Ungleichheit und Gerechtigkeit: Eine kritische Reflexion des Rawlsschen Unterschiedsprinzips in diskursethischer Perspektive [1 ed.] 9783428476183, 9783428076185


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German Pages 221 Year 1993

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Ungleichheit und Gerechtigkeit: Eine kritische Reflexion des Rawlsschen Unterschiedsprinzips in diskursethischer Perspektive [1 ed.]
 9783428476183, 9783428076185

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THOMAS BAUSCH

Ungleichheit und Gerechtigkeit

Schriften zur Rechtstheorie Heft 156

Ungleichheit und Gerechtigkeit Eine kritische Reflexion des Rawlsschen Unterschiedsprinzips in diskursethischer Perspektive

Von Thomas Bausch

Duncker & Humblot * Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Bausch, Thomas: Ungleichheit und Gerechtigkeit : eine kritische Reflexion des Rawlsschen Unterschiedsprinzips in diskursethischer Perspektive / von Thomas Bausch. - Berlin : Duncker und Humblot, 1993 (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 156) Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1992 ISBN 3-428-07618-4 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-07618-4

Gerechtigkeit: »Meines Erachtens gehört sie zu dem Schönsten, nämlich zu dem, was sowohl um seiner selbst willen, wie wegen der daraus entspringenden Folgen von jedem geliebt werden muß, der glücklich werden will.' Piaton, ,Staat4, 358

Inhaltsverzeichnis 1. Prolog und Exposition

11

1.1 Prolog

11

1.2 Exposition

28

2. Gesellschaftsvertrag und das Ideal der wohlgeordneten Gesellschaft

36

3. Rawls Gerechtigkeitstheorie im Kontext moderner Ethik und Politik: Utilitarismus, Liberalismus, Vernunftethik

40

3.1 Utilitarismus

40

3.2 Liberalismus

44

3.3 Vernunftethik

47

4. Rekonstruktion und Kritik der Rawlsschen Theorie 4.1 Architektonik der Rawlsschen Theorie

52 52

4.11 Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit und die formalen Gerechtigkeitsbedingungen

52

4.12 Der Rawlssche Gültigkeitsanspruch und die Methode: das Überlegungsgleichgewicht

54

4.121 Gültigkeitsanspruch

54

4.122 Methode

56

4.13 Urzustand und seine Konstruktion als „deduktive" Grundlage der Gerechtigkeitsgrundsätze

58

4.131 Konstruktion des Urzustandes

59

4.132 „Vierstufengang" der Aufhebung des „Schleiers des Nichtwissens"

62

4.14 Maximin-Entscheidungsregel

65

4.15 Entscheidungskriterien

68

4.151 Nutzen

68

4.152 Gesellschaftliche Grundgüter

69

4.153 Interessen

70

4.16 Entscheidungssubjekte

75

4.17 Fairneßpflicht

80

4.18 Unparteilichkeit und Altruismus

83

Inhaltsverzeichnis

8

4.2 Die Rawlsschen Grundsätze der Gerechtigkeit

87

4.21 Freiheitsgrundsatz und Vorrangregel

87

4.22 Freiheit, Wert der Freiheit und Selbstachtung

90

4.23 Das Unterschiedsprinzip und Vorrangregeln

95

4.3 Explikation des Unterschiedsprinzips 4.31 Grafikexplikation — Kritik der Rawlskurve

97 97

4.32 Untersuchung der verschiedenen Interpretationsvorschläge des Unterschiedsprinzips in erster Formulierung und Hinführung zur zweiten Formulierung 103 4.321 System der natürlichen Freiheit

104

4.322 Liberale Gleichheit

106

4.323 System der natürlichen Aristokratie

107

4.324 Demokratische Gleichheit

107

4.33 Die Einführung des Spargrundsatzes und endgültige Formulierung des Unterschiedsprinzips

108

5. Kritische Analyse des Rawlsschen Unterschiedsprinzips als Verteilungsprinzip

111

5.1 Bestimmung der Gruppe der am wenigsten Begünstigten

111

5.2 Verfahrensgerechtigkeit und faire Chancengleichheit als spezifischer Verteilungsgrundsatz

112

5.3 Begabung, Eigentum und Leistungsanreiz

118

5.4 Maximin-Entscheidungsregel und ihre Auswirkung auf die Verteilung gemäß dem Unterschiedsprinzip

122

5.5 Die Unschärfe des Rawlsschen Unterschiedsprinzips als Verteilungsprinzip

126

5.6 Zusammenfassende Kritik des Rawlsschen Unterschiedsprinzips

128

6. Interpretations- und Reformulierungsvorschläge des Unterschiedsprinzips ....

130

6.1 Das Unterschiedsprinzip als Maximinverteilungsprinzip

130

6.2 Das Unterschiedsprinzip als Leximinverteilungsprinzip

132

6.3 Das Unterschiedsprinzip als Leximin Umverteilungsprinzip

134

6.4 Exkurs: Wirtschaftswissenschaftliche Ansätze einer Problemlösung betreffend die Verteilungsgerechtigkeit

136

7. Erörterung der Rawlsschen Theorie in bezug auf verschiedene handlungstheoretische Konzepte

139

7.1 Teleologische Erfolgsorientierung

141

7.2 Kommunikative Verständigungsorientierung

142

8. Diskursethik als reflexive Explikation der Argumentation

148

8.1 Diskursgrundsatz „D"

148

8.2 Universalisierungsgrundsatz „U"

150

Inhaltsverzeichnis

8.3 Begründungs- und Anwendungsprobleme der Diskursethik 8.31 Metakritik und transzendentalpragmatische Reflexion auf die Argumentationshandlung 8.32 Begründung der Ethik aus den Argumentationsvoraussetzungen 8.321 Formalpragmatik 8.322 Transzendentalpragmatik 8.33 Mehrstufigkeit der Ethik 8.34 Realisierbarkeit des Diskursimperativs und das Ergänzungsprinzip „E" 8.341 Zumutbarkeit der Moral 8.342 Ergänzungsprinzip „E" 9. Weiterführende Diskussion und Aufhebung der Rawlsschen Position in diskursethischer Perspektive 9.1 Status der Intuition in der Rawlsschen Theorie 9.2 Aufhebung des Rawlsschen Urzustandes und des entscheidungstheoretischen Ansatzes im „idealen Antizipationszustand" in der realen Kommunikationsgemeinschaft 9.3 Aufhebung des von Rawls vorausgesetzten Gerechtigkeitssinns durch Reflexion der Dialektik des doppelten Kommunikationsapriori 9.31 Gerechtigkeitssinn 9.311 Ausbildung des Gerechtigkeitssinns als moralische Fähigkeit 9.312 Status des Gerechtigkeitssinns 9.32 Aufhebung des Gerechtigkeitssinns in dem doppelten Apriori der Kommunikationsgemeinschaft

153 153 155 155 158 161 163 163 166 171 171 175 181 181 181 186 186

10. Reformulierungsvorschlag des Unterschiedsprinzips 10.1 Gleichheit und Unterschiedenheit 10.11 Gleichstellungsposition 10.12 Unterschiedenheitsposition 10.2 Reformulierungsvorschlag des Unterschiedsprinzips

192 192 192 193 196

11. Zusammenfassung und Epilog 11.1 Zusammenfassung 11.2 Epilog

208 208 212

Literaturverzeichnis

214

1. Prolog und Exposition 1.1 Prolog Wo immer soziale Ungleichheiten angetroffen werden, ist es offenbar unvermeidlich, den Begriff „Gerechtigkeit" zu verwenden zur Beurteilung und Prüfung der Legitimität der faktischen Verhältnisse, die aus der Ungleichheit entstehen, sei es Macht, Gewalt oder die geregelte oder ungeregelte Verteilung von Gütern, Wohlfahrt, Ansehen und Handlungschancen. Gerechtigkeit als Gleichheit zu bestimmen, entspricht einer tiefen Intuition und hat folglich Tradition. So schreibt Aristoteles in der Nikomachischen Ethik: „Denn wo immer beim Handeln es ein Mehr oder Weniger gibt, gibt es auch ein Gleiches. Ist nun das Ungerechte ungleich, so wird das Gerechte gleich sein. Davon sind alle auch ohne Beweis überzeugt"1. Aber was heißt hier »Gleiches4, was ist mit Gleichheit gemeint? Der Begriff Gleichheit faßt (a): in bestimmter logischer Hinsicht: UnUnterscheidbarkeit; gleich ist, wessen Quantität der Zahl nach ein und dieselbe ist und dessen Qualität eine ist. 2 (b): in bestimmter relationaler Hinsicht: Äquivalenz; gleich ist, wenn eine Gleichwertigkeit in bestimmter Hinsicht und mit bestimmten Eigenschaften (ζ. B. Symetrie) vorliegt. Gleichheit in dem von uns untersuchten Zusammenhang ist ein dreistelliger Begriff; die Gleichheit bedarf eines Bezugspunktes (X), in Hinblick auf welchen ein (Y) und ein (Z) gleich genannt werden kann. Relationale Gleichheit als formaler, zunächst inhaltsleerer Begriff gibt es immer nur in Hinblick auf etwas, das genau bestimmt werden muß: ζ. B. numerische Quantitäten, Rechte, Handlungschancen, soziale Positionen. Die aristotelische Ethik baut Gerechtigkeit auf eine aus der Idee der quantitativen Gleichheit entwickelte Vorstellung auf und differenziert in die besonderen Gerechtigkeiten der (a): zuteilenden (distributiven) Gerechtigkeit — dieses sind die Regeln der gerechten Verteilung von Gütern, Ehren und anderen Dingen, und ι Aristoteles, Nikomachische Ethik (im folgenden zitiert: NE), V. 1131. Vgl. im einzelnen Aristoteles, Metaphysik V, 15. 1021a.

2

12

1. Prolog und Exposition

(b): austeilenden (commutativen) Gerechtigkeit — dieses sind die ausgleichenden Regeln im vertraglichen Verkehr, der Schadensregulierung und der Strafen. Das Prinzip der Gleichheit müsse in beiden besonderen Gerechtigkeitsarten, der distributiven wie der commutativen, zur Anwendung kommen, damit „jeder das Seine" erhält 3. Das „Gleiche" wird von Aristoteles als eine Mitte bestimmt, welche sich zwischen mehreren Elementen befindet; in Hinblick auf die commutative Gerechtigkeit gilt die arithmetische Gleichheit zwischen den Elementen — anders bei der distributiven Gerechtigkeit: das Gerechte, so Aristoteles, „setzt mindestens vier Elemente voraus: die Menschen, für die es gerecht, sind zwei, und die Sachen, auf die es sich bezieht, sind ebenfalls zwei. Und zwar ist die Gleichheit dieselbe, für die und in was sie vorhanden ist. Wie sich die Sachen verhalten, so werden sich auch die Menschen verhalten. Sind diese nicht gleich, so werden sie auch nicht Gleiches erhalten. [...] Denn alle stimmen darin überein, daß das Gleiche im Zuteilen auf einer bestimmten Würdigkeit beruhen müsse. [...] Das Gerechte ist also etwas Proportionales. [...] Proportionalität ist eine Gleichheit der Verhältnisse und verlangt mindestens vier Glieder." 4 Ebenfalls Piaton preist zunächst Gleichheit als Grundlage der Gerechtigkeit, bestimmt dann Gleichheit als geometrische Proportion und sieht die Gerechtigkeit darin, „daß bei ungleicher Naturanlage jeder stets das verhältnismäßig Gleiche erhält." 5 Aristoteles wie Piaton dachten distributive Gerechtigkeit nicht als arithmetische Gleichheit (nivellierendes Verteilungsprinzip, z. B. einfach nach Köpfen), sondern erkannten die geometrische Gleichheit (Gleichheit nach geometrischen Proportionen) als gerechtes Prinzip der Verteilung von Ehren, Ämtern, Reichtum, Einkommen und sonstigen Gütern. Maßstab der Proportionalität war Piaton wie Aristoteles die Nobilität und die Würde. Soferne die Eingangsvoraussetzung der geometrischen Proportionalität akzeptiert wird, ist der folgende Satz von Piaton logisch konsistent: „ . . . bei Menschen von ungleicher Art wird die Gleichheit zu Ungleichheit, wenn das richtige Verhältnis nicht eingehalten wird." 6 Das Konzept der Gleichheit wird von Aristoteles und Piaton im Blick auf die gesellschaftlichen Ungleichheiten angewendet, die in die Prämisse, die Definition „von gleicher Art", eingehen: noble Bürger Athens sind schlechthin nicht von gleicher Art wie Barbaren oder Sklaven7. Diese in der platonisch / aristotelischen Naturrechtslehre verankerte und heute prima facie inakzeptabele Eingangsvoraus3 Aristoteles, Rhetorik I, 9. 1366 b7: „Die Gerechtigkeit ist eine Tugend, durch die jeder das Seine erhält und so, wie es das Gesetz [vorsieht].". 4 Aristoteles, NE V, 1131a 20. 5 Piaton, Gesetze 757, s. a. 744. 6 Piaton, Gesetze, 757. 7 Vgl. im einzelnen Aristoteles, Politik (im folgenden zitiert: Pol.). I 4 1254a: „ . . . der Sklave ist eben ein belebtes Besitztum." [...] „wer nämlich von Natur aus nicht sich selbst gehört, sondern als Mensch eben einem anderen, ist von Natur aus ein Sklave.".

1.1 Prolog

13

Setzung könnte durch Universalisierung der Würde- und Selbstwertintuition (im Kantischen Sinne ,Menschen als Zwecke an sich selbst') entsprechend dem modernen Verfassungsrecht (Würde als universales Menschenrecht, das den Menschen als Menschen — unbeachtet von Rasse, Herkunft u. ä. — zukommt) aufgelöst werden. Zum Bezugspunkt der Gleichheit wäre dann das Grundrechtsprinzip der zu achtenden „Menschenwürde" gesetzt. Aber: auch wenn wir die universale gleiche Menschenwürde aller Menschen als fundamentales Gleichheitsprinzip und als Grundlage für Gleichheit vor Gesetz und Recht annähmen: wie steht es um die gesellschaftlich wirksamen Regeln der Verteilung, die Ungleichverteilungen zum Ergebnis haben? Sind diese immer ungerecht — oder ist eine gerechte Ungleichverteilung von Gütern, Rechten, Macht und Vermögen denkbar? Es ist zunächst davon auszugehen, daß einerseits faktisch unaufhebbare Ungleichheiten bestehen, andererseits faktisch aufhebbare Ungleichheiten. Faktisch unaufhebbare, quasi „natürliche" Ungleichheiten, wie Geschlecht oder auch Schönheit, Körperstärke, Begabung, naturwüchsige Gesundheit und Intelligenz, sind natürliche Tatsachen und stehen als solche nicht zur Disposition von Verteilungsimperativen. Die faktische Unaufhebbarkeit solcher Ungleichheiten kann aber durchaus zum Thema von Gerechtigkeitsüberlegungen werden, insofern sie im Kontext sozialer Forderungen thematisch werden und im Rahmen der faktisch aufhebbaren Ungleichheiten unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit ausgeglichen werden können. Im Lichte der Frage: ,Ist eine gerechte Ungleichverteilung denkbar?' will ich jetzt einige der in der geschichtlichen Praxis oder Theorie angewandten oder geforderten Regeln der Verteilung betrachten 8: (1) Jedem nach seinem Rang. (2) Jedem nach seinen Bedürfnissen. (3) Jedem nach seiner Leistung. (4) Jedem entsprechend den getroffenen vertraglichen Verpflichtungen. (5) Jedem nach seinen Meriten 9 . Die genannten Verteilungsregeln haben die vorerwähnte dreistellige Struktur: in Hinblick auf einen Bezugspunkt X (Rang, Bedürfnisse, Leistungen, vertragliche Verpflichtungen, Meriten u. ä.) ist eine Person Y und eine Person Ζ gleich zu behandeln; die Verteilungsregeln führen dann zu unterschiedlichen und der Möglichkeit nach zu sehr ungleichen Verteilungergebnissen. Alle genannten s Die folgende Aufzählung und Untersuchung ist angeregt durch (und teilweise angelehnt an): Vlastos, 1984, S. 44; eine ähnlich Aufzählung: siehe „Lexikon der Ethik", Höffe (Hrsg.), München 1986, S. 76. 9 Meriten: im Sinne von (engl, merit; franz. mérite; lat. meritum): erworbene Verdienste.

14

1. Prolog und Exposition

Regeln sind gekennzeichnet durch ein Spannungsverhältnis von Gleichheit und Ungleichheit. Der Ausdruck Jeder 4 meint, daß die Regel formal für jeden einzelnen gleich gilt. Wenn aber Gleichheit entsprechend einer fundamentalen Gerechtigkeitsintuition materialer Gleichheit über die so verstandene formale Regelhaftigkeit hinaus reicht, sind dann alle Ergebnisse der genannten Verteilungsregeln, soweit sie Ungleichverteilungen bewirken, ungerecht? Sind die Verteilungsregeln falsch? Oder sind sie — oder einige von ihnen — in einer solchen Weise zu explizieren, daß sie nicht in Widerspruch stehen zu der tiefen Gerechtigkeitsintuition einer Gleichheit im Verständnis der fundamentalen Sichtweise der Menschen als Zwecke an sich selbst (Kant)? zu 1.: Jedem nach seinem Rang. Diese Verteilungsmaxime geht aus von einer irgendwie gearteten werthaften Schichtung der Gesellschaft. Die Ethnologie benennt Beispiele der Seniorität als Maßstab des Ranges und als Verteilungsmaxime; oder: die Barbaren und Sklaven im klassischen Athen hatten nicht den gleichen Rang (die gleiche Würdigkeit) wie die Herren und freien Bürger der Stadt 10 . Auch in der mittelalterlichen ständischen Schichtung erhielt ein jeder nach seinem Rang: Aristokrat, Bürger, Bauer das seinem Stande Angemessene; es herrschte die Vorstellung einer Proportionalität, wie sie auch von Piaton und Aristoteles gedacht wurde. Die Begründung der Rangordnung, die letzlich eine solche der Werthaftigkeit ist, bedürfte eines Kriteriums, um sich als gerecht auszuweisen; die aristotelische oder platonische distributive Gerechtigkeit (und spätere Konzeptionen entsprechender Rationalität) ist jedoch traditionaler Natur und daher rational nicht leicht zu rechtfertigen; so ging ζ. B. das traditionale Ständekonzept von der Vorstellung einer göttlich geregelten kosmischen Ordnung aus und zog damit ein göttliches Ordnungsprinzip zur Legitimation ungleicher Verteilung von Lebens- und Handlungschancen heran. Die Gültigkeit derartiger metaphysicher Gewissheiten als Legitimationsbasis ist heute allerdings meines Erachtens entfallen, zumal ihre Geltung nicht ausgewiesen werden kann. Die Art der »Gleichheit4 : jedem nach seinem Rang im Sinne einer geschichtlich traditional vorgegebenen Schichtung steht im Widerspruch zu der modernen, aufgeklärten postkonventionellen Position universaler Menschenrechte, die als politisches Programm moderner Demokratien ihren paradigmatischen Ausdruck schon in dem revolutionären Ruf nach allgemeiner »Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit 4 fanden. Nach diesem politischen Programm sollen die tatsächlichen Ungleichheiten nach Geschlecht, Herkommen, Rasse, körperlichen und geistigen Anlagen nicht zum Ausgangspunkt von Verteilungen politischer Rechte oder materieller Güter gemacht werden, weil ein universaler Gleichheitsanspruch im Sinne gleicher Rechte als »natürliches Recht4 (jus naturale) jedes Menschen bestehe und damit als unveräußerlich anerkannt werden müsse. Aus dieser Naturio Vgl. hierzu Aristoteles, Pol. I (4) 1254; I (5) 1254b; I (7) 1255 b.

1.1 Prolog

15

rechtsposition 11 folgt auch, daß jedem Menschen Abwehrrechte gegenüber der Staatsmacht zuerkannt werden müssen, andererseits der Staatsmacht Verbindlichkeiten und Verpflichtungen gegenüber jedem Bürger vorgegeben sind, die im sozialen Rechtsstaat bis zu bestimmten Verteilungsnormen durchgeformt sind. Im philosophischen Sinne ist dieses Programm Ausdruck einer universalistischen Ethik, die konkrete Garantien in modernen Rechtsstaaten mit entsprechenden Verfassungsartikeln und sonstigen Institutionen fordert. zu 2.: Jedem nach seinen Bedürfnissen. Diese Verteilungsmaxime, deren wirkungsreiche Formulierung wir insbesondere bei Karl Marx finden, ist nur sinnvoll denkbar bei entsprechend großer Verfügbarkeit von Gütern. Nach Karl Marx ergibt sich in einer klassenlosen Gesellschaft, in der der bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten und alle klassenbedingte Ungleichheit aufgehoben ist, als letztes subjektives Recht die Befugnis, nach seinen Fähigkeiten zu produzieren, nach seinen Bedürfnissen zu konsumieren. 12 In der Marxschen Utopie war vorgestellt, daß die Entwicklung der Produktivkräfte in einer kommunistischen Gesellschaft und die Bedürfnisstruktur der kommunistischen Menschen die Erfüllung der Verteilungsregel Jedem nach seinen Bedürfnissen 4 möglich machen wird. Verteilungssprobleme — gedacht als Gerechtigkeitssproblem — treten dann streng genommen gar nicht mehr auf, da die Anwendungsbedingung distributiver Gerechtigkeit: konkurrierende Ansprüche, nicht mehr besteht. Alle Verteilungsprobleme erübrigen sich: Sein und Sollen der gesellschaftlichen Verteilungssituation fallen zusammen. Mit den Worten Lenins: „Die Verteilung der Produkte wird dann von der Gesellschaft keine Normierung der jedem einzelnen zukommenden Menge erfordern: jeder wird frei ,nach seinen Bedürfnissen' nehmen."13 In den realen gesellschaftlichen Verhältnissen mit Knappheit der Ressourcen ist eine Verteilung nach genannter Regel jedoch nicht möglich; denn faktisch konkurrierende Ansprüche an knappe Güter sind Kennzeichen aller bekannten gesellschaftlichen Kooperation, ja jeder wirtschaftenden Gesellschaft. Es besteht h Zur Begriffs- und Problemgeschichte des ,Naturrechts' sowie seiner methodischen Herleitungen siehe im einzelnen ζ. Β. K. Kühl, ,Naturrecht' in „Historisches Wörterbuch der Philosphie", Basel Stuttgart, Hrsg. Ritter/Gründer, Bd. 6 (1984), S. 560-623. 12 Siehe im einzelnen Marx „Kritik des Gothaer Programms", MEW 19, insbesondere S. 20-22. Mit großer Wortmacht schreibt Marx eine konkrete Utopie: „In einer höchsten Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst Lebensbedürfnis geworden, nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch die Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen — erst dann kann der bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen." (Ebd. S. 21). 13 Lenin, 1970, S. 89.

1. Prolog und Exposition

16

faktisch das Problem der Verteilung und gefragt sind Regeln, die diese Verteilung moralisch gerechtfertigt ermöglichen. Dennoch ist die Marxsche utopische Verteilungsregel Ausdruck einer tiefen Gerechtigkeitsintuition: alle Menschen haben prima facie einen grundsätzlich gleichen Anspruch auf Wohlergehen. 14 Das konkrete individuelle Wohlergehen (Befriedigung von Lebensbedürfnissen) kann aber offensichtlich nicht qua öffentlicher Institutionen in strengem Sinne „gleich" gemacht werden, da Wohlergehen als subjektive und intensive Größe sich einer intersubjektiven Meßbarkeit entzieht (Wohlergehen ist intentio indirecta, nicht intentio directa öffentlichen Handelns). Wohl aber können individuelle Handlungschancen als eine der operationalisierbaren Voraussetzung der Ermöglichung subjektiven Wohlergehens über entsprechend institutionalisierte Normen der Tendenz nach gleich gemacht werden. Es sind bei der Beurteilung von Gesellschaftskonzepten, die mit Gerechtigkeitsansprüchen verbunden sind, zwei Ebenen zu unterscheiden: ( 1 ) Jeder hat einen prima facie gleichen Anspruch auf individuelles Wohlergehen. Dieser gleiche Anspruch kann nicht unvermittelt eingelöst werden; Wohlergehen ist eine subjektive intensive Größe, die sich der intersubjektiven Meßbarkeit entzieht. (2) Institutionell organisiert werden kann aber die Ebene der Handlungschancen als eine operationalisierbare Voraussetzung persönlichen Wohlergehens. Daher: der prima facie gleiche Anspruch auf Wohlergehen ist institutionell zu transformieren in Richtung auf gleiche Handlungschancen: Wohlergehen als mögliche Folge rationaler Handlungschancen. Somit können ungleiche Verteilungen von Gütern und Rechten gerade in Hinblick auf die berechtigten Ansprüche auf gleiche Handlungschancen (zur 14

Das Paradigma »Wohlergehen4, oder in der klassisch-philosophischen, emphatischen Redeweise:,Glück', hat lange Tradition. Gem. aristotelischem Denken muß,Glück' als höchstes Gut für den Menschen und seine Praxis verfügbar und für ihn erlangbar sein („das oberste aller praktischen Güter [...] Glückseligkeit" (Aristoteles, NE 1095 I a 17-18)). Telos ist Glückseligkeit (Eudämonia). „Was aber Glückseligkeit sei, darüber streiten sie, und die Leute sind nicht derselben Meinung wie die Weisen" (ebd. 1095 a 20). Der Kranke hält Gesundheit, der Arme Reichtum für glücksentscheidend, der Weise die tätige Verwirklichung der Vernunft, die Aristoteles in der tugendhaften Praxis in der Polis zur Entfaltung gebracht sieht. Glück hat stets intentionalen Charakter, ob erreichbar in den klassischen Praxisbezügen der Polis, der vita contemplativa philosophischer oder asiatischer Kontemplation, oder christlich theologischer beatitudo Orientierung. Die Glücksorientierung ethischen Handelns wirdrigoros von Kant aufgegeben; Glück ist Kant Befriedigung der Neigungen, zu der Klugkeitsregeln anleiten (siehe im einzelnen Kant, KdrV, Β 834 f); das moralische Gesetz (Sittengesetz) geht nicht auf eigene Glückseligkeit, sondern auf „die Würdigkeit, glücklich zu sein" (ebd.) und formuliert Pflicht. (Vgl. hierzu auch Kant, GzMdS, BA 13). In der hedonistischen Orientierung des klassischen Utilitarismus (Bentham) erfährt allerdings die Glücksorientierung eine wirkungsreiche Renaissance.

1.1 Prolog

17

Ermöglichung subjektiven Wohlergehens, Befriedigung von Lebensbedürfnissen) legitimiert werden. Ich möchte das an einem einfachen Beispiel demonstrieren: wir treffen im Staßenverkehr auf besonders gekennzeichnete Parkplätze für Rollstuhlfahrer; es handelt sich um eine ungleiche Verteilung des verteilungsfähigen Gutes (nämlich Parken auf öffentlichen Straßen) zugunsten von Behinderten; der tiefere Grund der Bevorzugung des Behinderten ist dessen gleiches Recht auf grundsätzlich gleiche Handlungschancen und konkret eingelöst wird dieses Recht durch einen (in unserem Fall allerdings grundsätzlich utopischen) Versuch der Kompensation der faktisch unaufhebbaren Ungleicheit der Behinderten gegenüber den Nichtbehinderten unter anderem durch die den Behinderten bevorzugende Verteilung von Parkraum; die nichtbehinderten Verkehrsteilnehmer sollen dieses respektieren; es wäre — ganz im Sinne der aristotelischen / platonischen distributiven Gerechtigkeit—nicht gerecht, in einer bestimmten Hinsicht faktisch Ungleiche (nämlich Behinderte und Nichtbehinderte) gleich zu behandeln. Die Legitimität der Ungleichbehandlung (in unserem Beispiel ungleiche Verteilung von Parkraum) ist begründet in dem gleichen Recht auf grundsätzlich gleiche individuelle Handlungschancen zur Ermöglichung subjektiven Wohlergehens. Diese Überlegungen führen zu folgender vorläufigen Unterscheidung: (1) Entwicklung

und Begründung eines ersten Legitimationsprinzips

(2) Bezug des begründeten Prinzip der Legitimation auf konkret faktische oder hypothetisch erwogene Normen. (3) Anwendungbedingungen des Legitimationsverfahrens in Hinblick auf die Handlungsebenen bei faktisch gegebenen Ungleichheiten der Handlungschancen. In philosophischer Reflexion ist diese Unterscheidung zu denken als eine Mehrstufigkeit: (1) Metaebene der Legitimationskriterien — und diese führt, wie später noch zu zeigen sein wird, zu einem idealen Gleichheitsprinzip der Diskurschancen. (2) Konkrete Ebene der Legitimationsdiskurse wogener Normen.

gegebener oder hypothetisch er-

(3) Konkrete Ebene der Anwendung, bzw. der Prüfung der Anwendbarkeit der Legitimationskriterien in den Verhältnissen faktisch bestehender realer Diskursbegrenzungen und faktisch bestehender konkurrierender Ansprüche. Soferne konkurrierende Ansprüche bestehen (und dieser Umstand ist Anwendungsbedingung der Gerechtigkeit), müßte eine Gerechtigkeitsethik also mehrstufig sein. 15 15 Die Marx / Leninsche Position allerdings anerkennt keine Mehrstufigkeit; die jede Ethik kennzeichnende Spannung zwischen der kontrafaktischen Legitimationsebene und der faktischen Ebene wird als Entfremdungsphänomen gedeutet, das historisch entstanden und geschichtlich zu überwinden ist. In der postrevolutionären, kommunistischen Form 2 Bausch

18

1. Prolog und Exposition

zu 3.: Jedem nach seiner Leistung. Diese liberalistische Verteilungmaxime regelt die Verteilung von Positionen und Gütern nach der individuell erbrachten Leistung 16 ; der Gerechtigkeitsgesichtspunkt als Gleichheitsprinzip sei berücksichtigt durch die Norm: gleiche Leistung — gleicher Lohn. Eine solche liberalistische Leistungsgerechtigkeit führt zu hoch ungleichen Verteilungen — je nach (a) der natürlichen Leistungsfähigkeit und Anstrengungsbereitschaft der Beteiligten. (b) den kulturell gesellschaftlich ausdiffenzierten Leistungs- und Berufsprofilen, und (c) den ungleich verteilten Chancen, bestimmte Berufs- und Leistungsprofrle zu entwickeln (ungleiche Ausbildungschancen). Nun könnte im Falle von (a) (Leistungsfähigkeit und Anstrengungsbereitschaft) noch für die genannte Verteilungsnorm argumentiert werden, daß unter den faktischen Voraussetzungen unserer Lebensbedingungen, die Leistung nun einmal zum Vollzug menschlicher Existenz nötig machen, der Wille zum Leben eine solche Norm zweckrational rechtfertigt. Die Verteilungsnorm, jedem nach seiner Leistung' ist jedoch blind gegenüber den Differenzierungen von (b) und (c). Ferner: Differenzialrenteneinkommen können durch die besagte Norm gar nicht erfaßt werden; und Vermögenseinkommen können nur durch eine Reihe von weiteren Annahmen problemlos geklärt werden. 17 Dennoch: in unseren lebensweltlichen Zusammenhängen spielt die Verteilungsmaxime Jedem nach seiner Leistung' eine wichtige Rolle. Allerdings beder Gesellschaft sind gemäß der marxistisch materialistischen Analyse des ökonomisch geprägten gesellschaftlichen Bewußtseins die „bürgerlichen Rechtshorizonte" ganz überschritten und auf konkreter Handlungsebene sind die Normen der Gerechtigkeit und der Moral im strengen Sinne unnötig geworden, da apriori eingelöst. 16 Leistung im Sinne der Wirtschaftstheorie ist entweder Menge (output per manhour) oder Wert (Erlös per man-hour) im Erzeugungsprozeß von Gütern und Dienstleistungen; da in Hinblick auf die Zurechnung im letzteren Fall mit dem Erlös der produzierten Güter und Dienstleistungen Marktparameter bereits als externe Bestimmungsmomente in die Verteilungsnorm eingehen, soll im folgenden nur der erste Fall (output per man-hour) als Leistungsparameter gelten. 17 Die Verzinsung von Vermögen wird nach wirtschaftstheoretischen Überlegungen als Preis für Konsum- oder Liquiditätsverzicht angesehen. Die mit diesem Verzicht verbundene »disutility' ist mit der entsprechenden »disutility' des Arbeitseinsatzes zu vergleichen; sie fällt unter das gleiche ökonomische Gesetz. Die Entscheidung, Vermögen zu bilden, resultiert theoretisch aus einer »disutility' (Einkommensausstattung qua Arbeitseinsatz) und aus der Zeitpräferenz des Sparers. Insofern liegt kein problematischer Charakter des Vermögenseinkommens vor. Problematisch wird ein Vermögenseinkommen erst, wenn das Vermögen sich einer unterschiedlichen Einkommensausstattung verdankt, die nicht über eine »disutility' legitimiert werden kann und Sparen auf diese »ungerechte Weise' zur Akkumulation führt.

1.1 Prolog

19

steht eine kritische Spannung zwischen der Verteilungsmaxime Jedem nach seiner Leistung4 und der Gerechtigkeitsintuition des prima facie gleichen Rechts auf Wohlergehen. zu 4.: Jedem nach den vertraglich

getroffenen

Abreden.

Diese Maxime, die in den realen westlichen Gesellschaften eine der dominanten Regeln ist, kann ebenfalls zu hoch ungleichen Verteilungen führen. Zwar ist theoretisch eine freiwillig getroffene vertragliche Abrede der Intention nach im beiderseitigen Interesse der Vertragspartner und die Vertragsfreiheit ist formal für alle gleich; das Ergebnis der vertraglichen Verpflichtung kann jedoch zu ungleichen Verteilungen von Gütern und Positionen führen, soferne der,Gewinn' aus der vertraglichen Abrede sich infolge ungleicher Information oder Verhandlungsmacht ungleich auf die Vertragspartner aufteilt. Grundsätzlich jedoch ist zu fragen: Inwieweit kann ein einzelner Wille und dessen Nutzenkalkül, der sich in einem konkreten Vertrag in gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen auf einen zweiten einzelnen Willen bezieht, als Grundlage von Verteilungen, die mit dem Anspruch auf Gerechtigkeit verbunden sind, angesehen werden? Das Problem der Verteilungsregel Jedem nach den getroffenen vertraglichen Abreden' stellt sich m. E. auf zwei Ebenen: (a) Das Vertragsprinzip (,pacta sunt servanda4) als Verbindlichkeitsprinzip für die Vertragssubjekte bedarf seinerseits einer verpflichtenden Begründung, sonst wäre es allein dem Nutzenkalkül des Einzelnen und dessen strategischen Vorbehalt unterworfen, den Vertrag zu halten oder zu brechen. Welches Prinzip aber fordert im normativen Sinne vertragsgemäßes Verhalten? Wir stoßen hier auf die Hobbes'sche Aporie. Der Vertrag selber kann nicht Geltungsmerkmal für vertragsgemäßes Verhalten sein, da in ihm selber nicht der Grund eines solchen Verhaltens enthalten ist. Wir sehen uns also notwendigerweise auf ein anderes Prinzip verwiesen. (b) Die Verteilungsregel Jedem nach den getroffenen vertraglichen Abreden 4 kann diese Festlegung gar nicht begründen. Welche Art von Verträgen gelten als legitim (im Sinne von annerkennungswürdig) und welche nicht? Die konkret inhaltliche Bestimmung von Verträgen kann mit politischer und sozialer Gerechtigkeit kollidieren und es bedarf einer Norm, derlei Konflikte zu regeln. Es bedarf also eines Kriteriums für annerkennungswürdige, legitime Verträge. zu 5.: Jedem nach seinen Meriten. Diese Verteilungsregel, die Positionen, Güter und sonstigen Dinge nach den individuellen Meriten verteilt, führt bei verschiedenen Personen zu ungleichen Rechten. Vlastos verteidigt eindrucksvoll diese Regel an Hand des Beispieles: ungleiche Verteilung von ,Lob4 als ,psychic income4; Vlastos begründet die 2*

20

1. Prolog und Exposition

Verteilungsmaxime Jeder nach seinen Meriten 4 durch den gleichen Anspruch jeder Person auf Wohlfahrt und Freiheit 18 . Die Konklusion von Vlastos: da die ungleiche Verteilung von Lob zu einer höheren Leistung beitrage und außerdem Ausdruck der Spontaneität des Menschen sei, profitieren alle, soferne der Verteilungsmodus sich nicht ändere; das Wohlfahrtsniveau (wellbeeing, happyness) steige; dem grundlegenden gleichen Recht aller auf Wohlergehen auf dem realisierbar höchsten Niveau werde entsprochen durch die ungleiche Verteilung des besonderen Gutes ,Lob\ Die Zitate der klassischen Schriften von Aristoteles und Piaton und die Aufzählung einiger bekannter alternativer Verteilungsmaximen sowie die Skizzierung ihrer Implikationen sollte aufmerksam und sensibel machen auf das Problem der Gleichheit und distributiver Ungleichheit in moralischer Perspektive. Das Problembewußtsein muß der Lösung immer vorauslaufen. Im Nachdenken über Gerechtigkeit und Ungleichheit und ihr Verhältnis ist jetzt zu fragen: In welchen Sinne ist überhaupt der moralisch fundamentale Begriff der »Gleichheit4 zu verstehen? Welches ist die relevante Art der Gleichheit? Taylor ζ. B. interpretiert Gleichheit im Sinne des gleichen Rechtes auf Selbstverwirklichung 1 9 für jedermann; sodann bestimmt er die republikanisch verfaßte Gesellschaft als die Institution mit dem höchsten Verwirklichungspotential der individuellen menschlichen Möglichkeiten. Vlastos geht aus von einem »gleichen individuellen Wert des Menschen4 2 0 ; diese Gleichheitssetzung ist Vlastos expliziter Ausgangspunkt aller weiteren Überlegungen zur Gerechtigkeit. Rawls hingegen untersucht nicht wie Vlastos den Begriff der Gleichheit als Basis von Gerechtigkeitsüberlegungen. Bei Rawls läuft es — so behaupte ich — genau anders herum: jeder Mensch besitzt eine aus Gerechtigkeit entspringende Gleichheit der Rechte 21 ; auf der anderen Seite allerdings setzt Rawls in seiner 18 Das Argument von Viatos (S. 51 ff.) (1): Alle Menschen haben ein prima facie gleiches Recht auf Wohlfahrt („wellbeeing, happyness44) und Freiheit („freedom"). Dieses resultiert aus dem intrinsischen Wert des Menschen an sich („individual human worth") und seiner gleichen Glücksfähigkeit. (2): weil (1) haben — so schließt Vlastos — die Menschen auch einen Anspruch ein maximale erreichbares Niveau der Wohlfahrt. (3): Unter bestimmten Bedingungen der Verteilung von Lob, haben sie ein unterschiedliches Recht auf Lob, nämlich entsprechend ihrer Meriten; denn „because of his equal concern for happyness of all persons, a proponeiit of equalitarian justice would have good reason to approve mp(praising for merit) given its stimulating effect on the creation of these goods whose enyoyment constitutes happyness44 (S. 74). 19 Vgl. im einzelnen Taylor, 1985, S. 152. 20 Vlastos, S. 55: „individual human worth; or human worth, for short44; Vlastos nimmt ausdrücklich Bezug auf Kant; er schreibt: „what these expressions stand for is also expressed by saying that men are ,ends in themselves'.". 21 Rawls, 1975, S. 19: ,Jeder Mensch besitzt eine aus Gerechtigkeit entspringende Unverletzlichkeit..."; siehe auch S. 583: es scheint mir offensichtlich, daß Egalität für Rawls sich aus Gerechtigkeit ergibt, nicht aber begriffliche Grundlage der Gerechtigkeit ist.

1.1 Prolog

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theoretischen Darstellung der Gerechtigkeit Gleichheit der Rechte als eine Prämisse seiner Theorie voraus 22 . Rawls arbeitet dabei mit Kantischen Annahmen (Menschen als freie und im rechtlichen Sinne gleiche Wesen), ohne allerdings die Begründungszusammenhänge von Gleichheit und Gerechtigkeit explizit zum Thema zu machen. Die Bestimmungsversuche von »Gleichheit4 kreisen um den Begriff der Gerechtigkeit. Soferne eine solche Bestimmung gelingt: welche Verteilungsimperative von Rechtsansprüchen ergeben sich aus dem Begriff der Gleichheit? Dieses ist die Frage nach der Bestimmung der Verteilungsgerechtigkeit. Soferne diese Klärungen gelingen, sind auch die fünf aufgezählten Verteilungsmaximen mit Gründen zu beurteilen. Auf diese Weise sind auch eventuell gerechtfertigte Ausnahmen des fundamentalen Grundsatzes der Gleichheit von Rechtsansprüchen als sinnvolle Verteilungsmaximen mit Gründen zu rechtfertigen. Vlastos formuliert die Aufgabenstellung treffend: „we must find reasons for our natural rights, which will be the only moral reason for just exceptions to them in special circumstances. [...] an equalitarian concept of justice may admit just inequilities without inconsistancy if, and only if it provides grounds for equal human right which are also grounds for unequal rights of other sorts." 2 3 . Desiderat ist demnach: 1. Begründung des egalitären Gerechtigkeitskonzeptes und gleichzeitig: 2. Begründung und präzise systematische Statusbestimmung von Ausnahmen der Anerkennung gleicher Rechte sowie der Aufstellung von Kriterien, die es ermöglichen, die Ausnahmen als gerechtfertigte Ungleichheiten moralisch zu bestimmmen. Anders gewendet heißt das Desiderat: Grundlegung einer Gleichheit der Rechte, die gegebenenfalls auch spezielle Ungleichheiten der Verteilung begründen kann. Die Einschränkung der Gleichheit der Rechte durch Ungleichheit könnte dann nur mit Rücksicht auf kriteriologische Gesichtspunkte erfolgen, die zur Grundlegung der Gleichheit der Rechte selber eingeführt wurden. Dieses erfordert ein Zweistufenkonzept als notwendige Bedingung: auf der ersten Stufe ist das grundlegende, basale Prinzip der Gleichheit auf eine zweite Stufe der faktischen Situationen der Ungleichheiten zu beziehen. Z. B.: die für die Diskursethik grundlegende praktische Norm „Gleichheit der Redechancen" wäre auf die faktischen Ungleichheiten auf der Handlungebene in einer solchen Weise zu beziehen, daß Ungleichheiten dann und nur dann zugelassen werden, 22

Rawls, 1975, S. 36: „Vernünftig erscheint die Annahme, daß die Menschen im Urzustand gleich seien. Das heißt, sie haben bei der Wahl der Grundsätze alle die gleichen Rechte; [...].". 2 3 Vlastos, S. 48-49.

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1. Prolog und Exposition

wenn damit die materiale Gleichheit der Redechancen garantiert, oder zumindest situationsbezogen in jeweils größtmöglichen Umfange verbessert wird. Die tiefe Intuition der Gleichheit, verstanden nicht nur als Verteilungsmaxime, sondern als fundamentale Sichtweise der Menschen als Gleiche (im Sinne von Kant: Anerkennung der Menschen als Zwecke an sich selbst), ist in einer konsistenten Theorie mit spezifischen Verteilungsregeln (distributive Gerechtigkeit) zusammenzudenken. Der Kritik eines Gerechtigkeitskonzeptes wie der Rawlsschen ,Theorie der Gerechtigkeit 4 möchte ich um der Klarheit Willen zumindest in Form einer thetischen Abbreviation eine Abrenzung und Bestimmung der Begriffe ,Ethik'(l), ,Moral· (2), ,Recht4 (3) und »Gerechtigkeit4 (4) vorausschicken. (1) Ethik ist die Lehre von der Moral. Als wissenschaftlicher Disziplintitel geht sie auf Aristoteles zurück: die Wissenschaft der Ethik beschäftigt sich mit philosophischen Legitimationsproblemen von Sitten und Institutionen und antwortet auf die Frage: ,was soll man richtigerweise tun?4 Das Adjektiv ,ethisch4 wird sowohl im klassifikatorischen Sinne von ,zur Ethik gehörig 4 verwendet, als auch im normativen Sinn von »sittlich gut4 oder »moralisch geboten4 verwendet. (2) Moral stellt den normativen Grundrahmen für das Verhalten von Menschen in einer Gemeinschaft dar, und zwar des Verhaltens zu sich selbst (a), untereinander (b) und zu der Natur (c). Moral formuliert Sollsätze als Praescriptionen, die folgender formaler Art sind: „ , X 4 soll sein44 und das heißt in einer thetischen Reihung verschiedener Aspekte: a: ,X 4 ist für alle moralischer Verhaltensweisen fähige Menschen, d. h. vernünftige Wesen, gültig. b: ,X 4 gilt in zwischenmenschlichen Beziehungen, in denen wir in der Rolle als vernunftfähige und als moralfähige Wesen immer schon stehen. c: ,X 4 ist eine Nötigung des Willens (Kant 24 ). Es ist etwas, was wir als Vernunftwesen vernünftigerweise wollen müssen. d: ,X 4 gilt absolut, und das heißt hier: »X4 gilt als etwas, das nicht eingeschränkt ist in Hinblick auf ein äußeres Ziel. e: ,X 4 hat eine ideale Bezugsinstanz; für Kant war diese das Jleich der Zwecke'; in der Diskursethik wird das kantische Reich der Zwecke dechiffriert als die kontrafaktisch unterstellte (ideale) uneingeschränkte Kommunikationsgemeinschaft der vernunftfähigen Wesen (Karl-Otto Apel). 24 Vgl. Kant „Grundlegung der Metaphysik der Sitten" (im folgenden zitiert ,GzMdS"), BA 14 und BA 37, Werkausgabe, Bd. VII, S. 26 und 41.

1.1 Prolog

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Vorgenannte Bestimmungen des Moralbegriffs sind formal und material leer. Demgegenüber besteht positiv geltende Moral aus einem material-inhaltlich bestimmten Normenkodex; dieser ist immer gewissen Änderungen im historischen Kontext unterworfen. Die Begründung des konkreten Normenkodex ist nach dem Fortfall metaphysischer Gewißheiten nur durch ein formales Verfahren möglich, das seinerseits zu begründen ist. Wie im weiteren gezeigt werden wird, sind dabei die Aspekte (a:) bis (e:) einzubeziehen. Moral ist nicht äußerlich erzwingbar (im Gegensatz zu Recht); Moral formuliert Pflichten, rekurriert auf Vernunft und appelliert an das Gewissen. (3) Recht ist der Inbegriff einer äußerlich erzwingbaren normativen Ordnung. Die normative Ordnung regelt das gesellschaftliche Zusammenleben in konkreten Gemeinschaften, wobei die Normen im rechtlichen Sinne gebieten, erlauben oder ermächtigen. Recht hat im Gegensatz zur Moral eine definite Organisationsform. Empirisch gesehen sind allerdings die Unterschiede von Recht und Moral oft nicht scharf gegeneinander abgesetzt und die Übergänge fließend. Die philosphisch relevante Frage jedoch lautet: ,warum gelten Rechtsnormen überhaupt, was ist ihr Geltungsgrund?4 Vier rechtsphilosophische Denkrichtungen stehen sich gegenüber: die rechtshistorische (1), die rechtspositivistische (2), die naturrechtliche (3) und in ihrer kritischen Weiterführung die vernunftrechtliche (4) Ausformung. zu (1): Die rechtshistorische Schule (F. C. von Savigny, F. J. Stahl) bestimmt Recht wesensmäßig als etwas historisch Gewordenes, etwas sinnvoll Vorgefundenes. Das Recht hat gemäß der rechtshistorischen Schule seinen eigentlichen Sitz in dem faktisch »gemeinsamen Bewußtsein des Volkes 1 (Savigny). Savigny schreibt: alles Recht entsteht auf die Weise, „welche der herrschende und nicht ganz passende Sprachgebrauch als Gewohnheitsrecht gezeichnet, d. h. daß es erst durch Sitte und Volksglaube, dann durch Jurisprudenz erzeugt wird, überall also durch stillschweigende Kräfte, nicht durch die Willkür des Gesetzgebers." 25 Die rechtsschöpfende Quelle wird im ,Volksgeist' erblickt. Die historisch gewachsenen Rechtsüberzeugungen werden als Manifestationen des Volksgeistes gesetzt, der bewirkt, daß eine Totalität des Rechts als eines geschlossen Ganzen zustande kommt 26 . Die rechtshistorische Schule ist konservativ gegenüber historisch gewachsenen Gegebenheiten. Philosophisch vermag sie ihre eigenen Prämissen (Volksgeist als rechtsstiftende Potenz) nicht zu begründen. Anders der spekulative Ansatz Hegels: die konkrete Sittlichkeit als gewachsene Tradition des historischen Prozesses wird auf die absolute Allgemeinheit bezogen. 25 Savigny, zitiert in Rothacker, 1920, S. 52-52. 26 Siehe hierzu Stahl, 1830 und insbesondere 1854, S. 570-590.

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1. Prolog und Exposition

Der Philosoph schreibt: „die konkreten Ideen, die Volksgeister, haben ihre Wahrheit und Bestimmung in der konkreten Idee, wie sie die absolute Allgemeinheit ist — dem Weltgeist, [ . . .]" 2 7 . Hegel denkt das geschichtliche Werden als »Auslegung und Verwirklichung des allgemeinen Geistes " 28. Er intendiert, die natürliche Unmittelbarkeit der Geschichte als begriffene geistige Wirklichkeit gedanklich darzustellen, und somit auch Recht als Gedanken zu fassen. 29 Der ,Volksgeist4 der rechtshistorischen Schule als überindividuelle rechtsstiftende Kraft bleibt aber auch nach der hegelschen Aufhebung als Manifestation des Weltgeistes ein spekulatives, mystisches Etwas, welches als normativer Bezugspunkt problematisch ist. zu (2): Der Rechtspositivismus betrachtet die Normen primär als Gegebenheiten der sozialen Wirklichkeit. Insoferne hat die rechtspositivistische Schule eine Parallele zur historischen Schule. Die Schlüsselbe griffe, die diese rechtsphilosophische Position kennzeichnen, sind jedoch — anders als die der historischen Schule — (a) der Begriff,Befehl' des politischen Souveräns, wobei der Befehl durch Strafen sanktioniert ist (Austin: »Rechtsnormen als Befehle des politischen Machthabers 430 ), und (b) der Begriff Zwangsordnung', wobei die Zwangsordnung auf der Vorstellung einer positiv gesetzten Rechtsordnung gegründet ist, die ihrerseits auf vorausgesetzten quasi überpositiven »Grundnormen 4, verstanden im Sinne einer axiomatischen Setzung, aufruht (Kelsen: ,Die Rechtsordnung als hierarchisches System von Zwangsnormen 431). Die Rechtsordnungen müssen durch einen besonderen Setzungsakt positiv erzeugt werden; es entsteht Recht als eine Zwangsordnung. Der Inhalt wird entweder auf eine Setzung des »Souveräns4 zurückgeführt (Austin), oder an eine wissenschaftlich hypothetisch vorausgesetzte fundamentale »Grundnorm 4 (Kelsen) gebunden. Die Existenz einer solcherart „positiven44 Rechtsordnung bedeutet aber keine moralische Pflicht der Rechtsbefolgung; der Gehorsam kann ebensogut durch Tradition, kluge Interessenabwägung oder Furcht vor angedrohten Sanktionen für den Fall des Ungehorsams motiviert sein. Der in deontologischer Hinsicht offensichtlich deliziente rechtspositivistische Ansatz von Austin oder auch Kelsen erfährt in der Fortentwicklung durch H. L. A. Hart eine besondere Interpretation: Hart verankert die Pflicht, entsprechend den positiven Normen zu handeln, in 27 Hegel „Grundlinien der Philosophie des Rechts" (im folgenden zitiert „PhdR"), § 352» Werkausg. Bd. 7, S. 508. 28 Hegel „PhdR", § 352. 2 9 Vgl. hierzu „PhdR", Vorrede, insbesondere Zusatz 2. so Siehe im einzelnen Austin, 1955, S. 15-20. 3i Siehe im einzelnen Kelsen, 1960, S. 21-42.

1.1 Prolog

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der faktischen Akzeptanz der durch die Rechtsordnung etablierten allgemeinen Praxis (Hart: ,Akzeptanz als Basis einer positiven Rechtsordnung' 32). Auch die Interpretation der rechtspositivistischen Position durch Hart löst jedoch nicht die Begründungsprobleme der Rechtsordnungen: die soziale Gültigkeit von Gesetzen (empirisch faktische Ist-Ebene) ist von der philosophisch geltungslogischen Verbindlichkeit (deontologische Sollens-Ebene) zu trennen. Spätestens mit den Erfahrungen, die das nationalsozialistische gesetzliche Unrecht4 mit sich brachte, muß das Defizit rechtspositivistischer Ansätze wieder zum Gegenstand der Reflexion werden. Juridisch Rechtliches und ethisch Gerechtes können soweit auseinanderlaufen, daß bestimmte konkrete Rechtstitel das Prädikat der Unmoral trifft. In den eindruckvollen Worten G. Radbruchs: „Es muß sich in dem Bewußtsein das Volkes und der Juristen tief einprägen: es kann Gesetze mit einem solchen Maße an Ungerechtigkeit und Gemeinschädlichkeit geben, daß ihnen die Geltung, ja der Rechtscharakter abgesprochen werden muß."33 Es gibt nach Radbruch Rechtsgrundsätze, die stärker sind als jede rechtliche Satzung: dieses sind die Grundsätze des Naturrechts und des Vernunftrechts. Dieses Rechtsdenken geht prinzipiell über den Rechtspositivismus hinaus und rekurriert auf eine begriffliche Beziehung von Recht und Moral. zw (3): Die Vorstellung des Naturrechts (jus naturale) hat in ihrer geschichtlichen Entwicklung als Differenzierungsprozeß unterschiedliche Ausformungen erfahren. Die Tradition reicht bis in die Antike: Naturrecht wurde als die verpflichtende Rechtsquelle erklärt, wenngleich in den geschichtlichen Interpretationen mit durchaus verschiedenen Konsequenzen — von Aristotelischen naturrechtlichen Legitimation der Versklavung von Barbaren 34 bis zu der Hobbes'sehen und Rousseauschen naturrechtlichen Gleichheitsvorstellung. Hobbes 35 wie Rousseau36 zweifelten nicht daran, daß die Grundprinzipien des Rechten unabhängig von allen menschlichen Verträgen durch die Natur der Dinge besteht; sie setzten Gott als Quelle der natürlichen' Gerechtigkeit und meinten, daß göttlichen Grundprinzipien Wirklichkeit verschafft werde durch Leviathanische ,form and authority of government' (Hobbes) oder durch den ,contract social' (Rousseau). 32 Siehe im einzelnen Hart, 1987, S. 50-76. 33 Radbruch, 1973, S. 47. 34 Vgl. Aristoteles, Politik 1254a-1255b. 35 Hobbes fundiert das jus naturale antropologisch in der natürlichen Freiheit des Menschen, seine Kräfte beliebig zum Selbsterhalt einzusetzen : „Das naürliche Recht [...] ist die Freiheit eines jeden, seine eigene Macht nach seinem Willen zur Erhaltung seiner eigenen Natur [...] einzusetzen" (Hobbes, 1651, ,Leviathan4, Kap. 14, S. 99). 36 Rousseau erkennt dem Menschen eine „natürliche Freiheit und ein unbegrenztes Recht auf alles, wonach ihn gelüstet und was er erreichen kann" zu. , Jeder Mensch hat natürlicherweise ein Recht auf alles , was er braucht" (Rousseau, 1762, »Contract Social·, S. 22, S. 24).

1. Prolog und Exposition

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zu (4): Durch seine ,kopernikanische Wende' transformiert Kant das Naturrecht zum Vernunftrecht. Kant wendet den Rechtsbegriff in die Bezüge praktischer Vernunft (Nötigung des Willens durch das Sittengesetz als Prinzip apriori). Kant definiert: „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann."37 Das Kriterium der Legitimationsprüfung ist für Kant die Übereinstimmung einer Norm mit dem allgemeinen Gesetz der Freiheit als Selbstbstimmung des vernünftigen Willens. Daher wird eine legalistische Rechtsorientierung in dem ethischen Vernunftprinzip aufgehoben: Überprüfung einer faktischen Rechtsnorm nach universalen Kriterien der Vernunft. In philosophischer Reflexion zeigt sich das Problem der Rechtfertigung von Normen jetzt auf zwei Ebenen: ( 1 ) Die philosophisch praktische Metaebene ( A l ) der Entwicklung und Begründung der Legitimationskriterien (Vernunftprinzipinen) von Rechtsnormen; diese Ebene ist durch eine philosophisch reflexive transzendentale Einstellung gekennzeichnet. (2) Die prakitsche Ebene (A2) der Legitimation der faktischen oder hypothetisch erwogenen Normen an Hand von Vernunftprinzipien; auf dieser Ebene wird die Geltung von Rechtsnormen durch praktische Diskurse geprüft. In der Apelschen Transformation der Kantischen Vernunftethik heißt das: Überprüfung einer faktischen Rechtsnorm auf ihre universale Konsensfähigkeit in Hinblick auf eine kontrafaktisch gedachte ideale Kommunikationsgemeinschaft. Die Ebene der praktischen Anwendung (A2) impliziert allerdings Probleme der spezifisch geschichtsbezogenen Anwendbarkeit der idealisierenden Norm; eine diesbezügliche Reflexion führt im Sinne von Apel zu verantwortungsethischen Ergänzungsprinzipien (in der Apelschen Architektonik: Teil Β der Ethik). Ich werde darauf zurückkommen. (4) Gerechtigkeit ist als sittliches Ideal im institutionellen, politischen, sozialen und moralischem Verständnis das grundlegende Legitimationsprinzip für die Lösung von Problemen des Zusammenlebens. Es ist eines der Kriterien der Regelung zwischenmenschlicher Beziehungen und der Beurteilung von Absichten (Intentionen), Handlungen und Institutionen, sei es der Kooperation oder der Verteilung. Grundsätze der Gerechtigkeit müssen den oben genannten formalen Bestimmungen des Moralbegriffes entsprechen. Moral jedoch ist der umfassendere Begriff; Moral gilt für alle moralischer Verhaltensweisen fähige Wesen, ist Nöti37 Kant, ,Metaphysik der Sitten' (im folgenden zitiert:MdS) Β 33, Bd VIII, S. 337.

1.1 Prolog

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gung des Willens, gilt absolut, hat eine ideale Bezugsinstanz — Moral ist nicht auf Gerechtigkeit zu reduzieren. Gerechtigkeitsvorstellungen sind nur ein Teil moralischer Auffassung; denn Gerechtigkeit bezieht sich nur auf zwischenmenschliche Beziehungen, nicht auf das richtige Verhalten gegenüber ζ. B. Tieren und der Natur. Gerechtigkeit impliziert eine wechselseitige Beziehung.38 In die formale Moralbegriffsbestimmung ,,,Χ' soll sein" ist auch Gerechtigkeit einzutragen. Zentrale Frage bleibt, wie ,X* inhaltlich konkret bestimmt und begründet wird. Dieses sind Fragen, die die Philosophie seit ihrer Entstehung beschäftigt. Seit klassischer Zeit gilt in Bezug auf diese Frage — verstanden als Gerechtigkeitsfrage — die tiefe Intuition des „perpetua voluntas jus suum cuique tribuendi" 39 — eine formal wohl unüberbietbare Fassung des Gerechtigkeitsbegriffes. Die formale Gerechtigkeitsbestimmung, jedem das Seine1 zuzuerkennen, drückt mit dem Jedem4 die Vorstellung der Gerechtigkeit als formale Egalität aus. Was aber ,das Seine4 inhaltlich ist und wie es konkret zu bestimmen ist, bleibt hier noch ungesagt. Was ein einzelner oder eine Gruppe prima facie inhaltlich für gerecht hält, muß er oder die Gruppe als hypothetischen Grundsatz: „ , X k o n k r e t < ist geboten", gegenüber anderen verteidigen, das heißt: mit Argumenten begründen können, jedenfalls wenn der Grundsatz in eine Krise gerät und er (bzw. die Gruppe) sich rational verhalten will. Dieser Geltungsdiskurs zur Prüfung der Frage: „ist , X k o n k r e t ' zurecht geboten?" bedarf eines formalen und idealen Legitimationsprinzips. Der Legitimationsprozeß ist — wie oben bereits angesprochen — im Sinne Karl-Otto Apels 40 mehrstufig zu denken: — Metaebene der Legitimationskriterien im Sinne eines Maßstabes zur Kennzeichnung der Richtigkeit oder Falschheit einer hypothetisch erwogenen Norm. Auf dieser Metaebene wäre ein deontologisches, ideales und universales Legitimationsprinzip einzutragen (In Apels Architektonik Ebene A l ) . — Ebene der konkreten Anwendung des Legitimationskriteriums durch praktische Diskurse zur Prüfung der Richtigkeit einer gegebenen oder erwogenen Norm (Apel: Ebene A2). 38 So auch Rawls, wenn er bündig schreibt: „Wer Gerechtigkeit üben kann, dem ist man Gerechtigkeit schuldig." (Rawls, 1975, S. 554, siehe hierzu auch ebd., S. 556). 39 Definition Ulpians, die im engeren Rechtsbereich distributiver wie commutativer Gerechtigkeit maßgebende Bedeutung erlangte (siehe im einzelnen Loos, Schreiber, Wetzel in „Historisches Wörterbuch der Philosophie", Ritter (Hrsg.), 1974, Bd 3, S. 330 ff.) — Die formale Fassung Jedem das Seine' befindet sich schon bei Aristoteles (Vgl. Aristoteles „Rhetorik" I, 9. 1366 b7). 40 Siehe im einzelnen unten Kapitel 8.3 ,Begründungs- und Anwendungsprobleme der Diskursethik4.

28

1. Prolog und Exposition

— Ebene der verantwortungsethischen Reflexion hinsichtlich der konkret geschichtlich gesellschaftlichen Anwendungsbedingungen des Legitimationsprinzips (Apel: Ebene B). Als metaethisches Legitimationsprinzip benennt die Diskursethik den Diskursgrundsatz , D \ Der Grundsatz ,D' besagt, daß nur die Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Argumentierenden als vernünftige Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden oder virtuell finden könnten. 41 Diese Fassung des Diskursgrundsatzes impliziert hochgradige Idealisierungen (ideale kontrafaktische Diskursbedingungen) und Abstraktionen, die es mit Apel hinsichtlich der Anwendung geschichtsbezogen verantwortungsethisch zu reflektieren gilt. Rawls bindet seine Gerechtigkeitsgrundsätze ebenfalls an eine, jedoch anders bestimmte, Zustimmungsbedürftigkeit. Die Zustimmung verlegt er in einen fiktiven Urzustand: dort entwickeln und evaluieren die Beteiligten gedankenexperimentell Gerechtigkeitsgrundsätze und wählen rational die zwei Grundsätze der Gerechtigkeit in der Rawlsschen Formulierung. Die Rawlsche Theorie der Gerechtigkeit als Fairneß bestimmt das auf diese Weise im Urzustand konkretisierte ,suum cuique' in Form der zwei allgemeinen Gerechtigkeitsgrundsätze, aus denen dem Rawlsschen Anspruch nach ein ganzes anwendbares vollständiges Gerechtigkeitssystem deduziert werden kann.

1.2 Exposition Zunächst werde ich die zentralen Gedanken der Rawlschen Theorie rekonstruieren, sodann die in der jeweils anschließenden Kritik behaupteten und ausgewiesenen Defizite bearbeiten, indem ich diskursethische Gesichtspunkte geltend mache. Ich beziehe mich bei diesem Bemühen auf die Resultate der Arbeiten von Jürgen Habermas (Formalpragmatik; Theorie der herrschaftsfreien Kommunikation) und insbesondere auf die Resultate der Arbeiten von Karl-Otto Apel (Transzendentalpragmatik; Gedanke der dialektischen Verschränkung der realen Kommunikationsgemeinschaft und der kontrafaktisch antizipierten idealen Kommunikationsgemeinschaft). Nach diesen Ansätzen ist die sogenannte Diskursethik ein deontologisches prozedurales Konzept zur Prüfung der Gültigkeit gegebener oder hypothetisch erwogener Normen.

41

Vgl. hierzu auch Habermas, 1983, S. 103. Die Formulierung des Diskursgrundsatzes ,D' von Habermas beansprucht, „daß nur die Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffener als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden (oder finden könnten).".

1.2 Exposition

29

Rawls sieht in seiner,Theorie der Gerechtigkeit 4 weitgehend von begrifflichen Analysen betreffend ,Moral', ,Recht4 und »Gerechtigkeit4 ab. Der Gerechtigkeitsbegriff ist für Rawls „definiert durch seine zwei Grundsätze für die Zuweisung von Rechten und Pflichten und die richtige Verteilung gesellschaftlicher Güter. 44 4 2 Nach dieser definitorischen Setzung gibt Rawls in einem imponierenden Theorieentwurf durch die Formulierung von zwei inhaltlich bestimmten Grundsätzen der Idee der Gerechtigkeit eine konkrete Fassung. Die Grundsätze sollen eine rationale Rechtfertigung politischer Institutionen ermöglichen. Die Rationalität des Rawlsschen Ansatzes verdankt sich dem Konzept eines Gesellschaftsvertrages, nach dem in einer vorgestellten fiktiven anfänglichen Situation der Gleichheit, dem hypothetischen Urzustand, die Legitimität der sozialen Ordnung durch die virtuelle freie Zustimmung der Beteiligten zu zwei Grundsätzen der Gerechtigkeit begründet wird. Rawls postuliert, es würden nacheinander folgende zwei Grundsätze beschlossen: (1) Der erste Rawlssche Grundsatz der Freiheit ist ein Gleichheitsgrundsatz. Er lautet: „Jedermann hat gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist 4443 . Dieser Satz drückt die tiefe Intuition der Gerechtigkeit als Egalität der Freiheit aus. Wenn allerdings Ungleichheiten der Einkommen, Vermögen, Macht und Verantwortung dahin führen, daß jeder besser gestellt wird, sehen sich nach Rawls die Beteiligten im Urzustand vor die Frage der Zulässigkeit solcherart Ungleichheiten gestellt. Die rationale Rechtfertigung eines in dieser Weise wirksamen Unterschiedsgrundsatzes erfolgt durch die grundsätzlichen Vorteile für alle. Daher: (2) Der zweite Rawlssche Grundsatz formuliert ein Unterschiedsprinzip, welches eine bestimmte Ungleichheit als gerecht erkennt. Die Bestimmung der gerechten Ungleicheit erfolgt durch die Formulierung verschiedener Bedingungen; die Kernbedingung lautet wie folgt: „ soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen in ihren Auswirkungen den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen"**. Das Unterschiedsprinzip steht in der Rangordnung unter dem 1. Grundsatz der gleichen Freiheiten; es geht aber insoweit über den ersten Grundsatz hinaus, als er Ungleichheit und Gerechtigkeit zusammendenkt. Rawls entfaltet sein Gerechtigkeitskonzept für die Gestaltung der Grundstruktur einer humanen Gesellschaft, in welcher nach der Erwartung von Rawls jeder das Seine, „suum cuique44, zuerkannt erhält.

42 Rawls, 1975, S. 26/27. 43 Rawls, 1975, S. 336. 44 Ebd.

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1. Prolog und Exposition

Wenngleich Rawls seinen Grundsätzen eine ,Kantische Deutung4 gibt, sind die von ihm aufgestellten Grundsätze selber allemal nicht reine Vernunftnormen im Kantischen Sinne. Kant war der Kategorische Imperativ in seinen verschiedenen Formulierungen absolut,reines 4 Vernunftgesetz, und dieses wiederum unbedingtes »Faktum der reinen Vernunft 4 4 5 ; Rawls dagegen entwickelt die Grundsätze der Gerechtigkeit aus empirischen Tatsachen46 in Zusammenhang mit normativ gehaltvollen Prämissen und bietet dann — und insoweit wie Kant 4 7 — in einem theoretischen Gedankenexperiment rationale Gründe an, sich der Geltung der Grundsätze als konkrete Regeln einer Praxis zu unterwerfen. Die Rawlschen Grundsätze der Gerechtigkeit enthalten das Konzept einer Moral, deren Rationalität in folgendem Satz ausgedrückt werden kann: es ist vernünftig für einen Menschen mit Interessen und Gerechtigkeitssinn (und durch die Konstruktion des Urzustandes für alle Menschen), der sozialen Geltung der beiden Grundsätze zuzustimmen; denn die Grundsätze liegen als Regeln einer intersubjektiven Praxis im Interesse einer vernünftigen Kooperation. Rawls beansprucht, in seiner Theorie von 1971 / 1975 48 mit den beiden Gerechtigkeitsgrundsätzen kulturinvariante, immer geltende Prinzipien ausgearbeitet zu haben.49 Die Rawlssche Theorie der Gerechtigkeit versucht, die naturwüchsige Überzeugung des gemeinen Menschenverstandes, der Intuition des common sense, und den rationalen Kern des Naturrechts (jedes Mitglied der menschlichen Gesellschaft hat unveräußerliche Grundrechte (Grundfreiheiten), die kein Gegenstand politischer Verhandlungen oder sozialer, geschweige denn wirtschaftlicher Interessenabwägung sein können) zu rekonstruieren, indem diese Überzeugungen als Folgerungen aus Grundsätzen ausgewiesen werden, die in einem hypothetischen Urzustand gewählt werden würden. Diese Grundsätze sind „archimedischer Punkt44 (Rawls) gerechter gesellschaftlicher Organisation; insbesondere gegenüber dem im angelsächsischen Raum die Ethikdiskussion bestimmenden utilitaristischen Denken meint Rawls mit seinen Grundsätzen eine schlüssige Alternative 45 „Auch ist das moralische Gesetz gleichsam als ein Faktum der reinen Vernunft, dessen wir uns apriori bewußt sind und welches apodiktisch gewiß ist, gesetzt, daß man auch in der Erfahrung kein Beispiel, da es genau befolgt wäre, auftreiben konnte* [* Akad. Ausg.: »könnte4]." (Kant, »Kritik der reinen Vernunft 4 (im folgenden zitiert: „KdrV"), A81, Bd. VII, S. 161). 46 Empirische Tatsachen gehen in die Rawlschen Theorieprämissen ein; z. B.: die Menschen wollen lieber mehr als weniger Grundgüter haben (siehe im einzelnen Rawls, 1975, S. 166); oder: zu erwartende ökonomische Vorteile befördern die Leistungsbereitschaft (siehe im einzelnen Rawls, 1965 a, S. 211 und 1975, S. 32). Rawls selber kennzeichnet seinen Entwurf als „empirische Theorie"(Rawls, 1975, S. 289). 47 Vgl. Kant, GdMdS, Bd VIII, S. 18 ff. 48 Rawls veröffentlichte 1971 die Monographie ,A Theorie of Justice44; der deutschen Ausgabe „Eine Theorie der Gerechtigkeit" von 1975 liegt ein vom Autor anläßlich dieser Ausgabe revidierter Text zugrunde. 49 In späteren Arbeiten nach 1975 nimmt Rawls teilweise die sehr starken Thesen der Kulturinvarianz sowie der auch in zeitlicher Dimension bedingungslosen Geltung zurück.

1.2 Exposition

31

entgegenzusetzen. Im Gegensatz zu Rawls behauptet der Utilitarismus, die naturrechtlichen Vorstellungen seien abgeleitete Regeln; ihre Ableitung erfolge aus der Einsicht, daß der Gesellschaft großer Nutzen entstehe, wenn seine Regeln in der Gesellschaft befolgt würden; sie seien unter dem vorgängigen teleologischen Paradigma der Nützlichkeit (»utility') stehend disponible Regeln. Die »Gerechtigkeit als Fairness' dagegen sei — so Rawls — keine teleologische Theorie, sondern eine „definitionsgemäß deontische Theorie"; und das heißt: eine Theorie, „die entweder das Gute nicht unabhängig vom Rechten oder das Rechte nicht als Maximierung des Guten bestimmt". 50 Geleitet wird Rawls durch eine Vorstellung des „Rechten" als „ein System von Grundsätzen, die allgemein, uneingeschränkt anwendbar und öffentlich als letzte Instanz für die Regelung konkurrierender Ansprüche moralischer Subjekte anerkannt sind" 51 . Das Regelsystem einer humanen Gesellschaft läßt sich gemäß Rawls aus den zwei Grundsätzen der Gerechtigkeit deduzieren. Zweck der Grundsätze ist die individuelle Sicherung und gerechte Verteilung der Grundgüter 52, worunter Rawls insbesondere Freiheit, Chancen, Einkommen und Selbstachtung versteht als Voraussetzung, individuelle Lebenspläne entwickeln zu können. Die Gültigkeit der zwei fundamentalen Grundsätze der Gerechtigkeit gründet nach Rawls in einer rationalen Entscheidung in einem von Rawls sorgfältig konstruierten fiktiven »Urzustand'. Dabei wendet Rawls eine Methode an, die er mit dem Begriff »Überlegungsgleichgewicht' faßt. Im folgenden will ich die Rawlssche Theorie eingehend rekonstruieren. Dabei ergeben sich Fragen, die die zunächst darstellende Rekonstruktion in Kritik übergehen lassen. Diese Fragen lege ich vorgreifend offen: 1. Ist die Rawlssche Begründung der zwei Grundsätze der Gerechtigkeit gelungen? Diese Frage impliziert insbesondere folgende Einzelfragen: (a) Ist die Rawlsche Methode (Überlegungsgleichgewicht) überzeugend in Hinblick auf den Gültigkeitsausweis der Grundsätze? (b) Wie ist der fiktive ,Urzustand' als geltungslogischer Ort der Gerechtigkeitsgrundsätze zu beurteilen? Sind die Prämissen bei der Konstruktion des Urzustandes (Bedingungen des Urzustandes) die eigentlichen kriterologischen

so Rawls, 1975, S. 48 — siehe im einzelnen auch S. 486-492 »Einige Unterschiede zwischen dem Rechten und dem Guten*. si Rawls, 1975, S. 158. Die genannten Merkmale sind für Rawls auch die formalen Bedingungen zur Eignungsbeurteilung hypothetisch erwogener moralischer Grundsätze; (vgl. im einzelnen die Bedingungen und ihre Explikation , ebd. S. 154 ff.). 52 Grundgüter sind Dinge, von denen Rawls annimmt, „daß sie ein vernünftiger Mensch haben möchte, was auch immer er sonst haben möchte". (Rawls, 1975, S. 112) Betr. das Konzept der Grundgüter siehe unten Kapitel 4.152.

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1. Prolog und Exposition

Momente der Gerechtigkeit? Und wenn dies der Fall ist: wie und mit welchen Gründen wird in moralphilosophischer Perspektive die Geltung dieser Momente ausgewiesen? (c) Ist die Rawlssche Entscheidungsrationalität, mit der die Beteiligten im Urzustand die zwei Grundsätze der Gerechtigkeit wählen, mehr als eine reine Klugheitsregel strategischer Rationalität? Und wenn dies der Fall ist: hat Rawls ein solches ,Mehr 4 schlüssig expliziert? (d) Sind die eigentlichen ethischen Intentionen, soweit ihre Begründung angesprochen wird, in den Rawlsschen Intuitionen der ,Fairneß' und des Gerechtigkeitssinns' fundiert? Und wenn dieses der Fall ist: wie ist die Begründung ausgeführt, bzw. welchen Status hat sie geltungslogisch? Es wird sich erweisen, daß die theoretische Begründung der Gerechtigkeitsgrundsätze durch Rawls auf Argumenten basiert, die zeigen sollen, warum es rational ist, der intersubjektiven Praxis, die durch die Gerechtigkeitsgrundsätze definiert ist, zuzustimmen. Begründet werden nicht die Grundsätze, sondern die durch sie definierte Praxis. Meine Rekonstruktion und kritische Explikation des Rawlsschen Unterschiedsprinzips ergibt eine Unschärfe des Unterschiedsprinzips als Verteilungsprinzip; insofern wird Antwort auf folgende weitere Frage gesucht: 2. Bewirkt die Unschärfe des Unterschiedsprinzips in Hinblick auf wichtige Fragen der Gerechtigkeit (Wert der Freiheit, Verteilungsgerechtigkeit) eine Unterbestimmung, oder gar eine Inkonsistenz des Grundsatzes? Darf erwartet werden, daß die Konsequenzen des Unterschiedsprinzips hinsichtlich der Interessen der Betroffenen tatsächlich akzeptabel sind? Rekonstruktion und Kritik führen zu der Arbeitshypothese, daß sich die Defizite der Rawlsschen Tehorie diskursethisch beheben lassen. In der Diskursethik wie in der Konzeption von Rawls ist Prozeduralität ein bestimmendes Moment. Jedoch hat die Prozeduralität jeweils einen anderen normativen Bezugspunkt. Der normative Bezugspunkt bei Rawls ist der sorgfältig konstruierte »Urzustand4 — dessen ethische Geltung Rawls aber meines Erachtens letztlich nur postulieren kann. Hingegen: der normative Bezugspunkt der Diskursethik ist die Rekonstruktion der Präsuppositionen der Argumentation, die moralisch gehaltvoll sind. Jürgen Habermas versteht die Diskursethik als eine Fortsetzung des kommunikativen Handelns mit den Mitteln der rationalen Argumentation und versucht eine formalpragmatische Begründung. Karl-Otto Apel dagegen verankert die Diskursethik transzendentalpragmatisch. Die Diskursethik hat als reflektierte Form der Verhältnisse, in denen wir argumentierend immer schon stehen, folgende Pointe: in der Struktur rationaler Argumentierens sind jene Anerkennungsverhältnisse und Reziprozitäten enthal-

1.2 Exposition

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ten, „um die alle moralischen Ideen kreisen — im Alltag wie in den philosophischen Ethiken." 53 Wie Wahrheit von Sachverhalten wird auch normative Richtigkeit verstanden als ein diskursiv einlösbarer Geltungsanspruch. Dieser Ansatz ist meines Erachtens besonders fruchtbar für die Zustimmung oder Ablehnung von Gerechtigkeitsgrundsätzen und konkreten Gerechtigkeitsnormen, in denen es um die Regelung konkurrierender Interessen geht; denn konkrete Gerechtigkeitsnormen haben den Sinn, gesellschaftliche Materien, die durch konkurrierende Ansprüche gekennzeichnet sind, im wohlverstandenen gemeinsamen Interesse der möglicherweise Betroffenen zu regeln; und die Diskursethik kann Argumentationsregeln und Geltungskriterien angeben und begründen, wie die Regelung konkurrierender Interessen idealerweise zu geschehen hätte. Der reale Diskurs wird unter bestimmte kontrafaktisch gedachte und insofern ideale Bedingungen gestellt, damit er als Moralkriterium dienen kann. Der reale Diskurs als argumentatives, konsensorientiertes Miteinanderreden und Überlegen durch das Erheben und wechselseitige Kritisieren von Behauptungen mit Geltungsansprüchen impliziert einen idealen dialogischen Anspruch: man beansprucht, die Behauptungen virtuell gegenüber jedem rationalen Diskursteilnehmer verteidigen und die Wahrheit und die Richtigkeit der Behauptungen bzw. die behaupteten moralischen Grundsätze und Normen beweisen zu können. Ein so verstandener Diskurs hat Strukturmerkmale von normativer Bedeutung, die als letztes Moralkriterium expliziert werden können. Angesetzt wird einerseits bei dem im faktischen Diskurs stattfindenden Argumentieren und andererseits bei dem, was logisch vorausgesetzt werden muß, wenn gehaltvoll argumentiert wird. Ein reflektierender Rückgang auf die zum aktuellen Argumentieren immer schon gehörenden Präsuppositionen führt zu einer Vergewisserung, die nicht in distanzierter theoretischer Einstellung, sondern als Selbstvergewisserung in strikter transzendentalpragmatischer Reflexion geschieht. Die Transzendentalpragmatik fragt in reflexiver Weise nach den notwendigen Bedingungen für das Gelingen menschlicher Rede als vernünftigem argumentativen Diskurs. Diese Bedingungen sind zugleich die Normen rationalen Argumentierens; sie müssen als normativ gehaltvolle Präsuppositionen unterstellt werden, wenn im argumentativen Diskurs Geltungsansprüche erhoben werden. Bezugspunkt der Geltungsansprüche ist die ideale unbegrenzte Kommunikationsgemeinschaft (Apel). Die transzendentalpragmatische Reflexion versucht damit letztgültige rationale Maßstäbe für intersubjektive Gültigkeit aufzuweisen. Die transzendentalpragmatische reflexive Selbsteinbindung bildet die schlechthin unhintergehbare, sichere Basis philosophischen Argumentierens, die nicht ohne 53

Habermas, 1983, S. 151. Die Konzeption des praktischen Diskurses als eines metapraktischen Verfahrens der Problematisierung und Generierung von Normen praktischen und politischen Verhaltens ist nicht unbestritten — für die Besprechung einiger typischer kritischer Argumente siehe Kapitel 7.2. 3 Bausch

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1. Prolog und Exposition

Selbstwiderspruch bestreitbar ist; sie bildet das Fundament des normativen Gehalts der Diskursethik: reziproke Anerkennung und Verpflichtung argumentativer Konsensbildung. Die in einer kritischen Rekonstruktion der Rawlsschen Theorie sich ergebenden Begründungsdefizite will ich beheben durch eine geltungslogische Fundierung der Rawlsschen Position mit Hilfe des transzendentalpragmatischen Ansatzes. Dieses Vorhaben wird in zwei »Aufhebungsthesen 4 durchgeführt, wobei Aufhebung' im hegelschen Sinne als der Dreischritt des tollere, conservare und elevare verstanden ist: die Rawlsschen Gerechtigkeitsintuitionen werden sowohl ersetzt, wie auch in einer reorganisierten und differenzierten Form bewahrt. 1. In einer ersten These behaupte ich, daß der kontraktualistische Ansatz von Rawls mit dem fiktiven Urzustand als logischem Ort der Generierung und Begründung der Gerechtigkeitsgrundsätze in den transzendentalpragmatisch reflexiv vergewisserbaren Antizipationszustand 54 einer idealen Kommunikations gemeinschaft in die realen Kommunikationsgemeinschaft aufgehoben werden kann und sollte. Ich schlage ein diskursives Normenprüfungsverfahren vor, durch welches die konkreten Normen (und hierunter sind auch die inhaltsbestimmten Rawlsschen zwei Grundsätze der Gerechtigkeit zu zählen) auf ihre Berechtigung und Gültigkeit hin geprüft werden. Gültig (legitimiert) sind danach diejenigen Normen, die die Zustimmung aller von ihnen faktisch oder virtuell Betroffenen finden (oder wenigstens finden könnten, soferne sich diese strikt rational verhalten). Idealer Bezugspunkt dieses konsensorientierten Prüfungsverfahrens ist eine kontrafaktisch antizipierte, unbegrenzte Kommunikationsgemeinschaft. Dieser Bezugspunkt wird als unhintergehbar ausgewiesen werden. Er soll die regulative Funktion des voraussetzungsreichen theoretischen und hypothetischen Rawlsschen Urzustandes ersetzen. Ich behaupte, daß die Diskursethik mit weniger theoretischem Aufwand stichhaltigere Begründungen geben kann und insoferne zu konsistenteren Ergebnissen kommt als Rawls. 2. In einer zweiten These wird die Rawlssche Intuition der Gegenseitigkeit, d. h. der reziproken Verpflichtung und Anerkennung (die Rawls in den von ihm 54 Der Begriff Antizipation ist m. W. von Habermas in die Diskursethik eingeführt worden (Vgl. Habermas, 1972, S. 180). Der Begriff Antizipation ist mehrdeutig (siehe im einzelnen Weinert in „Historisches Wörterbuch der Philosphie", Ritter (Hrsg.), Bd. 1, S. 419-425). In dem transzendentalpragmatisch verankerten Ansatz der Diskursethik bedeutet die »Antizipation der idealen Kommunikationsgemeinschaft 4 die bewußte kontrafaktische gedankenexperimentelle Vorwegnahme eines idealen Bezugszieles. Die Vorwegnahme ist nicht in der Zeitdimension zu denken — vielmehr in logischer Dimension als der Bezug auf die Gemeinschaft aller vernunftfähigen Wesen zu begreifen; dieses »logische Wir 4 bildet als regulative Idee die ideale (also niemals völlig realisierbare) unentbehrliche Bezugsinstanz bei der argumentativen Erhebung von Geltungsansprüchen, wenn rationales Verhalten beansprucht wird. Karl-Otto Apel spricht insoferne von einer „Notwendigkeit der kontrafaktischen Antizipation idealer Bedingungen der Konsensbildung44 (Apel, 1988, S. 53).

