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German Pages 424 Year 2001
RHETORIK-FORSCHUNGEN Herausgegeben von Joachim Dyck, Walter Jens und Gert Ueding Band 14
Peter D. Krause
Unbestimmte Rhetorik Friedrich Schlegel und die Redekunst um 1800
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2001
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Für Karoline
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Krause, Peter D.: Unbestimmte Rhetorik : Friedrich Schlegel und die Redekunst um 1800 / Peter D. Krause. - Tübingen : Niemeyer, 2001 (Rhetorik-Forschungen ; Bd. 14) Zugl.: Oldenburg, Univ., Diss., 1999 ISBN 3-484-68014-8
ISSN 0939-6462
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2001 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: Guide Druck GmbH, Tübingen Einband: Buchbinderei Geiger, Ammerbuch
Inhalt
Einleitung
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Teil I: Friedrich Schlegel und die Rhetorik
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1. Doctrina Tradition und Philologie Leipziger Bildungswelt
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2. Dresden. Die Zeit des docere Zu den Quellen. Plato, die Sophisten und Aristoteles Lektüre der Alten. Musik und Metrik Antike Rhetorik I. Der Epitaphios des Lysias
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3. Das erste Jenaer Jahr. Schlegel und das probare Die Übertragung aus dem Dionysios. Antike Rhetorik II Philosophische Konstellationen Anthropologie und Bildungslehre Logische wider romantische Wahrheit Wahrscheinliche, analogische, dialektische Denkform
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4. Schlegel im Umkreis von conciliare, delectare, und movere Die Geschichte der Poesie. Antike Rhetorik III Ethos. Die Sittlichkeit Geselligkeit und Popularität Endliche Rhetorik Poetisierung und persuasive Intention Absolute Rhetorik Musikalische Sprache Geist und Buchstabe Pathos Das Erhabene. Enthusiastische Rhetorik Mythologie und Enzyklopädie Unendliche Rhetorik
133 133 137 149 159 167 178 186 193 198 207 215 222
5. Romantische Beredsamkeit. Die Zeit nach der Jahrhundertwende . . . Antike Rhetorik IV Von der falschen und von der hinreißenden Beredsamkeit Das neue System der Künste »Freiheit durch Rhetorik«
233 233 239 244 250 V
Teil II: Rhetorik und Romantik 1. Rede-Räson und Schweige-Räson 2. Die Beredsamkeit im Zeitalter der neuen Wissenschaften 3. Das alte System der Bildung und der Schwund der Latinität 4. Das Ende der Regelpoetik. Entrhetorisierung der Rhetorik 5. Humanitas oder Eine maßlose Kunst 6. Moderne Aufklärung und zwiespältige platonische Tradition 7. Herrschaft der neuen Methode - Gebändigte Affekte 8. Das Ende der Rhetorik in den Wissenschaften 9. Wahrheit oder Wirkung. Ästhetik und Rhetorik 10. Rhetorik versus Philosophie 11. Plato und Aristoteles 12. Transzendentale Rhetorik
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Bibliographie
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Einleitung
... tum in pratulo propter Piatonis statuam consedimus.
Cicero, Brutus
I. Betrachtet man die jüngste Forschung zur deutschen Geisteswissenschaft und ihrer Geschichte, so fallen zwei Schwerpunkte auf. Von einer »Renaissance« der Rhetorik ist die Rede, zugleich von der Gegenwärtigkeit der Romantik, des Denkens um 1800 überhaupt. Zunächst, woraus erklärt sich das anhaltende Interesse für das späte 18. Jahrhundert? Entscheidende Begriffe, mit denen wir arbeiten, »empfingen damals ihre Prägung«, und wer um ein »begründetes geschichtliches Selbstverständnis bemüht ist«, sieht sich nach wie vor besonders auf diese Zeit verwiesen. 1 Die Aktualität jener Epoche ist begründet dadurch, daß sich »die Motive und Formen des Denkens, die in ihr aufkamen, nicht erschöpft haben, sondern anschlußfähig geblieben sind«. 2 Nur wenige philosophisch-literarische Epochen können mit der deutschen Romantik wetteifern, so durchgängig als Folie eigener Ambitionen benutzt worden zu sein. Und in der neuesten Rezeption finden die Irrungen und Wirrungen der Wirkungsgeschichte eine Fortsetzung. Den Hintergrund bildet das problematische Verhältnis der Romantik zur Moderne. Steht die Romantik am Anfang des Auseinanderfalls von »wirklichkeitsorientierter Vernunft und ästhetischem Bewußtsein«? 3 Ob die Nachtseiten des Bewußtseins, ob spielerisch-poetische Verfahren oder ironisch-experimentelle Philosopheme aufgegriffen werden, die Romantik wird quer gestellt zu den geistigen Grundlinien einer Epoche, die sich als vernünftig und utilitaristisch versteht. Diese Romantik-Rezeption ist nicht ohne Seltsamkeiten. Attackiert finden sich nicht allein frühere Bewertungen der Romantik, die Attribute tragen wie reaktionär, nationalistisch, form- und substanzlos, irrationalistisch und eskapistisch, bloß obskurantisch, quieti1
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Gadamer, H.-G.: Wahrheit und Methode, in: Gesammelte Werke, Bd. 1 (Hermeneutik I), Tübingen 1990, S. 15 .-Zur Zitierweise: Schlegel wird zitiert nach der Kritischen Friedrich-Schlegel-Ausgabe, 35 Bde., hg. v. E. Behler unter Mitwirkung anderer Fachgelehrter, Paderborn u.a. 1958ff.(KA). Alle Zitate wahren die Orthographie und Interpunktion der jeweiligen Quelle. Über verwendete Abkürzungen, besond. älterer Werk- und Briefausgaben Schlegels, informiert das Literaturverzeichnis. Andere Titel werden bei der ersten Nennung vollständig aufgeführt, bei Wiederaufnahme wird in verkürzter Form zitiert. Henrich, D.: Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins D e n k e n 1794-1795, Stuttgart 1993, S. 19. Bohrer, K.-H.: D i e Kritik der Romantik, Frankfurt a.M. 1989, S. 18.
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stisch und subjektivistisch. Als überholt beiseite geschoben werden zudem Interpretationen besonders der 1970er Jahre, die nicht nur eine ästhetisch moderne, sondern eine »aufklärerische«, utopistisch-progressive, eine andere Romantik vorstellten. Solche Auslegungen sind nunmehr untergraben dadurch, daß der Grundansatz der Rehabilitation zurückgewiesen wird. Die Thesen der älteren gemeinschaftlichen Brandmarkung der Romantik durch Interpreten verschiedener ideologischer Couleur sind nicht mehr Gegenstand der Widerlegung. Was lange »Konservativen« wie »Progressiven« als (politisch) verwerflich galt, wird keineswegs als philologischer Irrtum entlarvt, im Gegenteil: Es wird als im Kern zutreffend akzeptiert. Doch der gleiche Befund, etwa die Substanzlosigkeit, ist nicht mehr als kritikwürdige Bedenklichkeit, sondern als aktuell ausgelegt. Wenn man, so Karl-Heinz Bohrer, allein der Frühromantik seit einigen Jahren »Gerechtigkeit widerfahren läßt und sie an den Diskurs der Moderne anzuschließen versucht, belegt gerade dieses Verfahren, inwiefern der antiromantische Maßstab weiterhin vorherrscht«.4 Während nämlich das frühromantische Schreiben noch geregelt worden wäre durch intellektualistische Normen, stellte »sich bei einigen Schriftstellern, die für die Genesis der modernen Literatur entscheidend wurden«, nach 1800, in der Phantastik der Hoch- und Spätromantik eine Auflösung der Identität des Subjekts heraus.5 Bohrer steht mit dieser Ordnung vergleichsweise allein. Manfred Frank setzt dagegen: »Das frühromantische, grundsatzskeptische und realistische Denken ist uns, wenn nicht dem Buchstaben, so doch der Sache nach, gegenwärtig geblieben. Es scheint immer noch unsere conditio humana gültig zu deuten.«6 Und die ältere Romantik wird gesehen als die »erste großangelegte und doch hochgradig disperse Theorie der Neuzeit«.7 Aufgespürt werden Entwürfe, die sich von einer subjektivistischen, einer teleologischen Wissenschaftlichkeit befreien: »Daß alles auch anders sein könne, als es sich präsentiere - dies ist die einzig grundlegende und sogleich auch grundstürzende Idee frühromantischer Reflexionskunst.« 8 Romantik ist von den Elementen des Irrationalen nicht zu lösen. Aber heißt Romantik Nicht-Moderne? Wenn ja, ist das Nicht deutlich im Sinne von Nach zu deuten? Es soll hier nicht eingehend von der Plausibilität dekonstruktiver Auslegungen gehandelt werden. Daß diese einer Zeit gemäß sind, die prätentiös die Oberfläche kultiviert, ist kaum in Abrede zu stellen. Ob sie dem historischen Objekt gerechter werden als die destruierten älteren Interpretationen, darf jedoch bezweifelt werden. Sie passen sich vielmehr in die Geschichte der Romantik-Rezeption gut ein. Wieder wird ein bestimmtes Bild der Romantik vor Augen gestellt, und paradoxerweise ist es - trotz der postmodernen Schablone Pluralität - ein einheitliches. Es handelt sich oft um die verkürzende Renovation älterer Thesen unter neuen Vorzeichen. Das aber bedeutet, daß die befremd4 5 6
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Ebd., S.7. Ders.: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität, München 1987, S.7. Frank, M.: Unendliche Annäherung. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik, Frankfurt a.M. 1998, S.44. E. Behler u. J. Hörisch: Vorwort zu Die Aktualität der Frühromantik, hg. v. E.B. u. J.H., Paderborn u.a. 1987, S.7. Ebd. Daß die Differenz von Erscheinung und Wesen urmetaphysisch ist, sei am Rande vermerkt.
liehe Mischung moderner, vor-, gegen- und nachmoderner Tendenzen in der Aneignung verloren geht. Das Ineinander von Chaos und Form, Umbruch und Bauen, das den Zauber der Romantik ausmacht, die »verwickelte Widerspruchsfülle« 9 wird aufgehoben. »Meine Erklärung des Worts Romantisch kann ich Dir nicht gut schicken, weil sie 125 Bogen lang ist.«10 Der Begriff der Romantik ist verworren. Jeder Versuch einer Definition kann eine Gegendefinition hervorrufen. Es liegt gerade in der causa Romantik ein Problem darin, einen Begriff zu akzeptieren, der Phänomene zusammenhält, die aus heutiger Sicht disparat erscheinen. Je nach Ansatz sind selbst innerhalb eines disziplinaren Zugangs unterschiedliche Ergebnisse über einen romantischen Sachverhalt möglich. Als Erklärung ließe sich vorbringen: Es werde nicht klar unterschieden zwischen Epochen-, Stil- und Motivbegriffen, programmatische, historische, systematische Analyse werde ineinander und dann mit der zeitgenössischen oder späteren Fama inadäquat vermischt, einzelne Repräsentanten oder Ideen als die ganze Romantik ausgegeben. Doch zielen solche Vorwürfe zu kurz, wenn sie glauben machen wollen, das Problem durch feinere Methodik lösen zu können. Der Begriff der Romantik ist ambig. Die Mehrdeutigkeit kann mit Mustern wie progressiv oder reaktionär, rational oder irrational, vollendet oder unvollendet nicht befriedigend erfaßt werden. In Erwägung moderner Vorgaben ist die romantische Theoriebildung diffus. Sie entspringt einem Denken in Gegensätzen und des Identischen zugleich. Brüche, Überlagerungen, Fortschritte und Rückschritte, Verzögerungen und Aufstauungen, schnelle Expansionen kennzeichnen die Epoche. Das Nebeneinander von Noch und Schon, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ist für das 18. Jahrhundert besonders bezeichnend und weist ihm eine auffällige Stellung zwischen Alteuropa und moderner Welt zu. In Schlegels Texten gibt sich das ausgehende Jahrhundert in seinen Kontinuitäten wie Diskontinuitäten einzigartig Ausdruck. Das Nebeneinander von Umwälzung, Neuanfang und fortwirkender Bildungstradition ist wie selten sonst kenntlich. Frühromantisches Denken ist inkommensurabel, lebt vom Zusammenfall des Divergenten. In Friedrich Schlegel scheint man einerseits einen hypermodernen Kritiker, den Auflöser alles Festen vor sich zu haben, andererseits einen antimodernen Mystiker. Und beides ist nicht falsch. Seine Texte verknüpfen aporetische Theorieelemente, verschmelzen Kritizistisches und Metaphysisches, Fichte und Plato, Immanenz und Transzendenz, Chaos und Normativität, System und Fragment, Republikanismus und konservative Staatsidee, das Unendlich-Reale und das Bewußtsein. Diese widerständigen Synthesen im Raum zwischen revolutio und traditio, von Auflösung, Bindung, Wiederkehr bieten auch heute noch unerschöpfliche Anregung.
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Schmitt, C : Politische Romantik, (1919,2. Aufl. 1925) 4. unveränderte Aufl. Berlin 1982, S.21. Κ Α X X I V , S.53.
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II. Während im Fall Romantik über die Verschiebung von Perspektiven der Interpretation zu reden ist, kann für die Kunst der Beredsamkeit von einer wissenschaftlichen Wiederentdeckung gesprochen werden. Die starke Hinwendung der Forschung seit wenigen Jahrzehnten 11 schlägt sich nieder in der Formel von der Renaissance der Rhetorik. Rhetorik ist allgegenwärtig. Es gibt eine Unzahl praktischer Hilfen für Verständigung, Selbstdarstellung und Vermittlung. Schon so gesehen darf von einem Aufschwung der Rhetorik gesprochen werden. »Die Kunst der Überredung üben wir immer, wenn sie auch neue Formen annimmt und neue Namen hat, wie die Reklame und die Propaganda.« 12 Diese Meinung ist nicht ungeteilt. Was überhaupt heißt Rhetorik? Ist mit ratio artis die Theorie oder die Kunst oder die Lehre der Rede gemeint? Wie steht diese Rhetorik zur Beredsamkeit? Die Schwierigkeit der Forschung ist grundsätzlicher Natur. Die lange kanonische Tradition und die Menge neuester Studien haben das Problem des vieldeutigen Rhetorikbegriffs keineswegs beseitigt. Wenn es einerseits unter Ignorierung tatsächlich lebendiger und alltäglicher Kommunikation heißt, die Rhetorik sei, zumindest in Europa, tot, und zwar »sowohl was ihre material, methodisch, grundbegrifflich und theoriestrategisch spezifizierbare wissenschaftliche Identität und ihr Erkenntnisinteresse angeht, wie was ihre institutionelle Verankerung in Hochschule und Unterricht betrifft«, so ist mit Rhetorik eine eigenständige Disziplin gemeint. Rhetorik sei als Wissenschaft »verschollen«.13 Anderseits habe eine Wissenschaft, die sich auf die einst univoke Disziplin Rhetorik beziehe, deren Frageinteresse allerdings bisher nicht genau gekennzeichnet sei, wieder Konjunktur. Viele geistes- und sozialwissenschaftliche Fächer erinnern die Rhetorik; anschlußfähige Formen sind gesucht, erstarrte Methoden sollen gelockert werden. Rhetorik wird vergegenwärtigt als »Informationsquelle für historische Forschungsrichtungen wie als rekonstruktiv zu erschließendes Anregungspotential, das systematisch für eine differenzierte Problemdimensionierung disziplinarer Fragestellungen beerbt werden kann« und das sogar zu Neuen Rhetoriken zu inspirieren vermöge.14 Im Sinne einer Wiederentdeckung der Rhetorik als Vorgeschichte moderner Wissenschaft ist schon in den sechziger Jahren eine Annäherung an die Rhetorik (Hans Blumenberg) gefordert, ein Anschließen an die Rhetorik (Hans-Georg Gadamer) erwogen worden. Doch mittlerweile hat sich die behutsame Rezeption in eine disziplinare Anmaßung verwandelt. Es handelt sich nicht mehr um kritische Assimilation, sondern um die Renovierung der Rhetorik zu einer eigenständigen Wissenschaft. Von Inthronisation der Kunst der Beredsamkeit als neue Königin der Wissenschaften (Walter 11
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Die Altertumswissenschaft hat die antike Rhetorik nie ignoriert. Und M. Heidegger bezog in Sein und Zeit die Aristotelische Affektenlehre prominent ein (Sein und Zeit, 16. Aufl. Frankfurt a.M. 1986, S. 138f.). Wiederentdeckung aber meint eine in den 1960er Jahren einsetzende Forschung, die den Einfluß der Rhetorik auf die neuzeitliche Ästhetik, Poetik und Literatur herausgestellt hat. Clarke, M.L.: Die Rhetorik bei den Römern. Ein historischer Abriß, Göttingen 1968, S.7. Ueding, G./Steinbrink, B.: Grundriß der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode, 2. verbesserte Aufl. Stuttgart, 1986, S. 157. Kopperschmidt, J.: Rhetorik nach dem Ende der Rhetorik, in: Rhetorik, Bd. 1: Rhetorik als Texttheorie, hg. v. J. Kopperschmidt, Darmstadt 1990, S. lf.
