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German Pages 507 [508] Year 2000
STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR
Herausgegeben von Wolfgang Frühwald, Georg Jäger, Dieter Langewiesche, Alberto Martino, Rainer Wohlfeil
Band 69
Susanne Wehde
Typographische Kultur Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2000
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Redaktion des Bandes: Georg Jäger
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wehde, Susanne: Typographische Kultur : eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung / Susanne Wehde. - Tübingen : Niemeyer, 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur ; Bd. 69) ISBN 3-484-35069-5
ISSN 0174-4410
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2000 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Memminger Zeitung, Memmingen Einband: Buchbinderei Geiger, Ammerbuch
Inhaltsverzeichnis
TEIL I Theorie
l
1. Einleitung
3
1.1 Zum Begriff Typographie 1.2 »Das Ende der Schrift«. Zu einer aktuellen Diskussion 1.3 Zu den Zielen dieser Studie
3 5 10
2. Stand der Forschung
20
2.1 2.2 2.3 2.4
20 20 21 22 22 23 28 30 31 33 33 35 35 36 38 40 40
Klassische Schriftgeschichte Kulturwissenschaft und Sozialgeschichte Literaturwissenschaft Arbeiten zur Materialität der Kommunikation 2.4.1 Materialität der Kommunikation. Ein neues Paradigma 2.4.2 Giesecke 2.4.3 Illich und Chartier 2.4.4 Derrida 2.4.5 Kittler 2.5 Linguistik 2.5.1 Phonetik und Graphetik 2.5.2 Historische Positionen 2.5.2.1 De Saussure 2.5.2.2 Hjelmslev 2.5.2.3 Vachek 2.5.3 Aporien linguistischer Schrifttheorie 2.5.3.1 Lautsprache - Schriftsprache - Typographie 2.5.3.2 Graphem, Graph und Allograph - Buchstabe, Druckschrift und typographische Schriftmerkmale 2.6 Zeichentheoretische Beschreibungsansätze
41 48
3. Ein semiotisches Modell von Druckschrift
54
3.1 Einleitung 3.1.1 Positionen der allgemeinen Semiotik 3.1.1.1 Peirce 3.1.1.2 Eco 3.1.2 Wirkung vs. Bedeutung 3.2 Schrift als Ausdrucks- und Inhaltssystem 3.2.1 Schrift als Ausdruckssystem 3.2.1.1 Die Materialität von Schrift - zwischen Quäle und Qualizeichen 3.2.1.2 Die Schriftform - zwischen Typus und Exemplar 3.2.1.2.1 Typus 3.2.1.2.2 Exemplar 3.2.2 Schrift als Inhaltssystem 3.2.2.1 Denotative Codierung 3.2.2.2 Konnotative Codierung 3.2.2.2.1 Funktions-Zeichen 3.2.2.2.2 Codierte Reize
54 55 56 58 59 64 64 65 67 70 77 86 86 87 91 92
TEIL II Systematik
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4. Das typographische Zeichenrepertoire
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4.1 Das Typenmaterial 4.1.1 Bildtragende Typen 4.1.1.1 Alphabetische Lettern 4.1.1.2 Nichtalphabetische Typen 4.1.1.2.1 Ideogramme
97 97 97 99 99
4.1.1.2.2 Satzzeichen
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4.1.1.2.3 Sonderzeichen, Typo-Signale 4.1.1.2.4 Buchschmuck 4.1.2 Blindmaterial 4.2 Elementare typographisch-syntaktische Flächenformen 4.2.1 Wortbild 4.2.2 Zeile und Absatz 4.2.3 Satzspiegel
101 102 103 108 109 110 111
5. Semantik und Pragmatik typographischer Formbildungen
119
5.1 Typographische Dispositive: Textsortentypographie 5.1.1 Zur Definition typographischer Dispositive 5.1.2 Das Beispiel Lyrik
119 119 126
VI
5.2 Typographische Mündlichkeitsmerkmale 133 5.2.1 Zur Definition typographischer Mündlichkeitsmerkmale 133 5.2.2 Das Beispiel Rhythmus 141 5.3 Das Verhältnis von Form und Inhalt als Mittelpunkt typographischer Theorie und Praxis 145 5.3.1 Ein Problemaufriß 145 5.3.2 Verfahren der Semantisierung von Schrift und Satzbild 149 5.3.2.1 Schriftausdruck. Zur konnotativen Semantik von Druckschriften 149 5.3.2.1.1 Semantisierung auf der Basis kollektiver Wertungen . . . 149 5.3.2.1.2 Semantisierung auf der Basis kulturellen Wissens 155 5.3.2.1.3 Zeichen-Physik. Semantisierung von Zeichenmaterialität und Werkzeugspuren 165 5.3.2.2 Zur konnotativen Semantik flächentypographischer Formbildungen 168 5.3.3 Die Einheit von Form und Inhalt. Beispielanalysen zum Verhältnis von Typographie und Sprache 173 5.3.3.1 Lettern: Logos 173 5.3.3.2 Worte: de Campos Luxo 177 5.3.3.3 Der Textzusammenhang: Mörike Er ist's 183 5.3.3.4 Der Buchzusammenhang: Rilke Lieder der Mädchen .. 191
TEIL III Geschichte
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6. Historische Entwicklung der Semantik und Pragmatik von Schriftformen und Satzschemata. Exemplarische Analysen
215
6.1 Einleitung 6.2 Der Streit um Fraktur und Antiqua 6.2.1 Allgemeines 6.2.1.1 Zu Herkunft und Entwicklung von Fraktur- und Antiqua-Schriften 6.2.1.2 Der Stand der Forschung zum Schriftstreit 6.2.1.3 Der Ursprung der Fraktur/Antiqua-Entgegensetzung 6.2.2 Der Schriftstreit um 1800 6.2.2.1 Einleitung 6.2.2.2 Nationenwettstreit - Klassische Literatur Typographische Schönheit 6.2.2.3 Literarischer Markt - Soziale Distinktion Typographischer Bücher-Luxus 6.2.2.4 Das Scheitern der Antiqua 6.2.2.5 Das Scheitern der Fraktur-Reform 6.2.3 Der Schriftstreit nach 1900 .
215 216 216
...
216 216 218 220 220 226 232 235 239 245 VII
6.2.3.1 6.2.3.2 6.2.3.2.1 6.2.3.2.2 6.2.3.2.3
Einleitung Ideologisierung des Schriftstreits Die Reichstagsdebatte von 1911 Die Schriftfrage als nationale Frage Fundamentale Semantik, Interdiskurs und Kollektivsymbol. Zur theoretischen Beschreibung des ideologischen Diskurses 6.2.3.2.4 Kultur und Ökonomie. Der »wirkliche Wert« der Schriftfrage 6.2.3.2.5 Rückschritt und Fortschritt. Historiographische Hermeneutik 6.2.3.2.6 Formenarmut und Formenreichtum. Der »künstlerische Charakter« der Schriftformen 6.2.3.2.7 Gute und schlechte Lesbarkeit. Empirisierung und Physiologisierung des Schriftstreits 6.2.3.3 Eine strukturanalytische Beschreibung des ideologischen Bedeutungssystems 6.2.3.3.1 Asymmetrische und symmetrische Polarisierung von Fraktur und Antiqua 6.2.3.3.2 Resymmetrierung von Fraktur und Antiqua. Ansätze zu einer pragmatischen Befriedung des Schriftstreits . 6.2.4 Der Schriftstreit im Dritten Reich 6.2.4.1 Nationalsozialistische Schriftpolitik 6.2.4.1.1 Fraktur-Erlaß und die pragmatische Behandlung der Schriftfrage 6.2.4.1.2 Der Normal-Schrift-Erlaß. Die Wende der offiziellen Schriftpolitik 6.2.4.2 Schriftgestaltung und Schriftverwendung im Dritten Reich 6.2.4.2.1 Abbruch und Kontinuität der gestalterischen Moderne. Einige Vorbemerkungen 6.2.4.2.2 Schriftgestaltung im Dritten Reich: Gibt es nationalsozialistische Schriften? 6.2.4.2.3 Schriftverwendung im Dritten Reich 6.2.4.2.3.1 Die Koexistenz von Fraktur und Antiqua 6.2.4.2.3.2 Fraktur und Antiqua in Staats- und parteipolitischen Propagandaschriften 6.3 Die Debatte um mittelachsiales und anachsiales Satzschema 6.3.1 Die Vorgeschichte. Typographie zwischen Werk- und Akzidenzsatz 6.3.2 Der Disput zwischen Bill und Tschichold 6.4 »Typographie der Mitte«. Die Annäherung der typographischen Extreme
VIII
245 248 248 251
255 258 260 262 264 267 268 270 273 273 273 278 287 287 290 303 303 318 327 329 334 340
7. Von der Gebrauchstypographie zur Kunsttypographie der Avantgarden
343
7.1 Einleitung 7.2 Lautdichtung. Visualisierung und Phonetisierung von Literatur 7.2.1 Die Wiederentdeckung der Mündlichkeit 7.2.2 Poetik und Pragmatik typographischer Lautdichtung 7.2.2.1 Lautmalerei, Lautspiel, Lautgebärde 7.2.2.2 Primäre und sekundäre Oralität T.2.2.3 Stumme und artikulatorische Lektüre - visuelle und phonetische Recodierung 7.2.3 Hausmann kp'erioum und Plakatgedichte 7.2.4 Ball Karawane 7.2.5 Schwitters Ursonate 7.3 Typographie und Photographic 7.3.1 Die neuen Bildmedien und typographische Innovation 7.3.2 Typophoto. Moholy-Nagy Dynamik der Gross-Stadt 7.3.3 Photomechanische Satztechnik 7.4 Die entfesselte Typographie Dadas 7.4.1 Zeitungs- und Werbetypographie als Modelle dadaistischer Textgestaltung 7.4.2 Zwei Beispiele 7.4.2.1 Schwitters Tragödie 7.4.2.2 Tzara one nuit d'echecs gras 7.5 Werbung als Motor typographischer Innovationen 7.5.1 Einleitung 7.5.2 Der Aufschwung der Akzidenztypographie. Mannigfaltigkeit der Mittel und das Prinzip Neuheit 7.5.3 Die Annäherung von Werbung und bildender Kunst 7.5.4 »Der Zugang zum Bewußtsein durch das Sinnesfeld«. Werbung und Wahrnehmungsforschung 7.5.5 Werbetheorie als frühe Semiotik und Bedeutungslehre von Typographie 7.6 Elementare Typographie. Die Annäherung von bildender Kunst und Werbung 7.6.1 Einleitung 7.6.2 Typographie im Spannungsfeld von werblicher Zweckform und abstrakter Kunstform (am Beispiel Schwitters) 7.6.3 Die Dissoziation von Typographie und Sprache 7.6.3.1 Typographie als Flächengestaltung. Typographische Innovationen zwischen Werbung und abstrakter Malerei 7.6.3.2 Typographische Sprachkritik - typographische Bild-Sprache
343 350 351 353 353 354 355 357 362 367 377 377 384 388 390 391 400 400 407 413 413 415 423 428 431 434 434 438 444 445 452
IX
7.6.3.3 Flächengestalterischer Textaufbau und visuelle Syntagmenbildung. Die logische Gliederung des Druckwerks (am Beispiel Schwitters)
459
Bibliographie
463
Abbildungsnachweise
485
Register
493
Beziehungen zu schaffen, ist das Ziel aller Typographie. (Kurt Schwitters, 1930)1
1
»[Die Geisteswissenschaft] ist die Illusion aller Fußnotenschreiber, selber keine Fußnote zu werden.« Ludger Lütkehaus in Die Zeit (15.10.1993): 56
TEIL I Theorie
1. Einleitung
l. l Zum Begriff Typographie Typographie bezeichnet im weitesten Sinn die Gesamtheit visueller Kommunikation mit Schrift als der äußeren Form von Sprache im Druck. 1 Mit dem Begriff Typographie werden im engeren Sinn sowohl die Grundlagen der drucktechnischen Schriftvervielfältigung als auch die visuell-formale Gestaltung von Drucksachen bezeichnet. Ältere Definitionen verstehen unter Typographie vor allem die technisch-handwerklichen Arbeitsschritte Stempelschnitt, Schriftguß (Herstellung der Lettern), Satz (Herstellung der Druckformen), Einfärben, Abdruck (Herstellung der Druckbögen). In der aktuellen Begriffsbedeutung hingegen ist der gestalterische Aspekt betont. Typographie meint heute in erster Linie die visuelle Gestaltung eines Druckwerkes: Entwurf der Schrifttypen, ihre Auswahl für die Drucklegung, Bestimmung des Satzspiegels und Prinzipien der Schriftkomposition (vgl. New Encyclopedia Britannica. Micropedia 1976; Brockhaus Enzyklopädie 1974 und 1992; Meyers Großes Taschenlexikon 1981 und 1992). War Typographie lange Zeit als Druckverfahren mit gegossenen Metallettern definiert, so wird der Begriff zunehmend unabhängig vom Druckverfahren verwendet bzw. um den Photosatz und moderne Formen der elektronischen Druckformenherstellung erweitert (vgl. New Encyclopedia Britannica. Micropedia 1976). Die Lösung der Begriffsdefinition von der Bindung an ein Satz- und Druckverfahren, nämlich den Druck mit beweglichen Bleilettern, ist Ausdruck technologischer Veränderungen des Druckwesens. Schon vor der Einführung der EDV in die Druckvorstufe hat die Ablösung des Bleisatzes durch den Photosatz die technischen Möglichkeiten und Bedingungen von Schriftentwurf und Schriftkomposition revolutioniert, ohne daß sich die gestalterischen Aufgabenstellungen von Typographie, d. i. der Entwurf der Letternformen (Schriftentwurf) und die Auswahl und Anordnung des typographischen Zeichenmaterials (Schriftkomposition), für die Drucklegung von Texten dabei grundsätzlich geändert haben. Die Verlagerungen in der Begriffsbestimmung reflektieren den historischen Wandel des Druckgewerbes. Die zunehmende Eingrenzung des Begriffsumfanges von Typographie auf die visuell-formalen, ästhetisch-künstlerischen Aspekte der
1
Nur selten wird der Begriff Typographie auch für Schriftgestaltung und Schriftverwendung in printfernen, multimedialen Bereichen wie TV, Video, CD-ROM, EDV etc. angewendet; in diesem Zusammenhang spricht man statt dessen bevorzugt von Graphikdesign.
Schriftgestaltung und Schriftanordnung spiegelt die zunehmende Spezialisierung und Arbeitsteilung innerhalb des Druckprozesses wider. Neben einem primär handwerklich-technischen Tätigkeitsprofil (Satz, Druck) hat sich ein dominant künstlerisch-gestalterischer Aufgabenbereich entwickelt (Layout, Typographie). Der Satz bzw. das Setzen bezeichnet heute primär die technische Umsetzung, weniger das kreative Entwerfen. 2 Die professionelle Differenzierung zwischen Typographien und Setzern hat sich erst nach 1900 herausgebildet. Bis dahin erfolgte die Gestaltungsarbeit weithin gleichzeitig mit dem Satz, d.h. mit dem Einsetzen der Lettern in den Winkelhaken (Zeile) und das Setzschiff (Seite) des Druckstockes. Der Setzer war gleichzeitig der Gestalter. Der wichtigste Gestaltungsgegenstand und das zentrale Gestaltungsmittel von Typographie ist Druckschrift.3 Dies unterscheidet sie sowohl von der Kalligraphie, der künstlerisch-ästhetischen Gestaltung von Handschrift, als auch von der Graphik,4 die hauptsächlich mit außersprachlichem, bildlichem Material arbeitet.5
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Setzen ist definiert als das »zur Wiedergabe eines Textes im Druck erforderliche Aneinanderreihen von Drucktypen (und Matrizen) als Bestandteil einer Hochdruckform wie auch das photographische Aneinanderreihen von Schriftzeichen zu einer kopierfähigen Vorlage« (Agte 1981, 73). Schrift und Typographie werden deshalb im folgenden häufig synonym verwendet. Sollen sie unterschieden sein, wird dies aus dem Kontext ersichtlich bzw. ausdrücklich deutlich gemacht. Graphik wird gern als Sammelbegriff für verschiedenste Arbeitsgebiete im Bereich angewandter, visueller Kunst und Gestaltung genutzt. Zur Begriffsklärung gilt es zunächst einmal, Originalgraphik von Gebrauchsgraphik zu unterscheiden. Unter ersterer faßt man für die Vervielfältigung im Druck hergestellte Werke bildender Kunst (Holzschnitt, Radierung, Lithographie). Gebrauchsgraphik hingegen wird als sehr unscharfer Sammelbegriff verwendet; der Brockhaus (1974) spricht von »bewußter künstlerischer Durchformung und Gestaltung praktischer Aufgaben«. Bei dieser vagen Definition kann Typographie von Graphik nicht mehr unterschieden werden. Symptomatischerweise benennt der Brockhaus als eine gebrauchsgraphische »Hauptgruppe« die »Gestaltung von Drucktypen« (»Schriftkunst«). Typographie entwickelt sehr früh außersprachliche, schriftfremde, bildlich-figurative und ornamental-abstrakte Mittel: Ornamente, Zierat, Vignetten, Zeichen und Symbole, die im Druck Verwendung finden. Zu Zeiten des Bleisatzes waren deren Gestaltungsmöglichkeiten beschränkt durch die Grenzen, die der Bleisatz steckte. Bereits im 15. Jahrhundert waren die Stempelschneider mit der Entwicklung von Buchschmuck befaßt (s. Lotz 1950/51). Die Erfindung der Lithographie Ende des 19. Jahrhunderts und des Photosatzes im 20. Jahrhundert hat zu neuartigen Möglichkeiten der Kombination von sprachlichem und bildlichem Material geführt, die im 20. Jahrhundert vielfältig genutzt werden, so in der Werbung - dem klassischen Feld der Graphik -, aber auch in der Dichtung - dem klassischen Feld der Typographie. Die Photographic avanciert im ersten Viertel des Jahrhunderts in Kunst- und Werbetypographie zum neuartigen Element typographischer Textgestaltung (s. dazu Kap. 7.3). Auch wenn der Photosatz das Ensemble des typographischen Materials um das photographische Bild erweitert hat (vgl. Rüegg 1989,45), hat sich die Bearbeitung des photographischen Bildes im Druck (bis zur Entwicklung des DeskTopPublishing) berufsständisch eigenständig entwickelt (Stichwort: Satz und Repro). Das Bild ist definitionsgemäß nicht typographischer Gestaltungsgegenstand. In Theorie und Praxis der Typographie ist
Schon früh können kalligraphische Schriften im Kupferstich und später auch lithographisch gedruckt werden. Doch schafft Kalligraphie keine beweglichen Typen, die als distinkte Elemente frei kombinierbar und identisch zu reproduzieren wären, wie Druckschreibschriften, die seit dem 19. Jahrhundert für den Letternsatz entworfen werden.
1.2 »Das Ende der Schrift«. Zu einer aktuellen Diskussion Die forcierte Entwicklung der audiovisuellen Bildmedien, insbesondere aber die Digitalisierung der Textverarbeitung im privaten wie industriellen Sektor haben zu »einer Renaissance der Auseinandersetzung mit Schriftlichkeit und Buchdruck« (Giesecke 1990, 84) geführt. Die gegenwärtige Diskussion um Schrift wird in Kulturtheorie und typographischer Praxis relativ unabhängig voneinander geführt. Dabei kommt es symptomatischerweise zu ganz unterschiedlichen, ja paradoxen thematischen Schwerpunktbildungen, Schlußfolgerungen und Wertungen. Die Digitalisierungsmöglichkeiten von Schrift und Bild werden in der kulturtheoretischen Debatte überwiegend als Anfang vom Ende der Buch- und Schriftkultur verhandelt. Die kulturkritischen und geistesgeschichtlichen Betrachtungen in Essayistik und Feuilleton zu diesem Thema sind inzwischen kaum mehr überschaubar, und die Rede vom Ende des Buches und dem »nach-alphabetischen Universum der technischen Bilder« (Flusser 1990,30) ist bereits zum Topos geworden.6 Die Durchsetzung der elektronischen Schriftverarbeitung hat eine neu perspektivierte Reflexion auf den vergangenen und künftigen Status von Schrift in unserer Kultur ausgelöst. Wurde Schrift in der kultur-, sozial- und geisteswissenschaftlichen Theoriebildung bisher von ihren Anfängen her gedacht und die gesamte soziokulturelle Evolution fortschritthaft aus ihrer Entwicklung hergeleitet, so werden Schrift und Schriftlichkeit jetzt von ihrem Ende her thematisiert und im Umkehrschluß ein katastrophischer Kulturwandel abgeleitet. Beispielhaft für diesen kulturpessimistischen Diskurs ist Flussers Abhandlung Die Schrift. Hat Schreiben noch eine Zukunft? (1990). In Anbetracht der Karriere von Film, Video, Bildplatte und Diskette stellt er fest: Es sieht ganz so aus, als ob die Schriftcodes, ähnlich den ägyptischen Hieroglyphen oder den indischen Knoten, abgelegt würden. Nur noch Historiker und andere Spezialisten werden in Zukunft schreiben und lesen können (Flusser 1990, 7).
Da Flusser das »Emportauchen des historischen Bewußtseins« ebenso an die soziale Institutionalisierung von Schrift gebunden sieht (Flusser 1990,12), wie er das
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hingegen die Frage nach der gestalterischen E i n b i n d u n g von Illustration und Photographic in die typographische Gesamtkonzeption im 20. Jahrhundert stets virulent. Typisch sind Thesen wie diese: »Die literarische Schrift ist nur mehr ein randständiger Nischencode, der sich vor allem dort noch behaupten kann, wo er sich der schriftgeprägten Geschichte zuwendet, also der eigenen« (Winkels 1993, 66).
Alphabet als den »Code der Aufklärung« erachtet, bedeutet ihm die hypostasierte umfassende Ersetzung der Schrift durch den synthetischen Code der Bilder nicht nur die Ablösung des Denkens vom Alphabet und der Sprache, sondern auch das Ende von Kritik und Analysefähigkeit überhaupt (Flusser 1990,148f.). Zwangsläufige Folge ist demnach die generelle »Barbarisierung« von Sprechen und Denken in unserer Kultur (Flusser 1990, 65f.). Von einer vergleichbar radikalen Ersetzungsthese der Buch- durch die Bildkultur geht auch Wetzel aus. Er kommt mit seinem dekonstruktivistischen Theorieansatz Derridascher Provenienz zu einer ganz anderen Wertung. Wetzel sieht den »Abschied von der Gutenberg-Galaxis« nicht erst mit der Durchsetzung der EDV eingeleitet, sondern bereits mit der Erfindung der Photographic im 19. Jahrhundert (Wetzel 1991, XI). Damit habe ein semiologischer Paradigmenwechsel stattgefunden, durch den das Buch bzw. die alphabetische Schrift ihre Rolle als führende Träger und Vermittler von Wissen zugunsten audiovisueller Medien eingebüßt haben (Wetzel 1991, XII). Diese soziokulturelle Marginalisierung der Schrift kann Wetzel nun als befreiendes Ereignis begrüßen, da ihm in seiner Theorieperspektive alphabetische Schrift als materielles Medium »machtzentrierter Aufschreibesysteme« gilt, während der Durchbruch des »visuellen medientechnischen Paradigmas« frei mache für die »Spurensicherung des Realen« und wieder Zugang zu »den verfügbaren Spuren der Ordnung der Dinge« verschaffe (Wetzel 1991, II). Sowohl die >Verfalls-< als auch die >Befreiungstheoretiker< begegnen sich in einer verblüffend reduktionistischen, zeichentheoretisch naiven Entgegensetzung von Schrift- und Bildmedien. Flusser erachtet Schrift als einzigen analytischen Code und stellt ihm Bilder als ausschließlich synthetisch codiert kategorial gegenüber. Wetzel feiert die Realitätsnähe der neuen technischen Medien, da sie im Gegensatz zur alphabetischen Schrift (-Sprache) »weder einer Lexik noch einer Grammatik« bedürfen und angeblich »keinem Code und keiner Konvention« unterliegen (Wetzel 1991, 44t). Damit setzt die aktuelle kulturkritische Auseinandersetzung fort, was in der wissenschaftlichen Schriftforschung Tradition hat: sie thematisiert lautsprachliche, schriftliche und bildliche Codes nur in wechselseitiger Ausschließung. Fruchtbarer wäre es, die wechselseitige Einflußnahme der Zeichensysteme bzw. Medien, ihren historischen Formen- und Funktionswandel und die Ausbildung variabler Mischstrukturen zu beschreiben.7 Dies ist bisher noch kaum im Ansatz versucht worden. Die vorliegende Untersuchung will dazu einen Teilbeitrag leisten, indem sie auch Prozesse der Oralisierung und Visualisierung von Schrift in der Entwicklung der Typographie aufzeigt (s. dazu Kap. 5.2 und 7.2). In der Klage um das Ende der Schrift werden Oralität, Schriftlichkeit und Bildlichkeit jeweils Merkmale und Funktionen zugeschrieben, die aus ihrer frühgeschichtlichen Entstehungszeit abgeleitet sind. Die gegenwärtige Debatte unter-
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Unter dieser Perspektive würde auch die implizite Gleichsetzung von Schrift und Buch in der Diskussion schnell obsolet, die wesentliche soziokulturelle Funktions- und Anwendungsbereiche von Schrift jenseits des Buchwesens unthematisiert läßt.
scheidet zudem nicht zwischen der generellen sozialen Funktion und Eingebundenheit von Schrift in gesellschaftlicher Kommunikation einerseits und Schrift als empirischem Gegenstand, d.h. der konkreten materiellen, formalen und technologischen Verfaßtheit von Schrift und deren Zeichenhaftigkeit andererseits. Dies ist der Grund, warum es den Endzeittheoretikern nicht gelingt, differenziert Wandel und Kontinuität der gegenwärtigen digitalen Revolutionierung von Schriftlichkeit zu erfassen. Zweifellos findet gegenwärtig ein Wandel statt, dessen Auswirkungen auf die Materialität von Schrift, ihre Gestaltungs- und Anwendungsmöglichkeiten zu Recht verglichen wird mit dem Einschnitt, den Gutenbergs Erfindung des beweglichen Letternsatzes für die Entwicklung von Literalität und Typographie darstellte, ohne daß diese technologische >Systemrevolution< an sich aber die Ersetzung von Schrift als Basis gesamtgesellschaftlicher Kommunikation bedeutete. Auffällig ist vielmehr das Bemühen, die typographischen Standards und Codifizierungen, die unter den technologischen bzw. materiellen Bedingungen von Bleiund Photosatz entwickelt wurden, möglichst unverändert zu tradieren. 8 Auf der Ebene der Schnittstellen zum Benutzer - Bildschirm und Druckwerken - ist gegenwärtig nichts weniger als eine abrupte Ersetzung kultureller Standards zu konstatieren - im Gegenteil: das Bemühen um die Imitation traditioneller typographischer Gestaltung ist unübersehbar. Darin sind die Gutenbergsche und die digitale technologische Revolution strukturell vergleichbar. Auch Gutenberg suchte bei der formalen Entwicklung des Zeichensatzes des Buchdrucks, die formalen und ästhetischen Standards der handschriftlichen Buchstaben- und Textgestaltung zu imitieren bzw. zu vervollkommnen (vgl. dazu Giesecke 1991, 134ff.; 70l).9 Typisch ist die Blindheit derer, die das Ende der Schriftkultur herannahen sehen, gegenüber der faktischen Persistenz von Schrift in der Praxis;' ° zumeist wird die Publikationsflut, die Bücherschwemme und die bisher unerreichte Popularisierung
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Nicht nur versuchen die großen Schriftenhersteller den Bestand an Schriftschnitten ohne formal-qualitative Einbußen zu digitalisieren. Auch in der Entwicklung automatischer Satz- und Umbruchsysteme für die professionelle Anwendung wird versucht, die Möglichkeiten der leistungsstärker werdenden EDV zu nutzen, um im mikrotypographischen Bereich die formal-ästhetischen Standards aus der Zeit des Bleisatzes zu realisieren, die im Photosatz aus technischen Gründen verlorengegangen waren, wie z. B. der perfekt ausgeschlossene >Gutenberg-Satz< mit (optisch) gleichmäßig breiten Wortzwischenräumen und (optisch) geraden Satzkanten (vgl. Non-Plus-Ultra-Typographie 1990). Frappant ist, daß sogar versucht wird, die herkömmlichen Weisen des rezeptiven Umgangs mit gedruckten Texten ins digitale Medium zu übertragen: Die Software Expanded Book Toolkit erlaubt es, innerhalb elektronischer Bücher Marginalien, Markierstriche, Eselsohren, Büroklammern neben solch >modernen< Textbearbeitungsmöglichkeiten wie automatischen Querverweisfunktionen und gesprochenen Anmerkungen anzubringen (s. Singelmann 1993, 156). Die Tatsache, daß es trotz der Erfindung des Buchdrucks, der Schreibmaschine und des Telefons immer noch Handschrift gibt, kann Flusser argumentativ nur damit auffangen, daß er »auf die zähe Trägheit gewohnter Gesten« verweist, die heute »wie ein funktionsloser Blinddarm« weiterwirken (Flusser 1990,120).
von Schrift im Alltagsleben geflissentlich nicht thematisiert, wenn vom »Ende der Schrift« die Rede ist. Dabei wurden noch nie so viele Schriftstücke gedruckt, noch nie so viele Bücher publiziert wie gegenwärtig. Schriftformen entwickeln sich zu einem Marken- und Konsumartikel. Die heute auf CD-ROM verkauften Schriften (Fonts) sind Massenartikel geworden, deren Verkaufszahlen sie »in die multimedialen Bestsellerlisten« gebracht haben: »Schrift ist so populär wie niemals zuvor« (Schnurpfeil 1993, 46). War das Schrift- und Druckwesen bisher durch hochspezialisierte, arbeitsteilige Professionalisierung gekennzeichnet, so findet derzeit eine beispiellose Entdifferenzierung und >Demokratisierung< statt. Wer bisher einen Text drucken lassen wollte, mußte ihn in den Satz geben. Satz- und Druckmaschinen waren für den einzelnen Geschäfts- oder Privatmann unerschwinglich; ihre Handhabung bedurfte einer eigenen Berufsausbildung; die zugehörigen Satzschriften waren teures Handelsgut spezialisierter Schriftenhersteller. Die massenhafte Verbreitung leistungsstarker PCs, entsprechender Software und hochwertiger Drucker ermöglicht es, daß heute potentiell jeder >sein eigener Gutenberg< wird. Texterfassung, typographische Gestaltung und der Druck können heute am PC von jedermann selbst vorgenommen werden.1' Selbst einfache Textverarbeitungsprogramme zwingen jeden Benutzer, sein eigener Typograph zu werden. Anders als bei der Texterstellung an der Schreibmaschine verlangt die elektronische Texterstellung genuin typographische Bearbeitungsschritte: Auswahl der Schriftart, die Bestimmung des Schriftgrades, die Festlegung des Zeilenfalls, die Definition des Satzspiegels u. ä. m. Es verbreitet sich so auch jenseits der professionellen Fachkreise das Bewußtsein, daß Typographie, die Gestaltung von Schrift und mit Schrift, ein hochdifferenziertes Regelsystem ist, das sich offensichtlich nicht völlig automatisieren läßt und dessen Mißachtung zu schlechten, unansehnlichen Ergebnissen führt. Smith erwartet deshalb - als Folge aus den neu erwachsenden Möglichkeiten typographischer Gestaltung und der gesteigerten Bewußtheit und Sensibilität gegenüber der Form von Texten und Büchern -, daß typographische Analysen einen festen Platz in der literatur- und sprachwissenschaftlichen Ausbildung erhalten werden.12 Dies wäre zu wünschen. Perspektiven der Beschäftigung mit Typographie auch innerhalb der Literaturwissenschaft aufzuzeigen, ist auch ein Ziel dieser Studie. Die Popularisierung von Typographie hat die Diskussion über allgemeine schriftgestalterische Qualitätsmaßstäbe und Ästhetik sowie die Reflexion über Notwendigkeit und Funktion spezieller typographischer Regeln und Standards belebt. Indiz hierfür ist die gegenwärtige Verbreitung typographischen Lernensc das gehäufte Erscheinen typographischer Lehrbücher für die Arbeit am PC in der Tradition der 11
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Insbesondere die Erstellung einfacherer akzidenztypographischer Arbeiten - Privatdrucksachen, Flugblätter, Handzettel, Werbebroschüren - sind heute bereits vielfach entprofessionalisiert und werden von Laien ausgeführt. »I believe the written word will flourish, that the end of this century will see a new awareness of books. In the future literature students will study composition of page as well as syntax« (Smith 1989,19).
Lehrbücher der Blei- und Photosatz-Ära (z.B. Gulbins/Kahrmann 1993) oder Zeitschriftenneugründungen im Umfeld des DeskTopPublishing (DTP) in den späten 80er Jahren, die sich regelmäßig mit praktischen Fragen zu Typographie unter den Bedingungen der EDV befassen (z. B. die Monatszeitschrift Page. Publizieren und Präsentieren mit dem Personal Computer). Insgesamt ist es unbegründet und falsch, vom Ende der Schrift und der Schriftkultur insgesamt zu sprechen. Zu diskutieren wären vielmehr die Veränderungen des kulturellen Umgangs und der sozialen Funktionen von Schrift im Beziehungsgefüge alter und neuer Medientechnologien. Dazu aber ist zunächst einmal die Entwicklung von Schrift als Zeichensystem nach der Gutenbergschen Revolution und vor den digitalen Umwälzungen differenziert nachzuvollziehen. Die vorliegende Untersuchung ist als ein Beitrag zu dieser vorbereitenden Klärung zu lesen. Auswirkungen auf Schriftentwurf und den gestalterischen Einsatz von Schrift sowie den rezeptiven Umgang mit digitalisierten Texten, die aus den genuin neuartigen Möglichkeiten der digitalen Schrift- und Texterstellung resultieren, zeigen sich erst in Ansätzen. Die Materialität von Schrift >unterhalb< der Benutzeroberflächen hat hingegen eine radikale Veränderung erfahren. Es gibt die einzelnen Lettergestalten nicht mehr als konkrete Form, als materielle Gegenständlichkeit wie im Setzkasten oder auch noch auf dem Negativstreifen im Photosatz. Der Zeichensatz einer digitalen Schrift liegt ungegenständlich, als mathematischer Algorithmus vor; die figurative Zeichengestalt wird erst bei der Ausgabe auf Bildschirm oder Drukker je neu erstellt:13 »Type is to be as abstract as sand on the beach. In that sense type doesn't exist any longer« (Kisman zit. aus Poynor 1991, 6). In dieser Hinsicht - der veränderten Materialität und Technizität von Schrift als gestalterischem Gegenstand - kann man mit einigem Recht davon sprechen, daß es Schrift im herkömmlichen Sinn nicht mehr gibt. Auf dieser Ebene sind Schrift und Bild heute nicht mehr unterschieden. Digitalisiert stellen sie für die technologische Be- bzw. Verarbeitung in der EDV gleiches Ausgangsmaterial dar. Beide können denselben - bisher ungeahnten - visuellen Manipulationen unterworfen werden. Traditionelle Beschränkungen der Text-Bild-Relationierung gelten nicht mehr. Zugriffsmöglichkeit und Handlungsspielraum des Gestalters gegenüber dem gesamten typographischen und bildlichen Fundus sind den bisherigen typographischen Gestaltungs- und Druckverfahren unvergleichlich. Einen Überblick über eine zeitgenössische typographische Stilbewegung, die sich entlang der neuen Gestaltungsmöglichkeiten von Schrift und Bild formiert, gibt
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Die >Entmaterialisierung< der Grundlagen von Schrift hat im Druckwesen allerdings schon in den 60er Jahren mit dem Übergang vom optomechanischen Photosatz zum elektronischen und digitalen Lichtsatz stattgefunden. Liegt im Photosatz noch ein Schriftbildträger (Negativ) vor, so sind im Lichtsatz die Schriftzeichen schon nicht mehr physisch, sondern nur mehr mathematisch-abstrakt als Algorithmen vorhanden (Schmidt 1990, 67-107; Aicher 1989,244f.; Rüegg 1989,115). Was die damaligen Satztechnologien - im Gegensatz zu heutiger digitaler Textverarbeitung - allerdings noch nicht erlaubten, ist die gemeinsame Bearbeitung von Schrift und Bild.
die Anthologie typography now. the next wave (Poynor/Clibborn 1991). Vorangestellt ist eine Einleitung, in der die neuen programmatischen Kommunikationsziele von Typographie auf der Basis eines neuen Zeichenverständnisses von Schrift und die Verabschiedung grundlegender Leitprinzipien traditioneller Typographie, wie Lesbarkeit oder die Entsprechung von Form und Inhalt, proklamiert werden. In dieser Anthologie findet sich auch eine Abbildung der »Zufallsschrift« Beowulfvon Erik van Blokland und Just van Russum, die den Wandel der Zeichenstruktur und Materialität von Schrift im Zuge ihrer Digitalisierung am besten exemplifiziert (s. Poynor/Clibborn 1991,211). Jede Letter wird innerhalb eines definierten Rahmens durch Zufallsoperationen beim Prozessieren des Drucks variiert. Beowulf stellt somit eine Druckschrift dar, in der ein und derselbe Buchstabe stets eine andere, einzigartige, unvorhersehbare Form hat. Es liegt tatsächlich nahe, in diesem Fall vom Abschied von der »Gutenberg-Galaxie« (McLuhan 1962) zu sprechen, denn die Realisation dieser Schriftzeichen im Druck basiert nicht nur nicht länger auf dem Wechselverhältnis von Positiv- und Negativformen, vor allem kennt diese Schriftart keine normierten, immer wieder identisch zu reproduzierenden Letterntypen mehr. Typographie kehrt damit hinter den Zeichenstandard der Gutenbergschen Erfindung zurück. 14 Entwicklungen wie diese, die Zeichenstruktur und Materialität von Druckschrift und typographischer Gestaltung wesentlich verändern, werden deshalb nicht mehr Gegenstand meiner Untersuchung sein. Sie bedürfen einer gesonderten, eigenen Analyse.
1.3 Zu den Zielen dieser Studie Es lassen sich grundsätzlich zwei Aspekte typographischer Gestaltungsarbeit unterscheiden: 1. der Entwurf der Drucktypen (Schriftgestaltung); 2. die Anordnung 15 des Letternmaterials auf der Druckfläche 16 (Schriftkomposition). »Ziel der Typographie ist es, Sprache zu fixieren. Sie setzt dabei prinzipiell auf zweierlei, auf >Charaktere< und auf >Anordnungen< von Schriftzeichen« (Kornatzki 1969, 3). Zusammen ergeben sie eine komplexe »Gestalt« (Coulmas 1982,132), in der sich ein gedruckter Text präsentiert.
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Konstitutiv für den Gutenbergschen Zeichenstandard war, daß aus einem Modell jeweils eine (praktisch unbegrenzte Menge) formidentischer Buchstabenexemplare hergestellt werden konnte. Die Anordnung der Textelemente auf der Fläche wird häufig auch als Layout bezeichnet und gilt vielfach als eigentliche Aufgabe eines Typographen. Wobei die Gestaltung der Druckfläche selbst, ihres Formats und ihrer materiellen Beschaffenheit, auch zum Tätigkeitsfeld des Typographen gehören.
Typographische Gestaltungsentscheidungen basieren auf der Überzeugung, daß durch verschiedene typographische Schriftformen und deren Anordnungsweisen verschiedene konnotative Bedeutungen kommuniziert werden. Ich gehe von der These aus, daß Schriftcharaktere selbst als semantische Größe wirken und die Anordnung der Schriftzeichen die Darstellung semantischer Abläufe, Wertigkeiten und Beziehungen zu leisten vermag. Wahrnehmungspsychologie und Leseforschung haben in empirischen Studien gezeigt, daß 1. Typographie unterschiedliche Bedeutungen übermitteln kann (Tannenbaum 1969,35); 2. Leser auf Minimalunterschiede im typographischen Angebot reagieren und daß eine Übereinstimmung hinsichtlich der subjektiven Bewertung besteht (Becker 1971,12); 3. typographische Mittel in verschiedenen Kombinationen verschieden auf den Leser wirken. Innerhalb einer bestimmten Population sind Normen der Empfängererwartung festgestellt worden (Becker 1971,13). Bisher liegen keine systematischen zeichen- oder kulturwissenschaftlichen Untersuchungen vor, die sich mit den Voraussetzungen, den Regelhaftigkeiten oder der Geschichte der Bedeutungsvermittlung durch Typographie befassen. Hierzu möchte diese Studie einen ersten umfangreicheren Beitrag leisten. Diese Arbeit versteht sich als problementfaltende Untersuchung zur zeichentheoretischen Modellbildung von Typographie und zur kulturgeschichtlichen Analyse ihrer Semantik und Pragmatik. Leitendes Interesse ist dabei, die Bedingungen und Mechanismen der Semantisierung von typographischen Formen zu konzeptionalisieren und an Beispielen aus der typographischen Praxis zu veranschaulichen. Es geht mir somit ganz allgemein um die Darstellung grundlegender bedeutungsrelevanter Funktionen typographischer Formen bei der Erstellung, der Wahrnehmung und Deutung von gedruckten Texten. Ich widerspreche damit dezidiert der Auffassung, daß Schriftzeichen an sich bedeutungslos seien und funktional völlig darin aufgingen, auf lautliche bzw. lexikalische Spracheinheiten zu verweisen: Ein >R< kann in Stein gemeißelt, auf Papier geschrieben, in Rinde geritzt, in Fraktur, Bodoni, Garamond oder Helvetica gedruckt sein, ohne seine Bedeutung, seinen Bezug auf das Phonem [r] im mindesten zu affizieren. Ausschlaggebend ist lediglich seine Distinktivität: [...] Alles andere gehört zur >Materialität< des Zeichens, die zwar unabdingbar ist, um die Bedeutung überhaupt zur Erscheinung kommen zu lassen, deren Spezifität zur Bedeutung selbst nichts beiträgt (Assmann 1988,144).
Ähnlich wie Assmann trennt Posner äußere Form und sprachlichen Inhalt eines Textes kategorisch: Ein normales Schreibmaschinen-Typoskript zum Beispiel enthält Endinformationen sowohl auf der typographischen als auch auf der semantischen Ebene: die Wahl des Schrifttyps ist irrelevant für den Inhalt, und die Wahl des Inhalts irrelevant für die Gestaltung der Lettern und des Satzes; aus dem Inhalt lassen sich keine Informationen 11
ableiten, die nicht wiederum den Inhalt betreffen, auch der Schrifttyp läßt keine Rückschlüsse zu, die mehr als nur die Gestaltung der Lettern des Satzes betreffen (Posner 1971, 229).
Ich möchte hingegen zeigen, daß die Materialität und die Form der Schriftzeichen relevant ist für die Wahrnehmung und Deutung des Textinhalts und - über die Abbildung von Lautsprache hinaus - sehr wohl zur Bedeutung eines Textes beiträgt, so wie umgekehrt der Textinhalt Einfluß hat auf die typographischen Gestaltungsentscheidungen bei Schriftwahl und Schriftkomposition. Schrift ist unter unterschiedlichen Gesichtspunkten in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen Forschungsgegenstand. Die Auffassung, daß Schriftzeichen Bedeutung ausschließlich als Zeichen von Sprache haben, wird am prononciertesten in der linguistischen Sprachwissenschaft vertreten. Schrift gilt hier traditionell als sekundäres Zeichensystem, d. h. als Zeichensystem, dessen Elemente auf Zeichen eines anderen Zeichensystems - nämlich Lautsprache - verweisen, die eine primäre Bedeutungsfunktion erfüllen. Die Auswertung sprachwissenschaftlicher Theoriebildung zu Schrift bzw. Typographie in Kapitel 2.5 wird deshalb breiteren Raum einnehmen, denn sie ist Reibungsfläche und Kontrastfolie für meinen zeichentheoretischen Entwurf. Die Schwierigkeiten und Aporien linguistischer Schrifttheorie lassen sich ex negativo fruchtbar machen. In jüngerer Zeit hat sich in der zeichen- und medientheoretisch ausgerichteten Literatur- und Kulturwissenschaft die Überzeugung durchgesetzt, daß die Materialität von Zeichen niemals kategorisch unbedeutend und insbesondere die Gestalt von Schriftzeichen und ihre Anordnung »in der Entwicklung von Schriftkulturen zu einem zusätzlichen Signifikanten« geworden ist (Raible 1991, 5). Eine Übersicht neuerer, für mein Untersuchungsvorhaben relevanter Beiträge aus der Forschung zur Materialität der Zeichen gibt das Kapitel 2.4. Obwohl zunehmend anerkannt wird, daß Schrift über »ihre sprachsystembezogene Zeichenhaftigkeit hinaus [...] eine autonome Zeichenhaftigkeit aufweisen [kann], die durch ihre visuelle Ausdruckssubstanz bedingt ist« (Nöth 1985, 258), und obwohl vielfach Einigkeit darüber besteht, daß Schrift bzw. Typographie das »wichtigste semiotische System für die Evolution der Kultur« ist (Nöth 1985, 256) und sie wegen ihrer spezifischen Eigenschaften als Zeichensystem »der Etablierung einer eigenen semiotischen Teildisziplin wert« wäre (Coulmas 1980, 315), existiert eine Semiotik der Schrift »noch nicht einmal als Programm« (Coulmas 1980, 314). Dies bestätigt ein Blick auf die sehr vereinzelten, semiotisch argumentierenden Beiträge aus Sprachwissenschaft, Semiotik und Literaturwissenschaft, in denen Typographie als Ausdrucks- und Bedeutungssystem thematisiert wird (s. Kap. 2.6). Damit stellt sich für meine Untersuchung zunächst die Aufgabe, eine Zeichentheorie von Typographie, insbesondere von (Druck-) Schrift als dem wesentlichen typographischen Gestaltungsmittel zu entwerfen, denn die spezifischen semiotischen Eigenschaften von Druckschrift erweisen sich als Grundlage der evolutionären Dynamik typographischer Gestaltungspraxis und der Möglichkeiten, durch Typographie Bedeutung zu vermitteln. Die Zeichenstruktur von Schrift bzw. Typo12
graphic als materielle Voraussetzung für die Realisation von schriftsprachlichen Zeichen wird in Kapitel 3 theoretisch ausgearbeitet. Absicht dieses semiotischen Theorieteils der Arbeit ist es nicht, einen Beitrag zur Allgemeinen Semiotik zu leisten. Der Entwurf des zeichentheoretischen Modells ist vielmehr pragmatisch motiviert. Ziel ist es, ein operationalisierbares, analytisches Instrumentarium zu entwikkeln, mit dessen Hilfe 1. unterschiedliche Ebenen (Kap. 4) und Verfahren der Bedeutungserzeugung durch Typographie plausibilisiert (Kap. 5), 2. die Vielfalt historischer kultureller Semantisierungsprozesse an typographischen Formen erklärt (Kap. 6) und 3. die formalen und funktionalen Neuerungen in der Typographie Anfang des 20. Jahrhunderts begründet werden können (Kap. 7). Zu allen drei Punkten fehlen bislang tragfähige Konzepte. Das semiotische Begriffsinventar, mit dem ich arbeiten werde, ist in Hinblick auf die Operationalisierbarkeit bewußt klein gehalten. Denn nicht die abstrakte Theoriebildung steht im Mittelpunkt der Untersuchung, sondern die Analyse der typographischen Gestaltungspraxis und der rezeptive Umgang mit Typographie unter zeichentheoretischen Gesichtspunkten. Ziel ist die Vermittlung von theoretischer, analytisch-systematischer und historischer Betrachtung. Die Arbeit gliedert sich dementsprechend in drei Teile: In einem ersten Schritt wird eine Semiotik von Typographie entwickelt, in einem zweiten Schritt werden typographische Formbildung, Semantik und Pragmatik an Beispielen aus der typographischen Praxis systematisiert, und in einem dritten Schritt wird die Entwicklung von Typographie als Ausdrucks- und Bedeutungssystem in ausgewählten historischen Zusammenhängen skizziert. Die Darstellung umfaßt drei Untersuchungsebenen, deren methodisch exakte Unterscheidung nicht immer durchgehalten werden kann: 1. die vielfältige Thematisierung und ausführliche Theoriebildung zu Typographie sowohl in berufsständischen Selbstbeschreibungen (Lehrwerken, Fachpublikationen u.a.) als auch in Fremdbeschreibungen (Leseforschung, Kunstkritik u.a.). Hier erfolgt sowohl die Regelbildung der Gestaltungspraxis als auch die konnotativ-semantische Codifizierung des typographischen Zeichenmaterials; 2. die Deutungen, die einzelnen typographischen Zeichenelementen oder einem typographischen Text interpretativ zugeschrieben werden können; 3. die zeichentheoretische Beschreibung, die auf der ersten und zweiten Ebene fruchtbar gemacht werden kann. Zum einen können typographische Vertextungen zeichentheoretisch analysiert werden. Zum anderen ist die Entwicklung typographischer Theoriebildung und Gestaltungspraxis selbst von zeichentheoretischen Überlegungen beeinflußt. Typographisches Zeichenmittel ist nicht das alphabetische Typenmaterial (Schrift) allein. Nach der zeichentheoretischen Grundlegung wird deshalb zunächst das Zei13
chenrepertoire, über das Typographie verfügt, systematisiert (Kap. 4). Ausgeführt wird, mit welchen Elementen Typographie kombinatorisch umgeht, welche grundlegenden gestalterischen Leitprinzipien die Anordnung des typographischen Letternmaterials regeln; diese sind im wesentlichen nichtsprachlicher Natur. Deutlich werden soll, daß typographische Gestaltung auf ganz unterschiedliche Ebenen der druckschriftsprachlichen Vertextung Einfluß nimmt. Eingriffe auf jeder dieser Ebenen erzeugen spezifische Formmerkmale, die zum Gegenstand der Deutung werden können. In diesem Zusammenhang werde ich Erscheinungsweisen und Funktion typographischer Dispositive darstellen (Kap. 5.1). Als typographisches Dispositiv bezeichne ich konventionalisierte Kompositionsschemata, die die Zugehörigkeit eines Textes zu einer Textsorte bzw. Gattung anzeigen. Der Existenz und dem regelhaften Einsatz von typographischen Dispositiven ist es zu verdanken, daß man auf den ersten Blick in der Lage ist, beispielsweise eine Seite aus einer Tageszeitung von einem Dramentext zu unterscheiden. Typographische Dispositive sind insbesondere auch aus literaturwissenschaftlicher Perspektive von Interesse, da sie gattungsdifferenzierende Funktion haben. Insbesondere Lyrik hat sich in Abhängigkeit von der Wirkungsmacht ihres typographischen Dispositivs von einer ursprünglich oral-phonischen zu einer in erster Linie typographisch konstituierten Textart gewandelt (Kap. 5.1.2). Im Anschluß daran möchte ich zeigen, daß sich typographische Schriftsprache und lautsprachliche Mündlichkeit keineswegs grundsätzlich wechselseitig ausschließen. Ein eigenes Kapitel (Kap. 5.2) widmet sich deshalb der Beschreibung von Formmerkmalen, die als Mündlichkeitsmerkmale fungieren und prosodische Eigenschaften gesprochener Sprache bezeichnen. Typographische Mündlichkeitsmerkmale erlauben - so meine These -, aus bestimmten typographischen Formen regelhaft auf bestimmte lautliche Erscheinungsformen mündlichen Sprechens zu schließen, und nehmen so Einfluß auf die Deutung des Textinhalts. Es folgt die analytische Beschreibung typischer Semantisierungsprozesse an Schriftformen und der Anordnung von Textelementen auf der Fläche, die unabhängig von sprachlich-inhaltlichen Textzusammenhängen erfolgen. Dabei lassen sich stärker wahrnehmungspsychologische, emotional-affektive (codierte Reize) und vornehmlich wissensbasierte konnotative Bedeutungsdimensionen (Funktions-Zeichen) von typographischen Zeichenelementen unterscheiden (Kap. 5.3.2). Da typographische Formen eine eigenständige, einzeltextunabhängige Bedeutungsdimension haben, steht der Typograph vor der Aufgabe, typographische Ausdrucksform und sprachlichen Textinhalt zu koordinieren, weshalb die >Form-InhaltFrage< im Zentrum typographischer Theoriebildung und Gestaltungspraxis steht. An Beispielen aus der typographischen Praxis werde ich deshalb grundlegende Mechanismen der Bedeutungsbildung, die der wechselseitigen Bezugnahme von typographischer Form und sprachlichem Inhalt zugrundeliegen, eingehender darstellen (Kap. 5.3.3). Äußere Textform und sprachlicher Textinhalt lassen sich nicht trennen: die Form gehört zum Inhalt wie der Inhalt zur Form. Für die Analyse des Verhältnisses von Text-Form und Text-Inhalt ist es allerdings aus heuristischen Gründen not14
wendig, Form und Inhalt getrennt zu behandeln. 17 Dabei sollen die regelhaften und dennoch hochflexiblen Prozesse der Wahrnehmung und Deutung von Schriftform und Schriftanordnung und ihr Einfluß auf die Deutung des Textinhalts skizziert werden. Hierfür ist es sinnvoll, verschiedene (Komplexitäts-) Niveaus typographischer Vertextung zu unterscheiden: 1. Lettern (am Beispiel von Logos, Kap. 5.3.3.1), 2. Worte (am Beispiel von de Campos Luxo, Kap. 5.3.3.2), 3. der Textzusammenhang (am Beispiel von Mörikes Gedicht Er ist's, Kap. 5.3.3.3), 4. der Buchzusammenhang (am Beispiel von Rilkes Gedichtzyklus Lieder der Mädchen, Kap. 5.3.3.4). Eine umfassende Darstellung der historischen Entwicklung von Typographie ist im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten. Es werden deshalb nur ausgewählte Aspekte der typographischen Gestaltungspraxis und Theoriebildung und einzelne historische Entwicklungsmomente der kulturellen Nutzung und Semantisierung von Typographie analysiert. Sind im systematischen Teil der Studie in erster Linie typographische Gestaltungsbeispiele Gegenstand der Analyse, so rückt im historischen Teil der Arbeit die Selbst- und Fremdbeschreibung von Typographie ins Zentrum der Untersuchung: die Entwicklung des typographischen Formenkanons und dessen Gebrauch wird im Spiegel des entsprechenden Begleitdiskurses über Typographie beschrieben, d. h. die Analyse von einzelnen Textbeispielen rückt zugunsten der Beschreibung der historischen Theoriebildungen und Semantisierungen von Typographie in den Hintergrund. Ausführlich darstellen werde ich die Auseinandersetzungen um Verwendung und Bedeutung der Schriftfamilien Fraktur und Antiqua (Kap. 6.2), knapper die Diskussion um mittelachsial-symmetrisches und anachsial-asymmetrisches Satzschema (Kap. 6.3). In diesem Zusammenhang werde ich eine diskurstheoretische Strukturanalyse der Semantisierungen der beiden Schriftfamilien durchführen. Denn nicht allein die Tatsache, welche Bedeutungen typographischen Formen im einzelnen zugeschrieben werden, sondern auch die Art und Weise, wie das Konnotationssystem jeweils organisiert ist, haben Einfluß auf die Entwicklung und den Gebrauch typographischer Zeichenmittel in der Gestaltungspraxis. Der Schriftstreit zu Fraktur/Antiqua eignet sich für die historische Analyse der kulturellen Semantisierung von Typographie besonders gut, denn er stand in wichtigen Phasen der Entwicklungsgeschichte von Typographie im Zentrum berufsständischer, künstlerisch-ästhetischer und auch politisch-öffentlicher Debatten. 17
Bei der Analyse von Typographie können drei Ebenen unterschieden werden: l.der typographische Kontext (andere typographische Elemente innerhalb des Textzusammenhanges); 2. das einzelne grammatisch-semantische Sprachelement, das typographisch >materialisiert< wird, bzw. der sprachlich inhaltliche Textzusammenhang; 3. der außertextuelle Kontext; sei es der situative Gebrauchszusammenhang oder die historische Entstehungszeit des Textes. 15
Bis heute fehlen Untersuchungen, die Voraussetzungen und Wandel der diskursiven Semantisierungsstrategien im Streit um Fraktur und Antiqua im diachronen Vergleich darstellen. Die Rekonstruktion der historischen Entwicklung der konnotativen Bedeutungsaufladung des Formgegensatzes von Fraktur und Antiqua nimmt deshalb innerhalb dieser Untersuchung einen breiten Raum ein. Die Bedeutung und Verwendung von Schriftarten ist selten so ausführlich und vehement im Kontext umfassenderer ästhetischer und politisch-weltanschaulicher Auseinandersetzungen diskutiert worden. Der Streit wurde im Übergang von Kaiserreich, Weimarer Republik und Drittem Reich ideologisch unvergleichlich aufgeladen und erlangte schließlich kultur- und machtpolitische Relevanz. Diesen Prozeß an historischem Quellenmaterial ausführlicher nachzuzeichnen, scheint deshalb lohnend und für einen größeren Leserkreis interessant. Die Auseinandersetzungen um die Verwendung von Fraktur und Antiqua rükken bereits Anfang des 19. Jahrhunderts ins Zentrum der typographischen Diskussion. In der Goethezeit steht der Schriftstreit in Zusammenhang mit der Entwicklung der klassischen Werkästhetik, der Bemühungen um eine Kanonisierung deutscher Nationalliteratur und der Ausdifferenzierung des literarischen Marktes und wird dementsprechend in der literarischen Öffentlichkeit ausgetragen. Dabei wird die Nationalisierung der Schriftfrage vorangetrieben und eine ästhetische Aufwertung von typographischer Gestaltungsarbeit eingeleitet (Kap. 6.2.2). Anfang des 20. Jahrhunderts tritt der Streit um Fraktur und Antiqua insofern in eine neue Phase, als es zu einer beispiellosen nationalistischen Ideologisierung kommt, in deren Folge Fraktur-Schriften zu einem Kollektivsymbol des >Deutschen< werden. Der Schriftgegensatz wird zur nationalen Frage stilisiert und dementsprechend auch im politischen System diskutiert. Damit sind die Grundlagen für die realpolitische Funktionalisierung des Schriftstreits durch die Nationalsozialisten geschaffen. Kapitel 6.2.4.1 befaßt sich mit der Amtsschriftpolitik des Dritten Reiches. Es zeigt sich, daß die Nationalsozialisten in ihrer Schriftpolitik den Fraktur/ Antiqua-Gegensatz als flexibles Mittel wirtschaftlicher, kultureller und imperialer Machtpolitik nutzten und ihre dirigistischen Maßnahmen in der Schriftfrage den jeweiligen politischen Zielvorgaben pragmatisch anpaßten. Damit beschleunigen die Nazis paradoxerweise die Entideologisierung des Schriftstreits. Weit verbreitet ist die Auffassung, daß die Machtergreifung der Nationalsozialisten zu einem generellen Abbruch der gestalterischen Moderne auch in der Typographie geführt habe. Bei Betrachtung der Schriftgestaltung (Kap. 6.2.4.2.2) und der praktischen Schriftverwendung (Kap. 6.2.4.2.3) in Buch- und werblicher Gebrauchstypographie vor und während des Dritten Reiches kommt man jedoch zu dem Ergebnis, daß ein komplexes Verhältnis von Kontinuität und Abbruch typographischen >Fortschritts< besteht; anzutreffen sind die Modernisierung traditionalistisch->reaktionärer< Typographie und die Traditionalisierung modern-avantgardistischer Typographie; eine Entwicklung, die sich nach 1933 fortsetzt und die typographische Formensprache der 50er Jahre vorbereitet. Der Vergleich von typographischen Arbeiten der 30er und 40er Jahre zeigt, daß die Nationalsozialisten zu keiner Zeit einen universalen und homogenen Antimodernismus in typographischen 16
Schrift- und Gestaltungsfragen durchgesetzt haben und auch in Staats- und parteipolitischen Propagandaschriften nach Aussageabsicht, Textsorte und Zielgruppe differenziert verschiedenste Schriftformen und Gestaltungsprogramme zu nutzen verstanden. Ausführlicher analysiere ich in diesem Zusammenhang die FrakturSchnitte, die heute gemeinhin als mationalsozialistische Schriften< und als Charakteristikum >nationalsozialistischer< Typographie insgesamt gelten. Stellt man die umstrittenen Fraktur-Schriften in Bezug zu Deutung und Verwendung, die sie in den 30er Jahren erfahren haben, so ergibt sich ein anders gelagertes Bild: Es zeigt sich, daß zentrale schriftgestalterische Formprinzipien der zeitgenössisch avantgardistischen Antiqua-Grotesk auf Fraktur-Schriften übertragen wurden. Im Zusammenhang mit der Ausdifferenzierung von traditioneller textorientierter Buchtypographie und moderner bildorientierter Akzidenztypographie werden weitgehend unabhängig vom Streit um Fraktur und Antiqua - Mitte der 20er Jahre mittelachsiales und anachsiales Satzschema zu funktionalen Formgegensätzen (Kap. 6.3.1). Eine ausgesprochen ideologische Aufladung als Zeichen moralischer und politischer Gesinnungsgegensätze erfuhr der Gegensatz von symmetrischem und asymmetrischem Satzschema erst nach Kriegsende in der Debatte zwischen Tschichold und Bill im Kontext der Auseinandersetzungen um die (Re-) Integration traditioneller typographischer Formen in das Zeichenrepertoire fortschrittlichen Typographie (Kap. 6.3.2). Ich dokumentiere den Disput zwischen Tschichold und Bill auch deshalb ausführlicher, weil die Frage nach Gebrauch und Bedeutung von mittelachsialem und anachsialem Satzschema zum Kristallisationspunkt der Diskussion um die grundsätzliche Möglichkeit der formalästhetischen Weiterentwicklung typographischer Formensprache wird. Abschließend befaßt sich die Untersuchung mit den Voraussetzungen für die Entwicklung der Kunsttypographie im Kontext der historischen Avantgardebewegungen. Die auffällige Annäherung von Typographie und bildender Kunst bzw. Dichtung findet vor allem zwischen 1890 und 1930 statt. In diesem Zeitraum kommt es zu einer historisch einmaligen Häufung von typographischen Neuerungen in technologischer, formaler und funktionaler Hinsicht. Die typographischen Innovationen Anfang des 20. Jahrhunderts resultieren aus vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen Malerei, Literatur, Typographie und Werbung im Zusammenhang mit dem Entstehen moderner Massenpresse, den technologischen Umwälzungen im Druckwesen und den künstlerischen Experimenten der Avantgarden. Neben traditioneller, textorientierter Buch- und Akzidenztypographie formiert sich eine bildorientierte typographische Praxis, in der Typographie vor allem als visuelles Ausdrucks- und Bedeutungssystem gehandhabt wird. Die Darstellung ausgewählter Einzelaspekte dieser Veränderungen ist Gegenstand von Kapitel 7. Das Wechselverhältnis von Gebrauchstypographie (in Presse und Werbung) und visuell-typographischer Kunst und Dichtung der Avantgarden ist noch nicht ausreichend untersucht. In der Forschung ist diese Entwicklung bisher vornehmlich aus innerästhetischer Perspektive - vor dem Hintergrund traditioneller Literaturtypographie und im Vergleich zu historischen Formen visueller Poesie - beschrieben worden. Ich möchte die Analyseperspektive hingegen umkehren und die künstleri17
sehen Innovationen auf ihre Voraussetzungen in der Gebrauchstypographie der 10er und 20er Jahre beziehen. Denn in Presse und Werbung werden - früher bzw. zeitgleich zu den Umwälzungen in der Kunst - zahlreiche typographische Neuerungen entwickelt, die von den Avantgarden aufgegriffen und weiterentwickelt werden. Es sind vor allem die neuen massenmedialen Publikationsformen wie Tageszeitung und Illustrierte, die im zeitgenössischen Diskurs mit traditionellen (literarischen) Textformen konkurrieren. Die Entwicklung dieser neuen typographischen Dispositive ihrerseits basiert wesentlich auf den technologisch neuartigen Möglichkeiten zur Reproduktion von Photographie im Druck. Die zeittypische Visualisierung der Printmedien wird vorangetrieben und das typographische Gestaltungsmaterial um die Photographie erweitert. In Kapitel 7.3.2 wird diese Entwicklung am Beispiel der >Erfindung< einer Mischgattung aus Text und Photographie, dem Typophoto, aufgezeigt. Insbesondere für den Dadaismus läßt sich begründet behaupten, daß Inhalte und Formen der Zeitungs- und Werbetypographie Modell für die künstlerische visuell-typographische Textproduktion waren. In der >entfesselten< Typographie Dadas sind nicht nur die inhaltlichen, sondern vor allem auch die neuartigen typographisch-dispositiven Standards zeitgenössischer nachrichtlicher und werblicher Kommunikation aufgegriffen, formal radikalisiert und für ästhetische Zeichenprozesse nutzbar gemacht. Dies wird in Kapitel 7.4 eingehender dargestellt. Kapitel 7.5 widmet sich der Frage, warum Werbung nach 1890 zu einem der einflußreichsten Schauplätze typographischer Neuerungen wurde. Hierzu liegen bisher keine systematischen Untersuchungen vor. Ausführlich dargestellt werden in diesem Zusammenhang die gestalterischen Leitprinzipien professioneller Werbetypographie um die Jahrhundertwende. Sie verpflichten Typographie vor allem auf Originalität und Neuheit; dabei werden nicht nur die Freiheitsgrade typographischer Gestaltung erweitert, sondern auch die Visualisierung schriftsprachlicher Kommunikation und die Semiotisierung von Typographie eingeleitet. Es sind werbliche Gestaltungslehren, die erste Ansätze einer modernen Zeichentheorie von Typographie als sprachunabhängiges, konnotatives Bedeutungssystem entwickeln. Typographie wird in werblicher Gestaltungspraxis früh als visuelle Bild-Kunst gehandhabt. Die gestalterischen Leitprinzipien professioneller Werbetypographie begünstigen die Integration der jeweils avanciertesten künstlerischen Formensprache innerhalb der kommerziellen Werbung und bilden die Voraussetzung für die Annäherung von Werbung, bildender Kunst und Typographie im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Die professionell-werbliche und künstlerisch-avantgardistische Theoriebildung zu Typographie konvergiert partiell und ermöglicht eine gemeinsame Praxis. Dies verstärkt aus der Perspektive der Kunst darzustellen, ist Thema von Kapitel 7.6. Am Beispiel typographischer Arbeiten des Funktionalismus und Konstruktivismus (Elementare oder Neue Typographie) läßt sich die Annäherung der Gestaltungsprinzipien von Kunst und werblicher Typographie nachzeichnen. Als beispielhaft erweist sich in diesem Zusammenhang Schwitters (gebrauche-) typographisches Werk. Die scheinbar paradoxe Konvergenz ästhetischer Autonomisierung von Typographie im Kontext der Entwicklung abstrakter Malerei einerseits und der 18
Entfaltung ihrer Funktionalität für Werbezwecke im Kontext gebrauchstypographischer Problemstellungen andererseits werde ich in den Kapiteln 7.6.2 und 7.6.3 an Beispieltypographien Schwitters illustrieren. Die Bewegung der Elementaren oder Neuen Typographie treibt die Autonomisierung von Typographie als eigenständiges Zeichen- und Bedeutungsmittel voran. Bei der Entwicklung von Typographie als (abstrakter) Kunstform dienen typographische Elemente nicht mehr zur (mittelbaren) Abbildung einer sprachlichen Mitteilung, sondern werden als visuelles Zeichensystem - gemäß zeitgenössischer Modelle (unmittelbarer) semantischer Bildwirkungen - selbst Mitteilung oder aber Darstellungsgegenstand. Dies führt zu ersten sprachunabhängigen typographischen Bildkompositionen (Kap. 7.6.3.2). Wesentlichen Anteil an der Visualisierung und Freisetzung typographischer Mittel für die künstlerische Nutzung in den Avantgarden haben - dies meine These die Bemühungen um eine (Re-) Oralisierung der Lektürepraxis von Literatur. Am ausgeprägtesten zeigt sich dies in (typographisch fixierter) Lautdichtung. Die innovative typographische Formgebung der Texte ist wesentlich funktional für die Phonetisierung von Literatur. Die Analyse von Lautgedichten Balls, Hausmanns und Schwitters zeigt, daß Laut und Schrift in Lautdichtung gerade nicht >entkoppeltTextgeschehen< wird, Beachtung. Allgemeiner gefaßte Beiträge wie Schultz Aufsatz Text und Typographie. Zur typographischen Gestaltung literarischer und nicht-literarischer Texte (1982) sind innerhalb der Disziplin völlig randständig und kommen über die Formulierung von Forschungsdesideraten kaum hinaus. 2 In der Literaturwissenschaft ist nicht nur das Bewußtsein kaum ausgeprägt, es fehlen auch Konzepte, die Typographie als nicht hintergehbare Bedeutungsdimension (nicht nur literarischer) Texte zu thematisieren und den Einsatz von Typographie auch jenseits der literarischen Avantgarden zu beschreiben und zu analysieren erlaubten. Meine Studie möchte hierzu einen Beitrag leisten und Wege der Analyse der äußeren Form von Texten aufzeigen.
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So beschränkt sich Schultz weitgehend darauf festzustellen, daß der »typographischen Form eines Textes in vielen Fällen (besonders bei den Texten der Avantgarde) mehr Bedeutung zukommt, als man bisher angenommen hat« (Schultz 1992,59), und Schriftsteller Typographie oftmals bewußt einsetzten (Schultz 1992,77), ohne daß Schultz diese Thesen typologisch oder historisch differenziert oder aufzeigt, warum und wie die Bedeutungskonstitution durch Typographie erfolgt. Schultz differenziert seine allgemeine These nur dahingehend, daß der Gebrauch typographischer Mittel Autoren dazu dient, die »Aussage ihrer Texte zu unterstreichen, um eventuell sogar dieser Aussage durch die typographische Gestalt eine weitere Aussage hinzuzufügen«. Davon unterscheidet er die »emotionale Wirkung von Druckschriften« (Schultz 1982,59). Symptomatisch ist Schultz defensive Haltung bei der Bewertung seiner eigenen Thesen. Er warnt - als sei konnotative Semantik etwas Verwerfliches -, daß »wir uns jedoch hier auf einem sehr unsicheren, emotionalen Boden [befinden], der - wollte man sich der Begriffe der Semantik bedienen - dem Bereich der Konnotation zuzuordnen wäre« (Schultz 1982, 61). 21
2.4 Arbeiten zur Materialität der Kommunikation 2.4.1 Materialität der Kommunikation. Ein neues Paradigma Die Thematisierung von Schrift als materieller Voraussetzung für die Realisation von Schriftsprache und als Zeichensystem, dessen Eigenschaften systematisch verschieden sind von den Gesetzmäßigkeiten der Sprache, die sie wiedergibt, ist relativ neu und erst in wenigen, vereinzelten Beiträgen aus kulturtheoretischer Buch- und Literaturwissenschaft, philosophischer Semiologie und historischer Medientheorie erfolgt. Diesen neuen Forschungsansätzen - als deren Ahnvater McLuhan mit seinem Diktum »the medium is the message« gelten kann 3 - ist gemeinsam, daß sie im Gegensatz zur Forschungstradition in Kultur- und Sozialwissenschaft Materialität und Technizität von Schrift reflektieren und dabei auch deren zeichenhafte Funktionen thematisieren. Der Verdienst dieser signifikantenorientierten Studien neueren Ursprungs (s. z. B. die Reihe Materialität der Zeichen, herausgegeben vom Graduiertenkolleg Siegen) ist es, die Materialität von Zeichenprozessen, die bisher aus den herrschenden Wissenschaftsparadigmen »ausgesperrt« schien und »durch die fehlende Würde einer Begriffsgeschichte gehandicapt« war, aufgewertet zu haben (Pfeiffer 1988, 16). Der 1988 erschienene Sammelband Materialität der Kommunikation gibt einen Einblick in das methodisch großteils unausgegorene und sehr uneinheitliche neue Materialitätsparadigma. Die Begriffsbildungen sind auffällig vage, die Thesen oft sehr pauschal. Offen bleibt, »ob sich die Pluralität der >Materialitäten< als ein homogener Gegenstandsbereich [überhaupt] umschreiben lasse« und »ob und wo in diesem Sinn >MateriaIitäten der Kommunikation zu finden seien« (Gumbrecht 1988a, 915). Abgesehen davon ist die Fokussierung auf die Materialität von Kommunikation Indiz eines neuen Interpretationsverhaltens (Pfeiffer 1988,24), dessen kritischer Impetus sich gegen die Tradition der »Privilegierung der semantischen Dimension« in den historischen Geisteswissenschaften und »die Obsession regelgeleiteter Entzifferung« richtet (Pfeiffer 1988, 21). Hinter dem Interesse für die Materialität der Kommunikation zeigt sich das Bedürfnis, im kulturwissenschaftlichen Diskurs auch jene Elemente und Formen menschlicher Interaktion und Produktion zu erfassen, die nicht allein unter der Dimension von Repräsentation zu subsumieren sind (Gumbrecht 1988b, 728): 3
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Der Name McLuhan fehlt heute in kaum einer Mediendebatte. Seine Veröffentlichungen in den 60er und 7()er Jahren machten ihn zum Pionier der historischen Medientheorie. Sie erlangten eine unvergleichliche Resonanz in der öffentlichen Diskussion. Andererseits zeigen seine Arbeiten bereits den Mangel, den auch heute noch viele Publikationen zur Mediengeschichte belasten - nämlich die Vagheit des Medienbegriffs: McLuhan gilt letztlich alles als Medium, was zwischen Mensch, dessen Wahrnehmung bzw. Handeln und seine Umwelt tritt (zur Kritik s. Pfeiffer 1990,32). Streckenweise ist seine Argumentation hochgradig metaphorisch, arbeitet mit semantischen Kurzschlüssen und unzulässigen Analogien. Sehr viele strukturbildende Gedanken McLuhans greift Giesecke in jüngster Zeit auf und arbeitet sie theoretisch und empirisch anspruchsvoll aus, weswegen in diesem Rahmen nicht weiter auf McLuhan eingegangen wird.
So zielte der Suchbegriff >Materialität der Kommunikation< bald auf einen Diskurs, in dem Laute als Laute, Grapheme als Grapheme und körpersprachliche Gesten als körpersprachliche Gesten thematisiert werden könnten, ohne als Signifikanten mit der Identifizierung der von ihnen bezeichneten Signifikate verlorenzugehen (Gumbrecht 1988b, 915).
Meine Studie ist im Kontext dieser gegenwärtigen Besinnung auf die Rolle der Materialität von Zeichen auf der Phänomenebene Text und in gesellschaftlicher Kommunikation anzusiedeln. Wichtige Beiträge aus Theoriebildung und historischer Forschung der Geistes- und Kulturwissenschaften zum Thema Materialität der (Schrift-) Zeichen seien deshalb im folgenden kurz skizziert und auf ihre Anschließbarkeit an meine Themenstellung befragt. 2.4.2 Giesecke Einen medientheoretischen Zugang zur historischen Erforschung von Typographie unter dem Gesichtspunkt der Materialität von (Schrift-) Sprache entwickelte in jüngster Zeit Giesecke mit seiner historischen Fallstudie zum Buchdruck der frühen Neuzeit.4 Giesecke hat hiermit ein Standardwerk zum Themenkomplex Typographie am Übergang von manueller zu typographischer Literalität vorgelegt, das deshalb hier ausführlicher vorzustellen ist. Giesecke unterscheidet vier kulturgeschichtliche Medien- und Kommunikationsrevolutionen: der Entwicklung der menschlichen Sprache (Oralität), die Einführung von Schrift (skriptographische Datenverarbeitung), die Durchsetzung des Buchdrucks (typographische Datenverarbeitung) 5 und aktuell die elektronische Informationsverarbeitung, die erstmals die vollständige Technisierung von Kommunikationssystemen erlaube und damit Funktionen übernehme, die bisher als Proprium sozialer Systeme galten (Giesecke 1989, 319; 321; auch Giesecke 1990, 76). Die jeweilig fortgeschrittenste Informations- und Kommunikationstechnologie gerät innerhalb Gieseckes Ansatz zum »ausschlaggebenden Kriterium der Identitätsbestimmung der betreffenden Kulturen« (Giesecke 1990, 77). Giesecke gelingt es, aus der je unterschiedlichen Materialität der Schlüsseltechnologien Schreiben und (Buch-) Druck sowie ihrer zentralen Medien Manuskript und Buch den qualitativen Unterschied skriptographischer und typographischer Informations- und Kommunikationssysteme aufzuzeigen und aus diesem einen umfassenden Wandel des gesamten Gesellschaftssystems herzuleiten. Theoretisch und historisch wesentlich fun-
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Die wesentlichen theoretischen und historischen Thesen dieses >opus magnum< sind in erheblich kürzerer Form in Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel (1992) zusammengestellt. Der Medienbegriff wird in der Regel erst auf (elcktro-) technische Medien angewandt, die einen offensichtlichen Apparatcharakter haben (Film, Photographic etc.) (z.B. Kittler 1987, Wetzel 1991). Ein wesentlicher Verdienst der Studien Gieseckes besteht darin, die Erfindung und Durchsetzung (druck-) schriftlicher Kommunikation in ihrer - bisher weitgehend vernachlässigten - technologischen Medialität beschrieben und im medientheoretischen Diskurs als Gegenstand eingeführt zu haben.