1.2 Exposition

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in der Theorie vorausgesetzten Gerechtigkeitssinn und des daraus resultierenden Fairneßgrundsatz als »natürliche Pflicht 4 faßt) in Sinne des transzendentalen sinnkritischen Ansatzes interpretiert und begründet. In der zweiten These behaupte ich, daß die Reflexion auf die in der rationalen Argumentation gemachten Präsuppositionen zur Vergewisserung reziproker Verpflichtungs- und Anerkennungsverhältnisse führt. Diese Präsuppositionen sind transzendentalpragmatisches Fundament des dialogischen Prinzips, unter welchem wir denkend und argumentierend immer schon stehen. Gerechtigkeitssinn wird expliziert als die bewußte gegenseitige Verpflichtung, als Disposition zu konsensual- kommunikativer Konfliktlösung und entsprechendem Handeln. Die Ausarbeitung dieser These wird eine geltungslogische Verankerung der von Rawls vorausgesetzten Theoriebedingung „Gerechtigkeitssinn" ermöglichen; die These ergänzt insofern die Rawlsche Theorie im Sinne einer rational einsehbaren Begründung. 3. Schießlich entwickle ich die dritte These einer im obigen Sinne verbesserten Reformulierbarkeit des Rawlsschen Unterschiedsprinzips. Die kritische Untersuchung des Rawlsschen Unterschiedsprinzips, welches wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten bei Beachtung der Chancengleichheit und Offenheit der Positionen in der Gesellschaft an den größtmöglichen Vorteil für die am wenigsten begünstigte Gruppe bindet, wird zu dem Ergebnis führen, daß das Unterschiedsprinzip als Verteilungsnorm unscharf ist. Mit dem diskursethischen Ansatz erfährt das Rawlsche Unterschiedsprinzip (der zweite Gerechtigkeitsgrundsatz) eine Präzisierung im Sinne einer orientierenden Norm, deren inhaltliche Bestimmungen sich allerdings erst in praktischen Diskursen bewähren müssen, in denen die je speziellen Situationen der Betroffenen immer wieder thematisierbar werden. Im Ergebnis werde ich als dritte These die Behauptung aufstellen und begründen, daß soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten (bei Beachtung der Chancengleichheit und der Offenheit der gesellschaftlichen Positionen) unter folgender in Diskursen zwischen den Betroffenen zu überprüfenden Bedingung stehen: die Folgen und Nebenwirkungen der Ungleichheiten sollten für alle Betroffenen mit Vorteilen verbunden sein, die — bei Beachtung des diskursiv solidarisch einzulösenden Kriteriums der Angemessenheit der Vorteilsverteilung — von allen (inklusive zukünftig Betroffener) allein aus Gründen zwanglos akzeptiert werden können. Bei der Explikation des reformulierten Unterschiedsprinzips wird nach der Intention dieser Arbeit letztlich abgehoben nicht auf das materiale Ordnungsprinzip der allseitigen Vorteilsauswirkung, sondern auf den deontologischen und methodischen Primat des verbindlichen diskursethischen Legitimationskriteriums der argumentativen Konsensfähigkeit der je bewirkten Vorteilsperspektive.

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2. Gesellschaftsvertrag und das Ideal der wohlgeordneten Gesellschaft Für die Entfaltung seiner Theorie wählt Rawls das Modell des Gesellschaftsvertrages. Das Gesellschaftsvertragsmodell zur Klärung der Frage nach der Entstehung legitimer Macht und gerechter Organisation der Gesellschaft hat Tradition. Die Grundidee war zunächst folgende: der Rechtfertigung von Rechten und Pflichten durch vertragliche Abrede liegt die Annahme zugrunde, daß die freie und rationale vertragliche Übereinkunft die individuellen wohlerwogenen Interessen der beteiligten Menschen wahrt. So auch Rawls: „Die Menschen sollen im voraus entscheiden, wie sie ihre Ansprüche gegeneinander regeln wollen und wie die Gründungsurkunde ihrer Gesellschaft aussehen soll" 1 . Der Leitgedanke von Rawls ist, die ursprüngliche Übereinkunft beziehe sich auf Gerechtigkeitsgrundsätze für die gesellschaftliche Grundstruktur und die Gerechtigkeitsgrundsätze bezögen sich wiederum auf konkurrierende Ansprüche der Verteilung; ferner seien die Grundsätze solche, die freie, vernünftige Menschen im eigenen Interesse in einer anfänglichen Situation der Gleichheit zur Bestimmung der Grundstruktur ihrer gesellschaftlichen Verbindung annehmen würden. 2 Die Idee des Gesellschaftsvertrages und der durch diesen Vertrag begründeten Legitimation sozialer Institutionen ist jedoch zunächst folgendem Einwand ausgesetzt: David Hume 3 wies in seiner Abhandlung ,Über den ursprünglichen Vertrag' schon daraufhin, daß ein »original contract' als ein freier Sozialkontrakt vereinzelter Individuen aller historischer Erfahrung widerspreche und gänzlich unrealistisch sei; die Individuen seien vielmehr schon immer ihrer Natur entsprechend in eine soziale Gemeinschaft eingebunden. Auf das richtige Argument von Hume wurde von den Gesellschaftsvertragstheoretikern in der Weise reagiert, daß der Gesellschaftsvertrag meist nicht mehr als ein real möglicher (wie allerdings wohl auch noch von J. J. Rousseau unterstellt 4) oder gar als historisch wirklicher ι Rawls, 1975, S. 28. 2 Vgl. Rawls, 1975, S. 33 und 37. 3 Siehe im einzelnen Hume, 1748, S. 301-325. 4 Rousseau erkannte die in der Realität vorliegende Ungleichheit, die einer freien gleichberechtigten Entfaltung der Idividuen entgegensteht („Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten" — so beginnt Rousseau das 1. Kapitel seines berühmten »Contract Social4 (1762)). Er kam in seiner Untersuchung der,principes du droit politique4 zu dem Ergebnis, daß die Bedingung der Gleichheit der Interessen erst realiter hergestellt werden müsse, um dann durch einen einmütigen ,contract social' eine gerechte Gesellschaft gründen zu können (siehe im einzelnen Rousseau, 1762, S. 17); die Bedingung

2. Gesellschaftsvertrag und Ideal der wohlgeordneten Gesellschaft

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(wie von dem Spätscholastiker F. Suarez angenommen5) vorgestellt wurde; die Theorie des Sozialkontraktes wurde vielmehr als hypothetische Konstruktion konzipiert, die Legitimationskriterien für die Beurteilung faktischer gesellschaftlicher Situationen bereitstellt. So vertritt Rawls auch keinen Konventionalismus; er versucht vielmehr, die Gültigkeit der Grundsätze theoretisch zu sichern, indem er die gesellschaftsvertragliche Entscheidung in die hypothetische Situation der Freiheit und Gleichheit eines fiktiven Urzustandes verlegt. Rawls behauptet, auf diese Weise die „herkömmliche Theorie des Gesellschaftsvertrages von Locke, Rousseau und Kant zu verallgemeinern und auf eine höhere Abstraktionsstufe zu heben"6. Der Gesellschaftsvertrag wird von Rawls vorgestellt als das „Grundgesetz einer wohlgeordneten Gesellschaft" 7. Dieses Grundgesetz benennt die Gerechtigkeitsgrundsätze als Strukturprinzipien einer wohlgeordneten Gesellschaft. „Es sind diejenigen Grundsätze, die freie und vernünftige Menschen in ihrem eigenen Interesse in einer anfänglichen Situation der Gleichheit zur Bestimmung der Grundverhältnisse ihrer Verbindung annehmen würden"8. Der Rawlssche Gesellschaftsvertrag ist eine hypothetische Konstruktion eines fiktiven Urzustandes, die im kantischen Sinne als regulative Idee interpretiert

der Gleichheit der Interessen soll — nach der Vorstellung von Rousseau — durch Entäußerung partikularen Besitzes und der auf partikulare Vorteile zugeschnittenen Rechte erfüllt werden; sodann wird ein Gesellschaftsvertrag möglich sein, der nach den emphatischen Worten von Rousseau die Realisation des »volonté général4 praktisch ermöglicht: „Gemeinsam stellen wir alle, jeder von uns seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Richtschnur des Gemeinwillens; und wir nehmen, als Körper, jedes Glied als untrennbaren Teil des Ganzen auf." (ebd., S. 18). 5 Bei F. Suarez erscheint wohl erstmalig das die Vertragskonzepte kennzeichnende Merkmal des Naturzustandes, aus dessen für die menschliche Existenz armseliger Verfassung der Ausweg nur über einen Gesellschaftsvertrag führt: die vereinzelten Individuen schlossen sich vertraglich zu einem Gemeinwesen zusammen. 6 Rawls, 1975, S. 12, auch S. 27. Nicht von ungefähr bezieht sich Rawls m. E. in seiner Anknüpfung an die gesellschaftsvertragliche Konzepte nicht auf das prominente Hobbessche Gesellschaftsvertragsmodell. Wenngleich auch Hobbes das Motiv, einem Gesellschaftsvertrag zuzustimmen, in den langfristigen, wohlerwogenen Selbstinteressen aller Individuen sieht (und hier treffen sich m. E. Hobbes und Rawls), ist der anarchische Naturzustand für Hobbes ein bedrohlicher und fataler Zustand, der das Leben der Individuen „einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz" werden läßt (Hobbes, 1651, S. 96). Nur die strategische Zweckrationalität (Zweck: nicht der ständigen Furcht vor einem gewaltsamen Tod ausgeliefert zu sein), führt die Individuen zu der Einsicht, den Frieden zu suchen und sich den Regeln des Gesellschaftsvertrages zu unterwerfen. Dem Hobbesschen Modell fehlen die den Rawlsschen Ansatz auszeichnenden universalistischen, deontologischen Perspektiven; der Rawlssche Ansatz ist gekennzeichnt von der Intuition der wechselseitigen Anerkennung als freie und gleiche Personen (siehe im einzelnen vor allem Rawls, 1975, §40 ,Die Kantische Deutung der Gerechtigkeit als Fairneß'). Hobbes kennt keine normativen Idealisierungen. 7 Vgl. ebd., S. 21. 8 Ebd., S. 28. Diese Textstelle markiert den intentionalen Punkt, der Rawls mit Kant und in einer weiten Interpretation auch mit der Diskursethik verbindet.

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2. Gesellschaftsvertrag und Ideal der wohlgeordneten Gesellschaft

werden kann. 9 Rawls knüpft an Kant an, der in der Schrift ,Über den Gemeinspruch' schreibt:. „Allein dieser Vertrag (contractus originarius oder pactus sociale genannt) als Koalition jedes besonderen und Privatwillens in einem Volk zu einem gemeinschaftlichen und öffentlichen Willen (zu Behuf einer bloß rechtlichen Gesetzgebung), ist keineswegs als ein Faktum vorauszusetzen nötig (je als solches gar nicht möglich); [...]. Sondern es ist die bloße Idee der Vernunft, die aber ihre unbezweifelte (praktische) Realität hat: nämlich jeden Gesetzgeber zu verbinden, daß er seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volkes haben entspringen können, und jedem Untertan, sofern er Bürger sein will, so anzusehen, als ob er zu einem solchen Willen mit zugestimmt habe. Denn das ist der Probierstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes"10. Dem »Probierstein' gibt Rawls theoretisch mit den im hypothetischen Urzustand entschiedenen zwei Grundsätzen der Gerechtigkeit eine konkrete Fassung. Im Interesse eines Gesellschaftsvertrages zur Bestimmung der Gerechtigkeitsgrundsätze nimmt Rawls in seiner theoretischen Konstruktion des Urzustandes den Gedanken von Rousseau auf: Rousseau sucht einen allgemeinen Konsens über die gesellschaftlichen Grundregeln dadurch herbeizuführen, daß sich jeder seines partikularen Selbstinteresses soweit entäußert, daß es mit dem Selbstinteresse eines jeden anderen zusammenfällt; der Ausschluß partikularer Interessen garantiere einen Zustand so weitgehender Gleichheit aller Beteiligten, daß sich die vertragschließenden Parteien nur vom allgemeinen Interesse leiten lassen; so werde es möglich, daß sich in dem »contract social' der einzelne Wille mit dem »allgemeinen Willen' (volonté général) in Übereinstimmung gebracht sieht. Während Rousseau allerdings die Annahme eines gleichen gesellschaftlichen Ausgangspunktes der Vertragsparteien real einlösbar dachte, entwirft Rawls einen fiktiven, hypothetischen Urzustand, in welchem aber durchaus, wie bei Rousseau und anders wie bei Kant 1 1 , empirische menschliche Interessen und Zwecke Berücksichtigung finden.

9 So auch Koller, 1984, S. 245. 10 Kant ,Über den Gemeinspruch [...]' (im folgenden zitiert: übdGemspr.), A 250, Bd. XI, S. 153. 11 Zwar schreibt Kant: „Glücklich zu sein, ist notwendig das Verlangen jedes vernünftigen aber endlichen Wesens [...]" (Kant,,Kritik der praktischen Vernunft', im folgenden zitiert: KdprV) A45, BD. VII, S. 133); worin aber jeder seine „Glückseligkeit" setzt, hat nur subjektive und empirische Bestimmungsgründe. Für Kant sind empirische Interessen (Giickseligkeit) des einzelnen Menschen als gesellschaftsvertraglicher Zweck gä lich unerheblich. „In Ansehung der ersteren (der Glückseligkeit) kann gar kein allgemein gültiger Grundsatz für Gesetze gegeben werden. Denn, so wohl die Zeitumstände, als auch der sehr einander widerstreitende und dabei immer veränderliche Wahn, worin jemand seine Glückseligkeit setzt (worin er sie aber setzen soll, kann niemand ihm vorschreiben), macht alle feste Grundsätze unmöglich, und zum Prinzip der Gesetzgebung für sich allein untauglich." (Kant, übdGemspr., S. 154). Kritik gegen Kant: die durch menschliches Zusammenleben sich ergebenden Probleme werden nicht durch rigorose Ausklammerung der Interessen gelöst; vielmehr ist das Zusammenstimmen der empirischen Interessen zu organisieren und d. h. in Ansehung der menschliche Interessenlage die Bedingung der Möglichkeit eines Konsenses der Betroffenen in Hinblick auf ihre

2. Gesellschaftsvertrag und Ideal der wohlgeordneten Gesellschaft

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Den im hypothetischen Urzustand entschiedenen und damit gesellschaftsvertraglich legitimierten Gerechtigkeitsgrundsätzen sind dann alle folgenden Vereinbarungen, Gesetze und gesellschaftliche Normen anzupassen. Rawls teilt seine Untersuchung in einen »idealen Teil· der Theorie der Gerechtigkeit und in einen,nichtidealen Teil'. In dem,idealen Teil· wird die vollkommen gerechte Gesellschaft entworfen. Der »nichtideale Teil· berücksichtigt natürliche Beschränkungen und geschichtliche Bedingtheiten und thematisiert die Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit in — verglichen mit der wohlgeordneten Gesellschaft — weniger günstigen Verhältnissen; hier werden Prinzipien zur Bewältigung der unvollständigen Konformität von gesellschaftlichen Verhältnissen und den Grundsätzen der Gerechtigkeit skizziert. 12 Der ,ideale Teil 4 ist von Rawls detailliert ausgearbeitet; in ihm werden die Grundsätze der Gerechtigkeit entworfen und es wird vollständige Konformität der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Grundsätze vorausgesetzt. Das Ergebnis ist eine vollständig gerechte Gesellschaft, die Rawls ,wohlgeordnete Gesellschaft' nennt. Das Ideal der wohlgeordneten Gesellschaft ist ein auf Dauer gestelltes stabiles System gesellschaftlicher Kooperation mit umfassender Öffentlichkeit, Anwendung der Grundsätze der Gerechtigkeit, Bürgern als freie und gleiche moralische Subjekte. Es ist eine Gesellschaft, in der sich die soziale Natur des Menschen in der bestimmten Weise der Gerechtigkeitsgrundsätze Ausdruck verleiht. Das Ideal der vollkommen gerechten Verhältnisse der wohlgeordneten Gesellschaft (Konformität mit den Gerechtigkeitsgrundsätzen) liefert eine „Zielvorstellung für gesellschaftliche Reformen." 13 In einem schönen Bild vergleicht Rawls die wohlgeordnete Gesellschaft als eine kooperative Menschengemeinschaft, deren Mitglieder sich gegenseitig wie Musiker in einem Orchester zusammenfinden und sich nach Art einer stillschweigenden Übereinkunft nur der Vervollkommnung auf dem einen gewählten Instrument widmen, um dann im Zusammenspiel des Orchesters die Fähigkeit aller zum Ausdruck zu bringen. 14 Die wohlgeordnete Gesellschaft im Sinne der Gerechtigkeit als Fairneß ist eine besondere Form der sozialen Gemeinschaft, in der sich das individuelle und private Leben jedes Einzelnen innerhalb des institutionellen Rahmens der Gesellschaft zur vollen Entfaltung entwickeln kann. Mit einer hegelschen Denkfigur gesagt: Einheit in der Differenz. legitimen Interessen zu reflektieren. Koller weist darauf hin, daß es nicht einleuchte, warum man sich mit Kant den Gesellschaftsvertrag nur als eine Übereinkunft mit dem Ziel der verallgemeinerungsfähigen Einschränkung der angeborenen Freiheit aller Menschen denken sollte,,»nicht aber auch als eine Übereinkunft zum Zwecke der verallgemeinerungsfähigen Begrenzung der gegensätzlichen Interessen und empirischen Zwecken der Menschen."(Koller, 1984, S. 267). 12 Vgl. im einzelnen Rawls, 1975, S. 277 ff. 13 Rawls, 1975, S. 277. 14 Vgl. im einzelnen Rawls, 1975, S. 569 Fußnote, sowie Rawls 1982 S. 35 f.

3. Rawls Gerechtigkeitstheorie im Kontext moderner Ethik und Politik: Utilitarismus, Liberalismus, Vernunftethik Der Rawlsschen Theorie der Gerechtigkeit scheinen in den verschiedenen Abschnitten oft unterschiedliche Ethikkonzepte zugrundezuliegen; es ist nicht einfach, in dem sehr umfangreichen und vielschichtigen Werk immer die entscheidenden Konzeptgrundlagen im Blick zu behalten und jeweils in der richtigen Perspektive zu erfassen. Wir finden bei Rawls utilitaristische Nützlichkeitsparadigmen, individualistisch liberalistische Ansätze, sowie der Intention nach Vernunftprinzipien. Es ist daher nützlich, vor der systematischen Problembearbeitung eine Einordnung der Rawlsschen Gerechtigkeitstheorie in die verschiedenen Ethikkonzepte zu versuchen, die für Rawls relevant sind. Ich werde dabei die Konzepte des Utilitarismus und des Liberalismus in einer auch historisch orientierten Skizzierung darstellen. Ein Anschließen an die Theoriegeschichte ist gleichzeitig eine Art Test der Rawlsschen Intentionen, die auf diese Weise Erklärungen finden und gleichzeitig die Grundprobleme deutlicher in den Blick bringen.

3.1 Utilitarismus Der Utilitarismus geht von der Vorstellung maximalen Sozialnutzens und der wichtigen reformatorischen Einsicht aus, daß Wohlfahrt (verstanden als maximaler Sozialnutzen) sich nicht von allein einstellt, sondern u. a. durch Politik geschaffen werden muß. Er formuliert Imperative für die Gestaltung der gesellschaftlichen Wirklichkeit unter dem Gesichtspunkt des größten Nutzens für die größte Zahl und säkularisiert dadurch die metaphysische Fiktion einer prästabilisierten Harmonie (Leibniz) und die Fiktion des Ausgleichs der Interessen durch eine „invisible hand" (Adam Smith). Jeremy Bentham — ein ausgesprochener Anhänger der Smithschen Wirtschaftstheorie — veröffentlichte seinen radikalen Entwurf des utilitaristischen Prinzips 1 etwa zur gleichen Zeit (1789) wie Kant seine Kritik der praktischen 1 Der Utilitarismus wurde von Bentham in seiner wirkungsreichen ,Einführung in die Prinzipien von Moral und Gesetzgebung4 1879 systematisch dargestellt. Bentham geht aus von der antropologischen Annahme, der Mensch stehe unter den Gewalten von ,pleasure and pain', die als Triebpotential das Handeln der Menschen in Form eines »hedonic calculus' bestimmen. Moralisch geboten sind nun solche Handlungen, die das

3.1 Utilitarismus

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Vernunft (1778). Für die Ökonomie und deren die Lebenswelt kolonisierende Kraft sind die utilitaristischen Ansätze Benthams und nicht die Vernunftideen Kants bestimmend geworden. Zweckrationalität wurde in der lebensweltlichen ökonomischen und oft auch politischen Praxis dominant über die Prinzipien universaler Vernunft. Die Zweckrationalität entsprach den Legitimationsbedürfnissen des aufkommenden Marktliberalismus. Benthams Paradigma der Orientierung am Nutzen wurde bestimmend für weite Teile der gesellschaftlichen Entwicklung und der wirtschaftswissenschaftlichen Theorie und Praxis bis zum Ordoliberalismus 2 nach dem zweiten Weltkrieg. Erst in neuerer Zeit wird mit der modernen Verfassungswirklichkeit der seit der französischen Revolution und der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung postulierte Grundsatz der Unverletzlichkeit der Menschenwürde und der unveräußerlichen Menschenrechte zunehmend zum politischen Orientierungsgrundsatz staatlicher und zwischenstaatlicher Institutionen; womit auch Kantisches Gedankengut zur tragenden politischen Wertvorstellung der westlichen und neuerlich auch der östlichen Welt geworden wäre. Die reformkräftige Wirkung der utilitaristischen Ethik in ihrer ersten Fassung durch Bentham zeigt sich in der Offenheit des utilitaristischen Konzepts für die Verschiedenheit der Bedürfnisse; ein vergleichbares Anliegen hat Rawls, wenn er von den individuellen Interessen und Lebensplänen, die er durch seine Gerechtigkeitsgrundsätze sichern will, spricht. Die praktischen Schwierigkeiten der Benthamschen Glückskalkulation liegen jedoch auf der Hand: die Bedürfnisse und Interessen der Betroffenen müssen bekannt und meßbar sein, ebenfalls das Leid. Zudem wird jedes Interesse ohne eine qualitative, geschweige denn moralische Bewertung zugelassen, sofern es nur Glück (,pleasure') bringt. Vor allem aber: die utilitaristische Ethik vermag wegen des hypothetischen Charakters ihrer Imperative keine Moralfragen der Menschen im Verhältnis zu sich selbst mit Anspruch auf Gültigkeit zu bearbeiten. Die kritische Fortentwicklung des Utilitarismus durch John Stuart M i l l 3 führt zu Differenzierungen, die den globalen ,hedonic calculus' von Bentham aufzuheben versuchen. größte Glück der größten Zahl befördern. Dieses Gebot operationalisiert Bentham in simpler Weise: man messe und addiere jede erkennbare Freude (pleasure) und jedes erkennbare Leid (pain) eines Menschen, addiere alle Freuden auf der einen Seite und alle Leiden auf der anderen, saldiere, multipliziere mit der Zahl der betroffenen Menschen und maximiere diesen Ausdruck. (Siehe im einzelnen Bentham, J., 1789, insbesondere S. 36-52). 2 Der Ordoliberalismus (Eucken, Böhm bis Ludwig Ehrhard) entwirft eine neoliberale Wirtschaftsordnung mit freien Märkten und der Idee nach vollkommener Konkurrenz; der Staat in der ordoliberalen Konzeption sichert den Wettbewerb und die am sozialen Nutzen orientierte Wohlfahrt durch entsprechende Gesellschafts- und Geldpolitik. 3 Vgl. Mill, 1863; J. St. Mill übt in seinem schönen Essay ,Utilitarism' Bedürfniskritik: für J. St. Mill ist der Mensch kein Wesen unreflektierter, gegebener Triebe. Der Intention nach wünscht J. St. Mill, daß nach differenzierteren Kriterien des menschlichen Glücks

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3. Rawls Gerechtigkeitstheorie im Kontext m o d e e r Ethik und Politik

Kennzeichnendes Merkmal auch des Millschen Utilitarismus bleibt aber die Orientierung an der Glücksmaximierung: »moralisch' gut ist eine Handlung, sofern sie das aufgeklärte Glück aller Betroffenen fördert. Henry Sidgewick gab dem Utilitarismus mit seinem Hauptwerk Die Methoden der Ethik (1875) eine ausgereiftere Fassung. Der Ansatz von Sidgewick ist gekennzeichnet einerseits durch die Prämisse, daß jeder Mensch sein partikulares, individuelles Glück sucht (Prinzip des rationalen Selbstinteresses), andererseits durch die Vorstellung einer verpflichtenden Norm, das allgemeine Glück zu fördern (utilitaristisches Prinzip). Diese beiden Gegensätze sieht Sidgewick allerdings in dem Umstand aufgehoben, daß angesichts der göttlichen, strafenden Gerechtigkeit das rationale Selbstinteresse das individuelle Handeln in die Richtung des utilitaristischen Prinzips leitet. Göttliche Autorität in Verbindung mit rationalem Egoismus ist somit zum Bestimmungsgrund menschlichen Handelns gesetzt. Das Ergebnis ist eine utilitaristische ,Gerechtigkeit 4, deren Maßstab das allgemeine Wohlergehen ist. Jene Handlung ist richtig, deren Folgen ein Höchstmaß an allgemeinem Wohlergehen bewirken. Dieses auf »Utility4 zentrierte Konzept ändert sich in seiner Grundintention auch nicht in der Weiterentwicklung des Handlungsutilitarismus zum Regelutilitarismus. Dieser versucht, den offensichtlichen operationalen Schwierigkeiten und prinzipiellen Einwänden4 gegen den Handlungsutilitarismus teilweise dadurch zu begegnen, daß er das utilitaristische Prinzip nicht auf die einzelnen Handlungen bezieht, sondern das Prinzip auf Handlungsnormen anwendet. Eine Handlung ist dann moralisch geboten, wenn sie mit solchen Regeln (Normen) übereinstimmt, die ein Höchstmaß an Wohlergehen befördern. In der ,Regel4 drückt sich eine Verallgemeinerung aus: durch die Verallgemeinerung wird das

das Maß an Lust und Unlust entschieden werde. Die Kriterien heben darauf ab, welche „Arten der Freude wünschenswerter und wertvoller" (Mill, S. 61) sind als andere, dabei soll aber völlig unbeachtlich sein, ob eine Freude als „moralischen Gründen" vorzuziehen sei. J. St. Mill versucht, einen aufgeklärten Hedonismus zu entfalten; der intentionalen Idee nach soll eine qualitative Unterscheidung der naturgegebenen Bedürfnisse erfolgen; erforderlich sei dafür eine Aufklärung durch Erziehung, die die sozialen Neigungen des Menschen zu verstärken habe. Der berühmte polemische Satz von Mill — „Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedengestelltes Schwein"(ebd. S. 62) — kann als Programmanzeige dienen: nicht tierische, blanke Zufriedenheit, nicht ein unreflektiertes Wohlgefühl ist das Glücksziel des aufgeklärten Utilitaristen. Menschliches Glück wird vielmehr gewonnen durch die bewußte Entfaltung „höherer Fähigkeiten" (ebd.). 4 Die Schwierigkeiten und Einwände sind im wesentlichen: (1) Wie soll geklärt werden, ob eine einzelne Handlung »nützlich ist4? — Problem des Rückgangs auf ein weiteres Prinzip. (2) Wie ist »Nutzen4 zu bestimmen? — Problem des ,hedonic-calculus4. (3) Welches wäre das Maß des ,Nutzens4? — Problem der interpersonalen kardinalen Nutzenmessung. (4) Dem Utilitarismus gelingt es nicht, die Rechtfertigung des eigenen Prinzips auszuweisen, da er den geltungslogischen Ausweis des Nützlichkeitsparadigmas schuldig bleibt.

3.1 Utilitarismus

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betrachtet, was geschehen würde, wenn alle so handelten. Telos der Verallgemeinerung ist das allgemeine Wohlergehen. Wichtige Weiterung des Regelutilitarismus ist also, daß nicht eine direkte Nützlichkeitsprüfung der Handlung durch einen ,hedonic calculus4 erfolgt, sondern daß die Prüfung über eine ,Regel4 läuft und sich in der Regel eine verallgemeinerte, auf das allgemeine Wohl gerichtete Handlungsnorm ausdrückt. Die Verallgemeinerungen finden teleologisch aufgrund der empirischen Kenntnisse über die zu erwartenden Wohlfahrtsauswirkungen der Regel nach dem Nutzenkalkül statt — und nicht nach metaphysisch- moralischen Sollens-Verpflichtungen. Die utilitaristische Rationalität nimmt mit dem Regelutilitarismus eine zweistufige Form an: (1) Das Utilitarismus-Prinzip der Wohlstandsmaximierung gilt als oberstes Prinzip. (2) Das Utilitarismus-Prinzip (1) wird auf eine Regel bezogen und diese Regel daraufhin untersucht, ob die regelgerechten Handlungen den Wohlstand fördern; in diesem Fall gilt die Regel als begründet ausgewiesen. Rawls Theorie der Gerechtigkeit will „eine Alternative zum utilitaristischen Denken im allgemeinen und damit zu all seinen Schattierungen44 darstellen 5. Sein Argument: der Utilitarismus fordert Maximierung des kollektiven Wohls, verstanden als summarische Größe. Dieses Telos wird als das konkret Gute gesetzt und dann das Rechte als das definiert, was das Gute maximiert. Das einzelne Individuum ist mit seinen Glücksansprüchen dem kollektiven summarischen Wohl untergeordnet. „Der Utilitarismus nimmt die Verschiedenheit der einzelnen Menschen nicht ernst. 446 Das einzelne Individuum wird durch den Utilitarismus zum Mittel der allgemeinen Wohlfahrtsmaximierung degradiert und politische Ethik, die sich mit Gerechtigkeitsfragen befaßt, auf kollektive summarische Wohlfahrt reduziert. Anders die Gerechtigkeit als Fairneß: nach dieser Gerechtigkeitsvorstellung ist der Begriff des Rechten dem des kollektiv Guten vorgeordnet. 7 Es wäre eine Fehldeutung der Rawlsschen Intentionen, wollte man die Rawlsschen Grundsätze der Gerechtigkeit als Fairneß im Sinne von besonders detailliert ausgearbeiteten Regeln des Utilitarismus lesen, die die gesellschaftlich sanktionierten Wohlfahrtswirkungen des Unterschiedsprinzips nur unter die Bedingung der fairen Chancengleichheit stellen. Auch wenn Rawls in der zweiten Formulierung die Redeweise: „Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu regeln, daß . . . 44 verwendet, so verdanken sich doch die Regeln nach der Rawlsschen Intention nicht einem Maximierungsparadigma der Wohlfahrtsökonomie, 5 Rawls, 1975, S. 40. 6 Ebd., S. 45. 7 Siehe im einzelnen: ebd., S. 50; insbesondere auch S. 486 ff.

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3. Rawls Gerechtigkeitstheorie im Kontext m o d e e r Ethik und Politik

sondern einer Gerechtigkeitsvorstellung freier, moralischer Subjekte, die ihre Natur als freie und gleiche Wesen in Gerechtigkeitsgrundsätzen ausdrücken wollen (Rawls Kantische Deutung)8. Rawls ist nicht dadurch zu kritisieren, daß man ihn in die Reihe der Regelutilitaristen stellt, sondern daß er ähnlich wie diese in einer theoretischen Einstellung eine abschließende inhaltliche Lösung eines Problems anzubieten versucht, das — wie noch im einzelnen gezeigt werden wird—nur im praktischen Kommunikationsprozeß der Betroffenen selbst gelöst werden kann.

3.2 Liberalismus ,Liberalismus 4 steht für eine geistig politische Bewegung im nachrevolutionären Europa, die eine freiheitlich politische Kritik an den konservativen und restaurativen Kräften in dem ausgehenden 18. und dem beginnenden 19. Jahrhundert übte. Als Ziel des Liberalismus gilt die freie Entfaltung des Menschen und die Abwehr gegen nichtlegitimierte Begrenzungen durch staatliche und sonstige institutionelle Autoritäten. Ideengeschichtlich ist die geistige Fundierung des Liberalismus in der Philosophie des Naturrechts (insbesondere in Gestalt der Staatsphilosphie von Locke: ein von Natur aus autonomes Subjekt verwirklicht sich durch Erwerb von Eigentum und durch Teilhabe an der Gestaltung des Staates), sowie der von Montesquieu bis Kant begründeten Idee des Rechtsstaates (Gewaltenteilung und Idee des Rechtes als Prinzip bürgerlicher Gemeinschaft) zu finden. Historisch betrachtet war der Liberalismus eine Emanzipationsbewegung des Bürgertums mit den Forderungen nach Autonomie des Subjekts und insbesondere seiner ökonomischen Freiheit. Der Vater der klassischen Nationalökonomie, Adam Smith, fundierte seine Theorie in der metaphysisch naturrechtsphilosophischen Vorstellung einer göttlichen Ordnung in Form einer prästabilisierten Harmonie. Diese Harmonieprämisse prägte den bürgerlich-liberalen Zeitgeist des späten 18. und 19. Jahrhunderts; sie ermöglichte das Postulat eines Besitzindividualismus und entfaltete diesen zu einer globalen sozialen Theorie, die in die politischen Forderungen nach freiheitlicher Gestaltung des Wirtschaftslebens und Partizipation an staatlichen Institutionen mündeten. Gegen die Reglementierungen merkantilistischer Wirt8 Dieses ist zumindest die starke Intention von Rawls, wenngleich er in seinen Ausführungen zur Entscheidungsrationalität im Rahmen der theoretischen Untersuchung der Maximin-orientierten Entscheidungen der Beteiligten im Urzustand eine gewisse Affinität zu utilitaristischen Paradigmen erkennen läßt; die Entscheidungssubjekte im Urzustand sind vorteilsorientierte Individualutilitaristen. (Vertiefende Ausführungen dazu: siehe die folgenden Kapitel: 4.14 Maximin-Entscheidungsregel, 4.15 Entscheidungskriterien, 4.16 Entscheidungssubjekte).

3.2 Liberalismus

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schaftskonzepte erhoben sich Forderungen, die in dem „laissez faire!" ihren paradigmatischen Ausdruck fanden. Will man die Theorie der klassischen Schule der Nationalökonomie von Adam Smith, John Stuart Mill, David Ricardo, John Baptiste Say stichwortartig kennzeichnen, so könnte dieses durch die Prädikate: liberal, individualistisch und optimistisch geschehen. Liberal, denn die Einzelnen und die sozialen Gruppen sind gegenüber den Institutionen im Rahmen der Gesetze eines Rechtsstaates frei. Individualistisch, denn das Wohl des Individuums ist der erste Zweck der Wirtschaft und der gesellschaftlichen Organisationen. Optimistisch, denn seit der physiokratischen Naturrechtslehre herrscht die Vorstellung eines ,ordre naturel' (Quesney), d. h. einer natürlichen Ordnung, in deren Kreislauf sich die Interessen der Individuen in Art einer natürlichen sozialen Selbstregulation einfügen. Die physiokratische Vorstellung wurde radikalisiert: die Einzelinteressen der Individuen sind durch die,unsichtbare Hand' des »großen Architekten der Natur' (Adam Smith) eingepaßt in eine solche prästabilisierte soziale Harmonie, daß die Verfolgung der Einzelinteressen in eins fällt mit wachsendem Wohlstand für die Allgemeinheit. 9 Die klassisch-liberale Konzeption von freier Wirtschaft und freier Gesellschaft mit einem durch das ,Laissez-faire'-Paradigma eingeschränkten Staatsauftrag 10 erfuhr zwar durch die Krisenerfahrungen der Geschichte Einschränkungen, die aber die Grundidee klassisch liberaler Gesellschaftsvorstellung sichern sollten: Primat der Freiheit des einzelnen, Rechtsstaatlichkeit, freie Entfaltung der Kräfte, liberale Chancengleichheit, Heterogenität statt sozialer Protektionismus 11.

9 Paradigmatisch ist die These von Adam Smith: „[.. .]der Mensch [...] braucht fortwährend die Hilfe seiner Mitmenschen, und er würde diese vergeblich von ihrem Wohlwollen allein erwarten. [...] Nicht von dem Wohlwollen des Fleischers, Bauers oder Bäckers erwarten wir unsere Mahlzeit, sondern von ihrer Bedachtsamkeit auf ihre eigenes Interesse: Wir wenden uns nicht an ihre Humanität, sondern an ihren Egoismus . . ( S m i t h , 1776, S. 14). Nach klassisch liberaler Vorstellung führt das private Nutzenstreben, sofern es sich in freier Konkurrenz und Privateigentumsordnung ohne staatliche Eingriffe in den Märkten zu entfalten vermag, zum Wohle aller; denn die Eigenteressen der einzelnen fallen mit denen der Gesamtheit zusammen, sofern die gesellschaftlichen Institutionen freie Entfaltung der Kräfte zulassen. Es gilt die optimistische These, daß Krisen durch sich selbst regulierende Anpassungsvorgänge in den Märkten vorgebeugt wird. Das Saysche Theorem erklärte die stete Übereinstimmung der Gesamtmenge des Angebots und der Nachfrage. 10 Die Rolle des Staates ist nach klassisch liberaler Auffassung auf die eines Wahrers der Rechtsstaatlichkeit zur Ermöglichung der freien Kräfteentfaltung der Individuen in den Märkten zu reduzieren — eine Staatskonzeption, die Lassalle später kritisch ,Nachtwächterstaat4 nannte. Ein derartiger Staatsminimalismus protegiert allerdings einen hemmungslosen ökonomischen Liberalismus, der mit einem bedrohlichen Potential gruppenpartikularer Interessen wiederum die Freiheit der einzelnen Individuen gefährdet. Der darüber aufgeklärte moderne Liberalismus postuliert daher als positiven Staatszweck eine „soziale Marktwirtschaft 4'. 11 Vgl. dazu Dahrendorf, 1989, S. 77-90.

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3. Rawls Gerechtigkeitstheorie im Kontext m o d e e r Ethik und Politik

„Unterschiede, Ungleichheiten des sozialen und wirtschaftlichen Status eingeschlossen, sind akzeptabel — sind sogar oft Quelle der Innovation und des Fortschritts — solange der Zugang zu wirtschaftlichen, sozialen und politischen Freiheiten allen offensteht .. referierte Dahrendorf auf dem Kongreß der liberalen Internationale vom 15. bis 18. September 1989 in Pisa. 12 Diese neueren liberalen Thesen erinnern an die Rawlssche Überlegungen der Chancengleichheit, der Offenheit der Positionen und des Leistungsanreizes durch zugelassene Ungleichheiten. Ebenfalls ist das liberale Paradigma der Freiheit des einzelnen mit dem individualistischen Anliegen von Rawls vereinbar. Allerdings sind Rawls die Verteilungen der natürlichen Fähigkeiten eine nur natürliche Tatsache; moralische Kriterien sind bei derlei natürlichen Verteilungen nicht beachtet. Daher verlangt Rawls Einschränkungen der liberalen Entfaltungsmöglichkeiten natürlicher Fähigkeiten nach dem Unterschiedsprinzip; dieses Prinzip korrigiert in konkreter Weise die naive liberalistische Auffassung der Übereinstimmung von Allgemeinwohl und Einzelinteressen und die liberalistische Auffassung der natürlichen Freiheit als Chancengleichheit. Die Rawlssche Theorie der Gerechtigkeit verarbeitet liberale Gerechtigkeitsvorstellungen, insoferne die Theorie jedem einzelnen durch den Freiheitsgrundsatz den »liberalen4 Freiraum eines größtmöglichen Gesamtsystems von Freiheiten zuerkennt. Rawls läßt ferner — wie später noch im einzelnen gezeigt werden wird — eine Affinität zu liberalen optimistischen Wirtschaftskonzepten und deren speziellen Marktregulativen mit der dynamischen Systemannahme der Verbindung des Allgemein- und Einzelwohls erkennen. Rawls geht allerdings über liberale Institutionskonzepte insofern hinaus, als er das Prinzip der fairen Chancengleichheit und Offenheit der Positionen als Bedingung für gerechtfertigte soziale und wirtschaftliche Unterschiede mit dem Prinzip des allseitigen Vorteils zusammendenkt. Ziel des liberalen Institutionenkonzepts ist es nach Dahrendorf zwar, „jeden Staatsbürger in die Lage zu versetzen, voll an den Chancen der Gesellschaft teilzuhaben4413; dieses ist jedoch gemäß Rawls Theorie der Gerechtigkeit als Fairneß eine zwar notwendige Bedingung der Gerechtigkeit 14, aber noch keine hinreichende; denn die Verteilung von Einkommen, Vermögen und sozialen Positionen ist ohne die Anwendung weiterer einschränkender Bedingungen immer noch von der willkürlichen Verteilung natürlicher Fähigkeiten und von gesellschaftlichen wie geschichtlichen Zufällen abhängig. Sehr realistisch schreibt Rawls: „In der Praxis ist es unmöglich, den gleich Begabten gleiche 12 Ebd., S. 83. 13 Ebd., S. 85. 14 Rawls, 1975, S. 93: „Die freien Märkte müssen in politische und juristische Institutionen eingebettet werden, die den wirtschaftlichen Gesamtablauf regeln und gesellschaftlichen Verhältnisse aufrecht erhalten, die für die faire Chancengleichheit notwendig sind."

3.3 Vernunftethik

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kulturelle Möglichkeiten und Aufstiegschancen zu verschaffen." 15 Die Beteiligten im Urzustand wissen das und beschließen daher als notwendige Bedingung für die besseren Aussichten der irgendwie begünstigten Mitglieder der Gesellschaft den Primat des Unterschiedsprinzips: Unterschiede sozialer und wirtschaftlicher Art müssen die Aussichten der am wenigsten Begünstigten bestmöglich verbessern und darüberhinaus mit der Bedingung fairer Chancengleichheit und Offenheit der Positionen verbunden sein.

3.3 Vernunftethik Die Rawlsche Theorie der Gerechtigkeit steht Kants Ethik der Vernunft inhaltlich nahe, wenngleich Rawls nicht auf universale Gewißheiten als ,Faktum der Vernunft 4 rekurriert. Rawls versucht, das Problem der Gerechtigkeit in ein Problem der rationalen Wahl umzuformen, wobei er die Wahl in einen hypothetischen Urzustand verlegt. Damit behauptet er, die kantische Theorie des Gesellschaftsvertrages zu verallgemeinern und auf eine höhere Abstraktionsstufe zu heben 16 , sowie zu Ergebnissen zu gelangen, die den Intentionen Kants entsprechen. 17 Wenn dieses als gelungen betrachtet werden darf, so wäre großes geleistet. Ist das der Fall? (1) Gemäß Rawls „muß der Begriff der Vernünftigkeit im engstmöglichen Sinne verstanden werden, wie es in der Wirtschaftstheorie üblich ist: daß zu gegebenen Zielen die wirksamsten Mittel eingesetzt werden." 18 Rawls faßt den Begriff der Vernünftigkeit als Zweck / Mittelrationalität. Rawls will nach Möglichkeit vermeinden, daß „strittige ethischen Eigenschaften" 19 in dem Begriff enthalten sind. Später erweitert er den Begriff 20 , indem er für die Beteiligten im Urzustand eine „desinteressierte Vernünftigkeit" durch die Abwesenheit von Neid postuliert, und die Beteiligten mit „Gerechtigkeitssinn" ausstattet. Das sind nun offensichtlich Attribute, die über den anfänglich eingeführten Vernunftbegriff im Sinne einer reinen Zweck / Mittel-Rationalität hiausführen. Rawls allerdings führt keine weiteren begrifflichen Analysen durch — er konstruiert vielmehr synthetisch die Voraussetzungen, die erforderlich sind, die Grundsätze der Gerechtigkeit als Ergebnis einer rationalen Entscheidung ableiten zu können. Sodann interpretiert er in „kantischer Deutung", daß die Beteiligten im Urzustand als eine Art „intelligibles Ich" 2 1 handeln, indem sie die Grundsätze der Gerechtigkeit 15 Rawls, 1975, S. 94. 16 Vgl. ebd., S. 12, 27. 17 Siehe im einzelnen ebd. § 40 „Kantische Deutung der Gerechtigkeit als Fairneß", S. 283 ff. is Rawls, 1975, S. 31. 19 Ebd. 20 Siehe im einzelnen ebd., S. 166-174. 21 Ebd., S. 288.

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3. Rawls Gerechtigkeitstheorie im Kontext m o d e e r Ethik und Politik

wählen und auf diese Weise ihre Natur als freie und gleiche Vernunftwesen ausdrücken. Dieses ist allerdings eine thetische Interpretation, nicht eine systematische Begründung. Ich komme darauf in dem systematischen Teil der Abhandlung zurück. (2) Rawls sucht ein ideales Verfahren, das gerechte Gesetze gewährleistet. Die Eigenschaften, die ein solches Verfahren haben sollte, vergleicht er 2 2 mit denen des in der Wirtschaftstheorie formulierten idealen Marktes unter der klassischen Voraussetzung atomistischer Konkurrenz. Der ideale Markt gibt bezüglich der Optimierung des Einsatzes der Ressourcen für die Güterproduktion ein vollkommenes Verfahren an, welches durch die Anpassungsvorgänge der Anbieter an die wechselnden Bedürfnisse der Nachfrager zu dem Ergebnis optimaler Versorgung (verstanden als die Befriedigung gegebener Bedürfnisse durch Güter) führt. Ungleich dem Modell des idealen Marktes und dessen theoretisch vollkommenen Verfahrens zur Erreichung des Optimalitätszieles kennt aber die praktische Gesetzgebung ein solches Verfahren letztlich nicht. „Es scheint kein praktikables Verfahren angebbar zu sein, das gerechte Gesetze gewährleisten würde." 23 Richtig beurteilt Rawls die Mehrheitsregel demokratischer Verfassung in Hinblick auf die Idee der Gerechtigkeit als von nur „untergeordneter Stellung als bloßes Instrument" 24 . Mehrheiten können Fehler machen; man entscheidet sich jedoch für die Anwendung der Mehrheitsregel „als die beste praktische Möglichkeit der Verwirklichung bestimmter, vorher durch Gerechtigkeitsgrundsätze festgelegter Ziele" 2 5 . Was die Grundsätze verlangen, ist meist kontrovers. Das Unterschiedsprinzip gibt keinen genauen Maßstab an, welches die »gerechte4 Sparrate ist, wie die Aussichten zu messen sind, wie Vorteile zu verteilen sind. In solchen konkreten Beurteilungs- und Entscheidungssituationen gelte „der Grundsatz der politischen Regelung44 durch praktische Mehrheitsentscheidungen. Diese Regelung sieht Rawls als „Situation fast reiner Verfahrensgerechtigkeit 4426. Die Beschlußfassung über konkrete Normen stellt Rawls der „Gesetzgebungsdiskussion 4427 anheim. Was aber soll in solchen Diskussionen zählen? Zählt jeder Redebeitrag gleich? Welches sind die Kriterien für die Beurteilung eines Diskussionsbeitrages, und wie wird ihre Gültigkeit ausgewiesen? Rawls gibt nur unscharfe Hinweise: er verweist auf „Bürger und Gesetzgeber [ . . . ] , die einen größeren Gesichtskreis haben und bei Anwendung der Gerechtigkeitsgrundsätze gutes Augenmaß zeigen. 4428 22 Siehe zum folgenden ebd., S. 395-399. 23 Rawls 1975, S. 396. 24 Ebd., S. 392. 25 Ebd., S. 398. 26 Ebd., S. 399. 27 Ebd.

3.3 Vernunftethik

49

Es geht um das Kriterium der Vernünftigkeit. a) Kann die Vernünftigkeit einer politischen Entscheidung in Begriffen der Kompetenz in Bezug auf die handelnden Personen, („Bürger mit einem größeren Gesichtskreis", Personen mit gutem „Augenmaß"), angemessen rekonstruiert werden? Dieses wäre das Konzept ethischer Tugenden, wie sie etwa in der Nikomachischen Ethik von Aristoteles vorgestellt werden: es sind die personenorientierten Eigenschaften und Kompetenzen der praktischen Lebensklugheit. Lebenserfahrene, kluge Männer haben das „Know how", verstanden als implizites, praktisches Wissen, nach dessen Regeln das Leben in seiner Komplexität zu meistern sei — mit anderen Worten: nach welchen Normen in komplexen Handlungssituationen in fruchtbarer Weise Lösungen für Moralprobleme zu finden sind und wie diese Normen richtig angewendet werden. „Was Klugheit ist, können wir fassen, wenn wir betrachten, wen wir klug nennen." 29 b) Ein so verstandenes Konzept praktischer Lebensklugheit, auf das Rawls für die Lösung konkreter Probleme in mehreren Kontexten zurückgeht, vermag die praktische Vernünftigkeit politischer Entscheidungen jedoch nicht schlüssig zu begründen. Rawls verweist bloß auf die empirische Urteilsebene („Bürger mit größerem Gesichtskreis" und „gutem Augenmaß"). Erforderlich ist allerdings ein praktisches Vernunftkriterium für die geltungslogische Beurteilung der empirischen Urteile (aus empirischen Urteilen allein sind keine Normen mit Anspruch auf moralphilosophische Geltung abzuleitbar). Eine politische Ordnung als öffentliche Institution, die sich unter die regulative Idee der idealen, unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft (Karl-Otto Apel) stellt, könnte unter Umständen einen gedanklichen Bezugspunkt darstellen, im Blick auf den die Intentionen von Rawls zu rechtfertigen und zu begründen wären. Die Form der öffentlichen politischen Willensbildung auf Grund einer kritischen diskursiven Klärung der jeweilig gegebenen Situation und diskursive Prüfung vorgeschlagener Normen wird selbst als normatives Fundament zum Inhalt demokratischen Verhaltens gesetzt. Die diskursive Form ermöglicht rationale gewaltfreie Konfliktlösungen, indem sie das begründete formale Prinzip diskursiver Tatsachen- und Normenprüfung auf die reale Situationsebene bezieht; die Tatsachen und Normen werden durch theoretische und praktische Diskurse geklärt, wobei die konkret inhaltlichen Ergebnisse fallibel bleiben und das Prinzip der Revidierbarkeit von Beschlüssen anerkannt ist. Es besteht allerdings das spannungsreiche Verhältnis zwischen idealer-Kommunikationsgemeinschaft, die kontrafaktisch antizipiert wird, und der realen politischen Situation, die in Hinblick auf die entworfene Idealität einer vollendeten kommunikativen Gemeinschaft immer gekennzeichnet ist durch Verzerrun28 Ebd., S. 397. 29 Aristoteles, Nikomachische Ethik, VI, 5, 1140 a. 4 Bausch

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3. Rawls Gerechtigkeitstheorie im Kontext moderner Ethik und Politik

gen, Asymmetrien, sogar Täuschungen, und immer durch Begrenzung des Zeithorizontes und des Teilnehmerkreises. Die Differenz zwischen dem Ideal der unbegrenzten Kommunikatioinsgemeinschaft (Apel), oder der herrschaftsfreien Kommunikation (Habermas) aller Betroffenen zur Legitimation von Normen und der Realität endlichen Wissens und der unvermeidlichen pragmatischen Begrenzungen durch faktische Beschlußmodalitäten darf nicht eingeebnet werden. Die Differenz ist offenzuhalten und als Problem der Verantwortungsethik zu bearbeiten. 30 Rawls dagegen nimmt eine theoretisch objektivierende Einstellung ein — eine Einstellung, die ohne reale Kommunikation mit den Betroffenen auskommen will. Er knüpft damit an das bestechende Ideal einer Wissenschaft an, die universal gültiges Gesetzes wissen liefern und statt eines ,bloßen Herumtappens' einen »sicheren Gang' (Kant) im normativen Bereich ermöglichen soll. Rawls erhebt den Anspruch einer Aktualisierung des großen kantischen Unternehmens, indem er den Gerichtshof der gesetzgebenden Vernunft in einen theoretisch konstruierten und hypothetischen Urzustand verlegt, der der logische Ort der von Rawls behaupteten konkret inhaltlich bestimmten allgemeinverbindlichen Grundsätze ist. Rawls Theorie der Gerechtigkeit und ihre intendierten gesellschaftspolitischen Ergebnisse terminieren letztlich: (a) In den theoretischen Konstruktionsprämissen des Urzustandes, auf die eine spieltheoretisch-entscheidungslogische Verfahrenstechnik bezogen wird; die im Urzustand entscheidenden Akteure brauchen sich keine kategorischen Imperative zuzumuten, es fehlt ihnen jedes Motiv moralisch praktischer Einsicht; sie entscheiden, spieltheoretisch angeleitet, zweckrational. (b) In der politischen Verfahrenstechnik des pragmatischen Mehrheitsentscheids, durch die die Handlungspläne in der wohlgeordneten Gesellschaft koordiniert werden. Doch Mehrheitsentscheid ist kein geltungslogischer Maßstab für die Richtigkeit (moralische Gültigkeit) einer faktischen Norm, sondern nur die soziale Form einer Dezision, die als solche zufällig und a-rational ist. Es würde eine legalistische Verkürzung des Demokratieverständnisses bedeuten, wenn das organisatorisch pragmatische Verfahrensmoment der Mehrheitsregel zum ethischen Maßstab erhoben und damit der kommunikationsethische Kern der demokratisch-republikanischen Idee verfehlt wird.

30 Siehe hierzu vor allem Apel (März 1990, insbesondere S. 15-35); Diskursethik wird von Apel als Verantwortungsethik begriffen, und das heißt: Diskursethik als Folgenverantwortungsethik wird als nicht abstrakte, sondern vielmehr als geschichtsbezogene Verantwortungs- und Prinzipienethik expliziert mit dem Imperativ einer Bewahrung und vor allem einer darüberhinausgehenden Verbesserung der Kommunikationsbedingungen in den jeweiligen geschichtlichen und gesellschaftlichen Kontexten. Ich werde auf diesen Problemkreis in Kapitel 8.34 „Die Realisierbarkeit des Diskursimperativs und das Ergänzungsprinzip ,E' " zurückkommen.

3.3 Vernunftethik

51

Verfahrenstechnik darf Verfahrensethik nicht ersetzen, normative Gültigkeit nicht in sozialer Geltung aufgehen. Anderenfalls würde auch die Rawlssche Einsicht, daß der Mehrheitsentscheid von nur „untergeordneter Stellung als bloßes Instrument" 31 anzusehen ist, verloren gehen und das Niveau einer Prinzipienethik, das Rawls für sich beansprucht, nicht erreicht. Das moralische Urteil würde auf der konventionellen Stufe der Moral verbleiben, weil die Aktualität lebensweltlicher Erfahrungszusammenhänge nicht prinzipiell, bzw. nach der Regel eines Kriteriums distanziert wird und der Innovation und Kritik unzugänglich bleibt. Ein über Konventionen hinausgehendes ethisch fundiertes Demokratieideal fordert intersubjektiv gültige Kriterien der Prüfung faktisch geltender Normen und institutioneller Verfestigungen. Auf postkonventioneller Kriterienebene wird Ethos kritisierbar und was auf der konventionellen Stufe eine schwer auflösbare Einheit bildete: lebensweltliche Gewissheit und normative Gültigkeit, wird der Kritik zugänglich.

3i Rawls, 1975, S. 392. 4*

4. Rekonstruktion und Kritik der Rawlsschen Theorie 4.1 Architektonik der Rawlsschen Theorie Rawls definiert Gerechtigkeit als Inbegriff der „Grundsätze für die Zuweisung von Rechten und Pflichten und die richtige Verteilung gesellschaftlicher Güter" l . Im Zentrum seiner Überlegungen steht also distributive Gerechtigkeit. Rawls will seine Definition unmittelbar auf das für ihn wichtigste Thema bezogen wissen: „auf die Art, wie die wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen Grundrechte und -pflichten und die Früchte der gesellschaftlichen Zusammenarbeit verteilen" 2 . Rawls beginnt mit dem Entwurf einer idealen Theorie, welche den Bezugspunkt abgeben soll für die dann mögliche systematische Lösung der tatsächlichen alltäglichen Probleme der Gerechtigkeit in der Gesellschaft. Die ideale Theorie unterstellt kontrafaktisch ideale gesellschaftliche Verhältnisse, in denen die gerechte Verteilung von Rechten und Grundgütern unter dem Gesichtspunkt eines fiktiven Urzustandes geklärt ist. Grundgüter nennt Rawls solche Dinge, „von denen man annimmt, daß jeder vernünftige Mensch sie haben möchte, was auch immer er sonst haben möchte" 3 . Die wichtigsten Arten der gesellschaftlichen Grundgüter sind die bürgerlichen Grundrechte, Freiheit, Chancen sowie Eigentum und Vermögen, sowie das sehr wichtige Grundgut des Selbstwertgefühls.

4.11 Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit und die formalen Gerechtigkeitsbedingungen Gesellschaft wird von Rawls als ein Unternehmen der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil vorgestellt. Dieses Unternehmen ist einerseits gekennzeichnet durch Interessenharmonie, da die Kooperation allen ein besseres Leben ermöglicht, andererseits durch Interessenkonflikte, die bei der Entscheidung der Frage entstehen können, wie knappe Güter und die Früchte der Kooperation verteilt ι Rawls, 1975, S. 26 f. 2 Ebd., S. 23. 3 Ebd., S. 112. Das Rawlssche Konzept der Grundgüter wird im einzelnen in Kapitel 4.152 dieser Arbeit besprochen. 4 Entfällt.

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4.1 Architektonik der Rawlsschen Theorie

werden sollen. Daraus ergibt sich die Frage nach den Grundsätzen der Verteilung für die Regelung konkurrierender Ansprüche auf gesellschaftliche Güter unter der Bedingung der Knappheit. Von den zunächst beliebig vielen vorstellbaren Verteilungsgrundsätzen werden von Rawls nur solche Grundsätze als gerecht anerkannt, über die in dem fiktiven Urzustand gedankenexperimentell entschieden wurde. Die Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit sind Knappheit der Güter und konkurrierende Ansprüche. Bestünden diese beiden Bedingungen nicht, gäbe es keinen Anwendungsbereich der Gerechtigkeit. Es gäbe für eine gedachte Gerechtigkeit unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit nichts zu regeln. Damit ein Gerechtigkeitsproblem entsteht, muß wenigstens ein Mensch etwas anderes wollen als die anderen. Rawls benennt folgende formalen Gerechtigkeitsbedingungen' lung hypothetisch erwogener moralischer Grundsätze:

5

zur Beurtei-

1. Allgemeinheit: Die Gerechtigkeitsgrundsätze dürfen nicht auf singuläre Fälle zugeschnitten sein. 2. Unbeschränkte Anwendbarkeit: Die Gerechtigkeitsgrundsätze müssen unbeschränkt (d. h. universal) anwendbar sein und für alle moralischen Subjekte gleichermaßen gelten. Ihre Befolgung muß für alle akzeptabel sein. 3. Öffentlichkeit: Die Gerechtigkeitsgrundsätze müssen öffentlich und damit allgemein bekannt und verstanden sein. Ferner impliziert die Öffentlichkeitsbedingung für Rawls offenbar die Anerkennung der Grundsätze.6 4. Regelungseignung: Die Gerechtigkeitsgrundsätze müssen geeignet sein, konkurrierende Ansprüche in eine konsistente Rangreihe zu ordnen. 5. Endgültigkeit: Die Gerechtigkeitsgrundsätze fungieren als oberste Instanz moralischer Begründung. „Die Parteien sollen das System der Grundsätze als letzte Instanz für das praktische Denken einsetzen."7 Die formalen Bedingungen 1. (Allgemeinheit) und 2. (unbeschränkte Anwendbarkeit) sind unbestreitbar notwendiger Bestandteil eines moralischen Grundsatzes. Der wichtigen Bedingung 3. (Öffentlichkeit) ist ebenfalls zuzustimmen, wenngleich die faktische öffentliche Anerkennung eines Grundsatzes (soziale Geltung) durch den strengen Aufweis moralischer Gültigkeit ersetzt werden müßte — hier aber werden wir in Dimensionen verwiesen, die über die Rawlsschen formalen Bedingungen 1. bis 5. hinausgehen. Die formale Bedingung 4. (Regelungseignung) ist einfach notwendiges Operationalisierungskriterium. Die Bedingung 5. (Endgültigkeit) allerdings ist immer dann riskant, wenn die Grundsätze substantielle konkrete Inhalte haben und eine diskursiv einzulösende Revi5 Vgl. im einzelnen Rawls, 1975, S. 154 ff. 6 Vgl. Rawls, 1975, S. 156. 7 Rawls, 1975, S. 157.

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4. Rekonstruktion und Kritik der Rawlsschen Theorie

sion der konkreten Inhalte dogmatisch ausgeschlossen bleibt. In einem solchen Fall läge ein rationalistischer Dogmatismus und die Immunisierung gegen kritische Revision vor — Implikationen die jedenfalls die Diskursethik durch ihre prinzipielle Offenheit hinsichtlich der diskursiven Überprüfbarkeit inhaltlicher Normen und empirischer Sachverhalte von vorneherein vermeidet.

4.12 Der Rawlssche Gültigkeitsanspruch und die Methode: das Überlegungsgleichgewicht 4.121 Gültigkeitsanspruch In der Theorie der Gerechtigkeit von 1971/1975 entwickelt Rawls einen universalen Gültigkeitsanspruch der Grundsätze. Rawls behauptet, die in der Theorie der Gerechtigkeit 1971 /1975 entfalteten Grundsätze gelten „immer", endgültig „für alle Zeiten" und „unbedingt" 8 ; der Urzustand als universaler Bezugspunkt soll es ermöglichen, „die Situation des Menschen nicht nur unter allen gesellschaftlichen Gesichtspunkten, sondern von allen Zeiten her" zu beurteilen. 9 Später allerdings korrigiert er diesen Anspruch: „ . . . we are not trying to find a conception of justice suitable for all societies regardless of their particular social or historical circumstances. We want to settle a fundamental disagreement over the just form of basic institutions within a democratic society under modern circumstances"10. Mit dieser Korrektur reagierte Rawls auf Kritik von Hörster und anderen; Hörster hatte darauf hingewiesen, daß Rawls den ausschlaggebenden Urzustand so formuliert, daß „er zu Resultaten führt, die mit unseren aufgeklärten moralischen Alltagsurteilen übereinstimmen" 11. Und das heißt: die Theorie belehrt uns darüber, was der aufgeklärte common sense der Parteien für gerecht hält, und nicht darüber, was gerecht ist. Nach Rawls rechtfertigt sich eine Gerechtigkeitsvorstellung aus der „gegenseitigen Stützung vieler Erwägungen, [das heißt] daraus, daß sich alles zu einer einheitlichen Theorie zusammenfügt" 12. Rawls Theorie der Gerechtigkeit ist methodisch ein Konzept der Kohärenz. Zur Entwicklung und Rechtfertigung der Theorie fordert uns Rawls zu einem Gedankenexperiment auf: in einer präzise 8 Rawls, 1975, S. 154; siehe auch 202; — allerdings nimmt Rawls in späteren Aufsätzen (siehe im einzelnen: Rawls, 1980, siehe auch 1982, 1985) diese sehr starken Thesen zurück. 9 Rawls, 1975, S. 637. 10 Rawls, 1980, S. 518. h Hörster, 1977, S. 62. 12 Rawls, 1975, S. 39. Die Theorie der Gerechtigkeit von 1971/75 kann mit Hörster als ein kohärenztheoretisches Konzept eines systematischen, wiederspruchsfreien Zusammenhanges gekennzeichnet werden (Vgl. Hörster, 1977, S. 57 ff.).

4.1 Architektonik der Rawlsschen Theorie

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konstruierten Ausgangssituation, die unter der Annahme möglichst „schwacher Bedingungen" formuliert ist 1 3 , findet eine fortschreitende Konkretisierung und Ausdifferenzierung bis zum vollständig ausformulierten Urzustand statt. Als „schwache" Eingangsbedingung hält Rawls die Annahme für vernünftig, „daß die Menschen im Urzustand gleich seien. Das heißt, sie haben bei der Wahl der Grundsätze die gleichen Rechte; jeder kann Vorschläge machen, Gründe für sie vorbringen usw. Diese Bedingungen sollen offenbar die Gleichheit zwischen den Menschen als moralischen Subjekten darstellen, als Menschen mit einer Vorstellung von ihrem Wohl und einem Gerechtigkeitssinn"14. Basales Fundament ist die Gleichheit der Rechte. Mit Gerechtigkeitssinn meint Rawls die „Fähigkeit, etwas als gerecht zu beurteilen und Gründe dafür anzuführen." 1 5 Es springt ins Auge, daß es sich bei den „schwachen" Eingangsbedingungen bereits um normativ gehaltvolle Bedingungen handelt. Offenbar sind die Beteiligten im Urzustand schon vor jeder vertraglichen Vereinbarung mit Gleichheitsrechten ausgestattet. Hier knüpft Rawls unausgesprochen an Intuitionen der bis heute wirkungsreichen Naturrechtstradition an, wie sie z. B. von Locke als apriori vorausgesetzte natürliche Rechte des Menschen gedacht wurden. Bei der »schwachen4 Bedingung der Gleichheit handelt es sich allerdings um ein von Rawls als evident empfundenes notwendiges Postulat16. Die von ihm unvermittelt eingeführte Bedingung ,Gerechtigkeitssinn' soll anscheinend als moralische Fähigkeit' eine Art anthropologische Konstante sein. 17 Hervorzuheben ist — was Rawls freilich nicht eigens begründet sondern bloß unterstellt — , daß der Gerechtigkeitssinn nicht nur als kognitive Kompetenz zur Lösung praktischer Fragen bzw. Konflikte verstanden wird, sondern zugleich als „wirksamer Wunsch44 nach Gerechtigkeit; und das heißt: „gemäß den geltenden Regeln zu handeln und einander das zu gewähren, worauf sie [die Mitglieder der Gesellschaft] Anspruch haben 4418 . Der Gerechtigkeitssinn garantiert, daß entsprechend den Gerechtigkeitsgrundsätzen gehandelt wird. Allerdings ist das Niveau des Ausweises deontologischer Verpflichtung nicht erreicht. Mit dem Aufweis kognitiver Kompenz, etwas als gerecht zu erkennen (a) und dem Postulat, entsprechend zu handeln (b), ist noch nicht der gültige Nachweis der Verpflichtung, nämlich gerecht zu handeln, geführt. !3 Schwache Bedingungen sind für Rawls die „allgemein akzeptierten44 (Vgl. im einzelnen Rawls, 1975, S. 37). 14 Ebd., S. 36 f. is Ebd., S. 66. 16 Bezüglich dieser Gleichheitsbedingungen (und das heißt mit Rawls: Gleichheit der Rechte) will ich mit Rawls nicht darüber streiten, ob sie faktisch „akzeptabel44 sind; vielmehr ist bei Rawls einzuklagen, daß er m. E. keine geltungslogischen Gründe für ihre Akzeptanz ausweist. 17 Der von Rawls vorausgesetzte Gerechtigkeitssinn wird im Einzelnen in Abschnitt 9.31 besprochen werden. is Rawls, 1975, S. 346.

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4. Rekonstruktion und Kritik der Rawlsschen Theorie

4.122 Methode Die Rawlssche Untersuchungsmethode fordert einen „revolvierenden Denkprozeß" 19 , in welchem die alltäglichen Gerechtigkeitsvorstellungen immer weiter durch rückkoppelnden Vergleich mit den fiktiven Entscheidungsergebnisse in einem hypothetischen Urzustand überprüft werden. Dabei erfährt der hypothetische Urzustand seinerseits Korrekturen, bis in diesem Prozeß der wechselseitigen Veränderung und Ausdifferenzierung das ,Überlegungsgleichgewicht' erreicht ist. Rawls unterscheidet: 1. „ Wohlüberlegte Gerechtigkeitsvorstellungen " — hiermit sind zunächst alltäglich konkrete lebensweltliche Normenvorstellungen gemeint, die dann dem methodischen Differenzierungsprozeß des rückkoppelnden Vergleiches mit den fiktiven Ergebnissen eines hypothetischen Urzustandes unterworfen werden. 20 2. „Wohlüberlegte Urteile" — die wohlüberlegten Urteile sind gedankenexperimentell fortentwickelt aus den ,wohlüberlegten GerechtigkeitsVorstellungen 4. Es sind nach Rawls solche Urteile, die „unter Bedingungen gefällt werden, die den Gerechtigkeitssinn zur Geltung kommen lassen" 21 ; diese Bedingungen sind die des ausdifferenzierten, hypothetischen Urzustandes. 3. „Überlegungsgleichgewicht" — es wird durch „wechselseitiges Anpassen von Grundsätzen und wohlüberlegten Urteilen" hergestellt. Diesen Prozeß des wechselseitigen Anpassens versteht Rawls als ein hin und her Gehen: „einmal ändern wir die Bedingungen für die Vertragssituation, ein andermal geben wir unsere Urteile auf und passen sie den Grundsätzen an; so glaube ich, gelangen wir schließlich zu einer Konkretisierung des Urzustandes, die sowohl vernünftigen Bedingungen genügt als auch zu Grundsätzen führt, die mit unseren — gebührend bereinigten — wohlüberlegten Urteilen übereinstimmen."22 In dem Überlegungsgleichgewicht fallen die wohlüberlegten Gerechtigkeitsurteile und die fiktiven Grundsätze des hypothetischen Urzustandes in eins und gelten somit als legitimiert. Zentrum Rawlssche Methode ist die Vorstellung des ,Überlegungsgleichgewichts 4 . Die Herstellung des Überlegungsgleichgewicht (3) kann als hermeneutisch zirkelhafter Prozeß verstanden werden, in welchem eine konkrete lebensweltliche Gerechtigkeitsvorstellung (1) gedankenexperimentell zu wohlüberlegten Urteilen (2a) fortentwickelt werden, indem sie durch den mittels der idealen So Höffe, der den methodischen Prozeß von Rawls in dieser Redeweise treffend charakterisiert. (Siehe im einzelnen Höffe, 1977, S. 33). 20 Vgl. im einzelnen ebd., S. 37 f. 21 Rawls, 1975, S. 67. 22 Ebd., S. 38.

4.1 Architektonik der Rawlsschen Theorie

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Vorstellung eines hypothetischen Urzustandes geschärften Gerechtigkeitssinn (2b) jeweils angeleitet werden. In dem Artikel Independence of Moral Theory (1974) führt Rawls die Unterscheidung zwischen engem und weitem Überlegungsgleichgewicht ein („narrrow and wide reflective equilibrium"). Die Rawlssche Methode zielt nicht auf das nächstliegende, nur spärliche Anpassungen erfordernde ,enge4 Überlegungsgleichgewicht; vielmehr geht es um ein ,wide equilibrium 4 , welches sich näherungsweise ergäbe, wenn eine umfassende Argumentation über Konzepte und deren Folgen stattfände. „ [ . . . ] we investigate, what principles people would acknowledge and accept the consequences of when they had the opportunity to consider other plausible conceptions and to access their supporting grounds. Taking this process to the limit, one seeks the conception, or plurality of conceptions, that would survive the rational consideration of all feasable conceptions and all reasonable arguments for them" 23. In diesen Textstellen können Ansätze praktischen, kommunikativen Handelns erblickt werden; allerdings verbleibt Rawls immer in theoretischer Distanz. Meines Erachtens gelingt es ihm nicht, eine konsensorientierte Sollensperspektive zu eröffnen. Seine kategorialen Möglichkeiten reichen nur soweit zu hoffen, „that there is a common desire for agreement, as well as a sufficient sharing of certain underlying notion as implicitly held principles, so that the effort to reach understanding has some foothold 44 2 4 . Es bleibt auch nach den späteren Einfügungen in die Rawlssche Theorie von 1971 / 1975 noch die Frage, ob durch das methodische Verfahren von Rawls die geltungslogische Rechtfertigung moralischer Normen gelingen kann. Rawls verbindet die theoretischen Bedingungen des Urzustandes mit den Alltagsurteilen (Gerechtigkeitsvorstellungen der Lebenswelt) über einen reziproken Veränderungsprozeß bis in ein,Überlegungsgleichgewicht 4, das sich formal dann einstellt, wenn die theoretischen Bedingungen des Urzustandes und die sich daraus ergebenden Grundsätze in eins fallen mit den wohlabgewogenen Gerechtigkeitsvorstellungen. Es handelt sich um einen Prozeß hermeneutisch verfahrender Konkretisierung abstrakter Grundsätze für Gerechtigkeit. Jedoch müßten die dabei in Anspruch genommenen Grundsätze als letzte regulative Instanz im Sinne intersubjektiver Verbindlichkeit schlüssig begründet werden. Die Rawlsschen Grundsätze der Gerechtigkeit verdanken sich einem Überlegungsgleichgewicht der Einzelurteile und eines hypothetischen Urzustandes, dessen Bedingungen selbst fiktive normative Setzungen sind, die offenbar aus den über einen Lernprozeß fortentwickelten Einzelurteilen erwuchsen. Nun ist nicht erkennbar, in welchem Sinne dieses Überlegungsgleichgewicht stabil über die Zeit sein soll; denn neue Einzelurteile, die den einmal aufgestellten Grundsätzen 23 Rawls, 1974, S. 8. 24 Rawls, 1980, S. 518.

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entgegenstehen, sind der methodischen Form nach geeignet, auch eine Revision und Korrektur des theoretisch konstruierten hypothetischen Urzustandes und damit der Formulierung der Grundsätze zu veranlassen. Der Rechtfertigungsprozeß einzelner moralischer Urteile kann nur durch Grundsätze erfolgen (d. h. durch Sätze die intersubjektiv anerkennungswürdige Krierien darstellen und somit geltungslogisch einsichtige Gründe ihrer Verbindlichkeit bei sich führen); umgekehrt zu verfahren, hieße mit Tugendhat „das Pferd beim Schwänze aufzuzäumen." 25 Dennoch muß die Vorstellung eines Überlegungsgleichgewichtes nicht abgewiesen werden; denn „wohlüberlegte Gerechtigkeitsvorstellungen" sind Ausgangspunkt moralischer Kritik. Sie werden fortentwickelt zu „wohlüberlegten Gerechtigkeitsurteilen", doch auch diese sind in ihren konkreten Inhalten nicht revisionsresistent, ihr Wert ist vielmehr im Sinne Tugendhats „heuristisch, nicht der einer Appellationsinstanz". 26 In kritischer Unterscheidung zu dem Rawlsschen methodischen kohärenztheoretischen Ansatz beabsichtige ich folgendes: (1) Das Prinzip der Legitimation von Normen ist eigens zu begründen; hierzu bietet sich an, in transzendentalpragmatischer Reflektion einen formalen Grundsatz der Normenprüfung zu explizieren. Dieses ist — wie später im einzelnen noch gezeigt werden wird — der Diskursgrundsatz , D \ der gerechtfertigte, gültige Normen an eine in einem unbeschränkten praktischen Diskurs virtuell denkbare freie Zustimmung aller vernünftig Urteilender allein aus Gründen bindet. (2) Das Prinzip der Rechtfertigung, für das sich der Diskursgrundsatz ,D' anbietet, ist kritisch auf die Ebene der lebens weltlichen Urteile, die als Einzelurteile oder System von Meinungen anzutreffen sind, zu beziehen. Denn auch wohlabgewogene Einzelurteile sind fallible Gegebenheiten, die über einen Legitimationsprozeß nach dem genannten Grundsatz zu überprüfen sind. Die Unterscheidung ist im Sinne eines mehrstufigen Verfahrens zu denken, das auf der Metaebene die Kriterien reflektiert und diese auf die konkrete Ebene der Handlungen und kontingenten Meinungen (alltägliche Gerechtigkeitsurteile) bezieht. 4.13 Urzustand und seine Konstruktion als Grundlage der Gerechtigkeitsgrundsätze

9deduktive'

Der Urzustand, in welchen Rawls die gesellschaftsvertragliche Kodifizierung verlegt, ist nicht ein faktisch mögliches oder gar historisches Ereignis. Er ist für Rawls vielmehr ein „Darstellungsmittel" 27 im Rahmen seiner Theorie. Er ist rein 25 Tugendhat, 1984, S. 17.