Jens) ist die Rede. Dem Bemühen allerdings liegt ein Begriff zu Grunde, der wenig geeignet ist, den Ansprüchen gerecht zu werden. Und doch ist es gerade der problematische Charakter des Rhetorikbegriffs, der die disziplinäre Rehabilitation ermöglicht. Die Vieldeutigkeit eines Begriffs, so lehrte Aristoteles, dürfe man zwar nutzen, aber man müsse sie selber erkennen. 13 Jede Rehabilitierung setzt Verurteilung, jede Renaissance den Tod voraus. Wann wurde die Rhetorik (»[...] ein dynamisches Prinzip, eine psychagogische Kunst, eine Anthropologie, die als Überzeugungstechnik, Schulfach und soziale Praxis das literarische und sprachlich-gesellschaftliche Leben seit dem fünften Jahrhundert bis zu Lessing und Herder, bis zu Klopstock, Schiller und Friedrich Schlegel bestimmt hatte«16) abgeurteilt, wann wurde sie begraben? Die häufigste Antwort - nicht nur, aber bevorzugt auf Deutschland bezogen - lautet: Die Agonie vollzog sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Der Verfall der Beredsamkeit, 17 der Niedergang gehe »auf die Zeit um 1800 zurück«.18 Spätestens für das frühe 19. Jahrhundert gelte: »Fraglos - Rhetorik als Disziplin ist tot.«19 Ein Bruch also in der Wissenschaftsgeschichte der Rhetorik. Rhetorik hätte ihre Selbständigkeit, ihre disziplinäre Identität verloren. Die bürgerliche Epoche hätte den »entscheidenden, bis heute auch nicht annähernd überwundenen Einschnitt in der Geschichte der Rhetorik« 20 gebracht. Konkreter heißt es, Rhetorik wäre seit dem späten 18. Jahrhundert »in Hinsicht auf Literatur fast ausnahmslos ablehnend beurteilt«,21 das »rhetorische Literaturprogramm« sei damals hingerichtet worden.22 Oder der Niedergang des rhetorischen Bildungssystems wird als Ableben der Rhetorik schlechthin gedeutet. 23 Ähnliche Datierungen zum Ende der politischen Beredsamkeit sind Legion. Entsprechend der jeweiligen Forschungsrichtung werden verschiedene Gründe des Verfalls angegeben, fast immer jedoch mit dem Anspruch, das maßgebliche Muster gefunden zu haben. »Der Zahl der Obduktionen entspricht in etwa die Zahl der Diagnosen der Todesursache.«24 Meist ist kurzerhand von der Rhetorik die Rede. Sowohl sozialhistorische wie geisteswissenschaftliche Gründe werden angeführt: fehlender Republikanismus, ethischer Rigorismus, Ablösung der Regelpoetik durch die Genieästhetik, Wechsel des Geschmacks, bürgerliche Kultur der Innerlichkeit, Ästhetik des Scheins, Eskapismus, intentionsloser Idealismus und Zerstörung der Vernunft, be-
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Arist.: Top., 108 a. Dyck, J.: Überlegungen zur Rhetorik des 18. Jahrhunderts und ihre Quellenlage, in: Rhetorik zwischen den Wissenschaften, hg. v. G. Ueding, Tübingen 1991, S.99. Ueding, G./Steinbrink, B.: Grundriß der Rhetorik, 1986, S.3. Göttert, K.-H.: Einführung in die Rhetorik. Grundbegriffe, Geschichte, Rezeption, 2. verbesserte Aufl., München 1994. Kopperschmidt, J.: Rhetorik nach dem Ende der Rhetorik, 1990, S.5. Ueding, G./Steinbrink, B.: Grundriß der Rhetorik, 1986, S. 134. Lüking, B.: Rhetorik und Literaturtheorie, in: Rhetorik. Kritische Positionen, hg. v. H.F. Plett, München 1977, S. 47. Schanze, H.: Romantik und Rhetorik. Rhetorische Komponenten der Literaturprogrammatik um 1800, in: Rhetorik. Beiträge zu ihrer Geschichte, Frankfurt a.M. 1974, S. 126. Ueding, G./Steinbrink, B.: Grundriß der Rhetorik, 1986, S.134; H. Schanze: Romantik und Rhetorik, 1974, S. 126. Bezolla, T.: Rhetorik bei Kant, Fichte, Hegel. Ein Beitrag zur Philosophiegeschichte der Rhetorik, Tübingen 1993, S. 4.
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schleunigte Literarisierung, Verdrängung des Lateins als Schulsprache. Daß diese Erklärungen zwar wichtige Hinweise geben, aber allein nicht stimmen können, ergibt sich schon aus ihrer Vielzahl. Hat es mehrere absterbende Rhetoriken gegeben? Problematisch ist die Sache schon deshalb, weil die Gründe des Niedergangs sich nicht einfach summieren, sondern sich auch gegenseitig aufheben. Und es kann zudem eingewendet werden, daß auch um 1800 Rhetorik nachweisbar ist. Die historische Forschung befindet sich im Spannungsfeld zweier gegenläufiger Bestimmungen: verkürzt wiederzugeben als Weiterleben oder Untergang der Rhetorik vor 1800. Stehen hier klare Antithesen in Position? Oder ist je eine andere Rhetorik gemeint? Ein Manko der These vom Niedergang der Rhetorik ist, daß sie zwar an manchem Detail das Absterben rhetorischer Tradition aufzeigen kann, aber schwerlich, so gleiche Maßstäbe angelegt werden, das Überleben bis in das 18. und 19. Jahrhundert oder die Wiedergeburt im 20. Jahrhundert zu rechtfertigen weiß. Wieso sollte Beredsamkeit als genus deliberativum, als politische Rede, erst im 18. Jahrhundert wegen fehlender republikanischer Möglichkeit verödet sein? Oder: Ist die postmoderne Ästhetik intentionaler als die der deutschen Klassik? Der Nachweis über ein abgestorbenes Moment rhetorischer Tradition taugt nicht zur verallgemeinernden Aussage. Doch auch das Gegenteil stimmt. Das Fortleben gewisser rhetorischer Elemente beweist noch nicht die Kontinuität der Rhetorik. Der historische Funktionswandel läßt apodiktische Thesen nicht zu. Untergang oder Renaissance kann in ausschließender Weise nur dann das Wort geredet werden, wenn die Kriterien historisch variiert sind. Doch was seitens der Verfechter der Abbruch-These eher unfreiwillig geschieht und erst im Vergleich der differenten Begründungen und Bezugsbegriffe auffällt, tritt bei den Befürwortern der Kontinuität zu Tage. Das Weiterleben der Rhetorik kann nur behauptet werden dank einem sehr weiten Begriff von Rhetorik. Rhetorica latens. Im 18. Jahrhundert hat sich in der Rhetorik ein tiefgreifender Wandel vollzogen, der in seinen Ausmaßen noch nicht zureichend erörtert ist.25 Die Forschungen zur Topik von Ernst Robert Curtius oder zur Affektenlehre von Klaus Dockhorn aufnehmend, kann auf ein Fortleben der Rhetorik verwiesen werden: besonders in Ästhetik und Literatur, auch in Psychologie und Anthropologie. Systematische Rhetorik scheint, vielfältig vermittelt, selbst im Werk ihrer »Verächter« Kant, Goethe, Schiller, Hegel lebendig geblieben, hat außerdem in Aufsatzheften, Anstandsregeln, Redeanweisungen, Predigtlehren überdauert. Zu verweisen ist auf die lebendige Redepraxis in jener Zeit: sowohl an überkommenen Orten wie Hof, Katheder, Kanzel als auch an denen aufklärerischer Geselligkeit. Noch mehr weitet sich das Feld, wenn auf die humanistische Tradition und das ciceronische Ideal vom vir bonus verwiesen wird. Betraf der Bruch also nur die Oberfläche? Das Weiterleben der rhetorica docens zumindest scheint sich in residualer, verwandelter Form vollzogen zu haben. Die Theorie der Beredsamkeit gilt dabei als Wurzelwerk zahlreicher moderner Geisteswissenschaften. Hat Rhetorik ein apokryphes Leben in Poetik, Stilistik, Ästhetik, Hermeneutik seit dem 18. Jahrhunderts geführt? Sie würde dadurch zwar nicht notwendig vom Makel, 25
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Siehe vor allem J. Dyck: »Rede, daß ich dich sehe.« Rhetorik im Deutschland des 18. Jahrhunderts, in: Von der Kunst der Rede und Beredsamkeit, hg. v. G. Ueding u. T. Vogel, Tübingen 1998, S. 70-89.
nur in die Vorgeschichte moderner Disziplinen zu gehören, befreit. Doch der akademische Wiederaufstieg ist vorbereitet. Wenn Thesen wie die von der Universalität,26 von der Ubiquität der rhetorischen Tradition 27 hinzukommen, ist der Grund bereitet, Renaissance der Rhetorik als disziplinare Renovierung zu verstehen. Die offene wie latente Rhetorik wird stilisiert, wird zu einer Wissenschaft erklärt, die eine Unterdrückungsgeschichte, eine Verdrängungsgeschichte28 zu erleiden hatte. Was hier im historischen Abriß angedeutet worden ist, birgt eine anhaltende crux der Forschung: die Unklarheit darüber, wie Rhetorik zu definieren, wie ihr Reflexionsvermögen zu veranschlagen sei. Obwohl die Aktualisierung von der Warnung vor Überschätzung begleitet wird, 29 hat die Forderung nach Rehabilitation selbst topischen Charakter gewonnen. Teilweise geht es nur um Anregung. Einmal wird eine Verknüpfung der alten elocutio mit moderner Linguistik angestrebt, ein andermal soll Rhetorik als Teil einer kommunikativ interpretierten Semiotik oder Pragmatik verstanden werden: Der handlungsbezogene Sprachbegriff der Rhetorik sei zu nutzen. Auch soll sie der Literaturwissenschaft Kategorien für eine Produktionstheorie von Texten liefern. Es geht um den Zugang zum Publikum, um Anleitung zur Verständigung. Vice versa werden Instrumente zur Analyse von Texten gesucht, soll Rhetorik historischer Bezugspunkt einer interpretativen Poetik sein. Ein nächster Strang der Aktualisierung hält sich an die inventio. Rhetorik wird befragt, um eine Kommunikationstheorie zwecks Anleitung zum vernünftigen Handeln zu entwickeln. Oder topische Erkenntnis soll wegweisend sein für philosophische Hermeneutik, auch für moderne juristische Methodik. Außerdem zu nennen ist die Beachtung der rhetorischen Affektenlehre in Psychologie und Anthropologie, außerdem die Berufung auf Rhetorik als umfassende adressatenbezogene Wissenschaft. Und: Aristoteles schon lehrte in seiner Rhetorik eine »wichtige Sozialtechnik« 30 ; entsprechend wird Rhetorik gedeutet als kritisches »Gesamtparadigma humaner Äußerungsformen«. 31 Im akademischen Interesse an Rhetorik, in dem die praktische Anweisungslehre meist vernachlässigt wird, spiegelt sich die Pluralität der jeweiligen »wissenschaftstheoretischen Prämissen und erkenntnisleitenden Interessen«. 32 All diese Nutzungen des rhetorischen Potentials haben eines gemeinsam: die Selektion aus dem historischen Korpus. Die Auswahl wäre legitim, wenn dabei nicht suggeriert würde, es gehe jeweils um die Rhetorik, wenn sich nicht das Interesse zu einer Erneuerung der Rhetorik selbst steigerte. Das muß keineswegs disziplinar gemeint sein. Reden wie jene von Rhetorik 26
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Gadamer, H.-G.: Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik. Metakritische Erörterungen zu Wahrheit und Methode (1967), in: Gesammelte Werke, Bd. 2,1986, S.237. Dockhorn, K.: Rez. von. H.-G. Gadamers Wahrheit und Methode, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen, 218. Jg. (1966), S. 163 u. 178. Ueding, G./Steinbrink, B.: Grundriß der Rhetorik, 1986, S.4; Kopperschmidt, J.: D a s Ende der Verleumdung. Einleitende Anmerkungen zur Wirkungsgeschichte der Rhetorik, in: Rhetorik, Bd. 2: hg. v. J. Kopperschmidt, Darmstadt 1991, S . l . Gauger, H.-M.: Über das Rhetorische, in: Jahrbuch d. Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 1985, Heidelberg 1986, S.88 u. 97. Coenen, H.G.: Literarische Rhetorik, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch, H. 7 (1988), S.45. Fafner, J.: W e g e der Rhetorikgeschichte, in: Rhetorica. A Journal of the History of Rhetoric 1 , 2 (1983), S.88. Kopperschmidt, J.: Rhetorik nach dem Ende der Rhetorik, 1990, S.9.
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als »Spezialistin für das Ungenaue« (Michael Cahn), als »Theorie des Nichtexakten« und Methode »konjekturaler Vernunft« (Gonsalv K. Mainberger), um nur Beispiele aus der Revitalisierung der argumentado zu wählen, leben von einer disziplinären Synekdoche: Einzelne Aspekte und Elemente vertreten die Rhetorik schlechthin. Und diese Rhetorik wird potenziert zu einer Grundlagen- oder auch einer Gegenwissenschaft. Es soll hier keineswegs eine starre Einheit herbeigeredet werden. Aber geht es an, eine Kunst, die eine undogmatische Einheit ihrer partes noch im Schwinden zu verteidigen achtete, aktualisierend aufzulösen: in den argumentativ-topischen Teil oder den elokutionären oder dispositionellen oder affektiven oder ethisch-republikanischen? Wie weit darf die Privation reichen? Und wird nicht erst durch die Selektionen unter fortwährender Rede von einer Kunst das Weiterleben der ganzen Rhetorik suggeriert? Kann aber ein einziger Teil die alte Einheit vertreten? Daß verschiedene Interessenten mittels Auswahl und Verkürzung ihre Rhetorikbegriffe verabsolutieren, führt zur Entgrenzung des Begriffs. Die wirkungsbezogene Praxis geht verloren. Die Rede von der Ubiquität aber wird so erst möglich. Ist es nämlich mittels Amputation nicht zur jeweils gestellten Diagnose passender partes - möglich geworden, modernen Termini und postmodernen Figuren rhetorische Wurzeln zuzuweisen, entsteht in der Synopsis schnell der Eindruck, man habe es letztlich mit einer allmächtigen Disziplin zu tun. So ist eine Art des hermeneutischen Zugriffs entstanden, die mit Recht als »irritierender rhetorischer Imperialismus« 33 bezeichnet worden ist. Und das eben bildet die Kehrseite der gegenwärtigen Rhetorik-Renaissance. Aus dem Vorwurf an andere Wissenschaften, sie hätten das Frageinteresse der Rhetorik okkupiert, 34 ist eine Auslegung geworden, die überall Rhetorik am Werk sieht. Rhetorik ist gesteigert zum Substrat aller Wissenschaft, welche praktisch werden wolle. »Greift man die Rhetorik an, weist man sie zurück, so füllt man, ohne es zu wollen oder zu bemerken, eben wieder einmal in eines der Kästchen der Rhetorik; man treibt, wenn man es nicht völlig ungeschickt macht, rhetorica contra rhetoricam.«35 Moderne, auch antike Disziplinen werden auf Grund geringer rhetorischer Spuren zur Rhetorik umgefärbt. Je nach Interesse, je in andere Wechselbeziehungen versetzt, leistet sich die Rhetorik die Poetik als Derivat, die Dialektik als Nebensache, wird ihr die Ethik zum Eigensten, der Republikanismus zum Anliegen und die Philosophie zur Verkürzerin des eigenen Erkenntnisvermögens. Die Rhetorik als Disziplin ist im 18. Jahrhundert in einem Prozeß der Spezialisierung in neuen Wissenschaften aufgegangen. Psychologie und Anthropologie haben auch rhetorische Wurzeln, sie sind aber keine erweiterte Rhetorik. Und die Entstehung der Ästhetik ist komplizierter, als das Wort von den »Interpretationsübungen an rhetorischen Texten« 36 glauben machen will. Verflechtungen mit anderen Theorien lassen sich
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Gauger, H.-M.: Über das Rhetorische, 1986, S. 97; Worstbrock, F.J.: Rez. Historisches Wörterbuch der Rhetorik, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, Bd. 122 (1993), H. 2., S. 229 u. 238. Ueding, G./Steinbrink, B.: Grundriß der Rhetorik, 1986, S. 157. Gauger, H.-M.: Über das Rhetorische, 1986, S.97. Dockhorn, K.: Die Rhetorik als Quelle des vorromantischen Irrationalismus (1949), in: Ders.: Macht und Wirkung der Rhetorik. Vier Aufsätze zur Ideengeschichte der Vormoderne, Bad Homburg, Berlin u. Zürich 1968, S. 94.
nicht leichthin zugunsten rhetorischer Priorität auflösen. Das Reklamieren philosophischer, dialektischer, ethischer, poetischer Phänomene als rhetorisch stellt die historische Sache oft auf den Kopf. Nicht jede Berufung auf Rhetorik ist Beleg tiefergehender Verbindung. Zurückzuweisen ist folglich diejenige Tendenz der Forschung, »die Rhetorik stets als die Gebende zu präsentieren trachtet, jedenfalls wenig Aufheben davon macht, daß sie in ihrer Geschichte vieles von anderen Wissenschaften und Künsten« aufgenommen hat. 37 Dem Verfahren rhetorischer Analyse sind wissenschaftshistorische Erhellungen zu danken. Die Auslegung im Schatten angeblicher Ubiquität jedoch läuft Gefahr, die ars rhetorica im Nichtssagenden aufzulösen. Das Zusammenspiel von Verkürzung und Zerstreuung des Gegenstandes ist in vielen historischen Erörterungen erkennbar. Konträre Thesen sind so möglich, die für sich nicht falsch sind. (Es macht einen Unterschied, »ob man sein Verständnis von Rhetorik aus Texten eines Piaton oder eines Aristoteles, eines Cicero oder einer deutschen Frühaufklärung, eines italienischen Humanismus oder eines Nietzsche gewinnt«. 38 ) Der scheinbar flexible Umgang mit dem vielfach besetzten Begriff stellt die produktive Vermittlung der alten ars in Frage. Antike praecepta haben sich als historisch anpassungsfähig erwiesen, haben auf das kulturelle und soziale Umfeld reagiert. Die ars rhetorica, auf das Erzielen von persuasiver Wirkung aus, ist weniger kanonisch als ihr Ruf. Ihre persuasiven Grundgedanken hielten sich in (wissenschaftlichen) Umformungen durch. Allein hier ist eine gewisse Identität der Rhetorik zu finden. Von ihren konkreten Zwecken und der entsprechenden Einheit ihres Fundamentes ist sie nicht ablösbar, ohne zum Spielball bloß akademischer Auslegung zu werden. Über keinen Gegenstand gibt es zwar in der Antike so viele theoretisch-praktische Anleitungen wie über die Redekunst, aber der theoretische Status der Rhetorik ist schon in der vetus opinio unklar. Ob sie nun eine Kunst oder lediglich eine Fertigkeit oder sogar eine Wissenschaft ist, darüber konnten sich die Rhetoren während des ganzen Altertums nicht einigen. Die Zusammengehörigkeit von Praxis und Theorie allein war unstrittig, wobei sich jedoch in den Begriffen eloquentia und oratoria, in ars rhetorica, Beredsamkeit und Redekunst nicht allein die Spaltung eines Gebrauchswissens ausspricht, sondern eine gewisse Selbständigkeit der Teile. Wie steht es um die Priorität? Gibt es eine prima causa abseits der konkreten Wirkungsintention? Läßt sich die Rhetorik anders definieren denn als Kunst der Überredung? Wie steht es um die Beziehung der sachlich-argumentativen, ethischen und affektiven Überzeugungsgründe zueinander? Die alte von den praktischen Handbüchern abgehobene, verwissenschaftlichte Rhetorik ist bewegt von Fragen nach der Weite der materia, der Infinität der status oder der Präferenz der Voraussetzungen (natura, ars, exercitatio, imitatio). Disziplinar entscheidend jedoch ist die epistemologische Frage. Quid sit rhetorice?39 Für eine Königin der Wissenschaften scheint der eigene Begriff reichlich prekär.
