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German Pages 216 Year 2016
Ismer/Nieskens (Hrsg.) Umsatzsteuer-Kongress-Bericht 2014
Schriften zum Umsatzsteuerrecht Band 29
Herausgegeben vom UmsatzsteuerForum e.V. – Vereinigung zur wissenschaftlichen Pflege des Umsatzsteuerrechts –
UmsatzsteuerKongressBericht 2014 Eigene Umsatzbesteuerung in Abhängigkeit von Verhalten und Verhältnissen des Geschäftspartners Herausgegeben vom UmsatzsteuerForum e.V. – Vereinigung zur wissenschaftlichen Pflege des Umsatzsteuerrechts – durch
Prof. Dr. Roland Ismer Universität Erlangen-Nürnberg
Prof. Dr. Hans Nieskens Vorsitzender des Vorstandes, Münster
2016
Zitierempfehlung: Autor in Ismer/Nieskens (Hrsg.), Umsatzsteuer-Kongress-Bericht 2014, Köln 2016, S. …
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Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 21/9 37 38-01, Fax 02 21/9 37 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-62229-9 ©2016 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln
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Vorwort Der 11. Hochschulkongress des UmsatzsteuerForums e.V. – Vereinigung zur wissenschaftlichen Pflege des Umsatzsteuerrechts e.V. – fand am 25. September 2014 zum zweiten Mal nach 1999 in Nürnberg statt. Der vorliegende Band dokumentiert die auf diesem Kongress gehaltenen Vorträge, die teilweise aus Gründen der Aktualität überarbeitet und mit Hinweisen auf Rechtsprechung, Literatur und Verwaltungsmeinungen erweitert worden sind. Im Mittelpunkt des „Nürnberger Hochschultages 2014“ stand das Generalthema „Die eigene Umsatzbesteuerung in Abhängigkeit vom Verhalten und den Verhältnissen des Geschäftspartners“. Auslöser für die Auswahl dieser Thematik ist die Erkenntnis, dass im Bereich der Umsatzsteuer das Zusammenspiel zwischen am Leistungsaustausch beteiligten Personen ein nicht unerhebliches – nicht nur wirtschaftliches – Konfliktpotential enthält. Welche Risiken hält die eigene Umsatzbesteuerung bereit, wenn das Umsatzsteuergesetz den Unternehmer zwingt, seine eigene Umsatzbesteuerung in Abhängigkeit von der des Geschäftspartners zu setzen? Wie müssen dessen Verhalten und Verhältnisse bewertet werden? Der eintägige Kongress versuchte, dieses Problemfeld eingehend und durch Einbeziehung des Auditoriums zu diskutieren. Nach einer umfassenden Bestandsaufnahme zu Beginn des Kongresses wurde ein Blick in das Verfassungsrecht gewagt, wohl wissend, dass die Umsatzsteuer zunehmend ein Eigenleben, fernab verfassungsrechtlicher Problemstellungen, entfaltet. Der EuGH gibt im Umsatzsteuerrecht den Takt vor und seine Entscheidungen stehen nicht selten in einem offenkundigen Spannungsverhältnis zum deutschen Verfassungsrecht. Die verfassungsrechtliche Frage betraf denn auch weniger Einzelheiten und Einzelfälle offenkundigen Konfliktverhaltens der Leistungsaustauschpartner als vielmehr die Beschreibung möglicher verfassungsrechtlicher Grenzen umsatzsteuerlicher Pflichten des Unternehmers. Im Anschluss an diese grundlegenden Diskussionsansätze beschäftigte sich der Nürnberger Hochschultag mit einer Auswahl hochaktueller Fragestellungen, die allesamt mögliche Konfliktsituationen im umsatzsteuerlichen Zusammenspiel der Leistungsaustauschpartner aufzeigten: der Problemfall der Geschäftsveräußerung im Ganzen, die Optionsgrundsätze in § 9 UStG, die Probleme rund um Gutschrift, Rechnungsberichtigungen und Compliance oder innerhalb des Umsatzsteuer-Binnenmarktes mit den konfliktbeladenen Feldern Nachweispflichten, Karussellgeschäfte und Ort der grenzüberschreitenden Dienstleistung. Stets wurde offensichtlich, welches Konflikt- und Problempotential die hiermit verbunde-
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Vorwort
nen umsatzsteuerlichen Fragestellungen für die Leistungsaustauschpartner bereithielten. Vor allem die strafrechtlichen Konsequenzen grenzüberschreitender Verfehlungen – aufgezeigt anhand der EuGH-Entscheidung in der Rechtssache R – machten die Gefahrenlage für die Leistungsaustauschpartner deutlich. Abgerundet wurde die Diskussionsbandbreite durch einen Blick in das Zivilrecht mit der spannenden Frage: Wer trägt das Risiko einer Falschbeurteilung und welche zivilrechtlichen Klagemöglichkeiten stehen den Leistungspartnern offen? Es war für das UmsatzsteuerForum eine besondere Ehre, unter den zahlreichen und hochrangigen Vertretern der Wissenschaft, der Wirtschaft, der steuerberatenden Berufe, der Gerichtsbarkeit und der Finanzverwaltung auch Gäste aus dem europäischen Ausland begrüßen zu dürfen. Der herzliche Dank des UmsatzsteuerForums e.V. gilt nicht nur der Universität Erlangen-Nürnberg, in deren Räumen der Kongress stattgefunden hat, sondern auch dem Lehrstuhl Prof. Dr. ISMER, der den Kongress organisatorisch mit betreut hat. Die Sponsoren, allen voran die Verlage Dr. Otto Schmidt und Stollfuß, haben durch ihre großzügige Unterstützung den Umsatzsteuer-Kongress 2014 sowie diesen Tagungsband erst ermöglicht. Köln, im Januar 2015
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Prof. Dr. ROLAND ISMER Prof. Dr. HANS NIESKENS
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Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Prof. Dr. HANS NIESKENS Vorsitzender des Vorstands des UmsatzsteuerForums e.V., Münster
Begrüßung und Eröffnungsansprache . . . . . . . . . . . . . . . . .
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WERNER WIDMANN Ministerialdirigent a.D., Mainz
Eigene Umsatzbesteuerung in Abhängigkeit von Verhalten und Verhältnissen des Geschäftspartners – eine Bestandsaufnahme I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Leistungsaustausch gemäß § 1 UStG . . . . 1. Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zahlungsverhalten des Leistungsempfängers 3. Entgeltlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Vereinsmitgliedsbeiträge . . . . . . . . . . . 5. Sponsoring . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Die Unternehmereigenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Lieferungen gemäß § 3 UStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kommissionsgeschäfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Reihengeschäfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V. Der Ort der sonstigen Leistung . . . . . . . . . . . . . . . .
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VI. Versandhandelslieferungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VII. Vertrauensschutz gemäß § 6a Abs. 4 UStG . . . . . . . . . .
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VIII. Der Verzicht auf Steuerbefreiungen gemäß § 9 UStG . . . .
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IX. Subjektive Voraussetzungen bei der Anwendung des ermäßigten Steuersatzes und von Steuerbefreiungen und Qualifikationsfragen hinsichtlich der Leistung . . . . . . . . X. Verlagerung der Steuerschuld auf den Leistungsempfänger 1. Die Bauträgerfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Änderungen durch das Gesetz vom 25.7.2014 . . . . . . 3. Bescheinigungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Einvernehmliche Verlagerung der Steuerschuld gemäß § 13 Abs. 5 Satz 7 UStG . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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XI. Gutschriftserteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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XII. Berichtigung der Rechnung gemäß § 14c Abs. 1 UStG . . . .
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XIII. Berichtigung des Steuerbetrags gemäß § 14c Abs. 2 UStG . .
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XIV. Vorsteuerabzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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XV. Differenzbesteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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XVI. Haftung gemäß § 25d UStG . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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XVII. Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Dr. iur. DANIEL DÜRRSCHMIDT, LL.M. (Univ. Sydney), München
Grenzen umsatzsteuerlicher Pflichten des Unternehmers aus verfassungsrechtlicher und unionsrechtlicher Sicht I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Bestandsauaufnahme der umsatzsteuerlichen Pflichten des Unternehmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Pflichten und Obliegenheiten gegenüber dem Fiskus 3. Pflichten gegenüber anderen Unternehmern bzw. Verbrauchern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Vermeidung von Mitwirkungspflichten durch Typisierungen und systematische Ausnahmen . . . 5. Kleinunternehmerregelung . . . . . . . . . . . . . .
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III. Nationales Verfassungsrecht und/oder Unionsrecht als Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bestimmung des Prüfungsmaßstabs vor dem Hintergrund der Harmonisierung des Umsatzsteuerrechts innerhalb der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . 2. Unionsrechtliche Anforderungen der Ermächtigungsgrundlage, der Mehrwertsteuersystemrichtlinie und der Grundfreiheiten als Prüfungsmaßstab . . . . . . . . 3. Verfassungs- und unionsrechtliche Grundrechte als Prüfungsmaßstab. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rechtsstaatliche Gewährleistungen des Rechtsstaatsprinzips des Grundgesetzes und als allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts als Prüfungsmaßstab . . . 5. Weitere umsatz-/mehrwertsteuerspezifische verfassungs- und unionsrechtliche Grenzen . . . . . . . . . . 6. Folgerungen für die Bestimmung des Prüfungsmaßstabs VIII
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IV. Konkretisierung der gleichheitsrechtlichen Grenzen umsatzsteuerlicher Pflichten des Unternehmers . . . . . . . 1. Ungleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V. Konkretisierung der freiheitsrechtlichen und rechtsstaatlichen Grenzen umsatzsteuerlicher Pflichten des Unternehmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schutzbereich und Eingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VI. Beispiele für verfassungs- und unionsrechtliche Grenzen für umsatzsteuerliche Pflichten des Unternehmers . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Nachweispflichten zur Erlangung von Steuerbefreiungen im grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr. . . . . . . 3. Keine Pflicht zur Vorfinanzierung der Umsatzsteuer über mehrjährige Zeiträume bei Soll-Besteuerung . . . . . VII. Verfassungsrechtliche Grenzen bei Kumulation von umsatzsteuerlichen Pflichten . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kumulation von umsatzsteuerlichen und außerumsatzsteuerlichen Pflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundrechtliche Relevanz der Kumulation von Belastungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Folgerungen für die umsatzsteuerlichen Pflichten des Unternehmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VIII. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Dr. FRIEDERIKE GRUBE, Richterin am Bundesfinanzhof, München
Die Umsatzbesteuerung in Abhängigkeit vom Geschäftspartner – Problemfall: Geschäftsveräußerung im Ganzen –
I. Einführung in das Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Rechtsfolgen der Anwendung dieser Vereinfachungsregelung im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kein steuerbarer Umsatz für Leistenden und kein Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers . . . . . . . . . 2. Keine Vorsteuerkorrektur beim Leistenden, sondern beim Leistungsempfänger . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtsfolgen von „Irrtümern“ bei Annahme einer Geschäftsveräußerung im Ganzen . . . . . . . . . . .
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III. Annahme einer Geschäftsveräußerung im Ganzen . . . . . 1. Allgemeine Grundsätze der Rechtsprechung zu den Voraussetzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Geschäftsveräußerung im Ganzen bei der Übertragung von Immobilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Weitere neuere Rechtsprechung des EuGH und des BFH zur Geschäftsveräußerung im Ganzen und Hinweise auf beim BFH anhängige Revisionsverfahren . . . . . . . 4. Gibt es eine grenzüberschreitende Geschäftsveräußerung im Ganzen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Dr. HEIDI FRIEDRICH-VACHE Steuerberaterin, Partner, Rödl & Partner, Leitung Geschäftsbereich Umsatzsteuerberatung | VAT Services, München
Option nach § 9 UStG und deren Widerruf – Risiken der eigenen Umsatzbesteuerung durch Abhängigkeiten vom Geschäftspartner –
I. Fallstricke in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Entstehung und Sinn der Option (Art. 137 MwStSystRL, § 9 UStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Einschränkung der Option auf bestimmte Leistungen nach nationalem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erste Abhängigkeit vom Geschäftspartner – Unternehmereigenschaft am Beispiel des Mieters . . . . . . . . 2. Voraussetzung der tatsächlichen Verwendung des Wirtschaftsguts durch den Mieter für besteuerte Ausgangsumsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verwendungsabsicht des Vermieters mit Auswirkung auf die Option . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ausübung der Option und vorgesehene Bagatellgrenze . . 5. Widerruf der Option durch den Vermieter . . . . . . . . .
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IV. Handlungserfordernisse für den Vermieter und sich anschließende Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nachweispflichten des Leistenden . . . . . . . . . . . . . . 2. Lösungen im Fall „unverhältnismäßiger“ Abhängigkeit vom Geschäftspartner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V. Blick auf den Leistungsempfänger . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Rückerstattung gezahlter Umsatzsteuer und Weiterzahlung eines Bruttobetrags bei Wegfall/Widerruf der Option? . 2. Unverschuldeter Wegfall der Optionsvoraussetzungen . . .
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VI. Zusammenfassung und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Dr. ULRICH GRÜNWALD Rechtsanwalt und Steuerberater, Deloitte, Berlin
Problemfall: Gutschriften, Rechnungsberichtigungen, Compliance I. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Gutschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Rechnungsberichtigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Compliance – Grenzen der Inanspruchnahme . . . . . . . . .
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Dr. STEFAN MAUNZ Rechtsanwalt Fachanwalt für Steuerrecht, Steuerberater, Küffner Maunz Langer Zugmaier, München
Versagung des Vorsteuerabzugs bei Einbindung in Karussellgeschäft – Zur Umsetzung der Vorgaben des EuGH auf nationaler Ebene I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsmissbräuchliches Verhalten des Leistungsempfängers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beweislastverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Umsetzung in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Umsetzung durch die deutsche Gerichtsbarkeit. . . . . . . 2. Umsetzung durch die deutsche Finanzverwaltung . . . . .
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IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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LUCAS WARTENBURGER Notar, Rosenheim
Zivilrechtliche Folgeprobleme: Steuerklauseln und zivilrechtliche Ansprüche I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zivilrechtliches Instrumentarium . . . . . . . . . . . . . . 2. Fallgruppen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Ansatzpunkt Steuerpflicht . . . . . . . . . . . . 1. Irrtümlich angenommene Steuerfreiheit. . . 2. Irrtümlich angenommene Steuerpflicht . . . 3. Irrtum über die Person des Steuerpflichtigen 4. Umkehrfall. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Ansatzpunkt Vorsteuer . . . . . . . 1. Unwirksame Option. . . . . . . 2. Unberechtigter Steuerausweis . 3. Übergang Vorsteuerberichtigung 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . .
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Prof. Dr. WOLFRAM REIß Universität Erlangen-Nürnberg
Steuerstrafrechtliche Folgeprobleme – Strafrechtliche Aspekte bei EU-grenzüberschreitenden Warenlieferungen (EuGH C-285/09 Rechtssache „R“) I. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Territoriale Abgrenzung für die Umsatzbesteuerung – Bestimmungslandprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erleichterung für Steuerhinterziehungsmöglichkeiten 3. Drei Grundkonstellationen der Umsatzsteuerhinterziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Umsatzsteuerhinterziehung durch Nichterklärung innerstaatlicher Umsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Hinterziehung inländischer Umsatzsteuer . . . . . . . . . 2. Keine Hinterziehung von Erwerbsteuer des Bestimmungslandes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Haftung nach § 71 AO. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Umsatzsteuerhinterziehung bei grenzüberschreitenden Warenlieferungen bei Täuschung über die Identität des Abnehmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Strafbare Steuerhinterziehung nach der Rechtsprechung des 1. Senats des BGH bei Verschleierung des Erwerbers . . 2. Nicht befreite, sondern steuerpflichtige innergemeinschaftliche Lieferung bei Identitätstäuschung nach der Rechtsprechung des EuGH, des BFH und des BVerfG . . . .
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3. Strafrechtliche Konsequenzen – Steuerhinterziehung im Inland und im anderen Mitgliedstaat als Bestimmungsland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Steuerliche Konsequenzen – Steuerschuldner und Haftender. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Erforderliche Neubesinnung hinsichtlich der Befreiung . . IV. Versagung des Vorsteuerabzugs im „Umsatzsteuerkarussell“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Haftungsvorschrift des § 25d UStG ohne Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Versagung des Vorsteuerabzugs bei missbräuchlicher Geltendmachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Guter Glaube und Feststellungslast bei Einbeziehung in ein Karussell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Haftung statt Vorsteuerabzugsversagung . . . . . . . . .
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V. Nachtrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Prof. Dr. ROLAND ISMER
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Inhaber des Lehrstuhls für Steuerrecht und Öffentliches Recht an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg
Reformperspektiven I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Typologie der Interdependenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unterscheidung entlang der Zeitachse . . . . . . . . . . . . 2. Unterscheidung nach Art des Anknüpfungsmerkmals . . .
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III. Zentrale Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Qualifikationskonflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Befolgungskosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Nachträgliche einseitige Verschiebung der Steuerlast . 4. Steuerausfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Mögliche Lösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Lösungen im Rahmen der bestehenden Gesetze . . . . . . . 2. Rechtspolitische Reformperspektiven . . . . . . . . . . . .
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V. Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . .
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Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Begrüßung und Eröffnungsansprache Prof. Dr. HANS NIESKENS Vorsitzender des Vorstands des UmsatzsteuerForums e.V., Münster Lieber Herr Professor ISMER, lieber Herr Professor REIß, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Mitglieder des UmsatzsteuerForums, ich darf Sie zum elften Hochschulkongress unserer Vereinigung und zum zweiten Mal nach 1999 in Nürnberg auf das Herzlichste begrüßen. Zwischen beiden Hochschultagen liegen 15 Jahre Umsatzsteuer. Aber ein Blick in das Tagungsprogramm von 1999 zeigt, dass die Themen sich nicht wirklich verändert haben, allenfalls die Heftigkeit der Auseinandersetzung hat zugenommen. So kann der interessierte Leser in unserem Kongress-Bericht 1999 nachlesen, dass die Herren VELLEN, KELLER und KORF sich mit den elektronischen Dienstleistungen auseinandergesetzt haben, eine Thematik, die heute durch das Kroatien-Begleitgesetz mit dem sog. Mini-One-StopShop wieder Bedeutung erlangt. Die Herren WIDMANN, VIEGENER und BIJL referierten zu Problemen des Vorsteuerabzugs, ein Thema, das angesichts des Dramas um den richtigen Aufteilungsschlüssel in § 15 Abs. 4 UStG auch in letzter Zeit von herausragender Dominanz ist. Wir diskutieren in diesem Zusammenhang heute über: – die Feststellungen des EuGH in der Rechtssache BLC, in der er für eine Abweichung vom unionsrechtlichen Gesamt-Umsatzschlüssel „präzisere“ Ergebnisse verlangt, – die Folgerungen des V. Senats, der dies zunächst für die unter § 15a UStG fallenden Vorsteuerbeträge gegeben sah, ehe er gut ein halbes Jahr später seine Rechtsprechung änderte und – wieder unionskonform ausgelegt – den objektbezogenen Umsatzschlüssel bei Ausstattungsunterschieden zulassen will, – und über die Zweifel des XI. Senats betreffend vor allem die Einbeziehung nachträglicher Herstellungskosten in einen Aufteilungsschlüssel – ungeachtet einer eventuell direkten Zuordnungsmöglichkeit –, was zu einer erneuten Vorlage an den EuGH geführt hat.
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NIESKENS, Begrüßung und Eröffnungsansprache
Bemerkenswert an dieser Vorlagefrage ist weniger der rechtliche Ansatz als vielmehr der Umstand, dass die Rechtsprechung diesen Fall bereits zugunsten einer Vorsteueraufteilung entschieden hat, die Verwaltung sich aber durch einen Nicht-Anwendungserlass bisher konstant weigert, die Rechtsprechung vollumfänglich zu übernehmen. Der EuGH wird hier ein weiteres Mal als Schiedsrichter benutzt. Angesichts der zuvor beschriebenen Gesamtgemengelage ist nicht verwunderlich, wenn die Umsatzsteuer mehr und mehr zu einer Geheimwissenschaft mutiert. Nur noch wenige Eingeweihte können tatsächlich behaupten, das gesamte Umsatzsteuerrecht, national und unionsweit, beherrschen zu können. Die Experten wissen, wovon ich spreche: jeden Mittwoch wartet man gespannt auf die Entscheidungen des V. und XI. Senats des BFH, am Donnerstag ist jeweils die Internetseite des EuGH Objekt der Begierde. Dazu kommt auch ein Gesetzgeber, der scheinbar mühelos ein Umsatzsteuer-Änderungsgesetz nach dem anderen verabschiedet; anscheinend auch ohne Rücksicht auf die Praxis, die all dies umsetzen muss. Vielleicht sind wir aber nicht ganz unschuldig an dieser Entwicklung: irgendwie scheint in Deutschland der Irrglaube zu bestehen, alles gesetzlich regeln zu wollen, wie z.B. die Frage, ob beim Verkauf von Klingeltönen die eingespannten Telefongesellschafften im Rahmen einer Dienstleistungs-Kommission oder als Vermittler tätig werden (wie jetzt in § 3 Abs. 11a UStG geschehen). Wir können dabei in Deutschland diesbezüglich auf eine lange und erfolgreiche Tradition zurückblicken. – So regelte die aus den 30er Jahren stammende Reichsschokoladenverordnung, dass Schokoladen-Weihnachtsmänner auch SchokoladenOsterhasen sind; – die §§ 961, 962 BGB lassen einen Bienenschwarm herrenlos werden, wenn der Eigentümer ihn nicht unverzüglich verfolgt oder die Verfolgung aufgibt; – die Verwaltungsvorschrift zu § 46 StVO bestimmt, dass kleinwüchsige Menschen mit einer Körpergröße von 1,39 m und darunter eine Ausnahmengenehmigung erhalten, um an Parkuhren und Parkscheinautomaten gebührenfrei parken zu können; – und schließlich regelt § 16 EStG, dass der Tod eines Steuerpflichtigen nicht als dauernde Berufsunfähigkeit gilt und damit den Abzug des Freibetrags gem. § 16 Abs. 4 EStG ausschließt. Es ist natürlich zuzugeben, dass wir in der Umsatzsteuer ein Stückweit durch die Interpretationshoheit des EuGH getrieben werden. Ob aller2
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dings immer und alles Streitige beim EuGH nachgefragt und um Entschärfung gebeten werde muss, mag bezweifelt werden. Und nicht jede Aussage des EuGH erschließt sich als richtlinienkonforme Interpretation. Fest steht aber jedenfalls, dass der Praktiker schon verzweifelt, wenn der BFH eine Entscheidung trifft, an die er sich halten will, aber nunmehr die Verwaltung quasi als Rolle rückwärts den Gesetzgeber missbraucht, um kraft Gesetzesänderung zum alten Rechtszustand zurückzukehren. Nichts anderes ist meines Erachtens durch die Neuregelung des Reverse-Charge-Verfahrens für Bauleister durch das Kroatien-Begleitgesetz geschehen: – statt einer bauwerksbezogenen Betrachtung gilt jetzt wieder die Nachhaltigkeitsbetrachtung, und – die durch den BFH gebrandmarkte 10 %-Grenze des Vorjahresweltumsatzes zur Bestimmung der Nachhaltigkeit wird wieder – diesmal in der gesetzlichen Begründung – eingeführt. Letztlich wird die gesamte Debatte hinsichtlich des Anwendungsbereichs des Reverse-Charge Verfahrens allein von einer Frage dominiert: wer trägt das Risiko eines möglichen Steuerausfalls im Verbund von Umsatzsteuer und Vorsteuer? Ich will allerdings nicht verhehlen, dass es die Rechtsprechung der beiden für die Umsatzsteuer zuständigen Senate des BFH dem Praktiker auch nicht gerade einfach macht. Dies hat sich exemplarisch an dem offensichtlichen Dissens zur Folgewirkung des EuGH-Urteils in der Rechtssache Polski Trawertyn gezeigt. Hier hat der EuGH mittlerweile in der Rechtssache Malburg den beiden Senaten des BFH eine Verständigung abgenommen und entschieden. Mit dem diesjährigen Hochschulkongress will das UmsatzsteuerForum versuchen, ein wenig dazu beizutragen, einige Brennpunkte der Umsatzsteuer im Bereich der Risikoverteilung zwischen den Geschäftspartnern zu entschärfen und vielleicht Lösungsansätze zu bieten. Wir haben dabei unseren diesjährigen Kongress unter das Generalthema: „Die eigene Umsatzbesteuerung in Abhängigkeit vom Verhalten und den Verhältnissen des Geschäftspartners“
gestellt. Das Thema soll hierbei von nahezu allen denkbaren Seiten beleuchtet werden:
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NIESKENS, Begrüßung und Eröffnungsansprache
– Herr WIDMANN, Gründungsmitglied des UmsatzsteuerForums, wird mit einer Bestandsaufnahme beginnen, – Herr Dr. DÜRRSCHMIDT von der LMU beleuchtet das Thema aus verfassungsrechtlicher Sicht, – ehe die Damen Dr. GRUBE und Dr. FRIEDRICH-VACHE sowie die Herren Dr. GRÜNWALD, Dr. MAUNZ, Prof. REIß und Prof. ISMER sowie Herr WARTENBURGER einzelne themenspezifische Aspekte ansprechen werden: – von der Geschäftsveräußerung im Ganzen, – über die Option, – den Bereich Gutschriften und Rechnungen, – Probleme im Zusammenhang mit dem Umsatzsteuer-Binnenmarkt, – zivilrechtlichen und strafrechtlichen Folgeproblemen, – sowie schließlich in einem Ausblick ein Aufzeigen möglicher Reformansätze. Ich freue mich, meine Damen und Herren, dass unsere Tagung wieder einmal so starke Resonanz gefunden hat. Stellvertretend für die Angehörigen der Finanzgerichtsbarkeit darf ich den Vorsitzenden des historischen Umsatzsteuersenats und neuen Vorstandskollegen des UmsatzsteuerForums, Herrn Dr. HEUERMANN, und für den ebenfalls für die Umsatzsteuer mitzuständigen XI. Senat dessen stellvertretende Vorsitzende, Frau Dr. GRUBE, begrüßen. Persönlich Dankesagen möchte ich schließlich all denjenigen, die in der Vorbereitungsphase für diese Tagung tatkräftig mitgewirkt haben, insbesondere dem Lehrstuhl Professor Ismer und unserer neuen Geschäftsstelle mit Frau Kahrweg an der Spitze, genau so wie allen Sponsoren, allen voran den Fachverlagen Dr. Otto Schmidt und Stollfuß. Das Ziel des UmsatzsteuerForums e.V. ist es, auch mit Tagungen wie dieser, dafür Sorge zu tragen, dass die Umsatzsteuer nicht eine InsiderSteuer wird, die nur für einige wenige durchschaubar ist. – Sie muss frei bleiben von Steuerlenkungseffekten; – sie muss weiterhin von allen Steuern das günstigste Kosten-NutzenVerhältnis aufweisen; nicht umsonst rangiert sie im Steueraufkommen mittlerweile vor der Lohnsteuer auf Rang Eins; – sie muss andererseits aber die von den Unternehmen zu tragende Last der Verwaltungstätigkeit auf ein erträgliches Ausmaß reduzieren.
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Ich hoffe, dass auch der diesjährige Kongress dazu beitragen kann, mit sachlicher Information die systemgerechte und vor allem die Gleichmäßigkeit der Besteuerung wahrende Anwendung des Umsatzsteuerrechts sicher zu stellen. Ich wünsche uns allen einen erfolgreichen Verlauf unseres Kongresses hier in Nürnberg und darf jetzt das Wort an Herrn Prof. WOLFRAM REIß weitergeben, der die Moderation am Vormittag übernimmt.
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Eigene Umsatzbesteuerung in Abhängigkeit von Verhalten und Verhältnissen des Geschäftspartners – eine Bestandsaufnahme WERNER WIDMANN Ministerialdirigent a.D., Mainz Inhaltsübersicht I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . II. Der Leistungsaustausch gemäß § 1 UStG 1. Grundsätzliches . . . . . . . 2. Zahlungsverhalten des Leistungsempfängers . . . 3. Entgeltlichkeit . . . . . . . . 4. Vereinsmitgliedsbeiträge . . . . . . . . . . . . . . 5. Sponsoring. . . . . . . . . . . . III. Die Unternehmereigenschaft . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Lieferungen gemäß § 3 UStG 1. Kommissionsgeschäfte . 2. Reihengeschäfte . . . . . . .
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V. Der Ort der sonstigen Leistung . . . . . . . . . . . . . . . .
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VI. Versandhandelslieferungen .
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VII. Vertrauensschutz gemäß § 6a Abs. 4 UStG . . . . . . . . .
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VIII. Der Verzicht auf Steuerbefreiungen gemäß § 9 UStG . IX. Subjektive Voraussetzungen bei der Anwendung des ermäßigten Steuersatzes und von Steuerbefreiungen und Qualifikationsfragen hinsichtlich der Leistung . .
X. Verlagerung der Steuerschuld auf den Leistungsempfänger 1. Die Bauträgerfälle . . . . . . 2. Änderungen durch das Gesetz vom 25.7.2014 . . 3. Bescheinigungsverfahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Einvernehmliche Verlagerung der Steuerschuld gemäß § 13 Abs. 5 Satz 7 UStG. . . . . . . . . . . . . . . . .
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XI. Gutschriftserteilung . . . . . . 27 XII. Berichtigung der Rechnung gemäß § 14c Abs. 1 UStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 XIII. Berichtigung des Steuerbetrags gemäß § 14c Abs. 2 UStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 XIV. Vorsteuerabzug . . . . . . . . . . . 30
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XV. Differenzbesteuerung . . . . . 31 XVI. Haftung gemäß § 25d UStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 XVII. Schlussbemerkung . . . . . . . . 32
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I. Einführung Während die Einkommensteuer im Grundsatz darauf ausgerichtet ist, die nach den Verhältnissen des Steuerpflichtigen ermittelten Einkünfte zu erfassen und nach dessen Leistungsfähigkeit zu besteuern1 und damit sich wenig um die Rolle der Geschäftspartner kümmert, nimmt die Umsatzsteuer in ihrer Ausgestaltung als Mehrwertsteuer in vielen Tatbeständen, aus denen sich die Steuerschuld des leistenden Unternehmers ergibt, auch dessen Leistungsempfänger oder Lieferanten in den Blick. Man könnte auch sagen, die Umsatzsteuer lebt von und mit der tatbestandlichen Kommunikation der an einer Transaktion beteiligten Personen, wohingegen die Ertragsteuern sich zumeist mit den erzielten Einkünften des jeweiligen Steuerpflichtigen begnügen.2 Das kann nicht verwundern, denn auch wenn die Umsatzsteuer als Belastungsziel den privaten Letztverbrauch hat, bedient sie sich einer verkehrsteuerlich ausgeprägten Steuertechnik, die aus Praktikabilitätsgründen grundsätzlich den leistenden Unternehmer und nicht seinen Geschäftspartner, den Verbraucher, zum Steuerschuldner macht. Das zeigt sich im systembeherrschenden Grundtatbestand des entgeltlichen Leistungsaustauschs. Er zwingt dazu, stets das synallagmatische Gegenseitigkeitsverhältnis der an einer Lieferung oder sonstigen Leistung beteiligten Personen zu untersuchen. Das gilt auch für die Fälle der Steuerschuldverlagerung auf den Leistungsempfänger. Bei einer Organschaft gibt es zwar bei Innenumsätzen im Organkreis durchaus zwei Geschäftspartner, die Transaktionen zwischen diesen sind jedoch nicht steuerbar. Das dient der Vereinfachung und diese Fragen stellen sich dann nicht. Aus der Sicht des Leistungsaustauschs sind die anderen steuerbaren Tatbestände wie die Einfuhr, der innergemeinschaftliche Erwerb oder die unentgeltlichen Wertabgaben, die nicht auf einem entgeltlichen Vorgang beruhen, nur reine Hilfsmittel zur Sicherstellung der umfassenden Letztverbrauchsbelastung im Allphasennettosystem der Mehrwertsteuer mit Vorsteuerabzug. Aber nicht nur bei den steuerbaren entgeltlichen oder unentgeltlichen Umsätzen ist es erforderlich, die Verhältnisse beim Leistungsempfänger zu betrachten. So hängt z.B. die nichtsteuerbare Geschäftsveräußerung im Ganzen gem. § 1 Abs. 1a UStG davon ab, dass der Erwerber den übertragenen Betrieb oder Teilbetrieb fortführt.3 Dazu muss man beim Übertragenden „ein hinreichendes Ganzes“ finden, das mehr sein muss als 1 Vgl. LANG in Festschr. Kirchhof, 2013, § 168, S. 1827 ff. 2 Vgl. WIDMANN in Festschr. Kirchhof, 2013, § 183, S. 1995 ff. 3 Vgl. Abschn. 1.5 Abs. 1 UStAE unter Hinweis auf BFH, Urt. v. 18.9.2008 – V R 21/07, BStBl. II 2009, 254 = UR 2009, 15.
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ein metaphysisch schwer fassbares ungenügendes Etwas, um den Erwerbenden in die Lage zu versetzen, mittels des übertragenen Vermögens weiterhin Umsätze zu erzielen.4 Und ein weiteres Beispiel lässt sich nennen: Der Ort der Leistung und damit die territoriale Steuerbarkeit bestimmt sich vielfach danach, welche umsatzsteuerliche Qualifikation der Leistungsempfänger hat. Ist er Unternehmer oder Privatperson? Veranlasst er beim Reihengeschäft den Transport? Dann wird beim Leistungsort die Unterscheidung „To B or not to B“ für den Unternehmer z.B. hinsichtlich der Rechnungserteilung, aber auch für den Fiskus wegen des Aufkommens, zur umsatzsteuerlichen Schicksalsfrage, die sich vielleicht in der Antwort „From B to C“ auflöst. Nicht übersehen oder gering schätzen sollte man dabei die steuerstrafrechtlichen Folgen einer leichtfertig vorgenommenen falschen Subsumtion; bekanntlich gibt es in vielen Staaten neben dem Strafrecht auch noch empfindliche Verwaltungssanktionen. Oft recht einfache, mitunter aber auch schwierige Fragen wie der Sitz, Wohnsitz oder die Betriebsstätte des Geschäftspartners sind maßgeblich dafür, ob sich z.B. gem. § 13b UStG die Steuerschuld vom leistenden Unternehmer auf dessen Leistungsempfänger verlagert. Damit sind wir schon mitten in unserem Thema. Die mir aufgegebene Bestandsaufnahme orientiert sich grundsätzlich am Aufbau unseres UStG und versucht dabei, systematische Brücken zwischen den Normen zu schlagen, so dass es sich nicht nur um die Abarbeitung der Paragraphenabfolge handelt.
II. Der Leistungsaustausch gemäß § 1 UStG 1. Grundsätzliches Der Leistungsaustausch gem. § 1 Abs. 1 UStG ist dadurch gekennzeichnet, dass der Unternehmer um der Gegenleistung willen seine Leistung erbringt; umgekehrt wendet der Leistungsempfänger das Entgelt auf, um die Leistung zu erhalten. Der Geschäftspartner muss sich also so verhalten, dass der leistende Unternehmer nicht nur seine Leistung erbringen kann, sondern auch in der Lage ist, seine umsatzsteuerlichen Pflichten zu erfüllen. Dazu gehört z.B. auch die Erteilung einer ordnungsgemäßen Rechnung gem. §§ 14, 14a und 14b UStG. Deshalb muss der Leistungsempfänger gegenüber dem leistenden Unternehmer alle die ihn betref-
4 S. dazu GRUBE, in diesem Band S. 77 ff.
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fenden Angaben machen wie z.B. Name, Anschrift, Umsatzsteuer-Identifikationsnummer. Falls die Angaben des Leistungsempfängers falsch sind, stellen sich u.U. die Fragen der Steuerschuld aus unrichtigen Rechnungen gem. § 14c UStG sowie der Rechnungsberichtigung und deren Wirkung für den Vorsteuerabzug.5 2. Zahlungsverhalten des Leistungsempfängers Zahlt der Leistungsempfänger das Entgelt nicht oder nicht vollständig, kann der Unternehmer die von ihm nach dem Sollprinzip zunächst geschuldete Steuer gem. § 17 UStG berichtigen. Das Zahlungsverhalten des Geschäftspartners hat mithin im Sinne unseres Themas einen bedeutenden Einfluss auf die Umsatzbesteuerung des Unternehmers in der Weise, dass dieser die Umsatzsteuer mitunter recht lange vorfinanzieren muss. Erst wenn sich die Uneinbringlichkeit des Entgelts bei objektiver Betrachtung erweist, d.h. wenn damit zu rechnen ist, dass die Forderung auf Zahlung der Umsatzsteuer auf absehbare Zeit ganz oder teilweise nicht durchsetzbar sein wird, darf die Berichtigung vorgenommen werden.6 Der BFH hat in dem Urteil vom 24.10.20137 dazu entscheiden, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz und das Verhältnismäßigkeitsprinzip gebieten, einen der Sollversteuerung unterliegenden Unternehmer wie einen die Istversteuerung praktizierenden Unternehmer zu behandeln, wenn wegen eines vertraglich vereinbarten Sicherungseinbehalts ein Teil des Entgelts nicht vor einem Zeitraum von zwei bis fünf Jahren vereinnahmt werden kann. Das überzeugt, denn auch wenn das UStG entsprechend den Vorgaben in Art. 64 MwStSystRL die Sollversteuerung zur Regel macht, darf sie sich nicht im Vergleich zur Istversteuerung als eine unverhältnismäßige Belastung erweisen. Der Unternehmer als für den Fiskus in Dienst genommener Steuereinsammler darf nicht unterschiedlich stark belastet werden, je nachdem, ob er seine Umsätze nach vereinbarten oder vereinnahmten Entgelten versteuern muss oder darf. 3. Entgeltlichkeit Vor diesem Problemkreis kommt allerdings immer zuerst die Frage, ob die Zahlung überhaupt ein Entgelt für eine Leistung ist. So gesehen stehen auch die subjektiven Willensbekundungen des Geschäftspartners als dessen Verhalten oder Verhältnisse zur Debatte. Wollte der Passant,
5 S. dazu FRIEDRICH-VACHE, in diesem Band S. 103 ff. sowie WIDMANN in Schwarz/ Widmann/Radeisen, UStG, § 14c Rz. 56 ff. 6 Vgl. Abschn. 17.1 Abs. 5 UStAE. 7 BFH, Urt. v. 24.10.2013 – V R 31/12, BStBl. II 2015, 674 = UR 2014, 238.
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der dem Straßenmusikanten Tolsma im Fall des EuGH vom 3.3.19948 eine Münze in den aufgestellten Teller warf, tatsächlich die musikalische Darbietung, die ihm im Vorbeigehen oder im Stehenbleiben zu Gehör kommen konnte, entgelten? Wir wissen, dass der EuGH dies zu Recht verneint hat, denn auch wenn Herr Tolsma sicher damit rechnen konnte, dass einige Zuhörer ihm etwas geben würden, hat er keine Dienstleistung gegen Entgelt erbracht. Es fehlte hier an einer Vereinbarung einer Vergütung, selbst wenn der Musikant, wie der EuGH formulierte, „um die Zahlung von Geld bittet und gewisse Beträge erhält, deren Höhe jedoch weder bestimmt noch bestimmbar sind“. So wäre es sicher auch, wenn ein Referent des heutigen Tages am Ausgang ein Körbchen aufstellte oder sich mit einem warmen Händedruck, erwartungsvollem Blick nach Art eines Reiseleiters und griffbereiter linker Hand am Ende unserer Veranstaltung von Ihnen verabschiedete und tatsächlich etwas bekäme.9 Am entgeltlichen Leistungsaustausch mangelt es auch, wenn mit einer Zuwendung ein bestimmtes Verhalten des Geschäftspartners nur angeregt oder unterstützt werden soll. Daher hat der EuGH entschieden, dass eine gegen eine Entschädigungsleistung eingegangene Verpflichtung, angebaute Kartoffeln nicht zu ernten, keine Dienstleistung sei.10 Damit setzte er seine wenig überzeugende Rechtsprechung fort, die ihn schon im Urteil vom 29.2.199611 dazu gebracht hatte, die Verpflichtung zur Aufgabe der Milcherzeugung gegen eine Vergütung als nicht Rahmen eines Leistungsaustauschs eingegangen zu betrachten. Der BFH hat hingegen in einem Beschluss vom 19.10.201012 entschieden, dass die Zahlung, die ein Vermieter dafür erhält, dass er der vorzeitigen Auflösung eines Mietverhältnisses zustimmt, als Entgelt für den Verzicht auf die weitere Vermietungsaktivität der Umsatzsteuer unterliegt. Hier waren die Geschäftspartner selbstverständlich bekannt; in den Fällen des EuGH glaubte dieser, keinen konkreten Empfänger des mit den Zahlungen bewirkten Verhaltens finden zu können, denn die bewilligenden Stellen, welche die EU-Mittel zur Lenkung der landwirtschaftlichen Produktion verwalten, sah er nicht als Leistungsempfänger an. Das sollten vielmehr letztlich alle EU-Bürger sein, die von den Markteingriffsmaßnahmen profitieren. Und die sind eben nicht namhaft zu machen. 8 EuGH, Urt. v. 3.3.1994 – Rs. C-16/93 – R.J. Tolsma, UVR 1994, 152; s. dazu DOBRATZ, Leistung und Entgelt im Europäischen Umsatzsteuerrecht, 2005, 61 ff. 9 Der Verfasser konnte dies am 25.9.2014 in Nürnberg nicht beobachten. 10 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C- 384/95 – Landboden-Agrardienste, UR 1998, 102 = UVR 1998, 53 mit Anm. WAGNER. 11 EuGH, Urt. v. 29.2.1996 – Rs. C-215/94 – Mohr, UR 1996, 119 mit Anm. WIDMANN. 12 BFH, Beschl. v. 19.10.2010 – V B 103/09, UR 2011, 341.
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Will man sich die Argumentation des EuGH bis zu ihrem gedanklichen Ende zu eigen machen, käme man womöglich sogar zu der Erkenntnis, dass überhaupt nirgends eine Leistung angekommen ist, weil die Maßnahmen überhaupt nichts im europäisch regulierten Kartoffel- oder Milchmarkt bewirkt haben. Das hat der EuGH freilich nicht in Erwägung gezogen – was nicht überrascht. 4. Vereinsmitgliedsbeiträge Bedauerlicherweise gehört zu diesem Problemkreis auch der Befund, dass in Deutschland es immer noch möglich ist, den Leistungsaustausch gestaltungsorientiert durch das Zusammenwirken der Geschäftspartner zu vermeiden: Gemeint ist damit die Situation bei den Vereinsbeiträgen. Die bisherige Praxis der Verwaltung gem. Abschn. 1.4 UStAE, die Vereinsbeiträge entgegen der gefestigten Rechtsprechung von EuGH und BFH grundsätzlich nicht der Umsatzsteuer zu unterwerfen, gibt den Anreiz, durch entsprechende Satzungsvorschriften des Vereins der Sache nach vorliegende Entgelte in nicht steuerbare Mitgliederbeiträge zu verwandeln.13 Der BFH hat im Urteil vom 20.3.201414 erneut die unionsrechtlichen Grundsätze hierzu dargelegt und dabei auch betont, dass zu den von der Verwaltung bisher nicht der Besteuerung unterworfenen Entgelten für gegenüber den Mitgliedern erbrachte Leistungen u.U. auch die von Dritten, insbesondere von der öffentlichen Hand geleisteten Zuschüsse gehören können, weil mit diesen die zu niedrig kalkulierten Mitgliedsbeiträge „aufgefüllt“ werden. Da muss man dann auch wieder den Abgeltungswillen des Zuwendenden prüfen, um zur Steuerbarkeit beim Zuwendungsempfänger zu kommen. Der Zuschussgeber wird sich zwar nicht unbedingt als Geschäftspartner des Bezuschussten verstehen, aber von seiner Motivation zur Zahlung hängt dessen Umsatzbesteuerung ab. 5. Sponsoring Eine ähnliche Situation gibt es auch beim sog. Sponsoring. Das BMFSchreiben vom 13.11.201215 verneint einen Leistungsaustausch zwischen dem Empfänger der Leistungen und dem Sponsor, wenn der Leistungsempfänger entsprechend dem Sponsoringvertrag z.B. auf Plakaten,
13 S. dazu RADEISEN in Schwarz/Widmann/Radeisen, UStG, § 1 Rz. 302. 14 BFH, Urt. v. 20.3.2014 – V R 4/13, UR 2014, 732 = DStR 2014, 1539 mit Anm. HEU; s. dazu WÄGER, DStR 2014, 1517; WIDMANN, DStZ 2014, 595. 15 BMF, Schr. v. 13.12.2012 – IV D 2 - S 7100/08/10007: 003 – DOK 2012/ 1019723, BStBl. I 2012, 1169.
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in Veranstaltungshinweisen u.Ä. auf die Unterstützung des Sponsors lediglich hinweist. Dabei darf auch das Logo des Sponsors verwendet werden, aber eine besondere Hervorhebung oder Verlinkung zu den Internetseiten des Sponsors wäre als Leistung des Unterstützten zu werten.16 Der Sponsor hätte dann, da an ihn eine Leistung ausgeführt wird, gem. § 14 Abs. 2 UStG einen Anspruch auf Erteilung einer Rechnung, wenn der Unterstützte Unternehmer ist und die Sponsoringleistung in seinen unternehmerischen Bereich eingegangen ist. Wenn dem Sponsor das ausdrückliche Recht eingeräumt wird, die Sponsoringmaßnahme im Rahmen eigener Werbung zu vermarkten, soll auch eine Leistung des Zuwendungsempfängers vorliegen.17 Auf das Verhalten des Sponsors in dem Sinn, ob und wie er von diesem Recht Gebrauch macht, kann es dann aber nicht ankommen, denn die steuerbare Leistung des Zuwendungsempfängers besteht in der Zustimmung zur Vermarktung.
III. Die Unternehmereigenschaft Die Unternehmereigenschaft gem. § 2 Abs. 1 UStG hängt u.a. davon ab, dass der Marktteilnehmer Einnahmen für seine Leistungen erzielt. Das müssen aber Entgelte im Rahmen des schon erwähnten Leistungsaustauschs sein. Es genügt nicht, immer nur Zuschüsse und freigebige Geschenke zu vereinnahmen, die eine selbständige Betätigung im Wirtschaftsverkehr z.B. durch Einkäufe zwar zu finanzieren vermögen, aber keine konkreten Leistungen abgelten. Auch wer nur Geschäftspartner findet, die allenfalls unentgeltliche Warenproben anzunehmen bereit sind oder sich z.B. unentgeltlich malen zu lassen, kann aus derartigen Aktivitäten die Unternehmereigenschaft und damit den Zugang zum Vorsteuerabzug nicht gewinnen. Damit sind wir noch einmal bei den schon erwähnten Vereinen, die allein durch die Beiträge ihrer Mitglieder für ihre ideelle Tätigkeit zur Erfüllung des Vereinszwecks nicht zum Unternehmer werden können. Nur wenn sie individuell zuordenbare Leistungen gegenüber einzelnen Mitgliedern erbringen oder eine generelle und konkrete Leistungsbereitschaft gegenüber allen Mitgliedern mit dem Beitrag abgegolten wird, sind die damit erzielten Einnahmen als Entgelt anzusehen, das die Unternehmereigenschaft vermittelt. Wenn die öffentliche Hand als Leistender auftritt, kommt es darauf an, ob sie damit eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, mit der sie in Wett16 Vgl. Abschn. 1.1 Abs. 23 UStAE. 17 So BMF, Schr. v. 25.7.2014 – IV D 2 - S 7100/08/10007: 003 – DOK 2014/ 0635108, BStBl. I 2014, 1114 = DB 2014, 1715 mit Anm. LANGER, zur Ergänzung von Abschn. 1.1 Abs. 23 UStAE.
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bewerb zu privaten Anbietern gleichartiger Leistungen am Markt tritt. Die im UStG in § 2 Abs. 3 noch stehende Tatbestandsvoraussetzung eines Betriebs gewerblicher Art i.S.v. § 1 Abs. 1 Nr. 6 und § 4 KStG ist spätestens seit dem SALIX-Urteil des EuGH vom 4.6.200918 durch die Rechtsprechung von EuGH und BFH überholt.19 Die Verwaltung hat diese Entwicklung bisher bekanntlich noch weitgehend nicht zur Kenntnis genommen. Durch das StÄndG 201520 ist ab dem 1.1.2016 der neue § 2b in das UStG gekommen, der die Umsatzbesteuerung der öffentlichen Hand ab dem 1.1.201721 regelt. § 2b Abs. 2 und 3 UStG definieren den Besteuerungszwang von Leistungen, insbesondere von Beistandsleistungen, im Hinblick auf den Wettbewerb beispielhaft.22 Das gehört dann auch zu unserem Themenkreis, denn als Empfänger von Leistungen der öffentlichen Hand bekommt man Rechnungen oder Gebührenbescheide mit oder ohne Umsatzsteuer, je nachdem, wie sich die öffentliche Hand organisiert. Das hat natürlich Auswirkungen auf den Vorsteuerabzug des Empfängers. Als Leistender gegenüber der öffentlichen Hand ist es wichtig zu wissen, ob an den unternehmerischen oder hoheitlichen Bereich geleistet wird. Davon hängt z.B. die Ortbestimmung für sonstige Leistungen gem. § 3a Abs. 2 und Abs. 5 UStG ab. Auch für die Ortsbestimmung gem. § 3c Abs. 2 UStG bei den Versandhandelsumsätzen ist das von Bedeutung. Und der Verzicht auf Steuerbefreiungen setzt gem. § 9 Abs. 1 UStG auch voraus, dass die grundsätzlich steuerfreien Umsätze an einen anderen Unternehmer für dessen Unternehmen erbracht werden. Das war bekanntlich der Ausgangsstreitpunkt des schon erwähnten SALIX-Urteils, bei dem ein Vermieter von Büroräumen an eine Industrie- und Handelskammer (IHK) – eine grundsätzlich hoheitlich tätige juristische Person des öffentlichen Rechts – von § 9 UStG Gebrauch machen wollte, als er erfuhr, dass die IHK die Räume an vorsteuerabzugsberechtigte Unternehmer untervermietete. Mit der Option wollte der Vermieter völlig systemgerecht Zugang zum Vorsteuerabzug hinsichtlich seiner Kosten für das Gebäude erlangen. Dazu brauchte er aber eine Verhaltensweise seines Geschäftspartners, die die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 9 UStG erst schaffte. 18 EuGH, Urt. v. 4.6.2009 – Rs. C-102/08 – SALIX, UR 2009, 484; s. dazu KÜFFNER, UR 2009, 491; WIDMANN, UR 2009, 493; WIDMANN, DStZ 2014, 147 mit zahlr. Nachw. 19 S. dazu WIDMANN, DStZ 2014, 147. 20 StÄndG 2015 v. 2.11.2015, BGBl. I 2015, 1834; s. ORTMANN-BABEL/GAUSS, DB 2015, 2470. 21 Vgl. § 27 Abs. 22 UStG. 22 S. dazu BALDAUF, UR 2014, 549; WIDMANN, UR 2015, 5; STERZINGER, UR 2015, 655.
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Auch der innergemeinschaftliche Erwerb ist gem. § 1a UStG davon abhängig, ob eine juristische Person mit einem nichtunternehmerischen Bereich als Kunde auftritt. Davon hängt wiederum die Steuerfreiheit der innergemeinschaftlichen Lieferung ab, die gem. § 6a Abs. 1 Nr. 3 UStG voraussetzt, dass der steuerfrei gelieferte Gegenstand beim Abnehmer der Erwerbsbesteuerung unterliegt. Der innergemeinschaftliche Lieferer muss also immer genau wissen, welche Rechtsform sein Abnehmer hat, wie er organisiert ist und wie er am Rechts- und Wirtschaftsverkehr teilnimmt. Übrigens wird die eigene Umsatzbesteuerung nicht dadurch in Frage gestellt, dass ein Konkurrent, der ja auch Geschäftspartner sein kann, unzutreffend oder womöglich gar nicht besteuert wird. Wer z.B. eine Leistung bezieht, in der der ermäßigte Steuersatz in der Rechnung ausgewiesen ist, obschon der Regelsatz richtig wäre, kann nicht selbst mit dem ermäßigten Satz weiter handeln und er kann auch nicht den Vorsteuerabzug nach dem Regelsatz geltend machen – es sei denn, dieser wäre unionsrechtlich allein richtig.23 Daher führen auch erfolgreiche Konkurrentenklagen gegen die Nichtbesteuerung der öffentlichen Hand bei bestimmten Tätigkeiten niemals dazu, dass die Umsätze des Klägers rückwirkend von der Besteuerung freigestellt werden. Da greift der Grundsatz, dass es einen Anspruch auf Gleichheit im Unrecht nicht gibt.24
IV. Lieferungen gemäß § 3 UStG 1. Kommissionsgeschäfte Eine deutliche Ausprägung der Regelungen für beide Geschäftspartner finden wir in § 3 Abs. 3 UStG zu den Kommissionsgeschäften gem. § 383 HGB. Da erfindet das UStG zwischen dem Kommittenten und dem Kommissionär eine Lieferung, die das HGB nicht kennt. Obendrein weist das UStG den Beteiligten je nachdem, ob eine Verkaufs- oder eine Einkaufskommission vorliegt, die Rolle als Abnehmer zu. Bei der Dienstleistungskommission gem. § 3 Abs. 1 UStG wird die zivilrechtliche Geschäftsbesorgungsleistung negiert.25 Damit spielt also weniger
23 So BFH, Urt. v. 24.10.2013 – V R 17/13, BStBl. II 2015, 513 = UR 2014, 147, in einem Fall, in dem schon vor der Änderung der Nr. 1 Buchst. a der Anlage 2 zu § 12 Abs. 2 Nr. 1 und 2 UStG ab dem 1.7.2012 der Regelsteuersatz für die Lieferung eines Springpferdes in Rechnung gestellt wurde. 24 Allenfalls wäre an Amtshaftungsansprüche zu denken; auch das EU-Beihilfeverbot könnte eine Rolle spielen. 25 Vgl. Abschn. 3.15 Abs. 7 UStAE.
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das tatsächliche Verhalten der Geschäftspartner eine Rolle als die Wahl der rechtsgeschäftlichen Gestaltung, die den Beteiligten ihre Stellung im Leistungsaustausch fiktiv zuweist. 2. Reihengeschäfte Die Reihengeschäfte gem. § 3 Abs. 6 i.V.m. Abs. 7 UStG sind in ihrer Ausprägung als Binnenmarktumsätze – nach einer gewissen Ruhephase – insbesondere seit dem EuGH-Urteil vom 16.12.2010 – Euro Tyre Holding BV26 – zu einem Quell ständiger Unsicherheit geworden.27 Dabei geht es bei der Steuerbefreiung gem. § 6a UStG für die innergemeinschaftliche Lieferung nicht mehr nur um das Verhalten des unmittelbaren Geschäftspartners, sondern auch noch um das Auftreten weiterer Beteiligter, denn an Reihengeschäften sind ja immer mindestens drei Personen beteiligt. Durch das VStR-Urteil des EuGH vom 27.9.201228 ist die Sache nicht wirklich klarer geworden, auch wenn der XI. Senat des BFH in seinem Folgeurteil vom 28.5.201329 versucht hat, mit seinem zweiten Leitsatz eine gewisse Orientierung zu geben. Dass dabei das Urteil des V. Senats vom 11.8.201130 aus den Angeln gehoben wurde, sei nur am Rande erwähnt. Der XI. Senat meint übrigens, das sei schon durch das VStR-Urteil geschehen. Das mögliche subjektive und objektive Zusammenspiel der drei Beteiligten und die sich daraus ergebenden Unsicherheiten für die rechtliche Beurteilung könnte kaum deutlicher als in dem zweiten Leitsatz formuliert werden. Er lautet so: „Bei einem Reihengeschäft mit zwei Lieferungen und drei Beteiligten setzt die erforderliche Zuordnung der (einen) innergemeinschaftlichen Versendung zu einer der beiden Lieferungen eine umfassende Würdigung aller besonderen Umstände des Einzelfalls und insbesondere die Feststellung voraus, ob zwischen dem Erstabnehmer und dem Zweitabnehmer die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über den Gegenstand zu verfügen, stattgefunden hat, bevor die innergemeinschaftliche Versendung erfolgte.“
Das liest sich wie eine Arbeitshilfe für Umsatzsteuer-Sonderprüfer oder für Finanzrichter. Das UStG richtet sich aber zunächst an den Unter-
26 EuGH, Urt. v. 16.12.2010 – Rs. C-430/09 – Euro Tyre Holding BV, UR 2011, 176. 27 S. statt vieler KETTISCH, UR 2014, 593 mit zahlr. weiteren Nachw. 28 EuGH, Urt. v. 27.9.2012 – Rs. C- 587/10 – Vogtländische Straßen-, Tief- und Rohrleitungsbau GmbH Rodewisch, UR 2012, 832. 29 BFH, Urt. v. 28.5.2013 – XI R 11/09, DStR 2013, 1597 = UR 2013, 756. 30 BFH, Urt. v. 11.8.2011 – V R 3/10, UR 2010, 910.
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nehmer und dazu muss, wenn man der Auslegung des XI. Senats folgt, der erste Lieferant schon bei Ausführung seiner Lieferung wissen, was sein Abnehmer mit dem Zweitabnehmer hinsichtlich der Verfügungsbefugnis vereinbart hat. Nur dann kann er die von ihm bewirkte innergemeinschaftliche Versendung zutreffend in seiner Umsatzsteuer-Voranmeldung berücksichtigen und, wenn er dazu kommt, dass die Voraussetzungen der Steuerfreiheit gem. § 6a UStG vorliegen, seine Verpflichtungen zur Abgabe einer Zusammenfassenden Meldung erfüllen. Mir scheint, dass hier für die Praxis nahezu unerfüllbare Anforderungen gestellt werden. Vielleicht lässt sich dieser Leitsatz nur damit erklären und rechtfertigen, dass im zu entscheidende Fall der erste Unternehmer in der Reihe die Steuerbefreiung gem. § 6a UStG beanspruchte, obschon sein Abnehmer keine eigene USt.-IDNr. vorweisen konnte, sondern nur die des zweiten Abnehmers aus Finnland mitteilte. Bei einem derartigen Verhalten des Geschäftspartners kann man zur Vermeidung eines Rechtsstreits bis zum EuGH und über den BFH wieder zurück zum FG leider nur empfehlen, das Geschäft entweder gar nicht zu machen oder eben steuerpflichtig zu liefern. Das ist ein trauriger Befund über den mittlerweile erreichten Zustand der Umsatzsteuer. Sie wird häufig unvollziehbar, wenn subjektive Entscheidungen des Geschäftspartners entscheidenden Einfluss auf die Tatbestandselemente beim Leistenden bekommen. Da scheinen die verfassungsrechtlichen Grenzen der Pflichten des Unternehmers auf.31
V. Der Ort der sonstigen Leistung Die schon erwähnte Suche nach dem zutreffenden Ort der sonstigen Leistung gem. §§ 3a ff. UStG ist in vielen Fällen vom Verhalten des Leistungsempfängers bestimmt. Man muss bei § 3a Abs. 2 UStG wissen, an welchem Ort dieser sein Unternehmen betreibt oder ob die Leistung an eine Betriebsstätte des Leistungsempfängers erbracht wird. Der Bezug der Leistung für das Unternehmen des Leistungsempfängers und das Innehaben einer USt.-IdNr. bestimmen auch den Leistungsort. § 3a Abs. 4 UStG stellt auf den Wohnsitz oder Sitz sowie auf die Rechtsform des Leistungsempfängers ab. Wie man mit dem ab dem 1.1.2015 geltenden § 3a Abs. 5 UStG32 zurecht kommen soll, bei dem es u.a. darauf ankommt, dass der Leistungsempfänger von Telekommunikations-, Rundfunk- und Fernsehdienstleistungen
31 S. dazu DÜRRSCHMIDT, in diesem Band S. 33 ff. 32 S. dazu WIDMANN, MwStR 2014, 495; STERZINGER, UR 2014, 797.
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oder auf elektronischem Weg erbrachten sonstigen Leistungen „keine juristische Person, die sowohl unternehmerisch als auch nicht unternehmerisch tätig ist, bei der die Leistung nicht ausschließlich für den privaten Bedarf des Personals oder eines Gesellschafters bestimmt ist“ sein darf, wird sich noch erweisen müssen. Der leistende Unternehmer muss zur korrekten Anwendung der Vorschrift wissen, welche Rechtsform sein Leistungsempfänger hat, ob er sowohl unternehmerisch als auch nicht unternehmerisch tätig ist und wofür die Leistung nicht ausschließlich bestimmt ist. Außerdem muss er noch den Wohnsitz, den gewöhnlichen Aufenthalt oder den Sitz des Leistungsempfängers kennen. Da denke ich an den einfachen Fall, dass der Geschäftsführer einer Personengesellschaft aus Portugal bei einem Unternehmen in Deutschland eine auf elektronischem Weg zu erbringende Dienstleistung bestellt. Die Feststellung, dass es sich bei einer Personengesellschaft um keine juristische Person handelt, mag nach deutschem Recht einfach sein, aber werden in Portugal Personengesellschaften vielleicht als juristische Personen behandelt? Und wie stelle ich fest, dass der Leistungsempfänger unternehmerisch und nicht unternehmerisch tätig ist? Die Überprüfung einer USt-Identifikationsnummer allen gibt dazu keine Sicherheit. Die nicht ausschließliche Bestimmung der Leistung für den privaten Bedarf des Personals oder eines Gesellschafters lässt sich vom Leistenden allenfalls beim Leistungserbringer erfragen, aber es fehlt dafür an jeder Nachprüfbarkeit. Damit stellt sich sofort die Frage, ob bei falschen Angaben des Leistungsempfängers oder einer trotz verkehrsüblicher Sorgfalt irrtümlichen Beurteilung durch den Leistenden für diesen ein Anspruch auf Vertrauensschutz besteht. Wahrscheinlicher freilich ist die Erwartung, dass derartige Fehler kaum je aufgedeckt werden. Nicht nur der gleichheitsgerechte Vollzug des Rechts ist hier in Frage gestellt, sondern auch die Erhebung der Steuer durch den richtigen Fiskus, denn die Zuweisung des Besteuerungsrechts zum Ursprungsland oder zum Bestimmungsland ist schließlich nicht trivial. Die Gewährung von Vertrauensschutz nach Art des § 6a Abs. 4 UStG als Heilmittel gegen unvermeidbare Fehleinschätzungen kann sicher im Einzelfall helfen, taugt aber nicht wirklich als Systemelement eines auf Rechtssicherheit angewiesenen Massenverfahrens.
VI. Versandhandelslieferungen Erhebliche Vollzugsdefizite lassen sich auch bei der Ortsregelung gem. § 3c UStG für die sog. Fernverkäufe vermuten, denn auch hier muss der Lieferant sehr genaue Informationen über den umsatzsteuerlichen Status und die Aktivitäten seines Abnehmers haben. In vielen Fällen wird er diese einvernehmlich bekommen, weil von der Ortsbestimmung der
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Lieferung auch abhängt, ob die Steuersätze des Abgangslandes oder des Empfängerlandes anzuwenden sind, so dass die Ortsbestimmung Einfluss auf die Höhe des Bruttopreises hat. Wer es aber z.B. als Nichtunternehmer oder Kleinunternehmer schafft, sich Kinderkleidung zum Nullsatz aus dem Vereinigten Königreich von einem Unternehmer schicken zu lassen, der die deutsche Lieferschwelle nicht überschreitet, hat die deutsche Umsatzsteuer legal gespart und der Lieferant könnte sich wirklich zu Recht „Netto Supermarkt“ nennen.33
VII. Vertrauensschutz gemäß § 6a Abs. 4 UStG § 6a Abs. 4 UStG ist eine Vorschrift, die bei Einführung der umsatzsteuerlichen Binnenmarkt-Übergangsregelung zum 1.1.1993 allein wegen eines bestimmten Verhaltens des Geschäftspartners geschaffen wurde. Sie beschäftigt seither unablässig die Unternehmer und ihre Berater, die Verwaltung und die Gerichte. Das kann nicht überraschen: Wenn es keine physischen Grenzkontrollen beim Export von Waren mehr gibt und allein die Versicherung des Abnehmers, er werde die Ware ins übrige Gemeinschaftsgebiet befördern, zur Erlangung der Steuerfreiheit für innergemeinschaftliche Lieferungen genügen sollte, war sofort die Frage zu beantworten, was gilt, wenn die Angaben des Abnehmers sich nachträglich als falsch herausstellen. Die Antwort hierauf gibt § 6a Abs. 4 UStG: Wenn der liefernde Unternehmer die Unrichtigkeit der Angaben bei Anwendung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns nicht erkennen konnte, bleibt es bei der in Anspruch genommenen Steuerfreiheit. Der Fiskus beteiligt sich hier gleichsam am unvermeidlichen Risiko des rechtstreuen liefernden Unternehmers, dass ihm sein Kunde unzutreffende Angaben macht. Der EuGH hat in seinem Urteil vom 21.2.200834 diese Lösung als Ausfluss des Verhältnismäßigkeitsprinzips auch für die Täuschungsfälle bei Ausfuhren für angemessen gehalten. Schon in seinem Urteil vom 27.9.200735 hatte er die Grundlage für seine Rechtsprechung zum Vertrauensschutz für gutgläubige Akteure im Binnenmarkt gelegt und damit zugleich bestätigt, dass § 6a Abs. 4 UStG auch ohne ausdrückliche
33 Der so firmierende Kläger in EuGH, Urt. v. 21.2.2008 – Rs.C-271/06 – Netto Supermarkt GmbH & Co. KG, UR 2008, 508 konnte nur im Fall der Ausfuhr steuerfrei liefern und der Abnehmer hatte dann in seinem Staat die Einfuhr zu besteuern. 34 EuGH v. 21.2.2008 – Rs. C-271/06 – Netto Supermarkt GmbH & Co. KG, UR 208, 508. 35 EuGH, Urt. v. 27.9.2007 – Rs. C-409/04 – Teleos plc. u.a., BStBl. II 2009, 70 = UR 2007, 774.
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Grundlage im Unionsrecht diesem entspricht. Das ist sachgerecht im Hinblick darauf, dass der Staat den Unternehmern entschädigungslos das Einsammeln der von ihm beanspruchten Umsatzsteuer auferlegt.36
VIII. Der Verzicht auf Steuerbefreiungen gemäß § 9 UStG Die zur Überwindung der Vorsteuerabzugsblockade bei steuerfreuen Umsätzen sinnhafte Option zur Steuerpflicht ist systematisch eigentlich nur notwendig, wenn der steuerfreie Umsatz an einen anderen Unternehmer für dessen Unternehmer erbracht wird und dieser Unternehmer zum Vorsteuerabzug berechtigt ist. Nur dann wird die Überwälzung der freiwillig herbeigeführten Steuerpflicht gelingen. § 9 Abs. 1 UStG indes lässt es genügen, dass auf die Steuerfreiheit der dort aufgeführten Umsätze verzichtet werden kann, wenn der Umsatz an einen anderen Unternehmer für dessen Unternehmen ausgeführt wird. Wir kennen diese Formulierung insbesondere aus § 15 Abs. 1 UStG. Dort hängt der Vorsteuerabzug davon ab, dass die Vorleistung für das Unternehmen des Leistungsempfängers ausgeführt wird. Die dazu entwickelte aktuelle Zuordnungslehre, die auf das EuGH-Urteil in der Rechtssache VNLTO vom 12.2.200937 zurückgeht, ist Gegenstand der großen BMFSchreiben vom 2.1.201238 und von 2.1.201439 mit den entsprechenden Änderungen des UStAE. Vielleicht nicht alles, aber vieles davon muss der Unternehmer verinnerlichen, der an einen anderen Unternehmer eine steuerfreie Leistung erbringt und auf die Steuerbefreiung verzichten will. Bei den steuerfreien Grundstücksumsätzen gem. § 4 Nr. 9 Buchst. a und Nr. 12 Satz 1 UStG muss sich der leistende Unternehmer darum kümmern, ob und in welchem Umfang sein Kunde die Leistung ausschließlich für Umsätze verwendet oder zu verwenden beabsichtigt, die den Vorsteuerabzug nicht ausschließen. Das muss der Unternehmer nachweisen, d.h. er muss sich von seinem Kunden nicht nur die Umsatzverhältnisse, sondern auch die Verwendungsabsicht bestätigen lassen. Die Verwaltung begreift das Tatbestandsmerkmal der „ausschließlichen Ver-
36 S. dazu MAUNZ, in diesem Band S. 135 ff. sowie REIß, in diesem Band S. 161 ff. 37 EuGH, Urt. v. 12.2.2009 – Rs. C- 515/07, UR 2009, 199 = DStR 2009, 369 mit Anm. KORN; s. auch KLENK, HFR 2009, 422; LOHSE, IStR 2009, 486; WIDMANN in Schwarz/Widmann/Radeisen, UStG, § 15 Rz. 124 ff. 38 BMF, Schr. v. 2.1.2012 – IV D 2 - S 7300/11/10002 – DOK 2011/1014846, BStBl. I 2012, 60. 39 BMF, Schr. v. 2.1.2014 – IV D 2 - S 7300/12/10002: 001 – DOK 2013/1156482, BStBl. I 2014, 119.
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wendung“ für zum Vorsteuerabzug berechtigende Umsätze so, dass bis zu 5 % vorsteuerschädliche Umsätze toleriert werden als sog. Bagatellgrenze.40 Damit wird die Sache in der Praxis etwas einfacher. Hier stellt sich die Frage, mit welcher Intensität der Unternehmer nachprüfen muss, ob die einmal erlangten Kenntnisse noch tatsächlich zutreffen. Die Änderung einer Absicht seines Kunden kann ihm nur bekannt werden, wenn ihm der Kunde dies mitteilt. Die Norm stellt also die Besteuerung des leistenden Unternehmers z.B. auch mit den Folgen des § 15a UStG hier geradezu in das subjektive Belieben des Kunden. Abschn. 9.2 Abs. 4 UStAE sagt, solange Verwendungsänderungen nicht zu erwarten sind, seien ständig wiederholte Bestätigungen des Mieters nicht erforderlich. Im Einzelfall – welcher ist das? – könne es aber erforderlich sein, zumindest eine jährliche Bestätigung einzuholen. Aber auch der Kunde hängt hier vom Verhalten seines leistenden Unternehmers ab. Wenn dieser den Verzicht auf eine Steuerbefreiung widerruft, wirkt dies u.U. auf bereits vergangene Zeiträume zurück. Dann entfällt das Recht zum Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers gem. § 15 Abs. 1 UStG, denn er hat dann keine steuerpflichtigen Leistungen bezogen. Einen Vertrauensschutz für den Leistungsempfänger gibt es nicht, denn das Gesetz erlaubt die Rücknahme der Option ohne Rücksicht auf den Leistungsempfänger bis zum Eintritt der materiellen Bestandskraft – so jedenfalls der BFH in den Urteilen vom 19.12.2013.41 Die Verwaltung stellt dagegen in Abschn. 9.1 Abs. 3 UStAE auf die formelle Bestandskraft ab. Die Rechnungen mit offenem Steuerausweis sind zur Vermeidung der Steuerschuld gem. § 14c Abs. 1 UStG zu berichtigen. Zivilrechtlich ist zu klären, ob mit dem Widerruf der Option durch den leistenden Unternehmer die Preisvereinbarung einseitig verletzt wird und ob sich das Vertragswerk für die künftige Zeit anpassen lässt. Vielleicht kann hier eine analoge Anwendung des § 29 UStG in Betracht kommen, denn diese Norm gibt bei Gesetzesänderungen den Vertragspartnern einen Anspruch auf Ausgleich von Mehr- oder Minderbelastungen. Da mit dem Widerruf der Option das Recht zum Vorsteuerabzug auch beim leistenden Unternehmer entfällt, muss er auf eine Bruttokalkulation umstellen und es ist zu klären, wie die bisherige Preisvereinbarung zu verstehen ist.
40 Vgl. Abschn. 9.2 Abs. 3 UStAE. 41 BFH, Urt. v. 19.12.2013 – V R 6/12, UR 2014, 572 mit Anm. WÜST; BFH, Urt. v. 19.12.2013 – V R 7/12, UR 2014, 579; s. auch FRIEDRICH-VACHE, UR 2014, 646.
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IX. Subjektive Voraussetzungen bei der Anwendung des ermäßigten Steuersatzes und von Steuerbefreiungen und Qualifikationsfragen hinsichtlich der Leistung Ebenso wie manche Steuerbefreiungen kommt der ermäßigte Steuersatz nur zur Anwendung, wenn der leistende Unternehmer bestimmte subjektive Voraussetzungen erfüllt. Also sollte man als Geschäftspartner wissen, ob der Regelsteuersatz oder der ermäßigte Steuersatz zu Recht in Rechnung gestellt wurde. Da nach der Rechtsprechung des BGH auch im vorsteuerabzugsberechtigten Bereich grundsätzlich von der Vereinbarung von Bruttopreisen auszugehen ist,42 muss man beim Vorsteuerabzug beachten, dass nur die für den Umsatz gesetzlich geschuldete Steuer abgezogen werden darf. Wenn also z.B. ein gemeinnütziger Unternehmer einen Umsatz mit 19 % in Rechnung stellt, obschon die Leistung aus seinem Zweckbetrieb kommt und damit gem. § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a UStG der zutreffende Steuersatz 7 % beträgt, dann ist der Leistungsempfänger auch nur zum Abzug dieser 7 % berechtigt. Und wenn der Umsatz sogar steuerfrei ist, gibt es gar keinen Vorsteuerabzug. Zivilrechtlich stellt sich in derartigen Fällen die Frage, ob der Preis angepasst werden muss. In großem Umfang waren derartige Probleme auch aufgetreten, als der BFH in den Urteilen vom 8.10.200843 entgegen der damaligen Verwaltungsauffassung entschied, dass das Legen von Hausanschlüssen zur Wasserversorgung noch unter den Begriff der Lieferung von Wasser i.S. von § 12 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. Nr. 34 der Anlage 2 zum UStG fällt. Die Verwaltung hat in dem BMF-Schreiben vom 7.4.200944 zwar aus Gründen des Vertrauensschutzes den Abzug der in Rechnung gestellten Steuer nach dem Regelsatz zugelassen, aber wer z.B. nicht oder nicht voll zum Vorsteuerabzug berechtigt war, musste auf eine rückwirkende Preisminderung dringen. Hinzu kommt noch, dass der BGH45 dem BFH und der Finanzverwaltung nicht folgt, so dass sich nun u.U. weitere zivilrechtliche Verfahren um den Preis ergeben.46
42 So BGH, Urt. v. 22.3.1972 – VIII ZR 119, 70, BGHZ 58, 292; BGH, Urt. v. 11.5.2001 – V ZR 492/99, UR 2001, 538; s. dazu SCHWARZ in Schwarz/Widmann/Radeisen, UStG, § 10 Rz. 35. 43 BFH, Urt. v. 8.10.2008 – V R 61/03, BStBl. II 2009, 321 = UR 2009, 56; BFH, Urt. v. 8.10.2008 – V R 27/06, BStBl. II 2009, 325 = UR 2009, 165. 44 BMF, Schr. v. 7.4.2009 – IV B 8 - S 7100/07/10024 – DOK 2009/0215132, BStBl. I 2009, 531. 45 BGH, Urt. v. 18.4.2012 – VIII ZR 253/11, UR 2012, 639. 46 S. dazu SCHRADER, MwStR 2013, 115.
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X. Verlagerung der Steuerschuld auf den Leistungsempfänger 1. Die Bauträgerfälle In den Wasseranschlussfällen steckte außerdem noch das Problem, dass trotz der Qualifikation der Leistung als Wasserlieferung nach Meinung der Verwaltung in dem BMF-Schreiben vom 7.4.2009 und so auch in Abschn. 13b.2 Abs. 4 Nr. 8 UStAE die Hausanschlussarbeiten als Bauleistung anzusehen sind, so dass die Steuerschuld gem. § 13b Abs. 2 i.V.m. Abs. 5 UStG auf den Leistungsempfänger übergeht, wenn dieser selbst Bauleistungen erbringt. Das bringt uns zu dem wahrscheinlich größten fiskalischen Umsatzsteuerunfall, der in den letzten Jahren eingetreten ist durch die Urteile des BFH vom 22.8.201347 und vom 11.12.2013.48 Nach dem EuGH-Urteil vom 13.12.2012,49 das der V. Senat des BFH mit seinem Vorabentscheidungsersuchen vom 30.6.201150 herbeigeführt hatte, kamen die beiden USt-Senate zu der Auffassung, dass bei Bauleistungen an Bauträger die Steuerschuldverlagerung gem. § 13b UStG nicht greift, weil Bauträger selbst mittels der von ihnen bezogenen Leistungen der Bauunternehmer keine Bauleistungen erbringen, sondern Gebäude liefern, in die die Bauleistungen eingegangen sind. Gegen diese Ableitung ist nichts einzuwenden. Die Verwaltung hatte sie übrigens ursprünglich in den Jahren 2004–2009 selbst vertreten51 und aus heutiger Sicht ist schwer verständlich, warum sie von dieser Ansicht dann abgerückt ist. Nun gab es einen Bauträger, der sich mit den von ihm beauftragten Bauunternehmern gem. der bis zum BMF-Schreiben vom 5.2.201452 in Abschn. 13b Abs. 8 UStAE zugelassenen Verfahrensweise darüber verständigt hatte, dass die Steuerschuld für die an ihn erbrachten Bauleistungen auf ihn übergehen sollte. Er führte die Steuer auch ab; ein Vor47 BFH, Urt. v. 22.8.2013 – V R 37/10, BStBl. II 2014, 128 = UR 2014, 282; s. dazu LIPPROSS, MwStR 2013, 756; WÄGER, UR 2014, 81; WIDMANN, Beihefter zu DStR 39/2014, 109. 48 BFH, Urt. v. 11.12.2013 – XI R 21/11, BStBl. II 2014, 425 = UR 2014, 276 mit Anm. STERZINGER. 49 EuGH, Urt. v. 13.12.2012 – Rs. C-395/11, BLV Wohn- und Gewerbebau GmbH, UR 2013, 63 = MwStR 2013, 23 mit Anm. BOSCHE; s. auch WIDMANN, BB 2013, 293. 50 BFH v. 30.6.2011 – V R 37/10, BStBl. II 2011, 842 = UR 2011, 671. 51 Vgl. BMF, Schr. v. 31.3.2004 – IV D 1 - S 7279 - 107/04, BStBl. I 2004, 453; BMF, Schr. v. 16.10.2009 – IV B 9 - S 7279/0 – DOK 2009/0670257, BStBl. I 2009, 1298; s. auch BMF, Schr. v. 11.3.2010 – IV D 3 - S 7279/09/10006 – DOK 2010/0188031, BStBl. I 2010, 254. 52 BMF, Schr. v. 5.2.2014 – IV D 3 - S 7279/11/10002 – DOK 2014/0120973, BStBl. I 2014, 233.
