmeister, Lehrfacharbeiter, aber insbesondere der Lehrkräfte des theoretischen Unterrichts lassen die Vermutung zu, daß fehlende Einsicht in die Notwendigkeit und Bedeutung der Mehrschichtarbeit sowie der Umstand, noch nie oder nur im Zweischichtsystem gearbeitet zu haben, nicht zu dem gewünschten Engagement fuhrt" Öffentlich wurden die „Aktivisten" hervorgehoben, denen es gelungen war, Lehrlinge und junge Facharbeiter für die Mehrschichtarbeit anzuwerben. 159 Doch nicht nur auf dem Wege der Propaganda wurden in der DDR Schritte unternommen, um „ bei den jüngeren Facharbeitern das Interesse zu wecken, in der rollenden Woche zu arbeiten " , 1 6 0 Jungfacharbeiter und Jugendliche waren nach der Auffassung von DDR-Wissenschaftlern darüber hinaus auch am besten in der Lage, „sich dem veränderten Lebensrhythmus anzupassen, sich an die Mehrschichtarbeit zu gewöhnen " , 1 6 1 und sie so zum „Normalzustand" werden zu lassen. Wichtig erschien es hierbei vor allem zu sein, die Jugendlichen genügend auf die Schichtarbeit vorzubereiten und sie zu dieser Tätigkeit zu stimulieren. „Normalzustand" bedeutete in diesem Zusammenhang nicht nur das wirtschaftlich erstrebenswerte, sondern vor allem auch und möglicherweise in erster Linie das gesellschaftlich Richtige. Zur Gewinnung und Pflege einer „positiven Einstellung" gegenüber der Mehrschichtarbeit in den Betrie157
Sasse, S. 70.
158
Ebd., S. 86.
159
Eckert, S. 3.
160
Kluge, S. 71.
161
Tietze/Hoffmann, Arbeitsbedingungen, S. 120; Geuther/Heinze/Siemon, S. 92.
Nacht- und Schichtarbeiteralltag in der DDR
49
ben empfahl Sasse: „ Arbeitskollektive sollen sich durch Arbeitstraditionen auszeichnen, die beständig fiir die Bildung und Erziehung des Facharbeiternachwuchses genutzt werden kann. Im Industriezweig Elektrotechnik und Elektronik wurde bisher keine Tradition der Mehrschichtarbeit entwickelt, wie das z.B. in den Industriezweigen der Chemischen Industrie, des Bergbaus oder des Fahrzeugbaus der Fall ist U.E. könnten auch im Industriezweig Elektrotechnik und Elektronik im Zuge der Entwicklung von Arbeitstraditionen Traditionen der Mehrschichtarbeit entwickelt werden. Wir empfehlen den Arbeitskollektiven, gemeinsam mit Lehrlingskollektiven einen Beitrag zur Entwicklung von Traditionen der Mehrschichtarbeit dahingehend zu leisten, daß im Rahmen eines Traditionszimmers oder einer -ecke innerhalb des Betriebes oder einer Betriebsabteilung, der Übergang zur und die ständige Vervollkommnung [d.h. ungehemmte Ausweitung; L. M.] der Mehrschichtarbeit entsprechend den Veränderungen der volkswirtschaftlichen Anforderungen an den Betrieb als Teil der Illustration der Arbeitstraditionen, dargestellt wird. " 162 Bei den jungen Werktätigen und Lehrlingen sollten vor allem auch allgemeine soziale Einstellungen und Verhaltensweisen geprägt werden, nicht nur solche, die direkt mit dem ausgeübten Beruf zusammenhingen. Eine besondere Rolle bei der Gestaltung eines solchen Verhältnisses spielte dabei die Haltung, welche die Erwachsenen, hier vor allem die Eltern, Erzieher, Lehrausbilder etc., gegenüber den Jugendlichen einnahmen. Nach sozialistischer Vorstellung vollzog sich die Persönlichkeitsentwicklung der Lehrlinge dann besonders erfolgreich, wenn die Arbeitskollektive politisch-ideologisch gefestigt waren. Persönlichkeitsentwicklung der Lehrlinge bedeutete also in erster Linie „die Aneignung des sozialen Wesens der Arbeiterklasse ". 163 Der entsprechende Ausprägungsgrad der Persönlichkeitsentwicklung war u.a. an folgenden Maßstäben zu messen: „Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit, Achtung vor dem Volkseigentum, kameradschaftliche Hilfe und kollektives Verantwortungsbewußtsein, das Bestreben, sich aus eigenem Antrieb ständig weiterzuqualifizieren, schöpferische Initiative beim Lernen und Arbeiten, bewußte Lern- und Arbeitsdisziplin, Ordnung, Sauberkeit usw. " 1 6 4 Kernstück sozialistischer Erziehung war der politisch-ideologische Drill der Jugend. 165 Die Funktionäre versuchten mit großem Aufwand, die selbstbestimmte Zeit der Jugendlichen zu minimieren, denn dann konnte in dieser Zeit, so kalkulierte die SED-Führung, nicht gegen sie opponiert werden. 1 6 6 162
Sasse, S. 120 f.
163
Piksa, S. 78.
164
Henschel, S. 4.
165
Keim, Entwicklung, S. 147.
166
Voigt/Meck, S. 30.
4 Mertens (Hrsg.)
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Bei der mehrschichtigen Ausbildung der Lehrlinge ging es „vorrangig darum, den Lehrlingen die Probleme, die mit der Mehrschichtarbeit zusammenhängen, näherzubringen und sie an Mehrschichtarbeit zu gewöhnen". 1 6 7 Durch die „Gewöhnung" wurde beabsichtigt, dass die Lehrlinge die Nachtund Schichtarbeit als einen „Normalzustand, als eine alltägliche Anforderung an die Gestaltung ihrer Lebensweise verstehen lernen " mussten. 168 Eine deutliche Kritik an der Konzeption wurde vom westdeutschen Berufspädagogen Manfred Schweres geübt, der bemängelte: Wie soll sich die Persönlichkeit des Lehrlings entfalten, wenn er in seinen körperlichen Leistungsvoraussetzungen beeinträchtigt und in seinen psycho-physischen und psychischen Leistungsvoraussetzungen manipuliert wird?" 169 Doch in der DDR-Berufspädagogik galt weiter: Mehrschichtarbeit sei der Königsweg zur „allseits entwickelten Persönlichkeit"} 1^ In den Arbeitskollektiven der VEB wurden die Lehrlinge zugleich mit der betrieblichen Wirklichkeit konfrontiert. Häufig erlebten die Jugendlichen an dieser Stelle die deutlichen Diskrepanzen zwischen politisch-ideologischer Norm und der alltäglichen Realität. Das bezog sich sowohl auf den ihnen abverlangten mehrschichtigen Einsatz an „hochmodernen" Maschinen und Produktionsanlagen als auch auf den Ausprägungsgrad des „sozialistischen Bewußtseins" in den Arbeitskollektiven. Der Zwiespalt zwischen ideologischer Theorie und praktischem Arbeitsalltag wurde dabei in den immer wiederkehrenden Forderungen nach einer sorgfältigen Vorbereitung deutlich. Schlechte Lern- und Arbeitsbedingungen (wie z.B. die mangelnde Ausstattung der Lehrwerkstätten, Diskontinuität in der Produktion, fehlendes Werkzeug und Material) behinderten die Entwicklung eines positiven Leistungsverhaltens der Lehrlinge. 1 7 1 Dass der unkontinuierliche Produktionsfluss vor allem in der Spätund Nachtschicht die politökonomische Begründung der Mehrschichtarbeit in Frage stellte und außerdem die diesbezügliche Erziehungsarbeit der Lehrkräfte erschwerte, konzedierte selbst Sasse, 172 wenn sie konstatierte, dass „die fur die Entwicklung von Einstellungen zur Mehrschichtarbeit während der Berufsausbildung vorhandenen erzieherischen Potenzen... noch nicht im erforderlichen Maße erkannt und genutzt" würden. 1 7 3 Sasse führte diesen aus ihrer Sicht initiativvereitelnden und ideologiefeindlichen Zustand bei der Erziehung der 167
Geuther/Heinze/Siemon, S. 215 (Hervorhebung; L.M.).