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Worstbrock, F.J.: Rez. Historisches Wörterbuch der Rhetorik, 1993, S.229. Kopperschmidt, J.: Rhetorik nach dem Ende der Rhetorik, 1990, S. 8. Quint.: Inst, or., II 15, 1.
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Aristoteles, der in der Rhetorik ein Vermögen (dynamis) sieht zur Erkenntnis dessen, was Glaubwürdigkeit erwecken könne, billigt ihr den Rang einer ars, einer téchne zu.40 Die römischen Rhetoriker werten die Rhetorik zu einer scientia auf, ohne das theoretische Format der griechischen Philosophen zu erreichen. Für Cicero sind die rhetorischen Kunstregeln Ergebnis einer Erfahrungswissenschaft und also lehrbar. Sein Antonius allerdings bestreitet in De oratore den ars-Charakter: [...] artem esse non maximam, sic illud adfirmo, praecepta posse quaedam dari peracuta ad pertractandos ánimos hominum et ad excipiendas eorum voluntates. Aus praktischer Übung und Beobachtung erwächst eine quasi-ar.v.41 Quintilian, im 18. Jahrhundert einflußreich, definiert die Rhetorik als bene dicendi scientia. Er sieht, mehr postulierend als reflektierend, in der Rhetorik eine wissenschaftliche Lehre, deren höchstes Ziel (finis) es sei, gut zu reden.42 Der antike Problembestand ist mit den Bestimmungen Quintilians zwar keineswegs hinreichend skizziert. Heutige Behauptungen aber, Rhetorik sei stets eine Wissenschaft gewesen, schließen bei Quintilian an. Vielleicht ist die Redekunst allenfalls im Grenzbereich der Wissenschaften anzusiedeln? [...] sed omnem esse contentionem inter homines doctos in verbi controversia positaml43 Die These Cahns hat viel für sich, die Rhetorik nehme in der Wissenschaftsgeschichte deshalb einen einzigartigen Platz ein, weil sie in Hinsicht auf ihren epistemologischen Rang »als Debakel erkennbar« sei.44 Jede disziplinare Rehabilitation muß klären, wieso Kriterien fehlen, »nach denen die interne Struktur, das Zusammenwirken des historisch-genetischen, systematisch-theoretischen und sozial-praktischen Aspekts« der Rhetorik festgelegt werden.45 Rhetorik als Paradigma humaner Äußerungen, als universales Konzept kommunikativer Kompetenz - das klingt vielversprechend, gründet aber auf Prämissen, die nur jenseits des Vermögens der Rhetorik reflektiert werden können. In der wissenschaftlichen Erneuerung geht die theoretische Überlastung mit einer Ignoranz gegenüber dem technischen Aspekt der Rhetorik einher. Wenn gesagt wird, die Rhetorik sei »kein rein formales oder systematisch organisiertes Kommunikationsinstrument« gewesen und eine technologische Auffassung wäre daher unangemessen,46 so darf man fragen: Was war Rhetorik dann? Die Abwertung einer modernen Technik, die eine wirkungsvolle Rede zu erstellen und zu halten lehrt, ist Folge rhetorikgeschichtlicher Idealisierung. Die rhetoriké téchne besteht bei Aristoteles aus der Trias Argumentation, Elokution, Affektenlehre; bei Quintilian müssen in der bene dicendi
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Arist.: Rhet., 1,1,1354 a u. I, 2,1355 b. Cie.: De or., II, 32. Huius rei scientiam si quis volet magnam quandam artem esse dicere, non repugnabo. Der skeptische Antonius hat freilich nicht das letzte Wort in De oratore. Quint.: Inst, or., I pr., 23; II 14, 5; II 15, 2; II 15,19 u. 33ff., III 3,12; VIII pr., 1. Cie.: D e or., I, 107. Cahn, M.: Kunst der Überlistung. Studien zur Wissenschaftsgeschichte der Rhetorik, München 1986, S. 13. Richter, G.: Art. Rhetorik, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaften, hg. v. H.J. Sandkühler, Bd. 4, Hamburg 1990, S. 143. Bornscheuer, L.: Zehn Thesen zur Ambivalenz der Rhetorik und zum Spannungsgefüge des Topos-Begriffs, in: Rhetorik. Kritische Positionen, hg. v. H.F. Plett, München 1977, S.204.
scientia behandelt werden: Orator, vir bonus, virtus eloquentiae, bona oratio.47 Die Kunst der Beredsamkeit beruht auf einer eigentümlichen Synthese von Praxis und Theorie. Diese Identität der klassischen Rhetorik, der ein halbwissenschaftlicher Status entspricht, zeigt sich in der nachantiken Vieldeutigkeit des Rhetorikbegriffs. Rhetorik ist keine vergessene Disziplin (Basil Munteano), sondern aus wissenschaftshistorischen Gründen aus dem Kanon der modernen artes verschwunden. (Eine praktische Rede- und Sprachlehre allerdings hat überlebt, hat um 1800 sogar eine Renaissance erfahren. 48 ) Es mag sein, daß die ausgerufene rhetorica nova den Anschluß an die ganze Tradition gar nicht benötigt und sich allein auielocutio oder memoria, auf einzelne Überzeugungsmittel oder den summus orator als vir bonus berufen kann. In dieser Reduktion jedoch scheint kein geringerer Bruch vorzuliegen, als derjenige, der dem 18. Jahrhundert zugesprochen wird.
III. Die historische Rhetorikforschung will einerseits Theoreme verschiedener Wissenschaften auf neue Weise systematischer Analyse zugänglich machen. Andererseits ist die Erforschung der Tradition unverzichtbar, um Rhetorik selbst als Disziplin neu zu legitimieren. Darüber hinaus kann die Rhetorikgeschichte Einsichten in die Geistesgeschichte überhaupt gewähren. Helmut Schanze fragt, ob die diskontinuierliche Tradition der Rhetorik nicht das angemessene Modell moderner Geschichtsschreibung sein könne. Es schließe sich »nicht den herrschenden Strömungen, sondern den Brüchen, Verdrängungen, Marginalisierungen der langsamen Geschichte an«. 49 Allerdings verlief Rhetorikgeschichte auch kontinuierlich, die Strömung bestimmend, wäre deshalb ebenso zu nutzen als Modell gegen das Selbstverständnis einer Spätzeit, die sich bevorzugt als Produkt des historisch Marginalen sieht. Interpretation der Rhetorikgeschichte muß heißen, sich in ein Geflecht von Wandel und System, Kanonisierung und Entwicklung, Praxis und - teilweise technischer, teilweise epistemischer - Theorie zu begeben. Das 18. Jahrhundert, eine Zeit, in der Spuren des Rückzugs und neue Tendenzen eng nebeneinander liegen, ist so faszinierend, weil beinahe jede Aussage zur Rhetorik durch eine andere widerlegt werden kann. Die Formel rhetorica contra rhetoricam steht für die Paradoxien des Zeitalters überhaupt. Warum aber fällt es so schwer, eine widersprüchliche Entwicklung der Rhetorik anzuerkennen? Vielleicht gehört die Rhetorik bereits der Spätantike, erst recht die des 18. Jahrhunderts in die eigene Nachgeschichte, weil sie sich von ihrem télos, der persuasiven Wirkung, und damit ihrem Einheitsgrund gelöst hat? Haben wir es nicht nur mit vagabundierenden Elementen der Rhetorik zu tun, die nun neue Rhetoriken begründen? 47 48
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Quint.: Inst, or., II 15. Kap. Vgl. J. Dyck u. J. Sandstede: Quellenbibliographie zur Rhetorik, Homiletik und Epistolographie des 18. Jahrhunderts., 3 Bde., Stuttgart 1996. Schanze, H.: Goethes Rhetorik, in: Rhetorik zwischen den Wissenschaften, hg. v. G. Ueding, Tübingen 1991, S. 139.
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Warum setzt sich in den jüngsten Auslegungen die Tendenz zu einer kunstbegrifflichen Harmonisierung durch, und zwar auf Grund einer Phänomenalität, die der alten Einheit und zugleich konkreten Bezogenheit der Kunst der Beredsamkeit nicht gerecht wird und die jene zerfledderte Rhetorikgeschichte des 18. Jahrhunderts übersieht? Wenn die Rhetorik als ein eigener »Bereich des Wissens zwischen den Dimensionen der anderen Wissenschaften«50 begründet und nicht nur postuliert werden soll, müssen begrifflich-theoretische Differenzen offen gehalten werden. Hochgesteckte Ansprüche lassen sich schwerlich mit einem »konturlos-ausgefransten Rhetorikbegriff« 51 bzw. auf der Basis einer Inflation der Rhetorikbegriffe erfüllen. Es hilft wenig, den Verlust der Einheit durch disziplinare Inthronisierung zu verschleiern. Die Vorwürfe an die Eloquenz und ihre Kunst sind alt: Unaufrichtigkeit, Artifizialität, Verführung, Betrug, Manipulation, Ambiguität. Sind sie falsch? Das Rhetorische läßt sich in vernünftige Konsenstheorien einbinden und ethisch mildern, aber es läßt sich nicht eskamotieren. Das Allzumenschliche gehört zum Wesen rhetorischer Fertigkeit. Wirkungsbewußte Rhetorik kann die »bedenkliche« conditio humana nicht überspringen. Nun geht es in der quasi fundamentaldisziplinären Renovation oft nicht primär um Rhetorik, sondern um Rhetorisierung der Philosophie oder der Wissenschaft. Aber der Kreis schließt sich so. Rhetorik ist mittlerweile in einen Schrumpfungsprozeß (Gerard Genette) eingetreten, in einen Prozeß, der ihren ursprünglichen Reichtum vermindert hat. Identitätsverlust, künstliche Erneuerung einzelner Teile als ganze Rhetorik, entgrenzender Aktualitätsanspruch und künstlicher Begriff bedingen sich. Und die Probleme werden auf die Rhetorikgeschichte übertragen. »Rhetorik ist unwiederbringlich historisch geworden.«52 Man sollte zwar nicht über Wörter streiten, wenn es um große Fragen geht.53 Hier aber handelt es sich um Philologie. Wer Rhetorik erneuern will, muß sagen, wovon er spricht, was er ausklammert. Klarheit über den Gegenstand ist Voraussetzung jeder wissenschaftlichen Diskussion: Et quoniam in omnibus, quae ratione docentur et via, primum constituendum est quid quidque sit,54 Peter L. Oesterreich unterteilt: erstens »das relativ-natürliche menschliche Redenkönnen und die ihm korrelierende persuasive Redepraxis«, zweitens die »Technik der Rhetorik (ars rhetorica): der Kanon technisch-praktischer Regeln (regulae)« und drittens die »Wissenstheorie der Rhetorik«. Es folgt viertens eine »Theorie, die das Phänomen des Rhetorischen begrifflich definiert«, fünftens »die kritische Selbstaufklärung der philosophischen Vernunft über
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Ueding, G.: Vorwort zu: Rhetorik zwischen den Wissenschaften. Geschichte, System, Praxis als Problem des Historischen Wörterbuchs der Rhetorik, hg. v. G. Ueding, Tübingen 1991, S.4. Kopperschmidt, J.: Rhetorik nach dem Ende der Rhetorik, 1990, S. 10. Schanze, H.: Transformationen der Rhetorik. Wege der Rhetorikgeschichte um 1800, in: Rhetorik. Internationales Jahrbuch, Bd. 12 (1993), S.60. Plat.: Politela, VII, 533 e. Cie.: Orat.,33,116. Cicero fährt fort: [...]-nisienim inter eos, qui disceptant, convenit, quid sit illud, de quo ambigitur, nec recte disseri nec umquam ad exitum perveniri potest -, explicanda est saepe verbis mens nostra de quaque re atque involuta rei notitia definiendo aperienda est, siquidem est definitio oratio, quae quid sit id, de quo agitur, ostendit quam brevissime.
das ihrer eigenen Rede und Textproduktionspraxis innewohnende rhetorische Moment«. 55 Die vorliegende Studie wird einen kleinen Ausschnitt der Rhetorikgeschichte erörtern. Untersucht werden soll, was mit Traditionsbruch um 1800, mit »Untergang einer ganzen Traditionslinie« 56 gemeint sein kann. Die Romantik als missing link der Rhetorikgeschichte ist eine »Leitvorstellung der Forschung«. 57 Einerseits, »Siechtum der Rhetorik sind ein wohlbekanntes Begleitphänomen der europäischen Romantik«, 58 »Romantik und Rhetorik scheinen sich auszuschließen«. 59 Andererseits: Romantik stelle sich dar »als die Geschichte der Wiederentdeckung der Rhetorik, als zweite Renaissance der Rhetorik«. 60 Wie bewertet auch immer, der Romantik wird eine wichtige Rolle in der Rhetorikgeschichte zugesprochen. Schanze teilt sogar die »Rhetorikgeschichte der Neuzeit« in eine vorromantische, romantische, postromantische. »Romantische Rhetorik ist und bleibt ein Paradox.« 61 Diese These ist anregend - und auslegungsbedürftig. Jene Bruchstellen der rhetorischen Tradition, die im 18. Jahrhundert nach und nach sichtbar werden, liegen in der Romantik offen. Das betrifft den Untergang. Aber eine technisch-praktische Rhetorik, auch unverkennbare rhetorische Elemente in anderen Disziplinen, schließlich rhetorica latens sind nachweisbar. Weiterleben also ebenso. Die absolute Rhetorik Friedrich Schlegels bildet das Finale der Rhetorikgeschichte des 18. Jahrhunderts. Was läßt sich daraus für den Begriff der Rhetorik und seine Geschichte schließen? Die Rede von Verfall oder Weiterleben betrifft verschiedene Teile des rhetorischen Phänomens. Schlegels Potenzierung der Rhetorik macht das deutlich. Einige rhetorische Elemente bleiben wirkungsstark, andere verschwinden, dritte gehen in anderen Disziplinen auf. So verliert Rhetorik etwa »(systematisch gesehen) ihre Argumentationskraft« gegenüber der Philosophie, bleibt »(historisch gesehen) gleichwohl funktionsmächtig«. 62
IV. Friedrich Schlegel hinterließ als letztes niedergeschriebenes Wort ein aber.63 Ein Zufall, doch kein unangemessener. Das Gegenreden, die Formel in utramque partem dice55
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Oesterreich, P.L.: Fundamentalrhetorik. Untersuchungen zu Person und R e d e in der Öffentlichkeit, Hamburg 1990, S.4f. Ueding, G.: Vorwort, Historisches Wörterbuch der Rhetorik, 1994, S. Vf.; Schanze, H: Romantik und Rhetorik, 1974, S. 127. Schanze, H.: Goethes Rhetorik, 1991, S.139. Most, G.W.: Rhetorik und Hermeneutik, in: Antike und Abendland, Bd. 30 (1984), S.63. Schanze, H: Romantik und Rhetorik, 1974, S. 126. Ders.: Romantische Rhetorik, in: Romantik-Handbuch, hg. v. H.S., Stuttgart 1994, S.337. Ders.: Transformationen der Rhetorik. W e g e der Rhetorikgeschichte um 1800, in: Rhetorik. Internationales Jahrbuch, H. 12 (1993), S.60f. Dyck, J.: Philosophisches Ideal und rhetorische Praxis der Aufklärung: Eine Problemskizze, in: Rhetorik und Philosophie, hg. v. H. Schanze und J. Kopperschmidt, München 1989, S. 192. Κ Α X, S.534.
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re64 trifft das Werk Schlegels in einer maßgeblichen Tendenz. Diese Untersuchung wendet sich nicht der romantischen oder frühromantischen Rhetorik zu, sondern der Vorstellung, die Friedrich Schlegel von Rhetorik hatte. Die Zeit vor und um 1800 steht im Mittelpunkt. Wie kein anderer hat Schlegel zur Begründung dessen beigetragen, was als frühromantisches Programm bezeichnet wird; viele prominente Gedankenfiguren gehen auf ihn zurück. Er scheint den Bruch zwischen früher und später Romantik zu verkörpern. Warum wird allein der Rhetorikbegriff Friedrich Schlegels untersucht und nicht der frühe romantische, also zugleich der von Tieck, Hülsen, Bernhardi? Ist doch gerade bei Novalis in »frappierender Weise ein Rückgriff auf rhetorische Kategorien« nachweisbar,65 gelten Schleiermachers Reden als repräsentativ für frühromantische Rhetorik.66 Bei August Wilhelm Schlegel wiederum sind die tiefen Bedenken gegen »rhetorische Wendungen« unverkennbar. Er nennt es Verfall, wenn Poesie oder Historie »ins Rhetorische ausgeartet« wären.67 Auch wenn er auf die historische Rhetorik direkt eingeht, ist die Geringschätzung der Schönrednerei offensichtlich.68 Er tadelt, die Neueren hätten sich in der Redekunst »an die logischen und politischen Lehrer derselben, den Aristoteles, Cicero und Quintilian gehalten, ohne sich zu dem eigentlich artistischen, dem Dionysius zu erheben«; Dionysius hätte die Nachahmer zu einem richtigeren Begriff der Redekunst führen können, er »beschränkte ihn nämlich nicht auf die Beredsamkeit in öffentlichen Reden, sondern erweiterte ihn zum Begriff der schönen Komposition in Prosa überhaupt«. 69 Einigen dieser Urteile werden bei Friedrich Schlegel wieder begegnen. Ein neuer Anspruch allerdings bringt seinen Rhetorikbegriff auf ein anderes Niveau. Gemeinsamkeiten zwischen den Romantikern bestehen so zwar oft der Intention nach, sind aber nicht gleich begründet. Frühromantische Umformulierungen betreffen teils die Substanz des Begriffs, teils die Form. So können verschiedene Begriffe bei Novalis und Schlegel, Ironie und Humor etwa, gleiches meinen, dieselben Vokabeln, Rhetorik zum Beispiel, hingegen anderes. Zurückzuführen ist das auch auf eine verschiedene Bildung. Und von der Grundsätzlichkeit der Fragestellung hängt die Radikalität der Umformulierung ab. Schlegels individualisierender Umgang mit alten Begriffen macht intellektuell motivierte Verwerfungen hervorragend kenntlich. Kein anderes Werk dieser Zeit weist eine so markante Struktur begrifflicher Überlagerungen auf. Die Untersuchung wird konzentriert auf den frühen Schlegel und bezieht die Jahre nach 1800 nur abrißhaft ein. Die erste Phase wird bevorzugt, weil sie dem 18. Jahrhundert angehört: Romantik bedeutet nicht nur Neuanfang, sondern auch Ende einer Epoche. Und läßt sich die »bei vielleicht keinem anderen Autor der neueren LiteraturgeM 65 66
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Cie.: De or., III, 80. Mähl, H. J.: Verfremdung und Transparenz, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1992, S. 174. Zabka, T.: Rede und Rhetorik in der deutschen Frühromantik, in: Rhetorik. Internationales Jahrbuch, H. 12 (1993), S. 88. Vgl. A. W Schlegel: Vorlesung Geschichte der romantischen Literatur (1802/03), in: Kritische Schriften (Lohner), Bd. IV, 1965, S. 11 u. 53. Vorlesung Geschichte der klassischen Literatur (1802/03), in: Kritische Schriften (Lohner), Bd. III, 1964, S.153ff. Vorlesung Kunstlehre (1801), in: Kritische Schriften (Lohner), Bd. II, 1963, S.41,43ff.u. 108.