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dierter und elaborierter, als McLuhan dies getan hat, sieht Giesecke im Umbruch von skriptographischen zu typographischen Informations- und Kommunikationssystemen im 15. und 16. Jahrhundert eine Grundlage der Entwicklung neuzeitlicher Kultur- und Gesellschaftsformationen: »Medienwandel, Sinnenwandel, Kulturwandel und schließlich Sprachwandel gehen Hand in Hand« (Giesecke 1992,13). Die materiellen Eigenschaften typographischer Medien und die Transformationsprozesse bei der Informationsverarbeitung im Typographeum determinieren nach Giesecke Wahrnehmungs-, Bewußtseins- und Verhaltensveränderungen. Sie beeinflussen die Weisen der Erfahrung, die Formation von Wissensbeständen sowie die Struktur von Sprache und gesellschaftlicher Kommunikation insgesamt (vgl. Giesecke 1992, 93).6 Die Materialisierung der Schriftzeichen im Letternsatz des Buchdrucks und die damit einhergehende (technologische) Normierung des Zeichenbestandes führen nach Giesecke unter anderem zur reflexiven Unterscheidung eines Zeichen-Exemplars als ReSpezifikation eines (abstrakten) Typus (vgl. Giesecke 1991,144f.). Damit ist mit dem Buchdruck erst die Voraussetzung für die Entwicklung des modernen Zeichenbegriffs gelegt. Die Verschriftung von Wissensbeständen nach der Erfindung des Drucks erachtet Giesecke nicht als einfachen Übertragungsakt; es sei damit vielmehr ein Symbolisierungszwang in Bereichen entstanden, die bisher nicht versprachlicht waren (Stichwort: »Verschriftlichung des Lebens«, Giesecke 1989, 335; s. auch Giesecke 1992,78f; 87). Wissen mußte mental anders aufbereitet werden (Stichworte: Rationalisierung, Verwissenschaftlichung). Da jedes Kommunikations- und Informationssystem, also auch das Typographeum, nach Giesecke eine systemeigene Sprache hat, müssen nach Durchsetzung des Buchdrucks die Wissensbestände in der »Maschinensprache des Buchdrucks« neu codiert werden (Giesecke 1989, 328f.). Die Leitgröße der Codierungsanstrengungen ist der Setzer bzw. Setzkasten; er gibt Zeichenvorrat und Zeichenstruktur vor (Giesecke 1989, 329), die für alle Nutzer des Typographeums verbindlich sein müssen. Die Formulierung von Orthographien, Grammatiken und Wörterbüchern gilt Giesecke als Effekt der Entfaltung des Buchdrucks, der zunehmende Reflexion auf die Systemhaftigkeit von Sprache verlangt. Die besonderen Anforderungen des Buchdrucks sind es demnach, die zur Entwicklung einer Standardschriftsprache führen. 7 Die Durchsetzung einer »multi-
Zahlreiche der Wandlungseffekte, die Giesecke detailliert herausarbeitet, finden sich theoretisch bei Ong vorformuliert (Ong 1987, 105-154): Ausbildung und Präzision der Verbalisierung, Entwicklung lexikalischen Reichtums, Formulierung der Grammatik, Dominanz visueller Ordnungsprinzipien, Ausbildung exakter Beobachtungstheorien und entsprechender Verbalisierungstechniken, veränderter Umgang mit Texten, Ausbildung der Unterscheidung von Original, Plagiat und Kommentar etc. Gieseckes Modellbildung entbehrt nicht deterministischer Züge. Unübersehbar geht er davon aus, daß die Struktureigenschaften der Kommunikationsmittel selbst verändernde Kraft haben. Weniger ihre jeweilige soziale Verwendung scheint die Bedingung ihres Einflusses zu sein; vielmehr zeichnet Giesecke das Bild, als sei ihre Verwendung in erster Linie das (zwangsläufige) Resultat der spezifischen Eigenschaften der Medientechnologien selbst. 24
funktionalen Standardsprache« (Giesecke 1992, 280-335), die den Anforderungen der typographischen Datenverarbeitungslogik entspricht (Giesecke 1979,289; 1989, 332; 1992, 280 u. 329), betreibt ihrerseits eine neuartige »Programmierung sozialen Handelns und Erlebens« (s. Giesecke 1991,646-656). Die wesentliche gesellschaftsverändernde Kraft entwickelt die Typographie nach Giesecke nicht allein durch die »Programmierung« der psychischen Systeme, ihres Handelns und Erlebens (Giesecke 1992,281), sondern vor allem auch durch das Zusammentreffen mit dem ökonomischen System in Form des marktwirtschaftlich organisierten Buchhandels (vgl. Giesecke 1992, 39). Durch die Verknüpfung sprachwissenschaftlicher, kommunikations- und medientheoretischer Annahmen mit systemtheoretischen Theoriebausteinen bei gleichzeitiger Entlehnung zentraler Termini aus der Datenverarbeitungstechnologie erfährt der Modellentwurf Gieseckes eine extreme begriffliche und methodischtheoretische Komplexität. Die Vielzahl von Begriffs- und Theorieelementen, die Giesecke als Ordnungsraster dienen und die er auf verschiedenen Ebenen der Analyse auf ganz unterschiedliche Phänomene anwendet, läßt jene letztlich ihre Trennschärfe verlieren.8 Kritisch zu bewerten ist dabei insbesondere auch die »Anwendung von Konzepten der Computerkultur auf die Beschreibung frühneuzeitlicher kommunikativer Verhältnisse« (Giesecke 1990,84). Hieraus resultiert vor allem die Gleichsetzung von psychischen Systemen mit EDV-Prozessoren und von Texten mit Softwareprogrammen (z.B. Giesecke 1991, 593f.).9 Dies bleibt hochgradig metaphorisch und macht vergessen, daß Wahrnehmungs- und Bewußtseinsprozesse anders strukturiert sind; sie unterliegen nicht dem Prinzip der >ProgrammierungEffektA< is just a product of this machine (Hofstadter 1982, 309f.).
Hofstadter setzt dem entgegen, »that no finite entity [...] will ever be capable of producing all possible >A< 's [...], that nobody can possess the >secret recipe< from which all the (infinitely many) members of a category such as >A< can in theory be generated«. Vielmehr stelle jedes Buchstabenexemplar einen Komplex dar, »whose elements cannot be totally enumerated by any effective procedure« (Hofstadter 1982, 310). Tatsächlich ist es praktisch unmöglich, auch nur ein einziges Merkmal zu benennen, das allen Exemplaren des Buchstabens »A« gemeinsam wäre. Genausowenig wie sich ein spezifisches Merkmal finden läßt, das alle Exemplare eines »A« eindeutig von allen anderen Buchstaben des Alphabets zu unterscheiden erlaubt. Hofstadter zieht den wichtigen und richtigen Schluß, daß das >Wesen< des Typus (»the >AAA< there lurks a concept, a Platonic entity, a spirit. This Platonic entity is not an elegant shape such as the Univers >Aangewandt< werden (Hofstadter 1982, 329). Die Identifizierung bzw. Deutung eines Zeichenereignisses als Replica bzw. Exemplar eines Buchstaben-Typus ist dabei teilweise ausschließlich durch den Kontext motiviert. Anschaulich wird dies in Abb. 2: Manche der Zeichenkonfigurationen würden isoliert und dekontextualisiert abgebildet nicht als »A« erkannt werden. Ihre Erkennbarkeit als »A« stellt sich nur im unmittelbaren Vergleich mit den umgebenden Zeichenexemplaren ein. Diese >Natur< des Typus bringt es mit sich, daß es unmöglich ist, die Schaffung von Schriftexemplaren zu normieren bzw. standardisieren. Dementsprechend gibt es für die typographische Gestaltung von Schriftzeichen keine Grammatik bzw. Orthographie, die es erlaubte, Schriftentwürfe normativ so zu regulieren, daß sie mit dem Verdikt falsch oder richtig (schlecht oder gut lesbar) beurteilt werden könnten. Die Frage, welche graphischen Merkmale eines Schriftzeichens es jeweils sind, die es als Exemplar eines Typus erkennbar machen, läßt sich nicht empirisch oder wahrheitslogisch verifizieren. Dies ist auch der Grund für die Schwierigkeiten bzw. Fehleranfälligkeit der automatisierten Schrifterkennung in der EDV. Vielmehr bleibt die Entscheidung, ob ein Schriftzeichen als solches erkennbar (lesbar) ist, prinzipiell offen und kann nur auf der Ebene der Pragmatik gelöst werden.10 Der Typus als Regelungsinstanz läßt sich deshalb auch als Kompetenz bzw. Wissen beschreiben: Das Programm der Alphabetisierung stellt nicht auf den Besitz von >Urbildern< ab, sondern auf die bei den Zeichenverwendern vorauszusetzende Kompetenz der Replicabildung: die werborgene Kunst< der Schematisierung. Es ist die Kompetenz, ein Zeichenereignis als Fall einer Regel hervorzubringen oder wiederzuerkennen (Schönrich 1990, 408).n
Und als solche unterliegt sie Prozessen individuellen und kollektiven Lernens, historischen und soziokulturellen Wandels. Die Klärung der Frage, was der Typus eines Zeichens jeweils ist, ist damit eine Aufgabe historischer Pragmatik. Dies macht
»Legizeichen beschreiben also kulturell eingeübte Routinen, die die Erkenntnis bereits im Zeichenmittelbezug steuern« (Schönrich 1990,345). » [...] der Interpret muß mindestens immer schon die Formationsregeln, die die Gestalt vorschreibt, genau kennen, um im einzelnen Vorkommnis den Typus eines Zeichens zu erkennen« (Pape 1989,291). Die Beantwortung der Frage, wie die Kenntnis um die Formationsregel letztlich zum Erkennen des Zeichens führt, fällt in das Gebiet der Kognitionsforschung, die sich mit Problemen der Mustererkennung befaßt. Wie sich derartige Kompetenz gesellschafts- oder gar kulturtypisch ausbildet, ist eine Fragestellung, die hier nicht behandelt werden kann. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach dem kulturhistorischen Ursprung der Unterscheidung von Typus und Exemplar. Giesecke erachtet die Erfindung des Buchdrucks als ursächlich hierfür. Die Notwendigkeit, beliebig reproduzierbare, intersubjektiv und situationsunabhängig identifizierbare Schriftzeichen zu schaffen, habe sich erstmals mit dem Buchdruck gestellt; dessen technologische Verfaßtheit (Druck mit beweglichen Lettern) habe schließlich zur Unterscheidung von »Artmodellen« (Typus) und »Normalformkonstruktionen« (Exemplar) geführt (vgl. Giesecke 1988, 115; 127). 74
plausibel, warum es in der Entwicklungsgeschichte von Typographie einerseits immer wieder zu kontroversen Beurteilungen der visuellen Gestaltmerkmale von Schriftentwürfen unter dem Stichwort Lesbarkeit kommt, und warum andererseits die Variationsmöglichkeiten der typographischen Schriftgestaltung zunehmend größer werden: denn in soziokulturellen Lernprozessen wird die typographische Kompetenz einer Gesellschaft sukzessiv erweitert. Es sind zwei Pole des reflexiven Umgangs mit dem Typus als normativer Instanz typographischer Gestaltungsarbeit auszumachen: Während man die Schriftentwürfe funktionalistisch-konstruktivistischer Typographen der 20er Jahre als Annäherungsversuch an den Typus von Schriftzeichen rekonstruieren kann, können die Schriftgestaltungen einiger zeitgenössischer Typographen als gezielte Versuche der reflexiven Entgrenzung der kollektiven Vorstellungsmodelle von Schriftzeichen gelten. Typographen der konstruktivistisch-funktionalistischen Avantgarde war der Lettern-Typus Leitgröße der Schriftgestaltung. Sie hielten an der Vorstellung einer zeitlosen, aber objektivierbaren >Ur-Form< jedes Buchstabens fest. Diese wurde als Konfiguration einer minimalen Anzahl elementarer Merkmale vorgestellt. In der typographischen Gestaltungsarbeit bemühte man sich deshalb um die Eliminierung der als fakultativ bewerteten graphischen Merkmale typographischer Schriftformen. Sie galten als überflüssige, historisch kontingente, ornamentale Formteile. Konsequenterweise reduzierte sich damit der Spielraum für Formvariationen bei der Schriftgestaltung auf ein Minimum. In der programmatischen Annäherung an den >idealen< Typus als der denkbar einfachsten Form von Schriftzeichen glaubte man die funktional beste Schriftform zu schaffen, eine Schriftform, deren Lesbarkeit optimal sei. Vergegenwärtigt man sich die uneinholbar abstrakte >Natur< des Typus als ein kollektives Vorstellungsmodell, verwundert es nicht, daß die unter diesem Vorzeichen realisierten Schriftentwürfe den Gestaltern selbst vielfach nur als Übergangsformen auf dem Weg zu einer >idealen< Schriftform galten. Ganz anders gehen einige zeitgenössische Typographen in ihren Schriftentwürfen mit dem Typus als kollektivem Vorstellungsmodell von Schriftzeichen um. Sie radikalisieren die Möglichkeiten, die der Typus als soziale >Routine< bietet, indem sie mit ihren Schriftgestaltungen letztlich auf visuell-kognitive Lernprozesse abzielen, die den Spielraum erweitern, innerhalb dessen eine graphisch-visuelle Konfiguration von den Mitgliedern einer Kultur als Exemplar eines Schriftzeichen-Typus erkannt wird. Ihre Gestaltungsarbeit an den Schriftexemplaren kann deshalb als gezielte Bearbeitung des Typus gedeutet werden. Dabei werden konsequenterweise Schriftentwürfe realisiert, die kaum mehr lesbar sind. In den Schriftbeispielen aus Abb. 3 und Abb. 4 sind die graphischen Ausdrucksmerkmale so frei variiert, daß der Schriftzeichen-Charakter problematisch wird. Erst durch den ausdrücklichen Hinweis, daß es sich um Schriftzeichen handelt, werden diese als solche erkennbar. Die einzelnen Lettern wiederum sind nur schwer als Exemplare eines bestimmten Buchstaben-Typus zu erkennen. Einige lassen sich erst durch Vergleiche im Kontext der alphabetischen Reihung identifizieren. Die Schriftzeichen sind nur mit erheblicher Anstrengung und nach einer Gewöhnungszeit, d.h. durch individuelles Ler75
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Abb. 3 Garaknick. Sabine Kopittke, 1992
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Abb. 4 Frey/fl. IlkaJanke, 1992
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nen, zu entziffern. Die schriftgestalterische Produktionsästhetik, die hier zugrunde liegt, geht ganz offensichtlich von der Erkenntnis aus, daß es keine objektiv bestimmbaren Eigenschaften gibt, die ein Schriftzeichen zum Exemplar eines Typus machen. Die Tatsache, daß der Erkennungscode eines Buchstabens, sich als historisch und kulturell variabler >Lern-Effekt< durch die je aktualisierten Schriftexemplare einstellt, läßt sich bei der Schriftgestaltung produktiv nutzen; die Annahme, daß sich Lesbarkeit durch visuelles Lernen ausbilden läßt, legitimiert die Ausschöpfung aller Freiheitsgrade bei der Variation graphischer Merkmale bei der Gestaltung von Druckschriften: The new typographers [...] justify their experiments by arguing that no typeface is inherently legible; rather in the words of the designer Zuzana Licko of Emigre Graphics, >it is the reader's familiarity with faces that accounts for their legibility< (Poynor 1991,8).
Die beiden Schriftbeispiele machen aber zugleich auch deutlich, daß selbst für die radikalsten Schriftentwürfe letztlich die Kompatibilität mit dem Vorstellungsmodell von Schriftzeichen notwendig bleibt. Jenseits dieser Grenze sind die Zeichenkonfigurationen schlicht nicht mehr als Schriftzeichen erkennbar: sie verlieren dann ihre Funktion als sekundäres Zeichensystem (von Lautsprache). Sie sind nicht mehr lesbar, sondern nur noch Bildelement; als solche sind sie nur noch visueller Reiz oder Zeichenträger eines anderen, nämlich graphischen Zeichensystems. Die vorliegenden Schriftentwürfe können als Experimentalanordnungen gelesen werden, in denen diese Grenze nicht nur erkundet und bewußtgemacht, sondern auch durch Schulung der Wahrnehmung verschoben werden soll. 3.2.1.2.2 Exemplar Bemühungen um die Parametrisierung von typographischen Schriftgestalten, wie sie beispielsweise Knuth in seinem Meta-Font-Projekt unternimmt, werfen die Frage auf, ob es unterhalb der Segmentierung des typographischen Ausdruckskontinuums in distinkte Lettern (Druckbuchstaben) noch >tiefere< Gliederungsebenen gibt. Die Rede von den Schriftzeichen als graphischer Konfiguration sowie die analytische Unterscheidung von peripheren und zentralen Merkmalen an Schriftzeichen impliziert eine prinzipiell segmentelle Struktur der Letter. Die Frage ist, ob sich typographische Schriftzeichen-Exemplare als aus distinkten graphischen Merkmalseinheiten zusammengesetzte Zeichen beschreiben lassen. Aus semiotischer Sicht ist damit die Frage gestellt, ob Schrift ein doppelt gegliedertes Zeichensystem darstellt. Als doppelt gegliedert wird ein Zeichensystem erachtet, wenn es die Unterscheidung von bedeutungstragenden und bedeutungsunterscheidenden Einheiten zuläßt. Ein solches Zeichensystem baut sich aus zwei hierarchisch verschiedenen Ausdrucksniveaus auf: Wenige distinkte Einheiten, die selbst nicht bedeutungstragend sind (im Fall von Sprache z. B. Buchstaben, Laute), werden kombiniert, um potentiell unendlich viele Einheiten >höheren< (grammatischen) Niveaus zu bilden, die jeweils Bedeutung tragen (z. B. Morpheme, Wörter, Sätze). Auf dieser 77
Ebene kommt den distinkten Elementen bedeutungsunterscheidende Funktion zu. 12 Holenstein spricht der Schrift als Ausdruckssystem doppelte Gliederung erst zu, wenn an einem Schriftzeichen-Exemplar »eigenständige Figuren isoliert werden können« und nicht »nur an sich unselbständige Momente an Figuren« zu unterscheiden sind (Holenstein 1980, 328). Erst dann finde die »Umfunktionierung von sinnlosen zu sinndiskriminierenden Elementen« an Schriftzeichen statt. Erst die »Unterteilung von gegliederten wie ungegliederten, kontinuierlichen Ganzheiten in einheitliche, notfalls künstliche und abstrakte Bestandteile«, wie sie praktisch nur Schablonenschriften aufweisen, erlaube es nach Holenstein, im Falle von Schriftzeichen von doppelter Gliederung zu sprechen (Holenstein 1980, 326). Holenstein anerkennt erst mit der Existenz einer endlichen Menge isolierbarer graphischer Elemente an Buchstaben die Mehrgliedrigkeit des Ausdruckssystems Schrift. Damit verkennt er meines Erachtens die spezifische Variabilität und Latenz der Segmentierbarkeit des Ausdruckskontinuums Schrift, die Bedingung und Ergebnis typographischer Gestaltungsarbeit ist. Die Ausbildung von Schablonenschriften ist als Fortsetzung und Radikalisierung genau dieser vorgängigen typographischen Ausdrucksstruktur zu bewerten, nicht aber als grundlegender Wandel des semiotischen >Systemzustandes< des Ausdruckssystems Schrift. Holensteins binäre Unterscheidung von traditionellen Schriftformen auf der einen Seite und Schablonenschriften auf der anderen Seite erlaubt es ihm nicht, die Entwicklung typographischer Schriftgestaltung als graduelle, zunehmend tiefere und variablere Segmentierung des Ausdruckskontinuums Schrift zu betrachten, in deren Verlauf die Vielfalt an graphischvisuellen Formvarianten sukzessiv vergrößert wird. Mit der distinktiv-analytischen Zerlegung der Buchstabengestalt wird nicht der zeichentheoretische Status von Schrift als Ausdruckssystem kategorial verändert, wie Holenstein behauptet, sondern eine systematische Möglichkeit, die dem Ausdruckssystem inhärent ist, radikal ausgearbeitet. Typographie läßt sich als visuelles Ausdruckssystem beschreiben, das mit unterschiedlichen Gliederungstypen auf mehreren Gliederungsniveaus arbeitet. Auf der ersten Gliederungsebene (diskrete Buchstabengestalten) erweist sich Typographie gekoppelt an die (phonetisch-grammatische) Struktur des (Laut-) Sprachsystems. Auf dieser Ebene fungiert Typographie als sprachliches Zeichensystem. Die diskreten Einheiten dieses Gliederungsniveaus (Druckbuchstaben) stellen nun aber ihrerseits Ausdruckskontinua dar - den genuinen Gegenstand typographischer Schrift-
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In der älteren Linguistik und Semiologie galt das Vorliegen einer Struktur doppelter Gliederung als das strukturelle Charakteristikum menschlicher Sprache (Holenstein 1980, 319). Zweigliedrigkeil galt in der linguistisch dominierten Semiotik lange Zeit als Definitionsmerkmal von Zeichen überhaupt. Erst in der jüngeren Semiotik wird nicht länger angenommen, daß nur die Zweigliedrigkeit die Konstitution eines Zeichensystems erlaube (Trabant 1989,100). Insbesondere Eco hat Zeichenprozesse aufgezeigt, die auf Ausdruckssystemen basieren, die nur eine Gliederungsebene oder mehr als zwei Gliederungsebenen oder auch wechselnde Gliederungstypen aufweisen (s. Eco 1987,306f.).
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univers Abb. 5 Klassifikationsmatrix der Schriftfamilie Univers. Adrian Frutiger, 1957
gestaltung. Auf dieser Ebene erweist sich Typographie als graphisch-visuelles Ausdruckssystem, dessen Struktur gekoppelt ist an die (graphisch-visuellen) Erkennungscodes des jeweiligen Lettern-Typus. Die unterschiedlichen Gestaltqualitäten typographischer Schriftvarianten resultieren aus der je andersartigen Formgebung auf dieser Ebene der visuellen Ausdruckssubstanz des Zeichenträgers Schrift. Die typographische Reflexionstheorie hat für die formale Klassifizierung von Druckschriften eine Systematik entwickelt, die diese Mehrgliedrigkeit von Druckschriften widerspiegelt: 79
Schriftsystem: Schriftart: Untergruppe der Schriftart: Schriftfamilie: Einzelschrift: Schriftschnitt:
Phonetisches Alphabet Antiqua Serifenlose Antiqua (Grotesk) Univers Univers der Firma Berthold Berthold Univers, fett-kursiv, 24 Punkt
Die Formmerkmale auf der Ebene eines Schriftschnittes ihrerseits können vielfältig systematisiert werden. So enwickelte beispielsweise Frutiger 1957 beim Entwurf der Univers ein eigenes Klassifikationssystem für die verschiedenen Schriftschnitte der Schriftfamilie: eine zweistellige Zahl gibt hier Variante und Schriftstärke in einer geordneten Matrix an (Abb. 5). Es ist meines Erachtens falsch, typographische Schriftzeichen auf einen eingliedrigen Zeichenbegriff festzulegen, weil sie als Ausdruckselemente kontinuierlich strukturiert sind, und ihnen deshalb eigene syntaktische Ordnungsprinzipien und in der Folge eigene Bedeutungsfunktionen abzusprechen, wie dies beispielsweise Holenstein tut. Wegen ihrer eingliedrigen Gestalt können Schriftzeichen nach Holenstein ausschließlich als Zeichen für Lauteinheiten fungieren (Holenstein 1980,322).
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»PPErfindung< von Schräg- und Rundausschuß erst teilweise gelöst wird. Symptom der forcierten Reflexion auf das Blindmaterial als wesentlichem Element typographischer Gestaltungsarbeit ist ein Satzbeispiel aus einem Lehrbuch für Setzer von 1915, in dem das Blindmaterial positiv gedruckt ist (Abb. 13). Die technologische bzw. materielle Entsprechung von Blindmaterial und Drucktypen im Buchdruck läßt die Integration der freien Fläche in den Bestand der typographischen Zeichenmittel als konsequente Entwicklung aus der Reflexion auf das typographische Zeichenmaterial deuten; denn was für den Setzer Blindmaterial ist, ist für den Typographen »leerer Teil der Fläche«: Die leeren Teile der Flächen und die Binnenformen stellen nicht einfach nur den Untergrund dar, sie haben vielmehr eine gestalterische Funktion und sind genauso wichtig wie die Formen selbst (Korger 1991, 26). Freier Raum und Schrift sind die wesentlichen Hilfsmittel beim typographischen Gestalten (Gulbins/Kahrmann 1993, 6).
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Abb. 15 Heinz Gappmayr. (ohne Titel)
Freier Raum kann im Textzusammenhang als konnotatives >Null-Zeichen< Bedeutung erlangen. So können Spatien die Abwesenheit von Rede bezeichnen. Die strukturelle Koppelung von Typographie und Sprache ist entwicklungsgeschichtlich so stark habitualisiert und die Analogisierung von Schrift- und Lautsprache im Alltagswissen so stark verankert, daß wir die Abwesenheit von Schriftzeichen unwillkürlich als Abwesenheit von (Laut-) Sprache deuten. Unbedruckte Intervalle im schriftsprachlichen Text gelten kulturtypisch als »aufgezeichnetes Schweigen« (lllich 1988,138). Größenunterschiede (Länge) von Leerräumen werden dabei zeitlich gedeutet: als relative Dauer (Länge) des >SchweigensÄsthetikprogramme< nur schwer zu automatisieren sind; dies deshalb, weil mathematisch gleiche Buchstabenabstände optisch meist nicht gleich wirken (Abb. 16). Die Wahrnehmung von Buchstabenkombinationen bzw. Wortbildern wird von optischen bzw. wahrnehmungspsychologischen Effekten >regiertSuperzeichen< jeweils Textsorten2 konnotieren. Typographische Dispositive stellen eine hochgeneralisierte Form der konnotativen Semantisierung typographischer Syntax dar. Der Existenz von typographischen Dispositiven ist es zu verdanken, daß man auf den ersten Blick in der Lage ist, eine Seite aus einer Tageszeitung von einem Dramentext oder einem Lexikoneintrag zu unterscheiden.3 Urteile über die Zugehörigkeit eines Textes zu einer Textsorte werden nicht nur aufgrund inhaltlicher oder sprachlichstilistischer Textmerkmale gefällt. Die Vorstellungen über Textklassen und ihre charakteristischen Eigenschaften umfassen immer auch Merkmale ihrer äußeren (typographischen) Form; sie gehören zum Allgemeinwissen unserer Lesekultur. Typographische Dispositive sind einzeltextunabhängige Muster der Textgliederung. Die regelhafte und fortgesetzte Anwendung bestimmter typographischer Anordnungen für die Drucklegung >sortengleicher< Texte führt zur Konventionalisierung und Funktions-Zeichenbildung. Als Zeichen ihres Gebrauchs können typoDer Terminus Dispositiv entstammt der Begriffswelt der Diskurstheorie. Für meine Begriffsbildung ist die Orientierung an der Herkunft des Wortes - vom lateinischen Verb disponere: werteilen, planmäßig in Ordnung aufstellen; geordnet darstellen< - maßgebend. Unter Textsorten (Textarten, Textklassen) verstehe ich Textgruppen, die nach bestimmten inhaltlichen, formalen oder pragmatischen Kriterien als ähnlich bzw. zusammengehörig klassifiziert werden. Gattungen bilden innerhalb des kulturellen Textsorten->Universums< spezielle Klassen l i t e r a r i s c h e r Texte. Von Gattungen wird im folgenden deshalb nur im engeren Zusammenhang von Literatur gesprochen. »[...] ein gelassener Blick aufs Schriftbild genügt, um zu >verstehenSuperzeichenTextmuster< der Buchtypographie
zeichnisse, Fußnoten oder Kapitelanfänge ohne sprachliche Füllung erkannt und als Schemata einander gegenübergestellt werden (Abb.23).4 Heuristisch lassen sich an typographischen Dispositiven drei Dimensionen unterscheiden:
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Den funktionalen Differenzierungsgrad und die Variabilität typographischer Dispositive als sprachunabhängige Textmuster illustriert Rices Textsammlung Book design - text format models. Rice hat darin eine ganz Reihe von Druckformatvorlagen für die Texterstellung am PC zusammengestellt: »This book can be thought of as an order catalogue of text typography« (Rice 1978, vii). Rice präsentiert darin eine »range of visual models [...] that incorporate most of the variations commonly required« (Rice 1978, vii), »since most printed materials use basically the same sets of text formats« (Rice 1978, xiii). Seine Sammlung umfaßt beispielsweise Einleitungen, Vorworte, Abstracts, Gliederungen, Inhaltsverzeich-
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1. das abstrakte typographische Schema, der >Typus< des Dispositivs, der als kollektives, mentales Modell vorzustellen ist; 2. die sprachliche Füllung der typographischen Form. Insbesondere für die Lyrik gilt, daß Schriftsteller textsortenbezogene typographische Formmerkmale als semantisch relevante Einheiten nutzen (s. dazu Kap. 5.1.2); 3. die konkrete typographische Ausgestaltung eines Einzeltextes bei der Drucklegung. Dispositive umfassen als komplexe flächentypographische Legizeichen (Typus) zahlreiche implizite Formationsregeln, die mentale >Realität< haben und in Textproduktion und -rezeption wirksam werden. Auch wenn kulturell jeweils ganz bestimmte Vorstellungen darüber bestehen, wie beispielsweise ein Roman, eine Zeitung oder ein Brief typischerweise auszusehen habe, so kann die Formgebung im einzelnen synchronisch und diachronisch erheblich variieren. Als abstrakte Formationsregeln für die optische Gliederung eines Textes erlauben typographische Dispositive - innerhalb der Grenzen ihres Erkennungscodes - vielfältige gestalterische Freiheiten für die einzeltextbezogene Formvariation. Die relational-syntagmatische Natur typographischer Dispositive begründet ihre formale Transformierbarkeit: Die Gestalt kann in fast unbegrenzter Variation - auch unter Austausch bestimmter Komponenten - immer neu realisiert werden; solange die grundlegende Struktur zwischen den Elementen erhalten bleibt, solange bleibt auch die >Identität< des Dispositivs und damit seine Erkennbarkeit erhalten. Die historische Entfaltung und fortgesetzte Spezialisierung einzelner Textsorten finden ihren Niederschlag in der zunehmenden Binnendifferenzierung typographischer Dispositive. So wird beispielsweise in der Ausgabe von Gottscheds Deutscher Schaubühne (1741-1745) die regelpoetische Unterscheidung von Tragödie und Komödie innerhalb der Textgattung Drama typographisch angezeigt: durch mittelachsiale (Tragödie) und linksbündige (Komödie) Anordnung der Sprechernamen (s. Gottsched. Die Deutsche Schaubühne nach den Regeln und Exemplen der Alten nebst einer Vorrede und des Erzbischofs v. Feuelons Gedanken von der Tragödie und Comödie. Leipzig: Breitkopf, 1741-1745. Faksimiledruck: Stuttgart, 1972). In einer Zeitung treffen unterschiedlichste Textklassen zusammen (Kommentar, Kurzmeldung, Leitartikel, Reportage, Rezension, Glosse etc.). Dementsprechend stark ist das typographische Dispositiv Zeitung binnendifferenziert. Innerhalb der hochgeneralisierten dispositiven Formationsregeln des Zeitungssatzes (verschränkter Mehrspaltensatz) haben sich je eigene »typographische Stile« für bestimmte >Zeitungsgattungen< herausgebildet (Renner 1953, 113). So lassen sich beispielsweise Boulevardzeitungen und politische Tages- und Wochenzeitungen an ihren unterschiedlichen typographisch-dispositiven Formmerkmalen erkennen. Darüber hinaus entwickelt jede Zeitung nicht nur ein eigenes inhaltliches Ablaufschema
nisse, Tabellen, Fußnoten, Indices, Glossare, Bibliographien, Legenden, Bildnachweise, Marginalien, lebende Kolumnentitel, Gedichte, Dramen, geschäftliche und private Briefe. 122
(Titelseite, »Seite 3«, Politik, Wirtschaft, Feuilleton, Lokales, Sport, Vermischtes, Anzeigen etc.),5 sondern auch ein eigenes dispositives Regelsystem zu Schriftwahl und Textanordnung, das die Erkennbarkeit der Zeitungs->Marke< sicherstellt.6 Typographische Dispositive regeln in erster Linie die typographische Textgliederung, d. h. die visuell-syntagmatische Strukturierung eines Textes. Sie besagen notwendigerweise noch nichts über Schriftwahl, Druckfarbe, Papierqualität oder Proportionen des Satzspiegels. Dies bedeutet aber nicht, daß auf dieser Ebene der typographischen Vertextung keine dispositiven Konventionen und normativen Regelungen bestünden; im Gegenteil. Für den Dramensatz beispielsweise gilt, daß nicht nur die flächentypographische Anordnung der verschiedenen Textelemente, sondern auch die Auszeichnungsformen bei der Schriftwahl dispositiv geregelt sind und sich als historisch erstaunlich dauerhaft erweisen. Der Dramensatz kennt verschiedenste Inhalts- und Sprachebenen. Generell lassen sich unterscheiden: die Akt- und Szenenzählung, Beschreibungen von Ort, Zeit, Situation und Requisiten, Anmerkungen zum Handeln der Akteure, Hinweise zur Ausdrucksqualität des Sprechens, Anzeige von Sprecherwechseln (Figurennamen) und schließlich die eigentliche dramatische Rede. Die typographische Differenzierung dieser Vielzahl von Textebenen wurde schon sehr früh nicht allein durch unterschiedliche Textanordnung (Absätze, Einrückungen, Zeilendurchschuß, mittelachsialer Satz u. ä.),7 sondern zusätzlich durch Schriftauszeichnung (Kursivierung, Kapitälchen, Schriftgrad) typographisch angezeigt. Dank dieser doppelten Markierung - durch Auszeichnung und Anordnung - kann die Vielzahl an Textebenen, die es im Dramensatz zu koordinieren gilt, für den Leser erheblich übersichtlicher gemacht werden. Schon um 1800 zu einem Zeitpunkt, als sich das Lesedrama als eigene Textgattung herausbildet werden Handlungsanweisungen bevorzugt kursiv gesetzt, die Sprechernamen durch Kombination von Versalschrift, Schriftgröße und Sperrung von der Szenenzählung einerseits und der Bühnenanweisung andererseits unterschieden (Abb. 24). Der Vergleich mit neueren Textausgaben zeigt, daß dieses dispositive Muster bis heute Anwendung findet. Im Dramensatz werden weiterhin Figurennamen durch 5
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Dieses Ablaufschema dient der Orientierung der Lektüre und läßt bestimmte Texttypen (z.B. Kommentar) bzw. Textinhalte (z.B. Lokales) an bestimmten Stellen erwartbar werden und bildet so die Grundlage für die typische nichtkonsekutive, selektive Lektüreweise von Zeitungen. Die Frankfurter Allgemeine Zeltung gibt regelmäßig eine Imagebroschüre {Alles über die Zeitung) heraus, anhand derer sich Prinzipien und Gliederungstiefe eines >MarkenSubklassen< dispositiver Satzmuster für dramatische Texte. So werden klassische und moderne Dramen oftmals durch unterschiedliche schriftkompositionelle Anordnung der Akt- und Szenenzählung und der Bühnen- und Handlungsanweisungen unterschieden. So findet man bei Werkausgaben klassischer Dramen häufig mittelachsiale Satzschemata, bei Dramenausgaben moderner Autoren hingegen vielfach linksbündig, anachsiale Textanordnungen (vgl. z.B. Shakespeares Dramatische Werke. 10 Bde. Übersetzt von A.W. v. Schlegel; L. Tieck. Hg. H. Matter. Basel: Diogenes Taschenbuch, 1979 und Spectaculum. Moderne Theaterstücke. 20 Bde. Reprint der Originalausgabe: Frankfurt: Suhrkamp, 1982) 123
E R S T E R
AKT.
D e r k ö n i g l i c h e Garten i n A r a n j u e z .
ERSTER
AUFTRITT.
K A R L O S .
D O M I N G O .
DOMINGO. Die schönen Tage in Aranjuez Sind nun zu Ende. Eure königliche Hoheit Verlassen es nicht heiterer. Wir sind Vergebene hier gewesen. Karlas sieht zur Erde und schweigt.
Brechen Sie Dicfs räthsclhdfte Schweigen.
Öffnen Sie
Ihr Herz den» Vaterherzen, Prinz.
Zu theuer
Kann der Monarch die Ruhe seines Sohns — Des einzigen Sohns — su theuer nie erkaufen. War noch ein Wunsch zunicke, den des Himmel Dem liebsten seiner Söhne weigerte?
Abb. 24 Schiller. Don Carlos. Leipzig: Göschen, 1802
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Kapitälchen angezeigt, Akt- und Szenenzählungen durch Versalien eines größeren Schriftgrades abgesetzt und Szenen- und Handlungsanweisungen praktisch durchweg durch Kursivierung unterschieden. Letzteres erweist sich als überaus starke textsortenbezogene Konvention, die selbst in dramatischen Texten zur Anwendung kommt, die nur mehr rudimentäre Gattungsmerkmale aufweisen und in denen die Auszeichnungsformen keine textpragmatische Funktion mehr haben, wie beispielsweise in Becketts pantomimischen Dramoletten Akte ohne Worte. In einer Werkausgabe ist der gesamte Text kursiv gesetzt, obwohl er keine dramatische Rede enthält, von der die Handlungsanweisungen visuell unterschieden werden müßten (s. Samuel Beckett. Werke 1.2. Dramatische Werke. Hörspiele. Pantomime. Film. Fernsehspiel. Werkausgabe. 10 Bde. Frankfurt: Suhrkamp, 1976: 334— 346).8 Daß man Textsorten erkennt, bevor man ein einziges Wort des Sprachtextes gelesen hat, ist Indiz dafür, daß ein Text immer zuerst als visuelle Gestalt wahrgenommen wird und erst dann sprachlich-inhaltlich; eine Tatsache, die in der Literaturwissenschaft praktisch gar nicht reflektiert und auf ihre produktions- und rezeptionsästhetischen Konsequenzen befragt wird (beispielsweise für Lesemotivation, Textverständnis und Vertextungsstrategien). Ergebnisse der Wahrnehmungspsychologie zeigen, daß die Bildwahrnehmung in der Regel zuerst von globalen Merkmalen ausgeht, um in einem zweiten Schritt Details zu verarbeiten (vgl. Zimmer 1986,176). Auch an Texten findet zunächst simultanes (und kein sukzessiv-lineares) Gestaltsehen statt. Das Auge erfaßt einen Text nicht sofort Wort für Wort und Zeile für Zeile. Durch typographische Textgliederung wird eine Druckseite immer auch zur >Bildfläche< (vgl. Illich 1991, 112). Die regelhafte, typographisch dispositive Gliederung eines Textes erzeugt eine wiedererkennbare Form, die maßgeblich Einfluß auf die Leseweise und den Lektüreprozeß eines Textes hat. Dispositive Textmerkmale beeinflussen den rezeptiven Zugriff auf einen Text nachhaltig - sie >konditionieren< unsere Lektüre. So wirken beispielsweise die konventionellen Satzformen von Zeitung, Roman oder Lexikon als geordnete Menge von >Leseanleitungem. Sie fordern jeweils andere, kulturell gelernte Lektüreweisen: konsultierend-selektives Lesen (Lexikon), >Cross-Reading< (Zeitung) oder konsekutives Lesen (Roman). Das Wissen um den Zusammenhang von bestimmten Textformationen und Lektüreweisen kann sowohl vom Autor selbst als auch vom Typographien gezielt eingesetzt werden, um bestimmte Lektüreweisen zu >erzeugenankommentierenAnomalie des Satzspiegels< ab (Lamping 1989,29).
Anders als in der erzählenden Prosa ist der Zeilenumbruch in der traditionellen Lyrik offensichtlich nicht durch die Begrenzung der Druckseite motiviert. Betrachtet man die Gestaltumrisse und die Ausdehnung eines typischen Gedichts auf der Seitenfläche, so scheint es praktisch nie den definierten Satzspiegel auszufüllen. Die Zeilen sind in aller Regel kurz, und es liegt ein großzügiger Rand um das Schriftbild. Die primäre Gliederungseinheit der typographischen Fixierung von Lyrik ist die
Neben der Versgliederung führt Lamping als zweites gattungskonstitutives Merkmal die »Einzelrede« an. Damit bezeichnet Lamping das sprachlich-inhaltliche Differenzkriterium von Lyrik gegenüber anderen Gattungen, das daher im folgenden vernachlässigt werden kann.
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Vers-Zeile.10 Allgemeine Definitionen des lyrischen Verses rekurrieren heute ganz selbstverständlich auf die typographische Textdimension: Ein Vers ist gekennzeichnet durch eine mehr oder minder feste Binnenstruktur und eine Endpause. (...] Endsignal des Verses ist heute i. allg. typograph. eine durch das Zeilenende repräsentierte Pause (Metzler Literaturlexikon 1984, 462).
Der Vers als sprachliche Einheit und die Verszeile als typographische Einheit sind symptomatischerweise alltagssprachlich zu Synonyma geworden. Verse sind die Grundeinheiten der Metrik - Metrik selbst ist definiert als Verslehre. Ein Vers bezeichnet dabei zunächst nur eine quantitativ oder qualitativ geordnete Silbenabfolge. Diese metrischen Schemata müssen sich nicht notwendig im Umbrechen von Vers-Zeilen ausdrücken. So war in der Antike die fortlaufende Schreibweise für Lyrik üblich (vgl. Lamping 1989,29). Oder man denke an die - auch heute noch gebräuchliche - alternative Schreibweise, die metrischen Einheiten durch Schrägstriche »/« im fortlaufenden Textsatz anzuzeigen. Die Zeilengliederung erleichtert allerdings die Wahrnehmung des metrischen Gefüges. Entwicklungsgeschichtlich ist der Einzelvers als lautsprachliche Einheit definiert, die durch eine metrische Taktregel bestimmt ist. Auch die Strophenbildung ist ursprünglich metrisch motiviert: Strophen verbinden mehrere Verszeilen von gleichem oder variierendem aber regelhaftem - metrischem Bau. Die metrische Formung lyrischer Sprache hat ihren visuellen Niederschlag in typographischer Verszeile und Strophenform gefunden. Die anfänglich metrisch definierte Verszeile wurde zum dispositiv-typographischen Gestaltmerkmal der Textgattung Lyrik. Inzwischen ist die typographisch definierte Verszeile als abstrakte poetische Einheit eigenen Rechts an die Stelle des metrischen Schemas zum Definiens von Lyrik geworden. Im Laufe der literaturhistorischen Entwicklung von Lyrik trat die metrische Überformung der Sprache immer stärker zurück. Die Literaturwissenschaft unterscheidet heute den Vers libere (gereimte, metrisch gebaute Verse verschiedener Länge in beliebiger Mischung und freier Reimordnung mit oder ohne Strophengliederung), freirhythmische Dichtung (in der deutschen Klassik entwickelte, metrisch ungebundene reimlose Verse in beliebiger Verslänge ohne feste Strophenform, aber mit wiederkehrenden rhythmischen und metrischen Formen, die an das antike Odenmaß anknüpfen) und den Vers libre (im französischen Symbolismus entwickelte, unregelmäßig rhythmisierte, reimlose Verse, die programmatisch auf alle Bezüge zu traditionellen Metren verzichten). Die poetologisch-programmatische Absage an traditionelle metrische Versmaße hat allerdings nicht zur Aufgabe der Zeilengliederung geführt - weder in den Manuskripten der Autoren noch bei der Drucklegung der Gedichte. Lyrische Schriftsprache hält an der Verszeilenbildung fest, obwohl man annehmen könnte, daß bei metrisch freien 10
Wenn der Satzspiegel zu wenig Raum für eine Verszeile läßt und ein Zeilenumbruch notwendig wird, beginnt die nächste Zeile bezeichnenderweise nicht wie in erzählenden Texten linksbündig; vielmehr wird die Zugehörigkeit des >überschüssigen< Zeilenendes zur vorhergehenden Verszeile durch rechtsversetztes Einrücken kenntlich gemacht. 127
Gedichten zur Gliederung in Verszeilen kein Anlaß mehr besteht. Das Festhalten an der Versgliederung hat seinen Grund darin, daß freie Verse sich (nur noch) durch die typographisch-dispositive Formgebung als lyrische Texte ausweisen können: Die Liquidierung der traditionellen Versmaße erfordert eine neue visuelle Konstitution der Poetizität von Texten, sollen sich Dichtung und Alltagsrede überhaupt noch differenzieren lassen (Ernst 1976,383).
Die äußere Textform gewährleistet die Erkennbarkeit als Dichtung und stellt den poetologischen Bezug zur Textgattung Lyrik her - dieser Bezug wird ungeachtet der programmatischen Ablehnung traditioneller (metrischer) regelpoetischer Standards lyrischer Dichtung von den meisten Autoren auch weiterhin gesucht. Darüber hinaus können die tradierten Formmerkmale des typographischen Satzschemas für Lyrik sowohl zur (semantischen) Bedeutungserzeugung als auch zur (expressiven) Rhythmisierung genutzt werden. Sobald ein lyrischer Text sprachlich nicht mehr metrisch gebunden ist und dennoch deutlich markierte Verszeilen aufweist, erlangt die typographische Textgliederung eine eigenständige (Zeichen-) Funktion als lyrisches Dichtungsmittel. Die Anerkennung und Nutzung der Zeile als lyrisches Dichtungsmittel erfolgt nicht erst mit der Enthebung des Metrums als Regelungsinstanz der Verszeilenbildung. So schreibt Klopstock - nicht etwa zur Drucklegung von Frühlingsfeier, der ersten freirhythmischen Dichtung der deutschen Literatur, sondern anläßlich der Halleschen Ausgabe der Hexameter-Dichtung Messias - an seinen Verleger: Mir ist zwar das Format an sich beynah gleichgültig, es körnt mir nur darauf an, daß die Zeilen nicht gebrochen werden. Wenn diese Absicht auf dem größten Octav [...] kann erreicht werden, so bin ich zufrieden (Klopstock 1751 zit. aus Ungern-Sternberg 1976,87).
Für Klopstock ist die typographische Einheit der Verszeile - auch in metrisch gebundener Dichtung - bereits ein ästhetisches Anliegen. Klopstock unterscheidet demnach nicht (mehr) kategorial zwischen metrischer bzw. sprachlich-rhythmischer und visuell-typographischer Ausdrucksebene von Lyrik. Die Verszeile als typographisch-dispositive Texteinheit ist zur poetologisch relevanten Instanz geworden. Schon früh kam dem als Zeile manifestierten Vers rhythmische und/oder semantische Funktion zu, die primär visuell konstituiert ist. Davon legt die vielfältige Nutzung des Enjambements, das bereits in antiker und mittelalterlicher Dichtung anzutreffen ist, Zeugnis ab. Enjambements11 - zu deutsch: Zeilensprünge - dienen bereits in metrisch gebundener Dichtung einerseits zur Rhythmisierung lyrischer Sprache >gegen< ihr Metrum und andererseits zur konnotativ-bildhaften Sinnerzeugung.12 Mit der Absage an die metrische Fundierung der typographischen Verszei-
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' Regelpoetisches Ideal metrisch gebundener Dichtung ist das Zusammenfallen von metrischer Versgliederung und syntaktischer Satzgliederung. Von Enjambement spricht man im Falle des Übergreifens des sprachlich-syntaktischen Gefüges über das Versende hinaus. 12 Dies ist beispielsweise der Fall, wenn am Versende \onfallen oder überfließen die Rede ist, wie in C. F. Meyers Gedicht Der römische Brunnen: 128
lengliederung von Gedichten kommt der visuellen Textgliederung verstärktes Gewicht bei der Textdeutung zu. Jetzt ist prinzipiell jeder Zeilenumbruch auf seine Bedeutung zu befragen. ÜBER EINIGE DAVONGEKOMMENE Als der Mensch Unter den Trümmern Seines Bombardierten Hauses Hervorgezogen wurde, Schüttelte er sich Und sagte: Nie wieder. Jedenfalls nicht gleich.13
Dieses Gedicht Günter Kunerts ist, in fortlaufenden Langzeilen gesetzt, nicht mehr als lyrischer Text kenntlich. Die typographische Verszeilenbildung, die den grammatischen und inhaltlichen Satzzusammenhang vielfach segmentiert, wird in diesem Beispiel über die Bezeichnung der Gattungszugehörigkeit hinaus bedeutsam. Doch bereits der Verweis auf die Zugehörigkeit zur Gattung Lyrik hat textpragmatische Funktion: als Prosa gesetzt würde der Text beispielsweise kaum die Anmutung eines emblematisch verdichteten Sinnbildes erlangen. Die lyrische Textform ist traditionell Zeichen für höchste Sinnverdichtung. Sie signalisiert dem Leser, daß eine verstärkte Deutungsanstrengung von ihm erwartet wird, möchte er den Text >gattungsgerecht< lesen. Wesentlicher aber ist, daß der Autor durch die singuläre sprachliche Füllung des lyrischen Formschemas Bedeutungseffekte erzeugen kann, die sich in anderer typographischer Form nicht einstellen würden. Die Verszeilenbildung ist im vorliegenden Textbeispiel als eigenständiges Mittel der Bedeutungserzeugung genutzt. Der syntaktische Textzusammenhang ist durch die typographische Gliederung in zahlreiche, extrem kurze Verszeilen >zerrissenBruchstellenProduktivmittel< ersten Ranges geworden. Lyrik als Textsorte hat sich - dank der Wirkungsmacht des typographischen Dispositivs - von einer ursprünglich lautlich zu einer in erster Linie visuell konstituierten Textart gewandelt - dies noch vor bzw. jenseits der Experimente visuell-typographischer Dichtung der Avantgarden. Denn bei (allen) Gedichten, »die weder auf metrischer Organisation noch auf Reimbindung o. ä. beruhen, ist die typographische Anordnung auf dem Papier oft das einzige Indiz dafür, was der Autor als Vers verstanden wissen will« (Küper 1988, 75). Verstärkend wirkt hierbei die Tatsache, daß es in unserer Kultur praktisch keine orale literarische Tradition mehr gibt; die Rezeption findet in der Regel von der Buchseite her statt. Damit aber hat das Gedicht selbst eine räumliche Komponente gewonnen, die von verschiedenen Autoren in unterschiedlicher Weise genutzt wird (Küper 1988, 75).
Typisch für die Scheu literaturwissenschaftlicher Gattungsgeschichtsforschung, in nichtmetrischer Lyrik die visuell-typographische Dimension als Gattungsmerkmal anzuerkennen und die Versgliederung nicht ausschließlich als lautlich-rhythmisches, sondern eben auch als visuell-typographisches Textmerkmal zu beschreiben, ist Lampings Gattungstheorie lyrischer Dichtung. Er definiert die Versgliederung lyrischer Texte generell als »rhythmische Segmentierung der Rede« (Lamping 1989,29): Diese Definition des Verses ist [...] in der Lage, alle uns bekannten Arten der Versgliederung von der Antike bis zur Gegenwart zu erfassen (Lamping 1989, 29); [...] der Unterschied zwischen Vers- und Prosarede [ist] letztlich allein ein Unterschied der Rhythmisierung (Lamping 1989,27).
Für Lamping zeichnet sich die Versrede dadurch aus, daß sie durch ihre besondere Art der Segmentierung rhythmisch von normalsprachlicher Rede abweicht. Das Prinzip dieser Segmentierung ist die Setzung von Pausen, die durch den Satzrhythmus der Prosa [...] nicht gefordert werden (Lamping 1989,24).
Lamping möchte diese Thesen am Beispiel zweier Textsatz-Fassungen von Uwe Johnsons Brief aus New York belegen. Das Beispiel illustriert aber gerade, daß eine ausschließlich auf lautsprachlichen Kategorien aufbauende Definition von Lyrik nicht hinreichend ist:
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Ein Vorschlag zur Interpretation: Die Hervorhebung des besitzanzeigenden Fürwortes »seines« kann gelesen werden als Kritik an der Wichtigkeit von materiellem Besitz für das Selbstverständnis und die Weltsicht der durch historische Erfahrung unbelehrbaren, geschichtsverdrängenden Deutschen.
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Gelb, zum Beispiel. Gelb ist hier anderswo. Ich meine die ganze Farbenfamilie. (Johnson. Brief aus New York wie abgedruckt in Jahrestage. Suhrkamp, 1960; zit. aus Lamping 1989,27) Gelb, zum Beispiel Gelb ist hier anderswo ich meine die ganze Farbenfamilie. (Johnson. Brief aus New York wie abgedruckt in Kursbuch 10, 1970; zit. aus Lamping 1989, 28)
Lamping ist der Meinung, daß der zweite Textausschnitt durch die »Setzung nicht nur syntaktisch motivierter Pausen: durch eine besondere Art der Segmentierung oder Rhythmisierung also« zum lyrischen Verstext werde (Lamping 1989, 28). Genau dies ist hier nicht der Fall. Die Versgliederung zeichnet unter sprechrhythmischen Gesichtspunkten exakt die Pausenfolge der Prosafassung nach, die dort durch Satzzeichen angezeigt und in erster Linie grammatisch-syntaktisch und nicht expressiv-rhythmisch motiviert ist - und damit nach Lampings Definition keine lyrische Rede ist. Dennoch können wir die beiden Textfassungen als Prosa einerseits und Lyrik andererseits eindeutig unterscheiden. Diese Unterscheidung ist im vorliegenden Beispiel allein visuell und nicht sprachlich-rhythmisch begründet. Vielfach genügen - wie im zitierten Beispiel - linguistisch-sprachliche Merkmale nicht mehr, um den Unterschied zwischen Prosa und Lyrik zu bestimmen; die typographisch-dispositive Textanordnung ist zum zentralen Differenzkriterium der Gattung Lyrik geworden. Das heißt nun aber nicht, daß damit die (laut-) sprachliche Dimension lyrischer Rede völlig verdrängt ist - im Gegenteil. Das typographische Dispositiv hält paradoxerweise gerade die lautliche Qualität von Lyrik - auch beim stummen Lesen - präsent. Denn die äußere Form von Gedichten ist in unserer Kultur durch entsprechendes Kanonwissen so »zum Bild und Sinnbild metrischer Gebundenheit geworden, daß es als ungewohnt empfunden wird, Prosatexten dieses typographische Kleid zu geben: Man liest ganz unwillkürlich >skandierendTextUniversums< weiterhin als die Textart, die metrisch, rhythmisch und klanglich besonders strukturiert ist. Eine Leserbriefdebatte im Times Literary Supplement (TLS) 1965 thematisiert die wichtigsten wirkungsästhetischen Aspekte der typographisch dispositiven Form von Lyrik. Ausgelöst wird die Debatte von Jones. Er reklamiert die (durch Veröffentlichung belegte) Autorschaft für einen Text aus einer Gedichtsammlung von MacDiarmid, die kurz zuvor in der TLS rezensiert worden war: [...] the words are identical - apart, I repeat, from the first line -[...] what Hugh MacDiarmid has done [...] is to arrange my prose in the form of the poem quoted above (TLS 21. 1.1965, 47).
Betrachtet man ausschließlich die sprachliche Textebene - unabhängig von ihrer typographischen Formgebung -, ist die Frage, die Jones aufwirft: ob es sich bei dem fraglichen Text um ein Plagiat oder um eine eigenständige schöpferische Leistung 131
handele, scheinbar16 einfach zu beantworten. Dennoch entwickelt sich unter der Leitfrage »Can prose become poetry through typographic rearrangement?« (TLS 18. 2.1965,127) eine Kontroverse, die über mehrere Ausgaben der Zeitung ausgetragen wird. Denn die typographisch-dispositiven Formmerkmale eines Textes beeinflussen seine Rezeption auch auf sprachlich-inhaltlicher Ebene - sowohl in Hinblick auf die wahrgenommenen Texteigenschaften als auch auf deren Interpretation. Dies belegen die Argumentationen beider Parteien in dieser Debatte: Mr. MacDiarmid's verse-pattern adds a dimension of rhythmical subtlety and brings out qualities and relationships of sound that enrich the significance of Mr. Jones words [...]. Our response to such things is tuned up before we even begin to read the poem, because the mere appearance of vers-lines makes us expect a much more intensive handling of rhythm and sound qualities than in prose (TLS 4. 2.1965, 87).
Die visuelle Gattungskonvention erweist sich als so stark, daß Leser an einem Prosatext in Gedichtform lyrische Textqualitäten zu erkennen suchen und dank der tief verankerten Erwartungshaltung gegenüber Lyrik am umstrittenen Text auch wahrnehmen, denn die lyrische Textform lenkt die Aufmerksamkeit auf rhythmische sowie lautliche Besonderheiten und auf mögliche subtile semantische Mehrdeutigkeiten. Die Debatte in der TLS zeigt sehr deutlich, wie stark die Wahrnehmung von lautlichen Qualitäten an schriftsprachlichen Texten in unserer Kultur durch typographische Merkmale vermittelt ist (s. dazu auch Kap. 5.2 und 7.2). Selbst diejenigen, die bestreiten, daß es sich bei MacDiarmids Text um Lyrik handele, können nicht umhin, die typographische Form als relevante poetische Textdimension - wenn auch nicht anzuerkennen, so doch zumindest als unhintergehbaren Faktor der Lektüre und Textdeutung - anzusprechen. Ein Leserbriefschreiber, der vehement die Ansicht verneint, typographische Anordnung könne aus Prosa Lyrik machen, gesteht dennoch zu, daß die neue typographische Anordnung »an independent work of art« schaffe und die Textwahrnehmung verändere.17 Ähnlich ein anderer Leser, der - obwohl er darauf beharrt, daß die Gliederung in Verszeilen aus Prosa keine Lyrik mache (»this is not to say that any prose echopped up into lines makes poetry«) - zugesteht, daß die Zeilenumbrüche aufgrund »conventions learnt from experience« dazu zwingen, die Textzeilen anders zu lesen (»to read them otherwise«), (TLS 25.2.1965, 147). Ganz allgemein zeichnet sich im Umgang mit den dichterischen Möglichkeiten des typographischen Dispositive Lyrik eine zutiefst ambivalente Entwicklung mo-
Nur scheinbar; denn eine literarische Produktionsästhetik, die sich diskurstheoretisch definiert und programmatisch mit einem Intertextualitätsbegriff arbeitet, kennt eine wertende Trennung von >originärem< und plagiierendem Sprechen oder Schreiben nicht. Und in der Tat erklärt MacDiarmid zu seiner Entschuldigung, daß er in einer Art Sudelbuch eigene und fremde Textfragmente sammele, die er dann als Sprachmaterial in seinen Texten literarisch verarbeite. »I do not find, that the typographic rearrangement alters the sound of the syllables, nor can I see how any such alteration could change the significance of words except by introducing mental rather than auditory pauses« (TLS 18. 2. 1965,127). 132
derner Lyrik ab: Die Freisetzung der Versdichtung aus der metrischen Bindung eröffnet die Möglichkeit zur fortgesetzten Entfaltung der visuell-typographischen Dimension von Lyrik. Diese reicht vom Vers libre über die Mittelachsenverse in Arno Holz Phantasus bis zur radikalen Transformation des Dispositivs in Mallarmes Coup de des n'abolira jamais le Hasard oder den Parole in überta der Futuristen. In diesen Dichtungen werden nicht mehr primär sprachliche Strukturen, sondern zunehmend typographische Formen als bedeutungstragende, sinnbildende Zeichenmittel ausgearbeitet. Wirkungsästhetisch sind diese typographischen Innovationen aber gleichzeitig programmatisch bezogen auf das Bemühen um die Erneuerung der lautlichen Qualität von Dichtung, seien sie musikalischer (Mallarme), rhythmischer (Holz) oder geräuschhafter (Futuristen) Natur. Visualisierung tritt neben die lautlich motivierte typographische Formung von Gedichten und verdrängt diese nicht (s. dazu Kap. 7.2).
5.2 Typographische Mündlichkeitsmerkmale 5.2.1 Zur Definition typographischer Mündlichkeitsmerkmale Gegenstand dieses Kapitels sind typographische Gestaltungsmittel, die in schriftsprachlicher Kommunikation als Zeichen paralinguistischer, prosodischer Merkmale gesprochener Sprache wirksam werden.18 Ich nenne diese typographischen Formmerkmale in Anlehnung an eine Begriffsbildung von Paul Zumthor Mündlichkeitsmerkmale. Er versteht darunter ganz generell »alles, was uns innerhalb eines Textes Auskunft gibt über die Intervention der menschlichen Stimme bei seiner Veröffentlichung« (Chartier 1990, 164). Typographische Mündlichkeitsmerkmale erlauben - so meine These - dank kultureller Konventionalisierung regelhaft auf bestimmte lautlich-prosodische Erscheinungsformen mündlichen Sprechens zu schließen. Prosodischen Merkmalen mündlichen Sprechens selbst sind kulturtypisch konnotative Ausdrucksfunktionen zugeschrieben. Sie erlauben beispielsweise Schlüsse auf Redeabsicht, Entstehungssituation oder emotionale Stimmungslage des Sprechers und beeinflussen so das Verständnis von Sprechakten. Die Analyse typographischer Mündlichkeitsmerkmale zeigt, daß die historische Entfaltung typographisch-visueller Vertextungsformen keineswegs zum Verlust aller lautsprachlich-oralen Aspekte in schriftsprachlicher Kommunikation geführt
Paralinguistik bzw. Prosodik ist die linguistische Teildisziplin, die sich mit phonetischen Signalen nonverbalen Charakters befaßt. Unter prosodischen Merkmalen versteht die linguistische Theorie solche Elemente der gesprochenen Sprache, die nicht wie Phoneme distinkt segmentiert vorgestellt werden. Derartige einzellautüberlagernde Merkmale können bezogen sein auf eine oder mehrere Silben, ganze Wörter und Satzglieder oder einen ganzen Satz. Unter Prosodie werden lautsprachliche Eigenschaften wie Tonhöhe, Lautstärke, Klangfarbe, Sprechgeschwindigkeit, Pausen, Rhythmus u.a. zusammengefaßt (Bußmann 1990,353; 557). 133
hat. Typographische Mündlichkeitsmerkmale sind Indiz dafür, daß die Entwicklung der Druckkultur die lautlich dimensionierte Lese- und Rezeptionsweise von Texten nicht völlig verdrängt hat. Die Durchsetzung der typographischen Schriftkultur zieht nicht notwendig die Revolutionierung aller vorhergehenden kulturellen Textpraktiken nach sich. Vielmehr bilden sich spezifisch neue Mischformen aus. Nicht nur integriert Schrift (-Sprache) mündliche Traditionen, sondern die Schriftentwicklung ihrerseits beeinflußt die Entwicklung von Lautsprache.19 Erst in jüngerer Zeit nimmt das Interesse für die wechselseitige Beeinflussung von Visualität und Oralität in der Schriftsprachentwicklung zu (vgl. z.B. Curschmann 1984). Die kulturgeschichtlichen Ausprägungen des Wechselverhältnisses von Oralität und Literalität - beispielsweise in der Entwicklung von lautem und leisem Lesen oder bei der Entstehung der Lautdichtung in den Avantgarden - sind noch unzureichend erforscht. Der Frage, auf welche verschiedenen Weisen sich ein Text auf seine oralen Grundlagen beziehen kann, wird in der sprach- oder literaturwissenschaftlichen Forschung wenig Beachtung geschenkt. Oftmals gilt das Fehlen aller paralinguistischen, prosodischen Zeichenaspekte als das Charakteristikum geschriebener Sprache im Vergleich zu gesprochener Sprache: [...] Eigenschaften wie Lautstärke, Sprechgeschwindigkeit, Melodie und Akzent werden in konventionellen Schriftsystemen ü b e r h a u p t nicht [Herv. S.W.] repräsentiert (Coulmas!982,40).
In aller Regel wird nur der Literatur zugetraut, prosodische Eigenschaften schriftsprachlich anzuzeigen - ausdrücklich Erwähnung finden in diesem Zusammenhang Lyrik als der »archtypus of spoken communication« (Bradford 1988,187) oder literarische Textexperimente der Avangarden, denn ihnen gelinge es beispielsweise, »mit Hilfe einer nichtkonventionellen (und deshalb als literarisch verstehbaren) graphischen Anordnung, ein bestimmtes Intonationsmuster zu fixieren« (Glück 1987, 32). Dagegen behaupte ich, daß in ganz gewöhnlichen alltagssprachlichen typographischen Vertextungen prosodische Eigenschaften wie Intonationsmuster angezeigt werden können, weshalb eine analytische Betrachtung von typographischen Texten auch unter lautbezogenem Blickwinkel - unabhängig von der denotativen Codierung von Schriftzeichen20 - möglich ist. Nur ganz vereinzelt wird von Seiten
Giesecke hat die Entwicklung der Hochsprache als Umbau der (Laut-) Sprache nach typographischen Normen beschrieben; die Bemühungen um die Vereinheitlichung der lautsprachlichen Artikulation im 18. und 19. Jahrhundert - von Kittler als »planvolle Normierung der Münder« beschrieben (Kittler 1987, 42) - orientieren sich an Regeln, die am Modell der Druckschrift (Buchstaben) entwickelt worden sind (s. Giesecke 1989, 337; 1992,327). Die konnotative Codierung von typographischen Gestaltmerkmalen als Zeichen paralinguistisch-prosodischer Merkmale gesprochener Sprache gilt es zu unterscheiden von deren denotativer Codierung. Letztere regelt die Korrelation des distinkten typographischen Letternmaterials mit phonematisch-sprachlautlichen bzw. begriffssprachlich-lexikalischen Einheiten des Sprachsystems.
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der Sprachwissenschaft auf die Analogie von typographischen Auszeichnungsverfahren wie Sperrdruck oder Unterstreichungen und suprasegmentalen Eigenschaften gesprochener Sprache hingewiesen. Angesprochen werden dabei die strukturelle Ähnlichkeit (Gallmann 1985,193f.) und die funktionale Entsprechung (Glück 1987,110) der beiden Ausdrucksebenen - ohne daß ausführlichere Betrachtungen über die systematischen Beziehungen von typographischen Zeichenmitteln und prosodischen Sprachmerkmalen angestellt werden.21 Als typographische Mündlichkeitsmerkmale dienen vor allem Auszeichnungsschriften (Kursivierung, Versal- oder Fettdruck), aber auch nichtalphabetisches, graphisches Auszeichnungsmaterial wie Linien und Druckfarbe oder visuell-syntaktische Formbildungen wie Spationierungen (Sperrdruck). Im Vergleich zu den hochdifferenzierten und extrem variationsreichen lautlich-prosodischen Eigenschaften mündlichen Sprechens sind die Ausdrucksmöglichkeiten typographischer Mündlichkeitsmerkmale deutlich beschränkter, aber dennoch können prosodische Ausdrucksqualitäten wie Lautstärke, Sprachtempo, Akzent und Betonung typographisch angezeigt werden. Es gibt keine typographischen Zeichenmittel, die ausschließlich als Mündlichkeitsmerkmale codiert sind. Anders als beispielsweise im Fall typographischer Dispositive erfolgt die Semantisierung nicht einzeltextunabhängig, sondern ist abhängig vom jeweiligen sprachlich-semantischen Kontext. Der jeweilige Textzusammenhang entscheidet darüber, ob typographische Auszeichnungsformen als Zeichen prosodischer Ausdrucksqualitäten wahrgenommen und gedeutet werden: Beispiel A 1. Ich spreche Englisch. 2. Ich spreche Englisch. 3. Ich spreche Englisch. Beispiel B Martini, Fritz. Poetik. Deutsche Philologie im Aufriß, hg. v. Wolfgang Stammler, Bd. I. Berlin, 1952. S. 215-268.
In Beispiel A fungiert der Kursivdruck eindeutig als Mündlichkeitsmerkmal im definierten Sinn. Die Kursivierung zeigt je andere Betonungen an. Die typographischen Auszeichnungsformen werden dabei als >Bedeutungsmodulatoren< wirksam, denn der Schriftwechsel wird beim Lesen in vertraute, typische Intonationsverläufe >übersetztDu glaubst mir nicht, aber ich spreche wirklich Englische 2. >Ich spreche Englisch, nicht Französische 3. >Nicht er, sondern ich spreche Englische
»Es gibt [...] bislang kaum Untersuchungen dazu, welche Beziehungen zwischen diesen [Schriftart, Großschreibung, Unterstreichungen etc.] visuellen Mitteln und Verfahrensweisen in mündlicher Sprache bestehen« (Günther 1988b, 80).
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Die Gegenprobe - »Ich spreche Englisch« - zeigt, daß die Satzaussagejenseits der Mitteilung, daß ich Englisch spreche, semantisch-konnotativ >neutral< ist. Auch bleibt der Satz bei der Lektüre >stummgegen< seine Auszeichnungsform zu intonieren und zu interpretieren. Typographische Mündlichkeitsmerkmale erweisen sich - einmal als solche erkannt als hochgradig wirkungsmächtig; ihnen kommt eine Art >auktoriale Autoritär zu, deren Mißachtung als klarer Regelverstoß bewertet wird.22 Die Kursivierung in Beispiel B hingegen fungiert - obwohl formal identisch nicht als Mündlichkeitsmerkmal und ist praktisch nicht phonetisierbar. Man kommt gar nicht auf die Idee, die Textauszeichnung als Zeichen lautsprachlicher Ausdrucksmodulation zu lesen. Das vorliegende Textbeispiel ist unschwer als bibliographische Angabe kenntlich. Deren Typographie ist durch explizite Regeln wissenschaftlichen Bibliographierens hochgradig normiert. Damit kommt gänzlich anderes Regelwissen bei der Deutung der typographischen Schriftauszeichnung zur Anwendung als in Beispiel A. Der Kursivdruck fungiert hier als Unterscheidungszeichen für den Titel des Sammelwerks, in dem der betreffende Aufsatz des Autors erschienen ist. Die Wahrnehmung und Deutung von Mündlichkeitsmerkmalen ist in alltagssprachlichen Textzusammenhängen hochgradig habitualisiert und erfolgt zumeist unbewußt und ohne daß dazu laute Artikulation nötig wäre. Es ist ein wesentliches Charakteristikum der Funktionsweise typographischer Mündlichkeitsmerkmale, daß sie prosodische Qualitäten der gesprochenen Sprache gerade auch im stummen Lesen als mentale Repräsentation zu aktualisieren vermögen. Die Leseforschung bietet hierfür Erklärungsansätze, die im folgenden kurz skizziert seien.23 Bis zum 8. Jahrhundert erfolgten Schreiben und Lesen jeweils laut. Im 8. Jahrhundert wurde mit der Worttrennung begonnen, die ab dem 11. Jahrhundert systematisch durchgeführt wurde, wodurch die Voraussetzungen für die rein visuelle Erfassung des Wortes gelegt waren. Tatsächlich erfolgte schon im 12. Jahrhundert Schreiben und Lesen teilweise stumm (Günther 1989, 284f.; Illich 1991, 86; 91f.; Chartier 1990, 36). Lautes und leises Lesen haben sehr früh koexistiert.24 Neuere Erkenntnisse historischer Leseforschung haben zur Revision einiger typischer An22
23
24
Nicht zufällig muß man in wissenschaftlich korrekter Zitationsweise Auszeichnungen, die man innerhalb von Zitaten anbringt, als solche kenntlich machen. Fragen der Phonetisierung in Leseprozessen werden auch im Zusammenhang mit der Analyse von Lautdichtung erörtert (s. Kap. 7.2.2.3). Ob stumm oder laut gelesen wurde, hing von der individuellen Kompetenz des Lesers, von der Textart und der Lesesituation ab (vgl. Chartier 1985,260).
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nahmen über den Einfluß des Buchdrucks auf die Entwicklung des stummen Lesens und über die Verdrängung des lauten Lesens im 18. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Durchsetzung extensiver Lektüre geführt (Chartier 1990, 36; Schön 1987, 100). Auch wenn im 20. Jahrhundert das stumme Lesen als kulturell dominante Lektüreform durchgesetzt ist, erfolgt Lesen nicht ausschließlich stumm. In der sprachwissenschaftlichen Leseforschung ist die Rolle der Lautsprache beim stummen Lesen bis heute umstritten. Die Debatte kreist um die Frage, ob die Bedeutung des Gelesenen rein visuell identifiziert werden kann, oder ob der lexikalische Zugriff auf das Gelesene nur indirekt, über die phonologische Recodierung des schriftsprachlichen Textes möglich ist (Günther 1988b, 122ff.). Unter phonologischem Recodieren werden sowohl tatsächliche (laute) Artikulation als auch Phänomene der (stummen) Subvokalisation gefaßt. Letztere reichen von physio-physikalisch nachzuweisenden artikulatorisch-motorischen Reaktionen im Stimmapparat bis hin zu rein mentalen auditorischen Effekten (Gfroerer 1988, 23). Einigkeit herrscht heutzutage darüber, daß »Lesen nicht unbedingt Phonetisieren, immer aber visuelles Erfassen« verlangt; denn »auch wenn die Alphabetschrift primär Laute abbildet - für die Lektüre ist die Lautebene entbehrlich« (Große 1990, 235). Die Belege für den direkten, visuellen Zugang zur Wortbedeutung - ohne Rekurs auf die phonologische Repräsentation des Gelesenen - sind zahlreich: Daß ein direkter Zugang zur Wortbedeutung möglich ist, kann nach dem heutigen Erkenntnisstand der Leseforschung mit Sicherheit behauptet werden. Genauer gesagt, deuten die neuesten Forschungsresultate auf eine Dissoziation zwischen dem semantischen und dem phonetischen Aspekt der Worterkennung hin (Scheerer 1983, 97).
Man geht heute in der Leseforschung von einem komplementären Verhältnis beider Aspekte der Worterkennung aus: demnach werden in jedem (stummen) Leseakt visuelle und phonologische Verarbeitungsprozesse aktiviert. Zwischen beiden stellt man sich eine Art Wettlauf vor (Scheerer 1983,108). Bei erfahrenen Lesern erfolgt der visuelle Zugriff auf die lexikalisch-semantische Wortbedeutung schneller als die Aktivierung des phonologischen Codes (Scheerer 1983,112), weshalb es nicht notwendig zu bewußten mentalen Repräsentationen oder gar aktiver, lauter Artikulation beim Lesen kommt (Gfroerer 1988,100). Dies ist der Grund, warum im stummen Lesen die phonologische Recodierung »bestenfalls ephemere, den normalen Prozeß nicht betreffende Funktion hat« und dennoch gleichzeitig die »Evidenz geradezu überwältigend [ist], daß auch beim leisen Lesen phonetisch-phonologische Effekte zu beobachten sind« (Günther 1988b, 146). Als einen solchen Effekt betrachte ich die Wahrnehmung von Mündlichkeitsmerkmalen eines Drucktextes, die keiner tatsächlichen lautsprachlichen Artikulation bedürfen, um als solche erkannt zu werden. Ich gehe davon aus, daß typographische Mündlichkeitsmerkmale mentale phonologische Codes aufrufen, die prosodische Merkmale lautsprachlicher Artikulation zu repräsentieren vermögen. Mentale phonologische Codes können »in der visuellen Worterkennung so abstrakt sein [...], daß sie über keine nachweisbaren motorischen Anteile mehr verfügen« (Gfroerer 1988,92). Als mentale phonologische Repräsentationen liegen nach Gfroerer in schriftsprachlichen Vertextungen 137
»neben der segmenteilen Information vor allem prosodische Merkmale wie z. B. die unterschiedliche Betonung von Silben« oder »zeitliche Verhältnisse, entsprechend denen gesprochener Sprache« vor (Gfroerer 1988, 92). Prosodische Eigenschaften gesprochener Sprache lassen sich typographisch zumeist auf verschiedene Weisen repräsentieren. So können die oben angeführten Beispielsätze typographisch vielfältig variiert werden: 1. Ich spreche Englisch. 2. Ich spreche Englisch. 3. ICH spreche Englisch.