168
Kaden/Pöse, S. 329; Piksa/Sasse, S. 267; Sasse, S. 104.
169
Schweres, S. 51 f.
170
Sasse, S. 96; Tietze/Winkler, S. 112.
171
Ernst/Reuther, S. 315.
172
Sasse, S. 119 f.
173
Ebd., S. 96.
Nacht- und Schichtarbeiteralltag in der DDR
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Lehrlinge zur Mehrschichtarbeit auf einzelne Arbeitskollektive zurück, „deren Einstellung zur Arbeit und Mehrschichtarbeit nicht immer den fortgeschrittensten Teilen der Arbeiterklasse" entsprach. 174 Als einer der ganz seltenen Ausnahmen hatte Orschekowski in den frühen 1960er Jahren die wesentlichen Nachteile einer Lehrausbildung im Mehrschichtsystem aus sozialistischer Sicht angeprangert: „unregelmäßige Lebensweise, Schwierigkeiten, die Freizeitgestaltung zu beeinflussen und in der Freizeit an Qualifizierungslehrgängen ... teilzunehmen" }η5
V m . Resümee Kennzeichnend für die DDR-Gesellschaft war ihre große Arbeitszentriertheit, da die Arbeitswelt das zentrale Lebensfeld der Menschen in Ostdeutschland war. Bedingt wurde dies durch mehrere Faktoren. Zum einen durch die hohe durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 40-42 Stunden, welche bei Addition der zumeist 1-3 stündigen täglichen Wegstrecken zur Arbeitsstätte mehr als die Hälfte des Werktages zeitlich reglementierte und zugleich die frei disponiblen Bereiche Familie und Freizeit stark minimierte. Das weitgehende Fehlen der aktiven und passiven Zerstreuungsmöglichkeiten einer westlichen „Freizeitgesellschaft", das anonymisierte Wohnen in den Plattenbau-Ghettos der sozialistischen Trabantenstädte und der hohe Grad gescheiterter Ehen ließ die Arbeitskollektive sukzessive in die Funktion von Ersatzfamilien hineinwachsen, mit dem ohnehin mehr Zeit verbracht wurde, als mit der Partnerin oder dem Partner. Aus dem Arbeitskollektiv rekrutierte sich vor allem bei Mehrschichtarbeitern, ein großer Teil des Freundeskreises, so dass indirekt die Arbeitswelt und ihre Probleme auch weit in den privaten Bereich hineinwirkten. Die Nacht- und Schichtarbeit wurde allgemein zwar als notwendiges Übel aufgefasst, welches von der SED mit Zuckerbrot und Peitsche dargeboten wurde. Die Arbeiter wussten, dass sie auf Grund der fehlenden arbeitsrechtlichen Möglichkeiten keine großen Chancen der Verweigerung besaßen, zugleich nahmen sie bereitwillig die gebotenen Möglichkeiten zur Lohnsteigerung durch Schichtzulagen und Sonderprämien an, welche als materielle Stimuli die Pression begleitete. Für Schichtarbeiterinnen, die neben ihrer Erwerbstätigkeit noch die Haus- und Erziehungsarbeit zu leisten hatten, waren die Belastungen der Mehrschichtarbeit schwerer zu kompensieren und forcieren psycho-soziale Konflikte, z.B. Konflikte zwischen Mutter- und Berufsrolle, Rolle der Haus-
*
174
Sasse, S. 88.
175
Orschekowski, S. 97.
52
Lothar Mertens
und Ehefrau. Erst nach der Wende, im Dezember 1989, konzedierten auch Frauenforscherinnen 176 in der DDR, „daß sich die Benachteiligungen von Frauen in allen Lebensbereichen eher verstärkt als verringert haben. Frauen arbeiten mehrheitlich in schlechter bezahlten Berufen und Tätigkeiten. " 177 Ungeachtet aller ökonomischen Fragwürdigkeit der volkswirtschaftlichen Kostennutzenrechnung der Nacht- und Schichtarbeit, blieben in der DDR die medizinisch-gesundheitlichen Nachteile sowie die gesellschaftliche und individuelle Belastung weitgehend unberücksichtigt und durften auch nicht öffentlich thematisiert werden. Denn sonst wären auch die indirekten Intentionen des SED-Politbüros die Mehrschichtarbeit als gezieltes politisches Erziehungs- und gesellschaftliches Unterdrückungsinstrument bei der Disziplinierung der werktätigen Massen in der DDR zu verwenden, in die Diskussion gekommen. Pointiert charakterisierte der Theaterautor Heiner Müller in „Neues Deutschland", dem Zentralorgan der SED, im Dezember 1989 die jahrzehntelange UnterVariante der Aneignung des drückung des Volkes: „Die feudalsozialistische Mehrwerts, Ausbeutung mit andern Mitteln, ist die Konsequenz aus der Stalinschen Fiktion des Sozialismus in einem Land, deren Realisierung zur Kolonisierung der eignen Bevölkerungen in den osteuropäischen Ländern geführt hat. Das Volk als Staatseigentum, eine Leibeigenschaft neuen Typs. "
176 Barbara Bertram (Zentralinstitut für Jugendforschung Leipzig), Gisela Ehrhardt (Akademie der Wissenschaften der DDR), Hildegard Maria Nickel (Humboldt-Univ. zu Berlin) sowie Ute Kretzschmar und Eva Schäfer (Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED). 177
Wortmeldung, S. 3.
178
Müller, S. 5.
l7 8
Nacht- und Schichtarbeiteralltag in der DDR
53
Dokumentation Wie gering die Bereitschaft der politisch Herrschenden (hier am Beispiel des ZK-Sekretärs Hager 1 7 9 ) zu einer offenen Gesellschaftsreflexion selbst im internen Kreis von SED-Spitzenkadern war und wie starr das enge ideologische Korsett in der DDR gegenüber dem bloßen Eingeständnis gesellschaftlicher Probleme saß, belegt der nachfolgende Protokollauszug aus der Besprechung einer hochrangigen Arbeitsgruppe von Leitern wichtiger Partei- und Staatsinstitutionen über „Ideologische Fragen" in Vorbereitung des X. Parteitages der SED vom 6. November 1980. In der Sitzung wurde die an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED (AfG) erstellte Studie über „ Veränderungen des Verhältnisses zwischen körperlicher und geistiger Arbeit bei der Durchsetzung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und ihre Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung " beraten. 180 Vom dramaturgischen Ablauf her, war die Sitzungsstrategie Hägers eine taktische Meisterleistung, da alle Vorredner die ausgearbeitete Studie ausdrücklich lobten und deren empirischen Ergebnisse grundsätzlich bestätigten. Daher mussten sie sich alle, als dann der ZK-Sekretär das Wort ergriff und mit seiner, von der reinen Lehre abgesicherten Philippika begann, als ertappt, getadelt und ideologisch korrigiert fühlen. Damit hatte der SED-Ideologiepapst zugleich gegenüber allen Anwesenden die wahren Machtverhältnisse in der Partei und sein Deutungsmonopol einmal mehr nachdrücklich reklamiert. Vor allem an der von Manfred Lötsch 1 8 1 so plakativ wie provokativ verwandten Formulierung „geistig monotoner Arbeit " bei seiner Beschreibung der Zustandsanalyse vieler Arbeitsplätze in den DDR-Kombinaten störte sich Kurt Hager. Doch es war nicht etwa der unbestreitbar miserable Zustand dieser Arbeitsbedingungen, der geändert werden sollte, weil er das Wohl von Tausenden von Werktätigen betraf. Sondern die bloße Erwähnung des Ärgernisses war es, was hier die heftige Kritik Hagers auslöste; ein Verstoß gegen den Kodex der Parteisprache, wo üblicherweise Mißstände nur nebulös und zugleich positiv formuliert umschrieben wurden, als Zustände, die „zukünftig noch zu verbessern waren".
179
Kurt Hager, 1955-89 Sekretär des SED-Zentralkomitees für Wissenschaft und Kultur und 1963-89 Mitglied des Politbüros der SED. 180
SAPMO/BArch, DY 30/vorl. SED 27329/1; ZK-Hausmitteilung von Kurt Hager an Otto Reinhold vom 30. Okt. 1980. 181
Prof. Dr. Manfred Lötsch, Leiter des Forschungsbereichs „Sozialstruktur in der sozialistischen Gesellschaft" am Institut für marx.-lenin. Soziologie der AfG.