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steuerabzug stand ihm wegen der Verwendung dieser Leistung für gem. § 4 Nr. 9 UStG steuerfreie Grundstücksumsätze nicht zu. Dann aber entdeckte der Bauträger, dass er selbst keine Bauleistungen erbrachte und berichtigte seine Steuererklärungen, in denen er sich als Steuerschuldner gem. § 13b UStG bekannt hatte. Der weitere Verlauf ist aus der obigen Schilderung der BFH-Urteile vom 22.8. und 11.12.2013 bekannt. Man kann noch ergänzen, dass die Rückzahlungen der Finanzämter an die Bauträger sich bundesweit inzwischen auf mehrere Milliarden Euro belaufen. In Einzelfällen sollen es Beträge von über 100 Mio. Euro gewesen sein. Der Ausgangsfall ist einfach: Zwei Vertragspartner haben sich bei ihren Geschäftsbeziehungen zunächst an eine Verwaltungspraxis gehalten und dann hat sich einer der beiden, es war der Leistungsempfänger, einseitig von dieser einverständlichen Verfahrensweise gelöst. Dabei war, wie der BFH entschieden hat, das Umsatzsteuerrecht auf seiner Seite. Über die zivilrechtlichen Folgen dieses Verhaltens hatte der BFH nicht zu entscheiden. Der leistende Unternehmer, der wegen der angenommenen Steuerschuld des Leistungsempfängers diesem die Umsatzsteuer gem. § 14a Abs. 5 UStG nicht in Rechnung stellen durfte und sie auch nicht vereinnahmt hat, sieht sich nun allerdings plötzlich in der Situation des Steuerschuldners. § 13b UStG war ja nicht einschlägig und der BFH hat geurteilt, dass eine einvernehmliche Anwendung des § 13b UStG, wenn die Voraussetzungen nicht vorliegen, nicht in Betracht kommt. Der gesetzliche Steuerschuldner kann für Vertragspartner nicht disponibel sein. 2. Änderungen durch das Gesetz vom 25.7.2014 Die Sache war so verfahren, dass der Gesetzgeber tätig werden musste. Im „Gesetz zur Anpassung des nationalen Steuerrechts an den Beitritt Kroatiens zur EU und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften“ vom 25.7.201453 wurde § 13b UStG entsprechend der BFHRechtsprechung mit Wirkung ab dem 31.7.2014 novelliert. Durch einen neuen § 27 Abs. 19 UStG wird die der Inanspruchnahme des leistenden Unternehmers entgegenstehende Vorschrift des § 176 AO suspendiert. Das BMF-Schreiben vom 31.7.201454 lässt allerdings zu, dass sich die Vertragspartner darüber verständigen, dass es bei der vom BFH gerügten 53 Ges. v. 25.7.2014, BGBl. I 2014, 1266; s. dazu WIDMANN, MwStR 2014, 495; LIPPROSS, UR 2014, 717; PRÄTZLER, MwStR 2014, 680; BMF, Schr. v. 26.9.2014 – IV D 3 - S 7279/14/1002 – DOK 2014/0847817, BStBl. I 2014, 1297. 54 BMF, Schr. v. 31.7.2014 – IV A 3 - S 0354/14/10001 – IV D 3 - S 7279/11/10002 – DOK 2014/0652740, BStBl. I 2014, 1073.
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Gestaltung bleibt. Gelingt eine derartige Einigung nicht, dann kann der leistende Unternehmer den ihm zustehenden Anspruch auf Zahlung der Umsatzsteuer an sein Finanzamt an Zahlungs statt abtreten. Das setzt selbstverständlich voraus, dass es einen derartigen Anspruch gibt. Wegen der einvernehmlichen Nettoabrede und zur Realisierung sollte das Finanzamt hoffen, dass er noch nicht verjährt ist oder wegen Baumängeln nicht noch über die Höhe des Entgelts gestritten wird. Die Umsatzbesteuerung der Bauunternehmer hängt in diesen Fällen also ganz maßgeblich vom Verhalten des Leistungsempfängers ab. Dieser muss nach dem BMF-Schreiben vom 31.7.2014, wenn er sich darauf beruft, nicht der gesetzliche Steuerschuldner zu sein, seinem Finanzamt umfängliche Angaben zu den bezogenen Bauleistungen machen, die dann auch bei der Besteuerung des leistenden Unternehmers verwendet werden können. Da werden sich womöglich unterschiedliche Darstellungen des Sachverhalts ergeben. 3. Bescheinigungsverfahren § 13b UStG wurde im Übrigen ab dem 31.7.2014 in Abs. 5 so geändert, dass nun der Leistungsempfänger unabhängig von der konkreten Verwendung der bezogenen Bauleistung für eigene Bauleistungen Steuerschuldner wird, wenn er selbst ein nachhaltig tätiger Bauunternehmer ist und ihm das Finanzamt dies in einer besonderen Bescheinigung bestätigt. Gleiches gilt für die Gebäudereiniger. Der leistende Unternehmer kann sich durch die Berufung auf diese Bescheinigung ein sicheres Urteil zum Übergang der Steuerschuld bilden. So ist es jedenfalls, wenn die Bescheinigung echt ist. Was gilt aber, wenn der Leistungsempfänger die Bestätigung gefälscht hat und der Bauunternehmer oder Gebäudereiniger dies trotz sorgfältigen Verhaltens nicht erkennen konnte? Dann haben wir sofort die Frage, ob es für den gutgläubigen leistenden Bauunternehmer oder Gebäudereiniger einen Vertrauensschutz gibt. Das wäre aus fiskalischer Sicht sicher nicht wünschenswert, denn dann trüge der Fiskus allein das Risiko aus den Fälschungsfolgen, das darin besteht, dass beim Leistungsempfänger mangels Übergang der Steuerschuld keine Steuer entstanden ist und der leistende Unternehmer wegen des Vertrauensschutzes nicht in Anspruch genommen dürfte. Er hat die Steuer nicht vereinnahmt. Hier gibt es belastungsmäßig eine ähnliche Situation wie bei den Bauträgerfällen, bei denen freilich gefälschte Unterlagen keine Rolle spielten. Am ehesten lässt sich hier an § 6a Abs. 4 UStG denken, der auch die Fälle umfasst, in denen eine inländische Privatperson durch Täuschung des liefernden Unternehmers die Voraussetzungen einer steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferung simuliert und die Ware im Inland ver25
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bleibt. Dann kann nur gegen den betrügerischen Abnehmer die Steuer festgesetzt werden, denn dieser ist in den Fällen des § 6a Abs. 4 UStG Steuerschuldner nach § 13a Abs. 1 Nr. 3 UStG. Eine ähnliche Regelung für den Fälscher der Bescheinigung müsste aber der Gesetzgeber schaffen, denn die Kreation einer Steuerschuldnerschaft im Wege der Analogie scheidet für die Verwaltung und die Gerichte selbstverständlich aus. Wenn dem Leistungsempfänger die Bescheinigung auf der Grundlage falscher Angaben erteilt wurde, schützt § 13b Abs. 5 UStG den Leistungsempfänger insofern, als die Bescheinigung nur mit Wirkung für die Zukunft widerrufen oder zurückgenommen werden kann. Zumindest der gutgläubige leistende Unternehmer braucht also nicht zu befürchten, dass in derartigen Fällen eine rückwirkende Aufhebung gem. § 130 AO stattfindet, denn insoweit ist der neue § 13b Abs. 5 UStG lex specialis zu § 130 AO. Ob der Gesetzgeber die gefälschte Bescheinigung überhaupt im Auge hatte, erschließt sich aus dem Bericht des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages55 als dem einzigen Bestandteil der Gesetzesmaterialien zu dieser Norm nicht. Die Bescheinigung könne „aus Rechtsschutzgründen“ nur für die Zukunft widerrufen oder zurückgenommen werden – so war zu lesen. Welchen Rechtsschutz derjenige verdient, der sich eine Bescheinigung erschleicht, könnte man sicher auch anders regeln. 4. Einvernehmliche Verlagerung der Steuerschuld gemäß § 13 Abs. 5 Satz 7 UStG Und noch eine weitere Änderung des § 13b Abs. 5 UStG ist bemerkenswert: Die von der Verwaltung als Vereinfachung akzeptierte einvernehmliche Verlagerung der Steuerschuld auf den Leistungsempfänger in Zweifelsfällen bekommt nun eine gesetzliche Grundlage. Der neue Satz 7 des § 13b Abs. 5 UStG lautet wie folgt: „Sind Leistungsempfänger und leistender Unternehmer in Zweifelsfällen übereinstimmend vom Vorliegen der Voraussetzungen des Absatzes 2 Nummer 4, 5 Buchst. b, Nummer 7 bis 11 ausgegangen, obwohl dies nach der Art der Umsätze unter Anlegung objektiver Kriterien nicht zutreffend war, gilt der Leistungsempfänger dennoch als Steuerschuldner, sofern dadurch keine Steuerausfälle entstehen.“
Man kann also in Abstimmung mit dem leistenden Unternehmer fiktiver Steuerschuldner werden, wenn man als Leistungsempfänger die Steuer abführt oder zu Recht als Vorsteuer geltend macht, denn dann entstehen keine Steuerausfälle. Bei kaum einer anderen Vorschrift des UStG ist die 55 BT-Drucks. 18/1995, 114. Dabei handelt es sich offenbar um die Übernahme einer sog. Formulierungshilfe des BMF.
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Abhängigkeit der eigenen Umsatzbesteuerung vom Verhalten des Geschäftspartners so ausgeprägt.56
XI. Gutschriftserteilung Gem. § 14 Abs. 2 UStG können unternehmerische Leistungspartner vereinbaren, dass nicht der leistende Unternehmer eine Rechnung erteilt, sondern dass der Leistungsempfänger durch eine Gutschrift gegenüber dem leistenden Unternehmer abrechnet. Das ist seit jeher probat, wenn der Leistende den genauen Umfang der abzurechenden Leistung nicht kennt. Standardfall für die Gutschrift ist die Abrechnung der Verlage gegenüber den Autoren auf der Grundlage der verkauften Bücher. Das funktioniert in den meisten Fällen völlig problemlos. Der Gutschriftsempfänger kann der ihm übermittelten Gutschrift aber widersprechen und dann verliert diese die Wirkung einer zum Vorsteuerabzug berechtigenden Rechnung. Das bedeutet, dass der Gutschriftsaussteller in dem Besteuerungszeitraum seinen Vorsteuerabzug korrigieren muss, in dem ihm der Widerruf zugegangen ist.57 Der XI. Senat des BFH hat in dem Urteil vom 23.1.201358 ebenso wie schon der V. Senat am 19.5.199359 entschieden, dass der Widerruf auch dann diese Wirkung hat, wenn die Gutschrift gemäß den zivilrechtlichen Vereinbarungen erteilt wurde und den steuerrechtlichen Anforderungen entspricht. Man könnte auch sagen, die Umsatzsteuer kümmert sich nicht um die Zwistigkeiten von Vertragspartnern und deren zivilrechtliche Folgen. Sicher ist, dass mit dem Widerruf der Gutschrift durch den Leistenden der Anspruch des Leistungsempfängers auf Erteilung einer ordnungsgemäßen Rechnung entsteht, und erst wenn er diese in Händen hat, kann er dann den Vorsteuerabzug wieder geltend machen, den er aufgrund des Widerrufs der Gutschrift korrigieren musste.
56 Durch das StÄndG 2015 wurde § 13b Abs. 5 UStG so geändert, dass juristische Personen des öffentlichen Rechts in bestimmten Fällen nicht Steuerschuldner werden, wenn sie Leistungen für ihren nichtunternehmerischen Bereich beziehen. Dazu muss der Leistende sich wohl auf die Angaben der juristischen Person des öffentlichen Rechts verlassen, denn er kann das selbst nicht nachprüfen. Die Privilegierung der öffentlichen Hand bei § 13b UStG gegenüber anderen Leistungsempfängern geht also einher mit dem Risiko des leistenden Unternehmers hinsichtlich der Richtigkeit dieser Angaben. Der Hinweis auf den Gutglaubensschutz ist hier sicher wohlfeil, verdeutlicht aber die schon oben beschriebenen systematischen Schwächen. 57 Vgl. Abschn. 14.3 Abs. 4 und Abschn. 15.2 Abs. 13 UStAE. 58 BFH, Urt. v. 23.1.2013 – XI R 25/11, BStBl. II 2013, 417 = UR 2013, 389. 59 BFH, Urt. v. 19.5.1993 – V R 110/88, BStBl. II 1993, 779.
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Unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Rechtsordnung hätte vielleicht das Argument nahegelegen, das Steuerrecht solle nicht die bewusste Vertragsverletzung durch einen Geschäftspartner, die schon fast schikanöse Züge trägt, mitmachen. Aber der XI. Senat des BFH sah sich hier an den insoweit nicht auslegungsfähigen Wortlaut des § 14 Abs. 2 UStG gebunden, der nur auf den tatsächlichen Umstand des Widerspruchs abstellt und keinerlei Bezug zur ursprünglichen Absprache über die Abrechnung durch Gutschrift hat. Für unser Thema muss hier die Feststellung genügen, dass auch das vertragswidrige Verhalten des einen Geschäftspartners erhebliche umsatzsteuerliche Folgen beim anderen, vertragstreuen Partner haben kann. Da die Verwaltung schon dem Urteil aus dem Jahr 1993 gefolgt war, ist die Befürchtung, dass das Urteil vom 23.1.2013 „faktisch das Ende der umsatzsteuerlichen Gutschrift“ bedeute,60 doch reichlich übertrieben, denn in den mehr als zwanzig Jahren seit dem ersten Urteil hat sich die Geschäftswelt von der Erteilung von Gutschriften offensichtlich nicht abhalten lassen. Wer sich auf die Abrechnung mit Gutschriften einlässt, muss die in § 14 Abs. 2 UStG geregelte Widerrufsmöglichkeit kennen.61 Der BGH hat schon im Jahr 1992 entschieden,62 dass der Widerruf bis zur Verjährung der vertraglichen Ansprüche des leistenden Unternehmers zulässig ist.
XII. Berichtigung der Rechnung gemäß § 14c Abs. 1 UStG § 14c Abs. 1 UStG erlaubt die einseitige Berichtigung von hinsichtlich des Steuerbetrags unrichtigen Rechnungen durch den Rechnungsaussteller. Der Leistungsempfänger hat daran regelmäßig nicht aktiv mitzuwirken. Die Berichtigung muss nur ihm gegenüber erfolgen, d.h. sie muss ihm zugehen. Der Leistungsempfänger darf diesen Zugang nicht vereiteln. Ob die Rechnungsberichtigung auf den Zeitpunkt der Erteilung der ursprünglichen Rechnung zurückwirkt, ist gegenwärtig immer noch umstritten. Die deutsche Verwaltung verneint generell eine Rückwirkung – im Gegensatz zur Praxis in Österreich, wo die Verwaltung eine Berichtigung mit Rückwirkung innerhalb einer angemessenen Frist zulassen kann.63 Zwar hat der EuGH schon in der Pannon Gep-Entscheidung aus dem Jahr 201064 die Rückwirkung der Berichtigung grundsätzlich für 60 61 62 63 64
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So STADIE, UR 2013, 365; kritisch auch HUMMEL, UR 2012, 497. So WIDMANN in Schwarz/Widmann/Radeisen, UStG, § 14 Rz. 54. BGH, Urt. v. 2.12.1992 – VIII ZR 50/92, UR 1993, 84 mit Anm. WEIß. Vgl. RUPPE/ACHATZ, UStG, § 12 Rz. 67. EuGH, Urt. v. 15.7.2010 – Rs. C-368/09 – Pannon Gep Centrum, UR 2010, 693.
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möglich gehalten, und nach dem Urteil vom 11.4.201365 scheinen mir Zweifel an der Rückwirkung endgültig nicht mehr berechtigt.66 Beide Umsatzsteuersenate des BFH haben die Frage bisher ausdrücklich offengelassen. Meine schon lange vertretene Auffassung,67 dass § 31 Abs. 5 UStDV mit der Regelung zur Rechnungsberichtigung nur sinnhaft ist, wenn damit die Rückwirkung in den geeigneten Fällen verbunden ist, hat bisher keinen Widerspruch gefunden. Es bedarf keine weiteren Darlegungen, dass der Leistungsempfänger wegen des Zeitpunkts seines Vorsteuerabzugs aus der Rechnung und wegen der damit verbundenen Vollverzinsungsproblematik unmittelbar von der Entscheidung der Rückwirkungsfrage betroffen ist. Nur bei Rechnungen über eine Geschäftsveräußerung im Ganzen oder bei der Rückgängigmachung des Verzichts auf Steuerbefreiungen gem. § 9 UStG muss das sogleich darzustellende Verfahren nach § 14c Abs. 2 UStG eingehalten werden, und dabei ist der Rechnungsaussteller in hohem Maße vom Verhalten des Geschäftspartners abhängig.
XIII. Berichtigung des Steuerbetrags gemäß § 14c Abs. 2 UStG Im Fall des unberechtigten Steuerausweises in Rechnungen liegt zwar zunächst ein fehlerhaftes Verhalten des Rechnungsausstellers vor, der noch nicht einmal Unternehmer sein muss. Die Korrektur der Rechnung zur Herstellung einer richtigen Abrechnung ist aber nicht einseitig durch den Rechnungsaussteller möglich. Wer die zu Unrecht offen ausgewiesene Steuer zur Vermeidung der Steuerschuld berichtigen will, ist davon abhängig, dass die Gefährdung des Steueraufkommens beseitigt ist. Und dies ist gem. § 14c Abs. 2 UStG erst sichergestellt, wenn „ein Vorsteuerabzug beim Empfänger der Rechnung nicht durchgeführt oder die geltend gemachte Vorsteuer an die Finanzbehörde zurückgezahlt worden ist“. Der Rechnungsaussteller wird von seiner Steuerschuld mithin nur und erst frei, wenn der Rechnungsempfänger den Vorsteuerabzug überhaupt nicht geltend gemacht hat oder den zu Unrecht in Anspruch genommenen Vorsteuerabzug finanziell gegenüber seinem Finanzamt rückabwickelt. In den Fällen, in denen der Vorsteuerabzug schon vor Zah65 EuGH, Urt. v. 11.4.2013 – Rs. C-138/12 – Rusedespred OOD, UR 2013, 432. 66 S. BFH, Urt. v. 9.10.2010 – V R 55/09, BStBl. II 2012, 235 = UR 2010, 946; BFH, Beschl. v. 10.1.2013 – XI B 33/12, UR 2013, 588; FG Nds., Beschl. v. 3.7.2014 – 5 K 40/14, UR 2015, 61 mit Anm. WIDMANN hat dem EuGH u.a. die Frage vorgelegt, welche Mindestanforderungen eine Rechnung erfüllen muss, um ggf. mit Rückwirkung berichtigt werden zu können. 67 WIDMANN in Schwarz/Widmann/Radeisen, UStG, § 14 Rz. 146 ff.
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lung des Bruttopreises an den leistenden Unternehmer vorgenommen wurde und danach Insolvenz beim Rechnungsempfänger eingetreten ist, geht die Berichtigungsmöglichkeit gem. § 14c Abs. 2 UStG damit regelmäßig ins Leere, weil der insolvente Rechnungsempfänger keine Mittel mehr hat, um die geltend gemachte Vorsteuern an sein Finanzamt zurückzuzahlen.
XIV. Vorsteuerabzug Beim Vorsteuerabzug ist die Abhängigkeit der eigenen Umsatzbesteuerung von den Verhältnissen des Geschäftspartners geradezu systemtragend. Das schlägt sich im Tatbestand des § 15 Abs. 1 UStG unmittelbar nieder: Die Vorleistung muss von einem anderen Unternehmer erbracht werden und über diese Vorleistung muss der Unternehmer eine nach § 14 und § 14a UStG ausgestellte Rechnung besitzen. Seit dem EuGH-Urteil vom 29.4.200468 wissen wir, dass die deutsche Praxis unionsrechtlich korrekt war und ist, wonach der Vorsteuerabzug erst in dem Zeitpunkt zu gewähren ist, in dem der Unternehmer die Rechnung erstmals in Händen hat – ungeachtet dessen, dass der Vorsteueranspruch bereits im Zeitpunkt des Leistungsbezugs entstanden ist. Schon bei den Fragen zur Wirkung der Rechnungsberichtigung ist klar geworden, dass es bei auf einem Leistungsaustausch beruhenden Umsatz ohne Rechnung keinen Vorsteuerabzug gibt und es stellt sich nur die Frage, wie richtig und vollständig die Rechnung zu sein hat, um ggf. mit Rückwirkung berichtigungsfähig zu sein. Das Risiko, dass der Leistungserbringer und Rechnungsaussteller kein Unternehmer ist, trägt zunächst der Unternehmer, der den Vorsteuerabzug begehrt. Wer z.B. von einer Stelle der sog. öffentlichen Hand eine Abrechnung mit offenem Ausweis der Umsatzsteuer erhält, wird davon ausgehen, dass über eine wirtschaftliche Tätigkeit i.S.v. § 2 Abs. 3 UStG im unionsrechtlich geläuterten Verständnis dieser Vorschrift abgerechnet wurde. Wenn aber tatsächlich eine nichtsteuerbare hoheitliche Tätigkeit vorlag, dann verhilft auch eine formal korrekte Rechnung mit gesondertem Ausweis der Umsatzsteuer nicht zum Vorsteuerabzug. Die wirtschaftlichen Folgen sind gravierend, denn dann wird aus dem gezahlten Bruttobetrag tatsächlich eine Belastung in dessen Höhe, obschon die Kalkulation beim Einkauf der Leistung wegen der grundsätzlichen Vorsteuerabzugsberechtigung des Leistungsempfängers bestimmt auf Nettobasis stattfand.
68 EuGH, Urt. v. 29.4.2004 – Rs. C-152/02 – Terra Baubedarfs-Handel, UR 2004, 323 = BB 2004, 1662 mit Anm. LOHSE.
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XV. Differenzbesteuerung § 25a Abs. 1 UStG erlaubt die Differenzbesteuerung bei Umsätzen mit Gebrauchtgegenständen durch einen Wiederverkäufer u.a. unter der Voraussetzung, dass bei der Lieferung des Gegenstands an den Wiederverkäufer auch die Differenzbesteuerung vorgenommen wurde. Dazu war in dem BFH-Urteil vom 23.4.200969 zu klären, ob es darauf ankommt, dass die Differenzbesteuerung zu Recht vorgenommen wurde. Das hat der BFH bejaht und die Verwaltung folgt ihm in Abschn. 25a.1 Abs. 5 UStAE. Mithin ist der Wiederverkäufer bei der korrekten Anwendung des § 25a UStG davon abhängig, ob sich seine Vorlieferanten bei Anwendung des § 25a UStG ihrerseits korrekt verhalten haben.
XVI. Haftung gemäß § 25d UStG Mit der Haftung gem. dem seit dem 1.1.2002 geltenden § 25d UStG bewegen wir uns in einem Problembereich, der die leider hohe Betrugsanfälligkeit des Mehrwertsteuersystems zeigt: Wer bei Vertragsabschluss weiß oder wissen muss, dass sein Vorunternehmer absichtsvoll die in einer Rechnung ausgewiesene Steuer für den Vorumsatz nicht entrichtet hat oder sich mit vorgefasster Absicht außer Stande gesetzt hat, die in Rechnung gestellte Steuer zu entrichten, haftet für diese Steuer. § 25d Abs. 2 UStG vermutet beim Unternehmer das Vorhandensein der Kenntnis oder das Kennenmüssen vom Verhalten des Vorunternehmers, wenn der Unternehmer zu einem Preis einkauft, der unter dem marktüblichen Preis oder unter dem Einkaufspreis des Vorunternehmers liegt. Ein betriebswirtschaftlicher Gegenbeweis ist aber möglich. Hier greift das UStG wegen einer fremden Steuerschuld auf einen Unternehmer zu, der bloßer Mitwissser ist hinsichtlich einer gem. § 26b mit Geldbuße bedrohten Ordnungswidrigkeit seines Geschäftspartners. Man braucht dazu keinen Vorsatz zu haben. Es genügt die zufällige Kenntniserlangung oder der sorgfältige Argwohn. Das ist gleichsam die größte Abhängigkeit vom Verhalten eines Dritten, denn das bloße Kennenmüssen nach der Sorgfalt des ordentlichen Kaufmanns ist in hohem Maß subjektiv und daher nur schwer nachzuweisen. Muss man als Unternehmer schon bei der Anpreisung eines Möbelhauses „Wir schenken Ihnen die Mehrwertsteuer“70 misstrauisch werden, wenn der Preis dadurch besonders günstig wirkt? Im Fall der mit Freiheits- oder Geldstrafe sanktionierten gewerbsmäßigen oder bandenmäßigen Schädigung des
69 BFH, Urt. v. 23.4.2009 – V R 52/07, BStBl. II 2009, 860 = UR 2009, 858. 70 Vgl. Die Zeit, Nr. 34 v. 14.8.2014, S. 17.
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Steueraufkommens gem. § 26c UStG ist der einkaufende Unternehmer selbst Mittäter, da ist das Verhalten der anderen Mittäter vor allem strafrechtlich relevant. Und die Haftung gem. § 25d UStG beruht dann nicht nur auf einem Kennenmüssen, sondern auf aktiver Teilnahme an der haftungsauslösenden Handlung.71
XVII. Schlussbemerkung Dieser Gang durch das Mehrwertsteuersystem in der Ausprägung der unionsrechtlichen Vorgaben für unser UStG hat gezeigt, dass es kaum eine wichtige Vorschrift gibt, die tatbestandlich nicht ohne die Einbeziehung des Verhaltens oder der Verhältnisse des Geschäftspartners auskommt. Das System gleicht kommunizierenden Röhren, die idealerweise immer gleich hoch gefüllt sind – d.h. die Steuer des leistenden Unternehmers entspricht dem Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers oder belastet definitiv den Endverbrauch und kommt beim Fiskus auch tatsächlich an. Wir wissen, dass diese Folgen in der täglichen Praxis keineswegs immer eintreten, denn das Mehrwertsteuersystem lebt bis heute mit und von der fast naiven Illusion des idealen Marktes, in dem alle Akteure rechtstreu sind und immer gleichzeitig oder wenigstens rechtzeitig alle Informationen haben, die sie brauchen, um den steuerbaren Verkehrsvorgang auszulösen und dann ihre steuerlichen Pflichten korrekt zu erfüllen. Weil das im realen Geschäftsleben eben erfahrungsgemäß nicht so ist, löst die Umsatzsteuer häufig schwierige Fragen des Gutglaubensschutzes und zivilrechtliche Vor- oder Folgefragen aus, die unter dem Gesichtspunkt der rechtssicheren Steuerplanung die Geschäftspraxis erheblich belasten. Und das erklärt auch zumindest teilweise die hohen Befolgungskosten der Unternehmer und den zunehmenden Aufwand der Finanzverwaltung bei der zutreffenden Besteuerung aller Umsätze. Das könnte man durch eine Systemmodifikation ändern. Aber das ist ein weites Feld.72
71 Durch EuGH, Urt. v. 18.12.2014 – Rs. C-131/13, C-163/13 und C-164/13 – Schoenimort „Italmoda“ Mariano Previti u.a., UR 2015, 106 ist zweifelhaft geworden, ob neben der von diesem Urteil verlangten Versagung der Steuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen und des Vorsteuerabzugs noch Raum für eine Haftung gem. § 25d UStG ist; s. dazu WÄGER, UR 2015, 81; HEUERMANN, DStR 2015, 1416; TREIBER, MwStR 2015, 626; DRÜEN, MwStR 2015, 841. 72 S. dazu WIDMANN, UR 2009, 9; FILTZINGER in Festschr. Kirchhof, 2013, Bd. II S. 2031 ff.
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Grenzen umsatzsteuerlicher Pflichten des Unternehmers aus verfassungsrechtlicher und unionsrechtlicher Sicht Dr. iur. DANIEL DÜRRSCHMIDT, LL.M. (Univ. Sydney), München Inhaltsübersicht I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . II. Bestandsauaufnahme der umsatzsteuerlichen Pflichten des Unternehmers 1. Allgemeines . . . . . . . . . . 2. Pflichten und Obliegenheiten gegenüber dem Fiskus . . . . . . . . . . . . . . . 3. Pflichten gegenüber anderen Unternehmern bzw. Verbrauchern . . . . . 4. Vermeidung von Mitwirkungspflichten durch Typisierungen und systematische Ausnahmen. . . . . . . . . . . 5. Kleinunternehmerregelung . . . . . . . . . . . . . . III. Nationales Verfassungsrecht und/oder Unionsrecht als Prüfungsmaßstab 1. Bestimmung des Prüfungsmaßstabs vor dem Hintergrund der Harmonisierung des Umsatzsteuerrechts innerhalb der Europäischen Union. 2. Unionsrechtliche Anforderungen der Ermächtigungsgrundlage, der Mehrwertsteuersystemrichtlinie und der Grundfreiheiten als Prüfungsmaßstab . . . . . . 3. Verfassungs- und unionsrechtliche Grundrechte als Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . .
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4. Rechtsstaatliche Gewährleistungen des Rechtsstaatsprinzips des Grundgesetzes und als allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts als Prüfungsmaßstab . . . . 52 5. Weitere umsatz-/mehrwertsteuerspezifische verfassungs- und unionsrechtliche Grenzen . . 54 6. Folgerungen für die Bestimmung des Prüfungsmaßstabs . . . . . . . . . . . . . 57 IV. Konkretisierung der gleichheitsrechtlichen Grenzen umsatzsteuerlicher Pflichten des Unternehmers 1. Ungleichbehandlung . . . 58 2. Rechtfertigung . . . . . . . . 58 V. Konkretisierung der freiheitsrechtlichen und rechtsstaatlichen Grenzen umsatzsteuerlicher Pflichten des Unternehmers 1. Schutzbereich und Eingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 2. Rechtfertigung . . . . . . . . 59 VI. Beispiele für verfassungsund unionsrechtliche Grenzen für umsatzsteuerliche Pflichten des Unternehmers 1. Allgemeines. . . . . . . . . . . 60 2. Nachweispflichten zur Erlangung von Steuerbefreiungen im grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr . . . . . . . . . 60
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DÜRRSCHMIDT, Grenzen umsatzsteuerlicher Pflichten des Unternehmers 3. Keine Pflicht zur Vorfinanzierung der Umsatzsteuer über mehrjährige Zeiträume bei Soll-Besteuerung . . . VII. Verfassungsrechtliche Grenzen bei Kumulation von umsatzsteuerlichen Pflichten 1. Kumulation von umsatzsteuerlichen und außerumsatzsteuerlichen Pflichten . . . . . . . . . . . . .
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2. Grundrechtliche Relevanz der Kumulation von Belastungen. . 70 3. Folgerungen für die umsatzsteuerlichen Pflichten des Unternehmers . . . . . . . . . . . 74 VIII. Schluss. . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
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I. Einleitung Wegen der Beseitigung der Grenzabfertigung für die Ein- und Ausfuhr innerhalb der Europäischen Union (EU)1 sind im EU-internen grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr für den effektiven Vollzug des Umsatzsteuerrechts und dabei insbesondere zur Verwirklichung des angestrebten Bestimmungslandprinzips2 im erhöhten Maße Mitwirkungspflichten erforderlich.3 Aber auch im rein nationalen Wirtschaftsverkehr sind aufgrund der hohen Anzahl von umsatzsteuerbaren Vorgängen und der Konzeption der Umsatzsteuer als Allphasennettoumsatzsteuer mit Vorsteuerabzug4 (Mitwirkungs-)Pflichten unerlässlich.5 Dies gilt 1 Vgl. Richtlinie des Rates v. 16.12.1991 zur Ergänzung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems und zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG im Hinblick auf die Beseitigung der Steuergrenzen (91/680/EWG), ABl. Nr. L 376 v. 31.12.1991, S. 1, ber. ABl. Nr. L 272 v. 17.9.1992, S. 7 (sog. Binnenmarktrichtlinie). 2 Allgemein zum Bestimmungslandprinzip s. ENGLISCH in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 17 Rz. 393; REIß in Reiß/Kraeusel/Langer (Hrsg.), UStG, Einführung Rz. 30 – Lfg. 69, Dezember 2007; REIß, Umsatzsteuerrecht, 13. Aufl. 2015, Rz. 172; STADIE in Rau/Dürrwächter, UStG, Einführung Rz. 735 ff. – Lfg. 154, April 2013. 3 Vgl. EuGH, Urt. v. 27.9.2007 – C-184/05 – Twoh International, EuGHE 2007, I-7928 = UR 2007, 782 – Rz. 24; EuGH, Urt. v. 7.12.2010 – C-285/09 – R, EuGHE 2010, I-12605 = UR 2011, 15 – Rz. 42; EuGH, Urt. v. 6.9.2012 – C-273/11 – Mecsek-Gabona, ECLI:EU:C:2012:547, UR 2012, 796 = HFR 2012, 1121 – Rz. 34 f.; ENGLISCH in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 17, Rz. 408 f., 413, 420, 431. 4 Vgl. WIDMANN, DStJG 32 (2009), S. 103 (111 ff.); allgemein zur Allphasennettoumsatzsteuer mit Vorsteuerabzug s. ENGLISCH in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 17 Rz. 3; REIß in Reiß/Kraeusel/Langer (Hrsg.), UStG, Einführung Rz. 21 – Lfg. 69, Dezember 2007; REIß, Umsatzsteuerrecht, 13. Aufl. 2015, Rz. 1, 3; STADIE in Rau/Dürrwächter, UStG, Einführung Rz. 250 – Lfg. 154, April 2013. 5 Vgl. WIDMANN, DStJG 32 (2009), S. 103 (111 ff.).
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unabhängig davon, dass die Sachverhaltsermittlung im Steuerrecht als Eingriffsrecht grundsätzlich von Amts wegen zu erfolgen hat (§ 88 Abs. 1 Satz 1, § 90 Abs. 1 Satz 1 AO). Derartige (Mitwirkungs-)Pflichten zu Lasten der Verbraucher wären vermutlich „unzumutbar“, zudem wäre eine effektive Erhebung der Umsatzsteuer bei den Verbrauchern nicht gewährleistet.6 Vor diesem Hintergrund erscheint es mangels weiterer personeller Anknüpfungspunkte zwingend, den Unternehmer rechtlich zum Steuersubjekt und Steuerschuldner zu machen und ihm die (Mitwirkungs-)Pflichten aufzuerlegen, die für den effektiven Vollzug des Umsatzsteuerrechts erforderlich sind.7 Derartige Pflichten sind mittlerweile zahlreich und bezogen auf einzelne Pflichten wegen ihrer hohen Anforderungen mitunter nur schwer zu erfüllen.8 Dies wirft die Frage auf, wo die verfassungs- und die unionsrechtlichen Grenzen für die umsatzsteuerlichen Pflichten des Unternehmers verlaufen.9 Diese Frage ist für Unternehmer von erheblicher Bedeutung, da die Erfüllung der umsatzsteuerlichen Pflichten – wie auch die Erfüllung der zahlreichen außerumsatzsteuerrechtlichen Pflichten – ein Kostenfaktor ist10 (Stichwort: „Compliance“-Kosten), der über die Rentabilität und in letzter Konsequenz möglicherweise sogar über das Fortbestehen eines Unternehmens entscheiden kann. Im vorliegenden Zusammenhang sollte der Begriff der „Pflichten“ weit verstanden werden, da einige „Pflichten des Unternehmers“ im Falle ihrer Nichterfüllung nicht zwangsweise durchgesetzt werden. Vielmehr werden in diesem Fall nur vorteilhafte Regelungen (wie etwa die Steuerbefreiungen nach § 4 Nr. 1 Buchst. a und b i.V.m. § 6 Abs. 1 Satz 1, § 6a Abs. 1 Satz 1 UStG11 oder der Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 1 Satz 1 UStG12) nicht angewendet. Nach dem allgemeinen juristischen Begriffs6 Vgl. ENGLISCH in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 17, Rz. 12, 33. 7 Vgl. ENGLISCH in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 17, Rz. 408 f., 413, 420, 431. Zu Nichtunternehmern auferlegten Pflichten s. WIDMANN, DStJG 32 (2009), S. 103 (115 ff.). 8 Vgl. WIDMANN, DStJG 32 (2009), S. 103 (109 ff.), zu Deklarations- und sonstigen Mitwirkungspflichten (dazu s.u. II.2.1.) sowie zu Nachweispflichten (dazu s.u. II.2.3.). 9 Allgemein zum Einfluss des Unions- und des Verfassungsrechts auf das deutsche Umsatzsteuerrecht s. MELLINGHOFF, UR 2013, 5 (5 ff.); ferner s. FISCHER, Die Rechtfertigung einer Umsatzbesteuerung und ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechten, 2007, speziell unter dem Gesichtspunkt der Steuerrechtfertigung. 10 Allgemein dazu vgl. GEIßLER, Der Unternehmer im Dienste des Steuerstaats, 2001, S. 210; HALLDORN, Der Unternehmer als Erfüllungsgehilfe des Staates, 1997, S. 80 ff.; KEMPER, UR 2015, 373 (373). 11 Vgl. REIß, Umsatzsteuerrecht, 13. Aufl. 2015, Rz. 191. 12 Vgl. REIß, Umsatzsteuerrecht, 13. Aufl. 2015, Rz. 326.
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verständnis werden solche „Pflichten“ als „Obliegenheiten“ bezeichnet.13 Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, gibt es aber auch für Obliegenheiten verfassungs- und unionsrechtliche Grenzen, so dass der Begriff der „Pflichten“ in diesem Beitrag Obliegenheiten einschließt.
II. Bestandsauaufnahme der umsatzsteuerlichen Pflichten des Unternehmers 1. Allgemeines Vor der Bestimmung der verfassungs- und unionsrechtlichen Grenzen (III.–VII.) sollte eine Bestandsaufnahme der umsatzsteuerlichen Pflichten des Unternehmers erfolgen, um die Relevanz dieser Grenzen zu verdeutlichen. Eine solche Bestandsaufnahme der Pflichten gegenüber dem Fiskus (2.) und anderen Unternehmern bzw. Verbrauchern (3.) kann im vorgegebenen Rahmen allerdings keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, sie muss dementsprechend kurz ausfallen. Neben den bestehenden Pflichten des Unternehmers ist im vorliegenden Zusammenhang auch zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber gelegentlich bewusst auf die Einführung von Pflichten für Unternehmer verzichtet (4., 5.). 2. Pflichten und Obliegenheiten gegenüber dem Fiskus 2.1 Deklarations-, Anzeige-, Aufzeichnungs- und Aufbewahrungspflichten als umsatzsteuerliche Mitwirkungspflichten Zu den umsatzsteuerlichen Pflichten des Unternehmers gegenüber dem Fiskus gehören zunächst mehrere Mitwirkungspflichten.14 Die wichtigsten Mitwirkungspflichten sind die Deklarationspflichten wie die allgemeine Pflicht zur Abgabe von Voranmeldungen (§ 18 Abs. 1 Satz 1 UStG) und Umsatzsteuererklärungen (§ 18 Abs. 3 Satz 1 UStG),15 ferner die besondere Pflicht zur Abgabe von zusammenfassenden Meldungen 13 Vgl. BFH, Urt. v. 6.12.2007 – V R 61/05, BStBl. II 2008, 695 = UR 2008, 436 – Rz. 33; BFH, Beschl. v. 1.8.2008 – V B 25/08, nv., Rz. 1, zur Obliegenheit zur Prüfung von Rechnungen durch den Leistungsempfänger; BFH, Beschl. v. 24.7.2012 – V B 76/11, BFH/NV 2012, 1840 – Rz. 8; BFH, Beschl. v. 9.1.2014 – XI B 11/13, BFH/NV 2014, 915 – Rz. 16, zur Obliegenheit zur Vorlage von Originalrechnungen im Vorsteuervergütungsverfahren nach § 18 Abs. 9 Satz 1 UStG i.V.m. §§ 59 ff. UStDV; allgemein zum Begriff der Obliegenheit s. OLZEN in Staudinger, BGB, Buch 2, Einleitung zum Schuldrecht, §§ 241–243, Neubearbeitung 2015, § 241 Rz. 120 ff.; SCHMIDT, Die Obliegenheiten, 1953, S. 3 ff. 14 Für einen ausführlicheren Überblick s. KEMPER, UR 2015, 373 ff. 15 Zur Steuerzahlungspflicht s.u. 2.2.
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(§ 18a Abs. 1 Satz 1 UStG) und gesonderten Erklärungen über innergemeinschaftliche Lieferungen (§ 18b Satz 1 UStG) sowie die Meldepflicht bei der Lieferung neuer Fahrzeuge (§ 18c Satz 1 UStG i.V.m. § 1 Abs. 1 Satz 1, § 3 FzgLiefgMeldV). Während die Pflicht zur Abgabe von Umsatzsteuererklärungen und – zumindest grundsätzlich16 – von Voranmeldungen unabhängig von ausgeführten Umsätzen gilt,17 greifen die zuletzt genannten Pflichten regelmäßig nur, wenn entsprechende Umsätze ausgeführt wurden.18 Zu den Deklarationspflichten kommen weitere Mitwirkungspflichten wie die Pflicht zur Anzeige des Beginns, des Wechsels und der Beendigung der unternehmerischen Tätigkeit (§ 138 Abs. 1, 1a, 1b AO), die Aufzeichnungspflichten (§ 22 Abs. 1 Satz 1 UStG), die gegenüber den allgemeinen Aufzeichnungspflichten (§§ 140–148 AO) spezieller sind,19 unter bestimmten Voraussetzungen die Pflicht zur Vorlage von Urkunden (§ 18d Satz 1 UStG) und zur Leistung von Sicherheiten (§ 18f Satz 1 UStG) sowie die Pflicht zur Aufbewahrung von Rechnungen (§ 14b Abs. 1 Satz 1 UStG),20 die gegenüber der allgemeinen Aufbewahrungspflicht (§ 146 Abs. 2 Satz 1, § 147 Abs. 1 AO) spezieller ist.21 2.2 Steuerzahlungspflicht Neben den Deklarations- und sonstigen Mitwirkungspflichten trifft den Unternehmer die Pflicht zur Zahlung der Umsatzsteuer, die auf die von ihm ausgeführten Umsätze entfällt (§ 18 Abs. 1 Satz 4, Abs. 4 Satz 1, 2
16 Bei einer Steuer von nicht mehr als 1000 Euro für das vorangegangene Kalenderjahr kann das Finanzamt den Unternehmer von der Pflicht zur Abgabe von Voranmeldungen und Entrichtung der Vorauszahlungen befreien (§ 18 Abs. 2 Satz 3 UStG). Dies ist insbesondere für Kleinunternehmer i.S.d. § 19 Abs. 1 Satz 1 UStG relevant, wenn sie auf die Anwendung der Kleinunternehmerregelung nach § 19 Abs. 2 Satz 1 UStG verzichten. Vgl. FRIEDRICH-VACHE in Reiß/Kraeusel/Langer (Hrsg.), UStG, § 19 Rz. 28 – Lfg. 113, Mai 2014; KORN in Bunjes, UStG, 14. Aufl. 2015, § 19 Rz. 1. 17 Vgl. BFH, Urt. v. 16.8.1962 – I 216, 217/61 U, BStBl. III 1962, 493; KRAEUSEL in Reiß/Kraeusel/Langer (Hrsg.), UStG, § 18 Rz. 207, 355 – Lfg. 84, Juni 2010; LEONARD in Bunjes, UStG, 14. Aufl. 2015, § 18 Rz. 3; TREIBER in Sölch/Ringleb, UStG, § 18 Rz. 9 – Lfg. 64, September 2010. 18 Vgl. LEONARD in Bunjes, UStG, 14. Aufl. 2015, § 18a Rz. 13; § 18b Rz. 3; § 18c Rz. 3. 19 Vgl. HEUERMANN in Sölch/Ringleb, UStG, § 22 Rz. 4 – Lfg. 73, September 2014. 20 Die umsatzsteuerliche Aufbewahrungspflicht trifft nicht nur Unternehmer, sondern unter bestimmten Voraussetzungen auch Verbraucher (§ 14b Abs. 1 Satz 4 Nr. 1, Satz 5 Nr. 1 UStG). 21 Vgl. STADIE, UStG, 3. Aufl. 2015, § 14b Rz. 2.
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UStG).22 Der Unternehmer zahlt die Umsatzsteuer entsprechend ihrem Charakter als indirekte Steuer als Steuerschuldner (§ 13a Abs. 1, 2, § 13b Abs. 5 UStG), obwohl Steuerträger (d.h. der eigentlich Belastete) der Verbraucher sein soll.23 Im Zusammenhang mit der Steuerzahlung ist ferner die Pflicht des Unternehmers zur Berichtigung bei Änderung der Bemessungsgrundlage nach § 17 Abs. 1 Satz 1 UStG zu nennen. 2.3 Nachweispflichten, insbesondere bei Lieferungen im grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr Keine Umsatzsteuer fällt an, wenn ein Umsatz steuerbefreit ist (§§ 4, 4b, 5 UStG). Von besonderer Relevanz sind dabei Steuerbefreiungen im grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr, die unter bestimmten Voraussetzungen bei Ausfuhrlieferungen (§ 4 Nr. 1 Buchst. a, § 6 Abs. 1 Satz 1 UStG) und innergemeinschaftlichen Lieferungen (§ 4 Nr. 1 Buchst. b, § 6a Abs. 1 Satz 1 UStG) zur Verwirklichung des Bestimmungslandprinzips24 gewährt werden. Das Vorliegen der Voraussetzungen der Steuerfreiheit ist nach den gesetzlichen Regelungen durch den Unternehmer nachzuweisen (§ 6 Abs. 4 Satz 1, § 6a Abs. 3 Satz 1 UStG),25 wofür das nationale deutsche Recht den sog. Buch- und Belegnachweis vorsieht (§ 6 Abs. 4 Satz 2 UStG, §§ 8 ff. UStDV, § 6a Abs. 3 Satz 2 UStG, §§ 17a ff. UStDV bzw. § 36 Abs. 5 Nr. 2 UStG, § 73 Abs. 1 und 2 UStDV). Als beson-
22 Die Pflicht zur Steuerzahlung stellt aufgrund der rechtlichen Ausgestaltung des Umsatzsteuerrechts, insbesondere der eigenen Steuerschuldnerschaft und der Abhängigkeit der Umsatzsteuer von den persönlichen Merkmalen des Unternehmers (beispielsweise beim Verzicht auf die Kleinunternehmerregelung nach § 19 Abs. 2 Satz 1 UStG oder auf Steuerbefreiungen nach § 9 Abs. 1 UStG), keinen klassischen Anwendungsfall der sog. Indienstnahme Privater dar. Vgl. DRÜEN, Die Indienstnahme Privater für den Vollzug von Steuergesetzen, 2012, S. 37 f., 121 ff. Dies ändert freilich nichts daran, dass auch hinsichtlich der dem Unternehmer auferlegten Pflichten verfassungsund unionsrechtliche Grenzen zu beachten sind. Speziell dazu s. FISCHER, Die Rechtfertigung einer Umsatzbesteuerung und ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechten, 2007, S. 160 ff.; WIDMANN in Tipke/Söhn (Hrsg.), Gedächtnisschrift Trzaskalik, 2005, S. 361 (366 ff.). 23 Vgl. LEIPOLD in Sölch/Ringleb (Hrsg.), UStG, § 13a Rz. 12 – Lfg. 66, September 2011; REIß in Lang (Hrsg.), Festschrift Tipke, Die Steuerrechtsordnung in der Diskussion, 1995, S. 437 (437 f.); REIß, Umsatzsteuerrecht, 13. Aufl. 2015, Rz. 9. 24 Vgl. LANGER in Reiß/Kraeusel/Langer (Hrsg.), UStG, § 6 Rz. 4 – Lfg. 97, April 2010; § 6a Rz. 4 – Lfg. 100, August 2012; STADIE in Rau/Dürrwächter, UStG, Vor §§ 4–9 Rz. 53 – Lfg. 145, Februar 2011. 25 Vgl. EuGH, Urt. v. 27.9.2007 – C-184/05 – Twoh International, EuGHE 2007, I-7928 = UR 2007, 782 – Rz. 26; EuGH, Urt. v. 7.12.2010 – C-285/09 – R, EuGHE 2010, I-12605 = UR 2011, 15 – Rz. 46; EuGH, Urt. v. 27.9.2012 – C-587/10 – VSTR, ECLI:EU:C:2012:592, UR 2012, 832 = HFR 2012, 1212 – Rz. 43.
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dere Herausforderung für Unternehmer hat sich dabei die sog. Gelangensbestätigung (§ 17a Abs. 2 Nr. 2 UStDV)26 zur Erlangung der Steuerfreiheit von innergemeinschaftlichen Lieferungen erwiesen. Hinsichtlich sonstiger Leistungen hat die Finanzverwaltung im Umsatzsteueranwendungserlass (Abschn. 3a.2 Abs. 9–11a UStAE) im Wege einer Verwaltungsanweisung Nachweispflichten begründet. 2.4 Pflichten im Zusammenhang mit dem Vorsteuerabzug Im Hinblick auf den Vorsteuerabzug hat der Unternehmer die Pflicht (Obliegenheit) zur Vorlage von Rechnungen i.S.d. §§ 14, 14a UStG (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 2 UStG). Bei Änderung der Bemessungsgrundlage (§ 17 Abs. 1 Satz 2 UStG) oder bei Änderung der für den Vorsteuerabzug maßgeblichen Verhältnisse (§ 15a Abs. 1 Satz 1 UStG) hat der Unternehmer die Pflicht zur Berichtigung der Vorsteuer. 2.5 Duldungs-/Mitwirkungspflicht bei Umsatzsteuer-Nachschau (§ 27b UStG) und Außenprüfung (§§ 193 ff. AO) Darüber hinaus unterliegt der Unternehmer Duldungs- und Mitwirkungspflichten bei der Umsatzsteuer-Nachschau (§ 27b Abs. 1 Satz 1 UStG) und der Außenprüfung (§ 193 Abs. 1 Satz 1 AO) wie der Pflicht zur Duldung des Betretens von Grundstücken, Betriebs- und ggf. Wohnräumen sowie der Pflicht zur Vorlage von Dokumenten, Zurverfügungstellung von gespeicherten Daten, etc. (§ 27b Abs. 1 Satz 1 und 2, Abs. 2 Satz 1, 2 und 3 UStG; § 200 Abs. 1 Satz 1 und 2, Abs. 2 Satz 1 und 2, Abs. 3 Satz 2 AO). 2.6 Pflichten in Bezug auf die Beachtung des Missbrauchsverbots Schließlich ist zu berücksichtigen, dass vorteilhafte umsatzsteuerrechtliche Regelungen wie Steuerbefreiungen oder der Vorsteuerabzug nur in Anspruch genommen werden dürfen, wenn dies nicht rechtsmissbräuchlich ist. Hat das Finanzamt objektive Umstände nachgewiesen oder substantiiert vorgetragen, wonach der Unternehmer wusste oder hätte wissen müssen, dass er Teil eines Umsatzsteuerbetrugsmodells war, muss der Unternehmer nach Auffassung der Finanzverwaltung – und evtl. im Widerspruch zur Rechtsprechung des Europäischen Ge-
26 Vgl. BMF, Schr. v. 16.9.2013 – IV D 3 - S 7141/13/10001 – DOK 2013/0828720, BStBl. I 2013, 1192; LANGER/VON STREIT, DStR 2013, 2421; MATHEIS, UVR 2012, 188; MATHEIS/WEIN, UVR 2013, 314; MAUNZ, MwStR 2013, 582; STREIT/FIETZ, Stbg 2014, 31; UNKELBACH-TOMCZAK, SAM 2014, 16.
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richtshofs (EuGH)27 – dies durch substantiierte Argumente und Beweise widerlegen.28 Die Finanzverwaltung gibt in unveröffentlichten, dem Verfasser aber dennoch bekannten „Merkblättern“ für ausgewählte Steuerpflichtige Hinweise darauf, welche Umstände auf die Einbindung des Unternehmers in ein Umsatzsteuerbetrugsmodell hindeuten (sollen). Die Zahl der zu berücksichtigenden und ggf. vom Unternehmer zu untersuchenden Umstände ist mittlerweile beträchtlich. 3. Pflichten gegenüber anderen Unternehmern bzw. Verbrauchern 3.1 Ausstellung von Rechnungen Neben den Pflichten gegenüber dem Fiskus treffen den Unternehmer auch Pflichten gegenüber anderen Unternehmern und Verbrauchern, insbesondere die Pflicht zur Ausstellung von Rechnungen über steuerpflichtige Umsätze (§ 14 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, Nr. 2 Satz 2 UStG). Diese Pflicht hat wegen ihrer Bedeutung für den Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 2 UStG zunächst eine öffentlich-rechtliche Dimension.29 Ihre Verletzung ist deshalb eine Ordnungswidrigkeit (§ 26a Abs. 1 Nr. 1 UStG). Daneben hat die Pflicht zur Ausstellung von Rechnungen aber auch eine zivilrechtliche Dimension in Gestalt einer Nebenpflicht30 i.S.d. § 241 Abs. 2 BGB, die sich aus dem dem maßgeblichen Umsatz zu-
27 Vgl. EuGH, Urt. v. 13.2.2014 – C-17/13 – Maks Pen EOOD – ECLI:EU:C: 2014:191, HFR 2014, 380 – Rz. 29; EuGH, Urt. v. 18.12.2014 – C-131/13 – Schoenimport „Italmoda“ – ECLI:EU:C:2014:2217, UR 2015, 106 – Rz. 43 ff.; noch nicht so deutlich EuGH, Urt. v. 11.5.2006 – C-384/04 – Federation of Technological Industries, EuGHE 2006, I-4191 = UR 2006, 410 – Rz. 32. Allgemein zu den diesbezüglichen Anforderungen des Unionsrechts s. HENZE, DStJG 32 (2009), S. 247 (247 ff.); LANG, SWI 2006, 273 (273 ff.); PISTONE in de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, 2011, S. 381 (381 ff.); SCHÖN in Kirchhof/Nieskens (Hrsg.), Festschrift Reiß, 2008, S. 571 (571 ff.); WEBER in de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, 2011, S. 395 (395 ff.). Zur speziellen Problematik von sog. Umsatzsteuerkarusellen s. GRUBE, MwStR 2013, 8 ff.; ferner mit Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Sicht und zum Verhältnis zu § 25d EStG s. DRÜEN, MwStR 2015, 841 (841 ff.); REIß in Fischer/Mellinghoff (Hrsg.), Festgabe List, 2015, S. 148 (168 ff., 175 f.). 28 Vgl. BMF, Schr. v. 7.2.2014 – IV D 2 - S 7100/12/10003 – DOK 2014/0116307, BStBl. I 2014, 271, zum Vorsteuerabzug. 29 Vgl. KORN in Bunjes, UStG, 14. Aufl. 2015, § 14 Rz. 2; STADIE in Rau/Dürrwächter, UStG, § 14 UStG Rz. 57, 65, 68 – Lfg. 156, September 2013. 30 Vgl. Abschn. 14.1 Abs. 5 Satz 3 UStAE; ENGLISCH in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 17 Rz. 293; LANGER in Reiß/Kraeusel/Langer (Hrsg.), § 14 Rz. 122 – Lfg. 100, August 2012.
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grundliegenden – regelmäßig vertraglichen – Schuldverhältnis ergibt und deren Erfüllung vor den ordentlichen Gerichten einzuklagen ist.31 3.2 Bestätigungen im grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr Schließlich kann der Unternehmer zivil-, insbesondere vertragsrechtlich verpflichtet sein, einen anderen Unternehmer bei der Erfüllung von dessen Nachweispflichten zu unterstützen, etwa durch Bestätigungen zur Erlangung von Steuerbefreiungen im Ausland (wie im umgekehrten Fall die sog. Gelangensbestätigung nach deutschem Recht, § 17a Abs. 2 Nr. 2 UStDV32). 4. Vermeidung von Mitwirkungspflichten durch Typisierungen und systematische Ausnahmen 4.1 Hintergrund Die zahlreichen umsatzsteuerlichen Pflichten des Unternehmers erfüllen allesamt keinen Selbstzweck, sondern dienen der Sicherstellung der gesetzmäßigen Erhebung der Umsatzsteuer, die wiederum das grundsätzliche Ziel der Besteuerung des Verbrauchers (nicht des Unternehmers) im Bestimmungsland als dem mutmaßlichen und für die Umsatzsteuer als Verbrauchsteuer33 maßgeblichen Verbrauchsort verfolgt.34 Manchmal 31 Vgl. BT-Drucks 15/1562, S. 48; BR-Drucks. 630/03, S. 81 (zu Nr. 14); BGH, Urt. v. 11.12.1974 – VIII ZR 186/73, NJW 1975, 310; Abschn. 14.1 Abs. 5 Satz 2 UStAE; ENGLISCH in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2013, § 17 Rz. 293; KORN in Bunjes, UStG, 14. Aufl. 2015, § 14 Rz. 2, 24; LANGER in Reiß/Kraeusel/Langer (Hrsg.), UStG, § 14 Rz. 122 – Lfg. 100, August 2012; REIß, Umsatzsteuerrecht, 13. Aufl. 2015, Rz. 324; STADIE, UStG, 3. Aufl. 2015, § 14 Rz. 2, 28; STADIE in Rau/Dürrwächter, UStG, § 14 Rz. 65, 67 f. – Lfg. 156, September 2013; WAGNER in Sölch/Ringleb, UStG, § 14 Rz. 181 – Lfg. 70, Juli 2013. 32 Vgl. MAUNZ, MwStR 2013, 582 (585), wenn auch für den umgekehrten Fall des Anspruchs eines inländischen Unternehmers auf Erteilung einer sog. Gelangensbestätigung nach § 17a Abs. 2 Nr. 2 UStDV. 33 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 4.2.1958 – 2 BvL 31/56, 2 BvL 33/56, BVerfGE 7, 244 (260); BURMESTER, StuW 1993, 221 (222); ENGLISCH in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 17 Rz. 10; REIß, DStJG 13 (1990), S. 1 (3 ff.); REIß, DStJG 32 (2009), S. 9 (11 ff.); REIß in Reiß/Kraeusel/Langer (Hrsg.), UStG, Einführung Rz. 23, 43 ff. – Lfg. 69, Dezember 2007; SÖHN, StuW 1975, 1 (2 ff.); TIPKE, Die Steuerrechtsordnung, Band 2, 2. Aufl. 2003, S. 975 ff. 34 Vgl. ENGLISCH, DStJG 32 (2009), S. 165 (167 ff.); ENGLISCH in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 17 Rz. 393, 433; REIß in Reiß/Kraeusel/Langer (Hrsg.), UStG, Einführung Rz. 30 – Lfg. 69, Dezember 2007; REIß in Tipke/ Seer/Hey/Englisch (Hrsg.), Festschrift J. Lang, Gestaltung der Steuerrechtsordnung, 2010, S. 861 (869 f.); STADIE in Rau/Dürrwächter, UStG, Einführung Rz. 735 ff. – Lfg. 154, April 2013.
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verzichtet der Gesetzgeber jedoch darauf, diese Zielsetzung vollständig zu verwirklichen bzw. eine entsprechende Besteuerung sicherzustellen, um dadurch die Einführung weiterer, ggf. unverhältnismäßiger Mitwirkungspflichten für Unternehmer zu vermeiden.35 Freilich ist ein solcher Verzicht auf die Auferlegung von Mitwirkungspflichten keine Wohltat des Gesetzgebers. Vielmehr dürfte er – zumindest größtenteils – dem Umstand geschuldet sein, dass der Finanzverwaltung die personellen und sächlichen Ressourcen sowie die tatsächlichen – nicht die rechtlichen36 – Möglichkeiten zur effektiven Zusammenarbeit mit den Finanzverwaltungen anderer Staaten fehlen, um die Einhaltung entsprechender Mitwirkungspflichten zu überwachen. 4.2 Typisierungen Der Verzicht auf die Auferlegung von Mitwirkungspflichten erfolgt zunächst bei typisierenden Regelungen wie beispielsweise bei der Lieferung von Gegenständen nach § 3c Abs. 1 Satz 1 UStG an Verbraucher, wenn im Falle einer („innergemeinschaftlichen“) Beförderung oder Versendung durch den Unternehmer die Lieferung dort als ausgeführt gilt, wo die Beförderung oder Versendung endet, oder bei der kurzfristigen Vermietung eines Beförderungsmittels nach § 3a Abs. 3 Nr. 2 UStG, wenn diese an dem Ort ausgeführt wird, an dem das Beförderungsmittel tatsächlich übergeben wurde. Der Gesetzgeber geht in diesem Fällen davon aus, dass der „Verbrauch“ auch dort erfolgt, wo die Beförderung bzw. Versendung endet bzw. das Beförderungsmittel übergeben wird, und verzichtet auf die genaue Feststellung des Verbrauchsorts.37 Dasselbe gilt bei sonstigen Leistungen an andere Unternehmer nach § 3a Abs. 2 Satz 1 UStG.38 Weitere Beispiele finden sich in den Ortsbestimmungsregeln in § 3a Abs. 3, 4, 6–8,39 § 3b, § 3e UStG für andere sonstige Leistungen.40 In vielen Fällen
35 Vgl. ENGLISCH, DStJG 32 (2009), S. 165 (189); ENGLISCH in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 17 Rz. 396 f., 421 f., 431, 433, 440. 36 Dazu s. Verordnung (EU) Nr. 904/2010 des Rates v. 7.10.2010 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und die Betrugsbekämpfung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer (Neufassung), ABl. L 268 v. 12.10.2010, S. 1, die möglicherweise nicht alle praktischen Schwierigkeiten der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit beseitigen kann. 37 Vgl. ENGLISCH in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 17 Rz. 396; ferner REIß in Rau/Dürrwächter, UStG, § 3c Rz. 11 – Lfg. 82, April 1995. 38 Vgl. ENGLISCH in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2013, § 17 Rz. 433, 440. 39 Zu § 3a Abs. 5 UStG s.u. 4.3. 40 Vgl. ENGLISCH in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 17 Rz. 440 ff.; REIß in Tipke/Seer/Hey/Englisch (Hrsg.), Festschrift J. Lang, Gestaltung der Steuerrechtsordnung, 2010, S. 861 (870).
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wird die Einschätzung des Gesetzgebers zutreffend sein, sicher ist dies jedoch nicht. Ungeachtet dessen können aber auch in diesen Fällen noch Mitwirkungspflichten bestehen, die ihrerseits unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit problematisch sind. Dies gilt beispielsweise bei („innergemeinschaftlichen“) Beförderungs- und Versendungslieferungen i.S.d. § 3c Abs. 1 Satz 1 UStG, die Deklarationspflichten im anderen Staat als dem Staat mit dem im Gesetz festgelegten Ort der Lieferung zur Folge haben können.41 4.3 Systematische Ausnahmen Bisweilen geht der Gesetzgeber beim Verzicht auf die Auferlegung von Mitwirkungspflichten zur genauen Feststellung des Verbrauchsorts sogar noch einen Schritt weiter. Während bei den typisierenden Regelungen eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass der tatsächliche Verbrauchsort dort liegt, wo das Gesetz ihn typisierend festlegt, besteht bei anderen Regelungen eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Verbrauchsort und der gesetzlich festgelegte Leistungsort auseinanderfallen und damit faktisch eine systematische Ausnahme vom Bestimmungslandprinzip besteht. Dies gilt beispielsweise für die Lieferung von Gegenständen an Verbraucher durch Beförderung oder Versendung nach § 3 Abs. 6 Satz 1 UStG,42 die grundsätzlich43 dort als ausgeführt gilt, wo die Beförderung oder Versendung beginnt, oder für die Erbringung von sonstigen Leistungen an Verbraucher nach § 3a Abs. 1 Satz 1 UStG,44 die grundsätzlich45 an dem Ort ausgeführt werden, von dem aus der Unternehmer sein Unternehmen betreibt. 41 Vgl. ENGLISCH, DStJG 32 (2009), S. 165 (192 ff.); REIß in Nieskens (Hrsg.), Umsatzsteuer-Kongress-Bericht, 2007, S. 13 (41). Die Problematik wird durch das Erfordernis des Überschreitens der Lieferschwelle nach § 3c Abs. 3 Satz 1 UStG abgemildert. 42 Vgl. ENGLISCH, DStJG 32 (2009), S. 165 (200 ff.); ENGLISCH in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 17 Rz. 421 f.; REIß, Umsatzsteuerrecht, 13. Aufl. 2015, Rz. 86, 91. 43 Eine bedeutsame Ausnahme gilt für den Erwerb „neuer Fahrzeuge“ i.S.d. § 1b Abs. 3 UStG, der in jedem Fall – also auch bei Verbrauchern als Erwerber – zu einer Erwerbsbesteuerung im Bestimmungsland als innergemeinschaftlicher Erwerb i.S.d. § 1a Abs. 1 UStG führt (§ 1b Abs. 1, § 3d Satz 1 UStG). Umgekehrt ist die Lieferung „neuer Fahrzeuge“ in jedem Fall steuerfrei (§ 2a Satz 1, § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c UStG). Vgl. ENGLISCH in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 17 Rz. 423; REIß in Lang (Hrsg.), Festschrift Tipke, Die Steuerrechtsordnung in der Diskussion, 1995, S. 437 (447); REIß, Umsatzsteuerrecht, 13. Aufl. 2015, Rz. 178, 193. 44 Vgl. ENGLISCH in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 17 Rz. 433, 439. 45 Eine bedeutsame Ausnahme gilt ab dem 1.1.2015 für sonstige Leistungen auf dem Gebiet der Telekommunikation, Rundfunk- und Fernsehdienstleis-
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4.4 Folgerungen In den Fällen von Typisierungen und systematischen Ausnahmen zur Vermeidung von Mitwirkungspflichten stellt sich die Frage nach den verfassungs- bzw. unionsrechtlichen Grenzen für umsatzsteuerliche Pflichten des Unternehmers naturgemäß nicht. Jedoch kommt es im Falle systematischer Ausnahmen zu Abweichungen von der grundlegenden Entscheidung für das Bestimmungslandprinzip im Sinne eines Verbrauchsortprinzips; im Falle von Typisierungen kann es zu solchen Abweichungen kommen. Zur Vermeidung von unverhältnismäßigen Mitwirkungspflichten für Unternehmer und/oder zur Vermeidung der Unadministrierbarkeit des Umsatzsteuerrechts kann dies bis zu einem bestimmten Grad hingenommen werden. Die Möglichkeit von Typisierungen und systematischen Ausnahmeregelungen darf aber nicht generell als milderes Mittel im Vergleich zu Mitwirkungspflichten angesehen werden mit der Folge, dass die Erforderlichkeit und damit die Verhältnismäßigkeit von Mitwirkungspflichten nicht ohne Weiteres mit Hinweis auf entsprechende Regelungen verneint werden darf. Umgekehrt darf dem Unternehmer im Hinblick auf die mit der Erfüllung von Mitwirkungspflichten verbundenen Belastungen nicht entgegengehalten werden, dass diese noch größer sein könnten, wenn der Gesetzgeber in den genannten Fällen nicht auf die Auferlegung von Mitwirkungspflichten verzichten würde. Richtigerweise ist nach einer ausgewogenen Balance zwischen der Verwirklichung der grundlegenden Prinzipien des Umsatzsteuerrechts, wie des Bestimmungslandprinzips, einerseits und der Vermeidung unverhältnismäßiger Pflichten für den Unternehmer andererseits zu suchen.46 5. Kleinunternehmerregelung Im Zusammenhang mit der Vermeidung von Mitwirkungspflichten ist auch die Kleinunternehmerregelung in § 19 UStG zu nennen, die neben der Verwaltungsvereinfachung47 auch der Vermeidung unverhältnis-
tungen sowie auf elektronischem Weg erbrachte sonstige Leistungen, die an dem Ort ausgeführt werden, an dem der Leistungsempfänger seinen Wohnsitz, gewöhnlichen Aufenthalt oder Sitz hat (§ 3a Abs. 5 Sätze 1 und 2 UStG). 46 Vgl. ENGLISCH in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 17 Rz. 397. 47 Vgl. BFH, Beschl. v. 28.9.1993 – V B 90/93, UR 1994, 279 = HFR 1994, 206; FRIEDRICH-VACHE in Reiß/Kraeusel/Langer (Hrsg.), UStG, § 19 Rz. 5 – Lfg. 113, Mai 2014; KORN in Bunjes, UStG, 14. Aufl. 2015, § 19 Rz. 1; SCHÜLER-TÄSCH in Sölch/Ringleb, § 19 Rz. 2 – Lfg. 72, April 2014; STADIE in Rau/Dürrwächter, UStG, § 19 Rz. 2 – Lfg. 154, April 2013.
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mäßiger administrativer Belastungen des Unternehmers dient,48 indem zahlreiche – zumindest potentiell – belastende Regelungen nicht angewendet werden, wenn auch um den Preis des neutralitätsprinzipwidrigen49 Ausschlusses des Vorsteuerabzugs50 (§ 19 Abs. 1 Satz 4 UStG).51
III. Nationales Verfassungsrecht und/oder Unionsrecht als Prüfungsmaßstab 1. Bestimmung des Prüfungsmaßstabs vor dem Hintergrund der Harmonisierung des Umsatzsteuerrechts innerhalb der Europäischen Union Die Frage nach den verfassungs- und unionsrechtlichen Grenzen für die – hier nur überblicksartig dargestellten – umsatzsteuerlichen Pflichten des Unternehmers52 kann nur beantwortet werden, wenn vorher der jeweils anzulegende Prüfungsmaßstab bestimmt worden ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das deutsche Umsatzsteuerrecht aufgrund unionsrechtlicher Vorgaben in der Mehrwertsteuersystemrichtlinie53 (MwStSystRL) und in anderen Rechtsakten wie der Durchführungsverordnung zur Mehrwertsteuersystemrichtlinie54 (Mehrwertsteuerdurchführungsverordnung; MwStDVO) weitgehend harmonisiert ist. Es wird zu zeigen sein, dass die Grenzen für die umsatzsteuerlichen Pflichten des Unternehmers trotz bzw. wegen der Harmonisierung sowohl aus dem Verfassungsrecht als auch aus dem Unionsrecht entnommen werden müssen.
48 Vgl. BT-Drucks. IV/1590, S. 28 f.; ferner ENGLISCH in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 17 Rz. 19, 69; wohl auch FRIEDRICH-VACHE in Reiß/Kraeusel/ Langer (Hrsg.), § 19 Rz. 5 – Lfg. 113, Mai 2014. 49 Vgl. ENGLISCH in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 17 Rz. 69; FRIEDRICHVACHE in Reiß/Kraeusel/Langer (Hrsg.), UStG, § 19 Rz. 5 – Lfg. 113, Mai 2014. 50 Vgl. FRIEDRICH-VACHE in Reiß/Kraeusel/Langer (Hrsg.), § 19 Rz. 27 – Lfg. 113, Mai 2014. 51 Die Pflicht zur Abgabe von Umsatzsteuerklärungen nach § 18 Abs. 3 Satz 1 UStG bleibt jedoch erhalten. Vgl. KORN in Bunjes, UStG, 14. Aufl. 2015, § 19 Rz. 1. Von der ebenfalls fortbestehenden Pflicht zur Abgabe von Voranmeldungen nach § 18 Abs. 1 Satz 1 UStG kann jedoch unter bestimmten Voraussetzungen befreit werden; s.o. 2.1.; ferner vgl. FRIEDRICH-VACHE in Reiß/Kraeusel/Langer (Hrsg.), § 19 Rz. 228 – Lfg. 113, Mai 2014; Korn in Bunjes, UStG, 14. Aufl. 2015, § 19 Rz. 1. 52 S.o. II. 53 Richtlinie 2006/112/EG des Rates v. 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, ABl. L 347 v. 11.12.2006, S. 1. 54 Durchführungsverordnung (EU) Nr. 282/2011 des Rates v. 15.11.2011 zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, ABl. L 77 v. 23.3.2011, S. 1.
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2. Unionsrechtliche Anforderungen der Ermächtigungsgrundlage, der Mehrwertsteuersystemrichtlinie und der Grundfreiheiten als Prüfungsmaßstab 2.1 Inhaltliche Anforderungen der Ermächtigungsgrundlage In Bezug auf die unionsrechtlichen Grenzen kann man zunächst danach fragen, ob die Mehrwertsteuersystemrichtlinie den Vorgaben ihrer Ermächtigungsgrundlage in Art. 93 EGV (jetzt: Art. 113 AEUV) entspricht. Danach müssen die Rechtsakte, die auf dieser Grundlage erlassen werden, für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts und zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen55 notwendig sein. In Bezug auf die umsatzsteuerlichen Pflichten des Unternehmers sind diese auf die Verwirklichung des Binnenmarkts bezogenen Voraussetzungen nur erfüllt, wenn durch die Harmonisierung der Umsatzsteuer die Befolgungskosten für Unternehmer reduziert und diesen gerade nicht im Einzelnen oder in ihrer Gesamtheit unverhältnismäßige (Mitwirkungs-)Pflichten auferlegt werden.56 Eine entsprechende Kompetenzwidrigkeit der Mehrwertsteuersystemrichtlinie ist jedoch nicht einfach zu bejahen, da die umsatzsteuerlichen Pflichten des Unternehmers teilweise durch rein nationales Recht begründet oder in Ausfüllung eines Umsetzungsspielraums geschaffen bzw. ausgestaltet werden. Die Grenzen der umsatzsteuerlichen Pflichten des Unternehmers, zumal die unionsrechtlichen, sind vor diesem Hintergrund vorrangig in anderen Bereichen des primären und sekundären Unionsrechts sowie des nationalen Verfassungsrechts zu suchen. 2.2 Inhaltliche Anforderungen der Mehrwertsteuersystemrichtlinie Dagegen bildet die Mehrwertsteuersystemrichtlinie als solche eindeutig eine Grenze der umsatzsteuerlichen Pflichten des Unternehmers, da seine Pflichten von dieser gedeckt sein müssen.57 Jedoch kann die Mehrwertsteuersystemrichtlinie nur für solche Pflichten des Unternehmers eine Grenze sein, für die sie entsprechende Vorgaben enthält. Dies ist im Einzelfall zu prüfen und soll hier aus Zeit-/Platzgründen nicht weiter vertieft werden.
55 Die zweite Voraussetzung wurde erst durch den Vertrag von Lissabon eingeführt, allerdings ohne inhaltliche Änderung. Vgl. DÜRRSCHMIDT, NJW 2010, 2086 (2087); ferner WALDHOFF in Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 113 Rz. 1. 56 Vgl. ENGLISCH in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 17 Rz. 6. 57 Vgl. ENGLISCH in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 17 Rz. 6, 8; REIß, Umsatzsteuerrecht, 13. Aufl. 2015, Rz. 13.
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2.3 Unionsrechtliche Grundfreiheiten Ebenso bedeutsam wie die sekundärunionsrechtlichen Vorgaben der Mehrwertsteuersystemrichtlinie58 sind die primärunionsrechtlichen Grundfreiheiten des AEUV, die grundsätzlich auch hinsichtlich der inhaltlichen Ausgestaltung der Mehrwertsteuersystemrichtlinie durch den Unionsgesetzgeber59 und bei der Ausfüllung von Umsetzungsspielräumen in der Mehrwertsteuersystemrichtlinie durch die Mitgliedstaaten60 zu beachten sind. Die meisten umsatzsteuerlichen Pflichten des Unternehmers dürften die Vorgaben der Grundfreiheiten – zumindest überwiegend – erfüllen, da sie regelmäßig diskriminierungs- und beschränkungsfrei auferlegt werden.61 Auf die Besprechung von Einzelheiten muss hier allerdings verzichtet werden. 3. Verfassungs- und unionsrechtliche Grundrechte als Prüfungsmaßstab 3.1 Grundlagen Neben den Grundfreiheiten62 sind auch die Grundrechte als Grenze für die umsatzsteuerlichen Pflichten des Unternehmers zu beachten. Während der verfassungsrechtliche Grundrechtsschutz auf die Grundrechte des Grundgesetzes beschränkt ist, ist der unionsrechtliche Grundrechts58 S.o. 2.2. 59 Vgl. EuGH, Urt. v. 26.10.2010 – C-97/09 – Schmelz, EuGHE 2010, I-10465 = UR 2011, 32 – Rz. 50. 60 Vgl. MELLINGHOFF, UR 2013, 5 (10); ferner Erwägungsgrund 4 zur MwStSystRL; REIß, DStJG 32 (2009), S. 9 (16), jeweils mit dem Hinweis auf die Erforderlichkeit mitgliedstaatlicher Vorschriften über die Umsatzsteuern, durch die u.a. der freie Waren- und Dienstleistungsverkehr nicht behindert wird, der zusammen mit anderen Grundfreiheiten nach Art. 26 Abs. 2 AEUV den Binnenmarkt konstituiert; wohl auch Schlussanträge der Generalanwältin KOKOTT v. 17.6.2010 – C-97/09 – Schmelz, EuGHE 2010, I-10465 – Rz. 43; allgemein dazu s. DÜRRSCHMIDT, EuZW 2005, 229 (230). Letztlich geht es um eine Bestimmung der Grenzen der Umsetzungsspielräume im Rahmen einer primärrechtskonformen Auslegung der die Umsetzungsspielräume begründenden sekundärrechtlichen Regelungen. 61 Dies dürfte auch für die Nachweispflichten zur Erlangung der Steuerbefreiung von Ausfuhr- und innergemeinschaftlichen Lieferungen gelten, da durch diese die Voraussetzungen von vorteilhaften Regelungen überprüft werden sollen, die es zur Verwirklichung des Bestimmungslandprinzips nur im grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr gibt. Die Verwirklichung des Bestimmungslandprinzips ist – sofern man überhaupt einen Eingriff annimmt – ausreichender Rechtfertigungsgrund für die Beschränkung der Steuerbefreiung auf grenzüberschreitende Umsätze. Zu grundfreiheitsrechtlich problematischen Konstellationen s. WIDMANN, UR 2012, 32 (32 ff.). 62 S.o. 2.3.