26 Ebd., S. 19. 27 Rawls, 1975, S. 39.

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hypothetisch. Die „Bedingungen" 28 , die den Urzustand auszeichnen, sind wiederum Ausdruck einer „intuitive(n) Vorstellung, die ihre eigene Präzisierung nahelegt und uns zu einer deutlicheren Bestimmung des Standortes drängt" 29 . Die Pointe der Rawlsschen Begründungsstrategie ist dann, daß mit der Standortbestimmung in Form der zwei Gerechtigkeitsgrundsätze einer Gerechtigkeitsvorstellung Ausdruck gegeben ist, die als wohlüberlegtes Urteil tatsächlich akzeptiert wird. Die Idee eines Urzustand ist in Rawls vertragstheoretischem Ansatz der Versuch, eine „deduktive Grundlage für die Gerechtigkeitsgrundsätze anzugeben." 30 4.131 Konstruktion des Urzustandes Die Bedingungen, d. h. die von Rawls in moralischer Absicht gesetzten Prämissen des Urzustandes als logische Momente der Generierung von Gerechtigkeitsgrundsätzen, haben die Form sorgsam aufeinander abgestimmter Voraussetzungen und Einschränkungen, die den Parteien im Urzustand auferlegt sind. Die Voraussetzungen: 1. Die Parteien im Urzustand haben ein widerspruchsfreies System von Präferenzen, sie haben vernünftige, langfristige Lebenspläne, d. h. sie haben grundlegende, bestimmte Interessen, die sie schützen müssen; sie kennen allerdings die Eigenart ihrer Interessen nicht und nicht das einzelne Ziel. 3 1 2. Die Parteien im Urzustand sind „ gegenseitig desinteressiert und nicht bereit, ihre Interessen anderen aufzuopfern". 32 Sie sind weder von Liebe, noch von Haß oder Neid bestimmt, vielmehr nur daran interessiert, möglichst viel („lieber mehr als weniger" 33 ) Grundgüter zu erhalten. 3. Die Parteien kennen die allgemeinen Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit, sie haben „allgemeine Kenntnisse " über die Gesellschaft; „keine allgemeinen Tatsachen sind ihnen verborgen." 34

28 Rawls spricht von Bedingungen' (siehe im einzelnen 1975, S. 39, S. 151, auch S. 627), eine Redeweise, die als kausales Moment mißverstanden werden könnte; richtiger, da weniger mißverständlich, wäre der Ausdruck »Prämisse4 als logisches Moment der Rawlsschen Setzung in moralischer Absicht. 29 Ebd., S. 39. 30 Rawls, 1975, S. 212. Die von Rawls in Anspruch genommene Begrifflichkeit der „Deduktion" ist allerdings problematisch; denn im strengen Sinne ist die Methode der Deduktion nur in den Naturwissenschaften und insbesondere in der Mathematik anwendbar. Was Rawls „deduktive Grundlage4' nennt ist eigentlich nur der von Rawls eingenommene bestimmte Standpunkt des Urzustandes mit bestimmmten Ergebnisfolgen. 31 Vgl. ebd., S. 151, siehe auch S. 166 ff. und S. 209. 32 Ebd., S. 152, siehe auch S. 168 und S. 286. 33 Ebd., S. 166.

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4. Die Parteien haben einen (zunächst nur formal verstandenen) Gerechtigkeitssinni, und dieses ist allen Beteiligten bekannt; durch diese wichtige Voraussetzung erfolgt die Sicherung, daß Gerechtigkeitsgrundsätze verstanden werden und nach ihnen gehandelt werden kann. 35 Die Einschränkungen: 1. Die Parteien stehen unter der Einschränkung des „Schleiers des Nichtwissens" 36, d. h. die Parteien kennen keine Einzelheiten ihrer Lebenspläne, sie wissen auch nichts über ihre Risikobereitschaft; keiner kennt seine Klasse, seinen Status, seine Stellung in der Gesellschaft und seine natürlichen Gaben. Ferner kennen die Parteien nicht ihre Stellung in der Zeit, sie wissen nicht, welcher Generation sie angehören, sie sind auf diese Weise zu einer Art „Dauerperson" 37 bestimmt. 2. Koalitionen sind nicht zugelassen. Der „Schleier des Nichtwissens" ist die entscheidende und durchaus originelle Prämisse der Rawlsschen Konstruktion des Urzustandes. Den Parteien sind durch diese Prämisse keinerlei Einzelkenntnisse bekannt; auf diese Weise zwingt Rawls die Beteiligten im Urzustand, von ihren partikularen Eigeninteressen abzusehen (im Ergebnis also unparteiisch zu denken) und einen allgemeinen Standpunkt einzunehmen. Durch die genannten Einschränkungen sollen die Beteiligten im Urzustand gehindert werden, die Grundsätze auf den eigenen Vorteil hin zuschneiden zu können. Die Forderung des Ausschlusses aller Einzelkenntnisse durch den Schleier des Nichtwissens soll nach der Intention von Rawls einfach veranlassen, gemäß den entsprechenden Einschränkungen zu denken. 34 Ebd., S. 165. Hierzu äußert sich kritisch Norwell Smith: das von Rawls geforderte Wissen »allgemeiner Kenntnisse' und »allgemeiner Tatsachen4 (vgl. Rawls, 1975, S. 165 u. 627) sei ein Wissen, das „kein Mensch haben könnte" (Norwell Smith, 1977, S. 81); denn dieses wären universale Gattungsmenschen sub specie aeternitatis — schlechthin eine Unmöglichkeit; darüberhinaus bestünden analytische Schwierigkeiten bei der Redeweise »allgemeine Tatsachen' (Vgl. im einzelnen Smith, ebd., S. 77-101). — Diese Kritik jedoch trifft meines Erachtens nicht: Rawls unternimmt ein Gedankenexperiment, und für dieses Gedankenexperiment in der idealen Theorie ist es irrelevant, ob die ,allgemeinen Kenntnisse' faktisch vorliegen können; die Redeweise »allgemeine Tatsachen' ist von Rawls im Sinne der Abwesenheit partikularer Interessenbestimmtheit gemeint, wobei es für die Konstruktion des Entwurfes in der idealen Theorie als Mittel der Darstellung nicht entscheident ist, ob so gedachte Interessen auch faktisch möglich sind. Die Menschen im Urzustand sind gem. Rawls „theoretisch definierte Menschen" (Rawls, 1975, S. 171) und das gedankenexperimentelle Prüfungsverfahren von Rawls verlangt, entsprechend den theoretischen Einschränkungen zu denken. 35 Vgl. ebd., S. 168 f. 36 Vgl. im einzelnen ebd., S. 159 ff. 37 Ebd., S. 170.

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Durch die Formulierungen der Voraussetzungen und Einschränkungen konstruiert Rawls Entscheidungsbedingungen mit der Zwangsfolge, das Wohl der anderen mit dem eigenen verbunden zu sehen. Insofern sind diese Rahmenbedingungen des Urzustandes operationale Momente mit einer Wirkung solcher Art, daß bei einer zweckrationalen Klugheitswahl der Beteiligten nach Rawls die Wahl der zwei Grundsätze der Gerechtigkeit erwartet werden darf. In gewisser Weise reproduzieren sich in den Grundsätzen die Prämissen des Urzustandes. 38 Und diesen Befund wird Rawls in keiner Weise als Kritik empfinden; denn der Urzustand ist Rawls ein Darstellungsmittel; „wir möchten den Urzustand so bestimmen, daß die gewünschte Lösung herauskommt" 39. Durch die einschränkenden Bedingungen der zweckrationalen Wahl der Beteiligten im Urzustand zwingt Rawls die Entscheidungssubjekte zu einem voll reversiblen Rollentausch (role taking) 40 in alle möglichen Positionen. Dieser Rollentausch ist meines Erachtens ein zentrales und wertvolles, wenngleich in der Rawlsschen Theorie selber nicht explizit ausgearbeitetes, Gerechtigkeitskriterium. Das integrative Geschehen des universalen Rollentausches führt zu Ergebnissen, denen alle zustimmen können; jeder stellt sich gedankenexperimentell in jede Position aller anderen und vergegenwärtigt sich, welche Konsequenzen zu erwarten wären, wenn die gedankenexperimentell vorgestellte Situation real wäre und prüft, ob die Folgen für ihn akzeptabel wären. Das Verfahren eines voll reversiblen role taking entspricht der diskursethischen Forderung, daß eine moralische Norm in ihren Folgen und Nebenwirkungen in Hinblick auf Interessen aller Betroffener für vernünftig urteilende Personen akzeptabel sein muß. Insoferne begegnen sich Rawls und die Diskursethik hier am gleichen intentionalen Ort. Allerdings ist der von Rawls im Urzustand konzipierte Modus eines erzwungenen Rollentausches moralisch defizient 41 ; dieses gilt zumindest, wenn man mit G. H. Mead annimmt, daß zur Ausbildung des moralischen Selbstbewußtseins 38 Höffe (1977, S. 35) urteilt: die Rawlsschen Gerechtigkeitsprinzipien seien nichts anderes als Explikation der Vernunftattribute, die in die Definition des Urzustandes eingegangen sind und insofern sei die Theorie von Rawls und die Formulierung der Grundsätze in diesem bestimmten Sinne tautologisch. 39 Rawls, 1975 S. 165. 40 Die Rollenübernahme (Rollentausch, ,role taking' (George Herbert Mead)) resultiert aus der Fähigkeit zum Perspekti ν Wechsel. In der Rollenübernahme sind die Perspektiven von Ego und Alter gleichzeitig repräsentiert; dieses ist gemäß G. H. Mead ein integratives Geschehen der Identitätsbildung, welches als ein Strukturzusammenhang rekonstruierbar ist, in welcher die Ego Perspektive und die Alter Perspektive ausdifferenziert wird (in der Stufenfolge bis in die Perspektive eines generalisierten Alter). G. H. Mead beschreibt die Dialektik des Rollentausches:"Wir übernehmen die Rolle anderer uns selbst gegenüber nicht deshalb, weil wir einem bloßen Nachahmungstrieb unterliegen, sondern weil wir in Reaktion auf uns selbst nach Lage der Dinge die Einstellung einer anderen Identität annehmen als der direkt handelnden." (G. H. Mead, 1980, I., S. 246). 41 Wie in den Folgekapiteln 4.15 ff., die sich mit der Darstellung und Kritik der Entscheidungsrationalität in der Rawlsschen Theorie befassen, noch im einzelnen gezeigt werden wird.

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die „verständnisvolle Übernahme" der Rolle anderer gehört und der Perspektivwechsel in moralische Obligationen mündet, „wenn das Individuum sich selbst in der Rolle des anderen anspricht." 42 Rawls behauptet, daß die zwei Grundsätze der Gerechtigkeit die allseitige Zustimmung fänden; er geht hinsichtlich ihrer Begründung allerdings nicht davon aus, daß sich nach einem integrativen Prozeß moralischer Obligationsbestimmung und Selbstbestimmung qua reversiblem Perspektivwechsel der Beteiligten im Urzustand die Grundsätze der Gerechtigkeit erschließen. Vielmehr setzt er die Kompetenz des Perspektivwechseis spieltheoretisch strategisch 43 an: die beiden Grundsätze seien Kontingent [engl, »contingent', im Sinne von zusammengehörig] in dem Sinne [...], daß sie im Urzustand im Lichte allgemeiner Tatsachen beschlossen werden. Die Bedingungen für die Annahme von Grundsätzen könnten schon eher notwendige moralische Wahrheiten sein; doch es scheint mir am besten, sie lediglich als vernünftige Vorschläge zu betrachten, die letzten Endes an Hand der gesamten Theorie zu betrachten sind, zu der sie gehören"44. Rawls empfiehlt, die sokratischen Seiten seiner Theorie gebührend zu berücksichtigen.45 Nun sollen die maieutischen Aspekte der Theorie von Rawls nicht verworfen werden; die Würdigung der Maieutik erspart aber nicht, den Problemen nachzufragen, die Rawls ausspart: und dieses sind die Fragen nach den Gründen der spezifischen Eingangsvoraussetzungen der Konstruktion des Urzustandes als angemessene Prämissen der moralischen Argumentation. Der Rawlsche Urzustand ist ein vielseitiges Artefakt synthetischen Charakters, und Rawls hat es versäumt, die verschiedenen Konstruktionsbedingungen des Darstellungsmittels Urzustand geltungslogisch (intersubjektiv verbindlich) zu begründen und zu erklären, warum gerade sie für die moralische Argumentation als moralische Bedingung entscheidend sind. Rawls führt in seinem Theorieentwurf die moralische Argumentation auf ein zweckrationales Interessenkalkül zurück. 4.132 ,Vierstufengang 4 der Aufhebung des ,Schleiers des Nichtwissens' Ausgehend von dem Urzustand mit dem voll wirksamen „Schleier des Nichtwissens" werden von Rawls in einem „Vierstufengang" 46 vier aufeinanderfolgende Etappen zunehmender Konkretheit der gesellschaftlichen Regeln vorgestellt:

42 Mead, 1980, I., S. 402. 43 Siehe zu diesem Punkt weiter unten Kapitel 4.15 und 4.16. 44 Rawls, 1975, S. 627. 45 Vgl. ebd., S. 628 in Verb, mit S. 65 ff.; mit den sokratischen Seiten seiner Theorie meint Rawls die Schärfung und Ausbildung des Gerechtigkeitssinns durch seine Theorie. 46 Siehe im einzelnen Rawls, 1975, S. 224-239.

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Stufe 1 : Festsetzung der Gerechtigkeitsgrundsätze durch Entscheidung im Urzustand unter dem vollen Schleier des Nichtwissens. Nur „allgemeine Tatsachen" sozialwissenschaftlicher Theorien und die Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit sind bekannt. Stufe 2: Die Parteien begeben sich zu einer verfassungsgebenden Versammlung. Der Schleier des Nichtwissens wird teilweise gelüftet, im Lichte des erweiterten Wissens wählen die Parteien eine gerechte Verfassung mit der Angabe der Verfahrensregeln, die gerechte und wirksame Gesetze ermöglichen sollen. Maßstab für die Stufe (2) sind die auf Stufe (1) beschlossenen Gerechtigkeitsgrundsätze und die Idee von Abgeordneten, die nichts über sich und die Einzelpersonen wissen, wohl aber ein theoretisches Wissen ihrer speziellen Gesellschaft und ihrer Mitglieder haben. Gegenstand der Beratung auf der Stufe (2) ist insbesondere die verfassungsmäßige Ausgestaltung des ersten Grundsatzes. Stufe 3: Im nächsten Schritt wird der Schleier des Nichtwissens weiter gelüftet, mehr Kenntnisse sind zugelassen, sodaß eine gerechte Gesetzgebung kodifiziert werden kann. Maßstab für die gerechte Gesetzgebung auf der Stufe (3) sind die Verfassung der Stufe (2) und die Idee eines „repräsentativen Gesetzgebers [ . . . ] , der, wie immer, nichts über seine Person weiß." 47 Gegenstand der Beratungen auf der Stufe (3) ist insbesondere die Anwendung des Unterschiedsprinzips in der Sozial- und Wirtschaftspolitik. Stufe 4: die letzte Stufe ist die Anwendung von Regeln auf Einzelfälle und die Befolgung der Regeln durch die Bürger. Der Schleier des Nichtwissens ist aufgehoben. Jeder kennt alle Tatsachen, insbesondere die je partikularen Interessen und historischen Bedingungen der Situationen.48 Der Vierstufengang ist für Rawls ein Schema der Anwendung der Gerechtigkeitsgrundsätze. Die stufenweise Aufhebung des Schleiers des Nichtwissens ist die analytische Anweisung, zur Lösung von Gerechtigkeitsproblemen entsprechend der schrittweisen Aufhebung der Einschränkungen des Urzustandes zu denken. „Die Kenntnisse auf jeder Stufe ermöglichen gerade die sinnvolle Anwendung der Grundsätze auf die jeweiligen Gerechtigkeitsfragen und schließen alles

47 Ebd., S. 226. 48 Rawls führt als Grund für die Beschränkungen im Urzustand auch an, daß „ohne diese Beschränkungen des Wissens das Verhandlungsproblem im Urzustand hoffnungslos verwickelt" wäre (Rawls, 1975, S. 164) Dieses ist nun kein moralischer Gesichtspunkt, sondern ein solcher reiner Praktikabilität — und in diesem Zusammenhang weist Tugendhat daraufhin, daß die völlige Beseitigung des Schleiers des Nichtwissens auf der letzten Stufe 4 wohl ein „Irrtum" sein muß,"wenn die Wahl auf dieser letzen Stufe immer noch eigennützig und das Ergebnis dennoch unparteiisch sein soll. Nur derjenige Teil des Schleiers des Nichtwissens kann auf der vierten Stufe völlig entfernt werden, der aus Gründen der Praktikabilität hinzugefügt wurde." (Tugendhat, 1984, S. 29).

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aus, was zu Voreingenommenheit und Gegensätzen zwischen den Menschen führen könnte." 49 Die stufenweise Aufhebung des Schleiers des Nichtwissens ist — unter der Voraussetzung einer begründeten Legitimationsbasis — ein durchaus sinnvoller Vorschlag für den gedankenexperimentellen Aufbau von Institutionen. Das philosophisch entscheidende Defizit des Vierstufenganges scheint mir allerdings darin zu liegen, daß die Grundlage der ersten Stufe geltungslogisch unausgewiesen bleibt. Es ist die ideale Vorstellung von Rawls, von einer „deduktiven Grundlage" auszugehen50, und diese sei — so Rawls — der Standpunkt des Urzustandes. Der Urzustand ist der Intention nach ein Zustand der Gleichheit; Gleichheit ist sozusagen die „Nullstufe" 51 als Ausgangspunkt. Auf der „Nullstufe" müßte die Rechtfertigung des Urzustandes und insbesondere der Prämissen des Urzustandes erfolgen; zwar behauptet Rawls, daß die über das „Überlegungsgleichgewicht" methodisch abgestützte Konzeption des Urzustandes adäquater Ausdruck unserer wohlüberlegten Gerechtigkeitsurteile sei. Die methodische Kohärenz ersetzt aber nicht die Klärung der Theorieprämissen: und zu diesen gehört der von Rawls in moralischer Absicht vorausgesetzte Begriff der Gleichheit und im weiteren die Ausstattung der Parteien im Urzustand mit Gerechtigkeitssinn. Die Grundlage der Gerechtigkeitstheorie wird durch diese Prämissenwahl gelegt. Rawls bleibt aber den Ausweis schuldig, daß es zwingende Gründe gibt, gerade diese Prämissen als moralisch relevante Repräsentanten des moralischen Standpunktes zu wählen. Der Schleier des Nichtwissens wird in theoretischer Absicht eingeführt, damit Entscheidungen im Urzustand leichter möglich werden. Mit Tugendhat kann man die kritische Frage stellen, ob nicht möglicherweise durch die Verlagerung der Entscheidung in die theoretische Situation des Urzustandes (statt Erörterung moralischer Probleme auf der „Nullstufe") mit einem „Verlust moralischer Substanz" bezahlt wird; denn „es ist nicht selbstverständlich, daß das Resultat dasselbe bleibt, wenn wir die Idee einer moralischen (unparteiischen) Entscheidung in die zwei Komponenten einer eigennützigen Entscheidung plus Unkenntnis der eigenen Identität auseinandernehmen." 52 49 Rawls, 1975, S. 228. so Vgl. ebd., S. 212, auch S. 143. 5i Tugendhat (1985, S. 23 ff.) spricht von der „Nullstufe" der moralischen Wahl, aus der die Bedingungen des hypothetischen Urzustandes gewählt werden — und zwar durch Rawls selber. Die Grundlage der Gerechtigkeitstheorie durch diese Prämissenwahl als definitorische Merkmale des moralischen Standpunktes entscheidet Rawls sozusagen auf einer „Stufe Null", deren Explikation er schuldig bleibt. Tugendhat weist darauf hin, daß Rawls zeigt, daß der Urzustand dieselben Bedingungen in sich vereinigt, die prima facie den moralischen Standpunkt in sich charakterisieren, aber daß Rawls es versäumt, explizit darzulegen, daß wir gute Gründe haben, gerade die Wahl des hypothetischen Urzustandes und seiner Prämissen als Repräsentanten des moralischen Standpunktes gelten zu lassen. Die Rawlssche Prämissenwahl auf der„Nullstufe" ist nicht begründet; sie ist eine Setzung von Rawls.

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4.14 Maximin-Entscheidungsregel Rawls führt die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze zunächst als prima facie einleuchtende Grundsätze ein und fragt dann nach einer systematischen Begründung: hierzu erscheint es ihm „heuristisch nützlich, sich die beiden Grundsätze als die Maximin-Lösung des Problems der sozialen Gerechtigkeit vorzustellen". 53 Die Maximin-Regel ist eine in der mathematischen Entscheidungstheorie entwickelte Regel, wobei Regel im starken Sinne der Entscheidungslogik verstanden werden muß. Die Maximin-Regel fordert als rationale Entscheidung unter Unsicherheit die Organisation der Alternativen nach den schlechtestmöglichen Ergebnissen (Minima) und Wahl der Alternative mit den besten (Maxima) dieser Minima. Man könnte fragen, was diese Regel mit der Bestimmung von Gerechtigkeitsgrundsätzen zu tun hat. Rawls behauptet eine Beziehung zwischen den beiden Gerechtigkeitsgrundsätzen und der Maximin-Regel für Entscheidung unter Unsicherheit. Der Grund hierfür: die beiden Grundsätze sind diejenigen, „die jemand als Plan für eine Gesellschaft wählen würde, in der ihm sein Feind einen Platz zuweisen kann" 54 . Das Modell, nach welchem derartige Entscheidungsfälle gelöst werden können, ist die Spieltheorie. Unter diesem Begriff ist eine mathematische Theorie zur Bestimmung des günstigsten Verhaltens eines Teilnehmers an einem Spiel gefaßt, dessen Ausgang nicht nur vom eigenen Verhalten, sondern auch von dem seiner Mitspieler und von Zufallskomponenten abhängig ist. Jeder Spieler will soviel wie möglich gewinnen, hat allerdings nur beschränkte Informationen und kontrolliert nur einen Teil der Variablen. Das Maximin-Theorem, dessen mathematische Beweisführung 1928 J. von Neumann erbracht hat, ist in der Lage, genau die Spielzüge zu formulieren (den Sattelpunkt der Funktion anzugeben), die gespielt werden müssen, um einen Spieler gewinnen zu lassen; die mathematische Funktion formuliert einen „Verhaltensstandard (»standard of 52 Tugendhat, 1984, S. 31; auch Höffe urteilt, daß die Sache der Gerechtigkeit durch den Rawlsschen Zweischritt : Parteilichkeit (Eigennutz) (1) und Privation aller Information, die Parteilichkeit ermöglicht (2) eher verstellt als befördert wird; denn das praktische Moment: Überwindung des Eigennutzes, wird theoretisch durch Informationsdefizit operationalisiert; „von dieser irreführenden Verfremdung abgesehen klingt die Sache eher trivial: Uneigennutz ist Eigennutz, der nichts Eigenes kennt; Unparteilichkeit ist Parteilichkeit, der das Wissen einer Partei fehlt." (Höffe, 1980, S. 55). 53 Rawls, 1975, S. 177. Ein heuristisches Verfahren besteht in der Darstellung eines methodischen Weges (in Form von Modellen, Gedankenexperimenten, Hypothesenbildung), auf dem neue Resultate gefunden werden. Die Heuristik hat, wenngleich sie kein stringentes Begründungsverfahren ist, einen wissenserweitenden, einen weiterführenden Charakter. Das heuristische Verfahren ist suboptimal und (im Gegensatz zu systematischen Darstellungen mit eindeutigen Lösungen wie z. B. in der Mathematik) nicht ein zwingender Weg. Es basiert auf Hypothesen und bietet sich an, wo systematische Lösungen, dekuktive Begründungen im strengen Sinne, nicht möglich sind. 54 Ebd., S. 178. 5 Bausch

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behavior'), dem sich die Spieler (die Gesellschaft oder Wirtschaft) unterwerfen müssen, wenn sie bestehen wollen" 55 . Unter den Bedingungen des Urzustandes läßt Rawls die Parteien um Gerechtigkeit »spielen4; die Gewinnlösung des Spiels sind die zwei Grundsätze der Gerechtigkeit; sie ergeben sich nach Rawls zwingend aus den Anweisungen des Maximin-Theorems. Der Rawlssche Vorschlag einer mathematisch formulierbaren Entscheidungsregel für die Lösung eines Problems praktisch normativer Qualität ist überraschend, da die Entscheidungstheorie im allgemeinen Zweck-Mittel-Relationen operationalisiert und bestenfalls zu hypothetischen Imperativen führt. Nun schlägt Rawls den Weg der Entscheidungstheorie zunächst als heuristischen Weg vor, gleichwohl sieht er die Ergebnisse des mathematischen Entscheidungsverfahrens offenbar zureichend rational begründet an und übernimmt sie in das systematische Begründungsprogramm der Gerechtigkeitstheorie. Die Parteien im Urzustand entpuppen sich bei der Grundsatzwahl als besondere Personen, und insofern trifft Rawls eine Vorentscheidung. Die Besonderheit liegt darin, daß sie Risiken minimieren wollen (wenngleich sie nach der Rawlsschen Prämissensetzung ihre Neigung zum Risiko nicht kennen 56 ) und daher keine Maximierungstheoreme Anwendung finden (Maximax-Regel). Ohne die Präferenz der risikoscheuenden Planung aber lassen sich die Rawlsschen Grundsätze mit Rawlsschen Mitteln nicht verteidigen. 57 Sehr anschaulich kennzeichnet Gäfgen den Einfluß differenter psychologischer Strukturen auf die Wahl der Entscheidungstheoreme: „Wer sich an die Maximax-Regel hält, wird nie eine Versicherung abschließen, wohl aber Lotterie spielen; wer sich an die Maximin-Regel hält, wird nie Lotterie spielen, sich dafür aber versichern" 58. Rawls trifft eine weitere Vorentscheidung: die Risiken sind besonders schlechter Art. 59 Diese weitere Vorentscheidung in Verbindung mit der ersten — von Rawls unausgesprochenen — Vorentscheidung risikoscheuender Lebenseinstellung und hoher Präferenz für Sicherheit lassen die Anwendung des MaximinTheorems angemessen erscheinen. Die Grundsätze verdanken sich also der beson-

55 Morgenstern, 1963, S. 96. 56 Vgl. Rawls, 1975, S. 160, siehe auch S. 196 ff. 57 Siehe hierzu: Barber, 1975, S. 230 ff. Barber kritisiert treffend:,,Rawls springt in der Tat von der ursprünglichen Situation, in welcher der Schleier der Unwissenheit Menschen daran hindert zu wissen, was ihre besonderen Positionen sein werden, zu der ungerechtfertigten Schlußfolgerung, diese Unsicherheit werde bei ihnen eine rationale Präferenz für die Minimierung von Risiken hervorrufen" (Ebd., S. 230). 58 Gäfgen, 1968, S. 383. 59 Die Beteiligten im Urzustand rechnen mit der Möglichkeit, daß ihnen ein „Feind einen Platz zuweisen kann" (Siehe im einzelnen Rawls, 1975, S. 178).

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deren Partikularität der Risikoscheu und der Annahme von Risiken besonders schlechter Art in einem der Forderung nach gerade von Partikularitäten freien Urzustand. Wenn die Rawlssche Theorie ein Verfahren zur Generierung gerechtfertigter Gerechtigkeitsgrundsätze sein soll, so müßte die Entscheidung, die im hypothetischen Urzustand getroffen wird, wohl als Prototyp einer allgemeinen moralischen Entscheidung gelten können 60 . Jedoch: die Entscheidung der Beteiligten im Urzustand erfolgt m. E. ohne daß erkennbare moralische Obligationen im Spiel wären; die Akteure im Urzustand müssen sich keine moralischen Imperative zumuten und ihre Entscheidung ist insofern moralisch blind. Die eigentlichen, moralisch gehaltvollen Aspekte sind in den Prämissen (Bedingungen) des Urzustandes selbst zu suchen — wie Rawls in den abschließenden Bemerkungen zur Rechtfertigung der Theorie der Gerechtigkeit selber einräumt 61 . Maximin formuliert gerade das Entscheidungssverfahren, das (unter der Voraussetzung der oben bezeichneten Vorentscheidungen) in dem Urzustand mit seinen speziellen Bedingungen zu den Gerechtigkeitsgrundsätzen führt. Das heißt, die Grundsätze sind von vornherein in die besonderen Formulierungen des Urzustandes in einer solchen Weise hineinkonstruiert, daß im Falle der MaximinRegel-Anwendung die Grundsätze entschieden werden. Zur Generierung moralischer Grundsätze ist offenbar nicht die Entscheidungslogik, es sind vielmehr die von Rawls gesetzten Prämissen bei der Konstruktion des hypothetischen Urzustandes ausschlaggebend. Die Konstruktionselemente des Urzustandes als Gerechtigkeitsnormen erzwingende Umstände lassen sich als operative Unparteilichkeitskriterien interpretieren, ohne daß allerdings den Parteien im Urzustand Unparteilichkeit als deontologische Verpflichtung subjektiv bewußt wäre.

60 Ballestrem kritisiert diesbezüglich: Die Rawlssche Entscheidungsssituation ist aber gekennzeichnet von der theoretisch absichtsvoll konstruierten Unwissenheit der Parteien (Schleier des Nichtwissens). Ballestrem weist darauf hin, daß Unwissenheit eine Eigenschaft ist, die menschlichen Entscheidungen gewöhnlich die für moralische Urteile notwendige Qualität der Freiheit und Verantwortlichkeit raubt (siehe im einzelnen Ballesstrem, 1977, S. 37). Jedoch: der Schleier des Nichtwissens bezieht sich auf partikulare Gegebenheiten und Rawls will etwas allgemeines zur Entscheidung stellen. Allgemeine Gerechtigkeitsgrundsätze können in Freiheit und Verantwortlichkeit entschieden werden, gerade dadurch, daß partikulares Wissen über den spezifischen Inhalt von Interessen ausgeblendet (im Sinne der Nichtberücksichtigung) wird. Insofern ist die Kritik von Ballestrem m. E. nicht zutreffend. „Die Bedingungen für die Annahme von Grundsätzen könnten schon eher notwendige moralische Wahrheiten sein [. ..]" (Rawls, 1975, S. 627).

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4. Rekonstruktion und Kritik der Rawlsschen Theorie

4.15 Entscheidungskriterien 4.151 Nutzen Ausführliche Analysen unternimmt Rawls bei der Prüfung, inwieweit das Nutzenprinzip im Urzustand als Entscheidungskriterium geeignet sein könnte. Nutzen ist ein zentraler Begriff der Wirtschaftstheorie. Formal ist Nutzen zunächst ein zweistelliger Begriff: ein X ist nützlich für ein Y. Ein X ist für den Menschen nützlich in Hinblick auf seine Bedürfnisbefriedigung. Der Mensch als Bedürfniswesen sucht bei der Befriedigung seiner Bedürfnisse mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln wiederum ein Maximum an individuellem Nutzen (individuelle Wohlfahrt) zu erreichen, und die Wirtschaftstheorie belehrt darüber, wie dieses Nutzenparadigma wissenschaftlich zu interpretieren ist. Nutzen und Grenznutzen sind subjektive Intensitätsgrößen, also keine interpersonell vergleichbaren und meßbaren Größen; kardinale Meßbarkeit wird von der Theorie heute auch nicht mehr behauptet; es gilt nach h. L. der von Pareto in seiner Wahlhandlungstheorie entwickelte ordinale Nutzenbegriff. 62 Unabhängig von diesen theoretischen Überlegungen zum Nutzenprinzip und der Meßbarkeit stellt sich in philosophischer Perspektive die entscheidende Frage, in welchem Sinn der Nutzenbegriff überhaupt für moralphilosophische deontologische Konzepte eingeführt werden kann. Rawls untersucht sinnkritische Fragen solcherart nicht — seine Argumentationsstrategie zielt auf eine Utilitarismuskritik. Das Nutzenprinzip ist zentraler Bezugspunkt der utilitaristischen Konzepte von der Benthamschen Maximierungsthese des größten Glücks der größten Zahl bis hin zu den Nützlichkeitsimperativen des Regelutilitarismus; auf der Grundlage einer hedonistischen Anthropologie gilt das Prinzip des Nutzens (utility) als höchstes Beurteilungskriterium von Moral und Recht; denn Nutzen stiftet pleasure', d. h. Freude, Genuß, Vorteil, soziales Glück. Den Begriff ,Nutzen' setzt Rawls entsprechend der utilitaristischen wie auch der alltäglichen Redepraxis als Maß der individuellen Bedürfnisbefriedigung und der persönlichen Wohlfahrt. Diese gilt es nach utilitaristischem Prinzip als Summe über alle individuellen Wohlfahrtsfunktionen zu maximieren. Da das Rawlssche Programm gegen den Utilitarismus „in all seinen Schattierungen" 63 gerichtet ist, will er zeigen, daß das utilitaristische Nutzenprinzip kein Entscheidungskriterium im Urzustand ist. 62

Kardinale Meßbarkeit des Nutzens behauptet quantitative Meßbarkeit der Nutzengrößen; diesen Rückgriff auf quantitative Meßbarkeit vermeidet die Theorie der Wahlakte: sie begnügt sich mit einem ordinalen Nutzenbegriff, d. h. der Aussage, daß gewisse Kombinationen von Gütermengen anderen Kombinationen gleichgesetzt oder vorgezogen werden (dargestellt in einer Indifferenzkurvenschar), ohne das Maß solcher Bevorzugung in kardinalen Größen auszudrücken. 63 Rawls, 1975, S. 40.

4.1 Architektonik der Rawlsschen Theorie

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Rawls kritisiert das utilitaristische Nutzenparadigma mit folgendem Argument: „Die Gerechtigkeitsgrundsätze beziehen sich auf die gesellschaftliche Grundstruktur und die Bestimmung der Lebenschancen. Und das Nutzenprinzip verlangt gerade Opfer auf diesem Gebiet. Der größte Vorteil anderer hat auch den Benachteiligten Grund zu sein, während ihres ganzen Lebens Verzicht zu leisten"64. Da die Beteiligten im Urzustand aber ihre eigenen Interessen im Auge haben, sind sie nicht an einer Maximierung einer Gesamtnutzensumme (klassische Utilitarismuslehre) interessiert, sondern zunächst und zumeist nur an der Maximierung der eigenen Nutzensumme. Auch eine Maximierung der Durchschnittsnutzen ist kein zu berücksichtigendes Entscheidungskriterium, da für den jeweils einzelnen Beteiligten sein Nutzen relativ kleiner als der Durchschnittsnutzen sein könnte, und es dann offenbar davon abhängen muß, wie dieses Risiko eingeschätzt wird. Der Schleier des Nichtwissens im Urzustand führt zu einer Entscheidung unter Unsicherheit; und da den Parteien die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze zur Verfügung stehen (sie wählen ja komparativ aus einer Liste alternativer Konzepte, unter denen neben anderen Auffassungen gesellschaftlicher Organisation auch die zwei Grundsätze der Gerechtigkeit stehen)65, umgehen sie, geleitet durch rationales Selbstinteresse, mit der Wahl der zwei Grundsätze der Gerechtigkeit die für die individuelle Wohlfahrt bestehenden Unsicherheiten des utilitaristischen Nutzenprinzips (sei es in der Summenmaximierungsform oder in der Durchschnittsmaximierungsform gefaßt). 4.152 Gesellschaftliche Grundgüter Gesellschaftliche Grundgüter sind nach Rawls Güter, die fundamental wichtig für die individuellen menschlichen Lebenspläne sind, welchen konkreten Inhalt diese Pläne auch immer haben mögen. Grundgüter sind demgemäß Dinge, von denen Rawls annimmt, daß jeder vernünftige Mensch sie unabhängig von seinen speziellen Präferenzen und Wünschen begehrt. Rawls rechnet damit, daß die Menschen lieber mehr als weniger der gesellschaftlichen Grundgüter haben wollen, da der Umfang der individuell verfügbaren Grundgüter für die individuellen Lebensaussichten entscheident ist. 66 Asketische oder altruistische Lebensweise ist für Rawls eine mögliche, aber keine verallgemeinerbare Lebensmaxime. Durch das Konzept der Grundgüter vermeidet Rawls auf elegante Weise eine Reihe von Problemen der Nutzenmessung und des interpersonalen Nutzenvergleichs, in den sich die Wohlfahrtsökonomen und die Nutzentheoretiker wie auch die an dem Nutzenprinzip orientierten Moralphilosophen verstrickten, ohne daß Rawls damit den sinnvollen Gehalt des Nutzenbegriffes — nämlich Abhebung auf die individuelle Bedürfnisbefriedigung — preisgegeben hätte; denn durch Ebd., S. 204. 65 Vgl. im einzelnen ebd., S. 146. 64

66 Vgl. im einzelnen ebd., S. 112, S. 166.

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4. Rekonstruktion und Kritik der Rawlsschen Theorie

das Grundgüterkonzept wird der allgemeinen Bedürfnisform der Menschen, welche individuellen konkreten Bedürfnissinhalte sie auch immer haben möge, Ausdruck gegeben. Durch das Grundgüterkonzept werden von Rawls Güter formuliert, für die eine interpersonal gleiche Nutzenfunktion unterstellt werden darf. Dieses ist in der Tat eine zunächst bestechende Idee. Allerdings häufen sich die Schwierigkeiten, wenn das formale Konzept der Grundgüter konkretisiert, d. h. Grundgüter konkret benannt werden sollen. Rawls listet auf: Rechte, Freiheiten, Chancen sowie Einkommen und Vermögen, ferner Selbstwertgefühl und Selbstachtung.67 Jedoch: wie steht es um die Gültigkeit dieser kontingenten Liste? Und: wie steht es um das Verhältnis der einzelnen Grundgüter zueinander? Ferner: da die Konstruktion des Urzustandes die Beteiligten als aneinander desinteressiert definiert, sind die Rawlsschen Grundgüter auf solche eingeschränkt, die weitgehend ohne genuin soziale Bezüge denkbar sind. Kann jedoch ein so extrem individualistisch gedachtes idealisierendes Konzept menschlicher Grundgüter überhaupt als der realen Interessenlage der Menschen angemesses Äquivalent behauptet werden? Die von Rawls als Grundgüter konkret vorgeschlagene Liste kann bestenfalls als ein unabgeschlossener Vorschlag gelten, der einer Fortbestimmung (möglicherweise zu einer Revision) im argumentativen Diskurs durch die Betroffenen, die ihre Interessen artikulieren, bedarf.

4.153 Interessen Rawls setzt voraus, daß die Akteure im Urzustand „Interessen höchster Stufe" und „grundlegende Ziele" 6 8 haben, anhand derer sie bestimmen, welche Lebensform und welche untergeordneten Ziele sie im einzelnen haben möchten. Diese Interessen wollen sie schützen; und „da sie wissen, daß die Grundfreiheiten im Sinne des ersten Grundsatzes diese Interessen schützen, müssen sie die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze und nicht das Nutzenprinzip anerkennen"69. Die Verwendung der Begriffe ,Interessen höchster Stufe und »grundlegende Ziele4 scheint zunächst unscharf: entweder handelt es sich hier um Personen, die bereits einen bestimmten ,moral point of view 4 haben — dann wäre das ganze Rawlssche Unternehmen in dem Sinne tautologisch, daß dieser point of view nur expliziert wird, ohne daß er damit begründet wäre; oder Interesse und Ziele sind Maximierungsausdrücke des eigenen Wohls — und dann stünde das Rawlssche Unternehmen entgegen der eigenen Intention noch im Schatten der utilitaristischen Tradition. 67 Vgl. im einzelnen ebd., S. 83 und 112. 68 Ebd., S. 200. 69 Ebd.

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Es ist daher genau zu klären, welche Bedeutung und welchen Status die „Interessen" in der Rawlsschen Theorie haben. Der Vorstellung von Rawls gemäß sollen im Urzustand keine partikularen Interessen gelten. Die Parteien haben so etwas wie ein allgemeines Interesse an Realisierungsmöglichkeiten von besonderen Interessen, ganz gleich, welchen Inhalt diese haben könnten und welche sie selbst entwickeln könnten. Die Beteiligten im Urzustand „entscheiden allein aufgrund dessen, was ihnen am besten ihren Interessen zu dienen scheint, soweit sie sie ausmachen können" 70 . Rawls verwendet den Begriff ,Interesse4 in drei Hinsichten mit jeweils unterschiedlichen Fluchtpunkten: (1) Im Fluchtpunkt der ersten Hinsicht steht das Selbstinteresse; diese Hinsicht ist die der Entscheidungslogik: der durch Selbstinteresse geleitete Stratege entscheidet nach Zweck-Mittel-Rationalität entsprechend der formalen Maximin Regel. In dieser ersten Hinsicht kommt der instrumentalisierte und reduzierte Rawlssche Vernunftbegriff zum Ausdruck: nach Rawls soll der „Begriff der Vernünftigkeit im engstmöglichen Sinne verstanden werden, wie es in der Wirtschaftstheorie üblich ist: daß zu gegebenen Zielen die wirksamsten Mittel eingesetzt werden" 71. Im folgenden versucht Rawls den Begriff zwar durch eine ,Kantische Deutung4 anders zu schattieren, doch will Rawls in den Begriff der Vernünftigkeit nach Möglichkeit keine ethischen Eigenschaften hineinlegen. Sogar moralisch hochbedeutsame Begriffe wie den der Achtung stellt Rawls in diese Perspektive: Achtung wird zum Mittel, denn Motiv für die „Anerkennung der Pflicht 44 der Achtung ist Rawls, daß jedermann einen „Vorteil 44 vom Leben in einer Gesellschaft hat, „in der die Pflicht gegenseitiger Achtung erfüllt wird. " 7 2 Hier scheint Rawls ganz in Tradition utilitaristischer Vernunft zu stehen. Wenngleich Rawls in Anspruch nimmt, inhaltlich der Ethik Kants nahe zu stehen, so ist hier der Ort, auf die prinzipielle Differenz kantischer Ethik und der Rawlsschen Gerechtigkeitsethik hinzuweisen: Gemäß Kant 70 Ebd., S. 634. Die Rawlssche Vorstellung eines so verstandenen allgemeinen Interesses der Parteien im Urzustand wird von Barber kritisiert; es ist Barber fraglich, ob man sich Menschen so vorstellen kann, als hätten sie „ein hypothetisches Wisssen davon, was es heißt Interessen und Bedürfhisse zu haben, ohne daß sie besondere Interessen und Bedürfnisse haben44 (Barber, 1977, S. 227). Partikularinteresselose Menschen wären unfähig, die Bedeutung von »Interesse4 zu erfassen. — Doch diese Kritik trifft Rawls meines Erachtens nicht; denn die faktische Möglichkeit der Einlösbarkeit des Phänomens eines allgemeinen Interesses ohne partikulare Interessen ist für die Konsistenz der Rawlsschen Theorie unerheblich; für Rawls sind der Urzustand und seine Konstruktion ein Darstellungsmittel und die Parteien im Urzustand sind theoretisch definierte Menschen; Rawls fordert einfach auf, entsprechend den Einschränkungen des Schleiers des Nichtwissens gedankenexperimentell vorzugehen. 71 Rawls, 1975, S. 31. 72 Ebd., S. 373.

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4. Rekonstruktion und Kritik der Rawlsschen Theorie

gebührt durch den kategorischen Anruf des Sittengesetzes dem Menschen als Zweck an sich selbst Achtung, ganz unabhängig von dem Tun und Lassen des zu achtenden Menschen. Dies ist kategorische Forderung unbedingter Anerkennung 73. Sittliche Pflicht gebietet, die Freiheit des anderen ohne Rücksicht darauf zu achten, ob dieser sich zu der Freiheit der anderen ebenso verhält. In der Rawlsschen Theorie der Gerechtigkeit ist dagegen Achtung bestimmt als gegenseitige Anerkennung im Interesse an den Folgen der kooperativen Zusammenarbeit. Achtung ist telosorientiert und nicht transzendental begriffen als Möglichkeitsbedingung vernünftiger interpersonaler Beziehung. (2) Es steht aber auf der anderen Seite und in einer zweiten Hinsicht meines Erachtens außer Zweifel, daß Rawls, weit über diesen instrumentalisierten Vernunftbegriff hinausgehend, ein moralisches Vernunftprinzip intendiert: so „[...] soll man andere Interessen als die eigenen abwägen und sich von einer Vorstellung von Gerechtigkeit und dem öffentlichen Wohl statt von den eigenen Neigungen leiten lassen. Man muß seine Auffassungen anderen erklären und begründen und sich daher auf Grundsätze berufen, die diese anerkennen können"74. „Jemanden als moralisches Subjekt achten, heißt [...] versuchen, seine Ziele und Interessen von seinem Standpunkt aus zu verstehen und ihm Überlegungen vorzulegen, auf Grund derer er die seinem Verhalten auferlegten Beschränkungen anerkennen kann"75. — Wie wahr! Und hier ist der intentionale Ort, wo sich Rawls, Kant und die Diskursethik treffen. Allerdings ist Rawls in Passagen, wie oben zitiert, stets thetisch, ohne Explikation, geschweige denn Begründung des »Sollens4. Die intentionalen Ansätze kommunikativer, dialogischer Rationalität sind erkennbar, jedoch werden sie von Rawls nicht mit der notwendigen Sorgfalt untersucht. Hier wären Strukturen der Achtung und Verpflichtungsgegenseitigkeit zu entfalten, aus denen genuin moralische Normen expliziert werden können. Dieses ist das Programm der Diskursethik, welches, wie später gezeigt werden wird, quer steht zu der Entscheidungslogik der Beteiligten im Urzustand. Durch die kritische Kommentierung (1) und (2) allerdings ist bisher der Sinn und der systematische Status der Interessen in der Rawlsschen Theorie-Konzeption noch nicht hinreichend interpretiert. Die umfassende dritte Hinsicht ergibt sich meines Erachtens durch Analyse des Status, den die Interessen im Rahmen des theoretischen Rawlsschen Gedankenexperiments einnehmen; eine solche Interpretation vermittelt die in (1) und (2) skizzierten Interpretations vorschlage. (3) Die Beteiligten sind fiktive Personen und nicht wirkliche Mitglieder der Gesellschaft. Die Annahme eines rationalen Selbstinteresses der Beteiligten 73 Vgl. hierzu den Aufsatz von Girndt „Unbedingte Anerkennung als Grundlage vernünftigen Selbstbewußtseins [...]", in Girndt (Hrsg.), 1990, S. 83 ff. 74 Rawls, 1975, S. 265. 75 Ebd., S. 373.

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im Urzustand ist für Rawls ein wichtiger Teil des Gedankenexperiments zur Generierung der Gerechtigkeitsprinzipien. Der Intention von Rawls unangemessen wäre allerdings, dieses im Gedankenexperiment angenommene egoistische Selbstinteresse als Ursache der Entwicklung moralischer Normen zu deuten76. Solches würde den Status des Selbstinteresses im Rawlsschen Gedankenexperiment pervertieren; es kommt Rawls gerade darauf an, die Idee der Gerechtigkeit verfahrensgemäß mit Interessen zu verbinden, die sowohl jeder hat, wie auch gleichermaßen mit Interessen, die jedem gleichermaßen zuerkannt werden müssen. Und dieses geschieht im Gedankenexperiment wie folgt: der Schleier des Nichtwissens vernichtet alle Individualität und Ρ artikular ität - und so auch das partikulare Selbstinteresse. Die Beteiligten urteilen alle in der gleichen Weise. Daher genügt es Rawls auch, die Überlegungen und die Urteile eines Beteiligten allein durchzuspielen. Die Beurteilung der Grundsätze der Gerechtigkeit wird zum Entscheidungsproblem eines Einzelnen und seines ,Interesses' der Maximierung der Ausstattung mit Grundgütern. Dieses Selbstinteresse kann nicht als ,egoistisches4 Verhalten im Sinne des ausschließlichen Berücksichtigens individueller partikularer Interessen gedeutet werden, denn die Beteiligten können durch die Prämissen der theoretischen Konstruktion des fiktiven Urzustandes (Schleier des Nichtwissens, Unkenntnis der Eigenart der Interessen) eine solche Partikularität und Individualität schlechthin gar nicht entwickeln. Rawls will auf diese Weise durch den Schleier des Nichtwissens nur noch das formale Selbstinteresse in den Dienst der Konstruktion zur Generierung der Gerechtigkeitsgrundsätze gestellt sehen. Rawls überwindet damit zwar den materialen Utilitarismus von Besitzindividualisten, nicht aber den methodischen Utilitarismus der Fragestellung. Selbstinteresse ist ein empirischer Ausgangspunkt der Rawlsschen Theorie, und dieses wird überaus geschickt eingetragen in die Konstruktionszusammenhänge des Urzustandes. Gerechtigkeitsgrundsätze werden im Urzustand zu einem egoistischen' Interesse der Beteiligten an einer möglichst umfassenden Grundgüterausstattung, ohne daß diese »egoistische' Interessenausrichtung mit nachteiligen Wirkungen für die übrigen Gesellschaftsmitglieder verbunden wäre 77 .

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Solches wollte der sozialvergessene Hobbes denken: der hobbessche methodische wie ontologische Individualismus setzte das egoistische Selbstinteresse als Erstes (Ursache) und dachte Gesellschaft als Ergebnis (Folge) dieses Selbstinteresses in Verbindung mit der im Naturzustand allgegenwärtigen Furcht vor dem gewaltsamen Tod. Nicht von ungefähr bezieht sich Rawls meines Wissens an keiner Stelle auf das prominente Gesellschaftsvertragsmodell von Hobbes, sondern auf das von Kant und Rousseau. 77 Vgl. hierzu auch Kley, 1989, insbesondere S. 395. Kley in Übereinstimmung mit der hier vertretenen Auffassung: „Mit dem Selbstinteresse der Beteiligten gibt Rawls [...] den Gerechtigkeitsansprüchen [...] eine für sein Gedankenexperiment geeignete Form" (S. 395).

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4. Rekonstruktion und Kritik der Rawlsschen Theorie

In der Rawlsschen Gerechtigkeitstheorie von 1971 / 1975 ist das so interpretierte Selbstinteresse Entscheidungskriterium im Rahmen des Gedankenexperiments. In späteren Arbeiten nimmt Rawls allerdings Differenzierungen vor: In dem Aufsatz Kantian Constructivism in Moral Theorie 78 (1980) repräsentieren die Beteiligten im Urzustand moralische Personen, die als Vernunftpersonen vornehmlich (erste Priorität) interessiert sind, sich moralisch zu verhalten, und erst dann (zweite Priorität) an der Realisierung ihrer eigenen Lebenspläne, deren Spezifika hinter dem Schleier des Nichtwissens verborgen bleiben. In dem Aufsatz The Basic Liberties and their Priority (1982) bleibt zwar die Vorstellung der Repräsentation einer moralischen Person im Urzustand bestehen, allerdings bildet wiederum die Realisierung des (vom Schleier des Nichtwissens in seinen Eigenarten verdeckten) individuellen Lebensplanes das erste und wichtigste Interesse der Beteiligten. „The parties are moved solely by considerations relating to what furthers the determinate conceptions of the goods of the persons they represent, either as a mean or as a part of these conceptions"79. Die Indienststellung der Gerechtigkeit als Mittel zum Zweck der Realisation individueller Lebenskonzepte rückt die Rawlssche Theorie hier wieder in die Nähe regelutilitaristischer Ethikkonzepte. Die Beteiligten im Urzustand sind Interessenvertreter (Repräsentanten) der Mitglieder einer wohlgeordneten Gesellschaft; sie vertreten das bestimmte Interesse, die vielfältigen und unterschiedlichen (aber inhaltlich unbekannten) Lebenspläne, die die Menschen einer wohlgeordneten Gesellschaft haben könnten, zu fördern durch Formulierung entsprechender Regeln; und unter dem Schleier des Nichtwissens können die Interessenvertreter nur wie folgt entscheiden: „[...] the parties, in order to advance the determinate conceptions of the good of the persons they represent, are led to adopt principles that encourage the development and allow for the full and informed exercise of the two moral powers" 80. Es ist offensichtlich, daß Gerechtigkeit hier Konotationen des Mittels erhält. Das Mittel allerdings erscheint in zwei Hinsichten: einmal als Mittel für die 78 Vgl. Rawls, 1980, S. 515-572. Rawls unterstellt den Beteiligten im Urzustand „ »highest order' interests", und das heißt: „that they aim to secure the interests of their moral personality and to try to guarantee the objective social conditions that enable them rationally to access their final ends [...]" (Ebd., S. 547). In einer späteren Klarstellung zu dem Aufsatz Kantian Constructivism in Moral Theorie erklärt Rawls: „The adjective ,Kantian' indicates analogy not identity, that is resemblance in a enough fundamental respect so that the adjective is appropriate. These fundamental respects are certain structural features of justice as fairness and elements of its content, such as the distinction between what may be called the Reasonable and the Rational, the priorty of the right, and the role of the conception of the person as free and equal and capable of autonomie, and so on." (Rawls, 1985, S. 225 -Fußnote). 79 Vgl. Rawls, 1982, S. 29. so Ebd., S. 39.

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Realisierung der partikularen Lebenspläne, zum anderen als Mittel im allgemeinen Interesse eines Lebens als moralische Person.

4.16 Entscheidungssubjekte Rawls setzt „durchweg" voraus, daß die Menschen im Urzustand „vernünftig" sind, d. h. nach den Bestimmungen von Rawls: sie haben ein widerpruchsfreies Präferenzsystem, wollen gewöhnlich lieber mehr als weniger gesellschaftliche Grundgüter haben, sind nicht von Neid bestimmt und haben einen Gerechtigkeitssinn. 82 In der Theorie der Gerechtigkeit von 1971/75 faßt Rawls den Vernunftbegriff zunächst „engstmöglich" 83 — nämlich so, wie es in den Wirtschaftswissenschaften üblich ist: Optimierung der Zweck / Mittel Relation. Diese Fassung eines instrumentalisierten Vernunftbegriffes bestimmt wesentlich weite Teile der in der Theoriesprache der Wirtschaftswissenschaften gehaltenen Explikationen von Rawls zum Unterschiedsprinzip. In der Theorie der Gerechtigkeit von 1971 / 1975 sind die Akteure im Urzustand rationale Personen, die aus Klugheitsgründen nach dem Paradigma der ZweckMittel-Rationalität strategisch angeleitet die Grundsätze der Gerechtigkeit entscheiden. Dabei lassen sich die Akteure im Urzustand nicht von dem ethischen Wert der Grundsätze leiten. Sie sind vielmehr in dem theoretischen Entwurf von 1971/75 entsprechend dem spieltheoretisch orientierten Ansatz zweckrational entscheidende Akteure; moralische Verpflichtung ist für sie kein Entscheidungskriterium, denn sie repräsentieren in der Theorie der Gerechtigkeit in keiner Weise moralische Personen 85.

si Entfällt. 82 Vgl. im einzelnen Rawls, 1975, S. 166 — 169 [engl. Ausg. 1971 S. 142]. 83 Vgl. Rawls, 1975, S. 31; [engl. Ausg. 1971 S. 14]; siehe auch S. 170, 449. Was Rawls Vernunft (engl. ,reason') nennt, ist Zweckrationalität. Er erweitert den Begriff später allerdings um die Attribute »Gerechtigkeitssinn4 und »Neidfreiheit' (Ebd., S. 169 ff.), ohne allerdings diese Attribute zu klären. Diese wichtigen Attribute sind für Rawls in der Theorie der Gerechtigkeit von 1971/75 offenbar Prämissen, die sicherstellen, daß die Konstruktion des Urzustandes in der von Rawls intendierten Weise funktioniert. 84 Entfällt. 85 Wie oben bereits angemerkt, änderte 1980 Rawls diesen Ansatz. In dieser neueren Sichtweise beruht die Vorstellung von Rawls darauf, daß die Person im Urzustand moralisch ist. Im Aufsatz Kantian Constructivism (1980) wird die Änderung der Argumentation deutlich: Die Rolle des Urzustandes „is to establish the connection between the model-conception of a moral person and the principle of justice [...] It serves this role by modelling the way in which the citizen in a well ordered society, viewed as a moral person, would ideally select first principles of justice for their society" (Rawls, 1980, S. 520).

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4. Rekonstruktion und Kritik der Rawlsschen Theorie

Die von Rawls in »Theorie der Gerechtigkeit 4 1971/75 angenommene Handlungsrationalität der Parteien im Urzustand hat Tradition — es ist die Rationalität eines ,homo oeconomicus4 des 19ten Jahrhunderts, beziehungsweise seiner Steigerungsform im 20ten Jahrhundert als »rational evaluative maximizing man4 (REMM), einer jeweils sprachvergessenen, vernunftverkürzten Erscheinungsform des »homo sapiens4. a) homo oeconomicus Die Probleme des wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsgegenstandes zeichnen sich durch große Komplexität aus, die den Wirtschaftswissenschaftler zur Abstraktion zwingt, um überhaupt zu analytischen Ergebnisen zu gelangen. Ein Mittel der Abstraktion ist — um mit Max Weber zu sprechen — die Entwicklung von Idealtyen 86 . So entwarf David Ricardo den Typ des ,homo oeconomicus4 als methodisches Hilfsmittel zur Erklärung rationalen Handelns in den Modellen der Wirtschaftstheorie: es werden verschiedene ideale Märkte mit einem System von Angebots- und Nachfrageanpassungen, Gleichgewichten und Ungleichgewichten konstruiert, in denen die berechenbaren Handlungen eines ,homo oeconomicus4 konstituierendes Moment ist. Der ,homo oeconomicus4 soll als idealtypisches Konstrukt empirisches Wirtschaftsverhalten verständlich machen. Er ist ein die ökonomische Rationalität verkörpernder Idealtyp: er hat vollständiges Wissen über die Marktmechanismen, reagiert unendlich schnell, handelt rational im Sinne der Zweck-Mittel-Rationalität. Der ,homo oeconomicus4 geistert seit Ricardo als ein mathematisch handhabbares und übersteigertes Mittel der Abstaktion in Form eines Idealtypus bis heute durch die volkswirtschaftliche und betriebswirtschaftliche Theorie; er ist bestimmt als ein in den Marktgesetzlichkeiten produzierendes, konsumierendes, tauschendes Wesen, dessen einzig orientierendes Kalkül „Gewinn 44 ist. Das Ergebnis dieser ökonomischen Rationalität wird als Gesamtnutzenmaximum (Wohlfahrtsmaximierung) behauptet, ein Paradigma, welches zunächst die Wohlfahrtsökonomie bestimmte. Das Phänomen der durch den rein markwirtschaftlich operierenden ,homo oeconomicus4 bewirkten externen Effekte zwang die volkswirtschaftliche Forschung zu differenzierterer Analyse in Hinsicht auf die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen. Es wurde der Nachweis geführt, daß im Falle des Vorliegens von externen Effekten das Ziel der optimalen Allokation der Ressourcen allein durch die Rationalität des ,homo oeconomicus4 nicht erreicht wird und es daher staatlicher Eingriffe in den marktwirtschaftlichen Allokationsprozeß bedarf (Theorie der öffentlichen Güter).

86 Zum Begriff des Idealtypus vgl. Girndt in „Historisches Wörterbuch der Philosophie", Ritter/Gründer (Hrsg.), 1976, Bd. 4, S. 47 f.

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b) homo prude ns Allerdings erlebt der ,homo oeconomicus' eine unvorhergesehene Renaissance in Form seiner eigenen Steigerung als ,homo prudens 4, Idealtyp eines klug berechnenden Menschen mit dem neuen Namen ,REMM 4 — eine Abkürzung für »resourceful, evaluative, maximizing man4 8 7 . Die Funktion dieses Idealtyps ist die gleiche wie die des ,homo oeconomicus4: Erklärung und Verständlichmachung empirischer Wirtschaftsvorgänge. Der klassische ,homo oeconomicus4 wurde unter den komplexen Bedingungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit von seinen Begrenzungen befreit zu einem Subjekt strategisch-technischer Vernunft, das über geistige Resourcen verfügt (resourceful), seine Bedürfnisse subjektiv bewertet (evaluative), die Alternativen ordnet und unter der wirklichkeitsnahen Einschränkung unvollständiger Information (Informationsmangel im Sinne der Spieltheorie) maximale Bedürfnisbefriedigung anstrebt. „REMM ist der verallgemeinerte, an Informationsmangel leidende, in soziale Beziehungen und Institutionen eingebettete, kluge Gratifikationsmaximierer, der seine reale Wahlmöglichkeit ebenso wie seine Restriktionen kennt und sorgfältig evaluiert" 88 . Dieses Verhaltensmodell entspricht dem Handeln des in der Rawlsschen Theorie von 1971/75 im Urzustand entscheidenden Menschen89. Die „Vernünftigkeit44 der Parteien im Urzustand faßt Rawls ausdrücklich als „Einsatz wirksamer Mittel zur Zielerreichung mit einheitlichen Aussichten und objektiver Auffassung der Wahrscheinlichkeit. 4490 Der Rawlssche Akteur im Urzustand ist voll hypothetischer und fiktiver Verhaltensannahmen, jedoch ohne jede normierende Kraft im ethischen Sinne, weil die Handlungskriterien des Beteiligten im Urzustand genau wie die der Kunstfigur des REMM selbst nicht normativ begründet sind. In der Rawlsschen Theorie von 1971/75 handelt der Akteur im Urzustand als der nach dem REMM-Paradigma klug entscheidende, egoistisch vorteilsorientierte, sprachlos und kommunikationslos gebliebene Individual-Utilitarist. c) homo sapiens Während der ,homo oeconomicus4 und seine Steigerungsform ,REMM 4 durch die Rationalität technisch-strategischen Handelns gekennzeichnet sind, so ist es der ,homo sapiens4 durch seine moralische Vernunftorientierung. 87 Die Formel ,REMM' stammt von Meckling. Siehe im einzelnen: Ulrich, 1989, S. 234-243. ss Ulrich, 1989, S. 241. 89 So auch Ulrich, 1989, S. 558: „Dem Menschen wird im hypothetischen Urzustand eine am Eigennutz orientierte Motivation und Rationalität unterstellt, wie sie etwa die Kunstfigur des REMM kennzeichnet". 90 Rawls, 1975, S. 170.

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4. Rekonstruktion und Kritik der Rawlsschen Theorie

Rawls behauptet nun, daß die Akteure im Urzustand ihre Natur als freie, gleiche und vernünftige Wesen ausdrücken, indem sie die Grundsätze der Gerechtigkeit wählen und nach ihnen handeln. Sie handeln als eine Art „intelligibles Ich" 9 1 . Der Vorschlag von Rawls ist der, „die wichtigen Parallelen zwischen dem Urzustand und dem Blickwinkel herzustellen, unter dem das intelligible Ich die Welt sieht. Die Parteien als intelligible Personen haben völlige Freiheit, beliebige Grundsätze zu wählen, aber sie möchten auch mit eben dieser Wahlfreiheit ihre Natur als vernünftige und gleiche Mitglieder des intelligiblen Reiches ausdrücken. [...] Die Menschen zeigen also ihre Freiheit, ihre Unabhängigkeit von den natürlichen und gesellschaftlichen Zufälligkeiten, wenn sie nach Grundsätzen handeln, die sie im Urzustand anerkennen würden" 92. Der metaphysische4 Ton solcher Sätze fällt auf; das ist um so überraschender, als Rawls auf der einen Seite die Dualismen Kants überwinden will — andererseits jedoch die Personen als Teilhaber eines intelligiblen Reiches der Freiheit zu charakterisieren scheint. Auf ähnliche kritische und von verschiedenen Seiten erhobenen Bemerkungen hat Rawls erwidert, daß die Voraussetzungen seiner Theorie „political and not metaphysical" seien.93 Wenn man allerdings die alte Redeweise ,homo sapiens4, der Mensch als vernunftbegabtes Wesen, verwendet, so kommt offensichtlich alles darauf an, wie der Begriff »Vernunft 4 gefaßt wird. Ist Vernunft gemeint als ethische, praktische Kompetenz (1) oder als spekulatives Vermögen metaphysischen Denkens (2) oder als dialogischer Raum (3)? Dietrich Böhler 94 untersucht die Frage, ob praktische Vernunft einfach als sowohl kommunikative wie ethische Kompetenz handelnder Personen begriffen werden kann, oder ob sie nicht immer auch als dialogischer Raum intersubjektiven Sinnes und intersubjektiver Geltungsstiftung verstanden werden muß. 91 Ebd., S. 288. 92 Ebd. 93 Vgl. insbesondere Rawls, 1985, S. 223-251. Rawls räumt zwar ein: „The description of the parties may seen to presuppose some metaphysical conception of the person, for example that the essential nature of persons is dependent and prior to the contingent attributes [...] and indeed, their character as a whole." (ebd. S. 238) Jedoch fährt Rawls wie folgt fort: „But this is an illusion caused by not seeing the original position as a device of representation" (ebd.); Und: „The conception of citizen as a free and equal person in not a moral ideal to govern all of life, but is rather an ideal belonging to a conception of political justice which is to apply to the basis structure/ 4 (ebd. S. 245; Hervorhebungen T. Β.). Ich werde in Kapitel 9. in Absetzung und Ergänzung der Rawlsschen wenig überzeugenden Strategie »political not metaphysical4 das diskursethische Begründungskonzept vorschlagen. Diese Begründung ist nicht metaphysisch, sondern transzendentalpragmatisch entwickelt und führt zu dem inhaltlichen Moment der gegenseitigen Anerkennung, zu der wir uns als Subjekte ethisch-praktischer Vernunft verpflichtet sehen. Die aus diesem Ansatz entwickelten Diskursimperative sind nicht »political4 vielmehr gelten sie als begründete Imperative auch für die Politik. 94 Siehe im einzelnen Böhler, 1986a, S. 294-307; 1991, S. 8 f.

4.1 Architektonik der Rawlsschen Theorie

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In der transzendentalpragmatischen Theorie der Moralphilosophie wird von der argumentativen Handlungsebene aus auf die Geltungsebene reflektiert und in dieser Reflexion werden deontische, normativ gehaltvolle Präsuppositionen vernünftige Argumentation ausgewiesen. Sie versteht und expliziert Vernunft als dialogischen Raum (Böhler), in dem Geltungsansprüche erhoben und kritisiert werden. Vernünftigkeit, verstanden als die Kompetenz, sich an universalen Geltungsansprüchen zu orientieren, ist als Bedingung ihrer eigenen Möglichkeit verwiesen auf den dialogischen Raum der gleichberechtigten freien Kommunikation. Der dialogische Raum ist Realisierungsbedingung der Vernunft. Er ergibt sich aus einer Rekonstruktion der Vernunft. Diese Rekonstruktion legt die Sinnund Geltungsbedingungen des Denkens und Redens frei und vergewissert sich ihrer in strikter Reflexion auf die unhintergehbaren Bedingungen der Möglichkeit des Argumentierens. Die Vernunftkompetenz des Einzelnen als Argumentierendem wird rekonstruiert als sich im argumentativen Dialog wissen, im Erheben und kritisch kooperativen Prüfen von Geltungsansprüchen in dem logischen Universum der kontrafaktisch antizipierten idealen Kommunikationsgemeinschaft (Apel). Jeder Mensch kann einen Anspruch auf Vernunft erheben, einlösen kann er diesen Anspruch aber nur im Rändeln' — Handeln im umfassenden Sinne mit anderen in einer realen Kommunikationsgemeinschaft, die sich der kontrafaktisch antizipierten idealen Kommunikationsgemeinschaft verpflichtet weiß. Ein derart angedeuteter kommunikativer Vernunftbegriff verdankt sich der transzendentalen Reflexion auf die Sinnkriterien der Argumentation und der moralischen Achtung der anderen als Adressaten und kooperative Kritiker der mit Geltungsansprüchen vorgebrachten Argumente. Der ,homo sapiens4 ist gemäß dem hier skizzierten Vernunftbegriff als der entsprechend den Kommunikationsverpflichtungen Handelnde, sich im Diskurs wissende und sich in die Dimension praktischer Vernunft stellende Mensch gefaßt, der seine ethische Kompetenz kommunikativ ausübt. Wenn Rawls in dem Kapitel „Die kantische Deutung der Gerechtigkeit als Fairneß" 95 behauptet, daß die Akteure im Urzustand über Grundsätze im gleichen Sinne entscheiden, wie in einer parallelen Betrachtung auch „intelligible Personen" entschieden haben würden 96 , so ist nicht klar, was damit genau gemeint ist; erst eine transzendentalpragmatische Transformation im Sinne Apels klärt meines Erachtens das auch von Rawls intendierte Vernunftmoment kommunikativer Rationalität. Rawls nimmt in Anspruch, durch sein auf Vertragstheorie gestütztes Gerechtigkeitsmodell die Intentionen der Kantischen Vernunftethik einzulösen. Doch die 95 Vgl. Rawls, 1975, § 40, S. 283 ff. „Die Kantische Deutung der Gerechtigkeit als Fairneß". 96 Vgl. Rawls, 1975, S. 288.

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4. Rekonstruktion und Kritik der Rawlsschen Theorie

Kantische Position wird meines Erachtens durch Rawls nicht eingeholt; denn nach Kant kann dank praktischer Vernunft jeder einzelne das Sittengesetz (Kategorischer Imperativ) einsehen. Das Sittengesetz stellt einen hohen kognitiven Anspruch und gilt kategorisch. Die Beteiligten im Urzustand allerdings brauchen sich nur hypothetische Imperative zuzumuten, sie fällen zweckrationale Entscheidungen. Der fiktiven gesellschaftsvertraglichen Vereinbarung in der Rawlsschen Theorie von 1971/75 fehlt aus der Perspektive der Beteiligten jedes Motiv moralisch praktischer Einsicht. Die ethisch fundierte Einsicht bleibt in den theoretischen Urzustandsprämissen verborgen und Rawls bleibt den Ausweis schuldig, warum er den Urzustand so und nicht anders konstruiert. Eine Revision des Modells ist erforderlich, eine Revision, die Gründe aufdeckt, die die Entscheidungen der Beteiligten unter expliziter Bezugnahme auf ein ausgewiesenes deontologisches Prinzip ermöglichen.

4.17 Fairneßpflicht Die Fairneßpflicht ist für Rawls der wichtigste Grundsatz für Einzelmenschen und Institutionen. Der als Fairneß gefaßte Begriff des Rechten (Gerechtigkeit als Fairneß) soll bestehende Begriffe ersetzen. Der Rawlssche Fairneßgrundsatz meint folgendes: wer freiwillig die Vorteile der Kooperation in Anspruch nimmt, ist verpflichtet, die Regeln der Institution (Institution im allgemeinsten Sinne: Gesellschaft als Vereinigung von Menschen zu dauerhafter, nutzbringender Kooperation) zu achten, sofern diese gerecht sind (Erfüllung der zwei Grundsätze der Gerechtigkeit als notwendige Bedingung). 97 Der Fairneßgrundsatz wird von Rawls als bindendes Gebot und als Grundlage aller Verpflichtungen behauptet — er ist „ natürliche Pflicht" 9*. Natürliche Pflichten gelten „unabhängig von irgendwelchen freiwilligen Akten, sie gelten zwischen allen als gleichen moralischen Subjekten, [ . . . ] gegenüber Menschen überhaupt" 99 ; die Geltung des Fairneßgrundsatzes als natürliche Pflicht setzt „keine Übereinkunft, sei sie ausdrücklich oder stillschweigend, und überhaupt keinen freiwilligen Akt voraus" 10 °; seine Geltung erlangt er durch den von Rawls theoretisch erbrachten Beweis, daß er im hypothetischen Urzustand anerkannt würde; er ist „als Ergebnis einer fiktiven Übereinkunft zu verstehen" und die fiktive Übereinkunft legt den Faineßgrundsatz als „unbedingt geltende natürliche Pflicht" fest 101 .

97 Vgl. Rawls, 1975, S. 133 ff.; 378 ff. 98 Ebd., S. 137. 99 Ebd., S. 136. 100 Ebd., S. 137. ιοί Ebd., S. 137.

4.1 Architektonik der Rawlsschen Theorie

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Rawls untersucht die moralisch bedeutsame Norm des Versprechens im Kontext der Fairneßexplikation und behandelt deren Beziehung zueinander. Rawls trennt die Norm des Versprechens in Regel des Versprechens (a) und Treuegrundsatz (b) 102. zu (a): Das Versprechen ist gemäß Rawls unter bestimmten Umständen (Geschäftsfähigkeit, Freiwilligkeit) konstitutive Vereinbarung in einem öffentlichen sozialen Regelsystem und insoweit, ähnlich wie Spielregeln, als Regel kein moralischer Grundsatz. Die Regel lautet: Verspricht jemand, χ zu tun, so muß er χ unter entsprechenden Umständen tun, falls nicht bestimmte entlastende Verhältnisse eintreten. (Die Umstände und Entlastungsbedingungen entscheiden, ob das Regelsystem gerecht ist; d. h. ob das Regelsystem sich in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Gerechtigkeit befindet. Dieses nennt Rawls ein ,bona-fideVersprechen'.) zu (b): Der Treuegrundsatz, daß bona-fide-Versprechen gehalten werden müssen, ist ein moralischer Grundsatz und für Rawls Folge des Fairneßgrundsatzes. Insofern ist Versprechen in der notwendigen Verbindung mit dem Treuegrundsatz ein Spezialfall des Fairneßgrundsatzes; denn mit dem bona-fide-Versprechen als sozialem Brauch nimmt ein Akteur die Vorteile dieses Brauches (Stabilisierung der Zusammenarbeit, gegenseitiges Vertrauen etc.) an und ist damit der Verpflichtung unterworfen, den Regeln der Institution (Versprechen) zu folgen. Den Mitgliedern der wohlgeordneten Gesellschaft ist dieses bekannt. Aus der gedankenexperimentellen Sicht des Urzustandes: die Institution des Versprechens als sozialer Brauch stabilisiert gesellschaftliche Zusammenarbeit und fördert die Kooperation. Er ist nützlich für die Gesellschaft. Notwendige Bedingung für die Institution des sozialen Brauches »Versprechen4 ist der Treuegrundsatz — dieser ist fundiert in dem Fairneßgrundsatz. „Aus der Sicht des Urzustandes ist es also für die Beteiligten eindeutig vernünftig, dem Fairneßgrundsatz zuzustimmen"103. Es ist kennzeichnend, daß Rawls in diesen Argumentationsgängen die Koinzidenz von Vernünftigkeit und Nützlichkeit hervorhebt ( „ [ . . . ] ein großer Pluspunkt für die Gesellschaft [.. .]44 — „ [ . . . ] öffentliche Anerkennung dieser Grundsätze den Umfang und den Wert gegenseitig vorteilhafter Formen der Zusammenarbeit ungeheuer vergrößern können [.. .]44) 1 0 4 und mit den Paradigmen utilitaristischer Rationalität argumentiert. Rawls erklärt präzise: die gegenseitige Verpflichtung

102 Vgl. zum folgenden Rawls, 1975, S. 380 ff. 103 Rawls, 1975, S. 383. 104 Ebd. 6 Bausch

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4. Rekonstruktion und Kritik der Rawlsschen Theorie

dient dem Vorteil beider Seiten und liegt „offensichtlich im gemeinsamen Interesse. Diese Betrachtung halte ich zur Begründung des Fairneßgrundsatzes für ausreichend" 105. Fairneß — und ihr Spezialfall des Versprechens mit Treuepflicht — gründet nach Rawls im fiktiven Entscheid in dem hypothetischen Urzustand. Fairneß wird von Rawls als universal gültiges Prinzip gedacht („unbedingt geltende natürliche Pflicht"); er meint, dazu berechtigt zu sein durch den im Gedankenexperiment theoretisch erbrachten Beweis der Fairneßgrundsatzentscheidung im hypothetischen Urzustand. Es liegt eine fiktive vertragstheoretische Fundierung vor — Rawls gewinnt die Fairneßverpflichtung aus einer hypothetischen Vertragskonzeption. Ist der Rawlssche Ausweis universaler deontologischer Verpflichtung gültig? Die von Rawls erreichte Tiefendimension der Begründung des Vertragsansatzes reicht — soweit ich sehe — nur bis in die individuelle Interessensphäre, insoweit Rawls Fairneß als einen individuell nützlichen Grundsatz ausweist. Rawls verbleibt insoferen in der Perspektive eines methodischen Utilitarismus. Hinsichtlich der Gültigkeitsprüfung der Rawlsschen Theorie ergibt sich die kritische Frage, wie denn die Verpflichtung begründet werden kann, den Vertrag prinzipiell einzuhalten und auf parasitäre Surplus-Vorteile zu verzichten (freerider-Problem). Diese Frage zielt auf die seit dem Hobbesschen Gesellschaftsvertrag bekannte Aporie: eine Verpflichtung der freiwilligen Selbsteinschränkung der ursprünglich uneingeschränkten Freiheitsrechte des Menschen kann aus den Voraussetzungen der strategisch durchkalkulierten Selbstinteressen allein nicht hergeleitet werden. Die instrumentell-strategische Vernunft kann nur zu hypothetischen Imperativen finden, nicht aber zu einem kategorischen Imperativ, welcher erst universale moralische Verpflichtungen begründet. Rawls versucht dieses Problem dadurch zu lösen, daß er den Beteiligten im Urzustand einen »Gerechtigkeitssinn4 unterstellt. 106 Die Unterstellung des »Gerechtigkeitssinns 4 geht über den Fairneßgrundsatz hinaus; Gerechtigkeitssinn gemeinsam mit der Prämisse der Gleicheit bildet die kategoriale Klammer bei der Konstruktion des Urzustandes. Der Gerechtigkeitssinn garantiert nach Rawls formal, daß aufgestellte Grundsätze ohne kriminellen strategischen Vorbehalt auch beachtet werden und jeder nach den Grundsätzen handelt. Der Gerechtigkeitssinn allerdings kann von Rawls nur als Voraussetzung postuliert werden . Fairneß, abgestützt im Gerechtigkeitssinn, ist der zentrale Punkt der Rawlsschen Gerechtigkeitskonstruktion. In dem Begriff der Fairneß in Kombination

los Ebd., S. 384. 106 Siehe im einzelnen Rawls, 1975, S. 168.

4.1 Architektonik der Rawlsschen Theorie

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mit dem Postulat des Gerechtigkeitssinns drückt sich wesensmäßig eine Intuition gegenseitiger Verpflichtung und Anerkennung aus. Karl-Otto Apel weist auf eine mögliche tiefere Beziehung zwischen dem Fairneßprinzip und einer universalen Ethik hin. 1 0 7 Das insbesondere im Bereich des Sports grundlegende Paradigma der Fairneß 108 wird von Karl-Otto Apel als anschauliches Modell der in der Diskursethik impliziten Grundintuition der Gerechtigkeit interpretiert; denn das Fairneßideal ist geeignet, ein Grundprinzip zu erhellen, das das moralisch relevante Verhältnis menschlicher Gegenseitigkeit betrifft: Fairneß als Konkretisierung einer allgemeinen Norm der Gegenseitigkeit. Aus dieser Gegenseitigkeit können Anerkennungsverhältnisse expliziert werden, die moralisch gehaltvoll sind und deren unbedingte Gültigkeit transzendentalpragmatisch rekonstruierbar ist.