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Protokollauszug 182 „Gen. Hager betont einleitend, daß das Material - wie eine Reihe weiterer Studien - der Vorbereitung grundlegender theoretischer und politischer Fragen des X. Parteitages dient. Es ist als W S [Vertrauliche Verschlußsache; L.M.1 zu behandeln. Gen. Lötsch charakterisiert die empirischen Daten, die die Grundlage der Studie bilden. Die Daten beruhen auf einer empirischen Untersuchung, die vom Institut für marxistisch-leninistische Soziologie der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Z K der SED im Bezirk Dresden durchgeführt wurde. Sofern sie Probleme des Inhalts der Arbeit, der Qualifikationsanforderungen etc. betreffen, wurden sie mit Hilfe einer Arbeitsplatzanalyse ermittelt, sie widerspiegeln damit nicht die Meinung der Befragten, sondern reale Gegebenheiten. Die wesentlichen Ergebnisse dieser Untersuchung stimmen überein mit ähnlichen Untersuchungen, die in der ersten Hälfte der siebziger Jahre durchgeführt wurden, mit Ergebnissen anderer Institutionen, - so der AdW [Akademie der Wissenschaften; L.M.] der DDR und der T U Dresden sowie mit ersten Resultaten einer internationalen Gemeinschaftsuntersuchung zur Annäherung von Arbeiterklasse und Intelligenz. Das unterstreiche den langfristigen Charakter der behandelten Probleme und spreche für die Verläßlichkeit der Daten. Die weitgehende Übereinstimmung mit den Ergebnissen der internationalen Gemeinschaftsuntersuchung zeige, daß es sich nicht um spezielle Probleme der DDR handele. Gen. Koziolekf 1 8 3 ; L.M.] stimmt der Studie ,fast ausnahmslos' zu. Auch entsprechende Analysen des ZSW [Zentralinstitut für sozialistische Wirtschaftsführung beim Z K der SED; L.M.] bestätigen die Ergebnisse, die der vorliegenden Studie enthalten sind. Er hob hervor, daß Probleme der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit gesehen werden müßten, d.h. sowohl hinsichtlich der Abhängigkeit weiterer sozialer Fortschritte von ökonomischen Leistungen als auch hinsichtlich der Wirkung sozialer Fortschritte auf die Erhöhimg der ökonomischen Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft. [...] Gen. Wolf [ 1 8 4 ; L.M.] schließt sich der positiven Einschätzung des vorliegenden Materials an. Die realistische Analyse regt dazu an, die Lehrtätigkeit 182
SAPMO/BArch, DY 30/vorl. SED 27329/1 ; Protokoll der Beratung der Arbeitsgruppe Ideologische Fragen am 6.11.1980 [8 Seiten]; (Unterstreichungen im Original). 183
Prof. Dr. Helmut Koziolek, 1965-89 Direktor des Zentralinstituts für sozialistische Wirtschaftsführung beim ZK der SED, 1981-89 Mitglied des ZK der SED. 184
Hanna Wolf, 1950-83 Rektor der Parteihochschule„Karl Marx" beim ZK der SED, 1958-89 Mitglied des ZK der SED.
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auf diesem Gebiet zu durchdenken; zu diesen Problemen werden oft zu vereinfachte und unrealistische Thesen vertreten. Gen. Banaschak [ 1 8 5 ; L.M.] bezeichnet das Material, im Anschluß an die Vorredner, als ausgezeichnet. Es regt gerade deswegen zu weiteren Fragen an, die in weiteren Untersuchungen verfolgt werden sollten. Das betreffe erstens die Zusammenhänge zwischen der weiteren Entwicklung des Arbeitsinhalts und Fragen der Stimulierung. Vor allem die Herstellung einer besseren Übereinstimmung zwischen der vorhandenen Qualifikation und ihrer Nutzung mache es erforderlich, die Wirkungsweise der Durchsetzung des Leistungsprinzips und dabei auftretende Probleme (wirksame Verknüpfung materieller und moralischer Stimuli) tiefer zu untersuchen. Zweitens wäre es wichtig zu untersuchen, warum Frauen überdurchschnittlich unter weniger günstigen Arbeitsbedingungen tätig sind; dies ist eine äußerst wichtige Frage der Durchsetzung der realen Gleichberechtigung der werktätigen Frau. Man müsse der Reduzierung körperlich und geistig monotoner Arbeiten größere Aufmerksamkeit widmen. Gen. Kaiweit [ 1 8 6 ; L.M.] verweist darauf, daß Untersuchungen an der Akademie der Wissenschaften zu ähnlichen Ergebnissen geführt haben und man müsse überlegen, ob und wie die Aussagen zusammengeführt werden sollten. Diese bestätigten die Aussagen der Studie. Vor allem hinsichtlich des Einsatzes von Hochschulkadern und der Effektivität ihrer Arbeit sind große Probleme festzustellen. Die AdW verfüge zu diesen Problemen über weiteres Material, das in der weiteren Arbeit zu diesen Problemen berücksichtigt werden sollte. [...]. Gen. Hager charakterisierte die Studie als äußerst wertvolles Material. Vor allem die Schlußfolgerung sollten bei der weiteren Vorbereitung des X. Parteitages beachtet und sorgfältig umgesetzt werden. Zugleich werfe die Studie eine Reihe von Fragen auf: Erstens scheint es, daß, bezogen auf den Umfang der untersuchten Bedingungen, einige Verallgemeinerungen zu weit gediehen sind bzw. daß keine völlige Übereinstimmung zwischen den analytischen Grundlagen und den getroffenen Verallgemeinerungen bestehe. Es müßten die Zielstellungen des Planes 1981 stärker berücksichtigt werden. Zweitens sei für einige Schlußfolgerungen charakteristisch, daß die Probleme von der Soziologie an die Politik weitergegeben werden. In der soziologischen 185
Manfred Banaschak; 1960-89 Redaktionsmitglied und 1965-72 Stellv. Chefredakteur bzw. 1972-89 Chefredakteur der „Einheit", der Theoriezeitschrift des SED-Zentralkomitees. 186
Werner Kaiweit, 1972-91 Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften der DDR, 1962-67 Leiter des Lehrstuhls für Politische Ökonomie u. 1967-71 Stellv. Direktor des damaligen Instituts für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED.