Ein >Lexikon< typographischer Mündlichkeitsmerkmale läßt sich nicht aufstellen. Und doch existieren klare Präferenzen bei der Zuordnung von typographischen Zeichenmitteln und bestimmten prosodischen Ausdrucksqualitäten. So neigt man unwillkürlich dazu, (in Leserichtung) zunehmenden Schriftgrad und -stärke des Textelements futuristischer Dichtung in Abb. 25 als Anschwellen von Lautstärke zu deuten; umgekehrt läßt der sukzessiv abnehmende Schriftgrad in der Wortfolge »Tuuuum Tuuuum Tuuuum« in Abb. 26 unwillkürlich auf echohaft leiser werdende Geräusche schließen - zumal die Wortfolge im Kontext lautmalerischer futuristischer Wortschöpfungen aus den Assoziationsfeldern Schlacht und Kampf sieht. Mit Blick auf derartige typographische Vertextungsstrategien futuristischer Dichtung urteilt Finter: Das Beispiel der zunehmend größer werdenden Lettern zeigt aber, daß eine solche Lektüre mehr oder weniger erzwungen ist und die Spezifik der Schrift verkennt. Das Anwachsen der Lettern ist gegenläufig zur lautlichen Betonung. [...] Zudem haben wir eine Stufung von Lettern und nicht von Silben, die gerade in der lebendigen Rede akzentuiert werden. [...] Somit scheint auch hier die Schrift eher organisierendes rhetorisches Element zu sein als die Umschrift einer Stimme« (Finter 1980,170f.).
Abb. 25 Typographisches Textelement futuristischer Dichtung
Diese Beurteilung der Rolle typographischer Formgebung für die Repräsentation lautsprachlich-stimmlicher Texteigenschaften geht meines Erachtens von falschen Prämissen aus. Sie basiert auf der Annahme, daß typographische Gestaltmerkmale an Sprachelementen nur dann als >echte< Ausdruckszeichen für prosodisch-phonetische Merkmale gelten können, wenn prosodische Lautsprachmerkmale und typographische Mündlichkeitsmerkmale gleich strukturiert sind; erst dann könne eine 138
wirksame (wechselseitige) Bezeichnungsrelation zwischen den beiden Ausdrucksebenen angenommen werden. Zwischen zwei materiell und syntaktisch völlig verschiedenen Ausdruckssystemen, wie lautsprachlicher Artikulation und typographischer Schriftform, kann kein isomorphes Abbildungsverhältnis bestehen, sondern nur ein arbiträr-konventionelles. Der Erklärung der Vertextungsstrategien futuristischer Typographie näher kommt White: [...] its [futurist typography] use of boldness of print and size of typeface to indicate degrees of importance or acoustic properties [...] also involves a form of i c o n i c i t y [Herv. S.W.] (White 76, 68).
FÜTUB.ST*
ADR1ANOPOLI
OTTOBRE 1912
Abb. 26 Marinetti. Zang Tumb Tumb. Parole in Liberia. Mailand: Edizioni Futuristedi Poesia, 1915
Der Ikonizitätsbegriff erlaubt, die semiotischen Mechanismen aufzuzeigen, auf denen die Repräsentation prosodischer Qualitäten durch typographische Zeichenmittel beruht. Im weitesten Sinn gilt ein Ikon als ein Zeichenmittel, das dem bezeichneten Gegenstand (in irgendeiner Hinsicht) ähnelt. Eco wendet sich gegen ein Begriffsverständnis von Ikonizität, in dem diese Ähnlichkeitsbeziehung als >natürlich< angenommen wird. Ikonische Zeichen sind dem bezeichneten Gegenstand nicht aufgrund (physisch) gleicher Merkmale bzw. Eigenschaften ähnlich, vielmehr 139
basiert die Ähnlichkeitsrelation zwischen Signifikant und Signifikat auf der ähnlichen Wahrnehmung ihrer Merkmale aufgrund ikonischer Codierung (s. Eco 1987, 257). Ecos Ikonizitätsmodell nimmt mehrfache Codierungen von ikonischen Zeichenprozessen an: beteiligt sind Wahrnehmungscodes (Erkennungscodes), graphisch-visuelle Codes und schließlich ikonische Codes, die die beiden ersteren in Bezug setzen und die Korrelation zum semantischen System herstellen (vgl. Thürlemann 1990, 29). Ikonizität ist somit abhängig von sozialem Lernen und kultureller Konvention. Sie basiert auf der Anwendung gleicher Codes auf unterschiedliche Gegenstandsbereiche (vgl. Trabant 1989, 54f.), im vorliegenden Beispiel auf typographische Gestaltmerkmale und Eigenschaften der mündlichen Rede. Die Wahrnehmung des bezeichneten Gegenstandes wird >regiert< von einem Erkennungscode. Dieser steuert das selektive Erfassen identifizierender Merkmale aus der prinzipiell offenen Menge der Merkmale und Eigenschaften des Wahrnehmungsgegenstandes. Ikonische Codes korrelieren nun einige dieser - durch den Erkennungscode relevant gemachten - Merkmale mit entsprechenden Merkmalen visueller, (typo-) graphischer Zeichenmittel. Sie stellen auch den Bezug zwischen diesen durch die Korrelation von Erkennungscode und visuellem Code relevant gemachten - Merkmalen und entsprechenden Einheiten des semantischen Systems her (vgl. Eco 1987, 274ff.; Thürlemann 1990, 29). Typographische Formmerkmale müssen, um Eigenschaften der mündlichen Rede bezeichnen zu können, nicht Struktureigenschaften, wie Silbengliederung oder Akzentverteilung, mit ihr gemeinsam haben. Wesentlicher für das Gelingen der (ikonischen) Zeichenfunktion ist, daß eine gemeinsame Wahrnehmungsbedeutung von typographischen Zeichen (z. B. Letterngrad) und Bezeichnetem (z. B. Lautstärke) zugrunde liegt. In der Regel besitzen - durch den Erkennungscode bzw. ikonischen Code relevant gemachte - (Wahrnehmungs-) Einheiten eine »schon codierte Wahrnehmungsbedeutung« (Eco 1972,208f.), d. h., ihnen sind kulturell bereits (konnotative) Inhaltseinheiten zugeordnet: Der Abnahme von Lautstärke entspricht in unserer Kultur beispielsweise die Vorstellung des Schrumpf ens, Kleiner-Werdens. Umgekehrt wird die Zunahme von Lautstärke überwiegend als Ausdehnung, als Anschwellen vorgestellt. Deshalb deuten wir die sukzessive Vergrößerung von Schriftstärke (Fette) und Schriftgrad (Höhe) der Lettern in Abb. 25 unwillkürlich als Zeichen zunehmender Lautstärke - denn die Lettern scheinen sich auszudehnen bzw. anzuschwellen. Im Falle typographischer Mündlichkeitsmerkmale treffen also - charakteristisch für ikonische Zeichen - Elemente einer visuell-graphischen Konvention auf Elemente einer »schematisch begrifflichen oder perzeptuellen Konvention« (Eco 1987, 258). Die Semantisierung von typographischen Gestaltqualitäten mit Vorstellungsbildern wie Anschwellen und die Korrelation dieser Inhaltseinheiten mit prosodischen Merkmalen der Rede (Lautstärke) konstituiert eine Zeichenrelation zwischen beiden, die in erster Linie auf semantisch vermittelter Ähnlichkeit beruht: Zwischen dem Abbildenden und dem Abgebildeten besteht keine Isomorphie, sondern Gleichheit in einem Dritten - dem Code bzw. dem Interpretanten. Das Zustandekommen graphisch-phonetischer Ikonizität dieser Art läßt sich gut an einem Experiment aus der Wahrnehmungspsychologie illustrieren: Den Befrag140
ten werden zwei abstrakte graphische Formen vorgelegt, die eine geschwungenrund, die andere eckig-spitz geformt. Ihnen sollen die Worte »maluma« und »takete« zugeordnet werden. Erwachsene - bezeichnenderweise nicht Kinder ! - kombinieren mehrheitlich die eckig Form und das Wort »takete« bzw. die runde Form und das Wort »maluma« (Braun 1993,152). Die Verbindung von hellen, spitzen Vokalen mit PIosiv-Konsonanten im Wort »takete« gilt in unserer Kultur als harte Lautfolge im Gegensatz zu den weichen Labialkonsonanten und dem dunklen, runden »u« des Wortes »maluma«. Die Befragten projezieren also kulturell erlernte konnotative Codierungen von Vokal- und Konsonantenfolgen auf die graphischen Merkmale der vorgelegten Figuren. Die Zuordnung basiert auf der Anwendung der gleichen Wahrnehmungs- und Bedeutungskonvention auf die graphischen Formen und sprachlichen Ausdrücke, ohne daß eine unmittelbare Ähnlichkeit zwischen den Formen und Worten vorläge. 5.2.2 Das Beispiel Rhythmus Im folgenden soll die Möglichkeit der Wiedergabe bzw. Konstitution komplexerer prosodisch-rhythmischer Phänomene durch typographische Zeichenmittel betrachtet werden. Die typographische Anordnung der Textfassung von Goethes Gedicht Heideröslein (1771) in Abb. 27 folgt den traditionellen Formationsregeln des Dispositivs Lyrik: Zeilengliederung und Strophenbildung werden von Metrum und festem Reimschema (vierhebiger Trochäus; Kreuzreim bzw. geschweifter Reim) >regiertAustreibung< der zeitlichen Dimension von Sprache. Gemeinhin wird angenommen, daß schriftsprachliche Texte nicht länger zeitlich, sondern ausschließlich räumlich dimensioniert sind (vgl. Jakobson 1992, 289). Der Gegensatz von Raum und Zeit ist kulturtypisch an Vorstellungen über Dynamik (Laut, Zeit) und Statik (Schrift, Raum) gekoppelt (vgl. Jakobson 1992, 290; Gerstner 1985,40; Küper 1988,72; 75; 93). Die Entgegensetzung räumlich-statischer vs. zeitlich-dynamischer Eigenschaften von Laut- und Schriftsprache hält einer Analyse von Wahrnehmungsprozessen bei der Lektüre (ästhetischer) Texte nicht stand (vgl. Küper 1988, 72). Zeitlich-dynamische und räumlich-statische Aspekte eines Textes können in der Rezeption aufeinander projiziert werden (vgl. Küper 1988, 93). Auslöser hierfür sind gerade auch typographische Gestaltmerkmale. Dies zeigt das vorliegende Textbeispiel in Abb. 28. Die Komposition >rhythmisiert< den Blick des Lesers. Die auffällige Verräumlichung des Goethegedichts durch die starke Segmentierung und Spatialisierung des Gedichtanfangs macht die Lektüre physisch spürbar zu einer Aktivität, die sowohl der räumlichen als auch der
Präsenz von Rhythmus in Graphem-Sequenzen »komplizierter Vorüberlegungen« bedürfe (Gumbrecht 1988b, 716). Finter kommt - im Zusammenhang der Analyse typographischer Dichtung des Futurismus - zu dem Ergebnis, daß Rhythmus »sehr schwach einen Niederschlag in der Schrift [findet]«. Die Flächenabfolge der Seite notiere zwar eine zeitliche Abfolge, könne aber »keinerlei Aussage geben [...] über reale Dauer, Tempo, Pausen und Betonung der Rede. Im Text bleibt die Ausdrucksfähigkeit durch den Rhythmus abstrakt« (Finter 1980,164). Auch die (freie) Spatialisierung von Schrift auf der Seite bilde weniger lautlichen Rhythmus ab; sie lenke vielmehr die Bewegung der Augen des Lesers und beeinflusse auf diese Weise - durch Determinierung der Blickfolge - die Sinnkonstitution. Verfahren der freien flächensyntaktischen Komposition von Texteinheiten auf der Druckseite sind laut Finter weniger »Bewegungsspuren der Stimme« als vielmehr eine »Rhetorik des Blicks« (Finter 1980,174). 144
zeitlichen Erfahrung unterliegt; der Text muß im Lesen schrittweise, >Blick für Blick< abgetastet werden. Es setzt eine Dynamisierung des Räumlichen ein, so daß man die typographischen Formen als bewegt bzw. zeitlich dimensioniert wahrnimmt; dies meint hier mehr als den zwangsläufigen Verbrauch von Zeit bei jedem Lesen, nämlich die (bewußte) Wahrnehmung von unterschiedlichem Zeitverlauf im Text. Die sukzessiv gesteigerte Spationierung in der Textzeile »Röslein, Röslein, Röslein rot« beispielsweise verlangsamt den Lesefluß real: Man empfindet die Spationierung unwillkürlich als Dehnung in der Zeit. Die visuell-räumliche Konfiguration wird demnach zeitlich erfahren und kann mentale phonologische Recodierungen prosodischer Eigenschaften mündlicher Rede, wie z. B. Dehnung der Artikulation oder Intensivierung des (expressiven) Ausdrucks, auslösen.
5.3 Das Verhältnis von Form und Inhalt als Mittelpunkt typographischer Theorie und Praxis 5.3.1 Ein Problemaufriß Im 20. Jahrhundert wird Typographie zunehmend als eigenständiges Zeichen- und Bedeutungsmittel anerkannt und eingesetzt. Dies führt dazu, daß Typographen ihre Aufgabe immer entschiedener als inhaltliche Gestaltung des Druckwerkes mittels Schrift verstehen: Typography is not only the arrangement of type faces but the conscious apprehension of content whose ultimate goal is the elucidation of the message (Weiter in Thesen zur Typographie Bd. l, 1985,27).
Damit wird die Frage nach dem Verhältnis von sprachlichem Textinhalt und typographischer Textform virulent. Allen Erörterungen hierzu liegt die Annahme zugrunde, daß typographische Formen eine eigenständige, sprachunabhängige Bedeutungsdimension haben - ohne diese Prämisse würde sich das Problem der Koordination von Textform und -inhalt gar nicht stellen. Jede Schrift hat ihre eigene Anmutung und enthält, auch dadurch wie sie gesetzt und angeordnet wird, eine Aussage. Diese muß dem Inhalt und seiner Funktion entsprechen (Gulbins/Kahrmann 1993,136). Prüfen Sie deshalb sorgfältig, ob die optische Aussage [Herv. S.W.] mit der inhaltlichen übereinstimmt (Gulbins/Kahrmann 1993,156).
Die Abstimmung von typographischer Form und sprachlichem Inhalt war nicht immer Leitprinzip der Gestaltung von Texten. Davon legt der Buchtitel aus dem Jahr 1534 in Abb. 29 Zeugnis ab: Die Verteilung der Schriftgrade und die Setzung der Zeilenbrüche berücksichtigen weder semantisch-logische Sinneinheiten noch grammatische Gliederungseinheiten. Grundlegende Prinzipien der Form-Inhalt-Koordination, wie beispielsweise inhaltlich Zusammengehöriges gleichartig zu gestalten, Sinneinheiten nicht beliebig zu trennen etc., fanden hier noch keine Anwendung. 145
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Abb. 29 Elyot. TTie ßo/te Named the Gouernour, 1534
Offensichtlich stand die visuelle Einpassung des Textes in die epitaphartige Gesamtform der Textseite im Vordergrund der Textkomposition und erfolgte ohne Rücksichtnahme auf den sprachlichen Textinhalt. Gängige typographische Lehrmeinung heutzutage ist, daß die äußere Form und der sprachliche Inhalt aufeinander abgestimmt werden müssen. Zielvorgabe typographischer Gestaltung ist die Entsprechung von Textform und Textinhalt. Dem liegt die Denkfigur zugrunde, daß die Auswahl der typographischen Elemente und ihre syntagmatische Verknüpfung durch den (sprachlichen) Textinhalt motiviert sein müsse.29 Die typographischen Regelbildungen hierzu sind hochgradig aporiebeladen, denn sie unterstellen, daß von vornherein und eindeutig feststeht bzw. feststellbar sei, was der Inhalt eines Textes ist. Übersehen wird praktisch durchgängig, daß die Forderung nach der Entsprechung von Textform und Textinhalt einen doppelten Auswahlprozeß erfordert: denn der Textinhalt bedarf zunächst der Interpreta-
Von dieser Prämisse gehen sowohl jene aus, die betonen, der Typograph habe hinter dem Autor völlig zurückzutreten, Typographie habe dem Textinhalt zu >dienen< und solle vom Leser möglichst unbemerkt bleiben, als auch jene, die dem Typographien die Rolle des Interpreten zuweisen, dessen Aufgabe - vergleichbar der des Dirigenten - es sei, Wesen oder Idee des Textes typographisch zu verdeutlichen (vgl. Gassner 1994, 97).
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tion in Hinblick auf die inhaltlich-semantischen Merkmale, auf die hin schließlich die geeigneten typographischen Formen ausgewählt werden sollen. Zudem läßt die allgemeine Forderung nach der Entsprechung von Form und Inhalt offen, welche Ebene des sprachlichen Textinhalts (Wort, Satz, Kapitel, Gattung) und welches Niveau typographischer Vertextung (Schriftart, Zeilenfall, Flächensyntax, Satzspiegel, Dispositiv, Papierqualität, Druckfarbe) zu koordinieren sind.30 Je nachdem, welche Textebene und welche typographische Formeinheit als Referenzgröße gewählt werden, erhält man ganz unterschiedliche Ausdrucks- und Inhaltseinheiten, die es in Übereinstimmung zu bringen gilt, weshalb die Ausarbeitung von Form-Inhalt-Bezugnahmen zu ganz unterschiedlichen typographischen Lösungen führen kann. Zentrales Leitprinzip typographischer Schriftentwürfe ist das Lesbarkeitspostulat. Der Lettern-Typus als kollektives Vorstellungsmodell und allgemeine Formationsregel dient bei der Gestaltung von Druckschriften als Regulativ. Zentrales Leitprinzip typographischer Textgestaltung ist das Diktum der Form-Inhalt-Entsprechung. Für die Auswahl und Anordnung von Schrift bei der Textgestaltung aber gibt es keine dem Typus vergleichbare Regelungsinstanz, die zu bestimmen erlaubt, welche typographische Formgebung einem singulären Textinhalt als >entsprechend< erachtet werden kann. Aus diesem Grund ist das Verhältnis von typographischer Form und sprachlichem Inhalt in der Geschichte der Typographie immer wieder Gegenstand kontroverser Diskussionen. Auch wenn vereinzelt Versuche unternommen werden, eine »Grammatik der Typographie« zu formulieren (z. B. Halbey 1982), ist die Ausarbeitung eines strukturell geschlossenen Regelsystems, anhand dessen sich die >korrekte< typographische Gestaltung von Textinhalten herleiten ließe, nicht möglich. Derartige Versuche scheitern an der Mehrdimensionalität und Vielfalt typographischer Ausdrucksbildung. Die Typographiegeschichte kennt unterschiedliche Schwerpunktbildungen beim Einsatz der beiden grundlegenden Aspekte typographischer Formbildung, Schriftgestaltung und Schriftkomposition, für die Abstimmung von Textform und Textinhalt: So versucht beispielsweise das ornamentale Schriftschaffen der sezessionistischen Kunstgewerbebewegungen, die Möglichkeiten der Form-Inhalt-Bezugnahmen auf der Ebene der Schriftformen auszubauen, indem sie deren konnotative Ausdrucksmöglichkeiten vergrößern. Dagegen konzentriert sich der typographische Funktionalismus im wesentlichen auf die Ausarbeitung der flächensyntaktischen Ausdrucksmittel. Form-Inhalt-Bezugnahmen werden im typographischen Funktionalismus bevorzugt durch die optisch-logische, typographisch-syntagmatische Relationierung von sprachlichen Inhaltselementen zu erreichen gesucht (s. dazu auch Kap. 7.6.3.l und 7.6.3.3).
»Ziel der Schriftwahl ist es, ein zweckmäßiges, harmonisches und lebendiges Verhältnis zwischen Text und Schrift, Form und Inhalt herzustellen. Es sei aber ausdrücklich gesagt, daß dieses Ziel nicht ausschließlich mit der Auswahl der Schrift zu erreichen ist. Vielmehr wirken hierbei auch andere Gestaltungselemente, wie Größe und Proportionen des Formats, Randverhältnisse, Zeilenzwischenräume, Untergrund- und Auszeichnungsfarben mit« (Korger 1991,172). 147
Daß bei der Erörterung des Problemfeldes Form-Inhalt in typographischen Lehrwerken vielfach die Frage nach der Schriftwahl im Vordergrund steht, läßt sich entwicklungsgeschichtlich erklären. Einerseits hat sich typographische Reflexionstheorie an Gestaltungsfragen der Buchtypographie und des Satzes von >glattem< Fließtext entwickelt, der anfänglich wenig Variationsmöglichkeiten der flächensyntaktischen Komposition kannte. Einen ersten Höhepunkt der Problematisierung der Schriftwahl unter Gesichtspunkten der Form-Inhalt-Abstimmung stellt der Fraktur/Antiqua-Streit um 1800 dar (s. Kap. 6.2.2). Um 1900 führt der technologische und soziokulturelle Wandlungsschub im Druckwesen zur Entwicklung zahlreicher neuer Schriftschnittvarianten. Diese >Schriftenexplosion< rückt die Frage der textinhaltsadäquaten Auswahl von Schriftformen neuerlich ins Zentrum typographischer Theoriebildung. Zuvor war - sieht man einmal von der Fraktur/AntiquaFrage ab - die Problematik der Anpassung von Textinhalt und Schriftform nur wenig akut, da die Unterschiede zwischen verschiedenen Schriftarten und -schnitten erst gering ausgeprägt waren. Doch um 1900 kommt es nicht nur zur Vervielfältigung des Schriftenbestandes, sondern auch zur Ausdifferenzierung neuer Textsorten (Zeitungen, illustrierte Sachbücher und Magazine, Printanzeigen, Außenwerbung u. ä.). Dies führt zur verstärkten Reflexion auf die typographischen Zeichenmittel und ihre (konnotative) Semantik; dabei wird das Verhältnis typographischer Zeichenmittel und sprachlicher Textinhalte zunehmend problematisch (s. Kap. 7.5.4 und 7.5.5). Im folgenden werde ich an ausgewählten Textbeispielen grundlegende Möglichkeiten der Semantisierung von Schriftformen unter zeichentheoretischen Gesichtspunkten darstellen. Dabei sollen wesentliche Mechanismen der komplexen Semantisierungsprozesse an Schriftformen aufgezeigt und der Blick geschärft werden für den grundlegenden Unterschied zwischen Bedeutungszuschreibungen, die auf codierten Reizen basieren, wahrnehmungspsychologisch bedingt und kulturell hochgradig habitualisiert sind, und solchen, die sich vornehmlich auf Funktions-Zeichenbildungen gründen und sich kulturellem Wissen verdanken, das in der Alltagskommunikation häufig auch vorbewußt aktiviert wird. Es ist dabei nicht möglich, >objektive< Bedeutungen oder ein Set von >Wahrheitskriterien< für die Semantisierung von typographischen Gestaltmerkmalen aufzustellen, wie dies Schultz suggeriert: Die charakterisierenden Adjektive, die häufig für ganze Druckschriften gefunden werden, können nur mit äußerster Vorsicht akzeptiert werden [...] Darum halte ich allein die nüchterne Beschreibung [...] für allgemein zutreffend [...]. Alles andere gehört in den Bereich der Konnotation (Schultz 1982,61; 63).
Die Annahme Schultz, es könne bei der Analyse von Typographie nüchterne, objektive Beschreibung von wertender, konnotativer Interpretation eindeutig unterschieden werden, läßt sich nicht aufrechterhalten. Die analytische Beschreibung typographischer Schriftzeichen ist vielmehr immer bereits eine spezifische Form ihrer konnotativen Semantisierung.
148
5.3.2
Verfahren der Semantisierung von Schrift und Satzbild
5.3.2.1
Schriftausdruck. Zur konnotativen Semantik von Druckschriften
5.3.2.1.1 Semantisierung auf der Basis kollektiver Wertungen Jede Schriftform »vermittelt Assoziationen, die auch vom Laien unbewußt empfunden werden« (Korger 1991,173). Diese Zeichenwirkung von Schriftformen basiert vornehmlich auf der konnotativen Codierung typographischer Gestaltmerkmale als codierte Reize. Die unbewußten Eindruckswirkungen (unmittelbare Interpretantenbildungen), die durch die Schriftgestalt vermittelt werden, lassen sich in der Regel sekundär verbalisieren, wobei die begrifflichen Bedeutungszuschreibungen bei Mitgliedern einer Kultur deutliche Übereinstimmungen aufweisen (s. Becker 1971; Kornatzki 1969). Derartige konnotative Bedeutungen von Schriftformen bestehen unabhängig von der jeweiligen sprachlichen Textgrundlage und bilden eine wichtige Entscheidungsgrundlage für die Schriftwahl bei der Drucklegung von Texten, denn Typographien arbeiten bei der Textgestaltung gezielt mit diesen affektiv-emotionalen Ausdruckswirkungen von Schriftformen. 31 Dementsprechend zahlreich finden sich in der berufsständischen Literatur Versuche, diese zu verbalisieren und zu systematisieren.32 Die Existenz konnotativer Ausdruckswirkungen von Schriftformen bleibt im alltäglichen Umgang mit vertrauten Textformen zumeist unbemerkt und wird dem typographischen Laien in aller Regel nur in Vergleichs- und Wahlsituationen bewußt. (Druck-) Schriftsprachliche Äußerungen haben nie nur denotative Zeichenfunktion als Zeichenträger sprachlicher Aussagen, sondern sind mindestens immer auch als codierte Reize, d. h. als Ausdruckszeichen bestimmter Empfindungen oder Vorstellungen wirksam. Die Analyse typographischer Zeichenprozesse hat deshalb auch die untere Grenze von Semiotik auszuloten,
»Schrift sollte, wo dies angebracht und möglich ist, hinsichtlich ihres Ausdrucks dem Inhalt, dem Geist des Textes entsprechen, denn das optisch-emotionelle E i n w i r k e n [Herv. S.W.] auf den Leser ist ein Bestandteil ihrer kommunikativen Funktion« (Korger 1991,173). Ein Beispiel eines solchen Systematisierungsversuches: »Das Psychogramm einer Schriftform kann anhand folgender Gegenüberstellung ermittelt werden: warm, mild kühl, frisch weiblich, weich männlich, herb konservativ, zurückhaltend modern, auffällig billig, alltäglich teuer, kostbar passiv, entspannt aktiv, dynamisch« (Siemoneit/Zeitvogl 1986, 34) Auffällig ist die antithetische Struktur dieses semantischen Schemas. Die Beschreibungssprache typographischer Formen folgt häufig einem im Kern binären Schema. Da in diesem Kapitel die Bedeutungserzeugung und -Vermittlung im Zentrum stehen, gehe ich an dieser Stelle nicht weiter auf diese Beobachtungen ein. Auf die Struktur der konnotativen Semantik gehe ich im historischen Teil der Studie näher ein (s. insb. Kap. 6.2.3.3). 149
den Bereich jener basalen Sinnesqualitäten [...] und jener präsentischen Empfindungen [...], die im klassischen, vorsemiotischen Diskurs als >subjektnah< und vorprädikativ >unmittelbar< eingestuft wurden (Nagl 1992, 98).
Im Fall von Typographie sind immer auch sehr basale Zeichen-Wirkungen im Spiel, im Gegensatz zu deutlich stärker diskursiv ausgearbeiteten Zeichen-Bedeutungen (s. Kap. 3.1.2). Bei der Beschreibung unmittelbarer Interpretantenbildungen auf der Basis codierter Reize typographischer Gestaltmerkmale »ringt die Zeichentheorie gleichsam mit der subjektrelativen Grenze [...] des Zeichens« (Nagl 1992, 98). Zwar entzieht sich diese der umfassenden Analyse, weil »Erlebnisgegenwart« nicht direkt aufgeschlüsselt werden kann (Nagl 1992, 98), doch sind diese unbewußten Eindruckswirkungen durch Zeichenprozesse vermittelt, kulturell geformt und damit der Beschreibung zugänglich: Alle intellektuelle und sinnliche Erfahrung - gleich welcher vorsprachlichen oder vorbewußten Stufe - kann so verallgemeinert werden, daß sie in einer universalen Darstellung interpretierbar wird (Pape 1986, 12).
Auch non-verbale Vorstellungsinhalte lassen sich mit sprachlichen Einheiten näherungsweise umschreiben und verweisen damit auf ihren kulturalisierten Status (vgl. Eco 1987, 231; 329f.). Keine Zeichenwirkung kann aus dem Nichts eintreten; sie setzt eine Schicht gemeinsamer Wissensannahmen, eine »Basis gemeinsamer Erfahrungen« (Pape 1983, 26f.) voraus. Diese sind Bedingung der Zeichenwirkung konnotativer Ausdruckszeichen und ihres strategischen Einsatzes. Der scheinbar hochindividualisierte Gefühlseindruck bei der Betrachtung visueller Formmerkmale ist viel weniger von subjektiver Befindlichkeit abhängig als vielfach angenommen. Entsprechend bestehen nicht nur relativ präzise Vorstellungen zur Bedeutung von Schriftgestaltunterschieden; diese Interpretantenbildungen folgen auch kultur- und zeittypischen Vorstellungsschemata (vgl. Thürlemann 1986, 122; Eco 1972, 94).33 Ein derartiges Vorstellungsmuster, das der Beschreibung von Schriftformen immer wieder zugrundegelegt wird, ist das von Statik/Ruhe bzw. Dynamik/Bewegung: [...] zeigt die Garamont-Kursive etwas stark bewegte, ja geradezu aufgeregte Züge. Richtungs-, Duktus- und Formwechsel sind auffällig und eigenwillig (Nerdinger 1954, 210), (Abb. 30).
Garamont-Kursive
39/40
Im inneren Gegensatz %u der ihr namensgleichen Antiqua steigt die Garamont-Kursive etwas stark bewegte; ja geradezu aufAbb. 30 Garamont-K.urs.ive
»Legt man den Rohrschachttest Tausenden von Subjekten vor, so gelangt man zu einer sehr strengen Typologie von Antworten: je tiefer man in die individuelle Reaktion hinab150
Quadris I, Wnzial-Versalien
46
OI€S€,IN IHR€R KONTUR6NSTÄRK6 SCHWACH UN TeRSCHI€D€N€NV€RSALJ€NDRUCK€N€RN5TUND Abb. 31 Quadris-UmizAe Diese, in ihrer Konturenstärke schwach unterschiedenen Versalien [der Quadris UnzialeJ drücken Ernst und Ruhe aus. [...] Die Gestaltung suchte eine beruhigende, indifferente und vereinfachende Binnenraumlösung (Nerdinger 1954, 210), (Abb.31).
Schriftformen werden ganz selbstverständlich Eigenschaften wie Bewegtheit und Ruhe oder Aufgeregtheit und Ernst zugeschrieben. Dies zeigt, daß für die Benennung dessen, was der Ausdruckscharakter einer Schrift genannt wird, keine eigene Beschreibungssprache zur Verfügung steht. Darin erweisen sich Typographie und abstrakte Malerei als vergleichbar. Was Thürlemann für die Semantisierung abstrakter Malerei als charakteristisch herausgearbeitet hat, läßt sich auch an Typographie beobachten: Es dominieren auf einer ersten Stufe der Bedeutungskonstitution Semantisierungen, die Thürlemann - mit einer eher unglücklichen Begriffsschöpfung - als »physiognomischen Bedeutungsmodus« bezeichnet (Thürlemann 1986, 114f.). Dieser fundamentale Modus der Bedeutungskonstitution ist charakterisiert durch die Anwendung synästhetisch-sinnlicher und/oder charakterologischwertender semantischer Beschreibungsmuster auf visuelle Formen (vgl. Thürlemann 1986, 119). Dies findet sich in den oben zitierten Schriftbeschreibungen bestätigt: Der Autor stellt an den Schriftformen zunächst synästhetisch-sinnliche Eigenschaften fest (»stark bewegt«, »Ruhe«) und leitet daraus charakterologische Bewertungen der Schriftmerkmale ab (»aufgeregt«, »Ernst«). Das Beispiel zeigt: die Gestaltmerkmale von Schriftformen haben Zeichenwirkung als codierte Reizmuster. Ihre Semantisierung läßt sich als gestufter Prozeß beschreiben: Zunächst wird aus einer Menge fundamentaler semantischer Beschreibungskategorien eine begriffliche Basis selektiert (Bewegung/Dynamik und nicht z. B. Härte/Weichheit oder Harmonie/Disharmonie); ausgehend von dem jeweils gewählten semantischen Feld lassen sich weitere Attribute zuschreiben (Aufgeregtheit, Ernst). Auf dieser Stufe der deskriptiven Zuweisung von Inhaltseinheiten hat der Betrachter weitreichende Möglichkeiten der interpretativen Modalisierung der basalen konnotativen Ausdrucks- bzw. Eindruckswirkung (vgl. Thürlemann 1986, 122). Ob der erste unmittelbare Eindruck Dynamik beispielsweise durch eine (eher negative) Merkmalszuschreibung wie Aufgeregtheit oder aber eine (eher positive) Vorstellungseinheit wie Jugend, Fröhlichkeit oder Frische weiter ausgedeutet wird, liegt im subjektiven Ermessen des Interpreten. Auffällig ist in diesem Zusammenhang die Tendenz zur
zusteigen glaubt, um so mehr stößt man auf gewissermaßen einfache und kodierte Bedeutungen« (Barthes 1985, 196). 151
konnotativen Reihen-Bildung, d. h. die Tendenz ausgehend von einer ersten Eindruckswirkung, konnotative Begriffs-Ketten aufzubauen; die Semantisierung von Schriftformen folgt dem Prinzip fortgesetzter Semiose. Bedeutungsbildung erweist sich als Übersetzung eines Zeichens in ein anderes Zeichen, das seinerseits wiederum in ein weiteres Zeichen übersetzt werden kann. Anschauliches Beispiel derartig gestufter konnotativer Begriffsableitungen, die zu sehr weitreichenden Semantisierungen von Schriftformen - unabhängig von ihrer Verwendung in einem konkreten Textzusammenhang - führen können, bieten Aichers Erläuterungen zu den »präzisen Vorstellungen«, die der Gestaltung der Schrift Rotis zugrunde lagen. Auch er geht dabei von dem fundamentalen synästhetischen Binär-Schema Dynamik vs. Statik aus und gelangt schließlich zu einer >Charakterologie< von Schriftformen: einmal sollte die schrift fließend, nicht stehend sein, dann sollte sie nicht zu ausladend, zu breit sein, eher von maßvollem gang, sie sollte kein Stilmittel enthalten, keine aufgesetzten ästhetischen grundformen. ihre spräche sollte eher der kultur eines mozart oder bach folgen als dem pathos eines richard wagner. die buchstaben selbst sollten brüderliche individuen sein, nicht uniformierte, zurechtgeschneiderte Soldaten, dabei ist es möglich, daß einzelne buchstaben, etwa das kleine e, einen ausgeprägten Charakter erhalten, und doch wurde das o so gezeichnet, daß es kein unabhängiger, für sich stehender kreis ist, sondern in der senkrechten eine betonung erhält, damit es sich kollegial zu einem buchstaben mit geraden strichen, etwa dem kleinen n, verhält, kein buchstabe sollte sich zu wichtig nehmen, keiner sollte sich zieren und schmücken, man kann sich eine offene gesellschaft freier menschen vorstellen, wo keiner darauf aus ist, den anderen zu beherrschen, und wo keiner es mehr nötig hat, sich herauszuputzen, von solcher mentalität sollte die rotis-schrift sein (Aicherl989,201).
Der Aufbau derartiger Konnotationsketten erfolgt nicht beliebig. Sie folgen vielmehr den >Bahnungen< kollektiver Wertungen. Der Term »kollektive Wertung« geht auf Hjelmslev zurück. Er bezeichnet damit Niveaus der Bedeutungskonstitution, die z.B. einen Laut als hell oder dunkel erscheinen lassen. Die Beschreibungssprache kollektiver Wertungen setzt sich nach Hjelmslev vornehmlich aus Begriffen der Alltagssprache (häufig synästhetischen Charakters) zusammen, die meist hochgradig (gegenstands-) unspezifisch und abstrakt sind, deshalb aber geeignet, sehr allgemeine, fundamentale Vorstellungen mitzuteilen, die einer Gesellschaft eigen sind (nach Thürlemann 1990, 36). Kollektive Wertungen bilden eine wesentliche Grundlage der Semantisierung von Schriftzeichen und sind oftmals die Grundlage für die Beurteilung, welche Schriftformen zu welchen Textinhalten >passenechten< Zeichenprozessen, insofern [...] eine bestimmte Wirkung eindeutig auf eine kulturalisierte Assoziation zurückzuführen ist und ein bestimmtes Signal Gefühle nicht aufgrund einer >natürlichen< und >universellen< Struktur des menschlichen Geistes hervorruft, sondern wegen einer konventionellen und codierten Verknüpfung zwischen Signal und Gefühl (Eco 1987, 271).
Die konnotativen Eindruckswirkungen von Schriftformen verweisen auf die Rolle elementarer wahrnehmungspsychologischer Gesetzmäßigkeiten bei der Deutung des Wahrgenommenen. Die auffällig häufige Beschreibung typographischer Formen mit Begriffen aus den semantischen Feldern Ruhe bzw. Bewegung ist Indiz hierfür. Typographische Formen - seien es Gestaltmerkmale einzelner Schriftschnitte oder auch komplexere flächensyntaktische Schriftanordnungen - werden ganz selbstverständlich als gerichtet bzw. bewegt wahrgenommen: Ganz allgemein kann gesagt werden, daß sich in den Figuren der Renaissance-Antiqua und der Syntax-Antiqua [...] Bewegungsvorgänge entfalten, die als solche wahrnehmbar sind (Schulz-Anker 1969,11). 153
Abb. 32 Gegenüberstellung von Renaissance-Antiqua und Klassizistischer Antiqua
Die beiden Schriftfamilien Renaissance-Antiqua und Klassizistische Antiqua, von denen zwei Lettern einander in Abb. 32 gegenübergestellt sind, verkörpern für Schulz-Anker die äußersten Pole der >Bewegtheitsmöglichkeit< in der Entwicklung von Antiqua-Schriften: Ihrem Charakter und Ausdruck nach kann die eine als dynamisch, die andere als statisch definiert werden (Schulz-Anker 1969, 5).
Wesentliches Begründungskriterium für den Bewegungseindruck ist die »spürbare Tendenz nach rechts (also in Leserichtung)« der Rundungen und Übergänge von Grund- und Abstrichen (Schulz-Anker 1969, 9). Es kann als typisch für unsere (Lese-) Kultur gelten, daß wir insbesondere solche Formen als Ablauf einer Bewegung wahrzunehmen bereit sind, die eine Neigung nach rechts - in Leserichtung also - aufweisen.34 Die Lettern der FF Balance in Abb. 33 scheinen schwankend und unsicher zu >stehenbasisbetonter< Antiqua und >kopfbetonter< FF Balance. Evert Bloesma, 1994
Tatsächlich gibt es nur wenige Antiqua-Schnitte, die dieser Regel nicht entsprechen. Der holländische Schriftgestalter Bloesma negiert mit seinem Entwurf der FF Balance, einer >kopfbetonten< Antiqua, ausdrücklich diese Regel typographischen Schriftentwurfs: Buchstabenformen unterliegen natürlich nicht der Schwerkraft; demzufolge gibt es keinen funktionalen Grund für diese Proportionen (Bloesma 1994, 59).
Nichtsdestotrotz benutzt auch Bloesma zur Beschreibung von Schriftformen ein Vokabular, das sich aus der Schwerkrafterfahrung herleitet: so spricht er von den »Gewichtsverhältnissen« zwischen breiter Basis und schmaler Spitze oder der »Schwere alter Formen« (Bloesma 1994, 59). Dies belegt den Einfluß basaler Mechanismen der Umwelterfahrung bei der Eindruckswirkung und diskursiven Deutung von Schriftformen; mit einem Bonmot Maturanas formuliert: »Man sieht mit den Beinen« (zit. aus Förster 1992, 76). 5.3.2.1.2 Semantisierung auf der Basis kulturellen Wissens Ein anders gelagerter Semantisierungsmechanismus von Schrift liegt folgender Beschreibung der Unzial-Schrift aus Abb. 31 zugrunde: Ein Alphabet mit rhythmischem Ausdruck und kräftigen Formkontrasten, das d u r c h a u s u n s a k r a l , aber nicht unernst wirkt [Herv. S.W.] (Nerdinger 1954, 206).
Der Konnotationskette Rhythmus —> Kraft —> Nichtsakralität liegen offensichtlich nicht mehr Bedeutungszuschreibungen auf der Basis kollektiver Wertungen und elementarer kultureller Codierungen von Gestaltmerkmalen zugrunde. Diese sind, wie gerade skizziert, durch »Übergangswahrscheinlichkeiten« (ein Begriff aus der Assoziationstheorie, s. Früh 1980, 76) gekennzeichnet, d.h. durch typische >Bahnungen< für konnotative Reihenbildungen, zwischen deren Elementen eine erlernte Beziehung bereits besteht und die unwillkürlich und unabhängig von höheren Kontrollebenen und pragmatischem Wissen erfolgen können. Auch wenn jedes Zeichenmittel, »um seine Interpretanten zu finden, in verschiedenen semantischen Achsen >fischtproblemlos< Vorstellungen wie sakral, religiös, kirchlich verbinden, weil Unzial-Schriftschnitte in Vergangenheit und Gegenwart häufig für den Satz religiös-kirchlicher Texte benutzt wurden. Die Möglichkeit der Zeichenbildung durch Korrelation typographischer Formen mit Inhaltseinheiten, die sich aus dem Wissen um deren Entstehungszusammenhang oder gestalterischen Gebrauch herleiten, wurde schon früh zielgerichtet genutzt: 1692 beauftragte Ludwig XIV die französische Akademie der Wissenschaften mit dem Neuschnitt der Romain du Roi, einer Antiqua, »die ausschließlich der Verwendung der Imprimerie Royale und dem Druck der mit königlichem Privileg herausgegebenen Werke vorbehalten war« (Barthel 1970, 54). Die Möglichkeiten der semantischen Aufladung von typographischen Formen durch Funktions-Zeichenbildung ist heute ein Kernelement von Reklamestrategien und Corporate Identity-Maßnahmen: Durch Musterschutz werden eigens für Firmen bzw. Marken oder einzelne Produkte entworfene Schriftzüge (Logos) rechtlich in ihrer Verwendung monopolisiert, um so eine eindeutige - quasi lexikalische - Korrelation zwischen Schriftform und Marke bzw. Produkt im kulturellen Wissen zu verankern. Codierungen dieser Art erweisen sich vielfach als so stark, daß sie auch völlig dekontextualisiert wirksam bleiben und sich für Rätselseiten33 ebenso wie für satirische Verfremdungen eignen (Abb. 34). Die konnotative Semantisierung von Schriftformen als Ausdruckszeichen (codierte Reize) und als Zeichen ihres Gebrauchs (Funktions-Zeichen) kann prinzipiell unabhängig voneinander erfolgen. Am Beispiel von Werbeschriften (Logos) wird deutlich, daß diese beiden Bedeutungsaspekte häufig wechselseitig aufeinander bezogen sind und in der Regel zusammenwirken. Logos entfalten immer auch emotional-affektive Zeichenwirkungen. Die Gestaltung von Logo-Schriftzügen zielt deshalb darauf ab, Schriftformen zu schaffen, deren konnotative Codierung als codierte Reize geeignet erscheint, die Produkt->Botschaft< oder den Marken->Charakter< zu kommunizieren. In typographischer Fachliteratur ist es sehr häufig gerade das Wissen um historische Herkunft und Entwurfstechnik von Schriftformen, das die Zuschreibung von semantischen Inhaltseinheiten als konnotative Ausdrucksqualitäten steuert. Nur
35
Z.B. die Rätselserie »Der berühmte Typ« des Magazins der Süddeutschen Zeitung: abgebildet wurde jeweils ein einzelner Buchstabe aus einem bekannten Marken- oder FirmenSchriftzug, den es zu erraten galt.
156
( H E I N E R )
Abb. 34 typographische SatireWalbaum< ist eine Schrift der Idealisierung. Sie will erwecken, die Kräfte des Hohen und Erhabenen in uns selbst mobil machen (Barthel 1970,14).
Augenfällig wird, daß die Semantisierung von Druckschriften nicht unbedingt von deren Formmerkmalen ausgeht, sondern in anderen Zusammenhängen ausgebildete kulturelle Inhaltskomplexe - hier kunstgeschichtliche oder allgemeine historische Epochenmerkmale - als Wahrnehmungs- bzw. Deutungsraster auf typographische Formen projiziert werden. Auffällig häufig wird beispielsweise auf die Ähnlichkeit der historischen Formensprache von Typographie und Architektur verwiesen. Die Analogisierung dient vielfach als Beweis, daß »Schrift [...] das Gesicht der Zeit, der sich in Buchstabenform auskristallisierende Geist einer Epoche, d. h. oft der Niederschlag einer ganzen, an eine Zeit gebundenen Welt- und Kunstanschauung« sei (Engel-Hardt 1955, 1): Wer eine gotische Textura betrachtet, erinnert sich unwillkürlich an die Architektur gotischer Dome, an die Betonung der Vertikalen, an das Dunkel-Mystische des Säulenwaldes mehrgliedriger Kirchenschiffe und an das christlich Dogmatische mittelalterlicher Gläubigkeit (Kapr/Schiller 1983, 25).
Auch die paarweise Zuordnung von Architektur- und Schriftbeispielen in Abb. 35 behauptet deren formale Ähnlichkeit. 36 Dieses Beispiel zeigt, daß die behauptete Entsprechung der Formprinzipien und Gestaltmerkmale nun gerade keine ist, die den Gegenständen selbst entspringt, sondern ikonischen Codes, die einige wenige Merkmale selektieren, aufgrund derer Architektur- und Schriftform als gleich oder ähnlich betrachtet werden können; andere Merkmale aber, die deren Unvergleichlichkeit begründen könnten, als irrelevant vernachlässigen (vgl. Eco 1987, 261). Es
Und in den Bildlegenden heißt es ausdrücklich: »Die strenge konstruktive Form des Klassizismus kommt gleichermaßen in Architektur und Schrift zum Ausdruck«; sowie »Betonung des Konstruktiven in Architektur, Produktgestaltung und Schrift kennzeichnet den Beginn einer neuen Epoche« (Baumann 1978, 72f.) 158
LJ
ABCDE FGHIJK LMNOP QRSTU VWXYZ
ABCDEFGHI abcdefghijklm JKLMNOPQR nop qrstuvwxyz STUVWXYZ se&ceofiflß Abb. 35 Analogisicrung von Typographie und Architektur
gilt: »Ähnlichkeit wird erzeugt und muß gelernt werden« (Eco 1987,265). Im vorliegenden Beispiel wird allein schon durch die Tatsache, daß der Gegenüberstellung keine Architekturphotos, sondern Zeichnungen zugrundegelegt werden, gezielt Ähnlichkeit erzeugt. Es gibt aber keine ausreichend stark konventionalisierten visuell-graphischen Codes, die das wechselseitige Analogieverhältnis der Schriftformen und Architekturbeispiele allein visuell hinreichend und unzweideutig plausibilisieren. Die Gegenprobe zeigt, daß jemand, der keine Kenntnis von der historischen Entstehungszeit der gezeigten Schrift- und Architekturentwürfe hat, eine Paarung, in der die Schriftbeispiele und Architekturskizzen vertauscht sind, kaum weniger einleuchtend finden wird. Es bleibt unklar, was die jeweiligen Paare f o r mal gemein haben; es sei denn, man betrachtet eine sehr elementare Ebene visueller Merkmalseigenschaften wie lang/breit, rund/eckig, fett/fein, auf der sich praktisch alles als ähnlich aufeinander beziehen läßt. Man findet diese Gegenüberstellung 159
AMERIKA
Abb. 36 Anzeige-Zigaretten, 1950 (Ausschnitt)
nicht deshalb überzeugend, weil die Abbildungen einander formal ähnlich wären, sondern weil man Schrift und Architektur auf der Basis stilgeschichtlich-klassifikatorischen Wissens - unabhängig voneinander -jeweils derselben Epoche zuordnen kann: der Klassik einerseits und der Moderne andererseits. In den vorangegangenen Beispielen waren konnotative Bedeutungsbildungen an Schriftmerkmalen angesprochen, die auf typographischem Expertenwissen basierten und von Laien häufig nicht (nach-) vollzogen werden können, da sie nicht über das entsprechende Wissen verfügen. Im folgenden sollen Bedeutungsbildungen an einer Schriftform betrachtet werden, deren Semantisierung als Funktions-Zeichen von kulturellem Allgemeinwissen getragen wird. Den Textbeispielen in Abb. 36 und Abb. 37 ist die Verwendung einer serifenbetonten Linearantiqua (Egyptienne) als Titelschrift gemeinsam. Während die Schriftwahl im Beispiel der Zigarettenreklame (Abb. 36) keinen Anlaß zu Irritation gibt, ist ein Leser unserer Tage geneigt, den Buchumschlag Kirche und Welt (Abb. 37) als mißlungenen Entwurf zu beurteilen. Die Wahl der serifenbetonten Antiqua als Titelschrift scheint ein Fehlgriff zu sein. Warum? Mit Schriftformen aus der Egyptienne-Famüie assoziieren wir heutzutage unwillkürlich den Wilden Westen der Pionierzeit der USA. Tatsächlich wurden serifenbetonte Schriftarten Mitte des 19. Jahrhunderts in den USA in zahlreichen Varianten von einer expandierenden Werbetypographie als Plakatschrift populär gemacht (s. Kelly 1977). EgyptienneSchriften sind heute dominant als Funktions-Zeichen dieser Herkunft und Verwendung konnotiert. Das Wissen um diesen Zeichenwert bestimmt heute ihren Einsatz und vertieft so diese Codierung: Beispielsweise verwendet die Zigarettenmarke Marlboro, die ihr Produktimage bislang auf der Bildwelt des Wilden Westens aufgebaut hat, eine serifenbetonte Linearantiqua als Plakatschrift. Ein Betrachter unserer Tage sieht im Buchumschlag Kirche und Welt seine (zumeist unbewußte) Erwartung an die Entsprechung von typographischer Ausdrucksform und sprachlichem Inhalt deshalb enttäuscht. Schriftform und Textinhalt sind scheinbar inkom160
Wahrhaftes
Abb. 37 Buchumschlag - Hanns Lilje. Kirche und Welt. München: List, 1956. Gestaltung Hannes Hahn
patibel. Der Versuch, zwischen Form und Inhalt semantische Kohärenz herzustellen, versagt. Die Schriftform weckt durch ihre konnotative Codierung Erwartungen an den Textinhalt, die vom Buchtitel nicht erfüllt werden: Die Typographie wirkt befremdlich bzw. mißlungen, weil eine Grundregel typographischer Vertextung - die Abstimmung der typographischen Formgebung auf den Textinhalt - mißachtet scheint. Die Irritation ist Indiz dafür, daß es typographische Kompetenz, typographisches Regelwissen gibt, das - wenn auch zumeist unbewußt - spätestens dann kognitiv wirksam wird, wenn Abweichungen von der impliziten Norm auftreten; diese werden erkannt und zu deuten versucht. Es läßt sich begründet behaupten, daß die aufgeführte Beispieltypographie in den 50er Jahren in Hinblick auf das zentrale Gestaltungsziel aller Gebrauchstypographie, nämlich typographische und sprachliche Aussage in Übereinstimmung zu bringen, von Zeitgenossen wahrscheinlich keineswegs als mißlungen beurteilt wurde. Diese Vertextung ist beispielhaft für den historischen Wandel, dem die kulturell vorwiegend aktualisierten konnotativen Bedeutungen einer Schriftart unterliegen können. Vergleicht man die Verwendung serifenbetonter Antiqua-Varianten in gebrauchstypographischen Arbeiten der 50er Jahre (einen guten Überblick gibt die Monatszeitschrift Gebrauchsgraphik) zeigt sich, daß - im Gegensatz zu angloamerikanischen Entwürfen aus der gleichen Zeit - die Gestaltqualitäten von Egyptienne-Schnilen als codierte Reize, nicht aber als (Funktions-) Zeichen ihrer Her161
Abb. 38 Plakat - Bundesausstellung Deutscher Frauenring, 1950. Gestaltung Liselotte Röttgers kunft bei der Schriftwahl ausschlaggebend waren. In typographischen Vertextungen der 50er Jahre werden vornehmlich die Qualizeichen-Aspekte der Letterngestalt für Bedeutungsbildungen genutzt. 37 Serifenbetonte Linearantiqua-Schnitte gelten in der typographischen Lehrbuchliteratur wegen ihres hohen Aufmerksamkeitswertes und der guten Lesbar-
" Sofern die Schriftwahl - wie im Fall der Zigarettenreklame in Abb. 36 - durch das Wissen um ihre kulturgeschichtliche Herkunft motiviert ist, muß dieser Verweisungszusammenhang in den 5()er Jahren offensichtlich begriffssprachlich explizit gemacht werden (»Amerika«). Mögliche Erklärungen für den Bedeutungswandel bieten die Popularisierung des Western in Kino und Fernsehen der 60er und 70er Jahre und die historische Aufbereitung der Geschichte der USA in den Medien; denn es sind nicht zuletzt filmische Inszenierungen und historisches Photomaterial, die das Wissen um geschichtliche typographische >Bildwelten< vermitteln. 162
keit aus größeren Entfernungen ganz allgemein als sehr wirksame Titel- und Plakatschriften. Sie werden deshalb bevorzugt für werbliche Aufgaben eingesetzt (Plakate, Anzeigen oder Buchumschläge). Rücken die Gestalteigenschaften der Schrift z. B. durch auffällige Größe oder Anordnung ins Zentrum der Aufmerksamkeit - wie im Buchumschlag Kirche und Welt (Abb. 37) oder im Plakat des Deutschen Frauenrings (Abb. 38) -, so ergeben sich aus dem gestaltbildenden Zusammenspiel der gleichmäßig stark ausgearbeiteten Kopf- und Fuß-Serifen Eindruckswirkungen, die sich mit Begriffen wie schweifest, stabil >übersetzen< lassen. Diese Vorstellungen, die die Formmerkmale der Letterngestalten als codierte Reize vermitteln, erfahren bezogen auf den sprachlichen Textinhalt jeweils konnotative Spezifizierung. Fortgesetzte Deutungsprozesse dieser Art werden wesentlich vorangetrieben vom Bemühen, semantische Kohärenz zwischen den sprachlichen und formalen Elementen eines Textes herzustellen. Im Kontext des semantischen Raumes, den der Buchtitel Kirche und Welt eröffnet, lassen sich die Gestaltqualitäten der Titelschrift beispielsweise mit begrifflichen Vorstellungen aus den semantischen Feldern Erratik, Unbeweglichkeit, Mächtigkeit/M acht korrelieren. Diese stark werthaft besetzten konnotativen Inhaltseinheiten, die der Schriftform assoziierbar sind, beeinflussen nun ihrerseits wiederum die Lesart der sprachlichen Inhaltsebene des Titels: Die Titelgestaltung läßt weniger eine Abhandlung über seelsorgerische Probleme der Kirche angesichts einer veränderten Welt erwarten, als vielmehr ein Buch, das kritische Fragen stellt über das Verhältnis von Kirche und weltlicher Macht.38 Der gleiche semiotische Mechanismus führt im Plakat des Deutschen Frauenrings zu deutlich anderer konnotativer Reihenbildung. Innerhalb des semantischen >Universums< unserer Kultur sind dem Begriff Frau Vorstellungseinheiten korreliert wie weich, zart, zerbrechlich, rund etc. - Inhaltseinheiten, die der Schreibschrift in diesem Plakatentwurf ohne weiteres assoziierbar sind, nicht aber der Egyptienne. Sie evoziert vielmehr Vorstellungseinheiten wie Stärke, Forderung, Druck, Standfestigkeit, Durchsetzungsfähigkeit. Damit bezeichnet die Schriftform im gegebenen inhaltlichen Kontext ein emanzipatorisches Programm. Die Semantisierung von typographischen Formen in konkreten Vertextungszusammenhängen ist ein komplementärer Prozeß: einerseits werden durch den sprachlichen Kontext die Semantisierungsmöglichkeiten typographischer Formen eingeschränkt bzw. >gerichtetlenkt< die Deutung des Textinhalts in eine bestimmte Richtung, und umgekehrt: Typographie und Sprache bilden ein gemeinsames Konnotationssystem, innerhalb dessen das jeweils andere Zeichensystem als Interpretant fungiert. Dabei steht nicht fest, welche Merkmale einer Schriftgestalt in einem konkreten Textzusammenhang relevant gemacht werden und welche se-
Im vorliegenden Beispiel wird dies durch weitere typographische Mittel wie Satzspiegel, Lage des Schriftfeldes, Zeilcngliederung und Farbgebung unterstützt. 163
Abb. 39 Plakat - Pflanzenführungen, Volkshochschule Ulm, 1950. Gestaltung Otl Aicher
mantischen Effekte daraus resultieren, da einem typographischen Formenkomplex jeweils unterschiedliche Inhaltseinheiten zugeordnet werden können. Wie flexibel und vielfältig die Bezugnahmen zwischen Schriftform, Textinhalt und kulturellem Wissen sein können, sei an zwei weiteren Beispieltypographien skizziert, die mit serifenbetonten Antiqua-Schriftformen gestaltet sind. Der Plakatentwurf von Otl Aicher (Abb. 39) erweist sich als mehrschichtiger und hochreflexiver Umgang mit den Gestaltmerkmalen und der Zeichenhaftigkeit der gewählten Schriftform. Der Einsatz der serifenbetonten Linearantiqua auf diesem Plakat, das für Pflanzenführungen der Volkshochschule Ulm wirbt, ist weithin lesbar und so zunächst einmal werblich funktional. Die Linienführung im Hintergrund ist so abstrakt gehalten, daß sie bezogen auf den Plakattext (»Pflanzenführungen«) dreifach semantisierbar ist. Zunächst ist sie abstraktes Ornament, das als ungegenständliches, primär ästhetisches Ausdrucksmittel visuell wirksam ist. Zugleich aber läßt sie sich zu zwei ikonischen Codes in Bezug setzen: sie erhält so Bedeutung als abstraktes Bild pflanzlich-organischer Formen und als stilisierte Skizze des Weges, den die Führung zurücklegt. Zugleich >zitiert< die Linienführung Formmerkmale zeittypischer Schreibschriftformen. Auf einer Metaebene ist die Kombination von filigraner, handschriftlich-geschwungener Linie und tektonisch-konstruierter Titelschrift deshalb als reflexiver Umgang mit zeitgenössischen typographischen Stan164
dards zu deuten. Die Kontrastmischung von tektonischen serifenbetonten AntiquaSchriftschnitten mit ornamental-filigranen Druckschriften im Schreibschriftenduktus ist eines der stilbildenden Merkmale der typographischen Formensprache werblicher Gebrauchstypographie der 50er Jahre. Damit bewegt sich Aicher innerhalb des zeittypischen typographischen Stilrahmens und transzendiert ihn zugleich. Die Letternformen in Abb. 40 sind das Ergebnis der gezielten Bearbeitung der Gestaltmerkmale serifenbetonter Linearantiqua: Das Charakteristikum von Egyptienne-Schnften - die Strichstärke der Serifen - ist radikal ausgearbeitet. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken so die Eigenschaften von Schriftzeichen als Flächenformen. Entwickeln die physikalisch-materiellen Qualizeichen-Aspekte von Schriftzeichen normalerweise keine semantische Funktion, so werden sie im vorliegenden Beispiel bedeutungsrelevant gemacht. Die Materialität der Schriftzeichen aus Druckfarbe gebildete Flächenform zu sein - wird semiotisch bedeutsam, denn sie kann auf den sprachlichen Textinhalt (»Mit Farbe gestalten«) bezogen werden: die Schriftzeichen sind im vorliegenden Beispiel nicht mehr bloß Träger der denotativen Bedeutung, sondern »die Bedeutung [...] erscheint nun invertiert als Eigenschaft des Zeichenmittels selbst« (Schönrich 1990, 383). 5.3.2.1.3 Zeichen-Physik. Semantisierung von Zeichenmaterialität und Werkzeugspuren Die typographische Zeichenstruktur erlaubt, »auch die materielle Konsistenz des Signifikanten zu einem Feld weiterer Segmentierung« zu machen; es werden »jene Merkmale, die gewöhnlich dem Kontinuum angehören und die eine semiotische Behandlung [sonst] nicht in Betracht ziehen muß (sondern einer physikalischen oder physiologischen Disziplin überläßt), hier semiotisch relevant« (Eco 1987, 354). Das Ausdruckssystem Typographie kann nicht nur durch die Quali-Zeichenaspekte der figurativen Buchstabengestalt Inhalte kommunizieren, sondern auch durch die Quali-Zeichenaspekte der physikalischen Materialität der Schriftzeichen. Während vielfach unbestritten ist, daß gestalthafte Formmerkmale von Schrift bzw. Typographie konnotative Bedeutung haben, werden die materiellen Eigenschaften von Zeichen im allgemeinen nicht mehr als kommunikativ betrachtet. Doch auch die konkrete Materialität typographischer Zeichenmittel kann Bedeutung erlangen. Jenny Holzer hat 1993 innerhalb der Reihe »Edition No. 46« des Magazin der Süddeutschen Zeitung bei der Gestaltung eines Text/Bild-Zyklus mit dem Titel »Lustmord« die Möglichkeiten, die Materialität der Schriftzeichen zur Bedeutungserzeugung einzusetzen, radikal genutzt. Thematisches Zentrum dieser Arbeit waren die Nachrichten um die Greueltaten an Frauen im jugoslawischen Bürgerkrieg. Hol-
Seit 1990 läßt die Süddeutsche Zeitung die No. 46 eines Jahrgangs ihrer wöchentlichen Magazin-Beilage jeweils durch einen anderen bildenden Künstler gestalten.
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mtrktn Sie i»r : Dienstag, den 3. Mai 1955, um 20 Uhr »Fichgespräch am Runden Tisch« Vorführung des Form-Ttit-Filmt, ein Film übet die Druckformenvorbereitung außerhalb der Druckpre«$en
Abb. 40 Zeitschriften be i l age - Fachgespräch »Mit Farbe gestalten«, 1955
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zer ließ auf der Titelseite des Magazins eine Karte anbringen, auf der der Satz gedruckt war: »Da, wo Frauen sterben, bin ich hellwach.« Dieser Satz war nicht mit normaler Druckfarbe gedruckt, sondern einer Farbe, der Blut von Frauen beigemischt war. Die - nur chemisch nachweisbare - Tatsache, daß die Druckfarbe Blut enthielt, wurde in derselben Ausgabe des SZ-Magazins unter der Leitfrage »Darf ein Magazin mit Menschenblut drucken?« ausführlich thematisiert und damit bewußt ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt: Warum ist das Blul auf der Titelseite so ein Schock? Weil wir es plöt/lich mit den Händen berühren können. Es wird so viel Blut vergossen auf der Welt, und wir schauen seelenruhig zu. Erst wenn wir mit dem Blut in Berührung kommen, erst wenn es regelrecht an unseren Händen klebt, sind wir schockiert (Jenny Holzer im Interview zu ihrer Arbeit in der »Edition No. 46« des Magazin der Süddeutschen Zeitung 46 (29. 11. 1993). 34).
Holzer zielt nicht allein auf den symbolischen Schock, daß »in den Rotationsmaschinen [...] das Blutopfer von Frauen« fließt; vielmehr ist für die beabsichtigte Wirkung dieser Kunst-Aktion gerade die direkte physische Berührung der Schriftzeichen wesentlich. In Holzers >Blutdruck< wird ein nur noch chemisch nachweisbarer Qualizeichen-Aspekt der Materialität der Zeichen zum dominierenden Ausdrucksfaktor, der die gesamte Textinterpretation bestimmt. Während Holzer die physikalisch-chemische Zusammensetzung der Druckfarbe semiotisch relevant macht, ist es in der Sammlung (typographischer) Gedichte von Wassili Kamenski Tango mit Kühen aus dem Jahr 1914 der Schriftträger, der Bedruckstoff, dem bedeutungstragende Funktion zukommt. Auch wenn Schrift sich im Druck nie ohne Schriftträger materialisieren läßt, so können beide Dimensionen typographischer Zeichenmaterialität doch gestalterisch getrennt bearbeitet werden. 40 Die Gedichte Kamenskis sind auf Tapeten mit farbigen Blumenmuster gedruckt (s. Hernad/Maur 1992, [Tafel 5] 62f.). Dieser Bedruckstoff hat einerseits sinnlich-ästhetische Ausdrucksqualitäten haptischer und visueller Natur. Zugleich geht das Wissen um die gewöhnliche Funktion des Trägerstoffes in die Textdeutung mit ein. Auch in Buchform verarbeitet, verweist die Tapete (als Funktions-Zeichen) auf ihren ursprünglichen Verwendungszweck und stellt so die literarischen Texte in Bezug zu außerliterarischen pragmatischen Kontexten. An typographischen Formen wird nicht zuletzt auch die Art, wie die Zeichenexemplare erzeugt werden, für die Semiotik relevant. Das jeweilige Druckverfahren hat Einfluß auf die Formung der Drucktypen selbst und die mikrophysikalische Schriftwiedergabe im Druck. Beim Abdruck der Druckform auf dem Bedruckstoff ergeben sich jeweils unterschiedliche Gestaltmerkmale der Schriftzeichen. Der Abdruck der erhabenen Bleilettern im (Hand-) Pressendruck führt bei-
·*' So kann der Bedruckstoff vielfältig manipuliert werden und so zeichenhafte Funktion erlangen; sei es durch Prägedruck oder Ausstanzen, durch den Einsatz unterschiedlicher Papierqualitäten (Färbung, Schwere, Oberflächenstruktur) oder die Verwendung transparenter Druckstoffe etc. Von diesen Möglichkeiten ist in der Buchkunst und in der Konkreten Poesie der 60er und 70er Jahre vielfach Gebrauch gemacht worden.
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spielsweise auf dem Papier zu leichten Verquetschungen der Druckfarbe an den Letternrändern - Schmilz genannt -, der Offsetdruck hingegen ergibt Letternbilder mit großer Randschärfe. Für die denotative Funktion von Schriftzeichen sind die mikroskopischen Formunterschiede, mit der sich die Druckfarbe auf dem Papier ausprägt, irrelevant. Typographie hingegen macht diese Unterschiede zum Gegenstand ihrer Gestaltungsarbeit. Das Bewußtsein über den Einfluß des Druckverfahrens auf die Ausdrucksqualität von Druckschriften ist in der typographischen Reflexionstheorie sehr ausgeprägt (z.B. Nerdinger/Beck 1983, 97; Eckelmann 1950; Rahmer 1970, 75; Caflisch 1980,19). Die genannten minimalen Formvariationen werden nicht nur von vornherein bei der schriftgestalterischen Ausarbeitung eines Schriftschnittes bedacht, da sie in verschiedenen Schriftgrößen erhebliche wahrnehmungsrelevante Effekte haben können; derartige Formeigenschaften werden im typographischen Diskurs auch umgehend werthaft semantisiert. So urteilt beispielsweise Caflisch, der Offsetdruck produziere ein »hartes und kaltes Schriftbild«, das beim Lesen von Fließtext »unangenehm« sei (Caflisch 1980, 19). Die Art und Weise, wie typographische Zeichen erzeugt werden - die Werkzeugspuren, die das Zeichen trägt - können mithin konnotative Zeichenwirkung entfalten.41 5.3.2.2 Zur konnotativen Semantik flächentypographischer Formbildungen Die Anordnung der Textelemente auf der Fläche gehört zu den wesentlichen Mitteln typographischer Bedeutungserzeugung. In der Semiotik wird schon früh der Einfluß der syntaktisch-positionalen Lage auf die Bedeutung eines Signifikanten reflektiert: Die Position, Lage eines Zeichenmittels »verändert das Signifikat eines Ausdrucks so sehr, daß Morris (1946) vorschlug, die syntaktischen Positionen in eine Kategorie von Zeichen aufzunehmen, die er als >Formatoren< bezeichnete« (Eco 1987, 249). Typographische Elemente sind in diesem Sinn hochgradig >toposensibek Sie verdanken ihre textpragmatische Funktion und konnotative Zeichenwirkung häufig der flächensyntaktischen Lage im Verhältnis zu anderen Textelementen oder der Druckfläche insgesamt. Auch für flächensyntaktische Formbildungen lassen sich Bedeutungsbildungen auf der Basis kollektiver Wertungen (codierte Reize) von Semantisierungsprozessen auf der Basis kulturellen Wissens (Funktions-Zeichen) unterscheiden. Typogra-
Typographen setzten in ihrer Arbeit Herstellungsmerkmale gezielt als bedeutsame Ausdrucksmerkmale ein. So bemühte sich Salden »mit sehr viel Aufwand« um einen Schriftentwurf für die digitale Satzherstellung mit der visuellen Anmutung >alter< Schreibmaschinenschriften (Salden 1992, 60). Schreibmaschinenschriften haben spezifische Ausdruckswirkung als Funktions-Zeichen entwickelt: Sie konnotieren beispielsweise den gesamten situativen Kontext der Texterstellung an einer Schreibmaschine, der seinerseits kulturell vielfältig konnotativ besetzt ist. So wirken z. B. Serienbriefe und Massendrucksachen in Schreibmaschinenschrift persönlicher. 168
phische Dispositive sind beispielhaft für letzteres. Bedeutungsvermittlung durch die typographische Textanordnung setzt nicht erst im 20. Jahrhundert mit der Ausbildung visueller Dichtung ein, wie vielfach unterstellt (z. B. Jegensdorf 1980,78f.). Flächenbezogene Bedeutungen in experimenteller Literatur werden von den Künstlern nicht >aus dem Nichts< geschaffen, sondern sie basieren auf dem innovativen Umgang mit bestehenden Formen der Schriftkomposition und deren Zeichenfunktionen. Bereits in der Vordruckzeit haben sich wesentliche flächensyntaktische Textstrukturierungsverfahren unserer Schriftkultur herausgebildet. Die Lehre von der Textvermessung, die Kolometrie, entwickelt flächenbezogene visuelle Signale, um Textteile nach inhaltlichen Gesichtspunkten zu unterscheiden (vgl. Raible 1991, 6). Der Übergang von vornehmlich linearer zu wesentlich flächenhafter zweidimensionaler Textanordnung wird schon früh vollzogen. Die systematische Ausdifferenzierung von Zeilen-, Absatz-, Spalten- und Seitenumbruch soll nicht nur »das Lesen und die Aufteilung der Seite fürs Auge erleichtern« (Chartier 1990, 34f.), sondern gleichzeitig »die logische S t r u k t u r [Herv. S.W.] der Argumentation« optisch sichtbar machen (Cancik 1979,92). So zeigen beispielsweise durch flächenbezogene Merkmale definierte Texteinheiten wie Kolumnentitel, Marginalien oder Fußnoten pragmatisch unterschiedliche Textebenen an (z. B. Kommentar und kommentierten Text).42 In typographischer Reflexionstheorie wird der Zusammenhang von Textanordnung und Textbedeutung vielfältig thematisiert. Die Verteilung der Textelemente auf der Fläche wird als Gestaltungsarbeit verstanden, die auf die Inhaltsebene eines Textes bezogen ist: Jeder Buchstabenverbund wird auf einem Schrift- und Formträger angeordnet und entsprechend seiner inhaltlichen Bedeutung gegliedert. Wir nennen diesen Vorgang >Komposition< (Nerdinger/Beck 1983,116). Ordnen im Sinne der Aussage - eine Grundaufgabe der Typographie (Kapr/Schiller 1983, 181 ff.).
In der typographischen Theoriebildung herrscht weitgehend Einigkeit darüber, daß Texte »entsprechend ihrer inhaltlichen Struktur und Zweckbestimmung optisch so zu gliedern [sind], daß sie vom Betrachter eindeutig erfaßt werden« können (Nerdinger/Beck 1983, 122). Eine offene Frage ist dabei immer, welche kompositorischen Formbildungen für den Leser eindeutig interpretierbar sind und welche typographische Anordnung welchem Textinhalt angemessen ist. Typographie kann einen Text auf unterschiedlichen sprachlichen Ebenen optisch organisieren und un-
42
Textgliederungs- und Markierungssysteme wie diese bringt man gern mit der Erfindung Gutenbergs in Verbindung. Sie sind aber bereits weit vorher entstanden (Chartier 1990, 34f.). Für meine Fragestellung ist es unerheblich, ob die Genese dieser Formative vor oder nach der Durchsetzung des Buchdrucks stattfand. Wichtig ist, daß sich diese innerhalb des Typographeums spezifisch - gemäß der »Spezifik der typographischen Programmiersprache« (Giesecke 1992,303) - entwickelt haben.
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terschiedliche semantische Abläufe, Wertigkeiten und Beziehungen herstellen. Dabei sind die Möglichkeiten der flächenbezogenen Syntaxbildung bei der typographischen Umsetzung eines Textes hochgradig variabel. Wie sprachliche Texteinheiten durch typographische Zeichenmittel darzustellen sind, ist in keiner (gemeinsamen) Grammatik festgelegt. Sprachliche Äußerungen können in unterschiedlichsten Schriftarten gesetzt und auf vielfältige Weise angeordnet werden. Auch die Formationsregeln typographischer Dispositive erlauben zahlreiche Variationen bei der Anordnung sprachlicher Textelemente. Schon die Zeilen-, Absatz-, Spalten- und Kapitelbildung beim Satz gewöhnlichen Fließtextes eröffnet vielfältige Möglichkeiten der flächensyntaktischen Variation. Dies gilt um so mehr für die typographische Gestaltung von Textsorten, deren Dispositive auf größte Variation hin angelegt sind, wie beispielsweise Werbung. Die Eigenschaften von Typographie als flächenbezogenes Ausdruckssystem werden insbesondere in den 20er Jahren von der typographischen Avantgarde des funktionalen Konstruktivismus in werblicher Gebrauchstypographie weiterentwickelt und in abstrakter typographischer Flächen-Kunst ästhetisch genutzt (s. dazu Kap. 7.6.3.1). Textarten - wie werbliche Ankündigungen, Aufzählungen u. ä. -, deren sprachlich-syntaktische Sequenzialisierung grammatikalisch im Vergleich zu normalsprachlichen Textarten nur schwach determiniert ist, eröffnen typographischer Schriftkomposition große Gestaltungsspielräume bei der flächensyntaktischen Verknüpfung der sprachlichen Textelemente. Ein Vergleich der acht verschiedenen Anordnungen des gleichen Textes in Abb. 41 zeigt, daß die typographische Textanordnung nicht nur über den visuellen Zugriff und damit über den Lektüreverlauf entscheidet, sondern auch interpretative Funktionen erfüllt: typographische Textkomposition zeigt immer auch inhaltlich-logische Gliederungen an: sie markiert Sinneinheiten, semantische Beziehungen und Wertigkeiten. Beispielsweise werden zueinander gruppierte oder gleichartig aufgebaute Textteile auch als semantisch aufeinander bezogen erachtet. Jede tabellarische Satzanordnung ist Beleg dafür, daß flächensyntaktische typographische Codes existieren, die es erlauben, auch abstrakte, semantisch-logische Beziehungen durch räumliche Anordnungen anzuzeigen. Typographische Flächengestaltung stellt Äquivalenzbeziehungen zwischen Textelementen her, die unabhängig von der sprachlichen Textgrundlage erkennbar sind. Entscheidend ist dabei, daß jede »Parallelität auf der Ausdrucksebene generell [...] eine Parallelität auf der Inhaltsebene suggeriert« (Küper 1988, 55). Typographie wirkt als sekundäres Qualifikationssystem, das den Leser veranlassen kann, sprachliche Elemente, die grammatikalisch und inhaltlich völlig unabhängig voneinander sein mögen, aufeinander zu beziehen. Typographie bildet visuelle Syntagmen, die Relationen zwischen Textelementen herstellen, die in dieser Struktur neue Bedeutung erhalten können. Die Komplexität visuell-syntaktischer Äquivalenzbeziehungen kann durch die Kombination von Schriftauszeichnung und Schriftkomposition erheblich gesteigert werden. Die typographische Anordnung von Textelementen birgt die Möglichkeit, mehrfach relationierbare Textelementkonstellationen zu erstellen, wie Variante 5 in Abb. 41 illustriert. Hier ist gleichermaßen die spaltenweise vertikale als auch die zeilenweise horizontale Lektüre na170
Affiches anglaises Musee des Beaux-Arts. Jusqu'au 31 Janvier 1972 107, rue de Rivoli, Paris
Affiches anglaises Musee des Beaux-Arts. 107, rue de Rivoli Paris,Jusqu'au 31 Janvier 1972
Affiches anglaises
Musee des BeauxArts.