4.18 Unparteilichkeit und Altruismus Rawls vergleicht die Theorie der Gerechtigkeit als Fairneß mit Theorieentwürfen, deren normativer Bezugspunkt der Begriff der Unparteilichkeit und die ideale Gestalt des unparteiischen, mitfühlenden Beobachters ist. Unparteilichkeit ist ein so häufig herangezogener und wichtiger Gesichtspunkt der Begründung von Gerechtigkeitsvorstellungen, daß das Verhältnis von Unparteilichkeit und Grundsätzen der Gerechtigkeit präzise zu bestimmen ist. Unparteilichkeit ist ein moralischer Standpunkt; er soll Vorurteil und Eigennutz verhindern. Unparteilichkeit stimmt auch gegebenfalls mit den Grundsätzen der Gerechtigkeit überein (ein idealer unparteiischer Beobachter billigt in diesem Fall ein Gesellschaftssystem in dem Maße, wie es die beiden Grundsätze der Gerechtigkeit erfüllt). Die zentrale Frage ist aber, inwieweit Unparteilichkeit eine Grundlegung für die Bestimmung

io? Vgl. Apel, 1986, insbesondere S. 222-246. los „Fairneß" ist eine zentrale Norm des Wettkampfsports. Fairneß ist dabei in zwei Hinsichten zu interpretieren: (1) Gebot der sportlichen Fairneß ist: Beachtung der formalen, spielkonstitutiven Regeln (die als solche moralisch irrelevant sind);. (2) Die spielkonstitutiven Regeln selbst sollen als konkrete Regeln das Prinzip der Gegnerschaft im fairen Wettkampf konstituieren. Sportliche Fairneß hat hier die Funktion der sportlichen Wettkampforganisation; aus den konstitutiven Regeln sind analytisch Pflichten im Sinne moralisch unbedingter Verpflichtungen nicht herleitbar. Vielmehr ist Fairneß notwendige Bedingung des sportlichen Wettkampfes im Sinne einer fairen' Gegnerschaft im Kampf um den Sieg. Sportliche Fairneßverpflichtungen sind daher keine unbedingten Verpflichtungen. Die spielkonstitutiven Regeln können nach Karl-Otto Apel jedoch als gleichnishaftes Modell von Interaktionsverhältnissen gelesen werden, in denen einer Gerechtigkeitsintuition der Gleichheit Ausdruck gegeben wird. Gleichzeitig kann sportliche Fairneß auf „der Ebene der Verhaltensdisposition" die Einübung einer Praxis fördern, die letztlich eine Konfliktregelung durch praktische Diskurse zum Ziel hat: gewaltfreie Konfliktregelung durch den Wettkampf der Argumente (siehe im einzelnen Apel, ebd.). 6*

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4. Rekonstruktion und Kritik der Rawlsschen Theorie

der gesellschaftlichen Grundstruktur sein kann. Es gibt wesentliche Unterschiede zwischen der Fassung des Rechten als »Unparteilichkeit4 und als »Gerechtigkeit als Fairneß 4. Rawls führt die spezifische Form der Unparteilichkeit wie folgt ein: etwas ist recht, wenn es von einem unparteilichen Beobachter gebilligt würde. Der ideal vernünftige, unparteiische Beobachter ist eine „Person, die sich eine allgemeine Betrachtungsweise zu eigen macht: Er sieht von seinen eigenen Interessen ab, verfügt über alle notwendigen Kenntnisse und Denkkräfte. [...] Er berücksichtigt die Interessen der Menschen in gleicher Weise und läßt seiner Fähigkeit zum mitfühlenden Sich-Hineinversetzen freien Lauf, indem er die Verhältnisse jedes Menschen so betrachtet, wie sie diesen Menschen treffen. Er versetzt sich also nacheinander in die Lage jedes Menschen, und wenn er damit am Ende ist, dann bestimmt sich die Stärke seiner Billigung nach der Summe des Wohlergehens, das er beobachten konnte [...] Mitgefühlte Schmerzen heben mitgefühlte Freuden in der Summe auf, und die schließliche Stärke der Billigung entspricht diesem Nettowert der angenehmen Gefühle." 109 So die auffällig utilitaristisch schattierte Einführung des unparteiischen Standpunktes durch Rawls; es ergeben sich daraus folgende Unterschiede zwischen der Gerechtigkeit als Fairneß und der Fassung des Rechten als Unparteilichkeit: (1) So wie Rawls Unparteilichkeit einführt und bestimmt, gilt für dieses Prinzip die gleiche Kritik wie für den klassischen Utilitarismus: die Verschiedenheit der Menschen wird nicht ernst genommen. Was für den Einzelmenschen als rationale Entscheidungsregel gilt (sei es Nutzen oder Wohlfahrtsmaximierung), wird als soziales Entscheidungsprinzip gesetzt und führt „zur unindividualistischen Zusammenfassung aller Bedürfnisse zu einem einzigen Bedürfnissystem 44110 mit einem Maximierungsimperativ der Nutzensumme oder des Durchschnittsnutzens. (2) Der unparteiische Beobachter hat bereits Grundsätze der Beurteilung, er entwickelt und begründet sie nicht. Die Billigung einer Situation durch den vorgestellten idealen unparteiischen Beobachter dürfte als Begründungsprinzip entweder zirkulär sein, oder das Mitfühlen des unparteiischen Beobachters führt zu den unter (1) genannten Problemen der Summierung verschiedener individueller Menschen zu einer nicht individualistischen Zusammenfassung. Die Gerechtigkeit als Fairneß dagegen versucht, durch die Konstruktion des Urzustandes eine „deduktive Grundlage44 für Gerechtigkeitsgrundsätze anzugeben. 111 (3) In dem Urzustand sind die Parteien voraussetzungsgemäß aneinander desinteressiert und überlassen die Verfassung der Grundstruktur nicht dem Urteil 109 Rawls, 1975, S. 213 f. no Ebd., S. 215. m Vgl. im einzelnen ebd., S. 212.

4.1 Architektonik der Rawlsschen Theorie

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eines unparteiischen Beobachters, der alle Bedürfnisse zusammenfaßt und Freude und Leid saldiert. Die Parteien im Urzustand orientieren sich an ihrem eigenen Interesse und haben keinerlei Bedürfnis, gesellschaftliche Gesamtnutzensummen zu maximieren. Der Urzustand ist Instrument, um die ,Unparteilichkeit 1 aus dem Blickwinkel der Beteiligten selber und nicht an Hand eines idealen mitfühlenden Beobachters, herzustellen. 112 Ein unparteiisches Urteil ist dann ein solches, das den im Urzustand beschlossenen Grundsätzen entspricht. (4) Soferne der Begriff der Unparteilichkeit nicht in der von Rawls zunächst eingeführten Weise — (alle individuellen Bedürfnisse werden in ein System zusammengefaßt) — verstanden wird, sondern Unparteilichkeit altruistisch gedacht wird als Förderung des individuellen Wohls geliebter Menschen, so kann sich folgendes mögliches Dilemma ergeben: Altruismus 113 wie auch allumfassende Menschenliebe suchen das bereits bestimmte Wohl geliebter interessegeleiteter Menschen zu fördern. Soferne es aber Interessengegensätze zwischen mehreren verschiedenen geliebten Menschen gibt, weiß der Altruist nicht mehr, was er machen soll. So kommt Rawls zu dem Ergebnis, daß Menschenliebe, die die Menschen als verschiedene Personen mit unterschiedlichen Lebensläufen und unterschiedlichen subjektiven Bedürfnissen betrachtet, nicht den Standpunkt des unparteiischen Beobachters oder des Altruismus zur Regelung konkurrierender Interessen heranziehen wird, sondern die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze anwenden wird, um „ihr Ziel zu bestimmen, wenn das Viele, dem sie dienen möchte, entzweit ist." 1 1 4 Die Rawlsche Intuition ist, daß Personen „individuell" berücksichtigt werden müssen — ohne daß Rawls allerdings diese Intention, die im Grunde eine moralische Intuition der Egalität ist, begründet. Roland Kley 1 1 5 schlägt in seiner Rawlskritik folgendes Verfahren vor: Er setzt Unparteilichkeit als erstes Prinzip und bezieht (ungleich Rawls) mit der Absicht einer Begründung konkrete Gerechtigkeitsgrundsätze auf dieses Prinzip. „Wer eine Begründung führt, muß sich gedanklich auf einen Standpunkt der Unparteilichkeit zu stellen versuchen und überlegen, welche Prinzipien er selbst und alle Π2 Vgl. ebd., S. 216/217. 113 Rawls versucht in Anschluß an Thomas Nagel den Gedanken, der Altruist als moralisches Individuum spalte sich gedankenexperimentell gewissermaßen in die vielen Mitglieder der Gesellschaft, deren subjektive Erlebnisse, Lebensläufe und Interessen voneinander getrennt und unterschiedlich sind; jedes Individuum soll als Einzelnes ganz zählen; es bleibt dann aber undeutlich, welche Grundsätze der Altruist unter diesen Voraussetzungen wählen würde; denn aus der Situation des Altruisten ergibt sich unmittelbar keine Antwort. Altruismus wie Liebe sind Rawls „Begriffe zweiter Ordnung", sind „Gesinnungen höherer Ordnung", enthalten aber selbst keine Grundsätze, Interessengegensätze zu schlichten (siehe im einzelnen Rawls, 1975, S. 218,219). 114 Ebd., S. 219. us Vgl. Kley, 1989, S. 258-273 und 369-381.

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4. Rekonstruktion und Kritik der Rawlsschen Theorie

übrigen akzeptieren könnten"116. Und: „Unparteiisch urteilt, wer die verteilungsrelevanten Interessen oder relevanten Merkmale aller Betroffenen gleichermaßen berücksichtigt" 117. Kley faßt also Unparteilichkeit anders wie Rawls, der im Gegensatz zu seinem Kritiker Kley über die Möglichkeit von Unparteilichkeit in Form eines unparteiischen Beobachters als Grundlage der Gerechtigkeit genaue Überlegungen anstellt. Dennoch ist dem intentionalen Ziel der Kleyschen These zuzustimmen, wenngleich Kley seine Fassung des Unparteilichkeitsbegriffes thetisch setzt und sowohl die praktische Durchführung auf der Handlungsebene, wie auch die geltungslogische Begründung für das Deon: „Berücksichtigung der Interessen der Betroffenen gleichermaßen", völlig verfehlt 1 1 8 . Unparteilichkeit impliziert eine abwägende Einstellung; quasi arbiträr wird die Situation durch den unparteiischen Beobachter entschieden. Unparteilichkeit als moralischen Standpunkt zu verstehen, bedeutet, eine allgemeine Zustimmungsfähigkeit zu unterstellen. Reflexion auf die allgemeine Zustimmungsfähigkeit terminiert in einem diskursiv einzulösendem Geltungsanspruch. Unparteilichkeit entpuppt sich insoweit als eine spezifische Urteils weise: Nämlich zu fragen, wie die Situation in solcher Weise zu lösen ist, daß alle in ihrer Rolle als Argumentationspartner gleichermaßen zustimmen können (wenn sie sich rational verhalten), da sie ihre Interessen in gegenseitiger Anerkennung gleichermaßen berücksichtigt sehen können. Die Struktur der Unparteilichkeit macht also klar, daß es sich bei Unparteilichkeit nicht um einen Begriff handelt, aus dem in theoretischer Distanz ein konkretes Urteil deduziert werden kann: es handelt sich vielmehr um einen bestimmten Standpunkt (einen moral point of view), moralisch Probleme zu beurteilen. Dieser Standpunkt weist das moralische Urteil an, die Interessen aller Betroffenen und 116 Ebd., S. 268. 117 Ebd., S. 377. us (1) Es reicht für Kley eine „monologisch verstandene Begründung tatsächlich aus, um unter den vielen gesellschaftlichen Ordnungsprinzipien die Gerechtigkeitsprinzipien zu bezeichnen"(Kley, S. 268). Nach Kley ist man „für unparteiische Überlegungen nicht zwingend auf den Diskurs angewiesen. Der Diskurs dient »lediglich4 der Aufwertung der zunächst monologisch durchgeführten Begründung44 (Ebd. S. 271). (2) Es ist offensichtlich, daß solcherart monologisch vorgestellte Unparteilichkeit schon deshalb nicht gelingen kann, weil sie ihre eigene pragmatische Verwiesenheit auf die anderen vergessen hat und gar nicht in der Lage ist, die Interessen der anderen verstehend kennenzulemen. (3) Das Kleysche Konzept des methodisch-monologischen Gedankenexperiments bedeutet einen methodischen Solipzismus: der Standpunkt des prinzipiell einsamen Denkens, das ,Ich4 als verbindliche Instanz für verbindliche Urteile. Es gelten die ein solches Konzept kritisierenden Argumente von Apel, Böhler u. a.: die transzendentale, apriorische Verwiesenheit des Subjekts, welches Geltungsansprüche erhebt, in die unendliche Argumentationsgemeinschaft (das logische ,Wir 4) als letzten Geltungsgrund (Vgl. im einzelnen Apel, 1976, S. 220 ff; Böhler, 1985, S. 302 ff.).

4.2 Die Rawlsschen Grundsätze der Gerechtigkeit

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aller Beteiligten gleichermaßen zu berücksichtigen; und das bedeutet als Folge die rationale Zustimmungsfähigkeit durch die Betroffenen selber. Die Einnahme dieses Standpunktes ist die Einahme des Standpunktes wechselseitiger Anerkennung. Unparteilichkeit ist als Prinzip formal. Die konkreten, inhaltsbestimmten unparteilichen Urteile hingegen sind falsifizierbar; es kann sich immer zeigen, daß das unparteiisch intendierte Urteil nicht zustimmungsfähig war, da ζ. B. die konkrete Situation falsch gedeutet oder die Folgen falsch eingeschätzt waren. Die meines Erachtens utilitaristisch schattierte Einführung des Begriffes der Unparteilichkeit durch Rawls (a) und seine Überlegungen im Anschluß an Thomas Nagel (b) übergehen den vorgenannten Charakter der Unparteilichkeit als moralischen Standpunkt, nach welchem die betroffenen Personen selbst zur Unparteilichkeit angehalten werden: dem spezifischen diskursiv einzulösenden Verhalten reziproker Anerkennung.

4.2 Die Rawlsschen Grundsätze der Gerechtigkeit 4.21 Freiheitsgrundsatz und Vorrangregel Rawls geht entsprechend seiner Methode, in einem „revolvierenden Denkprozeß" (Höffe) ein Überlegungsgleichgewicht zu erreichen, schrittweise vor: eine Grundsatzformulierung, in theoretischer Absicht hypothetisch vorgestellt, wird erprobt durch Prüfung ihrer Akzeptanz in dem fiktiven Urzustand, durch dieses Testverfahren gegebenenfalls immer wieder korrigiert, bis die Formulierungen schließlich im „Überlegungsgleichgewicht stehen" und damit die Qualität erster Grundsätze haben 119 . Die Wahrheit ist hier im Hegeischen Sinne das Ganze: ihr prozeßhaftes Werden und das Ergebnis. Die Beteiligten im Urzustand wählen nach der Rawlsschen Theorie aus einer Liste von Gerechtigkeitsvorstellungen, unter denen der aus guten Gründen entschiedene „Grundsatz der größtmöglichen gleichen Freiheit" ist. Der erste Grundsatz in seiner endgültigen Formulierung lautet: „Jedermann hat gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist" 121. Die erste Vorrangregel

lautet: die Grundfreiheiten können

„nur um der Freiheit willen eingeschränkt werden, und zwar in folgenden Fällen: (a) eine weniger umfangreiche Freiheit muß das Gesamtsystem der Freiheiten für n9 Vgl. die Formulierungsentwicklung: Rawls, 1975, S. 81 — erste Formulierung, Korrektur; S. 282 — zweite Formulierung, Korrektur; S. 336 — endgültige Formulierung. 120 Entfällt. 121 Ebd., S. 336.

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4. Rekonstruktion und Kritik der Rawlsschen Theorie

alle stärken; (b) eine geringere als die gleiche Freiheit muß für alle annehmbar sein" 122 . Die Grundfreiheiten sind nach Rawls durch eine Liste festgelegt: politische Freiheiten (Recht zu wählen und öffentliche Ämter zu bekleiden, Rede- und Versammlungsfreiheit), persönliche Freiheit (Unverletzlichkeit der Person), Recht auf Eigentum etc. Es ist die Hypothese von Rawls, daß eine solche Liste aufgestellt werden kann. 123 Diese enumerativ faßbaren Freiheiten sind als Grundfreiheiten für alle gleich. Freiheiten, die nicht in der Liste enthalten sind, genießen nicht den besonderen Vorrang der Grundfreiheiten. Der hier gefaßte Freiheitsbegriff von Rawls ist zentriert auf politische und ökonomische Handlungsfreiheit. Rawls setzt voraus, „daß sich jede Freiheit mittels dreier Begriffe erklären läßt: der Handelnden, die frei sein sollen, den Beschränkungen, von denen sie frei sein sollen, und dessen, was ihnen freigestellt sein soll" 124 Die genannten Begriffe bilden ein systemisches Ganzes der Freiheit, und dieses gilt es zu optimieren. „Das beste System der Freiheiten hängt von der Gesamtheit der für sie geltenden Einschränkungen ab. Die gleichen Freiheiten für alle können also eingeschränkt werden, jedoch nur in Übereinstimmung mit dem Grundgedanken der gleichen Freiheit und der lexikalischen Ordnung der beiden Gerechtigkeitsgrundsätze" 125. a) Kritsche Anmerkung zum Freiheitsbegriff: Hart 1 2 6 fragt kritisch zum ersten Grundsatz: Ist die Veränderung der Ausdrucksweise »Freiheit4 als allgemeines Prinzip zu einem Prinzip, das sich nur auf bestimmte katalogisierbare ,Grundfreiheiten4 bezieht, eine Einengung der Theorie? Hart ist in diesem entscheidenden Punkt der wohl zutreffenden Ansicht, daß Rawls nicht mehr die ganz allgemeine Theorie vertritt, wie sie in seinen frühen Aufsätzen zum Ausdruck kam 1 2 7 , und daß sich das Rawlssche Prinzip in der Theorie von 1971 / 1975 auf,Grundfreiheiten4 beschränkt. Wenn das richtig ist, schließt sich gleich eine weitere Schwierigkeit an: welches sind die Lösungskriterien im Falle konfligierender Grundfreiheiten? Rawls führt als Kriterium den Bezug auf das „beste Gesamtsystem der Freiheit 44 an und will dieses beurteilen „stets vom Standpunkt des repräsentativen gleichen Bürgers 44 1 2 8 ; die von Rawls herangezogenen Beispiele 129 (Redefreiheit 122 Ebd., S. 336 f. 123 Vgl. ebd., S. 82 f. 124 Ebd., S. 230. 125 Ebd., S. 232. 126 Hart, 1975, S. 138 ff. 127 Vgl. hierzu Rawls, 1958 — »Gerechtigkeit als Fairneß4, S. 37: erster Grundsatz: „Jede Person [hat] das gleiche Recht auf größte Freiheit, sofern sie mit der gleichen Freiheit für alle vereinbar ist". In Hinblick auf Freiheit so auch noch Rawls, 1967 a, S. 202). 128 Vgl. Rawls, 1975, S. 232. 129 Ebd., S. 231.

4.2 Die Rawlsschen Grundsätze der Gerechtigkeit

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und Einschränkung derselben durch Verfahrensregeln) dürften auf diese Weise noch zu lösen sein, insbesondere weil es sich um Metaregeln handelt, die man vernünftigerweise akzeptieren muß, wenn demokratisch politisches Handeln gelingen soll. In schwierigen Fällen konkreter konfligierender Grundfreiheiten (ζ. B. politische Eingrenzung der Freiheitsrechte (ζ. B. durch Notstandsgesetze) und individuelle, persönliche Freiheitsrechte) ist aber auch bei Beachtung des idealen „Vierstufenganges" faktischer Dissenz nicht nur nicht auszuschließen, sondern zunächst und zumeist sogar zu erwarten, und es ist nicht erkennbar, mit welcher Art von Argumentation — außer in ganz simplen Fällen — von Rawls gezeigt werden kann, worin die rationale Präferenz des repräsentativen gleichen Bürgers bestehen könnte, und vor allem: in welchem Sinne diese auf größere Freiheiten hinausläuft. Hart meint, der Rawlssche Grundsatz, die Freiheiten seien zu maximieren, sei bei sorgfältiger Untersuchung nur beschränkt brauchbar. In dem Aufsatz The Basic Liberties and Their Priority 130 verändert Rawls 1982 die Formulierung des ersten Grundsatzes. Die Fassung in dem Theorieentwurf von 1971 / 1975 — jeder hat gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten 4 („most extensive total system of equal basic liberties" 131 ) — wird abgewandelt zu einem ,νοΐΐ angemessenen Schema gleicher Grundfreiheiten 4 („fully adequate scheme of basic liberties 44). Doch auch diese Korrektur löst nicht die aufgezeigten Schwierigkeiten. Denn der eigentliche Grund der Schwierigkeiten im Umgang mit den Rawlsschen konkreten Freiheitsbegriffen scheint mir darin zu liegen, daß die notwendige klare Trennung zwischen der Metaebene der formalen Legitimationskriterien, (die sich erst aus metaethischer Reflexion ergeben und in dem hier vertretenen Ansatz in der kontrafaktischen Antizipation der idealen Kommunikationgemeinschaft ihren Halt finden würden), und der realen Anwendungsebene mit den empirischen Erscheinungsformen der Freiheit nicht durchgehalten wird. Freiheit wird von Rawls 132 weder transzendental begriffen im Sinne des metaphysischen Bezuges auf ein intelligibles, denkbares Reich der Zwecke und als notwendiges Postulat der praktischen Vernunft (Kant), noch im Sinne einer 130 Vgl. Rawls, 1982, S. 1-87. Mit dem Aufsatz ,The Basic Lberties and Their Priority ' reagiert Rawls insbesondere auf die Kritik von Hart. Rawls fragt nach einem Kriterium in Hinblick auf das Zueinanderstehen einer größeren Anzahl von Grundfreiheiten. („Once we have a number of liberties which must be further specified and adjusted to one another at later stages, we need a criterion for how this is to be done." Ebd., S. 46). Ziel ist „the best, or at least a fully adequate sheme of basic liberties, given in the circumstances of a society." (Ebd., S. 46) Kriterium der Zielerreichung ist: „liberty is more or less significant depending on weather it is more or less essential involved in, or is more or less necessary institutional means to protect, the full and informed and effective exercise of the moral powers in one (or both) the fundamental cases." (Ebd., S. 50). 131 Rawls, 1971 [eng], S. 302. 132 In der Theorie 1971/75; 1980 („Kantanian Constructivism in Moral Theorie44) allerdings finden Postulate praktischer Vernunft Eingang, ohne daß allerdings transzendentale Argumente durchgeführt werden.

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4. Rekonstruktion und Kritik der Rawlsschen Theorie

transzendentalpragmatischen Transformation der Autonomie als kommunikative Freiheit (Apel). Rawls will vielmehr die Existenz politischer Handlungsfreiheit im Erfahrungsbereich gesellschaftlicher Wirklichkeit konkret sichern: politische Handlungsfreiheit als Möglichkeit der individuellen Selbstbestimmung. Diese Möglichkeit soll sich aus den beiden Gerechtigkeisgrundsätzen ergeben; der Freiheitsgrundsatz benennt jedoch konkrete Grundfreiheiten, die sich in kritischen Fällen als inkompatibel erweisen könnten. Das sieht auch Rawls und fordert daher ein ,System' oder ein,Schema4 von Grundfreiheiten, das »möglichst groß4 oder, in dem zweiten Fall,,angemessen4 zu sein hat. Um diese ,Angemessenheitsprüfung 4 aber konsistent durchführen zu können, bedürfte es einer regulativen Idee — der im Sinne Kants nichts Empirisches anhaftet. b) Kritische Anmerkung zur Vorrangregel: Die Vorrangregel (Freiheit darf nur um der Freiheit willen eingeschränkt werden) ist nicht in jedem Fall einleuchtend. Warum sollte eine solch restriktive Prioritätsregel zu den Forderungen der Gerechtigkeit gezählt werden? Bei Rawls ist diese Vorrangregel durch das zunächst heuristisch eingeführte Maximin-Theorem angelegt. Allerdings bleibt Rawls den Ausweis der intersubjektive Gültigkeit der konkreten Ergebnisse der heuristisch eingeführten Methode schuldig. Hart dagegen zeigt meines Erachtens überzeugend 133, daß die Prioritätsregel nicht auf jeden Fall als rationale Entscheidung gelten darf; denn die Beteiligten im Urzustand sind einfach gar nicht in der Lage, eine rationale Entscheidung zu treffen, da sie nichts über die Art und die Intensität ihrer Wünsche wissen. Erst nach Aufhebung des Schleiers des Nichtwissens sind die Alternativen beurteilbar und entscheidbar. Und dann kann es in keiner Weise als von vornherein ausgemacht gelten, daß ein an der Verbesserung seiner materiellen Lebensverhältnisse stark interessierter Bürger nicht auf die Einschränkungen politischer Grundfreiheiten zugunsten einer erheblichen Verbesserung seiner ökonomischen Situation verzichtet. Rawls trifft hier in theoretischer Distanz unausgewiesene Vorentscheidungen in Angelegenheiten, die dem praktischen Diskurs der Betroffenen überlassen bleiben müssen. Die Priorität der politischen Grundfreiheiten des Einzelnen als ein Selbstinteresse des Individuums zu behaupten ist eine dogmatische Vorentscheidung.

4.22 Freiheit, Wert der Freiheit und Selbstachtung Die formale Gewährung gleicher Freiheitsrechte garantiert noch nicht, daß jedermann auch real gleiche Freiheiten hat. Armut, Unwissenheit oder sonstige Unfähigkeiten, von den Freiheitsrechten Gebrauch zu machen, können die Ausübung formal gleicher Freiheitsrechte durchaus einschränken. Rawls trennt „Freiheit44 und „Wert der Freiheit" 134 . 133 Vgl. hierzu Hart, 1975, S. 158-161.

4.2 Die Rawlsschen Grundsätze der Gerechtigkeit

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„Die Freiheit ist als gleiche Freiheit für alle gleich" 135 , jeder hat das gleiche Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher katalogisierbarer Grundfreiheiten. Es besteht nach Ansicht von Rawls kein Ausgleichsproblem; denn es bestehen für niemanden geringere (ungleiche) Freiheitsrechte. Die „gleiche Freiheit" ist für Rawls in den idealen Verhältnissen der wohlgeordneten Gesellschaft gesichert. Und damit meint Rawls eine Ordnung demokratischer Gleichheit, die auf das Wohl der Gesellschaftsmitglieder ausgerichtet ist 1 3 6 . Der „Wert der Freiheit" ist allerdings nicht für jedermann gleich. Manche haben mehr Möglichkeiten, ihre Ziele zu erreichen, da sie ökonomisch besser ausgestattet oder sozial besser gestellt sind. Doch ein geringerer Wert der Freiheit findet nach Rawls durch das Unterschiedsprinzip einen substanziellen Ausgleich: das Rawlssche Unterschiedsprinzip läßt Ungleichheiten zu, soferne sie nur allen und insbesondere den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen; denn die weniger Begünstigten könnten ja ihre Ziele noch weniger erreichen, wenn nicht die dem Unterschiedsprinzip genügenden Ungleichheiten bestünden. Der durch das Unterschiedsprinzip geregelte Ausgleich des geringeren Wertes der Freiheit ist für Rawls etwas anderes als ein — nach der Vorrangregel ja nicht zulässiger — Ausgleich für ungleiche Freiheit. Eine immanent prüfende Kritik stößt auf die Frage, ob die Rawlssche Trennung von Freiheit und Wert der Freiheit Probleme impliziert, die von Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit nicht gelöst wurden, die jedoch zu einer Lösung auffordern: Die zwei Grundsätze der Gerechtigkeit sind Ausdruck einer Gerechtigkeitsvorstellung der Gleichverteilung der „sozialen Werte", soweit nicht eine Ungleichverteilung einen Vorteil für alle bewirkt. Zu den „sozialen Werten" 137 wie Freiheit, Chancen, Einkommen und Vermögen zählt Rawls auch die sozialen Grundlagen der „Selbstachtung". Der Begriff der Selbstachtung wird von Rawls unvorbereitet schon bei der ersten vorläufigen Formulierung der Gerechtigkeitsgrundsätze als Bestandteil einer „allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellung" eingeführt 138 und erst sehr viel später im III. Teil des Buches näher erläutert: Selbstachtung wird als das „ vielleicht wichtigste Grundgut" vorgestellt und wie folgt verstanden: „Man kann die Selbstachtung so definieren, daß sie zwei Seiten hat. Einmal gehört zu ihr [...] das Selbstwertgefühl, die sichere Überzeugung, daß die eigene Vorstellung vom Guten, der eigene Lebensplan, wert ist, verwirklicht zu werden; Zweitens gehört zur Selbstachtung ein Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, seine Absichten, soweit es einem möglich ist, auszuführen" 139. 134 Siehe im einzelnen Rawls, 1975, S. 233. 135 Ebd., S. 233. 136 Siehe im einzelnen Rawls, 1975, S. 493 in Zusammenhang mit S. 95. 137 Ebd., S. 83. 138 Ebd. 139 Ebd., S. 479 [Hervorhebungen T. B.].

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4. Rekonstruktion und Kritik der Rawlsschen Theorie

Ich behaupte, daß das Grundgut der Selbstachtung / des Selbstwertgefühls durch ungleichen Wert der Freiheit betroffen werden kann. Ausgangspunkt der Rawlsschen Konzeption ist offenbar das anthropologische Grundfaktum, daß der Mensch „als vielleicht wichtigstes Grundgut" das Bedürfnis nach Selbstachtung hat. Was ist hier von Rawls gemeint? Rawls benennt Umstände 140 , die die Selbstachtung „unterstützen"; dieses sind „(1) der vernünftige Lebensplan, der insbesondere dem Aristotelischen Grundsatz entspricht, und (2) die Wertschätzung und Bestätigung der eigenen Person und ihrer Handlung durch andere, die gleiche Wertschätzung genießen, und in deren Gesellschaft man sich wohl fühlt." 141 Rawls faßt zusammen: „Wenn die Menschen sich selbst und andere achten sollen, dann müssen wohl ihre Pläne vernünftig sein und einander ergänzen."142 Rawls pointiert das von ihm Gemeinte in der ihm eigenen, manchmal verblüffend globalen Redeweise: „Wichtig ist, daß das Gruppenleben den Fähigkeiten und Bedürfnissen der Gruppenmitglieder entspricht und eine sichere Grundlage für ihr Selbstwertgefühl schafft." 143 Die Ausführungen von Rawls sind meines Erachtens nicht sehr klar. Offenbar hat aber Selbstachtung ( „Self-respect", auch „seif esteem") (1) einen emotiven Aspekt als Selbstwertgefühl ( „sense of our own worth"), und (2) einen kognitiven Aspekt als bewußte reziproke Wertschätzung und „vernünftige" Lebensplanung ( „rational plan of life"). Es ist das sich von anderen geachtet zu wissen als eine Person mit der Fähigkeit zu vernünftiger Lebensplanung. Und das bedeutet: wechselseitige Anerkennung gleichberechtigter Personen mit je eigenen Ansprüchen auf vernünftige Lebenspläne. Bei einer Rekonstruktion des Rawlsschen Konzeptes erhebt sich die Frage, wie sich die Selbstachtung (Selbstwertgefühl) bei den Individuen in einer Gesellschaft bildet und wie dieses „wichtigste Grundgut" unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit zu sichern ist.

140 Der englische Text spricht von »circumstances'(Rawls, 1971, S. 440), die deutsche Übersetzung spricht von »Bedingungen' (Rawls, 1975, S. 479), was als logische Bedingung, als kausale Beziehung mißverstanden werden könnte. 141 Rawls, 1975, S. 480. Der Rawlssche »Aristotelische Grundsatz' meint folgendes: Rawls behauptet unter Bezugnahme auf empirische Evidenzen: „unter sonst gleichen Umständen möchten die Menschen gern ihre (angeborenen oder erlernten) Fähigkeiten einsetzen, und ihre Befriedigung ist desto größer, je besser entwickelter oder je komplizierter die beanspruchte Fähigkeit ist."(Rawls, 1975, S. 464) Der Aristotelische Grundsatz ist ein Motivationsprinzip. 142 Rawls, 1975 S. 480. 143 Ebd., S. 481.

4.2 Die Rawlsschen Grundsätze der Gerechtigkeit

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Selbstachtung konstituiert sich zunächst in der Wechselseitigkeit des Wissens, als Person mit eigenen Lebensplänen und Fähigkeiten geachtet zu sein. Denn die Selbstachtung (Selbstwertgefühl) als wertendes sich auf sich Beziehen, als individuelles Ich-Ideal (wie ,ich' sein will), ist nur in sozialen Kontexten sinnvoll denkbar, als ein sich-geachtet-Wissen in einem realen oder imaginiert idealen sozialen Kollektiv. Selbstachtung ist insoweit zumindest eine auch abhängige Variable sozialer Anerkennung. 144 Selbstachtung als Selbstbejahung (Selbstwertgefühl) setzt Intersubjektivität im Sinne von ,sich als achtenswert wissen4 voraus. 145 Die Empfindung verletzter Selbstachtung denkt Rawls als ein Gefühl der Scham (engl, „shame; und (anders) „regret"); „natürliche Scham wird [ . . . ] durch Mängel unserer Persönlichkeit oder auf sie hinweisende Handlungen und Eigenschaften hervorgerufen" 146; „moralische Scham" resultiert aus Handlungen und Charakterzügen, die das Fehlen der Eigenschaften eines „guten Menschen" kennzeichnen. 1 4 7 Überraschenderweise aber kennt Rawls keine Verletzung der Selbstachtung (Selbstwertgefühls) durch Demütigung. Ich behaupte: Nichtachtung durch die anderen führt zu Demütigung als der Verlust der Schätzung, des Respektes148 der anderen. Es ist das Erlebnis des sozialen Unwertgefühls. Gedemütigt sieht sich ein Mensch, der sich als etwas Minderes behandelt fühlt, obwohl er es nicht ist. Und in diesem Zusammenhang muß sich die Frage stellen, ob die distributive Ungleichheit, die das Unterschiedsprinzip in der Rawlsschen Fassung zuläßt, Demütigung ausschließt.

144 In Extremsituationen, wie z. B. religiös vermittelten Selbstwertgefühl, kann das Moment der faktischen sozialen Anerkennung als Bedingung der Selbstachtung gänzlich fehlen. (Hierauf machte mich Helmut Girndt aufmerksam.) — Fälle solcher Art, entsprechend denen ein Individuum, z. B. als homo relogiosus, zwischenmenschliche Beziehungen in eine internalisierte Geisterreichbeziehung sublimiert, können allerdings die empirische Triftigkeit des Moments sozialer Anerkennung als Grund von Selbstwertgefühl nicht außer Kraft setzen. Meine Ausführungen zu dem konstitutiven Moment sozialer Achtung als Voraussetzung von Selbstachtung sind allerdings nicht analytisch. Aber viele Tatsachen des Alltagslebens scheinen das Argument empirisch zu stützen. 145 Siehe hierzu Tugendhat, 1984, insbesondere S. 138-145; durch die Lektüre des genannten Textes ,Retraktationen' wurde ich zu den hier vorgetragenen kritischen Bemerkungen zu Rawls angeregt. 146 Rawls 1975, S. 483. 147 Vgl. ebd. S. 484. 148 Tugendhat macht darauf aufmerksam, daß Achtung bezogen werden kann (1) auf eine Werteigenschaft von Personen (man achtet eine Person in seiner Eigenschaft als Lehrer, Musiker...) und (2) einfach auf ihr Sein. Im ersteren Fall spricht Tugendhat von »Schätzen — im zweiten Fall von ,Respekt4 (siehe im einzelnen Tugendhat, 1984, S. 136 ff.).

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4. Rekonstruktion und Kritik der Rawlsschen Theorie

Das Unterschiedsprinzip mag zwar die Benachteiligten durch seine Wirkungen ökonomisch besser stellen; jedoch scheint mir eine demütigende Rückwirkung auf die Selbstachtung unvermeidbar, wenn die Unterschiede des Wertes der Freiheit kritische Größenordnungen erfahren, was die Rationalität des Unterschiedsprinzips ja durchaus zuläßt 149 . Es ist anzunehmen, daß die Benachteiligten sich gedemütigt und verachtet und in ihrem Selbstwertgefühl verletzt fühlen werden. 150 Kann also die Trennung von Freiheit und Wert der Freiheit die tiefe Gerechtigkeitsintuition des „suum cuique" verletzen? Ich behaupte, daß das angenommen werden darf, soferne man nicht die optimistische Annahme von Rawls teilt, die Beachtung der beiden Gerechtigkeitsgrundsätze bewirke eine starke Tendenz zur realen wirtschaftlichen und sozialen Gleichheit. Ich will der Frage im Zusammenhang dieser Abhandlung nicht weiter nachgehen und es bei der Problemanzeige belassen151. In der Literatur ist der Vorschlag gemacht worden, das Unterschiedsprinzip in einer solchen Weise zu reformulieren, daß es den Wert der Grundfreiheiten maximiert. Ein solches Unterschiedsprinzip würde Ungleichheiten im Wert der Freiheiten nur erlauben, wenn sie dazu dienten, den Wert der Grundfreiheiten für die Benachteiligten zu maximieren. 152

14 9 Rawls allerdings behauptet, daß Unterschiede der Verteilung sich durch das Zusammenwirken der beiden Grundsätze nicht in inakzeptabele Größenordnungen auswirken werden; diese optimistische Annahme ist aber durchaus zweifelhaft: in der idealen Theorie ist sie behauptet und nicht ausgewiesen, und bezogen auf die Realität existierender gesellschaftlicher Verhältnisse ist die Annahme extrem kontraintuitiv. 150 Diese Beweisführung ist allerdings nicht analytisch, oder sonst zwingend. Sie bedürfte empirischer Untersuchungen, die die Behauptung entsprechend abstützen. 151 Koch überzieht wohl seine Kritik, wenn er die Rawlssche Trennung in Freiheit und Wert der Freiheit überscharf „einen sophistischen Versuch der Problemverschleierung" nennt. Koch behauptet weiter: „Für diejenigen, welche Freiheit und Wert der Freiheit als eine Einheit begreifen, resultieren daraus praktisch ungleiche Freiheitsrechte . . . " (Koch, 1982, S. 124); hier liegt im ersten Halbsatz eine Konfusion von der Idee der Freiheit und der materiellen Einlösung politischer Freiheitsrechte vor; die ontologische Differenz zwischen der Idee der Freiheit und der realen Einlösungsbedingungen ist im Bewußtsein zu behalten und verantwortungsethisch zu vermitteln. Jedoch: eine Ergänzung des Rawlsschen LösungsVersuches im Sinne einer verstärkten verantwortungsethischen Einbeziehung des Wertes der Freiheit als moralische Aufgabe erscheint mir angezeigt. Letztlich entspricht dieses auch der Intention von Rawls selbst, wenn der im in § 17 »Tendenz zur Gleichheit' (1975, S. 121 ff.) schreibt, eine wohlgeordnete Gesellschaft müsse „den am wenigsten Begünstigten ein sicheres Selbstwertgefühl zu verschaffen versuchen, und das schränkt die als gerecht zu klärenden Formen und Grade der Ungleichheit ein." Ein kritisches Spannungsverhältnis ist also offenbar von Rawls selbst erkannt, allerdings enthalten die zwei Grundsätze kein Kriterium, welches dieser Spannung Rechnung trüge und ein ergänzendes Prinzip ist von Rawls nicht benannt. 152 So z. B. der Vorschlag von Daniels. (Daniels (ed.), Oxford, 1975, S. 263-278).

4.2 Die Rawlsschen Grundsätze der Gerechtigkeit

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4.23 Das Unterschiedsprinzip und Vorrangregeln Der zweite Rawlssche Grundsatz, das Unterschiedsprinzip, erfährt ebenso wie der erste Grundsatz erst nach mehreren Testdurchgängen seine endgültige Formulierung 1 5 3 . Der zweite Grundsatz in seiner endgültigen Formulierung lautet: „Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermaßen beschaffen sein: (a) sie müssen unter der Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes für die am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen, und (b) sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offenstehen" 154. Der zweite Grundsatz regelt die Verteilung von Einkommen und Vermögen und die Beschaffenheit von Organisationen, in denen es um unterschiedliche Macht und Verantwortung geht. Ungleichheiten sind nur zulässig, sofern sie der noch genau zu bestimmenden Bedingung genügen: die Aussichten unter Ungleichheit sind für die Betroffenen günstiger (weil für sie vorteilhafter), und daher werden die Aussichten unter Ungleichheit denen unter Gleichheit vorgezogen. Es gilt ferner die zweite Vorrangregel („Vorrang der Gerechtigkeit vor Leistungsfähigkeit und Lebensstandard"): die Regel besagt, daß die Leistungsfähigkeit und Nutzenmaximierung der fairen Chancengleichheit nachgeordnet sind. 155 Es ist aufschlußreich für das Verständnis der Rawlsschen Begründungsargumentation (1971/75), den Rawlsschen Gedankengang nachzuzeichnen: Rawls behauptet einerseits, die Parteien ließen sich bei der Entscheidung, Unterschiede nur unter der Bedingung des allseitigen Vorteils gelten zu lassen, nicht von dem „ethischen Wert des Gedankens" 156 eines so gefaßten Unterschiedsprinzips leiten; vielmehr entschieden die Beteiligten im Urzustand quasi amoralisch spieltheoretisch angeleitet im Eigeninteresse; andererseits aber behauptet Rawls, es gäbe durchaus darüber hinausgehende Gründe, das Unterschiedsprinzip zu beschließen: „Denn wenn sie die Ungleichheiten zum gegenseitigen Vorteil ausschlagen lassen und im Rahmen der gleichen Freiheiten für alle die Ausnützung natürlicher und gesellschaftlicher Zufälligkeiten verzichten, drücken sie die Achtung füreinander schon in der Verfassung der Gesellschaft aus." 157

153 Siehe im einzelnen die Entwicklung der Formulierungen: Rawls, 1975, S. 81: erste Näherung; Korrektur; S. 104: zweite Formulierung; Korrektur; S. 336: endgültige Formulierung. 154 Rawls, 1975, S. 336. 155 Vgl. ebd., S. 337. 156 Ebd., S. 205. 157 Ebd., S. 205.

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4. Rekonstruktion und Kritik der Rawlsschen Theorie

Der erste Rawlssche Argumentationsgang zur Begründung des Unterschiedsprinzips aus den schlüssigen Regeln der heuristisch eingeführten spieltheoretischen Entscheidungslogik wird von Rawls ohne Rekurs auf moralische Prinzipien angegangen. Der zweite Rawlssche Argumentationsgang dagegen rekurriert auf das Prinzip der Achtung — und der Grund der Achtung ist eindeutig ein moralischer. Es ist aber nicht ersichtlich, wann und in welchem Sinne die Beteiligten im Urzustand bei ihren nur im Horizont des Eigeninteresses erfolgenden Entscheidungshandlungen durch Achtung voreinander bestimmt werden. Rawls interpretiert vielmehr entweder im nachherein die Entscheidungsergebnisse in,Kantischer Deutung4, oder er unterstellt den Parteien im Urzustand kantische Vernunftimperative 1 5 8 , ohne daß klar würde, inwieweit diese Imperative im Urzustand in die Entscheidungssituation der Beteiligten Eingang finden. Die Rawlssche Folgerung: (1) die Entscheidung des Unterschiedsprinzips durch die in der Theorie von 1971/75 definierten Parteien des Urzustandes nach dem Kriterium »Vorteil für Jedermann4, zu (2) dieses ist Ausdruck der,Achtung 4 , ist uneinsichtig, und Gründe für seine Gültigkeit sind meines Erachtens von Rawls nicht beigebracht. Das Kriterium ,Vorteil für Jedermann4 kann durchaus allein im strategischen Eigeninteresse eines Akteurs zur Anwendung kommen. Die Kantische Deutung bleibt eine Interpretation der Theorie, nicht aber kann sie als Begründung Ausweis der Richtigkeit der These gelten; sie suggeriert nur ihre Richtigkeit. Wie immer man die Thesen der Theorie von 1971/75 interpretieren mag: Rawls erreicht in seiner Beweisführung nicht die Ebene der Reflexion, in der sich Achtung als das basale und universale Moment menschlicher Gegenseitigkeit erschließt, aus der moralisch gehaltvolle Normen generiert und begründet werden können. Rawls rekuriert in der Theorie 71/75 weder auf die Kantische Achtung als unbedingtes geistiges Gefühl, als unbedingtes Faktum des Eintritts des Noumenalen in die menschliche Existenz, noch kennt Rawls eine Achtung, deren Verpflichtung sich jeder in strikter Reflexion auf die denknotwendigen Präsuppositionen der Argumentation, in der Geltungsansprüche erhoben werden, vergewissern kann und die transzendentalpragmatisch rekonstruierbar ist.

158 Rawls, 1975, S. 205: „Die Gerechtigkeitsgrundsätze spiegeln den Wunsch der Menschen wieder, einander nicht bloß als Mittel, sondern als Zweck an sich selbst zu behandeln. [...]" Rawls nimmt bei der ersten Beschreibung des Urzustandes in der zitierten Textstelle ausdrücklich Bezug auf Kant, allerdings in der Theorie von 71/75 wohl im Sinne einer Interpretation, nicht im Sinne eines Imperativs, der die Parteien im Urzustand anleitet. Dieses geschieht tendenziell erst in den späteren Texten von Rawls (siehe im einzelnen Rawls, 1980).

4.3 Explikation des Unterschiedsprinzips

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4.3 Explikation des Unterschiedsprinzips 4.31 Grafikexplikation — Kritik der Rawlskurve Rawls greift bei der Analyse des Unterschiedsprinzips auf das wirtschaftswissenschaftliche Theoriemodell der Indifferenzkurvenschar zurück. Die von Edgeworth 1881 in die Wirtschaftswissenschaften eingeführten Indifferenzkurven 159 sind ein noch heute in der Theorie der Wahlakte die wirtschaftswissenschaftliche Lehre bestimmendes Paradigma. Durch eine Indifferenzkurve wird folgender Zustand dargestellt: alle Punkte der Kurve repräsentieren Güterkombinationen gleicher Präferenz; oder anders gesagt: die Güterkombinationen werden gleich bewertet. In einem Koordinatensystem verlaufen die Indifferenzkurven nach Rawls rechtwinklig; d. h. sie haben einen horizontalen und einen vertikalen Ast. Im Vergleich zu einer gegebenen Indifferenzkurve gibt eine rechts oberhalb liegende andere Indifferenzkurve eine höhere Güterkombination an. Darstellung des Unterschiedsprinzips in einer Indifferenzkurvenschar:

159 Vgl. zur Ableitung der Indifferenzkurven u. a. z. B. Schneider, 1962, IV. Teil, S. 278 ff. 7 Bausch

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4. Rekonstruktion und Kritik der Rawlsschen Theorie

Im Koordinatensystem bezeichnet die waagerechte Abszisse mit X i die Einkommensaussichten der am besten gestellten Gruppe in der Gesellschaft 160. Die senkrechte Ordinate bezeichnet die Einkommensaussichten der am wenigsten begünstigten Gruppe in der Gesellschaft. Die Indifferenzkurvenschar verläuft rechtwinklig. Bewegt man sich rechts unterhalb der Winkelhalbierenden, bzw. der 45° Geraden, dann ist die Person 1 besser gestellt und die Person 2 schlechter gestellt. Bewegt man sich links oberhalb der Winkelhalbierenden, wäre es genau umgekehrt. Die Winkelhalbierende ist der geometrische Ort der Gleichverteilung. Das Unterschiedsprinzip bestimmt präzise den geometrischen Ort auf der Indifferenzkurve 161 , der gerecht ist gemäß der Regel des zweiten Gerechtigkeitsgrundsatzes. Zur Erläuterung der grafischen Darstellung folgende Sätze: (1) Es werden die aufsteigenden Indifferenzkurven beurteilt: nur Punkte auf der Winkelhalbierenden gelten als gerecht, da andere Punkte auf der Indifferenzgeraden nicht mit Vorteilen der jeweils anderen Gruppe einhergehen. Die Punkte auf der Winkelhalbierenden haben eine Gleichverteilung zum Ergebnis. Punkte auf der Gleichverteilungslinie unterscheiden sich lediglich durch das Niveau der (gleichverteilten) Einkommensaussichten. Einem Punkt auf der Idifferenzlinie oberhalb oder rechts der 45° Geraden wird wegen des Vorranges der Gleichverteilung als erster vorläufiger Entscheidung im Urzustand kein Vorzug gegeben — er stellt keine Besserstellung aller Beteiligten dar. (2) Die Kurve 0-R nenne ich die Rawlskurve. Die Rawlskurve ist eine Transformationskurve, eine distributive Verteilungsmöglichkeitskurve. Die Kurve gibt für eine bestimmte Verteilungsrelation das maximal erzielbare Einkommensniveau an. Die Rawlskurve ist der geometrische Ort, welcher eine Erhöhung des Einkommens der Gruppe X ! bis zum Punkte R einhergehen läßt mit einer, wenngleich vergleichsweise geringen, Erhöhung auch des Einkommens auch von X 2 . Sie stellt den Vorteil für beide Gruppen aus weitergeführter gesellschaftlicher Kooperation dar; die weniger begünstigte Gruppe X2 verdient „mit"; der Unterschied schlägt zum Vorteil auch der Ärmsten aus. Oder in vergleichender Betrachtung der alternativen Zustände, soweit sie sich aus der Grafik ablesen lassen: eine Verringerung der Ungleichheit wäre zum Nachteil der Ärmsten. Umverteilungen sind in der Darstellung nicht enthalten; sie sind auch in einer wohlgeordneten Gesellschaft Rawls160 Rawls, 1975, S. 97, bezeichnet die Abszisse Χγ fälschlich als die „am besten gestellte repräsentative Person" — richtig muß es heißen: „X! repräsentiert die Einkommensaussichten der . . . " . Das Entsprechende gilt für die Bezeichnung der Ordinate. 161 In Rawls4 Darstellung der Indifferenzgeraden gibt es eine Fortführung der Geraden auch oberhalb der Winkelhalbierenden. Dieses ist falsch; denn die oberhalb der Winkelhalbierenden liegenden Indifferenzpunkte sind nicht einmal theoretische Möglichkeit, da definitionsgemäß X 2 die weniger begünstigte Gruppe ist.

4.3 Explikation des Unterschiedsprinzips

99

scher Konzeption nicht vorgesehen. Es liegt eine im natürlichen Sinne zu verstehende Interessenharmonie vor: die repräsentativen Gruppen machen nicht auf Kosten voneinander Gewinne, es gibt nur gegenseitige Vorteile. (3) Die Strecke 0 bis A ist der Bereich des gegenseitigen Vorteils. Der Punkt A bezeichnet den Berührungspunkt R der Rawlskurve mit der höchsten Indifferenzkurve. Dieser Punkt R genügt dem Unterschiedsprinzip, und er ist gleichzeitig Pareto-optimal 162. Diesen Punkt der Maximierung der Aussichten der am wenigsten Begünstigten nennt Rawls den Punkt »vollkommener Gerechtigkeit 4163 . (4) Wertkombinationen zwischen 0 und A sind gemäß Rawls,durchweg gerecht 4, ohne — soferne sie das Maximum in A verfehlen — ,vollkommen gerecht4 zu sein. (5) Bereits eine Ungerechtigkeit in der Grundstruktur und damit ab ovo eine Verletzung der Gerechtigkeitsgrundsätze liegt vor, wenn bei einer Verschlechterung der Aussichten der Bessergestellten die Aussichten der schlechtergestellten Gruppe verbessert werden könnte. Dieses wäre ein Zeichen, daß die Aussichten der Bessergestellten schlechthin unangemessen sind / waren. Kein Punkt der ,Rawlskurve 4 beschreibt diesen Zustand; vielmehr verliefe eine solche ,Unrechtskurve 4 in irgendeiner Steigung zwischen 91 und 179 Grad. In einem solchen Fall, der nicht in den Rahmen der idealen Theorie fällt, fordern die Grundsätze der Gerechtigkeit Änderungen, die die Aussichten der Bessergestellten verringern können auch gegen das Prinzip der Pareto-Optimalität. Es folgen einige kritische Anmerkungen zur Rawlskurve: a) Warum muß die Rawlskurve die von Rawls vorgetragene Form haben? Die Rawlskurve enthält eine unausgesprochene Vorentscheidung; denn folgende Alternative ist denkbar und auch real möglich: geringere Zuwächse der Bevorzugten gehen einher mit höheren Zuwächsen der Benachteiligten. Die Kurve hätte dann eine Steigung von über 45 Grad; diese theoretische Möglichkeit würde ebenfalls dem Unterschiedsprinzip genügen umd impliziert keine Unverträglichkeit mit den Pareto-Kriterium. 162 Das Pareto-Kriterium, (benannt nach Vilfredo Pareto, der das Kriterium formulierte), beschreibt einen Zustand als optimal, in dem es nicht mehr möglich ist, durch Umverteilung einen Beteiligten in einem gegebenen Zeitpunkt besserzustellen, ohne daß ein anderer dadurch schlechtergestellt würde. Dieses in der Wohlfahrtsökonomie auch als »soziales Optimum' bezeichnete Kriterium definiert eine Situation, in der es nicht mehr möglich ist, eine Reorganisation oder ein anderes Arrangement von Gütern durchzuführen, durch das mindestens eine Person in eine günstige Lage versetzt wird, ohne daß eine andere Person sich in ihrer Position verschlechtert (zum Pareto-Kriterium siehe im Einzelnen u. a. z. B. Paulsen, 1965, Bd. I, S. 55 f. Rawls bespricht das Paretokriterium in § 12 (1975, S. 88 ff.). 163 Vgl. Rawls, 1975, S. 99. 7*

100

4. Rekonstruktion und Kritik der Rawlsschen Theorie

b) Rawls nimmt eine »Verkettung4 und »Kopplung 4164 an; das heißt, die positiven Veränderung der Aussichten der repräsentativen Gruppe .der Bevorzugten führt zu einer positiven Veränderung auch der anderen Gruppen, insbesondere der am schlechtesten Gestellten. Dieses ist die für Rawls entscheidende Gruppe. Kopplung bedeutet also auch: es gibt daher keine waagerechten Abschnitte der Rawlskurve, also Verbesserungen der Bessergestellten ohne Verbesserung der Schlechtergestellten. Rawls behauptet: Wenn die möglichen Vorteile der bessergestellten Gruppe realisiert werden, wird es sicher Möglichkeiten geben, auch die Lage der weniger Begünstigten zu verbessern. Dieses mag durchaus plausibel sein; allerdings ist diese Argumentation für Rawls eine formale Voraussetzung zur Vermeidung der Beurteilung einseitiger Verbesserungen: sofern die Bevorzugten profitieren, soll dieses auch zum Vorteil der weniger Begünstigten ausschlagen. Dieses Ergebnis entspricht dem Unterschiedsprinzip und ist akzeptabel. Allerdings ist der umgekehrte Fall weniger einfach: müssen mögliche Vorteile der Schlechtergestellten unterbleiben, wenn (weil) sie nicht mit Vorteilen für die Bessergestellten verbunden sind? — Die Beantwortung dieses Problems wird von Rawls nicht angesprochen und das Problem selber kommt auch in der diesbezüglich nicht sehr klaren Explikation von Rawls gar nicht in den Blick. Die Beantwortung ergibt sich allerdings aus dem Indifferenzsystem selbst: ein zusätzlicher Vorteil für die Schlechergestellten bei unveränderten Einkomensaussichten der Bessergestellten verursacht eine Bewegung der Rawlskurve zu einer Indifferenzkurve mit höherem Bewertungsindex. Der R Punkt würde sich von R nach Ri verschieben, die Einkommensaussichten der Gruppe X 2 von Β auf Βχ erhöht bei gleichbleibenden Aussichten der bessergestellten Gruppe Χχ bei A. Die Abbildung 2 läßt den Zusammenhang in grafischer Darstellung klar werden: c) Rawls formuliert seine Theorie für einen idealen Zustand, der keiner dynmischen Entwicklungen unterworfen ist. Damit allerdings ist die Möglichkeit einer dynamischen Verteilungsänderung durch die Auswirkung technischen Fortschritts und der sich damit ergebenden praktischen Verteilungsprobleme ausgeblendet. Folgender Fall ist denkbar und auch real wahrscheinlich: die Steigung der Rawlskurve erhöht sich, der Tangenzialpunkt verschiebt sich nach oben links und erreicht ein höheres Versorgungsniveau. Das höhere Versorungsniveau geht einher mit einer Umverteilung der Einkommen der bessergestellten Gruppe zugunsten der sozial schwächeren Gruppe. Es ist nicht deutlich klar, wie Rawls eine solche Situation gelöst wissen will. In grafischer Darstellung zeigen sich die Zusammenhänge in Abbildung 3.

164 Vgl. ebd., S. 101.

4.3 Explikation des Unterschiedsprinzips

Abbildung 3

101

102

4. Rekonstruktion und Kritik der Rawlsschen Theorie

Die höhere Indifferenzgerade wird erreicht durch eine steiler verlaufende Rawlskurve mit dem Tangentialpunkt R 3 . Dieser Punkt ist für die benachteiligte Gruppe mit verbesserten Einkommensaussichten verbunden, für die bevorzugte Gruppe dagegen mit vergleichsweise verschlechterten Aussichten. d) In der Literatur wird die Kopplungsthese von Rawls eine problematische und höchst zweifelhafte Annahme genannt 165 , da durch historische Erfahrung entgegengesetzte Veränderungen der Sozialstrukturen in der Geschichte festgestellt werden müssen; die These der Kopplung sei eine willkürliche, ungerechtfertigte Annahme. Diese Kritik kann Rawls meines Erachtens jedoch nicht treffen, da sein Interesse gar nicht der Frage gilt, ob die Kopplung historisch ausgewiesen werden kann. Die Gültigkeit des Unterschiedsprinzips hängt nicht von dem faktischen Vorliegen der Verkettung ab. 166 Das Rawlsmodell unterstellt mit der Kopplung vereinfachend, daß die zwischen X ! und X 2 liegenden Gruppen jeweils in gleicher Richtung durch die Veränderung beeinflußt werden. Dieses ist eine Vereinfachung, erscheint aber zulässig, da die Auflösung der Vereinfachung im Ergebnis nur einen Wechsel der Gruppen bedeutet; irgendeine Gruppe ist im Ergebnis immer die formal am schlechtestgestellte, und auf diese wird jeweils abzuheben sein. Es besteht allerdings das ernste Problem, welches der Maßstab für die Feststellung der am schlechtsten gestellten Gruppe (,the least advantaged') ist 1 6 7 . e) Die Annahme der »Kopplung4 allerdings impliziert Vereinfachungen, welche — wenn es Kopplung realiter gibt und Kopplung nicht nur eine Modellvereinfachung ist — die Unterscheidungen hinfällig werden läßt, die Rawls zur Abgrenzung gegen utilitaristische Maximierungs- und Nutzensummenprinzipien trifft. Die faktischen Folgen der Kopplung, nämlich Verbesserung der Aussichten aller Gruppen, läßt den von Rawls sorgfältig ausgearbeiteten Konflikt zwischen Utilitarismus in seiner klassischen Form und den Rawlsschen Gerechtigkeitsgrundsätzen, zwischen gesellschaftlicher Gesamtnutzenmaximierung und individuellem Wohl, verschwinden. 168 f) Die Rawlskurve könnte suggerieren, es gäbe eine durch Geometrie vorbestimmte »gerechte4 Aufteilung auf die Gruppen. Das Problem einer gerechten Verteilung des durch die Kooperation erwirtschafteten Ertrages (Güter, Einkommen, Aussichten) wird nicht nur übergangen, es kommt erst gar nicht in den Blick der Modelldarstellung. g) In der Literatur wird der abstrakte Formalismus des Rawlsschen Unterschiedsprinzips und der Rawlskurve kritisiert 169 : Rawls abstrahiere von historischen 165 Vgl. Koller, 1983, S. 6 ff. und 1987 S. 116 ff. 166 Vgl. hierzu Rawls, 1975 S. 102. 167 Siehe hierzu Kapitel 5.1: »Bestimmung der am wenigsten begünstigten Gruppe. 168 Vgl. hierzu Arrow, 1977, S. 209, der diesen Kritikpunkt ausführt.

4.3 Explikation des Unterschiedsprinzips

103

Situationen, strukturellen Veränderungen in den realen dynamischen Entwicklungen von Geschichte und Wirtschaft; Rawls sei nicht nur bemerkenswert unpolitisch, undialektisch, sondern sogar antihistorisch formalistisch; Barber entwirft völlig differente Verläufe der Rawlskurve, indem er historisch dynamische Prozesse zu berücksichtigen versucht. 170 Die Überlegungen von Barber sind richtig und wichtig, jedoch trifft seine Kritik Rawls meines Erachtens nicht; denn Rawls gibt dem Ideal einer wohlgeordneten Gesellschaft einen theoretischen Ausdruck in einem vereinfachenden Kurvenmodell. Die Kurven sind nicht Deskription tatsächlicher gesellschaftlicher oder historischer Etappen. Diese darzustellen, ist gar nicht Rawls4 Anliegen.

4.32 Untersuchung der verschiedenen Interpretationsvorschläge des Unterschiedsprinzips in erster Formulierung und Hinführung zur zweiten Formulierung Rawls führt sehr detaillierte theoretische Untersuchungen zur Entwicklung des zweiten Grundsatzes durch. Rawls prüft die Deutungsmöglichkeiten erster hypothetischer Grundsatzformulierungen, wobei er die Prüfung im vorgestellten Gedankenexperiment eines Beteiligten im Urzustand vorführt. Das Gedankenexperiment führt zu immer differenzierteren Grundsatzformulierungen, bis schließlich die endgültige Fassung als Ergebnis des prüfenden Denkprozesses vorliegt. Es werden von Rawls vier verschiedene Deutungen zur Prüfung des zweiten Grundsatzes erster Fassung im Hinblick auf die Bestimmungsmerkmale »Jedermanns Vorteil" und , Jedem offen" vorgenommen. Es wird angenommen, der erste Grundsatz sei erfüllt. Die Entwicklung der Deutung ist aufsteigend geordnet: 1. System der natürlichen Freiheit 2. System der liberalen Gleichheit 3. System der natürlichen Aristokratie 4. System der demokratischen Gleichheit Die vier Deutungen führen schließlich zu der endgültigen Formulierung des Unterschiedsprinzips. Rawls prüft die Argumente hinsichtlich ihrer Stärke im hypothetischen Urzustand in schrittweiser Fortentwicklung von System (1) bis (4). Jeder Prüfungsschritt bringt Korrekturen des Systems, bis in System (4) ein Überlegungsgleichgewicht hergestellt ist.

169 Vgl. z. B. Barber, 1975, insbesondere S. 240 ff. no Ebd., S. 241 f.

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4. Rekonstruktion und Kritik der Rawlsschen Theorie

4.321 System der natürlichen Freiheit 171 a) Die Grundsatzformulierung „Jedermanns Vorteil" wird als Bestimmungsmerkmal verstanden, das dem Pareto-Optimalitätskriterium genügt: Zunächst wird von den Beteiligten im Urzustand dieses Kriterium als Vorschlag für die Beurteilung der gesellschaftlichen Grundstruktur geprüft. Das ParetoKriterium ist, wie schon bemerkt, ein von der Wirtschaftstheorie als Effizienzkriterium gebräuchliches Instrument zur Prüfung der Ausgestaltung wirtschaftlicher Verhältnisse: ist das Kriterium erfüllt, so ist keine Umgestaltung dieser Verhältnisse möglich, die einen Menschen besserstellt, ohne einen anderen schlechterzustellen. Es ist offensichtlich, daß eine Beziehung zwischen dem Bestimmungsmerkmal „Jedermanns Vorteil" und dem Kriterium vermutet werden darf. Das Pareto-Kriterium ist ferner ohne moralische Implikationen — es werden somit keine moralischen Vorentscheidungen getroffen. In Anwendung des Pareto-Kriteriums auf die Grundstruktur der Gesellschaft werden die Aussichten der repräsentativen Personen betrachtet, und die Zuweisung von Rechten und Pflichten in der Grundstruktur wird dann optimal genannt, wenn es nicht möglich ist, die Zuweisung in einer solchen Weise zu verändern, daß sich die Aussichten mindestens einer repräsentativen Person verbessert, ohne daß sich die irgendeiner anderen verschlechtern. Der Gedankengang ist wie folgt zu rekonstruieren: wir nehmen eine modellmäßige Darstellung des Tausches zweier Güter bei gegebener Gütermenge zwischen zwei Personen an, wobei beide Personen über eine bestimmte faktisch kontingente Ausstattung der Güter beider Arten verfügen. Die beiden Personen werden in Tauschbeziehungen eintreten und ein Distributionsoptimum dann erreichen, wenn keine der beiden Personen besser gestellt werden kann, ohne daß die andere schlechter gestellt wird; in diesem Punkt wäre die Idee des Pareto-Optimums als Distributionskriterium gefaßt und erfüllt. In grafischer Darstellung wird die Paretokurve Α-B konkav zum Nullpunkt angenommen: Die Α-B Kurve ist das Ergebnis optimaler Allokation; es sind Punkte gleicher Effizienz. Es ist keine Veränderung möglich, bei der X 2 gewinnt und gleichzeitig X i . Die Kurve ist pareto-optimal: es ist keine Veränderung der Allokation möglich bei der Χχ gewönne ohne daß nicht X 2 verlöre (und umgekehrt). Jedoch: welcher der verschiedenen Verteilungsmöglichkeiten auf der A-B Kurve ist gerecht? Die Nutzenkombination a-b (GleichVerteilung), oder die Kombination a ' - b \ die die Person X 2 bevorzugt, oder die Kombination a " b " , die die Person X i bevorzugt? Hierüber ist keine Aussage ohne Einführung weiterer Prinzipien möglich. Ein Prinzip der Distribution ist also erforderlich, um die optimalen Punkte in eine Rangreihe zu bringen. Dieses Prinzip ist als 171 Vgl. im einzelnen Rawls, 1975, S. 86-93.

4.3 Explikation des Unterschiedsprinzips

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Nutzen der Person X2

Gerechtigkeitsprinzip zu fassen und zu begründen. In Frage käme zunächst zum Beispiel eine Gleichverteilung als Schnittpunkt der Winkelhalbierenden mit der Paretokurve. Die Beurteilung, welche Verteilung im Sinne des Pareto-Kriteriums am besten ist, übergeht ferner die Berücksichtigung der anfänglichen Güterverteilung, aus welcher die Verteilungskurve sich ableitet. Die faktische Kontingenz vorgegebener Ausstattung mit Tauschgütern bleibt problematisch. Gesellschaftliche und natürliche Zufälligkeiten einer unregulierten Anfangsverteilung bestimmen die kontingente Anfangsverteilung und damit auch das Verteilungsergebnis nach den Tauschvorgängen. Zu jeder Anfangsverteilung gibt es pareto-optimale Zustände; sogar eine Sklavenhaltergesellschaft kann in einer Paretokurve dargestellt werden. Den Beteiligten im Urzustand ist dieses aber bekannt, und sie entscheiden daher nicht nach Pareto-Optimalitätskriterien oder Nutzensummenmaximierungskriterien; sie sind vielmehr nach Rawls durch den Grundsatz des Unterschiedsprinzips geleitet. Das jetzige kritische Prüfungsverfahren hat nur den Zweck, eine der Idee des Unterschiedsprinzips angemessene Formulierung zu ermöglichen, nachdem Rawls zu dem Ergebnis kam, daß das Pareto-Kriterium allein für die zur Entscheidung stehenden Fragen nicht ausreicht.

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4. Rekonstruktion und Kritik der Rawlsschen Theorie

Eine Ergänzung für die Formulierung der Bestimmungsmerkmale „Jedermanns Vorteil" erweist sich als erforderlich. b) Dieses geschieht durch die im zweiten Grundsatz hypothetisch eingeführte Forderung, daß die Ämter und Positionen „jedem offenstehen", hier von Rawls in erster Näherung verstanden als „natürliche Freiheit": dem Fähigen offenstehende Laufbahnen als formale Chancengleichheit. Jedoch: Die Anfangsverteilung der Fähigkeiten ist stark von den natürlichen Zufälligkeiten (natürliche Fähigkeiten) beeinflußt sowie von gesellschaftlichen Zufälligkeiten einer noch unregulierten Anfangsverteilung und dieses Ergebnis wird von den Beteiligten im Urzustand als unbefriedigend empfunden, da die Faktoren der natürlichen Fähigkeiten sich ohne Regulative beliebig auswirken können und beliebige Verteilungen möglich sind: es gilt die Willkür der Natur im Rahmen der formalen Chancengleichheit. Die Formulierungen „zu Jedermanns Vorteil" und „jedem offen", interpretiert als formale Chancengleichheit (Offenheit der Laufbahnen für jeden gemäß seinen natürlichen Fähigkeiten — unberücksichtigt der gesellschaftlichen Startposition und egal wie die Folgen) finden im Urzustand keine Akzeptanz. Sie sind der Idee des Unterschiedsprinzips nicht angemessene Formulierungen. Sie werden in fortführender Differenzierung im Gedankenexperiment fortentwickelt zu liberaler Chancengleichheit. 4.322 Liberale Gleichheit 172 In dem Gedankenexperiment wird von einer beliebigen Verteilung natürlicher Fähigkeiten ausgegangen und unabhängig von der anfänglichen gesellschaftlichen Stellung gleiche Erfolgsaussichten für Menschen mit gleichen Fähigkeiten und gleicher Bereitschaft, diese einzusetzen, gefordert. Institutionen haben diese Chancengleichheit für gleich Begabte und gleich Anstrengungsbereite unabhängig von ihrer sozialen Stellung, ihrem Milieu und ihrer Klassenzugehörigkeit zu gewährleisten (faire Chancengleichheit). Die Zuteilung sozialer Positionen soll durch die institutionelle Einräumung und Sicherung der liberalen fairen Chancengleichheit unabhängig gemacht werden von moralisch irrelevanten Merkmalen wie Hautfarbe, Rasse, Geschlecht oder moralisch irrelevanten Umständen wie milieubestimmter Herkunft oder Klassenprivilegien. Entscheidend für die Erlangung sozialer Positionen sind gemäß der Rawlsschen Interpretation der liberalen Gleicheit nur die natürlichen Fähigkeiten und die individuelle Anstrengungsbereitschaft. Allerdings: die Verteilung erfolgt nach den natürlichen Fähigkeiten und ist damit das „Ergebnis der Lotterie der Natur, und ist unter moralischen Gesichtspunkten willkürlich" 1 7 3 . 172 Vgl. im einzelnen ebd., S. 93 f.

4.3 Explikation des Unterschiedsprinzips

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Die Beteiligten im Urzustand sehen dieses, und daher wird die in dieser Perspektive noch nicht angemessene Formulierung der Idee des Unterschiedsprinzips fortentwickelt. 4.323 System der natürlichen Aristokratie 174 Das Gedankenexperiment erprobt folgende Möglichkeit: die Vorteile der von Natur Begabten werden von den Institutionen nur insoweit zugelassen, als sie dem Wohl der Benachteiligten dienen. Es wird ein System »natürlicher Aristokratie4 vorgestellt mit der Norm »Noblesse oblige zu jedermanns Vorteil 4 ; sozusagen eine Selbstverpflichtung einer idealen aristokratischen Klasse, ihre bevorzugte Stellung zum Vorteil aller, also auch insbesondere der schwächsten Gruppen der Gesellschaft, zu nutzen. Ein so gedeutetes natürliches Feudalsystem würde zwar theoretisch dem Unterschiedsprinzip in der ersten Formulierung genügen, jedoch kollidiert ein solches System nach Rawls mit den wohlüberlegten Gerechtigkeitsurteilen betreffend die Idee eines stabilen, offenen Systems fairer Chancengleichheit; diejenigen, die nicht zur Klasse der ,natürlichen Aristokraten 4 gehören, würden sich ausgeschlossen und ungerecht behandelt fühlen, wenn die begabten ,Aristokraten 4 sich nicht dem offenen Chancenwettbewerb stellen. Die Beteiligten im Urzustand wissen das und werden daher nicht ein Unterschiedsprinzip in dem Verständnis einer ,natürlichen Aristokratie 4 wählen, sondern eines in der Dimension der »Demokratischen Gleichheit4 vorziehen. 4.324 Demokratische Gleichheit 175 Das Prinzip der fairen Chancengleichheit wird mit dem Unterschiedsprinzip zusammengedacht. Die Pareto-Optimalität, welche unter dem Gesichtspunkt der Verteilungsgerechtigkeit sich als unbestimmt erwies, wird als bestimmendes Kriterium ausgeschieden zugunsten des Primats des Unterschiedsprinzips, welches die Folgengesichtspunkte für die am wenigsten Begünstigten wie folgt einbezieht: nur die Punkte einer Verteilungskurve gelten als gerecht, die mit einer Verbesserung der Aussichten der am wenigsten Begünstigten einhergehen, und die mit Ämtern und Positionen verbunden sind, die allen gemäß fairer Chancengleichheit zustehen. Der gedankenexperimentelle prüfende Durchgang durch die jeweiligen Systemimplikationen für die Betroffenen (und das ist im Urzustand virtuell jeder 173 Ebd., S. 94. 174 Vgl. im einzelnen ebd., S. 94 f. 175 Vgl. im einzelnen ebd., S. 95 ff.

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4. Rekonstruktion und Kritik der Rawlsschen Theorie

Beteiligte) führt zu Formulierungsabänderungen des zweiten Grundsatzes. Das Unterschiedsprinzip in zweiter Formulierung lautet jetzt:

„Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu regeln, daß sie sowohl (a) den am wenigsten Begünstigten die bestmöglichen Aussichten bringen, als auch (b) mit Ämtern und Positionen verbunden sind, die allen gemäßfair er Chancengleichheit offenstehen " m . Die gedankenexperimentelle kritische Prüfung der verschiedenen Systeme hat für Rawls zum Zweck, eine seiner Gerechtigkeitsintuition (Gerechtigkeit als Fairneß) entsprechende angemessene Formulierung des Unterschiedsprinzips zu ermöglichen. Die demokratische Auffassung ist für Rawls „die beste der vier möglichen, wenn man jedermann als moralisches Subjekt gleichbehandeln will und die Anteile der Menschen an den Früchten und Lasten der gesellschaftlichen Zusammenarbeit nicht durch gesellschaftliche oder natürliche Zufälligkeiten bestimmen lassen möchte."177 Die Verteilung sozialer und wirtschaftlicher Grundgüter wird nach der Erfüllung des ersten Grundsatzes (Freiheitsgrundsatz) in dem System demokratischer Gleichheit in einer solchen Weise geregelt, daß die Vorstellung eines Unterschiedsprinzips (Grundsatz des allseitigen Vorteils) verknüpft wird mit der Bedingung der fairen Chancengleichheit. Es wird allerdings meines Erachtens nicht ausreichend deutlich, wie das Verbindungsverhältnis »Chance4 zu »bestmöglichen Aussichten4 präzise zu verstehen ist. Die »Aussichten4 beziehen sich offenbar auf gesellschaftliche Grundgüter, die »Chancengleichheit4 auf Ämter und Positionen. Jedoch: Sind die bestmöglichen Aussichten unter die Bedingung (den Vorrang) fairer Chancengleichheit gestellt (a), oder gilt eine kritisches Spannungsverhältnis zwischen den beiden Bestimmungsmerkmalen in dem Sinne, daß auch eine Möglichkeit des ,trade off 4 von ,Ausichten4 und ,fairer Chancengleichheit4 nicht ausgeschlossen ist (b)? Die Rawlssche Position scheint in dieser Frage nicht eindeutig. Es geht bei diesen Überlegungen letztlich um die schwer bestimmbare Fassung des konkreten Inhalts sozialer Wohlfahrt.

4.33 Die Einführung des Spargrundsatzes und endgültige Formulierung des Unterschiedsprinzips Das Unterschiedsprinzip fordert, daß Ungleichheiten mit dem größtmöglichen Vorteil für die Gruppe der Benachteiligten verbunden sein müssen. Dieses Prinzip der Maximierung der Vorteile ohne einschränkende Bedingung ist im Kontinuum 176 Ebd., S. 104. 177 Ebd., S. 95.

4.3 Explikation des Unterschiedsprinzips

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der Generationen nicht anwendbar — die wirtschaftlichen Vorteile fließen immer nur in eine Richtung: spätere Generationen empfangen von den früheren, ohne daß die früheren etwas von dem Vorteil der späteren hätten. Warum sollten sich also die früheren Generationen zum Sparen veranlaßt sehen? — Oder als Frage an den Imperativ der dritten Person: warum sollen sie zum Sparen verpflichtet werden? Die Beteiligten im hypothetischen Urzustand wissen wegen des Schleiers des Nichtwissens nicht, welcher Generation sie angehören, aber sie wissen, daß sie Zeitgenossen sind und haben also keinen Grund, überhaupt einem Spargrundsatz zwischen den Generationen zuzustimmen. Daher führt Rawls jetzt in das Gedankenexperiment die Bestimmung ein, daß (1) die Beteiligten im Urzustand „Vertreter von Nachkommenlinien sind, denen jedenfalls ihre näheren Nachkommen nicht gleichgültig sind", und (2) „daß der beschlossene Grundsatz so beschaffen sein muß, daß sie wünschen können, alle früheren Generationen möchten ihn befolgt haben" 178 . Es werden von Rawls also Bedingungen konstruiert, die sicherstellen sollen, daß jede Generation sich um alle Generationen kümmert und sich daher nach einem gerechten Spargrundsatz fragt. Der Spargrundsatz schränkt die durch den zweiten Grundsatz geforderten Vorteile auch für die am wenigsten Begünstigten ein. Welches aber wäre der ,gerechte4 Spargrundsatz? Die Antwort ist in der Perspektive des Zweckes der Sparrate zu suchen; wenn der Zweck begründet ausgewiesen ist, folgt die Frage nach der Höhe der Sparrate. Ein »gerechter4 Spargrundsatz muß (1) Gründe bei sich führen, die den Zweck ausweisen, und (2) Regeln für die Bestimmung der Höhe benennen. Der Zweck des Sparens kann im Rahmen einer Gerechtigkeitstheorie nicht darin bestehen zu sparen, damit die nächste Generation reicher oder wirtschaftlich leistungsfähiger wird. Eine solche Zwecksetzung wäre eine ökonomistische Reduktion von Gerechtigkeitsüberlegungen. Der Zweck kann vielmehr nur darin bestehen, Vorsorge für die materiellen Grundlagen für wirksame, gerechte Institutionen zu sichern. „Der gerechte Spargrundsatz läßt sich als eine Übereinkunft zwischen den Generationen bezüglich der fairen Aufteilung der Lasten auffassen, die aus der Errichtung und Erhaltung einer gerechten Gesellschaft entstehen"179. Die Beteiligten im Urzustand (und dieses sind durch den Schleier des Nichtwissens virtuell auch die weniger Begünstigten) entscheiden wirtschaftliche Einschränkungen, die für die Erhaltung der prinzipiell auf Dauer gestellten gerechten Institutionen erforderlich sind. Es geht Rawls bei diesen Überlegungen nicht um eine theoretische Bestimmung der Höhe der Sparrate, schon gar nicht um die 178 Vgl. im einzelnen ebd., S. 323. 179 Ebd., S. 325.

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4. Rekonstruktion und Kritik der Rawlsschen Theorie

komplizierten volkswirtschaftlichen Zusammenhänge von Sparrate und Wachstums- und Investitionstheorie, nicht um diskontierte Zukunftserträge oder ähnliches; es geht Rawls einzig um die Begründung eines Sparprinzips als einschränkende Bedingung des Maximierungsimperativs für die am wenigsten Begünstigten. Rawls sagt nicht mehr und nicht weniger, als daß auf ökonomische Konsumvorteile verzichtet werden muß (gespart werden muß), soweit dieses zum Erhalt und zum Ausbau gerechter Institutionen erforderlich ist. Dieser Sparimperativ gilt auch für die am wenigsten Begünstigten. Durch Einführung und Zweckbegründung des Spargrundsatzes erfährt das Unterschiedsprinzip seine weitere Ausdifferenzierung und somit seine jetzt voll angemessene (und das heißt nach Rawls: dem Überlegungsgleichgewicht entsprechende) „endgültige" Fassung: „Soziale und wirtschaftliche sein:

Ungleichheiten müssen folgendermaßen

beschaffen

a) sie müssen unter der Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen, und

den am

b) sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offenste hen. " 180 Unbearbeitet bleibt jedoch die wichtige Frage, welches Maß an Verzicht den am wenigsten Begünstigten zugemutet werden darf, und durch welche Regulative dieses in konkreten lebenspraktischen Zusammenhängen im Zweifel konfliktgeladene Problem in einer solchen Weise gelöst werden kann, daß das Ergebnis mit Gründen »gerecht' genannt werden darf. Seine eigenen begrifflichen Möglichkeiten erlauben es Rawls schließlich nur, in konkreten Situationen auf den „Grundsatz der politischen Regelung" zu verweisen und die Ergebnisse „dem Verlauf der Gesetzgebungsdiskussion" anheimzustellen181. Welches aber wären die normativen Regeln einer solchen Diskussion? Rawls sieht sich hier richtigerweise „auf das Problem eines idealen Verfahrens der öffentlichen Überlegung von Gerechtigkeitsfragen geführt, eines wohlgebauten Regelsystems, das das größere Wissen und Denkvermögen so zur Geltung bringt, daß das richtige Ergebnis möglichst gut angenähert, wenn nicht erreicht wird" 182 . Allerdings bricht Rawls dann nach dieser, meines Erachtens durchaus gehaltvollen Problemanzeige, die Erörterung ab und verfolgt die Frage nicht weiter.