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Forschung selbst und in enger Gemeinschaftsarbeit muß tiefer untersucht werden, wie die Vorstellungen, Aussagen und Schlußfolgerungen klarer und konkreter mit den volkswirtschaftlichen Möglichkeiten verbunden werden können. Drittens müsse theoretisch schlüssiger begründet werden, was »Reduzierung wesentlicher Unterschiede zwischen körperlicher und geistiger Arbeit' wirklich bedeute. Dem in der Studie entwickelten Ansatz, daß es hier nicht um jegliche Unterschiede gehen kann, sondern um die soziale Qualität von Unterschieden zwischen körperlicher und geistiger Arbeit, ist prinzipiell zuzustimmen. Dennoch sei in die theoretische Ausarbeitung dieses Ansatzes noch einiges zu investieren. Viertens sollten damit im Zusammenhang die Wechselbeziehungen zwischen Arbeitsinhalt und Persönlichkeitsentwicklung stärker beachtet werden. In der Studie sind diese Beziehungen oft zu einseitig dargestellt worden. Bei der Bestimmung der geistigen Elemente der Arbeit dürfen nicht nur die unmittelbaren Anforderungen der Arbeitsfunktion gesehen werden, sondern natürlich auch solche spezifisch sozialistischen Bedingungen wie Kollektivität der Arbeit, Verantwortung für das Ganze, Teilnahme an der Leitung und Planung, aktive Mitwirkung an der Durchsetzung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Es sei nach seiner Meinung [Kurt Hager; L.M.] nicht richtig, geistig weniger komplizierte Arbeit, ohne die gebührende Berücksichtigung aller dieser Faktoren, als ,die Entwicklung der Persönlichkeit hemmend' darzustellen. Auch terminologische Aussagen sind zu überdenken. Es könne politischen Schaden hervorrufen, die Arbeit vieler Werktätiger als ,geistig anspruchslos' oder ,persönlichkeitshemmend' zu bezeichnen. Die Persönlichkeitsentwicklung dürfe auch deswegen nicht zu eng von der Umgestaltung der Arbeitsbedingungen abgeleitet werden, weil auf vielen Gebieten auf absehbare Zeit keine tiefgreifenden Veränderungen zu erwarten sind, was gewiß nicht heißen kann, daß sich diese Werktätigen, die alle eine für die Gesellschaft sehr nützliche Arbeit leisten, sich nicht oder nur bedingt als Persönlichkeiten entwickeln könnten. Es sei auch zu fragen, ob man im Sozialismus überhaupt von »geistig monotoner' oder »geistig anspruchsarmer' Arbeit reden kann - weil die genannten übergreifenden Bedingungen für alle Werktätigen, gleich welche Tätigkeit sie ausüben, gelten. Der Begriff »Persönlichkeit' sei komplexer Natur und seine politische und moralische Wirkung dürfe niemals unterschätzt werden. Fünftens schließlich scheinen die Maßstäbe, nach denen in den zugrundeliegenden Untersuchungen das »geistige Niveau' der Arbeit beurteilt wurde,
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nicht hinreichend exakt zu sein. Ist es nach dem Stand der Forschung überhaupt möglich, das ,geistige Niveau der Arbeit' quantifizierend zu messen? Die Angaben über die 1,2 Mio. Arbeitsplätze, an denen die Arbeit ,arbeitsmedizinisch' bedenklich sei, sind nicht weiter zu verbreiten und genauer zu prüfen. Es ist durchaus möglich, daß es sich, was die Zahl der Arbeitsplätze betrifft, um eine arbeitsmedizinische Übertreibung handele, womit natürlich die Existenz derartiger Arbeitsbedingungen nicht bestritten werde. In der nachfolgenden Diskussion wurde Übereinstimmung darüber erzielt, daß gerade die weitere Verringerung oder Umgestaltung dieses Typs von Arbeitsplätzen der erste Kern des Problems sei. Hier handele es sich um ein Erfordernis, bei dem soziale Ziele und ökonomische Notwendigkeiten zusammenfallen: Abbau physisch schädigender Arbeit als elementarer Bedingung der Persönlichkeitsentwicklung und Erfordernis der rationellen Nutzung des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens. Gen. Lötsch erklärte, daß im Institut [für marx.-lenin. Soziologie der AfG; L.M.] bei der Verwendung des Begriffs Persönlichkeit' zwischen den Bedingungen soziologischer Forschung und der politisch-ideologischen Massenarbeit unterschieden werde. Genossin Wolf sowie die Genossen Koziolek, Banaschak und Kaiweit machten darauf aufmerksam, daß die in der Praxis vorhandene und noch nicht zu beseitigende körperlich oder/und geistig monotone Arbeit sowie die oft anzutreffende Unterschätzung der geistigen Arbeit (z.B. bei der Behandlung und dem Einsatz von Hoch- und Fachschulabsolventen) nicht unterschätzt werden dürften. Umstrittener waren die Probleme der Entwicklung des geistigen Inhalts der Arbeit. Gen. Lötsch stimmte zu, daß bei der Bestimmung des geistigen Inhalts der Arbeit im Sozialismus die von Gen. Hager genannten Faktoren ihrem wirklichen Gewicht gemäß eingeordnet werden müssen und daß die Entwicklung der Persönlichkeit nicht einseitig aus dem Arbeitsinhalt abgeleitet werden kann. Er [Lötsch; L.M.] gab jedoch zu bedenken, ob es nicht dennoch sinnvoll sei anzuerkennen, daß aus geistig wenig komplizierter Arbeit mit einem hohen Wiederholungsgrad, die man durchaus als ,geistig monoton' bezeichnen könne, auch Schädigungen der geistigen Entwicklung des Menschen bzw. hemmende Faktoren o.ä. hervorgehen können "187
187
SAPMO/BArch, DY 30/vorl. SED 27329/1 ; Protokoll der Beratung der Arbeitsgruppe Ideologische Fragen am 6.11.1980 (8 Seiten).
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Lothar Mertens
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„Weiberwirtschaft" Brigadealltag im VEB Leipziger Baumwollspinnerei Von Annegret Schüle I. Einleitung Unstrittig ist in der zeitgeschichtlichen Forschung, dass dem Betrieb in der DDR als Vergesellschaftungskern 1 oder, mehr von den Subjekten aus formuliert, als Lebensmittelpunkt ein hoher Stellenwert zukam. Er war weit mehr als ein Arbeitgeber, er war Anbieter vielfältiger sozialer Dienstleistungen und Ort wichtiger privater Beziehungen. Vergleicht man Lebenspraxis und staatspolitische Ideologie, so verblüfft, dass die herrschende Partei und die Beherrschten sich in der Frage der großen Bedeutung des Betriebes offensichtlich einig waren. Der hohe Stellenwert des Arbeitskollektivs entsprach ganz den damaligen Zielen der DDR-Ideologen, wie an dem Zitat einer ostdeutschen Soziologin auf dem 3. Kongress der marxistisch-leninistischen Soziologie 1981 deutlich wird: „ Unter den vielfaltigen Formen sozialistischer Kollektivität nimmt das Arbeitskollektiv - eine Grundzelle der sozialistischen Gesellschaft - einen besonderen Platz ein. Von allen Kollektiven, die eine Vermittlerfunktion zwischen gesamtgesellschaftlichen Zielstellungen, den Klasseninteressen und den Interessen des Individuums ausüben, ist das Arbeitskollektiv neben der Familie das wichtigste, weil die entscheidenden gesellschaftspolitischen Zielstellungen der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei in den Arbeitskollektiven realisiert werden, sei es auf ökonomischem, politischem oder ideologischem Gebiet " 2 Hat es die hier postulierte völlige Übereinstimmung von Partei- und Bürgerinteressen im Arbeitsalltag gegeben? Wenn nein, wo gab es Übereinstimmung, wo Distanz, wo Konflikte? Nicht nur Soziologen in der DDR, auch Vertreter der bundesrepublikanischen Transformationsforschung gehen davon aus, dass SED- und Arbeiterinteressen im Betrieb kongruent waren. So kam der west1 2
Kohli, S. 39. Alice Kahl, Zur Rolle des Arbeitskollektivs bei der Festigung der Betriebsverbundenheit. In:
3. Kongreß der Lebensweise und Sozialstruktur, Berlin (Ost) 1981, S. 77, zitiert nach Schmidt, S. 56. 5 Mertens (Hrsg.)
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Annegret Schüle
deutsche Soziologe Werner Schmidt 1996 in seiner Betriebsstudie zu dem Schluss, dass der „totale Zugriff auf die Arbeitnehmer " gelang, den die Staatsmacht in den Betrieben erreichen wollte. 3 Meine Forschungen über die Arbeitserfahrungen von Frauen im VEB Leipziger Baumwollspinnerei, die seit kurzem als Buch vorliegen, 4 lassen mich für ein stärker differenziertes Ergebnis plädieren. Sie zeigen eine Arbeitswelt, in der vielfältige Aktions- und Reaktionsweisen von Anpassung über Distanz zu Verweigerung zu finden sind. A l f Lüdtke hat für diese Bandbreite des Verhaltens von Beherrschten das Konzept des Eigen-Sinns in der deutschen Geschichtswissenschaft etabliert. 5 In diesem Beitrag soll der Aspekt des Brigadelebens herausgegriffen werden, der in meiner Untersuchung einer von mehreren Schwerpunkten ist. Zunächst werde ich die Begriffe Brigade und Alltag für die DDR im Allgemeinen und für mein Fallbeispiel, den VEB Leipziger Baumwollspinnerei, im Besonderen diskutieren. Dann werde ich die drei Bereiche „Sozialistisch arbeiten, lernen, leben", das Motto der sozialistischen Brigaden, an meinem Fallbeispiel darstellen und daraus Schlussfolgerungen ziehen.