107, rue de Rivoli, Paris
Jusqu'au 31 Janvier 1972
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Affiches
anglaises
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Abb. 41 Verschiedene Anordnungen desselben Textes auf gleichbleibender Fl che
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hegelegt.43 Derartige typographische Kompositionsformen provozieren Wiederholungslektüren und motivieren den Leser, unterschiedliche Elementrelationen durchzuspielen und auf ihre mögliche Bedeutung zu befragen. Die Kombination von linear-sequentieller und spaltenweiser Anordnung von Textelementen ist weithin üblich. Derartige komplexere Textstrukturen und die damit unterschiedenen inhaltlichen Teileinheiten erkennt man in der Regel auf den ersten Blick, ohne daß man den Text Zeile für Zeile lesend abtastet. Lesen ist nicht wie häufig unterstellt - ausschließlich linear-sequentielle Wahrnehmungsaktivität. Art und Reihenfolge der Augen-Fixationen haben bei entsprechender Textstruktur große Ähnlichkeit mit denjenigen der Bildbetrachtung (vgl. Groß 1990, 242f.). Schon bei der Analyse typographischer Dispositive hat sich gezeigt, daß Lesen auch das Erkennen der visuellen Textgestalt umfaßt. Die Wahrnehmung typographischer Formen folgt zahlreichen wahrnehmungspsychologischen und konventionalisierten Routinen. Insbesondere flächensyntaktische Muster steuern den Wahrnehmungsablauf bei der Lektüre und haben vielfach habitualisierte, kulturtypische Wirkungen. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Satzvarianten von Goethes Heideröslein. Der traditionelle Gedichtsatz in Abb. 27 gibt einen ganz anderen Leseverlauf vor als die typographische Komposition desselben Textes in Abb. 28. Die visuelle Segmentierung des Textkontinuums hat beispielsweise Auswirkungen auf das Lesetempo und den Lesefluß, was wiederum nicht ohne Einfluß auf die Interpretation des Textes bleibt. Flächensyntaktische Formbildungen sind sowohl unabhängig vom Bedeutungssystem typographischer Dispositive als auch unabhängig vom jeweilig zugrundeliegenden sprachlichen Textinhalt bedeutungshaft. Unmittelbare Interpretantenbildungen werden beispielsweise häufig von der Ortslage eines Textelementes auf der Seitenfläche ausgelöst. Diese Eindruckswirkungen folgen vielfach ganz basalen Wahrnehmungs- und Erfahrungsmustern; so werden allgemeine, zeitlich-räumliche Umwelterfahrungen, wie Schwerkraftwirkung oder Bewegungsverläufe, zumeist unbewußt auf die Wahrnehmung und Deutung der Lage von Bildelementen auf der Fläche übertragen (s. Braun 1993,39; 104f.) In unserer Kultur werden vor allem der Rechts/Links- sowie der Oben/Unten-Gegensatz konnotativ relevant. Korger verbalisiert in einem Schema einige wesentliche kulturtypische Semantisierungen von rechter und linker Ortslage auf einer Fläche: links: passiv Introversion Subjekt Ich Vergangenheit
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rechts: aktiv Extroversion Objekt Du Zukunft (Korger 1991,19)
Variante 3 und 4 in Abb. 41 illustrieren, daß in unserer typographischen Textkultur auch andere textuelle Gliederungsprinzipien als die horizontal-lineare Zeilenfolge konventionalisiert sind: so wird die vertikal-spaltenweise Anordnung von Textelementen unmittelbar erkannt und richtig, d.h. spaltenweise von oben nach unten, gelesen.
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Der Buchumschlag in Abb. 37 arbeitet mit der konnotativen Semantik des Oben/ Unten-Gegensatzes. Den Flächenräumen Oben und Unten sind in unserer Kultur Inhaltseinheiten korreliert, die auf ganz elementaren räumlichen Vorstellungsmustern basieren. So werden auf der Grundlage kollektiver Wertungen vor allem hierarchische Beziehungen, Macht- und Herrschaftsverhältnisse in Über- und Unterordnungsverhältnissen vor- und dargestellt. So konterkariert die Titelgestaltung mit der typographischen Anordnung der Worte »Kirche« und »Welt« die sprachlich durch die Konjunktion »und« angezeigte Gleichrangigkeit der beiden Sphären. Die Ortslage der Worte unterstellt statt dessen ein versus. Der visuell-konnotativen Hierarchisierung und Polarisierung von Kirche und Welt korrespondiert die christliche Vorstellung, dergemäß das Reich Gottes als Himmelreich - also oben - imaginiert wird, während das vergängliche Diesseits und die Hölle in einer >Unterüber173
formtleerabgebildetKippbild< dar: man kann entweder das Bild des Lasters erkennen oder den Buchstaben lesen. 175
bei multistabilen Mustern, d.h. formalen Mustern, denen mehrere, zum Teil völlig unterschiedliche Bedeutungen zugewiesen werden können, [...] Bedeutungen eine Rückwirkung auf die Struktur des zugrundegelegten Musters haben können (Stadier/Krause 1991, 262f.).
Wo in typographischen Schriftbildgestaltungen - wie im letzten Beispiel - die ikonische Codierung an Gewicht gewinnt, tritt die Bildfunktion in den Vordergrund und gefährdet die Erkennbarkeit des Schriftzeichens in der Zeichenkonfiguration. Das heißt aber nicht, daß zwischen sprachlichem und visuellem Zeichenaspekt eine Null-Summen-Relation bestünde, und sich beide Zeichenaspekte umgekehrt proportional zueinander verhielten. Es zeigt sich vielmehr, daß die Bereitschaft und
Abb. 44 Logo - Hooker Chemical Corp.
Fähigkeit des durchschnittlichen Lesers zur (Schrift-) Zeichenerkennung und zur Zeichendeutung - ausgehend von der Erwartung, daß sich Textform und Textinhalt entsprechen - immens ist. Wenn die Reduzierung von visuellen Merkmalen auf beiden Seiten, der typographischen und der graphischen, extrem vorangetrieben wird, so daß nicht nur die Erkennbarkeit als Schriftzeichen, sondern auch als Bildzeichen gefährdet ist, kann es allerdings zum Scheitern semantischer Kohärenzbildungen zwischen Form und Inhalt von (typo-) graphischen Logos und Signets auch dann kommen, wenn sprachlich-denotatives Kontextwissen vorliegt, das die Deutungsversuche anleitet: Das Logo der Firma Hooker Chemical Corp, in Abb. 44 ist beispielsweise nur noch schwer als Exemplar des Buchstaben-Typus »H« (der Initiale des Firmennamens) erkennbar, denn die Gestaltung ist offensichtlich an der Formationsregel der Kleinbuchstaben »h« ausgerichtet - dies widerspricht der Wahrnehmungserwartung eines deutschsprachigen Lesers; aufgrund der Großschreibung von Eigennamen im Deutschen werden der Betrachtung eines Firmenlogos die Formationsregeln von Großbuchstaben als Wahrnehmungsraster zugrunde gelegt. Auch als Bildzeichen betrachtet bleiben die visuellen Merkmale dieses Logos so unbestimmt, daß sie selbst mit dem Wissen um die Zugehörigkeit zum semantischen Feld chemische Industrie nur schwer konventionalisierten ikonischen Erkennungsbzw. Abbildungsschemata zugeordnet werden können. Denkbar sind Deutungen als Schornsteine (Produktionsstätte), als Silhouette zweier Hochhaustürme (Konzernzentrale) oder als Balkendiagramm (Bilanz). Insbesondere die Semantisie176
rungsmöglichkeit als Diagramm erweist sich in ihren konnotativen Implikationen als problematisch, denn die Regeln dieser graphischen Darstellungsmethode besagen, daß Balkendiagramme (von links nach rechts gesehen) als Entwicklungsreihe in der Zeit zu interpretieren sind. Im vorliegenden Beispiel signalisiert die Zeichenfolge so gedeutet rückläufige Entwicklung, Umsatzrückgang- Inhaltseinheiten also, die im wirtschaftlichen Diskurs hochgradig negativ besetzt sind. Die Gestaltung von Signets und Logos auf der Basis von Letternformen, die gleichzeitig einem bestimmten Inhaltsaspekt des Signifikats (Firma, Produkt o.a.) ikonisch ähnlich sein sollen, sieht sich vor eine doppelte Aufgabe gestellt: sie darf die Zeichenstruktur von Schrift nicht zerstören, d.h., die Kompatibilität mit dem Lettern-Typus muß gewahrt bleiben, und sie muß gleichzeitig die Kompatibilität mit dem Erkennungscode des graphisch-ikonischen Zeichensystems sicherstellen. Deshalb beeindrucken gelungene Zeichenbildungen dieser Art in ihrer gestalterischen Kunstfertigkeit. Wird eine dieser Regeln der Zeichenbildung verletzt, verliert das Zeichen entweder seine Lesbarkeit oder seine Bildfunktion; das letztgenannte Beispiel tangiert beide Grenzbereiche und läuft Gefahr, als gänzlich abstraktes Formelement wahrgenommen zu werden. 5.3.3.2 Worte: de Campos Luxo In typographischen Lehrbüchern werden die Möglichkeiten der Form-Inhalt-Bezugnahme bevorzugt an Einzelwort-Beispielen illustriert. Dieses Vertextungsniveau bietet sich zur scheinbar selbsterklärenden Demonstration der Bedeutungshaftigkeit von Schriftformen an, denn durch gezielte Schrift- und Begriffswahl bei gleichzeitiger kontrastierender Gegenüberstellung von Wortbildern, wie in Abb. 45, können Divergenz und Konvergenz von Textformen und Sprachinhalten eingängig illustriert werden: Der thematische Kontext (Typographie und ihre Ausdrucksmöglichkeiten) motiviert die autoreferentielle Bezugnahme von Schriftform und Textinhalt. Die Reihung der Worte auf der Fläche tut ein übriges dazu, daß der Leser die Worte in der Folge kontrastiv aufeinander bezieht. Dabei werden ihre begriffssprachlichen Gegensätze vergleichend auf ihre formalen Unterschiede projiziert
Stahlträger Porzellan Abb. 45 Satzbeispiele - Verhältnis von Wortform und Wortinhalt 177
Abb. 46 Der Spiegel (15.3. 1993)
und d a r a u s wertende Schlüsse über die Adäquatheit von Form und Inhalt gezogen. Die Wortbilder »Stahlträger« oder »Porzellan« entwickeln keine autoreferentielle Zeichenfunktion mehr, sobald sie in einen Textzusammenhang gleicher Schrifttype gestellt werden. Die isolierte Gegenüberstellung der Wortbilder hingegen veranlaßt dazu, die typographische Form auf den Begriffsinhalt der Worte zu beziehen. Titelund Schlagwortgestaltungen in Werbe- und Zeitschriftentypographie arbeiten vielfach mit solchen autoreferentiellen Form-Inhalt-Bezugnahmen (Abb. 46). Die Wortbilder weisen in der Regel Zusatzstrukturierungen auf (Manipulation der Ortslage oder Größe einzelner Lettern u.a.m.), die sie von gewohnten typographischen Wortbild-Bildungen unterscheiden und die selbstreferentielle Deutung motivieren. Selbstbezügliche Form-Inhalt-Bezugnahmen, wie sie von grammatisch-syntaktisch isolierten Wortbildern ausgelöst werden, basieren auf einem besonderen Semantisierungsmechanismus: der Exemplifikation. Goodman erläutert dieses semiotische Verfahren am Beispiel der Stoffprobe eines Schneiders. Sie exemplifiziert Farbe, Textur und Webart des Stoffes, während andere Merkmale wie Gestalt und Größe nicht nur außer acht gelassen, sondern notwendigerweise für das Gelingen der exemplifizierenden Zeichenfunktion als irrelevant erachtet werden müssen (Goodman 1984,47f.). So sind in Abb. 47 für die Exemplifikation der Begriffe »voll« und »leer« durch die Formmerkmale der Schriftzeichen deren Eigenschaften schwarz und weiß notwendigerweise >ungültig< gesetzt. Wäre dies nicht der Fall, so könnte die >leere< Umrißform der Lettern beispielsweise auch als mit Weiß gefüllte Flächenform gedeutet werden. Um dieses Merkmal in einer Einzelwort-Konstella178
L
VOLL
Abb. 47 Satzbeispiel - Verhältnis von Wortform und Wortinhalt
SCHWARZ Abb. 48 Satzbeispiel - Verhältnis von Wortform und Wortinhalt
tion zu exemplifizieren, bedarf es der lexikalischen Begriffsbasis »weiß« und »schwarz« (Abb. 48). Exemplifikative Form-Inhalt-Bezugnahmen dieser Art lassen sich als »fallende Semiosen« verstehen: Es sind semiotisch rückläufige Prozesse, die auf Präsentation des Repräsentierten aus sind (Bense 1975,83).
Umgekehrt sind Wortform-Wortinhalt-Kombinationen möglich, die »aufsteigende Semiosen« darstellen; so arbeitet die Konkrete Poesie oftmals mit isoliertem, grammatisch-syntaktisch dekontextualisiertem Sprachmaterial, das durch gezielte Schriftwahl und/oder Anordnung auf der Fläche vielschichtige Textaussagen zu vermitteln vermag. Ein Beispiel hierfür ist Textkonstellation Luxo von Augusto de Campos (Abb. 49 und Abb. 50). Im Original liegt der Text als mehrfach gefaltetes Blatt vor. Auf der Oberseite ist nur das (brasilianisch-portugiesische) Wort »Luxo« zu lesen, das soviel bedeutet wie Luxus, Pracht, Üppigkeit: Beim Aufklappen der Textfaltung erscheint zunächst eine leere Faltseite, dann auf [...] drei Faltseiten nacheinander die aus dem in gleicher Gröi3c und Type gedruckten Wort Luxo formierten Buchstaben LI / X / O. Zusammengelesen ergibt sich das Wort LIXO. übersetzbar mit »Abfall, Schund< (Weiss 1984, 65). Es lassen sich demnach folgende >Bausteine< der Textkonstellation ausmachen:
1. die Worte »Luxo« und »Lixo«, von denen das eine aus der mehrfachen Anordnung des Wortbildes des anderen typographisch geformt wird, 2. die Zierschrift, in der die Textelemente gesetzt sind, 3. die Faltung der Druckfläche.
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Abb. 49 Luxo. Augusto de Campos, 1970 Ansicht des geschlossenen Faltblattes
Zwischen diesen Textelementen lassen sich eine Fülle interpretativer Bezüge herstellen. Zunächst veranlaßt die auffällige Schriftform des isolierten, aus syntaktischgrammatischen Sprachstrukturen herausgelösten Wortes auf dem Deckblatt autoreferentielle Bezugnahmen zwischen Begriffssemantik und Merkmalseigenschaften des Wortbildes: die ornamental-verzierte Letternform mutet >luxuriös< an. Die wechselseitige Bezugnahme von denotativer Semantik und konnotativen typographischen Formmerkmalen wird in diesem Beispiel aber nicht auf der Stufe der Exemplifikation >stillgestelltmoney can't buy taste< u.a.). Die Bedeutungskonstitution erfolgt als zweifach gerichtete Bewegung: die Wahrnehmung typographischer Merkmale der Textform wird durch den Textinhalt beeinflußt, und umgekehrt beeinflußt die konnotative Semantik typographischer Textmerkmale die Deutung des Textinhalts. Linguistisch betrachtet mag das Wort »Luxo« auf der Titelseite des Faltblattes durch seine grammatische und pragmatische Dekontextualisierung semantisch völlig funktionsoffen sein; manche Interpreten (z.B. Schmidt 1975) sehen die ästhetische Qualität von derartigen Textkonstellationen Konkreter Poesie gerade 180
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Abb. 50 Luxo. Augusto de Campos, 1970 Nebeneinander der vier Seiten des aufgezogenen Faltblattes
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darin, daß dem Leser alle potentiell möglichen sprachlichen und nichtsprachlichen Bezüge, die er erinnern oder imaginieren kann, für die Semantisierung der Textelemente zur Auswahl stünden. Derartige Textstrukturen zielten demnach »auf jede mögliche Bedeutung [Herv. S. W.], die in ihrer größtmöglichen Offenheit präsentiert vom Leser variiert werden kann« (Weiss 1984,64). Für das vorliegende Beispiel hieße das: Das Lexem [Luxo] verweist aufgrund seiner Isolierung, d. h. nicht in einen es in bestimmter inhaltlicher Richtung fixierenden Kontext eingepaßt, auf den gesamten Bedeutungsbereich [Herv. S.W.] >Luxus, Pracht, Üppigkeit< (Weiss 1984, 64).
Dies trifft nur zu, wenn man bei der Analyse völlig von der typographischen Materialität des Textes absieht. Bezieht man diese jedoch mit ein, so erweist sich, daß die Textwahrnehmung und -deutung weder völlig frei noch von einem einzigen Code geregelt, sondern innerhalb des Form-Inhalt-Rahmens lose organisiert ist. Das Wechselverhältnis von begriffssprachlich-inhaltlicher und visuell-konnotativer Textdimension läßt den Bedeutungsbereich des Lexems »Luxo« gerade nicht völlig unbestimmt, sondern verweist auf dessen Ambivalenz zwischen den Polen Pracht und Schund. Dieser Gegensatz bildet im vorliegenden Beispiel die regulative Hypothese, die den gesamten weiteren Semantisierungsprozeß präfiguriert. Textdeutung erfolgt nie völlig beliebig, auch wenn Textelemente scheinbar aus allen konventionellen pragmatischen und syntaktisch-grammatischen Kontexten herausgelöst sind. Im vorliegenden Fall werden Sprachinhalt und Textform füreinander zu (neuen) kontextuellen Bezugssystemen. Die äußere Form eines isolierten Lexems vermag der Begriffssemantik eine bestimmte >inhaltiche Richtung< zu geben - dies übersieht Weiss. Innerhalb dieses Referenzrahmens haben die Textelemente den Status eines Wahrnehmungs- und Deutungsangebots, das offen ist für vielfältigste Semantisierungen. Beispielsweise läßt sich der Ein-Wort-Text »Luxo« auf der Vorderseite des Faltblattes fortgesetzt autoreferentiell deuten: Ornamentale Zierschriften, wie die hier verwendeten, entstanden in zahllosen Varianten im Zusammenhang mit der Entfaltung des Akzidenz- und Werbedrucks in der Frühzeit der Industrialisierung (s. Kapr 1983, 186ff.). Die Schriftformen sind damit (Funktions-)Zeichen der Ausbildung moderner Massenproduktion und Frühformen des Massenkonsums. So kann der Text ausgehend vom Wissen um die Entstehungsgeschichte der Schrift und entlang der sprachlichen Assoziationsfelder Reichtum, geschmacklose Prachtentfaltung beispielsweise als implizite Kapitalismuskritik gedeutet werden.46 Eine ganz andere Lesart kann entwickelt werden, wenn man das sprachliche Textelement etymologisch in den Blick faßt: der Wortstamm von »Luxo« (Lux-) verweist auf das Begriffsfeld Licht, dem Schatten als konnotatives Pendant von »Lixo« entspricht. Die Gestaltmerkmale der Schriftzeichen legen dann 46
Um die Jahrhundertwende wurden Zierschriften, wie die hier verwendete, zunehmend Gegenstand typographiereformerischer Kritik: Sie galten als Ausdruck des Niedergangs und Verfalls typographischer Kultur und Kunst. Das Wortbild läßt sich deshalb auch als >Sinn-Bild< einer innertypographischen ästhetischen Debatte lesen.
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die Assoziation des Sprichworts »Wo viel Licht, da viel Schatten« nahe, denn die dialektische Ambivalenz von Licht und Schatten findet sich in jeder Letterngestalt materiell und visuell verkörpert. Mit dem Aufblättern des Faltblattes wird semantische Opposition von Luxus und Schund, die bereits durch die typographischen Formmerkmale des Wortes »Luxo« angelegt waren, explizit. Die >Ent-Faltung< des Wortes »Lixo« beim Aufblättern führt zusätzlich Zeit als bedeutungshaften Textfaktor ein, der zur Ausgangsbasis weiterer Semantisierungen werden kann: Das Wort »Luxo« vervielfacht sich beim Entfalten des gefalzten Papiers - im wörtlichen Sinn; bezogen auf den Begriffsinhalt kann dies heißen: Wohlstandswachstum. Gleichzeitig bildet sich im (Zeit-) Verlauf des Blätterns und durch die Multiplikation des Wortes »Luxo« das Wort »Lixo« (Abfall). Für einen Leser der 90er Jahre sind daran unmittelbar gesellschafts- und umweltpolitische Deutungen, wie Überflußgesellschaft, Müllberg u. ä., anschließbar; denn im öffentlichen Diskurs sind heute Wohlstand und soziale bzw. ökologische Probleme so eng miteinander verbunden, daß die Deutung dieser Textkonstellation als literarisch-ästhetische >Inszenierung< dieses Zusammenhangs naheliegt. Das Beispiel zeigt: es lassen sich auf derselben Textbasis ganz unterschiedliche Bezugnahmen von Textform und Textinhalt herstellen, die zu je anderen konnotativen Reihenbildungen führen; die Zahl der anschließbaren Deutungen ist groß und kann zu sehr weitreichenden interpretativen Ausdeutungen führen. Insbesondere für Textkonstellationen Konkreter Poesie aus isoliertem Sprachmaterial wird häufig reklamiert, daß die Möglichkeiten der Deutung prinzipiell unabschließbar seien (vgl. Schmidt 1975,417f.). Dies ist insofern richtig, als eine Analyse nie die Gesamtheit aller denkbaren Bezüge eines Textes und alle denkbaren Konnotationen erfassen kann, die von verschiedenen Lesern ins Spiel gebracht werden können. Sie variieren nicht nur historisch-kulturell, sondern auch individuell je nach Erfahrungs- und Wissenshorizont des Lesers. Doch ist die Bedeutungserzeugung nie völlig >entgrenzte< Zeichenproduktivität, sondern ist im Wechselbezug von typographischer Textform und sprachlichem Textinhalt spezifisch >gerichtet< und in aller Regel auch begrenzt. 5.3.3.3 Der Textzusammenhang: Mörike Er ist's Bei typographischen Vertextungen auf der Basis von einzelnen Lettern und Worten ist die Bezugnahme von Form und Inhalt in der Regel noch verhältnismäßig eindeutig herzustellen, da inhaltsseitig zumindest immer ein lexikalisch denotativer Begriff vorliegt, von dem die Gestaltungsarbeit des Typographien und die Deutung des Lesers ausgehen können. Bei komplexeren Textzusammenhängen steht hingegen nicht von vornherein und eindeutig fest, was der Textinhalt ist. Ein Gedicht oder ein Roman bedarf zunächst der Interpretation in Hinblick auf die inhaltlich-semantischen Merkmale, auf die hin die geeigneten typographischen Formen ausgewählt, die Güte der Abstimmung zwischen Form und Inhalt beurteilt und die interpretative Bezugnahme dieser beiden Textdimensionen aufgebaut werden können. Angesichts der Aufgabe, Schriftform und Textinhalt aufeinander abzustimmen, stellt sich 183
im konkreten Fall beispielsweise die Frage: »Welche Schriftarten würden sich besonders für die pharmazeutische Propaganda eignen, und gibt es solche überhaupt?« (Tschichold [1962] 1992, 267). Eine definitive Antwort hierauf ist schwerlich möglich. Im Fall von Werbung ist die Aufgabe des Typographen, »mit Hilfe der gewählten Schriftart und der abwandelbaren Satzweise eine Atmosphäre zu schaffen, die dem Inhalt entspricht« (Tschichold [1962] 1992, 267), zumindest in solchen Fällen keine >Gleichung mit zwei Unbekanntem, in denen die (konnotative) Inhaltsdimension einer Werbetypographie vom Auftraggeber mit Blick auf das strategische Werbeziel ausdrücklich definiert wird. Anders stellt sich dieses Problem im Falle der typographischen >Umsetzung< von Literatur. Unserer Kultur gilt der Inhalt eines literarischen Textes als hermeneutisches Problem; demnach ist es zumindest für Kunst-Literatur charakteristisch, daß sie sich durch inhaltliche Polyvalenz auszeichnet und sich die Bedeutung eines literarischen Werkes gerade nicht eindeutig bestimmen läßt. Die typographische Gestaltung kann unterschiedlichste Inhaltsaspekte eines literarischen Textes zum Ausgangspunkt der Formgebung machen. Dies können bereits kulturell verankerte Interpretationen sein, die den Text autoroder gattungsspezifisch, epochen- oder stilgeschichtlich klassifizieren. Genauso ist es immer auch möglich, durch die typographische Gestaltung gänzlich neue Inhaltsaspekte eines Textes relevant zu machen. Praktisch stellt jede typographische Variation bei der Drucklegung eines Textes in Hinblick auf dessen Inhalt einen potentiell bedeutungshaften Neuigkeitswert dar. Die besondere Problematik von Literaturtypographie ist in der typographischen Reflexionstheorie nicht unthematisiert geblieben: Nicht immer ist die Frage [welche Schrift und Satzweise dem Inhalt entspricht] leicht zu beantworten: Goethe, >Wilhelm Meister: Walbaum-Fraktur; Hans Sachs, >FasnachtsspielGedichteNormalität< hat auf den Verlauf der Textrezeption nicht zu unterschätzenden Einfluß.47 Der Leser aktiviert im vorliegenden Fall kulturell hochgradig stabilisierte Codes, auf die die Bezugnahme in der Alltagskommunikation »fast automatisch [erfolgt], so daß man die Dekodierungsprozesse als bedingte Reflexe verstehen kann, entstanden aus kulturellen Lernvorgängen« (Eco 1977, 188). Davon zu unterscheiden sind bewußte Bedeutungsbildungsprozesse, die zwar durch konnotative Codes vorstrukturiert sein mögen, aber nicht quasi automatisiert ablaufen. Semiotisch lassen sie sich als Prozesse (logischer) Interpretantenbildung beschreiben. Bedeutungserzeugung dieser Art erfolgt »durch ein komplexes interpretatives kontextbezogenes Lesen« (Eco 1987, 77). Dies unterscheidet sich von codebezogenem Lesen darin, daß die Bedeutung Resultat aktiv suchender Deutung ist, die auf Hypothesenbildungen und Schlußfolgerungen basiert. In Prozessen reflexiver Bedeutungsstiftung dieser Art werden einem Zeichenmittel vielfach In47
Die Kognitionsforschung hat gerade für das Lesen nachweisen können, daß es zahlreiche automatische Prozesse gibt, die bei Vorhandensein adäquater Reize automatisch aktiviert werden, ohne daß dazu bewußtseinsmäßige Kontrolle erforderlich wäre, die aber ihrerseits mit kontrollierten Prozessen der Kognition >kooperieren< können (vgl. Gfroerer 1988,15).
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fein 6 (aueS 23an& fcieSeB fiattetn Sutcjj &ie£ufte; fu^e,foof)li>efonnte£>ufte fbeifen afjnungtfooii 8utcjJ£*£'an&. ^3ei(cj)en ttaumen fdfjon, tooflen 6al8e iommen.fein ein ietfet idij öetnommen! Abb. 52 Satzbeispiel - Mörike. Er /si!v - Fraktur-Satz
haltseinheiten zugeordnet, die ihm kulturell (noch) nicht regelhaft zugeschrieben werden, d. h. die nicht in einem Code konventionalisiert sind. Derartige, interpretantenbezogene Lektüre dürfte heutzutage bei praktisch jedem Leser durch die typographische Form von Mörikes Gedicht in Abb. 52 ausgelöst werden - fände er sie in einer Neuausgabe vor. Gegen heutige Lesegewohnheiten von Lyrik verstößt sowohl das mittelachsiale Satzschema als auch die Schriftform, ein Fraktur-Schnitt. Zeitgenössische Leser sind in aller Regel die Lektüre von Fraktur-Schriften nicht gewöhnt und mit ihren Besonderheiten nicht vertraut; 48 allein deshalb schon wird die Aufmerksamkeit auf die typographische Form des Textes gelenkt. Handelte es sich um eine historische Textausgabe, würde man die typographischen Textmerkmale als entstehungsgeschichtlich bedingt >verbuchen< und darüber hinaus nicht weiter auf zusätzliche Bezüge zum Textinhalt befragen; ganz anders, wenn es sich wie angenommen - um eine Neuausgabe des Textes handelt. Sofern die gesamte Ausgabe in vorliegender Textschrift gehalten ist, läßt sich die typographische Form als Zitat historischer Typographie semantisieren. Die Schriftgestalt erlangt in diesem Fall eine textpragmatisch anders gelagerte Funktion als in einer historischen Textausgabe, denn sie wirkt heutzutage quasi >metatypographischEinheitskonzept< die Vielfalt möglicher Interpretationen begrenzt (vgl. Eco 1985,107ff.; 129f.). Es ist davon auszugehen, daß ein Rezipient nach einem übergeordneten Sinnzusammenhang sucht, unter dem eine Reihe heterogener Zeichenvorkommnisse kohärent aufeinander bezogen werden können. In der Malerei fungiert häufig der »Titel als Hypothese für die Lektüre des Bildes« (Thürlemann 1990, 32). Dies gilt oft auch für die Lektüre von Literatur. Im vorliegenden Beispiel läßt sich dies gut nachvollziehen: Der Titel »Er ist's« ist semantisch >ungesättigt< und provoziert unwillkürlich die Frage: >Wer ist gemeint?< Das erste Wort des Gedichts (»Frühling«) liest sich wie eine Antwort auf diese Frage. Es fungiert im folgenden als Bedeutungsmaßgabe, die auf den Textzusammenhang projiziert wird und die weiteren Semantisierungsschritte reguliert. Der Begriff wird damit auch zum semantischen Organisationskern für die Interpretation der typographischen Form. »Frühling« und das dem Begriff korrelierte Inhaltsfeld können auch zum Regulativ für die Wahrnehmung und Deutung der typographischen Zeichen werden. Für einen Leser, der weiß, daß der verwendete Schriftschnitt den Namen Frühling trägt, kann der Form-Inhalt-Bezug damit hinreichend erklärt sein und weitere Deutungshandlungen in Hinblick auf die typographische Formgebung des Textes erübrigen. Bei Lesern, die über dieses Wissen nicht verfügen, kann der Deutungsprozeß eine ganz andere Richtung nehmen. Der Begriff Frühling ist in unserer Kultur nicht zuletzt dank vielfältiger Metaphorisierung in der Lyrik - konnotativ >hochangereichertWerkstandard< gefunden, denn hierzu sind typographische und buchgestalterische Vorgaben Rilkes nur noch selten und knapp (Scharffenberg 1953, 183). Insofern kann die Ausgabe der Frühen Gedichte im Insel Verlag von 1928 (Druck von der Spamerschen Buchdruckerei, Leipzig) - sie ist die Ausgabe der Frühen Gedichte, die mir zugänglich war- als >autorisierte< Fassung gelten. Dies ist allerdings insofern zweitrangig, als sich 192
Der Rilkesche Gedichtzyklus55 Lieder der Mädchen^ eignet sich nicht allein wegen seiner Bezüge zu buchtypographischen Reformbestrebungen zur Analyse der Semantisierung von buchtypographischen Formbildungen. Ein (Gedicht-) Zyklus stellt als literarisches Text-Bauprinzip ganz allgemein besondere Anforderungen an die Buchtypographie, denn über die Gestaltung der Einzel- bzw. Doppelseiten hinaus wird beispielsweise die S e i t e n f o l g e als flächensyntaktische und semantische Einheit relevant. Ich werde mich deshalb bei der Analyse auf diese und ähnliche Aspekte der buchtypographischen Formbildung konzentrieren und von stärker ausstattungsbezogenen Merkmalen der Buchgestaltung, wie z.B. der Einbandgestaltung, absehen. Was zeichnet einen Gedicht-Zyklus aus? Ganz allgemein ist ein Zyklus definiert als Korpus von Werken, »die als selbständige Einzeltexte zugleich Glieder eines größeren Ganzen bilden« (Metzler Literaturlexikon 1984, 485). An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert formiert sich diese Textklasse im Übergang vom losen Arrangement einzelner Gedichte zum durchkomponierten Gesamtwerk, dessen zyklische Struktur als solche z e n t r a l e A u s s a g e f u n k t i o n hat [Herv. S.W.](Meuthenl983,9). Der Terminus Zyklus wird im engeren Sinn auf solche Texte angewandt, die über eine nur zufällige oder nach rein äußerlichen Gesichtspunkten zusammengestellte Folge hinaus eine vom themat. [sie] Zusammenhang her motivierte Struktur aufweisen (Metzler Literaturlexikon 1984,485). Die Zyklus-Struktur wird literaturwissenschaftlich beinahe ausschließlich in sprachlich-formalen und motivisch-thematischen Äquivalenzbeziehungen gesucht. Man spricht heute im strengeren Sinn von Zyklus, wenn
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die Semantisierungen durch und an der typographischen Form dieser Ausgabe unabhängig von der Autorintention entfalten lassen. Daß hier abermals Lyrik als Textbeispiel herangezogen wird, hat mehrere Gründe. Zum einen sind Gedichte im Rahmen einer Überblicksstudie >dankbare< typographische Textbeispiele, denn sich lassen sich einfach zitieren und abbilden. Zum anderen kann an Ausführungen zum typographischen Dispositiv Lyrik (Kap. 4.2.1.1) angeknüpft werden. Lyrik ist die Gattung, in der schon früh die typographische Gestaltung auch von den Autoren zur Bedeutungserzeugung genutzt wurde. Gedichte bilden zudem die Textsorte, deren Merkmale am bereitwilligsten (weil im allgemeinen Bildungskanon so verankert) als potentiell zeichenhaft aufgefaßt werden; weshalb Lyrik die Textgattung ist, gegenüber der die Bereitschaft zur Aktualisierung subtiler Bezugnahmemöglichkeiten zwischen visueller und spachlicher Textebene besonders stark ausgeprägt ist. Die Publikationsgeschichte der Gedichte des Zyklus ist teilweise kompliziert. Einige Gedichte, wie z. B. Ihr Mädchen seid wie die Kähne, sind unabhängig voneinander in mehreren Sammlungen erschienen (Stahl 1978, 47). Als einer von vier Zyklen sind die Lieder der Mädchen erstmals 1899 in der Sammlung Mir zur Feier bei Georg Heinrich Meyer, Berlin, in der Ausstattung Heinrich Vogelers erschienen. Bereits die zweite Ausgabe dieses Buches erschien 1909 unter dem Titel Die frühen Gedichte im Insel Verlag, Leipzig (s. dazu Stahl 1978,113f.). 193
die Werke um ein bestimmtes Grundthema zentriert sind und dieses Grundthema unter jeweils neuem Ansatz so entfalten, daß es in seinen verschiedenen Aspekten und Perspektiven expliziert und gleichsam >kreisförmig< abgeschritten wird, so daß es am Ende auf einer höheren Sinnebene den Anfang wiederaufnimmt (Metzler Literaturlexikon 1984,485).
Als charakteristische kompositioneile Gestaltungsprinzipien literarischer Zyklen gelten fast ausschließlich sprachlich-stilistische und sprachlich-inhaltliche Verknüpfungsprinzipien wie Wort-, Motiv-, Reimwiederholungen, Leitworte und -motive, inhaltliche Fortsetzungen, dialogische Formen u.a. (Meuthen 1983, 22; Metzler Literaturlexikon 1984, 485). Ich möchte hingegen aufzeigen, welche kompositionellen Gestaltungsprinzipien sich auf der typographisch-formalen Ebene benennen lassen, die die Zyklusstruktur anzeigen. Ich behaupte, daß die typographische Komposition für das Erkennen der Zyklusstruktur der Lieder der Mädchen entscheidender ist als sprachliche Signale - zumindest in der Textausgabe, die der Analyse zugrunde gelegt ist.57 In einem Buchzusammenhang ist ein Text stets eingebunden in »Paratexte«; damit sind alle jene »Begleittexte« gemeint, die einem Text in Buchform »auf seinem Weg durch die Öffentlichkeit zur Seite gehen« (Genette 1989, 7). Die dispositive Ordnung des Buches ist vielfältig binnendifferenziert. Titelei, Impressum, Motto, Vorwort, Inhaltsverzeichnis u. ä. stellen eigene Textsorten dar - mit je unterschiedlichem Urheber: Verleger (Impressum), Typograph (Titelei), Autor (Motto). Für sie gibt es nicht nur eigene typographische Formationsregeln (s. dazu Kap. 5.1.1), sondern auch Normen der sequentiellen Einbindung in den Buchzusammenhang. Die erste und zweite Seite eines Buches, das Vorsatzblatt, ist in der Regel unbedruckt. Es folgt der Schmutztitel auf der dritten Seite mit dem Kurztitel. Vor dem Haupttitel, der zumeist auf der fünften Buchseite anzutreffen ist, finden sich üblicherweise der Reihentitel und/oder das Impressum mit verlegerischen und herstellungsbezogenen Angaben. Der Haupttitel benennt traditionellerweise Autor, Langtitel und Verlag. Hier ist auch der angestammte Ort für das Frontispiz, die Titelillustration oder Titelvignette. Es folgen normalerweise noch Inhaltsverzeichnis, Vorwort und Motto, bevor der eigentliche Textverkürzten< paratextuellen Einführung erhält der Haupttitel um so größeres Gewicht für die Errichtung des Deutungshorizonts des Lesers. Benannt sind hier Autor, Buchtitel, Erscheinungsjahr, Erscheinungsort und Verlagsname. Der Titel selbst »Frühe Gedichte« gibt keinerlei thematische Hinweise; es wird nur die allgemeinste Gattungsklassifikation benannt, die gemeinhin in einem Untertitel angemerkt wird. Die Gedichte sind nur durch die Zeitangabe »früh« nä196
her qualifiziert. Damit ist der Bezug zum Autor und seiner (schriftstellerischen) Biographie betont. Auch visuell-typographisch wird die enge Verbindung von Autor und Werk hervorgehoben. Auffällig ist, daß Autorname und Texttitel in gleichem Schriftschnitt und gleicher Schriftgröße flächensyntaktisch eng zueinander gruppiert sind. Konnotative Bedeutung erlangt dies deshalb, weil jeder Leser zahlreiche Titelgestaltungen kennt, in denen Texttitel und Autorname entweder durch Schriftgrad oder Schriftschnitt optisch voneinander abgesetzt sind, oder die Anordnung den Buchtitel stärker in die Fläche >greifen< läßt, um diese optisch zu strukturieren. Hier hingegen wirken Autorname und Titel als Verbund und sind betont hoch auf die Seite gesetzt. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die auffällig tiefe Stellung der verlegerischen Angaben am unteren Satzspiegelrand. Durch den kleineren Schriftgrad einerseits deutlich marginalisiert, erhalten die Angaben aus mehrerlei Gründen dennoch erhebliches visuelles Gewicht. Auch sie sind, wie Autorname und Texttitel, in Versallettern gesetzt. Wie diese sind sie zweizeilig angeordnet und zueinander mittelachsial gruppiert. Dies ist um so auffälliger, als Verlagsname, Verlagsort und Erscheinungsjahr in mittelachsialen Titeltypographien gern in drei Zeilen angeordnet werden, um den variationsreichen Zeilenfall als formales Gestaltungsmittel der Textseite zu nutzen. Im vorliegenden Fall sind derartige ausdrucksvariierende Formbildungen zurückgenommen zugunsten betonter Gleichförmigkeit. Visuell vereinheitlichende Wirkung hat auch die schlichte Zierlinie, die den Textblock optisch auf gleiche Breite zum oberen Titelteil bringt. Es entsteht der Eindruck eines Fundaments, das die Seite >trägtgehoben< und im wörtlichen Sinne >entrückt< erscheinen. Die polare Entgegensetzung der Verlagsangaben am unteren Satzspiegelrand ruft wertbesetzte Vorstellungsmuster auf, die kulturtypisch mit dem Oben/Unten-Gegensatz assoziiert sind. Die Schriftkomposition kann als Zeichen der >Enthobenheit< der Gedichte in bezug auf (weltlichen) Ort und (historische) Zeit, die mit den Verlagsangaben benannt sind, gedeutet werden, denn wir lokalisieren eine physisch-gebundene, vergängliche Seinssphäre in einem abstrakten Unten; hingegen imaginieren wir zeitlose, transzendentale >Geistigkeit< in einem abstrakten Oben. Die konnotativen Codierungen anderer typographischer Textmerkmale der Titelgestaltung bekräftigen diese Textdeutungen: Die Verbindung von Versalsatz und lateinischer Ziffernschreibweise stellt formal die Nähe zu antiken Steininschriften her. Dies >entrückt< den Text der historischen Gegenwart und stellt ihn in die Reihe des >großen< abendländischen Kultur- und Kunstschaffens, das als zeitlos gültig kanonisiert ist.58 Versalsatz und mittelachsiales Satzschema lassen sich im
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Rilke strebte für seine Werkausgaben tatsächlich soziale und zeitliche Universalisierung der Ausdruckswirkung an. So forderte er beispielsweise den völligen Verzicht auf illustrativ-ornamentale Buchschmuckbeigaben für die Ausgabe seines Novellenbandes Die Letz197
Kunstkontext sowohl als codierte Reizmuster als auch als Funktions-Zeichen gleichgerichtet semantisieren mit Begriffen wie geistige Größe, Erhabenheit, Zeitlosigkeit. Insgesamt drücken sich in der Titelgestaltung ein stolzes Werkprogramm und hoher Dichtungsanspruch aus.59 Einen Buchtitel nimmt der Leser immer auch als Gesamtbild wahr. Dabei fällt in erster Linie die Leere in der Mitte des Blickfeldes auf. Die beiden Textblöcke des Titelblattes umrahmen die leere Seitenfläche. Dieser optische Rahmenschluß rückt die unbedruckte Fläche ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Unbedruckt bleibt hier bezeichnenderweise genau der Teil der Seitenfläche, auf dem die Gedichte auf den folgenden Seiten abgedruckt sind. Das Weiß der Titelseite wird damit zum Platzhalter, zum Stellvertreter, zum Zeichen für die Gedichte, die der Buchtitel ankündigt. Damit erfüllt der Haupttitel seine paratextuelle Funktion als Ankündigung des Buchinhalts mustergültig: Er verweist den Leser auf den folgenden >eigentlichen< Textteil und macht darauf aufmerksam, daß der Buchraum (nur) der Präsentationsrahmen ist, innerhalb dessen die Gedichte >erscheinenRahmung< des Haupttitels setzt sich im Innenteil des Buches auf unterschiedlichen formalen und inhaltlichen Ebenen fort. Der
ten (1901), denn: »Sie geben dem Buch etwas Zeitliches, versehen es mit der Marke einer bestimmten Mode« (zit. aus Scharffenberg 1953, 176). An die Skeptiker gerichtet, die dies als maßlose Überinterpretation empfinden, sei an dieser Stelle angemerkt: Überinterpretation von Rilkes (lyrischem) Werk hat Tradition; für Deutungen auf der Sprachebene - und mögen sie noch so subtil sein - sind in der Literaturwissenschaft praktisch keine Grenzen gesetzt. Insofern setze ich nur fort, was in der RilkeForschung Usus ist, beziehe aber mit der äußeren Form eine Textebene in die Deutung ein, die bei der Rilke-Exegese sonst ausgeblendet bleibt. Selbst die Zierlinie, die im Kolumnentitel Verwendung findet, entspricht in Länge und Strichstärke exakt der auf dem Titelblatt. 198
R T T. K F.
FRÜHE GEDICHTE ICH war ein Kind und träumte viel und hatte noch nicht Mai ; da trug ein Mann sein Sattenspiel an unserm Hof vorbei. Da hab ich bange aufgeschaut: „O Mutter, laß mich frei . . ." Bei seiner Laute erstem Laut brach etwas mir entzwei. Ich wußte, eh sein Sang begann: Es wird mein Leben sein. Sing nicht, sing nicht, du fremder Mann: Es wird mein Leben sein. Du singst mein Glück und meine Müh, mein Lied singst du und dann : mein Schicksal singst du viel zu früh, so daß ich, wie ich blüh und blüh,— es nie mehr leben kann. Er sang. Und dann verklang sein Schritt, er mußte weiterziehn; und sang mein Leid, das ich nie litt, und sang AfcthNGWW.Bki mir entglitt, und HUlllll flUCil Inli und 1
1 lAICU Iflit
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Abb. 56 Montage von Haupttitel und dem Gedicht »Ich war ein Kind und träumte viel« Rilke. Frühe Gedichte. Leipzig: Insel Verlag, 1928
Kolumnentitel wiederholt den Buchtitel auf jeder Druckseite und hält so die textzyklusübergreifende Werkeinheit im Bewußtsein. Um so interessanter ist die Frage, wie die Abgrenzung und die Verbindung der Gedichtzyklen, die in diesem Band versammelt sind, typographisch und sprachlich angezeigt werden. Ein Zwischentitel (Abb. 57) und ein Mottovers (Abb. 58) markieren sowohl auf sprachlicher als auch auf typographischer Ebene die Abgrenzung der Lieder der Mädchen zum vorausgegangenen Textzyklus.61 Der Versalsatz und die mittige Stel-
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Verstärkt wird die Grenzfunktion von Zwischentitel und Mottovers durch die Tatsache, da(3 die Seiten, auf denen sie abgedruckt sind, keine Kolumnentitel tragen (und damit auch die Seitenzählung unterbrochen ist).
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FRÜHE GEDICHTE
ICH war ein Kind und träumte viel und hatte noch nicht Mai; da trug ein Mann sein Saitenspiel an unserm Hof vorbei. Da hab ich bange aufgeschaut: „O Mutter, laß mich frei...« Bei seiner Laute erstem Laut brach etwas mir entzwei.
LIEDER DER MÄDCHEN
Ich wußte,eh sein Sang begann: Es wird mein Leben sein. Sing nicht,sing nicht,du fremder Mann: Es wird mein Leben sein. Du singst mein Glück und meine Müh, mein Lied singst du und dann: mein Schicksal singst du viel zu froh, so daß ich,wie ich blüh und blüh,» es nie mehr leben kann. Er sang. Und dann verklang sein Schritt, — er mußte weiterziehn; und sang mein Leid, das ich nie litt, und sang mein G l (ick, das mir entglitt, und nahm mich mit und nahm mich mit — und keiner weiß wohin . .
Abb. 57 Zwischentitel »Lieder der Mädchen« - Rilke. Frühe Gedichte. Leipzig: Insel Verlag, 1928
lung auf der Seitenfläche zeigen nicht nur einen Einschnitt innerhalb der Gedichtabfolge an, sondern sie verweisen gleichzeitig auch auf den Haupttitel zurück: Projizierte man Zwischentitel oder Mottovers auf die Titelseite, so fügten sie sich nach gängigen flächentypographischen Harmonievorstellungen in die Fläche ein, die der Haupttitel so betont ausspart. Diese Staffelung von Titeleien baut gewissermaßen perspektivische Tiefe< auf die einzelnen Gedichte hin auf und zeigt so ihre zyklische Einheit an. Wie stark die Abgrenzung des Zyklus durch die buchtypographische Gestaltung von Zwischentitel und Mottovers markiert ist, wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß es durchaus möglich wäre, den Zwischentitel über den Mottovers zu setzen. Der Mottovers selbst wiederum ließe sich ohne weiteres in der Grundschrift setzen und innerhalb des Satzspiegels auf die gleiche Höhe wie die übrigen Gedichte, wäre dann allerdings von diesen nicht mehr zu unterscheiden! 200
FROHE GEDICHTE
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JETZT sind sie alle schon selber Frauen. Haben Kinder und Traume verloren und Kinder geboren und Kinder geboren, und sie wissen: in diesen Toren werden wir alle in Gram ergrauen. IHR MADCHEN SEID WIE DIE GARTEN AM ABEND IM APRIL. F R Ü H L I N G AUF VIELEN FAHRTEN, ABER NOCH NIRGENDS EIN ZIEL.
Alles Ihre hat Raum im Haus. Nur das Ave-Maria-Läuten hat ihren Herzen noch ein Bedeuten, und dann kommen sie mild heraus. Wenn die Wege zu wachsen beginnen, kühl aus der blassen Campagna ziehts: ihres alten Lächelns entsinnen rie sich wie eines alten Lieds . . .
Abb. 58 Mottovers »Lieder der Mädchen« - Rilke. Frühe Gedichte. Leipzig: Insel Verlag, 1928
Der Zwischentitel fungiert aber nicht ausschließlich als Signal der Trennung, sondern gleichzeitig auch als Zeichen der Verbindung zum vorangegangenen Zyklus, denn dieser ist in der gleichen Form eingeleitet worden. Für die Gelenkfunktion des Zwischentitels sind nicht allein die Schriftform und die Stellung auf der Buchseite relevant, vielmehr spielt hierbei auch die räumliche Organisation des Buches als Seitenverbund und dabei insbesondere das Verhältnis der (Doppel-) Seiten zueinander eine entscheidende Rolle: Unsere Buchform, die uns selbstverständlich geworden ist, geht auf den spätantiken und mittelalterlichen Kodex zurück,62 der seine entwicklungsgeschichtliche Vorgängerin, die Buchrolle - sieht man von reli»Ein Kodex besteht aus mehreren gefalteten, ineinandergelegten und gehefteten Pergament- oder Papierblättern (Lagen), die zwischen Holzdeckeln mit Leder- oder Metallüberzug befestigt sind« (Metzler Literaturlexikon, 1984,230). 201
IHR MÄDCHEN SEID WIE DIE GARTEN UEDER DER MADCHEV
A
" ^D teilt sich< in rechte und linke Seite. Wir sind gewohnt, sie als visuelle Einheit und Abfolge zu betrachten. Gleichzeitig unterscheiden wir Vorderseite (Recto) und Rückseite (Verso) eines Blattes. Das heißt, wir haben es mit einer >doppelten Einheit< zu tun: die Doppelseite des aufgeschlagenen Buches und die fortgesetzte Seitenfolge. Eine Buchseite impliziert deshalb immer auch den Seitenwechsel: das Umblättern. Jedes Buch ist gleichzeitig flächig arrangierter Text und spezifisch räumlich organisierter Buchkörper. Innerhalb eines Buches treffen also sprachliche, typographische und räumliche Ordnungsprinzipien aufeinander. Insbesondere der Seitenwechsel nimmt Einfluß auf die Wahrnehmung und Deutung des Textverlaufs. Im einfachsten Fall bezeichnet ein Seitenumbruch das Ende einer größeren Sinneinheit und gleichzeitig den Anfang eines neuen Text202
FRÜHE GEDICHTE
GEH ich die Gassen entlang, da sitzen alle die braunen Mädchen und schauen und staunen hinter meinem Gang. Bis eine zu singen beginnt und alle aus ihrem Schweigen sich lächelnd niederneigen: Schwestern, wir müssen ihm zeigen, wer wir sind.
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KÖNIGINNEN seid ihr und reich. Um die Lieder noch reicher als blühende Baume. Nicht wahr,der Fremdling ist bleich? Aber noch viel, viel bleicher sind seine Lieblingsträume, sind wie Rosen im Teich. Das empfandet ihr gleich: Königinnen seid ihr und reich.
Abb. 60 »Lieder der Mädchen« - Rilke. Frühe Gedichte. Leipzig: Insel Verlag, 1928
abschnitts. Wie sehr die konnotativen Implikationen von Seitenumbrüchen abhängig sind von deren Lage auf der linken oder rechten Doppelseitenhälfte und der Vorder- und Rückseite einer Seitenfolge, kann am vorliegenden Textbeispiel deutlich gemacht werden: Der Stellung des Zwischentitels auf der rechten Hälfte der Doppelseite fordert den Leser auf, umzublättern und die Lektüre fortzusetzen. Die Kursivierung der Lettern verstärkt den Zug nach rechts (in Leserichtung) auf die Folgeseite. Zugleich sind wir gewohnt, die Doppelseite eines Buches als Einheit aufzufassen, so daß man neben der - durch den Zwischentitel deutlich markierten Trennung auch eine Verbindung zum vohergehenden Textzyklus registriert. Wäre der Zwischentitel hingegen über den Mottovers auf die nächste Seite gesetzt - und bliebe die rechte Doppelseitenhälfte unbedruckt -, wäre die Abgrenzung der Gedichtzyklen sehr viel stärker betont. Eine derartige Textsequenzierung würde weit weniger Anlaß bieten, die beiden Gedichtzyklen inhaltlich aufeinander zu bezie203
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FRÜHE GEDICHTE
i singen:
DIE Zeit, von der die Matter sprachen, fand nicht zu uniern Scblafgemachen, und drin blieb alle: glatt und klar. Sie sagen uns, daß sie zerbrechen in einem sturmgejagten Jahr. Wir wissen nicht: Was ist das,Sturm? Wir wohnen immer tief im Turm und hören manchmal nur von fern die Wälder draußen weh n; und einmal blieb ein fremder Stern bei uns stehn.
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MHdthert singen: WIR haben lange im Licht gelacht, und jede hat einer jeden Nelken und Reseden festlich wie einer Braut gebracht und war ein Ritsein und Reden. Dann hat sich mit dem Namen der Nacht langsam die Stille besternt. Da waren wir wie aus allem erwacht und weit voneinander entfernt: haben die Sehnsucht, die traurig macht, wie ein Lied gelernt...
Und wenn wir dann im Garten sind, so zittern wir, daß es beginnt, und warten Tag um Tag — aber nirgends ist ein Wind, der uns biegen mag.
Abb. 61 »Lieder der Mädchen« - Rilke. Frühe Gedichte. Leipzig: Insel Verlag, 1928
hen. Noch nachhaltiger aber verändert die Anordnung von Zwischentitel und Mottovers auf einer gemeinsamen Doppelseite (Abb. 59) die Wahrnehmung und Deutung des Textgefüges. Die Doppelseite wirkt wie ein in sich (ab-) geschlossener Textzusammenhang; sie wird zur >Texttafelvereinzeln< und gegen das nachfolgende und vorangehende visuell deutlich abgrenzen. Die Anordnung der Gedichte auf der Blattfläche läßt sich vielfältig semantisieren. Die typographische Gestaltungsentscheidung, nie zwei Gedichte gemeinsam auf eine Seite zu setzen, drückt eine spezifische Werthaltung gegenüber dem einzelnen Gedicht aus: denn insbesondere dann, wenn ein Gedicht als autonome Werkeinheit erachtet wird, ist der Einzelstellung auf einer Buchseite der Vorzug vor alternativen Möglichkeiten der Textanordnung zu geben.64 Der außergewöhnlich breite untere Seitenrand ist nicht mehr nur pragmatisch funktional - als Grifffläche für das Halten des Buches. Vielmehr entwickelt das auffällige Verhältnis von Textstand und umrahmendem Seitenrand zeichenhafte Qualität: Zunächst einmal wirken die einzelnen Gedichte innerhalb des Satzspiegels gehoben. Diese räumliche Eindruckswirkung läßt sich durch konnotative Reihenbildung auf den literarischen Status der Gedichte übertragen: die Gestaltmerkmale des Satzspiegels qualifizieren die Gedichte dann als gehobene Kunstliteratur. Diese semantische Verschiebung gelingt deshalb so leicht, weil Textmerkmale wie Seitenformat und Satzspiegel als Funktions-Zeichen codiert sind. Die soziale oder ästhetische Wertschätzung, die ein Text gesellschaftlich erfährt, hat stets auch ihren Ausdruck im materiell-ökonomischen Wert seiner Drucklegung gefunden (s. dazu auch Kap. 6.2.2.3). Großzügige Seitenränder verteuern ein Buch in der Herstellung und sind deshalb seit jeher kanonisch >wertvollen< Texten vorbehalten geblieben. Format und Satzspiegel eines Buches können deshalb mit konnotativen Inhaltseinheiten wie wertvoll oder erlesen besetzt sein 65 und als Zeichen von literarischem >Höhenkamm< fungieren, wie im Fall der vorliegenden Rilkeausgabe, deren Gestaltmerkmale sich mit Begriffen wie Erhabenheit, Entrückung und Aura beschreiben lassen.66
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Die Formationsregeln des typographischen Dispositivs Lyrik erlauben zahlreiche gestalterische Variationen, insbesondere bei der Füllung des Satzspiegels. Liegen beispielsweise sehr unterschiedlich lange Gedichte vor, so können diese jeweils auf einer eigenen Seite plaziert werden, was sehr ungleichmäßige Satzbilder zur Folge hat. Um dem entgegenzuwirken, lassen sich Gedichte so arrangieren, daß sie den Satzspiegel möglichst gleichmäßig ausfüllen. Dabei können im Extremfall Seitenumbrüche innerhalb einzelner Gedichte in Kauf genommen werden (vgl. dazu Leitmeier 1958,12). Die konnotative Semantisierung von Seitenaufbau und Textanordnung kann in einem weiteren Deutungsschritt bezogen werden auf die Gedichte selbst und deren inhaltliche Leitmotivik: Lieder, Mädchen, Frühling, Frühling des Lebens, (sexuelle) Reifezeit, unerfüllte Sehnsucht und Erwartung. Es eröffnen sich Möglichkeiten für die Konstruktion sehr vermittelter interpretativer Bezugnahmen von Textform und Textinhalt: assoziative Verbin205
FRÜHE GEDICHTE
FRÜHE GEDICHTE
DIE Mädchen am Gartenhinge haben lange gelacht und mit ihrem Gesänge wie mit weitem Gange sich müd gemacht.
Eint singt: ICH war in ferner Fremde Kind, bis ich mich: arm und zart und blind — aus meinem Schämen schlich; ich warte hinter Wald und Wind gewiß schon lang auf mich.
Die Mädchen bei den Zypressen zittern: die Stunde beginnt, da sie nicht wissen, wessen alle Dinge sind.
Ich bin allein und weit vom Hau» und sinne still: wie seh ich aus? — Fragt jemand, wer ich sei? ... Gott, ich bin jung und ich bin blond und habe ein Gebet gekonnt und geh gewiß umsonst umsonnt und fremd an mir vorbei ...
Abb. 62 »Lieder der Mädchen« - Rilke. Frühe Gedichte. Leipzig: Insel Verlag, 1928 Wurden zuletzt typographische Textmerkmale betrachtet, die vornehmlich die >Vereinzelung< der Gedichte markieren, so sollen im folgenden typographische Formbildungen betrachtet werden, die die Zusammengehörigkeit der Einzelge-
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dungen zur Unberührtheit und Jungfräulichkeit der Mädchen lassen sich herstellen u.a.m. Unberührtheit beispielsweise umfaßt zahlreiche konnotative Begriffsaspekte, die auf das Weiß einer unbedruckten Blattfläche gleichermaßen bezogen werden können wie auf die kulturellen Vorstellungsmuster von Jungfräulichkeit. Rilke selbst hat die Ausdruckswirkungen, die sich aus der dispositiven Formgebung eines Textes ergeben, als wesentlichen wirkungsästhetischen Faktor seiner Dichtung beschrieben. So führt er 1901 in einem Brief an Juncker im Zusammenhang mit Fragen der typographischen und buchgestalterischen Ausstattung der Ausgabe von Buch der Bilder aus: »[...] denn wie das Wesen der Prosa in einer langen Zeile, einem breiten Satzspiegel und still, unauffällig dahinfließenden Buchstaben besteht, so wird das Charakteristikum von
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dichte innerhalb des sprachlich-thematischen Zyklusrahmens anzeigen. In einer anderen Textausgabe der Frühen Gedichte (1918 verlegt bei Insel, gedruckt in der Offizin W. Drugulin, Leipzig) wird die Druckfarbe als Zeichen des thematischen Zusammenhangs eingesetzt: Der Zwischentitel ist dort grün abgesetzt, in derselben Druckfarbe wie die Gedichtinitialen. So markieren die Initialen nicht nur jeweils einen neuen Gedichtanfang, sondern stellen zugleich visuell den Bezug zum Zyklustitel her und halten den gedichtübergreifenden thematischen Bezug in jedem einzelnen Gedicht präsent. Die grüne Druckfarbe erlaubt darüber hinaus weitere FormInhalt-Bezugnahmen: Zum einen steigert die bildhaft-ästhetische Ausdrucksqualität des Zweifarbendrucks den Wert des Buchganzen nochmals. Zum anderen konnotiert die Farbe Grün zentrale thematische Motive des Zyklus, wie Frühling oder Jugend. Das zwölfte der insgesamt siebzehn Lieder der Mädchen unterscheidet sich sprachlich und typographisch von den vorangegangenen Gedichten. Es beginnt mit der Textzeile »Mädchen singen:« (Abb.61). Dieser >Metatext< wird im folgenden Gedicht auf der gleichen Doppelseite wiederholt und findet sich in den drei letzten Gedichten des Zyklus in Variationen wieder: »Eine singt:« (Abb.62), »Und singt:« (Abb. 63). Auktoriale Sprecherangaben wie diese sind in lyrischen Texten sehr ungewöhnlich. Sie lassen die nachfolgenden Verse wie Zitate erscheinen. Die Ausdrücklichkeit, mit der das Lied der Mädchen eingeführt wird, irritiert um so mehr, als auch in vorangegangenen Gedichten die Mädchen innerhalb des Textverlaufs zitathaft zu Wort kamen. Diese Textstellen aber sind in den übrigen Versverbund sprachlich und typographisch >geglättet< eingebunden; 67 ganz anders hier: der Kursivsatz hebt die betreffenden Verszeilen vom übrigen Textfluß deutlich ab. Der so geschaffene >Binnentext< errichtet eine zusätzliche Aussageebene >über< den einzelnen Gedichten. Sprachlich stellen diese Texteinschübe Paraphrasen des Zyklustitels dar und rufen die übergreifende Thematik der Gedichtfolge ins Gedächtnis. Die kursive Auszeichnungsschrift stellt typographisch den Rückbezug zum Zwischentitel Lieder der Mädchen her, dem bisher einzigen kursivierten Textelement innerhalb des Zyklus. Die inhaltliche Bezugnahme auf den Zyklustitel zeigt an, daß sich an dieser Stelle die Verheißung des Zyklustitels erfüllt: Jetzt singen die Mädchen wo bisher (nur) das Autor-Ich (von ihnen) gesprochen hat. Somit veranlassen die abgesetzten Einleitungsverse, die betreffenden Gedichte als inhaltlichen Höhepunkt des Textzyklus zu lesen.
Versen am besten ausgedrückt durch das Stehen, Monumentalwerden auch der kleinsten Worte. Es gibt nichts Unwichtiges, nichts Unfestliches da. Jedes Wort, das mitgehen darf im Triumphzug des Verses, muß schreiten, und das kleinste darf dem grö!3ten nicht nachstehen an äußerer Würde und Schönheit« (zil. aus Scharffenbcrg 1953, 182). »und dann liebt ihr ihn: Schwestern, jetzt sind wir Schwäne« »da sagen sie sich: wunderwo wir hingeraten sind« 207
FRÜHE GEDICHTE
Und singt; Es müßte mich einer führen, aber nicht der Wind i weil der Orte und Türen so viele sind. Wen soll ich um alles fragen; soll ich immer nur gehn und es wie im Traum ertragen, daß die Berge und Burgen ragen an dem Saum der fremden Seen i . . .
FRÜHE GEDICHTE
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Unti i tagt: WIR sind uns alle schwesterlich. Aber Abende sind, da wir frieren und einander langsam verlieren, und eine jede möchte ihren Freundinnen flüstern: Jetzt furchtest du dich... Die M fitter sagen uns nicht, wo wir sind, und lassen uns ganz allein, wo die Ängste enden und Gott beginnt, mögen wir vielleicht sein . . .
Abb. 63 »Lieder der Mädchen« - Rilke. Frühe Gedichte. Leipzig: Insel Verlag, 1928
Die Texteinschübe »Mädchen singen:«, »Eine singt:«, »Und singt:« weisen zusätzliche Formmerkmale auf, die weitere Deutungen auszulösen vermögen: Die Zeilen sind so weit an den äußersten rechten Rand des Satzspiegels gestellt, daß sie nach üblichen Harmonievorstellungen störend und unschön wirken. Die skizzierte Bedeutungsfunktion aber könnten die Einleitungsverse auch erfüllen, wenn sie wie die übrigen Verszeilen linksbündig gesetzt wären; die ungewöhnliche Ortslage der Verszeilen hat in erster Linie einen wahrnehmungspsychologischen Effekt. Verstärkt durch die rechtsgeneigte Kursivierung, schafft die Randständigkeit der Zeilen einen so starken Zug in Leserichtung, daß der Blick unwillkürlich über die Buchmitte auf die nächste Doppelseitenhälfte gelenkt wird (und über deren Seitenrand hinaus auf deren Rückseite verweist) - noch bevor die Lektüre der normalen Oben/UntenBlickrichtung folgt. So wird die Aufmerksamkeit auf die formale Gemeinsamkeit der Gedichte gelenkt. Der Leser wird sie in der Folge auch als inhaltlich eng zusam208
mengehörig betrachten und in der Deutung entsprechend stärker aufeinander beziehen als andere Einzelgedichte.68 Im weiteren Textverlauf lenkt gerade die formale Ähnlichkeit der Textzeilen »Mädchen singen« / »Eine singt« die Aufmerksamkeit auf deren inhaltlichen Unterschied. Durch typographische Auszeichnungsverfahren gelingt es also, semantische Relationen zwischen sprachlichen Einheiten herzustellen, die sprachlich-syntaktisch in keinem Bezug stehen. Der Leser wird bei der Deutung der zugeordneten Lieder versuchen, die Unterscheidung von Gruppe und Einzelfigur in den Liedinhalten wiederzufinden. Der Einleitungsvers »Eine singt:« bezeichnet die Herauslösung der Mädchen aus dem Gruppenzusammenhang; auf der darunterliegendem Textebene ist die Sehnsucht nach dem Mann/Geliebten ausgedrückt. Aufeinander bezogen, wird ein narrativer Zusammenhang erkennbar: es wird das künftige Schicksal der Mädchen als (Ehe-) Frau und Mutter vorbereitet, mit dem der Zyklus anhob und dessen thematische Schließung nun beginnt.69 In der Sekundärliteratur zu Rilkes Lyrik wird Typographie in aller Regel nur im Zusammenhang mit Satzzeichensetzung und Spationierungen thematisiert, durch deren Einsatz Schweigen typographisch visualisiert wird (z.B. Lorenz 1989).70 Schweigen hat in Rilkes Lyrik als spezieller lyrischer >Aussagemodus< eine wichtige poetologische Funktion im Bemühen des Autors, an das Unsagbare heranzureichen. Im vorliegenden Gedichtzyklus bezeichnen Satzzeichen nicht nur Schweigen und Stille, sondern vermögen auch textuelle Bezüge zwischen einzelnen Gedichten innerhalb der Zyklusfolge herzustellen: Acht der siebzehn Lieder der Mädchen enden nicht mit einem einfachen Punkt, sondern mit einer Punktfolge ».. .«.71 Mit drei Punkten werden (z. B. in wissenschaftlicher Zitierweise) üblicherweise Auslassungen typographisch angezeigt (s. Kap. 4.1.1.2.2). Sie repräsentieren gerade nicht sprachloses Schweigen, sondern das Fehlen der (materiellen) Vergegenständli-
Beim Lesen der Textzeile »Eine singt« dürfte sich der Leser an die entsprechende typographische Einleitung des vorangegangenen Gedichts erinnern. Der typographische Rückverweis kann den Leser unter Umständen veranlassen, das betreffende Gedicht ein zweites Mal zu lesen. Die ausgezeichneten Textzeilen »Mädchen singen:« / »Eine singt:« / »Und singt:« erlauben darüber hinaus Bezugnahmen zwischen der konnotativen Semantik von Textform und Textinhalt: So läßt sich der visuelle Zug der kursiven Schriftzeichen interpretativ auf den (zeitlichen) Verlauf des Lebens oder die unerfüllte (sexuelle) Sehnsucht beziehen, die in den Gedichten anklingt - Themen, die Rilke vor 1900 bevorzugt im Motiv der Mädchen metaphorisiert (s. dazu Pagni 1984, 27f.; 158ff.; Stahl 1978,115; auch Lorenz 1989,256). Die Anmerkungen hierzu bleiben in der Sekundärliteratur häufig höchst allgemein und lassen eine Detailanalyse vermissen. So liest man bei Lorenz beispielsweise: »Elliptische Sprachgesten und Schweigen sind Komplementärphänomene: Ein unerschöpfliches Reservoir an metasprachlichen, deiktischen und typographischen Techniken steht Autoren zur Verfügung, die auf Schweigen als den extremsten Modus indirekter Mitteilung zurückgreifen« (Lorenz 1989, 245). Eine differenzierte Analyse der typographischen Techniken leistet der Autor aber nicht. Nur zweimal findet sich eine Punktfolge innerhalb der Gedichte; auch hier jeweils in einer >Grenzpositionsinnender Stille< beschreiben: Erinnerung, sehnsuchtsvolle Erwartung, fragendes Selbstgespräch u.a. Der Gedichtinhalt verweist an diesen Stellen auf innerliche, mentale Repräsentationen des jeweiligen lyrischen Subjekts (Autor-Ich, Mädchen). Im ersten Gedicht des Zyklus ist eine semantische >Füllung< der Auslassung relativ einfach möglich: ihres alten Lächelns entsinnen sie sich wie eines alten Liedes...
Ähnlich im fünften Gedicht: und eine jede sehnt sich: wer ist unser Bräutigam ...
Vielschichtiger stellt sich die Bedeutung der Auslassungszeichen an anderer Stelle dar: Die Lieder kamen, wie das Sehnen kam, und werden langsam mit dem Bräutigam vergehn ...
Hier kann die Punktfolge durch den zukünftigen, noch unbekannten Bräutigam >gefüllt< werden; sie läßt sich aber genausogut auf das Vergehen der Lieder und der Sehnsucht beziehen, die im Text benannt sind. Der Vergleich zeigt: die Auslassungszeichen sind an Textstellen angebracht, in denen Zeit thematisch wird - sei es der Rückblick auf Vergangenes oder die Andeutung von Kommendem. Die Punktfolgen stellen so einen zeitlichen Bezug zwischen den Gedichten her. An anderer Stelle sind die Auslassungszeichen im Zusammenhang von räumlicher Metaphorik eingesetzt: Da waren wir wie aus allem erwacht und weit voneinander e n t f e r n t : haben die Sehnsucht, die traurig macht, wie ein Lied gelernt... [Herv. S.W.] und das sind die ersten Gesten, die sie im Gefühl von Festen ihrem Traum entgegen tun ... [Herv. S.W.] und geh gewiß umsonnt und fremd an mir vorbei ... [Herv. S.W.]
Die Satzzeichenfolge kann durch Form-Inhalt-Bezugnahmen zum konnotativen Ausdruckszeichen räumlicher Begriffe wie Ferne, Annäherung u. ä. werden. Auslas210
sungs- bzw. Fortsetzungszeichen sind selbst räumlich dimensioniert und entwickeln unabhängig vom sprachlichen Textinhalt optische Raumwirkung: 72 Die Wahrnehmung der Zusammengehörigkeit zweier Gedichte auf einer Doppelseite verändert sich in Abhängigkeit von der Art der Schlußmarkierung. Der Vergleich der Doppelseiten in Abb. 60 und Abb. 63 zeigt, daß die mit einfachem Punkt abgeschlossenen Textseiten in sich deutlich geschlossener wirken als jene, die mit einer Punktfolge enden: ein solcherart >offener< Schluß fordert zum Umblättern der Buchseite auf bzw. betont die Zusammengehörigkeit von rechter und linker Doppelseitenhälfte. So gesehen überrascht es nicht, daß das Auftaktgedicht des Zyklus mit einer Punktfolge schließt; bemerkenswert ist hingegen, daß das Schlußgedicht ebenfalls diese typographische >Öffnung< vollzieht. An dieser Textstelle erweist sich die Punktfolge als pragmatisch und semantisch mehrfach besetztes Element, das unterschiedliche Interpretantenbildungen ermöglicht. Sie öffnet den Zykluszusammenhang visuell und stellt wahrnehmungspsychologisch den Übergang und die Verbindung zum nachfolgenden Zyklus her. Zugleich ist die Punktfolge an dieser Stelle auf die erzählte Zeit beziehbar und verweist dann auf den weiteren Lebensverlauf der Mädchen, wodurch das Zyklusende inhaltlich an den Textauftakt anknüpft (»Jetzt sind sie alle schon Frauen«): die zyklische Textstruktur schließt sich. Genausogut aber lassen sich die Auslassungs- bzw. Fortsetzungszeichen auf den unmittelbaren inhaltlichen Kontext beziehen (»wo die Ängste enden und Gott beginnt, / mögen wir vielleicht sein ...«), wobei sie als Zeichen dieses absoluten, unaussprechlichen Ortes gedeutet werden können. Die Punktfolge wird zum sinnerzeugenden typographischen Zeichenmittel; wobei Sinn hier das »Öffnen des kodifizierten Bedeutungsgehaltes« meint (Sparr 1989, 95).73 Die typographischen Zeichenmittel bleiben mehrdeutig, denn sie eröffnen ein semantisches >Möglichkeitsfeld< für wechselnde Bezugnahmen von typographischer Form und sprachlichem Inhalt.