180 Rawls, 1975, S. 336. 181 Vgl. im einzelnen ebd., S. 399. 182 Ebd., S. 395.

5. Kritische Analyse des Rawlsschen Unterschiedsprinzips als Verteilungsprinzip 5.1 Bestimmung der Gruppe der am wenigsten Begünstigten Das Unterschiedsprinzip verlangt, daß man die am wenigsten begünstigte Gruppe feststelle (,the least advantaged') und deren Aussichten maximiere. Wie aber ist diese Gruppe festzustellen? Irgendwie müssen die gesamten Aussichten der verschiedenen Gruppen abgeglichen werden. Ein theoretisch bestimmbares kardinales Nutzenmaß, welches interpersonale Aussichtsvergleiche ermöglichte, ist nicht ersichtlich und wird auch von der Theorie nicht behauptet. Rawls löst das Problem durch eine starke Vereinfachung mit folgenden Annahmen 1 : Jeder Mensch habe im wesentlichen zwei Positionen inne: (1) die Position der gleichen Bürgerrechte — und hier gilt der allgemeine Standpunkt der Gleichheit: Grundsatz der gleichen Grundfreiheiten und der fairen Chancengleichheit; (2) die Position als Platz in der Einkommens- und Vermögensverteilung — und hier gelten bedingte Ungleichheiten. In die Bestimmung der zweiten Position rückt Rawls ökonomische Aspekte stark in das Zentrum der Untersuchung und nimmt eine Eingrenzung des Suchbereiches vor; die hier vorliegende „gewisse Willkür" erscheint allerdings unvermeidbar, denn „jedes Verfahren ist notwendig in gewissem Maße ad hoc. Doch ab irgendeinem Punkt darf man praktische Erwägungen ins Spiel bringen" 2 . Im Ergebnis orientiert sich Rawls bei der Bestimmung der ,least advantged4 am Einkommen. Diese Reduktion auf Einkommen führt zwar zu einer operativ einfachen Rangordnung, aber erfaßt dieser enge Geldaspekt alle wichtigen sozialen Perspektiven? Aussichten dürfen nicht nur auf ökonomische Vorteile verkürzt werden und Momente wie Selbstachtung, soziale Sicherheit, Anerkennung u. ä. nicht ohne weiteres ökonomisch eingeebnet werden; denn ein großer Teil der menschlichen Bedürfnisse (,Aussichten4 verstehe ich als konkrete Möglichkeit der Befriedigung von Bedürfnissen) liegen außerhalb des Preissystems. Zu fordern ist daher, daß durch empirische soziologische Erhebungen differenziertere und durch entsprechende Methoden der Erhebung plausiblere Kriterien 3 erarbeitet werden. Ich will ι Vgl. im einzelnen Rawls, 1975, S. 116/117. 2 Ebd., S. 119. 3 Siehe hierzu z. B. Joseph Wrésinsky, Gutachten zum Bericht „Große Armut und wirtschaftliche und soziale Unsicherheit " im Namen des französischen Wirtschafts- und

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5. Kritische Analyse des Rawlsschen Unterschiedsprinzips

es aber bei der Problemanzeige belassen, da meines Erachtens für die Untersuchung Richtigkeit oder Falschheit der Rawlsschen Theorie die Bestimmungsweise der am wenigsten begünstigten Gruppe ein untergeordnetes Problem ist; denn irgendeine Gruppe ist formal immer ,the least advantaged4. Unbeschadet des oben skizzierten Einwandes will ich den Einkommens- und Vermögensüberlegungen von Rawls weiter folgen, zumal in der gesellschaftlichen Praxis die Verteilung von Einkommen und Vermögen ein wichtiges Gerechtigkeitsproblem darstellt.

5.2 Verfahrensgerechtigkeit und faire Chancengleichheit als spezifischer Verteilungsgrundsatz Rawls versucht das Problem der Verteilung der Früchte der Kooperation durch das Prinzip des allseitigen Vorteils, ergänzt durch den Grundsatz der fairen Chance zu lösen; der erste Grundsatz der Gerechtigkeit in Kombination mit dem zweiten Grundsatz des allseitigen Vorteils, der Offenheit der Positionen und der fairen Chance soll gemäß Rawls die in marktwirtschaftlichen Verfahrensprozessen auftretenden Verteilungsergebnisse so regeln, daß sie gerecht genannt werden können.4 Der Grundsatz der fairen Chance muß zusammengedacht werden mit dem Rawlsschen Konzept der Verfahrensgerechtigkeit. Faire Chancengleichheit ist ein Bestimmungsmerkmal des zweiten Gerechtigkeitsgrundsatzes; Ungleichheiten müssen mit Vorteilen für die am wenigsten Begünstigten einhergehen, und sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offenstehen. Der Grundsatz der ,fairen Chance4 bedeutet für Rawls nun zweierlei: 1. Der Grundsatz drückt die Überzeugung aus, daß „wenn einige Positionen nicht in einer für alle fairen Weise offen seien, dann könnten sich die Ausgeschlossenen mit Recht ungerecht behandelt fühlen, auch wenn sie Vorteile von den größeren Anstrengungen derer haben, die die Positionen besetzen dürfen" 5. Den Grund für die faire Chance der Teilhabe an allen möglichen Ämtern und Positionen leitet Rawls nicht von den möglichen, mit der Position verbundenen Vorteilen ab, sondern von dem Recht auf „Selbstverwirklichung in Form der Erfüllung gesellschaftlicher Pflichten [ . . . ] , einer Hauptforderung menschlichen Wohls 446 . Sozialrates, Dt. Übers.: Internationale Bewegung ATD Vierte Welt, Freiburg / Schweiz Jan. 1990. 4 Siehe im einzelnen Rawls, 1975, S. 105-110. 5 Ebd., S. 105. 6 Ebd.

5.2 Verfahrensgerechtigkeit und faire Chancengleichheit

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2. Der Grundsatz der fairen Chancengleichheit hat die Aufgabe, das System der Kooperation zu einem System „reiner Verfahrensgerechtigkeit" 7 zu machen. Das System soll garantieren, daß das Ergebnis der nach dem Verfahren sich regelnden Verteilung unter allen Umständen gerecht ist. Reine Verfahrensgerechtigkeit liegt nach Rawls vor, „wenn es keinen unabhängigen Maßstab für das richtige Ergebnis gibt, sondern nur ein korrektes Verfahren" 8. Als Beispiel für die Idee der reinen Verfahrensgerechtigkeit wird von Rawls das Glücksspiel genannt. Sofern die starken Voraussetzungen: kein Betrug, Freiwilligkeit der Teilnahme, Nullsummenspiel etc. vorliegen und sich der Spieler auf das Spiel einläßt, unterwirft er sich dem in diesem Sinne gerechten' Ergebnis des Verfahrens. Diese Situationen reiner Verfahrensregelung haben zugestandenermaßen den Vorteil großer Einfachheit. Ist dieses Beispiel jedoch verallgemeinerbar? Es fällt sofort auf, daß, sofern man sich nur auf das Spiel einläßt, Gerechtigkeitsprobleme gar nicht auftauchen; es gibt keine konkurrierenden Ansprüche, die nach einer Lösung verlangen. Jeder unterwirft sich durch konkludentes Verhalten dem willkürlichen, kontingenten Ergebnis des Glückrades. Rawls allerdings behauptet die Anwendbarkeit reiner Verfahrensgerechtigkeit auf die Verteilungsprobleme, indem er das, was die konstitutiven Regeln des Glücksspiels ausmacht, in die Perspektive der Institutionen wendet: man müsse ein „gerechtes System von Institutionen schaffen und unparteiisch anwenden. Nur vor dem Hintergrund einer gerechten Grundstruktur, wozu eine gerechte Verfassung und gerechte wirtschaftliche und soziale Institutionen gehören, kann es das nötige gerechte Verfahren geben"9. Im 1. Teil der Theorie der Gerechtigkeit thematisiert Rawls im §14 die reine Verfahrensgerechtigkeit; Gerechtigkeit in einer wohlgeordneten Gesellschaft terminiert in der Anerkennung eines Verfahrens. Im 2. Teil der Theorie der Gerechtigkeit im § 31 muß Rawls allerdings einschränken: Er will zwei Probleme unterschieden wissen: „Im Idealfall wäre eine gerechte Verfassung ein gerechtes Verfahren zur Erzielung eines gerechten Ergebnisses. Das Verfahren wären die verfassungsmäßigen politischen Vorgänge, das Ergebnis die Gesetze, wobei Gerechtigkeitsgrundsätze auf beides zu beziehen wären. [...] Dazu müssen die gleichen Bürgerrechte für alle in die Verfassung eingebaut und von ihr gewährleistet werden. Dazu gehören die Gewissens- und Gedankenfreiheit, persönliche Freiheit und politische Gleichberechtigung." 1 0 Einer praktischen Verfahrensordnung vorgängig sind also beim Aufbau gerechter Institutionen die gleichen Bürgerrechte und republikanischen Freiheiten. 7 Ebd., S. 108. s Ebd., S. 107. 9 Ebd., S. 108. 10 Ebd., S. 225 (Hervorhebungen T. B.). 8 Bausch

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5. Kritische Analyse des Rawlsschen Unterschiedsprinzips

Deutlich wird Rawls hier meines Erachtens über sein eigenes Konzept reiner Verfahrensgerechtigkeit hinausgetrieben. Rawls legt sein Fundament reiner Verfahrensgerechtigkeit in die ideale Grundstruktur einer wohlgeordneten Gesellschaft. Es hängt nun offenbar alles davon ab, (1) wie die Rahmeninstitutionen einer solchen Grundstruktur verfaßt sind und wie sie die normative Richtigkeit ihrer Verfassung ausweisen, (2) durch welche Verfahren eine solche Grundstruktur in der konkreten Wirklichkeit etabliert werden kann, und (3) welche spezifischen Verfahren die Verteilungsgerechtigkeit regeln sollen. Zu (1): Rawls skizziert in einem ersten Entwurf seine Vorstellung 11 idealer, jedoch dem Anspruch nach konkret einlösbarer gesellschaftlicher Institutionen. Die Skizze wird in einem späteren Abschnitt 12 fortgeführt zu Vorschlägen von Rahmeninstitutionen zur Ermöglichung und Sicherung von Verteilungsgerechtigkeit. Ziel der Institutionen, die ein ganzes Gesellschaftssystem bilden, ist es, Rahmenbedingungen solcher Art zu schaffen, daß die systembedingten Wirkungen eine Verteilung garantieren, die „unter allen Umständen gerecht ist" 1 3 . Rawls stellt sich eine Regierungsinstitution, gegliedert in vier Abteilungen, vor. Es gilt die Voraussetzung einer idealen, wohlgeordneten Gesellschaft, d. h. es liegt eine gesellschaftliche Verfassung entsprechend den zwei Grundsätzen der Gerechtigkeit vor. In einem Vier-Stufen-Gang 14 werden folgende Abteilungen 15 geschaffen: 1. Eine „Allokationsabteilung", die die Aufrechterhaltung angemessener Konkurrenz zu wahren und auf diese Weise eine effiziente Steuerung des Ressourceneinsatzes im Interesse eines optimalen Versorgungsniveaus sicherzustellen hat. 2. Eine „Stabilisierungsabteilung", die hinreichende Vollbeschäftigung und freie Berufswahl garantieren soll und über die Aufrechterhaltung der Optimalität marktwirtschaftlicher Anpassungsprozesse zu wachen hat.

h Siehe im einzelnen ebd., S. 108-110. 12 Siehe im einzelnen ebd., S. 308-318. 13 Ebd., S. 308. 14 Siehe oben Kapitel 4.132. 15 Vgl. im einzelnen Rawls, 1975, S. 309-318. Die Konzipierung der Regierungsinstitutionen in Abteilungen hat Rawls von R. A. Musgrave übernommen (s. Rawls, 1975, Fußnote 14 auf S. 309). Musgrave unterscheidet allerdings nur drei Abteilungen: eine Allokationsabteilung (Aufgabe optimalen Ressourceneinsatzes durch Wettbewerbspolitik und Korrektur der Marktergebnisse, Ausgleich externer Effekte), eine Stabilisierungsabteilung (Aufgabe der Sicherung der Vollbeschäftigung) und einer Distributionsabteilung (Aufgabe der Verteilung und Umverteilung).

5.2 Verfahrensgerechtigkeit und faire Chancengleichheit

115

3. Eine „Umverteilungsabteilung", die die Sicherung des Existenzminimums und die Sicherung des allgemeinen Lebensstandards zur Aufgabe hat; denn Markt und Konkurrenzwirtschaft berücksichtigen diese Momente nicht, und daher ist wegen der Forderung des Unterschiedsprinzips eine entsprechende Abteilung, die diesbezügliche Gesetzesvorlagen erarbeitet, erforderlich. Mit der „Umverteilung" soll durch Gesetze und Besteuerung eine Korrektur originärer marktwirtschaftlicher Verteilungsergebnisse mit dem Ziel eines wenigstens existenzminimalen Versorgungsniveaus auch der sozial benachteiligten Gruppen bewirkt werden. 4. Eine „Verteilungsabteilung", die die Herstellung einer „gewissen Verteilungsgerechtigkeit" mittels Besteuerung und gegebenenfalls Änderung des Besitzrechtes zur Aufgabe hat. Diese Abteilung soll ferner zuständig sein für die Aufbringung der Mittel, die für die Erhaltung gerechter Institutionen erforderlich sind. 5. Ferner ist eine „Austauschabteilung" vorgesehen. Diese Abteilung beobachtet die verschiedenen gesellschaftlichen Bedürfnisse; sie ist eine Art „Agentur für Tauschgeschäfte" und arbeitet nach dem Kriterium der Pareto-Optimalität des allseitigen Vorteils. Sie kann als „besondere Kammer für Verhandlungen über öffentliche Güter und Leistungen, bei denen der Marktmechanismus versagt" 16 , betrachtet werden; denn „ideale Gesetzgeber bringen in ihre Beschlüsse nicht ihre Interessen ein." 17 Die Aufteilung der von Musgrave konzipierten »Distributionsabteilung4 eine ,Umverteilungs-\ »Verteilungs-4 und ,Austauschabteilung4 wirkt künstlich. Wesentlich aus ökonomischer Perspektive ist, daß es sich bei der Arbeit dieser Abteilungen im Gegensatz zu allokativen Erscheinungen (mit allerdings ihren jeweils distributiven Auswirkungen) nicht um zweiseitige Rechtsgeschäfte, sondern um einseitige Transferzahlungen bzw. Zuweisungen von Gütern und Rechten handelt. Es ist auffällig, daß unter dem viel versprechenden Titel des 43. Abschnitts „Die Rahmeninstitutionen für Verteilungsgerechtigkeit 44 von Rawls nur in unerwartet konkretistischer Weise Institutionen skizziert werden, deren Strukturen und Aufgabenzuschreibungen unausgearbeitet bleiben. Offenbar wird aber von Rawls erwartet, daß das systembedingte Zusammenwirken der Abteilungen »Verteilungsgerechtigkeit 4 garantiert. Es bleibt undeutlich, durch welche Kriterien die Arbeit der Abteilungen überprüfbar ist. Zu (2): Wo von Rawls realistischerweise konkrete Schwierigkeiten bei dem Aufbau und der laufenden Arbeit der jeweiligen Abteilungen erwartet werden, verweist 16 Ebd., S. 317. π Ebd., S. 318. 8*

5. Kritische Analyse des Rawlsschen Unterschiedsprinzips

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er auf „politisches Urteil", „gesunden Menschenverstand" oder schlicht „Intuition" 1 8 , ohne diese in lebensweltlichen Zusammenhängen durchaus üblichen faktischen Entscheidungsgrundlagen in philosophischem Bemühen zu bearbeiten, und über den lebensweltlichen common sense hinausgehende kriteriologische Maßstäbe zu entwickeln, um die Arbeit der Rahmeninstitutionen im Hinblick auf ihre normative Richtigkeit kontrollieren zu können. Zu (3): Rawls behauptet im Zusammenhang mit der Untersuchung der Rahmen-Institutionen für die gerechte Verteilung: „ [ . . . ] wenn einmal ein angemessenes Existenzminimum durch Umverteilung gesichert ist, kann es völlig fair sein, daß der übrige Teil des Gesamteinkommens durch das Preissystem bestimmt wird, falls es einigermaßen optimal und frei von monopolitischen Einschränkungen sowie von unangemessenen externen Wirkungen ist" 19 . Jedoch auch im Idealfall des Preissystems der Konkurrenzwirtschaft würde die Lohnbestimmung nach folgenden Prinzipien erfolgen: a) Die Grenzproduktivität bildet im konkreten Einzelfall den Maßstab für die produktive Wirksamkeit der zuletzt eingesetzten Einheit des Faktors Arbeit. Die Bestimmung des Lohnes erfolgt nach der Grenzproduktivitätsrate der Arbeit. b) In die Grenzproduktivitätsberechnung geht der Verkaufspreis der produzierten Güter ein, der wiederum eine Funktion des Angebots der produzierten Güter und gleichzeitig ihrer Nachfrage ist, wobei die letztere anzeigt, wie begehrt die Güter sind. Die faktische Interdependenz der Marktmomente von Angebot und Nachfrage läßt aber — auch unter Einbeziehung der „Offenheit der Positionen" (faire Chancengleichheit) — schwerlich erkennen, in welchem Sinne ein durch Marktmechanismen bestimmter Lohn »gerecht4 genannt werden kann — es sei denn, man behauptet die kontingenten systemrationalen Marktwirkungen als »gerechtes' Verfahren und damit das Ergebnis als »gerecht'. Und eben dieses tut Rawls: Verteilungsgerechtigkeit — so seine These — stelle sich ein, wenn die gesamte Wirkungsweise der Preisregelung in einer wohlgeordneten Gesellschaft (gerechte Grundstruktur durch Beachtung der beiden Grundsätze der Gerechtigkeit) betrachtet wird. 2 0 Rawls verhält sich in den Untersuchungen zur Konkurrenzwirtschaft und den Regulierungen durch den Markt affirmativ zu den in westlichen Demokratien herrschenden Marktinstitutionen 21 und die den offenen Markt kennzeichnenden Wirkzusammenhänge. is Vgl. ebd., S. 312. 19 Ebd., S. 311. 20 Vgl. hierzu im einzelnen Rawls, 1975, S. 308-318, und insbesondere S. 338-343.

5.2 Verfahrensgerechtigkeit und faire Chancengleichheit

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Die Gesellschaft ist in Rawls4 Worten „ein Unternehmen der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil [...], wobei jeder einen anerkannten Anspruch auf einen Anteil an diesem hat. [...] Die Verteilung ergibt sich aus der Erfüllung der Ansprüche, die sich danach bestimmen, was die Menschen im Lichte dieser berechtigten Erwartungen unternehmen"22. Ein „anerkannter Anspruch" resultiert offenbar nach Rawls aus den Chancengleichheit beachtenden idealen marktkonformen Verfahren, die die Verteilung kontingent regeln. Diese Verfahren werden von Rawls als krisenfrei gedachte Normen vorgestellt, die in einer wohlgeordneten Gesellschaft faktische Anerkennung genießen. Die Rawlsche Konzeption einer wohlgeordneten Gesellschaft enthält somit eine Verteilungsregel, die den Charakter eines Strukturmerkmals eben dieser Gesellschaft hat. Alle Fragen, die üblicherweise in der Analyse von Verteilungsgerechtigkeit aufgeworfen werden, werden durch die Funktionsergebnisse des institutionellen Rahmens entschieden, und zwar ohne auf ein oder mehrere scharf formulierte und explizite moralische Prinzipien der Verteilung zu rekurrieren. Meine These ist: ein Verteilungsprinzip muß Kriterien der Verteilungsgerechtigkeit liefern, die erkennen lassen, welcher Anteil dem ,suum cuique' entspricht und wann dieser Anteil über- oder unterschritten ist und damit Ungerechtigkeit vorliegt. Das Prinzip muß falsche und richtige Verteilungen zu scheiden vermögen, sonst sind konkurrierende Ansprüche nicht mit Gründen zu entscheiden. Soferne jedenfalls konkurrierende Ansprüche in einer Gesellschaft bestehen, müßte eine Gerechtigkeitsethik ein universales Prinzip der Legitimation bereitstellen, welches auf die konkrete Ebene faktisch bestehender Ungleichheiten der Verteilung zu beziehen ist. Eine so konzipierte Ethik müßte mehrstufig sein. Ich schließe diese erste Skizze des Problems der Verteilungsgerechtigkeit und seiner Erörterung durch Rawls mit dem vorläufigen Ergebnis, daß mit Rawls Überlegungen zur Verteilungsgerechtigkeit als reiner Verfahrensgerechtigkeit tendenziell eine nur der Systemrationalität des idealen Marktes entsprechende Zwangsfolge formuliert wurde, ohne daß die Legitimität der sich ergebenden Verteilungen auch bei Beachtung des Unterschiedsprinzips ausgewiesen worden wäre. 21 Zwar meint Rawls feststellen zu dürfen, „daß Marktinstitutionen privat wirtschaftlichen und sozialistischen Systemen gemeinsam sind"(1975, S. 307), und daß „wenigstens theoretisch ein sozialistisches System sich ihrer Vorteile ebenfalls zu Nutze machen kann" (1975, S. 305); diese Feststellung dürfte sich aber durch die tatsächlichen in den sozialistischen Ländern in der Zwischenzeit gemachten Erfahrungen der vergangenen Jahre als unzutreffend erwiesen haben. Es bleiben die starken Argumente von Rawls für die Vorteile des Martsystems, und die Tendenz der Rawlsschen Theorie favorisiert meines Erachtens deutlich eine bürgerlich republikanische Demokratie mit Privateigentum. 22 Ebd., S. 105 f.

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5. Kritische Analyse des Rawlsschen Unterschiedsprinzips

5.3 Begabung, Eigentum und Leistungsanreiz Die natürliche Verteilung von Begabung ist weder gerecht noch ungerecht, sie ist — wie Rawls feststellt — „einfach eine natürliche Tatsache"23. Gerecht oder ungerecht ist nur die Art und Weise, wie sich Menschen und Institutionen angesichts dieser Tatsache verhalten. Niemand hat seinen Platz bei der Verteilung von Begabung verdient; Begabungen sind angeboren, Resultat eines natürlichen Zufalls und nicht Ergebnis eigener Anstrengungen. Intentionales Ziel der Gerechtigkeit als Fairneß ist: (1) Gleich Begabte und Motivierte sollen unabhängig von der Schicht, der sie zufällig angehören, in die sie geboren sind, gleiche gesellschaftliche Aussichten haben und offene Positionen vorfinden (faire Chancengleichheit). (2) Es besteht kein quasi naturrechtlicher Anspruch auf bessere Güterausstattung aufgrund besserer Begabung und geschickterer Fertigkeiten. Grund für eine bessere Ausstattung liegt ausschließlich in dem Beitrag, den diese zur Verbesserung der Lage für die weniger Begünstigten leisten (Einschränkung des Anspruches auf bessere Positionen durch das Unterschiedsprinzip). Die zentrale moralische Intuition von Rawls ist: Begabungen und Fertigkeiten einzelner sind zum Vorteil aller fruchtbar zu machen. Rawls wendet den kantischen kategorischen Imperativ in eine konkrete Norm: „ [ . . . ] die Menschen als Zweck an sich selbst behandeln heißt auf solche Vorteile zu verzichten, die nicht jedermanns Aussichten verbessern" 24. Natürliche Begabungen sind zufällige Attribute einer Person, und das Unterschiedsprinzip bewirkt nach Rawls „faktisch, daß man die Verteilung der natürlichen Gaben in gewisser Hinsicht als Gemeinschaftssache betrachtet und in jedem Falle die größeren sozialen und wirtschaftlichen Vorteile aufteilt, die durch die Komplementaritäten dieser Verteilung ermöglicht werden. Wer von der Natur begünstigt ist, sei es, wer es wolle, der darf sich der Früchte nur soweit erfreuen, wie das auch die Lage der Benachteiligten verbessert" 25. Begabungen als „Gemeinschaftssache" zu erklären, ist eine starke und gewagte These. Die Rawlssche Argumentation, Begabungen seien natürliche amoralische Tatsachen und daher Gemeinschaftssache, wird in der Literatur bestritten: Nozick 2 6 behauptet, das Rawlssche Unterschiedsprinzip nehme die Verschiedenheit der Menschen nicht ernst, und wendet damit das Rawlssche Argument gegen den Utilitarismus gegen ihn selbst. 23 Ebd., S. 123. 24 Ebd., S. 206. 25 Ebd., S. 122. 26 Siehe im einzelnen Nozick, 1974, S. 170-213. Polemisch fragt Nozick:"könnte der lexografische Vorrang, den Rawls der Freiheit aus dem Gesichtspunkt des Urzustandes

5.3 Begabung, Eigentum und Leistungsanreiz

119

Kley 2 7 in Anlehnung an Nozick und Sandel analysiert die Rawlssche Argumentation wie folgt: (1) Zutreffend sei Rawls4 These, die Begabungen seien moralisch willkürlich verteilt; denn seine Talente hat der Begabte dank einer Laune der Natur und nicht aufgrund eines Zuteilungsverfahrens, das sich an moralischen Gesichtspunkten orientiert. (2) Nicht begründet sei aber der Schluß: die Begabungen sind Gemeinschaftssache (»gemeinsames Eigentum 4 ) 28 . Dieser Schluß sei problematisch, denn das richtige Resultat des Argumentes (1) läßt die Frage, wem die Begabung zustehe, offen. Theoretisch sind nach Kley folgende mögliche ,Eigentums4-Verhältnisse von Person und Begabung vorstellbar: a) Begabung fällt in das alleinige »Eigentum4 des Begabten; sämtliche aus der Begabung resultierenden Vorteile fallen allein dem Eigentümer zu, sofern man dem starken Eigentumsbegriff von Nozick folgt. b) Begabung ist gemeinsame Sache (»gemeinsames Eigentum4) einer Mehrzahl von Personen. Der Begabte ist in Bezug auf seine Talente quasi „Sachwalter, der das ihm anvertraute Gut im Sinne der Eigentümer hegt und bewirtschaftet 44 . 29 Diese Interpretation trifft die Rawlssche Vorstellung, Begabung sei „Gemeinschaftssache 44 aller. c) Der Begabte ist weder »Eigentümer4 noch »Sachwalter4, sondern „bloß der Ort, an dem zufällig gewisse Begabungen vorkommen 4430 , verstanden als einfache Tatsache, ohne daß Eigentumsverhältnisse konstituiert seien. Kley meint allerdings, aus diesen verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten schließen zu dürfen, damit sei erwiesenermaßen das Unterschiedsprinzip „ohne Begründung 44; denn „solange es Rawls nicht überzeugend nachzuweisen gelingt, weshalb menschliche Begabungen der Gesellschaft gehören sollten, ist das Differenzprinzip bloß eines unter vielen denkbaren Ordnungsprinzipien, nicht aber ein Prinzip gesellschaftlicher Gerechtigkeit"31. zuschreibt, verhindern, daß das Unterschiedsprinzip eine Kopfsteuer auf Fähigkeiten fordert?" (Ebd., S. 211). 27 Siehe im einzelnen Kley, 1989, S. 426 ff. 28 Kley spricht von „Gemeinsamem Eigentum" und verschärft damit in für ihn offenbar selbstverständlicher Weise die deutsche Formulierung „Gemeinschaftssache" von Rawls (engl. S. 101: „common asset" [zu übersetzen als »Gemeinschaftssache4 im Sinne von »gemeinschaftliches Guthaben'; ,asset4 wird von Webster Dictionary als »any item of value' erklärt, nicht aber als »Eigentum', engl. ,property', »ownership4 — Anm. T. Β.]). Der Begriff Eigentum bezeichnet das im rechtlichen Sinne absolute dingliche Rechte an einer Sache. 29 Kley, 1989, S. 426. 30 Ebd., S. 426. 31 Ebd., S. 428.

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5. Kritische Analyse des Rawlsschen Unterschiedsprinzips

Diese Folgerung von Kley ist meines Erachtens allerdings vorschnell; denn im Sinne von Rawls kann Kley entgegnet werden, daß nach der Maximin-Regel im hypothetischen Urzustand Begabungen fiktiv als Gemeinschaftssache entschieden werden, zumal sie sich in ihrer faktischen Existenz auf sozial-kulturelle Begebenheiten stützen, um sich überhaupt entwickeln zu können. Eine im Urzustand getroffene fiktive Entscheidung, welche Begabungen als Gemeinschaftssache anerkennt, entspräche sowohl der Rationalität der Maximin-Regel wie auch den rationalen Konsequenzen des von Rawls im Urzustand unterstellten Wissens sozial-kultureller Wirkzusammenhänge. Der Wert der Kleyschen Analyse scheint mir allerdings darin zu liegen, daß sie uns aufmerksam macht auf den unkontrollierten Gebrauch der Begriffe ,Gemeinschaftssache 4 und der Verfügungsrechte, die sich aus dem Begriff gemeinhin ergeben. Es entsteht jetzt ein Interpretationsbedarf in folgenden Hinsichten: (1) Wenn als fiktive Entscheidung im hypothetischen Urzustand angenommen wird, daß Begabungen „Gemeinschaftssache" seien, so erhebt sich die weiterführende Frage, ob für die Begabten eine Pflicht besteht, ihre Begabung in den gesellschaftlichen Institutionen auch zum Einsatz zu bringen. Eine positive Antwort auf diese Frage wäre jedoch auch dann nicht zwingend, wenn die Rawlssche Formulierung im Sinne des Gesamttextes als gemeinsames Eigentum interpretiert werden könnte, so wie Kley es ohne weiteres tut (starke Wendung). Der Imperativ, seine Begabung zum Wohl aller einzusetzen, entspricht wohl dem europäisch christlichen Pflichtethos; allerdings ist dieser Imperativ nie und nimmer aus Eigentumsrechtstiteln o. ä. abgeleitet, sondern bestenfalls im Kantischen Sinne als Sittengesetz obligatorisch. 32 (2) Begabung als »Eigentum4 der Gemeinschaft, oder als ,Gemeinschaftssache 4 zu fassen, und in einem weiteren Schritt spezifische Leistungspflichten zu deduzieren, steht meines Erachtens in einer kritischen Spannung zu der Autonomie der Person und der Vorrangregel des ersten Grundsatzes. Ich muß hier die Interpretationsweise der Latenz bemühen; dieses muß kein willkürliches Verfahren sein, wenn die Latenz im Text selber liegt. Ich behaupte, daß der Rawls-Text latent für die Interpretation spricht, den Entscheid, die Begabung einzusetzen oder nicht, dem Ermessensspielraum der autonomen begabten Person zu überlassen. Es besteht keine positive Pflicht, seine Begabungen in die gesellschaftlichen Institutionen einzubringen in dem 32 Kant untersucht das Beispiel eines begabten Menschen, der in sich ein Talent findet, „welches vermittelst einiger Kultur ihn zu einem in allerlei Absicht brauchbaren Menschen machen könnte. Er sieht sich aber in bequemen Umständen, und zieht vor, lieber dem Vergnügen nachzuhängen, als sich mit der Erweiterung und Verbesserung seiner glücklichen Naturanlagen zu bemühen. Noch frägt er aber: ob, außer der Übereinstimmung, die seiner Maxime der Verwahrlosung seiner Naturgaben mit seinem Hange zur Ergötzlichung an sich hat, sie auch mit dem, was man Pflicht nennt, übereinstimme. [...] allein er kann unmöglich wollen, daß dieses ein allgemeines Naturgesetz werde." (Kant, GzMdS, BA 55, Bd. VII, S. 53 f.).

5.3 Begabung, Eigentum und Leistungsanreiz

121

Sinne, daß Dritte dieses fordern könnten. Ich vermute, daß Rawls, entsprechend seinem individualistischen Ansatz, im hypothetischen Urzustand eine Entscheidung zugunsten der Autonomie der Person annehmen würde, soferne er nicht das genannte Problem als schon mit dem Freiheitsgrundsatz gelöst betrachtet. Der Einsatz individueller Begabung gehört meines Erachtens zu den inhaltlich konkret schwer abgrenzbaren supererogatorischen Pflichten; sie übersteigen als überschüssige' gute Werke das streng pflichtgemäß Geschuldete. Allerdings untersucht Rawls Fragen in diesen Hinsichten nicht. Rawls interessieren vielmehr die Wirkungen des Unterschiedsprinzips im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Kooperation. Im Ergebnis bewirkt nach Rawls das Unterschiedsprinzip einen Leistungsanreiz. Dieses ist in der Dialektik der im Unterschiedsprinzip gefaßten Differenzen begründet und auch von Rawls gewollt. Die Begabten und Talentierten werden nicht aus Pflicht im kantischen Sinne, sondern durch die materiellen Anreize der eigenen Vorteile für Führungsfunktionen gewonnen, wiewohl die eigenen Vorteile der Bessergestellten durch Kopplung und Verkettung nach dem Unterschiedsprinzip gleichzeitig die Lage auch aller übrigen verbessern. Unmißverständlich schreibt Rawls: „Die ungleiche Güterverteilung soll [...] die Menschen an Plätze lenken, an denen sie unter gesellschaftlichen Gesichtspunkten am meisten gebraucht werden [...]. Lohn- und Einkommensunterschiede und Positions- und Zahlungsbedingungen sollen einfach diese Entscheidungen so beeinflussen, daß das Endergebnis optimal und gerecht ist." 33 Produktive Mitarbeit in der Gesellschaft ist also Folge der jeweiligen besseren Einkommenaussichten und der jeweiligen materiellen und positionalen Vorteile ( „Ungleiche Güterverteilung";,unequal distributive share4), die durch den individuellen Einsatz bewirkt werden. Dieses ist unbestritten häufiges Motiv in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, und die wirtschaftliche Effizienz der nach dieser Rationalität handelnden westlichen Industrienationen ist in Innovations- und Produktivitätshinsichten durchaus eindrucksvoll, wenngleich auch immer problematisch, wo Drittwirkungen nicht angemessen berücksichtigt werden. Jedoch: Ist das Unterschiedsprinzip nur als ein Effizienzprinzip angewandter Sozialmechanik oder als Gerechtigkeitsprinzip zu lesen? Wenn die Gerechtigkeitsidee durch das Unterschiedsprinzip in Verbindung mit dem ersten Grundsatz und den Vorrangregeln konkret bestimmt ist — und dieses ist der ausgesprochene Anspruch von Rawls — dann sind meines Erachtens bei der Interpretation der Grundsätze utilitaristische Leistungsanreizwirkungen nicht relevant; bestenfalls gehen sie mit den Grundsätzen einher (Leistungsanreiz und Gerechtigkeitsgrundsatz können koinzidieren) — oder auch nicht. 33 Rawls, 1975, S. 349.

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5. Kritische Analyse des Rawlsschen Unterschiedsprinzips

Ich komme jetzt zurück auf die weiter oben gestellte Frage: kann ein Mitglied der Gesellschaft nach den Gerechtigkeitsprinzipien von den Begabten fordern, daß diese ihre Begabung in die gesellschaftlichen Institutionen einbringen? Besteht für die Begabten eine Pflicht zur Mitwirkung? Wenn eine Pflicht bestünde, dann bedürfte es nicht der von Rawls thematisierten materiellen Leistungsanreize; bestenfalls sind Leistungsanreize aus teleologischen Klugheitsüberlegungen als Mittel der Effizienz angezeigt. Pflicht und Leistungsanreiz können zusammengehen. Rawls aber hat dem Einsatz von Begabung meines Erachtens (gestützt auf mein Argument der Latenz) in den freien Ermessensrahmen des Einzelnen gesetzt; und die Ermessensentscheidung des Einzelnen wird wiederum in der Präsentation durch Rawls durch Leistungsanreize bestimmt. Wie jedoch ist in der eben genannten Perspektive folgender Fall als einfaches Beispiel zu beurteilen: Der Begabte erklärt: Ich erfinde nicht, ich leiste nicht, sofern ich nicht den größten Teil des Ertrages ,meiner' Leistung,,meiner' Erfindung erhalte. Der Begabte kann im Markt feilschen, seine willkürlich ihm zugefallenen Begabungen und Talente in einer solchen Weise einsetzen, daß im Ergebnis der Großteil der durch Kooperation erwirtschafteten Leistung ihm reserviert wird. Begabte können quasi vorgeben, wie sie ihren Einsatz belohnt wissen wollen. Diesen Umstand übergeht Rawls mit der harmlos gehaltenen Redeweise des Leistungsanreizes. Rawls vertraut optimistisch auf die institutionellen Wirkungen einer wohlgeordneten Gesellschaft; wo Rawls Probleme oben skizzierter Art erwartet, stellt er die Lösung einer politischen Regelung anheim, ohne allerdings angeben zu können, mit welchen normativen Maßstäben die im Zweifel kontroversen Interessen im politischen Raum mit Anspruch auf Gerechtigkeit gelöst werden könnten. Rawls vertraut — wie oben gezeigt wurde — optimistisch auf die Wirkungen der Rahmeninstitutionen für Verteilungsgerechtigkeit 34; und wenn es um das entscheidende Problem der in diesen Institutionen geltenden Maßstäbe geht, so ist dieses Problem für Rawls „eine Sache des politischen Urteils, das sich von Theorie, gesundem Menschenverstand und reiner Intuition leiten läßt — jedenfalls innerhalb weiter Grenzen. Zu diesen Fragen hat die Gerechtigkeitstheorie nichts Näheres zu sagen."35

5.4 Maximin-Entscheidungsregel und ihre Auswirkung auf die Verteilung gemäß dem Unterschiedsprinzip Zunächst erscheint das Unterschiedsprinzip als ein rationaler Vorschlag in dem Sinne, daß er über den Gleichheitsgrundsatz hinaus eine Maximierung der 34 Siehe im einzelnen Rawls, 1975, S. 308 ff. 35 Ebd., S. 312.

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5.4 Maximin-Entscheidungsregel

Aussichten der am wenigsten Begünstigten ermöglicht und ein konkretes Prinzip des gegenseitigen Vorteils formuliert. Die Beteiligten machen gemäß der Rawlsschen Idee nicht auf Kosten voneinander Gewinne, es gibt nur gegenseitige Vorteile. Dieses resultiert aus der Maximin-Entscheidungsregel. Ich will nun die Rationalität der Maximinregel und des Unterschiedsprinzips untersuchen und immanente Grenzen dadurch aufzeigen, daß ich die Konsequenzen der folgender Extremfälle deutlich werden lasse: Extremfall (1): Annahme: das Maximintheorem sei erfüllt und eine geringe Verbesserung der Aussichten der sozial schwächsten Gruppe sei verbunden mit einer größten Verbesserung der Bessergestellten. Es werden nur positive Wirkungen geübt, das Unterschiedsprinzip ist erfüllt. Es stellt sich aber für das Gerechtigkeitsempfinden all derer, die sich in die Perspektive der Betroffenen stellen, das Problem der Unschärfe des Unterschiedsprinzips in Hinblick auf Verteilungsfragen. Eine Maximierung des Minimums kann einhergenen mit maximalen Differenzen in der Besserstellung der betroffenen Gruppen. Extremfall (2): Es besteht eine Alternativentscheidung zwischen zwei Möglichkeiten. Alternative I: Eine sehr geringe Besserstellung der sozial stärkeren Gruppe geht einher mit einem unverändertem Status der sozial schwächsten Gruppe. Alternative II: Größte Verbesserungen der Aussichten der sozial stärkeren Gruppen gehen einher mit geringsten Verschlechterungen der sozial schwächsten Gruppe. Es werden marginale negative Veränderungen der sozial schwächsten Gruppe bewirkt. In einer Gewinn / Verlustdarstellung des Extremfalles (2) zeigen sich die Entscheidungsalternativen wie folgt: die Zeilen stellen die Gewinne bzw. die Verluste einer repräsentierten Gruppe dar; in dem von uns oben genannten Fall (2) wäre die sozial starke Gruppe in die Gewinnzeile einzutragen. Gewinn / Verlustdarstellung des Extremfalls (2):

Gewinn der sozial stärkeren Gruppe Verlust der sozial schwächsten Gruppe

Alternative I

Alternative II

1/n 0

η 1/n

Nach der Rationalität der Maximin-Regel würde immer die Alternative I gewählt werden; die Realisierung größter Gewinne durch die Wahl der Alternative I I unterbliebe, da sie mit den geringsten Verlusten 1 / η für die schwächste Gruppe verbunden wäre. Die durch die Maximinregel veranlaßte Wahl der Alternative I und damit die Ausschlagung der Realisierungsmöglichkeit größter Vorteile für die stärkere Gruppe ist ein extrem kontraintuitives Ergebnis.

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5. Kritische Analyse des Rawlsschen Unterschiedsprinzips

Rawls konzidiert 36 , daß es sicher einen Wert gibt, von dem an es unvernünftig wäre, nicht entgegen der Maximin-Regel die Alternative I I zu wählen, um die größten Vorteile η einer Gruppe zu realisieren unter Inkaufnahme geringster Nachteile 1 / η der anderen (sozial schwächsten) Gruppe. Diese Konzession ist völlig unstrittig und in der Literatur zur Entscheidungslogik des Maximin-Theorems auch unkontrovers 37. Die Frage ist vielmehr: ist durch dieses Ergebnis die Konsistenz des Unterschiedsprinzip betroffen? Das Unterschiedsprinzip verdankt sich der heuristischen Einführung des Maximin-Kriteriums. Dieses Kriterium führt zu einer eindeutigen Lösung. Die Lösung zeigt sich aber in Extrembereichen als der tiefen Gerechtigkeitintuition des „suum cuique" völlig unangemessen. Die Aufhebung dieser Unangemessenheit bedarf entweder des Beweises, daß die genannten Extremfälle nicht vorkommen können, oder — wenn dieser Beweis nicht gelingt — muß das Unterschiedsprinzip in der Rawlsschen Formulierung in seiner Begründung inhaltlich präzisiert, eventuell verändert werden. Rawls meint, das Problem mit folgendem Argument zu lösen: theoretisch lasse das Unterschiedsprinzip zwar beliebig große Unterschiede zu, und es seien auch beliebig große Grenzwirkungen einer Gruppe verbunden mit marginalen negativen Raten der anderen (sozial schwächsten) Gruppe konstruierbar (wie zum Beispiel in oben gezeigter Gewinn / Verlustdarstellung); die von diesem Einwand ins Auge gefaßten Möglichkeiten könnten sich aber in Wirklichkeit gar nicht einstellen, weil die beiden Grundsätze zusammen zu sehen seien und eine Gerechtigkeitsvorstellung konkretisieren, die sich auf die Grundstruktur der Gesellschaft als Ganzes beziehe; das Unterschiedsprinzip dürfe nicht einseitig und isoliert von dem ersten Gerechtigkeitsgrundsatz betrachtet werden; die wohlgeordnete Gesellschaft werde durch die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze verfaßt; in einer Gesellschaft mit einer solchen Grundstruktur — so meint Rawls — könnten die problematisierten Fälle wegen der Systemwirkungen der Institutionen einer wohlgeordneten Gesellschaft gar nicht eintreten 38. Diese Behauptung mag zunächst plausibel klingen; auch intendiert Rawls ausgesprochenerweise eine egalitäre Gerechtigkeitstheorie. Gleichwohl ist die These von Rawls, in der wohlgeordneten Gesellschaft bewirkten die Regulative konkreter Institutionen nur vertretbare geringe Unterschiede, unausgewiesen. Möglicherweise wird sie von jenen plausibel gehalten, die die gleichen Erwartungen hegen wie Rawls selbst. Aber unausgewiesene Erwartungen sind keine philosophischen Gründe. Der schwache Status der unausgewiesenen Erwartungen wiegt um so schwerer, je größer die Differenzen zwischen dem Ideal der wohlgeordneten Rawlsschen 36 Siehe im einzelnen ebd., S. 182. Rawls allerdings veranschaulicht die Wirkungen der Maximin-Regel durch eine etwas andere Darstellung, welche die gruppenspezifische Wirkung nicht einschließt. 37 Siehe ζ. B. Gäfgen, 1968, S. 380 f. 38 Siehe im einzelnen Rawls, 1975, S. 182 und S. 582.

5.4 Maximin-Entscheidungsregel

125

Gesellschaft (und nur für diese gilt ja die Erwartung) und der häßlichen Realität unserer historischen Wirklichkeit ist. Je schmerzlicher die Differenz zwischen Idealität der Theorie und Realität der Praxis, desto dringlicher wird die Frage, inwieweit die Theorie von Rawls Anhaltspunkte für die konkrete Veränderung dieser Differenz gibt, oder ob gar — entgegen der Intention von Rawls — das Unterschiedsprinzip seiner Struktur nach konservativ gegenüber etablierten gesellschaftlichen Unterschieden wirkt. Zur Prüfung der Leistungsfähigkeit der Rawlschen Theorie der Gerechtigkeit in Hinblick auf das skizzierte Problem machen wir ein Gedankenexperiment: wir stimmen dem Plausibilitätsargument von Rawls insoweit zu, als wir die Möglichkeit der Extremfälle der Matrix verwerfen. Jedoch handelt es sich auch bei Zustimmung zu diesem Plausibilitätsargument um eine Scheinlösung des Problems: auch wenn die Extremfälle geringer marginaler Verluste gegen maximale Gewinne (a) und extreme Gewinne der sozial stärkeren Gruppe bei nur marginalen Gewinnen der sozial schwächsten Gruppe (b) ausgeschieden werden, ist damit wenig gewonnen; denn es wird in der gesellschaftlichen Wirklichkeit immer Fälle konkurrierender Ansprüche bei der Verteilung von Vermögens- und Einkommenszuwächsen aus fortgeführter Kooperation geben, die durch Gerechtigkeitsgrundsätze zu regeln sind. (Wäre dieses nicht der Fall, so wäre die Anwendungsbedingung für Gerechtigkeit entfallen, und es gäbe schlechthin nichts zu regeln). Und wenn das Unterschiedsprinzip keinen hinreichenden Anhalt für die Verteilungsentscheidungen gibt, so müssen zusätzliche oder andere Maßstäbe entwickelt werden, die Entscheidungen mit Gründen ermöglichen. Rawls vertraut auf die Wirkung der Rahmeninstitutionen; wie aber bereits oben gezeigt, verweist Rawls im Falle der zu erwartenden konkreten Schwierigkeiten bei dem Aufbau und der Arbeit dieser Institutionen auf „politische" oder „intuitive" Regelung. Moralische Maßstäbe zur Klärung der konkreten Gerechtigkeitsfragen der Verteilung von Zuwächsen aus der fortgeführten Kooperation sind nicht hinreichend ausgearbeitet. Eine letzte Bemerkung: das Unterschiedsprinzip als Gerechtigkeitsprinzip in einer theoretischen, abstrakten und isolierten Fassung läßt unbestritten Extremfälle zu; das Unterschiedsprinzip ist daher gegebenenfalls sogar geeignet, unter Inanspruchnahme dieses theoretischen Ergebnisses unangemessene gesellschaftliche Verteilungsverhältnisse zu konservieren. Nicht daß dieses die Intention von Rawls wäre: Rawls wird richtigerweise immer darauf aufmerksam machen, daß die Grundsätze nicht isoliert voneinander betrachtet werden dürfen. Sie stehen in der besonderen Beziehung der lexikalischen Ordnung, und das Unterschiedsprinzip ist nicht unabhängig vom Freiheitsgrundsatz zu betrachten. Aber es muß darauf aufmerksam gemacht werden: eine kritische Einstellung ist immer und gerade dann gegenüber den konkreten Prinzipien der Gerechtigkeit angezeigt, wenn Defizite eines Grundsatzs eine kontraintuitive teleologische Instrumentalisierung ermöglichten.

126

5. Kritische Analyse des Rawlsschen Unterschiedsprinzips

5.5 Die Unschärfe des Rawlsschen Unterschiedsprinzips als Verteilungsprinzip Rawls weist deutlich auf das Konfliktpotential im Zusammenhang mit dem Problem der Verteilung hin: „Interessenkonflikte entstehen dadurch, daß es den Menschen nicht gleichgültig ist, wie die Früchte der Zusammenarbeit verteilt werden, denn zur Verfolgung seiner Ziele möchte jeder lieber einen größeren als einen kleineren Anteil haben. Man braucht also Grundätze, um zwischen den verschiedenen Gesellschaftsordnungen zu entscheiden, die diese Verteilung der Güter bestimmen, und um eine Übereinkunft über die richtigen Anteile zustande zu bringen." 39 Rawls löst das Problem durch die zwei Gerechtigkeitsgrundsätze, wobei die eigentliche Verteilungsregel von Gütern in dem Unterschiedsprinzip des zweiten Grundsatzes ausgedrückt ist. Nach diesem Grundsatz sind Verteilungsunterschiede dann gerecht, wenn sie die Aussichten der am wenigsten Begünstigten maximieren. Ich nehme vereinfachend mit Rawls an, Aussichten hätten ihre adäquate Entsprechung im Einkommen. Ich nehme ferner eine geschlossene Volkswirtschaft mit einer gegebenen Einkommensumme an. Die Gruppe der am wenigsten Begünstigten wäre also eindeutig feststellbar als die einkommensschwächste Gruppe. Theoretisch läßt nun das Unterschiedsprinzip beliebig große Einkommensunterschiede zu, sofern sie nur mit einem — wenn auch noch so kleinen — Vorteil für die weniger Begünstigten einhergehen. Das Unterschiedsprinzip sagt zunächst nichts über die Verteilung selber, und das Problem kommt in der Formulierung des Unterschiedsprinzips auch nicht unmittelbar als Gerechtigkeitsproblem in den Blick. Ich will die Wirksamkeit und die Grenzen der Rationalität des Rawlsschen Konzeptes an Hand unterschiedlicher Verteilungszustände in einem einfachen Modell in Form einer Matrix-Tabelle verdeutlichen. Die Spalten I, II, und I I I stellen verschiedene Aufteilungen der Einkommen dar und Χ 1 , X 2 . . . X 5 die verschiedenen repräsentativen Personengruppen, wobei X 1 die am besten gestellte Gruppe und X 5 die am wenigsten begünstigte Personengruppe ausdrückt. Die Zahlen stellen die jeweiligen Einkommenseinheiten dar.

39 Ebd., S. 149.

5.

ie

n s e

des Rawlsschen Unterschiedsprinzips

Tabelle 1 I

II

ΠΙ

XI

10

19

24

X2

10

17

15

X3

10

15

13

X4

10

13

12

X5

10

11

11

50

75

75

Der Verteilungsverlauf I stellt die Ausgangsgleichverteilung einer vorgestellten Gesamtheit von 50 Einkommenseinheiten dar. Durch die zugelassenen Unterschiede werden Leistungsanreize bewirkt. Durch den Anreiz werden Pionierunternehmer motiviert, tätig zu werden, erhalten zugelassenermaßen bevorzugte Positionen, wodurch annahmegemäß die Einkommen von allen, insbesondere auch der schlechtest gestellten Gruppe X5, verbessert werden. Die zu verteilende Gesamtleistung (ausgedrückt in Einkommen) steigt auf 75 Einheiten. Die Verteilung der Gesamtleistung kann jedoch sehr unterschiedliche Verlaufskurven haben: II und III entsprechen beide dem Rawlsschen Unterschiedsprinzip (einschließlich der Annahme der Kopplung und Verkettung), ohne daß durch die Rawlsschen Grundsätze ohne Nebenannahmen zu entscheiden wäre, welche Verlaufskurve den Vorzug verdient. Der Grund des unbefriedigenden Ergebnisses liegt in der Unschärfe der Grundsätze in Hinblick auf die Verteilung der Gesamtzuwächse. Zwar ist das Unterschiedsprinzip verhältnismäßig präzise als eine Formulierung der Kombination von Unterschied und Vorteil für die am wenigsten Begünstigten; aber als konkretes Prinzip der gerechten Vermögens- und Einkommensverteilung ist es unscharf. Das weiß natürlich auch Rawls. Der Mangel der Rawlsschen Argumentation liegt jedoch in der meines Erachtens eigentümlich idealistischen Ansicht von Rawls, daß kontroverse Verteilungsprobleme sich in einer wohlgeordneten Gesellschaft durch deren Systemzusammenhänge gar nicht stellen: Rawls stellt auf „berechtigte Erwartungen" 40 ab, die sich aus den Systemwirkungen der Gerechtigkeitsgrundsätze ergeben. „Ein gerechtes System gewährt also das, worauf die Menschen einen Anspruch haben; es erfüllt ihre berechtigten Erwartungen, die sich auf gesellschaftliche Institutionen gründen" 41.

40 Vgl. ebd. S. 344 ff. 41 Ebd., S. 345.

128

5. Kritische Analyse des Rawlsschen Unterschiedsprinzips

Diese Argumentation jedoch ist eine Scheinlösung, denn es wird nichts weiter gesagt, als daß ein Anspruch formal dann berechtigt ist, wenn (gerechte) gesellschaftliche Institutionen zu diesem berechtigen, und das ist zunächst nur tautologisch, und es kommt alles darauf an, was mit gerechter Institution gemeint ist. Nach Rawls ist eine Institution dann gerecht, wenn sie ihre Übereinstimmung mit den zwei Grundsätzen ausweist; die zwei Grundsätze sagen aber gar nichts über die Einkommens- und Vermögensverteilung, und aus ihnen ist auch keine Verteilungsnorm zu deduzieren. Das Unterschiedsprinzip spricht nur vom „größtmöglichen Vorteil", nicht aber benennt es eine Regel, nach welcher sich die Gesamtvorteilssumme zum „größtmöglichen Vorteil" verteilt. Das muß auch Rawls gesehen haben; denn er gibt dem Verteilungsproblem folgende liberalistisch harmonisierende Lösung: seine „Analyse der Verteilung führt lediglich den bekannten Gedanken aus, daß Einkommen und Löhne dann gerecht sind, wenn ein (praxisgemäß) konkurrenzbestimmtes Preissystem richtig organisiert und in eine gerechte Grundstruktur eingebaut wird. Diese Bedingungen sind hinreichend. Die sich ergebende Verteilung ist ein Beispiel für Rahmengerechtigkeit, wird das Ergebnis eines fairen Spiels."42 Rawls bezieht sich auf das besondere Ideal der Wirksamkeit von Preissystemen und von Marktmechanismen in einer gerechten Grundstruktur; aber es bleibt mir unklar, mit welchen Gründen diese Preis- und Marktmechanismen und eine so verstandene Systemrationalität als »gerecht4 ausgewiesen gelten kann.

5.6 Zusammenfassende Kritik des Rawlsschen Unterschiedsprinzips Das Unterschiedsprinzip verlangt, daß wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten den am wenigsten Begünstigten den bestmöglichen Vorteil bringen müssen. Jenseits der Reduktion der Rawlsschen Bestimmungsmerkmale der Gruppe der am wenigsten Begünstigen auf Einkommens- und Vermögensaspekte sind bei der prüfenden Durchforschung der Wirkungen des Unterschiedsprinzips als Verteilungsprinzips folgende markante Kritikpunkte erarbeitet worden: a) Das Unterschiedsprinzip verdankt sich der Rationalität des Maximintheorems. Diese Entscheidungsregel läßt theoretisch extreme Unterschiede zu. Diese Extreme könnten sich allerdings — so behauptet Rawls — in der Praxis einer wohlgeordneten Gesellschaft gar nicht einstellen, da die systembedingten Wirkungen der beiden Gerechtigkeitsgrundsätze eine starke Tendenz zur materiellen Gleichheit bewirkten und die nur theoretisch möglichen Extreme in der gesellschaftlichen Praxis gar nicht zuließen. Jedoch auch wenn man diese unausgewiesene Behauptung akzeptiert, bleibt das Verteilungsproblem grundsätzlich ungelöst; denn die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze enthalten kein 42 Vgl. ebd., S. 338.

5.6 Zusammenfassende Kritik

129

scharf formuliertes Verteilungsprinzip für die Früchte kooperativer Zusammenarbeit, sondern formulieren Bedingungen einer theoretischen Gerechtigkeitsauffassung. Der zweite Grundsatz, der die eigentliche Verteilungsregel bereitstellen soll, fordert nur den allseitigen Vorteil bei gleichzeitiger Chancengleicheit und Offenheit der Positionen — nicht aber regelt er, wie sich der durch kooperative Zusammenarbeit erwirtschaftete Ertrag gerecht verteilt, bzw. durch welche Verfahren sich eine Aufteilung zu bestimmen habe. Rawls verweist auf politische Regelung1 — gibt aber kein regulatives Prinzip an, nach welchem sich eine solche politische Regelung differenter Verteilungsalternativen, die alle dem Unterschiedsprinzip genügen, zu richten hätte. b) Die von Rawls postulierte Verfahrensgerechtigkeit verdankt sich zweier Argumentationslinien: Verfahren entsprechend dem marktwirtschaftlichen Kräftespiel (a), und politischen Verfahren (b). Im ersteren Fall ist Verfahrensgerechtigkeit ein der Systemrationalität des idealen Marktes entsprechender Grundsatz. Die Marktkräfte führen — auch in einer wohlgeordneten Gesellschaft — zu kontingenten Verteilungen, ohne daß allerdings ihre Legitimität mit Gründen gezeigt werden kann. Die faktische Observanz marktwirtschaftlicher Normen kann nicht die Legitimitätsprüfung der Wirkungen dieser Normen durch die Betroffenen ersetzen (Normenprüfungsverfahren). Die von Rawls angebotenen „politischen Lösungen" verdanken sich einer Vorstellung von Verfahrenstechnik (organisatorisch pragmatisches Verfahrensmoment demokratischer Parlamente). Rawls schlägt auch in der wohlgeordneten Gesellschaft im Ergebnis Legitimation strittiger Normen zur Lösung konkreter Probleme durch politische Verfahrenstechnik vor. Das entspricht dem common sense der westlichen Demokratien. Für die philosophische Reflexion jedoch ist das pragmatische Prinzip des Mehrheitsentscheids, das nicht einmal einen faktischen Konsens etabliert, schlicht ein organisatorisches Verfahren der Entscheidungsfindung und Diskursbegrenzung; es werden empirische Mehrheiten produziert oder Situationsdeutungen ausgehandelt, um Handlungspläne zu koordinieren. Das mag in den realen Lebenszusammenhängen mit Entscheidungs- und Handlungszwang auch ein in realen Kontexten empfehlenswertes Verfahren darstellen, aber die ausgehandelten Einverständnisse bleiben flüchtig, der Konsens fragil. Verfahrenstechnik darf Verfahrensethik nicht überholen. c) Das Unterschiedsprinzip soll nach Rawls einen Leistungsanreiz bewirken. Als Effizienzkriterium ist das Unterschiedsprinzip auch überzeugend. Für die Verteilung der durch die Leistungssteigerung in kooperativber Arbeit erwirtschaftete Gütermenge allerdings bedarf es eines weiteren Kriteriums. d) Das Unterschiedsprinzip ist unscharf in Bezug auf bestehende Verteilungssituationen. Entsteht faktisch ein Verteilungsproblem, so ist es durch das Unterschiedsprinzip nicht lösbar. Eine schärfere Fassung des Unterschiedsprinzips ist also nötig. 9 Bausch

6. Interpretations- und Reformulierungsvorschläge des Unterschiedsprinzips Es wurden Interpretationen des Unterschiedsprinzips erarbeitet, die von der Rawlsschen Fassung ausgehen und sie fortentwickeln, und es gilt zu prüfen, ob diese Versionen die aufgezeigten Verteilungsprobleme lösen. Ich will im folgenden einige der in der Literatur vorgestellten Fassungen eines reformulierten Unterschiedsprinzips als — Maximinverteilungsprinzip — Leximinverteilungsprinzip — Umverteilungsprinzip in einer Art Abbreviation skizzieren, wodurch zunächst die Grenzen der Rawlsschen Fassung des Unterschiedsprinzips selbst noch deutlicher werden, wie auch die anstehenden Probleme der Verteilungsgerechtigkeit präziser in den Blick kommen. In einem knappen Exkurs werden sodann einige wirtschaftswissenschaftliche Ansätze zur Lösung des Problems der Verteilungsgerechtigkeit diskutiert.

6.1 Das Unterschiedsprinzip als Maximinverteilungsprinzip Das Rawlssche Unterschiedsprinzip als Verteilungsprinzip regelt die Beschaffenheit von wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten in der Weise, daß die Ungleichheiten zum Vorteil der am wenigsten Begünstigten ausschlagen müssen, soferne für sie das Prädikat »gerecht4 gelten soll. Das Interesse der ökonomischen Theorie, im Rahmen der Wohlfahrtsökonomie zu praktischen Kriterien für die Lösung von Verteilungsproblemen zu gelangen, führte zu einer Reformulierung des Rawlsschen Unterschiedsprinzips in etwa folgender Form 1 : Von mehreren möglichen Verteilungsarrangements wirtschaftlicher und sozialer Güter verdient dasjenige den Vorzug, dessen schlechteste Position besser ist als die schlechteste Position der anderen Verteilungen. Es gilt die Regel: maximiere das soziale Minimun.

ι Vgl. Sen, 1977, S. 283-295; Rae, 1975, S. 630-647; für eine zusammenfassende Darstellung siehe Koller, 183, S. 3-8 und 1987, S. 109-118.

6.1 Maximinverteilungsprinzip

131

Es ist also nach dieser Formulierung die Stellung der sozial Benachteiligten zu maximieren; aus diesem Grunde wurde die so gefaßte Verteilungsregel Maximinprinzip genannt. Dieses Maximinprinzip der Verteilung ist nicht mit der mathematisch formulierbaren Maximinregel der Entscheidungstheorie für Entscheidungen unter Unsicherheit zu verwechseln, welche Rawls als heuristisches Verfahren der Ableitung der Gerechtigkeitsgrundsätze heranzieht. Aus diesem Grunde u. a. vermeidet Rawls auch, das auf die Grundstruktur der Gesellschaft sich beziehende Unterschiedsprinzip ,Maximinregel' zu nennen.2 Die Interpretation des Rawlsschen Unterschiedsprinzips als Maximinverteilungsprinzip ist jedoch unbefriedigend: es gelten gegen das Maximinverteilungsprinzip die schon im Kapitel 5. genannten Argumente. Betrachten wir noch einmal die in Kapitel 5.5 eingeführte Verteilungstabelle mit den Verteilungsalternativen I I und III; ich füge eine zusätzliche Spalte IV an, die ein weiteres Verteilungsarrangement einer allerdings geringeren Geamteinkommensmenge aufzeigt. Tabelle 2 I

II

III

IV

XI

10

19

24

15

X2

10

17

15

14

X3

10

15

13

13

X4

10

13

12

12

X5

10

11

11

11

50

75

75

65

Die Tabelle 2 zeigt, daß die in Bezug auf das Rawlssche Unterschiedsprinzip vorgebrachten Einwände sich in Hinblick auf die Maximinverteilungsregel noch verschärfen; denn das Maximinverteilungsprinzip ist nicht nur indifferent in Hinblick auf die Verteilungsalternativen I I III und IV, die Verteilungsalternative IV ist darüberhinaus gegenüber I I und I I I nicht pareto-optimal. 3

2 Vgl. Rawls, 1975, S. 104. 3 Das Paretokriterium erkennt — wie schon mehrfach ausgeführt — eine Verteilung als optimal, wenn es nicht gelingt, sie in der Weise abzuändern, daß ein Individuum besser gestellt wird, ohne daß ein anderes dadurch schlechter gestellt würde. In unserem Fall aber werden im Verteilungsarrangement II die Personengruppen X I bis X4 gegenüber der Verteilungsalternative IV bessergestellt, ohne daß eine Person in IV schlechtergestellt wäre. In der Verteilungsvariante III werden die Personengruppen X I bis X3 bessergestellt, ohne daß eine Person in IV schlechter gestellt würde. Die Verteilungsarrangements II und ΙΠ sind nach dem Paretokriterium nicht gegeneinander abzuwägen. 9*

132

6. Interpretations- und Reformulierungsvorschläge

Ergebnis: Das Maximinverteilungsprinzip ist unscharf in Bezug sowohl auf die verschiedenen gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrtsniveaus (Leistungssummen) wie auch auf die gesamtgesellschaftlichen Verteilungsprobleme. Es ordnet die alternativen Verteilungsarrangements nur nach den Aussichten der am wenigsten begünstigten Gruppe und ist indifferent gegenüber den verschiedenen Wohlfahrtsniveaus und gegenüber den Verteilungsproblemen, die sich für die übrigen Gruppen in den verschiedenen Verteilungsarrangements ergeben.

6.2 Das Unterschiedsprinzip als Leximinverteilungsprinzip Um die Mängel des Maximinverteilungsprinzips zu beheben und um insbesondere eine paretooptimale Verteilungsregel zu sichern, ist von Amartya Sen4 ein „lexikografisches Maximinprinzip" vorgeschlagen worden (Leximinprinzip). Diese modifizierte Fassung des Maximinprinzips ordnet die Verteilung nach Axiomen der Rangordnung wie folgt: Es gibt η Personen, unter denen ein teilbares Gesamteinkommen aufgeteilt werden soll; Annahme: jeder will eher mehr als weniger von dem Gesamteinkommen haben. Dann gilt nach dem Leximinprinzip: 1. Maximiere die Wohlfahrt

des schlechtest gestellten Individuums (I).

2. Unter Beibehaltung der Wohlfahrt von (I) maximiere die Wohlfahrt schlechtes t gestellten Individuums (2).

des zweit-

3. Unter Beibehaltung der Wohlfahrt der Individuen (I) und (2) ... bis ... 1) maximiere die Wohlfahrt des bestgestellten Individuums (n). Das Leximinprinzip maximiert in aufsteigender Reihung die Wohlfahrtsniveaus der repräsentativen Gruppen und durch den Maximierungsimperativ auch die Differenzen der jeweiligen Gruppen. Rawls hat mit ausdrücklichem Bezug auf Sen eine derartige Interpretation des Unterschiedsprinzips als „lexikalisches Unterschiedsprinzip" allerdings unter Bezugnahme auf die ,Kopplung4 mit dem Argument erledigt, „daß dieses Prinzip in der Praxis kaum von Bedeutung sein wird, denn wenn die möglichen Vorteile der bereits Bevorzugten erheblich sind, wird es sicher eine Möglichkeit geben, auch die Lage der weniger Begünstigten zu verbessern. Die allgemeinen Gesetze für die Institutionen der Grundstruktur gewährleisten, daß keine Fälle vorkommen, die das lexikalische Prinzip erfordern." 5 Rawls übergeht mit diesem Argument die konkret bestehenden Probleme der Verteilungsgerechtigkeit kontingenter Wohlfahrtsniveaus. Rawls entwirft eine ideale Theorie und vertraut auf die Wirkungen der „allgemeinen Gesetze44. Diese 4 Vgl. Sen, 1970, S. 138 ff. sowie 1977, S. 283ff. 5 Rawls, 1975, S. 104.

(n-

6.2 Leximinverteilungsprinzip

133

sind aber, wie kritisierend dargestellt worden ist, unscharf in Bezug auf bestehende Verteilungsprobleme. Und das Leximinverteilungsprinzip ist zumindest ein differenziertes, dem Paretokriterium entsprechendes Ordnungsprinzip, welches rationale Verteilungsentscheidungen zuläßt. In unserem einfachen Zahlenmodell — dargestellt in Tabelle 2 — wäre eine nach dem Leximinprinzip rationale Entscheidung für das Verteilungsarrangement I I möglich. Allerdings sind — statisch vergleichende Betrachtungsweise der alternativen Verteilungsarrangements mit starrer vertikaler Abgrenzung vorausgesetzt — Verteilungsalternativen denkbar, in denen das Leximinprinzip zu unbefriedigenden Ergebnissen führt. Ich füge zur Veranschaulichung des Problems der schon bekannten Tabelle eine weitere Spalte V als theoretisches Beispiel eines möglichen kontingenten Verteilungsarrangement an: Tabelle 3 I

II

III

IV

V

XI

10

19

24

15

22,5

X2

10

17

15

14

20,5

X3

10

15

13

13

15,5

X4

10

13

12

12

11,5

X5

10

11

11

11

11

50

75

75

65

80

Nach dem Leximinprinzip wäre in unserem einfachen Tabellenbeispiel — soferen nicht weitere Annahmen eingeführt werden — nach wie vor das Arrangement I I zu wählen; dieses kann aber nur dann eine sinnvolle Entscheidung sein, wenn der Grenzvorteil von X4 im Arrangement I I gegenüber Arrangement V den dort erheblich größeren Grenzvorteil von X I bis X3 überwiegt; ohne das Problem interpersonaler Nutzenvergleiche zu übersehen, kann auf jeden Falle angenommen werden, daß es hier kritische Größenordnungen gibt. Wir werden dabei zu utilitaristischen Überlegungen geführt, deren sinnvoller Kern wie folgt gewendet werden kann: die Prüfung, inwieferne es Umverteilungsmöglichkeiten in der Verteilung mit dem Wohlfahrtssummenmaximun (Verteilungsarrangement V) als alternatives Arrangement mit geringeren Unterschieden gibt, ohne daß das Wohlfahrtssummenniveau sinkt. 6 6

Rawls schließt in der idealen Theorie einen solchen Fall aus: wenn durch Verschlechterung der Aussichten der bessergestellten Gruppen die Aussichten der Schlechtergestellten verbessert werden können, so ist dieses für Rawls ein Zeichen, daß die Verletzung der Gerechtigkeitsgrundsätze schon in der Grundstruktur der Gesellschaft vorliegt. In der idealen Rawlsgesellschaft machen Parteien nicht Gewinne, die für andere Parteien Verluste bedeuten. Die Rawlsche ideale Gesellschaft erfüllt das Paretokriterium. Wird jedoch die hochgradige Rawlssche Idealisierung mit ihren optmistischen Erwar-

134

6. Interpretations- und Reformulierungsvorschläge

Diesen Überlegungsansatz versucht Koller 7 zu einem „Leximin-Umverteilungsprinzip" fortzuentwickeln.

6.3 Das Unterschiedsprinzip als Leximin-Umverteilungsprinzip Nach dem Rawlsschen Unterschiedsprinzip sind Abweichungen von einer Gleichverteilung aller Grundgüter nur dann gerecht (finden die Zustimmung der Beteiligten im Urzustand), wenn die Ungleichverteilung und die dadurch bewirkte Produktivitätssteigerung zum Vorteil aller gereicht. Diese Vorteile für alle sind für Rawls rationaler Grund für gerechtfertigte Ungleicheit; in einer weniger ungleichen Struktur wäre ein Vorteilsverlust für die schlechter gestellten Gruppen zu erwarten. Koller gibt dem Rawlsschen Unterschiedsprinzip eine Wendung, die anders herum läuft: ist die Ungleichheit größer als erforderlich, um die Aussichten der Benachteiligten zu verbessern, so ist die Ungleichheit nicht gerechtfertigt; ungleiche Verteilung ist ganz entsprechend der Rawlschen Intention nur insoweit gerechtfertigt, als sie notwendig ist, die Aussichten der schlechtestgestellten Gruppe zu verbessern. Das Kollersche ,JLeximin-Umverteilungsprinzip" besagt:

„ Wirtschaftliche und soziale Grundgüter sind möglichst gleichmäßig zu verteilen. Jedoch ist eine Ungleichverteilung insoweit und nur in dem Maße zulässig, als es unmöglich ist, eine Umverteilung von den Begünstigten auf die Minderbegünstigten vorzunehmen, durch die—auf lange Sicht—die Aussichten der Minderbegünstigten verbessert werden können."* Das Umverteilungsprinzip stellt nicht allein auf die Stellung der jeweils Minderbegünstigten ab, es fordert geringstnötige Unterschiede. Das Kollersche Leximinumverteilungsprinzip ist insoferne in der Ansatzperspektive anders intendiert als das Leximinprinzip; denn letzteres formuliert in aufsteigender Ordnung maximale Differenzen. Das soll zur Veranschaulichung in unserer Modell-Tabelle durch Anfügung einer weiteren Spalte V I dargestellt werden; die Spalte V I drückt die durch Umverteilung angenommene alternative geringstnötige Ungleichverteilung aus. tungen zugunsten einer Theorie auch für die Lösung praktischer Probleme unter nicht idealen Voraussetzungen aufgelöst, so stellt sich die praktische Aufgabe, Umverteilungsregeln zu entwickeln. Ich verwiese allerdings auf die oben ausgeführte kritische Bemerkung zur Rawlskurve in Kapitel 4.31 Satz c: die statische Betrachtung eines idealen Zustandes verschließt den Blick für die Möglichkeit einer Verschiebung der Rawlskurve durch technischen Fortschritt nach oben bei gleichzeitiger Verschiebung des Tangentialpunktes nach links. Diese reale Möglichkeit stellt praktische Probleme der Verteilung, die in der Rawlsschen Darstellung ausgeblendet bleiben. 7 Vgl. Koller, 1983, S. 15 ff. sowie 1987, S. 121 ff. 8 Koller, 1983, S. 18 sowie 1987, S. 121.

6.3 Leximin-Umverteilungsprinzip

135

Tabelle 4 I

II

III

IV

V

VI

XI

10

19

24

15

22,5

21

X2

10

17

15

14

20,5

19

X3

10

15

13

13

15,5

16,5

X4

10

13

12

12

11,5

12,5

X5

10

11

11

11

11

11

50

75

75

65

80

80

Das Verteilungsarrangement V I kann als Modellbeispiel einer der Intention von Peter Koller entsprechenden Umverteilung nach dem Leximin-Umverteilungsprinzip angesehen werden. Das Leximin-Umverteilungsprinzip ist in dynamischer, alle Verteilungsalternativen vertikal und horizontal gleichzeitig einbeziehenden Betrachtungsweise allerdings dem Leximinprinzip ergebnisgleich. 9 Ferner sieht Peter Koller richtigerweise große Anwendungsschwierigkeiten bei der empirischen Ermittlung, ob die betreffenden Verteilungssysteme Umverteilungen von den Begünstigten auf weniger Begünstigte zulassen, die die Aussichten der weniger Begünstigten auf lange Sicht verbessern. Das Kollersche Umverteilungprinzip ist in der Anwendung gewiss überaus schwierig und verstößt gegen das von Rawls hervorgehobene Erfordernis der leichten Anwendbarkeit —: auf der anderen Seite sind die Kollerschen Untersuchungen aber geeignet, den Rawlsleser auf die Anwendungsfolgen der leicht operationalisierbaren Rawlsschen Grundsatzformulierungen aufmerksam zu machen und ansatzweise theoretische Lösungsrichtungen in realen Verhältnissen zu weisen, in denen gesellschaftliche Verteilungsungerechtigkeiten um so deutlicher in den Blick geraten, je größer sie sind. In konkreten Situationen, in denen sich Fragen der Verteilungsgerechtigkeit stellen, benötigen wir allerdings Prinzipien, mit denen die kontroversen Ansprüche der Verteilung oder Umverteilung mit dem Anspruch auf moralische Gültigkeit geregelt werden können. Eine letzte Bemerkung: mathematisch formale Verfahren der Verteilung der Güter A B C auf η Personen (oder repräsentativer Personengruppen) mit dem 9

Dieses konzediert auch Koller 1987 und korrigiert damit seinen Ansatz von 1983. Koller schreibt: „Bei genauerer Betrachtung zeigt sich nämlich, daß das Leximinprinzip und das Umverteilungsprinzip ergebnisäquivalent sind. Wenn ich die Reformulierung des Leximin-Prinzips in der Form des hier vorgeschlagenen Leximin-Umverteilungsprinzips dennoch für zweckmäßig halte, dann deshalb, weil mir diese Reformulierung den eigentlichen Gehalt des Leximinprinzips besser zum Ausdruck zu bringen scheint als seine üblichen Formulierung [...]." (Koller, 1987, S. 121 f., Anm. 93).

136

6. Interpretations- und Reformulierungsvorschläge

Ziel individueller Bedürfnisbefriedigung und Wohlfahrtsteigerung unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit verlangt vor (oder zumindest neben) jeder Mathematisierung eines praktischen Problems die diskursive Interessenartikulation und diskursive Qualifizierung der zu mathematisierenden Größen durch die betroffenen Personen in Hinblick auf die konkret inhaltliche Legitimation der Bedürfnisse.

6.4 Exkurs: Wirtschaftswissenschaftliche Ansätze einer Problemlösung betreffend die Verteilungsgerechtigkeit Die Frage einer gerechten Verteilung von Einkommen und Vermögen erfuhr in Reaktion auf die praktischen Erfahrungen klassisch liberaler Wirtschaftswirklichkeit und Wirtschaftstheorie mit der Entwicklung der differenzierten ,Wohlfahrtsökonomie 4 umfangreiche Bearbeitung. Ich will überschlägig prüfen, ob ansatzweise Lösungsmöglichkeiten praktisch normativer Art erarbeitet wurden, die über die bisher angestellten Erörterungen hinausgehen. Seit der klassischen Lehre von A. Smith galten für den unkritisch verwendeten Begriff,Wohlstand 4 die Paradigmen: Wohlstandsbeförderung durch (1) Erhöhung der Arbeitsproduktivität, (2) Freihandel und Arbeitsteilung, (3) Vermehrung der Produktionsmittel durch Kapitalbildung, (4) ungehinderte Entfaltung der Kräfte in offenen Märkten. Es herrschte die Anahme, die Wohlfahrt steige proportional zur Erhöhung der Produktion. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde spätestens mit Entwicklung der subjektiven Wertlehre der theoretische Erweis erbracht, daß Wohlstand nicht nur ein Produktionsproblem, sondern wesentlich auch ein Verteilungsproblem ist. Maximierung der Produktion korreliert nicht mit der Maximierung des Wohlstandes der Konsumenten: ein neues Paradigma wurde entwickelt und gegen die klassische abstrakte produktionszentrierte Volkswirtschaftslehre gestellt: »Weifare Economics4 oder ,Wohlfahrtsökonomie 410. Dieser Zweig der Wirtschaftswissenschaften sucht eine theoretische Bestimmung des Volkswohlstandes mit praktisch normativen Empfehlungen. Alfred Marshai schlug die Norm gleicher Einkommensverteilung vor (durch Staatsinterventionen sollten,Konsumentenrenten 4 festgesetzt werden und durch staatliche Eingriffe über Steuer und Subventionen die ,Produzentenrente 4 reguliert werden), um die individuellen Wohlfahrtssummen zu erhöhen. Arthur C. Pigou schlug die Änderung der Einkommensverteilung zugunsten der Ärmeren vor als Mittel, um den volkswirtschaftlichen Gesamtnutzen aus diesem Einkommenstransfer zu erhöhen, da nach der Lehre der Grenznutzentheoretiker der Nutzen der Geldeinheit in den Händen der Armen höher ist

10

Für eine knappe Übersicht über die Lehre der Wohlfahrtsökonomie vgl. Kruse, 1959, S. 329 — 350.