I I . Die Brigade: Interessengruppe oder lebensweltlicher Zusammenhang? Die Kampagne zur Bildung von Brigaden, die vom FDGB organisiert wurde, erfolgte in zwei Schritten: 1949/50 entstanden die Produktionsbrigaden, ab 1959 sollten aus ihnen ,3rigaden der sozialistischen Arbeit" werden. Beide Initiativen gehen auf sowjetische Vorbilder zurück. 6 Anders als in Deutschland, wo Meisterbereiche die traditionelle Organisationsform industrieller Arbeit darstellten, dienten die Brigaden in der Sowjetunion vor allem dazu, den Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft zu vollziehen. Für die aus der Landwirtschaft stammenden Beschäftigten waren die Brigaden iyAnleitungs-, Erziehungs- und Kontrollinstrument", so der Potsdamer Industriehistoriker Peter
3
Schmidt, S. 9, S. 108.
4
Schüle, Annegret: „Die Spinne". Die Erfahrungsgeschichte weiblicher Industriearbeit im VEB Leipziger Baumwollspinnerei, Leipzig 2001. Die Untersuchung basiert auf Erinnerungsinterviews mit ehemaligen Betriebsangehörigen (ein Sample von elf Frauen unterschieden nach Alter, Schulbildung, Betriebseintritt, Betriebsdauer, Aufstieg, Parteimitgliedschaft), Brigadetagebüchern, Unterlagen der Kaderleitung, des Frauenausschusses etc. sowie Akten des MfS. 5 6
Vgl. u.a. Lüdtke, Geschichte, S. 139-153.
Sogenannte „Stoßbrigaden" stellten sich dort bereits seit 1926/27 weit überdurchschnittliche Arbeitsleistungen zum Ziel. In der „Stachanow-Bewegung" ab 1935 bildeten ebenfalls Brigaden das Zentrum.
Brigadealltag im VEB Leipziger Baumwollspinnerei
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Hübner. 7 Auch in der DDR sollte die Brigadebewegung durch ihren Wettbewerbscharakter die Produktion steigern. Ab 1959 kamen mit den ,3rigaden der sozialistischen Arbeit" die Aspekte der Weiterbildung und der gemeinsamen Freizeitgestaltung hinzu. Diese Form der Brigadebewegung war eine Kopie der seit kurzem in der Sowjetunion propagierten ,3rigade der kommunistischen Arbeit" und gleichzeitig die betriebliche Umsetzung der von Ulbricht auf dem V. Parteitag im Juli 1958 verkündeten y yZehn Gebote der sozialistischen Moral", die das „moralische Gesicht des neuen, sozialistischen Menschen " definierten. 8 Zwei der Gebote lassen sich direkt auf den Arbeitsalltag beziehen. Das fünfte Gebot verlangte: „Du sollst beim Außau des Sozialismus im Geiste der gegenseitigen Hilfe und der kameradschaftlichen Zusammenarbeit handeln, das Kollektiv achten und seine Kritik beherzigen, " und im siebten Gebot hieß es: „Du sollst stets nach Verbesserung Deiner Leistungen streben, sparsam sein und die sozialistische Arbeitsdisziplin festigen. " Den Startschuss für die Bewegung der sozialistischen Brigaden war ein vorformulierter Wettbewerbsaufruf, in dem die Jugendbrigade „Nikolai Marnai" im VEB Elektrochemisches Kombinat Bitterfeld am 3. Januar 1959 verkündete, „daß es für die Durchsetzung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts besonders notwendig ist, daß sich alle Werktätigen, vor allem die Jugend, ständig weiterqualifizieren, ihr kulturelles Bildungsniveau erhöhen und die sozialistische Gemeinschaftsarbeit in den Mittelpunkt ihres Schaffens stellen. Deshalb haben wir uns das Ziel gestellt, auf sozialistische Weise zu arbeiten und zu leben, um eine »Brigade der sozialistischen Arbeit 4 zu werden". 9
Die zahlenmäßige Entwicklung der Brigaden soll eine Vorstellung von der Ausbreitung dieser Form der Arbeitsorganisation zu geben. Bereits Ende 1951 waren über 50 % aller Industriebeschäftigten in Brigaden organisiert, mit steigender Tendenz. Unterbrochen vom Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953, der einen beträchtlichen Rückgang brachte, stieg die Zahl der Brigaden in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts weiter an. War die Brigadeorganisation in der DDRIndustrie damit in den 50er Jahren zu einer Massenerscheinung geworden, was sie auch bis zum Ende der DDR blieb, so sollte die neue Auszeichnung einer „sozialistischen Brigade" ab 1959 zunächst nur den ganz besonderen Brigaden vorbehalten sein. Mitte der 60er Jahre hatten weniger als 3 % der Brigaden diesen Titel im „sozialistischen Wettbewerb" erkämpft und 1970 lag die Zahl der so ausgezeichneten Brigaden immer noch unter 20 %. Erst unter Honecker wurde dieses Elitekonzept aufgegeben. 1975 erhielten 47 % aller Brigaden den
7
Hübner, S. 213 ff.
8
Judt, S. 54 f. Zitiert nach Hübner, S. 224.
9
*
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Titel „Kollektiv der sozialistischen Arbeit", 1980 waren es schon 72 % und bis 1988 stieg die Zahl weiter auf 85 % . 1 0 Schwieriger als die Darstellung der herrschaftlichen Vorgaben ist jene der sozialen Praxis, wobei selbstredend beides nicht voneinander nicht zu trennen ist. „ Herrschaft wird gesellschaftlich produziert - Gesellschaft und Individuen werden herrschaftlich geformt" - hier ist A l f Lüdtke ohne Zweifel zuzustimmen. 1 1 Er hat gleichfalls Recht, wenn er im Zusammenhang mit Herrschaft von ausgeht, in denen neben den Aktivitäten der Herrschenden iyKräftefeidern" auch die „Eigenaktivitäten der ,Knechte', (...) ihre Eigenmacht" eine Rolle spielen. 12 Die „Eigenaktivitäten der ,Knechte'", der „vielen außerhalb der Schaltstellen der Macht historisch zu rekonstruieren, ist das so zentrale wie schwierige Anliegen der Alltagsgeschichte. 14 Zunächst richtete sich das Interesse der Forschung zur Geschichte der Brigadebewegung auf die wechselvollen und konfliktträchtigen Anfangsjahre, von Ende der 40er bis Anfang der 60er Jahre. Peter Hübner weist auf drei Elemente hin, die die massenhafte Ausbreitung der Brigadebewegung aus der Sicht der Arbeiter und Arbeiterinnen in den 50er Jahren begünstigten: Zum Ersten hatte die Brigadebildung oftmals keine Strukturveränderung zur Folge. Ein Widerspruch lohnte also nicht. Zum Zweiten lockte die Aussicht, im Wettbewerb der Brigaden Prämien für zusätzliche Arbeitsleistungen zu erreichen. Und zum Dritten schien - bei einem Teil der Arbeiter - die Ansicht verbreitet, mit Hilfe der Brigaden ein größeres Maß an betrieblicher Mitsprache zu erreichen. 15 Insbesondere im Titelkampf der Brigaden der sozialistischen Arbeit ab 1959, die als Flaggschiffe der sozialistischen Arbeit und Erziehung im Betrieb einen größeren Spielraum hatten, verbanden sich die beiden letzten Punkte, mehr Geld und mehr Macht, zu einer eigen-sinnigen Vertretung von Arbeitnehmerinteressen. Bevorzugung bei der Material- und Werkzeugbereitstellung, gesonderte Arbeitszeitregelungen, Kollektivprämien und zusätzliche Urlaubstage konnten in den Brigadeverträgen durchgesetzt werden. 16 Die 1959 ,νοη unten4 und ,νοη oben', das heißt von einzelnen Mitgliedern der SED-Führung und des FDGB-Bundesvorstandes beförderte Eigenständigkeit der Brigaden fand ihre deutlichste Form in der Bildung von Brigaderäten, 17 der Übernahme diszipli10
Zahlenangaben nach Reichel, S. 59, Anm. 71 und Roesler, Produktionsbrigaden, S. 145.
n
Lüdtke, DDR, S. 3.
12
Lüdtke, Herrschaft, S. 11.
13
Lüdtke, DDR, S. 3.
14
Lüdtke, Alltagsgeschichte, S. 9-47. Hübner, S. 215. Ebd., S. 226, S. 228; Reichel, S. 58. Hübner, S. 229f.