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Am Ende eines Textes fungieren Punktfolgen deshalb vielfach auch als Fortsetzungszcichen. Sie verweisen dann darauf, daß der Text an dieser Stelle nicht endet, sondern später fortgesetzt werden wird. Während sich eine Punktfolge in ihrer Funktion als Auslassungszeichen durch eine Sprechpause lautsprachlich umsetzen läßt, können Fortsetzungszeichen (am Anfang bzw. Ende eines Textes) beim Sprechen nicht phonetisch repräsentiert werden. »Wenn die Bedeutungsvereinheitlichung nicht abgeschlossen wird, wenn in anderen Worten sich die Signifikanten zu keiner stimmigen Signifikation schließen, ist der >Sinnentwurf< des Interpreten gefordert« (Sparr 1989,80). Im Gegensatz zu Bedeutungsbildungen auf der Basis regelhafter und weitenteils habitualisierter Semantisierungsprozesse, meint Sinnbildung dynamische Semantisierungsprozesse, in denen singuläre Interpretantenbildungen und dabei (auch) gänzlich neue Bedeutungsaspekte des Signifikanten erschlossen werden (können). 211
TEIL III Geschichte
6. Die historische Entwicklung der Semantik und Pragmatik von Schriftformen und Satzschemata. Exemplarische Analysen
6.1 Einleitung Im Verlauf der bisherigen Darstellung wurde bereits verschiedentlieh angedeutet, daß die Semantisierungen von Typographie diskursiver Konsensbildung und historischem Wandel unterliegen. Im Zentrum dieses Teils der Untersuchung steht nun die Beschreibung des Wandels konnotativer Bedeutungsdimensionen von Schrift und Schriftkomposition und deren Niederschlag in der Gestaltungspraxis. Als Beispiele dienen die Auseinandersetzungen um die Schriftfamilien Fraktur/Antiqua sowie die Debatte um mittelachsiales und anachsiales Satzschema.1 Beide eignen sich für eine historisch-semantische Analyse besonders gut, da sie in wichtigen Entwicklungsphasen von Typographie im Zentrum berufsständischer, künstlerischästhetischer und/oder politisch-öffentlicher Diskussion um (Be-)Deutungs- und Wertungsfragen von Typographie standen. Waren in den vorangegangenen Kapiteln vornehmlich typographische Gestaltungsbeispiele Gegenstand der Analyse, so wird es in diesem Teil der Arbeit in erster Linie der historische Diskurs über Typographie (in Selbst- und Fremdbeschreibungen) sein. Die bisher entwickelte zeichentheoretische Perspektive wird dabei nicht aufgegeben, denn sie bedingt die historische Problementdeckung und -analyse, tritt aber in der Darstellung zugunsten stärker diskursanalytischer Rekonstruktion in den Hintergrund. Neben die Untersuchung, welche unterschiedliche Bedeutung den beiden Schriftformen bzw. Kompositionsschemata historisch zugeschrieben werden, tritt der Versuch einer Strukturanalyse des >semantischen RaumsDeutschen< - zum Symbol sprachlich-kulturellen, nationalpolitischen und rassischen Deutschtums - gemacht. Der Konflikt um die Verwendung von Fraktur/Antiqua wird in der Folge ins Wissenschaftssystem (Leseforschung) und ins politische System (Reichstagsdebatten, Kultusministererlasse) >exportiertBildungsprogramm< (Verbreitung des Schreibund Leseunterrichts, um jedem das Selbststudium der Bibel zu ermöglichen) wesentlichen Einfluß auf die Ausbildung von Lesegewohnheiten des >gemeinen VolksAuseinanderziehen< von Kommunikation und Interaktion beschreiben kann: Die individualisierte Bibellektüre des Laien, die Luther propagiert, setzt an die Stelle der interaktiven Vermittlung des Wort Gottes durch den Priester im Gottesdienst die mediale Vermittlung durch das Buch. Das Beispiel zeigt, wie hierbei nun Typographie als kommentierende Instanz funktional gemacht werden kann.
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tursystem in dieser Zeit.6 Im Zusammenhang mit der Formierung der literarischen Klassik in Deutschland werden sowohl Autoren als auch Verleger, die in Personalunion auch Drucker und Typographen sind, zum Motor typographischer Innovationen. Dabei werden die Ausdrucksmöglichkeiten von Typographie als doppelt codiertes Zeichensystem sowohl für die poetologisch-ästhetische Differenzierung literarischer Textklassen als auch für die wirtschaftliche und soziokulturelle Strukturbildung des Literatursystems genutzt und soweit ausgearbeitet, daß die Grundlagen für die (literatur-) unabhängige Weiterentwicklung von Typographie als ästhetisches Ausdruckssystem gelegt werden. Die Fraktur/Antiqua-Debatte um 1800 vertieft einerseits die Nationalisierung der Schriftfrage, andererseits betreibt sie die Ästhetisierung von Typographie: es entwickelt sich ein (Selbst-) Verständnis von typographischer Gestaltungspraxis als künstlerischer Aufgabe. Damit einher geht die reflexive Handhabung von Typographie als eigenständiges Ausdrucks- und Inhaltssystem bei der Etablierung des buchtypographischen Dispositivs klassischer Literatur in Deutschland.7 Historisch neu ist, daß die Bedeutungsdimensionen typographischer Formen erstmals ausführlich diskutiert werden. Die konnotative Ausdrucksqualität von Typographie gerät dabei als kritischer Faktor literarischer Kommunikation in den Blick, und in der Folge wird die Forderung nach Entsprechung von typographischer Form und literarischem Inhalt laut. Neben der Form-Inhalt-Frage wird im Schriftstreit um 1800 auch das zweite grundlegende Leitprinzip typographischer Gestaltungspraxis und Theoriebildung Gegenstand der Diskussion: die Lesbarkeit von Schriftformen. Der Konflikt von formaler Schönheit und guter Lesbarkeit, der im Streit um Fraktur und Antiqua um 1800 erstmals anklingt, 8 löst zahlreiche Schriftbearbeitungen aus (Stichwort: Fraktur-Reform). Die Institutionalisierung eines Spezialdiskurses zu Typographie um 1800 gibt Einblicke in Problemstellungen, Ziele und Regelungsprinzipien nicht nur der Semantisierung von Schrift, sondern auch der Bearbeitung des Ausdrucksmaterials beim Schriftentwurf. Aufgrund dieser produktions- und wirkungsästhetischen Selbstbeschreibung läßt sich Schriftgestaltung um 1800 als bewußte Merkmalssegmentierung der schriftsprachlichen Ausdruckssubstanz rekonstruieren - ausgelöst durch den Vergleich der Gestaltmerkmale von Fraktur- und Antiqua-Schriften und geleitet von Vorstel-
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Dies verlangt, ganz unterschiedliche Aspekte der literarischen und typographischen Entwicklung anzusprechen, wobei nicht alles gleichermaßen ausführlich hergeleitet und begründet werden kann, und eine einheitliche theoretisch-methodische Modellbildung der Wandlungsprozesse im Rahmen dieser Überblicksstudie nicht zu leisten ist. 7 Wobei der typographisch-dispositiven Textgestalt hier keine gattungsunterscheidende Funktion zukommt, sondern als Zeichen der Zugehörigkeit eines literarischen Textes zu einer besonderen Textklasse innerhalb des >Textuniversums< einer Gattung fungiert: im Fall der Antiquatypographie zu der Klasse von »Werken, die als Beweise und ehrende Denkmale ihrer höheren Cullur in Künsten und Wissenschaft« gelten (Bertuch 1793b, 599). * Ästhetik (formale Schönheit) und Pragmatik (gute Lesbarkeit) sind bis heute die zentralen dichotomischen Bewertungskriterien typographischer Schriftgestaltung (s. z. B. Aicher 1989, 184). 221
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A R I A aa. ©0«, bet burdj tin ®ort : Tiff« $mmei Bimmel 5»radjf, ©fern' unb @enn«n, SRonb unb fleckigen< Gesamterscheinung des Druckbildes. Zeittypisch war darüber hinaus der vielfältige Einsatz von Buchschmuck und Zierat, wie Einzel- und Reihen-Ornamente sowie Vignetten - und zwar nicht nur auf den Titelseiten, sondern auch im Textinnern, z.B. bei Kapitelübergängen (Abb.64). Im europäischen Ausland war die Antiqua als dominante Schriftform durchgesetzt; Baskerville in England (Abb. 65), Bodoni in Italien (Abb. 66) und Didot in Frankreich (Abb. 67) hatten mit ihren Schrift-Schnitten die Formentwicklung der Antiqua vorangetrieben.9 Der typographische Klassizismus in England, Italien und Frankreich wirkte aber nicht allein durch seine Antiqua-Schriften stilbildend, son9
Sie bilden heute zusammen mit formverwandten Neuschnitten eine eigene Gruppe innerhalb der gängigen Schriftklassifikationssysteme: die Gruppe der Klassizistischen Antiqua. Als eines ihrer charakteristischen Formmerkmale gilt der ausgeprägte Strichstärkenkontrast zwischen Auf- und Abstrichen der Lettern (Grund- und Haarstriche).
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P.VIRGILII
MARONIS
B UCOLICA E CLOG A I. cui nomen TlTTRUS. MELIBOEUS, TITVRUS.
T
ITVRE, tu patulac rccubans fub tegmine fagi Silveilrem icnui Mufam meditaris avcna: Nos patria: fines, ct dulcia linquimus arva; Nos patriam fugimus: tu, Tilyrc, Icntus in umbra 5 Formofam refonare doccs Amaryllida Otvas, 7". O Meliboce, Deus nobis haec otia fecit: Namque erit ille mihi fcmpcr Deus: illius arara Sacpe lout · noilris ab ovilibus inibuct agnus. Ille meas errare boves, ut cernis, ct ipfum i o Ludere, qua: vcllcm, calamo permifit' agrefli. M, Nonequidem invidco-.miror magis: undique totis Ufquc adeo lurbatur agris. en ipfe capeilas Protenus xger ago : hanc etiam vix, Tityrc, duco: Hie inter denfas corylos modo namque gemellos, 15 Spem grcgis, ah! filice in nuda connixa rcliquit. Sjcpe raalum hoc nobis, mens non laeva fuifTet, DC coelo taclas memini pracdicere qucrcus: Ssepe finiftra cava praedixit ab ilice cornix. Scd tamcn, iftc Dtus qui iit, da, Tilyre, nobis, 20 T. Urbem, quam dicunt Romam, Mclibocc, putavi Stukus ego huic noftra; fimilem, quo faepc folemus Paftores ovium tencros depcllerc foetus. Sic canibus catulos fimiles, fie matribus hoedos A Noram;
Abb. 68 Maronis. Bucolica. Birmingham: Baskerville, 1757
dem auch durch die Neuerungen von Schriftkomposition und Buchausstattung. Wesentliche Kennzeichen der europäischen Buchtypographie um 1800 waren - neben den klassizistischen Antiqua-Schriften - die regelmäßige Grauwirkung des Druckbildes und das optische Gleichmaß auf allen Ebenen des Satzes. Erzielt wurde dies durch sorgfältige mikro- und makrotypographische Schriftkomposition: gleichmäßig ausgeschlossene Letternzwischenräume innerhalb und zwischen den Wortbildern, großer Zeilendurchschuß und großzügiger Satzspiegel mit breiten Rändern schaffen insgesamt ein helles, >lichtes< Satzbild (splendide Satzweise). Programmatisch verzichtet wurde auf Buchschmuck mit Ausnahme einfachen Linienmaterials (Abb. 68). Typisch für die Titelgestaltungen sind exakter Mittelachsensatz - zumeist unter Verzicht auf ornamentalen Zierat (Abb. 69) - und illustrative Kupferstiche (Titelkupfer). Die Regelbildung für die typographische Gestaltungsarbeit folgte
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LES
AVENTURES
DE T £ L £ M A Q U E , FILS D'ULYSSE. PAR M. DE F t N E L O N . I M P R I M t PAR ORDRE DU ROI P O U R L" E D U C A T I O N D E M O N S E 1 G N E U R LI D A U P H I N .
A
PARIS,
DE L - I M P R I M E R I F . DE FRANC. AMBR. DIDOT L'AINE. M. DCC L X X X 1 I 1 .
Abb. 69 Fenelon. Les Aventures de Telemaque, Fils d'Ulysse. Paris: Didot, 1783
ausdrücklich ästhetischen Leitprinzipien. 10 Die präzisen Form Vorstellungen der typographischen Klassik wären ohne herstellungstechnische Neuerungen nicht umsetzbar gewesen. Eine wesentliche Voraussetzung für die Realisierbarkeit der klassischen Buchform und ihres regelmäßigen Druckbildes waren Verbesserungen der Drucktechnik und Papierherstellung (vgl. Lucius 1990, 39). Die feinen Haarstriche der klassizistischen Antiqua-Schnitte beispielsweise waren erst dank eines verbesserten Schriftgußverfahrens möglich geworden. Das Halten der Schriftlinie und der
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Beispielhaft hierfür ist das Schrift- und Satzmusterbuch von Bodoni, das Manuale Typographico, das posthum 1818 erschien und eine kanonische Zusammenfassung der Ästhetik und Satzregeln klassischer Buchtypographie enthält (Bodoni [1818] 1927).
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G E S C H I C H T E
DES
A G A T
H O N ERSTES
Nobilitierung< ihrer Werke.19 Dementsprechend muß der Zugang zu der neuen Gestaltungsweise kontrolliert werden, da durch den Gebrauch der typographischen Formen für >unwürdige< Texte die Gefahr entsprechender Funktions-Zeichenbildung, d.h. der konnotativen Abwertung, droht. Dementsprechend bitter beklagt die zeitgenössische Kritik den Mißbrauch der neuen Antiqua-Typographie:
'" »Man spricht jetzt viel von Didotschen Lettern, die Buchhändler klagen, daß fast jeder junge Schriftsteller damit gedruckt seyn will [...]« (N.N. 1791.324). 231
Einige teutsche Druckereyen, und sonderlich der geschickte und verdienstvolle Künstler, Herr Unger in Berlin, folgten muthig nach, und führten lateinische Lettern von Didots schönen Formen zu teutschen Werken in ihre Druckereyen ein. Nun erschienen jede Messe Werke von aller Art, sogar Kinderschriften mit lateinischen Lettern gedruckt, ohne daß jemand Anstoß daran fand; nun erst war dieß wichtige Hinderniß, das den typographischen Luxus in Teutschland so lange verspätete, gehoben. Wir sahen wirklich seitdem, wie ich schon oben bemerkt habe, diesen typographischen Schmuck durch Mode-Spekulationen unserer Verlags-Handlungen, die nun jedes Pamphlet niedlich liefern wollten, oft ein wenig profaniert und unwürdig verschwendet. Jeder neugebohrne Dichterling, Romanschreiber und Kalendermacher wollte nun auf geglättet Schweizer-Papier, mit Didotschen Lettern, Kupfern und Vignetten gedruckt, und in Maroquin gebunden seyn; und so paradirten oft die schaalsten Producte im schönsten Gewände. Dieß ist ein Mißbrauch der die Kunst herabwürdigt [...]. Unseren klassischen Schriftstellern, deren Werke Jahrhunderte überdauern werden, und auf deren, auch bey anderen Nationen Europens allgemein anerkannten Werth Teutschland mit Recht stolz seyn darf, gebührt vor ändern diese Ehre [...]. Mochte es doch sonst in Frankreich, und mag es jetzt noch in England bloß Ton der großen Welt und Mode seyn, [...] bey uns sey es nicht bloß blinde Mode, sondern raisonniertes Prinzip schöne Ausgaben unsrer Classiker und großen Männer, und zwar wenn sie ihre Werke vollendet haben, sie uns dieselben von letzter Hand geben, und diesen also keine Veränderungen mehr droht [...] zu sammeln, und dadurch unsern Nachbarn, bey denen ihr typographischer Luxus oft bloße Ostentation ohne Sinn ist, eine Reihe besser verstandener National-Monumente entgegensetzen, vor denen sie, bey all ihrem Nationalstolze, doch Respekt haben müssen (Bertuch 1793b, 603ff.).
Als erster »Schritt zu solch einer schönen National-Bibliothek« gilt Bertuch bezeichnenderweise die Luxus-Ausgabe von Wielands Sämmtlichen Werken bei Göschen (Bertuch 1793b, 605). Solchermaßen als typographisches Dispositiv »unsrer Classiker« codiert, wird die Antiqua-Buchtypographie funktional für die ästhetische Binnendifferenzierung des Literatursystems. Dieses ist am Ende des 18. Jahrhunderts gekennzeichnet durch vervielfältigte und beschleunigte Differenzierungsprozesse. Um 1800 besteht kein einheitlicher poetologischer Normhorizont mehr. In Anbetracht der zunehmenden Komplexität und Dynamik literarischer Produktion und Rezeption werden Generalisierungen notwendig - wie beispielsweise die Bemühungen um die Kanonisierung von nationaler Hoch-Literatur-, die dem Leser Orientierung bieten und seine Deutungen anleiten. Typographie als doppelt codiertes Zeichensystem kann als Instanz der Bedeutungsregulierung fungieren, die die Zugehörigkeit eines Werkes zu einer bestimmten literarästhetischen Textklasse anzeigt. Die Debatte um die >neue< literarische Buchtypographie kann auch gelesen werden als Versuch, diese Funktion typographischer Textgestalt zeitgenössisch diskursiv zu verankern. 6.2.2.3 Literarischer Markt - Soziale Distinktion - Typographischer Bücher-Luxus Die Differenzierung buchtypographischer Dispositive in der Goethezeit wird nicht nur ästhetisch-programmatisch, sondern auch für die soziale und wirtschaftliche Strukturbildung des Literatursystems funktional; auch hierbei spielt der Fraktur/ Antiqua-Gegensatz eine Schlüsselrolle. Die literarische Binnendifferenzierung geht einher mit der Erweiterung des literarischen Marktes und der Ausrichtung auf 232
breitere und auf sozial und ökonomisch zunehmend differenziertere Käuferschichten (vgl. Ziegler 1978,135; Schön 1987, 45f.; 55). Verleger suchen unterschiedliche Zielgruppen zu erreichen, indem sie nicht selten ein und dasselbe Werk zeitgleich in unterschiedlicher buchgestalterischer und typographischer Ausstattung anbieten (vgl. Ungern-Sternberg 1976, 78) - Resultat ist eine formale Vielfalt von Buchausgaben, wie es sie vorher nicht gegeben hat (Lühmann 1978,89). So erscheinen auch Wielands Sämmtliche Werke bei Göschen 1794 in vier unterschiedlichen Ausgaben, deren Preis von 27 bis 250 Thaler differierte.20 Schriftformen und auch das Satzschema wurden jeweils beibehalten; variiert wurde hingegen das Buchformat, der Satzspiegel (die Breite der Seitenränder unterscheidet sich stark), die Papierqualität21 (ein entscheidender Kostenfaktor der Herstellung) und das Titelkupfer. Die wirtschaftliche Mischkalkulation, 22 die den formal unterschiedlichen Ausgaben zugrunde liegt, errichtet ein ökonomisches Wertsystem, das dem Käufer bzw. Besitzer als soziokulturelles Unterscheidungsmerkmal zurechenbar wird.23 Die äußere Gestalt eines Werkes erlangt soziale Distinktionsfunktion und wird zu einem entscheidenden Faktor bei der Vermarktung eines Werkes. Bodoni spricht die semiotisch
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Die Wieland-Ausgabe lag vor in (l) einer »schönen Ausgabe in groß Quarto« auf geglättetem Velinpapier der besten Sorte mit einem speziellen Kupferstich, (2) in einer Oktav-Ausgabe auf Velinpapier der zweiten Sorte und dem Kupferstich der Quart-Ausgabe sowie (3) in einem »Taschenformat« gleicher Ausstattung und schließlich (4) in einer »wohlfeilen Ausgabe ohne Kupfer in gewöhnlichem Octavformat und auf Druckpapier« (Göschen 1794 zit. aus Debes 1965, 44). Die Skala der Papierqualitäten reichte vom einfachem Schreibpapier über Druckpapier zu den teuren Sorten geglätteten und weißen Holländischen-, Schweizer- und Velinpapiers (Lühmann 1978, 90). Göschen plant 1796 beispielsweise eine »Bibliothek der lateinischen Klassiker« gleichzeitig in verschiedenen Ausgaben herzustellen, »damit auch der nicht bemittelte Liebhaber diese Ausgabe zu einem wohlfeilen Preis kaufen kann. Jene schöne Ausgabe muß diese mit tragen, damit der Reiche dem Armen helfen (kann), die schöne Ausgabe wird also sehr teuer werden« (Göschen 1796 zit. aus Debes 1965, 96). In diesem Zusammenhang wird die konnotative Codierung des Fraktur/Antiqua-Gegensatzes als sozialer Gegensatz zwischen Gelehrtem und >gemeinem VolkVor alle Menschen hoher ästhetischer Wert —> nationaler Ruhm: Ich halte es für eine glückliche Erscheinung bey einer Nation, wenn sie den Druck ihrer Bücher verschönert, ja selbst, wenn sie in gewissen Stücken, und bey gewissen Werken, die als Beweise und ehrende Denkmale ihrer höheren Cultur in Künsten und Wissenschaft auftreten sollen, in typographischen Luxus übergeht (Bertuch 1793b, 599),
andererseits die Einbindung in eine konnotativ negativ besetzte semantische Achse: hoher ökonomischer Wert —> Verschwendung —> Schaden für literarischen Markt und Nationalökonomie: Man spricht jetzt viel von Didotschen Lettern [...]. Warum führt man sie dann nicht allgemein ein? Die Sache hat ihre reizende und unangenehme Seite. Jene fällt in die Augen, diese ist versteckt. Erlauben Sie mir, die letzte ein wenig hervor zu ziehen. Die Schönheit der Didotschen Lettern besteht außer dem angenehmen Verhältnis vorzüglich in den Feinheiten der zarten Striche. Die Delicatessen eines guten Kupferstichs können nur auf Schweizerpapier gut ausgedruckt werden. Eben so erfordert die vollkommene Darstellung der Didotschen Lettern dieses fleischige Papier. Wie theuer werden dadurch die Bücher! Welch ein schönes Ereigniß für die Nachdrucker, welche so sicher auf die Sparsamkeit des Publicums zu rechnen wissen. Es ist begreiflich, daß, je zarter die Striche einer Schrift sind,
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Kostenfaktoren sind aufwendiger Satz (Ausrichten etc.), großer Papierverbrauch (splendider Satz), Verwendung der teuersten Papiersorten, hochwertige Druckfarben, verschleißanfällige Typen (leichter Abbruch der feinen Haarlinien) und die Anschaffung der notwendigen Drucktechnologie (vgl. Lucius 1990,41; Ungern-Sternberg 1976, 94).
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je eher wird sie abgenutzt. Auch dadurch wird der Druck theuer. Das Geld für das Papier geht in die Schweiz, für die Schriften nach Frankreich. Das ist die schlimme Seite der Sache noch nicht ganz. Unsere deutschen großen und kleinen Druckereyen haben beträchtliche Capitalien in ihre deutschen Schriften gelegt. Diese Capitalien gehen verloren, wenn die Mode, mit Didotschen Lettern sich gedruckt zu sehen, auf einmal allgemein werden sollte. Gnade der Himmel den jungen Männern, welche erst anfangen und alle ihre Kräfte in eine Druckerey gesteckt haben (N.N. 1791, Sp.325).
Im ersten Fall regiert Ästhetik als Leitbegriff die semantische Reihenbildung; im zweiten Fall ist Ökonomie die Leitvorstellung, von der die Bewertung ausgeht. Die beiden Codewerte allein sagen nur etwas über die Bandbreite der Inhaltseinheiten aus, die klassischer Antiqua-Typographie zeitgenössisch zugeschrieben werden, begründen aber noch nicht, unter welchen (diskursiven) Bedingungen ein Sprecher sich für diese oder jene Bedeutungsdimension entscheidet. Wesentliches Kriterium hierfür ist die Frage, ob der Antiqua-Druck nur für ausgewählte literarische Werke eingesetzt wird (positive ästhetische Wertung) oder aber »allgemein werden soll« (negative ökonomische Wertung). Der zitierte Gegner des Antiqua-Drucks gibt seine Ablehnung auf, sobald die Antiqua nur für einzelne wenige kanonisierte Werke verwandt wird: Ich habe auch nichts dawider, daß classische Werke, für den begüterten Theil der Nation, mit diesem Aufwande gedruckt werden, aber junge Schriftsteller, deren erste Versuche freylich allemal vortrefflich sind, sollten sich doch erinnern, daß die Bestechung vermittels eines hübschen Kleides nicht lange dauert (N.N. 1791, Sp.326).
6.2.2.4 Das Scheitern der Antiqua In historisch-deskriptiven Beiträgen zur Buchgestaltung um 1800 entsteht oftmals der fälschliche Eindruck, als sei die klassische Buchtypographie, weil neu und epochentypisch, auch epochenprägend. Tatsächlich wurde um 1800 nur ein kleiner Teil der literarischen Werkproduktion in klassizistischer Antiqua-Typographie gedruckt. Betrachtet man den zeitgenössischen Diskurs zu Fraktur- und Antiqua-Typographie, erscheint dies nur folgerichtig, und es stellt sich weniger die Frage, warum sich die klassische Antiqua-Buchtypographie nicht als typographisches Modell für die gesamte Buchproduktion in Deutschland durchsetzen konnte (vgl. Lucius 1990,44f.; 52); erklärungsbedürftig ist vielmehr, warum sich die Antiqua-Typographie in Deutschland nicht für das quantitativ kleine Segment ausgesuchter Werke literarischer »National-Monumente« durchsetzen und halten konnte, für das sie von ihren Verfechtern gedacht war. Ließ der Wiener Nachdrucker Schraembl die Werkausgabe Wielands 1797 noch nach dem Vorbild der Ausgabe von Göschen in Antiqua setzen, so war der Nachdruck von Doll 1811 bereits (wieder) in Fraktur gesetzt (s. Debes 1965, 62f.; 64f.). Göschen selbst »konnte sich dem Publikumsgeschmack nicht verschließen, und die neue Ausgabe des Wieland [...] wurde [18181828] in deutscher Schrift gedruckt« (Debes 1965, 61; s. auch 67ff.). Früh schon wurde es üblich, von einem Werk gleichzeitig eine Ausgabe in Fraktur und eine in Antiqua auf den Markt zu bringen (vgl. Lühmann 1978, 90). Auch Göschen prakti235
G E S U NO B R U N N E N E I N G t P l f. H T IN
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RfichedieLcbcnsidwl«, gelullt mit dem Quelle der Jugend, Dei d i i r i l , Goidkies roth dt« krysuil«* Flut im Olympus, JWi.-liv dem Singer sie dar, daraus Begeutrung zu trinken! Ohne dich singt kein Dichter. du mußt dm Geist ihm enlw&lien, Dafs er 'schön und fn-y ••ich Mtfcujchwingni vermöge. Komm! mein Gcniui sn · u t W.- huuch *uf deinen Ah v dir,
VALERIUS W I L H E L M NEÜßECK,
Wo du dt* gowlid» Kmisl des kobchen W«sen utidi I^ittnt. Dein Gnchcnk »t m«ii Lied.
Hiiab in die fclsigtn. Grollen
Will icli turigcn, vt> du den prigm Qaetlni dtr F i J . · Heilende Krifte verleilivt; ich witl den schnuctttenden. «riiiiMt. H'.Ü't· i't:rLuipeiult'n K i t i i i k c n JM* deinen hnligen Urnen Küliren, d^niit er hivr die goldent Hut der Gcnuurg Scrtopf' und trinke, den Bctlungsdank \a dcmrm gefeirUn Tenipet turn Opfer dir brir^'. ui'ut dich Lt-bertterhailerui nennet Doch wer teilet midi hin iq du Reich dtt heilsame» Quellen? l tror
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29
Auffällig ist, daß die Fraktur-Reformschriften und ihre Lesbarkeit zeitgenössisch auch unter physiologisch-medizinischen Gesichtspunkten diskutiert wurden. Unger legitimiert seinen Reform-Versuch der Fraktur nicht zuletzt mit der Erhaltung bzw. Schonung der Sehkraft: »Endzweck« seines Schriftentwurfs sei es, »erstlich die vielen Ecken davon wegzuschaffen, daß sie [die gebrochene Schrift] eine gefälligere Form bekäme; die Lettern dem schwachen Auge unentstellter, heller und deutlicher darzustellen, und dadurch den nicht unbegründeten Klagen über das Unangenehme der jetzigen Schriftzüge abzuhelfen« (Unger 1793, 8). Bodoni erachtet »die Anpassung« einer Schrift »an die Beschaffenheit der Augen« gar als Bewertungskriterium für deren Schönheit; führt ein Buch wegen seiner Schriftformen zur schnellen Ermüdung der Augen, so »wird man ihm auch die Schönheit absprechen müssen« (Bodoni [1818], 1927,11). Mit der unterschiedlichen Sehkraft der Leser begründet er im weiteren auch die Notwendigkeit der typographischen Differenzierung von Werkausgaben: »[...] nicht alle Augen werden daher von einer bestimmten Druckschrift in gleicher Weise befriedigt oder angegriffen. Dies ist einer der Gründe, weshalb man nicht alle Bücher in der gleichen Art druckt, sondern allgemein drei verschiedene Arten oder Gattungen unterscheidet: eine prächtige in großen Formaten für Weitsichtige, eine zierlichere in kleinen für Kurzsichtige und eine mittlere, die für alle paßt und die ich einfach >schön schlechthin nennen möchte« (Bodoni [1818] 1927,11). Die Ausrichtung typographischer Gestaltungsarbeit an physiologischen Fragen der Lesbarkeit von Schrift steht 1. im Zusammenhang mit der sich ungefähr zeitgleich entwickelnden medizinischen Sinnesphysiologie: Zwischen 1780 und 1880 erscheinen ca. 100 Monographien, die sich der Augen(heil)kunde widmen; hierin werden Pflichten gegenüber den Augen definiert und entsprechende Pflegeanleitungen zur Erhaltung der Sehkraft vermittelt (Utz 1990,35f.); 2. im Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Wandel des Leseverhaltens: Um 1800 hat der Übergang von intensiver zu extensiver Lektüre statt; die Lesegeschwindigkeit nimmt zu, die vorgängige Textkenntnis nimmt ab. Parallel dazu wird die Lektüre in die Dämmerung bzw. in die Nacht verlegt (Schön 1987, 99ff.; 237ff.). Lektüre bei Kerzenlicht oder Mondschein ist eine vielfach bezeugte Mode-Erscheinung um 1800, die die Gestaltung von Druckwerken und ihrer Textschriften unter >Adaptionszwang< setzt. ·"' So beschreibt bereits 1538 der Schriftmeister Neudörffer in einer Anleitung zum Schriftschreiben die »ordentliche Zerstreuung der Buchstaben«; wonach jeder Buchstabe aus einzelnen Flächen »zusammengesetzt« ist und es eine begrenzte Anzahl von »Stücken und Teilen« gibt, aus denen »alle Buchstaben zu machen sind« (zit. aus Doede 1988,19; 21). 31 Zu seinem zweiten Entwurf einer Reform-Fraktur schreibt Unger: »Ich legte dabei die ge240
)( £Mmuf[j iff burr!) (Vine ßmmnung frfjon trtiui't, öerworij fönfe iitan fngitt, rr
£>er D?ubm grower STlanner muj} beflanbicj i)en Dftiffeln abgemcffen roeroen, fir iijn errangen. Sie Äonige flempeln DTtrii* f(f>en, roie 3 jen: fie geben i&nen Den 2Berff>, Abb. 74 Unger-Fraktur. Schnittvarianten 1793 und 1794
Schon lange entstand daher bei mir der Wunsch, daß uns Jemand eine, meiner Einbildungskraft vorschwebende Schriftform erfinden möge, die, indem sie die Mitte zwischen unserer deutschen und der lateinischen hielte, den oben angegebenen Vorzug behauptet, und gleichwohl, durch eine größere Annäherung an die lateinischen Buchstabenziige, die jetzt angezeigten Nachtheile, wo nicht ganz und gar, doch größtentheils vermiede. Dies schien mir thunlich zu seyn, wenn man erstlich unsere Buchstaben von ihren scharffen Ekken und gothischen Schnörkeln entkleidete, und nur die nackten Grundzüge derselben beibehielte; und zweitens da, wo die Abweichung dieser Grundzüge von denen der lateinischen Buchstaben zu groß und auffallend wäre - wie dies besonders in den sogenannten Versalien [...] fast überall der Fall ist - aus der Noth eine Tugend machte, und die Grundzüge zu dergleichen Buchstaben geradezu von den Römern borgte (Campe 1790 zit. aus Salzmann 1954/55, 191). Im Bemühen, eine Synthese aus Fraktur und Antiqua zu schaffen, wird Schriftgestaltung zunehmend weniger als Abwandlung einer Formvorlage, sondern als schöpferischer Akt thematisiert. In folgender Äußerung Ungers zu den Schwierigkeiten des Entwurfs einer Reform-Fraktur (Abb. 74) deutet sich bereits die (semiotische) Modellbildung des Buchstaben-Typus (s. dazu Kap. 3.2.1.2.1) an: Die Schwierigkeiten bei der Ausführung kann sich nur derjenige vorstellen, der sich mit ähnlichen Arbeiten befaßt, und ohne eine dazu erhaltene Vorschrift oder ein n a c h z u a h mendes Modell, lediglich seine P h a n t a s i e zur R i c h t s c h n u r hat [Herv. S.W.] (Unger 1793,7). Die Fraktur-Entwürfe der Schriftreformer fanden nicht zuletzt deswegen nahezu keine praktische Anwendung (s. Lühmann 1978, lOOf.), weil jene graphischen Merkmale, die minimiert bzw. beseitigt werden sollten - nämlich die »Ecken« und »Schnörkel« -, zeitgenössisch vielfach nicht als periphere, sondern als obligatorische Teile der Letterngestalt galten. Man fürchtete, daß ohne sie die Erkennbarkeit der Schriftzeichen nicht mehr gewährleistet sei:
wohnliche deutsche Schrift zum Grunde, that alle entbehrlichen Züge davon, [...]« (Unger 1794 zit. aus Lühmann 1978, 99). 241
Die starke Verrundung derselben [der Reform-Fraktur Breitkopfs] sey dem Auge bei fortgesetzter Lecture, mehr empfindlich als wohltuend; weil es, ohne an einer Ecke anzustoßen, unaufhörlich, ohne einen Ruhepunkt zu finden, über die Schrift hingleite; wodurch das Auge leicht ermüdet werde, indem, so zu sagen, dann die Buchstaben zusammen flößen, und sich unter einander verwirrten (Hansius [1794] 1939, 8).
Typographische Schriftgestaltung kämpft um 1800 noch mit einem kulturell winzigen Spielraum zwischen Typus und Exemplar: Bei aller Abweichung von den alten Lettern, die ich zu machen vorhatte, mußte ich doch alle fremdartigen Züge vermeiden (Unger 1793, 7f.).
Der Möglichkeit, durch (formale) Innovation kollektives Lernen auszulösen und so den abstrakten Erkennungscode (Typus) von Schriftformen zu erweitern, steht um 1800 nun gerade die dominante Koppelung von Typographie an die klassizistische Literaturästhetik und deren Modell von (schrift-) sprachlicher Bedeutungserzeugung und Sinnverstehen entgegen. So lehnt Bertuch Ungers Reform-Fraktur mit folgender Begründung ab: Unser Auge ist von Jugend auf nur an zwey Hauptformen von Schriften, nemlich an die Teutsche oder Lateinsche beym Lesen gewöhnt, und jede n e u e ungewohnte, mit deren Formen man sich beschäftigen muß, wenn man bloß über den Inhalt dessen, was man liest, denken will, ist uns so u n a n g e n e h m , als Spielkarten von neuer Form, weil es den Mec h a n i s m u s u n s r e r S e e l e n - O p e r a t i o n e n stöhrt [Herv. S.W.] (Bertuch 1793a, 632).
Das Bewußtmachen der Materialität bzw. Gestalt von Schriftzeichen während der Lektüre gefährdet demnach die sprachlich-inhaltliche Bedeutungsvermittlung. Bertuchs Beschreibung des »Seelen-Mechanismus« bei der Lektüre gleicht dem Modell schriftsprachlicher Bedeutungsvermittlung in zeitgenössischen Sprachtheorien; daß »man bloß über den Inhalt dessen, was man liest, denken will«, entspricht dem, was Kittler als die zentrale wirkungspoetische Zielvorgabe literarästhetischer Sprachphilosophie um 1800 rekonstruiert hat: dem »Lesenkönnen reiner Signifikate« (Kittler 1987, 121). Literatur bzw. Schriftsprache soll reiner, >idealer< Kanal sein. Nur das lautliche Sprachzeichen, als nichtmaterielles Medium, wird deshalb als bedeutungsbildende Vermittlungsinstanz betrachtet. So versteht W.v. Humboldt- einer der prononciertesten Vertreter phonozentristischer Sprachphilosophie um 1800 - als die »Hauptpunkte in der Sprache« »ihre Idealität und ihr Tonsystem« (Humboldt [1824] 1964, 85); nur die an den »Ton gehefteten« Sprachzeichen können »unmittelbar in der Seele die ihnen eigenthümliche Wirkung« wecken.32 Entsprechend >oralisiert< der sprachphilosophische Phonozentrismus die materielle Basis von Schriftsprache. Schrift wird in der Folge reduziert auf ein sekundäres, ausschließlich denotatives Zeichensystem von Lautsprache - »nur Zeichen des Zeichens« (Humboldt [1824] 1964, 86) -, das gerade deswegen sprachlichen Sinn vermitteln kann, weil es selbst völlig bedeutungslos ist:
»Ein Zeichen, das den Begriff aufsucht, und den Ton vernachlässigt, kann sich mithin nur unvollkommen ausdrücken« (Humboldt [1824] 1964, 87).
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Allein das tönende Wort ist gleichsam eine Verkörperung des Gedanken, die Schrift eine des Tons (Humboldt [1824] 1964, 84).
So wie Hegel die alphabetischen Schriftsysteme als überlegen preist, weil die Buchstaben »Letztelemente der Sprache« sind, »welche an sich nichts bedeuten« (zit. aus Wolzogen 1975, 21), urteilt auch Humboldt: Die Buchstabenschrift stört die reine Gedankennatur der Sprache nicht, sondern vermehrt vielmehr diesselbe durch den nüchternen Gebrauch an sich bedeutungsloser Züge [Herv. S.W.] (Humboldt [1824] 1964,89f.).
Das alphabetisch-phonetische Schriftsystem wird deshalb allen anderen Schriftsystemen, insbesondere aber den Bilderschriften vorgezogen, weil deren Anschaulichkeit »die Wirkung der Sprache stören muss«. Das Bild des Schriftzeichens dränge gerade das zurück, »was es bezeichnen will, das Wort [...], das Wesen der Sprache wird geschwächt, die Idealität dieser leidet durch die reale Macht der Erscheinung« (Humboldt [1824] 1964, 96):33 Die Buchstabenschrift ist von diesen Fehlern frei, einfaches, durch keinen Nebenbegriff zerstreuendes Zeichen des Zeichens, die Sprache überall begleitend, ohne sich ihr vorzudrängen, oder zur Seite zu stellen, nichts hervorrufend, als den Ton, und daher die natürliche Unterordnung bewahrend, in welcher der Gedanke nach dem durch den Ton gemachten Eindruck angeregt werden und die Schrift ihn nicht an sich, sondern in dieser bestimmten Gestalt festhalten soll (Humboldt [1824] 1964, 89).
Das phonozentristische Modell sprachlicher Bedeutungsvermittlung setzt denotative (lautsprachliche) und konnotative (visuelle) Codierung von Schrift strikt invers: um denotativ wirken zu können, muß das Schriftzeichen bei der Lektüre materiell >verschwindenbedeutensein< (Doede 1988,65).
Vor diesem Hintergrund können die Antiqua-Buchtypographie und die ReformFraktur-Entwürfe als Versuch gedeutet werden, Typographie bzw. Schrift zu entmaterialisieren und ihre rezeptionsästhetische Wirkung als codierter Reiz auf >Transparenz< umzustellen: die splendide Satzweise und die feinen Haarstriche der Anti-
33
So erklärt sich auch, daß bei der Drucklegung klassischer Literatur aller figürlich-ornamentale Buchschmuck vermieden wurde. 243
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Abb. 75 Brockes. Irdisches Vergn gen in Gott bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten. Erster Theil. Hamburg: Christian Herold, 1737
qua-Lettern resultieren in einem »offenen, klaren, ja durchsichtigen Schriftbild« (Debes 1965, 60). Demgegen ber dominiert die traditionelle Fraktur-Typographie mit ihren breiteren Strichst rken, den kleinen Buchstaben-Binnenr umen und den engen Laufweiten der Schriftschnitte die Buchseite als engmaschige Textur (Abb. 75). Bezeichnenderweise zielen alle Reformversuche der Fraktur darauf ab, den Lettern »das Helle und Zarte der lateinischen Schrift« und »mehr Verh ltnis und Licht« zu geben (Unger 1793, 15). Auch wenn sich die M glichkeiten der Gestaltung typographischer Schriftvarianten und deren konnotativer Semantisierung um 1800 als eingeschr nkt erweisen, so ist doch in typographischer Theoriebildung und literar sthetischer Debatte die Entwicklung autonomer konnotativer Bedeutungsdimensionen von Typographie angelegt und weitere Formentwicklungen diskursiv vorbereitet. Die Dimensionen, entlang derer die Debatte um Bedeutung und Verwendung von Fraktur und Antiqua gef hrt wurde, erweisen sich als u erst heterogen: der Formgegensatz wird unter sthetischen, konomischen, sozialen, medizinischen und politischen Gesichtspunkten thematisiert. Die Komplexit t des semantischen Feldes, das dem
244
Fraktur/Antiqua-Gegensatz bereits um 1800 korreliert ist, führt vor Augen, daß sich der Schriftstreit als Kristallisationspunkt unterschiedlichster Diskurse eignet. 6.2.3
Der Schriftstreit nach 1900
6.2.3.1 Einleitung Erneut Gegenstand umfangreicher Auseinandersetzungen wird die Fraktur/Antiqua-Frage nach 1900.34 Der Schriftstreit tritt insofern in eine neue Phase, als sich die Fronten ideologisch polarisieren, die Debatte mit erstaunlicher Vehemenz und publizistischem Aufwand geführt und durch verschiedentliche Vereins- und Verbandsgründungen in hohem Maß institutionalisiert wird.35 Die Parteinahme J. Grimms in der Schriftfrage Mitte des 19. Jahrhunderts löst keine vergleichbar umfängliche und weitreichende Debatte um Fraktur/Antiqua aus, wie dies um 1800 und nach 1900 der Fall ist. Im Vorwort zum ersten Band des Grimmschen Wörterbuchs rechtfertigt Grimm seine Entscheidung, das Wörterbuch in Antiqua setzen zu lassen, ausführlich und greift dabei teils Argumente der goethezeitlichen Diskussion um 1800 auf: »Es verstand sich fast v. selbst, dasz die ungestalte und häszliche schrift, die noch immer unsern meisten büchern gegenüber denen aller übrigen gebildeten Völkern von auszen barbarisch erscheinen läszt, und einer sonst allgemeinen, edlen Übung untheilhaftig macht, beseitigt bleiben muszte. Leider nennt man diese verdorbene und geschmacklose schrift sogar eine deutsche, als ob unter uns im schwang gehenden misbräuche zu ursprünglich deutsch gestempelt, dadurch empfohlen werden dürften. Nichts ist falscher, [...] deutsch kann diese vulgarschrift immer nicht genannt werden, [...] Die unnütze festhaltung der vulgarschrift führt grosze nachteile mit sich [...].« (Grimm [1854] 1991; LI ff.). Nachteilig sei nicht nur die Behinderung der Verbreitung deutscher Bücher im Ausland; auch behindere sie das Lesen, da sie den Augen nicht wohl tue; sie erschwere den Kindern das Lernen, da in den Schulen die Zahl der zu lehrenden und lernenden Alphabete verdoppelt werde, und verteure den Druck, da in den Druckereien die Verdoppelung der Schrift-Vorräte nötig sei. Formspezifika der Fraktur wie Ligaturen und die Unterscheidung von langem und kurzem »s« seien abzulehnen, nicht nur weil dies immer wieder zu Druckfehlern führe, sondern auch weil derselbe Laut jeweils anders ausgedrückt sei (Grimm [1854] 1991, Vllf.) Damit führt Grimm gänzlich neue Bewertungs-Kriterien in die Diskussion um Fraktur/ Antiqua ein: nämlich sprachwissenschaftlich-linguistische. Grimm verbindet die Forderung nach Antiqua mit der Forderung nach durchgängiger Kleinschreibung und einer Rechtschreibreform. Aus der Kombination von lateinischer Schrift und durchgängiger Kleinschreibung resultiere Sauberkeit und Raumersparnis im Druck (Grimm [1854] 1991, VIII). Die Verschränkung von ökonomischen, lesetechnischen und sprachanalytischen Überlegungen macht Grimm weniger zum Vorbereiter der politisch-ideologischen Auseinandersetzungen um Fraktur/Antiqua nach 1900 als vielmehr zum geistigen Ahnvater der Typographen aus dem Umfeld des konstruktiven Funktionalismus, die in den 20er Jahren eine Schriftreform mit einer Rechtschreib- und Sprachreform zu verbinden suchen (s. dazu Kap. 7.2.5). Allerdings findet Grimms Beitrag zum Schriftstreit in den ideologischen Auseinandersetzungen um Fraktur und Antiqua ab 1900 immer wieder Erwähnung: Die Antiqua-Befürworter zitieren ihn als ihren Kronzeugen; die Antiqua-Gegner müssen ihm - als dem anerkannten, wichtigsten deutschen Sprachwissenschaftler - nachweisen, wegen welcher irrtümlicher (schrifthistorischer) Prämissen er zu seinem (falschen) Urteil in der Schriftfrage gekommen ist. 1914 wird beispielsweise der »Bund für deutsche Schrift« gegründet, der die Mitteilungen des Deutschen Schriftbundes und ab 1924 die Zeitschrift Die Deutsche Schrift herausgibt. 245
Gern wird folgende Anekdote kolportiert: 1886 sei Bismarck ein Exemplar einer Abhandlung über medizinische Einrichtungen in Berlin - wie für wissenschaftliche Texte üblich in Antiqua gedruckt - zugestellt worden. Bismarck habe diese ungelesen zurückgehen lassen mit der Anmerkung, er bedaure, vom Inhalt keine Kenntnis nehmen zu können, aber er lehne es ab, Drucksachen in deutscher Sprache mit lateinischen Lettern gedruckt zu lesen (Kapr 1993,68; Willberg 1990, 91). Hinter dieser Anekdote verbirgt sich eine grundlegende strukturelle Veränderung der Auseinandersetzungen um Fraktur und Antiqua, die die Debatte in den kommenden Jahren prägen wird: die nationale Codierung der Fraktur-Schriften erhält eine neue, (staats-) politische Dimension. Bismarcks Vorliebe für die Fraktur blieb keine persönliche Marotte: nach der Gründung des Deutschen Reiches wurde die Fraktur offizielle Amtsschrift (Kapr 1993, 68). Wurde der Schriftstreit um 1800 als Nationenwettstreit geführt, dann in erster Linie unter literarästhetischen, kulturpolitischen Vorzeichen innerhalb des Literatursystems und im Rahmen einer begrenzten literarischen Öffentlichkeit;36 anders nach 1900: der Schriftstreit wird als Kulturkampf geführt, und als nationale Frage wird er in erster Linie unter realpolitischen Vorzeichen von einer breiteren Öffentlichkeit ausgetragen. Betrachtet man die historische Entwicklung von Typographie, ihrer Praxis und Theoriebildung nach 1900 insgesamt, so ergibt sich ein Bild fast völlig getrennter soziokultureller und kommunikativ-diskursiver Welten: Während
Von 1927 bis 1939 erscheint Die zeitgemäße Schrift, ein Organ stark schriftkünstlerisch und reformpädagogisch orientierter (nationaler) Kreise (vgl. Hopster 1985, 57). Schrift und Schreiben (1929-1935) ist demgegenüber ein Periodikum mit schriftkulturkritischem und stärker wissenschaftlichem Selbstverständnis (vgl. Hopster 1985,58), dessen Herausgeber ausdrücklich zur Lösung des Richtungs- und Methodenstreits in der Schriftfrage beitragen möchten (Schrift und Schreiben [1] 1929; 1). Bereits 1880 wurde der »Verein für Altschrift und vereinfachte Rechtschreibung« gegründet (Pickert 1938,40). Altschrift meint hier nicht - wie man erwarten würde - Fraktur, sondern Antiqua. Sie wird als gemeinsame entwicklungsgeschichtliche Urform beider Schriftfamilien betrachtet. Der spätere Vorsitzende der >Altschriftlerdes< Deutschen, d.h. zur Projektionsfläche deutscher Identität und zum Garanten der Einheit von Nation und Volk gemacht werden, erfährt Schriftgestaltung zeitgleich eine umfassende formal-ästhetische, funktionale und semantische Modernisierung im Kontext der Ausdifferenzierung des Werbewesens und der künstlerischen Avantgardebewegungen. Hierbei spielt nicht der Gegensatz von Fraktur- und Antiqua-Schriften die bestimmende Rolle, sondern es wird der Gegensatz von Antiqua- und Grotesk-Schriften zum Kristallisationspunkt von Stilbildungen typographischer Gestaltung und weltanschaulicher konnotativer Semantisierungen. Die Debatten um Fraktur/Antiqua und Antiqua/Grotesk nehmen nur höchst mittelbar aufeinander Bezug. Die Semantisierung des Gegensatzes von Fraktur und Antiqua erfolgt vielfach durch Fremdbeschreibungen von Typographie aus politisch-ideologischer Sicht; die Protagonisten des Fraktur/Antiqua-Schriftstreits sind in den selteneren Fällen Typographien, während die Diskussion um Bedeutung und Verwendung von Antiqua und Grotesk vornehmlich von Künstlern und Typographen geführt wird. Die beiden Konfliktlager agieren relativ unabhängig voneinander, sie haben je andere Bewertungskriterien und nutzen unterschiedliche Publikationsmedien und Diskussionsforen. Dennoch sind sie füreinander jeweils >Umwelt< und nehmen als solche Kenntnis voneinander und beeinflussen Themenstellung und Richtung der Debatten. So herrscht unter den künstlerischfunktionalistischen Gestaltern Konsens über die Ablehnung der Fraktur-Schriften gerade wegen der konnotativen Codierungen, die diese im Fraktur/Antiqua-Streit erfahren. Umgekehrt dauert der Kampf der national-politischen Fraktur-Befürworter gegen die Antiqua (und Grotesk) bis in die 30er Jahre hinein an, weil diese im Kontext umfassender Modernisierungsprozesse in Technik, Wirtschaft und Kunst zunehmend Verwendung finden - nicht zuletzt wegen der konnotativen Codierungen, die diese in der Antiqua/Grotesk-Debatte erfahren. War schon der Schriftstreit um 1800 in umfassendere Wandlungsprozesse des Druckwesens insgesamt und des Buchmarkts im speziellen eingebettet, so auch um 1900. Ende des 19. Jahrhunderts fand eine zweite Leserevolution statt. Die Lesefähigkeit nahm sprunghaft zu,37 das gesamte Druckwesen wurde soziokulturell weiter differenziert, auf Massenproduktion umgestellt und stärker kommerzialisiert.38 Ne-
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Anschlußkommunikationen< 40 - gerade auch in einer breiteren politischen Öffentlichkeit. Als unmittelbare Reaktion auf die Petition der Antiqua-Befürworter hatte sich im Vorfeld der »Abwehrbund gegen den Lateinzwang« formiert. Er reichte ebenso wie der »Jungdeutsche Bund Hamburg« eine gegnerische Eingabe nach. Von Studenten wurde eine Unterschriftensammlung »zur Bewahrung der Fraktur als nationales Kulturgut« durchgeführt (zit. aus
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Entwicklungen erlaubten die schnelle, weniger arbeitsintensive Herstellung von Drucksachen im Massendruck. Schließlich wurde mit 85 zu 82 Stimmen beschlossen, den Antrag auf sich beruhen zu lassen (vgl. Kapr 1993,70). So bezieht Ruprecht sich 1912 im Vorwort zur 5. Auflage seiner 1907 erstmals erschienenen Abhandlung Das Kleid der deutschen Sprache auf die Reichstagsdebatte und unterstreicht die Wichtigkeit der fortgesetzten Aufklärung angesichts der Gefahr, die der deutschen Schrift immer noch drohe, wie der Antrag der > Altschriftler< gezeigt habe (Ruprecht 1912, III). Ähnlich sieht Kirschmann die Notwendigkeit einer Neuauflage seiner 1902 erstmals erschienenen Studie Antiqua oder Fraktur? darin begründet, daß »In jüngster Zeit [...] die Frage, die den Gegenstand dieser Schrift bildet, aufs neue brennend geworden, und ein überaus heftiger Kampf um die deutsche Druck- und Schreibschrift [...] seine Kreise bis in die Sitzungen des Reichstages gezogen [hat]« (Kirschmann 1912, 3).
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Kapr 1993, 69) und dem Reichstag anläßlich der Debatte vorgelegt. Der »Werdandi-Bund« gab ein Sonderheft mit dem Titel Den Gegnern der deutschen Schrift eine deutsche Antwort in der Reihe seiner Schriften für deutsche Würde heraus, die seit 1907 unregelmäßig erschienen, wenn »wichtige nationale Interessen auf dem Spiel stehen« (Den Gegnern 1911,1). Darin war nicht nur die Erwiderung des »Ausschusses zur Abwehr des Lateinschrift-Zwanges« abgedruckt, sondern auch zahlreiche Stellungnahmen verschiedener Unterstützer aus dem Lager der rechts-konservativen bis reaktionären Schriftideologen,41 so daß diese Publikation einen guten Überblick über die ideologisch motivierten Codierungen gibt, die der Fraktur/Antiqua-Gegensatz in einer Flut von Streitschriften fand. Die Auseinandersetzungen um Fraktur und Antiqua im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts kreisen um Fragen der Sprache, Staatspolitik, Ästhetik, Pädagogik, Ökonomie, Lesephysiologie und Rassenlehre. Die Inhaltseinheiten, die Fraktur bzw. Antiqua im zeitgenössischen Diskurs zugeschrieben werden, sind äußerst heterogen. Eindrücklich führen dies zwei Stellungnahmen zur Reichstags-Petition des »Vereins für Altschrift« vor Augen, weshalb sie hier ausführlich zitiert werden: Die Abschaffung der deutschen Schrift würde ein Glied mehr bedeuten in der Kette der Veränderungen, die alle eine Verkümmerung des Heimsinnes zur Folge haben. Dieser Heimsinn aber gehört zu den fundamentalen Anlagen der menschlichen Natur. Er verlangt eine Umgebung, [...] die [dem Menschen] als selbstverständlich erscheint und nicht anders sein kann. [...] wie sehr dieser Heimsinn durch das moderne Leben bedroht ist, das ist hinreichend bekannt. Bedroht sind das Heim, die Familie, die Heimat; ebenso aber auch die Religion, die Kunst und überhaupt der nationale Stil einer Kultur. [...] Dazu kommt endlich die Zerstörung der Einheit in unserer Weltanschauung, unserer Kunst, überhaupt im ganzen Stil unserer geistigen Kultur. Die Gefahren, die von dieser Zerstörung drohen, lernen wir immer mehr würdigen in dem Maße, in dem ein neuer Idealismus in unserer Lebensanschauung zur Geltung kommt. Wir überzeugen uns immer mehr davon, daß Wohlstand, Luxus, Hochstand der Industrie und selbst nationale Machtstellung nicht der letzte Sinn des Lebens sein können, daß ein solcher nur in der Einordnung in und der Unterordnung unter feste Zusammenhänge bestehen kann, die ihrerseits unmittelbar geistige Werte enthalten. [...] Wenigstens eines aber kann man verlangen, daß nicht mutwillig Veränderungen vorgenommen werden, die den Heimsinn bedrohen. Hierzu aber würde die Vernichtung der deutschen Schrift gehören. Es handelt sich nicht um eine gleichgültige Äußerlichkeit nach Art z. B. unserer Verkehrsmittel, die den praktischen Bedürfnissen erforderlichenfalls geopfert werden müssen. Die Schrift ist das Gewand, in dem sich unsere Gedanken unseren Augen darstellen. So ist sie in dem Maße, in dem unser geistiges Leben mehr auf dem Lesen als auf dem Hören beruht, immer eng mit dem Erleben unserer geistigen Werte verknüpft. Wer möchte in der Tat z.B. einen Lessing in lateinischen Lettern lesen? Unsere deutsche Schrift ist daher mit den Jugendtagen des modernen Geistes, mit dem Erwachen der modernen Geistesfreiheit, mit den Ruhmestaten deutscher Geistesgrößen, mit den Schöpfungen eines Luther oder Kant fast so eng verwachsen, möchte man sagen, wie der Leib mit der Seele (Vierkandt in Den Gegnern 1911,16f.).
Zu Wort kommen im Heft hauptsächlich Professoren unterschiedlichster Fachrichtungen, aber auch Künstler (z.B. Peter Behrens), Schriftsteller (z.B. Freiherr v. Wolzogen) sowie Verleger und Buchhändler (z.B. Philipp Reclam jr.). 249
Deshalb könnten die »technischen und ökonomischen Vorteile«, die mit der Schriftfrage verbunden seien, »nicht zu einer radikalen Umwälzung« berechtigen. »Denn Vervollkommnung der Technik und Verbesserung in den wirtschaftlichen Verhältnissen können nicht der letzte Sinn unseres Lebens sein, [. . .] letztes Ziel kann nur in der Pflege geistiger Güter bestehen« (Vierkandt in Den Gegnern 1911, 17). Politisch verlieren wir im Osten an die Polen deutsches Leben, ästhetisch haben wir alle Führung in Theater, Presse, Musik, Kunst und Literatur an das unter uns lebende semitische Volk verloren, sprachlich müssen wir uns gegen die immer neue Fremdwörterei der besseren Stände wehren und verlieren doch unausgesetzt Jahrhunderte altes deutsches Sprachgut; in Geschmacksfragen haben wir längst unsere Eigenart gegen englische Herren- und französische Damen-Moden und gegen westeuropäische Sitten verloren. Verluste über Verluste! (...) ein doppelter Jammer für jeden deutsch fühlenden Menschen soviel Deutsches verlieren zu müssen! Und jetzt gar unsere deutsche Schrift, die wir in jahrhundertelanger Umformung aus der lateinischen heraus entwickelt, die wir zur deutschen Schrift gemacht haben, die altvertraute, die leicht lesbare, die wunderschöne Schrift! Es ist für den Deutschen nicht angenehm und leicht zu leben in diesen Zeiten, in denen die Volksvertretung darüber abstimmen soll, ob er sein Deutschtum in der Schrift bekennen darf. [...] Ich bin weit von jedem Antisemitismus entfernt [...]. Gerade deshalb aber darf ich es auch mit tiefem Bedauern aussprechen, daß in diese so hart an die Ehre des Deutschtums streifenden Frage der deutschen Schrift [...], anscheinend unsere semitischen Gäste am lebhaftesten gegen die völkische Ehre ihres Wirtsvolkes tätig sind. Soviel (Gutes? D. Schriftleitg.) [sie] uns ihr reger Geist auch in Presse und Kunst schenkt, so zurückhaltend sollten sie doch in solchen Fragen urteilen, in denen nicht nur ihr vorurteilsloser kalter Verstand, sondern das aus Urgründen unserer völkischen Vergangenheit herausgewachsene heiße Gefühl die Antwort finden muß (Freiherr v. Münchhausen in Den Gegnern
Erschreckend deutlich wird, wie einfach es ist - >dank< der funktionalen Unabhängigkeit von denotativer und konnotativer Codierung -, die gesamte Bandbreite deutsch-nationaler und konservativ-reaktionärer Ideologeme - von antimodernistischer Zivilisationskritik bis zu offenem Antisemitismus -, (antithetisch) zwei Schriftformen zuzuordnen. Ich möchte im folgenden typische Semantisierungen des Fraktur/Antiqua-Gegensatzes nach 1900 ausführlicher darstellen, miteinander in Beziehung setzen und dabei ihre ideologische >Logik< erkennbar machen. Ich werde die Analyse nicht nur auf wenige konsistente Bedeutungszuschreibungen beschränken, die weitgehend gängigen Stereotypen reaktionär-nationalistischer Ideologeme entsprechen. Erst beim Blick auf Details der Auseinandersetzungen kommt das meines Erachtens- eigentlich Interessante der Ideologisierungsprozesse im Schriftstreit nach 1900 zum Vorschein - nämlich dessen disparate Heterogenität aufgrund: 1. flexibler inhaltlicher Füllungen der konnotativen Achsen entlang der Basisopposition deutsch/nichtdeutsch, die die Semantisierungen des Formgegensatzes von Fraktur/Antiqua >regiertbeglaubigt< schien. Berufen sich die Antiqua-Befürworter darauf, daß die Beziehung zwischen (Schrift-) Sprachsystem und Schriftform grundsätzlich arbiträr und eine Frage der Konvention und des soziokulturellen Lernens sei, so postulieren die Verteidiger der Fraktur eine natürliche Bindung, eine genetisch-strukturelle Determinierung zwischen den Systemeigenschaften der deutschen Sprache und den visuellen Merkmalen der gebrochenen Schriftformen. Die »deutsche Schrift« sei nicht nur »künstlerisch das genaue Abbild unserer vielgestaltigen tiefen Sprache«, sie sei der »deutschen Sprache angepaßt und prägt ihren Charakter klar aus« (Den Gegnern 1911,9; 20): Die Sprache zwingt die Schrift, sich ihr anzupassen (Sammer/Schlegel/Freitag 1932, 8). Fraktur ist das Gewand, das unserer Sprache angewachsen ist [Herv. S.W.] (Lösch in Eine Sachverständigen-Aussprache 1927, 584).
Die Beziehung zwischen deutscher Sprache und gebrochenen Schriftformen wird naturalisiert und damit sozialer Verfügbarkeit entzogen. Damit avanciert der Fraktur/ Antiqua-Gegensatz zum Schriftsystem-Gegensatz: die Letternformen beider Schriftarten werden nicht länger als Exemplare eines gemeinsamen Typus betrachtet. Es werden elaborierte sprachwissenschaftliche Theorien zum genetischen Zusammenhang von Sprache und Schriftform entwickelt, die Fraktur-Schriften als einzig passendes »Kleid der deutschen Sprache« (Ruprecht 1912) legitimieren und das »Frakturgebot der deutschen Sprache« (Niemeyer 1929) begründen sollen. Niemeyer zufolge sei die deutsche Sprache ihrem Sprachbau nach »Wortsprache«, die romanischen Sprachen hingegen »Silbensprachen«: »Mit diesem Bau steht das deutsche Wort in polarem Gegensatz gegen das lateinische Wort« (Niemeyer 1929,367). Der »Leitgedanke der Schriftentwicklung« zeige sich im »Bestreben, die Hörzeichen und die Schriftzeichen der Sprache, ihr Klangbild und ihr Augenbild immer feiner und inniger miteinander in Beziehung zu setzen« (Niemeyer 1929, 384). Die Wortsprache werde einzig durch die Fraktur richtig wiedergegeben, denn sie sei am deutschen Wort erwachsen: »deutsche Wuchsschrift«. Deutscher Wortbau sei nicht »gei251
stige Reihe vollgültiger gleichberechtigter Einzelsilben, sondern organischer Wuchs, [...] reiche Bindung von Klängen verschiedenen Werts zur Einheit [...] des deutschen Langwortes« (Niemeyer 1929,367). Dies könne die Antiqua nicht verkörpern, denn: Die Antiqua zerlegt hier das im Klang Zusammengewachsene für das Auge wieder in die Grundsilben und fälscht so im Blickfeld das Klangbild. Deutsches Wort in Antiqua sieht aus wie in einer gebogenen Fläche auseinandergespiegelt (Niemeyer 1929, 369).
Die Zeichen der Fraktur hingegen »haben gerade soviel Augengewicht als Einzelform wie die Laute [der deutschen Sprache] Hörgewicht« (Niemeyer 1929, 368). Warum die »Schriftfrage eine Frage nationaler Selbstbehauptung« werden konnte (Ruprecht 1912, 44), ist mit derartigen Thesenbildungen noch nicht plausibilisiert. Dazu bedarf es weiterer ideologischer Setzungen. Die Semantisierungsprozesse des Fraktur/Antiqua-Gegensatzes innerhalb des konservativ-gelehrten Lagers stehen in der Tradition sprachwissenschaftlicher bzw. sprachphilosophischer Theoriebildung des 19. Jahrhunderts. Hier nehmen zahlreiche Ideologeme zur >Deutschen Kulturnation< ihren Ausgang, und auf dieser Basis erfolgte sukzessiv die »Nationalisierung der Sprachen« (Giesecke 1992, 58). Dabei wird insbesondere der Schriftsprache die Rolle einer gemeinschaftsstiftenden Instanz zugewiesen: Erst kraft der Schriftsprache fühlen wir Deutsche lebendig das Band unserer Herkunft und Gemeinschaft (J. Grimm 1822 zit. aus Giesecke 1992,58). [...] wo eine besondere Schriftsprache vorhanden ist, da pflegen wir von einer besonderen Nation zu reden (Scherer 1874 zit. aus Giesecke 1992, 58).
Es setzt sich die Vorstellung durch, daß es weniger die kommunikative Gemeinschaft sei, die die Schriftsprache schaffe, als vielmehr umgekehrt: der gemeinschaftsstiftenden Kraft der Schriftsprache verdanke sich die soziale Gemeinschaft, d. h. >Die Nation< bzw. >Das Volkdas einzige nationale Bindemittel zu wirken (Giesecke 1992, 58f.).
Nachdem eine entwicklungsgeschichtliche Wechselbeziehung von Fraktur-Schrift und deutscher Sprache konstruiert worden ist, ist es nur konsequent, der FrakturSchrift die gleiche kulturelle und soziale Funktion wie der Sprache zuzuweisen. So setzt sich unter Fraktur-Anhängern die Vorstellung durch, daß die Schriftform wesentlich zur nationalen Gemeinschaftsbildung beitrage: Nation und Volk werden
Eine Bestimmung, die bis heute das politische Denken prägt. So heißt es in einem Bericht der Bundesregierung über die Stellung der deutschen Sprache in der Welt vom 1. Oktober 1993: »Auf höchster Verständnisstufe führt Sprache in philosophischer Wertung unmittelbar zum Kern der geistig-kulturellen Existenz eines Volkes. Sprache ist sozusagen ein genetischer Fingerabdruck< der unverwechselbaren kulturellen Identität« (zit. aus Coulmas 1995,121).
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nicht nur als Sprachgemeinschaft, sondern auch als Schriftgemeinschaft erachtet. Die Fraktur gilt ihren Anhängern als »ein Bindemittel des Volkes« (Mitteilungen des Deutschen Schriftbundes [2] 1915,81). Sie wird zum Garanten eines »lebendigen deutschen Bewußtseins« erklärt und als Instanz betrachtet, die »dem eigentümlich Deutschen noch einen Halt zu geben« vermag. Unter diesen Prämissen kommt man zu dem Schluß, daß die Erhaltung der Fraktur »eine nationalmoralische Forderung« ist (Den Gegnern 1911,19f.). Die gebrochenen Schriftformen werden nicht nur zum kulturellen »Nationalbesitz« erklärt (Den Gegnern 1911,18) und gelten deshalb als »unveräußerliche Zeichen unserer Kultur [Herv. S.W.], die uns täglich und stündlich zu Gemüte führen, daß wir Deutsche sind« (Den Gegnern 1911,10), sondern sie werden darüber hinaus als wesentlicher Teil des deutschen Wesens< erachtet: Wenn es doch allgemein anerkannt wird, daß die deutsche Sprache und die deutsche Kunst zum deutschen Wesen gehören [Herv. S. W.], so ist es ganz sinnlos, der deutschen Schrift die gleiche Zusammengehörigkeit absprechen zu wollen (Den Gegnern 1911, 6).
Bei diesen Deutungen des Schriftgegensatzes ist es nicht überraschend, daß ein Schwerpunkt des Streits um die Frage kreist, welche Schriftform dem Erstlese- und Schreibunterricht zugrunde gelegt werden solle. In vielen Diskussionsbeiträgen gilt die »Fibelfrage« als »Kernpunkt der Schriftfrage« (Sammer/Schlegel/Freitag 1932, 18),43 denn es ist die Überzeugung verbreitet, daß mit der Antiqua als Erstschrift »eine Mißachtung gegenüber dem Deutschtum in die Seele des Kindes gelegt« werde (Henning in der Reichstagsdebatte 1911 zit. aus Kapr 1993,69). Die >falsche< Erstschrift gefährde demnach das >Deutschtum< nachfolgender Generationen. Parallel zu derartigen national-psychologischen und national-kulturellen Semantisierungen der Schriftfrage wird der Fraktur/Antiqua-Gegensatz von den Schriftideologen auch als strategisches Machtmittel imperialer Politik erachtet. Die >volkbildende< Wirkungskraft, die der Fraktur zugeschrieben wird, läßt sich im Zusammenhang mit der Frage der Auslandsdeutschen und der >Eindeutschung< der Bevölkerung in den Grenzgebieten realpolitisch funktionalisieren. Schon 1911 wird der Vorschlag diskutiert, deutsch-polnische Schulkinder nur noch Fraktur-Schrift zu lehren: Dann wäre mit einem Schlage der großen Masse unserer polnischen Bevölkerung zunächst die Möglichkeit genommen, polnische Zeitungen zu lesen [...]. Auch würde der schriftli-
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Die Schriftfrage im Schul- und Unterrichtswesen kennt zahllose weitere Konfliktlinien. Der Frage, mit welcher Erstschrift (Antiqua oder Fraktur) Lesen und Schreiben gelehrt werden solle, schließen sich weitere an: ob im Laufe der Schulzeit nur eine oder beide Schriftfamilien zu lehren seien; wenn beide, dann ist die Frage, ab welchem Schuljahr die Zweitschrift gelehrt werden solle; ob sowohl Lese- als auch Schreibfähigkeit oder nur eines von beiden jeweils Lernziel sein solle etc. Sobald hierzu Positionen bezogen sind, entzündet sich der Streit aufs neue an der Frage, welche konkrete Schriftform von Fraktur und/ oder Antiqua jeweils als Vorlage für den Unterricht dienen soll. Diesen Teilbereich des Schriftstreits blende ich - da es sich hierbei primär um Fragen der Handschrift handelt fast gänzlich aus.
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ehe Verkehr zwischen den Polen diesseits und jenseits der Grenze erheblich erschwert. Der ausschließliche Gebrauch deutscher Schrift [...] wäre ein Machtmittel von nicht geringer politischer Wirkung (Briegleb 1911 zit. aus Glück 1987, 121).
Im wesentlichen werden in diesem Zusammenhang die immer gleichen Argumentationsfiguren variiert: Die Verwendung von Fraktur-Schriften erhalte das Deutschtum im Ausland44 und wehre das Eindringen fremdländischen Einflusses in den Grenzgebieten ab. Für den Antiqua-Gebrauch gilt aus der Sicht ihrer Gegner gemäß der binären Codierung des Fraktur/Antiqua-Gegensatzes entsprechend das Gegenteil: mit »der Pflege der Lateinschrift drücken wir unseren Gegnern an den Grenzen eine nicht zu unterschätzende Waffe in die Hand« (Ruprecht 1912,44). In Anbetracht der Verbindung von Schriftfrage und nationalstaatlicher Grenzsicherung sowie kulturell-völkischer Gemeinschaftsbildung ist es nicht verwunderlich, daß der Schriftstreit nach 1900 einen ersten Höhepunkt während des Ersten Weltkrieges erreicht. Dabei wird die Schriftfrage mit rassisch-völkischen Ideologemen durchsetzt:45 Die deutsche Schrift im Grenzgebiet sei »Bollwerk gegen die Entdeutschung, ein Schutzmittel zur Erhaltung der deutschen Art« (Mitteilungen des Deutschen Schriftbundes [2] 1915, 82). »Eine der herrlichen Segens-Wirkungen dieses ungeheueren Krieges« sei es, das »Deutschbewußtsein« »mächtig belebt« zu haben. Endlich habe der Deutsche erkannt, daß es um einen »Rassen- und VernichtungsKampf des Slawen- und Romanentums gegen das Germanentum« gehe. Endlich habe man begonnen, die »Fremdsucht und Ausländerei« abzulegen. Fortschritte seien bei der Bevorzugung von Waren, Sitten, Moden und Sprache zu verzeichnen: »Auch in der Bevorzugung der deutschen Schrift lassen sich manche erfreuliche Anzeichen gewahren, wenn auf diesem Gebiete leider auch noch nicht ein so nachdrückliches Vorgehen wie auf dem der Sprache eingesetzt hat.« Die immer noch in Deutschland Verwendung findende Antiqua, »die romanische, die welsche Schrift«, sei »die Schrift der Engländer, Franzosen und Italiener [...]. Wir wollen sie unseren Feinden überlassen, da wir eine brauchbarere, schönere, lesbarere eigene Schrift besitzen« (Mitteilungen des Deutschen Schriftbundes [2] 1915, 72f.).
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»So sind unsere ausländischen Kolonisten tatsächlich in gesteigerter Gefahr, aufgesogen zu werden. Und da darf kein Band gelockert werden, das sie noch sichtbar mit der Heimat verknüpft, von dem fremden Volkstum abhebt und zusammenhält. Ein solches Einheitsband ist aber die deutsche Schrift, sie ist heute unentbehrlicher denn je, um das Einheitsgefühl und die nationale Widerstandsfähigkeit der Deutschen in der Fremde zu erhalten [...]. [Denn] in den heimischen Zeichen sieht [der Auslandsdeutsche], weit über den gleichgültigen Inhalt der Worte hinaus, den Stolz und die heiße Liebe der Heimat einmal wieder zuwehen« (Ruprecht 1912,40). Dies setzte bereits in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ein. So polemisiert z.B. Ruprecht 1912, daß »die Verpolung der Deutschen nicht zum Stillstande gekommen ist, und deshalb in unseren Grenzmarken, ja gerade dort erreicht werden müsse, daß die Deutsche Art alles durchdringe und beherrsche. Die deutsche Schrift ist das Wahrzeichen bewußten Deutschtums, unter welchem wir im Kampfe um die Erhaltung unseres Volkstums geschlossen gegen welsche Art vordringen können« (Ruprecht 1912, 45).
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6.2.3.2.3 Fundamentale Semantik, Interdiskurs und Kollektivsymbol. Zur theoretischen Beschreibung des ideologischen Diskurses Die Zusammenbindung von so verschiedenen Bedeutungselementen, wie sie im Diskurs um Fraktur und Antiqua ins Spiel gebracht werden, setzt eine >Semantik der Entsprechung< voraus, die als einfaches universales Beschreibungs- und Deutungsschema zwischen disparaten und - nach gängigen Diskursregeln - unzusammenhängenden inhaltlichen Teilbereichen Verbindungen herzustellen erlaubt. Es zeigt sich, daß die asymmetrischen Gegenbegriffe deutsch und nichtdeutsch als fundamentale Basisopposition die Semantisierungen von Fraktur und Antiqua >regieren< und die heterogene Vielzahl von Bedeutungen, die den Schriftfamilien jeweils oppositiv zugeschrieben werden, antithetisch strukturieren. Die Bedeutungsaufladungen folgen einem binären Schema, in dem dritte Werte ausgeschlossen sind. Aus dem kulturellen Gesamtbestand der Konnotationen, die den beiden Schriften als codierte Reizmuster und Funktions-Zeichen zeitgenössisch zugeschrieben werden können, wird innerhalb des ideologischen Diskurses selektiv ein Begriffspaar (deutsch/nichtdeutsch) zur fundamentalen Semantik des Diskurses gemacht. In Anlehnung an eine Modellbildung von Schulze (s. Schulze 1993, 244ff.; 251 ff.: 271f.) verstehe ich unter fundamentaler Semantik ein normatives, hochgeneralisiertes Deutungsmuster einer Gesellschaft bzw. sozialen Gruppe, das kollektiven Semantisierungen als Kategorienschema zugrunde liegt und das es erlaubt, Kohärenzen zwischen verschiedensten inhaltlichen Teilbereichen herzustellen. Fundamentale Semantiken erweisen sich in der Analyse als hochgradig kontingent, werden aber von den Kommunikations- bzw. Interaktionspartnern prinzipiell als nicht weiter begründungsbedürftig angesehen. So gilt beispielsweise Vierkandt die »deutsche Schrift« als grundlegender Teil dessen, was er »Heimsinn« nennt und worunter er etwas verstanden wissen will, das dem Menschen »als selbstverständlich erscheint und nicht anders sein kann« (Vierkandt in Den Gegnern 1911, 16). Soll eine fundamentale Semantik legitimiert werden, kommt es zu typisch tautologischen Argumentationsfiguren, in denen sich die Begründungsnot von arbiträr gesetzten Letztkategorien ausdrückt: [...] und sollte uns bewiesen werden können (was aber nicht der Fall ist), daß der Gebrauch der lateinischen Schrift mehr Nutzen brächte, so dürfen wir als Deutsche getrost sagen: wir wollen [...] >die Sache um ihrer selbst willen treibenregiert< werden, kann es gelten, daß weniger die fundamentale Semantik selbst umstritten ist; umstritten ist vielmehr die Zuordnung der Ausdruckssysteme (Fraktur und Antiqua) zu den beiden fundamentalen semantischen Codewerten (deutsch/nichtdeutsch). Umstritten ist weiterhin, mit welchen Inhaltseinheiten die Basisopposition jeweils.zu füllen ist, d. h. in diesem Fall, was als deutsch zu gelten hat. So beruft sich auch der AntiquaBefürworter Soennecken im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um die geeignete Schriftform für die Inschrift am Reichstagsgebäude (»Dem Deutschen Volke«) auf das >deutsche WesenHerrschaft< sich ganz heterogene konnotative Begriffsreihen bilden lassen. Die Schriftformen Fraktur/Antiqua fungieren im zeitgenössischen Diskurs als Kollektivsymbole im Sinne der Modellbildung Links: Unter Kollektiv-Symbolen möchte ich Sinn-Bilder (komplexe, ikonische, motivierte Zeichen) verstehen, deren kollektive Verankerung sich aus ihrer sozialhistorischen Relevanz ergibt und die gleichermaßen metaphorisch wie repräsentativ-synekdochisch und nicht zuletzt pragmatisch verwendbar sind (Link 1988, 286).