6.4 Wirtschaftswissenschaftliche Ansätze

137

als in denen der Reichen.11 Dieses ist zwar plausibel, aber nach herrschender Meinung theoretisch inkonsistent.12 Grundsätze der Einkommensverteilung lassen sich aus Nutzenrechungen nicht ableiten. Wirtschaftswissenschaftlich konsistent wäre nur eine Argumentation in umgekehrter Richtung: die Forderung gleicher Einkommensverteilung als erstes und damit die Ermöglichung jeweils subjektiver Optima, ohne auf interpersonale Nutzenvergleiche zu rekurrieren — wobei der Wirtschaftswissenschaftler die Explikation des Begriffes der Gleichheit in moralischer Perspektive und die Begründung, warum Gleichheit sein soll, den Philosophen überläßt. Einen zunächst offenbar brauchbaren Ansatz zu Lösung des Verteilungsproblems boten die theoretischen Überlegungen von V. Pareto und das später so nach ihm genannte ,Pareto Kriterium 4 : das Pareto Kriterium ist erfüllt, wenn es nicht mehr möglich ist, durch eine Umverteilung einen Beteiligten besser zu stellen, ohne daß dadurch ein anderer schlechter gestellt würde. Es wird auf interpersonelle Nutzenvergleiche verzichtet, auch auf den Maßstab additiver Gesamtnutzenmaximierung; vielmehr wird abgehoben auf die durch eine Handlung bewirkten Veränderungen für die verschiedenen Betroffenen. Eine Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrt ist dann gegeben, wenn der Nutzen (Wohlfahrt) wenigstens eines Individuums zunimmt, ohne daß der eines Anderen abnimmt. Es werden keine Nutzen gemessen, sondern es werden der theoretischen Vorstellung nach empirisch die subjektiven Präferenzen der Betroffenen in einer gegebenen Situation zu einem gegebenen Zeitpunkt erhoben. Man muß das Paretokriterium als eine differenzierte Form der Verbesserungsprüfung bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse lesen; es ist konservativ, insoferne es nur Veränderungen der selbst unhinterfragten sozialen Verhältnisse normativ entscheidet. Bentham konnte noch die Besserstellung der Armen auf Kosten der Reichen utilitaristisch legitimieren (und damit postulieren) durch sein Paradigma des ,größten Glücks der größten Zahl'; das Pareto Kriterium als

h Pigou wie auch Marshal meinten das Problem der theoretisch nicht möglichen Quantifizierbarkeit des Nutzens (Nutzen ist eine nicht meßbare »intensive' Größe) durch Geld als Stellvertreter ersetzen zu können. Der Nutzen entspreche der Geldmenge, die ein Einzelner bereit sei, für ein Gut aufzuwenden. ι 2 Die Formulierung vergleichbarer subjektiver Grenznutzen setzt interpersonale Nutzenvergleiche voraus; auch die Unterstellung, Geld als Maß des Nutzens anzunehmen, löst das Problem interpersonalen Nutzenvergleichs nicht; denn die Geldausgaben schaffen nur einen Ausdruck für die subjektive individuelle momentane Bewertung von Gütern zu einem gegebenen bestimmten Zeitpunkt. Die Bedürfnisse sind aber nicht stabil über die Zeit (1), nicht alle Bedürfnisse sind in Geld meßbar, denn ein Großteil liegt außerhalb des Preissystems (2), und interpersonelle Vergleiche des Nutzens als individueller Intensitätsgröße sind über Geldausdrücke nicht möglich (3). Ergebnis: Ein Maß der interpersonalen Nutzenmessung und die Vergleichbarkeit der verschiedenen subjektiven Nutzen über die Zeit ist nicht verfügbar. Nutzen ist ein personale intensive Größe; eine interpersonale quantifizierbare Vergleichbarkeit ist nicht möglich.

138

6. Interpretations- und Reformulierungsvorschläge

Maßstab der Einkommens- und Vermögensverteilung konserviert den jeweils gegebenen Status. N. Kaldor und J. R. Hicks führten in die Wohlfahrtsökonomie-Diskussion das Prinzip der Kompensation ein; auf diese Weise wollten sie sowohl das unlösbare Problem interpersonaler Nutzenvergleiche umgehen, als auch die apodiktische Forderung gleichmäßiger Einkommensverteilung mit den damit einhergehenden ökonomischen Deregulationswirkungen vermeiden. Die Überlegungen von Kaldor und Hicks gehen in eine der Rawlsschen Intention recht ähnliche Richtung: eine Maßnahme ist nach Kaldor und Hicks dann richtig, wenn die Gewinner in der Lage wären, die Verlierer zu entschädigen und dennoch etwas übrig zu behalten; das Ergebnis wäre also ein allseitiger Vorteil. Die möglichen Ausgleichszahlungen (technisch durchzuführen durch Subventionen und Steuern) zeigen, ob eine Handlung wohlfahrtstheoretisch richtig ist. Betrachten wir ein Beispiel: infolge einer Handlung der Gruppe X 1 entsteht der Gruppe X 1 ein Gewinn von 100 Geldeinheiten (GE), durch diese Handlung hat aber die Gruppe X 2 einen Verlust von angenommen 20 GE; dieser Verlust könnte durch eine Kompensation von 20 GE von X 1 an X 2 ausgeglichen und gegebenenfalls sogar überboten werden; und in diesem letzen Falle wäre das Rawlssche Unterschiedsprinzip erfüllt. Es entsteht auf jeden Fall ein Nettogewinn für die Volkswirtschaft von 80 GE unabhängig von jeder Grenznutzenbetrachtung für die betroffenen Gruppen. Allerdings: Jenseits der Schwierigkeit, die volkswirtschaftlichen Nettogewinne und Verluste zu ermitteln, sagt das Kaldor- und Hickskriterium nichts über die Verteilung des Nettogewinns und unterliegt daher in der Perspektive von Gerechtigkeitsüberlegungen der gleichen Kritik wie das die Kaldor-Hickschen Wohlfahrtsüberlegungen zu einem Gerechtigkeitsgrundsatz verfeinernde Rawlssche Unterschiedsprinzip. Trotz der Verfeinerungen und dem großen theoretischen Analyseaufwand der Wohlfahrtsökonomie ist für die Lösung praktischer Verteilungsgerechtigkeitsprobleme in Zusammenhang mit Vermögens- und Einkommensverteilungsfragen meines Wissens kein Konzept vorgelegt worden, welches frei von methodischen oder theoretischen Problemen wäre — unbeschadet ihrer in sozialpolitischer Richtung evidenten positiven Wirkungen.

7. Erörterung der Rawlsschen Theorie in bezug auf verschiedene handlungstheoretische Konzepte Ich werde im folgenden die Rawlssche Theorie mit verschiedenen idealtypischen handlungstheoretischen Entwürfen abgleichen, um den Rationalitätstypus der Wahlhandlungen der Parteien im Urzustand zu bestimmen. Je nach Zuordnung eines Handelns zu einem besonderen Handlungstypus ergeben sich für das Handeln die diesem Typus entsprechenden Grenzen der Begründung der Verbindlichkeit. Ich lasse mich dabei von der Frage leiten, wie sich das Handeln der Akteure im Urzustand aus der Perspektive der Akteure selbst begründen läßt. Zur Bestimmung des Handelns und der Handlung: Handlung ist das abgeschlossene Ereignis der Verwirklichung (oder des Scheiterns) eines gewollten oder gesollten Zieles. Handeln ist zukunftsorientierte (auch experimentelle) und rationalisierbare (i. S. v. erklärungsfähige) Tätigkeit. Nur Menschen können als reflektierte, selbstbestimmte Wesen handeln — im Gegensatz zu tierischem Verhalten oder naturgesetzlichen Prozessen. Dieses impliziert die Bestimmung des Menschen als eines vernunftbegabten, handelnden Wesens, welches durch Spontaneität von sich aus einen Anfang macht und aus eigenem Anspruch eine Sache tut oder läßt. 1 (a) Derbolav faßt den Begriff der Handlung teleologisch: „Handlung ist die Umsetzung eines gewollten (oder gesollten) Zweckes in die Realität im Gegensatz zu der Herstellung eines Werkes, jedoch schließt Handlung im weiteren Sinne häufig auch die Herstellung mit ein" 2 . (b) Max Weber untersucht Handeln als soziologischen Erfahrungsbegriff und unterscheidet als typisierte Modalitäten des sozialen Handelns' 3 zweckrationales, wertrationales, affektuelles und traditionales Handeln.4

1 Vgl. hierzu Gerhardt „Was ist ein vernünftiges Wesen?" in Girndt (Hrsg.), 1990, S. 95-118. 2 Derbolav, J. in „Historisches Wörterbuch der Philosophie", J. Ritter [Hrsg.], 1974, Bd. 3, S. 992. 3 Der Begriff des »sozialen Handelns4 ist gem. Max Weber gekennzeichnet durch die Orientierung an dem „vergangenen, gegenwärtigen oder künftig zu erwartenden Verhalten anderer" (Max Weber, 1960, S. 18). Es ist ein „inneres Sichverhalten" insoferne es sich bewußt am sinnhaft fremden Verhalten anderer orientiert — im Gegensatz zu „äußerem Verhalten", welches sich auf sachliche Objekte bezieht. 4 Vgl. Max Weber, 1960, S. 18 ff., insbesondere §2 S. 20.

140

7. Erörterung der Rawlsschen Theorie

(c) Habermas führt darüber hinausgehend den Begriff des kommunikativen Handelns für die Geltungsansprüche implizienden Sprechhandlungen ein, die „gleichzeitig einen propositionalen Gehalt, das Angebot einer interpersonalen Beziehung und einer Sprechintention ausdrücken." 5 (d) Ich bestimme zunächst mit Jürgen Habermas Handeln als „Bewältigen von Situationen"6. Diese weite Begriffsfassung schließt über den konkreten Eingriff in die Wirklichkeit durch Handlung die Freiheit der Rede als Mitteilung von Gedanken, Intentionen, Handlungsplänen etc. als notwendige Bedingung kommunitativen Handelns ein; sodann sind mit Dietrich Böhler Handlungen / Handlungsorientierungen zu rekonstruieren und die zugrundeliegende Basis aufzudecken, insofern der „handlungsinhärente Anspruch, eine angemessene und richtige Antwort auf eine einzelne Situation, oder eine Familie von Situationen zu geben, argumentative Diskurse antizipiert." 7 Diese Rekonstruktion intendiert eine transzendentalpragmatische Einholung des handlungsinhärenten Anspruches auf Situationsgerechtigkeit. Die Situationsbewältigung kann aus der Perspektive des Handelnden unter zwei Aspekten erfolgen: dem Aspekt der Erfolgsorientierung und dem Aspekt der Verständigungsorientierung; diese Aspekte beziehen sich auf die Momente der Handlungskoordinierung. Sie unterscheiden sich danach, wie die Koordinierung aus der je eigenen Innenperspektive des Handelnden ansetzt. Eine Handlung kann in diesem Sinne entweder teleologisch erfolgsorientiert zur Ausführung kommen (ein Akteur versucht, ein von ihm einseitig gesetztes oder von dritten vorgegebenes Ziel zweckrational (Max Weber) 8 zu erreichen 5 Habermas, 1981, S. 143. Den Begriff des Handelns auf das Miteinander-Sprechen auszudehnen ist nicht selbstverständlich. So trennt Fichte scharf Sprechen und Handeln; Janke faßt diesbezüglich zusammen: „Das (kategoriale) Tun des Miteinander-Sprechens hat lediglich den Zweck, durch Bezeichnung von Gedanken Absichten offenbar zu machen und anderen mitzuteilen. Die (praktischen) Handlungen des Willens dagegen zielen substanziell und unmittelbar auf Auswirkungen in der Sinnenwelt, und nur akzidentiell und wortlos machen sie Vorsätze und Absichten kund" (Janke, »Anerkennung. Fichtes Grundlagen des Rechtsgrundes', in Girndt (Hrsg.) 1990, S. 99). Mir soll es hier nur auf den Hinweis auf eine Begriffsfassung ankommen, die das Miteinander sprechen als ein Mitteilen, eine Anmutung begreift, die die Freiheit des anderen unberührt läßt (1), während der Begriff des Handelns als substanzieller und beabsichtigter Eingriff im in die wirkliche Welt (und virtuell in die Freiheit des anderen) gefaßt ist und Rechtshandlungen sodann als Eingriff in die Wirklichkeit gefaßt werden, ohne den anderen zu beschädigen (2). Die Konsequenz eines derartig gefaßten Begriffes des Handelns ist allerdings ungeeignet, das Wesen des kommunikativen Handelns verständlich zu machen, welches die Anerkennung der Freiheit des anderen wesensmäßig einschließt; der freie Diskurs ist ein Modus des kommunikativen Handelns. 6 Vgl. Habermas, 1982, S. 589. 7 Böhler, 1985, S. 333; Hervorhebung: T. B. 8 Max Weber bestimmt zweckrationales Handeln idealtypisch „durch Erwartungen des Verhaltens von Gegenständen der Außenwelt und von anderen Menschen unter Benutzung dieser Erwartung als »Bedingung' oder als »Mittel' für rational, als Erfolg, erstrebte abgewogene eigene Zwecke." (Weber, 1966, S. 20).

7.1 Teleologische Erfolgsorientierung

141

(äußere Teleologie), oder die Situation selbst wird zunächst Gegenstand kommunikativer Verständigung, und die Handlungspläne werden sodann einverständnisorientiert zwischen den Akteuren entwickelt. Dabei ist verständigungsorientiertes Handeln so definiert, daß es nicht seinerseits in den Dienst eines einseitig von einem Akteur gesetzten (nicht aus dem Verständigungsprozeß selbst hervorgegangenen) äußeren Zieles (vorgängig äußerlich gesetztes Telos) gestellt wird. Das verständigungsorientierte Handeln ist also in diesem Sinne ein nicht-teleologisches Handeln; es ist vielmehr ein Handeln, dem es in seinem Handeln um gegenseitige Verständigung geht; rationale Verständigung selber ist das ,innere Telos' kommunikativen Handelns. Jürgen Habermas nimmt bei der Rekonstruktion des kommunikativen Handelns auf das Modell der Rede Bezug und analysiert, „was es heißt, daß sich zwei Subjekte miteinander verständigen. Verständigung scheint als Telos der menschlichen Sprache innezuwohnen"9, jedoch ist das Telos ein solches, das nicht von anderer Seite auferlegt werden kann; vielmehr steuert die intendierte Verständigung selbst die Handlungskoordinierung. Eine verständigungsorientierte kommunikative Handlung ist dann rational, wenn durch einen Verständigungsprozeß Ego und Alter einen Konsens hergestellt haben, der auf intersubjektiv einsehbare Gründe gestützt ist. Es geht um die orientierenden Momente von Handlungen: teleologische Erfolgsorientierung ist abzusetzen von kommunikativer Verständigungsorientierung.

7.1 Teleologische Erfolgsorientierung Aus der Innenperspektive der Handelnden erfolgt die Handlungskoordinierung nach dem Kalkül des einseitig als Zielvorgabe gesetzten Erfolges. Das einseitig gesetzte Ziel ist nicht durch den Prozeß der kommunikativen Verständigung erarbeitet, sondern als äußerliches Telos handlungsanweisend gesetzt. Die Erfolgsorientierung kann instrumental oder strategisch erfolgen 10 . Im Falle des instrumentalen Handelns wird ein Akteur vorgestellt, der seine Handlungspläne nach technischen Regeln und Wirkungen organisiert. Kennzeichnend für diesen Typus ist das Befolgen technischer Handlungsanweisungen (Modell: der Ingenieur am Reißbrett). Im Falle des strategischen Handelns sind besondere soziale und intersubjektive Implikationen bedeutsam. Modellmäßig sind hier die Akteure vorzustellen, die nebeneinander oder mit- / gegeneinander operieren. Der Akteur ,Ego' kennt dabei 9 Habermas, 1977, S. 461. 10 Vgl. hierzu Habermas, 1977, S. 460. Habermas teilt den Handlungstypus der Zweck-Mittel-Rationalität (Max Weber) in instrumentale Handlungen und strategische Handlungen.

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7. Erörterung der Rawlsschen Theorie

den Akteur ,Alter' nur als Mit- oder Gegenspieler, dessen Entscheidungen Parameter der eigenen Ego- Entscheidungen sind. Handlungsrelevante Wirksamkeit haben hier auch Momente wie Abschreckung, Irreführung, Suggestion, denn die Orientierung der Akteure erfolgt nur am jeweils eigenen Erfolg. Die Handlungen der anderen und die Nebenbedingungen des Handelns werden ausschließlich ins Kalkül des eigenen Handelns gestellt; die anderen Akteure und die Umwelt sind nur das Material für die Realisierung des eigenen Handlungsplanes. Prinzipiell handelt es sich im Falle des instrumentalen wie des strategischen Handelns um jeweils einen „einsamen" Akteur, der im Umfeld andere Akteure vorfindet. Der Ausdruck „einsam" ist hier verstanden im Selbstverständnis des Hobbesschen Strategen. Es liegt eine radikale Vereinseitigung der Kommunikation vor: Akteur ,Ego' spricht zwar, allerdings ohne ,Alter' als Subjekt mit Lebensansprüchen im moralischen (wie wohl im rechtlichen) Sinne anzuerkennen. Prinzipiell können unter dieses Modell auch gruppenhafte Strategien und strategische Zusammenarbeit subsumiert werden; entscheidend in dem Modell ist: das Prius ist der Erfolg, Verständigung nur ein Mittel. Die Rawlssche Theorie der Gerechtigkeit von 1971/75 entspricht gemäß der Entscheidungsrationalität der beteiligten Akteure im Urzustand offensichtlich dem Typus der Handlungsrationalität teleologischer Erfolgsorientierung. Telos der Beteiligten im Urzustand ist das individuelle Wohlergehen und gesucht sind Normen zur Regulierung konkurrierender Ansprüche und zur Stabilisierung gesellschaftlicher Kooperation. Die Handlungen der Beteiligten im Urzustand sind spieltheoretisch-strategisch geleitet. Die Rationalität der Akteure bestimmt sich durch Erfolgsorientierung. Telos ist das eigene Wohl, welches von dem Akteur im Urzusstand mit strategischer Klugkeit in »einsamer4 Entscheidung angesteuert wird. Allerdings muß der Akteur durch die Konstruktion des Urzustandes (Schleier des Nichtwissens) die Interessen der jeweils anderen wie die eigenen berücksichtigen, wenn er sich rational verhalten will. Die Rationalität der Akteure im Urzustand besteht nicht in kooperativer Wahrheitssuche, d. h. in Form einer gemeinsamen argumentativen Prüfung von Gründen.

7.2 Kommunikative Verständigungsorientierung In Absetzung von bloßer Erfolgsorientierung (Zweckrationalität) erfolgt die Handlungskoordinierung über rationale kommunikative Verständigung im Medium sprachlicher Kommunikation. Grundlegend für die kommunikative Verständigungsorientierung ist ein gemeinsames Wissen, das „Einverständnis konstituiert, wobei Einverständnis in der intersubjektiven Anerkennung von kritisierbaren Geltungsansprüchen terminiert" 11 . Dieses Wissen kann Handlungskoordinierung übernehmen, denn es generiert intersubjektiv geteilte rationale Überzeugungen, h Habermas, 1982, S. 573-574.

7.2 Kommunikative Verständigungsorientierung

143

die auf Gründe gestützt sind und die soziale Anerkennung intendieren. Diese Gründe bilden eine Appellationsinstanz und haben einen privilegierten Stellenwert. Von einer kommunikativen Handlung spricht Jürgen Habermas, „ [ . . . ] wenn die Handlungen der beteiligten Aktoren nicht über egozentrische Erfolgskalküle, sondern über Verständigung koordiniert werden. Im kommunikativen Handeln sind die Beteiligten nicht primär am eigenen Erfolg, sondern an Verständigung orientiert." 12 Wenn sich Akteure nun darauf einlassen, ihre Handlungspläne in diesem Sinne verständigungsorientiert aufeinander abzustimmen und ihre jeweiligen Ziele unter die Bedingung eines Einverständnisses mit den übrigen Akteuren über die Situation und über die zu erwartenden Konsequenzen zu stellen, dann müssen die Bedingungen für das kommunikative Einverständnis spezifiziert werden. Die rationale Grundlage jeder Kommunikation beruht auf einem (nach dem Modell der Rede) rekonstruierbaren Verständigungsprozeß; im rationalen Verständigungsprozeß, werden nur (im Prinzip) kritisierbare Geltungsansprüche erhoben, die durch Gründe abgestützt werden können. Die Orientierungen, auf Grund derer sich die Erhebung von Geltungsansprüchen wie auch die Begründungen regeln, hängen gemäß Habermas von drei Weltbezügen13 ab. Auf diese bezieht sich die Interpretationsleistung der Akteure gleichzeitig, denn „eine Situation wird im Netz dieser drei Welten definiert" 14 . Diese Interpretationsleistung kann nur in einer „performativen Einstellung " gelingen, in der die Beteiligten jeweils von ihrer Einstellung einen geregelten, d. h. rational kontrollierten Übergang zu den Einstellungen der anderen vornehmen können 15 . Eine performative Einstellung ist also dadurch ausgezeichnet, daß eine geregelte rational kontrollierbare Transformation von Einstellungen möglich wird. 12

Habermas, 1977, S. 460. Die ausschließende Disjunktion („[.. .] nicht [...], sondern [...] scheint im Folgesatz graduell eingeschränkt („[...] nicht primär am eigenen Erfolg [...]"); allerdings ist das von Habermas Gemeinte klar: in kommunikativen Akten wird der Erfolg rationaler Verständigung intendiert. Diese Intention ist handlungskoordinierend. 13 Habermas erklärt als Bedingung von Einverständnis zwischen Personen die gemeinsame Bejahung von Normen und Werten innerhalb einer Welt. Er unterscheidet: (1) die soziale Welt der Normen und Werte als unbbrochen anerkannter Interaktionshorizont; (2) die objektive Welt der existierenden Tatsachen, die bestehen oder durch Intervention herbeigeführt werden können; (3) die subjektive Welt als die Gesamtheit der Erlebnisse, zu denen ein Akteur einen privilegiertenm Zugang hat. (Vgl. im einzelnen Habermas, 1981, S. 126-151; 1982, S. 584 ff.; 1983, S. 146-152). Die Verständigung über die drei Welten vollzieht sich im Horizont der Lebenswelt, welche als Hintergrund des kommunikativen Handelns ein „fundamentates Hintergrundwissen [...] im Modus der Selbstverständlichkeit gegenwärtig" (Habermas, 1982, S. 590-591), darstellt. 14 Habermas, 1977, S. 465. ι 5 Siehe im einzelnen Habermas, 1977, S. 466.

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7. Erörterung der Rawlsschen Theorie

Jürgen Habermas stellt sich einen stufenförmigen Prozeß sozialen Lernens vor, der mit der Ausdifferenzierung der verschiedenen Perspektiven der ersten, zweiten und dritten Person in den jeweiligen Weltbezügen ein von Stufe zu Stufe höheres Niveau der Gesprächsorganisation erreicht, bis auf der höchsten Stufe der Interaktion (postkonventionelle Interaktionsstufe) die kommunikative Handlung die Form des in performativer Einstellung geführten Diskurses hat, in welchem hypothetische Geltungsansprüche auf Wahrheit und Richtigkeit geprüft werden. 16 Hier ist die Aktualität des lebensweltlichen Erfahrungszusammenhangs distanziert, und Lebenswelt erscheint als eine Praxis, die der Kritik und Innovation zugänglich geworden ist. Kommunikatives Handeln ist ein Muster, das der sprachlichen Verständigung innewohnt. Dieses ist der Ansatz von Jürgen Habermas, den er detailliert bis zur Entwicklung eines Begründungsprogramms der Diskursethik entfaltet 17 . In einer hegelschen Denkfigur wäre der Prozeß des Werdens des kommunikativen Handelns über die präkonventionelle, die konventionelle bis hin zu der postkonventionellen Interaktionsstufe als ein dialektischer Prozeß der Differenzierung zu denken, an dessen Ende der auf Geltungsansprüche rekurrierende argumentative Diskurs als der voll entwickelte Begriff des kommunikativen Handelns steht.18 Es ist die Intuition von Jürgen Habermas, daß das moralische Grundphänomen der reziproken Anerkennung und seine verpflichtende Kraft im kommunikativen Handeln im Modus der Geltungsansprüche erhebenden Sprechakte verwurzelt ist. Habermas rekonstruiert sozialphänomenologisch den ,moral point of view 4 als die moralischen Prämissen des kommunikativen Handelns: die im argumenta16 Siehe im einzelnen Habermas, 1983, S. 149 ff., S. 153-167; 1984a, S. 224 ff. Siehe vor allem die sehr dichte Explikation in Habermas, 1983, S. 172-182. is Zu den Stufen der Entwicklung siehe im einzelnen: Habermas, 1983, S. 152-167. — Auf der präkonventionellen Stuft der Interaktion wird Koordinierung der Teilnehmerperspektiven (erste und zweite Person) in einer autoritätsgesteuerten Weise organisiert. — Auf der konventionellen Stufe der Interaktion erfolgt die Koordination der Beobachterperspektive (Perspektive der dritten Person) mit denen der Teilnehmerperspektiven (erste und zweite Person). Diese Stufe eröffnet ein gegenüber der präkonventionellen Stufe neues, differenzierteres Niveau der Gesprächsorganisation, welches der Form nach gekennzeichnet ist durch die Ermöglichung performativer Einstellungen der Sprecher. Es gilt auf der Stufe konventioneller Interaktion allerdings noch die lebensweltliche Gewißheit partikularer Lebensformen mit ihrer naturwüchsigen Geltung des normativ Faktischen, d. h. des geschichtlich Gewordenen. — Auf der postkonventionellen Stufe der Interaktion erfolgt die Ausdifferenzierung der drei Perspektiven zu einem dezentrierten Weltverständnis. Im argumentativen Diskurs werden in performativer hypothetischer Einstellung Geltungsansprüche auf Gültigkeit überprüft. Die Faktizität der lebensweltlich gestützten, sozial gültigen Normen werden gebrochen, Ethos wird kritisierbar und Lebenswelt auf Distanz gebracht. In einer kooperativen Wahrheitssuche werden Fälle problematischer lebensweltlicher Gerechtigkeitsvorstellungen dem „eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Arguments" (Habermas) unterworfen. Die Gültigkeit einer Norm auf postkonventioneller Interaktionsstufe wird nicht an die faktische soziale Geltung, sondern an den virtuellen Konsens der Beteiligten und der Betroffenen gebunden. 17

7.2 Kommunikative Verständigungsorientierung

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tiven, kommunikativen Handeln vorausgesetzte Reziprozität der Anerkennung, die ihre höchste Form im argumentativen Diskurs und seinem Verfahren der Einlösung von Geltungsansprüchen findet. „Rechtfertigende Kraft erhält allein das diskursive Verfahren der Einlösung normativer Geltungsansprüche; und diese Kraft verdankt die Argumentation letztlich der Verwurzelung im kommunikativen Handeln. Der gesuchte »moralische Gesichtspunkt4, der allen Kontroversen vorausliegt, entspringt einer fundamentalen, ins verständigungsorientierte Handeln eingebauten Reziprozität. [...] Insofern stützt sich die diskursethisch begründete Moral auf ein Muster, das dem Unternehmen sprachlicher Verständigung sozusagen von Anfang an innewohnt"19. Es ist Habermas Auffassung, daß jedweder Kommunikation als Verständigungsprozeß nicht nur theoretische Normen des Erkennens, sondern auch sozialphänomenologisch aufweisbare genuin ethische Normen des sich zueinander Verhaltens zugrunde liegen. Diese sind als Diskursregeln rekonstruierbar, wobei es sich bei diesen Regeln nicht einfach um Konventionen handelt, sondern gemäß Habermas um unausweichliche Präsuppositionen im Sinne einer idealen Sprechsituation gleichverteilter, symetrischer Diskurschancen. 20 Die durch Jürgen Habermas entworfene Konzeption des praktischen Diskurses als des gesuchten,moralischen Standpunktes', der in Form eines metapraktischen Verfahrens der Problematisierung und Generierung von Normen reflexiv aufgehellt werden kann, ist nicht unbestritten. Ich möchte im folgenden kurz und exemplarisch zwei Argumente gegen Habermas besprechen: (1) (a) Der von Jürgen Habermas explizierte ,moral point of view 4 ist in eine Wahrheitstheorie eingebettet, die er als Konsenstheorie der Wahrheit bezeichnet; (b) nach Ernst Tugendhat erweist sich jedoch die Konsenstheorie der Wahrheit und die Auffassung, daß die Begründungsregeln als Diskursregeln anzusehen sind, als unhaltbar. 21 Das „Überraschende an der Auffassung von Habermas [ist], daß intersubjektive Übereinstimmung nicht die Folge, sondern das Kriterium des Begründetseins einer Aussage sein soll." 22 Die Konsenstheorie als allgemeine Begründungstheorie sei daher unannehmbar; in praktischen Fragen müßten Begriffe wie Gerechtigkeit oder Unparteilichkeit vorausgesetzt werden und diese ergeben sich nicht aus den präsupponierten pragmatischen Regeln im Sinne der Habermasschen idealen Sprechsituation gleichverteilter Diskurschancen; „diese Regeln sind also, weit entfernt davon, Moral begründen zu können, selbst schon moralische Regeln." 23 (c) Ernst Tugendhat konzediert zwar dem Diskurs eine, wenngleich allein nicht 19 Habermas, 1983, S. 175. 20 Siehe im einzelnen Habermas, 1983, S. 98 ff.; 1984, S. 174-183. 21 Vgl. Tugendhat, 1980, S. 8. 22 Tugendhat, 1984, S. 116. 23 Ebd., S. 10. 10 Bausch

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7. Erörterung der Rawlsschen Theorie

ausreichende Signifikanz bei der Anwendung des Moralprinzips, bestreitet dem Diskurs aber die Qualität der Begründung, da für die Diskursteilnehmer, auch wenn beseelt durch „die abstrakte Idee der Übereinstimmung aller" und der Rederechte entsprechend der idealen Sprechsituation, nicht erkennbar ist, „wie sie je zu einem Ergebnis, zu einer Übereinstimmung kommen sollen", es sei denn sie nehmen — so Tugendhat — Bezug auf ein weiteres Prinzip (zum Beispiel der Unparteilichkeit). 24 Insoweit ist Tugendhat zuzustimmen. Ich werde allerdings zeigen, daß Unparteilichkeit im Prinzip der argumentativen Konsenzbildung implizit enthalten ist. (2) Gegen Jürgen Habermas argumentiert — mit Bezug auf Kant — Helmut Girndt 25 : (a) alle interpersonalen Beziehungen und damit auch praktische Diskurse haben praktische Voraussetzungen, die nicht hintergehbar sind, (b) Sodann weist Helmut Girndt mit begründendem Bezug auf den Kantischen Kategorischen Imperativ zweiter Formulierung („Handele so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als auch in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst") die intersubjektive Anerkennung der vernünftigen Subjekte als notwendige Voraussetzung für Diskurse aus. Diese Voraussetzung sei „unhintergehbare apriorische Begründung der Möglichkeit aller diskursiver Normenproblematisierung." Insoferne trete, so Helmut Girndt, der Diskurs unter eine neue Voraussetzung, (c) Helmut Girndt kommt zu dem Schluß, „daß ein an der sprachlichen Kommunikationsfähigkeit des Menschen orientiertes Modell des praktischen Diskurses nicht ausreicht zur Begründung praktischer Normativität schlechthin wie auch einzelner praktischer Normen im Besonderen." 26 In der Perspektive des Arguments (1) und (2) beansprucht Karl-Otto Apel einen letzten Grund der Ethik aufzuweisen: Die Transzendentalpragmatik, d. h. hier: die Transformation der Kantischen Position durch transzendentalpragmatische Reflexion auf die notwendigen Präsuppositionen argumentativer Kommunikation vermag reziproke Anerkennungsverhältnisse zu rekonstruieren und zu vergewissern (und nicht nur zu postulieren); die transzendentalpragmatisch rekonstruierbaren Anerkennungsverhältnisse, in denen wir argumentierend immer schon stehen, bilden letzte Haltepunkte einer normativen, formalen Ethik; vernünftige Argumentation, und d. h. die Fähigkeit, sich an universalen Geltungsansprüchen zu orientieren, ist formale Bedingung praktischer Normativität und rekurriert insoferne nicht auf argumentationsfremde weitere Prinzipien.

24 Vgl. Tugendhat, 1980, S. 7 ff.; siehe auch ders. 1984, S. 101 ff., insbesondere S. 119. 25 Siehe im einzelnen Girndt, 1976, S. 62-70. 26 Ebd., S. 64; weniger pointiert als Girndt, jedoch mit der gleichen Intention argumentiert Pieper mit der Schlußthese, daß „Habermas das Postulat der idealen Sprechsituation schlicht als notwendige Bedingung behauptet, ohne diese Behauptung zu begründen." (Pieper, 1979, S. 169).

7.2 Kommunikative Verständigungsorientierung

147

Eine genauere Rekonstruktion des reflexiven transzendentalpragmatischen Arguments soll im folgenden zeigen, ob die Argumente (1) und (2) den diskursethischen Ansatz einholen. Dabei wird das Programm der Diskursethik so angesetzt und begründet werden, wie — über Jürgen Habermas hinausgehend — KarlOtto Apel es durchführt.

10*

8. Diskursethik als reflexive Explikation der Argumentation Die von Karl-Otto Apel durchgeführte transzendentalpragmatische Begründungsreflexion der Diskursethik beansprucht, Ethik in der Form einer Logik der Argumentation zu explizieren. Normative Richtigkeit wird verstanden als ein diskursiv einlösbarer Geltungsanspruch. Der Diskurs als ethische Argumentation ist als kooperative Anstrengung zu verstehen. Der Diskurs ist auf eine in reflexiver Weise vergewisserbare Pflicht gegenseitiger Anerkennung als Diskurspartner verwiesen.

8.1 Diskursgrundsatz ,D 6 Die Diskursethik entwickelt zunächst den Grundsatz , D \ welcher besagt, daß nur die Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Argumentierenden als vernünftige Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden oder finden könnten. ,D' als idealer Grundsatz der Zustimmungsbedürftigkeit ist rein formales Moralprinzip; es ist aus den präsupponierten, transzendentalpragmatisch begründeten und reflexiv vergewisserbaren Argumentationsregeln entwickelt. ,D' ist universal, regulativ und formal. Die Inhalte (Gegenstände des Diskurses) müssen dem Diskurs vorgegeben und als hypothetische Geltungsansprüche diskursiv geprüft werden. So sind auch Gerechtigkeitsnormen, die Geltung beanspruchen, unter die Bedingung diskursiver virtueller Zustimmungsfähigkeit zu stellen. Das heißt: Der virtuelle Konsens bezieht sich der Idee nach auf die ideale unbegrenzte Kommunikationsgemeinschaft (Apel) aller vernünftigen Wesen. Dieser Bezugspunkt auf eine ideale, in der Realität nie und nirgends existierende Kommunikationsgemeinschaft ist eine kontrafaktische Idealisierung. Es ist also nicht nur auf die faktische Zustimmung der unmittelbar Betroffenen und am faktischen Diskurs Beteiligten abzustellen; es sind vielmehr kontrafaktische Idealisierungen in Form der virtuellen Zustimmungsfähigkeit gegenüber der unbegrenzten idealen Kommunikationsgemeinschaft in Anschlag zu bringen. Die realen Diskurse müssen ferner immer auf die faktischen Beschränkungen hin reflektiert werden, in denen die Argumentierenden jeweils stehen: (a) bestes faktisches Wissen kann fehlerhaft sein, Schlußfolgerungen irrig und vermeindlich erträgliche Folgen sich als unerträglich erweisen; (b) die kommunikativen Verhältnisse müssen hinreichend entwickelt sein, um den Diskursimperativ anwenden zu können. Die prinzipielle Differenz der idealisierenden Bedingungen der unbe-

8.1 Diskursgrundsatz ,D'

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grenzten Kommunikationsgemeinschaft und der realen Anwendungsbedingungen in den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen ist verantwortungsbewußt zu berücksichtigen. ,D' gibt keine inhaltliche Orientierung, sondern formuliert allein ein prozedur elles Kriterium der Gültigkeit gegebener oder hypothetisch erwogener Normen. In ,D' liegt die prozedurale Bestimmung des Moralischen als Wettbewerb der Argumente: die Argumentationsteilnehmer nehmen eine hypothetische Einstellung zu den Geltungsansprüchen ein — aus dieser Perspektive verwandeln sich kontroverse Gegenstände des Diskurses in einer Weise, daß sie in kooperativer Wahrheitssuche durch den ,zwanglosen Zwang von Argumenten 4 entscheidbar sind. Argumentative Gründe zwingen genau dann, wenn sie als Argumente zwingend sind, sanktions- und gewaltfrei — und nur, wenn sie ohne Sanktionen, ohne Drohungen zur Anerkennung zwingen, sind sie als Argumente zwingend. Zwingende Argumente sind etwas, das wir — ohne von sanktionierter Gewalt gezwungen zu sein — anerkennen müssen allein durch die sie begleitenden rationalen Gründe; und ein streng zwingender (logisch überzeugender) Grund liegt dann vor, wenn das kontrafaktisch antizipierte Ideal der Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses erfüllt sein könnte.1 Viele real vorgetragene situationsbezogene Argumente zwingen jedoch nicht wie ein streng logischer Beweis; sie enthalten das Ansinnen des gemeinsamen Hin- und Hererwägens, welches sich sich allerdings in der Rolle des Argumentierens dem dialogischen Verhältnis der Argumentierenden verpflichet weiß und verwiesen sieht auf das ideale logische Universum aller sinnvollen Argumente. Das Wiegen der Argumente in den realen Kommunikationsprozessen wird wegen Informationsdefiziten, Zeitmangel und den sonstigen endlichen Begrenzungen immer hinter dem Ideal zurückbleiben. So sind kontingente, faktische Entschließungen, und seien sie legal und parlamentarisch zustandegekommen, immer falsifizierbar, revidierbar; denn der ideale logische Ort der praktischen Vernunft 1 Hier liegen allerdings ernst zu nehmende Schwierigkeiten der faktischen Anwendung: (1) die Zustimmung aller Betroffenen ist praktisch nicht einholbar; (2) also ist die Antizipation einer Zustimmung kontrafaktisch vorzunehmen; (3) diese müßte in der gesellschaftlichen Wirklichkeit wohl meist durch Gremien (wie auch immer diese sich zusammensetzen mögen: themenzentrierte Kommissionen, Repräsentantengruppen, Experten, Eliten etc.) erfolgen; (4) dabei ist die Richtigkeit der Antizipation sowohl hinsichtlich der Tatsachenermittlung wie der Folgenerwartungen nicht zu garantieren; (5) das Ideal einer moralischen Konsens Verpflichtung (in diskursethischer Strenge: gegenüber der unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft) steht in augenscheinlichem Widerspruch zu (a) dem endlichen Wissen realer Argumentationssubjekte , und zu (b) den gesellschaftlichen Realitäten strategischer Praxis, in der es an der Bereitschaft zum verständigungsorientierten konsensverpflichtetem Handeln auffällig mangelt. (6) Faktische Diskurse stehen ferner meist unter Handlungzwang, d. h. die Situation verlangt oft Abbruch der Diskussion und Entscheidung. Diese Anwendungsschwierigkeiten sind als verantwortungsethisches Problem zu reflektieren und zu bearbeiten. (Siehe hierzu die folgenden Kapitel 8.33 ,Die Mehrstufigkeit der Ethik* und 8.34 ,Die Realisierbarkeit des Diskursimperativs und das Ergänzungsprinzip ,E').

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8. Diskursethik als reflexive Explikation der Argumentation

darf nicht mit geschichtlichem Konsens und schon gar nicht mit kontingentem, faktischem Mehrheitswillen identifiziert werden. A l l das entkräftet nicht das Deon der Diskursethik, deren idealer Bezugspunkt die kontrafaktisch antizipierte prinzipiell uneingeschränkte, allgemeine ideale Kommunikationsgemeinschaft als logischer Ort der praktischen Vernunft ist; d. h. die ideale Kommunikationsgemeinschaft ist regulative Idee im Sinne Kants.

8.2 Universalisierungsgrundsatz ,U' Die Reflexion ethischer Argumentation führt zur Explikation des Universalisierungsgrundsatzes , U \ welchen Argumentierende als formales Geltungskriterium auf der Ebene handlungsentlasteter Diskurse als Sinnbedingung von Gerechtigkeit einer idealen Kommunikationsgemeinschaft immer schon anerkannt haben. Der Universalisierungsgrundsatz ,U' in einer Formulierung von Jürgen Habermas lautet: Eine Norm ist gültig, „wenn die Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus einer allgemeinen Befolgung der strittigen Norm für die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen voraussichtlich ergeben, von allen zwanglos akzeptiert werden können."2 Das Universalisierungsgrundsatz ,U 4 ist so gefaßt, daß er nur die Normen gelten läßt, welche die diskursiv qualifizierte Zustimmung aller möglicherweise Betroffenen finden können, weil sie ein von allen möglichen Betroffenen gemeinsames anerkennungswürdiges Interesse verkörpern. Bei der Interessenabwägung ist demnach die Perspektive nicht nur der eigenen Person, sondern auch die aller anderen möglicherweise Betroffenen einzunehmen: ein voll reversibles ,ideal role taking4 (G. H. Mead). 2 Habermas, 1983a, S. 103.; siehe ferner: ders., 1984a, S. 218-235. Habermas spricht von ,U4 als einem „Brückenprinzip", (Habermas 1983a, S. 73) welches kommunikatives Einverständnis in moralischen Argumentationen, welche die Prüfung von Normen zum Gegenstand hat, möglich mache; denn im Gegensatz zu existierenden Sachverhalten, zu denen mit wahren Aussagen eine eindeutige Beziehung bestehe, besage die soziale Geltung von Normen noch nichts darüber, ob diese Normen auch gültig (legitim) seien; es sei zwischen der sozialen Tatsache der faktischen intersubjektiven Anerkennung und der AnerkennungsWürdigkeit durch ,gute Gründe4 einer Norm zu unterscheiden; im theoretischen Diskurs könne durch Induktion und Hypothesenbildung zu »wahren4 Aussagen (zumindest im Rahmen der empirischen Wissenschaften) gefunden werden; im praktischen Diskurs bedürfe es jedoch des konsensermöglichenden „Brückenprinzips " ,Ü' als eines Moralprinzips, „das als Argumentationsregel eine äquivalente Rolle spielt wie das Induktionsprinzip im erfahrungswissenschaftlichen Diskurs" (ebd., S. 73). Damit unternimmt Habermas den Versuch, die Geltung theoretischer und praktischer Sätze einander anzugleichen. Sodann verankert Habermas den Universalisierungsgrundsatz formalpragmatisch als intersubjektives Geltungskriterium für praktische Diskurse (ohne Anspruch auf Letztbegründung). Der Ausweis letztbegründeter Normen in der Form von ,D4 gelingt erst mit Apels transzendentalpragmatischer Wendung der diskursethischen Begründungsreflexion (siehe dazu nachfolgendes Kapitel: 8.3).

8.2 Universalisierungsgrundsatz ,U'

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Es ist offensichtlich, daß Gerechtigkeitsfragen idealerweise nur durch solche Normen gültig gelöst werden können, die den Universalisierungsgrundsatz ,U' erfüllen; denn der Sinn einer Gerechtigkeitsnorm, konkurrierende Ansprüche moralisch gültig zu regeln, kann nur dann als erfüllt gelten, wenn dem Prinzip ,U' entsprochen ist. Mit der Erfüllung des Universalisierungsgrundsatzes ,U' wäre idealerweise die Wahl einer strittigen Norm begründet. Wie jedoch ist real festzustellen, ob ,U' erfüllt ist (a)? Und wie steht es um die geschichtsbezogene Anwendbarkeit des Universalisierungsgrundsatzes ,U' (b)? Zu (a): ,U' ist praktisches Diskurskriterium (Normenrechtfertigungsmaßstab als Geltungskriterium im rationalen Diskurs), dessen Erfüllung einen in praktischen, realen Diskursen einzulösenden Konsens in all den Fällen ermöglicht, in denen die Interessen aller Betroffenen in Hinblick auf ihre Geltungswürdigkeit beurteilt und entsprechend geregelt werden sollen. Interessen sind nicht als naturale Konstanten zu verstehen; sie können variieren und sich ändern. Das formale Universalisierungsprinzip ,U' ist offen gegenüber diesen Varianzen. Es ist in realen praktischen Diskursen diskursiv einzulösen. Es darf allerdings nicht übersehen werden, daß die inhaltlichen Ergebnisse der realen kontextbezogenen praktischen Diskurse immer falsifizierbar sind, da Irrtümer, Informationsdefizite oder falsche theortische Deutung der Situation prinzipiell nicht ausschließbar sind; darüberhinaus besteht das Problem des Kreises der Betroffenen und ihre reale Möglichkeit der Beteiligung am Diskurs. Die real immer gegebene Begrenzung des Kreises der Teilnehmer an einem praktischen Diskurs erfordert die advokatorische, gegebenenfalls gedanklenexperimentelle Wahrnehmung der Interessen der nicht am realen Diskurs teilnehmenden Betroffenen. Der Universalisierungsgrundsatz ,U' ist formal; er ist nicht nur offen gegenüber Interessenvarianzen, sondern gleichzeitig eine Art Revisionsprinzip verfestigter kontingenter historischer Interessenlagen. Zu (b): Karl-Otto Apel übernimmt zunächst im wesentlichen den Vorschlag des Universalisierungsprinzips ,U' als adäquate Explikation eines formalen Moralkriteriums und Normenbegründungsprinzip in handlungsentlasteten Diskursen (Habermas), führt dann jedoch eine Prüfung der Fortentwicklung des rein formalen Legitimationsprinzip ,U' zu einem Handlungsprinzip durch. Dieses geschieht in zwei Schritten: (1) Das von Habermas als bloßes Geltungskriterium für Normenlegitimation entwickelte Prinzip ,U' wird von Karl-Otto Apel zunächst zu einer Handlungsmaxime einer solchen Weise transformiert, daß ,U' als Normenbegründungsprinzip dabei berücksichtigt ist. Apel formuliert in in einem ersten Schritt ein Handlungsprinzip U h wie folgt:

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8. Diskursethik als reflexive Explikation der Argumentation

„Handle nur nach der Maxime, von der du im Gedankenexperiment unterstellen kannst, daß die Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen jedes einzelnen Betroffenen voraussichtlich ergeben, in einem realen Diskurs — wenn er mit den Betroffenen geführt werden könnte — von allen Betroffenen zwanglos akzeptiert werden könnten"3. (2) Sodann stellt Karl-Otto Apel die Frage, ob durch eine derartige Maxime auch schon ein hinreichendes Prinzip verantwortungsethischen menschlichen Handelns explizit zum Ausdruck gebracht ist. Es ist offensichtlich: Die Handlungmaxime U h unterstellt unmittelbar ideale Diskursbedingungen, also die Realisierbarkeit eines idealen Diskurses. Es ergeben sich jedoch prinzipielle Schwierigkeiten bei der geschichts- und gesellschaftsbezogenen Anwendung von U h ; es gilt die Folgen der Anwendung von U h unter den handlungsbelasteten Realisierungsbedingungen faktischer gesellschaftlicher Verhältnisse zu bedenken. Die Reflexion auf die prinzipielle Differenz von Idealität und Realität zeigt, daß das folgenverantwortungsethische Problem in Hinblick auf die Anwendungsbedingungen von U h in der handlungsanweisenden Transformation von U zu U h — wie oben durchgeführt — noch unbedacht und nicht gelöst ist. Karl-Otto Apel wird daher in einem weitern Reflexionsschritt U h durch das verantwortungsethische Ergänzungsprinzip E komplettieren 4: „denn es genügt hier nicht, sich nach dem Prinzip (U h ) zurichten,das die voraussichtlichen Folgen und Nebenfolgen der allgemeinen Befolgung von Handlungsnormen berücksichtigt. Es kommt vielmehr darauf an, auch die voraussichtlichen Folgen und Nebenwirkungen der auf die geschichtliche Situation bezogene Anwendung eben des Prinzips (U h) zu berücksichtigen. Dies erst bezeichnet die prinzipielle Forderung einer Verantwortungsethik. ii 5 Die Funktion von ,U' als formales Legitimationsprinzip und ,U h < als noch ergärizüngsbedürftige Handlungsmaxime mag damit angedeutet sein; es böte sich jetzt an, die Funktion von U und von U h als Handlungmaxime in idealen Verhältnissen in Hinblick auf Eignung zur Lösung der Gerechtigkeitsprobleme und insbesondere der Verteilungsprobleme zu untersuchen. Das ungelöste Problem der Verteilungsgerechtigkeit könnte dadurch eine Lösung erfahren, daß das ideale Prinzip U als gedankenexperimenteller Prüfstein zur Lösung von Problemen der Verteilungsgerechtigkeit zu einer idealen Handlungsmaxime weiter ausdifferenziert wird. Bevor ich dieser Frage nachgehe, ist jedoch vorab die entscheidende Frage der Begründung von ,U' als Geltungskriterium für die Regelung von Gerechtigkeitsfragen zu klären, sowie nach den ersten soeben gegebenen Problemanzeigen die Realisierungsbedingungen diskursethischer Inperative in der realen Kommunikationsgemeinschaft umfassender zu reflektieren. 3 Apel, 1986a, S. 19; vergi, auch Apel, 1988, S. 123 ff. Siehe hierzu Kapitel 8.34 ,Die Realisierung des Diskursimperativs und das Ergänzungsprinzip E'. s Apel, 1988, S. 129. 4

8.3 Begründungs- und Anwendungsprobleme der Diskursethik

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8.3 Begründungs- und Anwendungsprobleme der Diskursethik Der Diskursgrundsatz ,D' und der Universalisierungsgrundsatz ,U' als ideale Grundsätze der Zustimmungsbedürftigkeit sind rein formales, universales, regulatives Moralprinzip. Die Diskursethik fordert die Begründung von Normen und muß dem eigenen Anspruch genügen und das eigene Moralprinzip als universal verbindlich ausweisen; das heißt, sie muß ,D' und ,U' verbindlich begründen. Dieses geschieht durch einen transzendentalpragmatischen Begründungsansatz.

8.31 Metakritik und transzendentalpragmatische Reflexion auf die Argumentationshandlung Skeptiker zweifeln an der Möglichkeit der Begründung einer universalen Moral. Begründung soll Gewißheit geben. Der Zweifel an der Möglichkeit der Begründung und damit der Vergewisserung bis zur sicheren Gewißheit ist von Hans Albert über den kritischen Rationalismus6 hinaus zu einer Unmöglichkeitsbehauptung zugespitzt worden: der Begründungsversuch allgemein gültiger Moralprinzipien führe in das Münchhausentrilemma; man habe — so die These von Albert 7 — offenbar nur die Wahl zwischen drei Alternativen, die alle gleichermaßen unakzeptabel seien: (1) Infiniter Regress: in der Suche nach Gründen wird immer weiter zurückgegangen, um schließlich im infiniten Regress die Einsicht der praktischen Undurchführbarkeit der Deduktion zu konstatieren. (2) Logischer Zirkel in der Deduktion: dieser fehlerhafte Beweisgang führt — da eine letzte Begründung von Sätzen aus Sätzen logisch nicht möglich ist — zu dem petitio principii und liefert ebenfalls keine sichere Grundlage. (3) Abbruch des Verfahrens durch Dezision: an einem letztlich beliebigen Punkt der Begründungskette wird entschieden, das Beweisverfahren abzubrechen; dadurch wird das Prinzip der zureichenden Begründung suspendiert und letztlich der Gegenstand entschieden, da eine letzte Begründung nicht möglich sei. Die Folgerungen der Alternativen (1) bis (3) sind logisch zwingend und fallen unter das Paradigma des Fallibilismus des kritischen Rationalismus, der nicht die Nichtverifizierbarkeit wissenschaftlicher Aussagen, vielmehr deren ausschließliche Falsifizierbarkeit behauptet. Der kritische Rationalismus bietet gegen die Idee der Begründung zur Erlangung von Gewißheit die Alternative der fallibilistischen Forschungsstrategie der radikalen kritischen Prüfung, um der Wahrheit „näherzukommen, ohne allerdings jemals Gewißheit zu erreichen" 8.

6 Albert, 1980, S. 13 ff. 7 Vgl. im einzelnen ebd., S. 35. s Ebd., S. 35.

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8. Diskursethik als reflexive Explikation der Argumentation

Das Fallibilismus-Paradigma mag für empirische Wissenschaften durchaus angemessen sein, die Frage ist aber, ob die Ethik und ein von ihr behauptetes Moralprinzip als letzter Maßstab eine logisch zwingende Begründung enthalten muß; letzteres anzunehmen, wäre nach Dietrich Böhler eine deduktivistische Begründungsvorstellung und eine Verkürzung der moralphilosophischen Begründung allein nach dem Konzept der logischen Folge, „eine Vorentscheidung, die einem Gewaltstreich gleichkommt, der einen Letztbegründungsversuch von vornherein als sinnlos erscheinen läßt" 9 . Argumentativ ist gegen die Verabsolutierung der Unmöglichkeitsbehauptung einzuwenden, daß diese sich ihrerseits als alternativelos ausweisen müßte, und das heißt auch, den transzendentalpragmatischen (strikt reflexiven) Beweisgang widerlegen müßte, was ohne den Preis eines Selbstwiderspruchs (pragmatische Inkonsistenz) nicht möglich 10 ist; denn der transzendentalpragmatische Beweisgang expliziert nur das aktuell von jedem Argumentierenden (und so auch das des Skeptikers) in Anspruch genommene metakommunikative Regelwissen (Artikulation der konstitutiven Kommunikationsbedingungen). Karl-Otto Apel eröffnete die Perspektive einer nicht deduktiven Begründung mit der Frage: „Ist nicht gerade der Hinweis darauf, daß man die Logik [gemeint ist die Logik der Ethik] in diesem Sinne [Bezug genommen wird auf die im Vorsatz genannte Deduktion im Rahmen eines axiomatischen Systems] nicht begründen kann, da sie für alle Begründung immer schon vorausgesetzt wird, der typische Ansatz einer »philosophischen Begründung4 im Sinne transzendentaler Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit und Gültigkeit aller Argumentation!" u . Karl-Otto Apel erneuert den Modus transzendentaler Begründung mit sprachpragmatischen Mitteln und bringt das „transzendentalpragmatische Reflexionswissen" 1 2 zu Bewußtsein. In Anknüpfung an Hintikka stützt Karl-Otto Apel sein Argument auf die Bedeutung des Selbstwiderspruchs und wendet diesen gegen den Grundsatz des Fallibilisten: auch der skeptische Kritizist hat schon immer, wenn er nur argumentiert, einen nicht verwerfbaren Bestand von Regeln als 9 Böhler, 1985, S. 366. 10 Kuhlmann (1984b, S. 575 ff.) unterwarf die Position des absoluten Fallibilismus einer überzeugenden Metakritik und weist—indem er die Thesen des absoluten Fallibilismus auf ihn selbst anwendet — auf die Paradoxien des konsequenten Fallibilisten hin: dieser nämlich gibt vor, etwas Gehaltvolles und Bestimmtes zu sagen (nämlich: ,alles ist fallibel 4), sagt aber in Wirklichkeit etwas pragmatisch Widersprüchliches, da der mit der These behauptete Wahrheitsanspruch (performativer Teil) in Widerspruch steht zu der These selbst (propositionaler Teil). Böhler (1985, S. 371 f.) nennt einen Selbstwiderspruch dieser Art „einen Widerspruch in der Argumentationshandlung selbst [...] eine pragmatische Inkonsistenz" . Habermas spricht von einem ,performativen Widerspruch 4. Böhler, Kuhlmann und Habermas beziehen sich hierbei auf die richtungsweisenden Arbeiten von Apel. h Apel, 1973, Bd. II, S. 406. i2 Siehe im einzelnen ebd., S. 407 ff.

8.3 Begründungs- und Anwendungsprobleme der Diskursethik

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gültig akzeptiert. Das Resultat ist: was sich nicht ohne Inkonsistenz bestreiten läßt, weil es bei sinnvoller Argumentation immer schon vorausgesetzt werden muß, und was aus eben diesem Grund auch nicht durch Deduktion begründbar ist, das muß als gültige und unerschütterliche Basis erkannt werden. Einsichtig gemacht werden kann dieses Argument nur in ,strikt reflexiver Einstellung4 (Kuhlmann). Der Proponent muß das jeweilige inhaltlich Gesagte mit dem abgleichen, was aktuell von ihm als Argumentierendem in Anspruch genommen und zur Voraussetzung des Gesagten gesetzt ist (Präsuppositionen). Mit dieser Apelsçhen Rückwendung zur Explikation allgemeiner und notwendiger Präsuppositionen ist gleichzeitig die Abwendung von dem aussichtslosen Bemühen um letzte deduktive Gründe vollzogen und die transzendentale Sinndimension der Argumentation aufgedeckt.

8.32 Begründung der Ethik aus den Argumentationsvoraussetzungen Es stellt sich jetzt die Aufgabe, Diskursethik und ihren zentralen Grundsatz ,D' in einer solchen Weise zu explizieren, daß sich seine Begründung schlüssig ergibt. Mit Hilfe eines schlüssigen Arguments muß gezeigt werden, daß jeder, der sich überhaupt auf die argumentative Rede einläßt, implizit die Gültigkeit des Diskursgrundsatzes ,D' unterstellen muß. 8.321 Formalpagmatik Die Habermassche Formalpragmatik 13 versucht diese Explikation auf drei Ebenen: ( 1 ) Auf der logisch semantischen Ebene werden Regeln bezeichnet, die vorausgesetzt werden müssen, ohne daß sie allerdings einen ethisch verpflichtenden Gehalt hätten; hier zum Beispiel: (a) Widerspruchsfreiheit (kein Sprecher darf sich widersprechen); (b) Verständlichkeit (verschiedene Sprecher dürfen den gleichen Ausdruck nicht in verschiedenen Bedeutungen benutzen). Regeln dieser Art müssen zwar in jeder Rede vorausgesetzt werden; für die Explikation von ,D' durch ein ethisch gehaltvolles transzendentales Argument bietet sich hier allerdings kein Ansatz. (2) Auf der prozeduralen Ebene der Interaktion sind Argumentationen Verständigungsprozesse im Kontext kooperativer Wahrheitssuche über hypothetische Geltungsansprüche. Hier gelten folgende Voraussetzungen: Wahrhaftigkeit, Angabe von Gründen für die Argumentationsbeiträge. Auf dieser prozeduralen Ebene erkennt Jürgen Habermas in der Voraussetzung der reziproken Anerkennung Präsuppositionen ethischen Gehalts. 13 Siehe im einzelnen Habermas, 1983, S. 97 ff.

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8. Diskursethik als reflexive Explikation der Argumentation

(3) Die Argumentation stellt sich fernerhin als Kommunikationsstruktur dar, die es als Regeln des Diskurses zu rekonstruieren gilt: hier skizziert Jürgen Habermas die Argumentationsvoraussetzungen als Bestimmungen der idealen Sprechsituation. Die ideale Sprechsituation ist für Habermas höchste Instanz für einen rationalen Konsens. Die ideale Sprechsituation hat als normativer Begriff regulative und konstitutive Funktion für vernünftige Rede. Sie ist empirisch nicht verifizierbar. „Die ideale Sprechsituation ist weder ein empirisches Phänomen noch bloßes Konstrukt, sondern eine in Diskursen unvermeidlich reziprok vorgenommene Unterstellung [...] eine im Kommunikationsvorgang operativ wirksame Fiktion. Ich spreche deshalb lieber von einer Antizipation, von einem Vorgriff auf die ideale Sprechsituation. Dieser Vorgriff ist Gewähr dafür, daß wir mit einem faktisch erzielbaren Konsens den Anspruch auf einen vernünftigen Konsens verbinden dürfen." 14 Die Argumentationsvoraussetzungen als Bestimmungen der idealen Sprechsituation sind die idealen Symmetriebedingungen 15, die ein Argumentationsteilnehmer als hinreichend erfüllt voraussetzen muß (gegebenenfalls auch kontrafaktisch); diese Symmetriebedingungen sind der Idee nach auf die Bedingungen einer »unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft 4 (Apel) verwiesen, die von jedem kompetenten Sprecher, der einen Geltungsanspruch erhebt, unausweichlich immer schon vorausgesetzt werden mußte. Diese Voraussetzung ist nachweisbar über den zu vermeidenden Selbstwiderspruch. Es könnte gegen die These, aus dem Sprachspiel Argumentation und dessen normativen Voraussetzungen seien letzte Verpflichtungen zu vergewissern, eingewandt werden, daß das Sprachspiel Argumentation nur eines von vielen Sprachspielen sei; Scherzen oder Erzählen seien Sprechakte, die ohne normative Verpflichtungen seien. Ein solcher Einwand aber muß als dialogischer Anspruch mit Gültigkeit behauptet werden — sonst ist nichts behauptet; die Redehandlung wäre sinnlos. Das Sprachspiel Argumentieren ist unhintergehbar und es impliziert notwendigerweise dialogische Verantwortung für das, was im Sprachspiel Argumentieren vorgebracht wird. Die Regel des Diskursgrundsatzes gründet in den Sinnimplikationen des Argumentierens. Jürgen Habermas spricht von der „Alternativelosigkeit 4416 dieser die 14 Habermas, 1972, S. 180. ι 5 „Ideal nenne ich eine Sprechsituation, in der die Kommunikation nicht nur nicht durch äußere kontingente Einwirkungen, sondern auch nicht durch Zwänge behindert werden, die sich aus der Struktur der Kommunikation selbst ergeben. Die ideale Sprechsituation schließt systematische Verzerrungen der Kommunikation aus. Und zwar erzeugt die Kommunikationsstruktur nur dann keine Zwänge, wenn für alle Diskursteilnehmer eine symmetrische Verteilung der Chancen, Sprechakte zu wählen und auszuführen, gegeben ist." (Habermas 1972, S. 177) Die ideale Sprechsituation hat bei Habermas die regulative Funktion einer Supernorm, an der praktische (und auch theoretische) Diskurse orientiert sein müssen; sie wird nicht diskursiv hergestellt, sondern hat pragmatischlogisch transzendentale Eigenschaften. i6 Vgl. hierzu im einzelnen Habermas, 1983 a, S. 105.

8.3 Begründungs- und Anwendungsprobleme der Diskursethik

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Argumentationspraxis ermöglichenden Regeln; die Beteiligten einer Argumentation müssen diese Regeln als ein Faktum der Vernunft allein dadurch anerkannt haben, daß sie sich aufs Argumentieren einließen; Jürgen Habermas meint aber, daß den Argumenten notwendiger Präsuppositionen der „apriorische Sinn einer transzendentalen Deduktion im Sinne der Kantischen Vernunftkritik nicht mehr aufgebürdet werden [kann]" 17 ; denn nach Habermas ist die Beschreibung, mit der ein ,Know how 4 in ein ,Know that4 überführt wird, und das heißt: mit der das intuitive Regelwissen in ein „in gewisser Weise infallibles 44 und notwendiges Wissen transformiert wird, eine Rekonstruktion, welche für Jürgen Habermas als theoretische Beschreibung fallibel ist wie alle Theorien. Und so meint Jürgen Habermas, den Anspruch der Letztbegründung auch „unbeschadet44 preisgeben zu können. „Die Rekonstruktion allgemeiner und notwendiger Präsuppositionen [...] diese Erkenntnisbemühung des Philosophen ist nicht weniger fallibel als alles übrige [...Γ18. So bestreitet Jürgen Habermas die Möglichkeit letztbegründeter, letztgültiger Regeln der Argumentation, und damit — da diese das Fundament des diskursethischen Konzepts sind — die Möglichkeit einer Letztbegründung der Ethik. Trifft der Einwand zu? Auffällig aporetisch ist, daß das intuitive Regelwissen auf der einen Seite „in gewisser Weise nicht fallibel 44 ist, auf der anderen Seite die Rekonstruktion des Inhalts dieses Wissens fallibel sein soll; denn diese wird als theoretische Rekonstruktion behauptet. Hier liegt der Dissens, der zwischen Habermas einerseits und Apel, Böhler und Kuhlmann andererseits in der Frage besteht, ob Philosophie nur eine Wissenschaft mit falliblen theoretischen Resultaten oder eine reflexive Rekonstruktionsweise ist, die letztgültige Diskursevidenzen transzendentalpragmatisch erschließen kann. Dietrich Böhler weist darauf hin, daß die Explikation unvermeidlichen metakommunikativen Wissens überhaupt keine Hypothese einer theoretischen Rekonstruktion sei 19 . Vielmehr handelt es sich um ein strikt reflexiv eingeholtes Wissen. Nach dem Paradigma der Praxeologen (,man muß wissen, was man tut, um tun zu können, was man tut 4 ) ist dieses zunächst ein Wissen um das, was wir redend (argumentierend) tun, damit wir das tun können, was wir tun; mit der transzendentalpragmatischen Wende wird es zu einem reflexiv eingeholten Wissen um die Erfolgsbedingungen der Argumentation. 20 Dieses Wissen als die explizit gemachten Bedingungen der Möglichkeit von Verständigung mit Geltungsanspruch ist etwas Letztgültiges, Unumstößliches, wenn das Sprachspiel des Argumentierens 17 Habermas, 1983, S. 127. is Habermas, 1983, S. 129; siehe auch 1983a, S. 88,107. 19 Siehe im einzelnen Böhler, 1985, S. 304. 20 Siehe hierzu Böhler, 1986a, S. 273-280.

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8. Diskursethik als reflexive Explikation der Argumentation

und insbesondere auch des philosophischen Argumentierens mit Geltungsansprüchen (und nur so kann Begründung gelingen) einen Sinn behalten soll. 8.322 Transzendentalpragmatik Diε Apelsche Transzendentalpragmatik geht über die Habermassche Universalpragmatik (Formalpragmatik) insofern hinaus, als Karl-Otto Apel die unbegrenzte Kommunikationsgemeinschaft als logisches Universum aller sinnvollen Argumente und das dialogische Verpflichtungsverhältnis der Argumentationssubjekte als transzendentales Apriori ausweist. Karl-Otto Apel spricht von einem doppelten Apriori der realen und der idealen Kommunikationsgemeinschaft 21, Ausdrücke, die Jürgen Habermas offensichtlich vermeidet. Der Apelsche transzendentalpragmatische Apriorismus steht einerseits in der Tradition des Transzendentalphilosophen Kant, insofern er weder in vorgegebener empirischer Erfahrung noch in etwas durch logische Deduktion Ausgewiesenem gründet; der Apelsche Ansatz unterscheidet sich andererseits von der klassischen Transzendentalphilosophie Kants insofern, „als er den »höchsten Punkt4, mit Bezug auf den die transzendentale Reflexion anzusetzen ist, nicht in der »methodisch solipsistisch' angesetzten »Einheit des Gegenstandsbewußtseins und des Selbstbewußtseins' erblickt, sondern in der »intersubjektiven Einheit der Interpretation' qua Wahrheitskonsens. [...] Der Ansatz versteht sich insofern als sinnkritische Transformation der Transzendentalphilosophie, die von dem apriorischen Faktum der Argumentation als einem nicht zu hintergehenden, quasi kartesianischen Ansatzpunkt ausgeht"22. Das Argument der Nichthintergehbarkeit ist eine »metaethische1 These betreffend die logische Struktur von Argumenten als kognitive Handlungen, denen ein Anspruch auf Geltung innewohnt. Dieses Argument ist letztbegründet. Die Pointe des Letztbegründungsarguments wird klar in einer an Apel angelehnten Formulierung Kuhlmanns 23 : „Was sich nicht sinnvoll — ohne Selbstwiderspruch — bestreiten läßt, weil es bei sinnvoller Argumentation vorausgesetzt werden muß, und was sich aus denselben Gründen nicht sinnvoll — ohne petitio principii — durch Ableitung begründen läßt, ist eine sichere, durch nichts zu erschütternde Basis"24. Wem dieses fundamentum inconcussum zu verbissen cartesianisch oder zu formalistisch klingen sollte, der sei auf die schöne Wendung durch Böhler verwiesen — eine Wendung, die in der Sache nichts preisgibt und sich durch wegweisende Offenheit auszeichnet:

21 Siehe im einzelnen Apel, 1973, Bd. II, S. 359-435. 22 Ebd., S. 411. 23 Siehe Apel, 1976, S. 56 ff. 24 Kuhlmann, 1984b, S. 591.

8.3 Begründungs- und Anwendungsprobleme der Diskursethik

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„Transzendental-pragmatische Letztbegründung [...] wirft Licht auf den Weg, auf dem wir gemeinsam und friedlich Ziele finden: den argumentativen Dialog. Sie zeigt, daß der Weg des Gespräches ohne vertretbare Alternative ist und daß er uns hinreichend klar sein kann."25 Der Apelsche Apriorismus hat nichts mit metaphysischen Hinterwelten zu tun, sondern wird in strikter Reflexion auf die pragmatischen Voraussetzungen der Möglichkeit von rationaler Argumentation erschlossen; er ist allerdings insofern in dem bestimmten Sinne empiriebezogen, als er auch die geschichtliche Dimension reflektiert, in die menschliches Handeln, und damit jeder realisierte Diskurs, immer schon eingelassen ist. Jedoch Genesis und Geltung sind klar unterschieden: strikte transzendentale Reflexion auf letztere führt zu dem geltungstheoretischen Apriori der (nicht empirischen) idealen kontrafaktischen, universalen Kommunikationsgemeinschaft. 26 Der von Karl-Otto Apel gewendeten Transzendentalphilosophie „geht es primär um Reflexion auf den Sinn — und insofern auf die Sinnimplikationen — des Argumentierens überhaupt. Die allerdings ist für den, der argumentiert, im Sinne welcher Position auch immer — offenbar das Letzte , Νichthintergehbare".

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Der Begründung von ,D' und ,U' kann jetzt folgende Form gegeben werden: (1) Es gilt: Jeder Argumentationsteilnehmer steht im Apriori der kontrafaktisch antizipierten idealen, unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft/jeder kompetente Argumentationsteilnehmer muß die Bedingungen der unbegrenzten Kommunikations gemeinschaft in Hinblick auf die eigenen Voraussetzungen der Kommunikation und dem daraus zwingend sich ergebenden zu vermeidenden Selbstwiderspruch als unausweichliche Präsupposition anerkennen, sofern er nur einen Geltungsanspruch erhebt. Die Präsuppositionen sind explizit normativ gehaltvoll: Der Gehalt besteht in der Reziprozität der Anerkennung als Argumentationssubjekte. Diese Reziprozität ist in transzendentaler, strikter Reflexion vergewisserbar. Die Begründung des formalen Diskursgrundsatzes ,D' ergibt sich aus den transzendentalpragmatisch reflektierten AnerkennungsVerhältnissen als deren Folge: nur die Normen dürfen Geltung beanspruchen, die die Zustimmung aller Argumentierender als ver25 Böhler, 1985, S. 389. 26 Dies ist der Ort, wo die kritischen Argumente von Ernst Tugendhat und Helmut Girndt (sie oben Kapitel 7.2) ihre Beantwortung finden:. (a) Das kritische Argument von Ernst Tugendhat, daß die intersubjektive Übereinstimmung wohl die Folge, aber kaum das Kriterium der Geltung einer Aussage sei (siehe im einzelnen Tugendhat, 1984, S. 116), ist als Argument selber in diesem idealen Antizipationszustand aufgehoben. (b) In Hinblick auf das kritische Argument von Helmut Girndt meine ich, daß mit der Apelschen Transformation der von Helmut Girndt selber herangezogenen kantischen Position, d. h. der Voraussetzung eines idealen Reiches der Zwecke, keine wensentliche Differenzen mehr bleiben dürften. 27 Apel, 1973, S. 222.

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ntinftige Teilnehmer in einem praktischen Diskurs finden oder finden könnten. Dieser Grundsatz wird von Dietrich Böhler als formale imperative Grundnorm der Argumentation fortbestimmt: „Bemühe dich um Argumente, die auch in einer idealen Argumentationsgemeinschaft konsensfähig wären, und bemühe dich um solche Kommunikationsbedingungen, die den Bedingungen einer idealen Argumentationsgemeinschaft so nahe wie möglich kommen."28 (2) Nach Maßgabe einer normativ kommunikativen Ethik haben Gerechtigkeitsnormen den Sinn, gesellschaftliche Materien im wohlverstandenen gemeinsamen Interesse ' aller möglicherweise Betroffenen zu regeln, insoferne diese als reale Interessensubjekte und zugleich in der logischen Rolle von Argumentationspartnern sub specie einer idealen Kommunikationsgemeinschaft bzw. eines unbegrenzten Diskursuniversums auftreten oder gedacht werden würden. Die Bestreitung dieses Satzes würde die Bestreitung der Sinnbedingung von moralischen Gerechtigkeitsnormen bedeuten. Das wohlverstandene gemeinsame Interesse' ist in diesem Gedankengang das Ergebnis eines Differenzierungsprozesse: Ausgehend von den je partikularen Handlungs- und Lebensinteressen (Interessen 1. Ordnung) erfolgt durch Distanzierung jener Interessen 1. Ordnung in Hinblick auf das, was allen Betroffenen als Interesse gemeinsam ist, die Formulierung eines »gemeinsamen Interesses' (Interessen 2. Ordnung). Insoferne nun die Interessensubjekte in kontrafaktischer Antizipation Bezug nehmen auf ,alle möglicherweise Betroffenen', einschließlich zukünftiger virtuell Betroffener und ihrer zukünftigen Lebenssituation in der Welt, handelt es sich nicht um ein empririsch vorfindbares kontingentes Interesse 1. oder 2. Ordnung, sondern um das hypothetische, kontrafaktisch antizipierte ,wohlverstandene gemeinsame Interesse', welches wir in der logischen Rolle als Argumentationspartner der Wahrheits- und Richtigkeitssuche in einem Diskurs gedankenexperimentell bestimmen (Interessen 3. Ordnung). (3) Wenn (1) und (2) gilt, dann ist implizit ,U' als Geltungskriterium anerkannt; und das heißt: nur die Normen (und das schließt die Rawlsschen Gerechtigkeitsgrundsätze ein) sind gültig, deren Auswirkungen bei allgemeiner Befolgungfür die Befriedigung der Interessen jedes einzelnen von allen in kontrafaktischer Antizipation der idealen, prinzipiell unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft zwanglos akzeptiert werden können (bzw. könnten); denn: die diskursive Einlösung von Geltungsansprüchen (Argumentation) und der Sinn von Gerechtigkeitsnormen impliziert, daß ein Konsens in einem praktischen Diskurs nur dann zu erwarten ist, wenn ,U' als Geltungskriterium anerkannt und erfüllt ist. 28 Böhler, 1985, S. 377. Zu dieser verantwortungsethisch orientierten Fortbestimmung siehe Folgekapitel 8.33 und 8.34.

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Das Argument der Begründung von ,U' insbesondere als Geltungskriterium der Begründung von Gerechtigkeitsnormen ist m. E. insofern von besonderer Überzeugungskraft, als daß das Wesen von Gerechtigkeitsnormen unstreitig darin besteht, daß ihnen als Norm zur Lösung praktischer Interessenprobleme alle rational zustimmen können müssen, sodaß der sinnhafte, wesensmäßige Funktionsgehalt von Gerechtigkeitsnormen in die Begründungsstruktur von ,U' selber eingeht. ,U' hat eine kriteriologische Funktion: ,U' ermöglicht als Argumentationsregel, daß in Gerechtigkeitsfragen mit Gründen entschieden werden kann und ein rationaler Konsens über verallgemeinerungsfähige Grundsätze möglich ist. ,U' ist universal in dem Sinne, daß seine allgemeine Gültigkeit behauptet werden kann und jede Einschränkung auf bestimmte Kulturen, Personen, Lebensformen ausgeschlossen bleibt. Die Probleme faktischer gesellschaftlicher Materien und der Inhalt der Interessen sind zwar ständigem Wandel unterworfen; deren Regelung und Ausgleich allerdings ist unter dem Gesichtspunkt postkonventioneller Gerechtigkeitsansprüche nur bei Erfüllung des formalen Universalisierungsgrundsatzes ,U' zu erwarten. 8.33 Mehrstufigkeit der Ethik Kants Ethik der reinen, gesetzgebenden Vernunft und das sie bestimmende formale Prinzip der Verallgemeinerbarkeit werden transformiert zu einer Diskursethik der unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft und Formulierung eines intersubjektiv gültigen formalen Diskursimperativs der verallgemeinerten Gegenseitigkeit. 2 9 Eine „ Verfahrensnorm der Normenbegründung durch konsensuale Kommunikation bezeichnet [...] die vollständige und grundlegende Form jenes Gesetzes der Menschenwelt (des Kantischen ,Reichs der Zwecke'), dessen intersubjektive Gültigkeit niemand ohne pragmatischen Selbstwiderspruch durch eine entgegenstehende Willensmaxime verneinen kann" 30 . Dies ist die Pointe der Apelschen Transformation: die transzendentalpragmatisch begründbare „Dechiffrierung des »Reiches der Zwecke' im Sinne einer regulativen Idee menschlicher Kommunikation".31 Das spezifisch Sittliche der Diskursethik besteht in den Gegenseitigkeitsnormen des konsensual-kommunikativen Handelns, dessen reine Form die ideal vorgestellte Argumentation ist. Der ernsthaft Argumentierende hat diese normati29 Siehe im einzelnen Apel, 1973, Bd. II, S. 358 ff.; ders., 1984 (Studientexte), S. 618 ff.; ders. 1990 (MS), S. 6 f., insbesondere S. 15 ff. 30 Apel, 1984 (Studientexte) , S. 620. 31 Apel, 1990 (MS), S. 10. 11 Bausch

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ven Fundamente der unbegrenzten kritischen Kommunikationsgemeinschaft immer schon implizit anerkannt. Die Transformation der kantischen Vernunftethik nach dem Ansatz von KarlOtto Apel hat die Form einer mehrstufigen Diskursethik. Die Apelsche Architektonik unterscheidet den Begründungsteil A und Β, die gemeinsam die Diskursethik erst in den Stand setzen, die Funktionen einer politschen Verantwortungsethik zu übernehmen. Die Architektonik ist wie folgt aufgebaut: Begründungsteil A der Ethik, behandelt auf der Ebene Al: (Metaebene der Entwicklung des idealen letztbegründeten Moralprinzips ,D ' und Explikation des Universalisierungsgrundsatzes ,U') die idealen prozeduralen Prinzipien gewaltfreier Konsensverpflichtung. Das auf Ebene A l entwickelte und begründete Moralprinzip ,D' und ,U' wird auf die Ebene A2 (faktische konkrete Ebene der kontingenten Gegebenheiten) zur Prüfung gegebener oder hypothetisch erwogener Normen bezogen. Auf der Ebene A2 gilt idealisierend und von koningenten Anwendungsbedingungen abstrahierend der diskursive Konsensimperativ. Konkret inhaltliche Fragen (ob Privateigentum oder nicht, ob Streikrecht und Aussperrung oder nicht etc.) können nicht aus dem Diskursgrundsatz ,D' in Form einer direkten Ableitung deduziert werden; vielmehr bedarf es (idealisierend) auf der Ebene A2 der Vermittlung durch reale Diskurse zur Entwicklung konkreter, inhaltlich bestimmter Normen. Diese konkreten Normen auf der Ebene A2 sind immer fallibel; sie können in späteren praktischen Diskursen revidiert oder außer Kraft gesetzt werden; denn sie sind als konkret situations- und geschichtsbezogene Normen das Ergebnis realer Diskurse, und diese Diskurse in Gremien, Räten, Parlamenten leiden an den Verzerrungen und Mängeln, Zeit- und Kenntnisdefiziten. Um jedoch ihre normative Orientierung auszuweisen, müssen sie sich unter den Diskursimperativ ,D' und die regulative Idee der unbegrenzten, kontrafaktisch antizipierten idealen Kommunikations- und Argumentationsgemeinschaft stellen. Und dieses bedeutet: die Diskursergebnisse müssen einen — und sei es im Gedankenexperiment durchgeführten — virtuellen Konsensfähigkeitstest durchlaufen. Gegen den Teil A der Ethik, der von den geschichtlichen Anwendungsbedingungen des diskursethischen Moralprinzips abstrahiert, ist der Teil Β abgehoben, der die Realisierbarkeit des Diskursimperativs geschichts- und situationsbezogen reflektiert. Es stellt sich in dieser Reflektion die Frage der Realisierbarkeit des idealisierenden Moralprinzips in der gesellschaftlichen Wirklichkeit und verantwortungsbewußte Anwendung des Prinzips. Begründungsteil Β der Ethik behandelt die verantwortungsethischen Implikationen der Vermittlung des Diskursgrundsatzes JD ' und des Universalisierungsprinzips ,U' mit geschichtsbezogenen Anwendungsproblemen in nicht moralanalogen gesellschaftlichen Verhältnissen. Diese Vermittlung führt zur Explikation

8.3 Begründungs- und Anwendungsprobleme der Diskursethik

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des Ergänzungsprinzips ,E' als teleologisch aufgegebene Pflicht der Erhaltung, bzw. bestmöglichen Herbeiführung der realen Voraussetzungen für konsensualkommunikatives Verhalten. Der Begründungsteil Β wird neuerlich von Apel unterteilt in Ebene El : moralische Begründung von Zwangsbefugnisen des Rechtsstaates, und Ebene B2: moralische Vermittlung von Moralität im Sinne von Teil A mit situationsbezogenen strategischen Handeln in nicht moralischen gesellschaftlichen Verhältnisen. 32

8.34 Realisierbarkeit des Diskursimperativs und das Ergänzungsprinzip ,E' 8.341 Zumutbarkeit der Moral Angesichts der Tatsächlichkeit vorwiegend strategischer Praxis in unserer weitgehend von ökonomischen und politischen Zwängen bestimmten Welt erhebt sich die wichtige Frage der Anwendungsbedingungen moralischen Verhaltens, und das heißt hier die Frage nach den realen Möglichkeiten der Anwendung des Imperativs der diskursethischen Grundnorm diskursiver Konsensbildung in faktisch gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen. Der Schriftsteller Berthold Brecht spitzt das Problem zu einer Unmöglichkeitsbehauptung der Moral zu: in den bürgerlichen antagonistischen Gesellschaftsverhältnissen sei es unzumutbar, moralisch zu handeln, da die Befolgung moralischer Handlungsnormen in antimoralischen Gesellschaftsverhältnissen für den moralisch Handelnden ruinöse Folgen hat. 33 32 Siehe im einzelnen Apel, 1991 insbesondere S. 36-42. 33 Vgl. Brecht, 1964; Shen Te, ,der gute Mensch von Sezuan', singt nach der bitteren Erfahrung des Scheiterns naiv moralischen Verhaltens in der Wirklichkeit das Lied von der Wehrlosigkeit der Götter und des Guten ( „ . . . die Guten können in unserem Land nicht lang gut bleiben / wo die Teller leer sind, raufen sich die Esser . . . ") und das ,Lied vom Stankt Nimmerleinstag': („Und an diesem Tag zahlt sich die Güte aus/und die Schlechtigkeit kostet den Hals / und Verdienst und Verdienen, die machen gute Mienen / und tauschen Brot und Salz — Am Sankt Nimmerleinstag. / Da tauschen sie Brot und Salz.") (ebd., S. 65 f.) und verwandelt sich sodann in die Rolle des strategisch handelnden, durchsetzungsstarken Vetter Shui Ta, um sich auf diese Weise in der schmutzigen Realität zu behaupten. Lenin hat die Brechtsche Unmöglichkeitsthese der Moral in der bürgerlichen Gesellschaft antagonistischer Selbstbehauptungssysteme noch überboten durch die Behauptung, Moral sei unnötig. Unter Moral verstand er die gültige normative Regelung konkurrierender Ansprüche in der kommunistischen Gesellschaft (siehe Lenin, S. 89); denn konkurrierende Ansprüche gibt es in der kommunistisch entwickelten Gesellschaft nicht mehr, jeder nimmt nach seinen Bedürfnissen. Die Brecht-Lenin-Paradoxie der Unmöglichkeit / Überflüssigkeit der Moral wird mehrfach von Karl-Otto Apel angeführt (Apel, 1986a, S. 16 sowie 1988, S. 126 f.). Die Paradoxie behauptet, Moral hätte überhaupt keine Funktion, denn sie sei entweder nicht zumutbar oder nicht nötig. Karl-Otto Apel nimmt die Frage der Zumutbarkeit ernst, und er untersucht die geschichtsbezogene Anwendung des Prinzips ,U h '. Apels Ansatz: man darf nicht abstrahieren von den soziokulturellen Anwendungsbedingungen der Moral, 11*

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8. Diskursethik als reflexive Explikation der Argumentation

Das Problem der Zumutbarkeit der Moral ist in zwei Hinsichten 34 in den Blick zu nehmen: (1) Die Zumutbarkeit moralisch verpflichteten Handelns nach dem Diskursgrundsatz ,D' in nicht moralanalogen gesellschaftlichen Verhältnissen in Hinblick auf die Folgen für die prima facie berechtigten Lebensansprüche der Handelnden selber. Es stellt sich die Frage: in welchem Sinn kann einem interessegeleiteten Menschen, der in antagonistischen Gesellschaftsverhältnissen unter hartem Realitätsdruck mit den anderen, ebenfalls durch partikulare Interessen geleiteten Individuen in Konkurrenz steht, strikt moralisches Verhalten vernünftigerweise zugemutet werden? Ist — um einen Extremfall zu nehmen — den Menschen der Elends- und Hungerklassen der dritten und vierten Welt mit ihren berechtigten Lebensansprüchen ein solches konsensorientiertes Handeln in der real gegebenen, meist antimoralischen, antikommunikativen geschichtlichen Praxis vernünftigerweise überhaupt zuzumuten? das heißt: darf in solchen Situationen ein Handeln, das sich auf eine kontrafaktische ideale Kommunikationsgemeinschaft bezieht, gefordert und erwartet werden? (2) Die Zumutbarkeit moralverpflichteten Handelns nach dem Diskursgrundsatz ,D' in nicht moralanalogen gesellschaftlichen Verhältnissen in Hinblick auf die Verantwortlichkeit für andere. Soll ein moralgeleiteter Mensch, der eine naturwüchsige Verantwortung für andere hat (Eltern für ihre Kinder) oder eine Verantwortung für andere übernommen hat (gewählte Repräsentanten) dem Diskursimperativ folgend den idealen Konsens der Argumente praktisch suchen in einer faktischen Welt, deren harte Realität den diskursethischen Idealisierungen diametral entgegengesetzt ist? Ist einem Arbeitgebervertreter oder einem Gewerkschaftsvertreter in Tarifgesprächen, jeweils wissend von den antikommunikativen strategischen Praktiken derartiger konfrontativer Verhandlungen, eine unmittelbare Anwendung der diskursethischen Imperative in ihrer Rolle als Interessenvertreter zuzumuten? Die bisher skizzierten Verfahren der Diskursethik rechnen mit idealisierten Diskursverhältnissen, die in der Realität der Lebenswelt nicht zu finden sind. Was noch nicht gezeigt ist und jetzt als Frage zur Beantwortung ansteht, ist das Problem der Diskursethik als Handlungsorientierung unter den Bedingungen der vielmehr sind diese verantwortungsethisch als Vermittlungsprolem (normatives Ideal / gesellschaftliche Realität) zu bearbeiten, (siehe im einzelnen insbesondere Apel, 1990 (MS)). 34 Diese Hinsichten sind angeregt durch Dietrich Böhlers Doubrovnik-Vortrag (April 1989). Böhler gliederte allerdings in Zumutbarkeit versus Verantwortbarkeit und letztere noch weitergehend in ökologische Folgen / Zukunftsverantwortung und politische Erfolgsverantwortung im Sinne der kurz- und mittelfristigen Interessen Wahrnehmung. Die Hinsicht der Zumutbarkeit terminiert in den Folgen für den Handelnden selber. Die Hinsicht der Verantwortbarkeit terminiert in den Folgen für die durch die Handelnden Repräsentierten.