schichte so scharfe Trennung zwischen dem Frühwerk und dem Spätwerk« 70 Schlegels begründen? Die Scheidung gilt seit dem 19. Jahrhundert. 71 Sie führte dazu, den frühen und den späten Schlegel wie zwei verschiedene Autoren zu behandeln. Die Trennung ging und geht einher mit einer Bevorzugung des frühen Schlegel. Die Jahre 1796 bis 1799 gelten als Schlegels Glanzperiode. Doch diese Phaseneinteilung läßt sich heute nicht mehr halten; es ist unmöglich geworden, den älteren gegen den jüngeren Schlegel auszuspielen. Schlegel selbst hat Perioden seiner intellektuellen Entwicklung sehen wollen. Der Zeit des dunklen Wollens und Suchens bis 1798 folgten zehn Jahre »des künstlerischen Bestrebens und der Poesie, des erwachenden philosophischen Denkens und der theologischen Belehrung«. 72 Michael Elsässer hat ähnliche unterschieden: Der »Zeit bis 1802 (d.i. die Zeit der Studien zur griechischen Literatur, der bekannten romantischen Aphorismen, Fragmente, Essays, des Athenäums usf.)«, folgten zunächst, vor dem Spätwerk, die Jahre »bis 1808 (d.i. die Zeit der zunehmend gezielteren Vorbereitung auf die Konversion, also die Abwendung vom Fichtisch-Spinozistischen Pantheismus, der Kölner Vorlesungen)«.73 Eine Dreiteilung ist angemessen, da sie dem späteren Werk Bedeutung zubilligt, da sie die frühe Zeit nicht unterteilt und da sie als Ende dieser frühen Phase das Jahr 1802 angibt. Schlegel selbst sah die kritische Epoche seiner Philosophischen Lehrjahre 1802 beendet. 74 Das Bild vom Bruch ist gleichwohl verfehlt. Schlegels geistiger Weg bildet eine Einheit. Gedanken wie Stil entwickeln sich zwar unaufhörlich, viele Prinzipien aber bleiben fest. Schlegels Altersanschauungen sind in seiner Jugend angelegt. Von allen Definitionen seien diejenigen am schwersten anzugreifen, lehrt Aristoteles, die Bezeichnungen verwenden, von denen man nicht sagen könne, ob der Definierende sie im eigentlichen oder im übertragenen Sinne verstehe. 75 Was Friedrich Schlegel schreibt, ist vorwiegend Erkundung, Experiment. Seine Texte leben im Vorläufigen, im Un-Bedingten, seine Theoreme stehen auf der Kippe zwischen begrifflicher Fassung und Dichtung, Andeutung. Die »Sicht des Textes als von den Gesetzen der Rationalität und Logizität befreites, auf unendliche Steigerung strukturiertes offenes Ganzes« sperrt sich gegen eindeutige Begriffsbildung. 76 »Was gehört zum Begriff? - Wesen, Grund (Deduction) Gränzen Schranken (diff.[erentia specif.[ica].« Schlegel sah sich als ein »fragmentarischer Systematiker« und »systematischer Kritiker«. 77 Er läßt Interpreten Spielraum. »Von der Phänomenologie über den Existentialismus bis zur Postmoderne: Alle haben ihren Schlegel. Die Literaturgeschichte hat ihn und die Literaturkritik, Ontologie und Existentialismus, 70 71 72
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Behler, E.: Einleitung zu Κ Α I (Studien des klassischen Altertums), 1979, S. XIX. Vgl. J. Minors Einleitung: Fr. Schlegel. Seine prosaischen Jugendschriften, Wien 1882, S. VIII. C.H.J. Windischmann nach heute verschollenen Manuskripten (Schlegel, Fr.: Philosophische Vorlesungen, Bd. II, S.524). Elsässer, M.: Fr. Schlegels Kritik am Ding, Hamburg 1994, S. VII. K A XVIII, S. 16. Arist.: Top., 158 b. Pankau, J.: Unendliche Rede. Zur Formulierung des Rhetorischen in der deutschen Romantik, Oldenburg 1990, S.5. K A XVI, S. 45; K A XVIII, S.97.
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Strukturalismus und Hermeneutik, die kritische Theorie und der politische Konservatismus.«78 Aber beliebig ist die Sache nicht. Schlegels Denken sucht nach neuen Gestaltungen. Er jongliert mit Begriffen, 79 um diese der Bestimmung zu entziehen. Verschiedene Möglichkeiten laufen nebeneinander her. Der Virtuose, d[er] genialische Mensch will einen bestimmten Zweck durchsetzen, ein Werk bilden pp. Der energische Mensch benutzt immer d.[en] Moment, ist immer fertig, hat une n d l i c h ] viele Projekte oder gar keins; unendl.[ich] biegsam. - Energie ist universelle Kraft, das Princip der Bildung, d[er] Fortschreitung. (die Biegsamkeit giebt das schöne Fließende.)
Die Welt soll nicht zum Objekt werden. Deshalb müsse »zweifelhaft gelassen werden, ob es einen ganz vollständig bestimmten, durchaus vollendeten Begriff geben könne«. 81 Schlegel entwickelt eine eigene Semantik. Einmal ändert sich die Terminologie, ohne daß die Gehalte genauso schnell wechseln, ein andermal werden verschiedene Materien unter einer Vokabel vorgestellt. Das Verfahren ist auflösend und neu mischend, und es ist potenzierend. »Unendlichkeit der Fortschritte, die nun noch bleiben. Nicht bloß der Stoff ist unerschöpflich, sondern auch die Form, jeder Begriff, jeder Erweis, jeder Satz unendlich perfektibel.« 82 »Bedeutung, Wert, Kunst« 83 - all das entzieht sich der Objektivierung. In Friedrich Schlegels kecken Neuerungen (Hegel) verabschiedet sich das vernünftige 18. Jahrhundert. Schlegel denkt in einem chemischen Zeitalter,84 in einer Epoche der Zersetzung und der Bildung. Er steht in der Tradition deiktischer Philosophie. Deiktische Texte zeigen etwas, was nicht mehr klar und deutlich gesagt werden kann. Wo Schlegel als Hypermodernist erscheint, bedient er sich oft ältester Traditionselemente. Schlegel negiert die Verdinglichung der Welt. Aber relative Gültigkeit von Aussagen hat er nie bestritten. Sowenig er die Sache selbst mit ihrem endlichen Namen verwechselt, so weiß er doch um die Notwendigkeit der Aussage: Eine »feste Terminologie]« gehöre zum Wesen der Kritik. 85 Die Darstellung des Absoluten ist etwas anderes. Definitionen werden in der Romantisierung, in der Steigerung mehrdeutig, und Mehrdeutigkeit gewährt dem Denken Spielraum. Schlegel geht es um das Einüben dieses Spielraumes »gerade am widerstrebenden Objekt, dem Begriff«. 86 Jede Bestimmung fesselt das Individuelle und damit die Selbstdarstellung des universalen Lebens. Schlegel legt, »um den Widerspruch zwischen Begriff und Leben zu beheben, den Widerspruch in den Begriff selbst hinein«. 87 78
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Schanze, H.: Fr. Schlegels Kölner Enzyklopädie, in: Athenäum. Jahrbuch für Romantik, 3. Jahrgang (1993), S. 261. Polheim, K.K.: Die Arabeske. Ansichten und Ideen aus Fr. Schlegels Poetik, München 1966, S. 31. ΚΑ XVIII, S.126. ΚΑ XIII, S.237. ΚΑ XVIII, S.518. ΚΑ II, S. 104. ΚΑ II, S.248 (Athenäum-Fragment 426). ΚΑ XVIII, S. 14. Gockel, H.: Fr. Schlegels Theorie des Fragments, in: Romantik. Ein literaturwissenschaftliches Studienbuch, hg. v. E. Ribbat, Königstein/Ts. 1979, S.24. Schlagdenhauffen, Α.: Die Grundzüge des Athenäums, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie, Bd. 88 (1969), S.34.
In deiktischen Texten ist Wissen nicht vollständig im Begriff verfügbar: Was in Sätzen über ein Wissen mitgeteilt werden kann, ist nicht notwendig das Wissen selbst. Das bedeutet andererseits, Meinungswissen, Sprechen über Wissen ist möglich und nötig. Es bietet relativ sichere Orientierung, führt im Äußersten zur Erkenntnis der eigenen Begrenztheit. Das Maß an Reflektiertheit entscheidet über die Art der Einsicht. Schlegel liebte die Virtuosität über alles,88 eine Definition ist ihm Synthese von Deduction und Construction. »Ungeheurer Irrthum, daß von jedem Begriff nur Eine Definition möglich sei. Unendlich] viele mehr, reale, synthetische.« 89 Er definiert »durch systematisches Indefinisiren«, 90 und eine »Definition die nicht witzig ist, taugt nichts, und von jedem Individuum gibt es doch unendlich viele reale Definitionen«. 91 An die Stelle der Lehre vom Begriff tritt bei ihm »ein Ideal des Charakterisirens im Anfang, als Princip der Encyclopädie - und an die Stelle der Lehre von d.[em] Syllogismus die von der Construction«,92 Einen Charakter bestimmen heiße nicht, »ihn ganz genau bestimmen«. 93 Schlegel sucht unbestimmte Konfigurationen, die dem Unendlich-Unbewußten gerecht werden. Die Einsicht, daß es ein Absolutes gibt, ermöglicht die Suche nach neuen Termini. Deshalb kann Schlegels Denken als ein absolut begriffliches gelten: Die Begriffe stehen in einem absoluten Nexus, 94 aber sie sollen individualisiert, also eigentlich aufgehoben werden. »Ächte Definitionen sind so selten wegen d[es] allgemeinen Mangels an histor.[ischem] Stoff und kritischem Geist«; für die Definitionen könne also ein Philosoph von den »witzigen Köpfen sehr viel lernen«. 95 Das antizipierte höhere System impliziert das Heraustreten aus kanonischen Traditionen. Die Potenzierung scheitert jedoch, wenn die Begriffe notwendig konkret festgelegt sind. Die romantische Verflüssigung führt dann zum Verschwinden der Begriffe im Sinnlosen. Schlegels Begriffsbildung beruht auf höherem Sinn, auf Speculationsgabe.96 Bemühungen, Schlegels deiktischer Gedanken-Dichtung mit Ideenclustern oder CodeSubcode-Differenzen zu Leibe zu rücken, negieren den eigentümlich metaphysischen Rahmen. Die Texte öffnen sich dem Verstehen - wenngleich der Interpret Gefahr läuft, »leicht dümmer« zu sein als sein Gegenstand, 97 anders gesagt: zumindest nicht schlauer als Schlegel selbst. Der Begriff der Rhetorik gewinnt in der Romantisierung, wenngleich er aufgehoben wird, ex negativo an Kontur.
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K A V i l i , S.47. Κ Α XVIII, S.393 u. 86. Mennemeier, F.N.: Fragment und Ironie beim jungen Fr. Schlegel, in: Poetica, Bd. 2 (1968), S.379. K A II, S.177 (Athenäum-Fragment 82). Κ Α XVIII, S. 465 u. 562. Κ Α XII, S.4. Benjamin, W.: D e r Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, in: Gesammelte Schriften, Bd. I. l.,1991,S.47f. Κ Α XVIII, S. 12. Κ Α XVIII, S.517. Bubner, R.: Zur dialektischen Bedeutung der romantischen Ironie, in: D i e Aktualität der Frühromantik, hg. v. E. Behler und J. Hörisch, Paderborn u.a. 1987, S.85.
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»Die Kunst der Rede spielt in den programmatischen Schriften der Frühromantiker auf den ersten Blick eine untergeordnete Rolle.«98 Oder es wird gesagt, daß Schlegels Werk »die Auseinandersetzung mit der Rhetorik explizit entfaltet und mit der Entwicklung eines genuin romantischen Kunstprogramms verbindet«.99 Der Widerspruch ergibt sich daraus, daß die Rhetorik in den heute bevorzugt zur Kenntnis genommenen Texten Schlegels nicht exklusiv diskutiert wird. Zwar spielt das Reflektieren auf Rhetorik im Gesamtwerk Friedrich Schlegels eine nebensächliche Rolle; für sich genommen allerdings sind sie beachtlich. In der Schlegel-Literatur ist eine gewisse Bedeutung der rhetorischen Tradition zwar bereits in den 1960er Jahren erkannt, allerdings lange meist als Anhängsel der Literaturtheorie erwähnt worden.100 Oder die Rhetorik wurde nur lapidar als »zentrales Thema der Philosophischen Lehrjahre« gewürdigt.101 Die allgemeine Forschung zur Rhetorikgeschichte, dies die andere Seite, bezieht sich, wenn sie sich zur romantischen Rhetorik äußert, meist auf Adam Müllers Reden über die Beredsamkeit. Aussagen zur Rhetorik Schlegels sind spärlich, meist aus wenigen Fragmenten gezogen.102 Mittlerweile sind einige Aufsätze zu Rhetorik und Frühromantik erschienen.103 Für die eingehende philologische Verbindung stehen zuvörderst die Arbeiten Helmut Schanzes. Ziel der vorliegenden Abhandlung ist es, einen Beitrag zur Geschichte der ars rhetorica zu leisten. Inwiefern gibt Schlegels Rhetorikbegriff Hinweise auf Wirklichkeit und Möglichkeit der Disziplin um 1800? Im Mittelpunkt steht die Rhetorik als Gegenstand begrifflicher Bemühungen Schlegels.104 In Frage steht Schlegels bewußte Aufnahme oder Ablehnung oder Verwandlung traditioneller rhetorischer Vokabeln. Erörtert wird nicht ausführlich, von welchen rhetorischen Theorieelementen Schlegels Werk »unbewußt« geprägt ist, die verborgene Kunst der Beredsamkeit. Auch die angewandte elocutio, der Stil, die Rhetorizität Schlegelscher Texte werden hier nicht analysiert. Wenn etwa Menninghaus schreibt, die »rhetorischen Elemente der Schlegelschen Philosophie« seien von der »Forschung erstaunlich konsequent vernachlässigt« worden, so meint er die »Rhetorizität des frühromantischen Denkens« und beansprucht, »bislang völlig unbeachtet gebliebene Begriffe Schlegels zu leitenden Termen der ganzen Darstellung« aufzuwerten. Gemeint sind Figuren wie Hyperbaton, Hysteronproteron, Anakoluthon und Parekbase.105 Läßt sich also Romantisierung nicht auch als Amplifikation auslegen?
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Zabka, T.: Rede und Rhetorik in der deutschen Frühromantik, 1993, S. 84. Pankau, J.: Unendliche Rede, 1990, S.6. E. Behler: Die Theorie der romantischen Ironie (1969), in: Ders. Studien 1,1988, S. 54. (Vgl. allerdings nun P. Schnyder: Die Magie der Rhetorik. Poesie, Philosophie und Politik in Friedrich Schlegels Frühwerk, Paderborn 1999, und unsere Kritik: Philosophische Rundschau, Bd. 47, Heft 3/Sept. 2000, S.253ff.) Behler, E.: Kommentar zu ΚΑ XIX (Philosophische Lehrjahre II), 1971, S.459 und 506. Vgl. G. Ueding/B. Steinbrink: Grundriss der Rhetorik, 1986, S.135ff. Pankau, J.: Unendliche Rede, 1990; Zabka, T.: Rede und Rhetorik in der deutschen Frühromantik, 1993, S. 84-93. [...] de eodem et altero sive alio. (Quint.: Inst, or., VII 3, 8) Menninghaus, W.: Unendliche Verdopplung. Die frühromantische Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion, Frankfurt a.M. 1987, S.26 u. 146.
Die hypostasierende Interpretation elokutionärer, dispositorischer Erwägungen eröffnet ungeahnte Möglichkeiten. 106 Rhetorik ist aufgefaßt als Figuralstruktur von Sprache, und zwar im Sinn der Abweichung von normalsprachlichen Standards. Sprache sei so grundsätzlich metaphorisch, also rhetorisch,107 Ein solcher Rhetorikbegriff mag einer Zeit, in der nur endlose »Ketten« das verschwundene Signifikat zu umkreisen scheinen, angemessen sein. Der Einspruch, daß rhetorische Figuren und Tropen (im Gegensatz zu Metaphern als Elementen deiktischen Philosophierens) auf der Rückübersetzbarkeit in die eigentliche Bedeutung beruhen, und zwar im Kontext einer aktualen Sprache, gilt als überholt. Und doch fällt diese Auffassung von Rhetorizität hinter das Problembewußtsein der Antike zurück. Rhetorik ist nicht auf eine Quasi-e/ocui/o zu begrenzen. Rhetorik besteht in der Einheit der partes, zumindest idealiter. Was sich als Rehabilitation des Rhetorischen ausgibt, ist eine Poetisierung des Sprachbegriffs. Rhetorische Dimension der Sprache ist nicht gleich metaphorische. Rhetorische Sprache, alles andere als ein Spiel des Stils mit sich selbst, ist dem Primat der konkreten Persuasion unterstellt. Die vorliegende Abhandlung versteht sich im Ansatz als historisch-philologisch. 108 Dieser Weg wurde gewählt, weil die neuere Romantikforschung andere beschreitet. Immer umfassendere 77e/e«-Interpretationen gründen auf immer weniger Belegen. »Philologfischer] Sinn, Geist, Begeisterung, Empfänglichkeit. Rhetorik und Politikbegriff< bei Schlegel gestrichen.
Dank möchte ich abstatten bei all jenen, die das Entstehen der Studie ermöglicht haben. An erster Stelle zu nennen ist mein Mentor Professor Dr. Joachim Dyck: Ihm verdanke ich Rat und unendlichen Zuspruch; er hat die Arbeit kritisch begleitet und wegweisend befördert. Zu danken habe ich Dr. habil. Johannes Pankau, der die Untersuchung mit angeregt hat. Mein Dank gilt der Konrad-Adenauer-Stiftung, die durch ein Stipendium die beinahe ungeteilte Hinwendung zur Sache erlaubt hat. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat die Drucklegung der Arbeit großzügig unterstützt.