15 16 17
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narrechtlicher Befugnisse 18 und der Bildung eigener Konten durch einzelne Brigaden. Ulbricht persönlich stoppte diese Entwicklung mit seinem „Syndikalismus"· Vorwurf im Frühjahr 1960: „Das soll wohl eine Art jugoslawischer Selbstverwaltung' werden? (...) Wir machen keine neuen Strukturveränderungen " 19 Zur Einbettung meiner Fallstudie über den Brigadealltag im VEB Leipziger Baumwollspinnerei in die Forschungsdebatte ist von Interesse, die - z.T. konträren - Schlussfolgerungen der Untersuchungen über die frühe Brigadegeschichte zu benennen: Während Peter Hübner für die gesamte DDR-Zeit schlussfolgert, dass die Arbeitsbrigaden in ihrem Bemühen um kollektive Interessenwahrnehmung den Wegfall anderer Möglichkeiten - insbesondere Gewerkschaft und Betriebsrat - kompensierten, geht Thomas Reichel davon aus, dass mit der Syndikalismus-Affäre die eh nur vereinzelten Initiativen engagierter Arbeiter und Initiativen beendet wurden und ein für alle Mal klar wurde, dass die SED-Führung eine eigenständige betriebliche Interessenvertretung durch die Arbeitnehmerschaft keinesfalls zulassen konnte und wollte. 2 0 Das schloss, so Reichel, eine eigen-sinnige Umnutzung des mit den sozialistischen Brigaden verbundenen Angebots keinesfalls aus. 21 Meine exemplarische Forschung über den Brigadealltag im VEB Leipziger Baumwollspinnerei unterscheidet sich in drei Punkten von der dargestellten Forschungsdebatte. Erstens in der Art der Quellen: Während sich die Befunde von Reichel, Hübner und Roesler überwiegend auf Überlieferungen des FDGB und der SED stützen, 22 stehen im Zentrum meiner Untersuchung Erinnerungsinterviews mit Betriebsangehörigen und Tagebücher von Produktionsbrigaden. Beide Quellen ergänzen sich. In den in Erinnerungsinterviews erzählten Geschichten sind individuelle Erfahrungen aufgehoben, während die Brigade18 19
Hübner, S. 229 f.; Reichel, S. 61 f. Zitiert nach Reichel, S. 52.
20
Ebd., S. 73 betont, dass dieses Signal der SED-Führung mehr noch als an die Industriebeschäftigten an die Funktionäre im Herrschaftsapparat von SED und FDGB gerichtet war, die sich für mehr Rechte der Brigaden eingesetzt hatten. 21
Ebd., S. 66 ff. So kann Reichel am Beispiel der Brigade, die am 1. Mai 1960 als Erste des Stahl- und Walzwerks Brandenburg mit dem Staatstitel „ B r i g a d e der sozialistischen Arbeit" ausgezeichnet wurde, zeigen, dass die Arbeiter gut arbeiten wollten, sich jedoch in den stark ideologisierten Bereichen des „sozialistisch lernen und leben" zunehmend verweigerten: ,JSie ließen (nach der Verleihung des Titels) keinesfalls in ihren ökonomischen Ergebnissen nach, aber die ges politische Arbeit sank auf den Nullpunkt, " so das Protokoll einer Wahlversammlung der zuständigen Abteilungsparteiorganisation. 22
Eine Ausnahme macht Roesler mit der Auswertung des Tagebuchs der Brigade „10. Jahrestag der DDR" im VEB Starkstromanlagenbau Rostock von 1959/60; Roesler, Rolle, S. 413-437.
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bûcher die Rekonstruktion chronologischer Veränderungen in den Sozialbeziehungen ermöglichen. Zweitens im Zeitraum: Während die Quellenbestände der dargestellten Forschungen bis Anfang der 60er Jahre reichen, liegt der Schwerpunkt meiner Untersuchung auf den 70er und 80er Jahren. Und drittens im Geschlecht der Akteure: Reichel, Hübner und Roesler beziehen sich mit ihren Beispielen im Wesentlichen auf männerdominierte Industrien, während meine Fallstudie einen klassischen Frauenbetrieb zum Gegenstand hat, in dem in den 70er-Jahren auch die Vorgesetztenpositionen in der Produktion weitgehend von Frauen übernommen wurden. Ich betone diese drei Unterschiede deshalb, weil Differenzen im Forschungsergebnis möglicherweise auch durch sie hervorgebracht oder zumindest gefördert werden. Eine erste wesentliche Differenz betrifft die Rolle des Brigadiers/der Brigadierin: Nicht nur, dass die Brigaden in der Leipziger Baumwollspinnerei jeden Ansatz eines Mitbestimmungsorgans, wie er für die 50er Jahre von Roesler und Hübner beschrieben wird, eingebüßt haben, auch der Brigadier, ganz zu Beginn - also Ende der 40er Jahre - ein Wahlposten, hat deutlich an Bedeutung verloren. Die von mir geführten Interviews zeigen, dass es diese Funktion zwar offiziell noch gab, sie jedoch in der Wahrnehmung der Arbeiterinnen bereits verschwunden war. Die Brigadierin war, so Frau Kirchner, als Produktionsstättenleiterin meine ranghöchste Interviewpartnerin, „ der Vermittler zwischen dem Meister und dem Kollektiv, also wie Kollektivsprecher, ich sage es mal so. Obwohl sie nicht immer, sag ich mal, war. Die gab 's ja dann, über Gewerkschafdie Gewerkschaftsverantwortliche ten gab 's ja nu wieder ne andere Struktur. " Die Brigadierin als „ Vermittlerin " paßt noch zu der Zwitterstellung, von der zum Beispiel Jörg Roesler spricht. Doch aus weiteren Ausführungen von Frau Kirchner wird klar, dass die Brigadierin in der Leipziger Baumwollspinnerei jede eigenständige Rolle im Machtgefüge eingebüßt oder nie besessen hatte. Frau Kirchner unterscheidet zwischen der Brigadierin - sie nennt sie auch „ Brigadeleiter" - als „rein fachliche Funktion" und der „gesellschaftlichen Funktion" der „Vertrauensfrau" und des „Kulturobmanns", beides FDGB-Funktionen. Nach Frau Kirchner hatte die Brigadierin zwei Aufgaben. Mit ihr gemeinsam entschied die Meisterin, welche Arbeiterin welcher Maschine zugeteilt wurde. Die Brigadierin musste also die Arbeitsleistung und Maschinenkompetenz ihrer Kolleginnen einschätzen können. Zum Zweiten sollte die Brigadierin selbst die fähigste und flexibelste Arbeiterin sein und dadurch als Springerin einsetzbar, wie sie am Beispiel der Brigadierin Sylvia Rothe erläutert: „Das war zum Beispiel so eine Frau, nich. Das war unser, wir haben immer gesagt, unser bestes Pferd im Stall. Wenn wir die brauchten, die war überall
Brigadealltag im VEB Leipziger Baumwollspinnerei
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einsetzbar, (sie redet lebhafter) überall (...) Sämtliche Maschinen beherrschte die Frau und Meistervertretung machte sie och, so. " 23 Die Produktionsstättenleiterin unterstreicht ihre Hochschätzung gegenüber der Brigadieren damit, dass sie auch „Meistervertretung machte". Damit wird deutlich, wie die Grenzen zwischen den Funktionen verschwammen, sich auflösten. Konstatieren Roesler und Hübner für die 50er Jahre noch einen Dualismus zwischen Meister und Brigadier, so sind bei dem Beispiel aus den 80er Jahren beide Funktionen nahe zusammengerückt: Die Brigadierin ist gleichzeitig Vertreterin der Meisterin. Von einer Vertretung der Kolleginnen gegenüber der Meisterin konnte nicht mehr die Rede sein. Ein kleiner Unterschied blieb, der im Einzelfall von Bedeutung sein konnte. Anders als bei der Meisterin wurde bei einer Brigadierin nach Parteimitgliedschaft „gar nicht gefragt ", wie die Produktionsstättenleiterin versichert. Dies war für Arbeiterinnen interessant, die aufsteigen, jedoch nicht in die SED eintreten wollten. Allerdings war mit der Funktion der Brigadierin dann auch das Ende der Karriereleiter erreicht. Der Funktionsverlust der Brigadierin, gemessen an den von Roesler beschriebenen Anfängen der Brigadebewegung, zeigt sich noch deutlicher im Gespräch mit der Arbeiterin Jutta Ewald, die über 20 Jahre in der von Frau Kirchner geleiteten Produktionsstätte arbeitete: Interviewerin: „ Und wasfür eine Rolle hatte die Brigadierin? " Frau Ewald: „(...). Brigadier hatten wir nicht, wir haben praktisch bloß die Meisterin. Ganzfrüher hatten wir Meister und Hilfsmeister, da waren es zwei Meister (...) und das war sozusagen gleich wie der Brigadier mit, der Hilfsmeister, der mußte auch immer mit arbeiten (...) Aber direkt so Brigadier, das gab 's bei uns in der Abteilung nicht in den Spinnereien. " 24 In der Erinnerung dieser Arbeiterin hat die Brigadierin keine von der Meisterin unabhängige Funktion, ja, sie war überhaupt nicht existent. Auch die von der Produktionsabteilungsleiterin so hoch geschätzte Sylvia Rothe erwähnt im Interview mit keinem Wort, dass sie Brigadierin war, während sie ihre Tätigkeit als Meistervertretung detailliert schildert. Sie antwortet auf meine Frage: „ Was haben Sie denn gemacht, wenn es so Probleme gab, z.B. daß die Baumwolle, der Rohstoff schlechter war? " Antwort: „Ne, da hatten wir auch schon manchmal unsere Probleme, also, da mußten wir auf Gott vertrauen praktisch. " Interviewerin: (lacht). „Hat der geholfen?" 23
Interview mit Hilde Kirchner, 13.07.1996, la, S. 27ff. Die Eigennamen der Interviewpart-
nerinnen wurden anonymisiert. Die Zahlenangaben beziehen sich auf das Transkript. 24
Interview mit Jutta Ewald, 11.07.1996, la, S. 30.