8.3 Begründungs- und Anwendungsprobleme der Diskursethik

165

realen Verhältnisse, die meist durch ungenügende Voraussetzungen für diskursive Konsensbildung in den Feldern der Interessenkonflikte gekennzeichnet sind. Es gibt zwar Interpretationen des diskursethischen Programms als unmittelbare, naiv sorglose Anwendung des diskursethischen Handlungsprinzip U h i n der realen Welt; so zum Beispiel die unqualifiziert auf die Diskursethik angewandte Aktualisierung des kategorischen Imperativ Kants wie folgt: „Handle so, als ob Du Mitglied einer idealen Kommunikationsgemeinschaft wärst!" 35 . Eine solche idealisierende unmittelbare Anwendung diskursethischer Einsichten wäre jedoch eine naiv gesinnungsethische Handlungsweise und im Sinne von Max Weber verantwortungsethisch nicht vertretbar, da die Folgen einer sorglos unmittelbaren Anwendung des Moralprinzips in unmoralischen gesellschaftlichen Verhältnissen unbedacht blieben. Nach Jürgen Habermas schließt die diskursethische Fassung des Moralprinzips zwar eine rein gesinnungsethische Verengung des moralischen Urteils aus. Jürgen Habermas expliziert die Diskursethik nur als eine formale Verfahrensethik zur Prüfung der Legitimation von Normen 36 . Karl-Otto Apel expliziert die Diskursethik über Habermas hinausgehend als Verantwortungsethik mit einem spezifischen Verpflichtungs- und verantwortungsethischen Sinn. Er pointiert sogar: es gibt Fälle und besondere Fragen (vor allem und gerade diejenigen einer Makroethik), bei denen eine unbefangene Befolgung der diskursethischen konsensuellen Prozedur gemäß ,D' und , U h i unverantwortlich wäre, so daß sie nicht nur nicht vorgeschrieben werden darf, sondern gegebenenfalls sogar aus verantwortungsethischen Gründen abgelehnt werden müsse. Eindringlich macht Apel darauf aufmerksam 37, daß meist nicht damit gerechnet werden kann, daß in der Handlungsrealität von Selbstbehauptungssystemen die Gegenspieler bereit sind, sich unter die regulative Idee einer unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft zu stellen. Denn die Anwendung der Prozedur U h hieße zweierlei: zum einen: den praktischen Diskurs zu führen, in dem nur sinnvolle Argumente zählen und in dem alle den Konsens der sinnvollen Argumente suchen; zum anderen: Handlungen auch in der realen Lebenspraxis nach den präsumtiven Ergebnissen eines solchen Diskurses einzurichten.

35 Pieper 1985, S. 172. Annemarie Pieper formuliert diesen offensichtlich auf die Diskursethik bezogenen, jedoch zu kurz gegriffenen Imperativ als den 3. Typus der insgesamt von ihr formulierten 7 Grundtypen ethischer Theorie (siehe im einzelnen ebd., S. 140-175). 36 Dietrich Böhler kritisiert die Verwechselung der Verantwortungsebene mit der idealisierenden Legitimationsebene durch Habermas (siehe im einzelnen Böhler, 1991 a, Anm. 13): Die Rücknahme der Diskursethik auf eine formalistische und deontologische Verfahrensethik auf der idealisierenden Legitimationsebene verfehle das Max-WeberProblem der Verantwortung für die Folgen. 37 Vgl. hierzu Apel, 1984, S. 613 ff.; 1986a, S. 15, 21; 1988, S. 128 ff., 299 ff. Siehe auch Böhler, 1989.

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8. Diskursethik als reflexive Explikation der Argumentation

In gesellschaftlichen Verhältnissen, die durch strategisches Handeln der Menschen und durch die systemrationalen partikularen Subsysteme (Unternehmen, Verbände, Parteien und sonstige Interessengemeinschaften) gekennzeichnet sind, wäre die unmittelbar sorglose Anwendung des diskursethischen Imperativs konsensual-argumentativer Diskurse eine gesinnungsethische Handlungsweise, auf die die Max-Weber-Kritik zutrifft: die naive Anwendung des prozeduralen Diskursimperativs ,D' ist Handelnden, die in antagonistischen Konkurrenz- und gegebenenfalls sogar Kampfsituationen Ziel- und Erfolgsverantwortung tragen und die in gesellschaftlich realen Funktionszusammenhängen regelungsbedürftige Materien in zeitlich begrenzten Fristen entscheiden müssen, verantwortungsethisch nicht vertretbar, in der Politik sogar eine „Todsünde" (Max Weber). 38 Die Folgen der Handlungen müssen in den geschichtlich realen Situationen unter (verantwortungs-) ethischen Gesichtspunkten berücksichtigt werden. In einer strategischen und oft amoralischen Praxis ist die unbefangene Anwendung der Norm „Suche den Konsens der Argumente" nicht anwendbar.

8.342 Ergänzungsprinzip ,E' Durch welches ethisches Prinzip soll sich nun aber in einer Situation strategisch bestimmter, eventuell sogar antagonistischer gesellschaftlicher Verhältnisse moralisches Handeln leiten lassen? Es geht mit Karl-Otto Apel „um die verantwortbare Anwendung der idealen Norm unter realen Bedingungen" 39 . Karl-Otto Apel fordert angesichts dieses Befundes eine Vermittlung zwischen strategischem und konsensual-kommunikativem Verhalten als notwendige Ergänzung der letztbegründeten Diskursethik: „Die Grundnorm der Kommunikationsethik selbst muß noch zu einem regulativen Prinzip der Vermittlung, und das heißt: zum Prinzip einer moralischen Strategie werden" 40. Die moralische Pflicht zum strategischen Handeln im faktischen Spannungsfeld der Realität und dem kontrafaktisch antizipierten Ideal gehört nach Apel selbst noch zur „unbedingten Pflicht, die wir im Argumentieren immer schon anerkannt 38 Siehe im einzelnen: Max Weber, 1973, S. 167-185. Nach Max Weber ist dies der entscheidende Punkt: alles ethisch orientierte Handeln steht unter zwei gegeneinanderstehenden, grundverschiedenen Maximen: der »gesinnungsethischen4 und der »verantwortungsethischen'; der Gesinnungsethiker „tut recht, und stellt den Erfolg Gott anheim", der Verantwortungsethiker bedenkt die Folgen und „rechnet mit [...] [den] durchschnittlichen Defekten der Menschen — er hat eben, wie Fichte richtig gesagt hat, gar kein Recht, ihre Güte und Vollkommenheit vorauszusetzen, er fühlt sich nicht in der Lage, die Folgen des eigenen Tuns, soweit er sie voraussehen kann, auf andere abzuwälzen" (ebd., S. 175). 39 Apel, 1984, S. 631, siehe auch 1988, S. 357-369. 40 Apel, 1984, S. 632.

8.3 Begründungs- und Anwendungsprobleme der Diskursethik

167

haben" 41 . Strategie heißt hier eine teleologische Orientierung zur Herstellung der in der Realität (noch) nicht oder nur partiell existierenden Bedingungen konsensualverpflichteten kommunikativen Handelns. Die Strategie wird hier — ganz im Unterschied zur moralisch kriterienlosen Phronesis der aristotelischen Tradition 4 2 — gedacht nach dem Muster einer praktischen Klugheit die sich der prinzipiellen Konsensfähigkeit verpflichtet weiß. Karl-Otto Apel schlägt in einem ersten Angang zunächst zwei Imperative vor: 1. „Bemühe Dich stets darum, zur langfristigen Realisierung solcher Verhältnisse beizutragen, die der Realisierung der idealen Kommunikationsgemeinschaft näherkommen." 43 2. „Trage stets dafür Sorge, daß die schon existierenden Bedingungen der möglichen Realisierung der idealen Kommunikationsgemeinschaft bewahrt werden [.. ,]". 4 4 Die realen kontingenten Voraussetzungen des Handelns in lebensweltlichen Kontexten werden immer abweichen von den kontrafaktisch antizipierten idealen Voraussetzungen der unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft. Es besteht die prinzipielle Differenz zwischen den empirisch realen und den idealen Verhältnissen, wobei letzteren als regulative Idee im Sinne Kants nichts Empirisches anhaftet. Die regulative Idee ist jetzt: näherungsweise Realisierung der kommunikativen Anwendungsbedingungen für die Diskursethik. Sie hat den Charakter einer verantwortungsethischen moralischen Strategie 45, deren Telos die approximative Herstellung der ,idealen4 Bedingungen selbst ist. Dieses Telos ist nach Karl-Otto Apel mit der notwendigen Anerkennung des Diskursprinzips mitgesetzt und konstituiert so das Ergänzungsprinzip ,E ( zum Normenbegründungsprinzip ,U'. 4 6 41

Siehe im einzelnen ebd., S. 632 ff. 42 Vgl. hierzu Böhler, 1984, S. 313-351. 43 Apel, 1984, S. 633. 44 Ebd. 45 Matthias Kettner spricht von einer ,Strategiekonter strategie' als der verantwortungsethischen Handlungsrationalität, die in nicht moralanalogen Verhältnissen antagonistischer strategischer Handlungspositionen zur Anwendung zu bringen ist. Dietrich Böhler präzisiert den Status der moralischen Strategie im Zusammenhang mit der Begründungsreflexion der Diskursethik und ihres „doppelt strukturierten Moralprinzips", indem er in das Prinzip ,U' das Postulat einer strategischen Erfolgsverantwortung einbezogen sieht: „Die Bemühung um die Annäherung an die Bedingungen eines idealen Diskursuniversums und die Pflege des zu diesem Zwecke Erhaltungswürdigem soll in dem Maße strategisch erfolgen, als solche Strategien — gemäß D und U — gerechtfertigt sind, um amoralische Gegenstrategien zu neutralisieren (JJ stra t)" (Ver Böhler, 1991a, S. 7). 46 Siehe im einzelnen Apel, 1986a, S. 26-29 sowie 1988, S. 141 ff. und S. 299-305. Die Benennung »Ergänzungsprinzip4 durch Karl-Otto Apel könnte zu der Vermutung Anlaß geben, daß das Ergänzungprinzip ,E' quasi nachläufig nach U rangiert. Der Apelschen Auslegung entsprechend ist es jedoch gleichursprünglich gesetzt; das Prinzip

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8. Diskursethik als reflexive Explikation der Argumentation

Die Pointe des Ergänzungsprinzips liegt in folgendem: die Anwendung der postkonventionellen Diskursethik auf die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse mit Interessenkonflikten konkurrierender Akteure ist nicht nur eine Frage der — qua Urteilskraft — klugen Anwendung des Diskursgrundsatzes in komplexen lebensweltlichen Situationen, vielmehr stellt sich das Problem der Herleitung der noch nicht hinreichend realisierten Anwendungsbedingungen selbst als ethisches Problem. M i t dieser Reflexion geht Karl-Otto Apel deutlich und substantiell unterschieden über Jürgen Habermas hinaus; nach Habermas verlangt die Diskursethik als Formalpragmatik eine „praktische Lebensklugheit bei der Regelanwendung", „hermeneutische Leistungen der kontextsensitiven Anwendung allgemeiner Normen", auch „Lernprozesse" 47 — nicht aber expliziert Jürgen Habermas eine verantwortungsethisch aufgegebene, ergänzende Norm: approximative Herleitung der postkonventionellen Anwendungsbedingungen der Diskursethik. Jürgen Habermas nimmt die Diskursethik auf eine rein formale deontologische Verfahrensethik zurück, welche ausschließlich formale Geltungskriterien für die Legitimation von Normen bereitstellt. Karl-Otto Apel spricht in Hinblick auf die bestehenden realen Verhältnisse von der Notwendigkeit einer „Interimsethik" 48 , die den geschichtlichen Übergang von den bestehenden kontingenten gesellschaftlichen Verhältnissen zu den noch nicht hinreichend realisierten postkonventionellen Anwendungsbedingungen bestimmen soll. Damit formuliert er eine Krisenproblematik, die Jürgen Habermas wie folgt kennzeichnete: „Überall dort, wo die bestehenden Verhältnisse für die Forderungen einer universalistischen Moral der pure Hohn sind, verwandeln sich moralische Fragen in Fragen der politischen Ethik" 49 . Jene „Verwandlung" wirft aber schwierige Fragen auf: das diskursethischprozedural begründete moralische Urteil ist unter den realen Bedingungen nicht — oder zumindest nicht immer — aktualisierbar; es wird von einem Handelnden realiter — zumindest gelegentlich — in seiner Anwendung außer Kraft gesetzt, und dieses zugunsten einer durch Handlungszwang charakterisierten „politischen Ethik", die offenbar nicht formal prozedural ist und den spezifisch inhaltlichen Aspekt einer Politik hat. Apel klärt dieses Problem wie folgt: Die formal prozedurale Diskursethik tritt im Modus eines Inhalts — nämlich ihrer eigenen Anwendungsbedingungen — ,E' gehört wie das Prinzip U zum letztbegründeten Teil der Apelsschen Ethik. Dietrich Böhler bevorzugt daher, das Apelsche Prinzip ,E' u r e ß u l a t l v (U r e g ) zu nennen, bzw. •y reguiativ-teieoiogisch (Ureg-tei); Dietrich Böhler spricht von einer „Doppelstruktur des diskursethischen Moralprinzips". Das verfahrensmäßige Geltungskriterium U ist mit dem „substanziellen Femziel U r e ß verwoben", in dem Sinne, daß dieses die Realisierungsbedingungen für Diskurse und U angibt, (siehe im einzelnen Böhler, 1991, S. 5 ff. sowie 1991 a). 47 Vgl. Habermas, 1983, S. 193 f. 48 Apel, 1988, S. 134. 49 Habermas, 1986, S. 30.

8.3 Begründungs- und Anwendungsprobleme der Diskursethik

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auf, dessen approximative Realisierung aufgegeben ist. Das geschieht bei Apel in dem Begründungsteil Β der Ethik, der für den geschichtsbezogenen Übergang zur Anwendung der Diskursethik (Begründungsteil A der Ethik) zuständig ist und der das verantwortungsethische Ergänzungsprinzip ,E4 expliziert. Zwar erwartet auch Apel Schwierigkeiten auf der Ebene der philosophischen Begründung bei der Fragestellung, ob ,E4 selbst noch den Charakter einer universalen Regel hat — oder ob ,E4 letztlich doch nichts anderes darstelle als einen Appell an die Urteilskraft 50 . Im Ergebnis aber vertritt Apel die These: „Aus der Ethik [wird] ein jederzeit verbindliches Sollensprinzip hergeleitet, das — wie Kant es vorsah — ein frustrationsresistentes Engagement für den moralischen Fortschritt zur Pflicht macht [.. .]." 51 Der Diskursimperativ ist also in den meisten lebenspraktischen Problemfällen nicht unmittelbar und unbefangen anwendbar. Das Ergänzungsprinzip ,E4 ist allerdings für die Regelung von zur Entscheidung anstehenden Moralproblemen auch nicht direkt geeignet; die Handlungsorientierung nach dem Ergänzugsprinzip ,E4 soll ja erst die Realisierungsbedingungen für die approximativ »ideale4 Kommunikationsgemeinschaft aufbauen. Führt also das diskursethische Programm zu Abstracta, die ohne Regelungskraft in den realen lebenspraktischen Zusammenhängen sind? Nehmen wir wieder das Beispiel der Elendsklassen der Länder der Dritten Weit und ihres Überlebenskampfes. Ihre Kämpfe und Strategien müssen — um als moralisch gelten zu können — diskursiv legitimierbar sein. In den realen nicht moralanalogen, oft sogar unmoralischen Verhältnissen ist die naive Aktualisierung des Diskursimperativs nicht verantwortbar. Die Legitimierbarkeit und kritische Kontrolle ihrer Handlungen wird allerdings faktisch oft von intellektuellen Eliten solcher Länder in Anspruch genommen. Damit wäre der reale diskursive Legitimationsprozeß ihrer Handlungen eingeschränkt auf die ,eliteninterne 4 Diskussion und Urteilskraft einer oft selbsternannten Avantgarde, die behauptet, zu wissen (gedankenexperimentell antizipiert zu haben), was das wohlverstandene Interesse (und damit der virtuelle Konses) der Betroffenen sei und damit zu wissen, was ,gerecht4 sei. Ist bei solchen Gegebenheiten realer Strukturen das Paradigma praktischer Diskurse aufzuheben? Was soll in solchen geschichtlichen Situationen gelten? Mir scheint hier ein theoretisch schwieriges und in realen Kontexten komplexes Vermittlungsproblem von Idealität und Realität zu liegen, dessen praktische Relevanz wohl zum Problembestand der modernen Menschheit gehört: konkretes so Vgl. hierzu Apel, 1988, S. 145. 5i Apel, 1990, S. 34. So auch Böhler (1991a, S. 23 ff.); Böhler spricht von dem „doppelt strukturierten Moralprinzip" einer nicht formalistisch, sondern dialektisch angesetzten Diskursethik, die darauf angelegt ist, die dialektische Spannung zwischen Idealität des verbindlichen Moralprinzips D und U und der realen Kommunikationsgemeinschaft diskursiv abzuarbeiten (siehe im einzelnen ebd., insbesondere S. 27-28).

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8. Diskursethik als reflexive Explikation der Argumentation

moralisches Handeln und seine Zumutbarkeit und seine Verantwortbarkeit — ein Handeln, das in konkreten lebenspraktischen Situationen zu Normenkollisionen führen kann, für die einfache Lösungen nicht auf der Hand liegen. Direkte Antworten auf konkrete Anwendungsprobleme in realen Situationen sind aus dem formalen idealisierenden diskursethischen Grundsätzen nicht ableitbar. Der inhaltlich bescheidene, wenngleich unverlierbar wichtige Ertrag des diskursethischen Programms ist — soweit ich sehe — der deontologische Auftrag, im Sinne des Ergänzungsprinzips ,E' Voraussetzungen für realitätsbezogene kommunikative Lösungsmöglichkeiten den institutionellen Lösungsrahmen zu erarbeiten (a), und die Bereitstelltung eines begründeten Universalisierungsgrundsatzes , U \ der Kriterien für die Gültigkeitsprüfung einer Gerechtigkeitsnorm benennt (b). Der in antagonistischen Kontexten moralisch Handelnde, der aus verantwortungsethischen Gründen diskursive Verfahren nicht aktualisiert, weiß sich nichtsdestoweniger dem diskursethischen Prinzip verpflichet und wird eine gedankenexperimentelle Prüfung für sich selbst vornehmen. Handelnde werden aber immer dem Risiko des falschen Urteils unterliegen, und zwar sowohl in Einschätzung der kommunikativen Situation wie auch in konkreten Entscheidungen von Sachproblemen. Hier liegt das Moment der Bereitschaft moralischer Schuldübernahme (Bonhoefer) gegenüber der Kommunikationsgemeinschaft; im konkreten Urteil zu irren gehört zur conditio humana, und Schuld zu übernehmen, gegebenenfalls ex post einzugestehen, zu dem gereiften moralischen Urteil.

9. Weiterführende Diskussion und Aufhebung der Rawlsschen Position in diskursethischer Perspektive 9.1 Status der Intuition in der Rawlsschen Theorie Hare kritisiert den Rawlschen Ansatz wie folgt: „Since the theoretical structure is tailored at every point to fit Rawls' intuitions, it is hardly surprising that its normative consequences fit them too — if not, he would alter the theory [ . . . ] 1 Sind also Intuitionen letzter Bezugspunkt der Rawlsschen Theorie? Rawls intendiert eine „ Z u r ü c k d r ä n g u n g , aber nicht die völlige Ausschaltung der Intuition" 2 . Es gibt für Rawls keinen Grund für die Annahme, man könne bei der Entfaltung von Gerechtigkeitsgrundsätzen um jede Berufung auf Intuition herumkommen. Ich bestreite nicht die Wichtigkeit von Intuitionen; sie sind meist das genetisch erste. Eine intuitionistische Gerechtigkeitsvorstellung kann wichtige Kernsätze formulieren, deren Verbindlichkeit allerdings offen bleibt. Ein intuitiv verankerter moralischer Satz ist nicht schon deshalb richtig, weil er intuitiv für richtig gehalten wird. Für das philosophische Bemühen stellen derlei Sätze das Material dar, das es durch philosophische Reflexion zu bearbeiten gilt. Es kann nicht angehen, mit einem Appell an die Intuition die mühevolle argumentative Arbeit am Problem zu erledigen. Das zeigt sich spätestens dann, wenn zwei Gerechtigkeitsintuitionen sich kontrovers gegenüberstehen, die intuitive Evidenz als Folge in die Krise gerät und man sich genötigt sieht, ihre Richtigkeit auszuweisen. Damit ist gemeint: das mit dem Anspruch auf Gültigkeit Intuierte muß seine Richtigkeit durch den Aufweis von rationalen Gründen klären. Und die Klärung kann nur argumentativ erfolgen — dieser Weg ist alternativelos. Rawls hat die ideale Vorstellung, die Argumentation in seiner Theorie solle „letzten Endes streng deduktiv sein", „eine Art moralischer Geometrie" 3. Dieser Vorstellung wäre dann entsprochen, wenn die zwei Grundsätze der Gerechtigkeit zwingend begründet wären; dann könnte aus den Grundsätzen der Gerechtigkeit formallogisch deduziert oder zumindest weiterentwickelt werden. Aber — so muß auch Rawls zugeben — ι Hare, 1975, S. 84. 2 Rawls, 1975, S. 64. 3 Rawls, 1975, S. 143.

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9. Rawlssche Position in diskursethischer Perspektive

„leider werden die Gedankengänge, die ich vorlegen werde, weit dahinter zurückbleiben, indem sie durchweg in hohem Maße intuitiv sind"4. Und: „Die Argumentation für die beiden Grundsätze [...] ist nicht formal und kein Beweis, sie beruft sich auf die Intuition als Grundlage der Gerechtigkeitstheorie" 5. Rawls gibt seine Position letztlich klar an: „ I held that the two principles must be agreed in the few pair-wise choices that I considered. My argument was at best intuitive, although it may not be impossible to find a formal proof' 6 . Es erheben sich also die Fragen: (1) was genau versteht Rawls unter »Intuition4? (2) welches ist der Status der Intuition im Rahmen seiner Theorie ? Zu (1): Der Intuitionismus im herkömmlichen Sinne behauptet eine unmittelbare Evidenz im Hinblick auf die Notwendigkeit und Bestimmtheit erster moralischer Grundsätze. Rawls faßt „den Intuitionismus weiter und allgemeiner als üblich: als die Lehre, es gebe eine nicht weiter zurückführbare Familie von ersten Grundsätzen, aus denen durch wohlüberlegtes Urteil eine möglichst gerechte gewichtete Kombination herzustellen ist [.. - r 7 , ohne daß auf Kriterien höherer Ordnung zur Bestimmung des richtigen Gewichts der konkurrierenden Gerechtigkeitsgrundsätze rekurriert wird; es erfolgt „eine unmittelbare Berufung auf unser wohlüberlegtes Urteil zur Gewichtung der Grundsätze"8. Und: „Das Wesentliche der intuitionistischen Auffassung ist [...] die hervorragende Rolle der Intuition, die von keinem ersichtlichen ethischen Konstruktionsmerkmal angeleitet wird 449 . Die weite und damit auch die herkömmliche Fassung des Intuitionismus meint Rawls widerlegen zu können durch den Aufweis von „ersichtlich ethischen Kriterien 44 (die es ja nach der intuitionistischen Auffassung nicht gibt), aus denen die Gewichte der Gerechtigkeitsvorstellungen folgen und „die wir nach unseren wohlüberlegten Urteilen für die verschiedenen Grundsätze für angemessen halten 4410 . Und mit diesen Kriterien bezieht sich Rawls auf die Wahlsituation des

4 Ebd. 5 Rawls, 1975, S. 210; siehe auch S. 147, S. 234. 6 Rawls, 1974 b, S. 649. 7 Ebd., S. 52. 8 Ebd., S. 53. 9 Ebd, S. 59. Ebd.

9.1 Status der Intuition in der Rawlsschen Theorie

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Urzustandes und die Gründe für die Wahl, deren Gültigkeit er im Überlegungsgleichgewicht methodisch gesichert sieht. Rawls will vermeiden, daß die Beteiligten im Urzustand ihr Schicksal moralischen Intuitionen anheimstellen, die sie später von ihrer speziellen sozialen Wirklichkeit haben — daher entscheiden die Beteiligten im Urzustand nicht nur konkrete Gerechtigkeitsgrundsätze, sondern sie formulieren sogar lexikalische Vorrangregeln bei der Anwendung der Grundsätze, sodaß intuitive Evidenzen und Abwägungsgesichtspunkte in Fällen konfligierender Gerechtigkeitsgrundsätze von vorneherein ausgeschieden bleiben. Zu (2): Wenngleich Rawls sich seinem eigenen Anspruch nach also nicht als Intuitionist verstanden wissen will, der bei der Entwicklung sowie bei der Abwägung und Gewichtung der Grundsätze auf intuitive Evidenzen rekurriert, so konzediert er doch, daß seine Überlegungen „an ihrem Grunde auf die Intuition zurückgreifen)" 11 , und „beruft sich auf die Intuition als Grundlage der Gerechtigkeitstheorie" 12 . Die zitierten Textstellen lassen vermuten, daß Intuitionen in der Rawlsschen Theorie der Gerechtigkeit einen ambivalenten Status haben: a) Auf der einen Seite glaubt Rawls Gerechtigkeitseinsichten und der Prinzipienintuition der Fairneß in einer kohärenten Theorie einen konsistenten Ausdruck gegeben zu haben. Kohärenz soll die Intuition bestätigen. „Ziel ist, wie immer, die Angabe einer Gerechtigkeitsvorstellung, die, wie sehr sie sich auch auf die Intuition stützen mag, dazu beiträgt, daß sich unsere wohlerwogenen Gerechtigkeitsurteile einander annähern"13. b) Auf der anderen Seite ist Rawls nicht in der Lage, die logische Gültigkeit der theoretischen Voraussetzungen, der Prämissen seiner Theorie, zu belegen. Rawls beruft sich daher auf die Intuition als Grundlage der Theorie. Rawls eigene Intuitionen sind ausgedrückt in den Prämissen des Urzustandes, und dieses sind: die Bedingung der Gleichheit (1), die Bedingung des vorausgesetzten Gerechtigkeitsinns (2) und die daraus sich ergebende Prinzipienintuition der Fairneß (3). Die Intuitionen von Rawls finden auf der Ebene statt, die Tugendhat die „Nullstufe" nannte14; auf dieser Stufe intuiert Rawls die grundlegenden Prämissen: Egalität, Gerechtigkeitssinn, Fairneß. c) Ferner appelliert Rawls — wie gezeigt wurde — häufig an die Intuition bei der Lösung von Anwendungsproblemen der Gerechtigkeitsnormen in realen Verhältnissen. π Ebd., S. 147. 12 Ebd., S. 210. 13 Ebd., S. 234. 14 Siehe oben Kapitel 4.132.

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9. Rawlssche Position in diskursethischer Perspektive

Gefragt sind jetzt zur Behebung des Begründungsdefizits geltungslogische Maßstäbe zur Prüfung der Rationalität der Intuitionen, die die Grundlage der Rawlschen Theorie ausmachen. Auf diese Weise sollen die Prinzipienintuitionen von Rawls mit guten Gründen gültig erwiesen werden. Die Diskursethik stellt m. E. das gefragte Prinzip bereit. Zwar beansprucht sie nicht, „aus ihrem universal gültig unterstellten Prinzip auch universalgültige Normen oder Werte der Moral oder des Rechts, die auf die geschichtliche Situation anwendbar wären, deduzieren zu können." 15 Sie ist vielmehr — wie schon vorerwähnt — eine mehrstufige Ethik: a) Stufen der Argumentationsreflexion: die Argumentationsreflexion hat zum Resultat das formale diskursethische Grundprinzip. Das Grundprinzip der Diskursethik integriert das formale Legitimationsprinzip des Diskursgrundsatzes D und die in dem Diskursgundsatz mitgesetzte Pflicht, die Realisierungsbedingungen für D herbeizuführen, bzw. zu verbessern. Es lautet in der bereits zitierten Formulierung Dietrich Böhlers:

„Bemühe dich um Argumente, die auch in einer idealen Kommunikations gemeinschaft konsensfähig wären, und bemühe dich um solche Kommunikationsbedingungen, die den Bedingungen einer idealen Argumentationsgemeinschaft so nahe wie möglich kommen. " 16 Das Grundprinzip fordert eine in praktischen Dikursen einzulösende konsensual-kommunikative Begründung bzw. Legitimation der konkreten Normen sowie die Herbeiführung dieses ermöglichender Realisierungsbedingungen. Das Grundprinzip G ist nach Apel, Böhler und Kuhlmann letztbegründet. b) Stufen der konkreten Handlungsweisen: das Grundprinzip ist auf die konkrete Ebene der vorgegebenen Situationen zu beziehen. Auf dieser Ebene (in der Apelschen Architektonik Ebene A2) der Anwendung des Moralprinzips in realen praktischen Diskursen zur Prüfung konkreter, gegebenenfalls hypothetisch erwogener Normen werden die Diskursergebnisse immer fallibel sein., d. h. sie gelten als revidierbar. Die Realisierungsbedingungen dieses Anwendungsdiskurses sind dabei immer auch rücksichtlich der gegebenen geschichtlichen Situation verantwortungsethisch zu reflektieren.

15 Apel, 1988, S. 219. 16 Böhler, 1985, S. 377.

9.2 Aufhebung des Rawlsschen Urzustandes

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9.2 Aufhebung des Rawlsschen Urzustandes und des entscheidungstheoretischen Ansatzes im ,idealen Antizipationszustand4 in der realen Kommunikationsgemeinschaft Rawls wendet in heuristischer Absicht das Maximin-Theorem auf die Wahl der Gerechtigkeitsprinzipien gemäß der von Morgenstern und Neumann entwikkelten Rationalität der Spieltheorie an. Diese gibt bekanntlich ein strategisches Verfahren der rationalen Analyse von Entscheidungen bei mehreren independenten Akteuren, unvollständiger Information und Unsicherheit an, in welchem die Akteure in quantifizierbarer Weise ihre Verluste minimieren (Maximin-Theorem). Eine Entscheidung gilt dem Maximin-Theorem gemäß dann als rational, wenn mittels eines leidenschaftslosen und moralisch uninteressierten Informations- und Kalkulationsprozesses der persönliche Vorteil maximiert wird, indem das Risiko des Verlustes minimiert wird. Es handelt sich dabei um eine Klugheitswahl, beruhend auf präzisen logischen Operationen, d. h. es liegt ein von Selbstinteresse diktiertes, sachliches Gewinnkalkül vor. Die Rawlssche Anwendung des Maximin-Theorems bei der Entscheidung von Gerechtigkeitsgrundsätzen könnte zu der Annahme verleiten, Rawls wage den Vorschlag, Gerechtigkeit als Derivat partikularen Selbstinteresses zu fassen. Das aber wäre eine krasse Fehldeutung der Rawlsschen Intention; denn durch die Bedingungen des Urzustand wird eine Entscheidungssituation konstruiert, die im Ergebnis nur einen formalen Egoismus zuläßt, da jede inhaltliche Interessenpartikularität ausgeblendet bleibt. Die Entscheidungssubjekte sind gezwungen, aus einer Liste gesellschaftlicher Organisationsalternativen komparativ zu wählen, und nach der Maximin-Regel entscheiden sie entsprechend den zwei Grundsätzen der Gerechtigkeit (Freiheitsgrundsatz, Unterschiedsprinzip), ohne daß spezifische, partikulare Interessen durch den Schleier des Nichtwissens zum Zuge kommen könnten. Die in der Rawlschen Konstruktion des Urzustandes liegende Ausblendung konkreter partikularer Interessen zugunsten nur allgemeiner Interessen ist jedoch selbst schon ein gehaltvoller ,moral point of view 4 ; denn in der Konstruktion drückt sich die moralische Intuition aus, daß allgemeine Interessen berücksichtigt werden sollen. In der Konstruktion der Bedingungen des Urzustandes sind die ethisch relevanten Voraussetzungen der Gerechtigkeitsprinzipien enthalten. Rawls behauptet auch nicht, „daß der Begriff des Urzustandes nichts Moralisches bei sich führe, oder daß die Familie von Begriffen, die ihn bestimmen, ethisch neutral sei" 17 ; Rawls glaubt sich vielmehr berechtigt, diese Frage einfach aussparen zu dürfen, denn die Rechtfertigung beruhe auf dem Ganzen und darauf, wie das Ganze mit unseren wohlüberlegten Urteilen übereinstimmt; die Rechtfertigung sei das Ergebnis sich gegenseitig stützender vieler Erwägungen und deren π Rawls 175, S. 628.

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9. Rawlssche Position in diskursethischer Perspektive

Zusammenstimmen zu einer einheitlichen Auffassung, die im Überlegungsgleichgewicht stehe; erkenne man dies an, könne man Fragen der Bedeutung und Definition beiseite lassen und mit der Entwicklung einer inhaltlichen Theorie der Gerechtigkeit vorankommen. Begründungs- und Reflexionsdefizite bei Rawls scheinen mir aber mindestens in folgenden drei Hinsichten vorzuliegen: (1) Rawls meint in der Theorie der Gerechtigkeit von 1971/75 offenbar, der Aufbau einer normativen Ethik mit intersubjektiver Gültigkeit sei von einem kohärenten Konsens hinsichtlich der letzten normativen Begründungsprämissen abhängig, wie sie im hypothetischen Urzustand ihren Ausdruck finden; dieses ist nicht unplausibel. Jedoch wird von Rawls das Bestehen eines solchen Konsenses — und sei es im Modus des Überlegungsgleichgewichtes — schlichtweg unterstellt. Die moralisch gehaltvollen Prämissen (Bedingungen) des Urzustandes selbst werden geltunglosgisch nicht begründet, sondern bestenfalls durch die Methode des „Überlegungsgleichgewichts" plausibel gemacht. Zunächst bleibt als Ergebnis der bisherigen Rekonstruktion der Rawlsschen Theorie in Anknüpfung vor allem auch an die Ausführungen in den Kapiteln 4.12 (Der Rawlssche Gültigkeitsanspruch und die Methode: das Überlegungsgleichgewicht) und 9.1 (Status der Intuition in der Rawlsschen Theorie) festzuhalten, daß der von Rawls unternommene Versuch des „Zusammenstimmens zu einer einheitlichen Auffassung" meines Erachtens letztlich in einer aufgeklärten, kontingenten common-sense-Auffassung gründet, die Rawls selbst aus lebensweltlichen Zusammenhängen wählt, ohne die Gültigkeit dieser Wahl auszuweisen. Die umfangreichen Ausführungen zum Überlegungsgleichgewicht verdecken nur die Tatsache, daß Rawls selbst die Bedingungen des Urzustandes auf der „Nullstufe" (Tugendhat) schlicht entscheidet und dann die (intuitive) Evidenz dieser Bedingungen behauptet. (2) Rawls knüpft explizit an die Tradition des Gesellschaftsvertrages an; in vielen großen Entwürfen des Gesellschaftsvertrages ist der Vertragsschluß ein fiktiver; moralische Individuen (Kant) oder zweckrational handelnde Individuen (Hobbes) schließen einen fiktiven Vertrag. Es sind jeweils Individuen mit empirischen partikularen Interessen (Hobbes), bzw. einem Vernunftinteresse (Kant), die sich als fiktive Vertragspartner beratend einigen, wie sie ihre Ansprüche gegeneinander geregelt wissen wollen. In Rawls Theorie der Gerechtigkeit von 1971/75 sind jedoch im Urzustände gar keine Mehrzahl von Individuen präsent; vielmehr entscheidet eine theoretisch konstruierte Minimalperson monadengleich und völlig kommunikationslos in logischen Operationen. Die Vertragsverhandlung denaturiert zu einer sprachvergessenen Entscheidungsrechnung. Eine zum »rational evaluative maximising man' fortentwickelte spezielle Erscheinungsart des ,homo oeconomicus' handelt spieltheoretisch angeleitet strategisch rational ohne erkennbare moralische Prinzipien. Es bleibt unklar, wie und in welchem

9.2 Aufhebung des Rawlsschen Urzustandes

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Sinne der den Beteiligten im Urzustand von Rawls zuerkannte Gerechtigkeitssinn von den Beteiligten selbst bei der Entscheidung der Gerechtigkeitsgrundsätze zur Anwendung gebracht wird. Es läuft vielmehr umgekehrt: der Beteiligte im Urzustand entscheidet amoralisch zweckrational; jedoch zwingt Rawls durch die Konstruktion des Urzustandes (Schleier des Nichtwissens) die égoistisch strategische abwägende Partei, sich vor der Wahl im Sinne eines vollständig reversiblen Rollentausches (,role taking 4 ) in alle denkbar möglichen Positionen der übrigen Mitglieder der Gesellschaft hineinzuversetzen; und der Beteiligte im Urzustand weiß, daß entsprechend der spieltheoretischert Rationalität alle anderen denkbaren Parteien das gleiche abwägen. Dieses erzwungene vollständig reversible ,role taking4 läßt die spieltheoretisch angeleitete Partei im Urzustand so wählen, als ob sie Gerechtigkeitssinn hätte. Das Rawlssche durch die geschickte Konstruktion des Urzustandes erzwungene vollständig reversible ,role-taking 4 der Beteiligten im Urzustand hat jedoch strategischen Charakter. Um diesen strategischen Charakter in einen moralischen Standpunkt aufzuheben, bedarf es einer praktischen Transformation (d. h. der Präzisierung und praktischen Differenzierung der Urteilskompetenz der Beteiligten im Urzustand) in das dialogische, kommunikationsethische Postulat, daß verbindliche Normen durch die Reversibilität des roletaking in der Form eines argumentativen praktischen Diskurs ihre Konsensfähigkeit erweisen müssen, wobei im höchsten Standpunkt des Bewußtseins die Reversibilität in der vollständig reversiblen Reziprozitätsstruktur eines idealen ,role-taking 4 in einer unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft terminiert, die als Ideenstruktur kontrafaktisch antizipiert wird. 18 (3) Peter Ulrich weist in seiner Rawlskritik darauf hin, daß ähnlich den Wohlfahrtstheoretikern Rawls immer noch auf analytischem Wege eine theoretische Lösung für ein Problem zu bieten sucht, das nur in praktischen Verständigungsprozessen unter allen Betroffenen gelöst werden kann. Unter Bezugnahme auf James Buchanan empfiehlt Peter Ulrich, man solle die analytische Suche nach allein richtigen konkreten Normen fiktiver Sozialverträge aufgeben 19 . Ich verschärfe diese Position: Die praktische Philosophie kann die Last der Generierung von konkreten inhaltlich bestimmten infalliblen Normen nicht tragen; aber sie kann und muß (1) ein begründetes universales Prinzip der Normenprüfung angeben, und (2) den institutionellen und prozeduralen Rahmen für praktische Verständigungsprozesse klären. Dieses geschieht — wie gezeigt wurde — durch Explikation eines kommunikativen Rationalitätskonzeptes (1) und wird explizit in dem Programm der Transformation der Diskursethik in eine geschichtsbezogene Vernunftethik (2). 18 Vgl. zur Thematik des Kriteriums der vollständigen Reversibilität als Kriterium der höchsten Stufe des moralischen Bewußtseins: Apel, 1988, S. 342 ff. 19 Vgl. im einzelnen Ulrich, 1987, S. 263. 12 Bausch

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9. Rawlssche Position in diskursethischer Perspektive

Ich behaupte, daß der theoretisch konstruktivistische und kontraktualistische Ansatz der Rawlsschen Gerechtigkeitstheorie durch einen reflexiven Ansatz im Sinne der Transzendentalpragmatik eine sinnvolle Ergänzung erfährt und daß durch diesen Ansatz die Rawlsschen Begründungsdefizite behoben werden. Rawls sucht die Verankerung seiner Gerechtigkeitsprinzipien in einem hypothetischen Sozialvertrag in einem fiktiven Urzustand, in welchem die Parteien unter dem Schleier des Nichtwissens durch Rekurs auf die strategisch durchkalkulierten Selbstinteressen (die nur durch den Zwang der Konstruktion des Urzustandes die Berücksichtigung auch der Interessen der anderen einschließen) Gerechtigkeitsgrundsätze entscheiden; die Begründung der Konstruktionsprämissen bleibt jedoch defizient. Der transzendentalpragmatisch reflexive Ansatz dagegen bietet die Begründung einer Norm durch Rekurs auf ein formal prozedurales Moralprinzip , D \ welches selbst wiederum in der durch strikte Reflexion vergewisserbaren allgemeinen und notwendigen Präsuppositionen gründet, die in jeder Argumentation vorausgesetzt werden müssen. Im Gegensatz zu dem Rawlsschen Ansatz gelingt hier die geltungslogische Begründung von Gerechtigkeitsvorstellungen, da der Universalisierungsgrundsatz ,U' als formales Geltungskriterium der Entscheidung von Gerechtigkeitsnormen aus den präsupponierten Argumentationsregeln transzendentalpragmatisch gültig ausgewiesen werden kann. Der Universalisierungsgrundsatz läßt nur solche Normen gelten, die von vornherein die diskursiv qualifizierbaren Interessen aller Betroffenen berücksichtigen; d. h. Geltung dürfen nur solche Normen beanspruchen, die in praktischen Diskursen die zwanglose Zustimmung aller Betroffenen zumindest virtuell finden könnten. Bezugspunkt ist dabei die unbegrenzte Kommunikationsgemeinschaft. Der ideale Antizipationszustand einer solchen Gemeinschaft in der realen Kommunikationsgemeinschaft ist der ,wahr e UrzustandIn der dialektischen Verschränkung der realen und der idealen Kommunikationsgemeinschaft können normativ gehaltvolle Präsuppositionen aufgewiesen und expliziert werden. Für Karl-Otto Apel ist die Konstruktion der Rawlsschen Begründungsargumentation „unbefriedigend — ganz einfach deshalb, weil sie nicht von vorneherein auf eine ,original position4 oder »situation4 zurückgeht, in der alle Menschen — also auch die Subjekte eines fiktiven Urvertrages — von der gleichen Gerechtigkeitssituation ausgehen, von der Rawls selber ausgeht"20. Karl-Otto Apel meint damit die,Situation4 des schlechterdings nicht hintergehbaren Kommunikationsapriori. Es ist meine These, daß die Rawlssche Konstruktion des Urzustandes und die entscheidungstheoretischen Orientierung in dem dialektischen Sinne eines tollere (1), conservare (2) und elevare (3) aufzuheben sind: 20 Apel, 1988, S. 282 f.

9.2 Aufhebung des Rawlsschen Urzustandes

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(1) Der zur Generierung moralischer Normen problematische Ansatz selbstinteressenorientierter Entscheidungstheorie wird aufgegeben. Der Rawlssche in den hypothetischen Urzustand verlegte heuristische entscheidungs-theoretische Ansatz ist seiner Struktur nach monologisch (einer für sich allein kann die konkreten Gerechtigkeitsgrundsätze herausfinden 21), seiner Rationalität nach strategisch (Ziel ist das eigene Interesse an einer möglichst großen Grundgüterausstattung), seiner prinzipiellen Art nach individual-utilitaristisch (das Entscheidungsziel ist die individuelle Maximierung der Grundgüterausstattung unter den gegebenen Umständen). Durch die Entscheidungstheorie will Rawls offenbar die Ergebnisse der Ursprungswahl kontrollierbar machen; moralische Implikationen aber sind in dem entscheidungstheoretischen Ansatz nicht erkennbar. Die notwendige Kontrolle und Prüfung von Gerechtigkeitsnormen kann nach dem hier Vorgetragenen durch die Anwendung des Universalisierungsgrundsatzes ,U4 diskursethisch erfolgen. (2) Der Rawlsche Fairneßgrundsatz drückt eine Gerechtigkeitsvorstellung aus, die auch der Diskursethik eigen ist. Die moralisch richtige Intuition von Rawls: Berücksichtigung der Interessen der anderen durch den Fairneßgrundsatz und insbesondere auch durch das im zweiten Grundsatz formulierte Unterschiedsprinzip wird beibehalten, jedoch durch Explikation von ,U' und ,D' in Verbindung mit dem Ergänzungsprinzip ,E' in einer begründbaren Weise gewendet. Fairneß wird von Rawls als natürliche Pflicht 4 , als »universal gültiges Prinzip 4 behauptet und der Gültigkeitsausweis vertragstheoretisch versucht; die Hobbessche Aporie aber kann Rawls nur durch eine weitere Annahme, nämlich die des vorausgesetzten Gerechtigkeitssinns, vermeiden. Rawls kann letzlich Fairneß nur postulieren; die Diskursethik aber kann Fairneß in einem reflexiven Beweisgang begründen, indem sie das dem Fairneßgrundsatz zugrundeliegende moralische Prinzip der verallgemeinerten Verpflichtungsgegenseitigkeit transzendentalpragmatisch vergewissert. (3) Im Rawlsschen Urzustand soll der Intention nach meines Erachtens das Kriterium der Gerechtigkeit: vollständig reversibles yrole taking ' (die Einnahme aller denkbaren und mögliche Positionsperspektiven, die des in der Gesellschaft Bevorzugten und des Benachteiligten, die des Feindes und die des Freundes) vermittelt werden mit der egoistisch-strategischen Rationalität der Spieltheorie. Es ist durch die Konstruktion des Urzustandes im Selbstinteresse des Strategen, nach Gerechtigkeitsgrundsätzen zu entscheiden, da er gezwun21 Diesen Punkt hebt kritisch gegen Rawls auch Peter Koller hervor: die Beteiligten fasse Rawls „gleichsam zu einer einzigen Person zusammen, die stellvertretend für alle Betroffenen steht und mit ihrer Entscheidung das gemeinsame Interesse aller vertritt [...] die Konstruktion eines Gesellschaftsvertrages erscheint als entbehrlich. Die Idee des Sozialvertrages erscheint sozusagen als gedankliche Krücke [...], eine Krücke, der wir aber nicht mehr bedürfen, sobald wir das Ziel erreicht haben." (1984, S. 275). 12*

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9. Rawlssche Position in diskursethischer Perspektive

gen ist, ein vollständig reversibles ,role taking4 vorzunehmen, wenn er sich klug verhalten will. Eine Sollensperspektive, die moralische Verpflichtungen impliziert, ist jedoch nicht im Spiel. Diese Perspektive: der moralische Imperativ eines vollständig reversiblen ,ideal role taking' ist jedoch eröffnet mit der transzendentalpragmatischen Wende und der Selbstvergewisserung. Die Rawlssche Intuition eines fiktiven Urzustandes, in welchen Rawls in moralischem Interesse ethisch gehaltvolle Aspekte der Egalität und vollständigen Reversibilität hineinkonstruiert, deren geltungslogische Begründung jedoch offenbleibt, wird gewendet in die Perspektive des idealen Antizipationszustandes einer unbegrenzten Kommunikations gemeinschaft in der realen Kommunikations gemeinschaft. Mit dieser Wendung geschieht die Aufhebung der Rawlsschen Intuition eines theoretisch konstruierten hypothetischen kontrafaktischen Urzustandes in den ,wahren Urzustand', vergewisserbar als der ideale Antizipationszustand in der realen Kommunikationsgemeinschaft. Damit ist allerdings der Rawlsche durch den Schleier des Nichtwissens theoretisch sehr praktikable hypothetische Urzustand als gedankenexperimenteller ,Probierstein' für konkrete Gerechtigkeitsnormen zugunsten einer anspruchsvollen, auf energische Abstraktionen und Idealisierungen angewiesenen formalen Diskursethik aufgegeben. Die Diskursethik entfaltet als eine Art,Minimalethik' nur einen letztbegründeten Argumentationsgrundsatz, und delegiert die Generierung konkreter, inhaltlich bestimmter Normen an den praktischen Diskurs der Betroffenen; sie deduziert nicht aus einem inhaltlich bestimmten konkreten Gerechtigkeitsgrundsatz, wie das die Intention von Rawls war. Mit der diskursethischen Wendung allerdings ist die im Rawlsschen Urzustand pointiert zum Ausdruck gebrachte wertvolle und durch die Konstruktion des Urzustandes strategisch operationalisierte Intuition moralisch eingelöst: Gerechtigkeit verlangt zur Bestimmung des ,suum cuique' das diskursive ,Sich-Hineinversetzen' in alle möglichen Positionen der Gesellschaftsmitglieder und damit die Überwindung der egozentrischen Perspektive. Das Kriterium aller möglichen Positionsperspektiven ist in der Diskursethik nicht nur enthalten (ideal role taking), sondern darüberhinaus als Gerechtigkeitskriterium explizit begründet . Die formal prozeduralen, und prima vista inhaltlich leeren Grundsätze ,U' und ,D' heben die Rawlsschen inhaltlich gehaltvollen Grundsätze in dem Sinne auf, daß sie die konkreten Rawlsschen Grundsätze als falsifrzierbare und immer wieder präzisierbare Vorschläge zum Gegenstand praktischer Diskurse werden lassen, die ihre jeweilige Legitimität bzw. Abänderung in praktischen, situationsbezogenen Diskursen der Betroffenen erfahren müssen. Ich meine, daß dieses auch den eigentlichen Intentionen von Rawls entspechen könnte, wenn er in den abschließenden Bemerkungen zur Rechtfertigung der Theorie der Gerechtigkeit empfiehlt, die Bedingungen für die Annahme der Grundsätze — und damit auch

9.3 Aufhebung des von Rawls vorausgesetzten Gerechtigkeitssinns

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die Grundsätze selbst — „lediglich als vernünftige Vorschläge zu betrachten

9.3 Aufhebung des von Rawls vorausgesetzten Gerechtigkeitssinns durch Reflexion auf die Dialektik des doppelten Kommunikationsapriori 9.31 Gerechtigkeitssinn Den Beteiligten im Urzustand wird von Rawls ein „Gerechtigkeitssinn" 23 unterstellt. Der Status dieser Unterstellung ist zu klären. Offenbar ist für Rawls der Gerechtigkeitssinn als moralische Fähigkeit zunächst eine anthropologische Konstante: „Wer keinen Gerechtigkeitssinn hat, dem fehlen bestimmte grundlegende Einstellungen und Fähigkeiten, die unter den Begriff Menschlichkeit fallen" 24. Wenn dieses so ist: was meint dann Rawls genau mit Gerechtigkeitssinn'? Ist das Haben moralischer Gefühle gemeint, wie zum Beispiel Schuld oder Scham, oder ist ein besonderer Ausdruck moralischer Gefühle gemeint, wie zum Beispiel moralische Empörung oder Groll? Oder ist von Rawls die menschliche Disposition, ,gerecht' zu erwägen und zu handeln gemeint? Und wenn das eine oder das andere der Fall wäre: welches wäre das moralisch verpflichtende Moment eines solchen Gefühls (bzw. einer solchen Disposition), was liegt ihm zugrunde und wie ist all dieses geltungslogisch ausgewiesen? 9.311 Ausbildung des Gerechtigkeitssinns als moralische Fähigkeit Rawls setzt ein mit der Betonung, daß eine Theorie der Gerechtigkeit, jedenfalls in ihrem Anfangsstadium durchaus eine Theorie der moralischen Gefühle ist, welche Grundsätze zum Ausdruck bringen, deren Grundlage unser Gerechtigkeitssinn ist 25 . Die Theorie dient Rawls zur „Schärfung unseres moralischen Sinnes" 26 und etabliert in ihrer Entfaltung eine Spannung zwischen den alltäglichen moralischen Gefühlen (Gerechtigkeitssinn des Alltagsverstandes, der sich im Haben von moralischen Gefühlen äußert und der in Alltagsurteilen artikuliert wird) und dem Gedanken des hypothetischen Urzustandes, an dem sich die Überlegungen zu den moralischen Gefühlen ausrichten sollen. Diese Spannung bleibt bis zum Erreichen des Überlegungsgleichgewichtes erhalten, in welchem 22 Rawls, 1975, S. 627. 23 Siehe im einzelnen Rawls, 1975, S. 168, S. 346. 24 Rawls, 1963, S. 155. 25 Siehe im einzelnen Rawls, 1975, S. 70.

26 Ebd., S. 72.

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9. Rawlssche Position in diskursethischer Perspektive

die Grundsätze des hypothetischen Urzustandes mit dem jetzt voll entwickelten Gerechtigkeitssinn, der sich in wohlüberlegten Urteilen äußert, übereinstimmen. Das Agens des Werdens unseres »moralischen Sinns' ist dabei für Rawls der Sozialisationsprozeß, in welchem sich die genetische Bildung eines Gerechtigkeitssinns als „Leitgesinnung" 27 vollzieht. Wie aber bildet sich nun dieser Gerechtigkeitssinn im einzelnen, wie wird er zur Leitgesinnung, und wie weist sie seine Verbindlichkeit aus? Genesis und Geltung ist zu scheiden. Rawls versucht in einer „psychologischen Konstruktion" zu zeigen, „wie man den Gerechtigkeitssinn als Ergebnis einer natürlichen Entwicklung ansehen kann" 28 . Für den Ansatz einer psychologischen Konstruktion entscheidet sich Rawls, nachdem er den Weg einer analytischen Ableitung versuchte, jedoch auf diesem Wege das „Gefühl der Verpflichtung" nicht zu erklären vermochte 29. Rawls psychologische Konstruktion verarbeitet insbesondere Material von Kohlberg und Piaget, gleichzeitig werden durch Einfügung des Erziehungsgedankens Intentionen Rousseaus aufgenommen. Die Konstruktion besteht aus der Entwicklung von drei ontogenetischen Stufen wachsenden Gerechtigkeitssinnes in Form eines sozialen Lernens, welches vom Einfachsten, (Autoritätsorientierte Moral), bis zum Anspruchsvollsten (Grundsatzorientierte Moral) fortschreitet. Den jeweiligen Entwicklungsstufen des moralischen Urteils ordnet Rawls „psychologische Gesetze" zu, die der Tendenz nach gelten 30 . Die erste Stufe beginnt mit der moralischen Entwicklung des Kindes und führt zu „autoritätsorientierter Moral"; ein Kind hat noch keine eigenen kritischen Maßstäbe, lernt die Normen autoritätsbezogen und empfindet bei Verfehlungen Schuld gegenüber den Autoritäten („Autoritätsschuld"). Dieser Stufe wird das erste psychologische Gesetz zugeordnet: Das Kind liebt die Eltern nur, wenn die Familienstruktur ,gerecht' ist, d. h. die Eltern das Kind unverkennbar zuerst lieben; Elternliebe weckt Kindesliebe. Eine neue Gefühlsbildung und Bindung kommt zustande. Die zweite Stufe der „gruppenorientierten Moralität" bildet die Tugenden des guten Sohnes, der guten Tochter weiter aus zu Freundschaft, Zuneigung und wechselseitigem Vertrauen innerhalb der Gruppe. Bei Verstößen gegen Gruppennormen empfindet das Gruppenmitglied „Gemeinschaftsschuld", „Gruppenschuldgefühle". Dieser Stufe ist das zweite psychologische Gesetz zugeordnet: ist das soziale Gefüge »gerecht', so entwickelt sich Gemeinschaftsgefühl. Die dritte Stufe der „grundsatzorientierten Moral" entwickelt den Gerechtigkeitssinn im vollen Verständnis des Begriffes. Es besteht — so Rawls — auf dieser Stufe das Bedürfnis, die Gerechtigkeitsgrundsätze anzuwenden und ihnen 27 Ebd., S. 533. 28 Rawls, 1963, S. 126. 29 Siehe im einzelnen ebd., S. 126. 30 Vgl. Rawls 1975, S. 533.

9.3 Aufhebung des von Rawls vorausgesetzten Gerechtigkeitssinns

183

gemäß zu handeln. Verstöße gegen die Normen, die den Gerechtigkeitsgrundsätzen entsprechen, äußern sich in „Prinzipienschuld [...] Sie ist im Gegensatz zu den beiden früheren Formen der Schuld ein ganz und gar moralisches Gefühl" 31. Und: „Jetzt ist die moralische Entwicklung vollständig, [...]. Die moralischen Empfindungen erheben sich über die[se] zufälligen Verhältnisse der eigenen Umwelt, und zwar im Sinne der Beschreibungen des Urzustandes und seiner Kantischen Deutung" 32 . Der Gerechtigkeitssinn versteht die Gerechtigkeitsgrundsätze als Ausdruck der moralischen Subjekte als freie und gleiche Vernunftwesen; und Rawls glaubt, durch die Konstruktion des Urzustandes genau angeben zu können, welche konkreten Grundsätze mit rationalen Gründen gewählt würden. „Der Urzustand läßt sich [...] auffassen als eine verfahrensmäßige Deutung von Kants Begriff der Autonomie und des Kategorischen Imperativs im Rahmen einer empirischen Theorie" 33. Rawls sieht eine Konsonanz zwischen der normativen und der psychologischen Theorie, wie sie von Kohlberg / Piaget entfaltet wurde durch empirischen Aufweis kulturinvarianter Entwicklungsstufen des moralischen Urteils. Die psychologische Theorie ist allerdings auf die Vorgaben philosophischer Konzepte der Ethik (Konzepte der Unparteilichkeit, Universalität, Reziprozität, Achtung usw.) für die Beschreibung der kognitiven Strukturen der psychologischen Entwicklung angewiesen. Diese Angewiesenheit untersucht Rawls jedoch nicht; für Rawls gilt vielmehr die Kohärenz der empirischen psychologischen Theorie und der normativen Theorie der Gerechtigkeit als Fairneß. Ralws begnügt sich mit der Feststellung dieser Kohärenz, ohne seinerseits die Vorgaben, bzw. Grundlagen philosophischer Ethik für eine Entwicklungslogik zu begründen. Philosophisch bleibt daher der Rawlsche Entwurf defizitär. Rawls wie auch Kohlberg reflektiert nicht überzeugend die eigenen moralphilosophischen Grundannahmen, die den kognitivistischen Strukturen seiner psychologischen Theoriekonstruktion zugrundeliegen. Von dem Philosophen Rawls wäre eine solche Reflexion zu erwarten, da sonst nicht gezeigt werden kann, inwiefern und aus welchen Gründen die jeweils höhere Stufe nicht nur eine empirisch aufweisbare weitere entwicklungslogische Sequenz, sondern »moralisch besser' (hier verstanden im Sinne einer Differenzierung des moralischen Bewußtseins mit einer inhaltlichen Bewertungshirarchie) ist als die vorhergehende und welches die Logik der Stufenfolge ist. Es gilt, für die Begründung moralischer Grundsätze naturalistische Fehlschlüsse zu vermeiden. 34 31 Rawls, 1963, S. 144. 32 Rawls, 1975, S. 516. 33 Ebd., S. 289.

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9. Rawlssche Position in diskursethischer Perspektive

Mit der Rawlsschen verstehend wertenden Rekonstruktion des Gerechtigkeitssinns kann zwar gezeigt werden, daß in der aufsteigenden, und das heißt wertend differenzierenden Stufenfolge die Fähigkeit, regelmäßig richtigere (gerechtere) Urteile zu fällen, zunimmt. Diese zunehmende kognitive Kompetenz allerdings zeigt noch nicht, daß es auch eine Verpflichtung gibt, gemäß der höheren Stufe zu urteilen und zu handeln. Die Verpflichtung, auf höherer Stufe zu handeln, kann über eine, sei es ontogenetischen wie auch phylogenetische Entwicklungsstufung, nicht gezeigt werden. Rawls übernimmt von Kohlberg die Vorstellung einer geordneten Folge von entwicklungslogischen Stufen, denen jeweils ausgezeichnete Sozialperspektiven zugeordnet sind, die von der vormoralischen egoistischen Perspektive (Kohlberg Stufe 1) sich erweitern bis zur reflektierten reziproken Perspektivenübernahme (Kohlberg Stufe 6); in der höchsten Stufe ist Moral ausdifferenziert in jene Momente, die ihren Begriff kennzeichnen: Anerkennung, Reziprozität (voll reversibles ,role taking 4 ) und Universalität. Es gilt aber präzise zu trennen: die im Sinne Kohlbergs entwicklunglogische und rekonstruktiv-verstehende Beschreibung moralischer Urteilskompetenz und die umfassende und allgemeine Problematik einer philosophischen Begründung der zugrundeliegenden moralischen Prinzipien. Eine empirisch entwicklungslogische Erklärung der Stufensequenzen ist keine philosophische Begründung der normativ-ethischen Stufenhierarchie. Die verpflichtende Aufforderung, nicht nur die Perspektive einer höheren Stufe kognitiv zu erkennen, sondern sie auch im Sinne eines moralischen Sollens anzuwenden, d. h. selber danach zu urteilen und demgemäß zu handeln, bleibt bei dem Rawlschen klugheitstheoretischen Ansatz wie mir scheint unthematisch. Das Problem der Begründung der Verpflichtung bleibt unbearbeitet; und es ist nicht gelöst durch Rekonstruktion der Stufen der Entwicklung.

34 Kohlberg vermeidet den naturalistischen Fehlschluß durch die Behauptung einer „Isomorphie " zwischen der entwicklungspsychologischen Theorie und der Theorie einer normativen Ethik („the two enterprises are isomorphic or parallel"). Kohlberg postuliert eine Konvergenz in der Tiefenstruktur („deep structure") der beiden Theorien; dadurch ist es Kohlberg möglich, die höhere Stufe als die moralisch »bessere4 Stufe zu behaupten. Diese Intention ergänzt Apel zunächst durch das von ihm sogenannte „Selbsteinholungsprinzip der verstehend-rekonstruktiven Wissenschaft" (und begründet dieses als unmittelbare Konsequenz des Prinzips vom zu vermeidenden transzendentalpragmatischen Selbstwiderspruch); Apel betont aber, daß durch die Kohlbergsche Parallelitätsthese noch nicht die zentrale Frage der Rechtfertigung der Stufen beantwortet ist: warum nämlich die Menschen die höchste Kompetenzstufe auch realisieren, d. h. entsprechend handeln sollen. Apel plädiert daher (wie auch Habermas) die Kohlbergsche Isomorphiethese durch durch eine „Komplemantaritäts- bzw. Arbeitsteilungsthese" zu ersetzen; d. h.: die empirischen Sozialwissenschaften erforschen die onto genetische Entwicklungs stufung moralischer Urteilskompetenz, und die Philosophie rekonstruiert die deontologi schen Gründe (philosophische Begründungsdimension des moralischen Sollens), warum die faktisch erworbene Urteilskompetenz als moralisches Konzept auch realisiert werden soll (siehe im einzelnen Apel, 1988, S. 308-316, und 355).

9.3 Aufhebung des von Rawls vorausgesetzten Gerechtigkeitssinns

185

Die Rawlsche (wie die Kohlbergsche) Entwicklungspsychologie kann die Stufenfolge der moralischen Urteilskompetenz über empirische Methoden beschreiben. Die Theorie des kommunikativen Handelns kann darüberhinaus die innere Logik der Stufenfolge von der präkonventionellen, über die konventionelle bis zur postkonventionellen Stufe verständlich machen als die von Stufe zu Stufe komplexer werdenden Perspektivenstrukturen der Kommunikation. Den deskriptiven Kohlbergschen Sozialperspektiven werden Interaktionsstufen zugeordnet, deren hierarchische Stufung entwicklungslogisch gedeutet werden kann; so wird klar, daß sich die jeweiligen Gerechtigkeitsvorstellungen den Reziprozitätsformen der jeweiligen Stufe der Interaktion verdanken. Es stuft sich eine normativ philosophisch begründbare Sequenz als eine Werthierarchie im Sinne einer progressiven Annäherung an das normative Telos der höchsten Stufe des moralischen Bewußtseins.35 Auf der letzten, postkonventionellen Stufe des kommunikativen Handelns sind dann die Argumentationsprinzipien ,U' und ,D' ausdifferenzierte imperative Prinzipien, die, ergänzt durch verantwortungsethische Anwendungsurteile, den Kern der Gerechtigkeitsvorstellung der Diskursethik ausmachen. Diese Prinzipien sind transzendentalpragmatisch begründbar. Ein transzendentaler Begründungsmodus ist Rawls fremd. In einem reflexiven transzendentalpragmatischen Beweisgang wird Moral nicht aus Deskriptionen psychologischer Entwicklungsstufen naturalistisch abgelesen, sondern erkannt als normativer Inbegriff der dialogischen Voraussetzungen, in denen wir argumentierend und denkend immer schon stehen.36 Die Rekonstruktion des Fortschritts kognitiver Niveaus des ,role taking' macht kognitive Kompetenzen verständlich aber impliziert noch nicht die Begründung dafür, weshalb wir die Perspektive der wechselseitigen Gegenseitigkeit einnehmen sollen, warum wir gerecht handeln sollen. Mit der Einsicht in die kognitiven

35 Siehe zu dieser Thematik vor allem Apel, 1988, S. 308 ff. 36 Die These einer dialogischen Natur des Denkens bedarf eines klärenden Hinweises:. Die These der dialogischen Natur des Denkens steht offensichtlich im Widerspruch zur Erkenntniskonzeptionen, wie wir sie schon in der klassisch platonischen Vorstellung eines unmittelbaren sprachfreien Erfassens von Wahrheit im Sinne eines »geistigen Sehens' zum Ausdruck gebracht finden (Vgl. Piaton, „Staat" 517 (Höhlengleichnis) oder Denken als „ein Gespräch der Seele innerlich mit sich selbst ohne sprachliche Äußerung"(Platon, „Sophistes" 263)). Gegen ein platonisch verstanden einsames und in diesem Sinne monologisches Denken gilt es zu methodisch reflektieren: alles Denken, und insoweit auch alles Begründen, ist sprachlich; Sprache ist wesensmäßig ein intersubjektives kommunikatives Geschehen. Denken hat insoweit dialogische Struktur, als es ein Reden und Antworten — und sei es im inneren Dialog — ist; Denken muß rational überprüfbar sein; gültiges Denken, im Sinne intersubjektiver Gültigkeit, setzt als Möglichkeitsgrund mithin Sprache voraus — ohne geschichtliche Sprache könnte kein Gedanke gefaßt, verstanden und beurteilt werden. Es gilt den methodischen Schritt vom einsamen Bewußtsein zum dialogischen Sprachund Kommunikationsapriori durch transzendentalpragmatische Reflexion nachzuvollziehen.

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9. Rawlssche Position in diskursethischer Perspektive

Kompetenzen des Einnehmen Könnens von Perspektiven, die an Gegenseitigkeit orientiert sind, ist der Schritt zu dem Einnehmen Sollen noch nicht vollzogen. Dieser Schritt zum Sollen wird erst im transzendentalpragmatischen Beweisgang vollzogen und begründet. Auf dem philosophischen Niveau von Karl-Otto Apel ist die deontologische Verpflichtung der Konsensorientierung im Sinne eines argumentativen rationalen Diskurses durch die transzendentalpragmatische Reflexion vergewisserbar und normative Begründung der wertmäßigen Hierarchie der Kohlbergschen Stufen (und der moralischen Urteilskompetenz) und insbesondere die Begründung der Telos-Funktion der höchsten Stufe auf eine nichthypothetische, und d. h. transzendental-apriorische Letztbegründung, zurückgeführt. 9.312 Status des Gerechtigkeitssinns Es ist unzweifelhaft, daß der Gerechtigkeitssinn im Verständnis von Rawls nicht in den faktischen lebenspraktischen Realisierungen historischer Normen verankert sein soll, sondern der Intention nach über diese Normen hinausgeht. Auch will Rawls den Gerechtigkeitssinn nicht im Sinne einer neopositivistischen Metatheorie der Lernpsychologie aus den einfachen Grundsätzen der Lerntheorie abgeleitet wissen 37 ; denn die psychologischen Ursprünge einer moralischen Gesinnung dritter Stufe seien nicht Grund, an ihrer Vernünftigkeit zu zweifeln; der in der dritten Stufe der Entwicklung der moralischen Fähigkeiten ausgebildete Gerechtigkeitssinn sei über natürliche und gesellschaftliche Zufälligkeiten hinaus, da er in Grundsätzen seine Konkretisierung finde, die „objektiv" gelten; und das heißt für Rawls „unabhängig von den besonderen Umständen des Betreffenden", aus einem „allgemeinen Blickwinkel" 38 . Nun sind der „allgemeine Blickwinkel" und die Unabhängigkeit von „den besonderen Umständen der Betreffenden" (im Sinne von Absehen von partikularen Interessen) fraglos von anerkannter moralischer Relevanz bei der Regelung von Gerechtigkeitsproblemen. Damit ist aber noch keine explizite Begründung geliefert, vielmehr ist nur anerkannten Postulaten Ausdruck gegeben. Auch die ,Kantische Deutung4 durch Rawls bleibt Interpretation, nicht aber hat sie den Status einer Begründung.

9.32 Aufhebung des Gerechtigkeitssinns in dem doppelten Apriori der Kommunikationsgemeinschaft Ich werde jetzt eine These entwerfen, nach welcher dem durch Rawls richtigerweise als notwendig und fundamental hervorgehobenen, jedoch letztlich von ihm nur genetisch, bzw. psychologisch induktiv hergeleiteten Gerechtigkeitssinn eine 37 Vgl. im einzelnen Rawls, 1975, S. 67. 38 Rawls 1975, S. 561.

9.3 Aufhebung des von Rawls vorausgesetzten Gerechtigkeitssinns

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Wendung gegeben wird, die ihn transzendentalpragmatisch als nicht sinnvoll bestreitbar verankert. Gerechtigkeitssinn wird in dieser Wendung verstanden als Disposition und Aktualisierung der Anerkennungsverhältnisse, wie sie in der Theorie der realen und idealen Kommunikationsgemeinschaft rekonstruktiv analysiert, ausdifferenziert und transzendentalpragmatisch begründet werden und die in der Diskursethik ihre ausdrücklichste Form finden. Die ideale und die reale Kommunikationsgemeinschaft sind dialektisch verschränkt; die Anerkennung ihrer Differenz schließt nach Apel die substanzielle Aufgabe der tendenziellen Beseitigung der Differenz zugunsten der idealen Kommunikationsgemeinschaft ein. Die mit dem ernsthaften Argumentieren unvermeidlich verbundenen Präsuppositionen, die als Bedingung der Möglichkeit von Verständigung ohne pragmatischen Selbstwiderspruch nicht bestreitbar sind, bilden das normative Fundament, welches in transzendentaler Besinnung vergewissert werden kann und welches von Apel das „Apriori der Kommunikationsgemeinschaft" genannt wird 3 9 . Der ethische Kern des Kommunikations-Apriori nung der Menschen als Argumentationssubjekte,

ist die wechselseitige Anerkenund das heißt:

1. Der real Argumentierende erhebt Anspruch auf die Geltung seiner Argumente und damit implizit den theoretisch logischen Anspruch auf die Anerkennung seiner Person als Mitglied der Kommunikationsgemeinschaft. 2. Der real Argumentierende anerkennt selbst die anderen als gleichberechtigte Argumentationssubjekte, die seine Argumente kritisch prüfen. Die kommunikative Reziprozität der wechselseitigen Anerkennnung ist normativ gehaltvoll, eine „von jedem Argumentierenden implizit anerkannte Minimalethik", die im Erheben eines Geltungsanspruches als dialogische Äußerung gründet 40 . Die Benennung „Minimalethik" durch Apel ist nicht Zeichen des Mangels, vielmehr weist sie unhintergehbare kulturinvariante geltungslogische Bezüge aus; in diesen Bezügen steht der Argumentierende immer schon. Sie enthalten als einzigen materialen Gehalt die Anerkennung des anderen als vernünftiges Wesen, als kritisches Argumentationssubjekt. Gerechtigkeitssinn auf postkonventionellem Niveau zeigt sich in dem hier vorgeschlagenen Sinn in der praktischen Berücksichtigung der genannten Anerkennungsverhältnisse, die in strikter Reflexion vergewissert werden können und in deren Horizont wir argumentierend immer schon stehen. Die reziproke Anerkennung ist ihrem Gehalt nach eine Anerkennung des anderen als Argumentierenden, als Argumentationssubjekt, welches Geltungsansprüche vorbringt und in seiner Argumentation bezogen ist auf den generalisierten anderen. 41 39 Vgl. im einzelnen Apel 1973, Bd. II, S. 359 ff. 40 Vgl. im einzelnen ebd., S. 230.

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9. Rawlssche Position in diskursethischer Perspektive

Anders spricht Rawls: seiner Ansicht nach stützt sich die Gleichheit „auf allgemeine Naturtatsachen, nicht auf eine Verfahrensregel ohne inhaltliche Überzeugungskraft"; für Rawls ist die „Grundlage der Gleichheit [ . . . ] das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein der Fähigkeit zu einem Gerechtigkeitssinn." 42 Rawls postuliert und intendiert entsprechend diesem »natürlichen4 moralischen Sinn eine grundlegende moralische Gleichheit der Menschen, die Menschen unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Stellung zukommt und die durch „natürliche Pflichten wie der gegenseitigen Achtung definiert [ist]; sie gebührt den Menschen als moralischen Subjekten." 43 Die Raw Ischen Intentionen erscheinen mir offenkundig: Gerechtigkeitssinn verstanden als voll reversible Anerkennung der Menschen als gleiche moralische Subjekte. Jedoch sind die begründenden Ausführungen von Rawls meines Erachtens vielfach unscharf und es bleibt unklar, was präzise mit „natürlichen Grundlagen der Gleichheit" 44 und „Gleichheit stützt sich auf allgemeine Naturtatsachen" 45 gemeint ist. Auf jeden Fall ist eine schlüssige geltungslogische Begründung für moralische Gleichheit und deontologische Verpflichtungsgegenseitigkeit bei Rawls nicht erkennbar. Gleichheit ist letztlich, wie auch der Gerechtigkeitssinn, eine unausgewiesene Eingangsvoraussetzung der Rawlsschen Gerechtigkeitstheorie. In Ergänzung der Rawlsschen Voraussetzung und Intention wird Gleichheit durch die Transzendentalpragmatik in begründbarer Weise als die Anerkennungsverhältnisse expliziert, deren wir uns strikt reflexiv zu vergewissern vermögen. Die Apelsche Vernunft-Ethik ergänzt insoweit den Rawlsschen Ansatz, als sie die Rawlsschen Gleichheitsintuitionen und ihre „natürlichen Grundlagen" als eine im faktischen Dialog schon immer implizierte Anerkennungsgegenseitigkeit rekonstruiert und durch einen transzendentalen Beweisgang Gleichheitsgegenseitigkeit als Verpflichtungsverhältnis expliziert. Der Apelsche rekonstruktive Beweisgang terminiert in dem doppelten Apriori der Kommunikationsgemeinschaft. Das Ergebnis der Apelschen Rekonstruktion fasse ich wie folgt zusammen:

41 Schwierigkeiten können sich in diesem Zusammenhang mit Personen ergeben, die die Argumentationsfähigkeit noch nicht gewonnen oder mehr oder weniger dauernd verloren haben — hier bietet sich als Ausweg wohl nur die advokatorische Interessenwahrnehmung derartiger Personen an. In Kontexten solcher Art erhebt sich die Frage des Personenbegriffs und die Frage, ob die grundsätzlich aktualisierbare Fähigkeit des einzelnen Menschen, sich an universalen Geltungsansprüchen zu orientieren, entscheidet, ob ihnen Anerkennung als Person zukommen soll; oder ob der Mensch einen ,Wert an sich4 hat (— dann unbeachtlich, ob debil oder argumentationsfähig —) und aus diesem Grunde als anderer, d. h. als Person und Selbstzweck, anerkannt werden muß. 42 Rawls, 1975, S. 554. 43 Ebd., S. 555. 44 Ebd. 45 Ebd.