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Teil I Friedrich Schlegel und die Rhetorik
Dann würde die Romantik ein verwobnes Vorspiel bilden zu erlesenen oder auch raffinierten Verwirklichungen der Spätkultur. Ernst Jünger, Strahlungen
1. Doctrina
Tradition und Philologie Eine ars kann gelehrt und gelernt werden. Wenngleich sie eine natürliche Begabung (natura) voraussetzt, beruht sie auf der Vermittlung von Regeln. Ziel ist die Anleitung zu einer wiederholbaren Handlung. 1 Neben Erfahrung und Talent gilt die Ausbildung (idoctrina) als Voraussetzung jeder Kunst. Sie gibt Vorschriften, zeigt Exempel. Die Doktrin beruht auf Übung und Ausarbeitung, exercitatio und elaborado, sowie auf Imitation der Muster und dem Nacheifern (aemulatio) der Meister. Die rhetorische doctrina ist ein Pfeiler abendländischer Bildungstradition. Bis in das 18. Jahrhundert stand das Erziehungssystem unter dem Einfluß der Rhetorik, der nutrix artium omnium. Wie tief, wie umfassend, wie bewußt war Friedrich Schlegel mit der traditionellen ars rhetorica vertraut? Wie stark nahm er Formen rhetorischer doctrina wahr? Fragen, auf die eine Bildungsgeschichte Antwort geben muß. Diese kann hier nur auswählend geschrieben werden. 2 Die Zeit bis zur Flucht nach Dresden 1794 allerdings muß ausführlicher zur Sprache kommen, schon weil sie überraschend wenig untersucht ist.3 Schlegel hat weder wie die Zeitgenossen Hegel, Hölderlin, Schelling eine kirchliche Bildungseinrichtung besucht noch ist er auf eine gymnasiale Lateinschule gegangen. Er hat nicht wie Hardenberg im Elternhaus pietistische Atmosphäre und damit eine Rhetorik des Herzens tief eingesogen (Hardenberg ist in Eisleben von Chr. Daniel Jani, dem Verfasser der Artispoetica Latinae unterrichtet worden 4 ). Oder Schleiermacher: Er war Zögling im schlesischen Pleß, in einer Erziehungsanstalt der Herrnhuter Brüdergemeinde, wo er »von einem Schüler des Philologen Ernesti«, 5 dem bedeutenden Leipziger Rhetoriklehrer, geschult wurde.
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Arist.: Eth. Nie., IV, 4,1140 a. Vgl. Cie.: Brut., 29, 111. Die wichtigsten biographischen Angaben sind zu entnehmen: Behler, E.: Fr. Schlegel. In Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1966. H. Eichners Versuch (Friedrich Schlegel, New York 1970), Biographie und Werk zu verbinden, fällt wenig überzeugend aus. Anders G. Peters: Das tägliche Brot der Literatur. Fr. Schlegel und die Situation des Schriftstellers in der Frühromantik, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, Bd. 27 (1983), S. 235-282. Am ausführlichsten immer noch, wenngleich mit bedenklichen Deutungen, C. Enders (Fr. Schlegel. Die Quellen seines Wesens und Werdens, Leipzig 1913), auf den sich viele nachfolgenden Schriften beziehen. Der Leipziger Zeit widmet sich auch M. Dannenberg: Schönheit des Lebens. Eine Studie zum Werden der Kritikkonzeption Fr. Schlegels, Würzburg 1993. Dazu H. Schanze: Romantik und Aufklärung, 1976, S. 15ff.; Jani, Chr. Daniel: Artis poeticae latinae libri IV, Halle 1774. Haym, R.: Die romantische Schule. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes, Nachdruck Darmstadt 1961, S. 392.
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Friedrich Schlegels Bildungsweg dagegen erscheint weniger festgelegt. Seine frühe Ausbildung war nicht getragen von der Lektüre des Demosthenes oder des Cicero, von klassischer Rhetorik, die wichtiger Bestandteil des Schulstoffs in protestantischen Lehranstalten noch im späten 18. Jahrhundert war. Die alten Exerzitien hielten sich lange. »Eine Stelle wird zwei- bis dreimal gelesen und erklärt, dann repetiert, imitiert und appliziert, um dadurch die Worte und Sentenzen des Schriftstellers dem Schüler völlig zu eigen zu machen. Nach drei, vier Tagen oder auch erst nach acht, nimmt man ein neues Bröckchen vor.«6 Und Christian Gottlob Heyne beschreibt seinen Griechisch-Unterricht vor 1750: »Man las keinen einzigen Schriftsteller ganz aus. Von keinem Autor besass ich eine vollständige Kenntniss, noch weniger von dem Umfang der ganzen Litteratur.« 7 Trotz eingeleiteter Reformen, die zur Stärkung der Realien und des muttersprachlichen Unterrichts führten, wurde in den 1780er Jahren die vorakademische Lehre noch von den alten Sprachen beherrscht. 8 Auf den Gymnasien in Kurhannover stand in Latein der obersten Klasse auf dem Plan: »Ciceros Briefe, Reden und philosophische Schriften, in allen wesentlichen Stücken«. Die Reformen wirkten sich zunächst auf die Methode, so auch auf dem Hannoveraner Lyceum, das »1774 eines der ersten Mitglieder des Gesnerschen Seminars, Schumann, zum Rektor erhalten« hatte und dessen nächste Nachfolger alle Schüler Heynes waren.9 Daß Schlegel in den Jahren der pueritia und adolescentia nicht direkt durch die Schulrhetorik geprägt wurde, muß nicht heißen, daß er ihr fremd gegenüber gestanden hätte. Er wuchs in einem Milieu auf, das rhetorischer Bildung wie rhetorischer Praxis verpflichtet war: Schlegel entstammt einem Pastorengeschlecht.10 Ein strenger protestantischer Erziehungskodex wurde tradiert. Zu den Zügen, die an seinem Großvater, dem Meißnerischen Stiftssyndikus Johann Friedrich Schlegel, gerühmt wurden, gehörte »eine große Sorgfalt bei der moralischen und bürgerlichen Erziehung seiner Söhne«.11 Auf die protestantische Ethik wie auf den ästhetischen Sinn der Vorfahren Friedrichs ist in der Forschung hingewiesen worden. Und die rhetorischen Linien? Der 1721 geborene Johann Adolf Schlegel, der während des Theologiestudiums in Leipzig (1741 bis 1748) von dem Bruder Johann Elias in den Dichterkreis um Geliert,12
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Eine Erinnerung Joh. M. Gesners an seine Schulzeit (Vorwort zur Livius-Ausgabe 1743), zit. nach Fr. Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten, Bd. II, 3. erw. Aufl. Berlin 1921, S.22. Vgl. J. Dolch: Lehrplan des Abendlandes. Zweieinhalb Jahrtausende seiner Geschichte, Nachdruck Darmstadt 1982, S.266ff. In A.H.L. Heeren: Christian Gottlob Heyne, biographisch dargestellt, Göttingen 1813, S.17f. Strippel, Fr./Raith, W.: Erziehung, Anspruch, Wirklichkeit. Geschichte und Dokumente der abendländischen Pädagogik, Bd. IV: Die Aufklärung, Starnberg 1971, S.74. Paulsen, Fr.: Geschichte des gelehrten Unterrichts, Bd. II, 1921, S.34. Paulsen, Fr.: Geschichte des gelehrten Unterrichts, Bd. II, 1921, S.41 u. 43. Pastor Christoph Schlegel (1613-1678) hatte für missionarische Verdienste in Siebenbürgen den Adelstitel von Gottleben erhalten, Johann Friedrich Schlegel (1689-1748) wirkte als Appellationsrat und Stiftssyndikus in Meißen. Behler, E.: Fr. Schlegel. In Selbstzeugnissen, 1966, S.7. Chr. F. Geliert wurde 1751 außerord. Professor für Dichtkunst, Beredsamkeit und Moral an der Universität Leipzig. Auch Johann Elias Schlegel befaßte sich mit Rhetorik, vgl.: Rede, daß die vorteilhaftesten Umstände der Beredsamkeit, allemal mit einem verwirrten Zustande des gemeinen Wesens verknüpft
Rabener, Cramer und Gärtner eingeführt wird, dort in Distanz zur Gottschederei geht, die Schriftstellerei ernstlich in das Auge faßt, liefert 1746 den Index zu Gottscheds Übersetzung von Bayles Wörterbuch. Er überträgt 1751 Les beaux arts réduits à un même principe von Batteux, kommentiert dessen klassizistische Nachahmungslehre kritisch.13 Der Vater Friedrichs war mit 14 Jahren auf die kurfürstliche Landesschule Pforta gekommen. In Schulpforta, einer 1543 gegründeten Eliteanstalt, in der »Lehre, Kosten und andere Nothdurft« umsonst sind, allerdings ein hartes intellektuelles Ausleseprinzip herrscht und eiserne Lerndisziplin {pietas Portensis) verlangt ist, wird in den 1730er Jahren entsprechend einem 1594 erstellten Plan unterrichtet: »Alle drei Klassen (Prima, Sekunda, Tertia) wurden zu denselben Stunden stets in derselben Fächern unterrichtet. In der ersten Morgenstunde trieben sämtliche Alumnen das Trivium (Grammatik, Dialektik, Rhetorik). In der zweiten Vormittagsstunde hatten alle Klassen Griechisch, nachmittags zuerst alle gemeinsam Musik oder Rechnen, dann lateinische Prosaiker und schließlich lateinische Dichter.« 14 Geistiges Fundament der Fürstenschulen in Sachsen ist bis weit in das 18. Jahrhundert hinein die Bildungsidee Melanchthons. Festgeschrieben findet sich dessen Ideal der studia in der Kursächsischen Schulordnung von 1528.15 In Schulpforte wird klassische Latinität gelehrt, das Graecum gefördert, die Eloquenz innerhalb des trivium hoch geschätzt. Die von Melanchthon verfaßten rhetorisch-dialektischen Lehrbücher sind Unterrichtsgrundlage. Rhetorik leitet zum Verständnis alter Texte an. In der obersten Classe sollen die Dialéctica und Rhetorik auff das allereinfältigste aus den gestellten quaestionibus und responsionibus gelehret werden, damit sie nachmals auf der hohen Schule die Lectiones Philosophicas mit größerem Nutz daselbst hören mögen. 16
In allen Klassen gehören Stilübungen und Disputationen zur Lehre. Bis gegen 1780 geht an den höheren sächsischen Schulen der Unterricht in den Spuren von praeceptum, Exempel, imitado', Grammatik, Rhetorik, Poetik »geben die Regel, die Schriftsteller bieten Beispiele, es ist die Aufgabe der Exposition, sie faßlich zu machen«. 17 Melanchthon hat, um die Einheit von Wortkunde und Sachverständnis herzustellen, um die Fähigkeit zur schönen Darstellung zu entwickeln, die Schulung zur Beredsamkeit nach dem Vorbild der Alten gefordert. 18 Multum, non multa. In Pforta gehört Cicero zu den bevorzugten Römern im Unterricht. Auch die griechischen Autoren sind dem pädagogischen Primat der artes dicendi entsprechend vor der Religion zu lehren: Isocratis et Demosthenis orationis. Cicero und Demosthenes werden als beliebte Exempla
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sind, in: Sammlung einiger Ausgesuchten Stücke, der Gesellschaft der freyen Künste zu Leipzig, hg. v. J. Chr. Gottsched, Leipzig 1754, S. 272-285. Einschränkungen der Schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz (1751). Die dritte Aufl. erschien 1770 mit elf Abhandlungen. Heyer, Fr.: A u s der Geschichte der Landesschule zu Pforte, 1943, S.33. In R. Vormbaum (Hg.): D i e evangelischen Schulordnungen des 16. Jahrhunderts, 3 Bde., Gütersloh 1860, S.lff. Aus einer Schulordnung von 1602. Zit. nach Fr. Heyer: Aus der Geschichte der Landesschule zu Pforte, 1943, S. 35. Die wichtigsten rhetorischen Handbücher Melanchthons waren die Elementorum rhetorices libri duo (1531). Paulsen, Fr.: Geschichte des gelehrten Unterrichts, Bd. II, 1921, S. 151. Dolch, J.: Lehrplan des Abendlandes, 1982, S.207Í.
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aufeinander bezogen. 19 Um die nachhaltige Dominanz des trivium kenntlich zu machen: Bis in das 18. Jahrhundert haben nur Musik und Arithmetik neben den Sprachen Raum im Kanon der Alma mater Porta. Sphärik, Geometrie, Geographie, Astronomie finden erst nach 1700 Eingang in den Lehrplan (1725 wird ein französischer Sprachmeister bestellt). Schlecht steht es um das Deutsche an der Landesschule. Da keine Lehrsprache, darf es nicht in Disputation und Deklamation benutzt werden. Es ist um 1700 selbst in der Freizeit verpönt. Zögerlich werden in den Theateraufführungen auch deutsche Stücke gespielt, die poetischen Versuche der Schüler erbringen häufiger deutsche Verse. 20 Der Vater Friedrichs studiert von 1741 bis 1748 Theologie in Leipzig, wo die Rhetorik fester Bestandteil des Curriculums ist. Johann August Ernesti (1707-1781) lehrt in jenen Jahren Eloquenz an der Universität. 1749 unterstützt Schlegel seinen Freund Cramer bei der Übersetzung des Dio Chrysostomos. In den Jahren 1751 bis 1754, Schlegel ist Professor und Diakon in Schulpforta, lehrt er auch Ästhetik. Als Pastor sowie Professor der Theologie und Metaphysik am Gymnasium Zerbst gilt er als eloquent, beinahe schon deklamatorisch. Er lehnt den Ruf auf einen theologischen Lehrstuhl der Universität Göttingen ab, wird 1759 Pastor in Hannover. Hier, 1775 zum Pastor Primarius an der Neustädter Hof- und Stadtkirche, schließlich zum Generalsuperintendent aufgestiegen, veröffentlicht er geistliche Lieder. Er publiziert eigene Gedichte und Predigen, die Sinn für Deklamation zeigen. 21 Die Verwurzelung des Vaters in humanistischer Bildungstradition, seine Vertrautheit mit alter und zeitgenössischer, homiletischer oder auch ästhetisch vermittelter Rhetorik, seine Begabung als Katheder- und Kanzelredner stehen außer Frage. Allerdings findet sich eine Schlußfolgerung in rhetorischer Sache vor die gleiche Schwierigkeit gestellt, die auch jede Untersuchung der ästhetischen Wurzeln Friedrich Schlegels zu überwinden hat. Denn bekannt ist nicht, daß der Sohn im Elternhaus zielstrebig an die Bildungswelt des Vaters herangeführt worden ist. Ohnehin kämen dafür nur wenige Jahre in Betracht. Es spricht sogar einiges dagegen, daß Johann Adolf seinen Jüngsten an der ungewöhnlichen Bildung nach und nach teilhaben ließ. Friedrich erwähnt die Werke seiner Vorfahren allenfalls nebenbei. 22 »The break between the two generations is illustrated by the fact that neither Johann Elias nor Johann Adolf Schle19
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Es wäre interessant zu wissen, welche rhetorische Ausbildung der Vater Fr. Schlegels als alumnus portensis genau erhalten, welche Autoren er studiert hat, was er später, 1751-1754, in Pforta gelehrt hat. D i e betreffenden Verzeichnisse sind jedoch in der Bibliothek Pforta (zur Zeit) nicht einsehbar. Der Schüler Klopstock (al. port. 1739-1745) tat sich besonders hervor. D a ß die Pflege der deutschen Sprache unter Anleitung des Mathematikprofessors Hübsch stattfand, dem Großvater Friedrich Schlegels mütterlicherseits, soll nicht unerwähnt bleiben. J.A. Schlegel veröffentlichte: Sammlung einiger Predigten, Leipzig 1757; Predigten, Leipzig 1771; Predigten über die Evangelia, Leipzig 1773; Lebensgeschichte unseres Herrn. Für Prediger, Leipzig 1775; N e u e Sammlung einiger Predigten, Leipzig 1778; Passionspredigten, Leipzig 1778-1786; Sammlung Geistlicher Gesänge zur Beförderung der Erbauung, Leipzig 1766. Außerdem: Fabeln und Erzählungen, Leipzig 1769; Vermischte Gedichte, 2 Bde., Karlsruhe 1787 u. 1789. So in Briefen an Wieland vom März 1796 ( K A XXIII, S.288) und aus Leipzig an den Bruder ( K A XXIII, S.56). Erinnert sei an dieser Stelle an die Rede, daß die vorteilhaftesten Umstände der Beredsamkeit, allemal mit einem verwirrten Zustande des gemeinen Wesens verknüpft sind von Johann Elias Schlegel (in:
gel were ever mentioned in the histories of literature Friedrich wrote.« 23 Vom Tod des Vaters 1793 ist, sollte kein Brief verloren sein, auf nur beiläufige Weise die Rede. Eine affektive B e m e r k u n g Friedrichs, wonach er gegen seine Familie Achtung heuchle, die er nicht habe, 2 4 zeugt gleichfalls nicht von intellektueller Dankbarkeit. U n d 1808 m u ß sich Friedrich bei August Wilhelm zwecks E r n e u e r u n g der Nobilität erkundigen, »welches A m t in Oesterreich und wo dieser Christoph Schl.[egel] bekleidete, d e m der Adel ertheilt worden«. 2 5 Folglich ist bei Ansätzen, Friedrich Schlegels Werk direkt aus der intellektuellen Familiengeschichte zu erklären, Vorsicht geboten. Die Verwandtschaften scheinen »nichts mehr zu sein als bloße Zufälligkeiten, die den Bruch zwischen den Generationen nur um so schärfer betonen«. 2 6 Andererseits sind die negative Worte über die Zeit der Väter nicht als völlige Ablösung auszulegen. D e n n Schlegel hat die Familientradition respektiert - auch nach der Konversion. Unbehagen, ihr nicht zu genügen, ist jederzeit erkennbar. Gibt es konkrete Hinweise auf eine Prägung durch die Bildungstradition der Familie? Ein f r ü h e r Brief Friedrichs erteilt Auskunft über einen Besuch bei Mitarbeitern der Bremer Beiträge, was die Vermittlung des Vaters voraussetzen dürfte. 2 7 Carl E n d e r s hat versucht, Lektüre plausibel zu machen, zu der Friedrich angeregt worden sein könnte. Die Ergebnisse sind selten stichhaltig; eine Vermutung sei aber wiedergegeben. Daß der Pseudolongin im Schlegelschen Hause bekannt war und sehr wohl unter den Übungsbüchern Friedrichs sich befunden haben könnte, muß als sicher gelten, zumal bei der Vorliebe des Vaters für die behandelte Materie ganz im allgemeinen. Johann Elias kannte ihn ganz genau, wahrscheinlich schon 1742, wo er in einem Brief an Gottsched vom 16. November Liscow als den Verfasser der feindseligen Vorrede der Heinekenschen Ausgabe bezeichnet. 2 8
D e r gesundheitlich labile Friedrich war nicht im Elternhaus aufgewachsen, sondern wurde 1775 und 1776 bei einem Onkel und Pfarrer in Rehburg, dann vom ältesten Bruder Karl August Moritz (1756-1826), damals Landpfarrer, erzogen. Ü b e r diese Zeit Schlegels ist wenig bekannt. Erst im Alter von 13 Jahren kehrte er zu den Eltern zurück. Doch auch über die Bildung in den folgenden drei Jahren in H a n n o v e r ist wenig mitzuteilen. Kurhannover - seit 1714 waren die Kurfürsten zugleich Könige von England galt als Residenz ohne Hof. A n der englischen Wirtschaftsentwicklung nahm das Land nicht teil. Das deutsche Halbengland war sowohl ökonomisch wie sozial rückschrittlich. Es hatte den Ruf, das China Europas zu sein. Johann Adolf Schlegel gehörte zur Elite Hannovers, die mit dem Reform-Absolutismus sympathisierte. Friedrich verbrachte seine H a n n o v e r a n e r Jahre im Kreis von Pastoren- und Beamtenfamilien. D e r Vater pflegte Geselligkeit; regelmäßige Leseabende sind überliefert. 2 9
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Sammlung einiger Ausgesuchten Stücke, der Gesellschaft der freyen Künste zu Leipzig, hg. v. J. Chr. Gottsched, Leipzig 1754, S. 272-285). Eichner, H.: Fr. Schlegel, 1970, S.13. ΚΑ XXIII, S. 137 u. 72. Ebenfalls 1793. Körner, Krisenjahre, S.642. Schanze, H: Romantik und Aufklärung, 1976, S.73. 179Ü vermutlich an Joh. Chr. Körner ( Κ Α XXIII, S.7). Enders, C : Fr. Schlegel, 1913, S.46, Anm. 1. (Dionysius Longin vom Erhabenen, Gr. u. Teutsch von C.H. Heineken, Dresden 1737.) Zit. in C. Enders: Fr. Schlegel, 1913, S.8.