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Frau Rothe: „Ne (lacht auch), nicht immer. Also manchmal hatten wir sehr schlechte Laufverhältnisse, das stimmt auch. Wenn schlechtes Material eingekauft wurde, zuviel kurzfaseriges (...), wir haben immer viel Viskose verarbeitet. Die Viskose, die war auch nicht gut, die klebte so und s 'war alles verklebt, also da gab 's schon manchmal Probleme. Das hat nicht an Arbeitern gelegen. " Interviewerin: „Ja. Aber wie wurden die dann gelöst? " Frau Rothe: y yNaja, manchmal hat's ewig gedauert mit dem Lösen, da hatte jeder von oben einen besseren Vorschlag und keiner hat was geholfen (sie lacht leise). (...) Dann haben sie eine andere Mischung gemacht und dann wurde das schlechte Material in kleinen Portionen dazugemischt. " 25 Die folgende Stelle, die im Interview kurz darauf folgt, zeugt davon, dass sie sich in keinem Fall - weder als Brigadierin noch als Vertrauensfrau - beauftragt oder befähigt sah, die Interessen ihrer Kolleginnen gegenüber der betrieblichen Leitung zu vertreten. Interviewerin: „ Und wenn Sie jetzt so direkt am Arbeitsplatz mit der Produktion Probleme hatten, da spielte die Gewerkschaft keine große Rolle? Frau Rothe: „Da hatten die doch keine große Ahnung. Was wollen denn die da machen, ne? " Interviewerin: „ Und Sie hatten ja auch einen Vertrauensmann? " Frau Rothe: „Das war ich. " Interviewerin: „(verwundert) Das waren Sie (beide lachen)?" Frau Rothe: „Ja, ich war Vertrauensmann, langjähriger Vertrauensmann. Mich haben sie immer wieder gewählt. Na, ich hatte die Aufgabe, wir hatten immer Gewerkschaftsversammlung und da wurden nun hier, wenn die Jahresprämie, damit hatte die Gewerkschaft zu tun und so. Und dann hatten wir immer so eine Anleitung, eine halbe Stunde manchmal, da haben die eben so Probleme aufgegriffen, wenn's Ferienplätze gab (...) oder mal ein Betriebsfest und solche Sachen, das waren gewerkschaftliche Sachen. (...) Es gab Kollegen, die da nicht so mit allem zufrieden waren, die sich das manchmal anders gedacht haben und so. Und die sind eben mal bei die Gewerkschaft, aber viel haben die da nicht gemacht. Die hatten hauptsächlich eben die sozialen und kulturellen Probleme, na, so war das. " 26 Frau Rothe ging als Vertrauensfrau zur „Anleitung", wenn sie musste. Sie beteiligte sich pflichtgemäß an der Aufteilung der Jahresendprämie und bei der 25
Interview mit Sylvia Rothe, 19.08.1996, lb, S. 3 f.
26
Ebd., S. 6 f.
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Klärung von rein sozialen Fragen: „Das waren gewerkschaftliche Sachen. " 27 Für sich selbst und auch für ihre Kolleginnen war sie als Vertrauensfrau nicht Teil „der Gewerkschaft", wenn es um Kritik an den Arbeitsbedingungen ging. Sich hier zu engagieren, zählte für Frau Rothe nicht zu ihren Aufgaben. Die Interviews zeigen, dass einzelne Frauen der jüngeren Generation mit den schlechten Arbeitsbedingungen anders umgingen. Sie verlangten von den Vorgesetzten eine Veränderung, ihr Vorstoß lief jedoch ins Leere. Die 1956 geborene Spinnerin Veronika Brendel, die nach vieqähriger Tätigkeit in einem anderen Betrieb noch einmal für fünf Monate in die Spinnerei zurückkehrte, berichtet von großen Problemen, die sie bei ihrer Rückkehr vorfand: „ Und dann war ich '84 noch mal von Mai bis September in der Spinnerei. Und da war es dann ganz chaotisch. Da war es mit dem Material noch schlechter. Die Maschinen waren schlechter bzw. die Motoren, das waren alte Motoren von 1930, und die Spinnmaschinen, die waren neu. Und das mit den Drehzahlen paßte alles nicht zusammen. Die große Welle, die da drin war, die war zwar für die neue Maschine, aber nicht für den Motor. Das war das erste. Dann sollten wir reine Baumwolle verarbeiten. (...) Das konntest du nicht machen. Meine Maschinen haben nur gestanden. Ich mußte aber Geld verdienen, ich wollte ja meine Schichtprämie 28 kriegen und nicht umsonst in drei Schichten arbeiten. Was weiß ich, wieviel ich dann gekriegt hätte, fünf-, sechshundert Mark. Wo ich vielleicht acht-, neunhundert Mark hätte verdienen können, wenn ich es geschafft hätte. Und da habe ich einen Brief an die Frau Kirchner (die Produktionsstättenleiterin; A.S.) geschrieben und habe ihr das erklärt, warum ich wieder gehe. Weil ich das auch nicht verstehe, wenn das alles nicht zusammenpaßt. Später hat sie mir dann gesagt, den Brief hatte sie dem technischen Direktor gezeigt, und er hatte gesagt, was da drinsteht, das stimmt. " 29 Für Frau Brendel, die wegen der schlechten Arbeitsbedingungen den Betrieb wieder verließ, und für ihre gleichaltrige Kollegin und Freundin Frau Dähnert ist es unbegreiflich, wie die älteren Frauen diese Arbeit über Jahrzehnte aushalten konnten: „Ich hätte das nicht gepackt. Die Frauen, die dort weiter
27
Renate Hürtgen berichtet in ihrer Studie über die ersten Betriebsrätinnen nach 1989 von
demselben Phänomen, S. 78: „Die Vertrauensfrauen
des Samples hatten sich sowieso und vo
vornherein auf kleine , konkrete' Aufgaben zurückgezogen. Ein bißchen Geselligkeit orga Ferienlager,
Reisen. Es sind dieselben Verhaltens-
schon ihre Rolle im Betriebskollektiv
und Erwartungsmuster,
mit denen di
erklärt hatten. Auch hier bleibt wieder die , allgeme
tik ' draußen vor. " 28
Die zum Lohn zusätzliche Schichtprämie wurde in voller Höhe nur ausgezahlt, wenn die
Arbeiterin die Norm erreicht hatte. 29
Interview mit Veronika Brendel und Nicole Dähnert, 15.04.1997, la, S. 9.