Die wesentliche soziokulturelle Funktion und Leistung von Kollektivsymbolen besteht darin, daß sie die Kopplungsfähigkeit zwischen Spezialdiskursen und dem generalisierten »Interdiskurs« der Öffentlichkeit herzustellen vermögen (Link/Wülfing 1991,14). Die semiotische Konnotationsbreite von Schriftformen49 ermöglicht den Schriftideologen mittels einer Vielzahl elementarer Zeichenprozesse, wie Polysemierung, Metaphorisierung, Merkmalsübertragung, Konnotationsreihenbildung
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Auch Soenneckens Aufruf an das deutsche Volk zur Aufhebung der unnützen Zweischriftigkeit (1917) schlägt deutlich deutsch-nationale Töne an: »Wollen wir neben unserer Machtstellung nach dem Kriege auch unsere Kulturstellung entsprechend ausbauen, so kann dies nicht anders als durch den Gebrauch der allen Völkern geläufigen Weltschrift geschehen [...]. Es gilt, gegen die Finsternis der Unwissenheit und den giftigen Nebel der Verleumdung das heilige Feuer der Wahrheit über Deutschlands Wesen in aller Welt leuchten zu lassen« (Soennecken 1917 zit. aus Kapr 1993, 79). Konnotative Semantisierungen von Schrift erfolgen unabhängig von ihrer (denotativen) Funktion als (sekundäres) Zeichensystem von Sprache. Damit sind die Möglichkeiten der konnotativ-semantischen Besetzung von Gestaltmerkmalen mit kulturellen Inhaltseinheiten praktisch unbegrenzt (s. Kap. 3.2.2).
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u.a., vielfältige Spezialdiskurse zu einem (ideologischen) Interdiskurs über >das Deutsche< zusammenzubinden. Der Schriftstreit erweist sich als interdiskursives gesellschaftliches Konfliktfeld, in dem in hochgradig selektiver Weise aus verschiedenen Spezialdiskursen (Kunst, Politik, Biologie, Sprachwissenschaft etc.) umfassende Weltanschauung konstruiert wird. Dabei ist der binäre Code der fundamentalen Semantik das übergreifende Ordnungsschema, innerhalb dessen es zu fortgesetzten Semantisierungen kommt. Die fundamentale Opposition (deutsch!nichtdeutsch) >regiert< eine Vielzahl weiterer Unterscheidungskriterien, die dazu dienen, die Basisunterscheidung inhaltlich zu konkretisieren; denn zunächst ist das binäre Begriffspaar eine hochabstrakte, inhaltlich leere semantische Klammer. Weitere kulturelle Leitdifferenzen, die der Basisopposition (deutsch/nichtdeutsch) im Schriftstreit angelagert werden und den Schriftgegensatz inhaltlich spezifizieren, sind beispielsweise Rückschritt vs. Fortschritt; Idealismus vs. Utilitarismus. Wie willkürlich dabei die Zuordnungen zu den beiden Schriftformen Fraktur und Antiqua erfolgten, sei im folgenden skizziert. 6.2.3.2.4 Kultur und Ökonomie. Der »wirkliche Wert« der Schriftfrage Während in der Petition des »Vereins für Altschrift« die Überlegenheit der Antiqua mit deren praktischen Vorteilen - in Hinblick auf Lesbarkeit und Lernbarkeit - begründet wird, läßt die Erwiderung des »Abwehr-Ausschusses« Nützlichkeitserwägungen angesichts der national-kulturellen Bedeutung der Schriftfrage erst gar nicht zu: Aber selbst wenn in dem zweiseitigen Unterrichte eine erhebliche Mehrbelastung gesehen werden k ö n n t e , so ist dies dennoch aus nationalen Gründen zu leisten! [...] Aber alle diese Rücksichten treten in ihrer Bedeutung noch bei weitem zurück hinter den Umstand, daß der Anschlag auf die deutsche Schrift bedeutende nationale Werte psychologischer und künstlerischer Natur gefährdet (Den Gegnern 1911,6).
Zeitgleich finden sich Beiträge von Antiqua-Befürwortern, die die praktische Unterlegenheit der Antiqua gegenüber den gebrochenen Schriften zugestehen, aber wegen der kulturellen Bedeutung der Schriftfrage Funktionalität und Praktikabilität als Entscheidungskriterium in der Schriftfrage ebenfalls nicht zulassen (s. Ruprecht 1912, 31). Die Kombattanten im Schriftstreit bedienen sich also der gleichen diskursiven Bewertungslogik, kommen aber aufgrund der je entgegengesetzten Zuordnung der Schriftformen zur Basissemantik zu jeweils entgegengesetzten Positionen in der Schriftfrage. Es gibt Fraktur-Befürworter wie Stiehl, die die nationalpsychologische und kulturell-künstlerische Werthaftigkeit der Schriftformen - weil über »Schönheitsfragen« nur »schwer zu rechten« sei (Stiehl 1930, 21) - nicht über, sondern gleichrangig neben ihre praktische und ökonomische Bedeutung stellen. Die Fraktur sei der Antiqua nicht allein deshalb vorzuziehen, weil sie sich mit der deutschen Sprache »naturgemäß entwickelt hat«, sondern auch deshalb, weil sie besser und schneller lesbar und leichter lernbar sei (Stiehl 1930,17ff.; 21); ihre Verwendung führe zudem zu gesteigertem Buchabsatz im Ausland und stelle in Hin258
blick auf die 35 Millionen Auslandsdeutsche einen »realpolitischen Wert« dar, der für die »Weltgeltung« Deutschlands, das »Bestehen des Volkes« und nicht zuletzt für den »Handel« ungemein wichtig sei (Stiehl 1930, 26f.; 30).50 Gerade die wirtschaftliche Bedeutung der Schriftfrage ist nun aber auch eines der Kernargumente der Befürworter der Antiqua: Wer also das Weltpolitik und Handel treibende Deutschland der Gegenwart nicht mehr durch die Schranken einer rückständigen Schrift im Gewinn bringenden Verkehr mit der großen Welt beengt wissen will [...] (Soennecken 1917, 1), der müsse die ausschließliche Verwendung der Antiqua befürworten. Alles andere bedeutete maßlose Vergeudung von Geisteskraft, Zeit, Geld und Augenkraft (Soennecken 1917, l).51 So wie Stiehl die semantischen Dimensionen Kultur und Ökonomie gleichgerichtet auf die Fraktur bezieht, so tut Soennecken dies in seinem Plädoyer für die Antiqua.52 Dem stehen national-konservative antikapitalistische Ressentiments auf seiten vieler Fraktur-Befürworter entgegen.53 Die Bedeutungsfelder Kultur und Ökonomie werden im Schriflstreit deshalb Fraktur und Antiqua häufig antithetisch zugeordnet.54 Die gegnerischen Reihenbildungen erfassen den Fraktur/Antiqua-Gegensatz unter gleichen und oppositiven Gesichtspunkten, entlang sich deckender und konträrer kultureller Vorstellungskomplexe. Das >Deutsche< an der >deutschen< Schrift erweist sich als Ergebnis willkürlicher Setzungen: Deutsch ist, was als deutsch bezeichnet wird. Die Argumentationen für und wider Fraktur oder Antiqua wechseln von semantischem Feld zu semantischem Feld, so daß der ideologische Diskurs zu Bedeutung und Verwendung der Schriftfamilien insgesamt nicht nur heterogen, sondern in sich auch widersprüchlich ist. Die semantischen Komplexe, die den
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Die deutsche Schrift stellt nach dem, was vorstehend anzuführen war, nicht nur einen gefühlsmäßig idealen, sondern einen sehr wirklichen Wert für das >Deutschtum< dar (Stiehl 1930,32). So rechnet der Antiqua-Befürworter Soennecken minutiös hoch, wie viele Lernstunden der Volkswirtschaft durch die Antiqua-Einschriftigkeit in einem Elementarschuljahr (250 Millionen) und während der Elementarschulzeit (2.000 Millionen) eingespart werden können (Soennecken 1917, 11), und der Fraktur-Befürworter Ruprecht argumentiert, daß »der Satz aus Lateinschrift [...] nachdem Deutschen Buchdrucker-Tarif von 1912 um 4 1/2 v. H. teurer berechnet [wird], weil er mehr Zeilen als derselbe Wortlaut in Fraktur-Satz ergeben kann und die größere Zeilenzahl bei gleicher Buchstabenzahl die Arbeit des >AusschließensPolung< der fundamental-semantischen Opposition (deutsch/nichtdeutsch) konnotativ positiv oder negativ aufgeladen. Anschaulich werden diese Mechanismen auch auf zwei weiteren Kampfplätzen des Schriftstreits: der historisch-entwicklungsgeschichtlichen Herleitung und der formal-ästhetischen Bewertung des Schriftgegensatzes. 6.2.3.2.5 Rückschritt und Fortschritt. Historiographische Hermeneutik Die Versuche, das >Deutschtum< von Fraktur bzw. Antiqua anhand ihrer Entstehungsgeschichte nachzuweisen, sind zahllos. So gibt es praktisch keinen Beitrag zum Schriftstreit, der nicht auch auf die Schriftgeschichte zu sprechen käme. Entziehen sich ideologische Legitimationsstrategien wie Naturalisierung, Glaubens- oder Erlebensfundierung der sozialen Korrektur, so ermöglicht die Berufung auf Geschichte prinzipiell eine kritische Überprüfung. Es entwickelt sich eine Diskussion, die sich als >historiographische Hermeneutik< charakterisieren läßt. Sie basiert im wesentlichen auf drei Variablen und erlaubt dementsprechend immer neue Schlußfolgerungen: Offen ist, was historisch als deutsch zu gelten hat, offen ist der Zeitraum, der betrachtet wird, und offen ist schließlich das Klassifikationsschema, nach dem typographische Formmerkmale einander entwicklungsgeschichtlich zugeordnet werden. Es ist deshalb müßig, die Unzahl an Schriftgeschichts-Auslegungen im Kontext des Fraktur/Antiqua-Streites im einzelnen darzustellen. Ich möchte nur einen exemplarischen Eindruck der semantischen Querlagen geben, die sich hierbei aus der binären >Logik< des ideologischen Diskurses ergeben: Zahlreiche Fraktur-Anhänger betrachten die gebrochenen Schriftformen als >urdeutsch Atavismuspolenundeutsche< entwicklungsgeschichtliche Herkunft aus der Antiqua und die zeitgenössische Verwendung durch die >internationalistisch-bolschewistische< Avantgarde von Funktionalismus und Konstruktivismus. Die erste breit rezipierte Programmschrift der typographischen Avantgarde »elementare typographic« - erschienen im Oktober 1925 als Sonderheft der Typographischen Mitteilungen, der Zeilschrift des Bildungsverbands der deutschen Buchdrucker (künftig zit. als Sonderheft 1925)-betonte die Internationalst der Bewegung und bezog ausdrücklich politisch linke Positionen. Abgedruckt ist beispielsweise das aus dem Russischen übersetzte Programm des Konstruktivismus, in dem es u.a. heißt: »Alleinige und grundlegende Voraussetzung des Konstruktivismus sind die Erkenntnisse des historischen Materialismus. Das Experiment der Sowjets ließ die Konstruktivisten die Notwendigkeit erkennen, daß ihre bisherige außerhalb des Lebens stehende, durch wissenschaftliche Versuche ausgefüllte Tätigkeit auf das Gebiet des Wirklichen zu verlegen ist« (Sonderheft 1925, 196). National-konservative typographische Fachkreise greifen dies auf und begründen ihre Ablehnung der neuen typographischen Richtung vor allem politisch-ideologisch; so beispielsweise in einer Rezension des Sonderhefts in der Zeitschrift für Deutsche Buchdrucker und verwandte Gewerbe: »Das Ringen um einen neuen großen Ausdruck, um den Zeitstil, ist unverkennbar. Aber dieser muß aus uns selbst herauskommen; jene fremden Idole, mit Weltanschauungen verknüpft, die nicht die unsrigen sind, führen nicht zum großen Ziel« (Engel-Hardt 1926 zit. aus Friedl 1986, l()f.).
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Abb. 80 Wieynck-Cotisch. Heinrich Wicynck, 1926
Man sagt, unsere Zeit des Eisens und Betons bevorzuge in jeder Gestaltgebung die gerade Linie und den Kreisbogen unter Vermeidung auch des geringsten >überflüssigen< Schnörkels. [...] Man hat sich aber keine Mühe gemacht, /u untersuchen, ob nicht doch auch die Fraktur die Möglichkeit biete, sie in Einklang /.u dem Gestaltungswillen der Neuzeit /u bringen [...]. Wir wissen heule, daß die glatten kistenähnlichen Bauten der Nachkriegszeit durchaus nicht dem Formenempfinden des deutschen Volkes entsprechen und daß der Stil der modernen Zeit erst gefunden werden muß [...]. Wir sind der Überzeugung, daß, nachdem die deutsche Künstlerschaft sich in Zukunft mit der deutschen Schrift beschäftigen muß, auch Technik und Fraktur sich zusammenfinden werden (Denkschrift 1933, 4). 11
115
»Dem bei uns im Schriftwesen vorherrschenden Eklektizismus stehen nun internationale Strömungen gegenüber, die auch für die Schriftaufgaben, Erfüllung im Konstruktivismus zu finden glauben und deshalb die neue Drucktype aus wenigen primären, geometrischen Formen konstruieren wollen. [...]. Zu weit getriebene mathematische Ausgleichsbestrebungen ergeben charakterlose Gestaltung und die dabei entstehende Buchstabengleichheit erschwert die Lesbarkeit« (Wicynck 1928.8). Anzustreben sei hingegen die Schaffung eines »künstlerisch befriedigenden Schriftbildes, das auch innerhalb der Stilzusammenhänge unserer Zeit den wichtigen Forderungen nach Wirtschaftlichkeit und Lesbarkeit gerecht wird. Es kann dabei völlig gleichgültig sein, aus welcher Formung die Druckschrift ihre Vorbilder bezieht; [...]. Wo finden wir nun die geeignete Grundlage für eine neuzeitliche Schriftgestaltung? Die nie zu erschöpfenden Kräfte, die im gotischen Zeitalter treibend waren, sind auch in unserer Zeit wieder spürbar, im bewußten Gegensatz zu allzu rationalistisch eingestellter Weltanschauung [..,], solange unsere Sprachform gilt, gelten auch die ihr Ausdruck gebenden historischen Schriftformen. Nur dürfen sie. wenn man einen Anknüpfungspunkt für die Neugestaltung der Schrift sucht, nicht direkt Vorbild sein, sondern nur als ein Formenkreis der Schriftgeschichte betrachtet werden, der gangbare Weg zu neuer Entwicklung zeigt. Selbstverständlich können wir uns, wie bei der klassischen Lateinschrift, auch fürgotische Schriftformen einer konstruktiven Methode bedienen, um das Bild der neuen Drucktype auf unseren heutigen Formvorstellungen aufbauen zu können. [...] Als neues Beispiel sei die Wieynck-Gotisch genannt, die [...J 1926gebohrt wurde und deren konstruierte, neuzeitliche Formen die historische Grundlage nicht verleugnen« (Wieynck 1928, 10) (s. Abb. 80).
299
[ßir bürf«n niAt bas Erbe bet Däter plünbern, toir muffen eine neue fiunft fdiaffen.
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Element Die Ware öcutfdic Schrift Der neuen Typographie Die beutfche Schrift lebt fort als ber fichtbarfte flusbruch öeutfchen IDcfens. Sie gehört nicht ber Oergangenheit an. Unb bcshalb haben mit bie Derpflithtung, mehr ju tun, als formen ber Oergangenheit d>3Uioanbeln unb ju wieberhoten. Der bekannte ßraphihcr Bittraf hat eine Schrift gefdiaffen, Seren hnappe, juchtoolle form bas IDefentliche beutfcher Schrift }u neuem, klarem flusbruch bringt Sie uiitb bas Element einer neuen bcutfthen Typographie fein. Die »Element" i(l in ben brei Garnituren mager, halbfett unb fett gefchnitten. Weitere Garnituren beßnben (Ich noch in Dorbereitung.
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Abb. 81 Anzeige - Element, 1933
300
Analog der konnotativen Polarisierung von Antiqua und Grotesk durch die Programmatiker einer (internationalistischen) Modernisierung der Typographie wird die konnotative Polarisierung von >Alt-Fraktur< und >Neu-Fraktur< durch die Programmatiker einer (nationalistischen) Modernisierung der Typographie vorangetrieben. So wie in der Auseinandersetzung um Grotesk und Antiqua >regiert< die semantische Basisopposition neu-zeitgemäß vs. historistisch-unzeitgemäß die Diskussion um den Gegensatz von traditionellen und elementaren Fraktur-Schriften. Wesentlichen Anteil an der Durchsetzung der konnotativen Codierung der >NeuFrakturen< dürften die Anzeigentexte in typographischen Fachzeitschriften gehabt haben, mit denen die jeweiligen Neu-Schnitte vorgestellt wurden (Abb. 81 und Abb. 82). Zur Tannenberg heißt es in einer Ankündigung der Schriftgießerei D. Stempel beispielsweise: Die Tannenberg setzt die Linie des gotischen Schriftstiles, in dem Gutenberg und Dürer Hochformen geschaffen haben, in unsere Zeit fort. Mit der eigentlichen Fraktur im engeren Sinne [...] kann die Tannenberg nicht in Verbindung gebracht werden. Sie knüpft vielmehr an die in ihrem Grundaufbau konstruktive Schrift der Gotik an. Wir wollten die gotische Schrift des Mittelalters, die mit ihrer Strenge und Straffheit dem Empfinden unserer Zeit entgegenkommt, aus dem Wollen, dem Geiste, den Anschauungen unserer Tage weiterentwickeln und neu darstellen und unserer Gegenwart ein in deutscher Überlieferung beruhendes, wesenverwandtes Ausdrucksmittel zur Verfügung stellen. Das ist die Grundabsicht, die zur Schaffung der Tannenberg geführt hat (zit. aus Willberg 1990, 99).
In der zeitgenössischen typographischen Diskussion werden konstruktive >NeuFrakturNeu-FrakturTannenberg< des Hauses Stempel, die in einem schmalen fetten Schnitt vorliegt, Anlehnung an die konstruktivistischen Bestrebungen, wie sie unsere deutsche Kunst [!] in den letzten Jahrzehnten beherrscht haben. [.,.] Auch die >Element< der Bauerschen Gießerei [s. Abb. 81] ist eine neuzeitliche konstruktivistische gotische Schrift. [...] Alle ihre Formen sind balkenhaft, ja sie wirkt fast wie ein Bastard zwischen Steinschrift und Textur (Giesecke 1935,130f.).
So viel Ähnlichkeit gefährdet die Unterscheidbarkeit von (Grotesk-) Antiqua und (Neu-) Fraktur in Hinblick auf die fundamental-semantische Leitdifferenz deutsch/ nichtdeutsch und ruft konsequenterweise die Kritik der orthodoxen Schriftideologen des völkisch-nationalen Lagers auf den Plan, die an der asymmetrischen Binarisierung von Fraktur und Antiqua festhalten wollen: Schon hat sich eine härtere Lebensauffassung in neuen Schriften bemerkbar gemacht, die vor allem Kraft und Härte durch harte Strichstärke und Verzicht auf jeden Schmuck darzu301
Tonncnberp Cine neue fteutfdie 0dirifH
Her edite flusOrutft neuer Deutfdier formgelinnung! 3Bii funbigen liiermit bie ncucftc riftfci)5pfung unfctetf Kaufes an. 3>en fßamcn „2anncnbcrg" haben mit ihr gegeben, »eil mir bet Übetjäigung jtnb, bag biefe 6ci)tift beurjdies TOeien traftcoll unb roitchtig »erfordert, bag fic eine entfc^eibenbe i'eiftimci in bet jeitgemögwi Gntroicflung beutfc^en ©c^tiftgutee batjieBt. 6ie ( fiai unb fltaff im Aufbau, bie überlieferte ßormcnroeit beutfcfjcr öcftrift iß batin auf bic cinfadiftc 'Sottnet gebtacijt. ?lbcr bcnnori) i ft fie ein (ebenbiget ?luebrucf neuen f iinftlerifciicn 'ISoIiens. ^Det Offenbaret 6tapi)ifet(itii)^et)etitatbiefeNeu-Frakturen< avancierten im Dritten Reich nicht zur exklusiven Repräsentationsschrift der NSDAP oder des NS-Staates, sondern zu einer vielgenutzten Titel- und Auszeichnungsschrift in der zeitgenössischen werblichen Gebrauchstypographie. Sie ersetzten die Grotesk nicht, sondern wurden vielfach gemeinsam mit ihr oder anderen Antiqua-Schriften in Anzeigen- und Plakatwerbung für moderne, deutsche Industrieprodukte eingesetzt (Abb. 83 - Abb. 86). 6.2.4.2.3
Schriftverwendung im Dritten Reich
6.2.4.2.3.1 Die Koexistenz von Fraktur und Antiqua Betrachtet man die Verwendung von Fraktur und Antiqua in Buchgestaltung und (ge-)werblicher oder propagandistischer Gebrauchstypographie vor und während des Dritten Reiches, so ergibt sich ein heterogenes Gesamtbild. Die typographische 303
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Abb. 84 Anzeige - Krupp-Stahlbau, 1937
Formensprache der 30er Jahre ist vielfältig differenziert, je nach Aussageabsicht, Anwendungsgebiet, Textsorte und Zielgruppe. Es ist beispielsweise nicht ungewöhnlich, daß der Unterhaltungsteil von Zeitschriften in Fraktur gesetzt ist, der wissenschaftliche Sachteil hingegen in Antiqua (Avruscio 1987,83). Auch in der Buchtypographie besteht die Koexistenz von Fraktur und Antiqua während des Dritten Reiches fort. Nach einer Statistik des Börsenvereins lag der Anteil des Fraktursatzes an der Gesamtbuchproduktion vor 1914 bei 56 %, während des ersten Weltkrieges bei 66 %, 1928 bei 56,8 %, 1930 bei 50,5 %, 1932 bei 47,7 % und 1934 bei 57,4 %. Interessant ist dabei die Aufschlüsselung nach einzelnen Textgruppen: Wissenschaftliche Werke sind demnach praktisch ausschließlich in Antiqua gesetzt, im Bereich Populärwissenschaft bzw. Sachbuch liegt der Anteil der Fraktur bei 50 %, bei volkstümlicher Literatur hingegen bei 90 % (Schrift Schreiben [8] 1935,185). Bezeichnenderweise dominiert die Fraktur und mit ihr der buchgestalterische >Hei304
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Abb. 85 Anzeige - Opel, 1933
Wir marschieren mit!
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Abb. 86 Anzeige - Kehlheimer Zellwolle, 1938 305
matstil< nur bei volkstümlicher Literatur (vgl. Avruscio 1987, 82)."6 Es zeigt sich, daß die Verwendung von Fraktur und Antiqua im Buchwesen der 3()er Jahre weitenteils den dispositiven Regeln textsortenbezogener Schriftverwendung folgt, die bereits um 1800 ausgebildet wurden. Kontrovers diskutiert wird die Verwendung von Fraktur/Antiqua im Bereich der Akzidenz- und Werbetypographie. Werbung ist eine relativ junge Textsorte, deren typographisch dispositive Standards kulturell erst schwach konventionalisiert sind. Werbung arbeitet zudem mit wirkungsästhetischen Gestaltungsmaximen wie Innovation, Norm-Abweichung, Abwechslung, Kontrast (s. dazu Kap. 7.5). Entsprechend schwierig ist es im Bereich der werblichen Gebrauchstypographie, die Forderung nach genereller Einschriftigkeit durchzusetzen. In der berufsständischen Diskussion um die Frage des Einsatzes von Fraktur/Antiqua werden früh Stimmen laut, die die bestehende Zweischriftigkeit verteidigen und sich gegen die ausschließliche Verwendung einer der beiden Schriftarten für alle Gestaltungsaufgaben wenden. Denn »Endziel« der Schriftgestaltung und Schriftverwendung in der Werbung sei es, »die Beziehungen zum Sinngehalt des Gestaltungsstoffes« (Behne 1936,16) herzustellen. Mit Berufung auf die Leitmaxime typographischer Gestaltung-Textform und Textinhalt bestmöglich aufeinander abzustimmen - wird gefordert, den Gesamtbestand der Schriften je nach Aussage- und Wirkungsabsicht flexibel einsetzen zu können. Die Schriftgegensätze von Fraktur/Antiqua werden hierbei diskursiv soweit entideologisiert, daß die Schriftgruppen nicht nur parallel in verschiedenen Texten, sondern auch g e m e i n s a m in ein und derselben Vertextung verwendet werden können. Im zeitgenössischen Gebrauch von Fraktur/Antiqua einerseits und von Antiqua/Grotesk andererseits zeichnet sich die Tendenz zur Modernisierung der traditionellen (Akzidenz-) Typographie und zur >Traditionalisierung< der funktional-konstruktiven Typographie der Avantgarde ab. Beide Wandlungsprozesse vollziehen sich zeitgleich und weitgehend unabhängig voneinander, im Ergebnis aber konvergieren sie teilweise. Den grundlegenden Gegensatz der Auffassungen zur Verwendung von Fraktur/ Antiqua in der Gestaltungspraxis illustriert der Disput zwischen dem völkisch-nationalen Schriftideologen Stiehl und dem konservativen Typographien und Schriftkünstler Ehmcke. Unter dem Titel »Alles an seinem Platz!« fordert Ehmcke: Man muß vielmehr die Frage nach der rechten Schriftart immer vom Standpunkt des besonderen Falles aus behandeln (Ehmcke 1934, 8).
'"' Hierunter fallen beispielsweise Heimat- und Bauernromane. Diese waren seit Ende des 19. Jahrhunderts integraler Bestandteil nationalistisch-völkischer Tendenzen. Ideologisch vereinen sich hier Antisemitismus, Antiintellektualismus, Großstadt- und Zivilisationsfeindlichkeit mit Rassismus und der Biologisierung von Individuum und Volksgemeinschaft (»Blut und Boden«). In diesem Zusammenhang ist aufschlußreich, daß Giesecke in seiner Übersicht /um Schriftschaffen in Deutschland nach 1933 darauf verweist, daß sich »ein Hunger nach deutschen Schriften« »nicht so sehr in den Großstädten als vielmehr in den Mittel- und Kleinstädten« zeige (Giesecke 1935, 126).
306
Er wendet sich gegen die Forderung, Fraktur-Schriften unterschiedslos für jeden Textinhalt und unabhängig von ihrem Gebrauchszusammenhang und Verwendungszweck - sei es in Buchdruck oder Werbung, für Verkehrszeichen oder Architektur-Inschriften etc. - einzusetzen: Es heißt geradezu den Zauber zu brechen, den eine feierliche gotische Schrift in Kirchenbüchern, den eine zum Gemüt sprechende Fraktur in Gedichten oder Erzählungen ausübt, wenn man derart differenzierte Schriftformen zu banalen Aufschriften für Packräume und noch weniger würdige Stätten mißbraucht (Ehmcke 1935, 112).
Stiehl hingegen läßt nur die hochgeneralisierte fundamentalsemantische Basisopposition deutsch/nichtdeutsch als Unterscheidungskriterium zu, die gerade keinen »besonderen Fall« denken läßt; Stiehl fordert in seiner Replik deshalb apodiktisch: Alles Fremdsprachige lateinisch, alles Deutschsprachige deutsch im Druck! (Stiehl 1935, 109).117
Während Stiehl und Ehmcke den Einsatz von Fraktur und Antiqua in Hinblick auf ihre konnotative B e d e u t u n g diskutieren, werden in der zeitgenössischen Debatte unter rechts-konservativen Typographen die Eigenschaften von Fraktur/Antiqua als wirkungsstarker visueller Form-Gegensatz - unabhängig von ihrer ideologischen Semantisierung - als Argument für die Zweischriftigkeit geltend gemacht: Gerade die Werbung hat sich in den letzten Jahren unter dem doktrinären Einfluß der elementaren Typographie einer Zurückhaltung im Gebrauch der deutschen Schrift befleißigt, die schon nicht mehr verständlich war. Man muß sich wundern, wie wenig bei der Satzgestaltung der Anzeigen und Werbedrucksachen von dem Mittel der Gcgensatzwirkung durch die Verwendung deutscher Schrift in der Hochflut des Groteskstils Gehrauch gemacht wurde (Wolf 1934,6f.).
Wolf warnt davor, »vom Regen in die Traufe zu kommen«, denn es gebe jetzt vermehrt Stimmen, die wieder - nur diesmal für die deutsche Schrift - die »Ausschließlichkeit des Stilausdrucks« forderten. Dem stehe aber »die Vielfalt der Bedürfnisse des Lebens« entgegen; dies »verlangt ganz von selber Formenreichtum und Ausdrucksfülle«. Gerade die Werbung habe das »Bestreben zum Andersmachen als Voraussetzung«. Deshalb fordert Wolf: Aber nur kein Dogma mehr, das auf Ausschließlichkeit und Einheitlichkeit abzielt, zum mindesten nicht für die Werbung (Wolf 1934,7f).
117
Die Forderung, Antiqua ausschließlich für Fremdsprachiges zu verwenden, läßt sich leicht ausweiten, um Antiqua-Schriften zum >Stigma< allen Fremdländischen zu machen. So fordert Wagner unter dem Titel »Deutsche Schrift in der Werbung«, »daß für deutsches Schriftwerk und deutsches Erzeugnis im innerdeutschen Verkehr ausschließlich die deutsche Schrift als Qualitätskünderin zu gelten hat f...]. Auslandsfabrikate wollen wir gern schon an ihrer Werbung mit Antiqua-Beschriftung erkennen; denn dann können wir ohne Schwierigkeiten deutsche Arbeit von fremdländischer unterscheiden« (Wagner 1933, 21). 307
Sobald der Gegensatz von Fraktur und Antiqua in erster Linie als visuell-formaler und nicht als ideologisch-inhaltlicher Gegensatz betrachtet wird, kann die Zweischriftigkeit unter dem Gesichtspunkt der innovativen, werblich funktionalen (weil aufmerksamsstarken) Kontrastwirkung propagiert werden. Auch inhaltlich dezidiert völkisch-nationale Werbung der 30er Jahre macht von den Möglichkeiten der Schriftmischung vielfältig Gebrauch. Auch in der Typographie folgt nach dem Genuß von allzuviel Sachlichkeit einmal der Katzenjammer. Das strenge System wird vergessen, Fraktur und Grotesk, die feindlichen Brüder, wirbeln durcheinander, und doch bringt das Chaos neue reizvolle Möglichkeiten für den Mutigen, der Ungewohntes zu bringen wagt (Werbebeilage der Buchdruckerei Breitkopf und Härtel in Gebrauchsgraphik [1] 1933, o. S.).
Genausowenig wie sich innerhalb des national-konservativen Lagers eine einheitliche Linie bei der Verwendung von Fraktur/Antiqua ausmachen läßt, genausowenig läßt sich innerhalb der typographischen Avantgarde bei der Verwendung von Antiqua/Grotesk eine einheitliche Linie ausmachen. So wie das Formenrepertoire deutsch-nationaler Gebrauchstypographie um die Antiqua erweitert wird (vgl. dazu auch Kap. 6.2.3.3.2), so wenden sich prominente Vertreter der konstruktiv-funktionalen Typographie gegen Stimmen, die die Grotesk zur Universalschrift machen wollen, denn auch hier gilt die Maxime: [...] das Programm der neuen Typographen ist in erster Linie die vorurteilsfreie Anpassung der Typographie an den jeweiligen Zweck der Aufgabe (Tschichold [1930] 1991, 86).
Gefordert werden bestmögliche Lesbarkeit und optimale Übereinstimmung von Textform und Textinhalt. Der Einsatz von Grotesk-Schriften als Textschrift im Werksatz wird wegen ihrer schlechteren Lesbarkeit in Fließtexten von Tschichold kritisch bewertet: Schriften, die bestimmte Stilarten oder beschränkt-nationalen Charakter tragen (Gotisch, Fraktur, Kirchenslavisch) [im Original entsprechend gesetzt], sind nicht elementar gestaltet und beschränken zum Teil die internationale Verständigungsmöglichkeit. Die Mediäval-Antiqua ist die der Mehrzahl der heute Lebenden geläufigste Form der Druckschrift. Im (fortlaufenden) Werksatz besitzt sie heute noch, ohne eigentlich elementar gestaltet zu sein, vor vielen Groteskschriften den Vorzug besserer Lesbarkeit (Tschichold 1925,198);
oder sogar dezidiert abgelehnt; so etwa von Albers, Graphiker und Typograph am Bauhaus: [...] die grotesk ist als skelettschrift nicht die organische Schrift, weil sie das element, den buchstaben, überbetont und so nicht wortbild-bildend, noch weniger zeilenbildend und darum nicht best-lesbar ist. das wird deutlich im textsatz. also wird ihre jetzige modische allgemeine anwendung sich verlieren, sie wird sich in dem gebiet behaupten, für das sie gemacht ist, für auszeichnungs- und akzidenzsatz (Albers 1933 zit. aus Fleischmann 1984,36).
In seinem programmatischen Aufsatz zeitgemäße buchgestaltung [sie] betont Tschichold, daß der Einsatz der Grotesk als Universalschrift in der Buchtypographie ein Fernziel sei, abhängig von einer Erneuerung und Modernisierung der Buchform und der Buchinhalte, wie sie sich in dem Typ des >»bilder· 21« f«j in» „«tfuriWK 5SiW·, toil l« «· (n (tk» Rit dm AH*O» Mhri. Di· ΚΜη« loikrt und M oft« Cned dam. Won. -o * H«.t. ώ< «t KM».« Nth. ti< •rt°««(«rTfiiih »llrrlnk tt-'tf*' 7" "° "**" fr 3r(fin ^irl tfan β«4«»·< iir Iktni HdXTifiiiH 3if wffrtM 94 «nf |ri« wHMi«( C^efcfr (firfi «κδ nifinll ;fi»rn «it |iJ PirgniiifB m «bfelitfrri KnffEtl·
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Abb. 91 Stadt-Blatt der Frankfurter Zeitung, Pfingstsonntag 1932. Gestaltung Albert FUSS, 1932
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Abb. 92 Prospekt - Chemisch-Pharmazeutische A. G. Bad Homburg. Gestaltung Albert FUSS, 1932
Fall durch die unterschiedlichen Schriftformen als traditionell, modern-neusachlich und modern-dekorativ gegeneinander abgegrenzt. Das Beispiel zeigt, daß der Fraktur/Antiqua-Gegensatz in den 30er Jahren auch jenseits deutsch-nationaler bzw. politisch-weltanschaulicher Bedeutungszusammenhänge genutzt werden kann. In Abb. 91 werden Fraktur und Grotesk beispielsweise als historische Formgegensätze eingesetzt: die Textblöcke sind einander antithetisch entsprechend der Spaltentitel »Einst« und »Jetzt« als historische und moderne Ausdrucksformen gegenüberge315
Abb. 93 Tucholsky. Deutschland, Deutschland über alles. Berlin: Malik Verlag, 1929. Gestaltung John Heartfield
stellt.120 In Abb. 92 bezeichnet der Formgegensatz Fraktur/Antiqua nicht einen (zeit-) geschichtlichen, sondern einen (biologischen) Altersunterschied (jung vs. alt). Schon in den 30er Jahren werden Fraktur/Antiqua in typographischen Textgestaltungen auch als >Metazeichen< der ideologischen Semantisierungen, die ihnen im zeitgenössischen Schriftstreit zugeschrieben werden, zitierbar, wie beispielsweise in der Buchumschlaggestaltung von Heartfield (Abb. 93). Um sie zu verstehen, ist das Wissen um die weltanschaulich-ideologische Codierung des Fraktur/ Antiqua-Gegensatzes vorausgesetzt. Es rückt die konnotative Codierung der 120
Tschichold empfiehlt den Einsatz »gebrochener Schriften als Auszeichnung zur Antiqua« insbesondere dort, »wo der Inhalt mit alten Dingen zu tun hat«, weil sie »auch bei Laien die Vorstellungswelt des Vergangenen, Geschichtlichen wach[rufen]« (Tschichold [1939] 1991,222).
316
Bonn BB|^ Potttik Parlament Diplomatie
Musik Museen Theater
Abb. 94 Plakat - Stadt Bonn. Gestaltung Dieter Urban
Schriftzeichen ins Zentrum der gestalterischen Aussage. Auf diese Weise gelingt es dem Text, gegenüber der weltanschaulichen Semantisierung und politischen Funktionalisierung der Schriftform, >metatypographisch< kritisch Position zu beziehen. In Heartfields Umschlaggestaltung stellt sich dieses kommentierende Verfahren als semiotisch komplex dar: Es arbeitet mit zwei >ungleichzeitigen< konnotativen Codierungen: Der Titel selbst ist Zitat des Deutschlandliedes - dem >musikalischen Kollektivsymbol< des deutschen Nationalismus. Insofern erweist sich die Wahl der Fraktur als passend: der Textinhalt ist typographisch richtig >inszeniertNeu-FrakturNeu-Frakturfremden< Formelementen vermischt, wie z. B. Grotesk-Schrift und mittelachsiales Satzschema.122 Genuin nationalsozialistisch sind derartige Nivellierungstendenzen hingegen nicht.123 Sie sind typisch für die Entwicklung der werblichen Gebrauchstypographie der 30er Jahre. NS-Propagandamaterial nutzt gezielt die innovativen typographischen Gestaltungsprinzipien der Wirtschaftswerbung, 124 die unter dem Einfluß der typogra122
123
124
Die traditionell-mittelachsiale Konstruktion der meisten NS-Plakate unterscheidet diese wesentlich von Plakatgestaltungen der Typographie des Funktionalismus und Konstruktivismus, die anachsial-asymmetrische Schrift- und Bildkomposition programmatisch forderten und praktisch durchgängig anwandten. Die Typographen-Künstler der konstruktiv-funktionalen Avantgarde klagten häufig über den Mißbrauch ihrer Formensprache in der zeitgenössischen Gebrauchstypographie; so beispielsweise Bayer: »mit der elementaren typographic ist viel gesündigt worden [...]. gewisse regeln sind zum toten schema geworden« (Bayer 1933 zit. aus Fleischmann 1984,35). »Eine scharfe Abgrenzung von Seiten der Werbung, der uneigennützigen Propaganda und der eigennützigen Reklame kennt das Leben nicht. Um so weniger, als sich die Propaganda, also die Werbung für Geistiges, heute derselben Mittel zu bedienen begonnen hat wie die geschäftliche Reklame« (Hitler in Mein Kampf zit. aus Westphal 1989, 27). Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß zwar bald nach der Machtergreifung ein neues Werberecht erlassen und ein Kontrollorgan für das öffentliche und private Reklamcwesen, der Werberat, installiert wurde. Der Werberat unterstand direkt dem Propagandaministerium. Er war befugt, Werbung zu verbieten und Werbetreibenden Tätigkeitsverbot zu erteilen (Westphal 1989, 29; 43). Eine der ersten Verfügungen des Werberates enthielt die Maßgabe, daß Werbung »im Ausdruck deutsch zu sein hat« (zit. aus Westphal 1989,50); dieses Gebot bezog sich aber fast ausschließlich auf die Werbe-Sprache; gefordert wurde die »Verdeutschung fremdsprachlicher Bezeichnungen« (zit. aus Westphal
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Abb. 100 Plakat - »Gebt mir vier Jahre Zeit«. Ausstellung, Berlin 1937. Gestaltung Kroll, Deutsches Propagandaatelier, 1937
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Abb. 101 Plakat - NSDAP. Wahl des Reichspräsidenten 1932. Gestaltung Felix Albrecht. 1932
323
phisch-künstlerischen Avantgarden entstanden waren. Es gelang den Nationalsozialisten, »die Werbung in ihrer Form als politische Propaganda zu einem wichtigen Mittel der Staatsführung« zu machen (vgl. Schäfer 1991, 211). Die Hetzkampagnen gegen Konstruktivismus und Funktionalismus, die zwangsweise Auflösung des Bauhauses 1933 (s. dazu Hahn 1993,202), die Verfügung zahlreicher Lehrverbote und die Emigrationen prominenter Gestalter aus dem Umfeld der typographischen Avantgarde125 lassen das Verschwinden der typographischen Formensprache der gestalterischen Moderne aus dem öffentlichen Leben erwarten. Typisch für die Politik der Nazis unmittelbar nach 1933 aber war die Nichtverfolgung von Gestaltern im Bereich der angewandten Künste, sofern sie nicht als Juden stigmatisiert waren oder politische Widerstandsarbeit leisteten (vgl. Durth 1991,151). So konnten - nicht nur vereinzelt - namhafte Architekten, Designer und Typographen der funktionalistisch-konstruktiven Avantgarde aus dem Umfeld des Bauhauses ihre Tätigkeit in Wirtschaft und Industrie, und sogar bei staatlichen Repräsentativaufgaben wie Ausstellungs- und Messegestaltungen fortsetzen, selbst wenn sie als Hochschullehrer oder als bildende Künstler Berufsverbot hatten; zu nennen sind hier beispielsweise Gropius, Mies van der Rohe, Eiermann oder Wagenfeld (s. dazu Nerdinger 1993a, 14; 20; Nerdinger 1993b, 153ff.; Hahn 1993, 202ff.; Weißler [Hg.] 1990).126 Als prominenter Typograph ist in diesem Zusammen-
125
126
1989, 52), nicht jedoch die >Nationalisierung< der (typo-) graphischen Formensprache von Werbung. Es wurde bezeichnenderweise kein Fraktur-Gebot für >deutsche< Werbung ausgesprochen. In einem erläuternden Kommentar zur neuen Gesetzeslage wird ausdrücklich betont, daß an keine Verstaatlichung der Wirtschaftswerbung gedacht ist und daß vor allen Dingen »eine Uniformierung der Wirtschaftswerbung [...] von der Regierung abgelehnt [wird], vielmehr soll die Vielgestaltigkeit des deutschen Werbelebens nicht verkümmert werden« (Putthammer 1933,66); im Gegenteil wird ausdrücklich gefordert, daß die »Vielgestaltigkeit des deutschen wirtschaftlichen und kulturellen Lebens [...] in der Werbung ihre Spiegelung finden« solle (Putthammer 1933,68). So emigrierte beispielsweise Tschichold, der prominenteste Vertreter der Elementaren Typographie, schon 1933. Er war unmittelbar nach der Machtergreifung nach einer Hausdurchsuchung in Schutzhaft genommen worden (McLean 1990,48f.). Baumeisters berufliche Biographie ist exemplarisch für diese paradoxe NS-Kulturpolitik. Er war als >entarteter< Maler mit einem Arbeitsverbot belegt worden, wurde 1933 auch aus seiner Lehrtätigkeit an der Kunstgewerbeschule Frankfurt a. M., wo er als Professor für Typographie und Werbegraphik beschäftigt war, entlassen und war dennoch von 1933 bis 1945 in Deutschland als Typograph in Werbung und Ausstellungs-Design für Kongresse und Messen tätig (Kermer 1989,40; 113ff.). Daß er bis zum Kriegsende in Deutschland arbeitete, unterscheidet ihn wiederum von anderen Gestaltern, die im Zuge der kunst- und kulturpolitischen Radikalisierung im Jahr 1936 Aufträge verloren oder offen verfolgt wurden und in der Folge - wie beispielsweise Bayer - emigrierten (vgl. Godau 1990,75; Merker 83, 140ff.). Ein anderes Beispiel für die Widersprüchlichkeiten nationalsozialistischer Kulturpolitik im Spannungsfeld zwischen innenpolitischer und internationaler Propaganda ist die Biographie des einflußreichen Schriftgestalters und Typographen Renner (von ihm stammt die Futura, eine der damals meistgebrauchten Grotesk-Varianten). Anläßlich der Veröffentlichung eines Aufsatzes von Renner in der Schweiz, in dem er Positionen der Elementaren Typographie und des Neuen Bauens verteidigte, wurde er im Völkischen Beobachter vom 30. 3. 1932 als Kulturbolschewist angeprangert. Nichtsdestotrotz
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Abb. 102 Katalog - »Deutschland«. Ausstellung, Berlin 1936. Gestaltung Herbert Bayer
hang beispielsweise Herbert Bayer zu nennen. Bayer wurde bis 1937 als Typograph und Graphiker mit der Gestaltung einiger der großen Propaganda-Ausstellungen beauftragt 127 - z.B. »Deutsches Volk - Deutsche Arbeit« (1934), »Deutschland« (1936), »Das Wunder des Lebens« (1935), »Die Kamera« (1933) -, die als »Kulturund Lehrschauen mit wirtschaftlichem Einschlage« klassifiziert waren und als »wirksamste Werbemittel für den Export« hohen propagandistischen Stellenwert hatten (Brüning 1993,27).128 Im Ausstellungs- und Messewesen zeigt sich die nahtlose Fortsetzung der typographischen Moderne: hier zielen die Machthaber auf internationale Beachtung und die Symbolisierung von Modernität und Weltläufig-
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12S
erhielt Renner im April 1933 den Auftrag zur Gestaltung des deutschen Beitrags bei der Mailänder Trienale, der dort den Großen Preis erhielt. Dies war für die Machthaber kein Hinderungsgrund, ihn im Juli 1933 aus dem Amt des Leiters der Meisterschule der deutschen Buchdrucker zu entlassen (Luidl 1979,102f.; 200f.). Erst 1937 wird ein Plakatentwurf Bayers von Goebbels als zu modern abgelehnt; 1938 emigriert Bayer (Brüning 1993,30). Die Ausstellungen »Deutsches Volk - Deutsche Arbeit« und »Wunder des Lebens« hatten unzweideutig >rassekundliche< und >rassepflegerische< Abteilungen (Weißler 1993, 59).
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keit; es geht um den Beweis wissenschaftlicher, technischer und kultureller Fortschrittlichkeit des >neuen Deutschland< und den Anschluß an die Weltmärkte. Dementsprechend wird auf jeglichen typographischen Nationalismus< verzichtet. So setzt beispielsweise Bayer in seinen graphisch-typographischen Arbeiten für die genannten Messen und Ausstellungen keine Fraktur-Schriften ein (Abb. 102),129 vielmehr nutzt er Kontrastmischungen, wie sie typisch für die skizzierte >Schriftwende< innerhalb der Neuen Typographie sind (s. Kap. 6.2.4.2.3.1) und wie sie typisch für die Typographie der 50er Jahre werden. Einige Gründe, warum trotz der heterogenen Schriftpolitik und der vielgestaltigen typographischen Formensprache des NS-Propagandamaterials sich in der Sekundärliteratur die Vorstellung von einer einheitlichen, typisch nationalsozialistischen Typographie vielfach durchgesetzt hat, wurden eingangs bereits genannt (s. Kap. 6.2.4.2.1). In diesem Zusammenhang sollte nicht übersehen werden, daß völkisch-nationale Schriftideologen selber das Bild vom Ende aller >undeutschen< Typographie im Dritten Reich gezeichnet haben: Gewandte und zungenfertige Apostel suchten zu beweisen, daß das technische Zeitalter auch eine Technisierung der Schrift und des Drucks verlange. Deshalb war die Grotesk als völlig schmucklose Skelettschrift die einzig anerkannte Schriftform, zu deren Begleitung Punkt, Linie und Balken allein gestattet waren. Teile des Druckgewerbes fielen tatsächlich auf die neue Lehre herein, und man kann nur noch mit Schaudern an die Erzeugnisse dieser >Elementaren Typographie< zurückdenken. Mit dem Umbruch des Jahres 1933 war der Spuk verflogen und die Bahn frei gemacht für die gute deutsche Buch- und Druckkunst (Lange 1940 zit. aus Friedl 1986,10f.).
Darüber hinaus ist nicht zu vergessen, daß die kulturelle Semantisierung des Fraktur/Antiqua-Gegensatzes weder mit dem Normal-Schrift-Erlaß noch mit dem Ende des Dritten Reiches abgeschlossen war. Die Semantisierung von Fraktur-Schriften findet auch gegenwärtig statt: Nicht zuletzt die Abbildung bzw. Verwendung von Fraktur-Schriften im Zusammenhang mit Publikationen über den Antisemitismus, das Dritte Reich oder den Neonazismus (Abb. 103 und Abb. 104) trägt wesentlich dazu bei, daß Fraktur-Schriften heutzutage (unter anderem auch) Funktions-Zeichen des Dritten Reiches sind.
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'' 1933 hatte sich Bayer zum Schriftstreit um Fraktur/Antiqua folgendermaßen geäußert: »an eine stärkere anwendung der fraktur kann ich nicht glauben, ich sehe nur, daß durch die politische Strömung die fraktur wieder als echter deutscher >kraftausdruck< (zusammen mit soldatenbildern) hervorgeholt wird, aber eine besondere betonung der fraktur und der mentalität, die mit ihr zusammenhängt, kann nur gezwungenermaßen der fall sein, denn sie liegt nicht in der linie der entwicklung. das ist das wesentliche überhaupt: wir müssen uns zum besonderen, neuen und modernen bekennen und nicht unbedingt aus alten dingen unser kulturleben fristen, dann werden wir auch in der typographic weiterhin unsere eigene form finden« (Bayer 1933 zit. aus Fleischmann 1984, 35).
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Abb. 103 Wahrheit und >Auschwitz-LügeDesign-Papst< in den Schweizer Graphischen Mitteilungen ein Disput, in welchem die Präferenz für eines der beiden Satzschemata zum Zeichen moralischer und politischer Gesinnung stilisiert wurde. 327
Schema der bisherigen Anordnung von Klischees in Zeitschriften.
Abb. 105 Gegenüberstellung von mittelachsialem und anachsialem Satzschema aus Jan Tschichold Die neue Typographie. Berlin, 1928 328
6.3.1 Die Vorgeschichte. Typographie zwischen Werk- und Akzidenzsatz Die Entgegensetzung von mittelachsialer und anachsialer Schriftkomposition erfolgt im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts im Zuge der formal-ästhetischen Innovationen und dispositiv-normativen Neubestimmungen der Gestaltungsprinzipien von textorientierter Buchtypographie einerseits und bildorientierter Informationstypographie andererseits. Die Entstehung inhaltlich und sprachlich-formal neuartiger Textsorten, wie >PhotoLese-Buch< eine sozial, kulturell und technisch überholte, unzeitgemäße Textform sei: Zeit ist Geld: das Geschehen ist ökonomisch bestimmt. Wir leben schnell und bewegen uns so [...]. Wir müssen schnell lesen wie knapp sprechen. Damit entfernt sich der Mensch von heute von der Schriftform des Buches. [...] eine neue Welt kommt. Die neuen Bibliotheken Amerikas haben weniger Bücher, sehr viele Zeitschriften (Albers 1926. 395).
Weitgehend die einzige reihen- und damit normbildende Initiative Elementarer Typographie auf dem Gebiet angewandter Buchgestaltung sind die vierzehn Bände der von Moholy-Nagy typographisch gestalteten Bauhausbücher, die in den Jahren von 1925 bis 1930 erschienen (s. dazu Müller 1994,63ff.).132 In dieser Reihe manifestiert sich die bildorientierte Buchgestaltung des typographischen Konstruktivismus. Moholy-Nagy überträgt die typographischen Gestaltungsprinzipien, die in erster Linie an werblicher und nachrichtlicher Gebrauchstypographie entwickelt wurden, auf die Buchgestaltung: Strukturierung des Textes nach bildoptischen, flächensyntaktischen Prinzipien, Erzeugung größtmöglicher Kontrastwirkungen, Verbindung von Typographie und photographischen Elementen zu einem »semantischen Komplex aus Text und Bild« (Lang 1990, 154) (s. dazu auch Kap. 7.3). Tschichold war einer der wenigen Neuen Typographen, die schon Ende der 20er Jahre eine differenzierte Theoriebildung zur Buchtypographie vorlegten. In seinem Aufsatz zeitgemäße huchgestaltung geht auch er davon aus, daß das Ende des traditionellen Buches eingeleitet sei: Lautes und langsames Lesen sei »in unserer zeit dem überfliegen des textes gewichen«; die neue »lesetechnik führte zu der spezifi-
'-" Wie randständig das Buch als typographischer Gestaltungsgegenstand der Elementaren Typographie war, illustriert das Inhaltsverzeichnis des ersten umfassenden Lehrbuchs funktional-konstruktiver Typographie, Tschicholds Die neue Typographie aus dem Jahr 1928. Als »typographische Hauptformen« werden dort aufgelistet: Typosignet, Geschäftsbrief, Halbbrief, Briefhüllen ohne Fenster, Postkarte, Postkarte mit Klappe. Geschäftskarte, Besuchskarte, Werbesachen (Zettel, Karten, Blätter, Prospekte, Kataloge), Typoplakat, Bildplakat, Schildformate, Tafeln und Rahmen, Inserate, Zeitschrift, Tageszeitung, illustrierte Zeitung, Tabellensatz und zuletzt »Das neue Buch«. '·'- Davon zu unterscheiden sind literarisch-künstlerische buchtypographische Experimente (s. dazu Kap.7.6.3.2). 331
sehen form des Zeitungssatzes« (Tschichold [1927] 1991,17).133 In der Buchgestaltung habe dies zur »Verlegung des Schwerpunktes auf die optische Erscheinung des Buches und eine zeitgemäße, restlose Ausnützung der typographischen und photographischen Mittel und Methoden« geführt (Tschichold [1928] 1987, 223). Neben dem »reinen >BuchstabenBilderLese-Buch< (Abb. 106 und Abb. 107). Es zeigt typische Merkmale traditioneller Buchtypographie. Sieht man einmal von der Grotesk als Textschrift und der anachsialen Komposition von Titel, Inhaltsverzeichnis sowie Kapitelüberschriften ab, so reduzieren sich die buchtypographischen Neuerungen hauptsächlich auf die Art und Weise der Einbindung von Abbildungen: ihre Anordnung auf der Fläche erfolgt nun anachsial, nach flächengestalterischen Kompositionsprinzipien; der Satzspiegel der Doppelseiten hingegen ist traditionell mittelachsial um den Bund >gespiegelt. Jahrhunderts weitlBuftg die Gefühle seiner Helden und die Landschaften der Handlung in epischer Breite, Die Schnelligkeit und Gedrängtheit des Rtms hat auch die Literatur in dar Richtung nach filmisch-momentbildhafter Gestaltung beeinflußt. An die Stelle dee Romans Ist die short story getreten. Auf der Suche nach neuen Ausdrucksmogtich ketten sind einige Dichter de r Gegenwart auf die Typographie gestoSen. Sie haben versucht die Wirkungsv*f*cU«nd·* MM* rtcfci pttfatek EM K» «*« U i dM f*uU*m> *r>tg*g*n>»KhM, Ihr VwwimlntfM b** h· DteMung·«. nt *fcu«ü«ehw WWtune btnrfiM wwriMtk* M -, btatM di· SctoHpMta *·raMftr-n K«rt SefaMtw* «md JwMm ftnotimto tuton
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Abb. 106 Tschichold. Die neue Typographie. Berlin: Verlag des Bildungsverbandes der deutschen Buchdrucker, 1928
»Buchformat des Romans« ebenso wie »der Satzspiegel des Romans und seine Stellung«, die »kaum mit Vorteil zu verändern« seien (Tschichold 1935,101). Was Tschichold propagiert, ist die textsorten- und textinhaltsbezogene Binnendifferenzierung typographischer Buchgestaltung. Das tradierte Dispositiv mittelachsial organisierter Buchtypographie - wie es im 18. und 19. Jahrhundert entwickelt wurde - soll weiterhin als Satzschema traditioneller, insbesondere literarischer Texte genutzt werden: Das neue Buch fordert eine Neuordnung aller [...] Teile; es ist sinnlos, nur einen asymmetrischen Titel vor ein konventionelles Buch zu stellen. Ebenso sinnlos ist es allerdings, ein inhaltlich konventionelles Buch mit einem modernen Kleid zu versehen; hier ist die konventionelle Typografie gerade recht. Form und Inhalt sollen übereinstimmen (Tschichold 1935, 102f.).
Es ist mithin nur folgerichtig, daß Tschichold, als er Anfang der 40er Jahre im Schweizer Exil für den Birkhäuser Verlag tätig wird, historische Werkausgaben in
333
JOHANNES MO LZ AHN: Typoeignnl Illr dl· E i s e n w a r e n f e h r i k W.l heim Heunert, o.»t
gröÖerer Foi jnd difi starke Kraft, die allen D-ngen innewohnt, deren Äußeres ganz au technischen HersteHungsprozeß hervorgeht. Die Mittet, die d Buchdrucker bei der- Gestaltung von Signeten zur- VerFügung stehen, s nd die typographischen Formen des Setzkastens: Linien, Bogen, die geom Irischen Formen. Buchstaben, und — nicht zuietzt — die Phantasie. Ohne le nützen einem selbst die neuesten Messingstücke und Schriften nichls Das Signet bringt meist Buchstaben in neuartiger Form, ein Symbol der Ware odor beides zugleich. Die Wirkung des Signets für Pelikan beruht auf der Verwendung einfachster Typoformen von kontrastierenden Stärken und Bewegungen. Das Signet „Heunert" ist ein Sinnbild für die Eisenwaren der Firma, zusammengehet/t aus dem Initial des Namens Heunert Mit dem Initial
des Vornamens Piat zusammen wird d«s schwar/e Quadrat (..rwari" ist die holländische Form dusoeulschfin.,schwarz") zu einer unvergeßlichen Marke. Ähnlich dem Heunertsignet g»bt auch dasTyposignei für «men Glasmaler von Herbert Bayer ein zusammengedrftnijtcs Sinnbild des Berufs· dieAbslriiktion der Linien eines Gtasfensters. Wßnncjleich es seh'1 zu begrüßen wäre, wenn sich der Buchdrucker mehr als bisher auch der Gestaltung von Signeten zuwenden würde, muß aber auf das oindrinnlichsle davor gewarnt wnrden. mit dem Setzkasten herqtjstöllty bloße BuchslBbenvcrbindungün (Monogramme) als Signete anzusehen, sie ru schatten und sie gar zu verenden. EinSignot ist ftlwas durchaus anderes. Höheres als das bloße Monogramm, und ein mangelhaftesSignctviel schiinv mer als gar keines Der Buchdrucker ist heute oft verführt, an die Steife des früheren Seh muckst ticks ein Typomonogra mm zu setzen. Aber nur dssSignef ist auf Werbsachen berechtigt: Monogramme haben dort in unserer Zfiit keinen Sinn, Ein Monogramm als Warenmarke Ist stets schlechler als ein Siynet. Und ein schlechtes Signet kann zum Grundfehler einer Werbung werden. Darum verzichte man üobef auf das Monogramm als Signetersatz, wenn zu einem Typosignet die Zelt, die men data unbedingt braucht, fehlt, und beschranke sieh auf die bloße Schrift. Jodenlails aber bietet dasTyposignet dam Buchdrucker die Möglichkeit einer anregenden und dankbaren Betätigung· und die Seh wie r i gk eile n eines guten Signets soHten nur ein Ansporn zu Ihrer Bewältigung sein
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HERBERT BAYER:
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Abb. 107 Tschichold. Die neue Typographie. Berlin: Verlag des Bildungsverbandes der deutschen Buchdrucker, 1928
traditioneller, mittelachsialer Buchtypographie gestaltet (s. Abb. in McLean 1975, 74ff.): Wie alle summarischen Urteile ist die primitive Meinung >Neue Typographie - gut, alte schlecht und ihre Umkehrung abwegig. Beide Satzweisen sind wertvoll; sie müssen aber sinnvoll angewendet werden (Tschichold [1937/1938] 1991, 213). 6.3.2 Der Disput zwischen Bill und Tschichold
Um so erstaunlicher ist die ideologische Semantisierung, die der dispositive Formgegensatz von mittelachsialem und anachsialem Kompositionsschema in der Debatte zwischen Bill und Tschichold 1946 erfährt Während Tschicholds textinhaltsbezogene Bewertung der beiden Satzschemata eine generelle Präferenz für eines der beiden Satzmuster ausschließt, schreibt Bill den beiden Kompositionsschemata ästhetische und politisch-weltanschauliche Bedeutungen zu, deren binär-asymmetrische Codierung eine flexible Verwendung der beiden Satzmuster prinzipiell aus334
schließt. Der Disput zwischen Bill und Tschichold ist einerseits nur vor dem Hintergrund der Ideologisierungen von typographischen Formen während des Dritten Reichs gänzlich verständlich. Die konträren Werturteile basieren auf einem jeweils anders perspektivierten Bild des Nationalsozialismus und seiner Typographie. Andererseits entzündet sich die Debatte an jeweils gegensätzlichen Vorstellungen über die Möglichkeiten der formal-ästhetischen Fortentwicklung typographischer Formensprache. Bill widerspricht der Tschicholdschen These, daß die typographische Revolution der 20er Jahre bereits Anfang der 30er Jahre an einem Wendepunkt angelangt war, an dem Innovation nicht mehr aus der Weiterentwicklung typographischer Formen betrieben werden konnte. Bill wendet sich scharf gegen »die >zurück-zum-alten-satzbild-seuchetraditionelle< buch zurück und behaupten, das buch müsse im stil seiner zeit gestaltet sein, auf alle fälle wenden sie die grundprinzipien vergangener zeiten an [...]. wir halten ein solches vorgehen für absolut verwerflich (Bill 1946. 199).
Bill stellt mittelachsialen und anachsialen Satz als sich wechselseitig ausschließende Formprinzipien gegenüber, die keine variable Nutzung zulassen, indem er ihnen ausgehend von der Basisopposition Fortschrift vs. Rückschritt- konnotativ hochgradig asymmetrisch besetzte Ausdruckswerte zuweist, die er zunächst mit formalästhetischen, dann aber mit politisch-moralischen Werturteilen verknüpft: Die Rückbesinnung auf die traditionelle Buchform beurteilt Bill als »eine flucht ins her-
"5 Ohne daß Bill ihn namentlich nennen würde, ist für den Leserkreis der Schweizer Graphischen Mitteilungen, in der Bills Aufsatz im Mai 1946 erschien, unmißverständlich kenntlich, daß hier in erster Linie Tschichold gemeint ist. 136 Die Innovationen der konstruktiv-funktionalen Avantgarde haben Typographie vor allem der abstrakt-visuellen Bild-Kunst und deren Prinzipien der Flächengestaltung angenähert. Hierauf bezieht sich Bill in seiner Definition von Typographie: »typografie ist die gestaltung von Satzbildern, in ähnlicher weise, wie die moderne, konkrete maierei die gestaltung von flächenrhythmen ist« (Bill 1946, 197). (s. dazu ausführlich Kap. 7.6.3.1). 335
gebrachte als ausdruck eines rückwärts gerichteten historizismus«. Er vergleicht sie mit dem Versuch, »die technische entwicklung um 100 bis 200 jähre zurückdrehen« zu wollen. Man komme dann schnell zur der Erkenntnis, daß der fortschritt wirklich vom vorwärtsschreiten kommt und daß man niemals etwas, das man rückwärts dreht, als fortschritt bezeichnen kann (Bill 1946,200).
Drückt die Berufung auf Fortschritt zunächst nur allgemein ein Bekenntnis zur Moderne aus, überträgt Bill den Fortschrittsbegriff im folgenden auf die gestalterische und künstlerische Moderne, um Fortschritt in den (angewandten) Künsten schließlich als ästhetisches und politisch-moralisches Gebot einzufordern: es ist die gleiche these, die jeder künstlerischen neuerung entgegengehalten wird, entweder von einem früheren Vertreter der nun angegriffenen richtung oder von einem modischen mitläufer, wenn ihnen selbst Spannkraft und fortschrittsglaube verlorengegangen sind und sie sich auf das >altbewährte< zurückziehen, glücklicherweise gibt es aber immer wieder junge, zukunftsfreudige kräfte, [...] die unbeirrt nach neuen möglichkeiten suchen und die errungenen grundsätze weiterentwickeln, gegenströmungen kennen wir auf allen gebieten, vor allen dingen in den künsten. wir kennen maier, die nach interessantem beginn, der sich logisch aus dem zeitgenössischen Weltbild ergab, sich später in reaktionären formen auszudrücken begannen, wir kennen vor allem in der architektur jene entwicklung, die, anstatt der fortschrittlichen erkenntnis zu folgen und die architektur weiter zu entwikkeln, einerseits dekorative lösungen suchte und andererseits sich jeder reaktionären bestrebung öffnete, [...] denn für sie sind die fragen und probleme des fortschritts erledigt (Bill 1946,193).
Rückschritt fügt sich sowohl im semantischen Feld von Kunst als auch von Politik in negativ codierte konnotative semantische Achsen. Bills Argumentation kann den Vorwurf formalästhetischen Rückschritts deshalb problemlos in den Vorwurf der politisch reaktionären Gesinnung überführen und schließlich in die Unterstellung des (geistigen) Mitläufertums im Nationalsozialismus münden lassen:137 nichts ist leichter, als heute festzustellen, daß sich diese leute täuschten, [...] sie sind auf eine geschickte >kulturpropaganda< hereingefallen und wurden zu exponenten einer richtung, die vorab im politischen sichtbar zu einem debakel geführt hat, sie gaben sich als >fortschrittlich< und wurden, ohne es zu wissen, die Opfer einer geistigen infiltration, der jede reaktionäre Strömung nützlich war. [...] nichts wäre verfehlter, als heute noch immer die trabanten jenes >fortschritts< auf geistigem gebiet zu fördern, anstatt ihnen das recht abzusprechen, diejenigen zu diffamieren, die auch auf geistig-künstlerischem gebiet widerstand geleistet haben, unter Weiterentwicklung ihrer thesen [...] so auch in der typografie (Bill 1946,193f).
Daß die diskursive Zusammenbindung von Typographie und Politik unter der semantischen Basisopposition Fortschritt/Reaktion so bruchlos funktioniert, liegt an der Ideologisierung und Politisierung von typographischen Gestaltungsfragen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Insbesondere die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Funktionalisierung von angewandter (und bildender) Kunst und die re137
Was in Hinblick auf Tschicholds Biographie - kurzzeitige Inhaftierung, Lehrverbot, Emigration 1933 - eine besondere Provokation darstellt.
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trospektive Bewertung von Typographie (bzw. Kunst) der 30er Jahre erfolgt deshalb bis heute unter politisch-moralischen Gesichtspunkten entlang der Frage: Anpassung oder Widerstand.138 Erachtet Bill das Wiederanknüpfen an traditionelle typographische Formen als Ausdruck ideologischer Vereinnahmung durch den politischen und kulturellen Totalitarismus der Nationalsozialisten, so wertet umgekehrt Tschichold das einseitige Festhalten an frühen Postulaten des typographischen Funktionalismus und Konstruktivismus als Zeichen totalitärer faschistoider Geisteshaltung: Es scheint mir kein Zufall, daß diese [Neue] Typographie fast nur in Deutschland geübt wurde und in andren Ländern kaum Eingang fand. Entspricht doch ihre u n d u l d s a m e H a l t u n g ganz besonders dem deutschen Hang zum U n b e d i n g t e n , ihr m i l i t ä r i scher Ordnungswille und ihr Anspruch auf A l l e i n h e r r s c h a f t jener f ü r c h t e r l i chen Komponente deutschen Wesens, die Hitlers Herrschaft und den Zweiten Weltkrieg ausgelöst hat. Das ist mir erst viel später, in der demokratischen Schweiz klargeworden. [.. .]Wenn die Hitler->Kultur< auch ihrerseits uns als >Kulturbolschewisten< [...] bezeichnete, so wandte sie aber in Wirklichkeit die gleichen Verdunklungs- und Fälschungsmethoden an wie auch sonst überall. Das Dritte Reich förderte nämlich in seinen Kriegsvorbereitungen wie kein anderes den technischen >FortschrittOrdnungsFührerGefolgschaftordnungmodern< ist, bedeutet doch keineswegs zugleich, daß sie wertvoll oder gar gut sei; weit eher ist sie böse (Tschichold 1946, 235).
Interessant ist, daß Tschichold erstmals in der Auseinandersetzung mit Bill die Elementare Typographie zu einer formalästhetisch dogmatischen und politisch doktrinären Bewegung erklärt; eine Einschätzung, die die Analyse der Praxis und Programmatik der Elementaren Typographie der 2()er und 30er Jahre in dieser Schärfe gerade nicht bestätigt. So war beispielsweise der Mittelachsensatz als formalistisches Schema abgelehnt worden, weil es als ungeeignet erachtet wurde, neue Textsorten und Textinhalte typographisch ihrem Zweck und ihrer Aussage gemäß zu gestalten. Daß mittelachsiale Schriftkomposition politisch konnotiert gewesen sei und deshalb abgelehnt wurde, dies liest man erstmals in Tschicholds Rückblick auf die typographische Revolution der 20er Jahre: [...] was symmetrisch war, wurde unbedacht und irrtümlich den Ausdrucksformen des politischen Absolutismus zugeordnet und darum als veraltet erklärt (Tschichold 1946, 234).
Tschicholds Argumentation zielt nun aber paradoxerweise gerade nicht auf die politische (Re-) Ideologisierung von Typographie. Im Gegensatz zu Bill sucht er kein Verdikt über alte bzw. neue typographische Formenkanones aufgrund ihrer politischen Konnotationen zu verhängen. Vielmehr geht es Tschichold um die Verteidigung der pragmatischen Wende, die er - und andere Neue Typographien - schon Anfang der 30er Jahre vollzogen hatte. Er ersetzt die weltanschauliche Hierarchisierung der typographischen Formationsregeln im selben Atemzug durch ein textinhaltsbezogenes Wertsystem, das die gleichberechtigte Verwendung der beiden Kompositionsformen regulieren soll. Die Formensprache der funktionalen Typographie, so betont Tschichold, eignet sich vortrefflich für die Propaganda von Industrieprodukten, aus deren Geist sie geboren ist, und erfüllt dort ihren Zweck heute noch ebensogut wie ehedem (Tschichold 1946,234).
Bills Gestaltungen von Katalogen und Büchern in funktionalem Stil zu neusachlicher Architektur, konkreter Malerei u. ä. lobt Tschichold: Es ist durchaus richtig, den typographischen Stil solcher Werke aus den Formgesetzen der konkreten Malerei abzuleiten, genau so wie es richtig wäre, einen Band Barocklyrik ein wenig der Barocktypographie zu nähern. [...] Wenn Bill aber lehrt, dieser Stil sei auch für Bücher jeder anderen Art geeignet, so zeugt das entweder von mangelndem Verständnis für anders geartete Inhalte, als sie ihm geläufig sind, oder von dogmatischer Halsstarrigkeit [...]. Neuartigkeit und überraschende Gesamtform duldet nur eine winzige Gruppe von 338
Büchern; in den meisten ändern wird beides als Störung und Aufdringlichkeit empfunden (Tschichold 1946,237).139 Besteht an der Möglichkeit der formal-ästhetischen Weiterentwicklung typographischer Zeichenmittel für Bill kein Zweifel, so vertritt Tschichold die These, daß mit der typographischen Avantgarde die Grenzen innovativer Fortentwickelbarkeit typographischer Formen erreicht wurden: Der historische Wert dieser Bemühungen um eine typographische Umwälzung besteht darin, daß sie das Salzbild von abgestorbenen Elementen reinigte, die Photographie bejahte, die Satzregeln erneuerte und zahlreiche fruchtbare Anregungen gab [...]. Die Pathetik letzter, wahrhaft asketischer Einfachheit, die diese Bemühungen kennzeichnete, war die strengste Schule, die sich denken läßt, weil sie bis an Endpunkte vorstieß, die keine weitere Entwicklung mehr zuließen (Tschichold 1946, 234). Unter dieser Prämisse rückt zwangsläufig der rekombinative Einsatz der entwickelten Mittel ins Zentrum der gestalterischen Innovationen. Tschichold ist - wenn man so will - der erste Theoretiker der typographischen Postmoderne. Der Bedeutungsgehalt von Modernität erfährt eine radikale Transformation. War er bisher an das Begriffsfeld Innovation gekoppelt und bezeichnete das Neue im Sinn des bisher Ungekannten, so bedeutet der Begriff nun in erster Linie Gegenwärägkeii. Traditionelle Typographie könne demnach neu und erfrischend wirken [..Jauch sie ist, genau wie die Typographie Bills, nur e i n e moderne Form. Und beide sind >modernneuartig< oder >neudeutsche< Schrift innerhalb des typographischen Formenrepertoires durch den Verweis auf eine spezifisch >deutsche< Satzweise als Ausdruckszeichen deutscher Rasse< und >deutschen Wesens< zu ersetzen (s. Kap. 6.2.4.1.2). Im selben Aufsatz nimmt er - offensichtlich in Anbetracht der realexistierenden Vielfalt und der zeitgenössischen Entwicklungsdynamik gebrauchstypographischer Formen - vorweg, daß auch kein Satzschema dauerhaft als >deutsche< Form gelten wird. Um die ideologische Rede von einer >deutschen< Typographie zu retten, behauptet Lange schließlich, daß es für das >deutsche Wesen< charakteristisch sei, gerade keine stabile Ausdrucksformbindung zu kennen: Der Deutsche lasse sich wegen seiner besonderen »optischen und seelischen Einstellung« auf »keine feste Gesetzlichkeit der Form« verpflichten, vielmehr bedinge sein Wesen ein »ewiges Ringen mit der Form und um die Form«; das »deutsche Formgefühl« habe keine »Bindung«; »auch für die deutsche Schriftkunst wie für deutsche Typographie [gelte] keine geregelte Ordnung« (Lange 1943,15). Erfolgreicher als derartige Versuche der Aufrechterhaltung der ideologischen Fundamentalsemantik deutsch/nichtdeutsch, die den Schriftstreit im ersten Drittel des Jahrhunderts geprägt hat, sind in den 40er Jahren in der deutsch-nationalen Theoriebildung zu Typographie Ansätze der Enthierarchisierung und Entideologisierung typographischer Zeichenmittel zugunsten ihrer textinhaltbezogenen Verwendung. Verbunden damit ist das Bewußtsein, an einen historischen Wendepunkt gelangt zu sein, bedingt durch ein neues »Zeitempfinden und der kriegsbedingten Forderung rationeller Arbeitsweise« (Grenzmer 1944, 104). So charakterisiert 340
Grenzmer 1944 die zeitgenössische Typographie als »Stil ohne Dogma«. Typographie basiere gegenwärtig auf »ungeschriebenen Gesetzen, die weder wie einst im Mittelpunkt öffentlicher Meinungsäußerung« stehen, noch sich »zu starren Leitsätzen pressen« lassen (Grenzmer 1944, 104). Typographie sei jetzt charakterisiert durch die »Freiheit der Formgebung«, »an kein Dogma gebunden, das früher manchmal bis zur Unerträglichkeit die Schaffensfreude hemmte« (Grenzmer 1944, 1Ü5).140 An diesem Punkt erscheinen Fraktur und Antiqua, mittelachsialer und anachsialer Satz als gleichwertige und gleichermaßen brauchbare typographische Ausdrucksmittel: Im Rahmen der von der Normalschrift-Verfügung zugelassenen Karenz steht die Fraktur noch immer gleichberechtigt neben der Antiqua. Der Stimmungsgehalt des Werkes gibt bei der Wahl den Ausschlag (Grenzmer 1944,103).