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Nachdem Friedrich 1788 von einer abgebrochenen Kaufmannslehre in Leipzig zurückgekehrt war, »konnte er sich auch nicht erst entschließen, was er nun tun wollte, und er war so muckisch«.30 Schließlich darf sich der Sechzehnjährige privat auf das Studium vorbereiten. Er erlernt als wahres Sprachgenie (Dilthey) unter Anleitung eines Hauslehrers, dem »Rector Bues an der Schule der Neustadt Hannover«, das Altgriechische, mit August Wilhelm das Latein.31 Sein Interesse gilt »der griechischen Literatur und Philosophie, deren große Autoren er sich nach der Methode des immer wiederholten Lesens« einverleibt?2 Schlegel selbst: »In dem ersten Jünglingsalter von etwa siebzehn Jahren, bildeten die Schriften des Plato, die tragischen Dichter der Griechen, und Winckelmanns begeisterte Werke, meine geistige Welt.«33 1827 erinnert er: »Es sind jetzt eben neununddreißig Jahre, seit ich die sämtlichen Schriften des Plato in griechischer Sprache zum ersten Mal mit unbeschreiblicher Wißbegierde durchlas [,..].«34 Schlegel schreibt 1795: »Überhaupt ist unsre ganze alte Gelehrsamkeit eine äußerst zusammengesetzte, verworrene und buntscheckige Masse, im sonderbaren Zusammenfluß streitender Ursachen, unter den ungleichartigsten Einflüssen erzeugt und gebildet, ohne Einheit des Plans, ohne Gleichartigkeit des Tons.«35 Zum Sommer 1790 hatte er sich an der Universität Göttingen immatrikuliert. An der Hochschule sind 844 Studenten neu eingeschrieben, darunter 88 Philosophen,36 Georg II. hat die Universität 1734 als Konkurrenz zum preußischen Halle gegründet. Daß sie schon um 1750 als eine der besten und als die aufgeschlossenste der deutschen Hochschulen gilt, ist der Förderung moderner Wissenschaften und der utilitaristischen Ausrichtung zu danken. Und das geringe Interesse der britischen Monarchie an Kurhannover läßt reformerischen Freiraum. Die Georgia Augusta hebt sich aber nicht so sehr durch die Lehrinhalte ab, sondern mehr noch durch die Methoden. Der libertas philosophandi wird zentrale Bedeutung zugesprochen. Und wenngleich die Universitäten auch in dieser Zeit einen »schulmäßigen Charakter« 37 bewahren, so werden in Göttingen doch von den Professoren Originalität und Publikationsfreude verlangt, elegante Sitte anempfohlen und umfassende facultas docendi gefordert; in den Kollegs soll möglichst wenig diktiert werden. Aufsatz- und Rede-Übungen nach rhetorischen Mustern sind fester Teil des Curriculums. Zwar ist im späten 18. Jahrhundert auf den protestantischen Universitäten der lateinische Vortrag ohnehin die Ausnahme, aber nirgends als in Göttingen werden Vorlesungen, die Philologie ausgenommen, »durchweg in deutscher Sprache ge-
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Ein Brief der Mutter an A.W. Schlegel, zit. nach R. Haym: Die romantische Schule, 1961, S.873. Schlegel, K.: Friedrich Schlegel, in: Zeitgenossen. Biographien und Charakteristiken, Bd. I, Leipzig 1816, 3. Abt., S. 181 u. 183. Behler, E.: Einleitung zu KA I (Studien des klassischen Altertums), 1979, S. XCIV. KA IV, S. 4 (1823). KA X, S. 179. KA I, S.626 (1795/96). Saalfeld, Fr.: Versuch einer academischen Gelehrten-Geschichte von der Georg-August-Universität zu Göttingen, 3. Teil: 1788-1820, Hannover 1820, S. 30. F. Eulenburg spricht von etwa 726 Studenten pro Semester in den Jahren 1791-1795, und 705 im nächsten Jahrfünft (Die Frequenz der deutschen Universitäten (1904), Nachdruck Berlin 1994, S.262f.). Paulsen, Fr.: Geschichte des gelehrten Unterrichts, Bd. II, 1921, S. 145.
halten«. 38 So wirkt hier bis 1776 der Historiker Murray, der auch regelmäßig Deutsche Rhetorik zur Übung anbietet. Kehrseite dieser muttersprachlichen Ausrichtung ist, daß die lateinischen »Disputierübungen«, 39 sei es ex ratione oder ex auctore, immer schwerer durchzuführen sind: auf Grund nachlassender Sprachkenntnisse der Studenten als auch neuer propädeutischer Grundlagen. Ebenso wird die akademische Deklamation »obsolet«. 40 Während die einen betonen, die Universität Göttingen sei wegen der philologischen Ausbildung berühmt geworden, der starke Neuhumanismus habe weit gewirkt, heben andere die Realien, dritte die Jurisprudenz hervor, und innerhalb »der Juristischen Fakultät waren es die Fächer Reichshistorie, europäische Staatenkunde, Naturrecht und Völkerrecht sowie das lus publicum imperii, die am stärksten nach außen wirkten«. 41 Ein Gemeinplatz der Forschung ist, Schlegel hätte in Göttingen ein »Studium der Rechte« begonnen. 42 Aus den Unterlagen der Universität geht jedoch hervor, daß sich Carl Wilhelm Friedrich Schlegel aus Hannover am 26. April 1790 - wie sein Bruder vier Jahre zuvor - als stud., theol. einschrieb. 43 Wie auch immer, es gibt keine Hinweise, daß sich Schlegel der Theologie (oder auch der Jurisprudenz) gewidmet hätte in dem Sinne, daß er teure Vorlesungen besucht hätte. 44 Karl Ludwig von Woltmann erinnert sich, er hätte in Göttingen zwei Freunde gewonnen, die »fast alles auf Selbststudium setzen, und um Vorlesungen weniger Sorge trugen«: Neben Alexander von Humboldt auch Friedrich Schlegel, der »durch reiche literarische Vorkenntnisse und ein eignes Talent, Bücher zu verschlingen, mit einem originellen Vorstreben in allem Wissen, den Damm öffentlichen Unterrichts durchbrach«. 45 Auch andere Quellen lassen nicht vermuten, Schlegel wäre in Göttingen einem Studium der Theologie (oder Jurisprudenz) eifrig nachgekommen. Es ist mithin unwahrscheinlich, daß er, um ein Beispiel zu nennen, Professor Mitscherlich hörte über das Attische Recht, zugl. mit Erklär, einiger Reden von Isäus und Demosthenes oder: Auf das Römische Recht führen auch seine Vorlesungen über Cicero's Verrinische Reden.46
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Ebd., S. 15, 38f.u. 135. »Verzeichnis der Vorlesungen, welche in dem nächsten Winter vom 18. Oktober 1790 an [...] auf der Universität zu Göttingen gehalten werden«, S.8. Paulsen, Fr.: Geschichte des gelehrten Unterrichts, Bd. II, 1921, S. 135. Stolleis, M.: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. I: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600-1800, München 1988, S.309. Stolleis bietet zur Jurisprudenz an der Universität Göttingen reiches Material, S.309ff. Dilthey, W.: Leben Schleiermachers, Göttingen 1970, Bd. XIII. 1, S.231. D i e s e Aussage findet sich in der Literatur seitdem ohne Angabe der Quelle. Vgl. v. Verf.: Zu Errata in der Biographie des jungen Friedrich Schlegel, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie, Bd. 118, Heft 4/1999, S.592-600. Matrikel der Georg-August-Universität zu Göttingen 1734-1837, hg. v. G. v. Seile, Hildesheim u.a. 1937, S.323. Hörerlisten für die Semester 1790 und 1790/91 der Universität Göttingen sind in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek nicht vorhanden. K.L. von Woltmann in seiner Selbstbiographie (in: Sämmtliche Werke, 8 Bde., Bd. 1, Leipzig 1818). Woltmann wird auch von Fr. Schlegel erwähnt ( Κ Α XXIII, S.29). »Verzeichnis der Vorlesungen, welche in dem nächsten Winter vom 18. Oktober 1790 an [...] auf der Universität zu Göttingen gehalten werden«, S.4.
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Während sich die literarhistorische Forschung um eine juristische oder theologische Ausbildung Schlegels kaum gekümmert hat, zweifelt sie doch nicht daran, daß er sich schon an der Georgia Augusta um die Humaniora bemüht hätte: »Er studierte in Göttingen, dann in Leipzig Philologie.«47 Diese Ausbildung Schlegels muß hier interessieren, weil der Grundstock vieler romantischer Theoreme philologisch ist, weil die Philologie Aufschluß über seine Methodik liefert, weil sie über seine Nähe zur Bildungstradition überhaupt informiert. Ging vielleicht »das romantische Programm letztlich aus den offenen Fragen der klassischen Philologie«48 hervor? Ist die Bildungsgeschichte des 18. Jahrhunderts »auf weite Strecken eine Geschichte der Altphilologie«?49 Und trifft es zu, daß es, »als die Beschäftigung mit Rhetorik um die Mitte des 18. Jahrhunderts offiziell dahinschied«, der Philologie zugefallen wäre, »dem Fach ein Mausoleum zu errichten, wo man pietätvoll, aber oft unreflektiert die sterblichen Überreste aufbewahrt hat«?50 Es heißt, Schlegel habe in Christian Gottlob Heynes »ästhetisch-philologischen« Kollegien gesessen.51 Heynes »Lehrvortrag war nicht einmal hell gewesen; er war verworren, aber ganz den Dingen zugewandt, horchend gleichsam und so niemals vom Rhetorischen her berückend«. 52 Aber trotz »des schwachen Organs des Vortragenden, trotz der ziemlich unbehilflichen Form und des Mangels strenger Ordnung des Vortrages« zogen seine Vorlesungen auch »durch die Wärme, womit er den Gegenstand erfaßte«, zahlreiche Zuhörer an.53 Ob Schlegel zu diesen gehörte, ob er »von seinem Bruder in Heynes altphilologisches Seminar«54 eingeführt worden ist, ob Heyne als sein philologischer Lehrer gelten darf,55 ob er überhaupt jemals Student der klassischen Fächer56 gewesen ist, kann jedoch bezweifelt werden. Wenn Friedrich sich - frühestens im Winter 1790 - ein bis zwei Kollegs bei Heyne geleistet hat, dürfte das hoch angesetzt sein.57 In Göttingen wird sich Friedrich mehr für Philosophie begeistert haben;58 und er las »Historiker, Redner und tragische Schriftsteller der Alten nicht mit der Pünktlichkeit und strengen Methode eines philologischen Studenten, sondern mit den wechselnden
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Haym, R.: Die romantische Schule, 1961, S. 185. Schlaffer, H.: Poesie und Wissen, Frankfurt a.M. 1990, S.201. Dockhorn, K.: Die Rhetorik als Quelle, in: Macht und Wirkung, 1968, S.94. Fafner, J.: Wege der Rhetorikgeschichte, 1983, S.78f. So schon W. Dilthey: Leben Schleiermachers, 1970, Bd. XIII. 1, S. 231. Wiederholt bei E. Behler (u.a. KA XXIII, S. 389, Anm.l). Zit. nach A.H.L. Heeren: Christian Gottlob Heyne, biographisch dargestellt, 1813, S.240ff. Bursian, C : Geschichte der classischen Philologie in Deutschland, Bd. 1, München 1883, S.477. Behler, E.: Fr. Schlegel. In Selbstzeugnissen, 1966, S.22. Weber, H.D.: Fr. Schlegels Transzendentalpoesie, München 1973, S.154. So auch die philologische Literatur. R. Pfeiffer: Die Klassische Philologie von Petrarca bis Mommsen, München 1982, S. 227. Pfeiffer übernimmt Aussagen der Schlegel-Forschung und seiner Vorgänger, etwa: U. v. Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische und lateinische Literatur und Sprache, 3., stark verbesserte u. vermehrte Aufl. Leipzig u. Berlin 1912, S.315. Heyne las im Winter 1790 u.a. Römische Literatur allgemein, erklärte den Plinius und Pindar und Hesiod; die »Seminaristen wird er ferner im lateinischen Schreiben und Disputieren üben« (Verzeichnis der Vorlesungen, a.a.O., S.llf.). Vgl. den Brief an Heyne ΚΑ XXIII, S. 181.
Interessen eines Liebhabers«. 59 Die akademische Philologie wird er nur aus der Ferne gekannt haben. Schlegel war in Göttingen fremd geblieben. Er war auch in der Philologie Autodidakt. Mit philologischem Arbeiten wird er in Göttingen zwar indirekt bekannt geworden sein, er ist aber kaum durch Heyne gebildet worden. Daß Schlegel ein eigenwilliges Gespür für methodische Probleme entwickelte, ist eher darauf zurückzuführen, daß er nicht direkt bei Heyne studiert hat. Einen Lehrer für seine Methode fand er erst in Friedrich August Wolf. Die folgende Distanzierung auch von dessen Wissenschaftsideal, 60 die Entwicklung einer Philosophie der Philologie, die in Momenten wieder an Heyne erinnert, hat mit dem Studium in Göttingen nur indirekt zu tun. Hinweise, daß Friedrich Schlegel Kollegs der klassischen Philologie an der Universität Leipzig besucht hätte, fehlen ebenfalls. Gleichwohl, um das entsprechende Umfeld zu skizzieren, sei erwähnt, daß die Philologie in Leipzig gut vertreten war. Im 17. Jahrhundert unter Crocus ausgebaut, trug sie ihren Teil dazu bei, das sächsisch-thüringische Gebiet zur »alten Heimat der klassischen Studien« zu machen. 61 Hinzu kamen im 18. Jahrhundert besondere Verdienste um die deutsche Sprache und Literatur, wofür die Namen Gottsched und Geliert stehen. Die Universität konnte auf bedeutende Philologen verweisen: so G. Polykarp Müller, von 1716 bis 1723 Professor für Poesie und Eloquenz, und Johann August Ernesti, seit 1742 Prof. extr. human, liter., 1756 Professor der Beredsamkeit. Gesner war vor seiner Berufung nach Göttingen Lehrer in Leipzig gewesen, Heyne hatte sich in Leipzig bei Ernesti gebildet, Johann Jacob Reiske, Herausgeber der Oratorum graecorum, besetzte 1748 bis 1774 eine Professur der arabischen Sprache. Noch während der Studienzeit Schlegels beanspruchte Leipzig in der Philologie eine vermittelnde Position hinter den Antipoden Leiden und Göttingen. Damals lehrten August Wilhelm Ernesti, seit 1765 Professor der Beredsamkeit. Johann Christian Ernesti (1756-1802), Verfasser der Léxica rhetoricae, die Schlegel 1797 benutzt hat, war seit 1782 Prof. etxr. der Beredsamkeit. 62 Es gab im späten 18. Jahrhundert ordentliche Professuren für griechische und römische Sprache, für Geschichte sowie für Dichtkunst und Beredsamkeit. Diese war getrennt in Poeta (inter maiores) und Rhetoricus (inter minores). Dem Rhetoricus oblag auch die Leetüre in Quintiiianus.63 Das Lektionsverzeichnis enthält von Sommer 1791 bis Winter 1793 eine Fülle von Veranstaltungen in 59 60 61 62
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Dilthey, W.: Leben Schleiermachers, 1970, Bd. XIII. 1, S.231. K A XVI, S.80. Paulsen, Fr.: Geschichte des gelehrten Unterrichts, Bd. II, 1921, S. 15. Wilamowitz-Moellendorff schreibt in seiner Geschichte der Philologie, Leipzig 1921, S.42, zu Ernesti: »Auch er besaß und verbreitete ein enzyklopädisches Wissen und seine léxica technologica haben für die Rhetorik ihren Wert nicht verloren; aber seine Nüchternheit zeugt kein frisches und noch weniger ein tiefes Denken, und vergessen können wir ihm die Hofart nicht, mit der er Reiske niederdrückte, dem er nicht wert war, die Schuhriemen zu lösen.« D i e Lexika gab allerdings Johann Christian Ernesti heraus, der sechs Jahre nach Reiskes Tod (1774) Professor in Leipzig wurde. Der Gegner Reiskes war dessen Onkel Johann August Ernesti. Auch Eichner verwechselt die Emestis: Schlegel erwähnt »Ernesti« in seinen »Fragmenten zur Poesie und Literatur« siebenmal. Eichner gibt in seinem Personenregister Johann August Ernesti an ( K A XVI, S.529, A n m . 2 8 , u. 628), obwohl Schlegel 1797 im Zusammenhang mit Ernesti von den »neuesten philologischen Schriften« spricht ( K A XVI, S.37). Gretschel, C.: D i e Universität Leipzig in Vergangenheit und Gegenwart, Dresden 1830, S.98f.