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gearbeitet haben, die sich abgerackert haben. Ich weiß nicht, wie die das geschafft haben, das war Wahnsinn. " 30 Die Interviews mit ehemaligen Werksangehörigen der Leipziger Baumwollspinnerei zeigen deutlich, dass die Idee einer kollektiven Interessenvertretung durch die Brigade in den erinnerten Erfahrungen der 70er und 80er Jahre nicht wieder zu finden ist. Man erträgt, was „von oben" kommt oder geht. Was Struktur und Umfang der Brigaden angeht, decken die Quellen einen Widerspruch auf. In der Sprache der Arbeiterinnen entsprach die Brigade der Schicht, das heißt der Gruppe von rund 20 Kolleginnen, die gemeinsam unter ihrer Meisterin 31 eine Woche in der Früh-, dann in der Mittel- und zuletzt in der Spätschicht arbeiteten. Brigade ist für diese Arbeiterinnen eine überschaubare Einheit, so klein, dass sich alle durch die gemeinsamen Schichten kannten, und groß genug, um innerhalb der Brigade je nach Vorliebe zu einzelnen eine intensivere Beziehung zu pflegen. In der offiziellen Sprachregelung z.B. in den Brigadetagebüchern bedeutete die Brigade dagegen eine größere Gruppe, nämlich alle drei Schichten, die im Ablauf von 24 Stunden an denselben Maschinen arbeiteten. Die offizielle Brigade entsprach damit der formalen Betriebsstruktur, in der diese drei Schichten zu einer Abteilung zusammengefasst waren, die von einer Produktionsabteilungsleiterin (PAL) geführt wurde. 32 Als betriebliche Einheiten trugen die Abteilungen schlicht Nummern, z.B. Abteilung 42; die einzelnen Schichten hießen dann 42A, 42B und 42C. Die offizielle Praxis des sozialistischen Wettbewerbs bezog sich immer auf die gesamte Abteilung, die in diesem Zusammenhang als Brigade oder gleichbedeutend als Kollektiv bezeichnet wurde. Die Auszeichnung, die im Wettbewerb erkämpft wurde, lautete denn auch Kollektiv der sozialistischen Arbeit. 3 3 Das Kollektiv gab sich im Rahmen des Wettbewerbs zudem den Namen einer prominenten, meist weiblichen Persönlichkeit aus der Arbeiterbewegung, z.B. Brigade „Olga Benario". Das Brigadetagebuch, ein wesentliches Dokument des sozialistischen Wettbewerbs, wurde zwar nicht vom gesamten Kollektiv, also der gesamten Abteilung, geführt, 34 war aber doch auf die gesamte Abteilung bezogen. Das Pro30
Ebd.
31
Bei den Führungsfunktionen wähle ich hier die weibliche Form, weil dies der betrieblichen
Realität in den 70er und 80er-Jahren weitgehend entsprach. 32
Neben den drei Schichten (Früh, Mittel, Spät) gehörte noch die sogenannte Normalschicht
zur Abteilung. Das waren Frauen, die nicht in Schichten arbeiteten, sondern eine gleichbleibende Arbeitszeit von täglich 6.15 Uhr bis 15.45 Uhr absolvierten. Organisatorisch wurden sie an die jeweilige Frühschicht angegliedert. 33
Ab 1959 wurde im sozialistischen Wettbewerb der Titel,»Brigade der sozialistischen Arbeit"
vergeben, ab 1962 wurde er in „Kollektiv der sozialistischen Arbeit" geändert. 34
Die Spinnerin Jutta Ewald: „Das hatten ein paar so praktisch in der Hand, die da ein biß-
chen schreiben konnten. " (Interview am 11.07.1996, la, S. 34). Oftmals war es die Meisterin.
Brigadealltag im VEB Leipziger Baumwollspinnerei
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gramm für den sozialistischen Wettbewerb wurde ebenfalls auf Abteilungsebene erstellt und abgerechnet, unter Verantwortung der Produktionsabteilungsleiterin und der Abteilungsgewerkschaftsleitung (AGL). Im Widerspruch dazu fand das eigentliche Brigadeleben, also die gemeinsamen Freizeitunternehmungen, schon aus praktischen Gründen auf Schichtebene statt. 35 In dieser kleinen Einheit der Schicht wurde gefeiert, wenn die ganze Abteilung gemeinsam den Titel „Kollektiv der sozialistischen Arbeit" „erkämpft" hatte. 36 Diese Praxis schlug sich auch in der Wettbewerbsführung wieder. Der Kultur- und Bildungsplan, ein Teil des Wettbewerbsprogramms, enthielt unter anderem Freizeitunternehmungen und wurde deshalb im Unterschied zum produktionsbezogenen Programmteil häufig auf Schichtebene erarbeitet. Die Abteilungsleiterin Ingrid Rudolph bestätigt im Interview, dass die Brigaden in der Praxis auf die Schichtebene heruntergeholt wurden und übernimmt damit die informelle Definition der Arbeiterinnen: Interviewerin: „Ich hab noch ne ganz kleine Verständnisfrage: und eine Brigade, ist das dasselbe?
ein Kollektiv
Frau Rudolph: „Ja, eigentlich schon. Interviewerin:,, Und das ist quasi immer eine Schicht? (...) " Frau Rudolph: „(...) In der Beziehung kann man vielleicht doch einen Unterschied zwischen Kollektiv und Brigade machen. Das Kollektiv war die ganze Abteilung mit allen drei Schichten (...) und die Brigaden, die haben sich dann doch mehr auf Schichtebene entwickelt, weil 's ja ganz schwer war, Brigadeoder Kollektiweranstaltungen zu organisieren, wo alle teilgenommen haben. " 37 Schon in dieser Strukturfrage wird deutlich, dass die Brigaden in der Baumwollspinnerei zwar nicht die Eigenständigkeit, von der Roesler und Hübner reden, aber doch ein Eigenleben entwickelten.
35
Es kam vor, dass Frühschicht und Normalschicht nach dem Arbeitsende eine gemeinsame
Brigadeveranstaltung durchführten. 36
Im Brigadebuch „Olga Benario" von 1985 ist vermerkt, dass es „iunserem Kollektiv
(ist), den Titel,Kollektiv
der sozialistischen Arbeit'zu verteidigen".
und die Normalschicht gemeinsam ihre „Auszeichnungsfeieram Schicht folgte am 17. April, über die C-Schicht ist nichts festgehalten. 37
Interview mit Ingrid Rudolph, 26.08.1996,2b, S. 12.
gelungen
Danach führten die A-Sch
11. April 1985 durch, die B-
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I I I . Sozialistisch arbeiten Die Basis der Brigadebewegung war, wie zu Beginn ausgeführt, die Arbeitsproduktivität und ihre Verbesserung. Hier trafen sich die Interessen der Partei- und Staatsführung, der Betriebshierarchie und eines Teils der Arbeiterinnen in der Leipziger Baumwollspinnerei, die auf ihre Norm und damit einen guten Lohn kommen wollten. „Ich bin auf Arbeit gegangen, um Geld zu verdienen und da war mein Ziel, daß ich die Zeit nutze und genug verdiene und nicht auf Arbeit rumbummle, rumdrehe, rumgucke und nichts mache. Da lief kein Rubel. (...) Ich bin nie auf Arbeit gegangen, (...) heute haste keine Lust, heute machste nichts. Das hab ich nie gemacht, da kann ich heime bleiben. " 3 8 Diese Beschreibung der 1937 geborenen Bestarbeiterin und Springerin Sylvia Rothe, die es auf 41 Jahre Betriebszugehörigkeit brachte, enthält eine implizite, aber deutliche Kritik an der jüngeren Generation von Arbeiterinnen, die gleich zu Wort kommen wird. Zuvor noch eine Altersgenossin von Sylvia Rothe, die 1940 geborene Jutta Ewald, die 1954, kurz vor ihrem 16. Geburtstag, als angelernte Arbeiterin im Dreischichtsystem in der Spinnerei begann, um sofort „