Genausowenig habe der mittelachsiale vor dem anachsialen Textaufbau den Vorrang, entscheidend sei vielmehr, daß die Textanordnung »eine erkennbare Funktion zu erfüllen hat« (Grenzmer 1944,104). Alles, was sich »durch Brauchbarkeit in den letzten Zeiten vergangener Stile geadelt hat, wird heute unbedenklich in den Zeitstil eingebaut«; dies sei es, was Modernität ausmache (Grenzmer 1944, 105). In den 40er Jahren ist im wesentlichen schon formuliert, was Schauer zehn Jahre später, auf seine Gegenwart bezogen - mit dem nachkriegstypischen Gestus des Neuanfangs 141 - als »Stilwende« beschreibt. Er sieht den Beginn einer »neuen Phase, eines stilgeschichtlichen Zeitabschnitts, dessen Kennwort wir noch nicht wissen, möglicherweise aber ahnen« (Schauer 1954, 12). Zur Charakterisierung dient ihm das Schlagwort »Typographie der Mitte«, denn es finde die »Einebnung und Rationalisierung der Typographie« und die »Annäherung der typographischen Extreme« statt, die die ersten Jahrzehnte des Jahrhunderts gekennzeichnet hätten (Schauer 1954, 23f.): Das Angemessene, das Passende, das Sinnvolle, die rechte Wahl des Bautyps - das ist es, was den Typographien [...] vor allem beschäftigt. Wir nähern uns in diesem Bereich einer neuen typographischen Konvention, einem Brauch, einer Verabredung darüber, was richtig und geschmackvoll ist. Es bilden sich Grundregeln heraus. Sie stehen keineswegs im Gegensatz zu den Meistern der letzten Phase, wohl aber stellen sie eine Wendung dar, weil sich die Wahl und die Bewertung der Mittel verändert haben. [...] Die Mittelachse erhebt keinen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit. [...] Es kommt auf das psychologisch Richtige an. [...] Die Typographie ist zu einer psychologischen Kalkulation geworden, zu einem rational geordneten Bau, an dem aber das Spielmoment und die Stimmungswerte sorgsam
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Diese Situationsbeschreibung entspricht derjenigen, die Tschichold in dieser Zeit formuliert: »Eine neue allgemeinverbindliche Ausdrucksform fehlt. Wir sind zweifellos über das Ende aller Stile hinaus; die Künste haben sich, [...] >befreit< und müssen ihre eigenen Weg suchen [...]. Von dieser Emanzipation ist, ich möchte sagen: glücklicherweise, auch die Typographie betroffen« (Tschichold [1948] 1992,22). »Nach einer vom Glück und von der Tragik des Individualismus gezeichneten Epoche sammelt sich eine schwer getroffene Kultur auf der Basis einer rationalen Mitte um das funktionell Richtige, wenig geneigt zu Wagnissen, dennoch bemüht, das zweckmäßige ins Sinnvolle zu steigern« (Schauer 1954, 26). 341
berücksichtigt werden. [...] Das Nebeneinander verschiedener Typen und Anlageregeln ist weder zufällig noch sinnlos. Die psychologisch fundierte Typographie ist differenziert nach den Funktionen, die den einzelnen Druckwerken aufgetragen sind (Schauer 1954, 20f.).
Allerorten betont wird das Ende ideologisch eingeschränkter Mittelwahl zugunsten der einzelfallbezogenen Nutzung des gesamten typographischen Formbestandes. Im historischen Vergleich wird damit der Gestaltungsspielraum von Typographie erheblich vergrößert. Die umfassende Umstellung der Nutzungsmöglichkeiten von Schriftformen und Kompositionsschemata auf Prinzipien der variablen Nutzung des gesamten Bestandes formaler Mittel unter anwendungsspezifischen Gesichtspunkten kann Mitte der 40er Jahre als abgeschlossen gelten und prägt die typographische Praxis bis heute.
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7. Von der Gebrauchstypographie zur Kunsttypographie der Avantgarden
7.1 Einleitung Zwischen 1890 und 1930 kommt es zu einer historisch einmaligen Häufung von typographischen Innovationen in technischer, formaler und pragmatischer Hinsicht. Im Kontext allgemeinen soziokommunikativen und künstlerischen Wandels setzen vielfältige Entwicklungsprozesse von Schrift bzw. Typographie ein, deren Ergebnis die Multi-Funktionalität von Typographie in verschiedenen Anwendungszusammenhängen ist. So entwickelt sich neben der vielfältig differenzierten Buchtypographie eine vielgestaltige anwendungsorientierte Gebrauchs- und Informationstypographie (Geschäftsdrucksachen, Anzeigenwerbung, illustrierte Zeitungen und Zeitschriften). Daneben formiert sich im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts Typographie als eigenständige Kunstform. Typographische Zeichenmittel werden als literarische oder bildnerische Kunstmittel eingesetzt. Sie dienen hier nicht mehr als (sekundäre) Zeichenmittel zur Fixierung einer vorgängig formulierten sprachlichen Mitteilung im Druck; vielmehr werden typographische Zeichenmittel zum sprachunabhängigen (primären) Mitteilungsträger bzw. Darstellungsgegenstand. Die typographischen Revolutionen zu Anfang des 20. Jahrhunderts stehen in engem Zusammenhang mit der Ausdifferenzierung der historischen Avantgarden in Literatur und bildender Kunst. Parallel zur Sprachkritik in Philosophie und Sprachwissenschaft rückt Sprache und mit ihr Schrift ins Zentrum der künstlerischen Arbeit: Alle Selbstverständlichkeiten unserer Lese-, Schrift- und Buchkultur werden in den Avantgarden reflexiv und infolgedessen als konstruktives Material verfügbar und semantisierbar(Jäger!991,236).
Es erfolgt der Durchbruch zur visuellen Dichtung der Moderne in Futurismus und Dadaismus. Weitere Spielarten visueller Textformen werden im Umfeld des Konstruktivismus entwickelt. 1 Die Wandlungsprozesse von Typographie nach 1900 er-
Anfang des 20. Jahrhunderts werden diverse Mischformen von Schrift (Sprache) und Bild (Malerei) geschaffen. Die wechselseitige Annäherung von Text und Bild, die vielfach als charakteristisch für die Kunst des 20. Jahrhunderts gilt, wird in der Forschungsliteratur in Schlagworte gefaßt wie »Lingualisierung der Kunst«, »Ikonisierung der Sprache« (Weiss 1984,12) oder »Poesie zum Ansehen, Bilder zum Lesen« (Döhl 1969). Neben der Integration von Schrift als Realitätsfragment bzw. Abbildungsgegenstand ins Bild der Malerei (insbesondere im Kubismus) entstehen ganz neue bildkünstlerische Gattungen, die auf unterschiedliche Art und Weise von schriftsprachlichem bzw. typographischem Material Gebrauch machen, wie Collage und Montage, Künstlerbücher, kalligraphisch-skripturale Ma-
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weisen sich als höchst komplex; es ist nur schwer möglich, eindeutige kausale Entwicklungslinien zu (re-) konstruieren. Anfang des 20. Jahrhunderts lassen sich eher expressiv-mimetische (z. B. Jugendstil oder auch Dadaismus) und stärker sachlichabstrakte Reformbewegungen (z. B. Funktionalismus und Konstruktivismus) unterscheiden. Innerhalb dieser Gruppierungen bilden sich jeweils verschiedene typographische Richtungen aus: Anhänger stärker bildkünstlerischer Typographie und Vertreter stärker mitteilungsorientierter Typographie (z.B. Züricher Dadaismus und Berliner Dadaismus; konstruktiver Funktionalismus und abstrakter Konstruktivismus).2 Vielfach werden gleiche typographische Ausdrucksmittel mit ganz unterschiedlichen programmatischen Zielsetzungen verwendet. In der Folge können manche typographischen Programme nicht mehr unbedingt formal unterschieden werden; vielmehr zeichnet sich ein in weiten Bereichen einheitliches stilistisches Feld ab, dessen analytische Untergliederung nur mittels der zugehörigen Gestaltungstheorien gelingt. Nicht zufällig hat sich im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts der wohl dichteste Binnendiskurs zu typographischen Fragen ausgebildet. Es werden deshalb auch in diesem Teil der Untersuchung weniger einzelne Beispieltypographien als vielmehr die Rekonstruktion zeitgenössischer, die Innovationen begleitende Diskurse über Typographie im Mittelpunkt der Darstellung stehen, denn sie stellen die Basis für das Verständnis der formalen Entwicklungen dar. Das literaturwissenschaftliche Interesse an Typographie konzentriert sich bisher nahezu ausschließlich auf solche literarischen Texte, deren typographische Formmerkmale von den Gestaltungsnormen zeitgenössischer Standardtexte signifikant abweichen. Die Literaturwissenschaft hat sich deshalb bisher weitestgehend nur im Zusammenhang von visueller Dichtung mit der äußeren Form literarischer Texte befaßt. Visuelle Literatur ist seit der Antike über das Mittelalter und den Barock bis zum freien Textbild der historischen Avantgarden und der experimentellen Literatur der Neoavantgarden in den 50er und 60er Jahren bekannt. Sofern analytischsystematische Darstellungen von vornherein nicht nur visuelle Literatur des 20. Jahrhunderts behandeln (z.B. Weiss 1984), ergeben sich in Anbetracht zahlreicher formaler Ähnlichkeiten in der Regel Probleme der Abgrenzung von moderner und traditioneller visueller Dichtung.3 Einige Autoren versuchen deshalb, sprachli-
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lerei bis hin zur Konzept-Kunst der 60er und 70er Jahre. Bei diesen Werken handelt es sich vielfach um Unikate, die entweder nicht typographisch hergestellt, oder aber nicht zur Vervielfältigung im Druck gedacht sind und deshalb nicht Gegenstand meiner Untersuchung sind. Ich werde im folgenden nur Textformen betrachten, die aus der Entwicklung bzw. dem neuartigen Einsatz typographischen Materials und typographischer Drucktechnik resultieren. Wobei es grundsätzlich problematisch ist, einen einheitlichen und approbierten Formenkanon einzelner typographischer Schulen und Bewegungen anzunehmen; was tatsächlich vorfindbar ist, sind in der Regel nur teilweise deckungsgleiche Programme, einmal abgesehen von den häufig anzutreffenden Widersprüchen zwischen programmatischer Absichtserklärung und tatsächlicher Gestaltungspraxis. Historisch umfassendere Darstellungen zur Geschichte visueller Poesie (z. B. Adler/Ernst 1987; Dencker 1972) stellen sich zumeist die Aufgabe, sowohl Umformungen und Wandlungen des Formenkanons visueller Poesie darzustellen (Adler/Ernst 1987,9), als auch for-
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ehe und textinhaltliche Merkmale zur Unterscheidung traditioneller und moderner Bildgedichte zu benennen.4 Häufiger werden allerdings visuell-formale Eigenschaften angeführt. 5 Doch alle Versuche, allgemeine Formmerkmale zu benennen, anhand derer sich neuzeitliche visuelle Poesie grundsätzlich von historischen Formen visueller Dichtung unterscheiden ließe, sind meines Erachtens heuristisch wenig fruchtbar. 6 Der Unterschied zwischen vormoderner visueller Dichtung und typographischer Literatur des 20. Jahrhunderts ist oftmals weniger in ihren Formmerkmalen begründet, als vielmehr in deren diskursiver Semantisierung. Für die Beurteilung formalästhetischer Innovationen greift deshalb die reine Formanalyse typographischer Literatur und Bild-Kunst zu kurz. Sie muß eingebunden werden in die Betrachtung der Produktionsbedingungen und Rezeptionsvoraussetzungen von Typographie innerhalb ihres jeweiligen historischen Entstehungszusammenhangs. Erst wenn die Texte mit den jeweiligen Kommunikationen über Schrift bzw. Typographie in Bezug gesetzt werden, lassen sich die qualitativen Unterschiede erfassen. In literaturwissenschaftlicher Sekundärliteratur wird typographische Dichtung praktisch ausschließlich als spezifische Entwicklungsstufe von L i t e r a t u r thematisiert. Experimentelle typographische Literatur wird in aller Regel entweder vor dem Hintergrund der gattungsgeschichtlichen Traditionslinien visueller Dichtung oder im Vergleich zum jeweilig zeitgenössischen literarischen Normhorizont analysiert. Dabei entsteht leicht der Eindruck, als seien es die Künstler und Literaten, die die Zeichenhaftigkeit der äußeren Form von Texten erstmals entdeckten, und als
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male und inhaltliche Kontinuitäten in der Entwicklung visueller Dichtung von der Antike bis heute aufzuzeigen und dabei deutlich zu machen, »wie stark viele experimentelle Autoren der Tradition verbunden sind« (Dencker 1972,7). Begrüßenswert ist dies insbesondere deshalb, weil es der einseitigen Betrachtung avantgardistischer Literatur als radikal-originäre und traditionslos-neue Textschöpfungen entgegenwirkt; ein Eindruck, den die Künstler in ihrer Manifest-Rhetorik gezielt aufzubauen bestrebt sind und der in der Sekundärliteratur häufig unhinterfragt übernommen wird. Beispielsweise die Absage an konventionellen Sprachsinn (Adler/Ernst 1987, 215), die Tendenz zur inhaltlichen Abstraktion oder die grammatische Deformierung von Sprache (Ernst 1976, 384). Als Ausweis von Modernität gelten beispielsweise das Durchbrechen des sequentiellen, horizontal-vertikalen Zeilenspiegels (Dencker 1972, 10; Ernst 1976, 383) und die Freisetzung der Lese(ab)folge (Pfäfflin 1972,297). Häufig wird auch die Funktion der Fläche als Unterscheidungsmerkmal traditioneller und moderner visueller Poesie namhaft gemacht: demnach werde in moderner visueller Poesie die Fläche selbst text- bzw. bedeutungsbildend, während in vormoderner Dichtung (nur) die Umrißlinien des Textes syntaktisch bzw. semantisch funktional seien (Berger 1989, 57). Teilweise treffen die benannten Kriterien auf figurativ-visuelle Texte praktisch aller Epochen zu, oder es lassen sich zu jedem scheinbar modernen Textmerkmal traditionelle Texte als Gegenbeispiel anführen. Entsprechend uneinheitlich erfolgt die Grenzziehung zwischen Moderne und Vormoderne. Firmieren in der Regel Mallarmes Un coup de desjamais n'abolira le Hasard (1897) oder Apollinaires Calligrammes (1918) als Eckpfeiler moderner visueller Dichtung, so gelten unter formalen (und inhaltlichen) Gesichtspunkten vielfach bereits Sternes Tristram Shandy (1759) oder Carrolls Gedicht »The mouse's tale« aus Alice's Adventures in Wonderland (1865) als frühe Beispiele typographisch-literarischer Moderne.
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nutzten sie Typographie in erster Linie >destruktivTextabbildung< im Druck eingesetzt, sondern wird unmittelbar als (Zeichen-) Mittel des literarischen Ausdrucks genutzt. Bisher liegt noch keine umfangreichere Untersuchung vor, die die typographisch-experimentelle Literatur und Kunst der Avantgarden einmal auf ihre Voraussetzungen und Vorbilder in der Gebrauchstypographie befragt. Denn die typographischen Innovationen finden Anfang des 20. Jahrhunderts nicht ausschließlich in Kunst und Literatur statt, sondern schon früher in Werbetypographie und massenmedialer Zeitungs- und Zeitschriftentypographie. Es ist keineswegs so, wie weithin angenommen, daß die in Malerei und Literatur entwickelten typographischen Innovationen erst in einem zweiten (Entwicklungs-) Schritt von der Gebrauchstypographie aufgegriffen und adaptiert worden wären. Es zeigt sich vielmehr, daß die typographischen Innovationen im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts aus >multidirektionalen< Wechselbeziehungen zwischen Gebrauchs- und Kunsttypographie resultieren. Insbesondere die (Anzeigen-) Werbung erweist sich als Motor typographischer Neuerungen, auf denen zahlreiche avantgardistische Textexperimente ihrerseits erst aufbauen. Diese Zusammenhänge werden in Kapitel 7.4 und 7.5 detaillierter dargestellt. Charakteristisch für die Wandlungsprozesse von Typographie Anfang des 20. Jahrhunderts ist, daß sich anwendungsbezogene und ästhetischkünstlerische typographische Innovationen sehr früh nicht mehr eindeutig unterscheiden lassen. Gründe und Ausprägungen dieser Konvergenz werden insbesondere in den Kapiteln 7.5 und 7.6 behandelt. Die Entwicklung von Typographie Anfang des 20. Jahrhunderts läßt sich insgesamt als Wandel der soziokulturellen Funktion und des Verständnisses von Druckschrift bzw. Schriftsprache deuten. Die semiotische Konzeptionalisierung von 346
Schrift bzw. Typographie, wie ich sie im Theorieteil dieser Studie entwickelt habe, erlaubt es, die formale und funktionale Differenzierung und Freisetzung der typographischen Zeichenmittel zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus der soziokulturellen Neubewertung des Zeichenträgers Schrift zu entwickeln. Die Ausbildung künstlerischer Typographie ist Resultat der Nutzung der gesamten Bandbreite der Semiotizität von Typographie: der materiellen, figuralen und konnotativen Aspekte von Druckschrift innerhalb der künstlerischen Avantgarden und des sich parallel formierenden Werbewesens. Die Annäherung von Kunst und Nichtkunst, die wechselseitige Anschließbarkeit von Typographie, Werbung, Printmedien, Literatur und Malerei basiert auf der Abkehr von dominant sprachlich-begrifflichen Zeichenordnungen zugunsten nichtsprachlicher Kommunikation und deren Fundierung auf expressiven, appellativen und ästhetisch-autoreflexiven Zeichenaspekten. Kunst, Typographie und Werbung konvergieren aufgrund ähnlicher Positionen zu formalen Gestaltungsfragen und vergleichbarer Theoriebildungen zu sprachlicher und außersprachlicher Wahrnehmung, Erfahrung und Kognition. Die Wissenschaften, die sich mit den Voraussetzungen und Bedingungen von Kommunikation befassen (z. B. Sprachwissenschaft, Wahrnehmungsforschung, empirische Psychologie) werden nicht nur für die Entwicklung der Künste (vgl. Jäger 1991,235), sondern auch für die Entwicklung von Werbung und Typographie zu Ressourcen ersten Ranges. Nicht nur literarisches und bildkünstlerisches Schaffen, auch Werbung und Typographie werden zunehmend von semiotischen, wahrnehmungs- und sprachkritischen Überlegungen bestimmt. Ausgehend von philosophischer Sprachkritik und empirischer Sprach- und Leseforschung werden insbesondere die begriffssprachunabhängigen Zeichenfunktionen typographischer Zeichenmittel entfaltet und in Kunst und Werbung strategisch eingesetzt. Diesen Prozessen widmen sich schwerpunktmäßig die Kapitel 7.5.4, 7.5.5 und 7.6.3.2. Hatte das Sprachverstehenskonzept der Goethezeit um 1800 die konnotative Deutung von (Druck-) Schriftformen deutlich eingeschränkt (vgl. dazu Kap. 6.2.2.5), so werden jetzt Bedeutungsmöglichkeiten der Zeichenstruktur von Typographie entfaltet, die bisher kulturell noch nicht genutzt wurden. Damit werden die theoretischen und praktischen Voraussetzungen für die (ästhetische) Autonomisierung von Typographie geschaffen: möglich werden abstrakte, nicht normalsprachliche typographische Literatur und abstrakte typographische Bild-Kunst (Kap. 7.6.3.2 ). Neben typographischer Bild-Kunst und typographisch-visueller Poesie, die nicht mehr lesbar - im Sinne von phonetisierbar - ist, entsteht Anfang der 20er Jahre typographische Lautdichtung, die dezidiert für den Vortrag bzw. das Hören gedacht ist. Scheinbar werden die beiden Dimensionen von literarischer Textualität, Oralität und Visualität, >auseinandergezogen< und getrennt voneinander gehandhabt. Eine kategoriale Unterscheidung von reinen Sprech- bzw. Hörtexten einerseits und reinen Sehtexten andererseits läßt sich für die historischen Avantgarden jedoch gerade nicht nachweisen. Am Beispiel typographisch fixierter, dadaistischer Lautdichtungen läßt sich zeigen, daß gerade die Bemühungen um eine (Re-)Oralisierung von Literatur - so paradox dies zunächst erscheinen mag - vielfältige Innovationen literarisch-künstlerischer Druck-Schriftlichkeit motiviert haben (Kap. 7.2). 347
Die formalen und pragmatischen Veränderungen, denen Typographie zwischen 1890 und 1930 unterliegt, sind geprägt von soziokommunikativem und medientechnologischem Wandel im Kontext allgemeiner gesellschaftlicher Modernisierung. Wirtschaftliche (Gewerbefreiheit), politische (Presserecht) und technologische Entwicklungen (Papierherstellung, Rotationsdruck, Setzmaschinen, Bildreproduktion mittels Lithographie und Photosatz) bilden die Voraussetzung für die Expansion der Printmedien. Es kommt zur Industrialisierung des Druckwesens. Parallel dazu findet eine zweite Leserevolution statt: Konnten um 1800 erst ca. 25 % der Bevölkerung lesen, so waren es um 1900 ca. 90 % (Schön 1987,45). Gleichzeitig wurde das Lesepublikum soziokulturell immer heterogener. Die Expansion des Druckwesens ist deshalb begleitet von einer Ausdifferenzierung des Buch-, Zeitschriftenund Zeitungswesens. Das Textangebot diversifiziert sich inhaltlich und formal. Neue (Massen-) Publikationsformen entstehen: beispielsweise die illustrierte Zeitung und das illustrierte Magazin. Anzeigenwerbung ist von Anfang an ein wesentlicher Bestandteil der neuen Printmedien. Als vielfältig differenzierte selbständige Publikationsform (Plakat, Fassadenwerbung, Außenwerbung an Fahrzeugen, Flugblätter, Broschüren) prägt Werbung nicht nur zunehmend das zeitgenössische >Textuniversumgeistlosen< Buchstaben und der lebendigen, >geistvollen< Stimme wird um 1900 in der Sprachphilosophie wieder aufgegriffen: Mündlichkeit gilt beispielsweise Mauthner als dem Leben näher und in der Literatur als wirkungsmächtiger: »Die schriftliche Sprache [...] kann schwarz auf weiss niemals volle Poesie werden. Es drängt den Dichter wie den Leser zur mündlichen Sprache« (Mauthner zit. aus Eschenbacher 1977, 151). Z.B.: »Um zur Kunst zu kommen, muß man verlernen. Man muß wieder sehen lernen, um zum Schauen /.u kommen. Um schauen zu lernen, beginne man wieder mit dem Sehen der Wörter. Man spreche kein Wort, ohne das Wort zu erleben. Man spreche keinen Satz, ohne die Wörter zu hören« (Waiden 1917 zit. aus Schmidt-Bergmann 1991. 152). 351
nämlich Worte zu übernehmen (von Sätzen ganz zu schweigen), die man nicht funkelnagelneu für den eigenen Gebrauch erfunden habe (Ball 1916 in Dada Zürich 1992, 22).
In Balls Poetik vereinen sich Rationalismuskritik, Sprachkritik und allgemeine Kultur- und Gesellschaftskritik mit sprachtheologischen Theorien des mittelalterlichen Mystizismus (vgl. Klinger 1982, 205ff.): Wir haben die Plastizität des Wortes bis zu einem Punkt getrieben, an dem sie schwerlich mehr überboten werden kann. Wir erreichten dies Resultat auf Kosten des logisch gebauten, verstandesmäßigen Satzes [...]. Wir haben das Wort mit Kräften und Energien geladen, die uns den evangelischen Begriff des >Wortes< (logos) als eines magischen Komplexbildes wieder entdecken ließen [...]. Wir suchten der isolierten Vokabel die Fülle einer Beschwörung, die Glut eines Gestirns zu verleihen. Und seltsam: die magisch erfüllte Vokabel beschwor und gebar einen neuen Satz, der von keinerlei konventionellem Sinn bedingt und gebunden war. An hundert Gedanken zugleich anstreifend, ohne sie namhaft zu machen, ließ dieser Satz das urtümlich spielende, aber versunkene, irrationale Wesen des Hörers erklingen; weckte und bestärkte er die untersten Schichten der Erinnerung. Unsere Versuche streiften Gebiete der Philosophie und des Lebens, von denen sich unsere ach so vernünftige, altkluge Umgebung kaum etwas träumen ließ (Ball 1916 in Dada Zürich 1992,
Während Ball mit der Oralisierung die Sakralisierung von Dichtung anstrebt, zielt Hausmanns Programm der Optophonetik auf die vitalistisch-energetische und physiologische Wirkung von Literatur bzw. Typographie. Mit der Entfaltung der optophonetischen Eigenschaften des künstlerischen Materials sollen dessen »lebensgestaltende Kräfte« zur Wirkung kommen (Hausmann 1931 zit. aus Erlhoff 1 982, 134). Während Alltagssprache reine Konvention sei - »conditionees et limitees pour s'entrecomprendre« (Hausmann 1931 zit. aus Erlhoff 1982, 180) -, erlaube optophonetische Dichtungssprache die »Erweiterung unserer Sinnesemanationen in der universalen Sphäre«; doch »nur auf physiologische Weise« könne die Befreiung »von den bisherigen banalen Gefühlshintergründen« in der Kunst gelingen (Hausmann [1922] 1982, 52). Anvisiert sind hier Zeichenwirkungen, die die Trennung von Geist und Körper insofern überwinden, als Bedeutungserzeugung und Sinnverstehen untrennbar vom physischen Empfinden gedacht sind. Und lautes Lesen fordert im Vergleich zur stummen Lektüre tatsächlich eine größere körperliche, >psychomotorische< Aktivität (vgl. dazu Illich 1991, 57).n
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Derart konzipiert, greift die Lautdichtung Balls die frühmittelalterliche Unterscheidung zwischen »Lectio Spiritualis« und »Studium« auf: Ersteres meint ein Lesen aus spiritueller Neigung unter Anteilnahme von Psychomotorik und Sinnlichkeit, während zweiteres eine auf den Wissenserwerb gerichtete Lektürepraxis bezeichnet (s. Illich 1991,66). Schon im 18. und 19. Jahrhundert war Sprachlautlichkeit wegen ihrer Einzigartigkeit gegenüber anderen Sinneswahrnehmungen und wegen ihrer bewußtseinstheoretischen und psychodynamischen Implikationen beispielsweise in den Ästhetiken von Sensualismus und Romantik hoch geschätzt (s. dazu Schönrich 1990,252; Ong 1987,74).
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7.2.2
Poetik und Pragmatik typographischer Lautdichtung
7.2.2.1 Lautmalerei, Lautspiel, Lautgebärde Gemeinsame Charakteristika der Lautdichtung der frühen Avantgarden 12 sind 1. sprachliche Abstraktion, d.h. der Einsatz nichtlexikalischen Sprachmaterials, 2. typographische Visualisierung, d. h. die normabweichende typographische Formgebung des sprachlichen Zeichenmaterials, 3. Rekurrenz auf die Erscheinungsweise von Sprache bei gleichzeitiger Ausblendung ihrer inhaltlichen Dimension (Kohrt 1981, 68) Bei allen Unterschieden ist den abgebildeten Lautdichtungen von Ball, Hausmann und Schwitters in der Tat die Nutzung elementarer Sprachmittel bei gleichzeitiger lexikalisch-semantischer Abstraktion gemeinsam. Sie sind andererseits sprachlichstrukturell und poetologisch-programmatisch sehr verschieden: Balls Klangdichtungen weisen eine deutlich sprachsystemische Struktur auf (Wortbildungen etc.). Titelgebung und Lautsequenzierung tragen zu einem ausgesprochen expressivassoziativen Zeichencharakter bei, der vielfältige konnotative Semantisierungen zuläßt. Balls Lautgedichte lassen sich gut als Lautmalerei beschreiben. Schwitters Ursonate dagegen kann als Lautspiel charakterisiert werden: die Textbasis sind anormale Wortbildungen, die auf phonetisch-musikalische >Wohl-Lautungen< zielen und auf musikalisch-thematischen Motiventwicklungen basieren, die die sprachlichen Elemente abstrakt kompositorisch verbinden. Hausmanns optophonetische Dichtungen lassen sich hingegen als Lautgebärden beschreiben,13 die auf die paralinguistische, physiologische >Verwertung< der Stimme abzielen. Die Vertextungen gehen von Einzellettern aus, deren Sequenzierung nicht nach sprachsystemischphonematischen Regeln erfolgt, sondern Schriftsprache in physische >Artikulations-Form< überführt. Die Forschung zur Lautdichtung der historischen Avantgarden hat sich jenseits der Analyse ihrer programmatischen Grundlegung bisher vornehmlich mit Fragen der linguistisch-sprachstrukturellen Form und der assoziativ-konnotativen Textsemantik befaßt (z.B. Klinger 1982; Heißenbüttel 1983). Mich interessieren hingegen das Wechselverhältnis der lautlichen Dimension dieser Texte und ihrer typographischen Form und hierbei insbesondere die Fragen 1. warum die Lautgedichte von ihren Autoren in Druck gegeben wurden - obwohl zeitgenössisch bereits ein lautliches Speicher- und Wiedergabemedium (Schall-
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Zur sprachlichen und typographischen Entwicklung der Gattung Lautdichtung in den Neoavantgarden der Nachkriegszeit s. Williams (Hg.) 1980. Ich entlehne die Unterscheidung von Lautmalerei. Lautspiel und Lautgebärde einem zeichentheoretischen Aufsatz Pesots zu Formen des Ikonismus in der Phonologic (s. Pesot 1980).
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platte bzw. Grammophon) existierte, mit dem eine rein akustische Fixierung möglich gewesen wäre; 2. warum die Lautgedichte der drei Autoren - im Falle Hausmanns sogar die Lautgedichte eines Autors - so vielgestaltige typographische Formgebungen aufweisen; 3. welche Wandlungsimpulse für die Typographie aus dem Bemühen um die Oralisierung von schriftsprachlicher Dichtung resultieren. 7.2.2.2 Primäre und sekundäre Oralität In der Sekundärliteratur wird vorherrschend die Meinung vertreten, im Falle von Lautdichtung sei das eigentliche Werk nicht die schriftliche Fixierung, sondern es konstituiere sich erst im Vortrag (vgl. Klinger 1982, 157; Körte 1994, 55). So geht Kohrt davon aus, daß Lautgedichte »erst in zweiter Linie auch im Geschriebenen vergegenständlicht sein können« (Kohrt 1983, 98). Finter betrachtet die typographisch-experimentellen Dichtungen des italienischen Futurismus als Grenze zweier Tendenzen, die im Dadaismus weitergeführt wurden und einerseits zum reinen Lautgedicht - der reinen Präsenz einer Stimme [...] und auf der anderen Seite zum visuellen Gedicht führten - der reinen Determination durch den Blick (Finter 1980,174).
Die kategorische Unterscheidung von avantgardistischen Seh- und Hörtexten ist weit verbreitet. Während Sehtexte gerne als Texte definiert werden, die nicht mehr phonetisierbar seien, wird eine analoge Bestimmung von Hörtexten - >nicht mehr visualisierbar< - bezeichnenderweise nicht getroffen. In der Rede vom >reinen< Lautgedicht schwingt die Vorstellung mit, daß hier so etwas wie primäre Oralität realisiert werde, die kein Komplement zur Schriftsprache sei, sondern eine von Schriftsprache unabhängige Form von Mündlichkeit. 14 Derartige Vorstellungen offenbaren insofern »typographisches Denken« (Ong 1987, 24), als übersehen wird, daß unsere Schriftsprach-Kultur über keine Beschreibungs- und Vorstellungsmodelle von Sprache mehr verfügt, die nicht durch die Kenntnis von Schrift-(Sprache) geprägt sind (Ong 1987, 18f.). Auch als mündlich konzipierte Texte operieren die Lautdichtungen der frühen Avantgarden im Feld von Schriftsprache und schriftsprachlichem Lautverständnis. Es ist davon auszugehen, daß sich »die Möglichkeit segmentaler Vorstellung der Lautstruktur« - wie sie den hier betrachteten Lautdichtungen zugrunde liegt - überhaupt erst durch die distinkte Struktur von Schriftsprache auf der Basis eines phonetischen Alphabetsystems entwickelt hat (Günther 1988b, 193). Lautdichtung muß demnach als besondere Form sekundärer Oralität verstanden werden, die dem Schreiben und Drucken nicht vorausgeht, sondern von ihnen abhängt. Wenn in unserer Schriftkultur »phonemische Repräsentationen psychische Realität nur im Zusammenhang mit schriftlicher Sprachtätigkeit haben«
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Primäre Oralität kann nach Ong nur in Gesellschafts- bzw. Kulturformen existieren, die keine Schriftsprache bzw. keine Kenntnis von Schriftsprache haben (Ong 1987,13).
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(Günther 1988b, 147), so heißt das auch, daß phonematische Einheiten vorzugsweise schriftlich kommuniziert werden. Lautdichtung unterscheidet sich demnach von Musik oder experimenteller Geräuschkunst durch zweierlei: die menschliche Artikulation und die alphabetische Vertextung. Daß Lautdichtung verschriftlicht und gedruckt wurde, obwohl sie zeitgenössisch auch als Ton auf Schallplatte speicherbar gewesen wäre, ist nicht in erster Linie ökonomisch oder technisch begründet, sondern stellt in einer hochentwickelten Schriftkultur - wie sie für das 20. Jahrhundert charakteristisch ist - eine kulturelle Selbstverständlichkeit bzw. Notwendigkeit dar. Es gibt in unserer Kultur praktisch keine schriftlose Tradierung von Sprache mehr. Die mnemotechnische Aneignung von sprachlichen Mitteilungen findet fast ausschließlich auf der Basis verschrifteter Vorlagen statt.15 Man vergegenwärtige sich, daß avantgardistische Lautdichtung mit abstrakten, nichtkonventionalisierten bedeutungstragenden Lautfolgen arbeitet. Die Tradierung dieser Texte ist in besonderer Weise auf schriftliche Transkription angewiesen, da in unserer Kultur das mnemotechnische Rüstzeug fehlt, das es erlaubte, abstrakte Lautfolgen ausschließlich auf der Basis des Gehörten zu erinnern und aus dem Gedächtnis wiederzugeben. Schon die Analyse typographischer Mündlichkeitsmerkmale (s. Kap. 5.2) hatte gezeigt, daß der Literaturwissenschaft Modelle fehlen, die das Wechselverhältnis der lautlichen und visuellen Ausdrucksdimension von Schriftsprache zu beschreiben erlauben. Genausowenig gibt es bisher Konzepte zur Beschreibung von literarischen Texten, wie Lautgedichten, die für den Vortrag gedacht sind. Im Falle dadaistischer Lautdichtung ist das jedem schriftsprachlichen Text zugrundeliegende Wechselverhältnis von Lautlichkeit und Bildlichkeit in besonderer Weise ausgearbeitet und radikalisiert. Die unterschiedliche typographische Form von Hausmanns, Balls und Schwitters Lautgedichten läßt sich teils dadurch erklären, daß die Autoren jeweils andere Aspekte von lautsprachlicher Mündlichkeit in ihren Lautdichtungen zu gestalten und bei der Lektüre zu aktivieren suchen. 7.2.2.3 Stumme und artikulatorische Lektüre - visuelle und phonetische Recodierung Die normabweichende typographische Vertextung ist wesentlicher Auslöser der artikulatorischen Lektüre von Lautdichtung: 16 Sie aktiviert - unterstützt von paratextuellen und dispositiven Merkmalen wie Titel oder Zeilengliederung - die Be-
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In unserer Lesekultur ist die Neigung weit verbreitet, die schriftliche Textvorlage mitzulesen, auch wenn der Text vorgetragen bzw. laut vorgelesen wird. Das Bemühen um eine neuartige lautlich-orale Fundierung von Dichtung drückt sich gerade auch in Textformen aus, die aufgrund typographisch dispositiver Gestaltmerkmale der Textgattung Lyrik zuzurechnen sind. Denn Lyrik ist bis heute die Textsorte, deren lautliche Dimension kulturell am stärksten bewußt geblieben ist und bei der Lektüre am leichtesten (re-) aktiviert werden kann (s. dazu Kap. 5.1.2).
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reitschaft des Rezipienten zu phonologischem Recodieren beim Lesen.17 Es sind sprachliche und typographische Eigenschaften lautdichterischer Texte, die die Artikulation bzw. mentale Repräsentationen von phonetischen Einheiten auch bei anfänglich stummem, rein visuellem Lesen veranlassen. Diese Behauptung bedarf der Erläuterung: Lautes und stummes Lesen haben schon früh koexistiert. Für das 20. Jahrhundert kann das stumme Lesen als vorherrschende Lektüreweise angenommen werden. Stummes Lesen heißt, daß die Bedeutungsidentifizierung visuell erfolgt und nicht erst durch phonologisches Recodieren der Wortbilder. Stummes, rein visuelles Erfassen der Wortbedeutung ist beim erfahrenen Leser möglich und üblich. Stummes Lesen hat seine wesentlichen Voraussetzungen in der typographischen Formung der Worte (Wortbild-Bildung durch Spatien, Ober- und Unterlängen der Lettern u. ä.). Distinkte Wortbilder werden vom geübten Leser als relativ konstante optische Größen schnell erkannt. Dennoch ist auch bei der stummen Lektüre die phonologische Recodierung >aktiviert< (Scheerer 1983, 108; Gfroerer 1988, 48; 65) (vgl. dazu auch Kap. 5.2). Gelingt bei der Lektüre von Buchstabenfolgen die visuelle (ganzheitliche) Identifikation der lexikalischen Bedeutung nicht, weil der Begriff oder die Schreibweise unbekannt sind, geht in einem zweiten Prozeßschritt die lautliche (analytische) Information aus dem phonologischen Recodieren in den Kognitionsprozeß ein und kann das Erkennen und das Verstehen des Gelesenen bedingen. Dies erklärt, warum regelkonforme Wortbildungen unbewußtes, quasi habitualisiertes Erkennen und Verstehen des Gelesenen ermöglichen und normabweichende Wortformationen bewußte phonologische Recodierversuche auslösen.18 Die neuere Linguistik unterscheidet deshalb zwei Ideal-Typen des Lesens: 1. ganzheitliches Lesen, das auf dem Erkennen von ganzen Wortbildern basiert: graphemisch-semantisches = visuelles Lesen; 2. einzelheitliches Lesen, das auf der Wahrnehmung und dem phonologischen Recodieren der einzelnen Lettern basiert: graphemisch-phonemisches = artikulatorisches Lesen (vgl. Scheerer 1983,100).
Innerhalb des phonologischen Recodierens unterscheidet die empirische Linguistik Subvokalisation und Artikulation (vgl. Günther 1988b, 127f.). Während Artikulation das laute Lesen meint, lassen sich bei der Subvokalisation Bewegungen der Stimmorgane nachweisen, ohne daß der Rezipient notwendig vernehmbar Laute artikuliert. Davon zu unterscheiden ist die auditorische Subvokalisation, bei der sich die Lautbildung ausschließlich als mentale Vorstellung vollzieht (Gfroerer 1988,23) (vgl. Kap. 5.2). Mangels einer empirischen Basis beschränke ich mich auf die allgemeine These, daß Lautdichtung auf phonologisches Recodieren bei der Lektüre zielt, ohne auf die verschiedenen Arten des phonologischen Recodierens näher einzugehen. Z.B.: »Wieviel ist phymf und aintz?« (zit. aus Gfroerer 1988, 45). wAs DuRcH die fEhLeRhAfTe OrT hOgRaPhlsChESchreibweiseundtypograp hischesequentierungverl ore nge ht, ist der >Wortüberlegenheits-Effekterzwingen< die Phonetisierung, sofern man sie >lesen< und nicht nur betrachten will. Hausmann gelingt bereits auf dieser - primär sprachsystemisch geregelten - Ebene eine maximale artikulatorische Physiologisierung des Leseprozesses. Denn Hausmann kombiniert Buchstaben (Lettern) zu Sequenzen, die innerhalb des phonologischen Regelsystems der deutschen Sprache unbekannt bzw. regelwidrig sind: z. B. »iou«, »tn« »1p« »nm«. Beim Versuch, die mit den Lettern bezeichneten Laute zu einer Lautsequenz zusammenzuschließen, stößt der Rezipient auf erhebliche artikulatorische Schwierigkeiten. Die lautliche Recodierung ist nicht unmöglich; ihre Widerständigkeit aber macht dem Rezipienten unweigerlich die körperlich-motorischen Aspekte des Sprechens beim Zusammenspiel der Artikulationsorgane bewußt (vgl. Scheffer 1978,236; Erlhoff 82,210). Nicht lautmalerische, konnotativ semantische Effekte rücken in den Vordergrund, sondern »die im Mund hergestellte komplexe Artikulation« (Heißenbüttel 1983, 8). Der Letternkomposition gelingt die Transformation von Lektüre in physiologische Lautgebärde: Sprechen wird als Körperaktion erfahrbar. Insofern kann Hausmann zu Recht als einer der ersten gelten, die die Möglichkeiten »körpergenerierter Poesie« erkundet haben (Erlhoff 1982,200). Bis zu welchem Grad man sich bei der Lektüre abstrakter Dichtung gezwungen sieht, phonologisch zu recodieren, um den Text lesend zu erfassen und nicht nur als typographische Gesamtkomposition visuell wahrzunehmen, ist abhängig vom Grad der sprachlichen und typographischen Regelabweichung. Die drei Autoren nutzen in unterschiedlicher Art und Weise die Möglichkeiten zur sprachlichen und typographischen Formung bzw. Deformierung von Schriftsprache. 7.2.3 Hausmann kp'erioum und Plakatgedichte In Hausmanns kp'erioum (Abb. 108) variieren Groß- und Kleinbuchstaben jenseits orthographischer Regeln, und die Lettern unterschiedlicher Schriftarten und -großen sind innerhalb uneindeutig markierter >Wortgrenzen< scheinbar beliebig 357
kperioUM \eriii PER
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MTNou tn«iAbb. 108 Hausmann, kp'eriuom, 1920
kombiniert. 19 Die Textmerkmale von kp'erioum lösen am nachhaltigsten eine artikulatorisch-physiologische Lektüre aus. Hausmann ist es auch, der Optophonetik am nachdrücklichsten zu seinem Programm macht. So behandelt er in seinem Aufsatz Typographie hauptsächlich den (physiologischen) Zusammenhang von Sehen und Hören beim Lesen. Sein Aufsatz ist eine Programmschrift zur Erneuerung der Typographie und zur Reoralisierung von Literatur. Hausmann klagt über den »Gipfel des naturalistischen Sehens in der Typographie« des 18. und 19. Jahr-
Den Gegenpol dazu stellt Schwitters Ursonate dar. Sie vereint formale Textstandards wie einheitlichen Satz in einer vertrauten Schrifttype und weitestgehend regelkonforme Großschreibung (am Anfang von Worteinheiten bzw. Zeilen). Da sich die meisten >Worte< innerhalb des Textzusammenhangs teils motivisch variiert, teils unverändert wiederholen, kann sich im Verlauf der Lektüre ein Lernprozeß einstellen, in dessen Folge der Leser mit den Silbenverbindungen und Worterfindungen vertraut wird und eine visuelle WortbildKompetenz entwickelt. 358
Hunderts, da »gleichzeitig damit eine physiologische Tiefstufe [...] des Lesens« erreicht gewesen sei (Hausmann [1932] 1982,183). Tatsächlich wurde - wie in Kapitel 6.2.2.5 skizziert - in der Sprachtheorie der Goethezeit die Bedeutungsvermittlung lautlich konzipiert, die rezeptive Aufmerksamkeit auf die äußere, typographische Form des Textes hingegen als dem Sprachsinnverstehen hinderlich erachtet. Vor diesem Hintergrund und in Anbetracht der Tatsache, daß sich breitenwirksam das stumme, rein visuelle Lesen als kulturtypisch herausgebildet hatte, werden Hausmanns Thesen zur optophonetischen Lautdichtung verständlich und lassen sich auf die skizzierten Mechanismen visuellen und phonetischen Recodierens beziehen: Typografie ist das Endergebnis eines optisch-akustischen Gestaltungsvorganges [...]. Typografie ist ein Zwischenstadium von Kunst und Technik, Sehen und Hören und eines der deutlichsten Mittel der fortlaufenden psychophysiologischen Selbsterziehung des Menschen. Die Gestaltung dieses Vorganges für die besondere Art des H e r v o r r u f e n s ged a n k l i c h e r L a u t b i l d e r durch die Maße und Verhältnisse der e i n z e l n e n Stäben erfordert ein besonderes Sehen [Herv. S.W.], das wir als Struktursehen bezeichnen (Hausmann [1932] 1982,181).
Die Dadaisten und Futuristen seien die ersten gewesen, die »erkannten, daß Lesen oder M i t t e i l e n von Lauten nur optisch w i r k s a m gemacht werden k a n n [Herv. S.W.]« (Hausmann [1932] 1982, 183). Dies kann nach Hausmann aber nur mit einer visuellen Textgestaltung gelingen, die bisherige typographische Regeln bricht - und so die habitualisierten Automatismen der konventionellen, >sinnesvergessenen< Lektürepraxis überwindet. So ist es nach Hausmann das Verdienst der Dadaisten und Futuristen, in der Typographie »eine scheinbar neue Anarchie [geschaffen zu haben], die aber rein autofonetisch orientiert war« (Hausmann [1932] 1982, 182). Es ist davon auszugehen, daß die Typographie von Lautdichtung nicht nur dazu beiträgt, die oral-phonetische Aktivität des Lesers auszulösen, sondern daß die besondere Textform auch Einfluß nimmt auf die Art und Weise der Phonetisierung, d. h. daß die typographischen Formmerkmale als Mündlichkeitsmerkmale wirksam werden. Insofern stellen die typographischen Formunterschiede der optophonetischen Dichtungen Hausmanns die Analyse vor besondere interpretatorische Probleme. Die Entstehung und Wirkungsästhetik seiner Plakatgedichte (Abb. 109) beschreibt Hausmann folgendermaßen: Schließlich und endlich, Buchstabengedichte sind wohl zum Sehen da, aber auch zum Ansehen - warum also nicht Plakate aus ihnen machen? Auf verschiedenfarbigem Papier und in großen Druckbuchstaben? Das wäre, Dunnerschlag [sie], noch nicht dagewesen, trotz Ben Akiba! / also in die Druckerei von Robert Barthe in die Dennewitzstraße und gleich, gleich die neue Dichtform in Angriff genommen. Dank dem Verständnis des Setzers waren die hölzernen Buchstaben für Plakate nach Laune und Zufall hingesetzt, was da so kam, und das war sichtbar gut. / Ein kleines f zuerst, dann ein m, dann ein s, ein b, eh, was nun? Na, ein w und ein t und so weiter, eine große ecriture automatique mit Fragezeichen, Ausrufezeichen und selbst einer Anzeigenhand dazwischen! / [...] Große, sichtbare Lettern, als lettristische Gedichte, ja noch mehr, ich sagte mir gleich optophonetisch! Verschiedene
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ffflsbwtözän Abb. 109 Hausmann. Plakatgedichte, 1918/1919
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Größen zu verschiedener Betonung! / Konsonanten und Vokale, das krächzt und jodelt sehr gut! Natürlich, die Buchstabenplakatgedichte mußten gesungen werden! DA-DA! (Hausmann zit. aus Riha 1990, 32/36) 2()
Doch gibt die typographische Form der Plakatgedichte im Vergleich zu kp 'erioum zunächst wenig Anlaß zu unwillkürlichem phonologischem Recodieren. Die homogenen Gestaltmerkmale des Letternmaterials sind schwerlich als Mündlichkeitsmerkmale interpretierbar. Minimal sind die Formunterschiede, die prosodische Lautqualitäten anzeigen könnten (Groß- und Kleinbuchstaben); die Satzzeichen und die piktographische Type (Anzeigenhand) entziehen sich der Phonetisierung. Ganz anders dagegen kp'erioum: der Zeilenblock ist aufgelöst zugunsten der Einzelletter. Die typographische Variation der Lettern stellt deren Bildlichkeit in den Vordergrund. Die Ausdruckswirkung insgesamt ist stark dynamisiert. Bei der Betrachtung stellen sich wahrnehmungspsychologische Vorder- und Hintergrundeffekte ein. Die betont vielgestaltigen visuellen Textmerkmale legen es nahe, die Formunterschiede als Mündlichkeitsmerkmale zu deuten: auf der Basis kultureller Codierungen typographischer Formmerkmale können die Letternformen lautlichprosodische Ausdrucksunterschiede anzeigen. Die Größendifferenz der Lettern, die auffällig häufig graduell zu- oder abnehmend sind, lassen sich als An- und Abschwellen von Lautstärke deuten. Die vielfältigen Gestaltqualitäten der eingesetzten Schriftarten (Grundstrich-Haarstrichkontraste, Kursivierung u. ä.) konnotieren als codierte Reize kulturelle Einheiten wie Rundheit, Eckigkeit, Härte, Weichheit u.a., und regen die artikulatorische Umsetzung in sprachlich-phonetische Ausdrucksqualitäten an, die gemeinhin als stimmhaft, stimmlos, tief, hell beschrieben werden. Die deutlichen typographischen Merkmalsunterschiede zwischen Hausmanns optophonetischen Gedichten finden im Vortrag Hausmanns nun aber gerade keine Entsprechung.21 Vielmehr zeigt sich eine Diskrepanz zwischen der Ähnlichkeit der Intonation durch Hausmann und der Unterschiedlichkeit der typographischen Textform. Offensichtlich liegt Hausmanns optophonetischer Dichtung nicht das Programm zugrunde, daß man hören bzw. sprechen solle, was man sieht - dies ist beispielsweise ein wichtiges Anliegen Schwitters (s. unten). Innerhalb der optophonetischen Poetik Hausmanns ist dies nur konsequent, denn Typographie umfaßt für Hausmann g r u n d s ä t z l i c h eine visuelle und lautliche Dimension: Typografie ist das Endergebnis eines optisch-akustischen Gestaltungsvorganges (Hausmann [1932] 1982,181).
Diese psychophysiologische Doppelnatur von Typographie unterliegt einem beständigen (sozialen) Lern- und d.h. Veränderungsprozeß. Zeitgenössisch sieht Hausmann die sinnlichen Aspekte typographischer Textualität allerdings kulturell verdrängt. Aufgabe sei deshalb die »Erneuerung und Verstärkung des Physiologi2U 21
Hausmann selbst hat die Plakatgedichte schon 1918 vorgetragen (s. Erlhoff 1982,191). Tonkassette Raoul Hausmann. Poemes Phonetiques Completes. Sämtliche Phonetische Gedichte. Hg. Marthe Prevot. München, Düsseldorf, Wuppertal: S Press Tonbandverlag 1978. 361
sehen in der Typografie« (Hausmann [1932] 1982,193). Hausmann lobt die futuristischen und dadaistischen typographischen Textexperimente, weil dort das physiologisch optische Princip erstmalig konsequent durchgeführt [wurde]. Nicht ohne Sinn wurde das rein fonetische Gedicht erfunden, das durch eine neuartige Typografie optisch unterstützt war (Hausmann [1932] 1982,183).
Hier ist die Funktion typographischer Innovation im Lautgedicht benannt: die Unterstützung der Wahrnehmung der lautlichen Dimension von (schriftsprachlicher) Dichtung beim Lesen. Hausmann betrachtet experimentelle Typographie als hilfreich, nicht aber als Bedingung des Gelingens von Optophonetik. Für das optophonetische Programm Hausmanns spielt die individuelle typographische Formgebung letztlich keine entscheidende Rolle. Dementsprechend kann er als Autor, wie im Fall der Plakatgedichte, die Auswahl und Zusammenstellung des typographischen Materials an den Setzer delegieren. Die eigentliche Garantieinstanz für das Gelingen optophonetischer Kunst sind für Hausmann die >Natur< der typographischen Zeichen selbst und die >Naturgesetze< ihrer Wahrnehmung. Hausmanns Optophonetik stellt ein - auf Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaft aufbauendes-synästhetisches Kunstprogramm dar. Seine optophonetische Poetik entwickelt Hausmann ausdrücklich mit Verweis auf die physikalische Entsprechung von Licht und Schall als Schwingungserscheinungen. Er beruft sich auf technische Experimente zur wechselseitigen Transformation von Licht und Schallwellen (s. Hausmann [1923] 1982, 53; 74). Auf seilen der menschlichen Sinneswahrnehmung entspreche dem die (experimentell nachgewiesene) neurologische Beziehung zwischen Auge und Ohr (Hausmann [1923] 1982, 54f.; vgl. Erlhoff 1982, 133ff.). Die Koppelung von Optik und Phonetik in der Typographie wird von Hausmann naturgesetzlich begründet und damit als unhintergehbar gedacht. Dementsprechend vollzieht sich die Aktivierung dieser Textdimensionen für ihn vorbewußt und jenseits rationalistisch-zivilisatorischer Normen und Regulative: Ihr werdet durch die Ohren sehen und mit den Augen hören und ihr werdet den Verstand dabei verlieren (Hausmann zit. aus Erlhoff 1982, 145).
Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht wunder, daß Hausmann praktisch keine Angaben dazu macht, wie seine optophonetischen Dichtungen zu sprechen seien, sondern in erster Linie die Abweichungen zum (literarisch-) sprachlichen und typographischen Normhorizont ausarbeitet, die das phonologische Recodieren zwar initialisieren, für dessen Verlauf und Ausgestaltung Hausmann aber offensichtlich auf die natürlichen psychophysiologischen Wirkungsmechanismen vertraut. In den Rezitationen seiner optophonetischen Gedichte führt Hausmann selbst die extremen Freiheitsgrade für eine improvisierende Interpretation seiner Texte vor. 7.2.4 Ball Karawane Die ausgeprägte Bildwirkung von Hausmanns und Balls Lautgedichten könnte den Schluß nahelegen, daß die typographische Formgebung hier weniger auf die Abbil362
jolifanto bambla ö fallt bambla grossiga m'pfa habla horem
ogiga goramen
higo bloiko russula huju
hollaka hollala anlogo bung blago bung blago bung
bo88O fataha ü üü ü
schampa wulla wussa olobo hej tatta görem
eschige zanbada
iDulubu ssubudu uluiD ssubudu tumba ba- umf kusagauma ba umf Ud -- U llll
917
>
Hugo Ball
Abb. 110 Ball. Karawane, 1917. Typographie Richard Hülsenbeck
dung von Laut(sprach)lichkeit abziele, als vielmehr eine primär visuelle Funktion erfülle. Es wäre allerdings zu kurz gegriffen, wollte man unter Lautdichtung nur solche Texte fassen, deren Typographie eindeutig in lautlich-prosodische Merkmale >übersetzbar< ist, oder wollte man die typographische Gestaltung avantgardistischer Lautdichtung insgesamt als Bemühen um die exakte Notation prosodischer Lautierungen deuten. Im Falle Hausmanns und auch Balls hat - anders als bei Schwitters die typographische Vertextung nicht die Funktion, Partitur zu sein, die die Phonetisierung unzweideutig anleitet. Typographische Auszeichnungsverfahren können in abstrakten, nichtlexikalischen Textzusammenhängen gar nicht in vergleichbarer Art und Weise als konnotativ codiertes Mündlichkeitsmerkmal fungieren, wie dies in normalsprachlichen Textzusammenhängen der Fall ist. Typographische Auszeichnungsformen entwickeln, wie ich in Kapitel 5.2 gezeigt habe, ihre konnotative Potenz als Zeichen prosodischer Eigenschaften von Lautsprache häufig nur in Abhängigkeit vom jeweiligen Textinhalt. Mündlichkeitsmerkmale sind einerseits vi363
suell-typographisch codiert, und andererseits sprachlich-kontextuell geregelt. Da begriffssprachliche Semantik in den vorliegenden Lautdichtungen systematisch verweigert wird, bleiben die potentiell als Mündlichkeitsmerkmale zu deutenden typographischen Auszeichnungsformen in diesen Texten vieldeutig. Ohne Zweifel haben die Schriftwechsel in Balls Karawane (Abb. 110) Zeichenfunktion als codierte Reizmuster und als konventionalisierte Mündlichkeitsmerkmale, die eine lautsprachlich artikulatorische Deutung nahelegen. Die unterschiedlichen Laufweiten der eingesetzten Schriftarten beschleunigen und verlangsamen den Lesefluß. Die unterschiedlichen Schriftstärken lassen sich als Lautstärkeunterschiede umsetzen. Die betonten Rundungen und der fließend weiche Strichverlauf der Schriftform in der dritten Textzeile legen es beispielsweise nahe, sie in lautlich-prosodische Merkmale zu >übersetzenVerse ohne Worte< oder Lautgedichte« (Ball 1916 in Dada Zürich 1992, 20). Daß neben dem Gattungs- auch gerade der Sprachbezug für Ball ein programmatisches - wenn auch durchaus widersprüchlich konzipiertes - Anliegen war, zeigt das Manifest, das er dem ersten Vortrag seiner Lautgedichte voranschickte:22 22
Ball hat seine Lautdichtungen 1916 auf einer Dada-Soiree im Cabaret Voltaire in Zürich zum Vortrag gebracht und dabei theatral (durch Kostümierung, Abgang durch Heraustragen u. a.) inszeniert (s. dazu Dada in Zürich 1985,281). Obwohl Ball selbst den theatralen Ereignischarakter des Lautdichtungsvortrags betont, erscheinen die Lautgedichte anschließend als selbständige literarische Texte im Druck und nicht - was gleichfalls vorstell-
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Ich lese Verse, die nichts weniger vorhaben als auf die Sprache zu verzichten. [...] Ich will k e i n e Worte, die andere e r f u n d e n h a b e n . Alle Worte haben andere erfunden. Ich will meinen eigenen Unfug, und Vokale und Konsonanten dazu, die ihm entsprechen. Wenn eine Schwingung sieben Ellen lang ist, will ich fueglich Worte dazu haben, die sieben Ellen lang sind. [...] Da kann man nun so recht sehen, wie die artikulierte Sprache entsteht. Ich lasse die Laute ganz einfach fallen. Worte t a u c h e n a u f , Schultern von Worten; Beine, Arme, Haende von Worten. Ay, oi, u. Man soll nicht zuviel Worte aufkommen lassen. Ein Vers ist die Gelegenheit, moeglichst ohne Worte und ohne die Sprache auszukommen. Diese vermaledeite Sprache, an der Schmutz klebt wie von Maklerhaenden, die die Muenzen angegriffen haben. Das Wort will ich h a b e n [Herv. S. W.], wo es aufhoert und wo es anfaengt (Ball Eröffnungs-Manifest zum 1. Dada-Abend, Zürich 1916 in Dada Zürich 1985,256).
Unter dieser Maßgabe erfährt die typographische Fixierung von Lautdichtung zusätzlich Plausibilität, nicht nur, weil Mitglieder einer Schriftkultur Lautlichkeit in erster Linie schriftvermittelt wahrnehmen und vorstellen, sondern weil in unserer Kultur Literarizität und literarische Tradierung eng an schriftsprachliche Fixierung gekoppelt sind und deshalb »>Lautgedichte< als literarische Form [Herv. S.W.] [...] allein im Geschriebenen bewahrt werden können« (Kohrt 1983, 98). In diesem Zusammenhang ist der Vergleich mit Hausmanns Lautdichtung aufschlußreich, denn er möchte seine optophonetischen Arbeiten von traditionellen Kunstformen »als veralteten Gattungen sentimentaler Ordnung« strikt abgegrenzt wissen (Hausmann [1922] 1982, 57). Tatsächlich meidet Hausmann weitestgehend typographische Merkmalsbildungen, die seine Lautgedichte dem traditionellen Dispositiv Lyrik zuordnen ließen.23 Im Falle der Plakatgedichte bricht bereits die Wahl des Präsentationsträgers Plakat mit konventionellen literarischen Lektüreformen und Deutungsroutinen. In kp'erioum dominiert die Dissoziation der Zeilengliederung durch beständigen Schriftwechsel. Hausmann betreibt keine an Wortbildern orientierte Textsequenzierung und Textauszeichnung: die zentrale sprachliche und typographische Gestaltungseinheit Hausmanns ist die Einzelletter. Durch die Elementarisierung von Schriftsprache >hintergeht< er (Normal-) Sprache und arbeitet mit schriftsprachlichen Einheiten, die zeitgenössisch als außerliterarisch erachtet werden. Zwar sind Zeilenbildungen deutlich erkennbar, das Fehlen einer Grundlinie, auf der die Schriftzeichen stehen, macht sie aber als lyrische Verszeilen unkenntlich. In kp'erioum sind die Zeilen zudem tendenziell auf Mittelachse gesetzt - eine Textanordnung, die zeitgenössisch üblicherweise für Buchtitel oder Akzidenztypographien genutzt wurde -, was ihre Zurechenbarkeit zum traditionellen Dispositiv Lyrik zusätzlich konterkariert.
23
bar wäre - als szenische Notation, die neben dem >Sprechertext< z. B. auch Regieanweisungen umfaßt. Insofern widerspreche ich Erlhoff, der in kp'erioum auch typographische Merkmale der traditionellen Gedichtform zu erkennen meint, wie z.B. Wortbild-Bildung, konventionelle rechts-linksläufige Zeilenbildung, strophenähnliche Klammerung der Textzeilen u.a. (s. Erlhoff 1982,194). 365
ursonate
1922-1932 einleitung: Fümms bö wo tää zää Uu, pögiff,
kwü Ec. Oooooooooooooooooooooooooooooooo,
dll rrrrrr bceece dll rrmr beeeee rrrrrr beeeee beeeee
bö, bö fümms bö fümms bö fümms bö fümms fümms
(A) bö, bö wo, bö wo tää, bö wo tää zää, bö wo tää zää Uu:
1
erster teil: them· 1:
Fümms bö wo tää zää Uu, pögiff, kwü Ee. them« 2:
Dedcsnn nn rrrrrr,
li Ee, mpiff tillff too, tillll, Jüü Kaa? (gesungen) them· 3:
Rinnzekete bee bee nnz krr müü ? ziiuu ennze, ziiuu rinazkrrmüu, rakete bee bee. them· 4:
Rrummpff tillff toooo?
Abb. I l l Schwitters. ursonate, 1932. Typographie Jan Tschichold 366
3·
7.2.5 Schwitters Ursonate In Schwitters Ursonate24 (Abb. 111) ist Musik das Leitprinzip lautdichterisch-literarischen Schaffens;25 darin unterscheidet sie sich von Balls und Hausmanns Lautdichtungen. In der Urxonate vereint Schwitters Literatur und Musik miteinander. Schwitters hat mit der Ursonate »versucht, etwas herzustellen, das beiden Bezugssystemen gleichzeitig und gleichberechtigt angehört, dem sprachlich-artikulatorischen wie dem musikalisch-strukturalen« (Heißenbüttel 1983, 15). Tatsächlich können Musik und Dichtung unter materiellen und formal-strukturellen Gesichtspunkten sowohl voneinander unterschieden als auch aufeinander bezogen werden. Im Falle der Ursonate sind Musik und Sprache wechselweise aufeinander bezogen: 1. durch die Struktur (kompositioneller Aufbau), 2. durch die Buchstaben als Notationszeichen (Stichwort: Notenschrift). 26 Bei der typographischen Gestaltung der Ursonate27 legte Schwitters gesteigerten Wert auf die Verdeutlichung des Kompositionsprinzips (s. Schwitters [1926] 1975, 107).2H Die typographische Syntax ist wie eine Partitur streng formalisiert und folgt den Regeln des strukturellen Aufbaus einer Sonate. Es kommen in der Drucklegung verschiedene schriftsprachliche Gliederungsmittel (Zahl- und Zifferzeichen), typographische Gliederungszeichen (Linienmaterial) und typographische Auszeichnungsformen (Kursivierungen, Einrückungen, Absatzbildung) zur Unterscheidung und Hierarchisierung der verschiedenen Textebenen zum Einsatz.29 Schriftzeichen werden in der Druckfassung der Ursonate polyfunktional eingesetzt:
:4
2i
26 27
21i
2g
Der Titel Ursonate oder Sonate in Urlauten, wie Schwitters seine Lautdichtung auch nennt, ist nicht als Referenz an die Idee einer menschheitseinenden >Ursprache< - einem Topos abendländischer Sprachphilosophie - zu verstehen. Vielmehr ist das Präfix »Ur-« auf den Prozeß der künstlerischen Abstraktion bezogen: Es bezeichnet hier eine Komposition bzw. Konstruktion, die mit e l e m e n t a r s t e n , nicht weiter abstrahierbaren künstlerischen Mitteln gestaltet ist. Schwitters selbst betont: »Die Sonate ist meine umfassendste und wichtigste dichterische Arbeit« (Schwitters [1926] 1975,108). Buchstaben- und Notenschrift gemeinsam ist in diesem Fall, daß sie auf eine lautlichtonale Umsetzung im Vortrag bzw. Konzert verweisen. Schwitters arbeitete seit 1924 an der Ursonate. Sie erschien schließlich 1932 als letztes Heft (Nr. 24) von Schwitters Zeitschrift Merz, die Ende der 20er Jahre zunehmend ihren Zeitschriftencharakter verloren hatte, denn Schwitters nutzte sie verstärkt als verlegerische Reihe. Die typographische Gestaltung für diese Drucklegung hat Tschichold besorgt. Der Begriff Komposition nimmt in Schwitters Ästhetik eine zentrale Stellung ein und meint - unabhängig von der jeweiligen Kunstgattung - die Beziehungen der künstlerischen Elemente zueinander. Zur »Orientierung« ist die Sonate in »26 Parcellen geteilt, die durch die Buchstaben A bis Z gekennzeichnet sind«; der Aufbau der Hauptteile und ihre Zusammenstellung wird durch verschieden starke waagrechte Linien angezeigt (Schwitters [1926] 1975, 107). Kom-
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1. als Gliederungssystem: der Sonaten->Text< wird durch die Buchstaben des Alphabets in 26 Abschnitte geteilt, 2. als normalsprachliches Zeichensystem: für Tempi-Angaben u. ä., 3. als Notationssystem: Schwitters >schreibt< die Sonaten-Partitur. Schwitters transformiert Sprache in der Ursonate in musikalisches (Kompositions-) Material und >versprachlicht< Musik. Unerwähnt bleibt bei der Beschreibung der Ursonate in der Sekundärliteratur häufig, daß von alters her musikalische Töne mit Buchstabenzeichen benannt werden. Es bestehen systematische Analogien zwischen der kulturellen Vorstellung von Lautsprache als distinkt organisiertes Phonemsystem und von Musik als distinkt organisiertes Tonsystem. Für beide gibt es in unserer Kultur jeweils ein eigenes Aufzeichnungssystem: Alphabet-Schrift und Noten-Schrift mit je eigenen Regelsystemen für die Kombination von Lauten (Buchstaben) bzw. Tönen (Noten). Schwitters spielt mit diesen strukturellen Analogien, und so ist die Ursonate keinem der beiden Zeichensysteme, Sprache oder Musik, eindeutig zurechenbar. In Schwitters Systematik der Kunstgattungen ist die Ursonate eine eigene Kunstgattung, nämlich Vortragskunst. Mit seiner Programmschrift Konsequenter Dichtung zielt Schwitters auf einen radikal abstrakten Dichtungsbegriff, der alle sprachliche Semantik - gleichermaßen denotative und konnotative auszuschalten sucht: Das Wort ist 1. Komposition von Buchstaben. / 2. Klang. / 3. Bezeichnung (Bedeutung). / 4. Träger von Ideenassoziationen (KS [1924] Bd.5,1981,190).
Als Träger von »Bedeutung« (Denotation) und »Ideenassoziationen« (Konnotationen) erachtet Schwitters Worte als nicht »eindeutig«, sondern »abhängig von dem Vorstellungsvermögen« und den »Erlebnissen« des jeweiligen Betrachters (KS [1924] Bd.5,1981,190). Material »Konsequenter Dichtung« könne deshalb nur der Buchstabe sein: Nicht das Wort ist ursprünglich Material der Dichtung, sondern der Buchstabe (KS [1924] Bd.5,1981,190).
Denn »Buchstaben haben keinen Begriff« (KS [1924] Bd.5, 1981, 191) und seien mithin »eindeutig«. Für »Konsequente Dichtung«, wie z.B. Buchstabengedichte (Abb. 112), d.h. für L i t e r a t u r , will Schwitters die Referenz auf Lautlichkeit dezidiert ausgeschlossen wissen, weil auch der Lautwert (Klang)
positorische Angaben, wie die Benennung der Hauptteile, die Bezeichnung der Sätze oder die Hinweise zur Phonetisierung, werden systematisch durch Fett- bzw. Kursivdruck vom übrigen Text abgesetzt und zusätzlich durch Zeilen- bzw. Absatzbildungen sowie durch Linien kenntlich gemacht. Die vielfältige Segmentierung des Textverlaufs durch typographische Zeichenmittel wird komplementär ergänzt durch die typographische Markierung des Textzusammenhanges: eine durchgängige Linie am rechten Rand jeder Druckseite zeigt das >Textkontinuum< an. Schon 1926 hatte Schwitters die Idee entwickelt, »dass ein filmartiger Streifen das Fortlaufende der Zeit betonen soll« (Schwitters [1926] 1975,108). 368
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H F T L Abb. 112 Schwitters. (ohne Titel). Buchstabengedicht, 1922
nur eindeutig [ist] beim gesprochenen Wort. Beim geschriebenen ist er abhängig von der Vorstellungskraft des Betrachters. Daher kann der Klang nur Material für den Vortrag und nicht für die Dichtung sein. [...] Buchstaben haben an sich keinen Klang, sie geben nur Möglichkeiten, zum Klanglichen gewertet zu werden durch den Vortragenden (KS [1924] Bd.5,1981.190f.). Nur in einem Falle sei »Klangdichtung konsequent, wenn sie gleichzeitig beim künstlerischen Vortrag e n t s t e h t und n i c h t geschrieben wird. Zwischen Dicht u n g und Vortrag ist streng zu u n t e r s c h e i d e n « [Herv. S.W.] (KS [1924] Bd.5, 1981, 191). Schwitters gibt an, die Komposition der Ursonate sei nur dem Hören nach, auswendig erfolgt (Schwitters [1926] 1975,107), und an anderer Stelle merkt
er an: Besser als zu lesen ist die Sonate zu hören. Ich selbst trage deshalb meine Sonate gern und oft öffentlich vor [...] [auch] habe ich einige charakteristische Teile ins Grammophon gesprochen (KS [1927] Bd.5,1981, 289). Es stellt sich die Frage, warum Schwitters dennoch den Druck besorgte und darauf soviel konzeptionelle Mühe verwandte. Die Hinweise, die Schwitters selbst dazu gibt, bekräftigen meine Thesen zu Lautdichtung als typographiebasierter Textform: 1. daß die Anregung zur Phonetisierung in einer Schriftkultur weniger durch das Zuhören, als vielmehr durch die Lektüre ausgelöst wird;
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2. daß die Tradierung von (literarischen) Texten der schriftlichen Fixierung bedarf; 3. daß insbesondere die kulturelle Fähigkeit, sich (lautliche) Text-Strukturen bewußtzumachen, abhängig ist von deren (typographischer) Visualisierung. Schwitters plante zunächst, die Ursonate als (loses) Mappenwerk zu drucken, um die Textstruktur besser kenntlich werden zu lassen: dass jeder dann leicht die einzelnen Teile zum Vergleich nebeneinander legen könnte. Und der Vergleich ist hier das Wichtigste, denn man kommt erst zum vollen Genuss des Ganzen, wenn man im Geiste die Beziehungen aller Teile vornehmen kann (KS [1924] Bd. 5, 1981, 108).
Schwitters begründet den Plan zur Drucklegung weiterhin damit, daß die Ursonate »etwas ganz Ungewöhnliches geworden [ist], dabei aber allgemein verständlich. Es ist nur wichtig, dass der Druck vorbildlich wird«. Er möchte ihm eine ausführliche Erklärung »der Schreibweise« mitgeben: Denn es soll in jeder Hinsicht ein Typ geschaffen werden, nach dem jeder derartige Sonaten schreiben kann, wenn er will (KS [1924] Bd.5, 1981, 107).
Genauso soll sie für jeden Rezipienten >lesbar< sein, d.h. die Phonetisierung anregen: Wir haben einen grossen Vorteil, wenn wir Lautdichtung nach einem für jeden lesbaren Schlüssel machen. Sonst ist es wie ein Bluff der Dadazeit. Er ist lesbar. Und für jedermann (Schwitters [l946] 1975, 238).
Die Notwendigkeit, dem Leser einen »Schlüssel zum Lesen von Lautgedichten« an die Hand zu geben, verweist auf die zentrale poetologische Problemstellung Schwitterscher Lautdichtung: Wie kann die >Richtigkeit< der Phonetisierung sichergestellt werden? Die Buchstaben der Ursonate fungieren als Notenschrift. Kein Notationssystem aber ist eindeutig in dem Sinne, daß es alle Merkmale einer tonalen Umsetzung bezeichnen und damit festlegen kann (vgl. Goodman 1984, 22): Natürlich ist in der ü b l i c h e n Schrift mit den Buchstaben des alten römischen Alphabets nur eine sehr lückenhafte Angabe der gesprochenen Sonate zu geben. Wie bei jeder N o t e n s c h r i f t sind viele A u s l e g u n g e n möglich [Herv. S.W.] (KS [1927] Bd.5,1981,289).
Dies wäre nicht besonders hervorzuheben, wenn sich hier nicht ein Konflikt mit Schwitters programmatischem Streben nach künstlerisch-gestalterischer Präzision abzeichnete. Schwitters wendet sich ausdrücklich gegen die »dadaistische und willkürliche« Sammlung von Lautmaterial. Er legt nicht nur die musikalischen Prinzipien des kompositorisch-strukturellen Aufbaus der Sonate dar, sondern präzisiert auch die »beabsichtigten Klangwirkungen«. Diese sind damit ausdrücklich nicht in das Belieben des Rezipienten gestellt, vielmehr betont Schwitters die »innere Logik, Strenge und Konsequenz der Durcharbeitung und Gruppierung« des Lautmaterials (KS [1927] Bd.5,1981,230ff.). Es wird erklärlich, warum Schwitters die »beabsichtigten Klangwirkungen« nicht durch typographische Auszeichnungsmittel 370
anzuzeigen versucht;30 denn typographische Mündlichkeitsmerkmale in nichtlexikalischen, semantisch abstrakten Textzusammenhängen sind nur schwach codiert und ihre Umsetzung in artikulatorisch-prosodische Eigenschaften von Lautsprache bleibt uneindeutig. Statt dessen ist die Ursonate in einer geläufigen Textschrift gesetzt, ohne Auszeichungsformen, die als Mündlichkeitsmerkmale zu deuten wären. Der Schluß liegt nahe, daß keine expressive oder prosodisch variationsreiche Phonetisierung, sondern ein neutrales, normalsprachliches Ablesen der Lautwerte der Lettern intendiert ist. Die denotative Codierung der Schriftzeichen ist die Voraussetzung für asemantische, typographisch fixierte Lautdichtung, denn dank ihrer denotativen Codierung können Schriftzeichensequenzen in Lautfolgen >übersetzt< werden, ohne daß den Textelementen notwendigerweise begriffssprachliche Bedeutung zugrunde liegen muß (Glück 1987,17). Aber die Phonem-Graphem-Korrelationen sind niemals eindeutig in dem Sinne, daß eine Entsprechung im Verhältnis 1:1 bestünde: Die Abbildbarkeit des mündlichen Sprachaktes in eine Folge diskreter Schriftzeichen bedeutet beispielsweise keineswegs, daß Lautsprache aus distinkten Elementen zusammengesetzt ist (vgl. Tillmann/Günther 1986,191). Und auch wenn es relativ stabile, stark konventionalisierte Beziehungen zwischen Schriftzeichen- und Lautfolgen gibt, so ist die artikulatorische Ausgestaltung einzelner Buchstaben dennoch hochgradig abhängig von der jeweiligen Nationalsprache, 31 von deren orthographischen Regeln sowie vom morphologischen (ver/edeln : veredeln) und semantischen (leere: lehre : hans) Kontext. In der Regel lassen sich keine generalisierten Aussagen über Dehnung (Länge und Kürze) von Vokalen, über Stimmhaftigkeit oder Stimmlosigkeit von Konsonanten und über die Betonung von Silben innerhalb einer (asemantischen) Buchstabenfolge machen. Auch die Aussprache von Vokalgruppen (z. B. »ie« oder »au«) oder zusammengesetzten Konsonanten (z. B. »seh«, »ph«) bleibt - sofern sie nicht in bekannten lexikalischen Begriffen begegnen - artikulatorisch uneindeutig. Diese Mehrdeutigkeiten sucht Schwitters zu minimieren. Ein Lösungsansatz ist die Formulierung eines >LeseschlüsselsSpreizungUrsonate< gegenübergestellt sah [...]. Genereller gesprochen: es ging also um das Problem der schriftlichen Darstellung von Lautgedichten« (Kohrt 1981, 68). Wobei es als Schwitters Ziel gelten kann, »daß das Lautlesen nunmehr rein mechanisch vonstatten gehen und auf jedes Sinnverstehen verzichten kann« (Kohrt 1981,69). " Schwitters Modell liegt beispielsweise die - durch das Typographeum geprägte und von der empirischen Phonetik heute weitgehend widerlegte - Vorstellung einer distinkten Lautstruktur der gesprochenen Sprache zugrunde.