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rhetorica, so der beiden jüngeren Ernestis, aber auch Interpretationen zu veterum poetarum Latinorum. Ciceros Reden und Schriften dominieren, und es gab in Leipzig einen Sonderfall, Johann Georg Eck, der bis 1805 Exercitationes germanice scribendi ac declamandi abzuhalten pflegte,64 obwohl praktische Poetikkurse seit den 1720er Jahren im Curriculum immer seltener auftauchten und ab 1770 an allen Universitäten fehlen.65 Ab 1793 hätte Schlegel zwar die Zeit gehabt, philologische Kollegien zu besuchen, aber dafür dürfte kein Geld da gewesen sein. Einmal schreibt er: »Aus Schochers Declamation besonders im Unterricht wird grosses Wesen gemacht. Er hat ein schlechtes Organ. [...] Seine Schrift soll ohne mündlichen Unterricht sehr unverständlich seyn.«66 Doch müssen das Informationen aus zweiter Hand sein, denn Schocher, Professor der Beredsamkeit, lehrte 1791 bis 1793 nicht. Heyne hatte die Universität Göttingen zur »berühmtesten philologischen Hochschule Europas erhoben«. 67 Die Georgia Augusta war mit ihrer Wertschätzung disziplinärer Philologie eine Ausnahme. Zwar hatte die Weltweisheit im akademischen System des 18. Jahrhundert gegenüber der theologischen Fakultät Ansehen gewonnen, doch wurde die facultas artium nur als eine Art allgemeinwissenschaftliche Vorschule aufgewertet. Sie führte »ein abhängiges Wissenschaftsdasein«.68 Eine Philologie, die sich als bloße Textkritik verstand, war um 1750 auf dem Rückzug. Da »man nicht einsah, wozu der Student griechische und lateinische Redner studieren sollte, als um aus ihnen zu lernen, wie man griechische und lateinische Reden und Gedichte schreiben müsse, so las und hörte sie niemand mehr«.69 Das ist die eine Seite. So die Aufklärung den methodischen Rationalismus und Utilitarismus befördert hat, muß auch »der Niedergang der klassischen Studien im 18. Jahrhundert zum großen Teil auf ihre Rechnung zu setzen sein«.70 Gleichwohl stellte das Zeitalter auch die Grundlagen für eine neue Philologie bereit. Mehr noch, in einer Wendung gegen den Rationalismus entstand eine neuhumanistische Philologie. Göttingen war Haupt dieser Bewegung. Hier behielt die Philologie nicht nur einen angesehenen Platz innerhalb der philosophischen Fakultät, sie war sogar 1777 als selbständiges Fach eingeführt worden. Begründet hatte den ausgezeichneten Ruf der Göttinger Philologie Johann Matthias Gesner. Gesner, 1734 bis 1761 Professor der Poesie und Beredsamkeit in Göttingen, wurde zum Anreger einer Philologie als Altertumswissenschaft. 1737 rief er das philologischpädagogische Seminar in das Leben, vereinte so die zerstreuten philologischen Disziplinen in einem Institut. Er suchte statt eines imitativen ein freieres Verhältnis zur Antike, bevorzugte die Griechen, auch deren Redner. Von den Lateinern favorisierte er
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So auch im Winter 1791, Sommer/Winter 92 und Sommer 93. Weimar, K.: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, München 1989, S.56f. KA XXIII, S.273. Vermutlich: Soll die Rede immer ein dunkler Gesang bleiben, Leipzig 1791. Gudeman, Α.: Grundriss der Geschichte der klassischen Philologie, Leipzig 1909, S.219. Muhlack, U.: Klassische Philologie zwischen Humanismus und Neuhumanismus, in: Die Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung, hg. v. R. Vierhaus, Göttingen 1985, S. 99. Paulsen, Fr.: Geschichte des gelehrten Unterrichts, Bd. II, 1921, S. 146. Kroll, W.: Geschichte der klassischen Philologie, Leipzig 1908, S.101.
Cicero. 71 Gesner wandte sich gegen die Herrschaft des Formalen in der Philologie. Die Erklärung der Texte, das genium capere wurde wichtig. »Da ist von jener äußerlichen Imitation, die sich um den Inhalt der Schriftsteller nicht kümmerte, keine Rede mehr. Die wahre Redekunst kann nur im Zusammenhang mit der Erfassung des geistigen Gehalts des Schriftstellers gepflegt werden.« 72 Es ist aber auch die andere Seite der von Gesner eingeleiteten Entwicklung zu sehen. Methodisch: Gesner ist Schulpraktiker, er legitimiert Philologie didaktisch. Die Textkritik ist seine schwache Flanke. Die Philologie gerät in Gefahr, an der »Oberfläche« der Sprache »herumzuinterpretieren«. 73 Zweitens: Nach Göttinger Lehrart steht nicht die Grammatik am Anfang des Studiums, sondern es sind verstehende Übungen. Es erfolgt eine »Reduktion des Sprachunterrichts auf unverbindliche« Lektüre, der »systematische Vortrag der Rhetorik und Poetik« entfällt. 74 Gesners Methodik war Ergebnis einer Frontstellung gegen die kritische Philologie. Diese Philologie - wenngleich sie zur kommentierenden Sicherung der Texte und damit auch zur Fortgeltung kanonischer Rhetorik viel beigetragen hat - war hermeneutisch an eine Grenze gelangt. Besonders die holländischen Philologen (Lipisus, Heinsius, Grotius) tendierten »zur Vielwisserei«. 75 Die Kritik der Göttinger äußerte sich exemplarisch in der Ablehnung des Thesaurus, der die barocke Tradition der polyhistorischen Kompendien mit einer vernünftigen Methode zu verbinden suchte. So entstanden systematisch geordnete Litterärgeschichten, die zwar die Einheit von Eloquentia, Poesis, Historia bewahrten, aber weder die Vereinigung der Gesichtspunkte noch die historische Entwicklung aufzeigten. Dem Ziel topischer Universalität des Wissens verpflichtet, wurde alles Schriftliche ohne inneren Zusammenhang nach Stichworten oder Tropen versammelt. Eine poetarum historia dieser Art ist die Bibliotheca Graeca des Fabricius, auch die Sammlungen des Graevius und Gronovius, die alle von Schlegel benutzt worden sind. 76 Rein chronologische Litterärgeschichten und eklektische Philosophiehistorien finden sich noch 1800 (Tennemann, Tiedemann, Meiners): »Die neueren Sammler sind auch bloße Kompilatoren [,..].«77 Späte Gestalt fand die Textkritik bei David Ruhnken (den Schlegel allerdings schätzte): »Als Professor eloquentia waltet er seines Amtes, indem er seine Schüler in die praecepta der Beredsamkeit einübt. Wie in den spätantiken Rhetorenschulen wird da auch noch im 18. Jahrhundert irgendein Stoff vorgenommen und in die spanischen Stiefel der rhetorischen Figuren eingeschnürt.« 78 Aber diese Philologie ließ bei aller Erstarrung den rhetorischen Schulkanon vergleichsweise unangetastet. Eine der vielen Paradoxien des 18. Jahrhunderts: Erst die neuhumanistische Altertumslehre 71 72
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Paulsen, Fr.: Geschichte des gelehrten Unterrichts, Bd. II, 1921, S.24. Heubaum, Α.: Geschichte des Deutschen Bildungswesens seit der Mitte des 17. Jahrhunderts, Bd. I, Berlin 1905, S.223 u. 227. K A III, S. 298. Jäger, G.: Humanismus und Realismus. Schulorganisation und Sprachunterricht 1770-1840, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1 (1976), S.148 u. 150. Pfeiffer, R.: D i e Klassische Philologie von Petrarca bis Mommsen, 1982, S. 173. K A XXIII, S.245. K A XI, S. 101 (1803/04). Mettler, W.: Der junge Fr. Schlegel und die griechische Literatur, Zürich 1955, S.82.
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brachte eine »Überwindung der humanistisch-rhetorischen Betrachtungsweise« 79 mit sich. An Gesner Erneuerungswerk in Göttingen baute Heyne fort, er wurde »Stifter einer eignen Schule der Philologie«. 80 Heyne übernahm 1763 das Direktorat im Seminar. Einige für den Rhetorikbegriff relevante Stichpunkte zu Schlegels mittelbarer Beeinflussung durch Göttinger Philologie sind: Erstens, Heyne bezieht in seine Auslegungen nichtliterarische Faktoren, kulturarchäologische, politisch-historische, soziologische, ein. Er verläßt so den engen Kreis des reinen Sprachwerks. Zwar bleibt die Rede primär, aber sie wird in ihrem historischen Kontext erörtert. Die Philologie weitet sich mehr noch als bei Gesner zur Altertumswissenschaft. Schlegel schließlich wird die Philologie zur Kulturwissenschaft als »Geschichte der Menschheit« 81 umformen. Vom Primat der Sprache weicht Schlegel more philologico nicht ab, doch in seiner Kulturphilosophie wird ihm der vollständige Zusammenhang von Kultur, Gesellschaft, Text zur historischen Frage. Der Gegenstand einer Geschichte in dieser Rücksicht sind nicht allein die öffentlichen Handlungen und Veränderungen eines besondern Volks, sondern Sitten und Zeit, Kunst und Staat, Glauben und Wissenschaft, kurz alle reinmenschlichen Taten, Eigenschaften und Zustände: menschliche Bildung.
Und zur Poesie in ihrem ganzen Umfange gehöre die Rhetorik. 82 Zweitens, es geht Schlegel mit Heyne nicht bloß um eine materiale Erweiterung der Philologie. Jede Textstelle erhält erst in der Beziehung auf ein Ganzes Bedeutung. Schlegel hegt die Hoffnung, die Kenntnis der Alten zu einem Gesamtheit zu ordnen. 83 Eine individuelle Bedeutung kann sich nur als wirklich erweisen, wenn ihre Beziehung zur universalen Vollständigkeit herausgearbeitet ist. In der Geschichte der Poesie (1798) schreibt Schlegel über die Liebe zum Altertum: »[...] das ist das Erste; und, den Geist des Ganzen zu erfassen, ist das Höchste.« Dazu aber sei Gelehrsamkeit nicht hinreichend; neben der Kenntnis aller »urbildlichen Schriften des Altertums« gelte es, »gleichsam mit ihnen zu leben«. 84 Drittens. Heynes Ideal der Interpretation ist die Einfühlung. Der Geist eines Zeitalters soll entdeckt werden. Dies führt nicht nur zu einer neuen Auffassung von imitatio veterum, sondern bringt eine Abwendung von der audacia mit sich. Der Interpret kann sich weder im Vertrauen auf alte Kunstrichter noch auf eigene ratio dem Text überlegen fühlen. Das intuitive Eindringen in Geschichte bietet gleichwohl Gewähr für Genauigkeit, und zwar wegen der verstehbaren Einheit von Geist und Buchstaben. Diese Hermeneutik wird Schlegel ermöglichen, Philologie, Kritik, Poesie und Rhetorik zu verbinden. Er lobt Heynes Gefühl·. Wenigstens ist das an ihm deutlich wahrzunehmen, was die Franzosen verve nennen, ein gewisser Strom der leidenschaftlichen Empfindung, der Einbildungskraft und Rede, der freilich 79
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Santoli, V.: Philologie, Geschichte und Philosophie im D e n k e n Fr. Schlegels (1930/1971), in: Fr. Schlegel und die Kunsttheorie seiner Zeit, hg. v. H. Schanze, 1985, S.43. K A III, S. 300. K A I, S. 626f. K A I, S.205 u. 626f. K A I, S. 622f. Κ A I, S. 398; K A II, S. 111.
allein weder zur Rhetorik noch zur Poesie führt, aber doch ein wesentliches Element der einen wie der andern ist. 85
Viertens, Schlegel begreift antike Texte nicht als Anhäufung einzelner Phänomene. Von ihm »stammt die Vorstellung von einem organischen Leben, Wachsen und Welken der Literatur«. 86 Schlegel Schloß vermittelt an die Göttinger Philologie an. Doch ist er kein bloßer Fortsetzer des Neuhumanismus. Er nahm in methodischen Fragen auch Abstand. Dabei zeigt er sich beeinflußt von Friedrich August Wolf. Schlegel war von Wolfs Intellektualität und Persönlichkeit angetan. 87 Die Briefe an Herrn Hofrath Heyne, in denen sich Wolf gegen den Vorwurf wehrt, Heynes Ideen entwendet zu haben, hinterlassen bei Schlegel einen starken Eindruck. Zwar bemerkt er kritisch das Aristotelisieren, er hält sie gleichwohl für »ein Meisterwerk der höhern Polemik«. 89 Wolf, 1777 der erste Göttinger studiosus philologiae, warf seinem Lehrer Heyne seinerseits vor, das korrekte Quellenstudium vernachlässigt zu haben. Schlegel folgt Wolf:90 Die Göttinger Interpretiermethode sei kein »Muster der Nachahmung«. Heyne wäre in der »strengen und höhern Kritik von andern Philologen, besonders einigen berühmten in Holland und England übertroffen« worden; er sei »nichts als ein humaner Litterator«. 91 Wolf sah in der Verbindung neuhumanistischer Weite mit textkritischer Methode die Möglichkeit, die Philologie in den Rang einer selbständigen Wissenschaft zu versetzen. Das Ideal hieß Klarheit, Begrifflichkeit; und dennoch ist Schlegel eher von Wolf als von Heyne inspiriert. »Ohne Genauigkeit keine wahre klassische (^[Philologie].« 92 Schlegel bekennt sich zur exakten Quellenkritik, wenngleich sie in eine Interpretation dem Geiste nach übergehen müsse. Critica emendatrix und Einfühlung in den Sinn sollen vereint sein. Das Streben der deutschen Philologen geht dahin, das Altertum und seinen Geist wirklich zu verstehen. Die deutsche Philologie will nicht bloß als Kunst sich ihrer eignen Vollendung erfreuen, sondern ihr Ziel ist, das Studium des Altertums zu einer Wissenschaft zu erheben. 9 3
1797 schreibt Schlegel zur »Anwendung der Popularphilosophie« auf das Altertum: Weit mehr muß insistiert werden auf den Historismus, der zur Philol.[ogie] nothwendig. Auf Geist, gegen den Buchstaben. Das gehört mit zum Historismus, so wie auch Gesetze, Arten, Stufen, Gränzen, Verhältnisse pp Ganzheit pp . - Ueber die Anwendung einer gegebnen Philosophie. Dieß ist verwerf.[lich] und schädlich. Der Philolog selbst muß Philosoph seyn. 94
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K A III, S.296f. (1813). Wilamowitz-Moellendorff, U . v.: Die griechische und lateinische Literatur, 1912, S. 316. K A XXIII, S. 345. Wolf, Fr. Α.: Briefe an Herrn Hofrath Heyne vom Professor Wolf, Halle 1797, S. 1. K A XXIII, S. 300 u. 367. K A III, S. 296 u. 299. K A III, S.297; K A XVI, S.81. Κ A XVI, S. 70. Sicher kannte Schlegel auch die Allgemeine Uebersicht oder Grundrisse der Dialoge Piaton 's: eine Einleitung in das Studium dieses Philosophen, 1782. Wolf hatte schon Reden des Demosthenes, Aetios, Aristeides herausgegeben. K A XVI, S.50; K A III, S.300. Κ A XVI, S. 35.
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Schlegel entwickelt eine Philosophie der Philologie. Diese ist von Philologiehistorikern bisher nicht angemessen rezipiert worden. Das mag daran liegen, daß Schlegels Arbeiten zwar »von den bedeutendsten Gelehrten in dieser Wissenschaft der Altertumskunde günstig aufgenommen« worden waren,95 daß sie aber weiter von herkömmlicher Methodik abweichen, als Philologie gestattet. Nur selten hat Schlegel Hingabe »an genaues Prüfen« 96 aufbringen können, nur ungern hat er sich auf die »restit.[utio]«, etwa die Frage nach der Echtheit des Lysias-Epitaphios, eingelassen. Das dürfte auch an fehlender Zeit gelegen haben, doch vor allem bewegten ihn andere Fragen. »Etwas rein Popularität der Verstehens< nicht mißachten denn nur diese kann im Ansatz ein neues Publikum hervorbringen. Aber Publikum ist für Schlegel eine Idee, und das romantische Publikum soll werden, deshalb müßte »das Publikum eben so wohl recensirt werden als die Autoren«. 202 Als Aufgabe des Autors legt er fest: Poesie und Philoso193 194 195 196 197 198 199 200 201 202
ΚΑ ΚΑ ΚΑ ΚΑ ΚA KA KA KA KA KA
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XXIII, S. 181 u. 283. II, S.23. XII, S. 101; Κ Α I, S.320Í. II, S. 150. Vgl. Κ Α XVI, S.91. XVIII, S. 204 u. 215. XVIII, S. 206 (1798). Vgl. K A XVIII, S. 219. XVI, S. 206; K A XVIII, S. 36. X X I V , S. 45. XVIII, S. 113 u. 336. Vgl. K A II, S.206. XVI, S. 139; K A XVIII, S. 264.
phie »zu verbreiten und für's Leben und aus dem Leben zu bilden«, und so »ist Popularität seine erste Pflicht und sein höchstes Ziel«, - unter der Einschränkung: Freilich wird er um des Zweckes und seines eignen Geistes willen oft bei seinen Werken nur auf die Natur der Sache und die Gesetze der Behandlung sehen dürfen, und dann auch im Ausdrucke ungewöhnlich und vielen unverständlich sein müssen.