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schutz spätestens seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon vielfältig.63 Grundrechte werden zunächst durch die Charta der Grundrechte64 (GRCh) geschützt, die nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 EUV anerkannt wird und dadurch denselben Rang wie das unionsrechtliche Primärrecht erlangt.65 Ferner tritt die EU der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) bei (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 EUV), so dass nach Wirksamwerden des – derzeit nicht absehbaren66 – Beitritts auch die Grundrechte der EMRK zu beachten sind.67 Schließlich gelten die Gemeinschaftsgrundrechte, die vom EuGH aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten sowie aus der EMRK als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts abgeleitet wurden,68 auch nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon als ein Teil der Unionsgrundrechte (Art. 6 Abs. 3 EUV).69 63 Ausführlich zur unionsrechtlichen Grundrechtsordnung nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon s. PACHE/RÖSCH, EuR 2009, 769 (769 ff.); STREINZ, ZÖR 68 (2013), 663 (663 ff.); ferner BRITZ, EuGRZ 2015, 275 (275 ff.); DOBRATZ, UR 2014, 425 (425 f.); DÜRRSCHMIDT, NJW 2010, 2086 (2088 f.) m.w.N.; ENGLER, Steuerverfassungsrecht im Mehrebenensystem, 2014; FRENZEL, Der Staat 53 (2014), 1 (1 ff.); KINGREEN, JZ 2013, 801 (802); F. KIRCHHOF, EuR 2014, 267 (267 ff.); KIRCHHOF, NVwZ 2014, 1537 (1537 ff.); LATZEL, EuZW 2015, 658 (658 ff.); LENAERTS, EuR 2015 3 (3 ff.); LUDWIGS, EuGRZ 2014, 273 (273 ff.); VOßKUHLE, EuGRZ 2014, 165 (165 ff.); VOßKUHLE, RdA 2015, 336 (336 ff.); zum Grundrechtsschutz vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon s. BLECKMANN, Nationale Grundrechte im Anwendungsbereich des Rechts der Europäischen Union, 2011; STREINZ, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1989. 64 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2010/C 83/02), ABl. C 83 v. 30.3.2010, S. 389; vorher: Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2007/C 303/01), ABl. C 303 v. 14.12.2007, S. 1 (angepasste Fassung v. 12.12.2007). 65 Vgl. HUBER, NJW 2011, 2385 (2385); STREINZ in Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Band VI/1, 2010, § 151 Rz. 8; STREINZ, ZÖR 68 (2013), 663 (666); STREINZ/MICHL in Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 6 EUV Rz. 2. 66 Zum Hintergrund s. EuGH, Gutachten v. 18.12.2014 – 2/13. 67 Dazu s. STREINZ/MICHL in Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 6 EUV Rz. 21 ff.; ferner s. MICHL, Die Überprüfung des Unionsrechts am Maßstab der EMRK – Individualgrundrechtsschutz im Anwendungsbereich des Unionsrechts unter den Vorzeichen des Beitritts der EU zur EMRK, 2014; SCHNEIDERS, Die Grundrechte der EU und die EMRK, 2009. 68 Zu den Gemeinschaftsgrundrechten (jetzt: Unionsgrundrechten) s. OSTERMANN, Entwicklung und gegenwärtiger Stand der europäischen Grundrechte nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sowie des Gerichts erster Instanz, 2008; SCHWARZE, NJW 2005, 3459 (3459 ff.). 69 Vgl. DOBRATZ, UR 2014, 425 (425); PACHE/RÖSCH, NVwZ 2008, 473 (475); SCHWARZE, EuR 2009, 9 (17); STREINZ, ZÖR 68 (2013), 663 (666 f.); STREINZ/ MICHL in Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 6 EUV Rz. 24 ff.
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Wegen ihrer Visibilität und der rangmäßigen Aufwertung steht mittlerweile die Grundrechtecharta im Zentrum des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes.70 Die Grundrechtecharta gilt nach ihrem Art. 51 Abs. 1 Satz 1 „für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ (Hervorhebung durch den Verfasser).71 Die Frage, wann das Recht der Union in diesem Sinne „durchgeführt“ wird mit der Folge der Anwendbarkeit der Grundrechtecharta und wann nationale Regelungen mangels „Durchführung des Rechts der Union“ am Maßstab der Grundrechte der Verfassungen der Mitgliedstaaten wie der Grundrechte des Grundgesetzes zu messen sind, ist vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) und vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) noch nicht für alle Bereiche übereinstimmend geklärt.72 3.2 Regelungen zur Umsetzung zwingender Vorgaben des Unionsrechts Einigkeit dürfte allerdings dahingehend bestehen, dass Regelungen des nationalen Rechts, die auf zwingenden Vorgaben des Unionsrechts wie der Mehrwertsteuerdurchführungsverordnung oder – zumindest teilweise – der Mehrwertsteuersystemrichtlinie beruhen, eine „Durchführung des Unionsrechts“ in diesem Sinne darstellen mit der Folge, dass solche Regelungen ausschließlich an den Grundrechten der Charta zu messen sind.73 Dies entspricht dem insbesondere vom EuGH geforderten Vorrang des Unionsrechts,74 der, wie er in der Entscheidung in der Rechtssache Melloni75 bestätigt hat, auch das nationale Verfassungsrecht und damit auch die nationalen Grundrechte erfasst.76 Diesen Vorrang des unions70 Vgl. GRIEBEL, DVBl. 2014, 204 (205); LANGER, NVwZ 2014, 169 (169); STREINZ/ MICHL in Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 6 EUV Rz. 35; THYM, NVwZ 2013, 889 (889 f.). 71 Ausführlich zu Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh s. NUSSER, Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte, 2011. 72 Optimistisch im Hinblick auf eine künftige Klärung VON DANWITZ, EuGRZ 2013, 253 (261). 73 Vgl. ENGLISCH in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2013, § 4 Rz. 3, 36, 55; § 17 Rz. 8; F. KIRCHHOF in Brandt (Hrsg.), 8. und 9. Deutscher Finanzgerichtstag 2011/2012, 2013, S. 23 (35). 74 Grundlegend EuGH, Urt. v. 15.7.1964 – 6/64 – Costa/E.N.E.L., EuGHE 1964, 1253 (1269 f.). 75 Vgl. EuGH, Urt. v. 26.2.2013 – C-399/11 – Melloni, ECLI:EU:C:2013:107, NJW 2013, 1215 – Rz. 59. 76 Ferner THYM, NVwZ 2013, 889 (891 f.). Im Übrigen dürfte sich dies auch zwanglos aus der sogleich behandelten Rechtsprechung zu Regelungen zur Ausfüllung von Umsetzungsspielräumen ergeben; s.u. 3.3. Die Entscheidung
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rechtlichen Grundrechtsschutzes im Falle zwingender Vorgaben des Unionsrechts auf dem Gebiet des Mehrwert-/Umsatzsteuerrechts erkennt grundsätzlich auch das BVerfG an und verzichtet auf eine Prüfung entsprechender nationaler Regelungen am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, „solange die EU einen wirksamen Schutz der Grundrechte gewährleistet, der dem Grundrechtsschutz nach dem Grundgesetz im Wesentlichen gleichkommt“.77 Dieser Vorbehalt, der in der Tradition der sog. Solange-Rechtsprechung78 des BVerfG steht, dürfte derzeit angesichts des gegenwärtigen Systems des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes79 nicht greifen.80 3.3 Regelungen zur Ausfüllung von Umsetzungsspielräumen Nicht mehr eindeutig ist die Rechtslage aber im Hinblick auf nationale Regelungen, die zwar grundsätzlich in den Anwendungsbereich von unionsrechtlichen Regelungen (wie etwa der Mehrwertsteuersystemrichtlinie) fallen, für die das Unionsrecht den Mitgliedstaaten aber einen „Umsetzungsspielraum“ belässt. In seiner vielbeachteten Entscheidung in der Rechtssache Åkerberg Fransson81 versteht der EuGH den bereits erwähnten Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh als Bestätigung seiner (früheren) Rechtsprechung in der Rechtssache ERT,82 wonach „die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten
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in der Rechtssache Melloni ist von besonderer Brisanz, weil nach ihr die Unionsgrundrechte im Rahmen ihres – vom EuGH offensichtlich weit verstandenen – Anwendungsbereichs auch nationale Grundreche mit höherem Schutzniveau ausschließen können. Vgl. BVerfG, Beschl. v. 31.5.2007 – 1 BvR 1316/04, UR 2007, 737 = BFH/NV 2007, Beilage 4, 449 – Rz. 47; BVerfG, Urt. v. 2.3.2010 – 1 BvR 256, 263, 586/08, BVerfGE 125, 260 – Rz. 181; BVerfG, Beschl. v. 19.7.2011 – 1 BvR 1916/09, BVerfGE 129, 78 – Rz. 90. Grundlegend BVerfG, Beschl. v. 29.5.1974 – 2 BvL 52/71, BVerfGE 37, 271 (280 ff.) – „Solange“; ferner BVerfG, Beschl. v. 22.10.1986 – 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339 (387 ff.) – „Solange II“; BVerfG, Urt. v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134, 2159/92, BVerfGE 89, 155 (174 f.) – „Maastricht“; zur weiteren Entwicklung s. AUGSBERG, DÖV 2010, 153 (153 ff.); MAIER, Grundrechtsschutz bei der Durchführung von Richtlinien, 2014, S. 183 ff.; WOLLENSCHLÄGER, Grundrechtsschutz und Unionsbürgerschaft, in Hatje/Müller-Graff (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, Bd. 1, § 8 Rz. 12 ff., 16 ff. S.o. 3.1. Vgl. BVerfG, Urt. v. 22.10.1986 – 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339 (387 ff. –“Solange II“; BVerfG, Beschl. v. 31.5.2007 – 1 BvR 1316/04, UR 2007, 737 = BFH/ NV 2007, Beilage 4, 449 – Rz. 49. Vgl. EuGH, Urt. v. 26.2.2013 – C-617/10 – Åkerberg Fransson, ECLI:EU:C: 2013:280, UR 2014, 27 = NJW 2013, 1415 = HFR 2013, 464 – Rz. 19. Vgl. EuGH, Urt. v. 18.6.1991 – C-260/89 – ERT, EuGHE 1991, I-2925 – Rz. 42 f.
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Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden“. Dabei soll nach Auffassung des EuGH maßgeblich sein, ob eine nationale Regelung in den „Geltungsbereich des Unionsrechts fällt“.83 Dieses nach richtiger Auffassung zu weite Verständnis84 des Anwendungsbereichs der Charta führte dazu, dass der EuGH in seiner Entscheidung in der Rechtssache Åkerberg Fransson85 bei einer schwedischen Regelung von der „Durchführung des Rechts der Union“ ausgeht, die die Nichteinhaltung bestimmter Mitteilungspflichten auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer sanktionieren soll. Dem EuGH genügt es dabei, dass das Unionsrecht anstelle von konkreten Vorgaben für derartige Sanktionen aus einer Gesamtschau mehrerer Regelungen (im Einzelnen: Art. 2, 250, 273 MwStSystRL, Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 325 AEUV) lediglich die abstrakte Verpflichtung zur Ahndung von Steuerhinterziehung und Verhaltensweisen vorsieht, die die finanziellen Interessen der EU gefährden. Der EuGH geht augenscheinlich davon aus, dass eine nationale Regelung auch im Falle eines sehr weiten Umsetzungsspielraums als „Durchführung des Rechts der Union“ i.S.d. Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh eingeordnet werden kann.86 Für Umsetzungsspielräume zugunsten der Mitgliedstaaten im Rahmen des Mehrwert- bzw. Umsatzsteuerrechts ist vor diesem Hintergrund jedenfalls davon auszugehen, dass der EuGH eine umfassende Prüfung am Maßstab der Grundrechte der Charta vornehmen wird.87 83 Vgl. EuGH, Urt. v. 26.2.2013 – C-617/10 – Åkerberg Fransson, ECLI:EU:C: 2013:280, UR 2014, 27 = NJW 2013, 1415 = HFR 2013, 464 – Rz. 19. 84 So auch HAHN, ISR 2015, 25 (27 ff.); HAHN, ISR 2015, 50 (50 ff.); KINGREEN, JZ 2013, 801 (806); LEHNER in Jochum/Lampert/Elicker/Bilsdorfer/Bartone (Hrsg.), Freiheit Gleichheit Eigentum, Festschrift R. Wendt, 2015, S. 861 (875); MAIER, Grundrechtsschutz bei der Durchführung von Richtlinien, 2014, S. 167 ff.; SCHOLZ, DVBl. 2014, 197 (203); für eine restriktive Auslegung von Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh wegen bestehender Unitarisierungsgefahren HUBER, NJW 2011, 2385 (2385 ff.); WOLLENSCHLÄGER, EuZW 2014, 577 (577 ff.); ähnlich OHLER, NVwZ 2013, 1433 (1438); ebenfalls zurückhaltend STOTZ in Heid/Stotz/Verny (Hrsg.), Festschrift Dauses, 2014, S. 409 (423 ff.); STREINZ in Heid/Stotz/Verny (Hrsg.), Festschrift Dauses, 2014, S. 429 (441). 85 Vgl. EuGH, Urt. v. 26.2.2013 – C-617/10 – Åkerberg Fransson, ECLI:EU:C: 2013:280, UR 2014, 27 = NJW 2013, 1415 = HFR 2013, 464 – Rz. 19. Zum umsatzsteuerrechtlichen Zusammenhang s. WIDMANN, UR 2014, 5 (6 ff.). 86 Dies entspricht der Rechtsprechung des EuGH zu den Grundrechten als allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Vgl. EuGH, Urt. v. 10.4.2003 – C-276/01 – Steffensen, EuGHE 2003, I-3735 – Rz. 71; EuGH, Urt. v. 20.5.2003 – verb. Rs. C-465/00 u.a. – Österreichischer Rundfunk u.a., EuGHE 2003, I-4989 – Rz. 73 ff.; EuGH, Urt. v. 27.6.2006 – C-540/03 – Parlament/Rat, EuGHE 2006, I-5769 – Rz. 104 f. 87 Vgl. DOBRATZ, UR 2014, 425 (427); HAHN, ISR 2015, 50 (52); allgemein zur Ausfüllung von Umsetzungsspielräumen ohne Bezug zum Umsatzsteuerrecht vgl. BOROWSKY in Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Aufl. 2014, Art. 51 Rz. 27; JARASS, Charta der Grundrechte der EU, 2. Aufl.
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Das BVerfG tritt dieser Rechtsprechung des EuGH in seiner Entscheidung zur sog. Antiterrordatei vehement entgegen, indem es betont, dass nicht vom Unionsrecht determinierte Vorschriften des nationalen Rechts an den Grundrechten des Grundgesetzes zu messen seien und mangels „Durchführung des Rechts der Europäischen Union“ i.S.d. Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh nicht an den Grundrechten der Charta.88 Die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Åkerberg Fransson dürfe nicht in einer Weise verstanden und angewendet werden, nach der für eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechtecharta jeder sachliche Bezug einer nationalen Regelung zum bloß abstrakten Anwendungsbereich des Unionsrechts oder rein tatsächliche Auswirkungen auf dieses ausreichen.89 Das BVerfG scheint – seiner bisherigen Rechtsprechung90 folgend – davon auszugehen, dass in Bezug auf nationale Regelungen, die einen Umsetzungsspielraum ausfüllen, ausschließlich die Grundrechte des Grundgesetzes gelten. Dies hat das BVerfG91 und ihm folgend der Bundesfinanzhof (BFH)92 für Regelungen des deutschen Umsatzsteuergesetzes im Rahmen von Umsetzungsspielräumen in der Mehrwertsteuersystemrichtlinie (bzw. ihren Vorgängerrechtsakten) immer wieder so entschieden. 4. Rechtsstaatliche Gewährleistungen des Rechtsstaatsprinzips des Grundgesetzes und als allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts als Prüfungsmaßstab 4.1 Grundlagen Für die rechtsstaatlichen Gewährleistungen des Grundgesetzes und die entsprechenden Gewährleistungen des Unionsrechts dürfte in Bezug auf
88 89 90 91 92
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2013, Art. 51 Rz. 23; JARASS, NVwZ 2012, 457 (460 f.); KINGREEN, JZ 2013, 801 (807); SCHOLZ, DVBl. 2014, 197 (204); zurückhaltender GEIß, DÖV 2014, 265 (269). Dies entspricht auch der Auffassung des EuGH in anderen Rechtsbereichen. Vgl. EuGH, Urt. v. 21.12.2011 – C-411/10, C-493/10 – N.S. und M.E., EuGHE 2011, I-13905 – Rz. 65, 67 f.; ähnlich wohl EuGH, Urt. v. 22.12.2010 – C-279/09 – DEB, EuGHE 2010, I-13849 – Rz. 30 ff. Vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon hatte der EuGH bereits zu den Gemeinschaftsgrundrechten (jetzt: Unionsgrundrechte) so entschieden. Vgl. EuGH, Urt. v. 13.7.1989 – C-5/88 – Wachauf, EuGHE 1989, 2609 – Rz. 17 ff.; EuGH, Urt. v. 3.5.2005 – C-387/02, C-391/02, C-403/02 – Berlusconi u.a., EuGHE 2005, 3565 – Rz. 69. Vgl. BVerfG, Urt. v. 24.4.2013 – 1 BvR 1215/07, BVerfGE 133, 277 – Rz. 88. Vgl. BVerfG, Urt. v. 24.4.2013 – 1 BvR 1215/07, BVerfGE 133, 277 – Rz. 91. Vgl. BVerfG, Beschl. v. 31.5.2007 – 1 BvR 1316/04, BFH/NV 2007, Beilage 4, 449 – Rz. 47. Vgl. BVerfG, Beschl. v. 31.5.2007 – 1 BvR 1316/04, BFH/NV 2007, Beilage 4, 449 – Rz. 47, 55; BVerfG, Beschl. v. 20.3.2013 – 1 BvR 3063/10, UR 2013, 468 – Rz. 19. Vgl. BFH, Urt. v. 22.7.2010 – V R 4/09, BStBl. II 2013, 590 = UR 2011, 69; BFH, Urt. v. 24.10.2013 – V R 31/12, BStBl. II 2015, 674 = UR 2014, 238 – Rz. 18.
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die maßgebliche Rechtsquelle grundsätzlich dasselbe wie für die Grundrechte gelten.93 Zu den rechtsstaatlichen Gewährleistungen gehören insbesondere die Verhältnismäßigkeit,94 die Rechtssicherheit95 und der Vertrauensschutz,96 die im Kern sowohl vom Grundgesetz als Teil des Rechtsstaatsprinzips als auch vom Unionsrecht als allgemeine Rechtsgrundsätze geschützt werden. 4.2 Regelungen zur Umsetzung zwingender Vorgaben des Unionsrechts In Bezug auf nationale Regelungen, die auf zwingenden Vorgaben des Unionsrechts beruhen, folgt die Maßgeblichkeit der unionsrechtlichen rechtsstaatlichen Gewährleistungen letztlich aus dem Vorrang des Unionsrechts,97 der auch das nationale Verfassungsrecht erfasst.98 Der „Solange“-Vorbehalt für den Grundrechtsschutz,99 der gleichermaßen für
93 S.o. 3. Zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen auch s. MELLINGHOFF, UR 2013, 5 (10), wenn auch ohne Differenzierung zwischen Regelungen zur Umsetzung zwingender Vorgaben und zur Ausfüllung von Umsetzungsspielräumen. 94 Zum Unionsrecht vgl. EuGH, Urt. v. 18.12.1997 – C-286/94 – Molenheide u.a., EuGHE 1997, I-7281 = UR 1998, 470 – Rz. 45 ff.; EuGH, Urt. v. 10.4.2008 – C-309/06 – Marks & Spencer, EuGHE 2008, I-2283 = UR 2008, 592 – Rz. 51; EuGH, Urt. v. 27.7.2007 – C-409/04 – Teleos, EuGHE 2007, I-7797 = UR 2007, 774 – Rz. 45; EuGH, Urt.v. 27.9.2007 – C-184/05 – Twoh International, EuGHE 2007, I-7928 = UR 2007, 782 – Rz. 25; EuGH, Urt. v. 7.12.2010 – C-285/09 – R, EuGHE 2010, I-12605 = UR 2011, 15 – Rz. 45; BFH, Urt. v. 22.7.2010 – V R 4/09, BStBl. II 2013, 590 = UR 2011, 69 – Rz. 39; BFH, Urt. v. 24.10.2013 – V R 31/12, BStBl. II 2015, 674 = UR 2014, 238 – Rz. 13, 21; zum Grundgesetz vgl. BVerfG, Urt. v. 10.5.1957 – 1 BvR 550/52, BVerfGE 6, 389 (439); BVerfG, Beschl. v. 9.3.1994 – 2 BvL 43/92, 2 BvL 51/92, 2 BvL 63/92, 2 BvL 64/92, 2 BvL 70/92, 2 BvL 80/92, 2 BvR 2031/92, BVerfGE 90, 145 (173). 95 Zum Unionsrecht vgl. EuGH, Urt. v. 27.7.2007 – C-409/04 – Teleos, EuGHE 2007, I-7797 = UR 2007, 774 – Rz. 48 ff.; BFH, Urt. v. 19.5.2010 – XI R 6/09, BStBl. II 2011, 831 (833); zum Grundgesetz vgl. BVerfG, Beschl. v. 24.7.1957 – 1 BvL 23/52, BVerfGE 7, 89 (92); BVerfG, Urt. v. 5.2.2004 – 2 BvR 2029/01, BVerfGE 109, 133 (180). 96 Zum Unionsrecht vgl. EuGH, Urt. v. 7.12.2010 – C-285/09 – R, EuGHE 2010, I-12605 = UR 2011, 15 – Rz. 43, 46; BFH, Urt. v. 27.11.2013 – I R 36/13, BStBl. II 2014, 651 = FR 2014, 979 – Rz. 48; zum Grundgesetz vgl. BVerfG, Beschl. v. 7.7.2010 – 2 BvL 1/03, 2 BvL 57/06, 2 BvL 58/06, BVerfGE 127, 31 – Rz. 89; allgemein s. WIDMANN in Tipke/Seer/Hey/Englisch (Hrsg.), Festschrift J. Lang, Gestaltung der Steuerrechtsordnung, 2010, S. 913 (913 ff.). 97 Grundlegend EuGH, Urt. v. 15.7.1964 – 6/64 – Costa/E.N.E.L., EuGHE 1964, 1253 (1269 f.). 98 Vgl. EuGH, Urt. v. 26.2.2013 – C-399/11 – Melloni, ECLI:EU:C:2013:107, NJW 2013, 1215 – Rz. 59. 99 S.o. 3.2.
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rechtsstaatliche Gewährleistungen gelten muss, dürfte beim gegenwärtigen Stand der Entwicklung der Rechtsprechung des EuGH nicht greifen. 4.3 Regelungen zur Ausfüllung von Umsetzungsspielräumen Soweit das Unionsrecht den Mitgliedstaaten einen Umsetzungsspielraum einräumt (insbesondere in Richtlinien), sind die Mitgliedstaaten bei der Ausfüllung dieses Umsetzungsspielraums zumindest nach Auffassung des EuGH an die rechtsstaatlichen Gewährleistungen des Unionsrechts, insbesondere die Verhältnismäßigkeit,100 die Rechtssicherheit101 und den Vertrauensschutz,102 gebunden.103 Wie bei den Grundrechten104 sollten die Mitgliedstaaten aber auch in diesem Fall nur die entsprechenden rechtsstaatlichen Gewährleistungen des Grundgesetzes beachten müssen. Davon zu unterscheiden sind die inhärenten primärunionsrechtlichen Grenzen für sekundärunionsrechtliche Regelungen, die insbesondere in dem Erfordernis der Gewährung von Vertrauensschutz bestehen können.105 Diese Grenzen sind ggf. im Rahmen der Umsetzung solcher Regelungen in nationales Recht im Wege einer primärechtskonformen Auslegung des sekundären Unionsrechts zu bestimmen. 5. Weitere umsatz-/mehrwertsteuerspezifische verfassungs- und unionsrechtliche Grenzen 5.1 Neutralität der Mehrwertsteuer als unionsrechtliche Grenze im Bereich der Mehrwert-/Umsatzsteuer Neben den bisher angesprochenen überwiegend allgemeinen verfassungsund unionsrechtlichen Gewährleistungen gibt es auch umsatz-/mehr100 Vgl. EuGH, Urt. v. 18.12.1997 – C-286/94 – Molenheide u.a., EuGHE 1997, I-7281 = UR 1998, 470– Rz. 48; EuGH, Urt. v. 27.7.2007 – C-409/04 – Teleos, EuGHE 2007, I-7797 = UR 2007, 774 – Rz. 45; EuGH, Urt. v. 27.9.2007 – C-184/05 – Twoh International, EuGHE 2007, I-7928 = UR 2007, 782 – Rz. 25; EuGH, Urt. v. 7.12.2010 – C-285/09 – R, EuGHE 2010, I-12605 = UR 2011, 15 – Rz. 45. 101 Vgl. EuGH, Urt. v. 27.7.2007 – C-409/04 – Teleos, EuGHE 2007, I-7797 = UR 2007, 774 – Rz. 45; EuGH, Urt. v. 27.9.2007 – C-146/05 – Collée, EuGHE 2007, I-7861 = UR 2007, 813 – Rz. 32; EuGH, Urt. v. 7.12.2010 – C-285/09 – R, EuGHE 2010, I-12605 – UR 2011, 15 – Rz. 45. 102 Vgl. EuGH, Urt. v. 7.12.2010 – C-285/09 – R, EuGHE 2010, I-12605 = UR 2011, 15 – Rz. 45. 103 So auch ENGLISCH in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 4 Rz. 36. 104 S.o. 3.3. 105 S.u. VI.2.3. zum Vertrauensschutz als inhärente Grenze der Mehrwertsteuersystemrichtlinie.
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wertsteuerspezifische Grenzen. Eine solche Grenze ist das sog. Neutralitätsprinzip, das nach Auffassung des EuGH106 und des BFH107 ein dem „Mehrwertsteuerrecht innewohnendes Grundprinzip“ darstellt.108 Das Neutralitätsprinzip ist eine bereichsspezifische Ausprägung des unionsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes.109 Die Neutralität bezieht sich110 zum einen darauf, dass nicht der Unternehmer, sondern nur der Verbraucher mit Mehrwert-/Umsatzsteuer belastet werden soll, zum anderen auf Wettbewerbsgleichheit. Das Neutralitätsprinzip ist als Bestandteil der Zielsetzung der Mehrwertsteuersystemrichtlinie111 für die Mitgliedstaaten nach Art. 288 Abs. 3 AEUV verbindlich112 und deshalb bei der Ausfüllung von Umsetzungsspielräumen zu beachten, auch wenn die Mitgliedstaaten diesbezüglich vorrangig an die Vorgaben des nationalen Verfassungsrechts gebunden sind.113 Entsprechend dieser Zielsetzung hat
106 Vgl. EuGH, Urt. v. 12.1.2006 – C-246/04 – Turn- und Sportunion Waldburg, EuGHE 2006, I-589 = UR 2006, 224; EuGH, Urt. v. 28.6.2007 – C-363/05 – JP Morgan Fleming Claverhouse Investment Trust plc, EuGHE 2007, I-5517 = UR 2007, 727; EuGH, Urt. v. 27.9.2007 – C-146/05 – Collée, EuGHE 2007, I-7861 = UR 2007, 813 – Rz. 22, 26; EuGH, Urt. v. 10.4.2008 – C-309/06 – Marks & Spencer, EuGHE 2008, I-2283 = UR 2008, 592 – Rz. 47; EuGH, Urt. v. 27.9.2012 – C-587/10 – VSTR, ECLI:EU:C:2012:592, UR 2012, 832 = HFR 2012, 1212 – Rz. 28. 107 Vgl. BFH, Urt. v. 26.9.2007 – V R 54/05, BStBl. II 2008, 262 = UR 2007, 939, unter II.1.b; BFH, Urt. v. 16.4.2008 – XI R 73/07, BStBl. II 2009, 1024 = UR 2008, 632, unter II.2. 108 Vgl. ENGLISCH in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 17 Rz. 23 ff. 109 Vgl. EuGH, Urt. v. 10.4.2008 – C-309/06 – Marks & Spencer, EuGHE 2008, I-2283 = UR 2008, 592 – Rz. 47, 49; DOBRATZ, UR 2014, 425 (427); ENGLISCH in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 4 Rz. 36, § 17 Rz. 24; WÄGER, UR 2013, 673 (675). 110 Vgl. ENGLISCH in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 17 Rz. 23, m.w.N.; REIß, DStJG 32 (2009), S. 9 (14 f.). 111 Vgl. Erwägungsgründe 4, 5, 7, 13, 30, 34 zur MwStSystRL; ferner EuGH, Urt. v. 18.12.1997 – C-286/94 – Molenheide u.a., EuGHE 1997, I-7281 = UR 1998, 470 – Rz. 42. 112 So wohl auch EuGH, Urt. v. 18.12.1997 – C-286/94 – Molenheide u.a., EuGHE 1997, I-7281 = UR 1998, 470 – Rz. 46. 113 S.o. 3.3., 4.3. Ein Rückgriff auf Art. 20 GRCh ist deshalb nicht erforderlich; so aber DOBRATZ, UR 2014, 425 (428). Wegen des durch Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh begrenzten Anwendungsbereichs der Charta der Grundrechte mit den auf Individualrechtschutz gerichteten Grundrechten, der grundsätzlich auch von den nationalen Grundrechten gewährt werden kann, ist die Rechtslage bei den Grundrechen anders als bei den Grundfreiheiten, die ohne Äquivalent im nationalen Recht der Mitgliedstaaten auf das Funktionieren des Binnenmarkts abzielen. Vgl. JARASS, NVwZ 2012, 457 (457); KINGREEN, JZ 2013, 801 (804). Letztere gelten auch bei der Ausfüllung von Umsetzungsspielräumen; dazu s.o. 2.3.
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der deutsche Gesetzgeber – möglicherweise auch nur wegen der angesprochenen Bindungswirkung nach Art. 288 Abs. 3 AEUV – mit dem Neutralitätsprinzip eine grundlegende Belastungsentscheidung getroffen,114 die von ihm bei der Ausfüllung von Umsetzungsspielräumen nach Maßgabe des vom BVerfG aus Art. 3 Abs. 1 GG abgeleiteten Folgerichtigkeitsgebots115 umzusetzen ist.116 Diese Entscheidung des Gesetzgebers ist auch von der Finanzverwaltung und der Rechtsprechung beim Vollzug des Umsatzsteuergesetzes bzw. bei der Kontrolle des Vollzugs zu beachten, indem sie die Regelungen des Umsatzsteuergesetzes verfassungskonform, d.h. insbesondere unter Berücksichtigung der Anforderungen des Folgerichtigkeitsgebots mit Blick auf das Neutralitätsprinzip als grundlegender Belastungsentscheidung, auslegen.117 5.2 Art. 106 Abs. 3 Satz 4 Nr. 2 GG als Prüfungsmaßstab Ferner ist zu überlegen, ob die Regelung in Art. 106 Abs. 3 Satz 4 Nr. 2 GG eine spezielle verfassungsrechtliche Grenze für umsatzsteuerliche Pflichten des Unternehmers sein kann. Nach dieser Vorschrift sind bei der Festsetzung der Anteile von Bund und Ländern an der Umsatzsteuer „die Deckungsbedürfnisse des Bundes und der Länder so aufeinander abzustimmen, dass ein billiger Ausgleich erzielt, eine Überbelastung der Steuerpflichtigen vermieden und die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse gewahrt wird“ (Hervorhebung durch den Verfasser). Sie betrifft den sog. primären vertikalen Finanzausgleich zwischen dem Bund und den Ländern in Bezug auf das Umsatzsteueraufkommen.118 Aufgrund der systematischen Stellung der Regelung im Finanzverfassungsrecht ist allerdings zweifelhaft, ob ihr neben den Grundrechten eine limitierende Funktion im Hinblick auf die umsatzsteuerlichen Pflichten des Unternehmers zukommen kann.119 Sie wird mitunter als „Fremdkörper“
114 Vgl. REIß, DStJG 32 (2009), S. 9 (11, 15); ferner NIESKENS, BB 2015, 1303 (1303). 115 Allgemein dazu s. BVerfG, Urt. v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 (271). 116 Ähnlich TIPKE in P. Kirchhof/Nieskens (Hrsg.), Festschrift Reiß, 2008, S. 9 (14 f.); insoweit kritisch P. KIRCHHOF, UR 2002, 541 (546 f.); ferner MELLINGHOFF, UR 2013, 5 (13 f.). 117 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 29.10.1999 – 2 BvR 1264/90, BVerfGE 101, 132 (138); BVerfG, Beschl. v. 10.11.1999 – 2 BvR 2861/93, BVerfGE 101, 151 (155). 118 Vgl. SCHWARZ in von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Band 3, 7. Aufl. 2015, Art. 106 Rz. 76. 119 Vgl. HEUN in Dreier (Hrsg.), GG, Band II, 2. Aufl. 2008, Art. 106 Rz. 24; SIEKMANN in Sachs (Hrsg.), GG, 7. Aufl. 2014, Art. 106 Rz. 17.
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empfunden.120 Richtigerweise besteht ihre Bedeutung darin, dass sie es dem Gesetzgeber verwehrt, einen politischen Konflikt zwischen dem Bund und den Ländern um die Verteilung des Umsatzsteueraufkommens durch eine Erhöhung der Umsatzsteuer zu lösen.121 Darüber hinaus ist es möglich, in Art. 106 Abs. 3 Satz 4 Nr. 2 GG eine allgemeine verfassungsrechtliche Wertung als lose Bestätigung des Verbots einer unverhältnismäßigen Gesamtbelastung zu sehen,122 die freilich keine subjektiv-rechtliche Dimension hat und deshalb von den Steuerpflichtigen nicht durchgesetzt werden kann.123 6. Folgerungen für die Bestimmung des Prüfungsmaßstabs Vor dem Hintergrund des bisher Gesagten ergibt sich für die Bestimmung der Grenzen der umsatzsteuerlichen Pflichten des Unternehmers ein gespaltener Prüfungsmaßstab. Dies ist unvermeidliche Folge der Einräumung von Umsetzungsspielräumen in den maßgeblichen unionsrechtlichen Vorgaben. Trotz der Spaltung des Prüfungsmaßstabs ist es möglich, grundlegende Prinzipien des Mehrwert-/Umsatzsteuerrechts zu wahren, die auf einer Ebene mit Bindungswirkung für eine andere Ebene geregelt sind. Dies gilt – wie bereits gezeigt124 – insbesondere für das Neutralitätsprinzip als Zielsetzung der Mehrwertsteuersystemrichtlinie, das für die Mitgliedstaaten verbindlich ist und vom deutschen Ge120 Vgl. SCHWARZ in von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Band 3, 7. Aufl. 2015, Art. 106 Rz. 89. 121 Vgl. HIDIEN in Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), BK GG, Art. 106 Rz. 943 – Lfg. 97, November 2001; KORIOTH, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 499; SCHWARZ in von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Band 3, 7. Aufl. 2015, Art. 106 Rz. 89; allgemein zur Funktion von Art. 106 GG als Vorschrift zur Herstellung des politischen Gleichgewichts zwischen Bund und Ländern („horizontale Gewaltenteilung“) K. VOGEL in Lang (Hrsg.), Festschrift Tipke, Die Steuerrechtsordnung in der Diskussion, 1995, S. 93 (100 f.). 122 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97 (115 f.); LÜCKE, DVBl. 2001, 1469 (1477); ähnlich GRÜNWALD/FRIZ, DStR 2012, 2106 (2108); HIDIEN, Die Verteilung der Umsatzsteuer zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 313 f.; HIDIEN in Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), BK GG, Art. 106 Rz. 944 – Lfg. 97, Juni 2001; SIEKMANN in Sachs (Hrsg.), GG, 7. Aufl. 2014, Art. 106 Rz. 17; VOGEL/WALDHOFF in Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), BK GG, Vorbem. z. Art. 104a–115 Rz. 583 – Lfg. 82, Dezember 1997. 123 Vgl. WALDHOFF, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Steuergesetzgebung im Vergleich Deutschland – Schweiz, 1997, S. 254 ff.; ferner C. FISCHER, Die Rechtfertigung einer Umsatzbesteuerung und ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechten, 2006, S. 138 f.; P. KIRCHHOF, VVDStRL 39 (1981), S. 213 (252); P. KIRCHHOF, Der sanfte Verlust der Freiheit, 2004, S. 90. 124 S.o. 5.1.
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setzgeber als grundlegende Belastungsentscheidung folgerichtig umzusetzen und auszugestalten ist.
IV. Konkretisierung der gleichheitsrechtlichen Grenzen umsatzsteuerlicher Pflichten des Unternehmers 1. Ungleichbehandlung Damit können die verfassungs- und unionsrechtlichen Grenzen der umsatzsteuerlichen Pflichten des Unternehmers konkretisiert werden, auch wenn im gegebenen Rahmen eine umfassende Behandlung der damit zusammenhängenden Fragestellungen nicht erfolgen kann. Die umsatzsteuerlichen Pflichten des Unternehmers müssen zunächst den gleichheitsrechtlichen Vorgaben von Art. 3 Abs. 1 GG bzw. Art. 20 GRCh entsprechen, wonach wesentlich Gleiches nicht ungleich und wesentlich Ungleiches nicht gleich behandelt werden darf. Die verfassungs-125 und die unionsrechtlichen126 Vorgaben dürften sich diesbezüglich nicht wesentlich unterscheiden. 2. Rechtfertigung Bei der Prüfung der Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen i.S.d. Art. 3 Abs. 1 GG legt das BVerfG bekanntlich je nach Intensität der Ungleichbehandlung unterschiedliche Prüfungsmaßstäbe an und versteht den Gleichheitssatz entweder als Willkürverbot und begnügt sich mit einem „sachlichen Grund“ oder es verlangt unter Anwendung der sog. Gruppenvergleichsformel bzw. „neuen Formel“ weitergehend die Verhältnismäßigkeit der Ungleichbehandlung im Hinblick auf einen mit der Ungleichbehandlung verfolgten legitimen Zweck.127 Demgegenüber ist die Rechtsprechung des EuGH zum unionsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz noch nicht derart ausdifferenziert. Dennoch lassen 125 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.10.2011 – 2 BvR 236/08, 2 BvR 237/08, 2 BvR 422/08, BVerfGE 129, 208 (261 f.); BVerfG, Beschl. v. 7.2.2012 – 1 BvL 14/07, BVerfGE 130, 240 (252). 126 Vgl. EuGH, Urt. v. 19.10.1977 – 117/76, 16/77 – Ruckdeschel, EuGHE 1977, 1770 – Rz. 7; EuGH, Urt. v. 7.7.1993 – C-217/91 – Kommission/Spanien, EuGHE 1993, 3923 – Rz. 37, jeweils zum Gleichbehandlungsgrundsatz als allgemeinem Rechtsgrundsatz. Diese Rechtsprechung ist auch für Art. 20 GRCh maßgeblich. Vgl. STREINZ in Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 20 GRCh Rz. 8. 127 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 7.10.1980 – 1 BvL 50/79, 1 BvL 89/79, 1 BvR 240/79, BVerfGE 55, 72 (88); BVerfG, Beschl. v. 12.10.2011 – 2 BvR 236/08, 2 BvR 237/08, 2 BvR 422/08, BVerfGE 129, 208 (261 f.); BVerfG, Beschl. v. 7.2.2012 – 1 BvL 14/07, BVerfGE 130, 240 (252).
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sich auch insoweit bereits unterschiedliche Anforderungen an die Prüfungsdichte feststellen, die vom Erfordernis einer „sachlichen Rechtfertigung“128 oder der Erfüllung anders formulierter, im Wesentlichen aber gleichbedeutender Kriterien129 bis hin zu einer Verhältnismäßigkeitsprüfung130 reichen können.
V. Konkretisierung der freiheitsrechtlichen und rechtsstaatlichen Grenzen umsatzsteuerlicher Pflichten des Unternehmers 1. Schutzbereich und Eingriff Aus freiheitsrechtlicher Sicht sind die umsatzsteuerlichen Pflichten des Unternehmers insbesondere an der Berufsfreiheit aus Art. 12 GG bzw. Art. 15 GRCh, dem Eigentumsrecht aus Art. 14 GG bzw. Art. 17 GRCh, der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG bzw. Art. 6 GRCh sowie der unternehmerischen Freiheit aus Art. 16 GRCh und ggf. der Unverletzlichkeit der Wohnung aus Art. 13 GG bzw. Art. 7 GRCh zu messen. Neben den subjektiv-rechtlichen Grenzen der Freiheitsgrundrechte131 sind weiterhin die rechtsstaatlichen Gewährleistungen132 des nationalen Verfassungsrechts bzw. des Unionsrechts wie die Verhältnismäßigkeit, die Rechtssicherheit und der Vertrauensschutz zu beachten. Einzelheiten können im vorgegebenen Rahmen nicht behandelt werden. Jedoch ist davon auszugehen, dass die umsatzsteuerlichen Pflichten des Unternehmers regelmäßig als Eingriff in die Freiheitsgrundrechte zu qualifizieren sind. Unabhängig davon müssen sie sich in den Grenzen der rechtsstaatlichen Gewährleistungen halten. 2. Rechtfertigung Die Eingriffe in die Freiheitsgrundrechte können gerechtfertigt sein, wenn sie unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes einen le128 Vgl. EuGH, Urt. v. 6.7.1983 – C-117/81 – Geist/Kommission, EuGHE 1983, 2191 – Rz. 14. 129 Vgl. EuGH, Urt. v. 13.12.1984 – verb. Rs. C-129/82, C-274/82 – Lux/Rechnungshof, EuGHE 1984, 4127 – Rz. 22 („triftige Gründe“); EuGH, Urt. v. 13.11.1990 – C-370/88 – Marshall, EuGHE 1990, I-4071 – Rz. 24 („objektives Kriterium“); EuGH, Urt. v. 22.5.2003 – C-462/99 – Connect Austria, EuGHE 2003, I-5197 – Rz. 115 („objektives Kriterium von einigem Gewicht“). 130 Vgl. EuGH, Urt. v. 16.12.2008 – C-127/07 – Arcelor Atlantique und Lorraine, EuGHE 2008, I-9895 – Rz. 47. 131 Dazu s.o. III.3.1. 132 Dazu s.o. III.4.1.
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gitimen Zweck, etwa die Effektivität des gesetzmäßigen Vollzugs des Umsatzsteuerrechts, verfolgen.133 Die Rechtfertigung ist zunächst für jede Pflicht gesondert zu prüfen. Erst wenn eine Pflicht für sich genommen verfassungskonform ist, kann sich die später134 zu behandelnde Frage stellen, ob sie aufgrund der Kumulation mehrerer Pflichten unverhältnismäßig und damit verfassungs- bzw. unionsrechtswidrig wird.
VI. Beispiele für verfassungs- und unionsrechtliche Grenzen für umsatzsteuerliche Pflichten des Unternehmers 1. Allgemeines Die abstrakt dargestellten Grenzen des Verfassungs- und des Unionsrechts135 können hier nicht auf alle umsatzsteuerlichen Pflichten des Unternehmers angewendet werden. Deshalb sollen zur Illustration der Problematik beispielhaft zwei „Pflichten“ herausgegriffen werden, nämlich die Nachweispflichten zur Erlangung von Steuerbefreiungen im grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr (2.) und die Pflicht zur Vorfinanzierung der Umsatzsteuer im Falle der sog. Sollbesteuerung (3.). 2. Nachweispflichten zur Erlangung von Steuerbefreiungen im grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr 2.1 Nachweispflichten als Eingriff bzw. Beeinträchtigung Die Nachweispflichten zur Erlangung von Steuerbefreiungen im grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr könnte man trotz ihrer rechtstechnischen Einordung als Obliegenheiten136 möglicherweise, allerdings nicht ohne Bedenken als – mit Blick auf den effektiven Vollzug des Umsatzsteuerrechts freilich gerechtfertigte – Eingriffe in die Freiheitsgrundrechte des Unternehmers begreifen, weil eine Steuerbefreiung von Handlungen des Unternehmers abhängig gemacht wird, obwohl der Unternehmer wegen des Charakters der Umsatzsteuer als Verbrauchsteuer nur als „Steuereinnehmer für Rechnung des Staates“ handeln,137 selbst 133 Zum Unionsrecht s. Art. 52 Abs. 1 Satz 2 GRCh; dazu STREINZ/MICHL in Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 52 GRCh Rz. 27 ff., mit Nachweisen zur Rechtsprechung; zum Grundgesetz vgl. BVerfG, Beschl. v. 23.10.2013 – 1 BvR 1842/11, 1 BvR 1843/11, BVerfGE 134, 204 (69 f.); BVerfG, Beschl. v. 6.11.2014 – 2 BvR 2928/10, Strafverteidiger Forum 2015, 63. 134 Dazu s.u. VII. 135 S.o. III.–V. 136 S.o. I. 137 Ähnlich STADIE, UStG, 3. Aufl. 2015, § 6a Rz. 54.
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aber nicht besteuert werden soll.138 Ungeachtet dessen sind aber jedenfalls die sonstigen verfassungs- und unionsrechtlichen Grenzen zu beachten, etwa die Vorgaben der Mehrwertsteuersystemrichtlinie einschließlich des Neutralitätsprinzips sowie die rechtsstaatlichen Gewährleistungen der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes aus dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes bzw. den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts. 2.2 Nachweispflichten als lediglich formelle Anforderung, Verhältnismäßigkeit und Neutralität Nach Art. 131 MwStSystRL werden Steuerbefreiungen „unter den Bedingungen angewandt, die die Mitgliedstaaten zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung dieser Befreiung und zur Verhinderung von Steuerhinterziehung, Steuerumgehung oder Missbrauch festlegen“.139 Zu diesen Bedingungen gehören auch die Anforderungen an die Beweisführung.140 Für die Steuerbefreiung von innergemeinschaftlichen Lieferungen hat der deutsche Gesetz- und Verordnungsgeber diese Bedingungen in Gestalt des bereits141 erwähnten Buch- und Belegnachweises gesetzt. Die Erfüllung des Buch- und Belegnachweises wurde vom BFH zunächst als materiell-rechtliche Voraussetzung für die Steuerbefreiung verstanden.142 Auf seine Vorlage hin hat der EuGH in der Rechtssache
138 S.o. II.2.2. 139 Vgl. EuGH, Urt. v. 27.9.2007 – C-146/05 – Collée, EuGHE 2007, I-7861 = UR 2007, 813 – Rz. 24; EuGH, Urt. v. 27.9.2007 – C-184/05 – Twoh International, EuGHE 2007, I-7928 = UR 2007, 782 – Rz. 25; EuGH, Urt. v. 7.12.2010 – C-285/09 – R, EuGHE 2010, I-12605 = UR 2011, 15 – Rz. 43, 46; EuGH, Urt. v. 6.9.2012 – C-273/11 – Mecsek-Gabona, ECLI:EU:C:2012:547, UR 2012, 796 = HFR 2012, 1121 – Rz. 35 f.; EuGH, Urt. v. 27.9.2012 – C-587/10 – VSTR, ECLI:EU:C:2012:592, UR 2012, 832 = HFR 2012, 1212 – Rz. 42, 47; BFH, Urt. v. 28.5.2009 – V R 23/08, BStBl. II 2010, 517 = UR 2009, 714; BFH, Urt. v. 21.5.2014 – V R 34/13, BStBl. II 2014, 914 = UR 2014, 774 – Rz. 49; STADIE, UStG, 3. Aufl. 2015, § 6a Rz. 55. 140 Vgl. EuGH, Urt. v. 27.9.2007 – C-184/05 – Twoh International, EuGHE 2007, I-7928 = UR 2007, 782 – Rz. 25; EuGH, Urt. v. 6.9.2012 – C-273/11 – Mecsek-Gabona, ECLI:EU:C:2012:547, UR 2012, 796 = HFR 2012, 1121 – Rz. 35; EuGH, Urt. v. 27.9.2012 – C-587/10 – VSTR, ECLI:EU:C:2012:592, UR 2012, 832 = HFR 2012, 1212 – Rz. 47. 141 S.o. II.2.3. Ausführlich dazu FRYE, UR 2014, 753 (753 ff.); HEUERMANN, MwStR 2015, 798 (798 ff.); NEUMANN-TOMM, MwStR 2015, 13 (13 ff.). 142 BFH, Urt. v. 28.2.1980 – V R 118/76, BStBl. II 1980, 415 = UR 1980, 160, zu § 6 Abs. 4 Satz 2 UStG i.V.m. § 8 Abs. 1 UStDV; BFH, Beschl. v. 2.4.1997 – V B 159/96, BFH/NV 1997, 629; BFH, Beschl. v. 5.2.2004 – V B 180/03, BFH/ NV 2004, 988; BFH, Urt. v. 30.3.2006 – V R 47/03, BStBl. II 2006, 634 = UR 2006, 397, zu § 6a Abs. 3 Satz 2 UStG i.V.m. §§ 17a, 17c UStDV.
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Collée später entschieden, dass eine unionsrechtlich zwingende Steuerbefreiung nicht von der Einhaltung von nach nationalem Recht begründeten „formellen Pflichten“ wie dem Buch- und Belegnachweis deutscher Prägung abhängig gemacht werden dürfe, „ohne die materiellen Anforderungen zu berücksichtigen und insbesondere ohne in Betracht zu ziehen, ob diese erfüllt sind“.143 Dementsprechend gewährt der BFH die Steuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen nunmehr grundsätzlich auch dann, wenn die materiell-rechtlichen Voraussetzungen anders als im UStG und in der UStDV vorgesehen nachgewiesen werden (zu Einschränkungen im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz s. sogleich).144 Dasselbe gilt für Ausfuhrlieferungen.145 Dieses Ergebnis ist richtig, denn die materiell-rechtlichen Voraussetzungen der Steuerbefreiungen im grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr sind nach zutreffender Auffassung des EuGH146 in Art. 138, 146 MwStSystRL abschließend geregelt. Sie dürfen deshalb von den Mitgliedstaaten nicht zum Nachteil der Unternehmer erweitert werden. Diesbezüglich dürften die Regelungen des deutschen Rechts, insbesondere das Erfordernis der Vorlage einer Gelangensbestätigung im Falle einer innergemeinschaftlichen Lieferung, grundsätzlich als unionsrechtskonform anzusehen sein, da, wie der Wortlaut des § 17a Abs. 2 Satz 1 UStDV („insbesondere“) belegt, der entsprechende Nachweis auch anderweitig erbracht werden kann. Richtigerweise verweisen der EuGH147 und der BFH148 auch auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, wenn auch trotz des Umsetzungsspiel143 Vgl. EuGH, Urt. v. 27.9.2007 – C-146/05 – Collée, EuGHE 2007, I-7861 = UR 2007, 813 – Rz. 29, zu Art. 28c Teil A Buchst. a Unterabs. 1 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG (innergemeinschaftliche Lieferung). 144 Vgl. BFH, Urt. v. 8.11.2007 – V R 72/05, BStBl. II 2009, 55 = UR 2008, 340; BFH, Urt. v. 6.12.2007 – V R 59/03, BStBl. II 2009, 57 = UR 2008, 186; BFH, Urt. v. 21.5.2014 – V R 34/13, BStBl. II 2014, 914 = UR 2014, 774 – Rz. 43; BFH, Urt. v. 24.7.2014 – V R 44/13, BStBl. II 2014, 955 = UR 2014, 818 – Rz. 19; mit Einschränkungen BFH, Urt. v. 19.3.2015 – V R 14/14, BFHE 250, 248 = UR 2015, 719 – Rz. 16 ff., zu § 6a Abs. 3 Satz 2 UStG i.V.m. §§ 17a, 17c UStDV. 145 Vgl. BFH, Urt. v. 28.5.2009 – V R 23/08, BStBl. II 2010, 517 = UR 2009, 714, zu § 6 Abs. 4 Satz 2 UStG i.V.m. §§ 9, 13 UStDV; ferner vgl. BFH, Urt. v. 5.7.2012 – V R 10/10, BStBl. II 2014, 539 = UR 2012, 891, zu Art. 67 Abs. 3 Buchst. a Ziff. (ii) i.V.m. Ziff. (i) des NATO-Zusatzabkommens. 146 Vgl. EuGH, Urt. v. 6.9.2012 – C-273/11 – Mecsek-Gabona, ECLI:EU:C:2012: 547, UR 2012, 796 = HFR 2012, 1121 – Rz. 59. 147 Vgl. EuGH, Urt. v. 27.9.2007 – C-146/05 – Collée, EuGHE 2007, I-7861 = UR 2007, 813 – Rz. 26; EuGH, Urt. v. 27.9.2012 – C-587/10 – VSTR, ECLI:EU:C:2012:592, UR 2012, 832 = HFR 2012, 1212 – Rz. 45 f., 52. 148 Vgl. BFH, Urt. v. 8.11.2007 – V R 72/05, BStBl. II 2009, 55 = UR 2008, 340.
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raums aus Art. 131 MwStSystRL auf den unionsrechtlichen. Eine Gewährung der Steuerbefreiung nur bei strikter Erfüllung der formellen Vorgaben an die Nachweiserbringung würde im Hinblick auf den Zweck der Nachweiserbringung, nämlich die Sicherstellung der Steuererhebung, über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zwecks erforderlich ist. Wegen der anderweitigen Nachweismöglichkeit149 dürften die deutschen Regelungen, insbesondere das Erfordernis der Vorlage einer Gelangensbestätigung im Falle einer innergemeinschaftlichen Lieferung, zumindest dem Grunde nach nicht unverhältnismäßig sein. Allerdings soll nach Auffassung des BFH eine anderweitige Nachweismöglichkeit im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auf solche Fälle beschränkt sein, in denen die Erbringung des Buch- und Belegnachweises nicht oder nur unzumutbar möglich wäre.150 Ebenfalls zutreffend weisen die Gerichte darauf hin, dass diese Sicht die Wahrung des Neutralitätsprinzips ermöglicht.151 Das Neutralitätsprinzip wäre nicht eingehalten, wenn der zugrunde liegende Umsatz im Ursprungsland wegen der nicht gewährten Steuerbefreiung und zusätzlich im Bestimmungsland besteuert würde.152 Diese Einschätzung zur Verfassungs- und Unionsrechtskonformität der Regelungen über die Nachweispflichten gilt freilich nur, wenn die (ggf. anderweitige) Nachweisführung durch die Anforderungen der Finanzverwaltung im konkreten Einzelfall nicht unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird.153 Auch wenn die hier kurz skizzierten zwingenden Grenzen für die Nachweispflichten im konkreten Fall von der Finanzverwaltung zu beachten sind, sind aus der Praxis in Bezug auf die Anerkennung (ggf. anderweitig) erbrachter Nachweise immer wieder Klagen von Seiten resignierter Unternehmer zu hören. Dies gilt ins-
149 S.o. Abschn. 2.2. 150 Vgl. BFH, Urt. v. 19.3.2015 – V R 14/14, BFHE 250, 248 = UR 2015, 719 – Rz. 16 ff.; ausführlich dazu s. HEIDNER, UR 2015, 773 (773 ff.); HEUERMANN, DStR 2015, 1919 (1919 ff.); HEUERMANN, MwStR 2015, 798 (798 ff.); WÄGER, UR 2015, 702 (702 ff.). 151 Vgl. EuGH, Urt. v. 27.9.2007 – C-146/05 – Collée, EuGHE 2007, I-7861 = UR 2007, 813 – Rz. 26; EuGH, Urt. v. 27.9.2012 – C-587/10 – VSTR, ECLI:EU:C:2012:592, UR 2012, 832 = HFR 2012, 1212 – Rz. 46; BFH, Urt. v. 8.11.2007 – V R 72/05, BStBl. II 2009, 55 = UR 2008, 340. 152 Vgl. EuGH, Urt. v. 27.9.2007 – C-409/04 – Teleos, EuGHE 2007, I-7797 = UR 2007, 774 – Rz. 25. 153 Vgl. EuGH, Urt. v. 26.1.2012 – C-588/10 – Kraft Foods Polska, ECLI:EU:C: 2012:40, UR 2012, 610 – Rz. 38 ff., zu einem Bestätigungserfordernis nach polnischem Recht, wenn auch unter Bezugnahme auf den unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; zweifelnd ENGLISCH in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 17 Rz. 414.
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besondere für die sog. Gelangensbestätigung im Falle innergemeinschaftlicher Lieferungen. Die Ausführungen zu Nachweispflichten als lediglich formelle Anforderung können unter Beachtung der bereichsspezifischen Besonderheiten grundsätzlich auf andere Pflichten mit Nachweisfunktion übertragen werden, die Voraussetzung für die Anwendung von vorteilhaften Regelungen sind. Dies gilt etwa für das Erfordernis der Vorlage einer Rechnung i.S.d. §§ 14, 14a UStG für den Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 2 UStG.154 2.3 Vertrauensschutz und Verhältnismäßigkeit Neben der Einordnung der Nachweispflichten als lediglich formelle Anforderung ist der Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes155 zu beachten. Dieser wird relevant, wenn der Unternehmer zwar die ihm auferlegten Pflichten im Rahmen des ihm Zumutbaren erfüllt hat, sich im Nachhinein aber herausstellt, dass die Voraussetzungen für die Steuerbefreiung tatsächlich nicht vorgelegen haben. Eine besondere Brisanz entsteht, wenn der nachweisverpflichtete Unternehmer bei der Nachweiserbringung auf die Mitwirkung des Geschäftspartners angewiesen ist und dieser Angaben macht, deren Richtigkeit der Unternehmer nur eingeschränkt überprüfen kann.156 Die Rechtsordnung muss in diesem Fall entscheiden, ob der Fiskus oder der Unternehmer das Risiko der erst nachträglichen Klärung der Erfüllung der Voraussetzungen tragen muss. Für den Bereich der innergemeinschaftlichen Lieferungen enthält § 6a Abs. 4 Satz 1 UStG eine spezielle Vertrauensschutzregelung, wonach eine Lieferung als steuerfrei anzusehen ist, wenn die Inanspruchnahme der Steuerbefreiung auf unrichtigen Angaben des Abnehmers beruht und der Unternehmer dabei die Unrichtigkeit dieser Angaben auch bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns nicht erkennen konnte. Eine derartige Vertrauensschutzregelung ist in der Mehrsteuersystemrichtlinie zwar nicht ausdrücklich vorgesehen.157 Sie ist aber 154 Vgl. EuGH, Urt. v. 11.12.2014 – C-590/13 – Idexx Laboratories Italia Srl, ECLI:EU:C:2014:2429, UR 2015, 70 – Rz. 29 ff.; ACHATZ, DStJG 32 (2009), S. 461 (479 ff.). 155 Allgemein zum Vertrauensschutz s. ACHATZ, DStJG 32 (2009), S. 461 (461 ff.). 156 Darauf hinweisend EuGH, Urt. v. 16.12.2010 – C-430/09 – Euro Tyre Holding, EuGHE 2010, I-13335 = UR 2011, 176 – Rz. 37; EuGH, Urt. v. 6.9.2012 – C-273/11 – Mecsek-Gabona, ECLI:EU:C:2012:547, UR 2012, 796 = HFR 2012, 1121 – Rz. 42. 157 Vgl. BFH, Urt. v. 25.4.2013 – V R 28/11, BStBl. II 2013, 656 = UR 2013, 764 – Rz. 17.
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dennoch zulässig, da sie eine bereichsspezifische Ausprägung des Vertrauensschutzes als eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes des Unionsrechts ist.158 Richtigerweise kann hier nicht die entsprechende rechtsstaatliche Gewährleistung des Grundgesetzes herangezogen werden, da es sich insoweit um eine bereits vom primären Unionsrecht vorgegebene inhärente inhaltliche Grenze der Regelungen der Mehrwertsteuersystemrichtlinie handelt. Diese primärunionsrechtliche Verortung des Vertrauensschutzes macht es möglich, den Schutz von Vertrauen grundsätzlich auch in anderen Bereichen des Umsatzsteuerrechts zu gewähren, auch wenn insoweit keine entsprechenden gesetzlichen Regelungen bestehen. Inhaltlich ist der Vertrauensschutz freilich unter Berücksichtigung der jeweiligen Besonderheiten zu konkretisieren.159 Vertrauensschutz kommt vor diesem Hintergrund insbesondere bei der Steuerbefreiung von Ausfuhrlieferungen i.S.d. § 4 Nr. 1 Buchst. b i.V.m. § 6 Abs. 1 Satz 1 UStG in Betracht,160 was der EuGH in der Entscheidung in der Rechtssache Netto Supermarkt161 (und ihm folgend der BFH162) ausdrücklich bestätigt hat. Danach kann der Unternehmer die Steuerbefreiung trotz Nichtvorliegens ihrer Voraussetzungen in Anspruch nehmen, wenn er dies auch bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns aufgrund der Fälschung von Ausfuhrnachweisen nicht erkennen konnte. Rechtstechnisch sollen die vertrauensschutzrechtlichen Vorgaben für Ausfuhrlieferungen nach Auffassung des BFH nicht durch eine analoge Anwendung der Vertrauensschutzregelung in § 6a Abs. 4 UStG umge-
158 Ähnlich BFH, Urt. v. 25.4.2013 – V R 28/11, BStBl. II 2013, 656 = UR 2013, 764 – Rz. 17, mit Verweis auf die Rechtsprechung des EuGH zum Vertrauensschutz; STADIE, UStG, 3. Aufl. 2015, § 6a Rz. 88; ferner ACHATZ, DStJG 32 (2009), S. 461 (471); ISMER/KEYSER in Oestreicher (Hrsg.), Aktuelle Fragen der Unternehmensbesteuerung, 2012, S. 1 (7); zur Problematik in Bezug auf innergemeinschaftliche Reihengeschäfte s. REIß, UR 2015, 733 (748 ff., 754 ff.). 159 Vgl. DRÜEN in Dietlein/Drüen (Hrsg.), Grundlagen und Reichweite des Vertrauensschutzes bei Ausfuhrlieferungen im nichtkommerziellen Reiseverkehr, 2010, S. 38 (45 ff.); DRÜEN, DB 2010, 1847 (1848) („funktionsspezifisch“). 160 Vgl. STADIE, UStG, 3. Aufl. 2015, § 6 Rz. 32. 161 Vgl. EuGH, Urt. v. 21.2.2008 – C-271/08 – Netto Supermarkt, EuGHE 2008, I-771 = UR 2008, 508 – Rz. 27; ausführlich dazu Dietlein/Drüen (Hrsg.), Grundlagen und Reichweite des Vertrauensschutzes bei Ausfuhrlieferungen im nichtkommerziellen Reiseverkehr, 2010. 162 Vgl. BFH, Urt. v. 30.7.2008 – V R 7/03, BStBl. II 2010, 1075 = UR 2009, 161 – Rz. 46.
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setzt werden.163 Eine Gewährung von Vertrauensschutz soll vielmehr im Billigkeitsverfahren nach §§ 163, 227 AO erfolgen,164 was freilich nur ein „Notbehelf“165 sein kann, weil die Billigkeitsentscheidung durch die unionsrechtliche Vorgeprägtheit ihren Ausnahmecharakter verliert und zudem verschiedene, hier nicht näher zu behandelnde verfahrensrechtliche Zweifelsfragen aufgeworfen werden.166 Über die Steuerbefreiungen im grenzüberschreitenden Warenverkehr hinaus können die Ausführungen über den primärunionsrechtlichen Vertrauensschutz unter Berücksichtigung bereichsspezifischer Besonderheiten167 grundsätzlich auf alle Bereiche des Umsatzsteuerrechts übertragen werden, in denen die umsatzsteuerrechtliche Behandlung des Unternehmers vom Verhalten eines Dritten, insbesondere eines Geschäftspartners, abhängt. Dies betrifft etwa den Verzicht auf Steuerbefreiungen nach § 9 Abs. 1 UStG oder die Ausstellung von Rechnungen i.S.d. §§ 14, 14a UStG im Hinblick auf die Erlangung des Vorsteuerabzugs (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 2 UStG), aber auch innergemeinschaftliche Dienstleistungen. All dies kann hier jedoch nicht vertieft werden.168 In allen Fällen des Vertrauensschutzes ist es erforderlich, dass das Vertrauen des Unternehmers schutzwürdig ist. Deshalb dürfen die Mit-
163 Vgl. BFH, Urt. v. 30.7.2008 – V R 7/03, BStBl. II 2010, 1075 = UR 2009, 161 – Rz. 32; so auch DRÜEN in Dietlein/Drüen (Hrsg.), Grundlagen und Reichweite des Vertrauensschutzes bei Ausfuhrlieferungen im nichtkommerziellen Reiseverkehr, 2010, S. 38 (42 ff.). 164 Vgl. BFH, Urt. v. 30.7.2008 – V R 7/03, BStBl. II 2010, 1075 = UR 2009, 161 – Rz. 48; ferner BFH, Urt. v. 22.7.2015 – V R 23/14, UR 2015, 796 – Rz. 31, 46, in Bezug auf Vertrauensschutz beim Vorsteuerabzug; ENGLISCH in Tipke/ Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 17 Rz. 405. 165 Vgl. DRÜEN in Dietlein/Drüen (Hrsg.), Grundlagen und Reichweite des Vertrauensschutzes bei Ausfuhrlieferungen im nichtkommerziellen Reiseverkehr, 2010, S. 38 (87 ff.); DRÜEN, DB 2010, 1847 (1849 f.). 166 Vgl. ISMER/KEYSER in Oestreicher (Hrsg.), Aktuelle Fragen der Unternehmensbesteuerung, 2012, S. 1 (11 f., 16 f.). 167 S.o. Abschn. 2.3 und 2.2 zu demselben Erfordernis der Berücksichtigung bereichsspezifischer Besonderheiten hinsichtlich der Einordnung von Nachweispflichten als lediglich formelle Anforderung. 168 Siehe dazu insbesondere die Beiträge von HEIDI FRIEDRICH-VACHE und ULRICH GRÜNWALD in diesem Tagungsband; ferner s. FRIEDRICH-VACHE, UR 2014, 646 (650), zum Verzicht auf Steuerbefreiungen nach § 9 Abs. 1 UStG; HASSA, UR 2015, 809 (813 ff.) zu innergemeinschaftlichen Dienstleistungen; TEHLER, UR 2015, 729 ff. zur Problematik bei der Umkehr der Steuerschuldnerschaft nach § 13b Abs. 2 Nr. 4 Satz 1 UStG im Falle von Bauträgergeschäften nach dem Gesetz zur Anpassung des nationalen Steuerrechts an den Beitritt Kroatiens zur EU und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften v. 25.7.2014, BGBl. I 2014, 1266.
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gliedstaaten nach Auffassung des EuGH in der Rechtssache R169 eine Steuerbefreiung versagen, wenn der Unternehmer bewusst unzutreffende Angaben macht oder unrichtige Unterlagen vorlegt.170 Bestehen ernsthafte Gründe für die Annahme, dass im Bestimmungsland keine Erwerbsbesteuerung erfolgt, sollen die Mitgliedstaaten sogar verpflichtet sein, die Steuerbefreiung zu versagen.171 Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass der EuGH die vorgenommene Risikoverteilung als Folge des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes ergänzend auf den unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stützt.172 Im Hinblick auf die Funktion des Unternehmers als „Steuereinnehmer für Rechnung des Staates“ wäre es unverhältnismäßig, wenn allein dem Unternehmer das Risiko falscher Angaben des Abnehmers aufgebürdet würde. 3. Keine Pflicht zur Vorfinanzierung der Umsatzsteuer über mehrjährige Zeiträume bei Soll-Besteuerung Im zweiten Beispiel, das die Pflicht zur Entrichtung der Umsatzsteuer und ihre Berechnung betrifft, stellt sich zunächst die Frage gleichheitsrechtlicher Grenzen der umsatzsteuerlichen Pflichten des Unternehmers. Sofern nicht die Voraussetzungen für die Berechnung der Umsatzsteuer nach vereinnahmten Entgelten aus § 20 Satz 1 UStG vorliegen (sog. Istbesteuerung), ist die Umsatzsteuer gemäß § 16 Abs. 1 Satz 1 UStG nach vereinbarten Entgelten zu berechnen (sog. Sollbesteuerung). Die Berechnung der Umsatzsteuer nach vereinbarten Entgelten führt anders als die Berechnung der Umsatzsteuer nach vereinnahmten Entgelten zu einer (liquiditätsbelastenden) Vorfinanzierung173 der Umsatzsteuer durch den Unternehmer bis zur Erbringung der Gegenleistung (Entgelt) 169 Vgl. EuGH, Urt. v. 7.12.2010 – C-285/09 – R, EuGHE 2010, I-12605 = UR 2011, 15 – Rz. 49 ff. 170 Siehe dazu insbesondere den Beitrag von WOLFRAM REIß in diesem Tagungsband. 171 Vgl. EuGH, Urt. v. 7.12.2010 – C-285/09 – R, EuGHE 2010, I-12605 = UR 2011, 15 – Rz. 52; ferner EuGH, Urt. v. 6.9.2012 – C-273/11 – Mecsek-Gabona, ECLI:EU:C:2012:547, UR 2012, 796 = HFR 2012, 1121 – Rz. 48 f., 54 f.; ähnlich schon EuGH, Urt. v. 27.9.2007 – C-146/05 – Collée, EuGHE 2007, I-7861 = UR 2007, 813 – Rz. 34 ff.; BFH, Urt. v. 21.5.2014 – V R 34/13, BStBl. II 2014, 914 = UR 2014, 774 – Rz. 43. Eine Nichtbesteuerung im Herkunftsland soll wegen des konzeptionell vorgesehenen Bestimmungslandprinzips keine maßgebliche Gefährdung des Steueraufkommens darstellen, vgl. EuGH, Urt. v. 27.9.2007 – C-146/05 – Collée, EuGHE 2007, I-7861 = UR 2007, 813 – Rz. 37. 172 Vgl. EuGH, Urt. v. 21.2.2008 – C-271/08 – Netto Supermarkt, EuGHE 2008, I-771 = UR 2008, 508 – Rz. 22 f. 173 Vgl. BFH, Urt. v. 8.3.2012 – V R 49/10, BFH/NV 2012, 1665 – Rz. 23, 44.
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durch den Leistungsempfänger. Diese Ungleichbehandlung ist unionsrechtlich nicht zwingend, vielmehr können die Mitgliedstaaten die Istbesteuerung (Art. 66 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL) als Ausnahme von der Sollbesteuerung (Art. 63 MwStSystRL) vorsehen. Wegen dieses Umsetzungsspielraums für die Mitgliedstaaten hat das BVerfG174 zutreffend die Vereinbarkeit der bestehenden Ungleichbehandlung mit dem Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG geprüft und grundsätzlich bejaht.175 Ungeachtet der grundsätzlichen Verfassungsmäßigkeit der Sollbesteuerung soll die Vorfinanzierung der Umsatzsteuer nach der Rechtsprechung des BFH den Gleichheitssatz verletzen, wenn sie sich über mehrere Jahre (in einem konkreten Fall waren es zwei bis fünf Jahre176) erstreckt.177 Der BFH stützt seine Entscheidung auch auf eine Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.178 Wegen des für die Einführung einer sog. Istbesteuerung bestehenden Umsetzungsspielraums sind die Grenzen für die Ausfüllung dieses Umsetzungsspielraums179 dem nationalen Verfassungsrecht zu entnehmen, somit also dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes. Die Unverhältnismäßigkeit der Vorfinanzierung der Umsatzsteuer ergibt sich daraus, dass der Unternehmer neben den von ihm zu tragenden administrativen Belastungen, die mit seiner Funktion als „Steuereinnehmer für Rechnung des Staates“ verbunden sind, auch Zins- und Liquiditätsnachteile erleidet.180 174 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 20.3.2013 – 1 BvR 3063/10, UR 2013, 468 – Rz. 20 ff. 175 Ebenso BFH, Urt. v. 24.10.2013 – V R 31/12, BStBl. II 2015, 674 = UR 2014, 238 – Rz. 13. 176 Vgl. BFH, Urt. v. 24.10.2013 – V R 31/12, BStBl. II 2015, 674 = UR 2014, 238 – Rz. 19 f. 177 So auch schon BFH, Urt. v. 22.7.2010 – V R 4/09, BStBl. II 2013, 590 = UR 2011, 69 – Rz. 44; BFH, Urt.v. 8.3.2012 – V R 49/10, BFH/NV 2012, 1665 – Rz. 23, wenn auch noch nicht bezogen auf den verfassungsmäßigen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG. Im Ergebnis auch WÄGER, UR 2013, 673 (675 f.), der die Wahlrechtsausübung nach Art. 66 Abs. 1 Buchst. b und nach Art. 90 Abs. 1 MwStSystRL (dazu in Bezug auf § 17 Abs. 1 Satz 1 UStG sogleich im Text und in nachfolgenden Fußnoten) aufgrund des Grundsatzes der Gleichbehandlung in seiner speziellen Ausprägung der steuerlichen Neutralität verknüpfen will (richtigerweise folgt die Bindung bei der Ausfüllung des von Art. 90 Abs. 1 MwStSystRL eingeräumten Umsetzungsspielraums aus dem verfassungsmäßigen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG; dazu s. III. 3.3). 178 Vgl. BFH, Urt. v. 22.7.2010 – V R 4/09, BStBl. II 2013, 590 = UR 2011, 69 – Rz. 39; BFH, Urt. v. 24.10.2013 – V R 31/12, BStBl. II 2015, 674 = UR 2014, 238 – Rz. 13, 21. 179 S.o. III.3.3. 180 Vgl. BFH, Urt. v. 22.7.2010 – V R 4/09, BStBl. II 2013, 590 = UR 2011, 69 – Rz. 39; BFH, Urt. v. 24.10.2013 – V R 31/12, BStBl. II 2015, 674 = UR 2014, 238 – Rz. 13, 21.
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Rechtstechnisch sollen die Ungleichbehandlung und die Unverhältnismäßigkeit der Vorfinanzierung der Umsatzsteuer – im Hinblick auf die Rechtsprechung des BVerfG181 im Wege einer verfassungskonformen Auslegung und Anwendung des deutschen Umsatzsteuergesetzes182 – durch eine Qualifizierung des Entgelts als „uneinbringlich“ i.S.d. § 17 Abs. 2 Nr. 1 UStG und damit durch eine entsprechende Berichtigung der Bemessungsgrundlage nach § 17 Abs. 1 Satz 1 UStG beseitigt werden.183
VII. Verfassungsrechtliche Grenzen bei Kumulation von umsatzsteuerlichen Pflichten 1. Kumulation von umsatzsteuerlichen und außerumsatzsteuerlichen Pflichten Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass die zahlreichen umsatzsteuerlichen Pflichten des Unternehmers zwar verfassungs- oder unionsrechtlichen Grenzen unterliegen, diese Grenzen häufig jedoch nicht überschritten sein dürften. Auch weitere Belastungen aus Pflichten im außerumsatzsteuerlichen Bereich (etwa Steuerbelastungen und Mitwirkungspflichten bei direkten Steuern einschließlich der Pflicht zum Steuerabzug für Rechnung Dritter insbesondere im Rahmen der Lohnsteuer) und im außersteuerlichen Bereich (etwa bei der Sozialversicherung oder der Rechnungslegung) mögen für sich genommen verfas181 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 20.3.2013 – 1 BvR 3063/10, UR 2013, 468 Rz. 20 ff. 182 Vgl. BFH, Urt. v. 22.7.2010 – V R 4/09, BStBl. II 2013, 590 = UR 2011, 69 – Rz. 44; BFH, Urt. v. 8.3.2012 – V R 49/10, BFH/NV 2012, 1665 – Rz. 23; BFH, Urt. v. 24.10.2013 – V R 31/12, BStBl. II 2015, 674 = UR 2014, 238 – Rz. 20, wenn auch jeweils ohne konkreten Bezug zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben. 183 Vgl. BFH, Urt. v. 22.7.2010 – V R 4/09, BStBl. II 2013, 590 = UR 2011, 69 – Rz. 44; BFH, Urt. v. 8.3.2012 – V R 49/10, BFH/NV 2012, 1665 – Rz. 23; BFH, Urt. v. 24.10.2013, V R 31/12, BStBl. II 2015, 674 = UR 2014, 238 – Rz. 13; Abschn. 17.1 Abs. 5 Satz 2, 3 UStAE; BMF, Schr. v. 3.8.2015 – III C 2 - S 7333/08/10001:004 – DOK 2015/0660238, BStBl. I 2015, 624. Dieser Weg ist aus unionsrechtlicher Sicht gangbar, da die Bemessungsgrundlage nach Art. 90 Abs. 1 MwStSystRL unter anderem im Falle der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung des Entgelts nach Bewirkung des Umsatzes „unter den von den Mitgliedstaaten festgelegten Bedingungen“ vermindert wird und damit für die Berichtigung der Bemessungsgrundlage keine entgegenstehenden unionsrechtlichen Vorgaben bestehen. Vgl. BFH, Urt. v. 8.3.2012 – V R 49/10, BFH/NV 2012, 1665 – Rz. 20; BFH, Urt. v. 24.10.2013 – V R 31/12, BStBl. II 2015, 674 = UR 2014, 238 – Rz. 18, 23. Im Übrigen dürfen die Mitgliedstaaten bei der „vollständigen und teilweisen Nichtbezahlung“ nach Art. 90 Abs. 2 MwStSystRL (wohl umfassend) von den allgemeinen Regelungen abweichen. Vgl. BFH, Urt. v. 8.3.2012 – V R 49/10, BFH/NV 2012, 1665 – Rz. 19.