372
weist Schwitters die Funktion zu, als (abgeleitetes) Zeichensystem gesprochene Sprache eindeutig abzubilden: Schrift ist das niedergeschriebene Bild der Sprache, das Bild des Klanges (KS [1928] Bd. 5, 1981,274).
Angestrebt ist eine »optophonetische [Schrift], weil die phonetische Sprache durch gleichwertige optische Schrift bezeichnet werden muss« (Schwitters [1927] 1975, 120). Die Gleichwertigkeit von Laut- und Schriftstruktur sieht Schwitters im bestehenden alphabetischen Schriftsystem zu Recht nicht verwirklicht. Er beklagt doppelte Schriftzeichen (»c«, »q«, »x«, »y«) für einige Laute ([z], [kw], [ks], [i]) und das Fehlen (eigener) Schriftzeichen für andere Laute ([ng], [seh], [ch]) (Schwitters [1927] 1975, 120; KS [1927] Bd. 5, 1981, 288; Kohrt 1981, 63). Exakt diese Buchstaben und Buchstabenkombinationen verwendet Schwitters bezeichnenderweise in der Ursonate nicht. Mit der Klage über doppelte bzw. fehlende Schriftzeichen und die fehlende systematische Entsprechung von Orthographie und Phonetik steht Schwitters zeitgenössisch keineswegs allein. Diese Mängel des bestehenden alphabetischen Schriftsprachsystems beklagen zeitgleich Typographien des konstruktiven Funktionalismus; auch sie entwickeln Orthographiereformvorschläge und Reformschriftentwürfe. Prominent ist Tschicholds Entwurf einer phonetischen Schrift und Schreibweise aus dem Jahr 1929 (Abb. 113), (Erläuterungen dazu s. Tschichold [1930] 1991, 74-81). Doch Schwitters geht in der phonematischen Mängel-Analyse des beste-
für ÖEN Noi^N m £ N f £ N EKsisTirr NUT das qLaihjq^vihjT TSVI^N NOTUT UNT qaisT rsujEdEm TsairpuxKTdEf Abb. 113 »neue schrift«. Jan Tschichold, 1929
henden Schriftsystems weiter als seine Zeitgenossen und gelangt deshalb bei der Entwicklung seiner Systemschrift zu radikaleren Formentwicklungen. Schwitters vermißt beispielsweise »unterschiedliche Zeichen für Gaumen r und Zungen r« (Schwitters [1927] 1975, 120). Er möchte in einem neuen Schriftsystem Mitlaute nicht nur nach »dem Klang«, sondern auch nach dem »Ort der Entstehung« unterschieden wissen (Schwitters [1927] 1975, 123; vgl. Kohrt 1981, 7l).34 Das Ziel, den 34
Schwitters unterscheidet beispielsweise zwischen Knack-, Zisch-, Nasen- oder Schwinglauten. Für Kohrt sind Schwitters Überlegungen zur Systemschrift deshalb »mit gutem Recht [...] mit den Anfängen der wissenschaftlichen Phonetik verknüpft«, zumal sie erhebliche Ähnlichkeiten zu Beils >Visible Speechabzubildenabgebildet< (Abb.114):36 Man liest jetzt besser und vor allem plastischer, weil man die klangvollen Laute breit und deutlich sieht, die klanglosen matt (Schwitters zit. aus Brüning 1990, 102).
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36
Lautschriftsystem schuf, das zur Darstellung aller Sprachen geeignet sein sollte (Kohrt 1981,66). So preist Schwitters in der Anthologie Der gefesselte Blick (1930) - eine der wichtigsten Programmschriften der anwendungsorientierten typographischen Avantgarde - den architektonischen Charakter von rechtwinklig konstruierter (alphabetisch konventioneller) Schrift: »Durch die eckige Form der Typen wirkt die Schrift architektonisch. Sie ist sozusagen ein Element der rechteckigen Fläche und verschmilzt mit dieser zu einer Einheit [...] so eng, daß man sie wie ein Bild sieht« (Schwitters in Der gefesselte Blick 1930, 90). »Denn alle Vokale sind untereinander ähnlicher, als ein Vokal einem Konsonanten ähnlich wäre« (KS [1927] Bd.5,1981, 275).
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In Fortentwicklungen der ersten Entwurfsstufe der Systemschriff"1 werden graphische Merkmale der Lettern mit phonematischen Merkmalen der gesprochenen Sprache korreliert (Abb. 115). Die Differenzierung von stimmlos und stimmhaft soll beispielsweise durch die Spiegelung der Kopfseite der Lettern angezeigt werden (KS [1927] Bd.5, 1981, 275; vgl. auch Kohrt 1981, 65). Schwitters Entwürfe zielen letztlich auf ein generatives Schriftsystem, dessen Elemente nicht vorab begrenzt definiert sind, sondern auf der Basis geometrischer Elementareinheiten vielfältigste Neukombinationen erlaubt. Die Methode des Kombinierens ist theoretisch so zu
Schwitters selbst erläutert die verschiedenen Versionen bzw. Entwurfsstufen seiner Systemschrift ausführlich (KS [1927] Bd.5, 1981, 274ff.), (s. dazu auch Bruning 1990, 106).
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Abb. 115 Schwitters. Neue Plastische Systemschrift. Tabelle III, 1927
denken, da ein Formkontinuum als Entsprechung zu einem Lautkontinuum entsteht (Br ning 1990,106). Die Zusammensetzungsm glichkeiten w rden dann von einer Art optophonetischer Grammatik geregelt werden. Schwitters SystemschriftEntw rfe zielen auf ein maximal flexibles Notationssystem f r die sprachlautlichartikulatorische Vortragskunst, das die Aufzeichnung von Lautkompositionen und deren eindeutige Wiedergabe im Vortrag erlaubt. Schwitters Systemschrift blieb Entwurf; es gelang ihm nicht, eine (moderate) Version als Drucktype herstellen zu lassen (vgl. Br ning 1990, 106). Dies allerdings w re die Voraussetzung f r die Drucklegung der Ursonate in systemschriftlicher Notation gewesen. Die wenigen Beispiele, in denen Schwitters die Systemschrift angewandt hat, sind gezeichnete Typographien (Abb. 116). 376
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1-5MR. Abb. 116 Schwitters. Fitelberg, 1927
7.3 Typographie und Photographie 7.3.1 Die neuen Bildmedien und typographische Innovation F r Kittler ist die Konkurrenz des traditionellen Mediums Literatur mit den neuen Medien Film und Schallplatte die Ursache f r die Entwicklung visuell-typographischer Poesie Anfang des 20. Jahrhunderts: Der Film entwertet die W rter, indem er ihre Referenten, diesen notwendigen, jenseitigen und wohl absurden Bezugspunkt von Diskursen, einfach vor Augen stellt. Als Novalis las, entfaltete sich in seinem Innern eine wirkliche, sichtbare Welt nach den Worten. [...] Was am Sprechen das Reale ist, f llt dem Grammophon zu; was das im Sprechen oder Schreiben produzierte Imagin re ist, dem Spielfilm (Kittler 1987, 252).
Typographische Dichtung entsteht demnach zwangsl ufig, denn die »Bilder aus Buchstaben« seien das, was der Literatur im »einger umten Feld, in der technologi377
sehen Nische von Literatur« übrig bleibt, »ohne [...] an Materialgerechtigkeit den Medien nachzustehen«; »daß Schriftsteller um 1900 zum Kult der Type rufen, hat nichts mit Schönschreiben und alles mit Apparaten zu tun«, resümiert Kittler apodiktisch (Kittler 1987, 257). Zeitgenössische Äußerungen von Dichtern,38 Cineasten39 und nicht zuletzt von Künstler-Typographen der Avantgarde scheinen diesen medialen Verdrängungsprozeß zu bestätigen: Es ist keine Utopie, wenn wir von Film- und Plattensammlungen sprechen, die vielfach an die Stelle der heutigen Bibliotheken treten werden (Moholy-Nagy 1926, 375). Der gedruckte Bogen, die Unendlichkeit der Bücher, muß überwunden werden. Die Elektrobibliothek (Lissitzky [1923] 1967, 356).
Lissitzky prophezeit, daß das Buch eines Tages als »handgreiflicher Gegenstand« ersetzt sein werde »durch selbstlautende oder kinolautende Gestaltung« (Lissitzky [1926/27] 1967, 358). Auch für Tschichold steht fest: Die Schnelligkeit und Gedrängtheit des Films hat auch die Literatur in der Richtung nach filmisch-momentbildhafter Gestaltung beeinflußt (Tschichold 1928, 223).
Und der Bauhaus-Typograph Albers erklärt: Alle Schrift erfährt starke Konkurrenz durch Foto, Kino und Radio. [...] Wir entfernen uns vom Buch. Damit von der Schriftform des Buches [...], und fast ist der Begriff >Schriftsprache< verbraucht (Albers 1926, 395).
Den eigentlichen Konkurrenten der Schriftform des Buches aber sieht Albers nicht in Film oder Radio, sondern in den neuen Druckmedien Zeitung und Zeitschrift: Die neuen Bibliotheken Amerikas haben weniger Bücher, sehr viele Zeitschriften (Albers 1926,395).
Auch Tschichold sieht das optische Paradigma der Zeit in der neuen Publikationsform Zeitung verkörpert: Die optische Erscheinung der Zeitungen gibt ein Sinnbild des heutigen Lebenstempos (Tschichold 1928,223).
»Das Bild ist heute der Prüfstein guter Dichtung [...]. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts entschied das Ohr über die Qualität eines Gedichts: Rhythmus, Klang, Kadenz, Stabreim, Vers: alles für das Ohr. Seit 20 Jahren triumphiert das Auge. Wir sind im Jahrhundert des Films. Mehr und mehr machen wir uns durch visuelle Zeichen verständlich« (Ivan Goll 1924 zit. aus Dencker 1989, 152). »Ich glaube, durch das Kino haben wir jetzt erst das Sehen gelernt. Die Freude am Schauen ist geweckt. Wir wollen nicht mehr nüchterne Buchstaben zu Worten zusammensetzen, die beim Buchstabieren und Sinn-Erfassen den Geist anstrengen, sondern leicht und flüchtig die bildliche Lektüre genießen [...]. Das trockene Buch ist vom Publikum ad acta gelegt; die Zeitung wird flüchtig durchgeblättert, und abends wird der Bildhunger im Kino befriedigt« (Lichtspiel-Bühne 1910 zit. aus Dencker 1989, 152). 378
Die Verengung der Perspektive auf das Wechselverhältnis von Literatur und den neuen >elektro-technischen< Medien Film und Schallplatte führt zu Fehlschlüssen bei der historischen Beschreibung und Erklärung der literarisch-typographischen Innovationen Anfang des 20. Jahrhunderts. Denn der Gegensatz zwischen traditioneller literarischer Buchtypographie und neuer massenmedialer Informationstypographie begünstigt die Entstehung typographischer Literatur und beeinflußt ihre Entwicklung mindestens genauso stark wie die Konkurrenzsituation von Literatur und Film. Von Medientheoretikern wie Kittler wird zumeist übersehen, daß das veränderte Verhältnis zur Gegenständlichkeit und Bildlichkeit von Schrift, das sich in den literarischen Textexperimenten der Avantgarden zeigt, nicht ausschließlich durch den Einfluß der neuen Bild- bzw. Tonmedien zu erklären ist, sondern mindestens genauso durch die Differenzierungsprozesse innerhalb des Typographeums selbst. Hier sind es vor allem die neuen Publikationsformen illustrierte Zeitung und Zeitschrift, die im zeitgenössischen Diskurs mit traditionellen (literarischen) Textformen konkurrierten. Die Entwicklung dieser neuen typographischen Dispositive basiert ihrerseits auf den neuen technologischen Möglichkeiten, Photographien im Druck zu reproduzieren.40 Die damit eröffneten neuartigen gestalterischen Möglichkeiten stellen einen wesentlichen Einflußfaktor innerhalb der (r)evolutionären Wandlungsprozesse des Zeichensystems Typographie dar - zunächst in der Gebrauchstypographie, in der Folge auch in der Literatur- und Kunsttypographie. In den 20er Jahren werden die neuen illustrierten Printmedien und das neue Bildmedium Film bezeichnenderweise in Hinblick auf ihre p h o t o g r a p h i s c h e Bildlichkeit gleichrangig nebeneinandergestellt: Das Bildtelegramm, das du morgen vielleicht schon in der Hand halten wirst; - Chaplin, Harald Lloyd, Buster Keaton. deren Gegenwartsschwung dich gestern abend wieder hingerissen hat in der optisch-kinetischen Bildfolge jener Leinwand; - die Zeitung, die dich über alles Geschehen auf der Erde schon wenige Stunden später orientiert; das illustrierte Buch, Magazin [...]- sie alle beherrscht das gleiche Prinzip. Die Photographic! (Molzahn [1928] 1983, 227f).
Neben zeitgenössischen Stimmen, die den Film zum Leitmedium der Zeit erklären, finden sich Äußerungen, die die neue photographisch illustrierte Presse als Charakteristikum »unserer Zeit« erachten: Das Stigma unserer Tage ist Hast, Eile, Nervosität [...]. Und wenn etwas als symptomatisch dafür gerade jetzt bezeichnet werden kann, dann ist es das Erscheinen der zahlreichen >MagazineDelegierung< der mimetischen Abbildungsfunktion auf Photographic und Film betrachtet werden. Angesichts der neuen Bild- und Tonmedien werden zu Beginn des 20. Jahrhunderts einerseits Abgesänge auf die traditionelle Kunst angestimmt, andererseits werden die neuen Techniken als >Erlöser< begrüßt, dank derer die alten Kunstgattungen (nun endlich) >zu sich kommen < und ihre Zeichenmittel nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten entwickeln und einsetzen können: So stellt Waiden 1917 als einer der ersten Propagandisten und Interpreten der Avantgarde fest, daß die Photographic der Malerei in der Nachahmung der sichtbaren Realität überlegen sei und die Kunst im ganzen jetzt die Möglichkeit habe, sich auf ihre »ei-
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Beispielhaft für diese diskursiven Wandlungsprozesse ist die Analogisierung von Schrift und Film durch Rasch: »Der Film ist bildinterpretierte Funktion. Der Schrift nahe verwandt: Die Schrift ist eigentlich nur ein Film aus Symbolzeichen« (Rasch in Der gefesselte Blick 1930, 4).
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genen Gesetze« zu besinnen. Sie könne jetzt ohne Rücksicht auf einen abzubildenden Gegenstand die »Einheit der Gestaltung und Einheit der Mittel« in der Kunst vorantreiben (Waiden 1917 zit. aus Schmidt-Bergmann 1991,150). Auch in der typographischen Theoriebildung werden neue gestalterische Möglichkeiten gefeiert: Projektion und Film, Grammophon und Radio-Telegraphie bringen neue Möglichkeiten neben dem Mittel der Typographie. Noch ist das Plakat, die Anzeige, die Druckschrift wesentlichstes Instrument der Werbetätigkeit. Innerhalb der Typographie ergeben sich neue Möglichkeiten durch Verwendung photographischer Verfahren (Burchartz [1924] 1990,113). Die Erfindung des Staffeleibildes hat große Kunstwerke geschaffen, aber die Schlagkraft ist verlorengegangen. Gesiegt hat das Kino und die illustrierte Wochenschrift. Wir freuen uns der neuen Mittel, die die Technik uns zur Verfügung stellt. Wir wissen, daß [...] wir endlich dem Buch als Kunstwerk einen neue Schlagkraft geben werden (Lissitzky [1926/ 1927] 1967, 360).
Auch wenn »die neue Arbeit im Innern des Buches noch nicht soweit [ist], um sofort die traditionelle Buchform zu sprengen«, müsse man die Tendenz aber »schon sehen lernen«; man befinde sich noch in einer »Übergangszeit«, an deren Ende das Buch (endlich) »zum monumentalsten Kunstwerk« der nichtbibliophilen Massen werde (Lissitzky [1926/27] 1967, 360). Beispielhaft formuliert Moholy-Nagy in seinem Aufsatz Zeitgemäße Typographie - Ziele, Praxis, Kritik von 1926 die Dialektik zwischen Defensive und Entfaltung neuartiger Ausdrucksmöglichkeiten der >alten< Zeichensysteme Literatur und Typographie: Es sei keine Utopie mehr, daß Autoren künftig ihre literarischen Arbeiten nicht mehr optisch-typografisch, sondern fonetisch-mechanisch (Grammofonplatten, gelochte Bänder für die Verstärkerröhre, Radio) oder möglicherweise auch optofonetisch (der sprechende Film) veröffentlichen (Moholy-Nagy 1926, 375).
Scharf greift Moholy-Nagy Proteste von Orchesterunternehmungen gegen die Konkurrenz des Radios an: Logischer und fruchtbarer als solche Proteste ist aber die Bestrebung, die Typografie auf eine bisher noch nicht erreichte Höhe ihrer Ausdruckskraft, zu ihrer optimalen Leistung zu bringen [...]. Jeder Zweifel an der Existenzberechtigung eines Gestaltungsmittels muß zu einer Prüfung seiner Aufbauelemente führen (Moholy-Nagy 1926, 375).
Ich widerspreche der Ansicht, daß sich hier eine einseitige Reaktion der Typographie auf die Durchsetzung der Photographie ausdrücke, wie dies Müller in Hinblick auf Moholy-Nagys Thesen postuliert: [...] hier [ist] bereits die Konkurrenz von Text und Bild kulturell entschieden, so daß die Typografie den veränderten Wahrnehmungsformen nur noch Folge leisten kann: der Einsatz von Bildern und bildhaften Strukturen ist zur Überlebensfrage geworden. Auf die Überlegenheit des Bildes reagiert die Typografie, indem sie das Bild verinnerlicht (Müller 1994, 73).
Die Integration der Photographie als neues typographisches Ausdrucks- und Gestaltungsmittel wird von seilen der typographischen Avantgarde vielmehr aktiv be381
trieben - während sie von traditionalistischen buch- und textfokussierten Typographenkreisen weitestgehend abgelehnt wird: Wir heutigen haben das foto als wesentliches typografisches mittel der gegenwart anerkannt, wir empfinden sein hinzutreten zu den früheren ausdrucksmitteln des buchdrucks als bereicherung und erblicken in der fotografie geradezu das merkmal, das unsere typografie von aller früheren unterscheidet (Tschichold [1928] 1991, 47). Das Photo wurde nicht allein wegen der Implikation des >Neuen< als typographisches Gestaltungsmittel von der Neuen Typographie so euphorisch angenommen, sondern vor allem deshalb, weil seine zeitgenössische Bewertung als visuelles Zeichenmittel mit sprachskeptizistischen sowie wahrnehmungs- und kommunikationstheoretischen Positionen der Avantgarden konvergierte. Photographic galt als das Abbildungsmedium, das am besten verständlich ist - unabhängig von Alphabetisierungsgrad und über Nationalsprachgrenzen hinweg.42 Photographic wirke am unmittelbarsten, 43 signifiziere ohne Vermittlung durch begriffssprachliche Rationalität44 und könne schneller wahrgenommen werden als Schriftsprache.45 Vor allem aber wurden Photos zeitgenössisch als das objektivste und genaueste Aufzeichnungsmittel erachtet.46 So feiert Moholy-Nagy die Photographic in seinem Aufsatz Die neue Typographie mit den Worten: Das Wichtigste für die heutige Typographie ist die Verwendung [...] [und] die mechanische Herstellung von photographischen Reproduktionen in allen Formen. Was die unexakte Urbilderschrift der Ägypter begonnen hat, welche damals ein jeder nach Tradition und persönlicher Fähigkeit deuten konnte, führt die Einbeziehung der Photographic in das heutige Druckverfahren zu ganz exaktem Ausdruck. [...] Die Objektivität der Photographie befreit den bisher rezeptiven Menschen z. B. von den Krücken einer persönlichen Beschreibung und er wird zur Formung einer eigenen Meinung mehr gezwungen sein als je (Moholy-Nagy [1923] 1984,15).47
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»Die Photographic ist bis heute diejenige Darstellungsart, die am maximalsten allen verständlich ist« (Lissitzky [1926/27] 1967,358). »Das Plakat muß alle psychischen Momente des sofortigen Wirkens in Anspruch nehmen. Durch die richtige Verwendung des photographischen Apparates und der verschiedenen photographischen Techniken [...] ist der größte Wirkungsbereich geöffnet« (Moholy-Nagy [1923] 1984, 16). »Das Bild wird eine der wirksamsten Waffen werden gegen den Intellektualismus, gegen die Mechanisierung des Geistes [...]. N i c h t mehr lesen! Sehen! wird der Leitgedanke der Entwicklung der Tageszeitung sein« (Molzahn [1928] 1983, 228). »Schon entstehen Überblick-Zeitschriften ohne Artikel. In Stichwortauszügen, die viele Aufsätze vieler Zeitschriften ersetzen. Und von diesen bevorzugen wir die illustrierten: das Bild unterrichtet schneller und besser, die Bildseite ist in Sekunden zu erfassen« (Albers 1926,395). »denn es gibt nur eine objektive schriftform - die grotesk - und nur eine objektive aufzeichnung unserer umweit - die fotografie« (Tschichold [1928] 1991,48). »Die sozialutopische Objektivitätsfiktion« (Müller 1994, 79), mit der Photographic Anfang des 20. Jahrhunderts gefeiert wurde, mag heute erstaunlich naiv erscheinen. Plausibel wird sie vor dem Hintergrund der bisherigen Möglichkeiten von Malerei und Zeichnung, Wirklichkeit abzubilden, und in Anbetracht der Revolutionierung der materiellen Zeichengenese, die sich mit der Erfindung der Photographic vollzieht; denn daß Photographic
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Die Photographic gilt daher insbesondere der Sprache als überlegen: Das Bild ist so zur Kurzschrift der Sprache geworden. Wo das Wort versagt, ermöglicht das Bild noch eine Verständigung (Photographische Rundschau 1907 zit. aus Dencker 1989, 158). Das im Buchwesen bisher kulturell eindeutig zugunsten von Schriftsprache hierarchisierte Verhältnis von Text und Bild wird nun umgekehrt gedacht: So stehen wir vor einer Buchform, bei der die Darstellung primär und der Buchstabe sekundär wird (Lissitzky [1926/27] 1967, 358). Die Photographic wird zum einen als zeitgemäßer Ersatz der illustrativen Zeichnung erachtet; als solche bleibt sie beispielsweise in illustrierten Magazinen erläuternden Textpassagen beigeordnet.48 Zum anderen wird sie aber auch als überlegener Ersatz von Sprache in typographischen Vertextungen angesehen: Bücher [...] mit photographischen Reproduktionen existieren heute schon, aber die Photographien sind darin nur sekundäre Erläuterungen zu dem Text. Die Entwicklung überwindet auch diese Phase, und die kleinen wie großen Photographien werden in dem Text an die Stelle heute noch immer individuell interpretierbarer Begriffe, Ausdrücke gesetzt (Moholy-Nagy [1923] 1984, 15). Die Photographic, als typographisches Material verwendet, ist von größter Wirksamkeit. Sie kann als Illustration neben und zu den Worten erscheinen, oder als >PHOTOTEXT< an die Stelle der Worte als präzise Darstellungsform, die in ihrer Objektivität keine individuelle Deutung zuläßt (Moholy-Nagy 1925,204). Schriftsprachliche und photographische Zeichenmittel sind hier als prinzipiell substituierbar gedacht. In der Folge erfahren die traditionellen typographischen Zeichenmittel die Freisetzung aus ihrer funktionalen Bindung an Sprache: Die Übertragung der denotativen Darstellungsfunktion auf das Photo erlaubt jetzt die theoretische und praktische Ausarbeitung der nichtsprachlichen Zeichenhaftigkeit von Schrift und typographischen Sonderzeichen als visuell-konnotativen Zeichenmitteln. So formuliert Moholy-Nagy im selben Aufsatz: Die typographischen Materialien selbst enthalten starke optische Faßbarkeiten und vermögen dadurch den Inhalt der Mitteilung auch unmittelbar visuell - und nicht nur mittelbar intellektuell - darzustellen (Moholy-Nagy 1925, 204).
quasi als Selbstabbildung von Wirklichkeit gelten konnte, verdankt sich dem Funktionsprinzip der photographischen Aufnahmetechnik: der >Aufzeichnung< des vom Abgebildeten selbst >ausgesandten< Lichts durch die Kamera. Genau dies war übrigens der Grund, warum die Photographic von vielen Zeitgenossen nicht als künstlerisches Medium anerkannt wurde (s. dazu Müller 1994,43ff.). »In der Darstellung ist die Photographic der veralteten Handzeichnung überlegen, sie ist sachlicher, ökonomischer. Schnell herstellbar vermeidet sie die Überbetonung individueller Handschrift, ohne den Ausdruck von Eigenart auszuschließen, dem in der Anordnung noch genügend weiter Spielraum bleibt« (Burchartz [1924] 1990,113). 383
Die Aufnahme der Photographic in das Zeichenrepertoire der typographischen Avantgarde kann als wesentlicher Motor der Entwicklung typographischer Textformen gelten, deren Bedeutungsvermittlung auf der konnotativen Zeichenwirkung der visuellen Textgestaltung basiert. 7.3.2 Typophoto. Moholy-Nagy Dynamik der Gross-Stadt Die Photographie avanciert in der typographischen Avantgarde neben dem traditionellen graphischen und alphabetischen Letternmaterial zum gleichrangigen typographischen Zeichenmittel. So erklärt Tschichold in seiner Programmschrift Die Neue Typographie: Fotografie gilt auch als Type, da sie nur ein anderes optisches Sprachmittel ist (Tschichold 1928,345).
Sobald Photographie auch als Type gilt, liegt es nahe, Schrift und Photographie nicht nur nebeneinanderzustellen, wie in illustrierten Texten, oder sie wechselseitig zu substituieren, wie in »Fototexten«, sondern - gemäß der >rekombinativen Logik< des Bleisatzes - eine Synthese beider zu bilden. Hierauf zielt Moholy-Nagy mit der Gestaltung von »Typophotos«: Was ist Typographie? Was ist Photographie? Was ist Typophoto? - / Typographie ist in Druck gestaltete Mitteilung / Photographie ist visuelle Darstellung des optisch Faßbaren. / Das Typophoto ist die visuell exaktes! dargestellte Mitteilung (Moholy-Nagy 1925, 202).
Photographie soll nicht länger Illustration eines vorgängigen Textes sein, und Schriftsprache soll nicht länger nur Legende eines unabhängigen Bildteils sein. Vielmehr sollen beide so zueinander in Beziehung gesetzt werden, daß sie gemeinsam eine neuartige, gleichermaßen bildliche wie sprachliche Textform bilden. Diese »zeitgemäße synoptische Mitteilung« beschreibt Moholy-Nagy folgendermaßen: Aus den optischen und assoziativen Beziehungen baut sich die Gestaltung, die Darstellung auf: zu einer visuell-assoziativ-begrifflich-synthetischen Kontinuität: zu dem Typophoto als der eindeutigen Darstellung in optisch-gültiger Gestalt (Moholy-Nagy 1925, 204).
Ein erstes Beispiel eines Typophotos legte Moholy-Nagy mit Dynamik der GrossStadt. Skizze zu einem Filmmanuskript vor (Abb. 117 und Abb. 118).49 Die Verquikkung von Film und Typophoto ist bezeichnend. Moholy-Nagy betrachtet den Film
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Der Text entstand in den Jahren 1921/22. Gedruckt erschien er erstmals 1925 in der Reihe der Bauhausbücher: Moholy-Nagy. Malerei, Photographie, Film. Bauhausbuch 8. München: Albert Langen, 1925 (s. Müller 1994, 155-160). Moholy-Nagy gibt dieser Arbeit auch den Untertitel »Skizze zu einem Film / gleichzeitig Typophoto«. Dynamik der Gross-Stadt ist nie als Film realisiert worden. Moholy-Nagy selbst fehlten die Mittel, und größere Gesellschaften wie die UFA wagten damals das Risiko des bizarr Scheinenden nicht; »andere Filmleute haben trotz der guten Idee die H a n d l u n g darin nicht gefunden und darum die Verfilmung abgelehnt« (Moholy-Nagy 1925 zit. aus Müller 1994,155).
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Abb. 117 Moholy-Nagy. Dynamik der Gross-Stadt, 1925
als Fortsetzung - nicht als Ersetzung - des Typophotos auf einem (technisch) anderen Niveau: Diese Art der zeitgemäßen synoptischen Mitteilung [Typophoto] läßt sich mittels des kinetischen Verfahrens, des Films, auf einer anderen Ebene großzügig weiterführen (MoholyNagy [1925] 1984,22).
In unserer Lesekultur werden Photographien in einem Textzusammenhang üblicherweise als Illustrationen gedeutet und Textelemente im Kontext von Photographien als Bildlegenden gelesen. Um diese Wahrnehmungskonvention zu unterlaufen, bedarf es einer besonderen flächensyntaktisch und graphisch-typographisch unterstützten Integration von Text und Photographic innerhalb des Satzspiegels.50 In Moholy-Nagys Dynamik der Gross-Stadt sind es weniger die kontrastreiche Variation von Schriftgraden und der Wechsel von horizontalem und vertikalem
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Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, daß ich in diesem Kapitel nur die Nutzung der Photographic als typographisches Gestaltungsmittel betrachte, d.h. ihre Verwendung als >bewegliches< Zeichenmittel im Druck. Deshalb sind Typophotos Gegenstand meiner Analyse, nicht aber die zeitgleich entstandenen Photomontagen, in denen Schrift als p h o t o g r a p h i s c h e r Abbildungsgegenstand fungiert ist.
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Ein Glas Wasser (N u R der Wasserspiegel In Gi-orjäufnahme) in Bewegung, wie Spring B r u n nen, spritzt auf
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Abb. 118 Moholy-Nagy. Dynamik der Gross-Stadt, 1925
Schriftverlauf als vielmehr das Linien- und Balkengerüst, das das Verhältnis von Text und Bild neuartig regelt. Dieses strukturiert die Druck-Seite als (Bild-) Fläche so dominant, daß der erste rezeptive Zugriff synoptisch erfolgt, d. h. Text und Bild werden zunächst einmal simultan wahrgenommen. Auch auf den zweiten Blick ist es nicht möglich, zwischen Textteilen und Bildelementen eindeutig hierarchisierte Zuordnungsverhältnisse auszumachen oder zwischen den sprachlichen Aufbauelementen eine unilineare (Lese-) Abfolge zu erkennen. Das Balkengerüst in Dynamik der Gross-Stadt trennt Bild- und Textelemente nicht nur voneinander, sondern bezieht sie gleichzeitig vielfältig aufeinander. Der visuelle Effekt des optisch dominanten Liniengitters ist in Hinblick auf die Koordination von Text und Photographie ambivalent: Auffällig ist, daß häufig photographische Abbildungen und Textteile, die potentiell als Illustration bzw. Legende aufeinander bezogen werden könnten, durch die Linienkomposition voneinander getrennt werden (s. Abb. 118) - ein Verfahren, mit dem der flächensyntaktische Bezug und die synoptische Wahrnehmung von Text und Bild nicht unterlaufen werden, das aber die beiden heterogenen Elemente >egalisiert< und somit der wertbesetzten, hierarchisierenden Kategorisierung als Bildunterschrift bzw. Textillustration entzieht. 386
Der Versuch, Dynamik der Gross-Stadt in der üblichen Blickfolge und Leserichtung (von links nach rechts und von oben nach unten) zu erfassen, scheitert aufgrund der mehrdeutigen Möglichkeiten, die Lektüre zu beginnen und fortzusetzen, wie beispielsweise in der rechten Doppelseitenhälfte aus Abb. 117. Es ist prinzipiell unentscheidbar, ob erst die beiden oberen Textspalten von links nach rechts zu lesen sind und die Lektüre mit der linken Textspalte fortzusetzen ist, oder aber ob der rechte zweispaltige Textteil als Einleitung zu den beiden darunter liegenden Spalten aus Photo (Tiger) und Textblock (»Tempo«) zu gelten hat - und deshalb die Lektüre unmittelbar dort fortzusetzen ist. Die vertikale Linie betont die Zusammengehörigkeit dieser Felder, die horizontale Linie konterkariert diesen Bezug. Die zwei Textzeilen unmittelbar unter dem Bild des Tigers entsprechen typographisch eindeutig einer Bildunterschrift; die flächensyntaktische Parallelisierung (Spaltensatz) und graphische Inbezugsetzung durch den horizontalen Balken lassen aber die neben dem Photo liegenden Textspalten gleichermaßen als auf sie bezogene Erläuterungen erscheinen. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Tatsache, daß man bei der Fokussierung des Photos den kontrastiv betonten Textblock »Tempo« stets mit im Blickfeld behält. Und dies, obwohl die Linienführung die drei Spalten so deutlich voneinander trennt, daß eine spaltengerechte, vereinzelte Lektüre von oben nach unten nahegelegt scheint, zumal diese Form der Lektüre dem konventionellen, kulturell eingeübten Lektüreschema der Tageszeitung entspricht. Man kann zu Recht davon sprechen, daß in der blicksteuernden Komposition »die sukzessive Lesart zugunsten der simultanen Wahrnehmung« gebrochen ist (Müller 1994,87). Mit Dynamik der Gross-Stadt versucht Moholy-Nagy ausdrücklich, die Erfahrung der neuen dynamisch-simultanen Lebenswelt Großstadt abzubilden und in der Lektüre erfahrbar zu machen: Der Film >Dynamik der Groß-Stadt< will weder lehren noch moralisieren, noch erzählen: er möchte visuell, nur visuell wirken. Die Elemente des Visuellen stehen hier nicht unbedingt in logischer Bindung miteinander, trotzdem schließen sie sich durch ihre photographisch-visuellen Relationen zu einem lebendigen Zusammenhang raumzeitlicher Ereignisse zusammen und schalten den Zuschauer aktiv in die Stadtdynamik ein (Moholy-Nagy 1925 zit. aus Müller 1994, 155).
Simultaneität ist ein Schlüsselbegriff des zeitgenössischen Wirklichkeitsverständnisses. Die Suche nach einer adäquaten Ausdrucksform simultaner Wirklichkeitserfahrung motivierte eine Vielzahl künstlerischer Experimente und formalästhetischer Neuerungen der Avantgarden, so auch Moholy-Nagys Typophoto: Jede Zeit hat ihre eigne [sie] optische Einstellung. Unsre Zeit die des Films, der Lichtreklame, der Simultanität [sie] (Gleichzeitigkeit) sinnlich wahrnehmbarer Ereignisse. Sie hat eine neue, sich ständig weiter entwickelnde Schaffensgrundlage auch für die Typographie hervorgebracht. Die Typographie Gutenbergs, die bis fast in unsre Tage reicht, bewegt sich in ausschliesslich linearen Dimensionen. Durch die Einschaltung des photographischen Verfahrens erweitert sie sich zu einer neuen, heute als total bekannter Dimensionalität. Die Anfangsarbeiten dazu wurden von den illustrierten Zeitungen, Plakaten. Akzidenzdrucken schon geleistet. Bis vor kurzem hielt man krampfhaft fest an einem Setzmaterial und einer Satztechnik, die zwar die Reinheit des Linearen gewährleisteten, das neue Tempo des Lebens aber ausser acht lassen mussten. Erst in allerletzter Zeit hat eine typo387
graphische Arbeit eingesetzt, die durch eine kontrastreiche Verwendung von typographischem Material (Buchstaben, Zeichen) den Zusammenhang mit dem heutigen Leben zu schaffen versuchte. Die bisherige Starre der typographischen Praxis wurde jedoch durch diese Bemühungen kaum gelockert. Eine wirksame Lockerung kann nur bei weitestgehender, umfassender Verwendung der photographisch-zinkographisch-galvanoplastischen und ähnlichen Techniken erreicht werden [...]. Selbstverständlich werden diese neuen typographischen Werke in ihrer typographisch-optisch-synoptischen Gestalt von den heutigen linear-typographischen durchaus verschieden sein (Moholy-Nagy 1925,202ff.).
Das eigentlich Revolutionäre an diesem Typographieverständnis ist nicht so sehr die Absage an die lineare Textorganisation und die Annäherung an flächengestalterische Kompositionsprinzipien der (abstrakten) Malerei; wenn Moholy-Nagy an anderer Stelle davon spricht, daß in der Typographie gegenwärtig »gegenüber dem als optimum gepriesenen klassischen buch versuche einer simultanen darstellung in der präzisen erfassung heutiger erlebnisse gemacht werden« (Moholy-Nagy 1928 zit. aus Müller 1994,122), so heißt das vor allem auch, daß Typographie innerhalb der künstlerischen Avantgarden jetzt neben Literatur und Malerei als eigenständiges (mimetisches) Zeichensystem der Wirklichkeitsdarstellung verstanden und gehandhabt wird.51 Gestaltungsmaxime ist dann konsequenterweise nicht mehr, einen vorgängigen Text inhaltsadäquat typographisch umzusetzen, sondern durch die typographische Gestaltung »den Zusammenhang mit dem heutigen Leben zu schaffen« bzw. die »präzise erfassung heutiger erlebnisse« zu bewerkstelligen. Gab es bisher eine strikte Aufgabenteilung zwischen Autor und Typograph bei Texterstellung und Textgestaltung, so arbeiten Künstler der Avantgarde nun (nicht ausschließlich, aber auch) in Personalunion als Autoren-Typographen und nutzen unmittelbar das typographische Material als sprachliches und bildkünstlerisches Zeichenmittel. 7.3.3 Photomechanische Satztechnik Die Einbeziehung der Photographic in das Arsenal der typographischen Zeichenmittel verändert die Aufgabenfelder und die Arbeitsteilung im Druckwesen. Es setzt die professionelle Spezialisierung von visueller Gestaltung (Typographen) und handwerklich-technischer Druckformenherstellung von Texten (Setzer) einerseits und Photographien (Repro-Techniker) andererseits ein. Die Herstellung der Druckformen für Texte (Satz) und Photographien (Klischee) sind getrennten Arbeitsschritten vorbehalten. Im anspruchsvollen Buchdruck werden Photographie und Text - teilweise bis heute - unabhängig voneinander wiedergegeben: Der besseren Wiedergabequalität wegen wurden sie [Photographien) eigens auf Kunstdruckpapier reproduziert, das fremd neben dem Werkdruckpapier stand (Müller 1994,44).
51
In diesem Zusammenhang ist Moholy-Nagys programmatisches Diktum zu lesen: »Das Typofoto regelt das neue Tempo der neuen visuellen Literatur« (Moholy-Nagy 1925,204).
388
Es waren die Tageszeitungen und illustrierten Magazine, die nach der Jahrhundertwende die Einpassung der Photographie in den jeweiligen (Text-) Satzspiegel betrieben. Das stellte vor neuartige gestalterische Probleme. Größe und Lage des Photoklischees mußten vorab genau festgelegt und vom Setzer beim Umbruch des Textes berücksichtigt werden. Nicht zuletzt aus Gründen der Arbeitsökonomie wurden die Klischees fast ausschließlich mittelachsial in den Satzspiegel eingefügt; eine Routine, die von den Neuen Typographen vehement abgelehnt wurde (s. Kap. 6.3.1). Die variable Anordnung von photographischen Abbildungen in einem anachsialen Satzschema verlangt erheblich größere konzeptionelle Gestaltungsarbeit bei der Kombination von Text- und Bildelementen. Die Aufgabe, Text und Photo innerhalb des Satzspiegels zu koordinieren, fördert die Entwicklung des Tätigkeitsbildes, das dem heutigen Verständnis von Typographie entspricht.152 Aufgabe des Typographen ist es, die visuelle Gestalt einer Seite bzw. eines ganzen Druckwerks festzulegen, während Setzer und Reprotechniker (nur noch) die drucktechnische Ausführung besorgen, d.h. die Druckformen nach den Entwürfen des Typographen herstellen. Solange der Druck von Text und Photographie zwei verschiedenen Druckverfahren (Bleisatz und Autotypie) unterlag, solange blieben die Möglichkeiten typo-photographischer Gestaltung wesentlich eingeschränkt.53 Die »Maschinensprache des Buchdrucks« (Giesecke) fordert rechtwinklige und linear-additive Anordnungen. Diese »Starre der typographischen Praxis« (Moholy-Nagy) ist im Bleisatz nur mit erheblichem Aufwand zu überwinden (s. dazu Kap. 7.5.2). Erst Druckverfahren wie Photosatz und Offset-Druck, bei denen sowohl typographische Schrift als auch photographisches Bild der Druckform durch photo-lithographische Verfahren aufkopiert werden, erlauben sowohl die Synthese von Schrift und Bild - da beide drucktechnisch nun materiell-physikalisch gleichartige Zeichenmittel sind54 - als auch die 52
So fordert beispielsweise Renner für den Satz von illustrierten Texten nachdrücklich die ordnende Hand des Typografen (Renner 1922 zit. aus Müller 1994, 45). Und er gibt verschiedene Ratschläge für die Einbindung von Photographien in den Satzspiegel: »Die Klischees der illustrierten Zeitschriften sollten zugleich mit dem Texte vermessen werden, wobei der Plan zum künstlerischen (in vielen Fällen also zum symmetrischen) Aufbau der Doppelseite gemacht werden muß [...]. Wenn irgend möglich, vermeide man kompliziertes Einbauen, wähle vielmehr von vornherein die Breite der Spalte oder des Satzspiegels« (Renner 1922 zit. aus Müller 1994,45). " So läßt sich beispielsweise das montierende Ineinander von Text und Photo unter diesen Bedingungen nur durch Übereinanderdrucken erzielen. Gebhard berichtet über entsprechende typographische Experimente am Bauhaus: »Viele Versuche wurden gemacht mit Zusammendruck, Übereinanderdruck, mit Schriftkompositionen in Holzschriften großen Grades« (Gebhard zit. aus Müller 1994,57). 54 Was Lissitzky mit den Worten feiert: »Das Wichtigste dabei ist, daß die Herstellungsart des Wortes und der Abbildung ein und demselben Prozeß unterworfen sind: dem Lichtdruck, der Photographie« (Lissitzky [1926/27] 1967,358). Und Tschichold führt aus: »Es [das Photoklischee] ist auch im rein materiellen Sinne jenen [den Buchstaben und Linien des Setzkastens] gleich, ganz offenbar wenigstens im Buchdruck, wo dies durch die Zerlegung der Oberfläche in (gewissermaßen typographische) Rasterpunkte und die gemeinsame Schrifthöhe bewirkt wird. In den modernen Druckver-
389
Befreiung von der räumlichen Ordnung des Bleisatzes. Entsprechend euphorisch werden diese neuen Satz- und Druckverfahren von der typographischen Avantgarde begrüßt;55 denn sie erlauben der zukünftigen Typografie eine vollkommene auflockerung des ganzen optischen bildes. die horizontal-vertikale werkgerechtigkeit des handsatzes wird damit aufgehoben (Moholy-Nagy zit. aus Lottner 1990, 17): Die Biegsamkeit, Beweglichkeit dieser Techniken [der photographisch-zinkographischgalvanoplastischen und ähnlichen Techniken] bringt Ökonomie und Schönheit in eine neue Wechselbeziehung (Moholy-Nagy 1925, 203).
7.4 Die entfesselte Typographie Dadas Die dadaistische Typographie gilt zusammen mit den typographischen Experimenten des Futurismus als Meilenstein in der historischen Entwicklung visuell-typographischer Dichtung und als Auftakt der Textexperimente der historischen Avantgarden. Die Typographie der Dadaisten wird in der Forschung bevorzugt vor dem Hintergrund traditioneller Literaturtypographie und im Vergleich zu historischen Formen visueller Poesie betrachtet. Sie gilt dann gemeinhin als Ausdruck anarchisch-dadaistischer Kunstrevolte und als radikale Absage an alle typographischen Konventionen und Traditionen.56 Um die typographischen Innovationen Dadas angemessen beurteilen zu können, müssen sie meines Erachtens weniger auf den zeitgenössischen Kunstkontext als vielmehr auf die Gebrauchstypographie der
fahren Tiefdruck und Offset entfällt ein solcher Maßstab vollkommen; hier würde eine entgegengesetzte Meinung in der materiellen Form keine Stütze für die Behauptung der Ungleichartigkeit mehr finden« (Tschichold 1928, 96). Auch wenn das erste Photosatzpatent bereits im Jahr 1 898 angemeldet wurde und es in den 20er Jahren zahlreiche technische Fortentwicklungen von Photosatzmaschinen gab, über die die Fachzeitschriften ebenso wie über die Umwälzungen und Möglichkeiten, die das neue Satzverfahren mit sich bringen würde, ausführlich berichteten (Schmitt 1990, 67f.), so erfolgte der erste breitere professionelle Einsatz erst in den 40er und 50er Jahren. Breitenwirksam zum Tragen kam der Photosatz erst in den 70er Jahren mit der Entwicklung von Akzidenz-Photosatzgeräten (Schmitt 1990, 68ff; 71). Auch wenn die neuen Technologien den Typographien-Künstlern der 20er Jahre noch nicht zur Verfügung standen, so wurden sie von ihnen als Zukunftsvision gefeiert: »In Zukunft wird eine jede Druckerei eine eigne [sie] Klischeeanstalt besitzen und es kann mit Sicherheit ausgesprochen werden, daß die Zukunft des Druckwesens den photomechanischen Methoden gehört. Die Erfindung der photographischen Setzmaschine, die neuen billigen Herstellungsverfahren von Klischees usw. zeigen die Richtung, auf die ein jeder heutige Typograph bzw. Typophotograph sich baldigst einstellen muß« (Moholy-Nagy 1925, 204). »Mit Mallarme begann nicht einfach eine Wiederaufnahme der seit den antiken Bildgedichten nachweisbaren Tradition, sondern eine Verschiebung der literarischen Aussagekraft auf die typografische Textgestaltung [...]. Die der Typografie abverlangte bildhafte Aussagekraft führte dazu, daß nach und nach alle typografischen K o n v e n t i o n e n abgebaut w u r d e n [Herv. S.W.]. Diese Entwicklung fand mit dem Futurismus und Dadaismus einen ersten Höhepunkt« (Müller 1994, 33).
390
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DER MALIK-VERLAG, BERUN-S
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Abb. 119 Heartfield. Soeben erschienen!-wie abgedruckt in Neue Jugend, Juni 1917
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10er und 20er Jahre bezogen werden, denn es ist die Formensprache der Zeitungsund Werbetypographie, die Eingang in die künstlerisch-literarische Typographie Dadas gefunden hat. Die Dadaisten haben die Presse und mit ihr die Werbung nicht nur inhaltlich-thematisch, sondern gleichermaßen auch formal als (typographischdispositives) Modell ihrer Textproduktion genutzt.57 Es sind gerade die zeitgenössischen Standards nachrichtlicher und werblicher Kommunikation, die dadaistische Künstler aufgreifen, formal radikalisieren, von ihrer Zweckbindung freisetzen und damit für ästhetische Zeichenprozesse nutzbar machen. 7.4.1 Zeitungs- und Werbetypographie als Modelle dadaistischer Textgestaltung Dadaistische Text- und Bildproduktion wird überwiegend in Anthologien tradiert. Diese Editionspraxis bringt es mit sich, daß Typographien aus ihren ursprünglichen Publikationszusammenhängen (z. B. Zeitschriften) herausgelöst werden oder ihre originären Publikationsformen (z. B. Flugblatt, Plakat) >nivelliert< werden. Dies läßt leicht übersehen, daß ein Großteil der dadaistischen Typographien entweder als selbständige Akzidenzdrucke oder als Titelgestaltungen bzw. Inserate in dadaistischen Zeitungen und Zeitschriften erschienen. Prominente Beispiele hierfür sind Soeben erschienen (Heartfield 1917) (Abb. 119) und dadadegie (Baader/Hausmann 1919) (Abb. 120). Herausgelöst aus ihren ursprünglichen Erscheinungskontexten, werden beide in aller Regel als typische Beispiele dadaistischer visueller Poesie abgebildet und thematisiert (Abb. 121 und Abb.122).58 Mit gleichem Recht ließe sich dadadegie als Beispiel neuartiger Zeitschriften-Titelillustration und Soeben erschienen als Zeitungs-inserat in erster Linie unter gebrauchstypographischen Gesichtspunkten betrachten. Jüngere Forschungsliteratur beurteilt das Verhältnis von dadaistischer Kunstrevolte und medialer Umwelt zunehmend weniger als radikale Negation und Destruktion, sondern betont die konstruktive Aneignung und transformierende Adaption zeitgenössischer Formensprache und Standards in den künstlerischen Arbeiten Dadas. Die Dadaisten waren »Praktiker des Medialen«, deren revolutionäre Leistung gerade auch darin bestand, »die Verbindung arbeitsteiliger Kulturbereiche«, wie Hoch-Kunstgattungen (Stichwort: Gesamtkunstwerk), urbaner massenmedialer Trivialkunst (Variete, Cabaret), neuer Freizeitkultur (Sport, Körperkultur), Journalismus und Werbung, vorangetrieben zu haben (Schlichting 1990, 45). Ein 57
Slt
Finter verweist bei der Analyse der visuell-typographischen Poesie des Futurismus auf deren Nähe zur Typographie von Tageszeitungen: die Textform von Marinettis Parole in liberta »erinnert provokativ an die Reklameseite der Zeitung, ohne mit ihr identisch zu sein« (Finter 1980,192). Finter geht dem in der Analyse allerdings nicht weiter nach, sondern resümiert: »Die Untersuchung der wechselseitigen Beeinflussung des Schriftbildes der Zeitung und der Reklame mit der futuristischen Typographie wäre noch zu leisten« (Finter 1980,192). Gleiches gilt für den Dadaismus. Wobei - bezeichnend für den editorischen Umgang mit typographisch-experimentellen Texten - bei der isolierten Abbildung von dadadegie in aller Regel ganz selbstverständlich der >Textstand< des Originals um 90° - in die normale Leseposition - gedreht wird.
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Direktion r. Hausmann Stegiitz zimmermann strasse 34
Jahr I des Weltfriedens. Avis dada Hirsch Kupfer schwächer. Wird Deutschland verhungern ? Dann muß es unterzeichnen. Fesche junge Dame, zweiundvierziger Figur far Hermann Loeb. Wenn Deutschland nicht unterzeichnet, so wird es wahrscheinlich unterzeichnen. Am Markt der Einheitswerte überwiegen die Kursrückgänge. Wenn aber Deutschland unterzeichnet, so ist es wahrscheinlich, daß es unterzeichnet um nicht zu unterzeichnen. Amorsale. Achtuhrabendblattmitbrausendeshimmels. Von Viktorhahn. Loyd George meint, daß es -möglich wäre, daß Clemenceau der Ansicht ist, daß Wilson glaubt, Deutschland müsse unterzeichnen, weil es nicht unterzeichnen nicht wird können. Infolgedessen erklärt der club dada sich fUr die absolute Preßfreiheit, da die Presse das Kulturinstrument ist, ohne das man nie erfahren würde, daß Deutschland endgültig nicht unterzeichnet, blos um zu unterzeichnen. (Club dada, Abt.(OrPreBfrciheit,soweit die guten Sitten es erlauben.)
Die neue Zeit beginnt mit dem Todesjahr des Oberdada
Mitwirkende: Baader, Hausmann, Hueisenbeck, Tristan Tzara.
Abb. 120 Baader/Hausmann. dadadegie, 1919 - wie abgedruckt in Der Dada Nr. l, 1919
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JOHN HEARTFIELD
»Soeben erschienen!«
Soeben erschienen! Soeben erschienen! Soeben erschienen!
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*£* MAUK-VERLAG,
BiRLIN-SODENDE
Abb. 121 Heartfield. Soeben erschienen! - wie abgedruckt in Darfa Berlin. Hg. K. Riha. Stuttgart: Reclam, 1991
394
27 JOHANNES BAADER / RAOUL HAUSMANN
»dadadegie«
dadadegie Hausmann - baader
3/ 3333/3333 13 : 7 - \, 85714285 . 60 40 50 10 30 20 60 40
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Abb. 122 Baader/Hausmann. dadadegie, 1919 - wie abgedruckt in Dada Berlin. Hg. K. Riha. Stuttgart: Reclam, 1991
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Großteil der Künstler der - sehr heterogenen, von energetisch vitalistischer Philosophie beeinflußten - dadaistischen Bewegung feiert im Gegensatz zu den kunstund kulturkritischen Strömungen der Jahrhundertwende (Ästhetizismus, Expressionismus oder Jugendstil) die Großstadt und ihre Lebenswelt als positive Kraft und Inbegriff des Lebens und sieht darin das Gegenmodell zum zeitgenössischen idealistisch-transzendentalen Kulturverständnis. Dementsprechend wird die urbane Zivilisation und mit ihr all die lebensweltlichen Bereiche, die bisher jenseits künstlerischer Tätigkeit lagen, das zentrale Operationsfeld dadaistischer Künstler. In diesem Zusammenhang avanciert Simultaneität zum programmatischen Schlüsselbegriff, auf den hin sehr viele künstlerische Innovationen Dadas gedeutet werden können: als künstlerische Erfindungen, mit denen die neue simultane Wirklichkeitserfahrung darstellbar gemacht wird. Diesen poetologischen Zusammenhang betonen dadaistische Künstler in ihren Programmschriften ausdrücklich.59 Daß insbesondere die neuen massenmedialen Printmedien den Dadaisten als inhaltliche ThemenQuelle für ihre künstlerischen Arbeiten dienten, ist von den Künstlern selbst vielfach beschrieben worden.60 Zugleich bedienen sie sich der Zeitungen, Zeitschriften und Reklame aber auch als gestalterischen Materialfundus: unübersehbar ist, daß die bildkünstlerischen Werke Dadas in bisher ungekanntem Ausmaß mit »Reproduktionen« durchsetzt sind (Schlichting 1990, 64). Dada-Collagen und Montagen sind vor allem aus Gedrucktem geformt: vom Geldschein über den Fahrschein zum Ausschnitt aus der Zeitung oder einem illustrierten Magazin. Charakteristikum da»[. . .] um uns deutschen Verhältnissen zuzuwenden, möchte ich noch einige Worte über die Simultaneität sagen, die den Interessenten des Dadaismus bei allen dadaistischen Publikationen wieder begegnen wird. Simultaneität (von Marinetti in diesem Literatur-Sinne zuerst gebraucht) ist eine Abstraktion, ein Begriff der Gleichzeitigkeit verschiedener Geschehnisse. Es setzt erhöhte Sensibilität für den zeitlichen Ablauf der Dinge voraus, [. . .] es sucht das Problem des Ohrs in ein Problem des Gesichts umzuwandeln [...]. Aus den mich gleichzeitig umgebenden Ereignissen des Alltags, der Großstadt, des Zirkus Dada, Gepolter, Dampfsirenen, Häuserfronten und Kalbsbratengeruch erhalte ich den Impuls, der mich auf die direkte Aktion, das Werden, das große X hinweist und -stößt. [. . .] Die Simultaneität bringt mich, ohne daß ich mir bewußt bin, einen großen Sprung getan zu haben, auf >das neue Material in der Malerei, das von den Dadaisten unter Tzara eifrigst als Nonplusultra >modernster Malkunst< propagiert worden ist. [. ..] Das neue Material [Sand, Haare, Postzettel und Zeitungszettel] steht in direktem Zusammenhang zur Simultaneität und zum Bruitismus. Mit dem neuen Material hat das Bild, das als solches ja immer Symbol einer unerreichbaren Wirklichkeit bleibt, den entscheidenden Schritt zum Horizont über die vordere Bildfläche getan, es nimmt am Leben selbst teil« (Hülsenbeck [1920] 1984, 26ff.). »Die Dadaisten anerkennen als einziges Programm die Pflicht, zeitlich und örtlich das gegenwärtige Geschehen zum I n h a l t ihrer Bilder zu machen, weswegen sie auch nicht >Tausendundeine Nacht< oder >Bilder aus HinterindienAuftrittsortgepolt< waren.63 Zeit wird auch für die Zeitungslektüre zum kritischen Faktor. Zeitungen, deren Inhalt auf den Umfang eines mittleren Buches angewachsen war, fordern vom Rezipienten Quer- bzw. Schnelllesetaktiken, eine Art >Steno-Lektüre< - von kulturkritischen Zeitgenossen schon im 19. Jahrhundert als >Kommunikationsbruch< empfunden und als geistfeindlich kritisiert (vgl. Assmann 1985,104ff.). Die Zeitungstypographie reagiert durch Ausbildung der Formmerkmale, die noch heute das typographische Dispositiv Zeitung charakterisieren. Während Mitte des 19. Jahrhunderts der Satz von Zeitungen noch weitgehend nach buchtypographischen Regeln erfolgt, setzt sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die mehrfache vertikale Seitengliederung im Spaltensatz durch, und es entwickeln sich differenzierte Formen der typographischen Textstrukturierung durch Auszeichnung (Titelschriften), Absatzbildungen (Kopftexte) und regelhafte Anordnung verschiedener Textsorten auf der Seite bzw. innerhalb der Seitenfolge (Leitartikel, Kommentar u.a.). Die hierarchische Gliederung der Zeitungsseite bei gleichzeitiger synoptischer Blickführung kann als typographisches Charakteristikum des Zeitungssatzes gelten. Sie sind Voraussetzung für eine selektive Lektüre, mit der man sich in wenigen Minuten einen Inhaltsüberblick verschaffen kann. Im 19. Jahrhundert setzt neben der formalen auch eine inhaltliche Diversifikation der Zeitungen ein; bestehende Inhaltsteile wie der Handelsteil oder das Feuilleton werden ausgebaut, neue Sparten wie Sport- oder Lokalteil geschaffen. Die Zeitung wird das Printmedium, das nicht einzelne >sortenreine< Textarten vereinigt, sondern eine geregelte Kompilation unterschiedlichster Textklassen und Textinhalte (Leitartikel, Rezension, Börsenkurse, Kommentare, Wetterbericht, Fortsetzungsroman, Rätsel, Inserate u.a.). Zeitungen und Zeitschriften wurden bereits sehr früh als Reklameträger genutzt (Väth 1982, 24).64 Werbung avancierte Anfang des 20. Jahrhunderts nicht allein durch die zunehmende Außenwerbung an Häuserfassaden, Litfaßsäulen und Plakatwänden, sondern vor allem auch durch die Presse zum wesentlichen Faktor visueller Alltagserfahrung. Zunächst waren Inserate in einem gesonderten Anzeigenteil am Ende der jeweiligen Zeitungs- bzw. Zeitschriftenausgabe zusammengefaßt. Die Zahl der Inserate nahm nach 1900 derart zu, daß die Anzeigenseiten immer gedrängter bedruckt und die Seitenzahl des Anzeigenteils immer umfangreicher wurden.65 Dementsprechend groß war der >ZwangCrossReadingKontaktBauprinzip< und die montagehafte Konstruktionsart der modernen Bild-Magazine: Ansichten berühmter Zeitgenossen, Photos von Boxern, Pferderennen, in- und ausländischen Abnormitäten schließen sich an [...]. Die short story wird propagiert. [...] Heitere Ecken [...] und Rätsel-oh Kreuzworträtselseuche! -in Wort und Bild werden eingestreut. Kurz und gut: nach anscheinend der vox populi direkt abgelauschten Rezepten: >man nehme .. .< ist, schon jetzt durchaus typisiert, das Magazin zusammengebaut und dient dem Genuß weitester Leserkreise (Koppen [1925] 1983, 246).
Insgesamt werden Zeitungen und Zeitschriften formal - wegen ihrer synoptisch-zufälligen Montagestruktur - und inhaltlich - wegen der systematischen Verbindung von Kultur, Politik und Kommerz - im Kontext dadaistischer kunst- und kulturkritischer Programmatik als Modelle für die künstlerische Textproduktion interessant: Inhaltlich ist hier die Nivellierung traditioneller Sinn- und Wertordnungen vorgezeichnet, formal ist hier ein Darstellungsschema der neuen simultanen Wirklichkeitserfahrung angelegt.
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die Vernachlässigung typographisch-handwerklicher Sorgfalt, die Mißachtung gestalterischer Regeln und der Mangel an typographischer Schönheit beklagt. Die Plakatwerbung setzte sehr früh auf malerische oder zeichnerische Abbildungen als zentrales Mittel der Aufmerksamkeitsbildung, während der Mehrheit der Zeitungsinserate lange rein typographische Lösungen zugrundelagen.
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Insbesondere die Literatur- und Kunstwissenschaft neigt dazu, dem Mythos Avantgarde insofern aufzusitzen, als zumeist unhinterfragt angenommen wird, daß in der avantgardistischen Kunstrevolte Ausdrucksformen entwickelt wurden, die anschließend in der Trivialkultur adaptiert und populär gemacht wurden.67 Ein Blick auf die typographischen Standards in den Printmedien und der Werbung nach der Jahrhundertwende zeigt, daß die revolutionäre Leistung Dadas vor allem darin besteht, Textformen aus den Massenmedien ins Kunstsystem >importiert< zu haben. Im Umgang der Dadaisten mit nachrichtlichen und werblichen typographischen Textmustern lassen sich zwei Strategien ausmachen: 1. die einfache Nachahmung der dispositiven Modelle unter dem Kunstvorbehalt, der durch den Erscheinungsort Kunstzeitschrift oder schlicht durch den >Markennamen< Dada angezeigt wurde; 2. die Dissoziation und Abwandlung der typographisch-dispositiven Formensprache von Presse und Werbung. An zwei Typographien - Schwitters Tragödie (1922) und Tzaras Une nuit d'echecs gras (1920) - sei im folgenden exemplarisch aufgezeigt, welch unterschiedliche Ausprägungen die kreative Aneignung des Dispositivs Zeitung im Dadaismus gefunden hat. 7.4.2
Zwei Beispiele
7.4.2.1 Schwitters68 Tragödie.™ Schwitters Tragödie. Tran No. 22, gegen Herrn Dr. phil. et med. Weygandt (Abb. 123 Abb. 126) ist Teil der Reihe Tran, in der Schwitters in loser Folge Polemiken und Parodien auf aktuell erschienene Kunstkritiken verfaßte. Konkreter Textanlaß ist eine Kritik des Hamburger Arztes und nebenberuflichen Kunstkritikers Weygandt. In einem Artikel der Berliner Morgen-Ausgabe der Germania vom 27. 11. 1921 hatte dieser unter dem Titel »Moderne Kunst oder Wahnsinn?« den künstlerischen Arbeiten Schwitters Ähnlichkeit mit den Erzeugnissen Schizophrener >attestiertvernünftig< gebärdenden Kunstkritik schafft. Im Gegenteil zeigt sich Schwitters in seiner Erwiderung auf Weygandt bierernst. Seine Replik sucht den Gegner keineswegs durch spielerisches Unterlaufen konservativer Wert-Hierarchien zu desavouieren. Schwitters pocht vielmehr auf die Aufrechterhaltung der traditionellen Diskursgrenzen von Kunst, Kunstkritik, Nachricht und Wissenschaft. Der Typographie kommt hierbei eine wesentliche Funktion zu. Sie macht verschiedene Textebenen visuell unterscheidbar, die jeweils unterschiedliche Textinhaltsebenen umfassen: - Fließtext gemäß buchtypographischer Standards: 1. die eigentliche Polemik Schwitters, die sich in direkter Ansprache an den Kritiker Weygandt richtet; darin eingeschaltet ist visuell bruchlos, semantisch aber stets eindeutig unterscheidbar, 2. der Bericht über ein Frühlingsfest am Rhein. - Textteile, die durch typographische Auszeichnungsverfahren, wie Schriftwechsel, Fettdruck, Rahmung, mittelachsialen Satz bzw. Spaltensatz und Typozeichen formal und inhaltlich 1. als direkte oder verfremdete Zitate zeitgenössischer Zeitungsartikel bzw. InseratWerbung zu erkennen sind oder 2. durch den Schlüsselbegriff Merz als Schwittersche Kunst-Programmatik kenntlich gemacht sind. Insbesondere die direkten Zitate Weygandts sind durch spaltenweisen Satz und Schriftwechsel zur Fraktur-Textschrift der Zeitung - einem Reprint vergleichbar unmittelbar als dem Dispositiv Zeitung zugehörig erkennbar. Schwitters Textebenen-Schachtelung stellt eine radikalisierte Form der zeitgenössischen Praxis dar, Inserate in den redaktionellen Teil der Zeitung zu integrieren; eine Praxis, mit der die inhaltliche und organisatorische Verquickung von journalistischem Anspruch und kommerziellem Interesse eine neue Qualität erhielt; eine Praxis, die zeitgenössisch nicht unumstritten war. Werbetheoretiker beispielsweise bewerteten die Vermischung der Textgattungen Nachricht und Werbung kritisch. So führt König an, daß die »psychische Einstellung« des Lesers im redaktionellen Teil der Zeitung »wesentlich anders« sei, Inserate dort eine geringere Aufmerksamkeitswirkung erzielten, vor allem aber müsse man eine unkontrollierte Inhaltswirkung gewärtigen, denn die Inserate bewirkten eine psychologische Täuschung, da die Vermischung dieses Lesestoffes [des redaktionellen] und die [werblichen] Ankündigungen nur eine Verwirrung der geistigen Eindrücke hervorruft (König 1924, 92).
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1922
Tragödie Tran No. 22, gegen Herrn Dr. phil et med. Weygandt An andrer Werken suche stets Das Beste nur herauszufinden, An eignen aber sei dfr's Pflicht, Vorerst die Fehler zu ergründen. Marie Beeg.
Ausnahme#Offerte! durch Kauf direkt aus Schiffsladung ohne Zwischenhändler kann ich
T r a n konkurrenzlos billig anbieten.
Zunächst nenne ich meinen Tran: „das Wasserglas in der Fliege" und beziehe mich auf Marie Beeg. (Fliegen haben kurze Beine.) Ich befinde mich im Kampfe gegen die Reaktion.
„Ein Frühlingsabend am Rhein" Die Presse unserer Gegner, der Gegner moderner Kunst, kämpft mit schmatzigen Waffen, indem sie auf die Dummheit und Eitelkeit der Menschen rechnet. Herr Dr. phil. et med. Weygandt in Hamburg schreibt z. B. von Zeit zn Zeit fiber die neue Kunst verwirrende Artikel, die wissenschaftlich ernst erscheinen sollen, aber leider nicht sind. Der Pöbel freut sich naturlich, dass man an sei-
Aushang kenntlich ne gesunde Vernunft appelliert, er ahnt ja nicht, dass seine Vernunft nicht das Organ zum Erkennen von Kunst ist Der Pöbel freut sich, dass ein Arzt die Ähnlichkeit zwischen modernen Künstlern und Geisteskranken so deutlich demonstriert, dass der Pöbel die Ähnlichkeit durch Gleichheit ersetzt. In einem rheinischen Städtchen wird ein Frühlingsfesf gefeiert Der Pöbel ist zu dumm, um von vornherein abzulehnen. Wie kann ein Arzt über Kunst überhaupt schreiben, der doch höchstens nebenamtlich etwas davon versteht. Die Liedertafel Union, die sich auf einer Rheinfahrt befindet, hat durch ihre persönlichen Beziehungen zum Festleiter eine Einladung zur Teilnahme an dem Fest erhalten. Dann aber ist es überflüssig und irreführend, wenn Herr Weygandt neben seinen Namen die Titel Dr. phil. et med. schreibt.
( Bayerische 1 Staatsbibliothek l München
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Abb. 123 Schwitters. Tragödie. Tran 22, 1922
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Weil Merzbilder — Körper und Nerven schonen. Deshalb muss vor allen Dingen das Kunstwerk künstlerisch geformt werden. Die sinnlich erkennbare Form des Kunstwerkes muss künstlerisch sein. Rücksichten auf Dinge ausserbalb des eigenen Rhythmus gibt es für die künstlerische Form nicht.
Weshalb fragt man denn gerade nach Merzbildern? Ei ist gleichgültig, ob die Form etwas darstellt oder nicht Die Form resultiert aus der Verwendung der formalen Mittel Die Mittel der Malerei sind Malgrund, Farbe, Licht, Linie o.a.
Weshalb sind denn Merzbilder so populär und beliebt? Der künstlerische Wille schafft aas diesen Mitteln durch rhythmische Wertung das Kunstwerk. Die Beziehungen sämtlicher sinnlich erkennbaren Teile des Werkes untereinander sind der Rhythmus. Der künstlerischen Logik ist die verständliche fremd und feindlich.
Dieses erzielt man am besten, wenn man seinen Körper möglichst gleichmässig warm hält. Das Fehlen der verstandlichen Logik im Kunstwerk bemerkt aber nur der, der die künstlerische nicht sieht. Dem, der die künstlerische Logik erkennt, ist die verständliche gleichgültig. Ein Komprorniss, dass bald Versfand, bald rhythmisches Gefühl herrschten, wire für beide schädlich. Verständliche Logik, wohin sie gehört, in die Wissenschan. ( 2 x 2 - 5 ) Hierauf wird der Union aus goldenem Pokal der Ehrentrunk gereicht. Inzwischen sind fahrende Sanger anf dem Festplatze angekommen, die durch ihre Vorträge zur Belebung des Festes beitragen.
Man muss aus diesem Grunde darauf bedacht sein, dass man diese Erkältungen so schnell wie möglich los wird. Die Mittel der Dichtung sind Laut, Silbe, Wort, Satz, Absatz. Bei der rhythmischen Wertung der Mittel ist wichtig, dass nichts zuviel und nichts zu wenig ist, damit die Einheit des Ausdrucks entsteht. Der Ausdruck ist nämlich Resultat der formalen Mittel, und nicht TOB verstandlichen Überlegungen.
Gleichmässige Körperwärme erreicht man durch häufiges Baden im Hause. Nnn zu Ihnen, Herr Weygandt! Ich sage es Ihnen offen, Sie halten nichts von der formalen Gestaltung.
Sind denn Merzbilder etwas Besonderes?
Ihnen 1st es am wichtigsten, dass Sie den Inhalt begreifen können.
Sind denn Merzbilder besser als gewöhnliche Absätze? Ktanen Sie das nicht, to behaupten Sie frisch, der Künstler wäre mindestens den Verrückten ähnlich.
Weil Merzbilder — eleganten und elastischen Gang verleihen. Sie verwechseln die Hauptsache mit Nebensächlichem. Der Tanz nimmt seinen Fortgang. 2 X 2 = 6. Die Vernachlässigung der verständlichen Logik stört Sie so sehr, dass Sie darrüber die künstlerische Logik nicht sehen. 2X2 = 7. Jawohl, da staunen Sie 2X2 = 8.
Weil Merzbilder — die holperigste Strasse zum Teppich machen. 2 X 2 = 10. Süll senkt sich der Abend nieder nnd die leuchtenden Strahlen der uniergehenden Sonne vergolden die Landschaft. Weil Sie die künstlerische Logik nicht sehen, stört Sie da* Fehlen der verstandlichen.
Abb. 124 Schwitters. Tragödie. Tran 22, 1922
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Nach dieser kurzen Feierstimmtmg setzt« de» Festes frohes Treiben wieder ein. Oder wollen Sie etwa dreist behaupten, Sie hätten nicht kompromittieren wollen? Nehmen Sie doch einmal ein ganz hcisses Vollbad! 2 X 2 = 125Grad. Oder sollten Sie etwa wirklich nrteilslos sein and sieh nur so stellen, als verstanden Sie etwas von Kunst? 2 X 2 = 150*. Möglich. Jedenfalls stellen Sie sich dann verständig, tun, ja nm zu kompromittieren, um die Kunst zn kompromittieren. 2 X 2 = 300Grad Reorafir, Vollbad in 5Minuten. Soll kh Ihnen mal sagen, was 2 X 2 ist? Vier mein Herr, vier, vier, vier, manchmal auch fünf, je nachdem, ob Sie Dt. med. oder Dr. phil. sind.
El SYNDETICON se endurece en el frio; pero en temperatura caliente adquiere su antiguo estado liquido. Wenn Sie nicht die Absicht haben, zn kompromittieren, warum schreiben Sie dann nicht Ihre wissenschaftlich scheinen sollenden Ausführungen in wissenschaftlichen Zeitschriften, sondern in Tageszeitungen, die von einem durchweg wissenschaftlich ungebildetem Publikum gelesen werden. Tänzerpaare, Sänger und Sängerinnen erfreuen durch ihre Kunst und (ichern sich den Dank der Festteilnehmer?
Täglich genommen, üben sie bei Erkrankungen auf den Körper ungemein
grosse Wirkungen aus. Sie wissen eben, dass, obgleich die Masse der Halbgebildetes schwerfällig ist, die Gefahr besteht, natürlich von Ihrem Standpunkte aus betrachtet, dass trotzdem Einzelne langsam begreifen konnten, was Kunst eigentlich ist Das soll und muss aber verhindert werden. 2X2«4. n»*.; oKoir*«;+·> i •riaa*a nm»»««r B™«*«» sor«t CetrieDSKapltai Kein· VendtoMnUaog. Streng 1MB oed dUkret. Bedingung gate AutkanfL Sie vertrauen auf den Autoritätsglauben im deutschen Volke und schreiben einen wissenschaftlich scheinenden Artikel für das Volk, nicht for die Wissenschaft. Voran stehen die AutoritStstitel med, und phil. Wesentlich ist Ihnen, zn kompromittieren, unwesentlich die Richtigkeit ich werde versuchen, meine Behauptung zn beweisen. Ich will nicht entscheiden, ob Sie Ihre logischen Fehler kennen oder nicht, ob Sie also bewosst Falsches geschrieben haben, oder aus künstlerischer Urteilslosigkeit.
gegen Schnupfen Wirkung frappant! Das bleibt «leb nämlich im Erfolg gleich. Hier konnte ich eine greisere Zahl von Sätzen herausgreifen nm Ihnen Der Name zu zeigen, dass sie unhaltbare Behauptungen enthalten und geschrieben BRAUNS sind, nm zu kompromittieren. bürgt für i.) « »in a*rr an« wrft «n bat 3« gefdjeffre, «am »an an* vca auffaBrntfn Erfolg! äst bre riUiftrlfca «tMencr (KrtiÄffiBbea » |« *(( meomiRtr jttafHn f*f»rt Mf auf 3rr(tn« ftSt» »*Slf.
Abb. 125 Schwitters. Tragödie. Tran 22, 1922
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Nun mache ich Sie nur noch auf folgende Setze aufmerksam: . * fann fei« 6-
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Abb. 127 Tzara. Unenuit d'echecs gras, 1920
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