D a s ist keine Phrase: D e r wahre Autor »kann sich doch nie unter die Menge verliren«. D e n n wo sie Enthusiasmus beseele, da bilde sich aus der gewöhnlichsten, einfachsten und verständlichsten R e d e wie von selbst eine Sprache in der Sprache.203, E s geht hier nicht u m Naturrhetorik, um künstliche Adaption möglichst natürlich wirkender Sprache. Die Sprache spricht. Nur der unverkünstelte Mensch kann diese eigentlich populäre Sprache verstehen. Wie aber soll der Autor die Sprache des unbestimmt, unverstellt sprechen lassen? Schlegel schwankt zwischen wahrer und falscher Popularität, zwischen populärer Exoterik und einer Esoterik, in die der R o m a n t i k e r von der M o d e r n e hineingezwungen wird. Wer die esoterisch wirkende romantische Polemik versteht, ist eine Eingeweihter. 2 0 4 A d e p t ist ein Leser, der die »Aufforderung zur Selbsttätigkeit wahrnimmt und realisiert, der sich also im Vollzug der ästhetischen W a h r n e h m u n g zu jenem Leser heranbildet, der in der p e r m a n e n t e n Appellstruktur des Werkes immer schon angelegt, vorausgesetzt, gewissermaßen postuliert ist«. 205 Die Romantik negiert die didaktischen Versuche, Literatur als Kunst für alle zu etablieren. 2 0 6 Romantisches Verstehen bewegt sich im Unbestimmten. Schlegel übergeht den Streit zwischen prodesse und delectare. A b e r skeptisch von Natur, ahnt er, daß der Kreis des verständigen Publikums nur langsam wachsen werde. D e r Athenäum-Aufsatz Über die Unverständlichkeit ist auch das Eingeständnis des Scheiterns. Schlegel steht in platonischen und mystischen und auch in freimaurerischen Traditionen: »[...] der G l a u b e an die Moralität des Menschen, ist selbst ein Geheimnis, das nur meditierend, redend und handelnd allmählich enthüllt werden kann und sich selbst im Enthüllungsprozeß erst herausstellt.« 207 Die esoterische Grundierung romantischer Theorie widerspricht der ars rhetorica, die sich allegorisiert findet in der offenen Hand.208 Ja auch wenn Philosophie öffentlich gemacht, und in Werken dargestellt wird, so muß Form und Ausdruck dieser Werke geheimnisvoll sein, um angemessen zu scheinen. Bei der höchsten Klarheit dialektischer Werke im Einzelnen muß die Verknüpfung des Ganzen auf etwas Unauflösliches führen [...]. 209
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K A V i l i , S.60. Novalis: Schriften, Bd. 2, S.485. Mähl, H.-J.: Verfremdung und Transparenz, 1992, S. 180. Zum Beispiel Ad. v. Knigges Über Schriftsteller und Schriftstellerey (1793). Stockinger, L.: Tropen- und Räthselsprache. Esoterik und Öffentlichkeit bei Fr. v. Hardenberg (Novalis), in: Geschichtlichkeit und Aktualität. FS für H.-J. Mähl, Tübingen 1988, S. 194. Vgl. K A III, S. 98ff. Cie.: O r a t . , 3 2 , 1 1 3 . K A III, S. 100 (1804).
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Aus seiner Haltung zur allgemeinen, kollektiven Urteilskraft ergibt sich, daß Schlegel der Instanz des sensus communis reserviert gegenübersteht. 210 Der Gemeinsinn, die opinio communis, ist von grundlegender Bedeutung für die persuasive Funktion. 211 Er liegt »in voller Ausformung bei Cicero und Quintilian« vor.212 In der Neuzeit hat Vico abseits versucht, die Wissenschaft auf den sensus communis zu gründen: Dieser sei Norm aller politischen Klugheit und der Beredsamkeit: Praeterea sensus communis, ut omnis prudentia, ita eloquentiae regula est, denn Redner hätten oft mehr Mühe mit einem wahren, aber unwahrscheinlichen als mit einem falschen, aber glaubwürdigen Sachverhalt. Wie die Wissenschaft aus dem Wahren, so erwachse der sensus communis aus dem Wahrscheinlichen: Verisimilia namque vera et falsa sunt quasi media: ut quae fere plerumque vera, perraro falso.213 Der Gegenstand der humaniora, die geschichtliche Existenz des Menschen, ist durch den sensus communis bestimmt. So kann der Schluß aus dem Allgemeinen und der Beweis aus Gründen nicht ausreichen, weil es auf die Umstände entscheidend ankommt. Aber das ist nur negativ formuliert. Es ist eine eigene positive Erkenntnis, die der Gemeinsinn vermittelt. 214
Die Tradition des Gemeinsinns hielt sich in Großbritannien, bei Shaftesbury, in der schottischen Moralphilosophie lange, auch im deutschen Pietismus. Die deutsche Popularphilosophie bezieht sich noch auf ihn. Allerdings: »Man verstand nun unter Sensus Communis lediglich ein theoretisches Vermögen, die theoretische Urteilskraft, die neben das sittliche Bewußtsein (das Gewissen) und den Geschmack trat.« 215 Der Begriff ist um 1800 entpolitisiert, intellektualisiert. Kant greift zwar noch zurück auf die Konzeption des präreflexiven gesellschaftlichen Sinnallgemeinen. Aber eine Erkenntnisfunktion wird dem sensus communis abgesprochen. Er wird gedeutet als Prozeß, der sinnliche Wahrnehmung koordiniert, als Vermögen übereinstimmenden Urteilens innerhalb einer Geschmackskultur. 216 Der sensus communis gilt nicht mehr als Ursprung allgemeiner Wahrheit. Auch rhetorischer Argumentation ist damit der Boden entzogen. Sie muß sich im Zeitalter der critica neu begründen und legitimieren. Bei Schlegel ist der Gemeinsinn keine Sache intensiven Nachdenkens mehr, kein Gegenstand romantischer Aneignung. Jedes Zeitalter hat s.[einen] eignen sensus communis, auf d[en] r^jethische Philosophie] sich zunächst beziehn aber nicht bei ihm stehn bleiben sondern ihn an cp[Philosophie] und dem sensus communis andrer Zeitalter berichtigen muß 217
Der Gemeinsinn dient nicht, das romantische Denken gegen methodische demonstratio abzuschirmen. Kant verstellt die Tradition.
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KA XVIII, S.283. Vgl. Quint.: Inst, or., V 10,12. Dockhorn, K.: Rez. v. H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode, 1966, S.172. Vico, G.B.: De nostri temporis studiorum ratione (1708), lat.-dt., Darmstadt 1963, S.26. Gadamer, H.-G.: Wahrheit und Methode, in: Ges. Werke, Bd. 1,1990, S.28. Ebd., S.32. Kant, I.: KdUk, §40, Β 156ff. KA XVIII, S.225.
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Endliche Rhetorik Vom Werth d[er] Beredsamkeit, heißt ein Werkplan 1799.218 Schlegel ist in dieser Zeit um eine Neuwertung von Rhetorik bemüht. Die nachgelassenen Notizen vor allem legen davon Zeugnis ab. Schlegel entwirft eine absolute Rhetorik,219 Systematisch sind die Versuche nicht. Die Grenzlinie zwischen neuer Rhetorik und Schlegels Vorstellung von herkömmlicher Rhetorik zeichnet sich zunächst nicht deutlich ab. Beide Begriffe stehen in wechselnden Verhältnissen zu anderen Termini und sind am ehesten in diesen Beziehungen zu verstehen. Dieses Kapitel wird zunächst die rhetorica nova erhellen insoweit, als Schlegel der systematischen Tradition auffällig verbunden bleibt. Hängen die Ansätze zur Inauguration einer absoluten Rhetorik (ab 1797) mit der Rezeption der alten ars zusammen in dem Sinn, daß sie Niederschlag der erneuten antiken Epoche sind? Setzt sich Schlegel mit historisch vorliegenden Rhetorik-Modellen auseinander, um daraus eine neue Rhetorik zu entwickeln? Der Eindruck, ein romantischer Rhetorikbegriff löse sukzessive eine noch an alter Rhetorik orientierte Vorstellung ab, ist irreführend. Bei Schlegel bleiben zwei Grundvorstellungen lange nebeneinander in Geltung (wenngleich die absolute Rhetorik in den Jahren vor 1800 den traditionellen Begriff überlagert). Das Theorem absolute Rhetorik hat, wie bereits an Schlegels Geschichte der Poesie gezeigt, keine wesentliche Rückwirkung auf die Interpretation der antiken Beredsamkeit und ihrer Kunst. Schlegel vollzieht eine explizite Umformulierung der antiken Rhetorik allenfalls in wenigen Notizen. Der Begriff der neuen Rhetorik ersetzt den der alten nicht einfach, die begriffliche Spaltung erscheint ab 1797 nahezu unvermittelt. Die überkommene ars rhetorica wird nicht kontinuierlich im romantischen Sinn weitergedacht; die Anstöße zur A b w e r t u n g kommen weniger aus dem Studium der Alten, sondern sind primär dem neuen Programm geschuldet. Bestimmte Teile des frühromantischen Theoriegebäudes verlangen die Nutzung einer ars, deren Bausteine Schlegel zwar in der traditionellen Rhetorik findet, die sich jedoch nur nach grundlegender Behandlung in das neue Werk einpassen lassen. Schlegel beschäftigt sich also mit der alten Rhetorik nicht, um final eine romantische Rhetorik zu begründen. Die Lektüre der Rhetoriker war lange nur interessiert, also eigentlich kein Studium. Erst die von Poesie, Philosophie, Moral, Religion nicht zu füllenden Leerstellen im romantischen System erforderten einen Rückgriff, der in Schlegelscher Manier vollzogen wird: Selektion, Annihilation, Überhöhung einzelner Momente, neue Synthese. Aber wie beim Begriff der Logik bleiben wesentliche Momente der alten Rhetorik unberührt, ungesteigert. So stehen sich, besonders um 1798, ein romantischer Neuentwurf und eine dem Kanon eher kritisch verpflichtete Fassung gegenüber. Zwar ist der Riß bereits in der Lysias- und D/onys/os-Übersetzung zu sehen, es kommt aber erst in den Skizzen der Berliner Zeit zur Spaltung: Während der primär auf die alte Rhetorik bezogene Begriff im Kontext platonischer Verdikte von Schmeiche218 219
ΚΑ XVIII, S.244. ΚΑ XVI, S. 105.
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lei, Schmuck, bloßer Zweckhaftigkeit und sophistischer Verführung verbleibt, ergeben sich andere Varianten aus der Erprobung im Prozeß der Romantisierung. Solange Schlegels Auffassung von Rhetorik im Kraftfeld der alten Theorie bleibt, macht sich Ablehnung bemerkbar. Der Witz sei »etwas viel höheres« als Rhetorik:220 eines von vielen ähnlichen Zitaten aus dem Jahr 1799, aus einer Zeit der Bemühung also, eine absolute Rhetorik theoretisch auf den Weg zu bringen. Es zeigt, daß differente Interpretationen nebeneinander stehen, daß nur ausgewählte Teile der Rhetorik romantisch gesteigert werden. Schlegel löst Poesie schon 1794 von Kunstfertigkeit: »[...] wir müssen uns erinnern daß die schöne Kunst mehr ist als die Geschicklichkeit, einer verzärtelten Sinnlichkeit zu schmeicheln.« Auch rhetorische Artifizialität wird verworfen. Die von Deutungen der antiken Rhetorik abhängige Kritik zeigt sich in Charakterisierungen zeitgenössischer (literarischer) Beredsamkeit: Schiller sei »ein rhetorischer Sentimentalist voll polemischer Heftigkeit, aber ohne Selbständigkeit«, Kant habe sein classicirendes Genie zur rhetorischen Deduktion »der barbarischen Classen und Formen verschwendet«,221 und nichts störe mehr in einer historischen Darstellung als rhetorische Seitenblicke und Nutzanwendungen. Semantisch stets negativ sind die neueren Lobredner gewertet: »Viele Lobredner beweisen die Größe ihres Abgottes antithetisch, durch die Darlegung ihrer eignen Kleinheit.« Schlegel bemüht sich in solchen Bemerkungen, die tiefes Mißtrauen gegenüber der alten Rhetorik verraten, nicht um kunstgemäße Differenzierungen. Rhetorik bzw. rhetorisch kann die Beredsamkeit oder die Theorie derselben oder beides zusammen bedeuten. Wesentlich jedoch hat er Rhetorik als ars verstanden und als Kunstrhetorik von einer natürlichen Beredsamkeit abgehoben (»Es giebt wohl auch eine Naturrhetorik, welche die Alt[en] im Homer finden.«222). Eine Bestimmung des epistemischen Charakters, die über die Auslegung der antiken Rhetorik hinausginge, läßt sich aus diesen Notizen nicht herauslesen. Es wird jedoch kenntlich, was Schlegel als Kern der Redekunst ausmacht: den Effekt. Die Wirkungsintention, die Steigerung des Effektes bildet prinzipiell den Mittelpunkt der Kennzeichnung sowohl der alten wie der absoluten Rhetorik. In »rhetorischen Schriften »ist d[ie] Absicht« am wichtigsten, Rhetorik »geht auf einen Zweck«. Alle Poesie, die auf einen Effekt geht, und alle Musik, die der ekzentrischen Poesie in ihren komischen oder tragischen Ausschweifungen und Übertreibungen folgen will, um zu wirken und sich zu zeigen, ist rhetorisch.223
Von dieser Einsicht in den persuasiven Kern der Rhetorik gehen alle romantischen Potenzierungen aus. Gegen diese Essenz richtet sich aber auch alle Polemik. Sie ist das Bindeglied zwischen antiker und absoluter Rhetorik - wobei allerdings Schlegel Effekt zunehmend romantisch begreift. 220 221 222 223
ΚΑ XVIII, S.306. KA I, S.26; ΚΑ XVI, S.97; ΚΑ XVIII, S.60. Κ A II, S. 201 u. 174; KA XVI, S. 107. KA II, S. 177; KA XVIII, S.312 u. 318; KA II, S.209.
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Zunächst jedoch ist die Absicht zu wirken, in welcher Form auch immer, für Schlegel phänomenal rhetorisch. Auf der einen Seite gehört rhetorische Wirkung zu den falschen Tendenzen, und zwar immer dann, wenn ein höherer Sinn durch gewöhnlichen rhetorischen Effekt beeinträchtigt wird. Schlegel steht hier in seiner Zeit. Lessings Nathan wird gelobt, weil die hohe philosophische Würde des Dramas »ungemein schön mit theatralischer Effektlosigkeit oder Effektwidrigkeit desselben kontrastiert« worden sei; der Nathan ist die beste Apologie der gesamten Lessingschen Poesie, die ohne ihn doch nur eine falsche Tendenz scheinen müßte, wo die angewandte Effektpoesie des rhetorischen Bühnendramas mit der reinen Poesie dramatischer Kunstwerke ungeschickt verwirrt sei. Schlegel findet deshalb auch, es reiche, wenn der Nathan gelesen werden; dessen außerordentlich große Popularität allein könne bereits ein Vorurteil erregen; sie verdanke sich nur seiner rhetorischen Gewalt.22* Besonders im Verhältnis zu Poesie wird eine auf konkrete Wirkung bezogene, sich dabei als poetisch gerierende Rhetorik historisch und aktuell-systematisch zurückgewiesen. »Im Episch[en] sollte gar kein Absatz Statt finden, er ist durchaus unpoetisch und nur rhetorisch«, 225 und »Sophokleisch[e] vollständig[e] Schönheit ist im rhet o r i s c h e n ] Styl unmöglich«. Rhetorische Poesie gilt gegenüber poetischer Poesie als subaltern. 226 D e n n Rhetorik ist konkret orientiert, sie gehöre »nur zum Hypomochlion. Ansich ists nicht freye Kunst«. Aber sie zeigt den Hang zur Überschreitung eigener Legitimation hinein in das Poetische. Insofern Schlegel den romantischen Maßstab an die Intentionalität (in der Poesie) anlegt, muß er rhetorischen Effekt zurückgeweisen: Shakespeare sei »ein so großer Redner wenn er will und ist doch in s.[einer] itfPoesie] so wenig rhetorisch«. Einmal ermahnt sich Schlegel selbst: »Jetzt ja nicht rhetorisch, sondern philologisch wie möglich.«227 Er wendet sich also einerseits gegen Schwulst, Künstelei, Schmuck. Es zeigt sich andererseits Schlegels Bestreben, den in der ars rhetorica liegenden Wissensvorrat »für die Hervorbringung einer romantischen Dichtungskonzeption zu nutzen«. 228 Schlegel entfaltet »eine neue Lehre der poetischen Mittel und ihrer Wirkungen«. 229 Inwiefern ist diese Lehre neu? Zunächst wird sie gegen die alte Rhetorik aufgebaut. Der Effekt bietet den Ansatz. (Ausdrücklich hergeleitet aus dem alten Kanon ist der romantische Effektbegriff jedoch nicht.) Der Rhetorikbegriff gerät dabei um 1797 in die Ambivalenz. Das progressive Vermögen traditioneller Begriffe wird erwogen. Sie werden in neue »Verhältnisse« gestellt, um ihre Fähigkeit zur Wechselsättigung zu erkunden. Im Lyceum ist Rhetorik in Anlehnung an die Tradition noch vergleichsweise fest begrifflich umrissen, zumindest disziplinär abgegrenzt.
224 225 226 227 228 229
Κ A XVIII, S. 334; K A II, S. 125 u. 121. K A XVI, S. 88. K A XVI, S. 98; K A II, S. 159 (Lyceum-Fragment 100). K A XVIII, S. 392; K A XVI, S. 109 u. 52. Pankau, J.: Unendliche Rede, 1990, S. 29 Schanze, H.: Romantik und Aufklärung, 1976, S.104.
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Ein recht freier und gebildeter Mensch müßte sich nach Belieben philosophisch oder philologisch, kritisch oder poetisch, historisch oder rhetorisch, antik oder modern stimmen können, ganz willkürlich, wie man ein Instrument stimmt, zu jeder Zeit und in jedem Grade. 230
Rhetorik ist in diesen Abgrenzungen effektiv und affektiv beschrieben. Schlegel unterscheidet mystische (Dante), romantische (Petrarca), idyllische (Guarini), satirisch-elegische (Klopstock) und absolute (Shakespeare) von rhetorischer Sentimentalität (Rousseau, Schiller). Neben solchen attributiven Verwendungen findet sich klare Zurückweisung disziplinarer Rhetorik. Sie schließt an Verdikte aus dem Lysias- und D/orcysz'os-Übersetzungen an, bekommt aber im neuen Kontext eine aktuelle Schärfe. Rhetorik füge sich so gut wie Kritik unter Grammatik: »Beyde sind eben daßelbe negativ und positiv«, und die Polemik müsse ganz abgesondert sein von der Rhetorik. Die Kritik an konkreter Wirkung zeigt sich begrifflich erweitert. Rhetorik dient etwa als Negativum der Analogie, oder: Die mythische Theologie verhalte sich zur gemeinen Theologie »wie π [Poesie] zur Beredsamkeit«.231 Schlegel ist nicht nur um eine Trennung der Form Rede von ihrer traditionellen ars bemüht, er spaltet die Kunst und schafft so die Möglichkeit zur Romantisierung. Gegen die Rhetorik habe die Poesie »eine eigentliche] Antipathie«, notiert er 1799, doch er fügt hinzu: »[...] wie es scheint.«232 Die Hierarchie der Disziplinen mit der Poesie an der Spitze ist dabei dynamisch gedacht. Die Grenzen können verschwimmen. Es giebt also wahre poetische Prosa. Aber das ;r[Poetische] geht leicht über ins pfRhetorische], welches der Tod des