9.3 Aufhebung des von Rawls vorausgesetzten Gerechtigkeitssinns

189

Die Kommunikationspraxis ist immer schon eingelassen in die realen historischen und gesellschaftlichen Bedingungen, in denen mit Propositionen Geltungsansprüche erhoben werden. Die anthropologischen, historischen und kulturellen Gegebenheiten, in denen wir immer schon stehen, lassen sich als lebensweltliche Hintergründe rekonstruieren und aufhellen. Die geschichtlich entwickelte Sprachund Handlungsgemeinschaft einer Gesellschaft und Kultur, die jedem Individuum unausweichlich vorgegeben ist und in der es sich bewegt, denkt und handelt, ist das unausweichliche „Faktum" der realen Kommunikationsgemeinschaft. Ein „Ich" ist nur in Bezug auf diese reale Kommunikationsgemeinschaft sinnvoll denkbar. Diese Faktizität, die jeder aktuellen Verständigung vorausliegt und sie ermöglicht und die in jedem Diskurs stets vorausgesetzt ist, (und insoweit sind auch Apel und Habermas einig), wird von Apel fortbestimmt zu einem ,Apriori" der realen Kommunikationsgemeinschaft, einen Ausdruck, den Habermas vermeidet, da sein relativierendes Konzept fallibler Rekonstruktion letztbegründete Apriori Positionen nicht zuläßt. 46 In der geschichtlichen Dimension des realen Kommunikations-Apriori und der transzendentalen geltungslogischen Dimension der idealen Kommunikationsgemeinschaft sind unhintergehbare Voraussetzungen explizit geworden, die für eine Ethik Haltepunkte darstellen: die wechselseitige Anerkennung der mit Anspruch auf Geltung Argumentierenden als gleichermaßen vernunftfähige moralische Subjekte. Und das heißt: Achtung und Anerkennung der Anderen als Vernunftwesen und als kompetent prüfende Kritiker reziprok erhobener Geltungsansprüche. Die Anerkennungsverhältnisse auf postkonventioneller Ebene werden in dem diskursethischen Ansatz konkret in der vollständigen Reversibilität des ,ideal role taking4 in der Form der Argumentation. Idealerweise soll diese argumentativ diskursive Verständigung, in der die Interessen aller Beteiligten und Betroffenen ermittelt und vermittelt und auf diese Weise zu qualifizierten Interessen werden, durch konkrete Kommunikation zwischen den Betroffenen erfolgen. In den realen Zusammenhängen handlungsbelasteter Entscheidungssituationen ist dieses Ideal nicht einlösbar. Die Interessen werden in konkreten Fällen indirekt ermittelt werden müssen. Dieses geschieht wiederum in einem gedankenexperimentellen ,role taking 4 . Jedoch: dieses verstehende Sich-Hinein-Versetzen in den Anderen in der Form der Argumentation ist eine Bedingung nicht nur des ethischen Denkens — es kann vielmehr auch im Interesse eines zweckrational strategischen Handelns geschehen. Karl-Otto Apel weist deutlich auf die Zweideutigkeit hin: man kann 46 Habermas wird sich nach Apel eines Tages zu entscheiden haben, „ob er in der Inkonsistenz verharren oder der Philosophie ihre genuine Begründungsfunktion, die mit der Vertretung a priori universaler und selbstbezüglicher Geltungsansprüche verknüpft ist, zurückerstatten will." (Apel, 1989, S. 48).

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9. Rawlssche Position in diskursethischer Perspektive

von dem reversiblen,role-taking 4 einen moralischen und einen egoistisch-strategischen Gebrauch machen.47 Die Beteiligten in dem Rawlsschen Urzustand machen zum Beispiel einen rein strategischen Gebrauch ihrer Kompetenz des ,role taking4 — und nur durch die kunstvolle Konstruktion des Rawlsschen Urzustandes kommen als Ergebnis des strategischen Entscheidungsprozesses die Gerechtigkeitsgrundsätze heraus. Der Entscheidungsprozeß im Urzustand für sich betrachtet ist gemäß der Gerechtigkeitstheorie von 71/75 amoralisch. Hier schließt die zentrale Frage an, warum überhaupt moralisch gehandelt werden soll. Diese „Warum-Frage 44 ergibt sich als weiterer Frageschritt nach der kognitiven Erfassung des Prinzips des,ideal role-taking 4 und markiert die Schnittstelle zwischen der Kategorie des kategorischen Sollen und der Kategorie des faktischen Wollens. Das im moralischen Sinn imperativ Gesollte auch zu wollen, d. h. moralisch handeln zu wollen, gehört als Gesinnung zum Gewissen. Die kognitive Einsicht in die moralische und letztbegründete Pflicht ist umzusetzen durch einen entsprechenden Willeasentschluß. Die „Nötigung des Willens44 (Kant) ist popular gesprochen das Gewissen als moralischer Sinn. Das Gewissen auf postkonventionellem Niveau (Kohlberg Stufe 6) als autonomes Gewissen im Sinne des gesetzgebenden moralischen Vernunftwillens hat das Postulat des vollständig reversiblen ,ideal role-taking 4 reflektiert und steht vor der Alternativentscheidung der egoistisch-strategischen und der Gerechtigskeitseinstellung, wobei letztere in dem Bezug auf die völlig reversiblen Reziprozitätsstrukturen der idealen kontrafaktisch antizipierten unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft terminiert. Das durch das autonome Gewissen geleitete Subjekt wird seine Handlungsmaxime daraufhin überprüfen, ob jedes mögliche Mitglied einer idealen Kommunikationsgemeinschaft sie akzeptieren könnte. Die Autonomie des Willens im Sinne Kants wird in Apels Transformation „als reflektierte Internalisierung der kommunikativen Kompetenz im Sinne ihrer kontrafaktischen antizipierten Idealstruktur verstanden. 4448 Apel zeigt: wenn man 47

Vgl. Apel, 1988, S. 350-351. Apel 1988, S. 343. Anmerkung zu dem Zitat von Apel: Internalisierung bezeichnet eine Bewegung von außen nach innen; dieser Prozeß der Verinnerlichung verweist. (a) auf eine Objektbeziehung, die in der psychoanalytischen Terminologie Introjektion genannt wird: „Das Subjekt läßt in seinen Phantasien Objekte und diesen Objekten inhärente Qualitäten von,außen' nach,innen4 gelangen44 (Laplanche, Pontalis „Vokabular der Phsychoanalyse44, Frf. 1972). Bilder als Ge- und Verbote werden introjeziert und bilden Anteile des ,Über-Ich\ welches als normatives Muster auf das ,Ich' wirkt. (b) auf eine reale Interaktion mit der Umwelt (und Eigenschaften der Umwelt) und sozialisationstheoretisch die Umwandlung dieser Interaktionsbeziehung in innere Regulationen des Subjekts. Das Moment (a) der Introjektion als eines steuernden Objektes ist ein nichtkognitiver Vorgang, der allerdings gemäß psychoanalytischer Lehrmeinung durch psychoanalytischen Prozeß zugänglich und durch freie Assoziation grundsätzlich aufhellbar ist. Das Moment (b) ist als Interaktionsverhältnis in kognitiven Prozessen als innere 48

9.3 Aufhebung des von Rawls vorausgesetzten Gerechtigkeitssinns

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sich auf ernsthaftes Argumentieren einläßt, „ist man notwendigerweise auch schon für das moralische entschieden."49 Damit ist aber nicht gesagt, daß man sich faktisch nicht doch gegen die Realisierung moralischer Normen entscheiden und entsprechend handeln könnte — und dieses geschieht in lebenspraktischen Zusammenhängen leider nicht als Ausnahme, sondern im überwiegenden und bestürzenden Maße. Die Einsicht in die moralische Urteilskompetenz bedarf der willentlichen Entscheidung für moralische Handlung. Es ist der »innere Gerichtshof des Gewissens' (Kant) in dem letztlich die Motive für Moral oder strategisches Handeln entschieden werden. Wie in Kapitel 8.34 (Realisierung des Diskursimperativs und das Ergänzungsprinzip ,E') skizziert, ist mit der Entscheidung für Moralisch-Sein im Sinne der Diskursethik nicht die unbefangene Anwendung der konsensual kommunikativen Imperative gemeint. Es bedarf der situationsbezogenen Anwendung der postkonventionalen moralischen Normen im Sinne der schweren Aufgabe der verantwortungsethischen Vermittlung: konsensualkommunikative Rationalität ist zu vermitteln mit der strategischen Rationalität im Sinne einer „langfristigen moralischen Strategie der (Mitarbeit an der) progressiven Realisierung solcher Verhältnisse, die eine Ablösung der rein strategischen Konfliktregulierung durch konsensualkommunikative Konfliktregulierung erlauben."50 Wie ist nach dem bisher vorgetragenen also Gerechtigkeitssinn zu begreifen? Die Rawlssche Intuition eines Gerechtigkeitssinns muß über die genetische Herleitung hinaus fortbestimmt werden zur Wesensbestimmung des Gerechtigkeitssinns. Rationale Reflexion soll die Sache auf den Begriff bringen: der Gerechtigkeitssinn sinnt zunächst ein Sollen an, er hat als Empfindung Appellationscharakter. Diese Empfindung ist transzendentalpragmatisch zu rekonstruieren. Das Wesen des Gerechtigkeitssinns erschließt sich in Klarheit durch rationale Reflexion auf die reziproken Anerkennungsverhältnisse, die transzendentalpragmatisch vergewisserbar sind. Diese Reflexion hat kognitive Dimension und imperative Dimension. Das imperative Sollen bedeutet Handlungsaufforderung. Das Wesen des Gerechtigkeitssinns erschließt sich in der Reflexion auf die Verschränkung von (a) Disposition zu konsensual kommunikativen Konfliktlösungen, und (b) der in der reflektierten Disposition mitgesetzten Aufforderung der willentlichen, verantwortungsbewußten Aktualisierung der kognitiv eingesehenen Anerkennungs- und Verpflichtungsstruktur in der konkreten Situation. normative Regulation rational reflektierbar. Der von Apel verwendete Begriff der »reflektierten Internalisierung' ist in dem bestimmten Zusammenhang der kommunikativen realen Interaktion als bewußte, durch strikte Reflexion vergewisserbare normative innere Regulation zu interpretieren. 49 Ebd., S. 356. so Ebd., S. 365 f.

10. Reformulierungsvorschlag des Unterschiedsprinzips 10.1 Gleichheit und Unterschiedenheit Die Streitfrage der Verteilungsgerechtigkeit wird je nach der zugrundeliegenden Position eine unterschiedliche Beantwortung erfahren. Sie führt in ein Zentrum der Problematik »Unterschied und Gerechtigkeit'. Die unterschiedlichen Positionen lassen sich in zwei Lager teilen: 1. die Gleichstellungsposition, und 2. die Unterschiedenheitsposition.

10.11 Gleichstellungsposition (a) Gleichheit der Rechte der Individuen ist als erstes gesetzt; auf Grund dieser Setzung könnte unbefangen die Gleichstellungssforderung in Hinblick auf zum Beispiel Einkommen und Vermögen und Wohlstand erhoben werden. Solch radikale Gleichstellungssposition fordert dann Transferzahlungen derart, daß gleicher Wohlstand aller Individuen der Tendenz nach hergestellt wird. Gleichheit wäre in diesem Fall als arithmetische Gleichheit vorgestellt. Das Ergebnis wäre die Verteilungsnorm: ,Allen das Gleiche4, unabhängig von der individuellen Leistung, dem individuellen Beitrag, dem Verdienst oder dem Bedürfnis. Eine nivellierende Verteilungsregel (allen das Gleiche) ist aber in keiner Weise eine Garantie für gleiche Handlungschancen oder gar gleichen individuellen Wohlergehens. Ich erinnere an das in Kapitel 1 eingeführte Beispiel des Rollstuhlfahrers: im Interesse gleicher Handlungschancen im Sinne der Ermöglichung individuellen Wohlergehens (Befriedigung von Lebensbedürfnissen) bedarf es bei der Verteilung der Ressourcen der besonderen Berücksichtigung der Behinderung der Rollstuhlfahrer und aus dieser Berücksichtigung ergeben sich ungleiche Verteilungsansprüche. Das heißt also: eine Ungleichverteilung (mit begründeter Rücksicht auf eine auf eine spezifische faktische Ungleichheit) im Hinblick auf ein gleiches Recht tendenziell gleicher Handlungschancen. (b) Die geforderte Gleichheit wird jetzt vorgestellt als ein institutionell zu sicherndes gleiches Recht auf tendenziell gleiche individuelle Handlungschancen mit dem Ziel der Ermöglichung individuellen Wohlergehens. Ungleichheiten der Handlungschancen sind auszugleichen — sie sollen nicht sein.

10.1 Gleichheit und Unterschiedenheit

193

(c) Egalität, verstanden als Gleichheit der Handlungschancen, wäre der normative Bezugspunkt ungleicher Verteilung. Ungleiche Verteilungen, die eine in diesem Sinne verstandene Gleichheit befördern, wären gerechtfertigt. Die Rawlsche Theorie der Gerechtigkeit orientiert sich an einer egalitären Gerechtigkeitsvorstellung. „Die wirkliche Gewähr für die Gleicheit liegt im Inhalt der Gerechtigkeitsgrundsätze", schreibt Rawls 1 . Rawls fordert eine Gleichheit der Rechte (erste Priorität) und im Range nachfolgend bindet der zweite Gerechtigkeitsgrundsatz Unterschiede an die Bedingung der Chancengleichheit und den allseitigen Vorteil. Das Rawlssche Unterschiedsprinzip ist an dem gemeinsamen Wohl orientiert; es konkretisiert gem. Rawls sogar den „Grundsatz der Brüderlichkeit" 2 : der „Grundsatz der Brüderlichkeit" wird dabei von Rawls als der willentliche Ausdruck gefaßt, daß man „keine Vorteile haben möchte, die nicht auch weniger Begünstigten zugute kommen." 3 Der unpolitische Ausdruck der Brüderlichkeit wird durch das Unterschiedsprinzip in seiner demokratischen Deutung (s. Kapitel 4.324) institutionell operationalisierbar.

10.12 Unterschiedenheitsposition In der Diskussion um politische Konzepte zeigt sich die Aktualität der Fragen der Beförderung der Gleichheit der Rechte, der Handlungschancen, der ökonomischen Bedingungen, der materiellen Güterausstattung in den weltweiten Nord / Südkonflikten, in Regionalkonflikten, in Gruppenkonflikten und in zwischenmenschlichen Konflikten. In der von Gegensätzen gekennzeichneten Welt fordern unzufriedene unterprivilegierte Individuen, Gruppen, Staaten, Staatengemeinschaften Ausgleich ihrer Benachteiligung von den jeweils Bevorzugten. Sie stellen diese Forderung als Gerechtigkeitsforderung, gegründet in universaler Egalität der Rechte der Menschen. Doch die Privilegierten verteidigen ihre partikulare, bevorzugte Stellung — und dieses oft durch Bezug auf ein Gerechtigkeitskonzept, welches Unterschiede im Sinne von Bevorzugungen zuläßt. Sie beziehen die Unterschiedenheitssposition. Unterschiedliche soziale und wirtschaftliche Positionen werden für zulässig erklärt. Gestützt wird diese Vorstellung entweder durch Bezug auf konventionelle Verteilungsnormen, die auf unterschiedliche Beiträge bei der kooperativen Güterproduktion abhebt, bzw. sich aus unterschiedlichen Rechtspositionen des Eigentums ableitet (a), oder Unterschiede werden legitimiert durch die durch sie bewirkten Vorteile für alle (b). (Letztere Position wird in der Rawlsschen Theorie durch Hinzunahme der fairen Chance und der Offenheit der Ämter und Positionen zu einem egalitären Gesellschaftsmodell »sozialer Gerechtigkeit' fortbestimmt). ι Rawls, 1975, S. 551. 2 Rawls, 1975, S. 126. 3 Rawls, 1975, S. 127. 13 Bausch

10. Reformulierungsvorschlag des Unterschiedsprinzips

Zu (a): Die Vorstellung unterschiedlicher Eigentums- und Vermögensrechte geht hinsichtlich ihrer Begründung auf die atomistische Lockesche Auffassung zurück, ein Individuum verschaffe sich in einem friedlichen Naturzustand durch »Mischung4 seiner Arbeit mit der Natur Eigentum4. Eine solche Vorstellung kann konfliktfrei nur gedacht werden durch die Annahme unbegrenzter Ressourcen, so beispielsweise für den Fall eines Jägers, der in den offenen weiten Wäldern Kanadas einen Bären erlegt und für sich beansprucht. Die Lockeschen Voraussetzungen liegen jedoch in den komplexen arbeitsteiligen Industriegesellschaften nicht vor, und es ist die Frage, ob sie überhaupt jemals vorgelegen haben. Wir entwickeln unser einfaches Beispiel der Bärenjagd fort: die Verbindung von Menschen zu kooperativer Zusammenarbeit ermöglicht Produktivitätsfortschritte. Der einsame Jäger schließt sich daher mit weiteren Jägern zusammen und jeder beteiligt sich entsprechend seinen besonderen Fertigkeiten an dem gemeinsamen Unternehmen: der spezialisierte Fährtensucher, der zielsichere Schütze, der talentierte Organisator; weniger kenntnisreiche und jagderfahrene Mitglieder der Unternehmnung bilden die Treiberwehr. Alte, Kranke und Kinder bleiben zu Haus. Dieses Modell kann weiterentwickelt werden bis in die Strukturen moderner Industriegesellschaften; die Strukturen werden dadurch komplizierter und komplexer — die zentralen Fragestellungen betreffend die Verteilung der kooperativ produzierten Güter bleiben allerdings die Gleichen: Wem gebührt gerechterweise welcher Anteil? Und: wie ist das „suum cuique" zu bestimmen? Die erste Frage bezieht sich auf die konkret inhaltliche Bestimmung der gerechten Verteilung, die zweite Frage auf die Verfahrensweise dieser Bestimmung. Nach häufigem Brauch erhält der für das Gelingen der Jagd mit besonders wertvollen Fähigkeiten ausgestattete Jäger den größten Anteil der Beute, es gilt das Leistungs- oder Beitragsprinzip. Ist dieses jedoch nur Konvention oder gibt es gute Gründe für diesen Anspruch? Gibt es begründete Unterschiede der Verteilung? Und durch welches Verfahren wäre der richtige Anteil eines Jeden, das ,suum cuique4, zu bestimmen? Im Beispiel unserer Jagdgesellschaft wäre noch vorstellbar, daß es sich um eine akephale Gesellschaft handelt, also eine Gesellschaft ohne Zentralinstanz, und in welcher praktische Egalität herrscht. Eine solche Ordnung ohne Herrschaft ist nicht unmöglich und Ethnologen haben derartige Gesellschaften auch nachgewiesen5. In einer solchen Gesellschaft würde die Verteilung durch Beratung und Beschluß (oder Schlichtung) der Mitglieder erfolgen. 4 Vgl. im einzelnen Locke, 1690, Kapitel 5 »Eigentum4, S. 21. 5 Morgan wies bei den ursprünglichen Gentilgesellschaften der Irokesen ein selbständiges autonomes weitgehend herrschaftsfreies Nebeneinander sowohl der einlinigen Abstammungsgruppen (Gens) wie auch inerhalb der Gens nach (egalitäre, geordnete Anarchie). Die Mitglieder dieser Gruppen haben zwar einen „Sachem44, einen Sprecher; dieser hat aber nur eine Vermittlerfunktion, keine Befehlsfunktion und keine Sanktionsgewalt. Entscheidungen in den Räten, die in komplizierten Abstimmungsverfahren erfolg-

10.1 Gleichheit und Unterschiedenheit

195

Jenseits des Umstandes, daß die Regelmechanismen vorfeudaler Gesellschaften in den komplexen Verhältnissen moderener Industriegesellschaften nicht anwendbar sind, erhebt sich die philosophisch entscheidende Frage nach den Gründen für die Verbindlichkeit der konkret inhaltlichen Regel. Das Rawlssche Unterschiedsprinzip meint begründete (d. h. gemäß Rawls: im hypothetischen Urzustand entschiedene) Ungleichheiten ausweisen zu können: sind (bei Beobachtung des Vorranges des ersten Freiheitsgrundsatzes, Offenheit der Positionen und der fairen Chancengleichheit) soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten so beschaffen, daß sie im Ergebnis jedem zum Vorteil gereichen, so gelten sie als gerecht. Zu (b): Unsere Untersuchung des Unterschiedprinzips führte allerdings zu dem Ergebnis, daß das Unterschiedsprinzip als eigentliche Verteilungsregel unscharf ist. Der allseitige Vorteil läßt sehr unterschiedliche Verteilungsmöglichkeiten zu. Das Unterschiedsprinzip stellt keine Regel bereit zu entscheiden, welche der Alternativen richtig ist. Rawls Gerechtigkeitstheorie bezieht sich zwar auf Institutionen, die nach Rawls in einem Vierstufengang zu einem gesellschaftlichen Ganzen in einer solchen Weise durchgeformt werden, daß die Verteilungsfragen in reinen Verfahrensregeln terminieren, welche soziale Gerechtigkeit garantieren. Wie jedoch gezeigt wurde, kommt Rawls letztlich nur soweit, ein praxisgemäß konkurrenzbestimmtes Preissystem in einer gerechten Grundstruktur als Verfahren der Verteilung zu postulieren; wo Schwierigkeiten auftreten, verweist Rawls auf den Grundsatz der politischen Regelung6. Rawls intendiert offenbar das besondere Ideal des marktmechanistischen Preissystems unter Einschluß der fairen Chance und der Offenheit der Positionen als Strukturmerkmal einer wirtschaftlich effizienten gerechten Gesellschaft; beachtenswert dabei ist, das das Rawlsche Unterschiedsprinzip der Intention nach nicht nur die Zielsetzung der Verteilungsgerechtigkeit, sondern auch die Zielsetzung eines möglichst optimalen Versorgungsniveaus Rechnung tragen soll. Allerdings ist mit dieser Intention der Ausweis, daß die sich so ergebenden kontingenten Verteilungen ,gerecht4 sind, meines Erachtens noch nicht gelungen. Der Rawlssche Verweis auf politische und marktkonforme Regelungen muß ergänzt werden um Prinzipien, die formal als rationaler,Probierstein 4 einer gegebenen oder hypothetisch erwogenen Verteilungnorm gelten können. Selbst im dem einfachen Fall des Beispiels einer wohlgeordneten Bärenjagdgesellschaft ist nach meiner bisherigen Untersuchung mit den Rawlschen Grundsätzen nicht zu entscheiden, wem was gerechterweise zusteht oder welches die Verfahren wären, durch die das Verteilungsproblem zu lösen wäre. Konkurrierende Ansprüche stehen gegeneinander. Soferne nicht tradierte, lebensweltliche ten, mußten einstimmig sein; die Beratungen waren öffentlich. (Vgl. im einzelnen Wesel, 1980, S. 19-25 und 107-118). 6 Vgl. Rawls, 1975, S. 312 und 399. 13*

10. Reformulierungsvorschlag des Unterschiedsprinzips

Verteilungsregeln ungebrochen Anwendung finden, sondern dieselben kritisch hinterfragt werden, entsteht eine Krise; verschiedene Verteilungsmaximen werden mit dem Anspruch auf Richtigkeit vorgetragen werden — sofern die Angelegenheit nicht über das Faustrecht faktisch entschieden wird. Unter den vorgeschlagenen Verteilungsnormen werden voraussichtlich alle in dem Kapitel 1.1 aufgezählten Regeln vorgetragen werden: jedem nach seinen Bedürfnissen, jedem nach seinem Rang, jedem nach seiner Leistung, jedem entsprechend den eingegangenen vertraglichen Verpflichtungen, jedem nach seinen Meriten — oder auch aus der Position radikaler Egalität: einfach jedem das Gleiche. An dieser Stelle müßte der praktische Diskurs eröffnet werden.

10.2 Reformulierungsvorschlag des Unterschiedsprinzips Grundlage der Rawlsschen Gerechtigkeitstheorie ist die Vorstellung einer Egalität der Rechte der Menschen. Diese drückt sich zunächst in dem ersten Gerechtigkeitsgrundsatz aus (Freiheitsgrundsatz). Danach fragen sich die Beteiligten im Urzustand, warum sie nicht auch Ungleichheiten zulassen sollten, wenn diese zu aller Vorteil ausschlagen. So gelangt Rawls zum Unterschiedsprinzip. Das Rawlssche Unterschiedsprinzip verdankt sich der Gerechtigkeitsintuition allseitiger Vorteile. Diese Intuition sichert Rawls methodisch durch das »Überlegungsgleichgewicht', dessen normativer Bezugspunkt der hypothetische Urzustand ist; in dem Rawlschen Konstruktivismus wird der Urzustand synthetisch hergestellt, ein gedankliches Artefakt, das Rawls entwirft, um die von ihm intuierten Grundsätze theoretisch abzuleiten. Die konkreten inhaltlich bestimmten Grundsätze werden dann äußerlich auf die jeweilige Situation der praktischen Entscheidung bezogen. Die Rawlssche Gerechtigkeitskorrelation von Ungleichheit und Vorteil für alle hat den bestechenden Reiz der einfachen Regel. Es ist aber — wie gezeigt wurde — nicht erkennbar, wie die Rawlsschen Institutionen der wohlgeordneten Gesellschaft explizite Verteilungsregeln generieren könnten, die zwischen konkurrierenden Ansprüchen auf die Produkte der Kooperation mit Gründen zu vermitteln vermögen. Der folgende Reformulierungsvorschlag wird sich auf das Rawlssche Vorteilskriterium beziehen, da die aufgezeigten Unterbestimmungen insbesondere dieses Kriterium betreffen (Teil (a) des Rawlsschen zweiten Gerechtigkeitsgrundsatzes). Ich will prüfen, ob die Rawlsschen Intentionen in einer solchen Weise gefaßt werden können, daß sie sich nicht den in dieser Arbeit entfalteten Vorwürfen ausgesetzt sehen, auf der anderen Seite aber auch nicht in einer so weiten allgemeinen Regel aufgelöst werden, daß ihr bestechender konkreter Inhalt völlig verloren geht. In dieser Arbeit schlage ich eine Reformulierung des Unterschiedsgrundsatzes vor, gemäß welcher konkret vorgegebene soziale und wirtschaftliche Ungleich-

10.2 Reformulierungsvorschlag des Unterschiedsprinzips

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heiten, bzw. hypothetisch erwogene Ungleichheiten, hinsichtlich ihrer Richtigkeit (Legitimität) diskursiv überprüft werden. Bei der diskursiven Überprüfung ist zu unterscheiden: der philosophische Diskurs (1), der einfach praktische Diskurs (2 a) und der einfach theoretische Diskurs (2b). Zu (1): Der philosophische Diskurs dient der Überprüfung einer philosophischen These und führt in reflexiver Einstellung zur Entwicklung von rationalen Kriterien für theoretische bzw. ethische Urteile, die als Sinnbedingung einfacher praktischer und einfacher theoretischer Diskurse nicht weiter bestreitbar sind (la), und die universalistische ethische Prinzipien enthalten (lb); diese sind in Hinblick auf die Geltungsfähigkeit ethischer Urteile: der allgemeine Diskursgrundsatz ,D' (nur die Normen dürfen Geltung beanspruchen, die die Zustimmung aller Argumentierenden als vernünftige Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden oder finden könnten), und als Geltungskriterium in Hinblick auf insbesondere Gerechtigkeitsurteile: der Universalisierungsgrundsatz ,U' (nur die Norm ist gültig, deren Folgen und Nebenwirkungen ihrer allgemeinen Befolgung für die Interessenbefriedigung jedes einzelnen Beteiligten von allen zwanglos akzeptiert werden können); ,U' ist ein formales Geltungskriterium, dessen Erfüllung einen in einfachen praktischen Diskursen einzulösenden Konsens in all den Fällen ermöglicht, in denen die Interessen der Betroffenen diskursiv geregelt werden sollen. Zu (2 a): Die einfachen praktischen Diskurse dienen der Überprüfung der Richtigkeit konkreter inhaltsbestimmter Normen, Handlungen bzw. Handlungsaufforderungen. Die diskursive Überprüfung orientiert sich dabei an dem Universalisierungsgrundsatz als Geltungskriterium. Zu (2 b): Die einfachen theoretischen Diskurse dienen zur Überprüfung der Wahrheit einer These; es handelt sich um konkret sach- bzw. inhaltsbezogene Diskurse zur Prüfung, ob ein bestimmter Sachverhalt zutrifft oder nicht. Die diskursive Überprüfung orientiert sich an wissenschaftlichen Hypothesen und empirischen Daten. Die Diskurse sind der Struktur nach dialogisch; es gilt ausschließlich die Autorität des sinnvollen und sachdienlichen Arguments. Faktische Individuen kommen als Argumentierende (Ego und Alter) zusammen und wissen sich in ihrer Rolle als Argumentierende bezogen (und verpflichtet) auf den generalisierten dritten, auf die unbegrenzte Argumentationsgemeinschaft. In dem Konfliktfall konkurrierender Ansprüche verschiedener Beteiligter gilt der kategorische Imperativ argumentativer Konsensbildung in kontrafaktischer Antizipation der idealen unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft (und in der

10. Reformulierungsvorschlag des Unterschiedsprinzips

Apelschen verantwortungsethischen Ergänzung ist damit auch der Imperativ der Herbeiführung bzw. Verbesserung der Strukturen eingeschlossen, in denen ein postkonventionelles konsensorientiertes Handeln real möglich wird); d. h. man soll sich um Lösungen bemühen, denen jeder vernünfige Betroffene zwangfrei zustimmen könnte. Dieses ist der Kern ethischer Kommunikation, der die Voraussetzungen rationaler Argumentation einholt und fruchtbar macht. Ich nehme nach diesen Zusammenfassungen die Untersuchung des Unterschiedsproblems wieder auf. In erster Näherung an das Entscheidungskriterium für praktische Diskurse zur Prüfung der Frage: ,Darf diese oder jene soziale Ungleichheit sein?4 soll es zunächst auf die aus der Ungleichheit erwachsenden Vorteile für alle Betroffenen ankommen (vorläufiges Kriterium der Vorteilsauswirkung). Denn: es ist zunächst für Menschen mit Bedürfnissen offensichtlich rational, eine Vorteilsorientierung als Kriterium für Wahlentscheidungen anzunehmen (d. h. Bildung von Rangreihen in Hinblick auf alternative Strati der Bedürfnisbefriedigung). Ist bei der Alternativenbildung die Verteilung X in Hinblick auf die Bedürfnisbefriedigung aller Individuen vorteilhafter als die Alternative Y, so ist es rational, X zu wählen. Die Begründung, die sich nur auf die Bedürfnisbefriedigung aller und auf die allseitige Vorteilsauswirkung bezieht, ist jedoch nicht hinreichend: ( 1 ) Das alleinige Kriterium der Vorteilhaftigkeit in Hinblick auf die Befriedigung faktisch gegebener Bedürfnisse sieht sich der Kritik durch die Frage nach der Bedürfnislegitimation ausgesetzt; es gelten die kritischen Argumente gegen den klassischen Utilitarismus, dem jedes Interesse, soferne es nur ,pleasure4 bereitet, gleich viel galt. Es bedarf also eines Kriteriums für die Qualifiziertheit der Interessen. Denn kontingente partikulare Interessen können gegeneinander stehen (a), sie können legitim oder illegitim sein (b), und gefragt sind Normen, solche Konflikte zu lösen (c). Die plane Erfüllung faktischer kontingenter Interessen kann nicht moralisch geboten sein, sofern im Sinne einer normativen Vernunftethik seit Kant »moralisch4 auf intersubjektiv gültige Gründe für die Verbindlichkeit einer Norm oder der moralisch gehaltvollen Handlungsweise verweist. Diese Fassung des Moralischen als normative Pflichtethik ist unvereinbar mit utilitristischer oder eudaimonistischer Ethik. Normative Ethik fragt idealisierend nach den Gründen für die Verbindlichkeit und benennt den Diskursgrundsatz ,D 4 als Moralprinzip. Diesem Prinzip wäre entsprochen, wenn alle sich ideal kommunikativ verhielten. Die Realität jedoch bleibt hinter diesem Ideal prinzipiell immer zurück; partikular interesselose Menschen wären Engel im Himmel. In der geschichtlichen Realität treffen partikulare Interessen aufeinander und werden meist in strategisch orientierten Diskursen thematisiert. Sofern allerdings dieser Umstand verantwortungsethisch reflektiert wird und der Reflektierende sich in kontrafaktischer Antizipation dem idealen Diskursuniversums verpflichtet weiß, ist der enge partikulare Interessenhorizont

10.2 Reformulierungsvorschlag des Unterschiedsprinzips

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überschritten; in diesem Sinne käme es darauf an, in gedankenexperimenteller Antizipation virtueller arguemtativer Konsensfähigkeit auf das »wohlverstandene gemeinsamen Interesse4 (Interesse 3. Ordnung 7) abzuheben, d. h. auf ein Interesse, das jeder moralisch Verpflichtete vernünftigerweise haben sollte. Die Autonomie der Betroffenen fordert, daß das,wohlverstandene allgemeine Interesse4 nicht äußerlich festgestellt wird — es ist vielmehr gemäß der diskursethischen Verpflichtung im praktischen Diskurs nach dem Prinzip ,D4 und dem Kriterium ,U4 zu ermitteln und vermitteln. Diese Vermittlung geschieht in einem reziprok durchzuführenden ,ideal role taking4 in der Form der Argumentation. Das Ergebnis sind die aus dem Diskursprozeß der Vermittlung und Differenzierung hervorgegangenen diskursiv qualifizierten Interessen; in die Vorteilsauswirkung werden nur auf diese Weise qualifizierte Interessen einbezogen (Kriterium (a): diskursiv qualifizierte Vorteilsauswirkung). Gemäß dem Sachkriterium der qualifizierten Vorteilsauswirkung werden faktische (partikulare) Interessen nur soweit berücksichtigt, als diese Interessen Anerkennungswürdigkeit (moralische Richtigkeit) im Modus der Antizipation eines argumentativen Konsenses ausweisen können. Die Idee der moralischen Richtigkeit darf nicht preisgegeben werden durch Auflösung des ethischen Diskurses in politischen oder juridisch abgestützten faktischen Interessenkompromissen. (2) Partikulare allseitige Vorteilsauswirkung ist in planer Formulierung als Kriterium für zugelassene (gebotene) Ungleichheiten noch nicht hinreichend; denn das Verhältnis, in dem die je einzelnen Vorteilsauswirkungen für die Individuen zueinander stehen, ist noch unberücksichtigt. Es ist möglich, daß große Vorteile einer Gruppe einhergehen mit nur sehr geringen Vorteilen einer anderen Gruppe. Es bedarf eines Kriteriums der Beurteilung der unterschiedlichen Vorteilsverteilungen. In Hinblick auf eine Lösung des skizzierten Problembereiches der Legitimation der Vorteilsverteilung gilt es wiederum, den normativen Gehalt des Universalisierungsgrundsatzes ,U 4 fruchtbar zu machen. Danach gilt die das Vorteilskriterium einschränkende Bedingung: die aus der sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit resultierenden Vorteilsverteilungen sollen hinsichtlich ihrer Folgen und Nebenfolgen von allen Beteiligten als vernünftigen Diskurspartnern zwanglos akzeptiert werden können (Kriterium (b): diskursive Akzeptanz der Vorteilsverteilung). Dieses bedeutet: soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten gelten als gerechtfertigt, soferne ein diskursiver Konsens der sinnvollen Argumente über die Qualifikation der Interessen, die allseitige Vorteilsauswirkung und die Vorteilsvertei1 Vgl. hierzu oben Kapitel 8.32.

10. Reformulierungsvorschlag des Unterschiedsprinzips

lung für alle Betroffen erfolgt ist (gegebenenfalls virtuell erfolgen könnte). Dieses Prüfungsverfahren soll — wenn irgend möglich — in realen einfach-theoretischen und einfach-praktischen Diskursen durch die Betroffenen in konsensuellen Argumentationsanstrengungen erfolgen, in welchen — die konkreten Lebenspläne und Bedürfnisse der Betroffenen in einem konkret theoretischen Diskurs situationsbezogen geklärt und vermittelt werden (Interessenartikulation mit dem Ziel der Interessenqualifizierung), und — die voraussichtlichen Folgen für Dritte, bzw. für zukünftige Generationen, in konkret theoretischen Diskursen antizipiert und berücksichtigt werden (Folgen- und Zukunftsbezug der Diskurse). Mit Kriterium (a) und (b) erfolgt die Anwendung diskursethischer Prüfungsimperative nach dem Universalisierungsgrundsatz als übergreifendem Geltungskriterium für vorgegebene partikulare Interessenansprüche und für vorgegeben soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten, bzw. für hypothetisch erwogene gesellschaftliche Ungleichheiten. Das Kriterium der diskursiv qualifizierten Vorteilsauswirkung und das Kriterium der diskursiven Akzeptanz der Vorteilsverteilung sind im Hinblick auf das Prüfungsproblem sozialer und wirtschaftlicher Ungleicheiten Präzisierungen des Universalisierungsgrundsatzes als Argumentationskriterium. Im Blick auf die mehr oder weniger nicht-diskursiven gesellschaftlichen Situationen bzw. Konfliktlösungsmöglichkeiten ist es allerdings verantwortungsethisch geboten, nach sinnvollen Einschränkungsregelungen für die Anwendung der genannten idealisierenden Diskursimperative zu fragen. Die Diskursethik als Folgenverantwortungsethik reflektiert die realen Einschränkungen diskursiver Entscheidungsfindung und läßt pragmatische Diskursbegrenzungen durch geregelte Entscheidungsverfahren (ζ. B. Mehrheitsbeschlußverfahren nach Debatte) zu, ist sich jedoch dabei über den Status der so zustandegekommenen faktischen Entscheidungen als immer fallible, revisionsfähige Ergebnisse im klaren. Durch eine solcherart vorgenomme Prüfung kontingenter Interessen und sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheiten wird der Idee nach das Recht jeder Person auf gleichberechtigte Berücksichtigung in den konkreten Situationen entsprochen und insofern der kantische kategorische Imperativ zweiter Formulierung, Menschen als Selbstzweck und nicht als Mittel zu nehmen, in konkret einzulösender Weise Rechnung getragen. Die konkrete Einlösung soll, wo immer möglich und vorzugsweise in realen Diskursen erfolgen; in faktischen gesellschaftlichen Bedingungen sind jedoch Begrenzungen der realen Diskurse unvermeidbar. Dennoch: Der logische Ort des moralischen Urteils bleibt der Konsens der kontrafaktisch im Gedankenexperiment individuell oder gruppenhaft antizipierten unbegrenzten idealen Kommunikationsgemeinschaft. Es gibt allerdings keine Garantie für das faktische Gelingen dieses gedankenexperimentellen Prozesses in einem solchen Sinne, daß die konkreten Ergebnisse nicht im Prinzip auch immer falsifizierbar, revidierbar und immer verbesserbar wären.

10.2 Reformulierungsvorschlag des Unterschiedsprinzips

201

Durch die bisher vorgenommene diskursethische Ergänzung der Rawlsschen Intention des Ausweises von berechtigten Ungleichheiten erscheinen zwar die problematischen Implikationen der Rawlsschen Fassung des Unterschiedsprinzips vermeidbar, da die Regelung von konkreten Verteilungsproblemen dem praktischen Diskurs der Betroffenen überlassen wird. Es gilt das Kriterium der diskursiv qualifizierten Vorteilsauswirkung und der diskursiven Akzeptanz der Vorteilsverteilung. Der Preis ist allerdings ein durch die Formalität der diskursethischen Imperative und die noch sehr weit gefaßten Geltungskriterien bewirkter Verlust konkret inhaltlicher Bestimmtheit eines auf diese Weise gefaßten Unterschiedsprinzips. Ferner ist die von Rawls als wichtig erachtete leichte Anwendbarkeit von Gerechtigkeitsgrundsätzen zugunsten eines sehr anspruchsvollen argumentativen Verfahrens aufgegeben. In einem weiteren Schritt ist daher zu untersuchen, ob im Hinblick auf die Vorteile, die sich als Verteilungsproblem stellen, ein Kriterium formulierbar ist, das als explizites Moment des Prüfungsverfahrens wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheiten die Entscheidbarkeit konkurrierender Ansprüche präziser ermöglicht und welches nicht sinnvoll bestritten werden kann. Dieses Kriterium muß die von Rawls nicht ausreichend berücksichtigte Vorteilsverteilung in expliziter Fassung zum Inhalt haben und d. h.: unter welchen Bedingungen eine diskursive Akzeptanz der Vorteilsverteilung zu erwarten ist; dieses kann wiederum nur ein formales Kriterium sein. Ein solches Kriterium der fortschreitenden Differenzierung argumentativer Konsensbildung könnte lauten: die Vorteile müssen für die Betroffenen in Hinblick auf die je gegebene Situation und in Hinblick auf die Lebensinteressen der Betroffenen im Verhältnis zueinander angemessen sein. (Kriterium c: Situationsangemessenheit der Vorteilsverteilung in Hinblick auf die Lebensinteressen der Betroffenen). Es kommt jetzt offensichtlich darauf an, was unter Angemessenheit verstanden werden soll und wie die Angemessenheit bestimmt wird. Angemessenheit verlangt eine Bezugsgröße. Dabei ist Angemessenheit zunächst in der Perspektive idealer kontrafaktischer Unterstellungen (la), sowie in der Perspektive faktischer realer Verhältnisse zu reflektieren (lb). Sodann ist die Angemessenheit in dem spezifischen Hinblick auf den jeweils bestimmten Gegenstand der diskursiven Prüfung (in unserem Fall: Vorteilsverteilung) zu reflektieren und diesbezügliche Geltungskriterien zu entwickeln (2). Zu (la): Auf der Ebene des idealen Diskurses (in der Apelschen Architektonik: Teil A der Diskursethik) fordert die diskursive Prüfung die Angemessenheit der allgemeinen Kriterien (a) und (b) in Hinblick auf die konkrete Situation. Die Angemessenheit stellt sich als pragmatisch hermeneutisch-technisches Problem der Urteilskraft in Hinblick auf die notwendige Konkretion der allgemeinen Regel.

10. Reformulierungsvorschlag des Unterschiedsprinzips

Zu (lb): Auf der Ebene der geschichtsbezogenen realen Anwendung (in der Apelschen Architektonik: Teil Β der Diskursethik) der Kriterien (a) und (b) fordert die verantwortungsethisch reflektierte Diskursethik die Situationsangemessenheit im Sinne der Zumutbarkeit des allgemeinen Diskursimperativs ,D' unter nicht moralanalogen gesellschaftlichen Bedingungen. Zu (2): Die spezifisch gegenstandsbezogene Angemessenheit fragt in Hinblick auf bestehende, bzw. hypothetisch erwogene Verteilungsnormen nach der Angemessenheit der Vorteilsverteilung in Hinblick auf die spezifischen Lebensinteressen der Betroffenen. Ich gehe jetzt bei der Klärung der Frage der Angemessenheit schrittweise weiter vor. Die schrittweise Klärung soll ein differenzierteres Verständnis des Kriteriums (c) ergeben. (1) Ebene A: Das Angemessenheitskriterium der Vorteilsverteilung ist riickzubeziehen auf die diskursiv qualifizierten realen Lebensinteressen der Betroffenen. Die Angemessenheitsdiskurse berücksichtigen die faktische gesellschaftliche Verteilungssituation. Die Klärung und Evaluierung der situativen Bestimmtheit ist jedoch nicht im Sinne aristotelischer Klugheitsurteile eines erfahrenen, reifen Mannes äußerlich auf die Situation anzuwenden — eine solche Praxis würde die diskursethische Verpflichtungsgegenseitigkeit preisgeben. Die situative Angemessenheit soll idealerweise in argumentativen Anstrengungen ermittelt und vermittelt werden; die diskursiv vorzunehmende Angemessenheitsprüfung vermittelt in einem voll reversiblen ,ideal roletaking' noch einmal die Interessen aller Betroffenen. Die Forderung eines ,ideal role taking' ist als Forderung einer Reversiblität im Sinne prinzipieller Gleichberechtigung aller Rollen (1) und die gedankenexperimentelle Einnahme dieser Position im Prozeß der Urteilsbildung (2) zu verstehen. Das willentliche Bemühen nach dem Kriterium der Situationsangemessenheit durch ein voll reversibles ,ideal role taking' in der Form des argumentativen Diskurses ist Ausdruck der Menschen als Selbstzweckwesen mit unbedingtem moralischen Wert im Sinne der Anerkennung der formalen Gleichberechtigung ihrer Lebensansprüche. Das diskursethisch qualifizierte Lebensinteresse wird gemäß dem hier vertretenen Ansatz gefaßt als eine vernünftige Vermittlung pluraler Lebensinteressen. Die historische Variabilität und Unterschiedlichkeit, die kulturellen, sozialen und regionalen Differenzierungen der pluralen Lebensinteressen ist nicht einzuebenen im Sinne eines einheitlichen Lebensinteresse der Menschheit. (2) Ebene B: (a) Die Situationsangemessenheitsdiskurse der oben beschriebenen Art stehen unter der idealen Voraussetzung, daß das Moralprinzip der diskursiven Konsensverplichtung selbst in der konkreten Situation angewandt wer-

10.2 Reformulierungsvorschlag des Unterschiedsprinzips

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den kann. Wir sehen uns verwiesen auf das Problem der Realisierbarkeit des Diskursimperativs und des verantwortungsethischen Problems der ^Zumutbarkeit der Moral' für moralische Subjekte, die unter faktisch eingeschränkt moralanalogen Bedingungen, gegebenenfalls sogar in antimoralischen Gesellschaftsverhältnissen, handeln müssen. Eine gutwillig moralverpflichtete Handlung könnte ruinöse Folgen für den Handelnden selber und / oder weitere Betroffene haben und ist daher unter verantwortungsethischen Gesichtspunkten nicht zumutbar. In Hinblick auf nicht moralanaloge faktische gesellschaftliche Verhältnisse, wo die reale Situation der Forderung der unvermittelten Anwendung des universalistischen Moralprinzips ,D' entgegensteht und das diskursive Prüfungsverfahren nicht, oder nicht hinreichend aktualisiert werden kann, gilt das von Karl-Otto Apel pointierte Ergänzungsprinzip ,E' (Böhler: U r e ß / t e l , U s t r a t ) zu dem Normenbegründungsprinzip ,U': Verpflichtung der Herleitung der noch nicht hinreichend realisierten postkonventionellen Anwendungsbedingungen der Diskursethik selber. (3) Ebene B: (b) Die Situationsangemessenheitsdiskurse implizieren auf der realen Ebene auch bei faktischem Vorliegen hinreichend entwickelter Diskursvorausetzungen immer hermeneutisch-technische Probleme der Urteilskraft in Hinblick auf die faktische situative Konkretion der Norm der Vorteilsverteilungsgerechtigkeit. Die real diskursive Prüfung der diesbezüglichen faktischen Situationsangemessenheit qua Urteilskraft — und sei diese auch plural verstanden — ist immer fallibel. Die im praktischen Diskurs geltend gemachten und im diskursiven Prozeß vermittelten, situativ evaluierten Lebensinteressen sind keine Konstanten. Die Bedürfnisse der Individuen ändern und entwickeln sich in der Zeit und nicht zuletzt in dem Prozeß diskursiver Prüfung. Gesellschaftliche Standards werden hinterfragt, Produktions- und Verteilungssysteme und deren Imperative in Hinblick auf die Lebensinteressen der Individuen analysiert. Die schwer auflösbare Einheit kontingenter Interessen und lebensweltlicher Konventionen wird im diskursiven Prozeß der Kritik zugänglich gemacht. Dennoch wird der faktische Konsens (oder: sofern kein Konsens in der Sache selbst gefunden: der politischer Kompromiß) wegen des immer wesentlich historischen Charakters menschlicher Interessen fragil bleiben. Ferner: Affekte und Neigungen werden als bestimmter Inhalt der Lebensinteressen immer kontingentes Merkmal der inhaltlichen Norm sein. Kant forderte für das sittliche Handeln die vernünftige Selbstbestimmung unter Absehung von den subjektiven Neigungen (Neigung ist unvereinbar mit Pflicht), was Kant den Vorwurf des Rigorismus eintrug. Ein zentrales Vermittlungsproblem liegt daher in der dialektischen Spannung, die sich dem Umstand verdankt, daß auf der einen Seite in realen Diskursen Neigungen und Affekte als kontingente Momente von Lebensinteressen in den Diskurs eingebracht

10. Reformulierungsvorschlag des Unterschiedsprinzips

werden (und somit als ein reales sozialpsychologisches Moment normenbildend wirken), auf der anderen Seite diskursive Vernunft (idealer diskursiver Verallgemeinerbarkeitstest betreffend die Lebensinteressen durch ein ,ideal role taking 4 ) gefordert wird; also: faktische Interessenartikulation (Faktizität) versus argumentative Konsens Verpflichtung (Normativität). Erfolgt somit nun als praktisches Ergebnis die Auflösung des ethischen Diskurses in politisch faktischen Interessenkompromissen rechtlich realisierbarer Verhältnisse faktischer Interessenübereinstimmung? Rawls versuchte das Problem wie folgt zu lösen: Die Beteiligten im Urzustand entscheiden auf Grund einer universalen, verallgemeinerungsfähigen Interessenbasis; Rawls konstruiert durch den Schleier des Nichtwissens im Urzustand die Fiktion gleicher Interessenlage aller potentiell Beteiligter und damit einen normativen Vernunftkonsens substantieller Interessen, wenngleich paradoxerweise der spezifisch materielle Inhalt hinter dem Schleier des Nichtwissens verborgen ist . Anders der Ansatz der Diskursethik: In der historischen Gegebenheit realer Diskurse werden verschiedene partikulare Interessen mit dem Anspruch auf Befriedigung von den verschiedenen einzelnen Subjekten oder einzelnen Gruppen vorgetragen werden — und das soll gemäß dem diskursethischen Ansatz auch so sein. Wie wird hier ein normativer Vernunftkonsens in Gerechtigkeitsfragen möglich? Die Antwort lautet wieder: in dem kommunikativen Prozeß der sich im Modus des argumentativen voll reversiblen ,ideal role taking4 hermeneutisch zirkelhaft vollziehenden Interessenvermittlung, wobei dieser Prozeß sich bezogen weiß auf das ,logische Wir 4 der unbegrenzten idealen Kommunikationsgemeinschaft. George Herbert Meads Grundvorstellung, daß im Interaktionsprozeß die Beteiligten reziprok die Perspektiven der jeweils anderen zu übernehmen vermögen, ist ein Konzept, welches fortbestimmt durch die Arbeiten von Karl-Otto Apel die Einlösung des Vernunftanspruchs der praktischen Philosophie verspricht. George Herbert Mead fordert eine sympatische Einfühlung und Identifikation mit den anderen. Das Modell des ,role taking4 als einfühlende Parteinahme wird um systematischen und emotionalen Vereinseitigungen zu begegnen, über George Herbert Mead hinausgehend von vorneherein im Sinne des Diskursmodells gedeutet.8 Der Diskurs hält qua ernsthaftem Argumentieren zu einem idealen Rollentausch besonderer Form an: diese Form fordert nicht nur argumentativ vermittelte Einfühlung in virtuell alle potentiell Betroffenen, sondern der voll reversible ideale Rollentausch wird in der Argumentationform selber begriffen. Ego und Alter stehen sich in der Rolle als Argumentationspartner gegenüber und beziehen sich auf den gener alisier« Vgl. hierzu Apel, 1988, S. 326 ff; Habermas, 1981, I, S. 63 und 249; ders. 1986, S. 301-320.

10.2 Reformulierungsvorschlag des Unterschiedsprinzips

205

ten anderen als Inbegriff der Argumentations gemeinschaft. Diese Form genügt streng kognitivistischen Ansprüchen. Die Verschiedenheit der Perspektiven, die Sprecher und Hörer (Ego und Alter) einnehmen und in kommunikativen Rollen der ersten, zweiten und dritten Person (als dem generalisierten anderen) ausdifferenzieren, wird aufgehoben in einer realen Kommunikationsgemeinschaft, in der die ideale Kommunikationsgemeinschaft antizipiert wird. Das auf den Diskurs umgestellte Rollenübertragungsmodell der Idee vernünftiger Willensbildung ermöglicht, in reziproker Anerkennung das Wohl des anderen und das eigene Wohl zusammenzubringen. Die hohe Abstraktion bei der Klärung von Begründungsfragen von Normen und der Entwicklung von formalen Prüfungskriterien ist jetzt noch einmal in Hinblick auf die reale Anwendung zu reflektieren. Moral muß in ihrer realen Anwendung mehrere Aufgaben in einem lösen: Herbeiführung ihrer eigenen Anwendungsbedingungen, Schutz der reziproken Anerkennung des Individuums, Wohl des einzelnen und Wohl der Gemeinschaft. Das in die Argumentationsform gewendete Rollenübertragungsmodell impliziert den willentlichen Entschluß zur solidarischen Einfühlung in die Lage aller betroffenen anderen; wäre dieses nicht der Fall, könnte es in situationsbezogenen Diskursen zu konsensfähigen Lösungen gar nicht kommen.9 Der Begriff Solidarität hat allerdings keine einheitliche Bedeutung. Ich verstehe das Wort Solidarität als aktivisch verstandenes umfassendes Zusammengehörigkeitsgefühl, als willentlichen Akt innerer Verbundenheit mit dem anderen und auch dem Fremden. Solidarität in dem hier verstandenen Sinne hat einen universalen Charakter, ist nicht eingeengt durch gruppenhafte Vereinseitigungen (Corpsgeist partikularer Gruppen), ist nicht durch Nützlichkeitserwägungen erklärt. Solidarität ist transzendentalpragmatisch rekonstruierbar als Ergebnis moralischer Verpflichtungseinsicht, als zumutbares ethisches Konzept der Anerkennung der anderen als Mitmenschen mit eigenen Lebens- und Glücksansprüchen. Solidarität erscheint insofern als voluntative Seite der kognitiv reflektierten Diskursethik. Ich fasse zusammen: Im Laufe der Untersuchung sind eine Reihe von kriteriologischen Aspekten hinsichtlich der Prüfung wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheiten genannt worden. Die Kriterien stehen auch in einem hermeneutisch zirkelhaften Zusammenhang; der Zusammenhang ist ein solcher zunehmender Differenzierung: von dem vorläufigen Kriterium der bloßen Vorteilsorientierung, über (a) diskursiv qualifizierte Vorteilsauswirkung (nur anerkennungswürdige Interessen sind als Vorteile zu berücksichtigen), (b) diskursive Akzeptanz der Vorteils Verteilung.

9 Vgl. hierzu auch Habermas, 1986, S. 311-314.

10. Reformulierungsvorschlag des Unterschiedsprinzips

(c) Situationsangemessenheit der Vorteils Verteilung durch Rückbezug der Vorteilsverteilung auf die diskursiv qualifizierten Lebensinteressen der Betroffenen. Die Differenzierungsschritte von (a) zu (b) und (c) sind analytisch. Bezogen auf das Unterschiedsprinzip kann jetzt folgende Formulierung vorgeschlagen werden (wobei die Bedingung (b) unverändert von Rawls übernommen wird): Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten stehen unter folgender in Diskursen zwischen den Betroffenen zu überprüfenden Bedingung: (a) die Folgen und Nebenwirkungen der Ungleichheiten sollten für alle Betroffenen mit Vorteilen verbunden sein, die - bei Beachtung des diskursiv solidarisch einzulösenden Kriteriums der Angemessenheit der Vorteilsverteilung (al) — von allen (inklusive zukünftig Betroffener) allein aus Gründen zwanglos akzeptiert werden können (a2). (b) die Ungleichheiten sollten mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offenstehen. Der Rawlsche Grundsatz formuliert: „Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen . . ."; der Ausdruck »müssen4 könnte logische Folge implizieren. Ich bevorzuge die Redeweise »sollten4, da durch den Ausdruck »sollen4 der ideal moralische Auftrag meines Erachtens präziser getroffen wird, und die verantwortungsethische Einschränkung der Handlungsregel in realen Kontexten durch den Konjunktiv »sollten4 offen bleibt. Die Prüfung, ob die Bedingungen (al) und (a2) erfüllt sind, erfolgt in praktischen und theoretischen Diskursen, in denen nichts anderes als Argumente zählen. Die Angemessenheit beweist sich in dem Rückbezug auf die diskursiv qualifizierten Lebensinteressen, die in einem idealen Rollentausch in der Form der Argumentation vermittelt und ermittelt werden. Die diskursive Prüfung befragt wirtschaftliche und soziale Unterschiede, ob sie in ihrer Praxis ohne Konsequenzen auch gegenüber den bestmöglichen Argumenten, die gegen sie von Seiten der von ihr Betroffenen vorgebracht werden können, gerechtfertigt werden könnte (Ebene A). Die Vorteilsorientierung erfährt somit ihre Grenze und moralische Bestimmung durch die Rückbindung an Gründe, die virtuell auch in einem kontrafaktisch zu antizipierenden unbegrenzten Diskursuniversum, das auch als Telos anzustreben ist, Bestand hätten. Die diskursethische Prüfung ermöglicht eine prinzipielle kritische Spannung zwischen etablierter Verteilungsordnung und der kontrafaktisch antizipierten idealen Kommunikationsgemeinschaft. Das lebensweltlich verfestigte Ethos, die konkret herrschende Sittlichkeit wird durch reflektierende Ethik kritisierbar und gegebenenfalls durch entsprechende Handlungen veränderbar.

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Es bedarf jedoch der Einsicht, daß der Diskursgrundsatz hohe Idealisierungen unterstellt und in der Idealisierung Abstraktionen von den historischen Kommunikationsbedingungen vornimmt. Hier stellt sich entsprechend dem von Karl-Otto Apel explizierten diskursethischen Konzept das verantwortungsethische Problem moralischer Strategie (Ebene B), insoferne die in (a2) genannte Bedingung der zwanglosen Akzeptanz hinreichend freie Kommunikationsverhältnisse voraussetzt, die in den faktischen gesellschaftlichen Situationen nicht immer zu erwarten ist. Angesichts dieses Befundes gilt der Imperativ der approximativen Herstellung der Anwendungsbedingungen konsensualverpflicheteten kommunikativen Handelns (1) und der Imperativ der kontrafaktischen Konsensverpflichtung (2), der im Geiste der Solidarität mit allen Menschen die Form gedankenexperimenteller und advokatorischer Überprüfung hypothetischer Normen bzw. bestehender Normen hat. Durch die Anwendung des formal prozeduralen Diskursgrundsatzes erfährt der Rawlssche konkrete Unterschiedsgrundsatz eine Wendung im Sinne einer präzisierbaren orientierenden Norm, deren konkret inhaltlichen Bestimmungen sich in praktischen Diskursen im Geist einer umfassenden Solidarität bewähren müssen, in denen die je speziellen Situationen der Betroffenen immer wieder diskursiv thematisiert werden.

11. Zusammenfassung und Epilog 11.1 Zusammenfassung Die vorgelegte Arbeit ist der Versuch einer Rekonstruktion der Rawlsschen Theorie der Gerechtigkeit auf transzendentalpragmatisch fundiertem diskursethischen Boden. Der transzendentalpragmatische Ansatz versteht sich als Transformation der kantischen Philosophie. Der kantische Kategorische Imperativ formuliert ein intersubjektiv gültiges Moralprinzip, nach welchem gedankenexperimentell die subjektive Maxime hinsichtlich ihrer Verallgemeinerbarkeit in Form einer allgemeinen Gesetzgebung für eine gedachte ideale Gemeinschaft gleicher Vernunftwesen geprüft wird. Das kantische Prüfungsverfahren ist allerdings nicht kommunikativ konzipiert: die verallgemeinerte Gegenseitigkeit ist der persönlichen Maximenprüfung solus ipse überlassen. Die transzendentalpragmatische Reflexion dagegen begründet den von ihr geforderten argumentativen Diskurs als Sprachspiel der Vernunft. Das kantische ideale Reich der Zwecke wird dechiffriert als die ideale unbegrenzte Kommunikationsgemeinschaft (Apel), welche in der realen Kommunikationsgemeinschaft antizipiert wird. Im kommunikativen Diskurs werden praktische Argumentationen auf intersubjektive Gültigkeit geprüft. Dieser Prozeß als nie abgeschlossenes Werden ist die Konkretisierung der Vernunft; Vernunft ist kein kontingenter Bestand substantieller Einsichten, vielmehr eine formale Kompetenz, sich an universalen Geltungsansprüchen zu orientieren; diese Kompetenz weiß sich auf den dialogischen Raum', in dem Geltungsansprüche erhoben und kritisiert werden, verwiesen und unter einen Begründungsanspruch gestellt. Der Bezug auf das Ideal einer unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft verdankt sich offensichtlich einer Abstraktion von den realen Kommunikationsbedingungen. Es kann uns in tranzendentaler Reflexion jedoch hinreichend klar werden, was der Bezug bedeutet: Deontologische Verpflichtung diskursiver Überprüfung der Richtigkeit faktischer Normen durch die bestmöglichen Argumente, die virtuell Betroffene vorbringen könnten und die Unterwerfung unter den „zwanglosen Zwang des besseren Arguments" (Habermas). Erst in dem argumentativen Diskurs wird „das Motiv des Vernunftphilosophen Kant, Mündigkeit durch Fortgang des überprüfbaren und als gültig vergewisserbaren Wissens zu ermöglichen [...] geschichtsreflektiert fruchtbar gemacht [...]. Das soll die Transzendentalpragmatik vor allem dadurch erreichen, daß sie einen nicht sinnvoll bezweifelbaren Vernunftkern rekon-

11. Zusammenfassung

struiert, zu dem die Fähigkeit und Gewißheit des richtigen Argumentierens samt des Unterscheidens des »Vernünftigen' vom Nichtvemüftigen, des richtigen vom falschen Argument usw. gehören muß"1. Der transzendentalpragmatische Ansatz beansprucht, das substantielle ethische Prinzip der Anerkennung aus den Präsuppositionen rationaler Argumentation und der Konsequenz des zu vermeidenden performativen Widerspruchs als Sinnbedingung rationalen Argumentierens abzuleiten, d. h. transzendental reflexiv als Möglichkeitsbedingung der Argumentation aufzudecken. Das mag überraschen; denn das Fundament der Begründung scheint schmal: Kann es die Last der Begründung tragen? Wichtig ist, den methodischen Ansatz der Transzendentalpragmatik als intersubjektiv gültige Selbstvergewisserung zu begreifen (1), und den Gegenstand der transzendentalen Reflexion ausschließlich auf die in der Argumentationshandlung selbst in Anspruch genommenen Präsuppositionen zu begrenzen (2). Diesbezügliche strikte Reflexion führt zu der Einsicht der Verpflichtungsgegenseitigkeit im Sinne der Anerkennung der anderen als gleichberechtigte Argumentationssubjekte, und d. h. der Anerkennung der anderen als Vernunftwesen, insoferne sie als Interessesubjekte zugleich in der logischen Rolle als Argumentationsteilnehmer mit Anspruch auf Geltung eigene Lebens- und Bedürfnisansprüche äußern. Nach transzendentalpragmatisch begründeter diskursethischer Auffassung ist eine Norm dann gerechtfertigt, wenn ihr ideal alle möglicherweise Betroffenen als Argumentationteilnehmer zustimmen (oder zustimmen könnten). Die virtuelle Zustimmungsfähigkeit unter den idealen Bedingungen eines Diskursuniversums mit dialogischer Reziprozität ist eine Idealisierung —jedoch impliziert die Spannung zwischen der idealen und der realen Kommunikationsbedingungen eine transzendental reflexiv einholbare Verpflichtungsdimension, deren konsequente Explikation verantwortungsethische Pflichten in realen Verhältnissen nicht nur nicht ausläßt, sondern als Imperativ der Erhaltung und Verbesserung der Kommunikationsbedingungen explizit benennt. Die kritische Rekonstruktion der Rawlschen Theorie ergab Begründungsdefizite der in moralischer Absicht von Rawls thetisch gesetzten Eingangsvoraussetzungen der Gleichheit, des Gerechtigkeitssinns (und der sich daraus ergebenden Fairnessintuition als,natürlicher Pflicht 4 ). Die Grundlage der Theorie der Gerechtigkeit wird durch diese Prämissenwahl gelegt. Rawls bleibt aber den Ausweis schuldig, daß es zwingende Gründe gibt, gerade diese Prämissen als moralisch relevante Repräsentanten des moralischen Standpunktes einer normativen Ethik zu wählen. Diese Defizite wurden behoben durch eine geltungslogische Fundierung der Rawlschen Position in dem transzendentalpragmatischen Ansatz.

ι Böhler, 1985, S. 36 f. 14 Bausch

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11. Zusammenfassung und Epilog

Die Fundierung der Rawlschen Theorie habe ich in zwei , Aufhebungsthesen 4 durchgeführt, wobei »Aufhebung 4 im hegelschen Sinne als Dreischritt des tollere, conservare und elevare verstanden wird: die Rawlsschen Gerechtigkeitsintuitionen werden sowohl ersetzt, wie auch in einer reorganisierten Form bewahrt. Ich behaupte, daß die tanszendentalpragmatisch fundierte Diskursethik mit weniger theoretischen Aufwand stichhaltigere Begründungen geben kann und insoferne zu konsistenteren Ergebnissen kommt als Rawls. These 1: Der Rawlssche hypothetische Urzustand und der entscheidungstheoretische Ansatz wird in dem als Ideal antizipierten Zustand einer unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft in der realen Kommunikationsgemeinschaft aufgehoben. Diesen Antizipationszustand nenne ich den ,wahr en Urzustand'. Der Rawlssche konstruktivistische und kontraktualistische Ansatz der Gerechtigkeitstheorie mit seiner entscheidungstheoretischen Orientierung wird durch einen reflexiven transzendentalpragmatischen Ansatz ersetzt und das Rawlssche Konstrukt eines hypothetischen ,Urzustandes' in den ,wahren transzendentalen Urzustand' der unbegrenzten idealen Kommunikations gemeinschaft gewendet. Der ideale Äntizipationszustand ist besimmt als die bewußte kontrafaktisch gedankenexperimentelle Vorwegnahme eines idealen Bezugszieles im Sinne einer regulativen Idee: die Gemeinschaft aller vernunftfähigen Wesen, der gegenüber Geltungsansprüche idealerweise zu verantworten wären. Der Bezug auf die ideale Kommunikationsgemeinschaft, die in der realen Kommunikationsgemeinschaft antizipiert wird, ersetzt die regulative Funktion des voraussetzungsreichen hypothetischen und theoretischen Rawlsschen Urzustandes. These 2: Der von Rawls vorausgesetzte Gerechtigkeitssinn wird durch Reflexion auf die dialektische Spannung des doppelten Kommunikationsapriori aufgehoben. Diese Spannung besteht zwischen der antizipierten idealen Kommunikations gemeinschaft und der realen Kommunikations gemeinschaft, in der die ideale kontrafaktisch entworfen wird. Die transzendentalpragmatische Beweisführung liefert in der Refexion auf die Spannung des doppelten Kommunikationsapriori vergewisserbare Gründe für die geltungslogische Verankerung der von Rawls vorausgesetzten Theoriebedingung „Gerechtigkeitssinn". Sie ist insofern eine Ergänzung der Rawlsschen Intentionen. Der Gerechtigkeitssinn sinnt zunächst ein Sollen an, er hat als Empfindung Appellationscharakter. Diese Empfindung ist zu rekonstruieren und sie erschließt sich in Klarheit durch Reflexion auf die reziproken und verpflichtenden Anerkennungsverhältnisse (a), und die willentliche Aufforderung zu verantwortungsbewußter Konkretion dieser AnerkennungsVerhältnisse (b). Gerechtigkeitssinn wird bestimmt als die reflektierte Verpflichtungsgegenseitigkeit, d. h. als reflektierte Disposition zu konsensualer Konfliktlösung (a), und

11.1 Zusammenfassung

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willentliche, verantwortungsbewußte Aktualisierung der kognitiv eingesehenen Anerkennungs- und Verpflichtungsstrukturen in der konkreten Siuation (b). Die Intuition der Gleichheit, der Gegenseitigkeit, der reziproken Verpflichtung und Anerkennung, die Rawls in den von ihm in der Theorie vorausgesetzten Gerechtigkeitssinn und des daraus resultierenden Fairneßgrundsatzes als natürliche Pflicht 4 faßt, werden im Rahmen des transzendentalpragmatisch sinnkritischen Ansatzes interpretiert und begründet: die Reflexion auf die Präsuppositionen rationaler Argumentation führt zur Vergewisserung reziproker Verpflichtungs- und Anerkennungsverhältnisse der Argumentationssubjekte als gleiche. Die Apelsche Vernunftethik ergänzt insoweit den Rawlsschen Ansatz, als sie die Rawlssche Gleichheitsprämisse und ihre „natürlichen Grundlage" als eine im faktischen Dialog implizite Anerkennungsgegenseitigkeit rekonstruiert und im transzendentalen Beweisgang begründet. These 3: Das Rawlssche Unterschiedsprinzip bindet wirtschaftliche und soziale Unterschiede bei Beachtung der Chancengleichheit und Offenheit der Positionen in der Gesellschaft an den größtmöglichen Vorteil für die am wenigsten begünstigte Gruppe. Um eine Interpretation des größtmöglichen Vorteils 4 im Sinne eines methodischen Utilitarismus auszuschließen, kommt es nun darauf an, die Vorteilsorientierung zurückzubinden an das logische Universum einer idealen Kommunikationsgemeinschaft, welches in der realen Kommunikationsgemeinschaft kontrafaktisch antizipiert wird und die Verbesserung der Anwendungsbedingungen für Diskurse auch als Telos aufgegibt. Ferner: es wurde in der Arbeit gezeigt, daß das Rawlssche Unterschiedsprinzip als Verteilungsregel unscharf ist. Das Unterschiedsprinzip benennt keine Regel, wie die durch Kooperation erwirtschafteten Erträgnisse gerecht verteilt werden, bzw. durch welche Verfahren sich die Aufteilung mit Anspruch auf moralische Gültigkeit zu bestimmen habe. Auf Grund faktisch konkurrierender Ansprüche auf Befriedigung kontingenter Lebensbedürfnisse bei knappen Ressourcen entstehen Verteilungsprobleme. Diese sollen mit Hilfe von Gerechtigkeitsgrundsätzen und konkreten Gerechtigkeitsnormen moralisch gelöst werden. Wir verbinden mit moralischen Gerechtigkeitsgrundsätzen den Sinn, daß sie gesellschaftliche Materien im ,wohlverstandenen gemeinsamen Interesse4 aller möglicherweise Betroffenen regeln. Diesem Sinn wäre entsprochen, wenn sich alle ideal kommunikativ verhielten, und durch Anwendung des Legitimationsprinzips ,D4 und des praktischen Kriteriums ,U4 jedem das ,suum cuique4 zuerkannt und damit der Idee der Verteilungsgerechtigkeit entsprochen wäre. ,U4 hat eine 2 Entfällt. 14*

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11. Zusammenfassung und Epilog

kriteriologische Funktion als Rechtfertigungsmaßstab im rationalen Diskurs: ,U' ermöglicht als Argumentationskriterium, daß in Gerechtigkeitsfragen mit Gründen entschieden werden kann und ein rationaler Konsens über verallgemeinerungsfähige Verteilungsnormen möglich ist. Der deontologischen Diskursethik mit dem Imperativ argumentativer Konsensbildung allein auf Grund intersubjektiv einsehbarer Gründe gebührt der Primat gegenüber utilitaristischen Interessenzielen. Das diskursethisch gewendete Unterschiedsprinzip lautet: wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten stehen (bei Beachtung des Prinzips der Chancengleichheit und der Offenheit der Positionen) unter der diskursiv zu überprüfenden Bedingung: Die Folgen und Nebenwirkungen der Ungleichheiten sollten für alle Betroffenen mit Vorteilen verbunden sein, die bei Beachtung des diskursiv solidarisch einzulösenden Kriteriums der Angemessenheit der Vorteilsverteilung, von allen (inklusive zukünftig Betroffener) zwanglos und allein aus konsensfähigen Gründen akzeptiert werden können. Die »Vorteilsorientierung' erfährt in diskursethischer Perspektive ihre Grenze und moralische Bestimmung durch ihre Rückbindung an Gründe, die auch in einem (kontrafaktisch zu antizipierenden) Diskursuniversum Bestand haben könnten; dies geschieht durch ein ,ideal role taking' in der Form der Argumentation. Das auf den Diskurs umgestellte Rollenübertragungsmodell der Idee vernünftiger Willenbildung ermöglicht, in reziproker Anerkennung das Wohl der anderen und das eigene Wohl zusammenzubringen, insoferne Diskursteilnehmer als Interessensubjekte und zugleich in der logischen Rolle als Argumentationsteilnehmer mit Bezug auf ein unbegrenztes Diskursuniversum auftreten oder gedacht werden würden. Nach Maßgabe einer normativen kommunikativen Ethik fragt der praktische Diskurs über faktische Bedürfnisse (faktische Verteilungen, faktische oder hypothetisch erwogene Verteilungsnormen) nach der jeweiligen Rechtfertigung und nach den Geltungsgründen der Rechtfertigung, sodaß in der argumentativen Rechtfertigungsreflexion hinsichtlich der Bedürfnisse (Verteilungen, Verteilungsnormen) ein Übergang von faktischen Bedürfnissen (Verteilungen, Verteilungsnormen) zu einer argumentativen Bedürfnis-(Verteilungs- ) interpretation vollzogen wird, und damit im Modus der Argumentation der Übergang von der Gegebenheit kontingenter faktischer Bedürfnisse zur normativen Regelung ihrer legitimen Befriedigung möglich wird (Übergang von Faktizität zu Normativität).

11.2 Epilog Rawls schließt seinen imponierenden Theorieentwurf mit einem idealisierenden Satz, dessen Intention die Diskursethik teilen kann. Rawls charakterisiert seinen Standpunkt als

11.2 Epilog

213

„eine bestimmte Form des Denkens und Empfindens, die sich vernunftgeleitete Menschen in der Welt zu eigen machen können. Und wenn sie das tun, dann können sie [...] alle individuellen Betrachtungsweisen in ein System bringen und gemeinsam zu maßgebenden Grundsätzen kommen, die jeder bejahen kann, indem er ihnen gemäß lebt, jeder von seinem Standpunkt aus." Und emphatisch fährt Rawls fort: „Reinheit des Herzens, wenn sie jemand erreichen könnte, hieße: von diesem Standpunkt aus klar sehen und mit Anmut und Souveränität handeln."3 Rawls scheint hier den Gedanken Friedrich Schillers nachzuzeichnen, daß sittliches Verhalten sich in Anmut und Grazie offenbare 4; Grazie verstanden als die Gunst, „die das Sittliche dem Sinnlichen erzeigt" 5 ; der Geist bilde sich seinen Körper und verwandele Anmut zuletzt in Harmonie und Schönheit. Es sind nach Schiller drei Verhältnise zu denken, in welchem der Mensch zu sich selbst, das ist sein sinnlicher Teil zu seinem Vernünftigen, stehen kann: Entweder der Mensch unterdrückt mit Strenge seine sinnliche Bedürfnisnatur, so wie es die Kantische Idee der Pflicht mit einer Härte verlangt, „die alle Grazien davon zurückschreckt" 6. Oder der Mensch ordnet den vernünftigen Teil seines Wesens, seine Autonomie, dem sinnlichen unter, „womit ihn die Naturnotwendigkeit gleich den anderen Erscheinungen forttreibt" 7 . Oder: Der Mensch soll seiner „Vernunft mit Freude gehorchen" 8; dann setzen sich die Forderungen der sinnlichen Bedürfnisnatur des Menschen mit den Gesetzen der Vernunft „in Harmonie, und der Mensch ist einig mit sich selbst"9.

3

Rawls, 1975, S. 638, Die Übersetzung ,Anmut4 heißt im englischen Original,grace', ,Souveränität' im englischen »self-control'. 4 Vgl. Schiller, Anmut und Würde", Werke in zwei Bänden, München, oJ, S. 520 - 563. 5 Ebd., S. 541. 6 Ebd., S. 545. 7 Ebd., S. 542. s Ebd., S. 545. 9 Ebd., S. 542.

Literaturverzeichnis Das Literaturverzeichnis enthält Einzelschriften, Dissertationen, Sammelwerke und Zeitschriftenaufsätze. Das Verzeichnis ist alphabetisch geordnet, bei mehreren Verfassern, bzw. Herausgebern erfolgt die Einordnung nach dem Erstgenannten. Bezüglich der Aufsätze und Textstellen aus Lexika, Kommentaren und Gesetzessammlungen, auf die in der Arbeit Bezug genommen worden ist, verweise ich auf die Fußnoten in der Arbeit; sie werden in dem Literaturverzeichnis nicht gesondert aufgeführt. Die auf den Namen des Autors folgende Jahreszahl bezieht sich in der Regel auf das Jahr des ersten Erscheinens des betreffenden Titels, in: manchen Fällen auf das Erscheinungsjahr der verwendeten Auflage. Mehrfach publizierte Arbeiten werden, wenn nicht anders angegeben, nach der jeweils zuletzt angeführten Quelle zitiert. Albert, Hans (1969): „Traktat über kritische Vernunft", Tübingen, 19692. — (1982): „Wissenschaft und Fehlbarkeit der Vernunft", Tübingen, 1982. Apel, Karl-Otto (1973): „Transformation der Philosophie", 2 Bände, Frankfurt / Main, 1976. — (1976): „Das Problem des philosophischen Letztbegründung im Lichte einer transzendentalen Sprachpragmatik", in: Kantschneider (Hrsg.), Sprache und Erkenntnis, Innsbruck 1976. — (1984): „Zur geschichtlichen Entfaltung der ethischen Vernunft der Philosophie", in: Apel u. a. (Hrsg.), 1984a (Studien-Texte Funkkolleg), S. 66-137. — (1984): „Ist die philosophische Letztbegründung moralischer Normen auf die reale Praxis anwendbar", in: Apel u. a. (Hrsg.), 1884a (Studientexte Funkkolleg), S. 606634. — (1986): „Die ethische Bedeutung des Sports in dem Licht einer universalistischen Diskursethik", Vortrag Osnabrück 1986, in: Apel 1988, S. 217-246. — (1986 a): „Grenzen der Diskursethik? Versuch einer Zwischenbilanz", Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 40, 1986. — (1988): „Diskurs und Verantwortung", Frankfurt, 1988. — (1989): „Normative Begründung der kritischen Theorie durch Rekurs auf lebensweltliche Sittlichkeit?", in: Honneth Α., McCarthy Th., Offe C., Wellmer Α. (Hrsg.), Zwischenbetrachtungen, Frankfurt, 1989. — (1990): „Diskursethik als Verantwortungsethik — eine postmethaphysische Transformation der Ethik Kants", unveröffentlichtes Manuskript Frf., März 1990. — ( 1991 ): „Diskursethik vor der Problematik von Recht und Politik: können die Rationalitätsdifferenzen zwischen Moralität, Recht und Politik selbst noch durch die Diskursethik normativ rational gerechtfertigt werden", Manuskript Frf., 1991.

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