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sungs- bzw. unionsrechtskonform sein. Dennoch stellt sich die Frage, ob nicht durch die Kumulation aller – oder zumindest der umsatzsteuerlichen – Belastungen des Unternehmers verfassungs- oder unionsrechtliche Grenzen überschritten werden. 2. Grundrechtliche Relevanz der Kumulation von Belastungen 2.1 Rechtsfigur des sog. kumulativen oder additiven Grundrechtseingriffs Das Phänomen der Kumulation von Belastungen ist in der Rechtsprechung und in der Wissenschaft unter dem Schlagwort des sog. kumulativen bzw. additiven Grundrechtseingriffs bekannt.184 Nach Auffassung des BVerfG „ist es grundsätzlich möglich, dass verschiedene einzelne, für sich betrachtet geringfügige Eingriffe in grundrechtlich geschützte Bereiche in ihrer Gesamtwirkung zu einer schwerwiegenden Beeinträchtigung führen, die das Maß der rechtsstaatlich hinnehmbaren Eingriffsintensität überschreitet“.185 So verstanden handelt es sich bei der Problematik der Kumulation von Belastungen um eine Frage der Angemessenheit der Gesamtbelastung (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, Proportionalität) im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung.186 Folglich ist im Falle einer Kumulation von Belastungen stets eine zweistufige Verhältnismäßigkeitsprüfung187 vorzunehmen, nämlich zunächst im Hinblick auf die Einzelmaßnahmen188 und anschließend im Hinblick auf die Gesamtheit der Maßnahmen.189 184 Grundlegend LÜCKE, DVBl. 2001, 1469 (1469 ff.); ferner BVerfG, Urt. v. 12.4.2005 – 2 BvR 581/01, BVerfGE 112, 304 (319); BERNSDORFF, SGb 2011, 121 (121 ff.); G. KIRCHHOF, NJW 2006, 732 (732 ff.); VOßKUHLE/KAISER, JuS 2009, 313 (314); WEBER, JA 2014, 881 (881 ff.). 185 Vgl. BVerfG, Urt. v. 10.6.2009 – 1 BvR 706/08, BVerfGE 123, 186 (265 f.); BVerfG, Beschl. v. 27.3.2012 – 2 BvR 2258/09, BVerfGE 130, 372 (392); BVerfG, Beschl. v. 3.6.2014 – 1 BvR 79/09, u.a., EuGRZ 2014, 553 – Rz. 83. Eine Bestätigung des sog. kumulativen bzw. additiven Grundrechtseingriffs wird in Art. 106 Abs. 3 Satz 4 Nr. 2 GG und in Art. 103 Abs. 3 GG gesehen. Vgl. LÜCKE, DVBl. 2001, 1469 (1477); ferner GRÜNWALD/FRIZ, DStR 2012, 2106 (2108), zu Art. 106 Abs. 3 Satz 4 Nr. 2 GG; außerdem s.o. III.5.2. 186 Vgl. BERNSDORFF, SGb 2011, 121 (123); ferner BVerfG, Urt. v. 27.3.2012 – 2 BvR 2258/09, BVerfGE 130, 372. 187 Vgl. KLAR, MMR 2012, 788 (790). 188 Ist bereits die Einzelmaßnahme unverhältnismäßig, ist sie schon für sich betrachtet verfassungswidrig und nicht in die Gesamtbetrachtung einzubeziehen. 189 Das Steuerrecht dürfte schon an sich, insbesondere aber auch im Hinblick auf die Einbeziehung außersteuerlicher Pflichten ein wichtiger Anwendungsbereich für die Anwendung der Rechtsfigur des additiven Grundrechtseingriffs sein. Vgl. LÜCKE, DVBl. 2001, 1469 (1476, 1478), mit Hinweis
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Der kumulative bzw. additive Grundrechtseingriff ist hinsichtlich seiner Voraussetzungen und Rechtsfolgen bislang wenig konturiert. Im vorliegenden Rahmen kann zwar keine umfassende umsatzsteuerspezifische oder gar allgemeine Aufarbeitung der Problematik erfolgen, möglich sind jedoch einige Überlegungen zu zentralen Fragestellungen. 2.2 Voraussetzungen für Gesamtbetrachtung Die Rechtsprechung des BVerfG hat sich mangels Entscheidungserheblichkeit noch nicht umfassend zu den Voraussetzungen des kumulativen bzw. additiven Grundrechtseingriffs geäußert. Dagegen haben sich in der wissenschaftlichen Literatur190 schon einige Voraussetzungen herausgebildet. Demnach können grundsätzlich nur Eingriffe berücksichtigt werden, die ein und dieselbe Person(engruppe) treffen.191 Ferner müssen die einzelnen Maßnahmen in Grundrechte eingreifen, die für einen bestimmten einheitlichen Lebensbereich maßgeblich sein können,192 wie etwa die Berufsfreiheit und die Eigentumsfreiheit für unternehmerisch tätige Personen.193 Außerdem müssen die Eingriffe gegenwärtig sein.194 Eingriffe, die bereits abgeschlossen sind und nicht fortgesetzt werden, können folglich nicht im Rahmen eines additiven Grundrechtseingriffs berücksichtigt werden. Schließlich müssen die Eingriffe einen bestimmten Lebensbereich, beispielweise die unternehmerische Tätigkeit, erfas-
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auf die Rechtsprechung des BVerfG, das gelegentlich schon die „Gesamtsteuerbelastung“ berücksichtigt hat. Diesbezüglich gab es den sog. Halbteilungsgrundsatz, der auf die Begrenzung der „Gesamtsteuerbelastung“ abzielte. Vgl. BVerfG, Urt. v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (138). Dieser war eine bereichsspezifische Ausformung des Verbots von Gesamtbelastungen, der mittlerweile zu Gunsten des Verbots einer unangemessenen Steuerbelastung wieder aufgegeben wurde. Vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97 (115 f.). Für die hier interessierenden Belastungen, die gerade nicht nur in Steuerbelastungen bestehen, ist dagegen der additive Grundrechtseingriff von erheblicher Bedeutung. Vgl. LÜCKE, DVBl. 2001, 1469 (1470 ff.). Vgl. HILLGRUBER in Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band 9, 3. Aufl. 2011, § 200 Rz. 97; LÜCKE, DVBl. 2001, 1469 (1470). Vgl. BERNSDORFF, SGb 2011, 121 (122); HILLGRUBER in Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band 9, 3. Aufl. 2011, § 200 Rz. 97; G. KIRCHHOF, NJW 2006, 732 (734);WEBER, JA 2014, 881 (884 f.). Vgl. LÜCKE, DVBl. 2001, 1469 (1470 ff.). Vgl. LÜCKE, DVBl. 2001, 1469 (1470); offengelassen von BVerfG, Beschl. v. 3.6.2014 – 1 BvR 79/09, u.a., EuGRZ 2014, 553 – Rz. 84; zur zeitlichen Dimension insbesondere s. WEBER, JA 2014, 881 (885 f.).
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sen.195 Es dürfen also nicht Belastungen jeglicher Art und aus einem anderen, etwa dem privaten, Bereich einbezogen werden.196 Es ist nicht erforderlich, dass die Rechtsgrundlagen für die einzelnen Eingriffe in demselben Gesetz enthalten sind.197 Die maßgeblichen Eingriffe können sogar von unterschiedlichen Gewalten (insbesondere Legislative und Exekutive) bewirkt werden.198 In einem „Mehrebenensystem“ wie der EU und ihren Mitgliedstaaten müssen auch Belastungen aufgrund von Rechtsgrundlagen berücksichtigt werden, die – wie im Umsatzsteuerrecht – wegen einer Aufteilung der Zuständigkeiten unterschiedlichen Ebenen entstammen, gleichwohl aber denselben Lebensbereich betreffen. 2.3 Kriterien für die Verhältnismäßigkeitsprüfung Anders als für die Voraussetzungen eines kumulativen bzw. additiven Grundrechtseingriffs hat das BVerfG in Bezug auf die inhaltlichen Kriterien für die Verhältnismäßigkeitsprüfung schon präzisierende Konkretisierungen vorgenommen. In seiner Entscheidung zur Einführung des sog. Basistarifs im Rahmen der Gesundheitsreform 2007 hat es darauf abgestellt, ob einzelne Maßnahmen „in ihrem kumulativen Zusammenwirken das Geschäftsmodell der privaten Krankenversicherungsunternehmen aktuell ernsthaft bedrohen“.199 Verallgemeinernd kann man daraus folgern, dass der kumulative bzw. additive Grundrechtseingriff für den Betroffenen nicht existenzgefährdend sein darf. Bestätigt wird diese Einschätzung durch die vom BVerfG entwickelten Kriterien für die Verhältnismäßigkeit einer sog. Indienstnahme Privater.200 Diesbezüglich stand zwar regelmäßig nur eine einzelne Maßnahme auf dem verfassungsrechtlichen Prüfstand. Die für diese Fälle herausgearbeiteten Kriterien können jedoch als Mindeststandard auch bei einer Mehrzahl von 195 Vgl. BVerfG, Urt. v. 12.4.2005 – 2 BvR 581/01, BVerfGE 112, 304 (319); OVG NRW, Beschl. v. 26.11.2013 – 14 A 2401/13, juris; FG Bremen, Urt. v. 20.2.2014 – 2 K 84/13 (1), EFG 2014, 964; ferner BERNSDORFF, SGb 2011, 121 (122); HILLGRUBER in Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band 9, 3. Aufl. 2011, § 200 Rz. 97; G. KIRCHHOF, NJW 2006, 732 (734); enger LÜCKE, DVBl. 2001, 1469 (1470 f.). 196 So wohl auch WÜRSIG, Die Steuerung von Summenbelastungen im öffentlichen Immissionsschutzrecht, 2009, S. 59 ff. 197 Vgl. LÜCKE, DVBl. 2001, 1469 (1474). 198 Vgl. LÜCKE, DVBl. 2001, 1469 (1471). 199 Vgl. BVerfG, Urt. v. 10.6.2009 – 1 BvR 706/08, BVerfGE 123, 186 (265 f.); ähnlich BSG, Urt. v. 20.4.2010 – B 1 KR 19/09 R, SozR 4-5562 § 8 Nr. 1; BSG, Urt. v. 29.4.2010 – B 3 KR 11/09 R, SozR 4-5562 § 8 Nr. 2. 200 Ausführlich zur sog. Indienstnahme Privater s. DRÜEN, Die Indienstnahme Privater für den Vollzug von Steuergesetzen, 2012.
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Maßnahmen im Rahmen eines kumulativen bzw. additiven Grundrechtseingriffs herangezogen werden. Nach Auffassung des BVerfG in der zentralen Entscheidung zur Indienstnahme Privater, die die Bevorratungspflicht für Erdölerzeugnisse201 betraf, komme es darauf an, ob die maßgebliche Verpflichtung für die Gesamtheit der betroffenen Berufsgruppe zu einer ernsthaften, nicht vermeidbaren, die wirtschaftliche Existenz gefährdenden Beeinträchtigung der Unternehmensrentabilität führt.202 Dabei müsse den betroffenen Unternehmen grundsätzlich zugemutet werden, die rentabilitätsmindernden Auswirkungen der Belastung durch geeignete betriebswirtschaftliche Maßnahmen so gering wie möglich zu halten.203 Darüber hinaus weist das BVerfG auf die Möglichkeit zur Überwälzung der Kosten auf den Verbraucher hin.204 Schließlich muss das Vorliegen der Unverhältnismäßigkeit am Maßstab dieser Kriterien nachgewiesen werden, bloße Vermutungen genügen nicht.205 Das BVerfG scheint bei seinen Überlegungen von der Belastungswirkung für einen „Durchschnittsgrundrechtsträger“ auszugehen, wenn es in seiner Entscheidung zur Erdölbevorratung auf die „Gesamtheit der betroffenen Berufsgruppe“206 abhebt. Die Verhältnisse einzelner Grundrechtsträger dürften somit grundsätzlich unerheblich und allenfalls im Rahmen der Anwendung der maßgeblichen Regelungen im Einzelfall zu berücksichtigen sein.207 2.4 Rechtsfolgen Auf der Rechtsfolgenseite ist fraglich, ob die festgestellte Verfassungswidrigkeit sämtliche Maßnahmen oder nur eine Einzelmaßnahme erfasst. In 201 Vgl. BVerfG, Urt. v. 16.3.1971 – 1 BvR 52/66, BVerfGE 30, 292; ferner BVerfG, Beschl. v. 29.11.1967 – 1 BvR 175/66, BVerfGE 22, 380. 202 Vgl. BVerfG, Urt. v. 16.3.1971 – 1 BvR 52/66, BVerfGE 30, 292 (325). 203 Vgl. BVerfG, Urt. v. 16.3.1971 – 1 BvR 52/66, BVerfGE 30, 292 (325). 204 Vgl. BVerfG, Urt. v. 16.3.1971 – 1 BvR 52/66, BVerfGE 30, 292 (326), unter Hinweis auf BVerfG, Urt. v. 10.5.1962 – 1 BvL 31/58, BVerfGE 14, 76 (95 ff.); BVerfG, Beschl. v. 28.1.1970 – 1 BvL 4/67, BVerfGE 27, 375 (384). 205 Vgl. BVerfG, Urt. v. 13.9.2005 – 2 BvF 2/03, BVerfGE 114, 196 (247 f.); ferner BVerfG, Urt. v. 10.6.2009 – 1 BvR 706/08, BVerfGE 123, 186. 206 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 16.3.1971 – 1 BvR 52/66, BVerfGE 30, 292 (325); ferner vgl. FG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 7.7.2015 – 6 K 6071/12, EFG 2015, 1843 (Revision eingelegt; Az. des BFH II R 43/15); FG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 7.7.2015 – 6 K 6070/12, juris (Revision eingelegt; Az. des BFH II R 42/15), jeweils zur kumulativen Belastung mit Vergnügungsteuer und Einschränkungen aufgrund der GewO und des Berliner SpielhG für den Betrieb von Spielhallen. 207 Ebenso LEISNER, Die verfassungsrechtliche Belastungsgrenze der Unternehmen, 1996, S. 42 ff.
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letzterem Fall müsste bestimmt werden, welche der Einzelmaßnahmen als verfassungswidrig anzusehen wäre (beispielsweise die im konkreten Fall angegriffene,208 die älteste oder die neueste Einzelmaßnahme209). Richtigerweise sollte das BVerfG lediglich die Unvereinbarkeit des kumulativen bzw. additiven Grundrechtseingriffs mit dem Grundgesetz feststellen210 und die Entscheidung über die Art und Weise der Beseitigung der Verfassungswidrigkeit dem Gesetzgeber überlassen,211 der – zumindest teilweise – unmittelbar demokratisch legitimiert ist. Dies entspräche der Rechtslage bei einer Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes, wo es regelmäßig auch mehrere Möglichkeiten für die Beseitigung einer verfassungswidrigen Ungleichbehandlung gibt.212 Beim Zusammentreffen von gesetzlichen Belastungen und Belastungen aus Verwaltungsanweisungen213 (wie bei den Nachweispflichten214) ist es die gemeinsame Pflicht der zuständigen Organe der legislativen und der exekutiven Gewalt, die Verfassungswidrigkeit zu beseitigen. Treffen unionsrechtlich determinierte Belastungen und Belastungen zur Ausfüllung von Umsetzungsspielräumen zusammen, haben der nationale Gesetzgeber durch Erlass eigener Maßnahmen oder die zuständigen Organe durch Einwirken auf den Unionsgesetzgeber mit Blick auf eine Änderung der unionsrechtlichen Vorgaben den verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen. 3. Folgerungen für die umsatzsteuerlichen Pflichten des Unternehmers Im Hinblick auf die Grenzen der umsatzsteuerlichen Pflichten des Unternehmers könnten die Voraussetzungen für die Annahme eines kumulativen bzw. additiven Grundrechtseingriffs jedenfalls insoweit gegeben sein, als man nur die umsatzsteuerlichen Pflichten berücksichtigt. Ob man darüber hinaus auch außerumsatzsteuerliche oder gar außersteuerliche Pflichten einbeziehen dürfte, erscheint dagegen fraglich, weil es sich insoweit schon um andere „Lebensbereiche“ handeln könnte. Hinsichtlich der Rechtsfolgen wäre dann zu prüfen, ob die Gesamtheit der umsatzsteu208 Dies kann vorkommen, weil nicht zwingend das Maßnahmenbündel angegriffen wird. Vgl. LÜCKE, DVBl. 2001, 1469 (1473 Fn. 27);WEBER, JA 2014, 881 (887). 209 Diese Auswahl entspräche den Verbrauchsfolgeverfahren zur Bewertungsvereinfachung bei der Bewertung des Vorratsvermögens im Bilanz(steuer)recht (§ 256 Satz 1 HGB, § 6 Abs. 1 Nr. 2a EStG). 210 Ebenso G. KIRCHHOF, NJW 2006, 732 (735). 211 Vgl. WEBER, JA 2014, 881 (887). 212 Vgl. BVerfG, Urt. v. 9.3.2004 – 2 BvL 17/02, BVerfGE 110, 94 (138). 213 S.o. 2.2. 214 S.o. II.2.3.
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erlichen Pflichten des Unternehmers existenzgefährdend ist, wobei die ihm zumutbaren Vorkehrungen zur Abmilderung der Belastungen und die Möglichkeit zur Überwälzung der entsprechenden Kosten auf den Verbraucher zu seinen Lasten zu berücksichtigen wären. Eine derart weitreichende Folge kann beim gegenwärtigen Stand des Umsatzsteuerrechts nicht ausgeschlossen, aber auch nicht mit der erforderlichen Sicherheit festgestellt werden. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang auch die Kleinunternehmerregelung in § 19 UStG,215 die für bestimmte Unternehmer eine erhebliche Entlastung hinsichtlich der umsatzsteuerlichen Pflichten des Unternehmers bringt, andererseits aber auch die neutralitätsprinzipwidrige Versagung des Vorsteuerabzugs.216
VIII. Schluss Die Ausführungen haben ein aus der Sicht wohl vieler Unternehmer ernüchterndes Bild ergeben. Die zweifelsohne zahlreichen umsatzsteuerlichen Pflichten des Unternehmers dürften für sich genommen – zumindest dem Grunde nach – verfassungs- bzw. unionsrechtskonform sein, weil sie sich innerhalb der hier kurz skizzierten Grenzen halten. Auch die Gesamtschau sämtlicher umsatzsteuerlicher Pflichten des Unternehmers unter Einbeziehung der sicherlich ebenso zahlreichen außerumsatzsteuerlichen und außersteuerlichen Pflichten dürfte beim gegenwärtigen Stand nicht zu einer unverhältnismäßigen Belastung des Unternehmers führen. Dies gilt freilich nur, wenn auch die Anwendung der gesetzlichen Regelungen durch die Finanzverwaltung im Einzelfall hinsichtlich einzelner und der Gesamtheit der Pflichten des Unternehmers nicht unverhältnismäßig ist. Die Finanzverwaltung hat dies uneingeschränkt sicherzustellen. Die Rechtsprechung muss die Einhaltung dieser Vorgaben durch die Finanzverwaltung überwachen und ggf. korrigierend eingreifen. In Massenverfahren wie im Bereich des Umsatzsteuerrechts werden diese Forderungen freilich nicht immer flächendeckend gelebt werden (können). Die hier angenommene Einschätzung der grundsätzlichen Verfassungsbzw. Unionsrechtkonformität der bestehenden umsatzsteuerlichen Pflichten des Unternehmers darf aber keinesfalls als Freibrief für den Gesetzgeber verstanden werden, unbesehen bestehende Pflichten beizubehalten oder zu verschärfen oder gar neue Pflichten einzuführen. Vielmehr sollte der Gesetzgeber alle Optionen217 prüfen und ausüben, 215 S.o. II.5. 216 S.o. II.5. 217 Zu derartigen Vorschlägen s. ISMER/PULL/ENDRES, MwStR 2013, 260 (260 ff.); ferner siehe den Beitrag von ROLAND ISMER in diesem Tagungsband.
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um die Belastungen für Unternehmer, insbesondere in Gestalt von Befolgungskosten, zu verringern. Diesbezüglich käme eine kritische Überprüfung der bestehenden umsatzsteuerlichen Pflichten des Unternehmers in Betracht, im Zusammenwirken mit der EU aber auch eine weitere Harmonisierung des Umsatzsteuerrechts durch die Beseitigung von Umsetzungsspielräumen. Letzteres brächte freilich vor allem für grenzüberschreitend agierende Unternehmer Vorteile.
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Die Umsatzbesteuerung in Abhängigkeit vom Geschäftspartner – Problemfall: Geschäftsveräußerung im Ganzen – Dr. FRIEDERIKE GRUBE, Richterin am Bundesfinanzhof, München Inhaltsübersicht I. Einführung in das Thema . . II. Die Rechtsfolgen der Anwendung dieser Vereinfachungsregelung im Überblick 1. Kein steuerbarer Umsatz für Leistenden und kein Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers . . . 2. Keine Vorsteuerkorrektur beim Leistenden, sondern beim Leistungsempfänger . . . . . . . . . . . . 3. Rechtsfolgen von „Irrtümern“ bei Annahme einer Geschäftsveräußerung im Ganzen . . . . . . . III. Annahme einer Geschäftsveräußerung im Ganzen . . .
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1. Allgemeine Grundsätze der Rechtsprechung zu den Voraussetzungen . . . 2. Geschäftsveräußerung im Ganzen bei der Übertragung von Immobilien 3. Weitere neuere Rechtsprechung des EuGH und des BFH zur Geschäftsveräußerung im Ganzen und Hinweise auf beim BFH anhängige Revisionsverfahren . . . . . 4. Gibt es eine grenzüberschreitende Geschäftsveräußerung im Ganzen?. . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . 102 84
I. Einführung in das Thema Die EU-Mitgliedstaaten sind nach Art. 19 und 29 der Richtlinie 2006/ 112/EG (Mehrwertsteuersystemrichtlinie – MwStSystRL)1 befugt, die sog. Geschäftsveräußerung im Ganzen als nicht steuerbaren Umsatz zu behandeln. Die Bundesrepublik Deutschland hat mit der in § 1 Abs. 1a des Umsatzsteuergesetzes (UStG) getroffenen Regelung von dieser Ermächtigung Gebrauch gemacht. Dabei entspricht der Wortlaut der nationalen Bestimmung zwar ersichtlich nicht in jeder Hinsicht den
1 Bis zum 31.12.2006: Art. 5 Abs. 8 und Art. 6 Abs. 5 der Richtlinie 77/388/EG – sog. 6. EG-Richtlinie.
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unionsrechtlichen Vorgaben. Zur Vermeidung sich hieraus ergebender Unstimmigkeiten ist § 1 Abs. 1a UStG aber jedenfalls unionsrechtskonform auszulegen.2 Der Sinn und Zweck dieser Regelung besteht darin, Umstrukturierungen von Unternehmen zu vereinfachen und Übertragungen von Unternehmen und Unternehmensteilen zu erleichtern. Ferner soll eine übermäßige finanzielle Belastung des Erwerbers durch eine hohe Steuer vermieden werden, die dieser andernfalls durch den Vorsteuerabzug wiederbekommen würde.3 Das Unterlassen der Besteuerung einer Geschäftsveräußerung im Ganzen erscheint vor allem deshalb geboten, weil die bei der Übertragung anfallende Mehrwertsteuer im Verhältnis zu den Mitteln des fraglichen Betriebs besonders hoch sein kann.4 Die Regelung hat eine große praktische Bedeutung insbesondere im Zusammenhang mit Immobilienumsätzen und in Fällen vorweggenommener Erbfolge. Nachfolgend gilt es aufzuzeigen, in welcher Weise die Nichtsteuerbarkeit der Geschäftsveräußerung im Ganzen sich auf die Umsatzsteuerfestsetzungen gegenüber dem jeweils Leistenden und dem entsprechenden Leistungsempfänger auswirkt und welche gegenseitigen „Abhängigkeiten“ insoweit bestehen und entstehen können. Ferner sollen in diesem Zusammenhang neuere Tendenzen in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) sowie des Bundesfinanzhofs (BFH) und der Finanzgerichte in den Blick genommen werden. Schließlich wird auch noch die Möglichkeit einer grenzüberschreitenden Geschäftsveräußerung im Ganzen zur Sprache kommen.
II. Die Rechtsfolgen der Anwendung dieser Vereinfachungsregelung im Überblick 1. Kein steuerbarer Umsatz für Leistenden und kein Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers Zum einen besteht eine systemimmanente Wechselwirkung zwischen der Regelung in § 1 Abs. 1a UStG für den Leistenden und dem Anspruch des Leistungsempfängers auf Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 1 UStG (Art. 167, 168 der MwStSystRL bzw. vormals Art. 17 der 6. EG-Richtlinie):
2 Vgl. statt vieler ROBISCH in Bunjes, UStG, 14. Aufl. 2015, § 1 Rz. 117. 3 EuGH, Urt. v. 27.11.2003 – C-497/01 – Zita Modes, EuGHE 2003, I-14393 = UR 2004, 19 – Rz. 39; EuGH, Urt. v. 10.11.2011 – C-444/10 – Schriever, BStBl. II 2012, 848 = UR 2011, 937 – Rz. 23; EuGH, Urt. v. 30.5.2013 – C-651/11 – X BV, UR 2013, 582 – Rz. 41. 4 KLENK, MwStR 2013, 687.
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Wenn die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1a UStG vorliegen, muss der Leistende keinen steuerbaren Umsatz erklären und der Leistungsempfänger hat von vornherein kein Vorsteuerabzugsrecht.5 2. Keine Vorsteuerkorrektur beim Leistenden, sondern beim Leistungsempfänger Die Geschäftsveräußerung im Ganzen begründet nach § 15a Abs. 10 UStG beim Leistenden keine Pflicht zur Vorsteuerberichtigung.6 Nach § 1 Abs. 1a Satz 3 UStG tritt vielmehr der Erwerber an die Stelle des Veräußerers. Die Rechtsnachfolge bedeutet, dass der Erwerber bezüglich des übertragenen Vermögens in das Umsatzsteuerschuldverhältnis des Veräußerers mit dem Finanzamt (FA) als Steuergläubiger eintritt. Dies ist z.B. von Bedeutung für Optionsfristen (§§ 1a Abs. 4, 19 Abs. 2, 24 Abs. 4 UStG), an die der Veräußerer gebunden war, oder für eine Korrektur des Vorsteuerabzugs, den der Leistende vorgenommen hatte.7 Der Berichtigungszeitraum des § 15a UStG gilt für den Erwerber fort mit der Folge, dass dieser die Vorsteuerberichtigung als Rechtsnachfolger vorzunehmen hat, wenn die Verwendung durch ihn von der erstmaligen Verwendung durch den Veräußerer abweicht. Daher besteht beim Erwerber die Gefahr, dass er Vorsteuern, die der Veräußerer abgezogen hat, an das FA zurückzahlen muss.8 Für die entsprechend erforderlichen Informationen steht dem Erwerber nach § 15a Abs. 10 Satz 2 UStG ein zivilrechtlicher Anspruch auf Auskunft gegenüber dem Veräußerer zu. Eine Berichtigung zugunsten des Erwerbers setzt voraus, dass dem Veräußerer zum Vorsteuerabzug berechtigende Rechnungen vorgelegen haben.9 3. Rechtsfolgen von „Irrtümern“ bei Annahme einer Geschäftsveräußerung im Ganzen Normalerweise sind die Rechtsfolgen einer Geschäftsveräußerung im Ganzen für den Leistenden und den Leistungsempfänger entsprechend dem Vereinfachungszweck der Regelung ohne größere Schwierigkeiten 5 FG Düsseldorf, Urt. v. 12.7.2013 – 1 K 4421/10 U, EFG 2014, 1034, später aus anderen Gründen aufgehoben durch BFH, Urt. v. 4.2.2015 – XI R 42/13, BStBl. II 2015, 616. 6 Vgl. z.B. BFH, Urt. v. 5.6.2014 – V R 10/13, DStR 2014, 1823. 7 KLENK, MwStR 2013, 687 (688). 8 Vgl. MARCO FUß, NWB 30, 2014, 2236, 2237. 9 Vgl. hierzu insgesamt HEIDNER in Bunjes, UStG, 14. Aufl. 2015, § 15a UStG Rz. 66, 67.
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zu handhaben, wenn sich die ursprüngliche Einschätzung der beiden Vertragspartner als zutreffend erweist. Haben sich die Vertragspartner bei ihrer Beurteilung der Rechtslage aber zunächst getäuscht, können Schwierigkeiten bei der danach angestrebten Richtigstellung der Rechtsfolgen auftreten. 3.1 Fehlerhafte Annahme einer Geschäftsveräußerung im Ganzen anstelle eines steuerpflichtigen Umsatzes In einem solchen Fall wird der Leistende gegenüber dem Leistungsempfänger eine erstmalige Rechnung mit Umsatzsteuerausweis erteilen, und den Umsatz gegenüber dem FA entsprechend erklären. Für den Leistenden entsteht die entsprechende Steuerschuld bei richtlinienkonformer Auslegung des § 13 Abs. 1 Nr. 3 UStG erst im Zeitpunkt der Ausstellung der Rechnung.10 Hinsichtlich des begehrten Vorsteuerabzugs des Leistungsempfängers handelt es sich nach der Rechtsprechung des BFH insoweit um eine erstmalige Rechnungserteilung mit Umsatzsteuerausweis und nicht um eine „Rechnungsberichtigung“ einer – bislang nicht zum Vorsteuerabzug berechtigenden – Rechnung nach § 15 Abs. 1 UStG, so dass grundsätzlich keine „Rückwirkung“ auf den Zeitraum des Leistungsbezugs stattfindet.11 Der Vorsteuerabzug kann erst im Zeitpunkt der Rechnungserteilung in Anspruch genommen werden.
10 Vgl. BFH, Urt. v. 5.6.2014 – XI R 44/12, UR 2014, 700 – Rz. 50 m.w.N.; Abschn. 13.7. Beispiel 2 UStAE. 11 Vgl. BFH, Urt. v. 1.7.2004 – V R 33/01, BStBl. II 2004, 861 = UR 2004, 542; BFH, Urt. v. 24.8.2006 – V R 16/05, BStBl. II 2007, 340 = UR 2007, 63 unter Bezugnahme auf EuGH, Urt. v. 29.4.2004 – C-156/02 – Terra Baubedarf, EuGHE 2004, I-05583; die Rechtsprechung zur etwaigen „Rückwirkung“ einer berichtigten Rechnung hinsichtlich des begehrten Vorsteuerabzugs nach EuGH, Urt. v. 15.7.2010 – C-368/09 – Pannon Gép Centrum, EuGHE 2010, I-7467 = UR 2010, 693 und EuGH, Urt. v. 8.5.2013 – C-271/12 – Petroma Transports, UR 2013, 591 steht dem m.E. nicht entgegen, weil erstmalig eine Rechnung mit Umsatzsteuerausweis erteilt wurde: Vgl. BFH, Beschl. v. 20.7.2012 – V B 82/11, BStBl. II 2012, 809 = UR 2012, 714 und BFH, Beschl. v. 10.1.2013 – XI B 33/12, UR 2013, 588; Niedersächsisches FG, Beschl. v. 1.10.2013 – 5 V 217/13, EFG 2013, 2049; vgl. hierzu auch SLAPIO, MwStR 2013, 333 und zum Problem der dadurch ausgeschlossenen Verzinsung auch WELTE/FRIEDRICH-VACHE, MwStR 2013, 514 ff.; es ist im Übrigen str., welche Mindestanforderungen eine erstmalige Rechnung erfüllen muss, um hierauf rückwirkend den Vorsteuerabzug auf den Leistungsbezug bei einer „Berichtigung“ zu erhalten. Vgl. hierzu auch KORN in Bunjes, UStG, 14. Aufl. 2015, § 14 UStG Rz. 109 m.w.N. Vgl. zur Rückwirkung einer Rechnungsberichtigung Vorabentscheidungsersuchen Niedersächsisches FG, Beschl. v. 3.7.2014 – 5 K 40/14, EFG 2015, 80.
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3.2 Fehlerhafte Annahme einer steuerpflichtigen Veräußerung anstelle einer nicht steuerbaren Geschäftsveräußerung im Ganzen Während der Leistende in einem solchen Fall die von ihm erteilte Rechnung nach § 14c Abs. 1 Satz 2 UStG berichtigen kann12 und seine Steuerschuld nach § 14c Abs. 1 Satz 3 UStG i.V.m. § 14c Abs. 2 Satz 3–5 UStG in entsprechender Anwendung von § 17 Abs. 1 UStG berichtigen muss, hat der Leistungsempfänger nach § 15 Abs. 1 UStG in Ermangelung einer gesetzlich geschuldeten Steuer von vorneherein kein Vorsteuerabzugsrecht.13 Die Umsatzsteuerschuld des Leistenden entfällt nach der gesetzlichen Vorgabe in § 17 Abs. 1 Satz 7 UStG „ex nunc“. Ist gegenüber dem Leistungsempfänger die Umsatzsteuer bereits unter Berücksichtigung des Vorsteuerabzugs aus der ursprünglich erteilten Rechnung festgesetzt worden, kann der zu Unrecht in Anspruch genommene Vorsteuerabzug nur noch für das Jahr, in dem die Vorsteuer zu Unrecht gewährt wurde, korrigiert werden – ggf. nach §§ 172 ff. AO.14 3.3 Nachträgliche Qualifikation der Geschäftsveräußerung als steuerfreie Grundstückslieferung Wenn statt einer nicht steuerbaren Geschäftsveräußerung im Ganzen durch die Finanzverwaltung später eine steuerfreie Grundstückslieferung nach § 4 Nr. 9 Buchst. a UStG angenommen wird, dann ist der Veräußerer entweder gemäß § 15 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 UStG von vornherein nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt bzw. nach § 15a Abs. 8 UStG zur Vorsteuerkorrektur verpflichtet, was zur Versagung des Vorsteuerabzugs aus den Anschaffungs- und Gebäudeerrichtungskosten sowie den Erhal-
12 Voraussetzung ist nur, dass dem Leistungsempfänger eine hinreichend bestimmte, schriftliche Berichtigung der Rechnung zugeht; die Rückgabe der ursprünglichen Rechnung durch den Leistungsempfänger ist nicht erforderlich; die zivilrechtliche Berechtigung zur Rechnungsberichtigung ist nicht zu prüfen: BFH, Urt. v. 11.10.2007 – V R 27/05, BStBl. II 2008, 438 = UR 2008, 311 und FG-Hamburg, Beschl. v. 11.2.2014 – 3 V 247/13, nv., juris. 13 Vgl. hierzu z.B. KORN in Bunjes, UStG, 14. Aufl. 2015, § 14c Rz. 31; z.B. BFH, Urt. v. 11.10.2007 – V R 57/06, BStBl. II 2008, 447 = UR 2008, 182; BFH, Urt. v. 14.3.2012 – XI R 2/10, BStBl. II 2012, 653; FG Hamburg, Beschl. v. 11.2.2014 – 3 V 247/13, nv., juris. 14 Vgl. BFH, Urt. v. 6.12.2007 – V R 3/06, BStBl. II 2009, 203 = UR 2008, 588; ggf. Korrektur nach § 174 Abs. 4 AO, vgl. BFH, Urt. v. 14.3.2012 – XI R 2/10, BStBl. II 2012, 653; so auch FG Hamburg, Beschl. v. 11.2.2014 – 3 V 247/13, nv., juris, in Abgrenzung zum Sonderfall vom FG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 25.11.2010 – 6 K 2114/08, EFG 2011, 746 (Fall, in dem der Leistende in „unberechtigter Weise“ die Rechnung berichtigt habe); kritisch BFH, Urt. v. 29.1.2014 – XI R 4/12, UR 2014, 392.
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tungsaufwendungen führen kann.15 Beim Erwerber macht es für den Vorsteuerabzug auf den ersten Blick keinen Unterschied, ob eine nicht steuerbare Geschäftsveräußerung im Ganzen oder eine steuerfreie Grundstückslieferung vorliegt, da in beiden Fällen kein Vorsteuerabzugsrecht besteht. Für den Erwerber ist es aber bedeutsam zu wissen, ob der Veräußerer im Falle einer steuerfreien Grundstücksveräußerung selbst nach § 15a Abs. 8 UStG zur Vorsteuerkorrektur verpflichtet ist, oder ob bei einer Geschäftsveräußerung im Ganzen § 15a Abs. 10 UStG eingreift und die Verpflichtung zur Vorsteuerkorrektur nach § 1 Abs. 1a Satz 3 UStG auf den Erwerber übergeht. In der Praxis behelfen sich die Vertragsbeteiligten insoweit mit der Ausübung einer vorsorglichen Option nach § 9 Abs. 1 UStG16 zur steuerpflichtigen Grundstückslieferung, um den Vorsteuerabzug des Veräußerers aus den Anschaffungs- und Gebäudeerrichtungskosten zu sichern. Wenn eine wirksame Option zur Steuerpflicht vorliegt, geht die Steuerschuld nach § 13b Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. Abs. 5 UStG auf den Erwerber über, der nach § 15 Abs. 1 Nr. 4 UStG auch den entsprechenden Vorsteuerabzug geltend machen kann. Die Rückgängigmachung des Verzichts auf die Steuerbefreiung ist durch eine berichtigte Rechnung des Veräußerers möglich. Wenn eine Rechnungsberichtigung vorliegt, kommt es auf die ihr zugrunde liegenden rechtlichen Erwägungen und die Frage, ob diese zutreffend sind oder auf rechtlichen Fehlvorstellungen beruhen, nicht an. Der Vorsteuerabzug setzt jedenfalls eine gültige Rechnung mit Umsatzsteuerausweis voraus,17 d.h. er ist nicht mehr möglich, wenn die Rechnung entsprechend storniert wurde. Nach der neueren Rechtsprechung des BFH18 sind die Ausübung der Option zur Steuerpflicht und der entsprechende Widerruf solange möglich, als die Steuerfestsetzung hinsichtlich des Zeitraums der Leistungserbringung anfechtbar oder aufgrund eines Vorbehalts der Nachprüfung gemäß § 164 Abs. 2 AO noch änderbar ist, während es nach bisheriger
15 Vgl. FG Düsseldorf, Urt. v. 1.2.2013 – 1 K 3144/11 U, EFG 2013, 1525 = MwStR 2013, 707 mit Anm. WÜST; nachfolgend BFH, Urt. v. 3.7.2014 – V R 12/13, BFH/NV 2014, 1603. 16 Unionsrechtliche Vorgabe in Art. 137 der MwStSystRL. 17 Vgl. BFH, Beschl. v. 3.4.2013 – V B 64/12, BFH/NV 2013, 1135: Macht der Leistende den Verzicht auf die Steuerfreiheit nach § 9 UStG rückgängig, verliert der Leistungsempfänger das Recht auf Vorsteuerabzug mit Rückwirkung auf den Zeitpunkt der ursprünglichen Inanspruchnahme. 18 Vgl. BFH, Urt. v. 19.12.2013 – V R 6/12, UR 2014, 572; BFH, Urt. v. 19.12.2013 – V R 7/12, UR 2014, 579.
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Auffassung der Finanzverwaltung auf den Eintritt der formellen Bestandskraft ankommen soll.19 3.4 Verfahrensrechtliche Einbeziehung des jeweils anderen Beteiligten im Einspruchs- und Klageverfahren Zur Vermeidung gegensätzlicher Ergebnisse aus etwaigen Rechtsstreitigkeiten des jeweils anderen Vertragspartners mit der Finanzverwaltung erscheint es sinnvoll, ggf. die Hinzuziehung bzw. Beiladung des anderen Vertragspartners zum eigenen Verfahren im Wege entsprechender Anträge herbeizuführen. Die Voraussetzungen einer notwendigen Hinzuziehung nach § 360 Abs. 3 AO im Einspruchsverfahren bzw. nach § 60 Abs. 3 FGO im finanzgerichtlichen Verfahren sind zwar nicht erfüllt, weil die Steuerschuldverhältnisse des Leistenden und des Leistungsempfängers nicht materiell miteinander verknüpft sind.20 Im Einspruchsverfahren ist aber eine einfache Hinzuziehung des Vertragspartners nach § 360 AO möglich. Dieser muss dann nach § 360 Abs. 4 AO die entsprechende Einspruchsentscheidung gegen sich gelten lassen und kann ggf. auch dagegen klagen. Im anschließenden finanzgerichtlichen Verfahren des leistenden Unternehmers über die Steuerpflicht der von ihm ausgeführten Umsätze kann der den Vorsteuerabzug begehrende Leistungsempfänger nach § 60 Abs. 1 FGO – einfach – beigeladen werden. Hat die Klage gegen den Umsatzsteuerbescheid Erfolg, ist der den Vorsteuerabzug gewährende Umsatzsteuerbescheid gegenüber dem beigeladenen Leistungsempfänger ggf. nach § 174 Abs. 4 Satz 1 AO zu ändern.21 Entsprechendes gilt für den umgekehrten Fall. Das finanzgerichtliche Urteil wirkt auch gegenüber dem Beigeladenen.22 Im Übrigen enthält § 174 Abs. 5 Satz 2 AO eine eigenständige Regelung zur Beiladung; Dritter i.S.v. § 174 Abs. 5 AO ist bei einer umsatzsteuerrechtlichen Organschaft im Verfahren der Organträgerin beispielsweise auch die Organgesellschaft.23
19 Vgl. z.B. OFD Frankfurt, Vfg. v. 17.12.2013 – S 7198 A - 25 - St 111, juris. 20 Vgl. LEVEDAG in Gräber, FGO, 8. Aufl. 2015, § 60 FGO Rz. 22; vgl. EuGH, Urt. v. 26.1.2012 – C-218/10 – ADV Allround Vermittlungs AG in Liquidation, UR 2012, 175. 21 BFH, Beschl. v. 9.4.2008 – V B 143/07, BFH/NV 2008, 1339. 22 Vgl. LEVEDAG in Gräber, FGO, 8. Aufl. 2015, § 60 FGO Rz. 145. 23 BFH, Urt. v. 19.12.2013 – V R 5/12, BFHE 244, 494 = DStR 2014, 1100; BFH, Beschl. v. 25.3.2013 – XI B 127/13, MwStR 2014, 471 mit Anm. HERBERT.
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Eine Beiladung kommt aber nicht mehr in Betracht, wenn eine Änderung der Steuerfestsetzung beim anderen Beteiligten wegen Eintritts der Festsetzungsverjährung nicht mehr möglich ist.24 Sind hingegen die Voraussetzungen des § 174 Abs. 3 AO erfüllt, ist für eine Korrektur der Umsatzsteuerfestsetzung beim anderen Vertragspartner keine vorherige Beiladung erforderlich.25
III. Annahme einer Geschäftsveräußerung im Ganzen Für die betroffenen Vertragspartner ist es im Hinblick auf die genannten Rechtsfolgen von erheblicher Bedeutung, unter welchen Voraussetzungen die genannte Vereinfachungsregelung in § 1 Abs. 1a UStG entsprechend der unionsrechtlichen Ermächtigung in Art. 19 bzw. Art. 29 der MwStSystRL in Anspruch genommen werden kann. Nachfolgend werden die hierzu ergangenen allgemeinen Rechtsprechungsgrundsätze dargestellt. Ferner soll in diesem Zusammenhang auch der für die Praxis besonders wichtige Bereich der Übertragung von Immobilien zur Sprache kommen. Schließlich gilt es, neuere Entwicklungen der Rechtsprechung zur Geschäftsveräußerung im Ganzen aufzuzeigen. 1. Allgemeine Grundsätze der Rechtsprechung zu den Voraussetzungen Nach ständiger Rechtsprechung26 setzt die Geschäftsveräußerung die Übertragung eines Geschäftsbetriebs oder eines selbständigen Unternehmensteils voraus, der als Zusammenfassung materieller und immaterieller Bestandteile ein Unternehmen oder einen Unternehmensteil bildet, mit dem eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit fortgeführt werden kann. Der Erwerber muss die Unternehmensfortführung beabsichtigen, so dass das übertragene Vermögen die Fortsetzung einer bisher durch den Veräußerer ausgeübten Tätigkeit ermöglicht. Nicht begünstigt ist die sofortige Abwicklung der übernommenen Geschäftstätigkeit.27 Der Fortsetzung der bisher durch den Veräußerer ausgeübten Tätigkeit steht es nicht ent24 BFH, Beschl. v. 25.3.2013 – XI B 127/13, MwStR 2014, 471 mit Anm. HERBERT; FG Hamburg, Beschl. v. 11.2.2014 – 3 V 247/13, nv., juris. 25 BFH, Urt. v. 19.12.2013 – V R 7/12, UR 2014, 579 – Rz. 58. 26 BFH, Urt. v. 30.4.2009 – V R 4/07, BStBl. II 2009, 863 = UR 2009, 797, unter II.2.a; BFH, Urt. v. 6.5.2010 – V R 26/09, BStBl. II 2010, 1114 = UR 2010, 902, unter II.3.a; BFH, Urt. v. 30.1.2014 – V R 33/13, BFH/NV 2014, 1238 – Rz. 15; EuGH, Urt. v. 27.11.2003 – C-497/01 – Zita Modes, EuGHE 2003, I-14393 = UR 2004, 19. 27 Vgl. EuGH, Urt. v. 27.11.2003 – C-497/01 – Zita Modes, EuGHE 2003, I-14393 = UR 2004, 19 – Rz. 44.
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gegen, wenn der Erwerber den von ihm erworbenen Geschäftsbetrieb in seinem Zuschnitt ändert oder modernisiert.28 Im Rahmen einer Gesamtwürdigung ist zu entscheiden, ob das übertragene Unternehmensvermögen als hinreichendes Ganzes die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit ermöglicht, und ob die vor und nach der Übertragung ausgeübten Tätigkeiten übereinstimmen oder sich hinreichend ähneln. Der BFH ist nach § 118 Abs. 2 FGO an die entsprechende Würdigung durch das FG gebunden, wenn dieses von zutreffenden Rechtsgrundsätzen ausgegangen ist, kein – gerügter – Verfahrensfehler begangen wurde, die Würdigung möglich ist und kein Verstoß gegen Denk- und Erfahrungssätze vorliegt.29 2. Geschäftsveräußerung im Ganzen bei der Übertragung von Immobilien30 2.1 Veräußerung eines Grundstücks ohne Übergang von Miet- oder Pachtverträgen regelmäßig keine Geschäftsveräußerung im Ganzen Die Veräußerung eines Grundstücks ohne den Übergang von Miet- oder Pachtverträgen erfüllt regelmäßig nicht die Voraussetzungen einer Geschäftsveräußerung im Ganzen.31 Dies beruht auf der Überlegung, dass kein Unternehmen oder Unternehmensteil übertragen wird, mit dem eine selbständige (Vermietungs-)tätigkeit fortgeführt werden kann. Dasselbe gilt, wenn das Grundstück an den bisherigen alleinigen Mieter zu dessen eigenen wirtschaftlichen Zwecken ohne Fortführung der Vermietungstätigkeit veräußert wird. In diesem Fall ist vielmehr grundsätzlich eine nach § 4 Nr. 9 Buchst. a UStG steuerfreie Grundstücksübertragung gegeben. Ausnahmsweise können aber besondere Umstände des Einzelfalls die Annahme einer Geschäftsveräußerung im Ganzen bei Grundstücksveräußerung ohne Übergang eines Mietvertrags rechtfertigen.32 Dies kann der Fall sein, wenn der Alteigentümer
28 BFH, Urt. v. 23.8.2007 – V R 14/05, BStBl. II 2008, 165 = UR 2008, 150; BFH, Urt. v. 18.9.2008 – V R 21/07, BStBl. II 2009, 254 = UR 2009, 15. 29 Vgl. zu diesen allgemeinen Grundsätzen z.B. BFH, Urt. v. 29.1.2014 – XI R 4/12, BFH/NV 2014, 992 = UR 2014, 392 – Rz. 43. 30 Vgl. dazu auch BÜCHTER-HOLE, Anm. zu FG Saarland, Urt. v. 5.3.2014 – 1 K 1265/11, EFG 2014, 1243. 31 Vgl. z.B. BFH, Urt. v. 11.10.2007 – V R 57/06, BStBl. II 2008, 447 = UR 2008, 182. 32 Sog. „Gesamtplanrechtsprechung“; vgl. z.B. BFH, Urt. v. 6.5.2010 – V R 25/09, BFH/NV 2010, 1873.
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– den mit einer GmbH bestehenden Mietvertrag kündigt, – das unvermietete Grundstück auf den Geschäftsführer und Alleingesellschafter der GmbH überträgt, – das Unternehmen der GmbH übernimmt, – mit dem Erwerber des Grundstücks einen neuen Mietvertrag abschließt, – und die Kündigung des Mietvertrags, die Grundstücksübertragung, der Unternehmenserwerb sowie der Neuabschluss des Mietvertrages in einem engen zeitlichen Zusammenhang miteinander stehen. 2.2 Übertragung eines vermieteten oder verpachteten Grundstücks i.d.R. Geschäftsveräußerung im Ganzen Demgegenüber stellt die Übertragung eines vermieteten oder verpachteten Grundstücks i.d.R. eine Geschäftsveräußerung im Ganzen dar.33 Dabei kann das entsprechende Entgelt auch in der Übernahme der auf dem Grundstück lastenden Verbindlichkeiten bestehen.34 2.2.1 Veräußerung eines Erbbaurechts bei Fortführung des Pachtvertrags durch Erwerber auch Geschäftsveräußerung im Ganzen Vor kurzem hat der BFH geklärt, dass auch die Veräußerung eines Erbbaurechts mit aufstehendem, verpachtetem Rehabilitationszentrum unter Fortführung des Pachtvertrags durch den Erwerber eine Geschäftsveräußerung im Ganzen darstellt. Dabei sollte entgegen der früheren Verwaltungsauffassung35 nicht maßgeblich sein, ob „der veräußerte Teil des Unternehmens einen für sich lebensfähigen Organismus gebildet hat, der unabhängig von den anderen Geschäften des Unternehmers betrieben worden ist und nach außen hin ein selbständiges in sich abgeschlossenes Wirtschaftsgebilde gewesen ist.“36 Der BFH hat insbesondere unter Berücksichtigung der EuGH-Rechtsprechung37 und des Erleichterungs- und Vereinfachungszwecks von Art. 19 33 BFH, Urt. v. 7.7.2005 – V R 78/03, BStBl. II 2005, 849 = UR 2005, 608. 34 BFH, Urt. v. 7.7.2005 – V R 78/03, BStBl. II 2005, 849 = UR 2005, 608 – Rz. 22 m.w.N. 35 Abschn. 1.5 Abs. 6 Satz 2 UStAE a.F. 36 BFH, Urt. v. 19.12.2012 – XI R 38/10, BStBl. II 2013, 1053 = UR 2013, 494. 37 EuGH, Urt. v. 22.2.2001 – C-408/98 – Abbey National, EuGHE 2001, I-1362 = UR 2001, 164; EuGH, Urt. v. 27.11.2003 – C-497/01 – Zita Modes, EuGHE 2003, I_14393 = UR 2004, 19; EuGH, Urt. v. 10.11.2011 – C-444/10 – Schriever, BStBl. II 2012, 848 = UR 2011, 937.
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der MwStSystRL klargestellt, dass die im Rahmen von § 1 Abs. 1a UStG erforderliche Möglichkeit zur Fortführung des Geschäftsbetriebs maßgeblich aus der Sicht des Erwerbers zu bestimmen ist.38 Dies gilt für die Beurteilung der Übertragung eines Gesamt- oder Teilvermögens. Die organisatorischen Verhältnisse beim Veräußerer sind damit ohne Belang. Unerheblich ist daher, ob beim Veräußerer vor der Veräußerung eine eigenständige betriebliche Organisation vorlag, oder ob die Ergebnisse der einzelnen Unternehmenstätigkeiten bilanzmäßig im Gesamtergebnis „untergegangen“ sind. Inzwischen hat die Finanzverwaltung den Umsatzsteueranwendungserlass (UStAE) entsprechend angepasst.39 2.2.2 Geschäftsveräußerung im Ganzen bei Vermietung einer im Zeitpunkt der Veräußerung nicht vermieteten Ferienwohnung Der BFH hat außerdem vor kurzem entschieden, dass eine Geschäftsveräußerung im Ganzen auch vorliegen kann, wenn das Unternehmen in der Vermietung einer Ferienwohnung besteht und im Augenblick der Veräußerung kein konkretes Mietverhältnis gegeben war.40 2.2.3 Keine Geschäftsveräußerung im Ganzen bei Fortführung der bisherigen Mietverhältnisse durch Veräußerin als Zwischenmieterin Das FG Düsseldorf hat jüngst die Auffassung vertreten, dass eine Grundstücksveräußerung unter „Zurückbehalten“ der unternehmerischen Tätigkeit durch Fortführung der bestehenden Mietverhältnisse im eigenen Namen durch die Veräußerin keine Geschäftsveräußerung im Ganzen darstellt.41 Der BFH hat diese Rechtsauffassung unter Hinweis auf die ihn bindende Würdigung der Umstände des Einzelfalls durch das FG bestätigt.42 Der Erwerber habe im Streitfall nicht die Vermietungstätigkeit der Veräußerin fortgeführt, sondern ein eigenes Vermietungsunternehmen begründet. Zudem habe die Klägerin ihre Vermietungstätigkeit nach der Übertragung unverändert fortgesetzt. Dass sie nicht mehr als Eigentümerin, sondern als Zwischenmieterin vermietet habe, sei für die Fortsetzung 38 39 40 41
Vgl. dazu im Einzelnen SCHIEßL, MwStR 2013, 183 (185). Vgl. Abschn. 1.5. Abs. 6 Satz 1 UStAE. BFH, Urt. v. 5.6.2014 – V R 10/13, DStR 2014, 1823. FG Düsseldorf, Urt. v. 1.2.2013 – 1 K 3144/11 U, EFG 2013, 1525 = MwStR 2013, 707 mit Anm. WÜST. 42 BFH, Urt. v. 3.7.2014 – V R 12/13, BFH/NV 2014, 1603.
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der Unternehmenstätigkeit im Verhältnis zu den Mietern ohne Bedeutung. Damit fehle es für die Annahme einer Geschäftsveräußerung im Ganzen bereits am Erfordernis einer Unternehmensübertragung. Im Ergebnis war daher eine steuerfreie Grundstücksübertragung i.S.v. § 4 Nr. 9 Buchst. a UStG gegeben, die bei der Grundstücksveräußerin zu einer Berichtigung des Vorsteuerabzugs gemäß § 15a UStG führte.43 2.2.4 Geschäftsveräußerung im Ganzen bei Übergang von bebauten Grundstücken und Inventar auf unterschiedliche Erwerber mit Abschluss neuer Pachtverträge? Das FG Rheinland-Pfalz hat vor kurzem entschieden, dass eine Geschäftsveräußerung im Ganzen auch dann vorliegen kann, wenn bebaute Grundstücke mit Inventar, die insgesamt verpachtet sind, auf eine Gruppe von Erwerbern in der Weise übergehen, dass die Grundstücke von einer Gesellschaft und das Inventar von einer weiteren Gesellschaft erworben werden und die bisher einheitlichen Pachtverträge deshalb nicht fortgeführt werden, sondern neue Pachtverträge von den Erwerbergesellschaften jeweils über Grundstücke und Inventar getrennt abgeschlossen werden. Dies gelte jedenfalls dann, wenn die Grundstücke von den Pächtern an einen Betreiber unterverpachtet wurden und es der Erwerbergruppe auf die Übernahme dieser Unter-Pachtverträge entscheidend angekommen sei.44 Der BFH hat inzwischen im Revisionsverfahren XI R 14/14 das Urteil des FG Rheinland-Pfalz aufgehoben und geklärt, dass in diesem Fall die Voraussetzungen einer Geschäftsveräußerung im Ganzen nicht erfüllt waren.45 2.3 Ausnahme: Veräußerung von vermieteten Grundstücken durch Bauträger/Immobilienentwickler 2.3.1 Grundsätze der BFH-Rechtsprechung Betreibt der Veräußerer ein auf ein Großprojekt beschränktes Bauträgerunternehmen und kann der Erwerber dieses Unternehmen schon deshalb nicht fortführen, weil das Unternehmen des Veräußerers mit der Errichtung, der Findung von Mietern (einschließlich der einmonatigen Vermietung) und der möglichst lukrativen Veräußerung des Projekts seinen Abschluss gefunden hat, so ist die Veräußerung des Projekts mangels Fortführung der wirtschaftlichen Tätigkeit des Veräußerers keine 43 BFH, Urt. v. 3.7.2014 – V R 12/13, BFH/NV 2014, 1603. 44 FG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 13.3.2014 – 6 K 1396/10, EFG 2014, 1036 = MwStR 2014, 401 mit Anm. WÜST. 45 BFH, Urt. v. 4.2.2015 – XI R 14/14, BFH/NV 2015, 1212; Vgl. auch anhängiges Revisionsverfahren V R 36/13.
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Geschäftsveräußerung im Ganzen, wenn der Erwerber ein anders geartetes Unternehmen betreibt (Abgrenzung Bauträgerunternehmen von Vermietungsunternehmen). Dies gilt auch dann, wenn der Erwerber die Mietverträge des Veräußerers fortführt, weil es bei dem Veräußerer an einer nachhaltigen Absicht als Gegenstand des Vermietungsunternehmens fehlt.46 Der BFH hat diese Rechtsprechung später ausdrücklich bestätigt, indem er entschieden hat: Ist Gegenstand der Übertragung ein zu bebauendes Grundstück, das der Veräußerer unter der Bedingung der Fertigstellung des Bauvorhabens vermietet hat, liegt keine Geschäftsveräußerung im Ganzen vor.47 Selbst wenn die Veräußerin zunächst beabsichtigt hat, das Grundstück mit einem Gastronomiekomplex zu bebauen, zu vermieten und im eigenen Bestand zu halten, bestand im Zeitpunkt der Veräußerung kein verfestigtes Vermietungsunternehmen, das durch die Klägerin fortgeführt werden konnte.48 Auch ein Zeitraum von sieben Monaten zwischen dem Abschluss von Pachtverträgen durch den Veräußerer für ein Objekt, das nur teilweise schon genutzt werden konnte, und im Übrigen noch weiter um- und ausgebaut werden musste, und dem Abschluss eines Kaufvertrags, bei dessen Abschluss das Objekt immer noch nicht vollständig hergestellt war, sprechen eher gegen ein beim Verkäufer hinreichend verfestigtes Verpachtungsunternehmen. Es liegt keine Geschäftsveräußerung vor, wenn die unternehmerische Tätigkeit des Veräußerers im Wesentlichen darin besteht, ein Gebäude zu errichten und Mieter für die einzelnen Mieteinheiten zu finden, um es im Anschluss an die Fertigstellung aufgrund der bereits erfolgten Vermietung besser veräußern zu können.49 2.3.2 Rüttelurteil des FG Saarland: Geschäftsveräußerung im Ganzen bei Vermietung des Gebäudes durch Veräußerer über einen Zeitraum von 2–3 Jahren Das FG Saarland hat nun jüngst die Auffassung vertreten, dass eine Geschäftsveräußerung im Ganzen auch bei einem Bauträgerunternehmen vorliegen kann, wenn dieses ein Bürogebäude erwirbt, saniert und während und nach der Sanierung einen Großteil der Flächen über einen langen Zeitraum (hier zwei bis drei Jahre) vermietet, bevor es das Gebäude schließlich veräußert und der Erwerber die Vermietungstätigkeit fort46 BFH, Urt. v. 24.2.2005 – V R 45/02, BStBl. II 2007, 61 = UR 2005, 547. 47 BFH, Urt. v. 18.9.2008 – V R 21/07, BStBl. II 2009, 254 = UR 2009, 15. 48 BFH, Urt. v. 18.9.2008 – V R 21/07, BStBl. II 2009, 254 = UR 2009, 15 – Rz. 24. 49 BFH Urt. v. 28.10.2010 – V R 22/09, BFH/NV 2011, 854.
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führt.50 Das entsprechende Revisionsverfahren ist beim BFH unter dem Aktenzeichen XI R 16/14 anhängig.51 2.4 Ausübung einer vorsorglichen Option nach § 9 Abs. 1 UStG bei einer Geschäftsveräußerung im Ganzen52 2.4.1 Ausgangsproblem53 Wie eingangs bereits aufgezeigt, ist die Möglichkeit einer Option bedeutsam für Fälle, in denen den Vertragspartnern bei der Beurteilung einer Transaktion ein Irrtum unterlaufen ist. Dies gilt insbesondere bei Immobilienverkäufen, wenn nicht stets eindeutig im Vorfeld geklärt werden kann, ob die Voraussetzungen der Regelung in § 1 Abs. 1a UStG erfüllt sind.54 2.4.1.1 Beispiel 155 U veräußert ein Mietwohngrundstück, das den einzigen Unternehmensgegenstand darstellt, an eine Vermietungsgesellschaft. Mit dem Verkauf hat er einen Makler beauftragt, der ihm über die Maklercourtage eine Rechnung mit gesondert ausgewiesener Umsatzsteuer erteilt. U hat das Grundstück bisher zu 40 % nach einer entsprechenden Option zur Steuerpflicht gemäß § 9 Abs. 1 UStG steuerpflichtig und zu 60 % nach § 4 Nr. 12 Satz 1 Buchst. a UStG steuerfrei vermietet. Die Veräußerung des Grundstücks ist grundsätzlich nach § 1 Abs. 1a UStG nicht steuerbar. Die Vorsteuern aus der Leistung des Maklers sind zu 40 % abziehbar. Liegen die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1a UStG nicht vor, handelt es sich um eine steuerfreie Lieferung gemäß § 4 Nr. 9 Buchst. a UStG, wenn nicht zur Steuerpflicht optiert wird.
50 FG Saarland, Urt. v. 5.3.2014 – 1 K 1265/11, EFG 2014, 1240. 51 Vgl. auch FG Berlin-Brandenburg v. 12.11.2014 – 7K 7283/12, EFG 2015, 334 (anhängiges Revisionsverfahren V R 66/14). 52 Vgl. dazu OFD Frankfurt Vfg. v. 17.12.2013 – S 7198A - 25 - St 111, juris unter Hinweis auf BMF, Schr. v. 23.10.2013 – IV D 3 - S 7198/12/10002 – DOK 2013/0954206, BStBl. I 2013, 1304; im Einzelnen PRÄTZLER, DB 2013, 959; MEYER-BUROW/CONNEMANN, MwStR 2013, 267; MEYER-BUROW/CONNEMANN, UStB 2013, 362; WÜST, MwStR 2013, 711; KORN, KÖSDI 2013, 18337. 53 Vgl. dazu z.B. PRÄTZLER, DB 2013, 959. 54 BFH, Urt. v. 24.2.2005 – V R 45/02, BStBl. II 2007, 146 = UR 2005, 547; BFH, Urt. v. 6.5.2010 – V R 25/09, BFH/NV 2010, 1873; BFH, Urt. v. 11.10.1997 – V R 57/06, BStBl. II 2008, 447 = UR 2000, 182. 55 FUß, NWB 30/2014, 2236, 2237.
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Erfolgt die steuerfreie Lieferung innerhalb des Berichtigungszeitraums von 10 Jahren gemäß § 15a Abs. 1 Satz 2 UStG, wird von der Veräußerung bis zum Ende des Berichtigungszeitraums eine steuerfreie Nutzung unterstellt, so dass es auf Ebene des Veräußerers sowohl für die Anschaffungs- und Herstellungskosten als auch für die Erhaltungsaufwendungen zu Vorsteuerberichtigungen nach § 15a UStG kommen kann. 2.4.1.2 Beispiel 256 U veräußert ein Gebäude an M. Bisher hat U das Gebäude zu 50 % steuerpflichtig und zu 50 % steuerfrei vermietet. Zukünftig wird das Gebäude durch M in vollem Umfang zu eigenen Wohnzwecken genutzt. Das Gebäude wurde durch U vor zwei Jahren zum Preis von 1 Mio. Euro erworben. Aus den Anschaffungskosten hat U insgesamt 95 000 Euro (1 Mio. × 19 % × 1/2) als Vorsteuer geltend gemacht. Die Veräußerung des Grundstücks ist keine Geschäftsveräußerung im Ganzen, weil das Grundstück nicht an einen anderen Unternehmer für das Unternehmen geliefert wird. Es handelt sich um eine steuerfreie Grundstückslieferung i.S.v. § 4 Nr. 9 Buchst. a UStG. Eine Option nach § 9 UStG ist nicht möglich, weil die in § 9 Abs. 2 UStG genannten Voraussetzungen nicht erfüllt sind. U hat daher die ursprünglich in Anspruch genommene Vorsteuer zu berichtigen und muss somit insgesamt 76 000 Euro Vorsteuer in einem Betrag an das FA zurückzahlen (§ 15a Abs. 8 und 9 UStG). Auch für den Vorsteuerabzug des Erwerbers im Hinblick auf die Transaktionskosten ist es ungünstig, wenn keine Geschäftsveräußerung im Ganzen vorliegt. Denn nach § 15 Abs. 2 Nr. 1 UStG ist ein Vorsteuerabzug bei einer steuerfreien Grundstücksveräußerung nicht möglich. 2.4.1.3 Folgen einer fehlerhaften Einordnung57 2.4.1.3.1 Vertragsparteien nehmen irrtümlich an, dass keine Geschäftsveräußerung im Ganzen vorliegt In einem solchen Fall handelt es sich grundsätzlich um eine steuerfreie Grundstückslieferung, die zur entsprechenden Vorsteuerkorrektur beim Veräußerer aus den Anschaffungskosten, Gebäudeerrichtungskosten etc. führt. Wenn später festgestellt wird, dass die Voraussetzungen von § 1 Abs. 1a UStG erfüllt sind, müsste dies wieder rückgängig gemacht werden. 56 Vgl. FUß, NWB 30/2014, 2236, 2237. 57 Vgl. FUß, NWB 30/2014, 2236, 2237; PRÄTZLER, DB 2013, 959.
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Bei einer Option zur Steuerpflicht nach § 9 Abs. 1 UStG geht die Steuerschuld nach § 13b Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. Abs. 5 UStG auf den Erwerber über. Wenn später festgestellt wird, dass die Voraussetzungen von § 1 Abs. 1a UStG vorliegen, müsste der Erwerber seine Umsatzsteuererklärung berichtigen. 2.4.1.3.2 Vertragsparteien gehen irrtümlich davon aus, dass eine Geschäftsveräußerung im Ganzen gegeben ist Wird der Vorgang z.B. bei einer Betriebsprüfung nachträglich nicht als Geschäftsveräußerung im Ganzen eingeordnet, sondern als steuerbarer Umsatz, ist zu prüfen, ob dieser steuerfrei oder steuerpflichtig ist. Da die Grundstückslieferung nach § 4 Nr. 9 Buchst. a UStG steuerfrei ist, ist für den Veräußerer grundsätzlich eine Vorsteuerkorrektur nach § 15a UStG durchzuführen. Der Veräußerer kann dies vorsorglich durch einen Verzicht auf die Steuerbefreiung vermeiden, der nach § 9 Abs. 3 Satz 2 UStG allerdings im Rahmen eines notariellen Vertrags erklärt werden muss.58 Nachfolgend gilt es zu untersuchen, wie dieser Verzicht wohl formuliert werden müsste, um Wirksamkeit zu erlangen. 2.4.2 Verwaltungsauffassung 2.4.2.1 BMF-Schreiben vom 23.10.201359 Im Rahmen einer Geschäftsveräußerung im Ganzen kommt eine Option nach Auffassung der Finanzverwaltung grundsätzlich nicht in Betracht. Eine Ausnahme soll aber dann anzunehmen sein, wenn die Parteien im Rahmen eines notariellen Kaufvertrags übereinstimmend von einer Geschäftsveräußerung im Ganzen ausgehen und lediglich für den Fall, dass sich ihre rechtliche Beurteilung später als unzutreffend herausstellt, eine Option zur Steuerpflicht beabsichtigen. Falls diese vorsorglich und im Übrigen unbedingt im notariellen Kaufvertrag erklärt wird, gilt diese Option als mit Vertragsschluss wirksam. 2.4.2.2 Verfügung der OFD Frankfurt vom 17.12.201360 Die Verfügung der OFD Frankfurt enthält Einzelheiten dazu, unter welchen Voraussetzungen eine unbedingte Option bzw. eine bedingte Option anzunehmen ist. 58 Vgl. dazu anhängiges Revisionsverfahren XI R 40/13. 59 BMF, Schr. v. 23.10.2013 – IV D 3 - S 7198/12/10002 – DOK 2013/0954206, BStBl. I 2013, 1304. 60 OFD Frankfurt Vfg. v. 17.12.2013 – S 7198A - 25 - St 111, juris.
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Die Notwendigkeit der Vereinbarung einer unbedingten Option verdeutlicht das folgende von der OFD Frankfurt genannte Beispiel: Die Vertragsparteien schließen im Jahr 2006 einen notariellen Grundstückskaufvertrag ab. Sie gehen vom Vorliegen einer nicht steuerbaren Geschäftsveräußerung im Ganzen aus. Der Vertrag enthält eine bedingte Option zur Umsatzsteuerpflicht. Der Umsatzsteuerbescheid 2006 für den Veräußerer wird am 30.6.2008 formell bestandskräftig. Nach Abschluss einer im Jahre 2011 durchgeführten Außenprüfung verneint das FA das Vorliegen einer Geschäftsveräußerung im Ganzen. Die bedingte Option tritt nach Auffassung der Finanzverwaltung erst im Jahr 2011 nach der abschließenden rechtlichen Beurteilung ein. Da die Steuerfestsetzung für das Jahr 2006 bereits im Jahr 2011 formell bestandskräftig sei, liege keine fristgerechte Option vor.61 2.4.3 Stellungnahme und Hinweis auf noch ungeklärte Rechtsfragen In der Literatur wird in diesem Zusammenhang begrüßt, dass mit den genannten Verwaltungsanweisungen „Klarheit“ geschaffen wurde. Dabei werden unterschiedliche Empfehlungen zu entsprechenden Formulierungen von zulässigen Optionsklauseln62 gegeben: 2.4.3.1 Vom BMF-Schreiben abgedeckt sei folgende Klausel63 „Vorsorglich optiert der Verkäufer zur Umsatzsteuerpflicht für den Fall, dass es sich rechtlich nicht um eine Geschäftsveräußerung im Ganzen handelt“. Ob dies zulässig ist, ist allerdings umstritten. Andere Stimmen sind der Auffassung, dass die Formulierungen „vorsorglich“ und „für den Fall“ schon schädlich seien, weil sie der Annahme der Unbedingtheit entgegenstünden. Dies wird von MEYER-BUROW/CONNEMANN allerdings nicht so gesehen. Danach könne eine Klausel auch als „unbedingt“ vereinbart gelten, wenn die Formulierungen „vorsorglich“ oder „für den Fall“ verwendet würden. Wollte man auf derartige Formulierungen völlig verzichten, wäre die Vereinbarung widersprüchlich. So könnten ja wohl die Empfehlungen 61 Nach abweichender Auffassung der Rechtsprechung kommt es indessen darauf an, ob der Umsatzsteuerbescheid betreffend den Zeitraum der Leistungserbringung noch anfechtbar ist oder wegen eines Vorbehalts der Nachprüfung noch geändert werden kann – vgl. BFH, Urt. v. 19.12.2013 – V R 6/12, UR 2014, 572; BFH, Urt. v. 19.12.2013 – V R 7/12, UR 2014, 579. 62 MEYER-BUROW/CONNEMANN, UStB 2013, 362. 63 MEYER-BUROW/CONNEMANN, UStB 2013, 362.
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der Finanzverwaltung nicht richtig sein, schlichtweg zu erklären, dass die Beteiligten von einer Geschäftsveräußerung im Ganzen ausgehen und anderseits dennoch zur Umsatzsteuerpflicht optieren.64 2.4.3.2 Nicht vom BMF-Schreiben gedeckt sei folgende Formulierung „Der Verkäufer optiert zur Umsatzsteuerpflicht der Grundstücksveräußerung für den Fall, dass das zuständige FA dem Käufer die Vorsteuer mit der Begründung versagen sollte, dass die Voraussetzungen der Geschäftsveräußerung im Ganzen nicht vorgelegen haben.“ In der Praxis besteht anscheinend ein Bedürfnis für diese Klausel, weil diese zum einen die Bereitschaft ausdrückt, dass man im Zweifel bereit ist, der Rechtsauffassung der Finanzverwaltung zu folgen und demnach grundsätzlich keine Rechtsbehelfe gegen die abweichende Steuerfestsetzung einlegt. Die Umsatzsteuerzahlungen wären zwischen den Beteiligten abzuwickeln. Ferner gibt diese Klausel zu erkennen, dass ein gewisses Restrisiko besteht und entsprechende Rechtsunsicherheiten nicht in zeitraubender Weise nachverhandelt werden können. Nach MEYERBUROW/CONNEMANN sollte auch diese Formulierung zulässig sein und als sofortige Option sofort wirksam werden.65 2.4.3.3 „Vorläufige“ Formulierungsempfehlung aus der Literatur66 „Die Parteien gehen von einer nicht steuerbaren Geschäftsveräußerung im Ganzen gemäß § 1 Abs. 1a UStG aus. Vorsorglich optiert der Verkäufer bereits jetzt sofort und unbedingt zur Umsatzsteuerpflicht der Grundstücksveräußerung gemäß § 9 UStG für den Fall, dass es sich rechtlich nicht um eine Geschäftsveräußerung im Ganzen i.S.d. § 1 Abs. 1a UStG handeln sollte.“ 2.4.4 Ausblick67 Unter Bezugnahme auf die unionsrechtliche Grundlage für § 9 UStG in Art. 137 MwStSystRL hält es PRÄTZLER68 für unionsrechtswidrig, wenn einem Steuerpflichtigen, der über die Beurteilung einer komplexen Transaktion wie einer Geschäftsveräußerung im Ganzen irrt, ein „Vorsteuerschaden“ entsteht, indem ihm das Recht zur Option genommen wird. Gesetzestechnisch wäre ihm zufolge eine Lösung ähnlich dem 64 65 66 67 68
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Vgl. MEYER-BUHROW/CONNEMANN, MwStR 2013, 267, 269. Vgl. MEYER-BUHROW/CONNEMANN, MwStR 2013, 267 (269, 272). Vgl. MEYER-BUHROW/CONNEMANN, MwStR 2013, 267 (269, 272). Vgl. PRÄTZLER, DB 2013, 959 (962). Vgl. PRÄTZLER, DB 2013, 959 (964).
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§ 26 Abs. 2 Satz 4 EStG denkbar. Die Rechtsprechung hat sich bislang ersichtlich noch nicht mit dieser Fragestellung befasst. 3. Weitere neuere Rechtsprechung des EuGH und des BFH69 zur Geschäftsveräußerung im Ganzen und Hinweise auf beim BFH anhängige Revisionsverfahren 3.1 Übereignung des Warenbestands und der Geschäftsausstattung eines Einzelhandelsgeschäfts unter gleichzeitiger Vermietung des Ladenlokals an den Erwerber als Geschäftsveräußerung im Ganzen70 Nach diesem BFH-Urteil kann die Übereignung des Warenbestands und der Geschäftsausstattung eines Einzelhandelsgeschäfts unter gleichzeitiger Vermietung des Ladenlokals auf unbestimmte Zeit an den Erwerber eine Geschäftsveräußerung im Ganzen sein, falls es sich um einen von beiden Parteien kurzfristig kündbaren Vertrag handelt und sofern die übertragenen Sachen hinreichen, damit der Erwerber eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit dauerhaft fortführen kann. Der BFH hat unter Hinweis auf diese Rechtsprechung jüngst klargestellt, dass eine Nutzungsüberlassung an sich zwar der Annahme einer Geschäftsveräußerung im Ganzen nicht entgegensteht, aber eine Geschäftsveräußerung i.S.d. § 1 Abs. 1a UStG nicht vorliegen kann, wenn es an einer Übereignung oder Einbringung von Gegenständen des Unternehmens gänzlich fehlt.71 3.2 Für die Annahme einer Geschäftsveräußerung im Ganzen unerheblich, dass Erwerber nicht den Namen des übernommenen Vermögens weiterführt72 Ferner ist es nach der Rechtsprechung des BFH für die Annahme einer Geschäftsveräußerung im Ganzen unerheblich, dass der Erwerber nicht den Namen des übernommenen Vermögens weiterführt. Vielmehr ist entscheidend, dass der Erwerber die Tätigkeit des Unternehmens nunmehr im Rahmen seiner bisherigen eigenen Geschäftstätigkeit fortführt.
69 Vgl. dazu insgesamt auch SCHIEßL, MwStR 2013, 183 ff. 70 BFH, Urt. v. 18.1.2012 – XI R 27/08, BStBl. II 2012, 842 = UR 2012, 393 als Nachfolgeentscheidung zu EuGH, Urt. v. 10.11.2011 – C-444/10 – Schriever, BStBl. II 2012, 848 = UR 2011, 937. 71 BFH, Urt. v. 21.5.2014 – V R 20/13, BStBl. II 2014, 1029 = UR 2014, 769. 72 BFH, Urt. v. 29.8.2012 – XI R 1/11, BStBl. II 2013, 301 = UR 2013, 412; UStAE Abschn. 1.5 Abs. 1 Satz 4.
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Der BFH hat in diesem Zusammenhang außerdem geklärt, dass auch das in einem Unternehmenskaufvertrag vereinbarte Wettbewerbsverbot als Umsatz im Rahmen einer Geschäftsveräußerung nicht steuerbar sein kann.73 3.3 Eine Geschäftsveräußerung setzt keine Beendigung der unternehmerischen Betätigung des Veräußerers voraus74 Nach Auffassung des BFH setzt die Annahme einer Geschäftsveräußerung im Ganzen ferner keine Beendigung der unternehmerischen Betätigung des Veräußerers voraus. Vielmehr können aus einem Unternehmen mehrere Teilvermögen jeweils nicht steuerbar auf mehrere Erwerber übertragen werden. Der Umfang des jeweils übertragenen Teilvermögens ist regelmäßig dem Unternehmenskaufvertrag einschließlich der Anlagen zu entnehmen. Nur in diesem Umfang tritt der Erwerber nach § 1a Abs. 1 Satz 3 UStG an die Stelle des Veräußerers und auch nur insoweit wäre ggf. eine Verpflichtung zur Vorsteuerberichtigung nach § 15a UStG fortzuführen.75 3.4 Geschäftsveräußerung bei vorübergehender Aussetzung des Vollzugs der Übertragung im Hinblick auf die Klärung einer steuerrechtlichen Zweifelsfrage76 Eine nicht steuerbare Geschäftsveräußerung kann nach der Rechtsprechung des BFH auch dann vorliegen, wenn der Vollzug der Übertragung im Hinblick auf die Klärung einer steuerrechtlichen Zweifelsfrage vorübergehend ausgesetzt wird. 3.5 Rechtsprechung des EuGH zur Veräußerung von Gesellschaftsanteilen als Geschäftsveräußerung im Ganzen77 Nach der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache „X-BV“ sind Art. 5 Abs. 8 und/oder Art. 6 Abs. 5 der 6. EG-Richtlinie dahingehend 73 BFH, Urt. v. 29.8.2012 – XI R 1/11, BStBl. II 2013, 301 = UR 2013, 412; UStAE Abschn. 1.5 Abs. 4 Satz 8. 74 BFH, Urt. v. 29.8.2012 – XI R 10/12, BStBl. II 2013, 221 = UR 2013, 415 = MwStR 2013, 91 mit Anm. WINTER; UStAE Abschn. 1.5 Abs. 1a Satz 4. 75 Dies ist streitig und wird in der Literatur zum Teil wohl anders gesehen: vgl. OELMAIER in Sölch/Ringleb, UStG, § 1 Rz. 190 – Lfg. 66, September 2011, der insoweit die gesetzliche Anordnung einer Gesamtrechtsnachfolge sieht; a.A. die sog. „wirtschaftsgutbezogene“ Einzelrechtsnachfolge, vgl. dazu im Einzelnen SCHIEßL, MwStR 2013, 183 (188). 76 BFH, Urt. v. 30.1.2014 – V R 33/13, BFH/NV 2014, 1238. 77 EuGH, Urt. v. 30.5.2013 – C-651/11 – X BV, UR 2013, 582.
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auszulegen, dass die Veräußerung von 30 % der Anteile an einer Gesellschaft, für die der Veräußerer steuerpflichtige Dienstleistungen erbringt, keine Übertragung des Gesamtvermögens oder eines Teilvermögens bei der Lieferung von Gegenständen oder bei Dienstleistungen im Sinne dieser Bestimmungen darstellt; dies gilt unabhängig davon, ob die anderen Anteilseigner die übrigen Anteile an dieser Gesellschaft praktisch gleichzeitig an dieselbe Person übertragen oder diese Übertragung in engem Zusammenhang mit den für diese Gesellschaft ausgeübten Managementtätigkeiten steht. Danach reicht die Inhaberschaft von Anteilen an einem Unternehmen im Gegensatz zur Inhaberschaft von Vermögenswerten eines Unternehmens grundsätzlich nicht aus, um eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit fortführen zu können.78 Denn der bloße Erwerb, das bloße Halten und der bloße Verkauf von Gesellschaftsanteilen stellen nach Auffassung des EuGH für sich genommen keine wirtschaftliche Tätigkeit dar.79 Etwas anderes soll gelten, wenn die Beteiligung mit unmittelbaren oder mittelbaren Eingriffen in die Verwaltung der Gesellschaft einhergeht, an der die Beteiligung erworben wurde, sofern die Eingriffe die Durchführung von Transaktionen einschließen, wie etwa das Erbringen von administrativen, finanziellen, kaufmännischen oder technischen Dienstleistungen.80 Daher kann nach der Rechtsprechung des EuGH die Übertragung von Gesellschaftsanteilen – unabhängig von der Höhe der Beteiligung – nur dann einer Übertragung eines Teil- oder Gesamtvermögens i.S.v. Art. 5 Abs. 8 der 6. EG-Richtlinie gleichgestellt werden, wenn der Gesellschaftsanteil Teil einer eigenständigen Einheit ist, die eine selbständige wirtschaftliche Betätigung ermöglicht, und diese Tätigkeit vom Erwerber fortgeführt wird. Eine bloße Veräußerung von Anteilen ohne gleichzeitige Übertragung von Vermögenswerten versetzt den Erwerber nicht in die Lage, eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit als Rechtsnachfolger des Veräußerers fortzuführen.81 Aus dieser Rechtsprechung ergeben sich auch für das nationale Recht Folgerungen:82 Der EuGH knüpft mit der Entscheidung in der Rechtssache X-BV an frühere Rechtsprechung an, wonach eine Veräußerung von 100 % der Ge78 79 80 81 82
EuGH, Urt. v. 30.5.2013 – C-651/11 – X BV, UR 2013, 582 – Rz. 35. EuGH, Urt. v. 30.5.2013 – C-651/11 – X BV, UR 2013, 582 – Rz. 36. EuGH, Urt. v. 30.5.2013 – C-651/11 – X BV, UR 2013, 582 – Rz. 37. EuGH, Urt. v. 30.5.2013 – C-651/11 – X BV, UR 2013, 582 – Rz. 38. Vgl. dazu Anm. GRUBE, MwStR 2013, 341 (342); WÜST, MwStR 2013, 361 ff.; KLENK, MwStR 2013, 687 (689).
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sellschaftsanteile eines Unternehmens der Übertragung eines Gesamtoder Teilvermögens gleichgestellt werden kann, wenn dies mit der vollständigen oder teilweisen Veräußerung der Vermögenswerte der betreffenden Gesellschaft einhergeht.83 Der BFH hatte im Nachgang zur Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache SKF entschieden, dass die Übertragung von Gesellschaftsanteilen eine Geschäftsveräußerung hinsichtlich des Unternehmensvermögens der Gesellschaft begründet, wenn eine Holdinggesellschaft alle Anteile an der Gesellschaft überträgt. Eine Übertragung von 99 % der Anteile reiche nicht aus.84 M.E. ist dieser Ansatz nunmehr möglicherweise zu eng, soweit er sich nur auf die Höhe der Beteiligung bezieht,85 während der EuGH in der Rechtssache X BV eine Geschäftsveräußerung ausnahmsweise bejaht, wenn der Gesellschaftsanteil Teil einer eigenständigen Einheit ist, die eine selbständige wirtschaftliche Betätigung ermöglicht, und diese Tätigkeit vom Erwerber fortgeführt wird. Die Finanzverwaltung hat inzwischen in der neuen Fassung des UStAE Abschn. 1.5. Abs. 9 die Rechtsgrundsätze des EuGH-Urteils in der Rechtssache X BV übernommen. In der Literatur wird die Auffassung vertreten,86 der EuGH habe in Rz. 43 seiner Entscheidung in der Rechtssache X BV hinsichtlich der Veräußerung von Beteiligungen gemeint, das Problem einer Belastung des Erwerbers mit Vorsteuer bestehe von vornherein nicht, weil die Beteiligungen ohnehin steuerfrei veräußert würden (§ 4 Nr. 8 Buchst. f UStG; Art. 135 Buchst. f MwStSystRL). Es sei also gar nicht notwendig, durch die Annahme einer Geschäftsveräußerung im Ganzen eine Vorsteuerbelastung beim Erwerber zu vermeiden. Werden nicht alle Gesellschaftsanteile, aber Anteile an einer Organgesellschaft veräußert, kommt eine Geschäftsveräußerung in Betracht, wenn zumindest eine die finanzielle Eingliederung ermöglichende Mehrheitsbeteiligung übertragen wird und der Erwerber seinerseits beabsichtigt, eine Organschaft zu der Gesellschaft, an der die Beteiligung besteht, zu begründen.87
83 EuGH, Urt. v. 29.10.2009 – C-29/08 – SKF, EuGHE 2009, I-10413 = UR 2010, 107; EuGH, Urt. v. 27.11.2003 – C-497/01 – Zita Modes, EuGHE 2003, I-14393 = UR 2004, 19. 84 BFH, Urt. v. 27.1.2011 – V R 38/09, BStBl. II 2012, 68 = UR 2011, 307. 85 GRUBE, Anm. in MwStR 2013, 341 (342); so schon GRÜNWALD, DStR 2012, 437 (438 f.). 86 KLENK, MwStR 2013, 687 (689). 87 BFH, Urt. v. 27.1.2011 – V R 38/09, BStBl. II 2012, 68 = UR 2011, 307 – Rz. 24.
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Möglicherweise kann eine Geschäftsveräußerung im Ganzen auch noch im Falle eines gewerblichen Wertpapierhandels angenommen werden, wenn z.B. das gesamte Portfolio eines Unternehmens als Ganzes übertragen wird.88 Dies rechtfertigt u.U. eine Unterscheidung der Geschäftsveräußerung im Ganzen gegenüber der ansonsten steuerfreien (Einzel) Veräußerung der Beteiligungen. 3.6 Hinweise auf weitere beim BFH noch anhängige Revisionsverfahren 3.6.1 Geschäftsveräußerung im Ganzen: Übernahme der Kücheneinrichtung einer gepachteten Gaststätte? Nach Auffassung des FG Düsseldorf ist eine Geschäftsveräußerung im Ganzen auch dann anzunehmen, wenn es sich bei der übertragenen Geschäftsausstattung (Kücheneinrichtung einer bis zur Veräußerung vom Veräußerer gepachteten Gaststätte) zwar um eine für die Fortführung des Betriebs wesentliche Sachgesamtheit handelt, der Erwerber jedoch die weiteren, zum Betrieb erforderlichen Gegenstände einschließlich der Räumlichkeiten vom bisherigen Verpächter anpachtet.89 Das FG hat indes die Revision zugelassen wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache unter Hinweis darauf, dass noch nicht geklärt sei, ob eine Geschäftsveräußerung im Ganzen vorliegt, wenn es sich bei der übertragenen Geschäftsausstattung zwar um eine für die Fortführung des Betriebs wesentliche Sachgesamtheit handelt, der Erwerber jedoch die weiteren, zum Betrieb erforderlichen Gegenstände einschließlich der Räumlichkeiten von einem Dritten anpachtet. Der BFH hat inzwischen das Urteil des FG Düsseldorf aufgehoben und geklärt, dass in diesem Fall die Voraussetzungen einer Geschäftsveräußerung im Ganzen nicht vorliegen.90 3.6.2 Annahme einer Geschäftsveräußerung im Ganzen bei Aufteilung des Geschäfts durch den Veräußerer und Übertragung des Geschäftsbetriebs auf mehr als ein Umsatzsteuersubjekt? Eine nicht steuerbare Geschäftsveräußerung im Ganzen ist nach Auffassung des FG Nürnberg auch dann anzunehmen, wenn der Geschäftsbetrieb zwar auf mehrere Umsatzsteuersubjekte übertragen wird, diese
88 Vgl. WÜST, MwStR 2013, 361 (365). 89 FG Düsseldorf, Urt. v. 12.7.2013 – 1 K 4421/10 U, EFG 2014, 1034. 90 BFH, Urt. v. 4.2.2015 – XI R 42/13, BStBl. II 2015, 616.
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aber den früheren Geschäftsbetrieb in der bisherigen Form nur gemeinsam fortführen können und dies auch tun.91 Das entsprechende Revisionsverfahren wird beim BFH unter dem Aktenzeichen V R 36/13 geführt.92 4. Gibt es eine grenzüberschreitende Geschäftsveräußerung im Ganzen?93 Abschließend soll noch kurz der Frage nachgegangen werden, ob die geltenden unionsrechtlichen Vorgaben es gestatten, eine grenzüberschreitende Geschäftsveräußerung im Ganzen anzunehmen. Denn Art. 19, 29 MwStSystRL ermächtigen den nationalen Gesetzgeber nur, Umsätze im Geltungsbereich des eigenen Umsatzsteuerrechts von der Besteuerung auszunehmen.94 Wie bereits dargestellt, wird der Erwerber bei der Geschäftsveräußerung im Ganzen „Rechtsnachfolger des Übertragenden“; er tritt „an die Stelle des Veräußerers“. Diese Rechtsnachfolge bedeutet, dass der Erwerber bezüglich des übertragenen Vermögens in das Umsatzsteuerschuldverhältnis des Veräußerers mit dem Steuergläubiger eintritt. Dies ist z.B. von Bedeutung für Optionsfristen (§§ 1a Abs. 4, 19 Abs. 2, 24 Abs. 4 UStG), an die der Veräußerer gebunden war, oder für eine Korrektur des Vorsteuerabzugs nach § 15a UStG, den der Veräußerer vorgenommen hatte.95 4.1 Grenzüberschreitende Lieferung und grenzüberschreitender Erwerb materieller Gegenstände Die grenzüberschreitende Übertragung materieller Gegenstände hat innerhalb der EU stets zur Folge, dass der Vorsteuerabzug des Ursprungsmitgliedstaates A durch den Vorsteuerabzug des Bestimmungsmitgliedstaates B ersetzt wird. Fiele auch die grenzüberschreitende Geschäftsveräußerung unter Art. 19, 29 MwStSystRL, wäre dieser Grenzausgleich nachhaltig gestört. Denn die Vorsteuerentlastung ginge unverändert auf den Erwerber über, ohne dass je eine Vorsteuerkorrektur bei ihm möglich wäre. Dies beruht darauf, dass die im Mitgliedstaat B verwirklichten Kor-
91 FG Nürnberg, Urt. v. 6.8.2013 – 2 K 1964/10, EFG 2013, 710 = MwStR 2013, 742 mit Anm. POGODDA. 92 Vgl. auch BFH, Urt. v. 4.2.2015 – XI R 14/14, BFH/NV 2015, 1212. 93 Vgl. KLENK, MwStR 2013, 687; GRÜNWALD, DStR 2012, 437 (442); MERKEL, UR 2013, 859. 94 Vgl. KLENK, MwStR 2013, 687; GRÜNWALD, DStR 2012, 437 (442). 95 Vgl. KLENK, MwStR 2013, 687 (688).
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rekturtatbestände einen Vorsteuerabzug des Mitgliedstaates B voraussetzen würden (Art. 16, 26 Abs. 1 Buchst. a, Art. 184 ff. MwStSystRL, § 3 Abs. 1b, Abs. 9a Nr. 1, § 15a UStG). Nach KLENK96 erscheint es deshalb sachgerecht, die grenzüberschreitende Lieferung und den grenzüberschreitenden Erwerb von Gegenständen auch dann als steuerbar zu behandeln, wenn sie im Rahmen der Übertragung eines Gesamt- oder Teilvermögens erfolgen. 4.2 Übertragung eines immateriellen Wirtschaftsguts97 Die Übertragung eines immateriellen Wirtschaftsguts ist eine sonstige Leistung. Dabei handelt es sich um die Abtretung eines nicht körperlichen Gegenstands gemäß Art. 25 MwStSystRL, die grundsätzlich von dem Ort ausgeführt wird, von dem aus der Empfänger sein Unternehmen betreibt (§ 3a Abs. 2 UStG, Art. 44 MwStSystRL). Die grenzüberschreitende Abtretung an einen ausländischen Unternehmer kann bereits deshalb nicht als nicht steuerbar behandelt werden, weil Deutschland insoweit kein Besteuerungsrecht hat. Für den umgekehrten Fall stünde indes Deutschland nach § 3a Abs. 2 UStG ein Besteuerungsrecht zu. § 1 Abs. 1a UStG könnte erfüllt sein, wenn allein mit dem nicht körperlichen Gegenstand das Unternehmen des Veräußerers fortgeführt werden kann und auch soll. Aber auch insoweit erscheint es als fraglich, ob der Erwerber an die Stelle des Veräußerers treten könnte, weil bei einer Änderung der Verhältnisse der ausländische Vorsteuerabzug in Deutschland nicht korrigiert werden könnte. Denn spätere Verwendungsumsätze wären in Deutschland steuerbar. 4.3 Übertragung von Gesellschaftsanteilen Unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen eine Anteilsveräußerung überhaupt eine Geschäftsveräußerung im Ganzen darstellen kann,98 stellt sich auch in diesem Zusammenhang das schon zuvor angesprochene Problem, ob im Nachgang zu der in Deutschland ggf. als Bestimmungsmitgliedstaat nach § 3a Abs. 2 UStG steuerbaren Anteilsveräußerung eine Vorsteuerberichtigung nach § 15a UStG des ausländischen Vorsteuerabzugs möglich wäre.99 Dasselbe Problem stellt sich m.E. im umgekehrten Fall.
96 Vgl. KLENK, MwStR 2013, 687 (688). 97 Vgl. KLENK, MwStR 2013, 687 (688). 98 Zweifelhaft im Hinblick auf EuGH, Urt. v. 30.5.2013 – C-651/11 – X BV, UR 2013, 582; vgl. dazu auch GRÜNWALD, DStR 2012, 437 (442). 99 Vgl. KLENK, MwStR 2013, 687 (690).
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4.4 Ergebnis Im Ergebnis ist daher m.E. KLENK dahingehend zu folgen, dass angesichts der derzeit geltenden unionsrechtlichen Vorgaben und der entsprechenden nationalen Bestimmungen die grenzüberschreitende Übertragung eines Gesamt- oder Teilvermögens regelmäßig keine nicht steuerbare Geschäftsveräußerung im Ganzen sein kann.100
IV. Ausblick Gemessen an dem eingangs genannten Ziel der angestrebten Vereinfachung und Erleichterung der Umstrukturierung von Unternehmen durch die Annahme einer nicht steuerbaren Geschäftsveräußerung im Ganzen ist mit einer gewissen Ernüchterung festzustellen, dass diese Vorgabe für die betroffenen Rechtsanwender in vielen Fällen noch nicht erreicht sein dürfte. Insbesondere Irrtümer bei der für die Vertragspartner schwierigen Beurteilung der Voraussetzungen einer Geschäftsveräußerung im Ganzen können bei der Bewältigung der unerwünschten Rechtsfolgen erhebliche Irritationen auslösen. Auch die Angehörigen der Finanzverwaltung und der Finanzgerichtsbarkeit sollten deshalb in schwierigen Grenzfällen Verständnis für die Vertragsbeteiligten aufbringen und sich bei der Beurteilung der Rechtslage stets auch das aufgezeigte und erstrebenswerte Ziel der Vereinfachungsregelung vor Augen führen.
100 Vgl. KLENK, MwStR 2013, 687 (690); wohl a.A. MERKEL, UR 2013, 859.
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Option nach § 9 UStG und deren Widerruf – Risiken der eigenen Umsatzbesteuerung durch Abhängigkeiten vom Geschäftspartner – Dr. HEIDI FRIEDRICH-VACHE Steuerberaterin, Partner, Rödl & Partner, Leitung Geschäftsbereich Umsatzsteuerberatung | VAT Services, München Inhaltsübersicht I. Fallstricke in der Praxis . . . 103 II. Entstehung und Sinn der Option (Art. 137 MwStSystRL, § 9 UStG) . . . 105 III. Einschränkung der Option auf bestimmte Leistungen nach nationalem Recht 1. Erste Abhängigkeit vom Geschäftspartner – Unternehmereigenschaft am Beispiel des Mieters. 2. Voraussetzung der tatsächlichen Verwendung des Wirtschaftsguts durch den Mieter für besteuerte Ausgangsumsätze . . . . . . . . . . . . . . 3. Verwendungsabsicht des Vermieters mit Auswirkung auf die Option . . . . 4. Ausübung der Option und vorgesehene Bagatellgrenze. . . . . . . . . . . . . 5. Widerruf der Option durch den Vermieter . . .
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IV. Handlungserfordernisse für den Vermieter und sich anschließende Fragen 1. Nachweispflichten des Leistenden . . . . . . . . . . . . 119 2. Lösungen im Fall „unverhältnismäßiger“ Abhängigkeit vom Geschäftspartner . . . . . . . . . 120 V. Blick auf den Leistungsempfänger 1. Rückerstattung gezahlter Umsatzsteuer und Weiterzahlung eines Bruttobetrags bei Wegfall/Widerruf der Option? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 2. Unverschuldeter Wegfall der Optionsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . 124 VI. Zusammenfassung und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
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I. Fallstricke in der Praxis In Bezug auf das Generalthema der „Umsatzbesteuerung in Abhängigkeit vom Geschäftspartner“ ist die Vorschrift der Option prädestiniert, solche Abhängigkeiten vom Geschäftspartner aufzuzeigen, bei der es in jedem Fall darauf ankommt, dass der Geschäftspartner ebenfalls Unter103
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nehmer ist und die Leistung oder das bezogene und zu verwendende Wirtschaftsgut für sein Unternehmen bezieht. Darüber hinaus kommt es bei bestimmten Umsätzen auch auf die Verwendungsabsicht des Geschäftspartners bzw. dessen tatsächliche Verwendung an. Vor allem bei Immobiliengeschäften und in der Nutzungsphase von Immobilien stellt sich in der Praxis für den leistenden Unternehmer regelmäßig die Frage, ob die umsatzsteuerliche Behandlung seiner eigenen Ausgangsumsätze, d.h. die Erklärung und eine Abführung von Umsatzsteuer korrekt erfolgte sowie ein Vorsteuerabzug für damit zusammenhängende Eingangsleistungen zutreffend geltend gemacht werden konnte. Denn seine eigene Besteuerung und Vorsteuerabzugsmöglichkeiten im Beispiel der Vermietungsumsätze hängen letztlich vom umsatzsteuerlichen Status seines Geschäftspartners (Mieters) und dessen tatsächlicher Verwendung des Mietobjekts ab. Die Nachweislast einer für steuerfreie Vermietungsumsätze beispielsweise vorgenommenen Option liegt beim Vermieter bzw. beim leistenden Unternehmer, wie dies auch regelmäßig für Steuerbefreiungen selbst gilt. Nachfolgend sollen die Spannungsfelder vor allem bei Vermietungssituationen im Zusammenhang mit der Option sowie insbesondere die praktischen Themen der Nachweispflichten, Absichtsbekundungen und des Vertrauensschutzes auf Ebene des Leistenden aufgezeigt und auch einmal der Blick auf den Geschäftspartner, hier den Leistungsempfänger, geworfen werden. Im Rahmen des Beitrags soll dabei nicht nur herausgearbeitet werden, welche Abhängigkeiten vom Geschäftspartner bestehen – diese liegen unter Berücksichtigung der Voraussetzungen der Option leicht auf der Hand, sind in der Praxis aber teilweise nicht leicht handhabbar –, sondern insbesondere, ob und inwieweit diese gerechtfertigt erscheinen oder in bestimmten Fallkonstellationen eben nicht, etwa bei unzutreffenden oder verspäteten Angaben des Geschäftspartners. Für diese Fallkonstellationen ist dann zu fragen, ob die Abhängigkeiten vom Geschäftspartner so weit gehen dürfen, dass (ausschließlich) der leistende Unternehmer etwa umsatzsteuerliche Nachteile und Risiken z.B. infolge nachträglich und rückwirkend versagter Option zu tragen hat oder eine Erleichterung im Umsatzsteuerrecht bzw. aus dem UStG selbst gefunden werden kann und muss. Diese Frage wird nachfolgend insbesondere für Immobiliengeschäfte, d.h. für die Grundstücksübertragung (im Wege der Veräußerung) und die Grundstücksüberlassung (Vermietung und Verpachtung eines Grundstücks) untersucht und zu beantworten versucht. Da bei Grundstücksverkäufen, die nach § 4 Nr. 9 Buchst. a UStG steuerfrei sind, die Einschränkungen nach § 9 Abs. 2 UStG nicht gelten und damit nicht noch 104
FRIEDRICH-VACHE, Option nach § 9 UStG und deren Widerruf
weitere Abhängigkeiten vom Geschäftspartner bestehen, konzentrieren sich die Ausführungen verstärkt auf Grundstücksüberlassungen.
II. Entstehung und Sinn der Option (Art. 137 MwStSystRL, § 9 UStG) Konsequenterweise wurde mit Einführung des Vorsteuerabzugs (der Allphasen-Netto-Umsatzsteuer) zum 1.1.1968 auch § 9 UStG eingeführt, der den freiwilligen Verzicht auf (bestimmte) Steuerbefreiungen vorsieht. Sinn war und ist in diesem Zusammenhang, Wettbewerbsnachteile durch unechte Steuerbefreiungen in unternehmerischen Leistungsketten zu vermeiden, die sich entweder durch die definitive Belastung mit nicht abziehbarer Vorsteuer auf Ebene des steuerfrei Leistenden oder auf einer nachfolgenden Leistungsstufe ergeben, auf der ein Leistungsempfänger bei gelungener Überwälzung einmal mit nicht abziehbarer Vorsteuer seines Leistenden belastet ist und zum zweiten ggf. (wenn nicht auch steuerfrei geleistet wird) mit Umsatzsteuer darauf. Wie REIß1 schon früher dargestellt hat, ist der Endverbraucher bei gelungener Überwälzung nicht abziehbarer Vorsteuer in der Unternehmerkette am Ende über einen höheren Nettopreis (ein höheres Entgelt) nicht nur mit Umsatzsteuer auf das höhere Nettoentgelt belastet; es erhöht sich die bezogene Leistung auch bereits um die im Nettoentgelt enthaltenen Vorsteuerbeträge. Oftmals betrifft die (unechte) Steuerbefreiung folglich nur die eigene Wertschöpfung des Leistenden; schon auf der nächsten Stufe kann bei gelungener Überwälzung nicht abziehbarer Vorsteuer eine Kumulation von Umsatzsteuer entstehen, die gerade durch Abschaffung der AllphasenBrutto-Umsatzsteuer (weitgehend) vermieden werden sollte. „Weitgehend vermieden“ aber auch zutreffenderweise deshalb, weil natürlich im Sinne der geforderten Neutralität der Umsatzsteuer im Unternehmerbereich bzw. beim unternehmerischen Handeln gerade nur die wirtschaftliche Tätigkeit2 mit dem Vorsteuerabzug „begünstigt“ sein soll, die „besteuerte Ausgangsumsätze“ i.S.d. MwStSystRL beinhaltet. Wettbewerbsneutralität in unternehmerischen Leistungsketten sollte daher beispielsweise auch bedeuten, die selbst genutzte Immobilie nicht von der angemieteten Immobilie in Bezug auf die Umsatzsteuer und die Belastungswirkung auf Ebene der Unternehmer zu unterscheiden, so dass bei Vermietung an einen anderen Unternehmer die Option grundsätzlich vorgesehen ist.
1 Vgl. damals REIß in Tipke/Lang, Steuerrecht, 18. Aufl. 2005, § 14 Rz. 170. 2 Vgl. z.B. auch Art. 18 MwStSystRL mit seinem indirekten Hinweis darauf über die Formulierung des „besteuerten Tätigkeitsbereichs“.
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Nach Art. 137 MwStSystRL können die Mitgliedstaaten ihren Steuerpflichtigen das Recht einräumen, sich bei Finanzumsätzen (Art. 135 Abs. 1 Buchst. b–g MwStSystRL) oder Grundstücksumsätzen (in gespaltener Ermächtigungsgrundlage die Lieferung von Gebäuden oder Gebäudeteilen und dem dazugehörigen Grund und Boden sowie die Lieferung unbebauter Grundstücke sowie Vermietung und Verpachtung von Grundstücken, Art. 135 Abs. 1 Buchst. j–l MwStSystRL) für eine Besteuerung zu entscheiden. Die Mitgliedstaaten legen dabei die Einzelheiten sowie Bedingungen für die Inanspruchnahme des Wahlrechts bzw. dieser freiwilligen Besteuerung fest und können den Umfang dieses Wahlrechts ebenso einschränken. Deutschland hat diese Kann-Vorschrift umgesetzt. Da die Optionsmöglichkeit bereits vor der 6. EGRichtlinie im deutschen UStG vorgesehen war, durfte Deutschland die Übergangsvorschrift in Art. 371 MwStSystRL anwenden und die am 1.1.1978 im UStG genannten Umsätze weiterhin befreien bzw. zur Option vorsehen. Die ursprüngliche Fassung des § 9 UStG sah noch eine Globaloption vor, d.h. wenn optiert wurde, musste dies für alle unter die betreffende Steuerbefreiung fallenden Umsätze geschehen. Dies war in der Praxis problematisch, da z.B. ein Vermieter in der Regel nicht ausschließlich an Unternehmer vermietete, die ihrerseits wiederum zum Vorsteuerabzug berechtigt waren. Infolgedessen wurde 1980 von der Global- zur Einzeloption übergegangen, so dass je Umsatz und hier je Vermietung entweder optiert oder die Steuerfreiheit beibehalten werden kann.3 Durch Zwischenschalten eines „Vermietungsunternehmens“ konnte jedoch damals eine steuerfreie Vermietung an einen Nichtunternehmer zur Wohnraumnutzung ebenfalls steuerpflichtig gestaltet werden, was von der Finanzverwaltung in verschiedenen Fällen als Gestaltungsmissbrauch angesehen und daher umsatzsteuerlich letztlich nicht anerkannt wurde.4 Daher ist die Option zur Steuerpflicht nunmehr zusätzlich an die Bedingung des Nachweises durch den Unternehmer geknüpft, dass das Grundstück weder Wohnzwecken noch anderen nichtunternehmerischen und (in bestimmten Fällen) nichtbesteuerten Zwecken dient oder zu dienen bestimmt sei. Die unter § 9 Abs. 2 UStG fallende Option erfordert folglich, dass im Fall der Grundstücksüberlassung der Leistungsempfänger selbst das Grundstück ausschließlich für Zwecke verwendet 3 Vgl. z.B. KRAEUSEL in Reiß/Kraeusel/Langer, UStG, § 9 Rz. 2 – Lfg. 94, Oktober 2011. Zu beachten ist aber dann, dass eine Option für die einheitliche Leistung erfolgen muss, nicht etwa zwischen Grund und Boden und aufstehendem Gebäude differenziert werden kann, vgl. EuGH, Urt. v. 8.6.2000 – Rs. C-400/98 – Breitsohl, BStBl. II 2003, 452 = UR 2000, 329. 4 Vgl. KRAEUSEL in Reiß/Kraeusel/Langer, UStG, § 9 Rz. 7 – Lfg. 94, Oktober 2011.
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oder zu verwenden beabsichtigt, die den Vorsteuerabzug nicht ausschließen. Die bloße Unternehmereigenschaft des Geschäftspartners nach § 9 Abs. 1 UStG ist in diesen Fällen nicht ausreichend, damit der Leistende optieren kann. Für den eingeführten Abs. 2 des § 9 UStG5 mit seiner Erweiterung auch auf die Bestellung und Übertragung von Erbbaurechten sowie auf Umsätze gemäß § 4 Nr. 12 Buchst. b und Nr. 12 Buchst. c UStG gibt es Erleichterungen durch die Übergangsregelungen in § 27 Abs. 2 UStG, die die Beschränkung der Option nur für Grundstücke mit Gebäuden für anwendbar erklärt, die nach einem gewissen Stichtag fertiggestellt wurden.6 2001 wurde ein neuer Abs. 3 eingeführt, der den Verzicht auf Steuerbefreiungen bei Grundstückslieferungen im Zwangsversteigerungsverfahren zeitlich einschränkt und für die ansonsten formlos mögliche Option bei Grundstücksübertragungen (Grundstückslieferungen) seit 2004 eine Form, d.h. die Erklärung der Option im nach § 311b BGB notariell zu beurkundenden Vertrag vorsieht. Dies wurde mit dem Erfordernis von Rechtssicherheit und Rechtsschutz begründet, da durch die bestehende Regelung der Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers („Reverse Charge“) bei Grundstücksumsätzen gemäß § 13b Abs. 2 Nr. 3 UStG der Leistende nicht nachträglich (bei nachträglicher Option) den Leistungsempfänger zum Steuerschuldner machen können soll.7 Während § 9 Abs. 2 UStG die Option zur Steuerpflicht bei verschiedenen Umsätzen einschränkt – so bei der Bestellung und Übertragung von Erbbaurechten nach § 4 Nr. 9 Buchst. a UStG, bei der Vermietung oder Verpachtung von Grundstücken nach § 4 Nr. 12 Buchst. a UStG sowie bei den in § 4 Nr. 12 Buchst. b und Nr. 12 Buchst. c UStG (betrifft v.a. Nießbrauch an einem Grundstück) bezeichneten Umsätzen –, indem beim Leistungsempfänger weitere Voraussetzungen vorliegen müssen, knüpft § 9 Abs. 3 bei Grundstückslieferungen unmittelbar an § 9 Abs. 1 UStG an und sieht keine weiteren Voraussetzungen bzw. Abhängigkeiten vom Geschäftspartner vor. Ausnahme ist hier das formelle Erfordernis der Aufnahme der Option im Kaufvertrag.
5 Eingeführt durch Art. 17 des Steuerbereinigungsgesetzes vom 14.12.1984. 6 Für sog. Altgebäude in der Praxis zu beachten, d.h. wenn das Gebäude Wohnzwecken dient oder zu dienen bestimmt ist und vor dem 1.4.1985 fertig gestellt wurde (bei Baubeginn vor dem 1.6.1984), anderen nichtunternehmerischen Zwecken dient oder zu dienen bestimmt ist und vor dem 1.1.1986 fertig gestellt wurde (bei Baubeginn vor dem 1.6.1984) oder anderen als den vorbezeichneten Zwecken dient oder zu dienen bestimmt ist und vor dem 1.1.1998 fertig gestellt wurde (bei Baubeginn vor dem 11.11.1993). 7 Vgl. KRAEUSEL in Reiß/Kraeusel/Langer, UStG, § 9 Rz. 13.3 – Lfg. 94, Oktober 2011.
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Gerade bei Leistungen im Zusammenhang mit Immobiliengeschäften stehen meist beträchtliche Vorsteuerbeträge (insbesondere aus der Anschaffung oder Herstellung sowie Unterhaltung eines Gebäudes) in Rede. Ein Vorsteuerabzug ist – wie oben erläutert – gemäß § 15 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 UStG grundsätzlich ausgeschlossen, wenn der Unternehmer die an sich zum Vorsteuerabzug zugelassene Eingangsleistung zur Ausführung eines steuerfreien Umsatzes verwendet. Der leicht andere Wortlaut in Art. 168 MwStSystRL sieht einen Vorsteuerabzug vor, wenn die bezogenen Lieferungen oder Dienstleistungen für Zwecke besteuerter Ausgangsumsätze verwendet werden. Einen Verlust des Vorsteuerabzugs oder eine Reduzierung dessen (infolge teilweiser Vorsteueraufteilung z.B. bei gemischt genutzten/vermieteten Immobilien) kann der leistende Unternehmer durch Optieren vermeiden. Folglich gilt die Option in der unternehmerischen Leistungskette für den Leistenden als „Vergünstigung“.
III. Einschränkung der Option auf bestimmte Leistungen nach nationalem Recht 1. Erste Abhängigkeit vom Geschäftspartner – Unternehmereigenschaft am Beispiel des Mieters Nach § 9 Abs. 1 UStG kann – seit der Neufassung des UStG 1980 unverändert – der leistende Unternehmer bestimmte Umsätze, beispielsweise einen steuerfreien Finanzumsatz, eine steuerfreie Grundstücksveräußerung oder -vermietung, als steuerpflichtig behandeln, um selbst in Bezug auf damit zusammenhängende Eingangsleistungen den Vorsteuerabzug zu erlangen, wenn der betreffende Umsatz – an einen anderen Unternehmer – für dessen Unternehmen ausgeführt wird. So stellt es für den Leistenden bereits die erste Hürde dar, diese Voraussetzung zu erfüllen. In der Praxis wird sich schlicht damit beholfen, eine Auskunft und Bestätigung seines Geschäftspartners über dessen Unternehmerstatus einzuholen. Dies erfolgt regelmäßig im Fall der Vermietung im zugrundeliegenden Mietvertrag oder dazu begleitenden Dokumenten; so wird dies auch in Fällen der Grundstücksübertragung etwa im zugrunde liegenden Kaufvertrag gehandhabt, wo neben einem etwaigen Hinweis auf die Option als solche auch einleitend die jeweiligen Unternehmereigenschaften der Vertragsparteien – sofern solche vorliegen – aufgenommen sein sollten.
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Eine solche Bestätigung des Mieters (oder Käufers) zu seinem Unternehmerstatus kann (bisher) grundsätzlich aber lediglich zivilrechtliche Handhabe des Vermieters versprechen (s. noch nachfolgend unter III.2.). Der Leistende (Vermieter) muss also, um in den Genuss der Option zu gelangen, zunächst sicherstellen, dass sein Mieter Unternehmer ist und den Vermietungsumsatz für sein Unternehmen bzw. für seinen wirtschaftlichen Bereich bezieht. Neben der schriftlichen, vertraglichen Bestätigung der Unternehmereigenschaft ist in praktischer Hinsicht8 zur weiteren Absicherung und im Zweifel empfehlenswert, die Umsatzsteuer-Identifikationsnummer abzufragen (mit Vornahme einer qualifizierten Bestätigungsabfrage beim Bundeszentralamt für Steuern) oder eine Unternehmerbescheinigung beim Mieter anzufordern. Da bei der Vermietung die Zuordnung des bezogenen Vermietungsumsatzes zum Unternehmen des Mieters weiter in § 9 Abs. 2 UStG konkretisiert wird, erscheint eine diesbezügliche Prüfung im Rahmen des § 9 Abs. 1 UStG – anders als bei der Grundstückslieferung, für deren Option § 9 Abs. 3 UStG bloße formelle zusätzliche Anforderungen stellt – regelmäßig entbehrlich. Die Option ist nicht von der Zustimmung des Mieters als Leistungsempfänger abhängig, was in bestimmten Praxisfällen aber für den Mieter (umsatzsteuer-)belastend wirken kann, wenn er teilweise nicht vorsteuerabzugsberechtigt ist, aber z.B. infolge anwendbarer Bagatellgrenze (bei bis zu 5 % steuerfreien Ausgangsumsätzen; s. unter III.4.) eine Volloption durch den Vermieter möglich ist. So sind in der Praxis die umsatzsteuerlichen Belastungen der Geschäftspartner regelmäßig abhängig von deren Verhandlungsgeschick und Verhandlungsposition. Allerdings kann der Mieter, sollte er Kleinunternehmer sein, durch Optionswiderruf nach § 19 Abs. 2 UStG beispielsweise mittelbar auf die Option des Vermieters einwirken, weil mangels Berechtigung zum Vorsteuerabzug die Voraussetzungen nach § 9 Abs. 2 UStG bei Grundstücksüberlassung entfallen würden. Ist der Mieter voll vorsteuerabzugsberechtigt, wird er einer Option zur Steuerpflicht seitens seines Vermieters grundsätzlich zustimmen, zumal in der Praxis oftmals Anpassungen der Nettomiete erfolgen und sich Vermieter finanzielle Nachteile steuerfreier Vermietung durch eigene Vorsteuerabzugsbeschränkung – je nach seiner Verhandlungsposition – ausgleichen lassen (Beispiel: steuerfreie Vermietung i.H.v. 10 800 Euro bei Eingangsrechnungen mit dann nicht abziehbarer Vorsteuer von 800 Euro versus steuerpflichtiger Vermietung von 10 000 Euro netto 8 Vergleichbar etwa den Sorgfaltspflichten eines ordentlichen Kaufmanns – wie in der Rechtsprechung formuliert – beim Nachweis einer grenzüberschreitenden innergemeinschaftlichen Lieferung.
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zzgl. 1900 Euro Umsatzsteuer). In der Praxis erfolgt also je nach Durchsetzbarkeit und wirtschaftlicher Kalkulation mit dem Nettomietzins eine Option oder nicht. Da § 9 Abs. 3 UStG für die Lieferung von Grundstücken im Zwangsversteigerungsverfahren oder in der freien Veräußerung keine Einschränkung dahingehend vorsieht, dass der Erwerber zum Vorsteuerabzug berechtigende Umsätze ausführen muss, wie für Grundstücksüberlassungen, kann der Erwerber auf die Option durch den Veräußerer (außer natürlich über seine Verhandlungsmacht) keinen Einfluss nehmen. Bei unerwünschter definitiver Belastung und mangelnder Einflussnahme auf den Leistenden, keine Option auszuüben, würde ihm letztlich wohl nur der Verzicht auf das Geschäft bleiben. Ein Vermieter oder Veräußerer hat regelmäßig ein Interesse an einer steuerpflichtigen Erbringung seiner Ausgangsumsätze. Ist der Mieter oder Immobilien-Erwerber Unternehmer und voll vorsteuerabzugsberechtigt, ist für ihn eine Option zur Steuerpflicht und damit eine zuzügliche Bezahlung der Umsatzsteuer unerheblich. Liquiditätsnachteile etwa durch eine Bezahlung der Umsatzsteuer an den Leistenden vor einer entsprechenden Vorsteuererstattung seitens des Finanzamts können praktisch leicht vermieden werden, beispielsweise durch entsprechend vereinbarte Zahlungsziele nach Rechnungserteilung (im Fall von Sollbesteuerung). Dadurch, dass die Unternehmereigenschaft des Geschäftspartners und dessen Bezug zum Unternehmen die Option für den Leistenden erst ermöglicht, ist er insoweit von seinem Geschäftspartner abhängig. Nur wenn er einen solchen Geschäftspartner findet, kann er seine eigene Besteuerungssituation im Hinblick auf die Abziehbarkeit der Vorsteuerbeträge optimieren. Andererseits kann jedoch auch umgekehrt eine ausgeführte Option, die gerade – im Fall vorliegender Voraussetzungen – nicht von der Zustimmung des Leistungsempfängers abhängt, belastend für seinen Geschäftspartner wirken. Deshalb erscheint es aus Sicht des leistungsempfangenden Geschäftspartners neben dem vordergründigen berechtigten Sinn der Option auf Ebene des Leistenden auch klar gerechtfertigt, die Option von der Voraussetzung der Unternehmereigenschaft beider Vertragsparteien abhängig zu machen. 2. Voraussetzung der tatsächlichen Verwendung des Wirtschaftsguts durch den Mieter für besteuerte Ausgangsumsätze § 9 Abs. 2 UStG sieht weitere Restriktionen für den Verzicht auf bestimmte Steuerbefreiungen vor. Insbesondere bei Grundstücksüberlassung, z.B. Vermietung eines Gebäudes oder selbstständig nutzbarer Ge-
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bäudeteile (z.B. Wohnungen, gewerbliche Flächen usw.), ist eine Option nur zulässig, soweit der Mieter das Grundstück ausschließlich für Umsätze verwendet (oder zu verwenden beabsichtigt), die den Vorsteuerabzug nicht ausschließen. Die beiden Begriffe „soweit“ und „ausschließlich“ sind dabei spannend, deren praktische Bedeutung nachfolgend noch beschrieben wird. Der Vermieter hat diese Voraussetzung, also die Verwendung beim Leistungsempfänger, nach dem Wortlaut des Gesetzes auch nachzuweisen, § 9 Abs. 2 Satz 2 UStG. Diese Nachweispflicht ist jedoch keine materiell-rechtliche Voraussetzung, sondern kann lediglich eine formelle sein. Die Option des Vermieters ist also entscheidend von der Verwendung(sabsicht) des Mieters abhängig. Zu beachten ist zunächst noch, dass dies nur für Immobilienobjekte gilt, die z.B. im Falle von NichtWohnzwecken, sondern unternehmerischen Zwecken vor dem 1.1.1998 fertig gestellt wurden (bei Baubeginn vor dem 11.11.1993), § 27 Abs. 2 UStG. Für sog. Altgebäude9 gilt § 9 Abs. 2 UStG demnach grundsätzlich nicht, so dass hier noch umsatzsteuerliche Vorteile erzielt werden können.10 Denn Sinn der Einführung des § 9 Abs. 2 UStG mit Wirkung zum 1.1.1994 war und ist es, einer Umgehung der an sich z.B. für Ärzte und Banken nicht möglichen Option vorzubeugen, so dass z.B. anmietende Ärzte und Banken letztlich keinen Vorsteuerabzug aus der Herstellung oder Anschaffung eines Gebäudes erlangen, wenn sie (verbundene) voll vorsteuerabzugsberechtigte Vermieter vorschalten.11 Um Kenntnis über die Verwendungsabsicht bzw. tatsächliche Verwendung des Mietobjekts durch den Mieter zu erlangen, muss der Vermieter diese Information einholen. Mit einer bloßen Bestätigung des Mieters über seine (ausschließlich) steuerpflichtige Nutzung werden die Risiken einer anderweitigen Nutzung (was im Übrigen auch für die Bestätigung der Unternehmereigenschaft gilt) jedoch nicht beseitigt. Da letztlich die tatsächliche Nutzung durch den Mieter auf die Zulässigkeit der Option des Vermieters reflektiert, sind im Fall vertragswidriger Nutzung vertragliche Sanktionen vorzusehen, die bis zur Kündigung des Mietverhältnisses in der Praxis zu finden und (aus Sicht des Vermieters) empfohlen sind.
9 In der Praxis sind Fälle späterer Baumaßnahmen, etwa des Ausbaus und der Erweiterung von Altobjekten, zu beachten, insbesondere da sich einzelne Tatbestandsmerkmale in den unterschiedlichen Gesetzesfassungen des § 9 UStG geändert haben und eine Vorsteuerabzugsberechtigung des Mieters nicht durchgehend zwingende Voraussetzung der Option zur Steuerpflicht war. 10 Vgl. z.B. STERZINGER, DStR 2013, 167. 11 Auf den Zeitpunkt des Erwerbs eines Altobjekts durch den Vermieter nach dem 1.1.1994 kommt es nicht an.
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Regelmäßig vereinbart werden auch eine (zivilrechtlich wirksame) Auskunftspflicht des Mieters im Falle der Nutzungsänderung der angemieteten Räumlichkeiten und eine Anpassung des Nettomietzinses als Ausgleich steuerlicher Nachteile des Vermieters (z.B. infolge Vorsteuerausschluss oder Vorsteuerkorrekturbedarf nach § 15a UStG auf Ebene des Vermieters bei Nutzungsänderung durch den Mieter). Ständig wiederholte Bestätigungen des Mieters über die Verwendung des Grundstücks bzw. Grundstücksteils sind auch nach Auffassung der Finanzverwaltung nicht erforderlich, solange beim Mieter keine Änderungen in der Verwendung des Grundstücks zu erwarten sind. Im Einzelfall kann es aber erforderlich sein (so Abschn. 9.2 Abs. 4 Satz 5 UStAE), vom Mieter zumindest eine jährliche Bestätigung einzuholen, ohne dass die Finanzverwaltung jedoch die aus ihrer Sicht betroffenen Einzelfälle nennt.12 So sollten in der Praxis jedenfalls dringend eine Auskunftspflicht des Mieters bei Nutzungsänderung in Bezug auf die Ausführung steuerpflichtiger Umsätze oder deren Quote zu den Gesamtumsätzen (bei angewendeter Bagatellgrenze) vereinbart werden sowie vorsorglich die jeweiligen Schadensersatzansprüche,13 auch wenn manche Stimmen solche für nicht erforderlich halten, da sich diese ja ohnehin bereits aus einer anderslautenden vertraglichen Bestätigung des Mieters ergeben können. Die Vereinbarung von Schadensersatzansprüchen und festgelegten Steuerklauseln hängt wiederum ab von der einzelnen Verhandlungsmacht und verspricht letztlich lediglich zivilrechtliche Handhabe; an der rein umsatzsteuerlichen Beurteilung der Option ändert dies nichts, da diesbezüglich schlussendlich nur die tatsächliche Nutzung entscheidend ist. Mit der bloßen Bestätigung des Mieters sind die umsatzsteuerlichen Risiken für den Vermieter nicht beseitigt. Eine solche Bestätigung bietet lediglich eine Absicherung vertragswidriger Nutzung und/oder Auskunft. Sie bestätigt nur die grundsätzliche Zulässigkeit der Option, so dass diese, ggf. auch für einen vergangenen Zeitraum, entfällt, sollte das Mietobjekt tatsächlich nicht zu steuerpflichtigen Umsätzen verwendet werden. Bei Grundstücksverkäufen, die nach § 4 Nr. 9 Buchst. a UStG steuerfrei sind, gelten die Einschränkungen nach § 9 Abs. 2 UStG nicht. Daher kann der Veräußerer auch dann zur Steuerpflicht optieren, wenn der Erwerber das Grundstück für steuerfreie Umsätze verwendet, so dass er 12 Neben Bestätigungen des Mieters sind auch andere Beweismittel möglich, z.B. Zeugenbeweis, Augenschein durch die Finanzbehörde, vgl. BIRKENFELD in Birkenfeld/Wäger, Umsatzsteuer-Handbuch, Bd. II, § 113 Rz. 259 – Lfg. 36, Nov. 2004. 13 Z.B. Anpassung Nettomietzins, Ersatz und Ausgleich von Vorsteuer-/Vorsteuerkorrekturschäden bis etwa hin zu einem Kündigungsrecht betreffend das Mietverhältnis.
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hier weniger abhängig vom Geschäftspartner wie im Fall der Grundstücksüberlassung erscheint. Andererseits ist auch hier der Verzicht dadurch, dass er im notariellen Kaufvertrag erklärt werden muss, faktisch von der Mitwirkung des Erwerbers abhängig. 3. Verwendungsabsicht des Vermieters mit Auswirkung auf die Option Hat der optierende Unternehmer das Grundstück im Abzugsjahr noch nicht tatsächlich zur Ausführung eines in § 9 Abs. 2 UStG genannten Umsatzes verwendet, ist seine Verwendungsabsicht zum Zeitpunkt der Anschaffung oder Herstellung des Grundstücks für den Vorsteuerabzug aus den Anschaffungs- oder Herstellungskosten maßgeblich; bereits bei Bezug der Eingangsleistung hat er zu entscheiden, ob er auf die Steuerfreiheit des Ausgangsumsatzes verzichten will.14 Hat (lediglich) der Leistungsempfänger das Grundstück im Abzugsjahr noch nicht tatsächlich zur Ausführung von Umsätzen verwendet, kommt es für die Optionsmöglichkeit des Leistenden auf die Verwendungsabsicht des Leistungsempfängers an. Wenn der Vorsteuerabzugsanspruch nach Grund und Höhe im Zeitpunkt des Leistungsbezugs entsteht (Sofortabzug der Vorsteuer), sofern der Unternehmer mit den Eingangsumsätzen nachweislich wirklich besteuerte Umsätze auszuführen beabsichtigt (Sofortentscheidung des Unternehmers), ist auch eine fiktive Option gesetzlich möglich.15 Im Sinne der Rechtsprechung ist also auf Ebene des Vermieters zu prüfen, ob seine Erklärung, steuerpflichtige Umsätze tätigen zu wollen, in gutem Glauben abgegeben und durch objektive Anhaltspunkte belegt ist.16 Eine zweckmäßige Anwendung der Option nach § 9 UStG wirkt sich –
14 Eine zuvor – für Zwecke des Vorsteuerabzugs – dem FA gegenüber abgegebene Absichtserklärung, auf die Steuerfreiheit zu verzichten, ist grundsätzlich wirkungslos, wenn nicht später wirklich verzichtet wird. Nach Nds. FG, Urt. v. 22.8.2013 – 16 K 286/12, DStRE 2015, 426 kann die Option ausgeübt werden, solange die Steuerfestsetzung für das Jahr der Leistungserbringung noch änderbar und nicht festsetzungsverjährt ist. Das Gesetz sehe keine zeitliche Beschränkung vor und der BFH-Rechtsprechung sei nichts Gegenteiliges zu entnehmen (Revision eingelegt BFH XI R 40/13; s. aber bereits BFH, Urt. v. 19.12.2013 – V R 7/12, BFH/NV 2014, 1130 = UR 2014, 579). 15 Vgl. EuGH, Urt. v. 8.6.2000 – Rs. C-396/98 – Schlossstraße, BStBl. II 2003, 446 = UR 2000, 336;EuGH, Urt. v. 8.6.2000 – Rs. C-400/98 – Breitsohl, BStBl. II 2003, 452 = UR 2000, 329. 16 Vgl. BFH, Urt. v. 22.3.2001 – V R 46/00, BStBl. II 2003, 433 = UR 2001, 360; BFH, Urt. v. 26.1.2006 – V R 74/03, BFH/NV 2006, 1164; so auch in Abschn. 9.1 Abs. 5 Satz 2 UStAE.
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oben bereits erwähnt – wie eine Steuervergünstigung aus,17 da insbesondere bei Grundstücksumsätzen mit hohen Vorsteuervolumina infolge des Sofortabzugs im Anschaffungs- oder Herstellungszeitraum erhebliche Liquiditätswirkungen eintreten. Auch zur Vermeidung missbräuchlicher Gestaltungen darf ein Verzicht bei Grundstücksübertragungen nur noch im notariell zu beurkundenden Vertrag erklärt werden (§ 9 Abs. 3 Satz 2 UStG). Zudem wird nach § 13b Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. Abs. 5 UStG die Umsatzsteuer vom Erwerber geschuldet. Bei Grundstücksüberlassungen ist die Option weiterhin von der finalen Nutzung des Wirtschaftsguts (Grundstücks) abhängig. Die Verwendungsabsicht ist eine zu entscheidende Tatfrage, die unter Berücksichtigung aller Gegebenheiten des Sachverhalts zu entscheiden ist. Auch die spätere tatsächliche Verwendung eines Leistungsbezugs kann ein wesentliches Indiz für die bei Leistungsbezug bestehende Verwendungsabsicht sein, sofern diese zeitnah dazu erfolgt.18 Welche objektiven Nachweise zu verlangen sind, kann allerdings nicht allgemein, sondern nur unter Berücksichtigung der Umstände des jeweiligen Einzelfalls beantwortet werden,19 so dass hier in der Praxis die Finanzbehörden auch Inserate in Immobilienzeitschriften oder Internetplattformen auswerten und – bei nicht expliziter Erwähnung der beabsichtigten steuerpflichtigen Vermietung der Gewerbeflächen im Inserat – schon einmal die steuerpflichtige Verwendungsabsicht des Vermieters anzweifeln. Solch diffizile Einzelfall-Gegennachweise bezüglich der Verwendungsabsicht sind kritisch zu sehen. Nachvollziehbar ist, dass der Vermieter seine sowie die Verwendungsabsicht des Mieters verifizieren muss.20 Es bedarf eines Konzepts und einer Dokumentation der Vermietung in der Praxis, nach dem er entschlossen und konsequent die Absicht, ein Grundstück für besteuerte Umsätze zu nutzen, verfolgt und sich bei Leistungsbezug sofort für eine den Vorsteuerabzug ermöglichende Verwendung entscheidet. Eine steuerpflichtige Grundstückslieferung ist grundsätzlich ebenso überwiegend für den Veräußerer von Vorteil, zumal er dadurch eine regelmäßig mit dem Veräußerungsvorgang einhergehende Vorsteuerkorrektur nach § 15a UStG vermeidet und im Übrigen für seine Transaktionskosten (z.B. Berater- und Notarkosten) einen Vorsteuerabzug geltend
17 Vgl. KRAEUSEL in Reiß/Kraeusel/Langer, UStG, § 9 Rz. 19 – Lfg. 94, Oktober 2011. 18 Vgl. BFH, Urt. v. 26.1.2006 – V R 74/03, BFH/NV 2006, 1164. 19 Vgl. BFH, Beschl. v. 23.5.2002 – V B 104/01, BFH/NV 2002, 1351; BFH, Urt. v. 25.4.2002 – V R 58/00, BStBl. II 2003, 435 = UR 2002, 472. 20 Vgl. FG Köln, Urt. v. 13.8.2007 – 5 K 1866/05, EFG 2008, 174 (rkr.); vgl. aber auch BFH, Urt. v. 24.4.2013 – XI R 25/10, BStBl. II 2014, 346 = UR 2014, 64.
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machen kann. Er wird daher den Erwerber für eine Option „gewinnen wollen“,21 der eine potentielle Vorsteuerkorrektur betreffend den ggf. noch nicht abgelaufenen zehnjährigen Berichtigungszeitraum für das Grundstück „erbt“. Andererseits liegt eine etwaige Vorsteuerkorrektur jedoch auch allein im Geschäftstätigkeitsbereich des Erwerbers. Daher wird der Veräußerer auch wenig Verständnis dafür haben, wenn der Erwerber seine „Zustimmung“ zur Option – sollte er voll vorsteuerabzugsberechtigt sein – im Rahmen der Kaufpreisgestaltung berücksichtigt wissen will. 4. Ausübung der Option und vorgesehene Bagatellgrenze Die Option kann unter den o.g. Voraussetzungen hinsichtlich jedes einzelnen Umsatzes gesondert ausgeübt werden, wobei für Vermietungsumsätze entscheidend ist, ob der Mieter die bezogene Vermietungsleistung zur Ausführung steuerpflichtiger, steuerfreier oder (bei Verwendung für den nichtunternehmerischen Bereich) zur Ausführung nicht-wirtschaftlicher/unternehmensfremder Umsätze verwendet. In die Prüfung, ob die Voraussetzungen vorliegen, wenn bereits die Unternehmereigenschaft des Mieters bejaht wird,22 muss ggf. die gesamte Unternehmerkette bis zum Endnutzer einbezogen werden.23 In manchen Fällen wird ein Nachweis praktisch ausgeschlossen sein, weil der Unternehmer die gesamte Nutzerkette durchgehen müsste – z.B. bei Einschaltung eines Zwischenmieters – und es ihm unmöglich ist, die Besteuerungsverhältnisse bei allen Unternehmern in der Unternehmerkette zu überprüfen, mit denen er ein direktes Vertragsverhältnis hat.24 Der leistende Unternehmer hat bei den in § 9 Abs. 1 UStG aufgeführten Steuerbefreiungen die Möglichkeit, seine Entscheidung für die Steuerpflicht bei jedem Umsatz einzeln zu treffen. Der Verzicht auf die Steuerbefreiung kann bei einer Lieferung vertretbarer Sachen (z.B. Grundstücken) sowie bei aufteilbaren sonstigen Leistungen (z.B. Vermietungsumsätze)
21 Auch bei Grundstückslieferung ist die Optionsausübung wohl noch eine einseitige Willenserklärung, die jedoch praktisch durch die Aufnahme im notariell zu beurkundenden Kaufvertrag von der Gegenseite abhängt. 22 Als Leistungsempfänger kommt auch eine PöR (§ 2 Abs. 3 UStG) in Betracht, die das Grundstück steuerpflichtig weitervermietet, vgl. EuGH, Urt. v. 4.6.2009 – Rs. C-102/08 – SALIX, UR 2009, 484. 23 Vgl. BFH, Urt. v. 21.4.1993 – XI R 55/90, BStBl. II 1994, 266; BFH, Urt. v. 20.10.1999 – V B 112/99, BFH/NV 2000, 609. 24 So auch SCHÜLER-TÄSCH in Sölch/Ringleb, UStG, § 9 Rz. 119 – Lfg. 74, April 2015.
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auf deren Teile begrenzt werden.25 Bei Beachtung verschiedener wirtschaftlicher Funktionen ist auch die Aufteilung nach räumlichen Gesichtspunkten zulässig. Eine quotale Option (beispielsweise auf die Hälfte der Umsätze) ist grundsätzlich nicht möglich; Ausnahmen sind etwa gegeben bei nur teilweiser Zuordnung des Grundstücks zum Unternehmen, womit sich der Verzicht auf diesen Teil beschränkt.26 Bei gemischter Verwendung durch den Mieter kommt es nach h.M. darauf an, ob die Leistung räumlich oder zeitlich trennbar ist und damit eine Teiloption möglich wäre. Ist eine solche Trennung möglich, ist jede „Teilleistung“ für Zwecke der Option gesondert zu beurteilen. Die Finanzverwaltung sieht bei gemischter Verwendung der Räumlichkeiten durch den Mieter – sollte also keine räumliche (oder zeitliche) Trennbarkeit gegeben sein – eine Bagatellgrenze von 5 % vor, wonach eine Option für den Vermieter möglich ist, wenn der vom Mieter steuerfreie Anteil 5 % seiner Ausgangsumsätze nicht übersteigt. Diese Bagatellgrenze der Finanzverwaltung betrifft nur das Optionsrecht des leistenden Unternehmers, nicht aber den Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers, so dass der Leistungsempfänger mit diesem Anteil dann infolge Fakturierung von Umsatzsteuer im Rahmen der Volloption mit Vorsteuern belastet ist. Bei der von der Finanzverwaltung vorgesehenen Bagatellgrenze ist unklar, ob es sich um eine Auslegung oder um eine Billigkeitsmaßnahme gemäß § 163 AO handelt.27 Fallbeispiel Der Mieter nutzt im vollen Kalenderjahr – mit entsprechender Dokumentation – einen Raum mit 40 qm der angemieteten Räumlichkeiten ausschließlich für steuerfreie Umsätze, z.B. steuerfreie Finanzdienstleistungen, die restlichen Räume mit einer Fläche von 300 qm für steuerpflichtige Umsätze. Durch die räumliche Trennbarkeit des Mietobjekts ist entsprechend dem Flächenschlüssel eine Teiloption möglich, d.h. nach der qm-Zahl der Räumlichkeiten (nicht nach dem Umsatzschlüssel der vom Mieter erzielten Umsätze). Unter Zugrundelegung unterschiedlicher wirtschaftlicher Funktionen ist auch eine Aufteilung nach räumlichen Gesichtspunkten zulässig, wenn unterschiedliche wirtschaftliche Funktionen vorliegen.28
25 Vgl. hierzu Auffassung der Finanzverwaltung in Abschn. 9.1 Abs. 6 Satz 2 UStAE; allerding keine gesonderte Option für die Lieferung des Gebäudes ohne auch anteilige Option des Grund und Bodens möglich, vgl. EuGH, Urt. v. 8.6.2000 – Rs. C-400/98 – Breitsohl, BStBl. II 2003, 452 = UR 2000, 329. 26 Vgl. KRAEUSEL in Reiß/Kraeusel/Langer, UStG, § 9 Rz. 26.2 – Lfg. 94, Oktober 2011. 27 Vgl. ENDERT/TRINKS, MwStR 2014, 724, die von einer Billigkeitsmaßnahme ausgehen. 28 Vgl. KRAEUSEL in Reiß/Kraeusel/Langer, UStG, § 9 Rz. 26.2 – Lfg. 94, Oktober 2011.
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FRIEDRICH-VACHE, Option nach § 9 UStG und deren Widerruf Nutzt der Allgemeinarzt seine gesamten Praxisräume zur Erbringung steuerfreier Heilbehandlungen und steuerpflichtiger Schönheitsoperationen, ist eine räumliche Trennung (mangels baulicher Trennung nach dem Grundriss des Gebäudes) nicht möglich. Hier ist für den Vermieter keine Teiloption möglich. Erbringt der Mieter nur bis zu 5 % steuerfreie Umsätze, ist im Sinne der vorgesehenen Bagatellgrenze jedoch eine Volloption möglich. Sollte der Mieter 10 % steuerfreie Umsätze erbringen, entfällt die Optionsmöglichkeit für den Vermieter gänzlich.29 Da es nach neuerer Rechtsprechung bei gemischter Verwendung hinsichtlich der Bagatellgrenze und der jeweiligen räumlichen Trennbarkeit auf die Fläche ankommt, wird schon diskutiert, ob auch ein Schreibtisch in einem Zimmer einer angemieteten Fläche, an dem ein Mitarbeiter ausschließlich den Teil steuerfreier Umsätze ausführt, diese räumliche Trennbarkeit beschreibt. Eine Teiloption erscheint jedenfalls bei der Nutzung eines Zimmers, etwa von 10 qm, zu steuerfreien Umsätzen, die 90 % der Gesamttätigkeit ausmachen, und der restlichen Nutzung der Mieteinheit (90 qm) zu steuerpflichtigen Umsätzen (verbleibende 10 % der Gesamtumsätze), zweifelsfrei; hier ist eine räumliche Trennbarkeit gegeben, so dass es schon nicht auf eine Bagatellgrenze ankommt.
Die Teiloption ist dann entsprechend dem Flächenschlüssel, nicht nach Umsatzschlüssel, möglich, weil bei der Option rein auf das Grundstück abgestellt wird. Fraglich in der Praxis bleibt in diesem Zusammenhang aber, wie man (regelmäßig) tatsächlich Auskunft vom Mieter über seine steuerfreien und steuerpflichtigen Umsätze bei räumlicher Untrennbarkeit oder die jeweilige räumliche Nutzung der Mieteinheit bei räumlicher Trennbarkeit erlangt. Zudem ist fraglich, wie dies zeitlich wirkt bzw. wirken kann, da vielleicht erst am Ende des maßgeblichen Veranlagungsjahrs klar ist, in welcher Höhe der Mieter für steuerfreie und steuerpflichtige Umsätze genutzt hat. Eine monatliche Betrachtungsweise erscheint hier geboten entsprechend den Voranmeldungszeiträumen, in praktischer Hinsicht erscheint eine solch diffizile Prüfung und Abfrage beim Mieter aus Sicht des Vermieters wohl nicht praktikabel oder schon tatsächlich nicht durchführbar (bei finalen Entgeltzahlungen erst am Jahresende in bestimmten Branchen) und kann nur auf Umsatzschätzung basieren. Nicht nur das Beispiel der Bagatellgrenze oder der Teiloption zeigt die unterschiedlichen Ausprägungsformen der Voraussetzungen sowie der Nachweispflichten und Nachweisführung der Option für den Vermieter in der Praxis.
29 Eine Teiloption unter Berücksichtigung eines einzelnen Raums sollte nicht per se ausgeschlossen werden, da in der Praxis eine Abgrenzung auch innerhalb eines Raums erfolgen kann, sofern bestimmte Mitarbeiter mit der Erbringung der betreffenden Umsätze betraut sind, vgl. auch ENDERT/TRINKS, MwStR 2014, 724 (725).
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Der Leistende hat also nicht nur nach der Verwendung des Mieters zu fragen, d.h. ob er das Mietobjekt für die Ausführung steuerfreier oder steuerpflichtiger Umsätze verwendet, ob in bestimmten Räumen des Mietobjekts in welchem Umfang steuerpflichtige Umsätze ausgeführt werden. Der Vermieter muss in dieser Gesamtschau seine eigene Optionsmöglichkeit (Volloption, Teiloption, keine Option) auch von einem Flächen- und Umsatzschlüssel des Mieters abhängig machen. 5. Widerruf der Option durch den Vermieter Andererseits hat der Vermieter auch die Möglichkeit, einseitig die Option durch Widerruf rückgängig zu machen. Dies kann in der Praxis für den Mieter ebenso mit erheblichen/nachteiligen Folgen verbunden sein, z.B. durch rückwirkenden Verlust des Vorsteuerabzugs aus ursprünglichen (Miet-/Dauer-)Rechnungen mit gesondert ausgewiesener Umsatzsteuer, die dann nicht mehr gesetzlich geschuldet wird. Denn ein Verzicht – beispielsweise infolge korrigierter Mietrechnungen für ein Vorjahr – wirkt in das Jahr der Ausführung des betreffenden Umsatzes zurück, wodurch aber positiverweise dem Mieter eine Verzinsung von Vorsteuerrückzahlungen nach § 233a AO erspart bleibt.30 Eine Rückkehr zur Steuerfreiheit ist nicht von der Zustimmung des Mieters abhängig.31 Ob zugleich eine zivilrechtliche Befugnis zur Rechnungsberichtigung besteht, ist unbeachtlich.32 Dies gilt auch dann, wenn der Vermieter sich zur steuerpflichtigen Behandlung des Umsatzes verpflichtet hat – was insofern doch diskutabel anmutet. Dies ist aber vielleicht vergleichbar zum einseitigen Widerruf einer umsatzsteuerlichen Gutschrift durch den Leistenden (Gutschriftempfänger). Diesbezüglich hat der BFH entschieden, dass der Widerspruch gegen eine Gutschrift uneingeschränkt möglich ist, selbst wenn die Gutschrift keine Fehler aufweist und der Widerspruch womöglich sogar mit bzw. in der Absicht erfolgte, dem Leistungsempfänger durch Wegfall des Vorsteuerabzugs zu schaden.33 Der Widerruf ist eine einseitige zugangsbedürftige Erklärung. Er ist ebenso form- und fristfrei und bedarf keiner Begründung. Der Verzicht 30 Vgl. BFH, Urt. v. 18.9.2008 – V R 56/06, BStBl. II 2009, 250 (254) = UR 2009, 94; BFH, Urt. v. 10.12.2009 – XI R 7/08, BFH/NV 2010, 1497 = UR 2010, 690. 31 Vgl. BFH, Urt. v. 25.2.1993 – V R 78/88, BStBl. II 1993, 777. 32 Vgl. BFH, Urt. v. 11.10.2007 – V R 27/05, BStBl. II 2008, 438 = UR 2008, 311, wonach für die Rücknahme auch nicht vorausgesetzt wird, dass der Vermieter die zuvor ausgewiesene und vereinnahmte Umsatzsteuer an den Mieter zurückerstattet. 33 Vgl. BFH, Urt. v. 23.1.2013 – XI R 25/11, BStBl. II 2013, 417 = UR 2013, 389; zur Kritik s. STADIE, UR 2013, 365.
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kann jedoch nicht zeitlich unbegrenzt erklärt werden. Der BFH34 hat eine Bindungswirkung an die Option zur Steuerpflicht nach § 9 UStG ab dem Eintritt der formellen Bestandskraft der jeweiligen Steuerfestsetzung bejaht, zugleich aber offengelassen, wie zu entscheiden wäre, wenn die Option beispielsweise nachträglich ausgeübt würde. Die Finanzverwaltung hat hieraus zunächst abgeleitet, dass die Erklärung der Option und deren Widerruf nur bis zur formellen Bestandskraft der Jahressteuerfestsetzung zulässig sein sollen. Die Finanzverwaltung35 hat dies in Bezug auf eine Grundstücksveräußerung dahingehend abgeschwächt, dass die im notariellen Kaufvertrag vorsorglich und im Übrigen unbedingt erklärte Option als mit Vertragsschluss wirksam gilt. Fraglich war allerdings in diesem Zusammenhang, ob die formelle Bestandskraft der Steuerfestsetzung für das Kalenderjahr der Vermögensübertragung überhaupt als zeitliche Grenze für Erklärung und Widerruf der Option anzusehen ist. Nunmehr hat der BFH36 – ohne bisherige Reaktion der Finanzverwaltung – klargestellt und widerspricht damit der Rechtsauffassung der Verwaltung in Abschn. 9.1 Abs. 3 UStAE, dass der Verzicht auf die Steuerbefreiung nach § 9 UStG zurückgenommen werden kann, solange die Steuerfestsetzung für das Jahr der Leistungserbringung anfechtbar oder aufgrund eines Vorbehalts der Nachprüfung gemäß § 164 AO noch änderbar ist. Folglich ist der Widerruf also nicht nur bis zur formellen Bestandskraft der jeweiligen Jahressteuerfestsetzung möglich.
IV. Handlungserfordernisse für den Vermieter und sich anschließende Fragen 1. Nachweispflichten des Leistenden Anhand vorstehender Beispiele und Ausführungen werden die unterschiedlichen Ausprägungsformen der Nachweispflichten und Nachweisführung des Vermieters beschrieben und in der Praxis deutlich. Es ist nicht nur nach der bloßen Verwendung(sabsicht) des Mieters zu fragen, sondern zu differenzieren, ob er etwa teilweise steuerfreie Umsätze erbringt, ob diese abgrenzbar vom Mieter in bestimmten Räumen ausgeführt werden, wenn ja in welchen. Es ist zu fragen, wie hoch der steu-
34 Vgl. BFH, Urt. v. 10.12.2008 – XI R 1/08, BStBl. II 2009, 1026 = UR 2009, 208. 35 Vgl. BMF, Schr. v. 23.10.2013 – IV D 3 - S 7198/12/10002 – DOK 2013/0954206, BStBl. I 2013, 1382. 36 Vgl. BFH, Urt. v. 19.12.2013 – V R 6/12, UR 2014, 572 = BFH/NV 2014, 1126; BFH, Urt. v. 19.12.2013 – V R 7/12, UR 2014, 579 = BFH/NV 2014, 1130.
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erfreie Leistungsanteil im Fall einer Untrennbarkeit der steuerpflichtigen und steuerfreien Umsätze des Mieters ist, die in den Räumlichkeiten ausgeübt werden. Offen ist, ob eine tatsächliche vorsteuerschädliche, nicht angezeigte Nutzung des Mieters den Leistenden vor einem Optionsverlust bewahrt. Zumindest aus sachlichen Billigkeitsgründen muss dann für den Vermieter eine Option für die Vergangenheit (bis Kenntniserlangung von einer Nutzungsänderung) gewährt bleiben, was sich derzeit nicht wörtlich oder explizit aus dem UStG ergibt. Zu fragen ist also nach den Auswirkungen einer tatsächlichen vorsteuerschädlichen Nutzung des Mieters bei nicht oder falsch mitgeteilter Optionsvoraussetzung und nach dem Schutz des Leistenden vor (nachträglichem) Optionsverlust. Eine tatsächliche vorsteuerschädliche Nutzung bewahrt wohl nach dem UStG grundsätzlich nicht vor einem Optionsverlust. Grundsätzlich sind Schäden (bei später versagtem Vorsteuerabzug oder bei Vorsteuerkorrektur) infolge anderweitiger Nutzung dem Leistenden nur im Zivilrechtwege vom Mieter ersetzbar. Die Frage aber ist, wofür man die in Satz 2 des § 9 Abs. 2 UStG erwähnte Nachweispflicht benötigen sollte, wenn nicht etwa sachliche Billigkeit in bestimmten Fällen oder ein Vertrauensschutztatbestand daraus ableitbar wäre für den Fall, dass im Hinblick auf die Optionsvoraussetzungen die Nachweispflichten durch den Leistenden erfüllt wurden. 2. Lösungen im Fall „unverhältnismäßiger“ Abhängigkeit vom Geschäftspartner 2.1 Plädoyer für einen Vertrauensschutz – Einhergehend mit einem Haftungstatbestand? Ebenso wie die Steuerbefreiung im grenzüberschreitenden Warenverkehr, etwa für innergemeinschaftliche Lieferungen oder Ausfuhrlieferungen, als Begünstigung für den Leistenden verstanden wird und dadurch besondere Nachweispflichten für den Lieferanten gesehen werden, wird auch für die Option bzw. bei Verzicht auf die Steuerbefreiung ein Nachweis in § 9 Abs. 2 Satz 2 UStG gefordert. In Abs. 1 ist ein solcher nicht explizit erwähnt, so dass eine solche Nachweispflicht sich nur implizit ergibt. Gleichfalls muss der Nachweis – vergleichbar dem für Steuerbefreiungen und in Fällen der Steuerbefreiungen entschieden – eine formelle, keine materiell-rechtliche Voraussetzung sein. Konsequenterweise darf die Option bei objektiven Feststellungen nicht seitens der Finanzbehörde (nachträglich oder rückwirkend) versagt werden. Steht fest, dass nicht optiert werden konnte, sind gegenwärtig etwaige umsatzsteuer-/vorsteuerliche Schäden bei Verletzung der Mitteilungs120
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pflicht (beispielsweise infolge unrichtiger oder nicht rechtzeitiger Auskünfte oder Mitteilungen) nur via Zivilrecht schadensersatzfähig. Vor dem Hintergrund des eben Dargestellten ist aber darüber nachzudenken, ob nicht aus dem Umsatzsteuerrecht bzw. aus dem UStG selbst eine Handhabung möglich sein muss, die zumindest Fälle von erfüllten Nachweisen bei Täuschung oder Unterlassung durch den Geschäftspartner abdecken, wenn – wie in anderen Bereichen gefordert – die Sorgfalt des ordentlichen Kaufmanns auf Ebene des Leistenden bejaht werden kann. Es muss also aus dem UStG heraus eine Lösung geben, womit es nicht zu einer völligen Abhängigkeit vom Geschäftspartner und dessen Handeln hinsichtlich aller sich ergebender Risiken und Schäden kommt. § 9 Abs. 1 und Abs. 2 UStG regeln umsatzsteuerrechtliche Folgen; zugleich ist die Vorschrift aber eine Schnittstelle von Steuerrecht und Zivilrecht, weil die Regelungen derzeit zivilrechtliche Verhältnisse beeinflussen.37 Die schuldrechtliche Vereinbarung über die Behandlung des Umsatzes als steuerpflichtig und die aus den einzelnen Erklärungen und Bestätigungen der Parteien resultierenden Schadensersatzansprüche binden nur die Vertragsparteien, wirken sich aber auf das Steuerschuldverhältnis des Vermieters (steuer-/vorsteuerabzugsbegründend) und des Mieters (vorsteuerabzugsbegründend) nicht aus. Denn nicht bereits durch die schuldrechtliche Preisvereinbarung, sondern erst durch die steuerrechtlich verbindliche Abrechnung oder durch Steueranmeldung durch den Vermieter ergeben sich die steuerlichen Auswirkungen.38 Die Verletzung der zivilrechtlichen Verpflichtung kann nach allgemeiner Auffassung nur zum Schadensersatz,39 nicht jedoch zur Steuerpflicht führen bzw. eine solche weiterhin aufrecht und anwendbar erhalten.40 Gegen Änderungen der vom Mieter in den vermieteten Räumen ausgeführten Umsätze kann sich der Vermieter (derzeit) – bei unrichtigen oder nicht rechtzeitigen Auskünften – nur zivilrechtlich durch Vertrag und nur in begrenztem Umfang (z.B. nicht voll im Insolvenzfall des Geschäftspartners) absichern. Rein umsatzsteuer-/verfahrensrechtlich erfolgen die Rückforderungen des Fiskus hinsichtlich geltend gemachter Vorsteuerbeträge und vorzunehmender Vorsteuerkorrekturen bei Änderungen der vom Mieter in den angemieteten Räumen ausgeführten Umsätze (nur) gegenüber dem Leistenden (Vermieter). Die verschiedenen Risiken, die aus der Umsatzsteuer kommen, sind – wenn überhaupt – in 37 Vgl. BIRKENFELD in Birkenfeld/Wäger, Umsatzsteuer-Handbuch, Bd. II, § 113 Rz. 46 – Lfg. 36, Nov. 2004. 38 Vgl. BFH, Urt. v. 25.2.1993 – V R 78/88, BStBl. II 1993, 777. 39 Vgl. BFH, Urt. v. 31.1.1980 – V R 60/74, BStBl. II 1980, 369 = UR 1980, 139. 40 Vgl. BIRKENFELD in Birkenfeld/Wäger, Umsatzsteuer-Handbuch, Bd. II, § 113 Rz. 48, 56 – Lfg. 36, Nov. 2004.
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einem anderen Rechtsgebiet außerhalb des UStG weiter zu verfolgen. Dies erscheint gerade in den Fällen, in denen der Leistungsempfänger verspätete oder falsche Angaben zur Nutzung des Mietobjekts (nur) gegenüber dem Leistenden macht, nicht gerechtfertigt, die Abhängigkeit in der Konsequenz zu weitreichend. In Referenzierung auf die erwähnte Vergleichbarkeit zu Nachweispflichten bei grenzüberschreitenden Liefergeschäften wäre für den Bereich der Option darüber nachzudenken, ob nicht (auch hier) ein Vertrauensschutz des Leistenden besteht, auch wenn ein solcher vom Gesetzeswortlaut her nicht vorgesehen ist, wenngleich aber als indiziert angenommen werden kann (etwa gerade über die bzw. aus der Nachweispflicht in § 9 Abs. 2 Satz 2 UStG). Auch bei Ausfuhrlieferungen ist kein Vertrauensschutz/ Gutglaubensschutz vorgesehen, wie etwa in § 6a Abs. 4 UStG für innergemeinschaftliche Lieferungen, gleichwohl wird ein solcher durch die Rechtsprechung gewährt. Sollten sich die Nachweise als objektiv falsch erweisen, ist auch für den Bereich der Option zu entscheiden, ob eine solche aufgrund unrichtiger Abnehmerangaben und nach den vom EuGH41 entwickelten Grundsätzen zum Vertrauensschutz – unter Berufung auf allgemeine Rechtsgrundsätze, die Teil der Gemeinschaftsrechtsordnung sind und zu denen u.a. die Grundsätze der Rechtssicherheit, der Verhältnismäßigkeit und der steuerlichen Neutralität gehören – in Betracht kommt und zumindest nicht rückwirkend versagt werden kann. Der vor allem in § 9 Abs. 2 Satz 3 UStG explizite Hinweis auf die Nachweispflicht indiziert bereits einen Vertrauensschutz i.S. eines Schutzes des guten Glaubens; würde ein solcher nicht bestehen, braucht man eine Nachweispflicht schon nicht vorsehen. Im Übrigen hat die EuGHRechtsprechung z.B. der Nichterfüllung der Nachweispflichten gemäß § 6a Abs. 3 für die Steuerfreiheit der innergemeinschaftlichen Lieferung gegenüber dem Vorliegen der materiell-rechtlichen Voraussetzungen keine Bedeutung beigemessen,42 was auch im Bereich der Option gelten muss. Nachgedacht werden könnte auch über die Einführung eines Haftungstatbestands im UStG für den Leistungsempfänger, sofern die Optionsdurchführung durch seine falschen oder verspäteten Angaben erfolgt. Diskutiert werden kann in diesem Zusammenhang, ob ein solcher Haftungstatbestand zwangsläufig bzw. automatisch einhergehen muss mit 41 Vgl. EuGH, Urt. v. 21.2.2008 – Rs. C-271/06 – Netto Supermarkt, EuGHE 2008, I-771 = UR 2008, 511; EuGH, Urt. v. 27.9.2007 – Rs. C-409/04 – Teleos, BStBl. II 2009, 70 = UR 2007, 774. 42 Vgl. EuGH, Urt. v. 27.9.2007 – Rs. C-146/05 – Collée, BFH/NV Beilage 2008, 34 = UR 2007, 813; BFH, Urt. v. 6.12.2007 – V R 59/03, BStBl. II 2009, 57 = UR 2008, 186.
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einem für den Leistenden vorgesehenen Vertrauensschutz. Diese Zwangsläufigkeit, d.h. einen Vertrauensschutz für den Leistenden nur dann vorzusehen, wenn auch ein Haftungstatbestand für den Leistungsempfänger besteht, ist abzulehnen. Ein solcher könnte gleichwohl alternativ vorgesehen werden und wäre – sollte er angedacht werden – (nur) vom Gesetzgeber im UStG aufzunehmen. 2.2 Erlass bei sachlicher Unbilligkeit In Fällen der Täuschung oder verspäteten Meldung durch den Geschäftspartner muss jedenfalls vorgesehen werden, dass die Beurteilung über die für den Unternehmer nicht erkennbare Unrichtigkeit von Abnehmerangaben im Billigkeitsverfahren nach § 163 AO zu erfolgen hat.43 Danach sollte auch für Optionsfälle auf Ebene des Vermieters ein Erlass etwaiger Vorsteuerrückzahlungen aus sachlicher Unbilligkeit möglich sein.
V. Blick auf den Leistungsempfänger 1. Rückerstattung gezahlter Umsatzsteuer und Weiterzahlung eines Bruttobetrags bei Wegfall/Widerruf der Option? Bei Wegfall/Widerruf der Option stellt sich zum einen die praktische Frage, ob der Mieter den ursprünglichen Bruttobetrag auch weiterhin zu zahlen hat; da regelmäßig wohl in der Praxis bei angewandter Option dies im Mietvertag aufgenommen wird und in Konsequenz der Option auch eine Nettopreisvereinbarung enthalten ist, wird die Weiterzahlung eines Bruttomietzinses wohl nicht durchsetzbar sein.44 Im Fall der Rückabwicklung optierter Geschäftsvorfälle wäre zu fragen, inwieweit der Vermieter für seine „§ 14c-Rechnungen“ Umsatzsteuer – z.B. erst bei Rückzahlung von Vorsteuerbeträgen durch den Leistungsempfänger oder unabhängig von der zurückgezahlten Vorsteuer durch den Mieter (z.B. auch bei Insolvenz des Leistungsempfängers oder bei verjährtem Rückzahlungsanspruch) – zurückerstattet bekommt. Da eine Berichtigung einer „§ 14c Abs. 1-Umsatzsteuer“ nach § 17 Abs. 1 Satz 3 UStG zu erfolgen hat, ist die Berichtigung nicht rückwirkend vorzunehmen, sondern nach Auffassung der Finanzverwaltung überhaupt nur zulässig, soweit auch die Gefährdung des Steueraufkom43 Vgl. auch BFH, Urt. v. 30.7.2008 – V R 7/03, BStBl. II 2010, 1075 = UR 2009, 161. 44 Vgl. die Anmerkungen zu einem meist bestehenden zivilrechtlichen Anspruch auf Preisanpassung im Rahmen des § 14c Abs. 1 UStG bei ELLENBERGER in Palandt, BGB, 74. Aufl. 2015, § 157 Rz. 13; Korn in Bunjes, UStG, 14. Aufl. 2015, § 14c Rz. 32.
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mens beseitigt ist, d.h. wenn der leistungsempfangende Geschäftspartner die geltend gemachte Vorsteuer an das Finanzamt zurückgezahlt hat.45 Dies hat im Fall der Grundstücksveräußerung insofern keine Bedeutung mehr, da bei ursprünglich optierter Grundstücksveräußerung der Erwerber des Grundstücks nach § 13b Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. Abs. 5 UStG Schuldner der Umsatzsteuer war und es hier nicht zu einem gesonderten Ausweis von Umsatzsteuer in der Rechnung gekommen sein dürfte. Die jeweiligen Fallvarianten hat auch der leistungsempfangende Geschäftspartner zu bedenken und sich beispielsweise in Mietverträgen entsprechend (über Steuerklauseln zur Risikominimierung, Klarstellung und Anspruchssicherung) abzusichern. Zu berücksichtigen sind dagegen aber Fälle, in denen ein Wegfall der Option nicht freiwillig erfolgte, sondern durch Feststellung z.B. einer unzutreffenden/verspäteten Mitteilung des Leistungsempfängers (s. zuvor beschrieben unter IV.) oder infolge anderweitiger unverschuldeter Änderungen in Bezug auf die Voraussetzungen zur Option (s. nachfolgend unter V.2.). 2. Unverschuldeter Wegfall der Optionsvoraussetzungen Ferner gibt es in der Praxis durchaus Fälle, in denen der Leistungsempfänger infolge Änderungen in der Rechtsprechung, Änderungen in der Verwaltungsauffassung oder im Gesetz selbst anstelle ursprünglich steuerpflichtiger ab einem bestimmten Zeitpunkt, ggf. auch rückwirkend „für alle offenen Fälle“, steuerfreie Ausgangsumsätze tätigt und so eine Option ihm gegenüber ggf. nicht mehr voll oder auch nicht mehr teilweise möglich ist. Fallbeispiel Wurden von einem Dritten noch in 2013 gegenüber einer Kapitalanlagegesellschaft, neu Kapitalverwaltungsgesellschaft als Verwalterin eines Sondervermögens (z.B. ein Spezial-AIF, Wertpapierfonds) Beratungsleistungen für Wertpapieranlagen erbracht, wurde diskutiert und vom EuGH Mitte 201346 – und ebenso in der Nachfolgeentscheidung vom BFH47 – entschieden, dass auch diese von einem Dritten erbrachten, outgesourcten Leistungen, v.a. Portfolioberatung und Portfolioverwaltung, unter den Begriff „Verwaltung von Sondervermögen durch Kapitalanlagegesellschaften“ fallen. Danach weisen Leistungen, die in der Abgabe von Empfehlungen zum An- und Verkauf von Vermögenswerten gegen45 Vgl. Abschn. 14c.1 Abs. 11 UStAE sowie Abschn. 14c.2 Abs. 3 Satz 5 UStAE. 46 Vgl. EuGH, Urt. v. 7.3.2013 – Rs. C-275/11 – GfBk, BStBl. II 2013, 900 = UR 2013, 293. 47 Vgl. BFH, Urt. v. 11.4.2013 – V R 51/10, BStBl. II 2013, 877.
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FRIEDRICH-VACHE, Option nach § 9 UStG und deren Widerruf über einer Kapitalverwaltungsgesellschaft bestehen, eine enge Verbindung zu der spezifischen Tätigkeit einer Kapitalverwaltungsgesellschaft auf und können nach § 4 Nr. 8 Buchst. h UStG (Art. 135 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL) steuerfrei sein. Ob die in diesem Zusammenhang von einem Dritten erbrachte Beratungs- und Informationsleistungen eine tatsächliche Änderung der rechtlichen und finanziellen Lage des Fonds bewirken, ist dabei nicht entscheidend. Für den Fonds ist eine steuerfreie Leistungserbringung durch den Dritten natürlich vorteilhaft und damals in der Literatur48 positiv begrüßt worden, da der Fonds selbst selten vorsteuerabzugsberechtigt ist und die bezogenen Leistungen damit nicht zu einer Definitivbelastung mit nicht abziehbarer Vorsteuer auf der Ebene des Fonds führen; folglich kann „billiger“ outgesourct werden, dem materiell im Ergebnis zuzustimmen ist. Die Finanzverwaltung hat i.S.d. vorgenannten Rechtsprechung daraufhin ihre Auffassung geändert und sieht nun seit Ende Oktober 2013 ebenfalls eine Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 8 Buchst. h UStG für diese Art der Tätigkeit als anwendbar.49 Somit fallen Leistungen, die die Abgabe von Empfehlungen zum An- und Verkauf von Vermögenswerten beinhalten, unter die Steuerbefreiung des § 4 Nr. 8 Buchst. h UStG. Die Finanzverwaltung dehnte dies allerdings auch weiter aus, als von EuGH und BFH für den vorgelegten Sachverhalt entschieden, indem sie in ihrem diesbezüglichen BMF-Schreiben50 und auch im UStAE nicht nur das Geschäftsfeld der Wertpapiere aufnahm,51 sondern mit der Formulierung „z.B. Wertpapiere oder Immobilien“ gleich auch noch outgesourcte Tätigkeiten bzw. die Portfolioverwaltung für Immobilienfonds einschloss. Auf Ebene des Dritten jedoch hat die nunmehr steuerfreie Erbringung solcher Leistungen zur Folge, dass er nicht mehr voll vorsteuerabzugsberechtigt ist und dies ggf. auch rückwirkend für das gesamte Veranlagungsjahr gilt, so dass diese im Veranlagungsjahr bis dahin steuerpflichtig erbrachten Leistungen und geltend gemachten Vorsteuern zu berichtigen wären. Für das beschriebene Fallbeispiel
48 Vgl. hierzu die positiv gewertete Entscheidung auf Ebene des Investmentfonds z.B. bei KEMPF/WALTER-YADEGARDJAM, SteuK 2013, 392; DUNKMANN, GWR 2013, 171. 49 Vgl. BMF, Schr. v. 28.10.2013 – IV D 3 - S 7160-h/08/10002 – DOK 2013/ 0976379, BStBl. I 2013, 1382; so nun auch in Abschn. 4.8 Abs. 13 UStAE. 50 Vgl. z.B. entschiedene steuerfreie Beratungsleistungen für Investmentfonds durch EuGH und BFH sowie entsprechende Änderung der Verwaltungsauffassung, vgl. BMF, Schr. v. 28.10.2013 – IV D 3 - S 7160-h/08/10002 – DOK 2013/0976379, BStBl. I 2013, 1382 mit Anwendung auf alle offenen Fälle ohne Übergangsfrist oder Nichtbeanstandung, was einen Mieter mit diesen Umsätzen grundsätzlich auch rückwirkend hinsichtlich seiner Anmietung treffen würde. Durch den Klammereinschub im vorgenannten BMF-Schreiben gilt dies nicht rückwirkend für die bereits abgelaufenen Umsatzsteuer-Voranmeldungszeiträume 2013. 51 Zu beachten ist in diesem Zusammenhang die Vorlage an den EuGH in Rechtssache C-595/13 [Fiscale Eenheid X], derzeit noch anhängig mit Schlussantrag (EuGH) v. 20.5.2015, die gerade die Frage der Anwendbarkeit der Steuerbefreiung auch für die Portfolioverwaltung von Immobilienfonds betrifft.
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FRIEDRICH-VACHE, Option nach § 9 UStG und deren Widerruf sah das BMF in seinem Schreiben lediglich eine Nichtbeanstandung für die in 2013 und bis Jahresende erbrachten Leistungen des Dritten vor, wenn dieser ein im Ausland ansässiger Unternehmer ist und § 13b UStG zur Anwendung kommt. Im Übrigen sollen die Grundsätze dieses BMF-Schreibens in allen offenen Fällen, also auch rückwirkend anzuwenden sein, so dass bereits als steuerpflichtig in vergangenen Veranlagungs- und Voranmeldungszeiträumen behandelte Umsätze zu berichtigen wären. Das Problem liegt im Zusammenhang mit der Option auf der Hand: Für nach § 4 Nr. 8 Buchst. h UStG befreite Umsätze besteht gerade keine Optionsmöglichkeit nach § 9 Abs. 1 UStG; die nach der MwStSystRL zur Option grundsätzlich vorgesehenen Umsätze wurden also im Bereich der Finanzumsätze im deutschen UStG nicht voll umgesetzt, sondern im Rahmen der Kann-Vorschrift eingeschränkt. Erbringt der Dritte solche Leistungen, die unterjährig infolge der Rechtsprechung und geänderten Auffassung der Finanzverwaltung nun als steuerfrei gelten sollen, hat dies Auswirkung auf die Vorstufe, d.h. auf bezogene Leistungen und auf den leistenden Geschäftspartner, der etwa Vermieter ist und nun – ggf. rückwirkend – nicht mehr steuerpflichtig vermieten kann.
Die für diesen Praxisfall bestehende Diskussion um eine Rückwirkung gerade auf der Vorstufe im Vermietungsverhältnis wurde zwischenzeitlich seitens der Finanzbehörden im Sinne einer praktikablen Lösung insoweit beendet, als der Vermieter für genau diesen Fall noch bis Ende 2013 weiterhin eine steuerpflichtige Vermietung vornehmen bzw. von einer solchen ausgehen kann.52 Für solche Fälle, die zugegebenermaßen in der Praxis vielleicht überschaubar erscheinen, scheint ein zivilrechtlicher Ausgleichsanspruch des Vermieters nicht gerechtfertigt. Insgesamt führt dies aber ebenso zu der Frage, für welche Fallvarianten – wie oben beschrieben – ein Vertrauensschutz bestehen muss.
VI. Zusammenfassung und Fazit Die Option nach § 9 UStG stellt im Ergebnis ein Gestaltungsrecht im Umsatzsteuersystem dar; durch einen Verzicht auf die Steuerbefreiung bestimmter Ausgangsumsätze kann der leistende Unternehmer die Nachteile eines Vorsteuerausschlusses für damit zusammenhängende Eingangsleistungen beseitigen. Da die Option als Kann-Vorschrift in der MwStSystRL zu verstehen ist, kann Deutschland auch – wie selbst in der Richtlinie explizit vorgesehen – den Inhalt einschränken und die Option von selbst festgelegten Bedingungen (im Rahmen und in Reichweite der Richtlinie) abhängig machen. Vermieden wird durch die Option aber auch eine unerwünschte Kumulation von Umsatzsteuer – gerade bei Umsätzen zwischen Unterneh52 Vgl. OFD Niedersachen v. 8.10.2014 – S-7198-120-St 173, MwStR 2014, 784.
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mern – und eine Abwälzung dieser über den Preis für eine Leistung, z.B. durch einen erhöhten Mietzins bei Vermietung. Nur der leistende Unternehmer (Vermieter) kann auf die Steuerbefreiung in freier Entscheidung verzichten (Optionsfreiheit), sein Mieter hat darauf grundsätzlich keinen Einfluss, es sei denn, seine Ausgangsumsätze verhindern die Optionsmöglichkeit. Insofern ist es in der Gesamtschau vertretbar und systemgerecht, die einseitige Willenserklärung zur Option vom Status und Verhalten des Leistungsempfängers abhängig zu machen, um nicht uneingeschränkt eine Optionsfreiheit inhaltlicher Natur für den Leistenden vorzusehen. Verglichen mit den Kerngedanken bei Steuerbefreiungen, die eine Begünstigung für den leistenden Unternehmer darstellen sollen (im Endeffekt sind dies aber Begünstigungen des Verbrauchers/Leistungsempfängers, weil und auch wenn jede unechte Steuerbefreiung nur die eigene Wertschöpfung des Leistenden befreit), stellt die Option zur Steuerpflicht ebenfalls eine Art Begünstigung dar, da sie dem Leistenden eine Vorsteuerabzugsmöglichkeit für seine Eingangsleistungen bietet. Vor diesem Hintergrund ist es ebenfalls vertretbar, dass die Beweislast z.B. zum Nachweis der Unternehmereigenschaft des Geschäftspartners und der Nutzung des Wirtschaftsguts durch den Geschäftspartner beim Leistenden liegt. Infolge der Vorsteuerabzugsmöglichkeit bei Option durch den Vermieter erscheinen die erhöhten Anforderungen und Abhängigkeiten von der Verwendung des Mieters damit gerechtfertigt, weil insbesondere bei der Anschaffung und Herstellung von Gebäuden hohe Vorsteuerabzüge in Rede stehen. Der Einbezug des Mieters sowie die Verlagerung der Frage nach der Verwendung der Umsätze auf den Mieter in der Verwendungskette, wie das Wirtschaftsgut Grundstück/Gebäude genutzt wird, ist gerade bei Vermietungsumsätzen konsequent und systemgerecht. Da in vielen Fällen beide Parteien Vorteile aus der Option genießen, sind die auch gegenseitigen Abhängigkeiten der Geschäftspartner untereinander gerechtfertigt. Da es sich bei der Option wirtschaftlich gesehen (nicht steuersystematisch) um eine Herbeiführung eines steuerlichen Vorteils (nicht um eine freiwillige Lastenerhöhung) handelt,53 hat der leistende Unternehmer auch die Voraussetzungen der Option nachzuweisen und ist gerechtfertigter Weise auch abhängig von seinem Geschäftspartner. Denn im Rahmen der Umsetzung der Option in nationales Recht wurden gerade – wie erwähnt – die Mitgliedstaaten berechtigt, Bedingungen und Be53 Vgl. KRAEUSEL in Reiß/Kraeusel/Langer, UStG, § 9 Rz. 19 – Lfg. 94, Oktober 2011.
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schränkungen dazu festlegen zu können; diese dürfen nicht über das Unionsrecht hinausgehen oder diesem widersprechen, was vorliegend bei den im UStG vorgesehenen Voraussetzungen zur Option nicht der Fall ist. Gleichwohl sind bestimmte Fallkonstellationen zu beachten, die die Abbildung von steuerlichen Nachteilen nicht rein außerhalb des UStG, hier in das Zivilrecht, verlegen dürfen. Daher müssen Vertrauensschutzregelungen aus dem UStG heraus auch für den Bereich der Option gelten und/oder jedenfalls Billigkeitsmaßnahmen im Fall unrichtiger oder verspäteter Angaben durch den Leistungsempfänger oder im Fall unverschuldeter Änderung seiner Nutzung z.B. durch geänderte Rechtsprechung bestehen. Eine reine Auslagerung zur Erstattung etwaiger Schäden auf das Zivilrecht für alle denkbaren Fallgestaltungen ist dabei im Sinne eines Fazits zu hinterfragen und letztlich abzulehnen.
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Problemfall: Gutschriften, Rechnungsberichtigungen, Compliance Dr. ULRICH GRÜNWALD Rechtsanwalt und Steuerberater, Deloitte, Berlin Inhaltsübersicht I. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . 129 II. Gutschriften. . . . . . . . . . . . . 129
IV. Compliance – Grenzen der Inanspruchnahme . . . . . . . . 132
III. Rechnungsberichtigungen . 131
I. Vorbemerkung Diese Tagung hat die eigene Besteuerung in Abhängigkeit vom Verhalten des Geschäftspartners zum Gegenstand. Die Praxis des Umsatzsteuerrechts kennt zahlreiche Situationen, in denen die eigene Besteuerung vom Verhalten des jeweiligen Geschäftspartners abhängig ist. Dies gibt Anlass, darauf hinzuweisen, dass die Umsatzsteuer nicht den Unternehmer und seine wirtschaftliche Tätigkeit selbst besteuert, sondern diesen mit der Aufgabe betraut, die Steuerbeträge zu vereinnahmen, mit denen der Endverbraucher effektiv belastet werden soll. Auf diesen Umstand weist der EuGH in ständiger Rechtsprechung hin. „Auf dem Gebiet der MwSt fungiert der Lieferer als Steuereinnehmer für Rechnung des Staates und im Interesse der Staatskasse.“1 „Durch den Vorsteuerabzug soll der Unternehmer vollständig von der im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten MwSt entlastet werden.“2
II. Gutschriften Die Abrechnung mittels Gutschrift illustriert das Thema dieser Tagung in besonderer Weise. Über die Leistung des Unternehmers rechnet sein Leistungsempfänger ab. Das Dokument wird dem leistenden Unternehmen als eigenes zugerechnet. Nach § 14 Abs. 2 Satz 2 UStG kann die
1 EuGH, Urt. v. 21.2.2008 – C-271/06 – Netto Supermarkt, EuGHE 2008, I-771 = UR 2008, 511; EuGH, Urt. v. 20.10.1993 – C-10/92 – Balocchi, EuGHE 1993, I-5105. 2 EuGH, Urt. v. 21.2.2008 – C-271/06 – Netto Supermarkt, EuGHE 2008, I-771 = UR 2008, 511.
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GRÜNWALD, Gutschriften, Rechnungsberichtigungen, Compliance
Rechnung vom Leistungsempfänger für eine Lieferung oder sonstige Leistung des Unternehmers ausgestellt werden, sofern dies vorher vereinbart wurde. Diese Gutschrift hat die Wirkung einer Rechnung. Ihr Besitz ist Ausübungsvoraussetzung für den Vorsteuerabzug. Widerspricht der Empfänger einer Gutschrift, so verliert diese die Wirkung einer zum Vorsteuerabzug berechtigenden Rechnung.3 Der wirksame Widerspruch hat zur Folge, dass die Gutschrift ihre Wirkung für die Zukunft (ex nunc) verliert. Bemerkenswerterweise gilt dies auch dann, wenn die Gutschrift den zivilrechtlichen Vereinbarungen entspricht und die USt für die erbrachte Leistung zutreffend ausweist. Die Rechtsfolge wird allein dadurch ausgelöst, dass der Widerspruch in Gestalt einer wirksamen Willenserklärung ausgeübt und übermittelt wird.4 Eine Frist für den Widerspruch sieht das Gesetz nicht vor. Diese sehr allgemein gefasste Regelung des Gesetzes hat zur Konsequenz, dass auch ein Widerspruch gegen eine den gesetzlichen Anforderungen entsprechende Gutschrift, der völlig grundlos und ggf. sogar aus schikanösen Motiven erfolgt, das Recht zum Vorsteuerabzug beseitigt. An dieser Rechtslage wird zu Recht Kritik geübt.5 Einzelne Kritiker fordern, das gesetzlich geregelte Widerspruchsrecht dahingehend einschränkend auszulegen, dass der Empfänger der Gutschrift nur dann zum Widerspruch befugt sein soll, wenn die Gutschrift nicht den zivilrechtlichen bzw. steuerrechtlichen Anforderungen entspricht. Das Widerspruchsrecht dient allein der Fehlerbeseitigung. Insbesondere soll der Leistende und Empfänger der Gutschrift die Möglichkeit haben, sich durch seinen Widerspruch vor den Rechtsfolgen des § 14c UStG zu schützen. Nach dieser Norm schuldet der Gutschriftempfänger die Umsatzsteuer, die in einer Rechnung unrichtig bzw. unberechtigt ausgewiesen ist. Diese Rechtsfolge betrifft den Leistenden und Gutschriftempfänger, da ihm die Gutschrift als eigene Rechnung zugerechnet wird. Wurde jedoch eine ordnungsgemäße Gutschrift erteilt, die in korrekter Anwendung der Vorschriften des Umsatzsteuerrechts die gesetzlich geschuldete USt für eine Leistung ausweist, soll ein hiergegen gerichteter Widerspruch rechtsfolgenlos bleiben, da er missbräuchlich erfolgt. Der V. Senat des BFH lässt offen, ob er der o.g. Rechtsprechung des XI. Senats folgt.6 Es ist nicht völlig ausgeschlossen, das Recht zum Widerspruch de lege lata im Wege der Auslegung auf den Kernbereich zu beschränken,
3 4 5 6
BFH, Urt. v. 23.1.2013 – XI R 25/11, BStBl. II 2013, 417 = UR 2013, 389. BFH, Urt. v. 23.1.2013 – XI R 25/11, BStBl. II 2013, 417 = UR 2013, 389. HUMMEL, UR 2012, 497; STADIE, UR 2013, 365; WAGNER, MwStR 2013, 534. BFH, Urt. v. 25.4.2014 – V R 2/13, BStBl. II 2013, 844 = UR 2013, 968.
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GRÜNWALD, Gutschriften, Rechnungsberichtigungen, Compliance
für den die Regelung sinnvollerweise geschaffen wurde. Es wäre wünschenswert, wenn der Gesetzgeber die Möglichkeit des missbräuchlichen Widerspruchs durch eine klarstellende Regelung aus dem Gesetz entfernen würde.
III. Rechnungsberichtigungen Das Gesetz enthält ausdrückliche Regelungen, unter welchen Voraussetzungen eine erteilte Rechnung berichtigt werden kann. In § 14c Abs. 1 UStG ist geregelt, dass für den Fall, dass der Unternehmer den gem. § 14c Abs. 1 UStG geschuldeten Steuerbetrag gegenüber dem Leitungsempfänger berichtigt, § 17 Abs. 1 UStG entsprechend anzuwenden ist. Nach § 17 Abs. 1 UStG hat der Unternehmer den geschuldeten Steuerbetrag zu ändern, wenn sich die Bemessungsgrundlage für einen Umsatz geändert hat. Korrespondierend ist der Vorsteuerabzug bei dem Unternehmer, an den dieser Umsatz ausgeführt wurde, zu berichtigen. Für den Fall des unberechtigten Steuerausweises regelt § 14c Abs. 2 UStG, dass auch dieser Steuerbetrag berichtigt werden kann, soweit die Gefährdung des Steueraufkommens, die darin besteht, dass der Rechnungsempfänger den unberechtigt ausgewiesenen Betrag als Vorsteuer abzieht, beseitigt worden ist. Die Gefährdung des Steueraufkommens ist beseitigt, wenn ein Vorsteuerabzug beim Empfänger der Rechnung nicht durchgeführt oder die geltend gemachte Vorsteuer an die Finanzbehörde zurückgezahlt worden ist. Mit Blick auf das Motto dieser Tagung ist somit festzustellen, dass die Steuerfestsetzung des Leistungsempfängers abhängig ist von der Rechnungserteilung, der inhaltlichen Richtigkeit der Rechnung und der Unterlassung einer (unberechtigten) Rechnungsberichtigung, wobei streitig ist, ob auch eine richtige Rechnung, d.h. ein Dokument, das vollumfänglich den gesetzlichen Regelungen entspricht, berichtigt bzw. mit Auswirkungen für die Besteuerung des Leistungsempfängers geändert werden kann. Anders als beim Widerspruch gegen eine Gutschrift enthält das Gesetz ausdrückliche Regelungen, wann eine Berichtigung einer Rechnung erfolgen kann. Es erscheint daher vertretbar, diese Regelungen als abschließende Regelungen zu betrachten, so dass eine „Rechnungsberichtigung“, die jenseits dieser gesetzlichen Regelungen erfolgt, einer gesetzlichen Grundlage entbehrt und daher ins Leere geht. Nach § 14 Abs. 6 UStG kann das BMF durch Rechtsverordnung bestimmen, in welchen Fällen und unter welchen Voraussetzungen Rechnungen berichtigt werden können. Demnach kann eine Rechnung berichtigt
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werden, wenn sie nicht alle gesetzlich vorgeschriebenen Angaben enthält oder Angaben in der Rechnung unzutreffend sind.7 Auch im Bereich der Rechnungsberichtigungen kann rechtswidriges Verhalten des Rechnungsausstellers Auswirkungen auf die Umsatzbesteuerung seines Geschäftspartners haben. Unterlässt der Rechnungsaussteller eine Rechnungsberichtigung, obwohl die erteilte Rechnung fehlerhaft ist, so kann der Rechnungsempfänger bei einer im Inland steuerbaren und steuerpflichtigen Leistung den Vorsteuerabzug nicht geltend machen, da der Besitz einer ordnungsgemäßen Rechnung nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 2 UStG Ausübungsvoraussetzung für den Vorsteuerabzug ist. „Berichtigt“ der Rechnungsaussteller demgegenüber eine den gesetzlichen Anforderungen entsprechende Rechnung, indem er bspw. den zunächst ordnungsgemäßen Umsatzsteuerausweis entfernt, so stellt sich die Frage, ob dadurch das Recht zum Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers beeinträchtigt wird. Anders als beim Widerspruch gegen eine Gutschrift gibt es für ein derartiges Verhalten nach dem Wortlaut der einschlägigen Normen keine gesetzliche Grundlage. Die „Berichtigung“ geht daher ins Leere, da sie die tatbestandlichen Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug unberührt lässt. Der Leistungsempfänger besaß bzw. besitzt mit der ursprünglichen, den gesetzlichen Anforderungen entsprechenden Rechnung ein Dokument, das ihn nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 2 UStG zum Vorsteuerabzug berechtigt.
IV. Compliance – Grenzen der Inanspruchnahme Der Begriff Tax Compliance bezeichnet die Bereitschaft der Bürger, die geltenden Steuergesetzte zu achten und steuerliche Pflichten zu erfüllen. In der juristischen Literatur wird Corporate Compliance als Handeln in Übereinstimmung mit geltendem Recht oder als Einhaltung und Befolgung bestimmter Gebote, von denen Unternehmen betroffen sind, verstanden.8 Tax Compliance ist die Implementierung und Pflege eines Systems zur Sicherstellung der steuerlichen Rechtsbefolgung im Interesse des Unternehmens und seiner Mitarbeiter.9 Die Inanspruchnahme des Steuerpflichtigen als Steuereinnehmer verpflichtet diesen zur Einhaltung der ihm auferlegten Pflichten bzw. Obliegenheiten. Die zeitnahe Beweisvorsorge zur Sicherstellung des Vorsteuerabzugs bzw. der Steuerfreiheit ist ein wichtiger Teil der Tax Compliance.10 7 8 9 10
§ 31 Abs. 5 UStDV. BESCH/STARCK in Hauschka, Corporate Compliance, 2. Aufl. 2010, § 34 Rz. 2. SEER in Festschrift Streck, 2011, S. 403 (404). BESCH/STARCK in Hauschka, Corporate Compliance 2. Aufl. 2010, § 34 Rz. 32.
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Die eingangs skizzierte Funktion des Unternehmers als Steuereinnehmer des Staates macht allerdings deutlich, dass er nur insoweit in Anspruch genommen werden kann, als der Steueranspruch auch objektiv entstanden ist. Führt rechtswidriges Verhalten zur Erhöhung der Steuer, weil das Gesetz einen eigenen Sanktionstatbestand enthält oder die Voraussetzungen eines steuermindernden Tatbestands nicht nachgewiesen werden können, so können dem Steuerpflichtigen aufgrund seiner Funktion als „Treuhänder“ nur eigene Pflicht- bzw. Obliegenheitsverletzungen zum Nachteil gereichen. Den Steuerpflichtigen trifft keine Garantiehaftung. Die Einführung eines Systems der verschuldensunabhängigen Haftung ginge über das hinaus, was erforderlich ist, um die Ansprüche des Fiskus zu schützen.11 Der Steuerpflichtige haftet weder für nicht erkennbares Fehlverhalten eines Vorlieferanten durch Versagung des Vorsteuerabzugs noch durch Versagung der Steuerfreiheit bei Fehlverhalten seines Abnehmers. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass der Unternehmer die Steuer auf seinen Abnehmer abwälzt und nutzt dessen Ressourcen zur Steuererhebung. Der Unternehmer hat im Sinne einer gesetzmäßigen Steuererhebung die Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns anzuwenden und hat grundsätzlich die Konsequenzen dafür zu tragen, wenn es in seinem Verantwortungsbereich zur Beeinträchtigung der gesetzmäßigen Steuererhebung kommt. In diesem Sinne regelt das Gesetz an mehreren Stellen die Konsequenzen pflichtwidrigen Verhaltens. Regelmäßig wird der pflichtwidrig Handelnde für die Steuer in Anspruch genommen, deren Erhebung durch seine Pflichtwidrigkeit gefährdet ist. So regelt beispielweise § 3d Satz 2 UStG die Rechtsfolge dafür, dass ein Erwerber einer innergemeinschaftlichen Lieferung nicht die Umsatzsteueridentifikationsnummer des Landes verwendet, in das der Gegenstand der Lieferung gelangt, sondern eine abweichende. Durch dieses Fehlverhalten entsteht die Gefahr, dass der innergemeinschaftliche Erwerb nicht in dem Land besteuert wird, das für seine Besteuerung zuständig ist. Die zitierte Norm fingiert daher als weiteren Ort der innergemeinschaftlichen Lieferung das Land, dessen Umsatzsteueridentifikationsnummer der Leistungsempfänger unzutreffend verwendet hat. § 6a Abs. 3 UStG stellt klar, dass der Unternehmer, der sich auf die Steuerfreiheit seiner innergemeinschaftlichen Lieferungen beruft, die Voraussetzungen der diese Steuerbefreiung regelnden Norm nachweist. Gelingt ihm dieser Nachweis nicht, so hat er als Konsequenz für diese
11 EuGH, Urt. v. 6.12.2012 – C-285/11 – Bonik, UR 2013, 195; EuGH, Urt. v. 21.6.2012 – C-80/11 und C-142/11 – David, Mahagében, UR 2012, 591.
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Obliegenheitsverletzung die Steuer für einen eigentlichen steuerfreien Umsatz abzuführen. Die bereits erwähnte Vorschrift des § 14c UStG erlegt demjenigen die Pflicht zur Abführung einer eigentlich gar nicht entstandenen Steuer auf, der Umsatzsteuer unrichtig bzw. unberechtigt in einer Rechnung ausweist, da hierdurch das Steueraufkommen durch das Risiko des Vorsteuerabzugs durch den Rechnungsempfänger gefährdet wird. Schließlich macht der ebenfalls bereits erwähnte § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 2 UStG den Vorsteuerabzug vom Besitz einer den gesetzlichen Voraussetzungen entsprechenden Rechnung abhängig. Demjenigen, der über keine den gesetzlichen Anforderungen entsprechende Rechnung verfügt, wird der Vorsteuerabzug versagt und damit faktisch die vom Leistenden geschuldete Steuer auferlegt. Es obliegt ihm, seinen Anspruch auf Erteilung einer gesetzmäßigen Rechnung durchzusetzen. In der Weise, wie es die erwähnten Beispiele regeln, kann aber nur der in Anspruch genommen werden, der die ihm als „Steuereintreiber“ auferlegten Pflichten nicht erfüllt. Eine Inanspruchnahme ist dann nicht mehr gerechtfertigt, wenn die durch das eigene gesetzwidrige Verhalten geschaffene Gefährdungslage durch Berichtigung des Fehlverhaltens beseitigt wurde. Dies gilt auch dann, wenn das rechtswidrige Verhalten eines Anderen den Steueranspruch des Fiskus (weiterhin) gefährdet. Es wäre unverhältnismäßig, einem Steuerpflichtigen anzulasten, dass durch betrügerische Machenschaften Dritter, auf die er keinen Einfluss hat, dem Fiskus Steuereinnahmen entgehen.12 Wer durch bewusstes Handeln seine ihm im Rahmen der Verhältnismäßigkeit übertragenen Pflichten bzw. Obliegenheiten verletzt und dadurch das Steueraufkommen gefährdet oder schädigt, kann zur Sicherstellung des Steueranspruchs des Fiskus in der Weise in Anspruch genommen werden, dass die Gefährdung oder Schädigung kompensiert wird. Seine Inanspruchnahme ist jedoch nur so lange und insoweit gerechtfertigt, als die Gefährdung oder Schädigung durch sein Fehlverhalten andauert. Die Hinterziehung der Steuer durch Andere, die ohne seine Pflichtverletzung oder nach deren Ersetzung durch pflichtgemäßes Handeln fortbesteht, rechtfertigt bei Vorliegen der objektiven Voraussetzungen der Steuerfreiheit keine Steuerfestsetzung zum Zwecke der Bestrafung oder aus generalpräventiven Gründen.13
12 EuGH Urt. v. 21.2.2008 – C-271/06 – Netto Supermarkt, EuGHE 2008, I-771 = UR 2008, 511. 13 GRÜNWALD, MwStR 2013, 13.
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Versagung des Vorsteuerabzugs bei Einbindung in Karussellgeschäft – Zur Umsetzung der Vorgaben des EuGH auf nationaler Ebene Dr. STEFAN MAUNZ Rechtsanwalt Fachanwalt für Steuerrecht, Steuerberater, Küffner Maunz Langer Zugmaier, München Inhaltsübersicht I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . 135 II. Rechtsprechung des EuGH. 135 1. Rechtsmissbräuchliches Verhalten des Leistungsempfängers . . . . . . . . . . . 136 2. Beweislastverteilung . . . 140 III. Umsetzung in Deutschland. 141
1. Umsetzung durch die deutsche Gerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 2. Umsetzung durch die deutsche Finanzverwaltung . . . . . . . . . . . . . . 142 IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
I. Einleitung Durch das Prinzip der indirekten Besteuerung, das der Umsatzsteuer zugrunde liegt, hat das Verhalten eines Steuerpflichtigen häufig auch umsatzsteuerliche Folgen für dessen Geschäftspartner. Bei einem sog. Karussellgeschäft hat der Vorlieferant die an ihn gezahlte Umsatzsteuer nicht abgeführt. Der Unternehmer, der die Ware von dem steuerhinterziehenden Lieferanten empfängt, begehrt gleichwohl den Vorsteuerabzug. Da der eigentliche Umsatzsteuerhinterzieher für die Finanzbehörden oftmals nicht greifbar ist, besteht ein erhebliches fiskalisches Interesse, die Steuerausfälle anderweitig zu kompensieren. Dieses Kompensationsstreben führt immer häufiger dazu, dass die Finanzbehörden dem Leistungsempfänger den Vorsteuerabzug versagen.
II. Rechtsprechung des EuGH Der Vorsteuerabzug ist ein integraler Bestandteil des Mehrwertsteuersystems. Sein Ziel ist, die Unternehmer von der Umsatzsteuer zu entlasten, die sie bei ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit entrichten. Dadurch wird verhindert, dass die Mehrwertsteuer zum Kostenfaktor für das Unternehmen wird. Das Mehrwertsteuersystem soll eine völlige Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis gewähr135
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leisten.1 Dieses (sekundärrechtliche) Neutralitätsgebot ist Ausprägung des Gleichbehandlungsgrundsatzes als Bestandteil des primären Unionsrechts.2 Der EuGH zieht den Grundsatz der steuerlichen Neutralität als maßgebende Maxime bei der Auslegung der Mehrwertsteuersystemrichtline heran.3 Demnach kann das Recht auf Vorsteuerabzug grundsätzlich nicht eingeschränkt werden, wenn alle materiell-rechtlichen Voraussetzungen vorliegen. Andererseits ist die Bekämpfung von Steuerhinterziehung und anderweitigen Missbräuchen ein fundamentales Ziel, das von der Mehrwertsteuersystemrichtlinie anerkannt und gefördert wird. Auch der EuGH betont dies in ständiger Rechtsprechung.4 So wird dem Steuerpflichtigen der Vorsteuerabzug versagt, wenn er selbst eine Steuerhinterziehung begeht. In dieser Konstellation fehlt es bereits an den Tatbestandsvoraussetzungen des Vorsteuerabzugs.5 Schwieriger ist die Beurteilung, wenn die Steuerhinterziehung nicht beim Leistungsempfänger, sondern vorgelagert auf der Stufe des Leistenden eines Karussellgeschäfts erfolgt. Hierbei muss zwischen den objektiven Voraussetzungen eines rechtsmissbräuchlichen Verhaltens und der Beweislastverteilung differenziert werden. 1. Rechtsmissbräuchliches Verhalten des Leistungsempfängers Bereits in den verbundenen Rechtssachen Optigen, Fulcrum und Bond hat der EuGH klargestellt, dass die allgemeinen umsatzsteuerlichen Grundsätze auch für die Beurteilung von Karussellgeschäften gelten.6 In seinem Grundsatzurteil Kittel und Recolta betonte der EuGH, dass die Tatbestandsmerkmale des Vorsteuerabzugs objektiv zu bestimmen sind. 1 Z.B. EuGH, Urt. v. 3.3.2005 – Rs. C-32/03 – Fini H, EuGHE 2005, I-1599 = UR 2005, 443 – Rz. 25. 2 EuGH, Urt. v. 8.6.2006 – Rs.C-106/05 – L.u.p., EuGHE 2006, I-5123 = UR 2006, 464 – Rz. 48, EuGH, Urt. v. 10.4.2008 – Rs. C-309/06 – Marks & Spencer, EuGHE 2008, I-2283 = UR 2008, 592 – Rz. 49 und 51, STADIE in Rau/Dürrwächter, UStG, Einführung Rz. 601 – Lfg. 154, April 2013. 3 EuGH, Urt. v. 28.2.2013 – Rs. C-388/11 – Le Crédit Lyonnais, UR 2014, 623; EuGH, Urt. v. 19.7.2012 – Rs. C-44/11 – Deutsche Bank, BStBl. II 2012, 945 = UR 2012, 667 – Rz. 45. 4 EuGH, Urt. v. 21.2.2006 – Rs. C-255/02 – Halifax u.a., EuGHE 2006, I-1609 = UR 2006, 232 – Rz. 71; EuGH, Urt. v. 27.10.2011 – Rs. C-504/10 – Tanoarch, EuGHE 2011, I-10853 = UR 2012, 67 – Rz. 50; EuGH, Urt. v. 7.12.2010 – Rs. C-285/09 – R, EuGHE 2010, I-12605 = UR 2011, 15 – Rz. 36; EuGH, Urt. v. 29.4.2004 – Rs. C-487/01 und C-7/02 – Gemeente Leusden und Holin Groep, EuGHE 2004, I-5337 = UR 2004, 302 – Rz. 76. 5 EuGH, Urt. v. 6.12.2012 – Rs. C-285/11 – Bonik, UR 2013, 195 – Rz. 38. 6 EuGH, Urt. v. 12.1.2006 – Rs. C-354/03, C-355/05 und C-484/03 – Optigen u.a., EuGHE 2006, I-483 = UR 2006, 157 – Rz. 36, 37.
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Aus Gründen der Rechtssicherheit sind der Zweck und das Ergebnis des Umsatzes als subjektive Elemente zu vernachlässigen. Insbesondere die Tatsache, dass der Leistende die Umsatzsteuer nicht abführt, hat nicht zur Folge, dass das Recht auf Vorsteuerabzug für den Leistungsempfänger entfällt.7 Damit steht fest, dass es keine Konnexität zwischen der Abführung der Umsatzsteuer einerseits und dem Vorsteuerabzug andererseits gibt. Maßgeblich ist vielmehr, dass der Empfänger die vereinbarte Leistung tatsächlich bezieht. Das Recht auf Vorsteuerabzug wird grundsätzlich auch nicht dadurch berührt, dass in der Lieferkette ein anderer Umsatz mit einer Mehrwertsteuerhinterziehung behaftet ist.8 Gleichwohl kann der Vorsteuerabzug versagt werden, wenn aufgrund objektiver Umstände feststeht, dass der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit seinem Erwerb an einem Umsatz beteiligte, der in eine Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen war.9 Einer Bestimmung auf nationaler Ebene, die es in solchen Fällen ermöglicht, den Vorsteuerabzug zu versagen, bedarf es nicht.10 Bei einem derartigen rechtsmissbräuchlichen Verhalten ist es vielmehr auch vor dem Hintergrund des Neutralitätsgrundsatzes gerechtfertigt, dem Leistungsempfänger den Vorsteuerabzug zu versagen. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass dem nicht bösgläubigen Leistungsempfänger der Vorsteuerabzug nicht versagt werden darf. Die Bösgläubigkeit ist ein ungeschriebenes negatives Tatbestandsmerkmal, um zum Vorsteuerabzug berechtigt zu sein, unabhängig davon, ob eine Leistung an den Leistungsempfänger tatsächlich erfolgt ist. Mit dieser dogmatischen Begründung verhindert der EuGH, dass es sich um eine unzulässige Sanktion für unredliches Verhalten handelt, wenn der Vorsteuerabzug versagt wird.11 Maßstab für den Vertrauensschutz ist, dass der Leistungsempfänger alle Maßnahmen getroffen hat, die vernünftigerweise eingefordert werden können, um die Beteiligung an einer Steuerhinterziehung zu verhindern.12 Dies entspricht der generellen Pflicht eines jeden Steuerpflichtigen. Die Maßstäbe gelten auch, wenn keine
7 EuGH, Urt. v. 6.12.2012 – Rs. C-285/11 – Bonik, UR 2013, 195 – Rz. 28. 8 EuGH, Urt. v. 12.1.2006 – Rs. C-354/03, C-355/03 und C-484/03 – Optigen u.a., EuGHE 2006, I-483 = UR 2006, 157 – Leitsatz. 9 EuGH, Urt. v. 12.1.2006 – Rs. C-354/03, C-355/05 und C-484/03 – Optigen u.a., EuGHE 2006, I-483 = UR 2006, 157 – Rz. 46, 51; EuGH, Urt. v. 21.6.2012 – Rs. C-80/11, C-142/11 – Mahagében und Dávid, UR 2012, 591 – Tz. 45. 10 EuGH, Urt. v. 18.12.2014 – Rs. C-131/13, C-163/13 und C-163/13 – Italmoda, UR 2015, 106 – Rz. 48. 11 Erneut akzentuiert in EuGH, Urt. v. 18.12.2014 – Rs. C-131/13, C-163/13 und C-163/13 – Italmoda, UR 2015, 106 – Rz. 57. 12 EuGH, Urt. v. 21.6.2012 – Rs. C-80/11, C-142/11 – Mahagében und Dávid, UR 2012, 591 – Rz. 54.
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unmittelbare Verbindung zu dem betrugsbehafteten Umsatz besteht, sondern ein weiterer Unternehmer dazwischengeschaltet ist.13 In einer Reihe von Folgeurteilen zu Kittel und Recolta hat der EuGH die ursprünglich sehr weit gefassten und etwas nebulösen Kriterien hinsichtlich der Prüfpflichten des Leistungsempfängers zunehmend eingeschränkt: Der Leistungsempfänger ist generell nicht dazu verpflichtet, zu prüfen, ob Unregelmäßigkeiten auf Ebene des Leistenden bestehen. Im konkreten Fall hatte der Leistungsempfänger nicht geprüft, ob der Leistende über die Gegenstände, die veräußert werden sollten, tatsächlich verfügte.14 Damit trägt der EuGH den Gepflogenheiten des Handels Rechnung. Regelmäßig dürfte der Deckungskauf erst erfolgen, nachdem die Ware verkauft ist, um zu verhindern, dass Kosten für die Lagerung anfallen. Zudem ist der Leistungsempfänger nicht angehalten, zu prüfen, ob der Leistende seine Arbeitnehmer angemeldet hat und über eine Gewerbeerlaubnis verfügt.15 Auch muss der Leistungsempfänger nicht nachforschen, ob sich der Leistende bei der Erklärung und Abführung der Mehrwertsteuer ordnungsgemäß verhalten hat. Ebenso wenig obliegt es dem Leistungsempfänger, sich über die Herkunft der an ihn gelieferten Gegenstände zu vergewissern.16 Der Vorsteuerabzug kann überdies nicht deshalb versagt werden, weil nicht feststeht, ob die Lieferung tatsächlich an den Leistungsempfänger bewirkt wurde.17 In einer Gesamtschau lässt sich festhalten, dass der EuGH zunehmend von einer restriktiven Anwendung der von ihm in Kittel und Recolta entwickelten Fallgruppe auszugehen scheint. Dadurch tritt er Tendenzen zur Aushöhlung des Neutralitätsgrundsatzes entgegen. Allerdings fehlt es nach wie vor an einer klaren Richtschnur, wann ein Verhalten des Leistungsempfängers als rechtsmissbräuchlich einzustufen ist. Dies zeigt sich auch an den unterschiedlichen Formulierungen in den entsprechenden EuGH-Urteilen („could know“,18 „ought to have known“,19 „should have known“20). 13 BFH, Urt. v. 19.5.2010 – XI R 78/07, UR 2010, 952 – Rz. 42. 14 EuGH, Urt. v. 21.6.2012 – Rs. C-80/11, C-142/11 – Mahagében und Dávid, UR 2012, 591 – Rz. 61. 15 EuGH, Urt. v. 6.9.2012 – Rs. C-324/11 – Gabor Toth, UR 2012, 851 – Rz. 45. 16 EuGH, Beschl. v. 16.5.2013 – Rs. C-444/12 – Hardimpex, ECLI:EU:C:2013:318 – Rz. 30. 17 EuGH, Urt. v. 6.12.2012 – Rs. C-285/11 – Bonik, UR 2013, 195 – Rz. 43, 45; vgl. auch EuGH, Urt. v. 13.2.2014 – Rs. C-18/13 – Maks Pen, UR 2014, 861 – Rz. 24. 18 EuGH, Urt. v. 6.6.2006 – Rs. C-439/04, C-440/04 – Kittel und Recolta, EuGHE 2006, I-6161 = UR 2006, 594 – Rz. 60. 19 EuGH, Urt. v. 21.6.2012 – Rs. C-80/11, C-142/11 – Mahagében und Dávid, UR 2012, 591 – Rz. 46. 20 EuGH, Urt. v. 6.12.2012 – Rs. C-285/11 – Bonik, UR 2013, 195 – Rz. 39.
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Zudem ist zu berücksichtigen, dass sich die Rechtsprechung des EuGH stets auf Fälle der Umsatzsteuerhinterziehung bezieht, wenn es darum geht, den Vorsteuerabzug zu versagen. Eine Übertragung dieser Grundsätze auf sonstige Steuern und Abgaben kommt nicht in Betracht. Beispielsweise kann für Dienstleistungen, die in Rechnung gestellt wurden, die Vorsteuer unabhängig davon, ob der Vorunternehmer Lohnsteuerund Sozialversicherungsbeiträge korrekt abgeführt hat, geltend gemacht werden. Ein anderer Schluss lässt sich auch nicht der folgenden – missverständlich formulierten – Passage aus dem EuGH-Urteil Kittel und Recolta entnehmen: „[…] müssen Wirtschaftsteilnehmer, die alle Maßnahmen treffen, die vernünftigerweise von ihnen verlangt werden können, um sicherzustellen, dass ihre Umsätze nicht in einen Betrug – sei es eine Mehrwertsteuerhinterziehung oder ein sonstiger Betrug (Hervorhebung durch Autor) – einbezogen sind, auf die Rechtmäßigkeit dieser Umsätze vertrauen können, ohne Gefahr zu laufen, ihr Recht auf Vorsteuerabzug zu verlieren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Mai 2006 in der Rechtssache C-384-04, Federation of Technological Industries, Slg. 2006, Rn. 33).“21
Hierbei formuliert der EuGH positiv, in welchen Fällen der Vorsteuerabzug trotz eines Gesetzesverstoßes auf Ebene des Leistenden nicht versagt werden darf. Daraus kann nicht im Umkehrschluss gefolgert werden, dass der EuGH in einem obiter dictum seine Rechtsprechung auf alle Arten von Gesetzesverstößen auf vorgelagerten Stufen ausdehnt. Dadurch würde die Versagung des Vorsteuerabzugs entgegen der Vorgabe des EuGH22 als Sanktionsmittel für unredliches Verhalten herangezogen. Eine solche Straffunktion obliegt ausschließlich den Strafgerichten und ist von der Kompetenz der Mehrwertsteuersystemrichtlinie nicht gedeckt.23 Aufgrund der Bedeutung des Neutralitätsgebots ist es bereits bei einer Mehrwertsteuerhinterziehung nur ausnahmsweise möglich, den Vorsteuerabzug zu versagen. Dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis steht einer Ausdehnung des Anwendungsbereichs auf sonstige Gesetzesverstöße aus systematischen Gründen entgegen. Auch die Urteile, auf die der EuGH in besagter Passage verweist, lassen keinen anderen Schluss zu: So enthält Rz. 33 in der Rechtssache Federation of Technological Industries eine nahezu wortgleiche Formulierung. Allerdings spricht der EuGH an dieser Stelle nur von Mehrwertsteuerbetrug. Das Gleiche gilt für die ebenfalls zitierte Fundstelle in der Rechtssache Optigen.24 21 EuGH, Urt. v. 6.7.2006 – Rs. C-439/04 und C 440/04 – Kittel und Recolta, EuGHE 2006, I-6161 = UR 2006, 594 – Rz. 51. 22 EuGH, Urt. v. 29.7.2010 – Rs. C-188/09 – Profaktor Kulesza, EuGHE 2010, I-7639 = UR 2010, 775 – Rz. 32, 39. 23 Hierzu HUMMEL, UR 2014, 261. 24 EuGH, Urt. v. 12.1.2006 – Rs. C-354/03 und C-484/03 – Optigen u.a., EuGHE 2006, I-483 = UR 2006, 157 – Rz. 52.
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2. Beweislastverteilung Klärungsbedürftig ist ferner, wie hinsichtlich des „Kennens oder Kennenmüssens“ die Beweislast verteilt ist und welche Messlatte für den Nachweis gilt. Mit dieser Frage hat sich der EuGH erstmals in den verbundenen Rechtssachen Mahagében und Dávid konkreter auseinandergesetzt. Nach der Beweislastgrundregel der Normbegünstigungstheorie obliegt es demjenigen, der sich auf eine für ihn günstige Rechtsnorm beruft, die entsprechenden Voraussetzungen darzulegen und zu beweisen.25 Demnach wäre der Leistungsempfänger, der den Vorsteuerabzug begehrt, dazu angehalten, sein rechtskonformes Verhalten zu beweisen. Nichtsdestotrotz hat sich der EuGH für eine Beweislastumkehr zulasten der Finanzbehörden ausgesprochen.26 Dies hat zur Folge, dass bei einer Nichterweislichkeit der Bösgläubigkeit (sog. non liquet) der Leistungsempfänger zum Vorsteuerabzug berechtigt bleibt. Die Gutgläubigkeit muss nicht nachgewiesen werden. Wiederum gilt, dass die Vorsteuerberechtigung nur ausnahmsweise versagt werden kann und deshalb restriktiv zu handhaben ist, auch wenn alle Tatbestandsvoraussetzungen gegeben sind. Vor diesem Hintergrund genügt kein bloßer Verdacht des Kennens/Kennenmüssens als Beleg dafür, dass der Umsatz betrugsbehaftet ist. Vielmehr muss die innere Tatsache der Bösgläubigkeit anhand von Indizien belegbar sein. Es obliegt den Finanzbehörden, anhand objektiver Umstände nachzuweisen, dass der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen können, dass der entsprechende Umsatz in eine Steuerhinterziehung einbezogen war, die von einem Wirtschaftsteilnehmer der vorhergehenden Umsatzsteuerstufe der Leistungskette begangen wurde.27 Durch diese Beweislastverteilung wird dem Steuerpflichtigen indes kein Freibrief erteilt. Wenn sich eine Unregelmäßigkeit auf einer vorgelagerten Umsatzstufe aufdrängt, ist er dazu angehalten, sich von der Zuverlässigkeit des Leistenden zu überzeugen.28 Dadurch wird das wirtschaftliche Risiko einer Mehrwertsteuerhinterziehung in angemessener Weise zwischen dem Leistungsempfänger und dem Staat verteilt. Allerdings hat der Steuerpflichtige keine (anlasslose) Pflicht, umfassend die wirtschaftlichen und steuerlichen
25 GRÜNWALD, MwStR 2013, 13. 26 EuGH, Urt. v. 21.6.2012 – Rs. C-80/11, C-142/11 – Mahagében und Dávid, UR 2012, 591 – Rz. 49. 27 EuGH, Urt. v. 21.6.2012 – Rs. C-80/11, C-142/11 – Mahagében und Dávid, UR 2012, 591 – Rz. 49. 28 EuGH, Urt. v. 6.9.2012 – Rs. C-324/11 – Gabor Toth, UR 2012, 851 – Rz. 42 und 43.
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Verhältnisse des Leistenden aufzuklären.29 Vielmehr bleibt es die originäre Aufgabe der Steuerbehörden, im Rahmen ihrer Amtsermittlungspflicht eine Steuerhinterziehung aufzudecken und zu sanktionieren. Keinesfalls darf der Steuerpflichtige unter dem Deckmantel der Beweiswürdigung für seinen Vorsteuerabzug dazu gezwungen werden, seinen Vertragspartner zu überprüfen. Seine Rolle ist in diesem Zusammenhang auf untergeordnete Mitwirkungspflichten beschränkt.30
III. Umsetzung in Deutschland 1. Umsetzung durch die deutsche Gerichtsbarkeit Der BFH hat die durch den EuGH aufgestellten Kriterien in seiner Folgerechtsprechung übernommen und umgesetzt. Der BGH gelangt sogar zu einer Strafbarkeit iSd. § 370 AO, wenn der Steuerpflichtige in einer Umsatzsteuererklärung Vorsteuer geltend macht, deren zugrunde liegender Erwerb in eine Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen war.31 Gleichwohl steht der Umstand, dass die Lieferung an einen Leistungsempfänger vorgenommen wird, der weder wusste noch wissen konnte, dass der Umsatz betrugsbehaftet ist, dem Vorsteuerabzug nicht entgegen.32 Indizien für ein Kennen/Kennenmüssen der Beteiligung an einer Mehrwertsteuerhinterziehung sind Doppel- oder Mehrfachdurchläufe von Waren im Umsatzsteuerkarussell. Auch ein im Vorhinein festgelegter Händlerkreis und im Vergleich zum Marktpreis auffallend niedrige Einkaufspreise können der Gutgläubigkeit des Leistungsempfängers nach Auffassung des BFH entgegenstehen.33 An dieser Aufzählung zeigt sich bereits, dass es an präzisen und belastbaren Kriterien fehlt, um die innere Tatsache der Bösgläubigkeit nachzuweisen. Die vom EuGH in den Rechtssachen Mahagében und Dávid aufgestellten Wertungen hinsichtlich der Beweislast laufen der bisherigen Rechtsprechung des BFH dagegen teilweise zuwider. Nach Ansicht des BFH ist der Leistungsempfänger nach den allgemeinen Beweisregeln der Feststellungslast dafür verantwortlich, die Tatbestandsvoraussetzungen des Vorsteuerabzugs glaubhaft zu machen. Dies beinhaltet auch die Gut29 EuGH, Urt. v. 18.7.2013 – Rs. C-78/12 – Evita-K, UR 2014, 475 – Rz. 42; vgl. auch EuGH, Urt. v. 21.6.2012 – Rs. C-80/11, C-142/11 – Mahagében und Dávid, UR 2012, 591 – Rz. 61 und 62. 30 EuGH, Urt. v. 21.6.2012 – Rs. C-80/11, C-142/11 – Mahagében und Dávid, UR 2012, 591 – Rz. 61. 31 BGH, Beschl. v. 5.2.2014 – 1 StR 422/13, MwStR 2014, 278. 32 BFH, Urt. v. 19.4.2007 – V R 48/04, BStBl. II 2009, 315 = UR 2007, 693; BFH, Urt. v. 19.5.2010 – XI R 78/07, UR 2010, 952. 33 BFH, Beschl. v. 17.6.2010 – XI B 88/09, BFH/NV 2010, 1875.
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gläubigkeit bezüglich einer Mehrwertsteuerhinterziehung auf einer Vorstufe der Leistungskette.34 Auch die erhöhten Anforderungen, die mit einem Negativbeweis einhergehen, vermögen an der Beweislastverteilung nach Auffassung des BFH nichts zu ändern.35 Im Lichte der neueren Rechtsprechung des EuGH muss der BFH seine bisherige Rechtsprechung zur Beweis- und Feststellungslast korrigieren. In einem Beschluss von Anfang 2014 hat der BFH die Frage noch offengelassen.36 In der neueren Finanzgerichtsrechtsprechung wird die Beweislastumkehr des EuGH in bewusster Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung des BFH bereits aufgegriffen.37 Danach ist der Leistungsempfänger nicht verpflichtet, einen Negativbeweis dafür zu führen, dass er keine Anhaltspunkte für eine Mehrwertsteuerhinterziehung hatte. 2. Umsetzung durch die deutsche Finanzverwaltung Umso bemerkenswerter ist vor diesem Hintergrund das BMF-Schreiben vom 7. Februar 2014.38 Ausgangspunkt war eine Entscheidung des BFH, die sich mit dem Vorsteuerabzug bei einer Lieferung mit Hinterziehungsabsicht auseinandersetzt.39 Diese Entscheidung hat die Finanzverwaltung dazu veranlasst, zur Versagung des Vorsteuerabzugs und der Beweislastverteilung Stellung zu nehmen. Mit seiner Auffassung, dass der Leistungsempfänger alle zumutbaren Maßnahmen ergreifen muss, um nicht in einen Mehrwertsteuerbetrug einbezogen zu werden,40 steht das BMF noch im Einklang mit dem EuGH. Die durch den EuGH vorgegebene Beweislastumkehr hat das BMF demgegenüber nicht umgesetzt. Vielmehr soll es seiner Ansicht nach ausreichen, dass die Finanzbehörde die objektiven Umstände, denen zufolge der Unternehmer von einer Umsatzsteuerhinterziehung wusste oder hätte wissen müssen, substan-
34 BFH, Urt. v. 19.5.2010 – XI R 78/07, UR 2010, 952 – Rz. 40. 35 BFH, Urt. v. 19.4.2007 – V R 48/04, BStBl. II 2009, 315 = UR 2007, 693 – Rz. 34. 36 BFH, Beschl. v. 26.2.2014 – V S 1/14, BFH/NV 2014, 917. In dem streitigen Fall konnte der Leistungsempfänger bereits die Ausführung der Lieferung nicht nachweisen. Die Frage der Beweislast in Bezug auf die Gutgläubigkeit war deshalb nicht entscheidungserheblich. 37 FG Münster, Urt. v. 12.12.2013 – 5 V 1934/13 U, EFG 2014, 395 – Rz. 44; FG München, Urt. v. 20.5.2014 – 2 K 875/11, UStB 2014, 279; FG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 27.8.2014 – 7 V 7147/14, EFG 2014, 2096. 38 BMF, Schr. v. 7.2.2014 – IV D 2 - S 7100/10003 – DOK 2014/0116307, BStBl. I 2014, 271. 39 BFH, Urt. v. 8.9.2011 – V R 43/10, BStBl. II 2014, 203 = UR 2012, 312. 40 BMF, Schr. v. 7.2.2014 – IV D 2 - S 7100/10003 – DOK 2014/0116307, BStBl. I 2014, 271.
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tiiert vorträgt.41 Welche Anforderungen an den substantiierten Vortrag zu stellen sind, bleibt unklar. Anschließend soll es dem Unternehmer obliegen, einen Negativbeweis dahingehend zu führen, dass keine Anhaltspunkte für eine etwaige Umsatzsteuerhinterziehung bestanden. Dadurch wird die objektive Feststellungslast durch die Hintertür dem Steuerpflichtigen auferlegt. Des Weiteren führt das BMF aus, dass ein Vorsteuerabzug bei einer Hinterziehungsabsicht des Lieferers nur ausnahmsweise möglich ist. Mit dieser Vorgabe wird das durch den EuGH herausgearbeitete Regel-Ausnahme-Verhältnis der Vorsteuerabzugsberechtigung umgekehrt. Wenn die objektiven Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen, ist grundsätzlich der Vorsteuerabzug zuzugestehen und nicht umgekehrt zu versagen.42 Andernfalls wird das Neutralitätsgebot als fundamentales Prinzip des Mehrwertsteuersystems missachtet. Insbesondere unbescholtene Leistungsempfänger werden dadurch unter dem Deckmantel der Betrugsbekämpfung gravierend benachteiligt. Es besteht gerade keine Obliegenheit oder Bringschuld des Steuerpflichtigen, die Behörden von seiner Gutgläubigkeit zu überzeugen. Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass die Vorgehensweise der Finanzverwaltung mit den Vorgaben des EuGH nicht vereinbar ist. Die Verwaltungspraxis ist vielmehr unionsrechtswidrig und bedarf einer Korrektur. Gleichwohl scheint die Finanzverwaltung an ihrer Auffassung festzuhalten. So hat sie im Zusammenhang mit dem BMF-Schreiben Hinweise für ausgewählte Unternehmen erstellt.43 Darin werden vermeintliche Warnsignale aufgezählt, die aus Sicht der Finanzverwaltung eine Umsatzsteuerhinterziehung des Geschäftspartners nahelegen. Wenn der Unternehmer die Hinweise des BMF nicht beachtet, kann dies dazu führen, dass ihm der Vorsteuerabzug versagt wird. Die Tatsache, dass auch übliche Geschäftsumstände, wie nicht vorhandene Lagerräume oder Einlagerungen bei einer Spedition, nach Auffassung der Finanzverwaltung mit dem Generalverdacht der Umsatzsteuerhinterziehung bemakelt sind, erschwert es dem betroffenen Unternehmer, sich im Lichte der aktuellen EuGH-Rechtsprechung auf Gutgläubigkeit zu berufen.
IV. Fazit In ihrem Bemühen, den fiskalischen Schaden durch Karussellgeschäfte einzudämmen, stellen der BFH und die deutsche Finanzverwaltung an 41 BMF, Schr. v. 7.2.2014 – IV D 2 - S 7100/10003 – DOK 2014/0116307, BStBl. I 2014, 271. 42 In diesem Sinne auch MEYER-BUROW/CONNEMANN, UStB 2014, 255. 43 Merkblatt zur Umsatzsteuer, Beachtung des gemeinschaftsrechtlichen Missbrauchsverbots (nicht veröffentlicht).
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das Recht auf Vorsteuerabzug in einer Leistungskette hohe Anforderungen. Dadurch erhält die Umsatzsteuer teilweise einen Sanktionscharakter, der von der Mehrwertsteuersystemrichtlinie nicht vorgesehen ist. Während der EuGH durch die Beweislastumkehr deutlich macht, dass der Vorsteuerabzug nur ausnahmsweise versagt werden kann, handelt insbesondere die Finanzverwaltung nach dem Motto „Der Zweck heiligt die Mittel“. Diese Haltung ist umso fragwürdiger, wenn es sich bei dem Betroffenen nicht um den tatsächlichen Steuerhinterzieher handelt, sondern lediglich um einen Beteiligten, der sich selbst umsatzsteuerlich rechtmäßig verhalten hat. Daher erscheint vor allem bei der Frage der Beweislastverteilung eine Kurskorrektur geboten, um eine unionsrechtskonforme Verwaltungspraxis zu gewährleisten.
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Zivilrechtliche Folgeprobleme: Steuerklauseln und zivilrechtliche Ansprüche LUCAS WARTENBURGER Notar, Rosenheim Inhaltsübersicht I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . 145 1. Zivilrechtliches Instrumentarium . . . . . . . . . . . 146 2. Fallgruppen . . . . . . . . . . . 149 II. Ansatzpunkt Steuerpflicht 1. Irrtümlich angenommene Steuerfreiheit . . . . 149 2. Irrtümlich angenommene Steuerpflicht. . . . . 151 3. Irrtum über die Person des Steuerpflichtigen . . . 153
4. Umkehrfall . . . . . . . . . . . 154 5. Zwischenergebnis . . . . . . 155 III. Ansatzpunkt Vorsteuer . . . . 1. Unwirksame Option. . . . 2. Unberechtigter Steuerausweis. . . . . . . . . . . . . . . 3. Übergang Vorsteuerberichtigung . . . . . . . . . . . . 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
I. Einführung Die im Zusammenhang mit der Umsatzsteuer entstehenden Rechtsfragen gewinnen zunehmenden Einfluss auf die zivilrechtliche Vertragsgestaltung. Dies verdeutlichen insbesondere die umfangreichen „Optionsklauseln“ in Grundstückskaufverträgen,1 die in ihrer Komplexität einem juristischen Laien (und oft auch einem Juristen, der im Umsatzsteuerrecht nicht heimisch ist) kaum noch zu vermitteln sind. In vorausschauender Gestaltung sollte dafür Sorge getragen werden, dass der Vertrag auch eine Antwort darauf gibt, wie eine von den Vorstellungen der Beteiligten abweichende steuerliche Behandlung zivilrechtlich zu verarbeiten ist. Sofern eine solche Antwort dem Vertrag nicht zu entnehmen sind, bedienen sich die (Zivil-)gerichte der allgemeinen Instrumentarien. Dabei betrachtet man zivilrechtlich die Umsatzsteuer nicht als einen vom zugrunde liegenden Rechtsgeschäft (z.B. Kaufvertrag) losgelösten Regelungsbereich, sondern letztlich als Teil der Gegenleistung. Jedenfalls im Rechtsverkehr mit nicht vorsteuerberechtigten Leistungsempfängern ist dies sachgerecht, denn der Verbraucher orientiert sich an 1 Muster bei KRAUß, Immobilienkaufverträge in der Praxis, 7. Aufl. 2014, Rz. 4129 ff.
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dem angebotenen Preis, für ihn spielt es keine Rolle, welche indirekten Steuern darin enthalten sind. Im Rechtsverkehr zwischen Unternehmern hat der BGH in einer Entscheidung aus dem Jahr 1980 eine davon abweichende Herangehensweise – mit allerdings identischem Ergebnis – gezeigt: „Den Unternehmer wie den zum Vorsteuerabzug berechtigten Leistungsempfänger berührt es in der Regel nicht, in welcher Höhe der Steuerbetrag ausgewiesen wird und sich im Gesamtbetrag der Rechnung niederschlägt, denn der Leistungsempfänger kauft im Ergebnis eine von ihm in der jeweiligen Höhe zu bezahlende Steuergutschrift.“2
Damit ist also das Umsatzsteuerguthaben im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmern eine Art mitverkaufter Gegenstand – der Verkäufer schuldet die Erstellung einer vorsteuertauglichen Rechnung,3 während der Käufer die Zahlung der ausgewiesenen Umsatzsteuer als Teil des Gesamtkaufpreises schuldet. Die zugrunde liegenden steuerlichen Parameter haben sich aber in der Zwischenzeit verändert, so dass nunmehr auch das Zivilrecht abweichende Antworten suchen muss. Grund hierfür ist insbesondere die (europarechtlich bedingte) einschränkende Auslegung des § 15 Abs. 1 Satz 1 UStG samt gesetzgeberischer Anpassung mit dem Steueränderungsgesetz 2003.4 Damit ist nunmehr gesichert, dass ein Vorsteueranspruch nur besteht, wenn für den Eingangsumsatz die Steuer auch tatsächlich geschuldet war. War der Umsatz steuerbefreit oder nicht steuerbar – oder wurde er es hinterher wegen Rückgängigmachung einer Option –, so begründet auch die Vorlage einer Rechnung keinen Vorsteueranspruch.5 1. Zivilrechtliches Instrumentarium Zivilrechtlich kennt man grundlegend drei Reaktionsmuster auf Störungen, die sich bei Abschluss oder Abwicklung eines Rechtsgeschäfts ergeben können: 1.1 Vernichtung des Rechtsgeschäfts Im Wege der Anfechtung nach §§ 119 ff., 142 BGB bzw. der Feststellung, dass das Rechtsgeschäft von vornherein nichtig war (§§ 117, 134, 138 BGB), können die zivilrechtlichen Wirkungen eines Rechtsgeschäfts be2 BGH, Urt. v. 14.1.1980 – II ZR 76/79, NJW 1980, 2710. 3 Zur Verpflichtung der Rechnungstellung bei Zweifeln an der Steuerpflicht vgl. BGH, Urt. v. 10.11.1988 – VII ZR 137/87, NJW 1989, 302. 4 BGBl. I 2003, 2645. 5 Vgl. HEIDNER in Bunjes, UStG, 14. Aufl. 2015, § 15 Rz. 158 ff.
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seitigt werden. War beispielsweise im Rahmen eines UmsatzsteuerKarussellgeschäfts zwischen zwei (bösgläubigen) Beteiligten weder die Lieferung der Ware noch deren Bezahlung beabsichtigt, so ist das Rechtsgeschäft nach § 117 BGB von vornherein unbeachtlich. Ein Rechtsgeschäft, welches die Steuerhinterziehung mit Wissen beider Vertragsteile beinhaltet („Ohne-Rechnung-Abrede“), ist hingegen nach Auffassung der Zivilrechtsprechung nicht per se nach § 134 BGB nichtig, solange die Steuerhinterziehung nicht Hauptzweck des Geschäfts ist.6 Ob die Nichtigkeit einer „Ohne-Rechnung-Abrede“ auf das Gesamtgeschäft ausstrahlt, ist im Wege der Auslegung nach § 139 BGB zu bestimmen.7 Geschäfte, die nur zum Zwecke der Erlangung eines Vorsteuerabzugs getätigt werden, sollen aus der weiteren Betrachtung ausgeblendet werden; denn man wird jedenfalls davon ausgehen können, dass derartigen Handlungen schon gem. §§ 117, 134, 138 BGB die zivilrechtliche Anerkennung zu versagen ist und daher eine Aufarbeitung allenfalls gem. §§ 812 ff. BGB in Betracht kommt. Die Anfechtung nach § 119 BGB ist bisher in Umsatzsteuerfällen kaum herangezogen worden, da in der Regel kein einseitiger Irrtum, sondern eine beiderseitige Fehlerwartung bezüglich umsatzsteuerlicher Folgen vorlag. Ging der Verkäufer davon aus, dass er einen Nettobetrag angegeben hat, während die Auslegung seiner Erklärung nach §§ 133, 157 BGB dazu führt, dass es sich um eine Bruttoangabe handelt (und hat der Käufer dies auch so verstanden), wäre in der Tat ein Inhaltsirrtum nach § 119 Abs. 1 BGB denkbar.8 1.2 Anpassung des Vertrags im Wege der ergänzenden Auslegung oder gemäß § 313 BGB Fehlvorstellungen der Parteien über die aktuellen tatsächlichen Verhältnisse oder über deren künftige Entwicklung könnten – wenn sie nicht Vertragsbestandteil sind – Geschäftsgrundlage des Vertrags sein. Bei echten Steuergestaltungen sind solche Fälle denkbar;9 bei Fehlvorstellungen
6 BGH, Urt. v. 9.6.1954 – II ZR 70/53, NJW 1954, 1401; BGH, Urt. v. 23.2.1983 – IVa ZR 187/81, NJW 1983, 1843; BGH, Urt. v. 24.4.2008 – VII ZR 42/07, NJWRR 2008, 1050. 7 BGH, Urt. v. 24.4.2008 – VII ZR 42/07, NJW-RR 2008, 1050; WENDTLAND in BeckOK BGB, § 134 Rz. 7. 8 Dies ist weder ein verdeckter Kalkulationsirrtum noch ist es ein unbeachtlicher Irrtum über die steuerlichen Folgen des Geschäfts (beide Vertragsteile wussten ja, dass das Geschäft steuerpflichtig ist), sondern ein echtes Abweichen des objektiv Erklärten vom subjektiv Gewollten. 9 BGH, Urt. v. 18.11.1975 – VI ZR 153/73, DB 1976, 234 (in einen Beratervertrag gekleidete Gewinnverteilung).
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bzgl. der Umsatzsteuerpflicht des Geschäfts „passt“ die Lehre von der Geschäftsgrundlage aber nicht, da die Beteiligten im Normalfall einen Vertrag nicht abschießen, weil sie von einer bestimmten Umsatzsteuerfolge ausgehen. Die Rechtsprechung behandelt Fälle unbeabsichtigter oder unberücksichtigter umsatzsteuerlicher Konsequenzen eines Vertrags folgerichtig als einfache oder ergänzende Vertragsauslegung gem. §§ 133, 157 BGB.10 Diese soll eine angemessene Lösung für tatsächliche Umstände herbeiführen, welche die Beteiligten bei der Abfassung des Vertrags nicht bedacht haben. Der Vertrag wird also um eine Regelung ergänzt, welche die Beteiligten mutmaßlich/vernünftigerweise getroffen hätten, wenn sie diesen Punkt bedacht hätten. Der BGH hat dabei anerkannt, dass ein solcher zivilrechtlicher Ausgleich auch dann geboten sein kann, wenn einem Rechtsgeschäft zwar die steuerliche (§ 42 AO), nicht aber die zivilrechtliche Anerkennung versagt wird. Im Urteil vom 2.11.200111 wurde eine Umsatzsteueroption bei einem Grundstücksgeschäft als Gestaltungsmissbrauch eingestuft (weil nach dem damaligen Recht Steuerschuldner nicht der Käufer war, sondern der insolvente Verkäufer; der Käufer hatte jedoch nicht vor, seinen Vorsteueranspruch an den Verkäufer weiterzugeben, sondern er wollte den Kaufpreis mit notleidenden Forderungen verrechnen). Mangels wirksamer Steueroption bestand damit zivilrechtlich keine Pflicht zur Erteilung einer Rechnung; dennoch war der Käufer zunächst verpflichtet, den Bruttokaufpreis zu entrichten; wegen der Möglichkeit der Vertragsanpassung hat der BGH den Fall zurückverwiesen. 1.3 Ausgleich Schließlich können zivilrechtlich die infolge der (vorher nicht gesehenen) Steuerbelastung entstehenden Nachteile ausgeglichen werden, insbesondere über das Schadensersatz- oder Bereicherungsrecht. Hat ein Vertragsteil vorsätzlich oder fahrlässig eine falsche Angabe gemacht, die beim anderen Vertragsteil zu einem Steuerschaden führt, so könnte dies eine vorvertragliche Pflichtverletzung (z.B. Aufklärung über laufende Vorsteuerberichtigungszeiträume bei einer Geschäftsveräußerung im Ganzen) sein. Hier verbleiben aber erhebliche Unsicherheiten, z.B. hinsichtlich der Reichweiter solcher Aufklärungspflichten und hinsichtlich der Nachweiserfordernisse.
10 GRÜNEBERG in Palandt, BGB, 74. Aufl. 2015, § 313 Rz. 38. 11 BGH, Urt. v. 2.11.2001 – V ZR 224/00, UStB 2002, 39 = NJW-RR 2002, 376.
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Daher besteht der beste Schutz einer Vertragspartei vor steuerschädlichem Verhalten der Gegenseite in der Vereinbarung einer vertraglichen Garantie (z.B. den Gegenstand einem umsatzsteuerlichen Unternehmen zuzuordnen). Es handelt sich dabei um ein sog. selbständiges Garantieversprechen, weil sein Inhalt über die Erbringung der eigentlichen Hauptleistung hinausgeht.12 Die Verletzung einer solchen Garantie löst entsprechende Ersatzansprüche aus, und zwar ohne die Exculpationsmöglichkeit des § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB.13 2. Fallgruppen Um die zivilrechtlich relevanten Fälle zu ordnen, bietet sich folgende Systematik an: – Zivilrechtliche Folgeprobleme können sich aus dem Umfang der Steuerpflicht ergeben, nämlich, wenn die Vertragsteile zu Unrecht von einer Steuerpflicht oder Steuerfreiheit ausgegangen sind oder über die Person des Steuerschuldners im Irrtum waren. – Andere Folgeprobleme entstehen, wenn ein Vertragsteil seinen Vorsteueranspruch aufgrund der Verhältnisse/Handlungen des anderen Vertragsteiles verliert oder aufgrund solcher Verhältnisse/Handlungen einer Vorsteuerberichtigung ausgesetzt ist. In all diesen Fällen fragt sich: – ob dem Leistungsempfänger oder Leistungserbringer durch Verhältnisse oder Handlungen des anderen Vertragsteils ein Nachteil entstanden ist; – auf welche Weise dieser Nachteil durch vorsorgende Vertragsgestaltung ausgeglichen werden kann – und welche Rechtsfolgen eingreifen, soweit eine solche Gestaltung fehlt.
II. Ansatzpunkt Steuerpflicht 1. Irrtümlich angenommene Steuerfreiheit Sind die Vertragsparteien irrtümlich von Steuerfreiheit ausgegangen, so droht dem Leistungserbringer ein Nachteil, da er die Steuer, mit der er nicht gerechnet hat und die folglich auch nicht in die Kalkulation der 12 Vgl. BGH, Urt. v. 10.2.1999 – VIII ZR 70/98, DStR 1999, 770 = MDR 1999, 688. 13 ERNST in Münchener Kommentar BGB, 7. Aufl. 2016, § 280 BGB Rz. 65.
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Gegenleistung eingeflossen ist, abführen muss. Es fragt sich, ob er diesen Nachteil im Wege eines Ausgleichs vom Leistungsempfänger erstattet verlangen kann. Beispiel 1: Der Empfänger einer Dienstleistung hat angegeben, dass er Unternehmer mit Sitz in einem Drittstaat ist. Man ging daher von einer im Inland steuerfreien Leistung aus (§ 3a Abs. 2 UStG). Tatsächlich ist der Empfänger kein Unternehmer, auch § 3a Abs. 4 UStG greift nicht ein, so dass der Leistungsort im Inland ist.
Die Rechtsprechung hat Fälle dieser Art bisher über die Grundsätze der ergänzenden Vertragsauslegung gelöst.14 Dabei geht man von der traditionellen zivilrechtlichen Ansicht aus, dass Kaufpreis stets der vereinbarte Bruttobetrag ist, in welchem die Umsatzsteuer als unselbständiger Preisbestandteil enthalten ist. Dies gilt nach Ansicht der Gerichte auch im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmern.15 Dennoch kann eine Anpassung des Vertrags geboten sein, wenn ein beidseitiger Irrtum über die Steuerpflicht vorliegt. Die Beweislast dafür, dass der Käufer den Irrtum des Verkäufers über die Steuerfreiheit des Geschäfts geteilt hat, liegt allerdings beim Verkäufer. Selbst die Offenlegung der Preiskalkulation des Verkäufers (ohne Steuer) im Vertrag soll hierzu nicht ausreichen.16 Im Beispiel 1 liegen die Dinge freilich etwas anders, da die Annahme der Steuerfreiheit nicht auf einer rechtlichen Fehlvorstellung des Dienstleisters, sondern auf tatsächlichen Fehlvorstellungen bzw. Falschangaben des Empfängers beruht. Hier dürfte, wenn man die ergänzende Vertragsauslegung dennoch ablehnt, zumindest ein Ersatzanspruch des Dienstleisters nach §§ 311 Abs. 2 i.V.m. 241 Abs. 2 BGB (vormals c.i.c.) bestehen. Um dem Problem auszuweichen, sind in Geschäften, deren Steuerfreiheit nicht völlig außer Frage steht, angemessene Steuerklauseln empfehlenswert: „Sollten wider Erwartungen die Voraussetzungen für die Steuerbefreiung … nicht gegeben sein, ist der Auftraggeber verpflichtet, die anfallende Umsatzsteuer gegen Vorlage einer entsprechenden Rechnung zusätzlich zu der vereinbarten Gegenleistung zu entrichten …“
14 BGH, Urt. v. 14.1.2000 – V ZR 416/97, DStR 2000, 834 = UStB 2000, 128, zur Steuerpflicht beim Verkauf von Bergwerkseigentum durch die Treuhandanstalt. 15 BGH, Urt. v. 4.4.1973 – VIII ZR 191/72, WPM 1973, 677 (damals noch unter Ausschluss einer Vertragsanpassung im Wege der ergänzenden Auslegung). 16 BGH, Urt. v. 11.5.2001 – V ZR 492/99, UStB 2001, 371 = DStRE 2002, 49 (in gleicher Sache).
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Hinzuweisen ist darauf, dass auch diese Klausel die Gefahr etwaiger Säumniszuschläge und Zinsen beim Leistungserbringer belässt.17 Für Säumniszuschläge erscheint dies sachgerecht; die Überwälzung der Zinsen auf den Empfänger kann jedoch durch eine entsprechende Erweiterung der Steuerklausel sachgerecht sein, wenn – wie im Beispiel 1 – die Verantwortung für den Fehler in der Sphäre des Empfängers liegt. Sofern erhebliche Summen im Spiel sind, ist auch an eine geeignete Sicherheitsleistung zu denken, da der Unternehmer zu dem Zeitpunkt der Feststellung der Steuerpflicht seine Leistung schon erbracht hat und insofern die üblichen vertraglichen Sicherungsmöglichkeiten (Zug-um-ZugErfüllung, Zurückbehaltungsrechte) nicht greifen. Denkbar wäre im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmern eine sicherungsweise Abtretung des aus der höheren Steuer resultierenden Vorsteueranspruchs. Im Beispiel 1 scheidet dies freilich aus, da der Empfänger kein Unternehmer ist. 2. Irrtümlich angenommene Steuerpflicht Gingen die Beteiligten zu Unrecht von der Steuerpflicht eines Geschäfts aus, so droht insbesondere dem Leistungsempfänger ein Schaden: Er zahlt die ihm in Rechnung gestellte Steuer an den Leistungserbringer und erhält wegen der Beschränkung des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG keinen Vorsteueranspruch, da die Steuer nicht „geschuldet“ war. Beispiel 2 (nach BGH, Urt. v. 20.9.2007 – III ZR 33/07): Der Verkäufer einer Immobilie stellt aufgrund Option eine Rechnung über die USt. Der Käufer zahlt (nach damaligem Recht zutreffend, vor Einführung des reverse-charge-Verfahrens) an den Verkäufer, der die Steuer nicht abführt. Das FA weigert sich, die Vorsteuer auszuzahlen, da eine Geschäftsveräußerung im Ganzen vorliegt.
Handelt es sich um ein Rechtsgeschäft mit einem nicht vorsteuerberechtigten Leistungsempfänger, so entsteht diesem schlicht dadurch ein Nachteil, dass er (infolge des Steueraufschlags) eine überhöhte Gegenleistung erbracht hat. In einem Fall, der die Inrechnungstellung überhöhter Umsatzsteuer (allgemeiner Satz statt ermäßigter Satz bei Arbeiten an der Wasserversorgung) betrifft, hat der BGH einen Erstattungsanspruch nach §§ 812 ff. BGB angenommen, wobei der Beklagte (Unternehmer) nicht entreichert sei, weil er die zu Unrecht abgeführte Umsatzsteuer vom FA im Wege der Rechnungsberichtigung zurück verlangen könne.18 17 OLG Koblenz, Beschl. v. 18.12.2012 – 2 U 1384/11: „Die Verpflichtung zur Zinszahlung gemäß § 233a AO ist zwingende Folge einer verspäteten Abführung der Umsatzsteuer“. 18 BGH Urt. v. 18.4.2012 – VIII ZR 253/11, BFH/NV 2012, 1406 = UStB 2012, 247.
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Die Zivilrechtsprechung stellt sich hier auf den Standpunkt, dass eine in der Kalkulation ausgewiesene Umsatzsteuerzahlung seitens des Erwerbers nur geschuldet ist, wenn diese auch tatsächlich anfällt. Die zur Begründung regelmäßig in Bezug genommenen BGH-Entscheidungen betreffen jeweils Auslegungsfälle. In einem Fall entschied der BGH zum Wuchertatbestand im Fall eines Darlehensgebers, der auf seine ohnehin schon massiv überhöhten Zinsen noch eine angebliche Mehrwertsteuer aufgeschlagen hatte. Der BGH hat in diesem Zusammenhang festgestellt, dass es für die Ermittlung, ob tatsächlich ein Wucherzins vorliegt, nur auf den Nettobetrag ankomme. Entweder sei die MwSt-Abrede im Wege der Auslegung zu beseitigen, oder aber es liege eine Steueroption vor, die den Leistungsempfänger (da Unternehmer) aber nicht belaste.19 In einer anderen Sache hat der BGH eine Ansicht der Vorinstanz bestätigt, wonach die Beteiligten eines Grundstückskaufvertrags ersichtlich von der Steuerpflicht ausgegangen sind, weshalb der Vertrag dahingehend auszulegen sei, dass der entsprechende Kaufpreisteil nicht gezahlt werden müsse.20 Damit zeigt sich also, dass die These von der Umsatzsteuer als „unselbständigem Teil der Gegenleistung“ nur gilt, wenn diese nicht gesondert ausgewiesen ist. Allerdings ist nicht hinreichend begründet worden, warum der Leistungserbringer einerseits das Risiko einer unerwartet hohen Steuer trägt (siehe Beispiel 1), während ihm andererseits der Vorteil einer unerwartet niedrigen Steuer (wie im „Wasser-Fall“) nicht zugutekommen soll. Der BGH beantwortet diese Frage im oben dargestellten „Wasser-Fall“ in keiner Weise, sondern schließt aus der (europarechtlich vorgegebenen) Steuerrechtslage automatisch auf eine rechtsgrundlose Leistung. Dabei übersieht er, dass Rechtsgrund für die Kaufpreiszahlung nicht der Umsatzsteuerbescheid des Unternehmers, sondern der zivilrechtliche Werkvertrag ist. Im Beispiel 2 führt die nach dieser Rechtsprechung zu erwartende Auslegung jedenfalls zu einem vernünftigen Ergebnis: Hätten die Parteien das Geschäft zutreffend als Geschäftsveräußerung im Ganzen angesehen, dann hätten sie den Nettobetrag als Kaufpreis ohne Steueraufschlag vereinbart, weil dem Verkäufer durch die Annahme einer Geschäftsveräußerung kein anderweitiger Nachteil entsteht. Der darüber hinaus an 19 BGH, Urt. v. 19.6.1990 – Az.: XI ZR 280/89, NJW-RR 1990, 1199 = MDR 1990, 1002. 20 BGH, Urt. v. 2.7.2004 – V ZR 209/03, NJW 2005, 671 = (betrifft eine verkannte Geschäftsveräußerung im Ganzen).
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den Verkäufer geflossene Betrag wurde rechtsgrundlos geleistet und ist nach § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB zu erstatten.21 Fraglich ist allerdings, ob sich die Rechtsprechung auch auf Fälle übertragen lässt, in denen ein Nichtunternehmer als Leistungsempfänger auftritt, dem es an sich gleichgültig ist, ob er 119 Euro zahlen muss oder 100 Euro zzgl. MwSt. Dies wird unter Abschn. III.2 näher betrachtet. 3. Irrtum über die Person des Steuerpflichtigen Beispiel 3: Bei einer Bauleistung im Inland (vor 2013) gingen die Vertragsteile davon aus, dass die Voraussetzungen für das reverse-charge-Verfahren erfüllt sind. Tatsächlich war dies, da der Leistungsempfänger Bauträger ist, nicht der Fall.
Steuerlich ist es zunächst so, dass der Leistungserbringer seinerseits zur Abführung der Umsatzsteuer und zur Stellung einer entsprechenden Rechnung verpflichtet ist. Die Sonderregelung des § 27 Abs. 19 UStG betrifft hier den praktisch sehr bedeutenden Fall, dass die Vertragsteile im Vertrauen auf die alte Verwaltungsauffassung22 von der Anwendbarkeit des reverse-charge-Verfahrens ausgegangen sind. Fraglich ist, ob der Leistungserbringer diese Beträge vom Leistungsempfänger erstattet bekommen kann. Der Steuergesetzgeber geht davon jedenfalls aus, sonst würde die Neuregelung in § 27 Abs. 19 Satz 3 UStG gegenstandslos sein oder aber dem Steuerpflichtigen nicht weiterhelfen, da er einen nicht bestehenden Anspruch auch nicht an Erfüllungs statt abtreten kann. Die steuerliche Sonderregelung kann und soll dem Steuerpflichtigen ja nur die Beitreibungslast und das Insolvenzrisiko abnehmen. Nach der oben dargestellten Zivilrechtsprechung sind ausgewiesene Kaufpreise grundsätzlich Bruttobeträge.23 Allerdings ist es bedenklich, diese Rechtsprechung ohne Weiteres auf den Reverse-charge-Fall zu übertragen.24 Hier lag schließlich kein Irrtum über die Steuerpflicht des Geschäfts vor, sondern über die Frage, wer die Steuer abzuführen hat, d.h. der Leistungsempfänger hat von vornherein damit gerechnet, dass 21 Dieser Anspruch spielte im Fall des BGH freilich keine Rolle mehr, denn der Verkäufer war insolvent; der Käufer versuchte erfolglos, sich beim beurkundenden Notar schadlos zu halten. 22 Abschn. 13b.3 Abs. 1 und 2 UStAE a.F.; dazu BFH, Urt. v. 22.8.2013 – V R 37/10, BStBl. II 2014, 128 = UR 2014, 282. 23 BGH, Urt. v. 24.2.1988 – VIII ZR 64/87, NJW 1988, 2042 = MDR 1988, 574; BGH, Urt. v. 11.5.2001 – V ZR 492/99, NJW 2001, 2464 = UR 2001, 538; BGH, Urt. v. 28.2.2002 – I ZR 318/99, NJW 2002, 2312 = MDR 2002, 935. 24 So aber LANGER, DStR 2014, 1897 (1902).
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er die Steuer zahlen muss (nur eben nicht an den Leistungserbringer, sondern an das FA). Hätten die Vertragsteile davon Kenntnis gehabt, dass an der Richtigkeit der alten BMF-Auffassung Zweifel bestehen, so hätten sie dies ganz sicher nicht in der Weise geregelt, dass der Leistungserbringer den Schaden tragen muss und der Empfänger einen unverhofften 19 %-Rabatt erhält. Ein zivilrechtlicher Zusatzanspruch des Leistungserbringers im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung ist in diesen Fällen geboten, so dass die steuerliche Konstruktion über § 27 Abs. 19 Satz 3 UStG wirken kann. Eine andere Frage ist diejenige, ob die Lösung über § 27 Abs. 19 UStG an sich ein steuerlich zulässiger Weg ist. Jedenfalls in Fällen, in denen kein zivilrechtlicher Ausgleichsanspruch besteht, kann eine Lösung nur im Wege des Vertrauensschutzes zugunsten des Leistungserbringers gefunden werden.25 Angesichts der zivilrechtlichen Zweifel wird jedenfalls für den Leistungserbringer kein Weg daran vorbeiführen, zunächst den Steuerbescheid anzugreifen.26 4. Umkehrfall Beispiel 4: Auch hier geht es um eine Bauleistung an einen Bauträger. Die Vertragsteile gingen davon aus, dass nach der neuen Rechtslage das reverse-charge-Verfahren nicht eingreift. Tatsächlich ist der Leistungserbringer aber ein ausländischer Unternehmer.
Gemäß § 13b Abs. 5 Satz 1 i.V.m. § 13b Abs. 2 Nr. 1 UStG greift das reverse-charge-Verfahren ein und der Bauträger muss die Steuer in Deutschland abführen; der Unternehmer schuldet ggf. die Steuer nach § 14c Abs. 2 UStG. Sofern der Leistungserbringer in der Rechnung Umsatzsteuer ausweist, geschieht dies zu Unrecht. Zivilrechtlich stellt sich wiederum die Frage, ob der Leistungserbringer die vom Empfänger an ihn gezahlte Steuer zurückzahlen muss. Wie im Beispiel 2 wird man den zivilrechtlichen Grundsatz heranziehen, dass eine Steuerzahlung an den Leistungserbringer nur unter der Bedingung als vereinbart gilt, dass diese Steuer auch tatsächlich geschuldet wird. Auch im Beispiel 4 führt diese Auslegung zu einem ange25 Für Vertrauensschutz FG Berlin, Beschl. v. 3.6.2015 – 5 V 5026/15, DStRE 2015, 892 = UR 2015, 592; Nds. FG, Beschl. v. 3.7.2015 – 16 V 95/15, MwStR 2015, 655; gegen Vertrauensschutz FG Düss., Beschl. v. 31.8.2015 – 1 V 1486/15 A U, BeckRS 2015, 95645; FG Köln, Beschl. v. 1.9.2015 – 9 V 1376/15, BeckRS 2015, 95689; FG Nürnb., Beschl. v. 26.8.2015 – 2 V 1107/15, BeckRS 2015, 95722. 26 LANGER, DStR 2014, 1897 (1902).
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messenen Ergebnis: Der Vertrag ist dahingehend auszulegen, dass der Leistungsempfänger die Steuer nur an das FA, nicht an den Leistungserbringer zu zahlen hat. Freilich ist zu bedenken, dass der Leistungserbringer hier wegen des unberechtigten Steuerausweises zugleich Steuerschuldner nach § 14c Abs. 2 UStG wird. Man wird daher vom Leistungsempfänger zumindest die erforderliche Mitwirkung am Nachweis dafür verlangen müssen, dass er seinerseits auf die (unberechtigte) Geltendmachung von Vorsteuer aus der unberechtigten Rechnung verzichtet oder diesen Betrag an das FA erstattet. 5. Zwischenergebnis Die gefundenen Ergebnisse lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: – Äußern sich die Parteien im Vertrag nicht zur Frage der Umsatzsteuer, so kann der Leistungsempfänger i.d.R. darauf vertrauen, dass die ausgewiesene Gegenleistung die Steuer beinhaltet. Eine etwa dennoch anfallende Steuer geht dann zu Lasten des Leistungserbringers. – Anders ist dies, wenn die Parteien ersichtlich von der Steuerfreiheit ausgehen. Der Nachweis einer insoweit übereinstimmenden Fehlvorstellung dürfte dem Leistungserbringer schwer fallen. – Gehen die Parteien zu Unrecht davon aus, dass der Leistungsempfänger die Steuer an das FA abzuführen hat, so dürfte auch ohne konkrete Abreden ein Anspruch des Leistungserbringers auf Zahlung der Umsatzsteuer an ihn vorliegen. – Gehen die Parteien zu Unrecht davon aus, dass der Leistungsempfänger die Umsatzsteuer an den Leistungserbringer zu zahlen hat, so ist letzterer i.d.R. nach §§ 812 ff. BGB zur Erstattung verpflichtet. – Führen Falschangaben eines Vertragsteils bei der anderen Vertragspartei zu einem steuerlichen Nachteil, der nach den vorstehenden Grundsätzen nicht ausgeglichen wird, so ist ein Ausgleich nach Schadensersatzrecht möglich.
III. Ansatzpunkt Vorsteuer Zivilrechtlich schwer zu fassen sind Fallgestaltungen, in denen der steuerliche Nachteil einer Partei nicht aufgrund einer unerwarteten Steuerpflicht, sondern auf einem Verlust von Vorsteueransprüchen beruht.27 27 Zur Frage, wem der Vorteil der Vorsteuerberechtigung zugute kommen soll, vgl. BGH, Beschl. v. 17.4.2012 – VI ZB 46/11, MDR 2012, 810 zur Prozesskos-
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1. Unwirksame Option Beispiel 5: Bei einem Grundstücksverkauf vom Bauträger gingen die Vertragsteile davon aus, dass der Käufer das Objekt einem USt-Unternehmen zuordnet und optieren nach § 9 UStG zur Umsatzsteuer. Tatsächlich vermietet der Käufer an eine Arztpraxis.
Steuerlich wird man hier zu dem Ergebnis kommen, dass die Option ins Leere geht, da die Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 UStG (Leistung an einen Unternehmer für dessen Unternehmen) nicht erfüllt sind. Es bleibt daher bei der Steuerbefreiung nach § 4 UStG. Auf den Kaufvertrag scheint dies zunächst keinen Einfluss zu haben: Eine Zahlung der Steuer als Gegenleistung an den Verkäufer war wegen des reverse-charge-Verfahrens ohnehin nicht beabsichtigt und wurde auch nicht getätigt. Dennoch ist die Wirksamkeit der Steueroption nicht nur eine Frage, die sich allein zwischen Käufer und FA abspielt. Die Option ist bekanntlich für den Leistungsempfänger im Regelfall nicht von Interesse – im Gegenteil, sie bringt für ihn den Nachteil, dass er im Fall einer späteren Nutzungsänderung mit einer Vorsteuerberichtigung rechnen muss. Der Verkäufer hingegen kann in einem Optionsfall anders kalkulieren und den ihm zustehenden Vorteil (Vorsteueranspruch) ganz oder teilweise an den Käufer weitergeben. Der Bauträgerkaufpreis wird daher, wenn von einer Option ausgegangen wird, deutlich günstiger sein als ohne eine solche. Eine Möglichkeit des Verkäufers, den ihm entstandenen Schaden (Verlust des Vorsteueranspruchs) ohne gesonderte Regelung vom Käufer erstattet zu bekommen, ist zivilrechtlich im Beispiel 5 nicht in Sicht. Allenfalls Schadensersatzansprüche kommen in Betracht, wobei die vorvertragliche Pflichtverletzung bei weitem nicht so klar erkennbar ist wie in Beispiel 1. Wenn der Verkäufer sich keine konkrete Zusicherung über die beabsichtigte Nutzung geben lässt, wird der Käufer darauf vertrauen dürfen, dass er das Objekt nach seinem Belieben nutzen darf. In Vermietungsfällen wurde dies im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung mitunter anders gesehen. Das Kammergericht28 hat anerkannt, dass der unberechtigten Angabe „zzgl. USt“ in einem Mietvertrag kein einseitiger Kalkulationsirrtum des Vermieters zugrunde liegt, wenn dieser aufgrund der Angaben des Mieters davon ausgegangen ist, dass es tenerstattung, wenn der Anspruchsberechtigte wegen seiner Vorsteuerberechtigung nur mit dem Nettobetrag wirtschaftlich belastet war; BGH, Urt. v. 29.1.2013 – II ZR 91/11, MDR 2013, 353 zur Zuordnung eines Vorsteuerguthabens im Rahmen eines Organschaftsverhältnisses. 28 KG, Urt. v. 24.5.2012 – 8 U 160/11, MDR 2012, 1277; vgl. auch BGH, Urt. v. 21.1.2009 – XII ZR 79/07, UR 2009, 273.
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sich hier um einen Unternehmer handelt. Im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung gelangt man dazu, dass die Nettomiete entsprechend zu erhöhen ist, wenn die Voraussetzungen der Steueroption nicht vorliegen. Einem Bauträger als Leistungserbringer wird diese Rechtsprechung nichts nutzen: Der Vermieter verlangt in diesem Fall immerhin nur die Zahlung, die im Vertrag steht, während der Bauträger eine darüber hinausgehende Zahlung einfordert (der seitens des Käufers keinerlei Vorteil gegenübersteht, da er ja kein Unternehmer ist). Hier hilft dem Verkäufer also nur eine ausdrückliche Regelung, wonach der Käufer die Garantie dafür übernimmt, dass die in seinem Verantwortungsbereich liegenden Voraussetzungen der Steueroption auch tatsächlich vorliegen, während er anderenfalls dem Verkäufer den entstehenden Schaden zu ersetzen hat. 2. Unberechtigter Steuerausweis Beispiel 6 (nach LG Köln, Urt. v. 31.5.2011 – 37 O 298/10): Die Vertragsparteien haben einen Bauträgervertrag „zu Grunderwerbsteuerzwecken“ in einen Kaufvertrag und einen Bauvertrag aufgeteilt. 12.10.2005: Grundstückskauf U an V für 57 585 Euro. 26.10.2005: Bauvertrag zwischen U und V „zum Festpreis von 180 865 Euro einschl. 16 % MwSt“. Hier wurde vereinbart: „Ändert sich die gesetzliche Mehrwertsteuer während der Bauzeit, so wird die Differenz entsprechend den steuerlichen Vorschriften nacherhoben bzw. erstattet.“ Das FA hat den Sachverhalt durchschaut und verlangt vom Käufer die Nachzahlung der Grunderwerbsteuer i.H.v. 6331 Euro. Dieser verlangt postwendend vom Verkäufer die Erstattung der Umsatzsteuer i.H.v. 25 022,75 Euro.
Der Fall hat eine Besonderheit: Anders als in den meisten grunderwerbsteuerlich interessanten Fällen zum einheitlichen Vertragsgegenstand haben sich die Parteien hier nicht einmal die Mühe gemacht, für die Bauleistung einen anderen Unternehmer einzuschalten, so dass auch für diesen Leistungsteil tatsächlich die Steuerfreiheit aus § 4 Nr. 9 Buchst. a UStG besteht. Das Landgericht Köln hat der Klage des Käufers stattgegeben. Dabei hätte dem Gericht auch ohne nähere steuerliche Prüfung eines auffallen müssen: Wenn die Aufspaltung des Vertrags zu einem USt-Nachteil führt, welcher ungefähr das 5fache der begehrten Grunderwerbsteuerersparnis beträgt, dann hätten die Beteiligten diesen Weg doch niemals eingeschlagen. Solche Überlegungen hat das Gericht jedoch gar nicht angestellt, sondern schlicht die vorstehende MWSt-Klausel angewendet und damit den Vertrag so behandelt, als hätte der Gesetzgeber in der
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Zwischenzeit den Steuersatz für Bauleistungen auf Null reduziert. Das Gericht schreibt wörtlich: „Denn insoweit ist der Bauwerkvertrag ergänzend dahin auszulegen, dass die in Wahrheit nicht anfallende Umsatzsteuer nicht zu zahlen ist (…). Ein dahingehender Wille der Parteien kommt auch in Ziffer 5.6 des Bauwerkvertrages zum Ausdruck, wonach die Mehrwertsteuer ggf. nacherhoben bzw. erstattet werden soll.“
Hier hat das Gericht selbstverständlich übersehen oder nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dass bei Kenntnis der Steuerfreiheit wegen der Definitivbelastung des Verkäufers mit der Steuer auf seine Eingangsleistungen ein höherer Kaufpreis vereinbart worden wäre. Tatsächlich erspart sich der Verkäufer nach § 4 Nr. 9 UStG die Steuer nur auf seinen Gewinn und auf seine Eigenleistungen. Diese Ersparnis muss kleiner sein als die mit der Konstruktion erzielte GrESt-Ersparnis, sonst hätte man den „Trick“ nicht versucht. Die Entscheidung ist daher wirtschaftlich unsinnig, hat aber zumindest den Vorteil, dass sie abschreckend auf diejenigen wirken könnte, die solche „Modelle“ planen. 3. Übergang Vorsteuerberichtigung Beispiel 7: Der Verkäufer einer steuerpflichtig vermieteten Immobilie hat in den Jahren vor dem Verkauf Vorsteuer geltend gemacht. Die Vertragsteile wollen dennoch einen Immobilienverkauf ohne Option abschließen, da der Käufer anschließend eine Vermietung an eine Arztpraxis beabsichtigt. Das FA nimmt hingegen Geschäftsveräußerung im Ganzen an.
Nach dem von den Beteiligten beabsichtigten Konzept hätte den Verkäufer eine Vorsteuerberichtigung getroffen, da er einen steuerfreien Weiterkauf tätigt. Liegt nun eine Geschäftsveräußerung im Ganzen vor, dann trifft die Vorsteuerberichtigung zu einem späteren Zeitpunkt (nämlich beim Mieterwechsel) den Käufer nach § 15a Abs. 10 BGB. Ein zivilrechtlicher Ausgleich kann hier, wenn keine entsprechende Klausel vorhanden ist, die dies regelt, wiederum nur über die Grundsätze der ergänzenden Vertragsauslegung erreicht werden. Hätten die Parteien mit der Geschäftsveräußerung im Ganzen gerechnet, so hätte sich der Verkäufer u.U. auf einen geringeren Kaufpreis eingelassen und der Käufer hätte ebenso nur einen geringeren Kaufpreis akzeptiert. In der Praxis dürfte der Anspruch des Käufers aber daran scheitern, dass der Verkäufer angibt, er hätte die Vorsteuerberichtigung ohnehin nicht in seine Berechnungsgrundlage einbezogen. Dies erscheint sogar naheliegend, da die Beteiligten die steuerlichen Konsequenzen ihres Tuns ja gerade nicht sorgfältig untersucht haben. Wenn also die umsatzsteuerli-
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chen Beweggründe der gewählten Gestaltung nicht sorgfältig dokumentiert sind, dürfte hier der Käufer aus Beweislastgründen leer ausgehen. 4. Ergebnis – Der Schutz gegen Vorsteuerverluste aufgrund der Verhaltensweisen/ Verhältnisse der anderen Vertragspartei ist nur durch ausdrückliche Vereinbarungen möglich. – Wenn eine solche fehlt, wird sich der mutmaßliche Wille der Vertragsparteien, der für eine ergänzende Vertragsauslegung konstitutiv ist, im Nachhinein praktisch nicht mehr ermitteln lassen.
IV. Fazit Die Rechtsprechung der Zivilgerichte zur Behandlung von Umsatzsteuerfragen ist uneinheitlich. Dies betrifft bereits die grundlegenden Thesen, wonach einerseits die Umsatzsteuer unselbständiger Teil des Kaufpreises sein soll, andererseits aber die Steuer nur dann als geschuldet angesehen wird, wenn sie auch tatsächlich anfällt. Zwar können die Zivilgerichte über das Instrument der ergänzenden Vertragsauslegung Lücken ausfüllen, die sich ergeben, wenn eine vertragliche Regelung über die Folgen einer abweichenden umsatzsteuerlichen Würdigung fehlt. Die Folgen einer solchen Auslegungsentscheidung sind aber nur schwer vorhersehbar und nicht immer wirtschaftlich vernünftig. Es führt daher für den Berater und Vertragsgestalter kein Weg daran vorbei, umsatzsteuerlichen „Überraschungen“ durch zivilrechtliche Regelungen vorzubeugen. Schwieriger ist es, die aus solchen Klauseln resultierenden Ansprüche angemessen zu sichern. Eine wirkliche zufriedenstellende Lösung der Probleme kann nur über das Steuerrecht selbst gelingen. Letzteres zeigt allerdings, z.B. im Zusammenhang mit der Aufarbeitung von Karussellgeschäften, eher die gegenläufige Tendenz, wonach der Vertragspartner zum Ausfallbürgen für fehlgegangene Steueransprüche wird.
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Steuerstrafrechtliche Folgeprobleme – Strafrechtliche Aspekte bei EU-grenzüberschreitenden Warenlieferungen (EuGH C-285/09 Rechtssache „R“) Prof. Dr. WOLFRAM REIß Universität Erlangen-Nürnberg Inhaltsübersicht I. Problemstellung 1. Territoriale Abgrenzung für die Umsatzbesteuerung - Bestimmungslandprinzip . . . . . . . . . . . 162 2. Erleichterung für Steuerhinterziehungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . 163 3. Drei Grundkonstellationen der Umsatzsteuerhinterziehung. . . . 163 II. Umsatzsteuerhinterziehung durch Nichterklärung innerstaatlicher Umsätze 1. Hinterziehung inländischer Umsatzsteuer . . . . 164 2. Keine Hinterziehung von Erwerbsteuer des Bestimmungslandes . . . . 164 3. Haftung nach § 71 AO . . 164 III. Umsatzsteuerhinterziehung bei grenzüberschreitenden Warenlieferungen bei Täuschung über die Identität des Abnehmers 1. Strafbare Steuerhinterziehung nach der Rechtsprechung des 1. Senats des BGH bei Verschleierung des Erwerbers . . . . . 165 2. Nicht befreite, sondern steuerpflichtige innergemeinschaftliche Lieferung bei Identitätstäuschung nach der Rechtsprechung des EuGH, des BFH und des BVerfG . . . . 166
3. Strafrechtliche Konsequenzen – Steuerhinterziehung im Inland und im anderen Mitgliedstaat als Bestimmungsland . . . . . . . . . . . . 168 4. Steuerliche Konsequenzen – Steuerschuldner und Haftender . . . . . . . . . 169 5. Erforderliche Neubesinnung hinsichtlich der Befreiung . . . . . . . . . . . . . 170 IV. Versagung des Vorsteuerabzugs im „Umsatzsteuerkarussell“ 1. Haftungsvorschrift des § 25d UStG ohne Anwendungsbereich . . . . . . 2. Versagung des Vorsteuerabzugs bei missbräuchlicher Geltendmachung . . . . . . . . . . . . . 3. Guter Glaube und Feststellungslast bei Einbeziehung in ein Karussell . . . . . . . . . . . . . 4. Haftung statt Vorsteuerabzugsversagung . . . . . . .
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V. Nachtrag . . . . . . . . . . . . . . . . 181
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I. Problemstellung Der grenzüberschreitende Warenverkehr innerhalb der Union ist durch die Abschaffung von Zöllen und die damit verbundene Abschaffung von Grenzkontrollen zweifellos erheblich erleichtert worden. Die Staaten der Union bilden ein einheitliches Zollgebiet. 1. Territoriale Abgrenzung für die Umsatzbesteuerung – Bestimmungslandprinzip Für die Umsatzsteuer gilt dies freilich nicht. Hier bleibt es – ungeachtet der weitgehenden inhaltlichen Harmonisierung hinsichtlich des Steuergegenstands und der zugrunde liegenden Belastungskonzeption – dabei, dass die Gesetzgebungskompetenz zur Auferlegung der Umsatzsteuer gegenüber dem Steuerpflichtigen weiterhin allein bei den Mitgliedstaaten liegt. Diesen steht auch das jeweilig aufgrund ihrer nationalen Gesetze erhobene Aufkommen zu, ungeachtet etwaiger an die Union als sogenannte Eigenmittel zu entrichtender Beiträge aus diesem Aufkommen. Bei diesem Ausgangspunkt bedarf es einer klaren Abgrenzung innerhalb der Union, welcher Mitgliedstaat nach seinem Umsatzsteuerrecht berechtigt ist, den jeweiligen Vorgang zu besteuern und dafür seine nationale Umsatzsteuer zugunsten seiner Kasse zu erheben. Ein Verteilungs- und Ausgleichssystem zwischen der Union und den Mitgliedstaaten oder allein zwischen den Mitgliedstaaten etwa nach dem Vorbild der bundesrepublikanischen Finanzverfassung sehen die Unionsverträge nicht vor. Für die Erhebung der harmonisierten Umsatzsteuer durch die Mitgliedstaaten der Union erfolgt die Abgrenzung hinsichtlich der Besteuerungskompetenz der Mitgliedstaaten untereinander und die damit verbundene Zuweisung des Umsatzsteueraufkommens an den jeweiligen Mitgliedstaat allein aufgrund der für die Mitgliedstaaten zwingend zu beachtenden Vorgaben der von ihnen – gemäß den Verpflichtungen aus den Primärverträgen – umzusetzenden (Mehrwert)Steuerrichtlinien der Union, gegenwärtig im Wesentlichen also aus der MwStSystRL 2006/112/EG. Für den hier zu behandelnden grenzüberschreitenden Warenverkehr ist die Abgrenzung jedenfalls für den kommerziellen Warenverkehr im Grundsatz nach dem Bestimmungslandprinzip erfolgt. Die Besteuerungskompetenz und das Steueraufkommen werden im Ergebnis dem Bestimmungsland zugewiesen. Technisch erfolgt dies dadurch, dass im Herkunfts-/Ursprungsland eine Befreiung der Warenlieferung für den Lieferer als innergemeinschaftliche Lieferung erfolgt, während im Bestimmungsland der Erwerber einen innergemeinschaftlichen Erwerb zu besteuern hat. Die auf diese Weise bewirkte Abgrenzung muss bei richtiger überein-
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stimmender Anwendung im Herkunfts- und Bestimmungsland dazu führen, dass sowohl eine Doppelbesteuerung im Herkunfts- und im Bestimmungsland als auch eine Nichtbesteuerung in beiden Staaten unterbleibt. 2. Erleichterung für Steuerhinterziehungsmöglichkeiten Der wegen des Binnenmarktkonzepts auch zwingend erforderliche Wegfall von Grenzkontrollen eröffnet freilich für die Umsatzsteuer hinsichtlich des nicht durch Behörden überwachten grenzüberschreitenden Warenverkehrs erhebliche Hinterziehungsmöglichkeiten. 3. Drei Grundkonstellationen der Umsatzsteuerhinterziehung Im Grundsatz lassen sich dabei drei Grundkonstellationen unterscheiden. 3.1 Vortäuschung einer befreiten innergemeinschaftlichen Lieferung Tatsächlich erfolgt eine steuerpflichtige Lieferung im Inland. Diese wird aber nicht erklärt. Stattdessen wird zu deren Verdeckung unzutreffend eine steuerbefreite Lieferung an einen Erwerber in einem anderen Mitgliedstaat der Union erklärt. Eine solche innergemeinschaftliche Lieferung über die Grenze findet nicht statt. Beeinträchtigt wird das Steueraufkommen des (vermeintlichen) Inlandes als vermeintlichen Herkunftslandes. 3.2 Verschleierung des Erwerbs und nachfolgender Lieferung im Bestimmungsland Es erfolgt eine Lieferung in einen anderen Mitgliedstaat der Union. Diese wird auch als befreit erklärt. Es wird aber nicht der richtige Abnehmer/Erwerber benannt, um dem richtigen Abnehmer/Erwerber eine Nichtbesteuerung des Erwerbs und seiner anschließenden Lieferungen im Bestimmungsland zu ermöglichen. Beeinträchtigt wird das Steueraufkommen des anderen Mitgliedstaates als des Bestimmungslandes. 3.3 Vorsteuerabzug im Umsatzsteuerkarussell aus Rechnungen des „missing traders“ Es erfolgt eine grenzüberschreitende Veräußerung/Lieferung an einen „Erwerber“ im Bestimmungsland, der auch zutreffend benannt wird. Dieser „liefert“ im Bestimmungsland unter Steuerausweis an andere Abnehmer weiter. Die Abnehmer machen den Vorsteuerabzug geltend, während der Erwerber die in Rechnung gestellte Umsatzsteuer nicht ab-
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führt, sondern „verschwindet“. Auf neudeutsch ist dann vom „missing trader“ die Rede.1
II. Umsatzsteuerhinterziehung durch Nichterklärung innerstaatlicher Umsätze 1. Hinterziehung inländischer Umsatzsteuer Unproblematisch liegt eine Hinterziehung inländischer Umsatzsteuer nach § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO vor, wenn der Steuerpflichtige einen inländischen steuerpflichtigen Umsatz in seiner Voranmeldung vorsätzlich nicht erklärt. Er macht dann hinsichtlich steuerlich erheblicher Tatsachen unrichtige und unvollständige Angaben. Die durch die Nichterklärung unrichtigen Angaben hinsichtlich der steuerpflichtigen Umsätze lösen kausal die Steuerverkürzung in Gestalt der zu niedrigen Steuerfestsetzung aus. Durch die zur Verdeckung der nicht erklärten steuerpflichtigen Inlandslieferung erfolgte Erklärung einer befreiten innergemeinschaftlichen Lieferung macht der Steuerpflichtige zwar eine unrichtige Angabe. Aber nicht diese, sondern die unrichtige/unvollständige Angabe zu den steuerpflichtigen Umsätzen begründet schon für sich allein die Strafbarkeit der Hinterziehung deutscher Umsatzsteuer. 2. Keine Hinterziehung von Erwerbsteuer des Bestimmungslandes Eine Mittäterschaft oder Teilnahme an einer Hinterziehung von Umsatzsteuer auf einen Erwerb im Bestimmungsland kommt erkennbar nicht in Betracht. Auch wenn eine innergemeinschaftliche Lieferung vorgetäuscht wurde und über das Nichtvorhandensein eines Erwerbers getäuscht wurde, kommt eine Erwerbsbesteuerung entsprechend § 1a UStG, Art. 20 MwStSystRL – mangels grenzüberschreitenden Vorgangs durch Versenden oder Befördern des Liefergegenstands in einen anderen Mitgliedstaat – nicht in Betracht. 3. Haftung nach § 71 AO Für den nach § 18 UStG erklärungspflichtigen Unternehmer als Steuerschuldner scheidet eine Haftung selbstredend aus. Hingegen haften die Empfänger der steuerpflichtigen Inlandslieferungen und etwaige in ei1 Vgl. grundlegend EuGH, Urt. v. 12.1.2006 – C-354/03 – Optigen u.a., EuGHE 2006, I-483 = UR 2006, 157; EuGH, Urt. v. 11.5.2006 – C-384/04 – Federation of Technological Industries, EuGHE 2006, I-4191 = UR 2006, 410.
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nem anderen Mitgliedstaat ansässige Personen, falls sie als Mittäter, Anstifter oder Gehilfen an der Tat teilgenommen haben.2 Das ist jedenfalls für diejenigen Abnehmer zu bejahen, die regelmäßig in Kenntnis des Sachverhalts mit dem Täter zusammenwirken, indem sie ihm die Waren zu Preisen abnehmen, die erkennbar unter Einkalkulierung der Hinterziehung gebildet wurden. Ebenfalls ist es für Personen zu bejahen, die ihre Adresse im Ausland und/oder ihre ausländische USt-ID-Nr. dem Täter zur Verfügung stellen. Damit erbringen sie einen erfolgsursächlichen fördernden Beitrag zur Hinterziehungshandlung des liefernden Unternehmers als Haupttäter.3
III. Umsatzsteuerhinterziehung bei grenzüberschreitenden Warenlieferungen bei Täuschung über die Identität des Abnehmers 1. Strafbare Steuerhinterziehung nach der Rechtsprechung des 1. Senats des BGH bei Verschleierung des Erwerbers Nach der Rechtsprechung des BGH macht sich ein Unternehmer wegen Hinterziehung deutscher Umsatzsteuer strafbar, wenn er Lieferungen von Liefergegenständen als steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen deklariert, die zwar aus Deutschland in einen anderen Mitgliedstaat befördert oder versendet werden und deren Abnehmer an sich auch dort nach dem dortigen Recht und nach den Vorgaben der MwStSystRL der Erwerbsbesteuerung unterliegen würde, wenn durch den Lieferer aber die Identität des wahren Erwerbers verschleiert wird. Der BGH4 geht davon aus, dass eine Befreiung als innergemeinschaftliche Lieferung nach § 4 Nr. 1 Buchst. b, § 6a UStG in Übereinstimmung mit Art. 138 MwStSystRL, respektive dessen Vorgängerbestimmung in der (6. MwSt-)Richtlinie 77/388/EWG ausscheidet, wenn der Lieferer über die Identität des Erwerbers täuscht, um diesem dadurch die Hinterziehung der im Bestimmungsland geschuldeten Umsatzsteuer zu ermöglichen. Konsequenterweise geht der BGH von unrichtigen Angaben hin-
2 Vgl. BFH, Urt. v. 24.9.2014 – XI B 75/12, BFH/NV 2014, 164; BFH, Urt. v. 5.8.2011 – V R 13/09, BFH/NV 2011, 81 (beide zu Mitwirkung in einem Umsatzsteuerkarussell). 3 Vgl. statt vieler zur Beihilfe und Abgrenzung zur Mittäterschaft bei der Steuerhinterziehung BGH, Urt. v. 6.2.2014 – 1 StR 578/13, ZWH 2014, 208, zit. nach juris; BGH, Urt. v. 9.4.2013 – 1 StR 586/12, BGHSt 58, 218 mwN. 4 Leitentscheidung BGH, Urt. v. 20.10.2011 – 1 StR 41/09, BGHSt 57, 32; s. auch BGH, Urt. v. 19.3.2013 – 1 StR 318/12, wistra 2013, 463 und bereits BGH, Urt. v. 20.11.2008 – 1 StR 354/08, UR 2009, 192 = BGHSt 53, 45.
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sichtlich der Erklärung eines befreiten Umsatzes aus und von einer dadurch bewirkten Verkürzung der festgesetzten deutschen Umsatzsteuer. Es fällt dem BGH erkennbar schwer, ein gesetzliches Tatbestandsmerkmal in § 6a UStG zu benennen, dessen Vorhandensein oder Nichtvorhandensein bewirkt, dass bei kollusivem Zusammenwirken von Lieferer und wahrem Erwerber zum Zwecke der Steuerhinterziehung im Bestimmungsland die Befreiung für die grenzüberschreitende Warenlieferung im Herkunftsland zu versagen ist. Der BGH verweist insoweit auf § 6a Abs. 1 Nr. 3 und § 6a Abs. 3 UStG. Wegen des Besteuerungszusammenhangs von befreiter Lieferung und Erwerbsbesteuerung sei es nicht zulässig, die Befreiung in Anspruch zu nehmen, wenn über die Person des Erwerbers eine absichtliche Täuschung erfolgt. Insoweit liege auch ein Verstoß gegen den zu erbringenden Buch- und Belegnachweis vor. Erfolge der Verstoß gegen die auch zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen und Steuervermeidungen verlangten Buch -und Belegnachweise, um eine Steuerhinterziehung zu ermöglichen, sei die Befreiung auch dann zu versagen, wenn die Voraussetzungen für eine Befreiung objektiv vorliegen. Der BGH beruft sich hinsichtlich der nach dem UStG nicht zu gewährenden Befreiung für eine innergemeinschaftliche Lieferung bei Täuschung über die Identität des Erwerbers zu Recht auf die Rechtsprechung des EuGH, des BFH und des BVerfG. 2. Nicht befreite, sondern steuerpflichtige innergemeinschaftliche Lieferung bei Identitätstäuschung nach der Rechtsprechung des EuGH, des BFH und des BVerfG Der EuGH hat in der Rechtssache „R“ auf Vorlage des BGH entschieden, dass der Ausgangsmitgliedstaat einer innergemeinschaftlichen Lieferung aufgrund der ihm nach Art. 131, 138 MwStSystRL zustehenden Befugnisse zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der Befreiungsvorschriften und zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen oder Missbrauch die Mehrwertsteuerbefreiung versagen kann, wenn der Lieferer bei der Lieferung die Identität des wahren Erwerbers verschleiert hat, um diesem zu ermöglichen, Umsatzsteuer zu hinterziehen.5 Der EuGH geht davon aus, dass den Mitgliedstaaten insbesondere auch angesichts der Schwierigkeiten einer Überprüfung der Umsatzsteuererhebung bei grenzüberschreitendem Warenverkehr wegen des Wegfalls von Grenzkontrollen nicht verwehrt werden kann, die Ausstellung inhaltlich unrichtiger Belege als „Steuerhinterziehung“ anzusehen und die Befreiung 5 EuGH, Urt. v. 7.12.2010 – C-285/09 – R, EuGHE 2010, I-12605 = BStBl. II 2011, 846 = UR 2011, 15.
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zu „versagen“. Die davon ausgehende „abschreckende“ Wirkung trage zur Verhütung solcher Hinterziehungen bei. Der EuGH sieht den Herkunftsmitgliedstaat ggf. sogar für verpflichtet an, die Befreiung zu verweigern, wenn trotz gegenseitiger Amtshilfe und Zusammenarbeit die Gefahr besteht, dass der innergemeinschaftliche Erwerb „im Bestimmungsland … der Besteuerung entgehen könnte“. Er hat diese Rechtsprechung bestätigt und geht inzwischen davon aus, dass die Befreiung dann versagt werden darf, wenn eine Steuerhinterziehung der Erwerberin vorliegt und der Lieferer davon wusste oder hätte wissen müssen.6 Der V.7 und der XI. Senat8 des BFH legen § 4 Nr. 1 Buchst. b UStG und § 6a UStG unter Berufung auf diese Rechtsprechung des EuGH „richtlinienkonform“ aus. Danach kommt eine Befreiung als innergemeinschaftliche Lieferung immer dann jedenfalls nicht in Betracht, wenn der Lieferer bewusst gegen die Nachweispflichten nach § 6a Abs. 3 UStG i.V.m. § 17a ff. UStDV verstößt, um dem Erwerber im Bestimmungslandmitgliedstaat eine Mehrwertsteuerhinterziehung zu ermöglichen. Die Steuerfreiheit nach § 6a UStG setze voraus, dass aufgrund zutreffender Angaben des Lieferers der Abnehmer/Erwerber bekannt ist. Das BVerfG sieht die Regelung in § 4 Nr. 1 Buchst. b i.V.m. § 6a UStG als hinreichend bestimmt an, um die Blankettstrafnorm des § 370 AO verfassungsgemäß auszufüllen.9 Eine Verletzung des Bestimmtheitsgebots und 6 EuGH, Urt. v. 6.9.2012 – C-273/11 – Mecsek-Gabona, UR 2012, 796. 7 BFH, Urt. v. 21.5.2014 – V R 34/13, BStBl. II 2014, 914 = UR 2014, 774; BFH, Urt. v. 17.2.2011 – V R 28/10, UR 2011, 779; BFH, Urt. v. 11.8.2011 – V R 50/09, BStBl. II 2012, 151 = UR 2011, 916; BFH, Urt. v. 11.8.2011 – V R 19/10, BStBl. II 2012, 156 = UR 2012, 56; BFH, Urt. v. 17.2.2011 – V R 30/10, BStBl. II 2011, 769 = UR 2011, 784. 8 BFH, Urt. v. 26.11.2014 – XI R 37/12, BFH/NV 2015, 358; BFH, Urt. v. 24.6.2014 – XI B 45/13, BFH/NV 2014, 1584; BFH, Urt. v. 15.2.2012 – XI R 42/10, BFH/NV 2012, 1188; BFH, Urt. v. 14.12.2011 – XI R 33/10, BFH/NV 2012, 1009 = UStB 2012, 156; BFH, Urt. v. 14.11.2012 – XI R 8/11, MwStR 2013, 165. 9 BVerfG, Beschl. v. 16.6.2011 – 2 BvR 542/09, UR 2011, 775 mit Anm. FISCHER, jurisPR Steuerrecht 33/2011 Anm. 2. Zur Irrtumsproblematik bei „Blankettstrafgesetzen“ einerseits und „normativen Tatbestandsmerkmalen“ andererseits s. KUHLEN in DStJG 38 (2015), 117 (136 f.); SEER in Tipke/Lang, Steuerrecht22, § 23 Rz. 45, 46 mwN; REIß, wistra 1986, 193; REIß, wistra 1987, 161; s. auch BGH, Urt. v. 8.9.2011 – 1 StR 38/11, wistra 2011, 465 (danach aber offen gelassen, ob Irrtum über die Reichweite der in Bezug genommenen steuerlichen Normen – in concreto § 3c UStG – nicht zu einem Tatumstandsirrtum führt); BGH, Urt. v. 16.12.2009 – 1 StR 491/09, HFR 2010, 866 (zu bedingtem Tatvorsatz bezüglich Einbindung in USt-Karussell); BGH, Urt. v. 17.12.2014 – 1 StR 324/14, wistra 2015, 151 (zu „zumindest“ leichtfertiger Steuerverkürzung bei Einbindung in USt-Karussell).
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Analogieverbots des Art. 103 Abs. 2 GG liege insoweit nicht vor, als § 370 AO durch die steuerrechtlichen Befreiungsvorschriften ausgefüllt werde. Auch die Auslegung und Anwendung der ausfüllenden steuerrechtlichen Vorschriften sei am Maßstab des Bestimmtheitsgebots des Art. 103 Abs. 2 GG zu messen. Die vom BGH10 vorgenommene Auslegung des § 6a UStG, wonach eine Steuerbefreiung für eine innergemeinschaftliche Lieferung zu versagen ist, wenn die Erwerbsbesteuerung im Bestimmungsland gezielt vom Abnehmer umgangen wird, sei mit dem Wortlaut des § 6a Abs. 1 Nr. 3 UStG „noch vereinbar“. Das Bundesverfassungsgericht verweist insoweit darauf, dass diese Auslegung des § 6a UStG durch den BGH der verbindlichen Auslegung der 6. Mehrwertsteuerrichtlinie durch den EuGH in der Rechtssache „R“ entspricht, die ihrerseits nur einer „eingeschränkten verfassungsgerichtlichen Prüfung unterliegt“. 3. Strafrechtliche Konsequenzen – Steuerhinterziehung im Inland und im anderen Mitgliedstaat als Bestimmungsland Bei Zugrundelegung dieser von allen damit befassten höchstrichterlichen Gerichten vertretenen Auffassung macht sich der die wegen Identitätstäuschung über den Erwerber nicht befreite innergemeinschaftliche Lieferung durchführende Steuerpflichtige grundsätzlich bei entsprechender unrichtiger Erklärung hinsichtlich der nicht befreiten Lieferung im Herkunftsland Deutschland der Umsatzsteuerhinterziehung nach § 370 AO schuldig. Zugleich liegt allerdings auch eine weitere Hinterziehung hinsichtlich der im Bestimmungsland aus dem Erwerb geschuldeten Umsatzsteuer vor. Insoweit liegt nach deutschem Recht jedenfalls eine Beihilfe des Lieferanten zur Steuerhinterziehung durch den Erwerber vor. Unter der realistischen Annahme, dass im anderen Mitgliedstaat vergleichbare Bestimmungen wie § 370 AO, § 27 StGB bestehen, droht dem Hinterzieher auch dort jedenfalls eine Strafe wegen Beihilfe zur Hinterziehung. Auch wenn der Hinterzieher einen „Besuch“ im Bestimmungsland vermeidet und sich darauf verlässt, dass keine Auslieferung – etwa aufgrund eines europäischen Haftbefehls – erfolgen wird, wird er der Strafe wegen Beihilfe zur Hinterziehung der Umsatzsteuer des Bestimmungslandes nicht entgehen. Denn nach § 370 Abs. 6 Satz 2 AO ist auch derjenige als Täter oder Gehilfe einer Steuerhinterziehung zu bestrafen, der von einem anderen Mitgliedstaat der Union verwaltete Umsatzsteuer hinterzieht, d.h. darüber unrichtige/unvollständige Angaben macht und dadurch eine Verkürzung bewirkt, oder der dabei Hilfe leistet. Das alles
10 BGH, Urt. v. 20.11.2008 – 1 StR 354/08, BGHSt 53, 55.
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gilt jedenfalls seit dem 14.12.2011.11 Auf eine in einer Rechtsverordnung verbürgte Gegenseitigkeit der Verfolgung von Umsatzsteuerhinterziehungen kommt es bei von Mitgliedstaaten der Union verwalteter USt nicht mehr an. 4. Steuerliche Konsequenzen – Steuerschuldner und Haftender Der Hinterzieher schuldet zunächst einmal die deutsche Umsatzsteuer aus der mangels Befreiung steuerpflichtigen innergemeinschaftlich grenzüberschreitenden Warenlieferung. Nach § 235 AO ist die hinterzogene Steuer von ihm als Steuerschuldner auch zu verzinsen. Der mit ihm kollusiv zusammenwirkende wahre Erwerber im anderen Mitgliedstaat haftet als Gehilfe nach § 71 AO für die deutsche Steuer. Die hinterzogene Umsatzsteuer des Bestimmungslandes aus dem Erwerb schuldet der wahre Erwerber dem dortigen Fiskus. Folgt man der Rechtsprechung des EuGH, kann er diese auch nicht als Vorsteuer abziehen, bzw. ihre Erstattung verlangen.12 Der dem Erwerber für dessen Hinterziehung Hilfe leistende Lieferer haftet allerdings für die hinterzogene Steuer des Mitgliedstaats des Erwerbs bei Vorhandensein einer dem § 71 AO entsprechenden Haftungsnorm im Bestimmungsland. Für die Durchsetzung des Haftungsanspruchs haben die deutschen Behörden dann gemäß § 117 Abs. 2 AO i.V. mit dem EU-Beitreibungsgesetz Amtshilfe zu leisten.13 Konsequenterweise muss er aber auch schon nach § 71 AO unmittelbar haften. Denn § 71 AO verweist uneingeschränkt auf eine Steuerhinterziehung nach § 370 AO einschließlich der in § 376 Abs. 6 AO geregelten Hinterziehung von Umsatzsteuer, die durch einen anderen Mitgliedstaat der Union verwaltet wird. Diese Haftung entfällt freilich, wenn und soweit die hinterzogene Steuer des Bestimmungslandes vom Erwerber als dem Schuldner beglichen wird. Fraglich kann erscheinen, ob die Steuerschuld für die hinterzogene deutsche Umsatzsteuer aus der Lieferung nachträglich entfällt, wenn nachgewiesen wird, dass der Erwerb im Bestimmungsland tatsächlich besteuert worden ist, nachdem die Identitätstäuschung aufgedeckt wurde.14 Das deutsche UStG enthält insoweit freilich auch nicht den Hauch eines Hin11 Änderungen des § 370 Abs. 6 Satz 2 AO durch BeitrRLUmsG v. 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2592, anzuwenden ab 14.12.2011. 12 EuGH, Urt. v. 18.12.2014 – C-131/13 – Italmoda, UR 2015, 106. 13 EU-Beitreibungsgesetz v. 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2592; s. dazu auch BMF v. 23.1.2014 – IV B 6 - S 1320/07/10011: 011 – DOK 2014/0021808, BStBl. I 2014, 188. 14 So GRÜNWALD, MwStR 2013,13 f.
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weises, ebenso wenig die MwStSystRL. Es findet sich gerade keine solche dem § 3d Satz 2 UStG, Art. 41 MwStSystRL entsprechende Regelung. Für eine solche Lösung könnte freilich sprechen, dass es gerade das Ziel der Regelungen zur Behandlung des innergemeinschaftlichen Warenverkehrs ist, eine klare Abgrenzung der Steuerhoheit der Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Durch Befreiung der innergemeinschaftlichen Lieferung und Besteuerung des Erwerbs sollen die Steuereinnahmen auf den Mitgliedstaat verlagert werden, in dem der Endverbrauch erfolgt,15 während im Herkunftsland keine Steuereinnahmen anfallen sollen. Hinweis: Siehe aber unter V. Nachtrag zur nach dem Vortrag ergangenen einschlägigen Rechtsprechung des EuGH 5. Erforderliche Neubesinnung hinsichtlich der Befreiung Die hinsichtlich der Versagung der Befreiung wegen Täuschung über die Identität des Erwerbers übereinstimmend gewonnenen Ergebnisse der nationalen und unionalen Rechtsprechung vermögen weder für die steuerrechtliche Behandlung zu überzeugen, noch hinsichtlich der steuerstrafrechtlichen Seite. 5.1 Keine Zuständigkeit des EuGH für die Auslegung des deutschen UStG und zur Statuierung einer Strafnorm im Sinne des § 370 AO Dass eine grenzüberschreitende Lieferung innerhalb der Union von Rechts wegen zu einer doppelten Besteuerung sowohl im Herkunftsmitgliedstaat als auch im Bestimmungslandmitgliedstaat führt, spricht einer klaren Abgrenzung der Steuerhoheiten der Mitgliedstaaten durch die Regelungen der Mehrwertsteuerrichtlinien der Union Hohn. Es widerspricht auch dem Regelungsziel der Mehrwertsteuer, nur den Endverbraucher mit der Steuer des jeweiligen Bestimmungslandes zu belasten. Mit der (doppelten) Belastung der USt des Ursprunglandes wird auch gar nicht der Endverbraucher im Bestimmungsland belastet, sondern nur der Unternehmer als krimineller Beteiligter der Hinterziehung. Insoweit liegt auch keine Umsatzbesteuerung mehr vor, sondern die Auferlegung einer Strafe, zumindest einer strafähnlichen Sanktion. Das scheint in der Tat dem EuGH vorzuschweben, wenn er der Versagung der Befreiung
15 So zutreffend auch noch EuGH, Urt. v. 7.12.2010 – C-285/09 – R, EuGHE 2011, I-12605 = BStBl. II 2011, 846 = UR 2011, 15 mwN; vgl. aber nunmehr EuGH, Urt. v. 18.12.2014 – C-131/13 – Italmoda, UR 2015, 106 (Versagung der Befreiung und des Vorsteuerabzugs hat nicht den Charakter einer Strafe [Rz. 61]; Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug und der Befreiung bei Hinterziehung bedarf keiner nationalen gesetzlichen Grundlage).
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eine normalerweise dem Strafrecht zukommende abschreckende, wohl generalpräventive Wirkung zumisst. Ob die Richtlinie, wie der EuGH meint, zulässt, dass der Gesetzgeber des Mitgliedstaats die Auferlegung einer eigenen Umsatzsteuerlast als abschreckende Strafmaßnahme für Hinterzieher und Teilnehmer von Hinterziehungen der Umsatzsteuer anderer Mitgliedstaaten vorsieht, mag hier dahinstehen. Jedenfalls kann der Richtliniengeber dem Gesetzgeber der Mitgliedstaaten nicht vorschreiben, abschreckende Sanktionen in Gestalt der Auferlegung von Mehrwertsteuerzahlungen aufzuerlegen. Der EuGH hatte dies in der Rs. „R“ auch nicht ausdrücklich verlangt, sondern auf die Vorlage des BGH hin nur festgestellt, dass die Richtlinie einer Versagung der Befreiung durch den Mitgliedstaat nicht entgegensteht. Ob der nach dem innerstaatlichen Verfassungsrecht der Bundesrepublik zuständige Gesetzgeber davon im UStG Gebrauch gemacht hat oder nicht, hat der EuGH nicht festgestellt. Dies liegt auch nicht in seiner Zuständigkeit. Die Auslegung des UStG einschließlich der Befreiungsvorschrift des § 4 Nr. 1 Buchst. b und des § 6a UStG ist Angelegenheit der deutschen Gerichtsbarkeit, hier namentlich der durch den BFH und den BGH im Rahmen des § 370 AO ausgeübten Fachgerichtsbarkeit. Soweit der BGH sich für die Auslegung des § 370 AO i.V. mit dem ausfüllenden § 6a UStG auf die Rechtsprechung des EuGH beruft, kann damit allein dargetan werden, dass die vom BGH dem § 6a UStG zugrunde gelegte Auslegung hinsichtlich der Versagung der Befreiung bei Verschleierung der Identität durch kollusives Zusammenwirken mit dem Erwerber von der Richtlinie zugelassen wird. Dass § 6a UStG so auszulegen ist, lässt sich aus der Rechtsprechung des EuGH gerade nicht herleiten. Das gilt ebenso für die entsprechende Auslegung des § 6a UStG durch den BFH. Auch hier gilt, dass mit der Berufung auf die Rechtsprechung des EuGH allein dargetan werden kann, dass die allein vom BFH zu verantwortende Auslegung des § 6a UStG nicht den bindenden Vorgaben der Richtlinie für die Ausgestaltung der Befreiung innergemeinschaftlicher Lieferungen widerspricht. Nicht aber ist damit dargetan, dass § 6a UStG tatsächlich dahingehend ausgelegt werden kann und muss, dass die Befreiung zwingend zu versagen ist, wenn über die Identität getäuscht wird.16
16 Anders aber nunmehr ausdrücklich EuGH, Urt. v. 18.12.2014 – C-131/13 – Italmoda, UR 2015, 106 (s. Fn. 15 und unten V. Nachtrag).
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5.2 Hilfe bei der Durchsetzung der Besteuerung im Bestimmungsland statt Steuerpflicht Steht fest, dass der Liefergegenstand an einen der Erwerbsbesteuerung im Bestimmungsland unterliegenden Erwerber geliefert wurde, ist die steuerlich allein angemessene Folge, dass dem Bestimmungsland auch das Umsatzsteueraufkommen insoweit zugewiesen wird. Dafür zu sorgen, ist primär die Aufgabe des Bestimmungslandes selbst. In der Union haben freilich die anderen Mitgliedstaaten die Pflicht, gegebenenfalls die Durchsetzung der Steueransprüche des Bestimmungslandes durch Rechts- und Amtshilfe zu unterstützen. Das trifft insbesondere auch dann zu, wenn von ihrem Territorium aus und möglicherweise sogar durch ihre Staatsangehörigen zu das Steueraufkommen des Bestimmungslandes verkürzenden Steuerhinterziehungen Hilfe geleistet wird. Hinsichtlich des notwendigen Informationsaustauschs sieht die Verordnung (EU) 904/2010 über Zusammenarbeit und Betrugsbekämpfung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer solche Unterstützung auch ausdrücklich vor. § 370 Abs. 6 AO gewährt darüber hinausgehend dem Umsatzsteueraufkommen des Bestimmungslandes nunmehr sogar strafrechtlichen Schutz. Vor diesem Hintergrund ist der erforderliche Schutz gegenüber gegen das Steueraufkommen des Bestimmungslandes gerichteten Hinterziehungshandlungen nicht dadurch zu gewährleisten, dass den Teilnehmern an der Hinterziehung eine nicht dem Bestimmungsland zugute kommende Strafsteuer auferlegt wird. Vielmehr ist dafür zu sorgen, dass das Bestimmungsland soweit als möglich das ihm zustehende Steueraufkommen erhält. Dies kann und sollte dadurch erfolgen, dass der Lieferer wegen seiner Teilnahme an der Hinterziehung als Haftungsschuldner für die Steuerschuld des Erwerbers herangezogen wird. Soweit dies durch die Steuerbehörden des Bestimmungslandes erfolgt, ist diesen Amts- und Vollstreckungshilfe nach dem EU-Beitreibungsgesetz zu leisten. Im Übrigen ist aber auch § 71 AO i.V. mit § 370 AO unmittelbar durch die deutschen Behörden anzuwenden. Die Inanspruchnahme als Haftungsschuldner wegen Teilnahme an der Hinterziehung im Bestimmungsland kann auch nicht dadurch vereitelt werden, dass wegen der Verschleierung der wahre Erwerber nicht ermittelt werden kann. Steht gleichwohl fest, dass im Bestimmungsland ein Erwerb zu besteuern gewesen wäre, bei welchem Erwerber auch immer, ist die Inanspruchnahme des Lieferers als Teilnehmer einer Hinterziehungshandlung zulässig und geboten.
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Steht wegen der Verschleierungsmaßnahmen hingegen nicht fest, dass im Bestimmungsland überhaupt eine Erwerbsbesteuerung hätte stattfinden müssen, kommt freilich keine Haftung wegen Teilnahme in Betracht. Dann allerdings steht aber auch nicht fest, dass die objektiven Voraussetzungen für eine steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung gemäß § 6a UStG vorliegen. Es fehlt dann jedenfalls am Nachweis, dass der Erwerb beim Abnehmer im Bestimmungsland der Umsatzbesteuerung unterliegt. Insoweit trifft den Lieferer richtigerweise zumindest grundsätzlich die Feststellungslast für das Vorliegen dieser Voraussetzung für eine Befreiung als innergemeinschaftliche Lieferung.17 Aber selbst wenn man dies für zweifelhaft hält, gehen etwaige Zweifel jedenfalls dann zu Lasten des Lieferers, wenn dieser durch seine Verschleierungsmaßnahme gerade verhindert hat, dass der wahre Abnehmer festgestellt werden kann. 5.3 Strafrechtliche Sanktionierung Die vom BFH und in seinem Gefolge vom BGH vertretene Auffassung, dass die Hilfeleistung des Lieferers im Herkunftsland Deutschland zur Steuerhinterziehung des Abnehmers im Bestimmungsland zur Folge hat, dass die grenzüberschreitende Lieferung im Herkunftsland nicht befreit ist, ist auch nicht deshalb geboten, um das strafwürdige Verhalten des Lieferers auch strafrechtlich sanktionieren zu können. Das strafwürdige Verhalten besteht in der Teilnahme als Mittäter oder Gehilfe an der Umsatzsteuerhinterziehung im Bestimmungsland. Diese Tat ist strafrechtlich zu ahnden, entweder von den Strafgerichten des Bestimmungslandes oder auch gemäß § 370 Abs. 6 Satz 2 AO von den deutschen Strafgerichten. Die insoweit früher bestehende Verfolgungslücke für in Deutschland begangene Mitwirkungshandlungen an Steuerhinterziehung zu Lasten des Bestimmungslandes besteht seit 2012 nicht mehr. Es besteht auch von daher kein Anlass mehr, anstelle der gebotenen Strafe wegen Hinterziehung der Steuer des Bestimmungslandes eine Strafe wegen Hinterziehung deutscher Umsatzsteuer zu verhängen. Es droht auch keine Straflosigkeit, wenn wegen der kollusiven Verschleierungsmaßnahmen des Lieferers und seines Abnehmers nicht feststellbar ist, ob die Voraussetzungen für eine steuerbefreite innergemeinschaftliche Lieferung gegeben sind. Denn wenn eine solche erklärt wurde, die Voraussetzungen dafür aber nicht vorlagen, wurde deutsche Umsatzsteuer hinterzogen. Lagen die Voraussetzungen hingegen vor, erfolgte eine Hinterziehung der Umsatzsteuer des Bestimmungslandes. 17 Siehe auch EuGH, Urt. v. 6.12.2012 – C-285/11 – Bonik, UR 2013, 195; EuGH, Urt. v. 6.9.2012 – C-273/11 – Mecsek-Gabona, UR 2012, 796.
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Für eine strafrechtliche Verurteilung gilt zwar unbestritten der Grundsatz des in dubio pro reo. Vermeintlich käme eine Verurteilung dann nicht in Frage, weil weder zweifelsfrei von Hinterziehung deutscher Umsatzsteuer noch von Hinterziehung der Umsatzsteuer des Bestimmungslandes ausgegangen werden könnte. Wenn aber feststeht, dass entweder die eine oder die andere Steuer hinterzogen wurde, ist eine Verurteilung aufgrund einer Wahlfeststellung geboten und zulässig.18 Zweifelsfrei sind Umsatzsteuerhinterziehungen deutscher Steuer und der Umsatzsteuer eines Mitgliedstaats der Union rechtsethisch und psychologisch vergleichbar. Ihnen kommt auch derselbe Unrechtsgehalt zu. Dass diese Wertung auch vom Gesetzgeber so vorgenommen wird, ergibt sich zweifelsfrei aus der Regelung des § 370 Abs. 6 Satz 2 AO. Es droht daher keine Strafbarkeitslücke für ein strafwürdiges Verhalten. Es bedarf daher auch nicht der erkennbar problematischen Bestrafung wegen Hinterziehung von Umsatzsteuer des Mitgliedstaats Deutschland, weil an der Hinterziehung der Umsatzsteuer eines anderen Mitgliedstaats mitgewirkt wurde. 5.4 Rechtsprechungsänderung geboten Der BFH und ihm folgend die Strafsenate des BGH sollten daher § 6a UStG nicht mehr dahingehend auslegen, dass eine Befreiung als innergemeinschaftliche Lieferung zu versagen ist, wenn der Lieferer die Identität des Erwerbers verschleiert, um eine Hinterziehung der Umsatzsteuer im Bestimmungsland zu ermöglichen. Soweit objektiv feststeht, dass der Liefergegenstand in das Bestimmungsland befördert oder versendet wurde und dort beim Abnehmer der Umsatzbesteuerung von Rechts wegen unterliegt, ist die Befreiung zu gewähren. Weder die Rechtsprechung des EuGH noch die des BVerfG hindern den BFH an einer entsprechenden Änderung. Die Begründung für einen solchen Wechsel ließe sich auch daraus herleiten, dass sowohl durch die Zusammenarbeitsverordnung (EU) 2004/910 als auch durch die strafrechtliche Sanktionierung in § 370 Abs. 6 AO jedenfalls ab 2012 sichergestellt ist, dass der Mitgliedstaat Deutschland dafür sorgt, dass der befreite Umsatz nicht jeglicher Besteuerung entgeht, sondern im Gegenteil in dem Staat der Besteuerung unterworfen wird, dem nach der Abgrenzung der Steuerhoheiten das Steueraufkommen zusteht. 18 Vgl. zur Zulässigkeit von Wahlfeststellungen BGH, Urt. v. 5.3.2013 – 1 StR 613/12, wistra 2013, 270 (zu Betrug, § 263 StGB, und Computerbetrag, § 263a StGB) mit weiteren Nachweisen. Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG s. BGH, Urt. v. 24.6.2014 – 1 ARs 14/14, NStZ-RR 2014, 42; BGH, Urt. v. 16.7.2014 – 5 ARs 39/14, NStZ-RR 2014, 307; BGH, Beschl. v. 28.1.2014 – 2 StR 495/12, wistra 2014, 345.
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IV. Versagung des Vorsteuerabzugs im „Umsatzsteuerkarussell“ 1. Haftungsvorschrift des § 25d UStG ohne Anwendungsbereich Mit der Haftungsvorschrift des § 25d UStG für nicht abgeführte Steuer sollte insbesondere dem „Umsatzsteuerbetrug“ im Zusammenhang mit grenzüberschreitenden „Umsatzsteuerkarussellen“ entgegengetreten werden. Statuiert wurde eine Haftung des Leistungsempfängers für nicht abgeführte Umsatzsteuer seines Lieferanten oder irgendeines Vorlieferanten. Das Schicksal dieser Vorschrift ist bemerkenswert. Im Zusammenhang mit betrügerischen Umsatzsteuerkarussellen ist sie nicht ein einziges Mal angewendet worden, obwohl solche Karusselle auch grenzüberschreitend in der Bundesrepublik tätig geworden sind und wohl auch noch werden. Das beruht erkennbar darauf, dass nach der Rechtsprechung des EuGH und der ihm folgenden Rechtsprechung des BFH sich schon unmittelbar aus der MwStSystRL und dieser folgend dem UStG ergeben soll, dass dem in ein „betrügerisches Umsatzsteuerkarussel“ eingebundenen Leistungsempfänger aus den an ihn erbrachten Leistungen kein Vorsteuerabzug zusteht, wenn er wusste oder hätte wissen können, dass er in ein solches Karussell eingebunden ist.19 Offenbar in purer Verzweiflung hat die Finanzverwaltung dem § 25d UStG einen Anwendungsbereich dadurch sichern wollen, dass sie ihn anwenden wollte bei einem Leistungsempfänger, der im Insolvenzeröffnungsverfahren vom späteren Insolvenzschuldner noch beliefert wurde. Zu Recht ist die Rechtsprechung hier dem Versuch entgegengetreten, das höchst fragwürdige Ergebnis der Nichtentrichtung von Umsatzsteuer aus mit Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters getätigten Geschäften zu Lasten des redlichen Geschäftspartners zu korrigieren.20 Für die Teilnehmer echter Umsatzsteuerkarusselle wird § 25d UStG praktisch nicht angewendet. Insoweit wird den Leistungsempfängern im Karussell von vornherein der Vorsteuerabzug versagt. Den Problemen, die die Anwendung des § 25d UStG im Hinblick auf den subjektiven Tatbestand aufwirft, nämlich Kenntnis von Nichtentrichtung der Steuer durch einen Vorlieferanten oder zumindest fahrlässige Unkenntnis, entgeht man dadurch freilich nicht.
19 Siehe auch BFH, Beschl. v. 12.9.2014 – VII B 99/13, BFH/NV 2015, 161 (Haftungsinanspruchnahme nach § 71 AO bei Einbindung in ein Umsatzsteuerkarussell nicht wegen möglicher Inanspruchnahme nach § 25d UStG unzulässig). 20 Vgl. BFH, Urt. v. 28.2.2008 – V R 44/06, BStBl. II 2008, 586 = UR 2008, 471 mit Anm. LOHSE.
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2. Versagung des Vorsteuerabzugs bei missbräuchlicher Geltendmachung Nach der Rechtsprechung des EuGH haben die nationalen Behörden und Gerichte den Vorsteuerabzug zu versagen, wenn aufgrund der objektiven Sachlage feststeht, dass dieses Recht missbräuchlich geltend gemacht wird.21 Der BFH22 und der BGH23 folgen dem uneingeschränkt. Die erste Entscheidung, in der expressis verbis entschieden wurde, dass der Vorsteuerabzug zu versagen ist, wenn der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit seinem Erwerb an einem Umsatz beteiligt, der in eine Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen ist, erging in einem grenzüberschreitenden Umsatzsteuerkarussellfall.24 Die Begründung, dass der Steuerpflichtige sich insoweit der Hinterziehung mitschuldig mache, lässt erkennen, dass es dabei nicht darauf ankommt, dass im Sinne des § 27 StGB vorsätzlich Hilfe zur vorsätzlichen Hinterziehung nach § 370 AO geleistet werden muss. Hinsichtlich der subjektiven Kenntnis besteht im Ergebnis kein Unterschied gegenüber der Haftungsnorm des § 25d UStG. Dort freilich wird darauf abgestellt, dass der leistungsempfangende Unternehmer von der absichtlichen Nichtzahlung Kenntnis hatte oder hätte haben können, während hier darauf abgestellt wird, ob der Steuerpflichtige hätte wissen müssen, dass er mit seinem Erwerb in eine auf Mehrwertsteuerhinterziehung gerichtete Kette von Umsätzen einbezogen worden ist. Im Ergebnis dürfte hinsichtlich der subjektiven Voraussetzungen für die unmittelbare Versagung des Vorsteuerabzugs wegen Einbeziehung in ein Umsatzsteuerkarussel und der Voraussetzungen für eine Haftungsinanspruchnahme nach § 25d UStG kein Unterschied bestehen. Und in der Tat hat der EuGH eine dem § 25d UStG vergleichbare Haftungsnorm
21 EuGH, Urt. v. 18.12.2014 – C-131/13 – Italmoda, UR 2015, 106; EuGH, Urt. v. 13.2.2014 – C-18/13 – MaksPen, UR 2014, 861 mit Anm. GRUBE, MwStR 2014, 201; EuGH, Urt. v. 18.7.2013 – C-78/12 – Evita K., UR 2014, 475; EuGH, Urt. v. 31.1.2013 – C-643/11 – LVK, UR 2013, 346; EuGH v. 31.1.2013 – C-642/11 – Stroy Trans, UR 2013, 375; EuGH, Urt. v. 21.6.2012 – C-80/11 und C-142/11 – Mahagében und Davíd, UR 2012, 591. 22 BFH, Urt. v. 19.5.2010 – XI R 78/07, UR 2010, 952; BFH, Urt. v. 19.4.2007 – V R 48/04, BStBl. II 2009, 315. 23 BGH, Urt. v. 19.11.2014 – 1 StR 219/14, wistra 2015, 147; BGH, Urt. v. 5.2.2014 – 1 StR 422/13, MwStR 2014, 278; BGH, Urt. v. 11.10.2013 – 1 StR 312/13, NStZ 2014, 331; BGH, Urt. v. 7.10.2014 – 1 StR 182/14, wistra 2015, 188; BGH, Urt. v. 8.2.2011 – 1 StR 24/10, wistra 2011, 264. 24 EuGH, Urt. v. 6.7.2006 – C-439, 440/04 – Kittel und Recolta, EuGHE 2006, I-6161 = UR 2006, 594.
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des Vereinigten Königreichs nicht als richtlinienwidrig beanstandet.25 Nicht anders als für die Versagung des Vorsteuerabzugs darf danach eine Haftungsnorm allerdings nicht verschuldensunabhängig ausgestaltet sein. Wie auch für die Versagung des Vorsteuerabzugs darf eine Haftungsinanspruchnahme für die Nichtentrichtung der Steuer durch den missing trader für den „gutgläubigen“ Steuerpflichtigen deshalb nicht erfolgen, wenn er nicht wissen konnte, dass er mit seinen Eingangs- und Ausgangsumsätzen in ein auf „Mehrwertsteuerbetrug“ angelegtes Umsatzsteuerkarussell einbezogen wurde. 3. Guter Glaube und Feststellungslast bei Einbeziehung in ein Karussell Hinsichtlich der Frage, ob der Vorsteuerabzug in concreto zu versagen ist, weil der Steuerpflichtige mit seinen Eingangs- und Ausgangsumsätzen in ein auf Hinterziehung angelegtes Umsatzsteuerkarussell einbezogen wurde, erscheint die unionsrechtlich vorgegebene Rechtslage inzwischen hinreichend geklärt. Das gilt jedenfalls, soweit dem Steuerpflichtigen der Vorsteuerabzug allein wegen der Einbeziehung seiner Umsätze in ein betrügerisches Umsatzsteuerkarussell zu versagen ist. Hier ist der Vorsteuerabzug nach der o.a. Rechtsprechung des EuGH zwingend zu versagen, wenn feststeht, dass ein auf Hinterziehung angelegtes Umsatzsteuerkarussell besteht und dass der Steuerpflichtige dies hätte wissen können oder wissen müssen. Die dafür notwendigen Sachverhaltsfeststellungen haben die nationalen Behörden und Gerichte zu treffen. Die Feststellungslast liegt insoweit bei den Finanzbehörden.26 Soweit es auf die Kenntnis oder das Kennenmüssen des Steuerpflichtigen von der Einbindung seiner Eingangs- und Ausgangsumsätze in eine Hinterziehung ankommt, kann jedenfalls nicht verlangt werden, dass der Steuerpflichtige sich durch ihm rechtlich gar nicht mögliche Überprüfungen bei seinen Vorlieferanten davon überzeugt, dass diese ihren steuerlichen Erklärungs- und Zahlungspflichten nachgekommen sind.27 25 EuGH, Urt. v. 11.5.2006 – C-384/04 – Federation of Technological Industries, EuGHE 2006, I-4191 = UR 2006, 594. 26 EuGH, Urt. v. 13.3.2014 – C-107/13 – FIRIN, UR 2014, 705; EuGH, Urt. v. 13.2.2014 – C-18/13 – Maks Pen, UR 2014, 861; EuGH, Urt. v. 6.12.2012 – C - 285/11 – Bonik, UR 2013, 195. 27 (EuGH, Beschl. v. 6.2.2014 – C-33/13 – Jagiello, ABl. EU 2014 Nr. C 175, 16; EuGH, Beschl. v. 28.2.2013 – C-563/11 – Forvard V, ABl. EU 2014 Nr. C 129, 3; EuGH, Urt. v. 21.6.2012 – C-80/11 und 142/11 – Mahagében und David, UR 2012, 591; EuGH, Urt. v. 31.1.2013 – C-642/11 – stroy trans, UR 2013, 375.
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Dem ist uneingeschränkt zu folgen. In der Tat kann die Feststellungslast für das Vorliegen eines den Vorsteuerabzug ausschließenden Missbrauchs durch Teilnahme oder zumindest fahrlässige Ermöglichung einer Hinterziehung nur den Fiskus treffen. Denn hinsichtlich der sonstigen Tatbestandsvoraussetzungen steht ja fest, dass sie vorliegen. Davon zu unterscheiden ist jedoch, wen die Feststellungslast für das positive Vorliegen der Voraussetzungen für einen Vorsteuerabzug nach § 15 UStG und nach Art. 167, 168, 178 MwStSystRL trifft. Hier ist im Ausgangspunkt zunächst einmal festzuhalten, dass das Vorsteuerabzugsrecht nur besteht und ausgeübt werden kann, wenn a) der Unternehmer tatsächlich b) eine Lieferung/Leistung von c) einem anderen Unternehmer erhält, die er d) zur Ausführung von eigenen Umsätzen verwendet und wenn ihm darüber eine Rechnung mit den erforderlichen Angaben vorliegt. Die insoweit nicht sehr präzise differenzierende Rechtsprechung des EuGH hat inzwischen Zweifel aufkommen lassen, wie die Feststellunglast hier zu verteilen ist. Richtigerweise sollte zwischen unterschiedlichen Konstellationen unterschieden werden: Für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 UStG, Art. 168 MwStSystRL – tatsächlich erhaltene Leistung eines anderen Unternehmers für das eigene Unternehmen – trifft den leistungsempfangenden Unternehmer uneingeschränkt die Feststellungslast.28 Ebenso dafür, dass er eine Rechnung mit den notwendigen inhaltlichen Angaben vom Leistenden oder auf dessen Veranlassung erhalten hat.29 Mit dem EuGH lässt sich allerdings gut vertreten, dass dem Abnehmer bei von ihm nicht erkennbarer Täuschung über Namen und Anschrift des tatsächlich leistenden Unternehmers der Vorsteuerabzug nicht zu versagen ist. Problematisch erscheint hier, wen dafür die Feststellungslast treffen soll, dass eine solche Täuschung nicht erkennbar war. Richtigerweise sollte es auch hier dabei bleiben, dass die Feststellungslast beim leistungsempfangenden Unternehmer liegt. Es handelt sich um seinen Vertragspartner, den er normalerweise kennen sollte. Es geht dabei nicht darum, dass ihm der Vorsteuerabzug trotz Vorliegens aller erforderlichen Tatbestandsmerkmale für den Vorsteuerabzug wegen miss28 So auch EuGH, Urt. v. 6.12.2012 – C-285/11 – Bonik, UR 2013, 195; EuGH, Urt. v. 6.9.2012 – C-324/11 – Toth, UR 2012, 851. 29 EuGH, Urt. v. 8.5.2013 – C-271/12 – Petroma transports, UR 2013, 591.
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bräuchlicher Ermöglichung einer Steuerhinterziehung versagt werden soll. Es geht vielmehr darum, dass eine Tatbestandsvoraussetzung für den Vorsteuerabzug – nämlich die Angabe von Namen und Anschrift des leistenden Unternehmers – nicht erfüllt ist. Das freilich liegt nicht schon dann vor, wenn Lieferungen tatsächlich erbracht werden, aber beim Liefernden weder ein Eingang noch ein Ausgang buchmäßig erfasst worden ist. Die Vielzahl an Vorlagen, mit denen der EuGH in diesem Zusammenhang beschäftigt worden ist, hätten sich möglicherweise vermeiden lassen, wenn auch der EuGH vielleicht etwa schärfer differenzieren würde zwischen einer Versagung des Vorsteuerabzugs wegen a) missbräuchlicher Geltendmachung des Vorsteuerabzugs wegen Kenntnis oder Kennenmüssens der Einbindung in einen „Umsatzsteuerbetrug“, b) einer Versagung wegen Nichtvorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen nach § 15 UStG und c) der Gewährung des Vorsteuerabzugs trotz Nichtvorliegens seiner gesetzlichen Voraussetzungen wegen Vertrauensschutzes aufgrund guten Glaubens. 4. Haftung statt Vorsteuerabzugsversagung Nicht anders als die Versagung der Steuerbefreiung für innergemeinschaftlicher Lieferungen bei Beteiligung an einer Hinterziehung der Umsatzsteuer im Bestimmungsland durch Täuschung über die Identität des Erwerbers ist die Versagung des Vorsteuerabzugs bei Einbindung des Leistungsempfängers in betrügerische Umsatzsteuerkarusselle fragwürdig. Sofern tatsächlich Lieferungen im Karussell erfolgen und nicht nur Rechnungen mit unberechtigtem Steuerausweis erteilt werden, führt die isolierte Versagung des Vorsteuerabzugs bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Besteuerung für die Ausgangsumsätze zu einer reinen Strafbesteuerung. Diese kann und wird häufig die Umsatzsteuerverkürzung bei weitem übersteigen, die durch den „missing trader“ im Zusammenwirken mit den übrigen Karussellmitgliedern bewirkt wurde.30 Denn eine Haftung nach § 71 AO und auch nach § 25d UStG erfolgt nur bis zur Höhe der nach § 370 AO hinterzogenen Steuer, respektive der im Sinne des § 25d UStG absichtlich nicht entrichteten Steuer des „missing traders“. Bei einer Haftung mehrerer, wie sie namentlich bei einem auf Hinterziehung ausgerichteten Umsatzsteuerkarussell eintreten müsste, wären die Haftenden zwar gesamtschuldnerisch heranzuziehen. Gleich30 So auch zutreffend HUMMEL, UR 2014, 256.
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wohl träfe sie die Haftung im Ergebnis gegebenenfalls nur anteilig, wenn und soweit entsprechende Ausgleichsansprüche gegen die übrigen Beteiligten realisiert werden können. Das alles spielt keine Rolle, wenn – wie oben unter 2. bereits ausgeführt – entsprechend der übereinstimmenden Auffassung der Rechtsprechung des EuGH,31 des BFH32 und der Auffassung von Verwaltung33 und Wissenschaft34 dem bösgläubigen Teilnehmer im Umsatzsteuerkarussell schlicht nur der Vorsteuerabzug zu versagen ist und dies bei Aufrechterhaltung der Besteuerung der von ihm getätigten Umsätze. Nun muss man mit Steuerhinterziehern nicht besonders viel Mitleid haben. Freilich sieht das Gesetz für den Normalfall schlicht vor, dass eine Steuerhinterziehung durch Bestrafung nach § 370 AO zu ahnden ist. Außerdem hat der Hinterzieher selbstredend, falls er der Steuerschuldner ist, die hinterzogenen Steuer zu entrichten und zu verzinsen. Falls er nicht der Steuerschuldner ist, haftet er gemäß § 71 AO für die verkürzte Steuer.35 Für die Umsatzsteuer besteht wegen der besonderen Gefährdungslage zusätzlich die Haftungsvorschrift des § 25d UStG. Dieser liegt erkennbar die Erwägung zugrunde, dass eine Haftung nach § 71 AO nicht ausreichen könnte, namentlich weil diese Haftung nur bei vorsätzlicher Teilnahme an der vorsätzlichen Hinterziehung eingreift. Auch diese Haftung nach § 25d UStG wird offenbar nicht als ausreichend angesehen. Stattdessen wird schlicht für den vorsätzlich handelnden Bösewicht und den fahrlässig mit Bösewichtern zusammenarbeitenden Steuerpflichtigen der Vorsteuerabzug versagt. Dies auch dann und insoweit, als dadurch ein die verkürzte Umsatzsteuer übersteigendes Aufkommen sich einstellt. Der Sache nach wird ein Steueraufkommen von möglicherweise strafwürdigen, aber zumindest fahrlässig an Straftaten mitwirkenden Unternehmern generiert. Mit einer Besteuerung des Endverbrauchers hat dies nichts zu tun. Die Auferlegung der Steuer durch Versagung des Vorsteuerabzugs dient hier nicht mehr der Siche31 EuGH, Urt. v. 18.12.2014 – C-131/13 – Italmoda, UR 2015, 106 mwN. 32 BFH, Beschl. v. 12.9.2014 – VII B 99/13, BFH/NV 2015, 161; BFH, Urt. v. 22.7.2015 – V R 23/14, UR 2015, 796; BFH, Urt. v. 12.9.2009 – XI R 48/07, UR 2010, 423; BFH, Urt. v. 19.5.2010 – XI R 78/07, UR 2010, 952; BFH, Urt. v. 19.4.2007 – V R 48/04, BStBl. II 2009, 315 mit Anm. GRUBE, JurisPR-SteuerRecht 40/2007 Anm. 5. 33 Abschn. 15.2 Sätze 4–6 UStAE. 34 LIPPROSS, Umsatzsteuer23, 7.1b, S. 937 unter Hinweis auf die EuGH- und BFHRechtsprechung; kritisch REIß, Umsatzsteuerrecht13, Rz. 303, S. 274 sowie WÄGER, UR 2015, 15. 35 BFH, Beschl. v. 12.9.2014 – VII B 99/13, BFH/NV 2015, 161.
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rung des Steueraufkommens aus der Belastung des Endverbrauchs. Sie dient allein der Abschreckung von Missetätern. Das freilich sollte strafrechtlichen Sanktionen oder ordnungsrechtlichen Bußgeldern vorbehalten sein, nicht aber ist es die Funktion der Umsatzbesteuerung. Entgegen dem Neutralitätsgebot wird der missetäterische Unternehmer über eine Schadenswiedergutmachung hinaus mit Umsatzsteuer belastet. Das erscheint denn doch sehr fragwürdig, auch wenn man mit Steuerhinterziehern und daran fahrlässig Mitwirkenden kein Mitleid haben muss. Hier freilich scheint der Zug wohl abgefahren zu sein. Der Rechtsprechung des EUGH muss insoweit entnommen werden, dass er die Richtlinienregelung dahingehend auslegt, dass der Vorsteuerabzug zwingend zu versagen ist, wenn der Unternehmer wusste oder hätte wissen müssen, dass er in ein betrügerisches Karussell eingebunden wurde. Vielleicht sollte aber doch dem EuGH anhand eines geeigneten Falls noch einmal Gelegenheit gegeben werden, darüber nachzudenken, ob es richtig sein kann, aus Gründen der Abschreckung für Steuerverkürzer und ihre Helfer neben gebotenen Strafmaßnahmen und Schadenswiedergutmachung zusätzlich steuerliche Sanktionen vorzusehen, die den Verkürzungsschaden weit übersteigen können.
V. Nachtrag Die erst nach dem Vortrag am 25.9.2014 ergangene Entscheidung des EuGH C-131/13 (Italmoda) ist in den hier veröffentlichten Vortragstext nachträglich eingearbeitet worden. Der EuGH legt hier die (Sechste) Richtlinie 77/388/EWG dahin aus, dass die nationalen Behörden und Gerichte im Rahmen einer innergemeinschaftlichen Lieferung die Steuerbefreiung und das Recht auf Vorsteuerabzug zwingend zu versagen haben, falls der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich durch den Umsatz an einer im Rahmen der Lieferkette begangenen Mehrwertsteuerhinterziehung beteiligt. Dies soll von den nationalen Gerichten (und Behörden) auch dann zu beachten sein, wenn das nationale Recht keine Regelung enthält, die eine solche Versagung ausdrücklich vorsieht und auch keine Regeln, die entsprechend richtlinienkonform ausgelegt werden können. Auch wenn zu bezweifeln ist, dass dies eine zutreffende Auslegung der (Sechsten) Richtlinie 77/388/EWG und der an deren Stelle getretenen MwStSystRL 2006/112 durch den EuGH ist, sind alle Organe eines Mitgliedstaats jedoch an diese Auslegung gebunden.
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Dem EuGH kommt jedoch nicht die Kompetenz zu, über die Auslegung des nationalen (Gesetzes)Rechts zu befinden. Schon gar nicht darf er sich als nationaler Gesetzgeber betätigen. Es ist auch wohl anzunehmen, dass der EuGH dies auch in der Entscheidung Italmoda – ungeachtet der sehr weitgehenden Formulierungen bezüglich der Verpflichtung nationaler Gerichte und Behörden – noch ebenso sieht. Soweit der EuGH davon ausgeht, dass die Steuerbefreiung für die innergemeinschaftliche Lieferung und ein dafür in Anspruch genommener Vorsteuerabzug unmittelbar in Anwendung der von ihm angenommenen Richtlinienregelung versagt werden müssen, weil es sich dabei nicht um die Auferlegung von Verpflichtungen handele, sondern lediglich um die Versagung eines von der Richtlinie (nicht) zu gewährenden Vorteils, trifft dies jedenfalls für die in Deutschland bestehende Rechtslage nicht zu. Nach der sich aus dem deutschen Steuergesetz ergebenden Rechtslage steht dem Steuerpflichtigen, der eine innergemeinschaftliche Lieferung gemäß § 4 Nr. 1 Buchst. b i.V. mit § 6a UStG dadurch erbringt, dass der Liefergegenstand in das übrige Gemeinschaftsgebiet an einen dort der Erwerbsbesteuerung unterliegenden Abnehmer befördert oder versendet wird, die Steuerbefreiung zu, wenn die Erfüllung dieser Voraussetzungen objektiv nachgewiesen ist. Nach der sich aus der gesetzlichen Regelung des § 15 UStG ergebenden Rechtslage in Deutschland steht dem Steuerpflichtigen der Vorsteuerabzug zu, wenn er den ihm gelieferten Gegenstand seinerseits zur Ausführung steuerpflichtiger oder steuerfreier innergemeinschaftlicher Lieferungen verwendet. Sowohl die Steuerbefreiung als auch das Vorsteuerabzugsrecht beruhen im Verhältnis zum Steuerpflichtigen als dem dem Gesetz unterworfenen Bürger ausschließlich auf nationalem (Gesetzes) Recht und nicht etwa auf dem Unionsrecht. Es geht daher nicht darum, dass sich der an einer betrügerischen Steuerhinterziehung beteiligte Steuerpflichtige nicht missbräuchlich auf das Unionsrecht berufen dürfe. Vielmehr geht es darum, dass er sich auf das nationale Recht beruft.36 Wenn sich demgegenüber der Mitgliedstaat Deutschland vermittels seiner Gerichte und Behörden darauf berufen dürfte, dass das von ihm selbst gesetzte Gesetzesrecht nicht anzuwenden sei, weil die umzusetzenden Vorschriften des Unionsrechts – welche? – keine missbräuchlichen und betrügerischen Praktiken decken, würde gerade dies die sonst vom EuGH zutreffend verneinte unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinienregelung darstellen und für den Steuerpflichtigen eine Verpflichtung begründen. Dass sollte eigentlich nicht streitig sein, da es um die Verpflichtung geht, entgegen der nationalen Gesetzeslage Steuern zu schulden, weil eine nach nationalem Gesetzesrecht bestehende 36 Siehe auch WÄGER, UR 2015, 81.
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Befreiungsvorschrift nicht angewendet wird und eine nach nationalem Gesetzesrecht bestehende Saldierungsmöglichkeit von geschuldeten Steuern mit Vorsteuern ausgeschlossen wird. Mit dem Gesetzesvorbehalt des Art. 103 Abs. 2 GG für die Bestimmung der Strafbarkeit ist schon gar nicht zu vereinbaren, dass die Strafbarkeit nach deutschem Strafgesetz, hier § 370 AO, sich daraus ergeben soll, dass die nach der Ansicht des EuGH gebotene Richtlinienregelung einer Versagung der Befreiung und des Vorsteuerabzugs an die Stelle der den § 370 AO ausfüllenden nationalen gesetzlichen Regelung gemäß § 4 Nr. 1 Buchst. b, § 15 UStG tritt. Für die deutsche nationale Rechtslage ist im Übrigen – möglicherweise im Unterschied zur Rechtslage in den Niederlanden – zu beachten, dass mit § 71 AO i.V. mit § 370 AO, § 25d UStG spezielle Haftungsvorschriften bestehen, mit denen einem betrügerischen Verhalten im Zusammenhang mit innergemeinschaftlichen Lieferungen ausdrücklich und angemessen entgegengetreten werden kann. Dadurch wird sowohl das inländische als auch das Umsatzsteueraufkommen des anderen Mitgliedstaats hinreichend gegen betrügerische Praktiken geschützt. Ebenfalls besteht seit 2011/2012 gemäß § 370Abs. 6 AO keine strafrechtliche Lücke bezüglich des Schutzes des Umsatzsteueraufkommens auch der anderen Mitgliedstaaten (mehr). Vor diesem Hintergrund sollte dem EuGH unter Darlegung der in Deutschland bestehenden nationalen Gesetzes -und Rechtslage anhand eines geeigneten Sachverhalts die Frage vorgelegt werden, ob das unionale Recht tatsächlich verlangt, dass nationale deutsche Gerichte und Behörden nationales deutsches Gesetzesrecht bezüglich der Steuerbefreiung innergemeinschaftlicher Lieferungen und eines Vorsteuerabzugs nicht anzuwenden haben, obwohl das nationale Recht ausreichend das Umsatzsteueraufkommen auch des jeweils anderen Mitgliedstaats sowohl durch seine steuerlichen Haftungsregelungen als auch generalpräventiv durch das deutsche Steuerstrafrecht schützt. Zu fragen wäre wohl auch, ob das unionale Recht wirklich verlangt, dass die verfassungsrechtliche Regelung des Art. 103 Abs. 2 GG nicht beachtet wird, indem § 370 AO nicht durch das deutsche UStG als gesetzliche „Blankettnorm“ ausgefüllt wird, sondern durch die Richtlinie 2006/112/EG in der Auslegung durch den EuGH und die diesem dann folgenden deutschen Gerichte und Behörden. Die Vorlage wäre allerdings richtigerweise unionsrechtsfreundlich wohl dahingehend zu formulieren, ob nicht eine Regelung, die – wie das deutsche von den Gerichten und Behörden anzuwendende (Gesetzes) Recht – den Schutz des Umsatzsteueraufkommens aller Mitgliedstaaten durch steuerliche Haftungsvorschriften und durch generalpräventiv wirkende Strafnormen gewährleistet, den sich aus der
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Richtlinienregelung in der Auslegung durch den EuGH ergebenden Vorgaben (auch) Genüge tut. Erst wenn der EuGH dies verneinen sollte, würde sich wohl die Frage einer Vorlegung an das BVerfG stellen, ob es sich dabei um einen „ausbrechenden Rechtsakt“ handelt und wie es dann mit der nach dem GG gebotenen Gesetzesunterworfenheit der deutschen Gerichte und Behörden im Hinblick auf das Steuer- und Steuerstrafrecht unter Beachtung des Unionsrechts bestellt ist.
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Reformperspektiven Prof. Dr. ROLAND ISMER Inhaber des Lehrstuhls für Steuerrecht und Öffentliches Recht an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg Inhaltsübersicht I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . 185 II. Typologie der Interdependenzen 1. Unterscheidung entlang der Zeitachse . . . . . . . . . 187 2. Unterscheidung nach Art des Anknüpfungsmerkmals . . . . . . . . . . . . 188 III. Zentrale Probleme . . . . . . . . 189 1. Qualifikationskonflikte . . . . . . . . . . . . . . . . 190 2. Befolgungskosten . . . . . . 191
3. Nachträgliche einseitige Verschiebung der Steuerlast . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 4. Steuerausfälle . . . . . . . . . 191 IV. Mögliche Lösungen 1. Lösungen im Rahmen der bestehenden Gesetze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 2. Rechtspolitische Reformperspektiven . . . . . . 193 V. Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . 197
I. Einleitung Die Umsatzsteuer kennzeichnet sich durch Abhängigkeiten zwischen Steuerpflichtigen. Die steuerliche Behandlung eines Steuerpflichtigen hängt daher nicht nur von der genauen Bestimmung des Leistungsgegenstands ab, sondern auch von den Verhältnissen und dem Verhalten anderer Steuerpflichtiger. Derartige personenübergreifende Verknüpfungen gibt es zwar auch bei anderen Steuerarten, etwa bei den Buchwertverknüpfungen des Ertragsteuerrechts.1 Jedenfalls in ihrem Ausmaß sind sie aber ein besonderes Problem der Umsatzsteuer. Dies liegt darin begründet, dass die Leistung, welche die Zentralkategorie der Umsatzsteuer bildet, personenübergreifend angelegt ist. Der Leistungsaustausch als Grundtatbestand erfordert sowohl einen Leistenden als auch einen identifizierbaren Leistungsempfänger.2
1 S. etwa § 6 Abs. 3 Satz 2 EStG; § 6 Abs. 5 Satz 4 EStG bei Veräußerungen innerhalb der jeweiligen Sperrfrist. 2 Grundlegend hierzu EuGH, Urt. v. 8.3.1988 – Rs. C-102/86 – Apple Pear Development Council, EuGHE 1988, I-01443 – Rz. 11 ff.; EuGH, Urt. v. 3.3.1994 – Rs. C-16/93 – Tolsma, EuGHE 1994, I-00743 – Rz. 12 ff.; EuGH, Urt. v.
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Diese Abhängigkeiten führen zu einem Spannungsverhältnis von grundlegenden Prinzipien des Umsatzsteuerrechts einerseits und konkreter positivrechtlicher Ausgestaltung sowie der Sicherung des Steueraufkommens andererseits: Aus der Natur der Umsatzsteuer als allgemeiner Verbrauchsteuer und dem Neutralitätsgebot ergibt sich eigentlich der Grundsatz, dass aus solchen Abhängigkeiten keinerlei Belastung des Unternehmers resultieren soll.3 Indessen bestehen zahlreiche Durchbrechungen der Allgemeinheit der Umsatzsteuer in Form von diversen Differenzierungen je nach Art des Leistenden und des Umsatzes, insbesondere bei den Steuerbefreiungen und den Steuerermäßigungstatbeständen, aber auch bei der Steuerschuldnerschaft. Zudem bedingt die Ausgestaltung der Umsatzsteuer als Allphasen-Nettosteuer mit sofortigen Vorsteuerabzug, dass es zu Gefährdungen des Steueraufkommens kommen kann. Zur Abwendung dieser Gefährdungen werden dem Unternehmer umfassende administrative, aber auch finanzielle Lasten auferlegt.4 Aus den Abhängigkeiten resultieren vielerlei Gefahren für eine prinzipiengerechte Umsatzbesteuerung: es drohen Verstöße gegen das Neutralitätsprinzip; die Aufbürdung übermäßiger Verwaltungslasten und Risiken auf den Unternehmer, der ja eigentlich nur Steuereinsammler sein soll, sowie ungerechtfertigte Verschiebungen der Steuerlast zwischen den Geschäftspartnern. Im Folgenden soll zunächst eine Typologie der Abhängigkeiten erarbeitet werden (II.); dabei geht es primär um die Entwicklung eines analytischen Instruments zur Charakterisierung der jeweiligen Abhängigkeit. Anschließend werden die Gefahren dieser Abhängigkeiten dargestellt (III.). Auf dieser Grundlage können mögliche Lösungen als Reformperspektiven aufgezeigt werden (IV.). Als mögliche Verbesserungsvorschläge kommen neben der Fortentwicklung und Anpassung der Rechtsprechung zum Vertrauensschutz insbesondere die Anpassung des Verfahrensrechts und
21.3.2002 – Rs. C-174/00 – Kennemer Golf & Country Club, EuGHE 2002, I-03293 = UR 2002, 320 – Rz. 37. 3 S. etwa REIß in Reiß/Kraeusel/Langer, UStG, Einführung Rz. 43 ff. – Stand: Dez. 2007) sowie ENGLISCH in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 17 Rz. 10, 23 ff.; STADIE in Rau/Dürrwächter, UStG, Einführung Rz. 101, 443 ff. – Lfg. 154, April 2013; TERRA/KAJUS, A guide to the European VAT Directives 2014 vol. 1, 2014, S. 84 ff., 300 ff. 4 Neben der zu leistenden Vorsteuerfinanzierung, sind wohl insbesondere Haftungsrisiken wie u.a. Haftung für unrichtigen oder unberechtigten Steuerausweis nach § 14c UStG oder in der umsatzsteuerlichen Organschaft nach § 73 AO zu nennen.
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dort vor allem die Einführung eines neuartigen Ruling-Verfahrens5 in Betracht.
II. Typologie der Interdependenzen Die Abhängigkeiten vom Geschäftspartner erstrecken sich sowohl auf die Ausgangsseite als auch auf die Eingangsseite. Daher soll nachfolgend eine Typologie der Abhängigkeiten entwickelt werden. Einschränkend ist bereits an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass die Abgrenzung nicht immer trennscharf sein kann. Häufig werden die einzelnen Normen zudem kumulativ oder alternativ mehrere der Anknüpfungstatbestände aufweisen. Gleichwohl verspricht eine Typologie einen gewissen heuristischen Nutzen, da sich aus den verschiedenen Typen von Abhängigkeiten auch verschiedene Probleme und damit Lösungsmöglichkeiten identifizieren lassen. 1. Unterscheidung entlang der Zeitachse Eine erste zentrale Unterscheidung hat entlang der Zeitachse zu erfolgen: Häufig bestehen Abhängigkeiten, die an Merkmale anknüpfen, die zum Zeitpunkt der Leistung, des Vorsteuerabzugs oder der ursprünglichen Inanspruchnahme der Steuerbefreiung bereits vorliegen; etwa, ob der Leistungsempfänger Unternehmer ist, ob er die Fortführung des im Ganzen erworbenen Geschäftsbetriebs beabsichtigt oder ob er eine zutreffende Rechnung erteilt hat. Andere Abhängigkeiten hingegen beschränken sich nicht auf diesen Zeitpunkt, sondern fungieren als Dauertatbestand oder greifen zu einem späteren Zeitpunkt. Beispielsweise ist der Vorsteuerabzug nur möglich, wenn der Leistungsempfänger über eine Rechnung verfügt; wird der Weg über eine Gutschrift gewählt, so kann diese nachträglich widerrufen werden.6 Auch der Verzicht auf die Steuerbefreiung nach § 9 UStG entfällt, soweit der Leistungsempfänger das Grundstück vorsteuerschädlich verwendet;7 umgekehrt ist der Widerruf der Option möglich.8 Ebenfalls in diese Rubrik fällt die Berichti-
5 Der englischsprachige Begriff „Ruling-Verfahren“ soll insbesondere die Strukturparallelen zur Praxis des Internationalen Steuerrechts betonen und zugleich Unterschiede zum Institut der verbindlichen Auskunft nach § 89 AO terminologisch herausstellen. Vgl. dazu grundlegend Romano, Advance Tax Rulings and Principles of Law – Towards a European Tax Rulings System? 2002. 6 § 14 Abs. 2 Satz 2, 3 UStG. 7 § 9 Abs. 2 Satz 1 UStG. 8 § 9 Abs. 3 UStG.
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gung nach § 17 UStG bei Uneinbringlichkeit der Forderung im Rahmen der Sollversteuerung.9 Diese erste Unterscheidung entlang der Zeitachse hat zentrale Bedeutung, weil zumindest nach bisherigem Rechtsstand der Vertrauensschutz bei zukünftigen Entwicklungen nicht greift. Unser derzeitiges Gutglaubensschutzkonzept schützt nämlich nicht Erwartungen über die zukünftige Entwicklung der Welt im Sinne von legitimate expectations, sondern den guten Glauben darin, dass die Vorstellungen über die Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt in Gegenwart oder Vergangenheit korrekt sind (trust).10 Wenn aber der Vertrauensschutz hinsichtlich zukünftiger Entwicklungen nicht gewährt werden kann, muss ein anderes Instrument zur Sicherung der berechtigten Erwartungen des Unternehmers gefunden werden. Wie später gezeigt werden soll, erscheint es stattdessen geboten, die Möglichkeit des Geschäftspartners zu nachträglichen Einwirkungen zu beschränken. 2. Unterscheidung nach Art des Anknüpfungsmerkmals Neben der Differenzierung entlang der Zeitachse lässt sich zweitens nach der Art des Merkmals unterscheiden, an das angeknüpft wird. Sehr häufig wird an den steuerlichen Status des Geschäftspartners, also dessen Eigenschaft als Unternehmer, dessen Sphäre („im Rahmen seines Unternehmens“) oder an seine Ansässigkeit (Sitz, Wohnsitz, Betriebsstätte) angeknüpft. Beispielsweise bestehen Abhängigkeiten beim Ort der Leistung, richtet sich die Bestimmung des Orts der sonstigen Leistung doch nach der Grundregel des § 3a UStG nach den Verhältnissen des Leistungsempfängers.11 Zudem ist bei den innergemeinschaftlichen Lieferungen die Steuerbefreiung unter anderem davon abhängig, dass der Leistungsempfänger Unternehmer oder juristische Person ist.12 Dem eng verwandt ist die Frage der Zugehörigkeit zum Organkreis, die schon für die rechtliche Qualifikation einer Leistung als Lieferung oder sons-
9 § 17 Abs. 2 UStG. 10 Siehe dazu u.a. EuGH, Urt. v. 21.2.2008 – Rs. C-271/06 – Netto Supermarkt, EuGHE 2008, I-771 = UR 2008, 508; BECKER, UR 2009, 664; DRÜEN, DB 2010, 1847; ENGLISCH, UR 2008, 494; ISMER/KEYSER in Oestreicher (Hrsg.), Aktuelle Fragen der Unternehmensbesteuerung, 2012, S. 1 (3 f.). 11 Hier findet die gewollte Unterscheidung in B2C nach § 3a Abs. 1 UStG und B2B nach § 3a Abs. 2 UStG statt. Näher LANGER in Reiß/Kraeusel/Langer, UStG, § 3a Rz. 19, 32 – Stand: Juni 2013); Die Norm wurde mehrfach aufgrund unionsrechtlicher Vorgaben geändert: STADIE in Rau/Dürrwächter, UStG, § 3a nF Rz. 35 – Lfg. 150, April 2012. 12 Dies ist eine der drei kumulativ zu erfüllenden Voraussetzungen des § 6a Abs. 1 Satz 1 UStG.
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tige Leistung Bedeutung erlangen kann.13 Dies mag zunächst überraschen, da die Art der Leistung primär gerade durch die vom Leistungsempfänger bezogene Leistung bestimmt wird. Jedoch hat der BFH bekanntlich entschieden, dass in Organschaftsfällen eine einheitliche Leistung auch dann anzunehmen sein kann, wenn die Teilleistungen von verschiedenen Organgesellschaften eines Organkreises erbracht werden.14 Diese Rechtsprechung könnte umgekehrt dahingehend ausgedehnt werden, dass auch bei Leistungsbezug durch verschiedene Organgesellschaften eines Organkreises eine einheitliche Leistung anzunehmen wäre. In anderen Konstellationen bestehen Verhaltensanknüpfungen, also Abhängigkeiten vom Verhalten des Geschäftspartners. Dies gilt etwa für Tatbestände, die das Verhalten im Zusammenhang mit der Leistung betreffen wie beispielsweise die Beförderung des gelieferten Gegenstands in das Drittlandsgebiet bei der Steuerbefreiung von Ausfuhrlieferungen.15 Schließlich gibt es auch Anknüpfungen an Absichten, wie etwa bei der Geschäftsveräußerung im Ganzen gemäß § 1 Abs. 1a UStG, wo es seit der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Zita Modes nicht darauf ankommt, ob der Erwerber zur Fortführung des Geschäfts in der Lage ist, sondern auch, dass er diese beabsichtigt.16
III. Zentrale Probleme Aus den geschilderten Abhängigkeiten ergibt sich zunächst das Problem des fehlenden Gleichlaufs hinsichtlich der Verzinsung, wenn eine Kor13 A.A. STADIE in Rau/Dürrwächter, UStG, § 2 Rz. 953 ff. – Lfg. 147, Juli 2011, der Auswirkungen der umsatzsteuerlichen Organschaft nur im Innenverhältnis annimmt. Kritisch ebenso KLENK in Sölch/Ringleb, UStG, § 2 Rz. 141 – Stand: April 2010. 14 BFH, Urt. v. 29.10.2008 – XI R 74/07, BStBl. II 2009, 256 = UR 2009, 47; hierzu REIß in Reiß/Kaeusel/Langer, UStG, § 2 Rz. 101.4 – Stand: März 2013; BOOR, Die Gruppenbesteuerung im harmonisierten Mehrwertsteuerrecht, 2014, S. 44; KICZAN, UStB 2009, 165; KÜFFNER, SteuerConsultant 2/2010, 23; SCHALK/ FUß, UR 2012, 947; WÄGER in Spindler/Tipke/Rödder (Hrsg.), Festschrift Schaumburg, Steuerzentrierte Rechtsberatung, 1210. 15 Nach § 4 Nr. 1 Buchst. a iVm. § 6 Abs. 1 Satz 1 UStG. Siehe zu Schwierigkeiten aufgrund dieser Verhaltensanknüpfung EuGH, Urt. v. 21.2.2008 – Rs. C-271/06 – Netto Supermarkt, EuGHE 2008, I-771 = UR 2008, 508; ISMER/KEYSER in Oestreicher (Hrsg.), Aktuelle Fragen der Unternehmensbesteuerung, 2012, S. 1 (10). 16 EuGH, Urt. v. 27.11.2003 – Rs. C-497/01 – Zita Modes, EuGHE 2003, I-14393 = UR 2004, 19; ebenso EuGH, Urt. v. 10.11.2011 – Rs. C-444/10 – Christel Schriever, UR 2011, 937 mit Anm. ISMER; ausführlich zur erwerberbezogenen Sichtweise ISMER/ENDRES, UR 2012, 897.
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rektur sowohl beim Unternehmer als auch beim Geschäftspartner erforderlich wird. Die Regelungen über den Verzinsungszeitpunkt bei Nachzahlungen, wo der Zinslauf gemäß § 233a AO grundsätzlich 15 Monate nach Ablauf des Kalenderjahres der Steuerentstehung beginnt, divergieren von denjenigen für die Erstattungen, bei denen der Zinslauf frühestens mit dem Tag der Zahlung beginnt, § 233a Abs. 3 Satz 3 Halbs. 2 AO.17 Diese Diskrepanz führt hier zu einer an sich systemwidrigen Belastung durch steuerliche Nebenleistungen in der unternehmerischen Leistungskette. Dies gilt jedenfalls für Fälle, in denen trotz Steuerpflicht des Umsatzes zunächst keine Rechnung ausgestellt wurde; ob umgekehrt eine rückwirkende Ermäßigung eines unrichtigen Steuerausweises in Betracht kommt, ist hingegen derzeit nicht geklärt.18 Es ist schlicht nicht einzusehen, warum hier eine einheitliche Leistung bei den Beteiligten unterschiedlich behandelt wird mit dem Ergebnis steuerlicher Mehreinnahmen, obwohl die Beteiligten keinen Vorteil gezogen haben. Jenseits dieser Zinsdiskrepanzen lassen sich aus Sicht des Steuerpflichtigen drei spezifische Gefahren der Abhängigkeiten anführen, nämlich erstens Qualifikationskonflikte, zweitens erhöhte Befolgungskosten und drittens die Gefahr nachträglicher Einwirkungen, die zu einer Verschiebung der Steuerlast zwischen den Parteien führen können. 1. Qualifikationskonflikte Abhängigkeiten bergen die Gefahr von Qualifikationskonflikten: Eine uneinheitliche Behandlung kann zu einer Belastung der unternehmerischen Leistungskette führen und damit einen Verstoß gegen das Neutralitätsprinzip begründen. Daher ist es den Parteien häufig egal, wie die genaue Besteuerung erfolgt, solange sie denn nur einheitlich erfolgt. Derartige Probleme können bereits in Inlandsachverhalten auftreten, wenn unterschiedliche Finanzämter oder unterschiedliche Sachbearbeiter innerhalb eines Finanzamts zuständig sind. Erfahrungsgemäß werden sie aber deutlich gravierender, wenn Leistungen über die Staatsgrenzen hinweg erbracht werden, so dass die Umsatzsteuerordnungen und Finanzbehörden unterschiedlicher Staaten involviert sind.
17 Bei Erstattungen beginnt der Zinslauf frühestens mit dem Tag der Zahlung, § 233a Abs. 3 Satz 3 Halbs. 2 UStG. 18 STADIE in Rau/Dürrwächter, UStG, § 14c Rz. 227 – Lfg. 145, Feb. 2011, der zumindest beim gutgläubigen Rechnungsaussteller einen Erlass der Nachzahlungszinsen fordert.
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2. Befolgungskosten Als zweite Gefahr drohen erhöhte Befolgungskosten der Unternehmer. Rechtliche und tatsächliche Unklarheiten führen zu Rechtsunsicherheit sowie Aufwand für die Erbringung der erforderlichen Nachweise; die leidenschaftlich geführte Diskussion um die Gelangensbestätigung legt hiervon beredtes Zeugnis ab.19 Ebenfalls in die Kategorie gehören Nachteile, die aus unzutreffenden Vorstellungen des Unternehmers, die möglicherweise auch durch Täuschung hervorgerufen sein können, resultieren. 3. Nachträgliche einseitige Verschiebung der Steuerlast Drittens schließlich gibt es das Problem der Möglichkeit zur nachträglichen einseitigen Verschiebung der Steuerlast zwischen den Parteien. So kann der nachträgliche Widerruf der Option den Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers ebenso beseitigen wie eine spätere umsatzsteuerschädliche Vermietung von Grundstücken. Derartige Probleme werden gerade in Insolvenzkonstellationen virulent, für die es nur sehr begrenzte Möglichkeiten zur vertraglichen Vorsorge gibt. 4. Steuerausfälle Daneben sind aus fiskalischer Sicht auch Steuerausfälle zu bedenken. So wie im internationalen Steuerrecht die Doppelnichtbesteuerung Pendant der Doppelbesteuerung ist,20 resultieren die Steuerausfälle daraus, dass Auszahlungen an einen Geschäftspartner erfolgen, ohne dass der andere Geschäftspartner einen entsprechenden Steuerbetrag an den Fiskus geleistet hat oder gesichert leisten wird.21 Gerade die Diskussionen um die internationale Steuerverlagerung im Zuge der Arbeiten der OECD zu Base Erosion and Profit Shifting (BEPS)22 haben die Bedeutung der Verfolgung auch fiskalischer Interessen in Erinnerung gerufen. 19 U.a. ISMER/ENDRES, World Journal of VAT/GST Vol. 3(1) 2014, 55; LANGER/HAMMERL, DStR 2013, 1068; LANGER/VON STREIT, DStR 2013, 2421; MAUNZ, MwStR 2013, 582. 20 OECD/G20, Base Erosion and Profit Shifting Project; Preventing the Granting of Treaty Benefits in Inappropriate Circumstances, Action 6: 2014 Deliverable, Tz. 58 ff. 21 Dies ist insbesondere beim sog. Mehrwertsteuer-Karussell der Fall. Näher dazu: EuGH, Urt. v. 12.1.2006 – Rs. C-354/03 u.a. – Optigen u.a., EuGHE 2006, I-00483 = UR 2006, 157; ENGLISCH in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 17 Rz. 463; KEMPER, UR 2009, 751; TERRA/KAJUS, A guide to the European VAT Directives 2014 vol. 1, 2014, S. 352 ff. 22 OECD, Addressing Base Erosion and Profit Shifting, abrufbar unter: http:// www.oecd.org/tax/addressing-base-erosion-and-profit-shifting-9789264192744en.htm (Stand: 18.11.2014).
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IV. Mögliche Lösungen Angesichts dieser Probleme gilt es Lösungen im Rahmen der bestehenden Gesetze zu suchen, aber auch rechtspolitische Reformoptionen zu entwickeln. Dies ist sowohl Aufgabe von Rechtsprechung und Rechtsdogmatik als auch der Gesetzgebung, jeweils nach Möglichkeit mit Unterstützung des wissenschaftlichen Schrifttums. In beiden Fällen muss Ausgangspunkt sein, dass der Unternehmer als Steuereinsammler als Leitbild anzusehen ist. Für den rechtschaffenen Unternehmer müssen Rechtssicherheit und Neutralität bei erträglichen Befolgungskosten erreichbar sein. 1. Lösungen im Rahmen der bestehenden Gesetze Im Rahmen der bestehenden Gesetze können sich Lösungen für die Risiken hinsichtlich der Befolgungskosten insbesondere durch den Grundsatz des Vertrauensschutzes erreichen lassen. Danach werden sorgfältige und gutgläubige Steuerpflichtige, die die ihnen zuzumutenden Erkenntnisquellen ausgeschöpft haben, zu ihren Gunsten so behandelt, als wäre ihre unzutreffende Vorstellung von der Realität richtig.23 Kritisch zu sehen sind allerdings die Bestrebungen zur Schaffung eines ungeschriebenen Vorsteuer-Ausschlusstatbestands bei Verletzung von Sorgfaltspflichten.24 Denn das subjektive Element kann oftmals den Charakter einer probatio diaboli annehmen. Zudem entstehen dadurch Schwierigkeiten mit Blick auf das Rechtssicherheitsgebot. Auch sind derartige Bestrebungen zur Individualisierung zur Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit nur eingeschränkt mit den Anforderungen des Umsatzsteuerrechts als Massenfallrecht zu vereinbaren. Weiterhin kann bestimmten Anknüpfungsproblemen durch eine verbesserte Bereitstellung von Informationen entgegengetreten werden. Derartige Soft Law-Lösungen sind zwar keine dogmatischen Höhenflüge, versprechen aber pragmatische und durchaus wirksame Abhilfe. Hingegen scheidet wohl eine Lösung de lege lata für die Problematik der Reihengeschäfte aus.25 Die praktischen Schwierigkeiten sind be23 Zum Vertrauensschutz in der Umsatzsteuer EuGH, Urt. v. 21.2.2008 – Rs. C-271/06 – Netto Supermarkt, EuGHE 2008, I-771 = UR 2008, 508 – Rz. 11; zudem in der Literatur BECKER, UR 2009, 664; DRÜEN, DB 2010, 1847; ENGLISCH, UR 2008, 494; ISMER/KEYSER in Oestreicher (Hrsg.), Aktuelle Fragen der Unternehmensbesteuerung, 2012, S. 1. 24 Dazu ausführlich REIß, in diesem Band S. 161 ff. 25 Zur Problematik EuGH, Urt. v. 6.4.2006 – Rs. C-245/04 – EMAG Handel Eder, EuGHE 2006, I-3227 = UR 2006, 342; EuGH, Urt. v. 16.12.2010 – Rs. C-430/09 – Euro Tyre Holding, EuGHE 2010, I-13335 = UR 2011, 176; EuGH, Urt. v.
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kannt, gleichzeitig jedoch von der Richtlinie zwingend vorgegeben. Wir haben – noch – keine Sonderregelung für Reihengeschäfte, so dass die Konstellation mit Logik und den allgemeinen Grundsätzen zu bewältigen ist.26 Insbesondere kann es nur eine einzige innergemeinschaftliche Lieferung geben; auch von einem faktischen Wahlrecht, wie es der Fünfte Senat durch die Anknüpfung an die Mitteilung der Weiterveräußerung unterstellt, ist in der Richtlinie keine Rede. Dies bedeutet, dass eine Steuerbefreiung der Lieferung an den Ersterwerber grundsätzlich ausscheidet, wenn die Verfügungsmacht noch im Inland auf den Zweiterwerber übergeht. 2. Rechtspolitische Reformperspektiven Lange erkannter rechtspolitischer Handlungsbedarf besteht hingegen bezüglich der Zinsen. Als erster Ansatz könnte der neuen Vorschrift in § 13b Abs. 5 Satz 7 UStG modellbildender Charakter beigemessen werden.27 Danach können die Geschäftspartner die unzutreffende Besteuerung unter bestimmten Voraussetzungen fortführen. Dies dürfte allerdings in den meisten Fällen, nämlich dort, wo die Mitgliedstaaten über keine Wahlrechte verfügen, eine Änderung der Mehrwertsteuersystemrichtlinie voraussetzen. Erfolgversprechender erscheint es daher, die Vorschriften über die Verzinsung anzupassen. Sinn der Regeln über die Zinsen ist die grob typisierende Abschöpfung von Vorteilen, nicht aber die Generierung von Steueraufkommen, wo der Steuerpflichtige keinen Vorteil erlangt hat.28 Zugespitzt gesagt: Hier wird nicht stark genug in Abhängigkeit vom Geschäftspartner besteuert. Möglicherweise lässt sich dieses Ergebnis sogar bereits im Wege der verfassungskonformen Auslegung der Vorschriften über die Verzinsung herleiten. Handlungsbedarf besteht ferner hinsichtlich der nachträglichen einseitigen Verschiebung der Steuerlast zwischen den Parteien, etwa durch Widerruf einer Gutschrift oder einer Option zur Steuerpflicht nach § 9 UStG. Hier sollte eine Bindungswirkung vorgesehen werden, so dass ei27.9.2012 – Rs. C-587/10 – VSTR, ECLI:EU:C:2012:592, UR 2012, 832 mit nachfolgender Entscheidung des BFH, Urt. v. 28.5.2013 – XI R 11/09, UR 2013, 756; nun anders FG Sachsen, Urt. v. 12.3.2014 – 2 K 1127/13, MwStR 2014, 619, rkr. 26 ISMER/PULL, MwStR 2013, 152; a.A. NIESKENS, DB 2013, 1872; SWINKELS, IVM 2012, 400; TERRA/KAJUS, A guide to the European VAT Directives 2014 vol. 1, 2014, unter 11.3.1; WOLF, IVM 2013, 280. 27 Dazu etwa LANGER, DStR 2014, 1897 (1900 f.). 28 HEUERMANN in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO FGO, § 233a AO Rz. 5 – Stand: Nov. 2009); LOOSE in Tipke/Kruse, AO FGO, § 233a AO Rz. 3 – Lfg. 132, Mai 2013).
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ne Gutschrift nur berichtigt, nicht aber trotz Fehlerfreiheit beseitigt werden könnte. Ebenso sollte eine Bindung an eine einmal erklärte Option zur Steuerpflicht geschaffen werden, so dass nur ein Widerruf für die Zukunft in Betracht käme; dies würde bedeuten, dass zwischen einmaligen Transaktionen und Dauertatbeständen zu differenzieren wäre. Bei bestimmten Interdependenzen ist ferner zu erwägen, eine Möglichkeit zum Verzicht auf steuerliche Vorteile zu schaffen. So könnte bei innergemeinschaftlichen Lieferungen der Lieferer das Risiko seiner Inanspruchnahme wegen Fehlens der Voraussetzungen der Steuerbefreiung dann beseitigen, wenn er auf die Steuerfreiheit verzichten könnte.29 Es wäre dann selbstverständlich eine Möglichkeit für den Erwerber vorzusehen, einen entsprechenden Vorsteueranspruch geltend zu machen. Ferner sollten spezielle Regelungen zur Eliminierung rechtlicher Risiken aus Qualifikationskonflikten geschaffen werden; für diesen Bereich des Steuerverfahrens kommt den Mitgliedstaaten Regelungsfreiheit zu. Diese Regelungen betreffen zum einen die Verschaffung von Sicherheit im Vorhinein, wenn das Problem erkannt wurde. Hier sollte ein Verfahren geschaffen werden, das von den derzeitigen Regelungen der verbindlichen Auskunft abweicht. Gerade weil der Unternehmer bloßer Steuereinsammler sein soll, ist ihm wie bei der Lohnsteueranrufungsauskunft zunächst ein Rechtsanspruch auf Erteilung der Auskunft einzuräumen.30 Darüber hinaus müsste die gleiche rechtliche Würdigung für die beteiligten Geschäftspartner sichergestellt werden. Auch wenn in der Praxis häufig nur verbindliche Auskünfte für einen Geschäftspartner abgefragt werden, in der Hoffnung, dass die Finanzbehörden die Leistung schon für beide Geschäftspartner einheitlich beurteilen werden, bleibt doch zumindest das theoretische Risiko einer Bewertungsdiskrepanz durch die Finanzbehörden, da es sich technisch eben um zwei oder mehr Steuerrechtsverhältnisse handelt. Diese Risiken steigen, wenn unterschiedliche Finanzbehörden tätig werden oder gar Landesgrenzen überschritten werden. Insoweit könnte man den bilateralen oder multilateralen APAs aus dem Internationalen Steuerrecht Modellcharakter beimessen.31 So wie diese die Anwendung einer einheitlichen Verrechnungspreismethode sicherstellen, sollte bei den umsatzsteuerlichen Problemen eine einheitliche rechtliche Beurteilung vorgegeben werden. Allerdings sind zugleich Unterschiede nicht zu vernachlässigen, da im 29 Vgl. ISMER/PULL/ENDRES, MwStR 2013, 260. 30 Zur Lohnsteuerauskunft HEUERMANN in Blümich, EStG KStG GewStG, § 42e EStG Rz. 11 – Stand: Juni 2014); SEER in Tipke/Kruse, AO FGO, § 89 AO Rz. 104 – Lfg. 128, Januar 2012). 31 LEHNER in Vogel/Lehner, DBA, 6. Aufl. 2015, Art. 25 Rz. 320 ff.; ISMER in Vogel/Lehner, forthcoming 2015, Rz. 140 ff.
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Umsatzsteuerrecht typischerweise gerade ein Interessengegensatz zwischen den Parteien besteht, der bei den Verrechnungspreisfällen definitionsgemäß fehlt. Erste Ansätze für derartige besondere Umsatzsteuer-Rulings finden sich nunmehr auf europäischer Ebene im Rahmen eines Pilotprojekts, an dem sich derzeit 15 Mitgliedstaaten beteiligen.32 Danach wird es Unternehmen, die eine komplexe grenzüberschreitende Transaktion in zwei oder mehr der teilnehmenden 15 Mitgliedstaaten planen, ermöglicht, einen Antrag auf Erteilung eines verbindlichen Rulings zu den mehrwertsteuerlichen Aspekten der Transaktion zu stellen.33 Deutschland beteiligt sich bisher nicht. Aus Sicht der Finanzbehörden mag die internationale Zusammenarbeit auch nicht immer erfreulich sein. Letztlich bedarf aber das Funktionieren des Binnenmarktes mit seinen dadurch hervorgerufenen Wohlfahrtsgewinnen einer solchen Kooperation. Deutschland sollte das Pilotprojekt daher jedenfalls aufmerksam verfolgen und sich gegebenenfalls anschließen. Darüber hinaus sollte dafür Sorge getragen werden, dass Qualifikationskonflikte im Nachhinein vermieden werden können. Man könnte insoweit bei innerstaatlichen Sachverhalten einheitliche Gerichtsverfahren im Wege einer notwendigen Streitgenossenschaft vorsehen.34 Dies würde eine Bindung aller Steuerpflichtigen und eine einheitliche Beurteilung durch die beteiligten innerstaatlichen Finanzbehörden sicherstellen. Bei internationalen Sachverhalten gibt es derartige Gerichtsverfahren nicht; sie erscheinen auch wenig realistisch, wenngleich erste Ansätze zu dahingehenden Forderungen in diese Richtung in der wissenschaftlichen Literatur geltend gemacht werden.35 Stattdessen sollte über die Schaffung von Verständigungsverfahren nachgedacht werden. Darunter sind im Recht der Doppelbesteuerungsabkommen zwischenstaatliche Verfahren zu verstehen, die abkommenswidrige Besteuerungen im Verhandlungswege zu beseitigen versuchen.36 Dies bedeutet, dass die Staaten sich einigen müssen. Dies klingt zunächst nach einem erheblichen Pferdefuß. Warum sollten die Staaten sich einigen und auf Steuersubstrat verzichten? 32 Im Rahmen des sog. EU VAT Forums seit dem 1.6.2013 als Pilotprojekt gestartet, vgl. Europäische Kommission, Mitteilungen, abrufbar unter http:// ec.europa.eu/taxation_customs/resources/documents/taxation/vat/vat-forumnote-information_en.pdf (Stand 6.11.2014). 33 Näher LEJEUNE/VANDENBERGHE/DE PUTTE, International VAT Monitor 2014, 181. 34 KOCH in Gräber, FGO, 7. Aufl. 2010, § 59 Rz. 4 ff.; WETH in Musielak (Hrsg.), ZPO, 11. Aufl. 2014, § 62 Rz. 2. 35 Vgl. die Nachweise bei LEHNER in Vogel/Lehner, DBA, 6. Aufl. 2015, Art. 25 Rz. 360. 36 LEHNER in Vogel/Lehner, DBA, 6. Aufl. 2015, Art. 25 Rz. 3.
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In der Praxis funktionieren diese Verfahren allerdings schon relativ gut. Weitergehend könnte man sich sogar vorstellen, dass irgendwann zwischenstaatliche Schiedsverfahren vorgesehen werden, also Verfahren zur verbindlichen Streitentscheidung durch Dritte.37 Bei tatsächlichen Unsicherheiten könnten gemeinsame Prüfungen (so genannte Joint Audits) vorgesehen werden.38 Darunter lassen sich im Umsatzsteuerkontext Verfahren verstehen, bei denen zwei oder mehr Staaten ein gemeinsames Prüfungsteam bilden, um Transaktionen oder Verhältnisse von grenzüberschreitend tätigen Steuerpflichtigen zu untersuchen.39 Diese sind also anders als die Verständigungsverfahren auf die Gewinnung einer einheitlichen Einschätzung der tatsächlichen Lage durch gemeinsame Verifikation des Sachverhalts gerichtet. Einem jüngst veröffentlichten Dokument der EU-Kommission zufolge haben die Mitgliedstaaten bisher kaum Erfahrungen mit solchen Prüfungen im Umsatzsteuerrecht gemacht;40 jedoch gibt es derzeit zumindest ein Pilotprojekt für gemeinsame Prüfungen zwischen den Niederlanden und dem Vereinten Königreich.41 Zudem werden Joint Audits derzeit im Kontext der OECD Initiative zu Base Erosion and Profit Shifting (BEPS) intensiv diskutiert.42 Indessen müssen diese gemeinsamen Prüfungen nicht notwendig primär auf die Wahrung fiskalischer Interessen gerichtet sein; vielmehr könnten sie auch der Vermeidung von Qualifikationskonflikten aufgrund unterschiedlicher tatsächlicher Würdigung dienen. Demgegenüber sind bestimmte Unsicherheiten, die etwa aus der Anknüpfung an den Unternehmerbegriff resultieren, im Mehrwertsteuersystem in seinem derzeitigen Zustand angelegt. Sie tragen der Tatsache Rechnung, dass B2B-Umsätze mit Blick auf das Bestimmungslandprinzip anders behandelt werden als B2C-Umsätze. Auch die Festlegung von Lieferschwellen stellt sich vor diesem Hintergrund als Kompromiss dar zwischen dem Funktionieren des Binnenmarktes bei erträglichen Befolgungskosten einerseits und drohenden bedeutsameren Wettbewerbsver37 Zum Begriff LEHNER in Vogel/Lehner, DBA, 6. Aufl. 2015, Art. 25 Rz. 202. 38 LEHNER in Vogel/Lehner, DBA, 6. Aufl. 2015, Art. 25 Rz. 359. Vgl. dazu auch Europäische Kommission, Mitteilung über die Tätigkeit des Gemeinsamen EUVerrechnungspreisforums im Zeitraum Juli 2012 bis Januar 2014, COM(2014) 315 final, S. 16 ff. 39 Europäische Kommission, Anwendung der Verordnung (EU) Nr. 904/2010 des Rates über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und die Betrugsbekämpfung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer, KOM(2014) 71, Rz. 3.6.3. 40 Europäische Kommission (Fn. 40), Rz. 3.6.3. 41 Europäische Kommission (Fn. 40), Rz. 3.6.3. 42 OECD, Addressing Base Erosion and Profit Shifting, abrufbar unter: http:// www.oecd.org/tax/addressing-base-erosion-and-profit-shifting-9789264192744en.htm (Stand: 18.11.2014).
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zerrungen andererseits.43 Hier eine Reform zu fordern dürfte angesichts der dafür erforderlichen grundlegenden Änderungen der Mehrwertsteuersystemrichtlinie wenig Aussicht haben, Gehör zu finden.
V. Zusammenfassung und Ausblick Wenn Medizin schlecht schmeckt und nicht wirkt, dann kann es gut sein, mehr davon zu nehmen: sie schmeckt dann zwar immer noch nicht, wirkt aber immerhin. So scheint es auch bei den steuerlichen Abhängigkeiten vom Geschäftspartner zu liegen: die Abhängigkeiten sind häufig zentral und letztlich nicht zu vermeiden. Sie sind meist auch nicht weiter schlimm, so denn die einheitliche Behandlung bei beiden Personen des Leistungsverhältnisses gesichert ist. Mit anderen Worten zugespitzt gesagt: oft ist es egal, wie besteuert wird, solange nur die gleiche Besteuerung bei beiden Beteiligten erfolgt. Dem ist durch geeignete verfahrensrechtliche Regelungen, die sicherstellen, dass die Besteuerung wirklich auch im Ergebnis in Abhängigkeit von der tatsächlichen Besteuerung des Geschäftspartners erfolgt, Rechnung zu tragen. Ansätze dafür könnten insbesondere sein die Einführung von Ruling-Verfahren, Streitgenossenschaften und im internationalen Kontext Verständigungsbzw. sogar Schiedsverfahren. Allerdings klappt die Dosiserhöhung leider nicht immer. Manches was schlecht schmeckt, sollte man schlicht weglassen. Dies gilt insbesondere für die Möglichkeiten zur nachträglichen einseitigen Einwirkung auf die Besteuerung des Geschäftspartners und die Ansätze, den Vorsteuerabzug bei Vorliegen bestimmter subjektiver Kriterien wie Kenntnis oder Kennenmüssen auszuschließen. Diese Mittel sollten durch geeignete Gesetzgebung, aber auch durch die Rechtsprechung abgesetzt werden.
43 GRAMBECK, UR 2013, 241; WIDMANN, BB 2008, 2048.
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Stichwortverzeichnis Die Zahlen bezeichnen die Seitenzahlen. Allphasen-Brutto-Umsatzsteuer 105 Allphasen-Netto-Umsatzsteuer 105 Anfechtung 146 f. Ausfuhrlieferung – Steuerbefreiung 38 – Vertrauensschutz 65 Außenprüfung 39 Bagatellgrenze 109, 116 – Billigkeitsmaßnahme 116 Befolgungskosten 191 Beiladung 83 f. Besteuerungskompetenz – Mitgliedstaaten 162 Billigkeitsmaßnahme – Bagatellgrenze 116 – sachliche Unbilligkeit 123 – Vertrauensschutz 66 Compliance 132 ff. – Obliegenheiten 132 – Pflichten 132 – Sanktionstatbestand 133 – Sorgfalt des ordentlichen Kaufmanns 133 Differenzbesteuerung 31 Dokumentation 114 Entgelt 10 f. Ergänzende Vertragsauslegung 148 Erwerbsbesteuerung 15 Gelangensbestätigung 39, 41 Gemeinsame Prüfung 196 Gemischte Verwendung – Bagatellgrenze 116 – Teiloption 116 Geschäftsgrundlage 147 Geschäftspartner 8 Geschäftsveräußerung im Ganzen 8, 77 ff. – Aufklärungspflichten 148 – Aufteilung des Geschäfts 99 f. – Bauträger 88 ff. – Einzelhandelsgeschäft 95
– – – – – – – – – – – – – – – –
Erbbaurecht 86 f. fehlerhafte Einordnung 91 f. Ferienwohnung 87 Gesamtvermögen 97 f. Geschäftsausstattung 99 Gesellschaftsanteil 96 ff., 101 grenzüberschreitende 100 ff. Großprojekt 88 f. immaterielles Wirtschaftsgut 101 Immobilien 85 ff. Immobilienentwickler 88 ff. Irrtümer 79 ff. Miet- oder Pachtverträge 85 f. Tätigkeit des Unternehmens 95 Teilvermögen 96 ff. Übertragung eines Geschäftsbetriebs 84 – Umstrukturierung 78, 102 – Unternehmensfortführung 84 – unterschiedliche Erwerber 88 – vorsorgliche Option 82, 90 ff. – Vorsteuerberichtigung 79, 158 – vorübergehende Aussetzung 96 – Zeitraum 89 f. – Zwischenmieter 87 f. Grenzüberschreitende Warenlieferung – strafrechtliche Aspekte 161 ff. Grundfreiheiten 47 Grundrechte 47 ff. – Charta 48 ff. Grundstückslieferung 20 f., 82, 91 – Option 107, 112 – Transaktionskosten 114 Gutschrift 27 f., 129 ff. – Aussteller 27 – Empfänger 27 Haftung nach § 71 AO 164 f.,179 f. – nach § 25d UStG 31 f., 175, 179 ff. Hinzuziehung 83 Innergemeinschaftliche Lieferung 162 – Steuerbefreiung 38, 167 – Vertrauensschutz 64
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Stichwortverzeichnis Innergemeinschaftlicher Erwerb 162 Istbesteuerung 10, 67 f. Karussellgeschäft 135 ff., 147, 175 ff. – Begriff 135 – Gutgläubigkeit 141 f., 177 f. – Haftung 175 – Vorsteuerabzug 135, 163 f., 175 ff. – Mehrwertsteuerhinterziehung 136 – missing trader 177, 179 Kleinunternehmer 37, 44 Kommissionsgeschäft 15 f. Kumulativer Grundrechtseingriff 70 ff. – Verhältnismäßigkeitsprüfung 70, 72 Leistungsaustausch 8, 11 – Rechnung 9 Leistungsempfänger 9 Letztverbrauch 8 Mehrwertsteuerhinterziehung 136, 162 ff. – § 370 AO als Blankettstrafnorm 167 – Abgrenzung der Steuerhoheiten 170 – Amts- und Vollstreckungshilfe 172 – Beihilfe 168 – Betrugsbekämpfung 172 – Beweislastverteilung 140 f., 144, 178 – Buch- und Belegnachweis 166 – Erwerbsteuer 164 – Gegenseitigkeit der Verfolgung 169 – grenzüberschreitende Warenlieferung 165 ff. – Grundkonstellationen 163 f. – Haftung 164 f. – im Bestimmungsland 168 – im Inland 168 – Indizien 143 – inländische Umsatzsteuer 164 – kollusives Zusammenwirken 166 – Rechts- und Amtshilfe 172 – Rechtsmissbrauch 136 ff. – Verschleierung des Erwerbers 165 f. – Verschleierung des Erwerbs 163 – Vortäuschen einer innergemeinschaftlichen Lieferung 163 – Wegfall von Grenzkontrollen 166 – Zusammenarbeitsverordnung (EU) 174 – s. auch Strafbarkeit
200
Mietvertrag – Auskunftspflicht 112 – Bestätigungen 112 – Option 108 – Schadensersatzanspruch 112 – Steuerklausel 112 Mitgliedsbeiträge 12 Mitwirkungspflicht 34, 36 f. – Deklarationspflicht 36 f. – Erklärungspflicht 36 – Typisierung 41 f. – unverhältnismäßige 42 – Verhältnismäßigkeit 44 – Verzicht auf 42 f. – Voranmeldungspflicht 36 Nachweispflicht 38 ff., 60 ff. – Buch- und Belegnachweis 38, 61 – Gelangensbestätigung 39, 41, 62 f. Obliegenheit 37, 60, 132 Öffentliche Hand – Konkurrentenklage 15 – Unternehmereigenschaft 13 f. Ohne-Rechnung-Abrede 147 Option – Bagatellgrenze 116 – Einzeloption 106 – Gestaltungsmissbrauch 148 – Globaloption 106 – Grundstückslieferung 107 – Klauseln 93 f. – Mietvertrag 108 – Nachweispflicht 111 – quotale 115 – Reverse-Charge-Verfahren 107 – Teiloption 116 – unbedingte 92 f. – unwirksame 156 f. – Verzicht 66 – vorsorgliche 82, 90 ff. – Widerruf 82, 118, 123 – Zeitraum 82 Optionsklausel 145 Ort der sonstigen Leistung 17 f. Pflichten 34 ff. – Compliance 132 – Duldungspflicht 39 – Indienstnahme Privater 38 – Mitwirkungspflicht 34
Stichwortverzeichnis – – – –
Nachweispflicht 38 ff. Steuerzahlungspflicht 37 f. unionsrechtliche Grenzen 35, 45 ff. verfassungsrechtliche Grenzen 35, 52 ff.
Strafbarkeit 173 f. – Gesetzesvorbehalt 183 – in dubio pro reo 174 – Wahlfeststellung 174 Strafsteuer 134, 171 Systematische Ausnahmen 43
Qualifikationskonflikte 190, 194 f. Rechnung – Ausstellung 40, 66, 80 – Leistungsaustausch 9 – Vorsteuerabzug 39 f., 64 Rechnungsberichtigung 21, 28 f., 80 f., 131 f. – Gefährdung des Steueraufkommens 131 Reihengeschäft 16 f., 192 f. Reverse-Charge-Verfahren 153 – Option 107 Schadensersatzanspruch – Mietvertrag 112 Sollbesteuerung 10, 60, 67 f. Sonstige Leistung – systematische Ausnahmen 43 – Typisierung 42 Sorgfalt des ordentlichen Kaufmanns 19 – Compliance 133 Sponsoring 12 f. Steuerausfälle 191 Steuerbefreiung 37 – Ausfuhrlieferung 38, 62 – innergemeinschaftliche Lieferung 38, 61, 167 – Nachweispflicht 38 f., 47, 60 ff. – Rechtsmissbrauch – unechte 105 – Umsatzsteuerbetrugsmodell 40 – Verzicht 14, 20 f., 82, 92, 107 Steuereinnehmer 129, 134 Steuerfestsetzung – Bestrafung 134 Steuerklausel – Mietvertrag 112 – Optionsklausel 145 – Säumniszuschlag 150 f. – Sicherheitsleistung 151 Steuerzahlungspflicht 37 f. – Berichtigung 37 – gleichheitsrechtliche Grenze 67 ff.
Teiloption 116 – Flächenschlüssel 117 – Umsatzschlüssel 117 Tax Compliance s. Compliance Telekommunikations-, Rundfunkund Fernsehdienstleistungen 17 f., 43 f. Territoriale Abgrenzung 162 f. Transaktionskosten – Grundstückslieferung 114 Typisierung 42 f. – Beförderung 42 – Erwerb neuer Fahrzeuge 43 – kurzfristige Vermietung eines Beförderungsmittels 42 – Lieferschwelle 43 – Versendung 42 Typologie der Abhängigkeiten 187 ff. – Absichten 189 – Bereitstellung von Informationen 192 – Dauertatbestand 187 – Steuerausfälle 191 – steuerlicher Status des Geschäftspartners 188 – Verhalten 189 – Verzinsung 189 – Zeitpunkte 187 f. Überwälzung 105 Umsatzsteuer – unselbständiger Preisbestandteil 150 Umsatzsteueraufkommen – Zuweisung 162 Umsatzsteuerbetrug 40 Umsatzsteuerhinterziehung s. Mehrwertsteuerhinterziehung Umsatzsteuer-Nachschau 39 Unberechtigter Steuerausweis 157 f. – Grunderwerbsteuer 157 Uneinbringlichkeit 10, 187 f. Unternehmerbescheinigung 109
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Stichwortverzeichnis Unternehmereigenschaft 13 ff. – öffentliche Hand 13 f. Unionsrechtliche Grenzen 45 ff. – Grundfreiheiten 47 – Grundrechte 47 f. – Mehrwertsteuerdurchführungsverordnung 45 – Mehrwertsteuersystemrichtlinie 45 f., 55, 57 – Neutralitätsgebot 55, 57, 136 – Prüfungsmaßstab 45 Verfassungsrechtliche Grenzen 52 ff. – Analogieverbot 167 f. – Bestimmtheitsgebot 167 f. – Folgerichtigkeitsgebot 56 – Freiheitsrechte 59 f. – Gleichheitsgebot 58 f., 67 ff. – Kumulation von Belastungen 69 ff. – Prüfungsmaßstab 57 – Rechtssicherheit 53 f. – rechtsstaatliche Gewährleistungen 52 ff. – Überbelastung des Steuerpflichtigen 56 – Verhältnismäßigkeit 53 f., 62 ff., 68, 75, 134 Verlagerung der Steuerschuld auf den Leistungsempfänger 23 ff. – Bauleistungen an Bauträger 23, 153 – Bescheinigungsverfahren 25 f. Versandhandelslieferungen 18 f.
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Verschiebung der Steuerlast 191, 193 f. Vertrauensschutz 19 f., 53 f., 64 ff., 122 – innergemeinschaftliche Lieferung 64 Verwendungsabsicht 111 Vorfinanzierung 67 Vorsteuerabzug 37 – Beweislastverteilung 140 ff., 178 – Gutschrift als Ausübungsvoraussetzung 130 – Karussellgeschäft 135, 137, 141 – Lieferung mit Hinterziehungsabsicht 142 f. – Rechnung 39, 64 – Sofortabzug 113 – Verhältnisse beim Geschäftspartner 30 – Versagung 179 ff. Vorsteuerberichtigung 39 – Geschäftsveräußerung im Ganzen 79, 81, 158 Wasserversorgung 151 Widerruf – Bindungswirkung 119 – Option 118, 123 Widerspruch 130 – Fehlerbeseitigung 130 – schikanöse Motive 130 Zinsen 193 – Wucherzins 152